Was Bilder zu denken geben: Kulturphilosophische Essays. Zu Ehren von Ralf Konersmann 9783787340255, 9783787340248

»Die Philosophie«, schreibt Ernst Cassirer einmal, »kann nicht im Leeren bauen«. Die Bedeutungsfülle, die sie sucht, abe

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German Pages 272 [270] Year 2021

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Was Bilder zu denken geben: Kulturphilosophische Essays. Zu Ehren von Ralf Konersmann
 9783787340255, 9783787340248

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Z e i t s c h r i f t f ü r Ä s t h e t i k u n d Sonderheft Allgemeine Kunstwissenschaft 22 

Nikolai Mähl (Hg.)

WAS BILDER ZU DENKEN GEBEN Kulturphilosophische Essays Mit beiträgen von  Dirk Baecker, Ralf Becker, Hjördis Becker-Lindenthal, Axel Beelmann, Christian Begemann, Christian Bermes, Christine Blättler, Hartmut Böhme, Tilman Borsche, Günter Figal, Bärbel Frischmann, Jürgen Goldstein, Joachim Hake, Ellen Harlizius-Klück, Norbert Herold, Ole Kliemann, Peter Körte, Johann Kreuzer, Astrid von der Lühe, Nikolai Mähl, Michael Makropoulos, Albert Meier, Gérard Raulet, Melanie Reichert, Enno Rudolph, Monika Schmitz-Emans, Ulrich Johannes Schneider, Volker Schürmann, Andreas Urs Sommer, Tim-Florian Steinbach, Uwe Justus Wenzel und Dirk Westerkamp

Was Bilder zu denken geben Kulturphilosophische Essays Zu Ehren von Ralf Konersmann • Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft 22

Herausgegeben von

nikolai mähl

FELIX M EIN ER V ER LAG H A M BU RG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-4024-8 ISBN eBook 978-3-7873-4025-5 ISSN 1439-5886 (Sonderhefte)

Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. ©

Inhalt

Nikolai Mähl Einleitung  ................................................................................................... 9 Uwe Justus Wenzel Der Aufgang der Erde. Eine vorkopernikanische Überraschung  ................. 17 Christian Begemann Das Verschwinden des Strandes. Andreas Gursky: Rimini (2003)  ................ 27 Michael Makropoulos Das visuelle Ende des Signifikanten  ............................................................ 37 Bärbel Frischmann Repräsentationen und Spiegelungen. Foucaults Deutung der Las Meninas von Velázquez  ..................................... 45 Johann Kreuzer Wiederholte Spiegelungen. Über eine Frage aus dem Jahr 1434  .................. 51 Christian Bermes Culture conceptuelle. Die Eigenständigkeit der Kulturphilosophie  ............. 59 Ulrich Johannes Schneider Das Buch im Bild. Zurbaráns Heilige Marina  ................................................ 67 Joachim Hake In der Spur bleiben. Pieter Bruegels »Ikarus« und das Handwerk der Dichtung  ........................... 73 Volker Schürmann Der Sündenfall  ............................................................................................ 81 Gérard Raulet Proleten im Himmel?  .................................................................................. 87

6 Inhalt

Hartmut Böhme Steinerne und eisige Welten. C. D. Friedrich – Annette von Droste-Hülshoff – Mathias Kessler  .............. 95 Tim-Florian Steinbach Der Künstler und sein Schatten. Zu Richard Oelzes Erwartung  ................... 105 Melanie Reichert Linie, Farbe, Asche  ...................................................................................... 113 Astrid von der Lühe »Was beunruhigt dich?«. Zur Kultur des Fragens  ......................................... 119 Enno Rudolph Vita brevis, ars longa. Cassirer, Simmel und der Streit um Goethe  .............. 125 Albert Meier Paris Match était là. Bruno Latour infiziert Ramses II. 3000 Jahre nach dessen Tod mit Tuberkulose  ........................................................................ 135 Ralf Becker Schwarze Spiegel  ......................................................................................... 141 Dirk Westerkamp Ambige Objekte  .......................................................................................... 153 Ellen Harlizius-Klück Penelopes Weberei und die Herausforderung des Konkreten  ....................... 161 Christine Blättler Wolkenzauber  ............................................................................................. 169 Ole Kliemann Das Licht, die Stille und die Imagination  .................................................... 177 Axel Beelmann Nicht schon wieder van Goghs »Schuhe«!  .................................................... 185 Peter Körte Streuende Bedeutungen. Über Gullivers Reisen, den westlichen Marxismus und andere vergangene Lektüren  ................................................................ 193

Inhalt

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Norbert Herold Toleranz durch Dialog. Kunst gibt zu denken  ............................................. 201 Dirk Baecker Kölner Döme  .............................................................................................. 211 Hjördis Becker-Lindenthal Bild und Entbildung. Gedanken zum »Selfie« im Ausgang von Meister Eckhart, Tauler und Kierkegaard  .................................................... 215 Günter Figal Das Bild des Philosophen  ............................................................................ 225 Monika Schmitz-Emans Umriss-Hände  ............................................................................................. 233 Tilman Borsche Wie das Abbild sein Urbild bildet  ................................................................ 243 Jürgen Goldstein Eine Hauswand in Rom  .............................................................................. 249 Andreas Urs Sommer Mens habitat molem. John Locke, uneasiness und Denkerheldentum im Medium der Medaille  ............................................................................ 253 Autorinnen und Autoren  ............................................................................. 263 Bildnachweis  ............................................................................................... 267

Rodin, La pensée, um 1895

Nikolai Mähl

Einleitung I.  Über das Denken in Bildern: Rodin, La pensée Im achten seiner Gespräche mit Auguste Rodin, das später den Titel Der Gedanke in der Kunst tragen wird, kommt Paul Gsell auf »eine Kritik« zu sprechen, »die Rodins Werke oft hervorgerufen haben«. Einige Kunstkritiker nämlich, so Gsell zu seinem Meister, tadeln bei Ihnen eine mehr literarische als plastische Inspiration. Sie behaupten, daß Sie sich das Lob der Schriftsteller in geschickter Weise erschlichen, indem Sie diesen Themen liefern, worüber ihre Feder sich ungehindert lang und breit auslassen könne. Und sie erklären, daß die Kunst soviel philosophischen Ehrgeiz (tant d’ambition philosophique) nicht gestatte.1

Rodins Erwiderung scheint die Grenzziehung zwischen der Literatur, die sich an den Geist, und der Plastik, die sich ans Auge wendet, zunächst ganz zu bestätigen. Vorausgesetzt nämlich, seine »Figuren« seien künstlerisch »fehlerfrei und lebensnah« – welchen Grund zur Klage sollten die Kritiker dann haben, »wenn ich ihnen über meine Arbeit als Bildhauer hinaus noch einen Ideengehalt gebe und schöne Formen, die imstande sind, das Auge zu entzücken, noch mit einer geistigen Bedeutung bereichere?« (147) Der Gedanke (idée, signification) wäre demnach ein lite­rarisches Surplus, eine Beigabe, die das plastische Werk zwar um eine geistige ­Dimension erweitert, zur eigentlichen Arbeit des Bildhauers aber nicht gehört. Die Kritiker, von denen Gsell spricht, hätten schlicht den Fehler begangen, über dem hors d’œuvre das œuvre zu übersehen, den Gedanken, der zur Kunst Rodins bloß hinzutritt, mit dieser selbst zu verwechseln. Ihre Kritik fiele, kurz gesagt, auf sie selbst zurück. Rodins letztes Wort soll das aber nicht gewesen sein. Als ob er das Missverständnis geahnt hätte, das seine Unterscheidung von plastischem Werk und literarischem Gedanken nahelegt, setzt er noch im selben Atemzug eine Bemerkung hinzu, die sich im Verlauf des Gesprächs zu einer großen Reflexion über das ästhetische Denken entwickelt: »Man täuscht sich übrigens ungeheuer«, so Rodin, »wenn man glaubt, die wahren Künstler könnten sich damit zufrieden geben, fähige Arbeiter zu sein, und die geistige Einsicht (l’intelligence) wäre für sie nicht notwendig.« (147; Übers. N. M.) Ganz im Gegenteil, eine solche Einsicht sei »selbst für das Malen oder Behauen solcher Bilder unentbehrlich, die auf alle geistigen 1 Auguste Rodin, Die Kunst. Gespräche des Meisters. Gesammelt von Paul Gsell (1911), Zürich

1979, 146. Nachweise im Folgenden im Fließtext.

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Ansprüche Verzicht zu leisten scheinen und nur dazu bestimmt sind, das Auge zu entzücken«. (147) Rodins Überlegungen gipfeln schließlich in einer These, die nach seinen anfänglichen Einlassungen zur ›gedankenlosen‹ Arbeit des Bildhauers einer ästhetischen Konversion gleichkommen: Kunst sei »die Ausübung des Denkens (l’exercise de la pensée), das die Welt zu verstehen und verständlich zu machen sucht«. Kunst sei »Kontemplation«. (149) Der philosophische Ehrgeiz, der nun doch unüberhörbar aus Rodins Worten spricht, lässt Paul Gsell nachhaken: ob es »zwischen Kunst und Literatur« – und mit Literatur ist hier wie in allen Gesprächen stets beides, Dichtung wie Philosophie, gemeint – ob es zwischen Kunst und Literatur nicht doch »eine Grenze« gebe, »die die Künstler nicht überschreiten dürften«. (148) Nachdem Rodin bereitwillig zugibt, dass gerade er sich diesem Verbot nur »höchst ungern« fügt, lässt er sich schließlich darauf ein, über einige Unterschiede nachzudenken, »die die literarischen Mittel von denen der bildenden Künstler trennen« – nur die Mittel wohlgemerkt, denn in dem Ziel, die Welt zu verstehen und verständlich zu machen, kommen für Rodin alle Künste wie auch die Philosophie und die Religion überein. (148 f.) Den entscheidenden Unterschied in den Mitteln aber sieht Rodin darin, dass die Literatur »Ideen ausdrücken kann, ohne zu Bildern ihre Zuflucht zu nehmen« (149), während die Kunst nur in Bildern denken kann, die »innere Wahrheit« nur »durch eine äußere« auszudrücken vermag.2 Das Beispiel, das Rodin zur Erläuterung seiner These anbringt, könnte auf den ersten Blick nicht enttäuschender sein. In seiner Banalität scheint es ganz den Kritikern in die Hände zu spielen, die Rodin vorwerfen, mehr literarische als plastische Inspiration zu besitzen oder kurz: Gedankenplastik zu fabrizieren. Die Literatur, so Rodin, »kann zum Beispiel sagen: ›ganz tiefes Nachdenken läuft sehr häufig auf Untätigkeit hinaus‹, braucht darum aber nicht eine nachsinnende Frau darzustellen, der jede Bewegungsmöglichkeit genommen ist«. (149) Weshalb der Künstler sich überhaupt noch für eine Darstellung des Gedankens im Bild entscheiden sollte, wenn doch die Sprache kraft des Begriffs weitaus leichtfüßiger zum selben Resultat führt, ist unter diesen Voraussetzungen gar nicht einzusehen. Das Bild gäbe am Ende nur zu denken, was der Begriff von sich aus schon weiß. Doch wie so oft bei Rodin, zeigt sich auch in diesem Fall eine gewisse Hintergründigkeit, um nicht zu sagen: Doppelbödigkeit des Gesagten. Das Beispiel der ›nachsinnenden Frau‹ ist nämlich nicht zufällig gewählt, es verweist auf Rodins Skulptur La pensée (Der Gedanke). Sie zeigt den Kopf einer jungen Frau, leicht nach vorn geneigt, den Blick nach innen gerichtet, während der Rest ihres Körpers in einem massiven unbehauenen Marmor zu stecken scheint. Gewiss, die psychologische Deutung ist möglich: Der tief in Gedanken versunkenen Frau ist aus eben diesem Grund ›jede Bewegungsmöglichkeit genommen‹. – Rodins Ausführungen zum Denken des Künstlers, vor allem aber die Form der Skulptur selbst, legen 2 Vgl. Rodin, Die Kunst, 47: »[…] ja, man könnte hier sogar von einer ›doppelten Wahrheit‹

sprechen, denn es handelt sich um eine innere, die durch eine äußere zum Ausdruck gebracht wird.«

Einleitung

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jedoch eine andere Deutung nahe. Der Gedanke, von dem der Titel spricht, ist nicht (oder doch nicht in erster Linie) der Gedanke der jungen Frau, sondern der des Bildhauers, und zwar nicht in psychologischer, sondern in gegenständlicher Gestalt: jenes »Stück Klarheit, Sein, Gesicht«, von dem Rilke spricht,3 das sich in seiner wundervollen Zartheit und Weichheit von dem rohen, unbearbeiteten Stein abhebt: das Bild auf bildlosem Grund. Das non-finito, das Rodin hier wie in anderen Werken bewusst eingesetzt hat,4 ruft die kunsttheoretische, seit Platon von Künstlern wie Philosophen gleichermaßen diskutierte Frage nach dem ontologischen Status der künstlerischen idea auf und bezieht in ihr Stellung.5 Indem die Skulptur zur rechten Zeit ›unvollendet‹ gelassen worden ist, entsteht der frappierende Eindruck, die Figur stecke mit dem Rest ihres Körpers noch im Stein, was zugleich bedeutet, sie sei als ganze schon im Stein beschlossen gewesen, bevor der Bildhauer begonnen hat, sie qua aphairesis, durch »Wegnahme des Überflüssigen«, aus ihr zu befreien.6 Der Gedanke einer im Material präexistierenden idea, der wohl auf Plinius den Älteren zurückgeht, von Alberti popularisiert worden ist und über Michelangelo auf Rodin gewirkt hat,7 ist philosophisch bedeutsamer, als seine mythisierende Form erwarten lässt. Zwei wirkmächtige Auffassungen sollen mit ihm abgewehrt werden: zum einen die aristotelische Vorstellung, das eidos des Künstlers sei zuerst in der Seele (en te psyche) und müsse, um ins Werk gesetzt zu werden, der wesensverschiedenen hyle von außen eingebildet werden;8 zum anderen die zwar nicht platonische, aber platonistische Auffassung, der Künstler müsse die idea im hyperuranios topos schauen, um ihren Widerschein im sinnlich wahrnehmbaren Abbild zu realisieren. Hier wie dort ist der Gedanke ein ursprünglich bildloser, seine Bildlichkeit eine Folge der werkbildenden poiesis. Die Rückübersetzung des Bildes oder, mit Hegel gesprochen, die Auf hebung des Bildes in den Begriff muss unter diesen Voraussetzungen als selbstverständliche Aufgabe der philosophischen Rezeption erscheinen. Anders hingegen liegen die Dinge, wenn der künstlerische Gedanke, wie uns Rodins La pensée zu verstehen gibt, zu keinem Zeitpunkt diesseits der Materie gewesen ist, das Bild vielmehr sein angestammtes Element ist und das Denken des Künstlers nie etwas anderes war als ein Denken in Bildern. Dann hätte die philosophische Auseinandersetzung mit der Einsicht in die Unaufhebbarkeit des Bildes in den Begriff zu beginnen. Das mag heute fast schon wie eine Selbstverständlichkeit 3 Rainer Maria Rilke, Auguste Rodin (1903), Leipzig 1920, 44. 4 Zum non-finito der Marmorskulpturen Rodins siehe Christiane Wohlrab, Non-finito als

Topos der Moderne. Die Marmorskulpturen von Auguste Rodin, Paderborn 2016. Speziell zu La pensée vgl. die Seiten 96 ff. 5 Maßgebend dazu weiterhin: Erwin Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie (1924), Berlin 1982. 6 Zur »Wegnahme des Überflüssigen« mit Blick auf Michelangelo, Rodins großes Vorbild, siehe Panofsky, Idea, 65 f., sowie ebd. die Erläuterungen zu Plotin, 78 ff. 7 Vgl. Wohlrab, Non-finito, 25 f. 8 Vgl. Aristoteles, Metaphysik VII, 1032  b ff.

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klingen, wirft aber die vielleicht noch zu wenig beachtete Frage auf, warum die Philosophie dann nicht ihrerseits das Recht hätte, sich gleichgültig von den Bildern der Kunst, ja von den Bildwelten der Kultur überhaupt abzuwenden. Woher die Neigung, wenn nicht gar das Bedürfnis, sich auf das Feld des Unbegrifflichen zu begeben? Seitens der modernen Kunst handelt es sich zweifellos um eine Provokation, Rodin hat sie in den bereits zitierten Worten ausgesprochen, Kunst sei »die Ausübung des Denkens, das die Welt zu verstehen und verständlich zu machen sucht«. Ein solches Denken in Bildern glaubt auf Begriffe verzichten zu können, ohne den Anspruch des Weltverstehens, d. h. den Anspruch, selbst Denken zu sein, aufgeben zu müssen. Das im Bild sichtbar gewordene Denken macht der Philosophie ihr Terrain streitig und zwingt sie damit, Stellung zu beziehen. II.  Die Herausforderung des Bildes und der Einsatz der Kulturphilosophie Die Provokation seitens der Kunst wäre indessen ungehört verhallt, wenn die Zuwendung der Philosophie zur Bildlichkeit nicht auch durch eigene Zweifel an der Voraussetzungslosigkeit des Begriffs nahegelegt worden wäre: »Die Philosophie«, so hat Cassirer die Skepsis an der autochthonen Leistungsfähigkeit der Philosophie einmal pointiert, »kann nicht im Leeren bauen«.9 Die Folgen dieser Einsicht sind gewaltig. Das Grundprinzip der Metaphysik, demzufolge »die reine Vernunft […] mit nichts als sich selbst beschäftigt« ist,10 bricht die Kulturphilosophie in ihrer Eröffnungsphase zunächst nach der Seite des Gegenstandes auf. Nicht mit sich selbst hat sich die Vernunft zu beschäftigen, sondern – ausgerechnet – mit dem, was sie von alters her verdächtigt hatte, dem bloßen Meinen und Vorstellen anzugehören: mit den »eigentümlichen Bildwelten«, den symbolischen Formen der Sprache, des Mythos, der Religion, der Wissenschaft und der Kunst, die in ihrer »konkreten Totalität« das Feld der Kultur bilden.11 Cassirers Begründung für die radikale Neuausrichtung der Philosophie verallgemeinert die Einsicht Rodins in die Kunst als »Ausübung des Denkens, das die Welt zu verstehen sucht«. Weit davon entfernt, Horte der erkenntnisfremden doxa zu sein, artikulieren sich in den Bildwelten der Kultur »die verschiedenen Grundformen des ›Verstehens‹ der Welt«.12 Nicht um Trugbilder handelt es sich, die den Menschen über die wahre Beschaffenheit der Welt täuschen, sondern, im 9 Ernst Cassirer, »Zur Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften«, in: ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte (ECN), hrsg. von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Bd. 5, Hamburg 2004, 202. 10 Kant, KrV, B 708. 11 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (PsF I), in: ders., Gesammelte Werke (ECW), hrsg. von Birgit Recki, Bd.  11, Hamburg 2001, 7 f. Zum Begriff der »Bildwelt« als Synonym für »symbolische Form« vgl. ebd. 18, 21, 45 u. ö. 12 Ebd., VII.

Einleitung

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Gegenteil, um Zeugnisse echten »Weltbegreifens und Weltverstehens«, um die verschiedenen Wege und Richtungen menschlicher »Wirklichkeitserkenntnis«.13 Die Philosophie, so die heikle Formulierung Cassirers, »tritt all diesen Richtungen gegenüber«; sie sucht »einen Standpunkt zu finden, der über all diesen Formen und der doch andererseits nicht schlechthin jenseits von ihnen liegt«. Nur von diesem ›erhöhten‹ Standpunkt aus vermag sie »das Ganze [der Formen] mit einem Blick zu umfassen« und jede von ihnen »in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und bewußt zu machen«.14 Eben darin aber besteht die Aufgabe einer Philosophie, die sich als »Kritik der Kultur«15 neu entworfen hat: zu Bewusstsein zu bringen, was mit den Bildwelten der Kultur für das Selbst- und Weltverständnis des Menschen geleistet ist. Für ihre Hinwendung zur Kultur muss die Philosophie bei Cassirer allerdings einen hohen Preis zahlen. Indem er »den Grundbegriff der ›Theorie‹ selber erweitert«16 und »das Wort: ›Erkenntnis‹ im weitesten und umfassendsten Sinne« nimmt, so dass schließlich »jede geistige Tätigkeit« darunterfällt, »in der wir uns eine ›Welt‹ in ihrer charakteristischen Gestaltung, in ihrer Ordnung und in ihrem ›So-Sein‹, auf bauen«,17 rehabilitiert Cassirer zwar die vielgeschmähte, in ihren genuinen Leistungen lange Zeit verkannte Kultur. In demselben Maße aber, wie Sprache und Mythos, Wissenschaft und Kunst nun beanspruchen dürfen, ›Theorie‹ zu sein und ihren Beitrag zur ›Wirklichkeitserkenntnis‹ zu leisten, muss die Kulturphilosophie ihrerseits auf diese Adelstitel verzichten. Die Philosophie, so ­Cassirer in einer ungewohnt deutlichen Nachlassnotiz, schafft nicht eine prinzipiell neue Symbolform, begründet in diesem Sinne keine neue schöpferische Modalität – aber sie begreift die früheren Modalitäten als das{,} was sie sind: als eigentümliche symbol{ische} Formen. – Solange die Philos{ophie} noch mit diesen Formen wetteifert, – solange sie noch Welten neben und über ­ihnen auf baut, hat sie sich selbst noch nicht wahrhaft erfasst.18

Auch der Philosophie sei es nur im »Kampf mit den anderen« Formen gelungen,19 »zu der scharfen Fassung ihres eigenen Begriffs […] vorzudringen«.20 Im Unterschied aber zu den authentischen Bildwelten, deren Konflikt untereinander zum Wesen der Kultur gehört und entsprechend auf Dauer gestellt ist, liegt die Aus­ einander­setzung der Philosophie mit Sprache und Mythos, Wissenschaft und 13 Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs«, in: ECW 22, Hamburg 2006, 122–139, hier: 118. 14 Cassirer, PsF I, 10–12. 15 Ebd., 9. 16 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis

(PsF III), in: ECW 13, Hamburg 2002, VII. 17 Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs«, 118. 18 Cassirer, ECN 1, hrsg. von John Michael Krois, Hamburg 1995, 264. 19 Cassirer, PsF I, 11. 20 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (PsF II), in: ECW 12, Hamburg 2002, 1.

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Kunst endgültig in der Vergangenheit. Die Philosophie hat ihren Frieden mit der Kultur gemacht, als sie sich kritisch ›über‹ sie erhob, um ihre Leistungen zu Bewusstsein zu bringen. Die Spannung zwischen Bild und Begriff, von der wir ausgegangen waren, erscheint unter kulturphilosophischer Perspektive radikal neutralisiert. Die Philosophie überlässt dem Bild-Denken bereitwillig das Feld des Weltverstehens, ja stellt sich als Verstehen zweiter Ordnung ganz in seinen Dienst. Aus dem Bild als Rivalen des Begriffs ist ein Gegenstand unter anderen geworden, von dem für das Selbstverständnis der Philosophie nichts mehr zu befürchten, aber auch nichts zu erwarten ist. – In jüngerer Zeit aber ist der These Cassirers, die Philosophie habe sich selbst aus dem Getümmel der Kultur herauszuhalten, entschieden widersprochen worden. Die Kulturphilosophie, so Ralf Konersmann, steht nicht ›über‹ der Kultur, sie ist selbst »Teil des Feldes, das sie beschreibt«21 – und ist es seit jeher gewesen: »Indem die kritische Kulturphilosophie sich auf dem Tableau ihrer Beobachtungen positioniert, nimmt sie sich selbst und überhaupt die Philosophie, einschließlich der ihr eigenen Darstellungsformen, als Teil der Kultur und der Wissensgeschichte wahr.«22 Mit der Versetzung der Philosophie unter ihre eigenen Gegenstände beginnt, was Konersmann an anderer Stelle »die philosophische Reflexion des philosophischen Denkens«23 genannt hat – eine Reflexion, deren erste und vielleicht entscheidende Entdeckung ist, dass auch die Philosophie eine unauf hebbare »Außenseite« hat, durch die sie »im Umraum ihrer Kultur« erscheint, ja mit ihm verstrickt ist.24 Seine »Fremdbezüglichkeit« wächst dem philosophischen Denken nicht nachträglich zu, als unwesentliche Folgeerscheinung seiner Selbstobjektivation, sondern »erfaßt« es »auch dort schon […], wo es ganz und gar auf sich selbst und seinen Souverän, auf das ›Ich denke‹ zurückgenommen scheint«.25 Auf einer elementaren Ebene ist damit zunächst, in der Terminologie Cassirers, die »Symbolhaftigkeit«26 des philosophischen Denkens geltend gemacht. Auch die Philosophie ist eine symbolische Form, vor allem aber hat sie eine symbolische Form, nämlich ihre spezifische(n) Form(en) der Darstellung: Sie verwirklicht sich als »Arbeit am Text«.27 Was die kulturphilosophische Poetik, ausgehend von dieser Zentralthese, in den Stollen ihres Textmassivs entdeckt hat, birgt noch immer Sprengpotential für das Selbstverständnis des Faches: Zum vollen Begriff der Philosophie gehört mehr als der reine Begriff, mehr auch als das Argument, gehört eine ganze Palette 21 Ralf Konersmann, Kulturphilosophie zur Einführung, Hamburg 2003, 30. 22 Konersmann, Kulturelle Tatsachen, Frankfurt / M. 2006, 58 f. 23 Konersmann, Komödien des Geistes. Historische Semantik als philosophische Bedeutungsgeschichte,

Frankfurt / M. 1999, 144 f. 24 Konersmann, »Vorwort: Die Philosophie und ihre Gesichter«, in: Lucien Braun, Bilder der Philosophie, hrsg. von Ralf Konersmann, Darmstadt 2009, 17. 25 Konersmann, Komödien des Geistes, 10. Vgl. auch ebd., 190. 26 Ebd., 193. 27 Ebd., 10.

Einleitung

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an »Formen und Figuren des Wissens«, die jene schwer zu fassende Dimension des Denkens konstituieren helfen, die Hans Blumenberg »Unbegrifflichkeit« genannt hat. In dessen imaginärem Zentrum steht bekanntlich die Metapher – das Bild, wie es sich im Medium der Sprache entfaltet. Die »Fremdbezüglichkeit«, die Konersmann im Blick hat, bedeutet indessen mehr als nur die Notwendigkeit des Denkens, sich in Texten zu realisieren und in diesem Sinne sich eine Form zu geben. Cassirers These, die Philosophie begründe keine »prinzipiell neue Symbolform«, war ja nicht aus der Luft gegriffen. Nur ist sie, aus der Perspektive Konersmanns, auch einer ganz anderen Auslegung fähig. Die Philosophie nämlich bildet durchaus eine ›eigene‹ Form aus, nur eben nicht vermöge der reinen Selbstbezüglichkeit der Vernunft, sondern durch Anverwandlung und Einverleibung aller anderen, ihr zunächst ›fremden‹ Formen der Kultur: der Sprache, des Mythos, der Kunst. Die Bildwelten, denen sie sich als Philosophie und zumal als Kulturphilosophie gegenüber glaubte, trägt sie als ihr unverlierbares Erbe in sich. Eben noch mühsam auf Distanz gebracht und zu Gegenständen der philosophischen Betrachtung neutralisiert, kehren die Bilder in ihrem eigenen Innern wieder – als die »verborgenen Voraussetzungen«28 des philosophischen Begriffs. Konersmanns Einsicht in die formstiftende Kraft der »Fremdbezüglichkeit« erschließt der Kulturphilosophie »eine neue Aufgabe«, ja ein ganzes Arbeitsfeld: »die Auseinandersetzung mit den Imaginationswelten, die das Wirken der Vernunft vorgreifend strukturieren«.29 Unter der Prämisse, dass die Vernunft auf Wegen wandelt, die sie selbst nicht gebahnt hat, »werden die Bilder dem philosophischen Denken zur Herausforderung«.30 Rodins anf ängliche Provokation, mit den Bildern der Kunst einen Erkenntnisanspruch sui generis zu formulieren, findet in den Worten Konersmanns ihr philosophisches Echo. Aus Gegenständen des Begriffs sind von Neuem lebendige Rivalen geworden – Rivalen allerdings, die angesichts der Aufgabe, »die Welt zu verstehen und verständlich zu machen«, von Komplizen fast nicht mehr zu unterscheiden sind. * Die Essays, die der vorliegende Band zu Ehren von Ralf Konersmann versammelt, erproben je auf eigene Weise das Verhältnis von Philosophie und Bild. Als Versuche im eigentlichen Sinne sind sie keinem Programm und keiner übergreifenden These verpflichtet. Gemeinsam ist ihnen allerdings, dass sie die »Herausforderung«, die das Bild an den philosophischen Begriff stellt, annehmen, dass sie es ernst nehmen und ihm Gewicht verleihen. Nicht zuletzt durch die Offenheit, mit der sie dabei zu Werke gehen, erweisen sie dem Werk Ralf Konersmanns ihre Reverenz. 28 Konersmann, »Vorwort: Figuratives Wissen«, in: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hrsg. von dems., Darmstadt 32011, 7–20, hier: 10. 29 Ebd. 30 Konersmann, »Vorwort: Die Philosophie und ihre Gesichter«, 12.

Earthrise (1968)

Uwe Justus Wenzel

Der Aufgang der Erde Eine vorkopernikanische Überraschung

Der schönste und herzergreifendste Anblick seines Lebens sei es gewesen, erinnert Frank Borman sich zwei Jahrzehnte später; ein Gefühl der Nostalgie und des schieren Heimwehs habe ihn durchströmt. Der Kommandant der Apollo-8-Mission schildert in seiner Autobiografie den offenbar so nicht erwarteten Augenblick, da im Fenster der den Mond umkreisenden Raumkapsel die Erde hinter dem lunaren Horizont auftaucht – da sie aufgeht wie eine Sonne: »It was the most beautiful, heart-catching sight of my life, one that sent a torrent of nostalgia, of sheer homesickness, surging through me. It was the only thing in space that had any colour to it. Everything else was either black or white, but not the Earth.«1 »Earthrise«: Mehr noch als die Schwarzweiß-Aufnahme, die Borman am 24.  Dezember 1968 gemacht hat, ist unter diesem Titel eines der Farbfotos bekannt geworden, die Crew-Mitglied William Anders vom selben Erdaufgang mit derselben Hasselblad-Kamera schoss. Es ist in das kollektive Bildgedächtnis eingegangen, ebenso wie die »Blue Marble«, das als blaue Murmel vor schwarzem Hintergrund erglänzende ›ganze‹ Erdenrund, das vier Jahre später – auf dem bis heute letzten bemannten Flug zum Erdtrabanten – fotografisch verewigt worden ist. Beide Bilder, so heißt es in unzähligen Variationen, seien zu Sinnbildern eines neuen Zeitalters geworden, zu Emblemen eines ›globalen‹ Lebensgefühls, zu Ikonen eines erwachenden Umwelt- oder auch Erdbewusstseins. – Die Zeugnisse der Raumfahrer lassen sich, wie es scheint, als quasi vorursprüngliche Belege für diese Behauptung in Anspruch nehmen. Auch James Lovell, der dritte »Abgesandte der Menschheit« (wie der Titel lautete, den die Vereinten Nationen den Astronauten verliehen hatten), empfand den Kontrast zwischen farbigem Heimatplaneten und kaltem All, zwischen Lebenswelt und totem Mond. In einer der televisionären Live-Sendungen teilte er an jenem denkwürdigen Heiligabend dem Fernsehpublikum seine Eindrücke von den Wüsteneien der verkraterten Mondoberfläche mit, die über die flimmernden Bildschirme der irdischen Empfangsgeräte zogen: »The vast loneliness up here of the Moon is awe inspiring, and it makes you realize just what you have back there on Earth. The Earth from here is a grand oasis in the big vastness of space.«2

1 Frank Borman, Countdown. An Autobiography, New York 1988, 212; zit. nach Robert Poole, Earthrise. How Man first saw the Earth, New Haven  /  L ondon 2008, 2. Bei Poole finden sich auch weitere Details. 2 https://apollo8.spacelog.org/page/03:13:43:16/

Blue Marble (1972)



Der Aufgang der Erde

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Eine Oase in der Weite und Leere des Weltraums: Das war es, was die ersten Menschen, die je die Erdumlauf bahn verlassen hatten, mit eigenen Augen sahen (und mit dem Auge der Kamera festzuhalten hofften). Bei einer schlichten Augenzeugenschaft beließen sie es jedoch nicht. Es galt anscheinend, das Gesehene höheren Orts beglaubigen zu lassen und eine veritable Weihnachtsbotschaft zu verkünden. Als das Raumschiff im Mondorbit die Tag-Nacht-Grenze passierte und der lunare Sonnenaufgang bevorstand, wurden die Millionen vor den irdischen Empfangsgeräten mit einer Bibellesung überrascht. Aus dem Munde der drei andächtigen Astronauten vernahmen sie die ersten zehn Verse der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte, inklusive der Bekräftigungsformel: »Und Gott sah, dass es gut war.« Wenige Monate nach der überirdischen Zeremonie kam in den Vereinigten Staaten eine neue Briefmarke in den Handel – mit dem Motiv des Erdaufgangs und dem Genesis-Auftakt als Beschriftung: »In the beginning God …« Günther Anders legte seiner Empörung über solche »Amalgamierung von Frömmigkeit und Technologie« keine Zügel an, als er notierte, es sei »das Widerwärtigste«, was ihm im Zusammenhang der Mondmission vor die Augen gekommen sei. Auch an Sarkasmus ließ der Philosoph es in seinen 1970 publizierten Reflexionen über Weltraumflüge nicht fehlen: Die Schöpfungsgeschichte und die Mondumkreisung seien nun in einem einzigen – falschen – Bild zusammengefasst, das »täglich in Millionen von Exemplaren verkauft wird, damit es von hinten geleckt und von vorne gestempelt werde. Jedes einzelne Exemplar ist 6 Cents wert. Mehr als Gott, die Schöpfung und den Mondflug kann man zu diesem Preis wirklich nicht verlangen.«3 Ein Andachtsbild war die aufgehende Erde für Anders offenkundig nicht, eher ein Schreckensbild. Auch die in ferner Schwerelosigkeit schwebenden Raumfahrer haben etwas Abweisendes wahrgenommen, doch war  – so ist man zu sagen versucht – der Schrecken der kalten Ödnis von Mond und All für sie nichts als der Anfang einer herzergreifenden, anziehenden Schönheit. Hingegen für den ›unten‹, auf dem Boden der sublunaren Tatsachen, Gebliebenen scheint das Schreckliche, das er dank Television erblickte, Anfang und Ende zugleich gewesen zu sein. Günther Anders sah keine einladende Oase auf den neuen Aufnahmen der Erde, sondern ein Memento mori: »eine nirgendwo verankerte und im Ozean des Raums schiff brüchig herumschwimmende Boje«.4 Dies Bild ­jedoch ist als solches allenfalls für den ersten, flüchtigen Blick ein gerades Gegenbild zu dem – eindeutigeren – der Oase inmitten einer Wüste. Denn: Ob sie verankert ist oder herumtreibt, eine Boje kann nicht untergehen, solange sie unbeschädigt bleibt. Daran ändert auch das kurios anmutende »schiff brüchig« nichts, das die Assoziation eines Unglücks erzwingen soll, den Leser in seiner angeregten Phantasie indes sogleich nach einer Boje greifen lassen könnte, die Rettung verspricht – nach einer Rettungsboje.

3 Günther Anders, Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge, München 21994, 144 f. 4 Ebd., 59.

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Das Bild der Boje ist nicht eindeutig, gleichwohl lässt Anders keinen Zweifel daran, was es sagen soll: Der Anblick der Erde »war erschreckend«. Zwar hätten »wir alle« bereits gewusst, dass unser Globus so aussehen würde; es auch zu sehen, sinnlich wahrzunehmen, das sei aber »etwas vollständig Neues« gewesen. »[D]as war« – so legt er den Fernsehzuschauern, die darin womöglich etwas »Schönes« erblickt haben mögen, mit suggestivem Nachdruck nahe – »das war doch eine kaum mehr erträgliche Kränkung und Erniedrigung«.5 Der Anklang an Sigmund Freuds Diagnose einer »kosmologischen Kränkung« der Menschheit, einer Erschütterung des primordialen Narzissmus durch die kopernikanische Revolution des Weltbildes, ist unüberhörbar. Sinnfällig wird für Anders der Verlust der kosmologischen Zentralstellung in der »vereinsamt durch die Schwärze des Raums rollende[n] irrelevante[n] Kugel unserer Erde«, in die die herumschwimmende Boje sich im Laufe einiger Zeilen verwandelt.6 Was Anders sah, hatte er womöglich (wer weiß) doch schon einmal »gesehen« – nämlich bei einer Nietzsche-Lektüre imaginiert. »Seit Kopernikus«, heißt es in der Genealogie der Moral, »scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts? in’s ›durchbohrende Gefühl seines Nichts‹? …«7 Auch die »Selbstverkleinerung« des Menschen, die Nietzsche in dieser zentrifugalen Bewegung vonstattengehen sieht, kehrt (ohne dass Nietzsches Name fiele) bei Anders wieder – als »teleskopisches Gefälle« zwischen den wissenschaftlich technischen Großleistungen der Menschheit und der Erfahrung der eigenen Winzigkeit. Es sei, als blicke der Himmelsraum durch das Fernrohr »strafend« auf uns zurück und mache uns »um so vieles schrumpfen […], als er sich durch unseren teleskopischen Blick auf ihn erweitert hat«.8 Nietzsche freilich lässt dem mit Fragezeichen versehenen Gefühl des Nichts noch ein unerschrockenes »Wohlan!« folgen, für das sich bei Anders keine Entsprechung findet. Ebenso wenig wie für Nietzsches reichlich dialektische Erwägung, in der wissenschaftlich betriebenen Selbstverkleinerung zeige sich eine »Selbst­verachtung des Menschen«, mit der »dessen letzte[r], ernsteste[r] Anspruch auf ­Achtung« aufrechterhalten werden könne.9 Gekränkt, erniedrigt, vereinsamt, verzwergt, irrelevant – und so schließlich der »Mauselöcher der Egozentrik oder der Geozentrik«10 beraubt: Angesichts der gravierenden Diagnose verwundert die düstere Prognose nicht, die Anders als philosophischer Seelenarzt der Menschheit stellt: »[S]o rasch wird dieses Trauma nicht verheilen.« Und zwei Seiten weiter, noch etwas trübsinniger: »Ich glaube kaum,  5 Ebd.  6 Ebd., 61.  7 Friedrich Nietzsche, »Zur Genealogie der Moral«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (im Folgenden: KSA), hrsg. von Mazzino Montinari und Giorgio Colli, Bd.  5, München 1980, 245–412, hier: 404.  8 Anders, Der Blick vom Mond, 62 und 60.  9 Nietzsche, »Zur Genealogie der Moral«, KSA 5, 404. 10 Anders, Der Blick vom Mond, 64.



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dass wir dazu fähig sein werden, den schrecklichen Augenblick […] jemals ganz zu verwinden.«11 Einer der philosophischen Lehrer von Günther Anders hatte einen vergleichbaren Augenblick bereits 1966. In seinem Gespräch mit dem SPIEGEL , in ebenjenem Jahr geführt, aber erst postum (Ende Mai 1976) veröffentlicht, berichtet Martin Heidegger von einem Schrecken, um zu illustrieren, »dass die Technik den Menschen immer mehr von der Erde losreißt und entwurzelt«: »Ich weiß nicht, ob Sie erschrocken sind, ich bin jedenfalls erschrocken, als ich jetzt die Aufnahmen vom Mond zur Erde sah.«12 Leider erläutert er nicht näher, worüber er erschrak. Die Aufnahmen, die er vor Augen hatte, stammen von der ersten Mondsonde des Lunar-Orbiter-Programms und zeigen gleichfalls einen earthrise, freilich in Schwarzweiß und in schlechter Qualität. Die undeutliche Erdsichel leuchtet kaum – und sie ist, zumindest in der Version, in der das Foto Nasa-offiziell veröffentlicht und beschrieben wurde,13 links von der Mondoberfläche zu sehen. Der Mondhorizont befindet sich also in der Vertikalen. Nur in dieser Ansicht präsentiert sich der verschattete Erdglobus in der für seine Bewohner – dank visueller Erziehung – gewohnten Weise: mit dem Nordpol oben und dem Südpol unten. Diese »richtige« Ausrichtung des Heimatplaneten hat aber eben zur Folge, dass der Betrachter des Fotos keinen Boden unter den Füßen hat, wenn er sich selbst gleichsam in das betrachtete Bild setzt oder stellt. Das ist ästhetisch aufdringlicher und ungewohnter, als es die (bei geringer Auf lösung ohnehin kaum zu erkennende) Drehung der Erde um neunzig Grad wäre. Man darf durchaus darüber spekulieren, ob etwas von dem Schrecken, der Heidegger durchfuhr, auf die Irritierung dieser leiblich »verankerten« – unter den Bedingungen der irdischen Schwerkraft ausgebildeten – Sehgewohnheit zurückgeht.14 Den Betrachtern des »ikonisch« gewordenen Erdaufgangs von 1968 bleibt solche Irritation erspart, obgleich auch er – vom Kameraauge her gesehen – mit dem Mondhorizont in der Vertikalen eingefangen und katalogisiert wurde. In Umlauf gebracht und millionenfach reproduziert worden ist das Bild aber eben in der gewissermaßen bodenständigen Variante, die den Gleichgewichtssinn nicht stört. Losgerissen von der Erde und entwurzelt – das charakterisiert das Dasein des Menschen in Heideggers Perspektive allerdings nicht erst, seit die technologischen Kapazitäten ausreichen, um sich tatsächlich in den outer space katapultieren zu lassen. Die Raumfahrt übersteigert lediglich in der Manier einer abenteuerlustigen Weltalleroberung, was die wissenschaftlich-technische Zivilisation der Neuzeit 11 Ebd., 59, 61. 12 »Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger«, in: Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, hrsg.

von Günther Neske und Emil Kettering, Pfullingen 1988, 81–114, hier: 98. 13 Vgl. Poole, Earthrise, 76. 14 Vorausgesetzt selbstredend, Heidegger habe die Fotografie in entsprechender Präsentation gesehen. – Eine solche Deutung von Heideggers Lunar-Orbiter-Schrecken legt Benjamin Lazier nahe: »Earthrise; or: The Globalization of the World Picture«, in: The Amercian Historical Review, 116/3 (2011), 602–630, hier: 609 f.

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von Grund auf bestimmt, und macht es auf fast schon naive Weise sinnfällig. Technik ist für Heidegger nicht einfach ein – und dazu neutrales – Mittel, sie ist ein Weltverhältnis, das die Menschen von der Welt, der sie sich damit bemächtigen, entfremdet. Freihändig und in groben Zügen zusammengefasst: In diesem Weltverhältnis erscheint den Menschen das Wirkliche als Wirksames, das von ihnen als den bewirkenden Subjekten in Regie genommen, das von ihnen bewirkt werden kann. In solch technischem Vorstellen und Herstellen des Seienden sind die Menschen, die schaltende und waltende Subjekte zu sein wähnen, ihrerseits »gestellt«; weswegen Heidegger, wie es seine Art ist, von dem »Ge-stell« spricht – als dem nicht-technischen Wesen der Technik.15 In der Herrschaft des seinerseits nicht beherrschbaren »Ge-stells« wird die Welt zum Bild, zum »Gebild des vorstellenden Herstellens«.16 Durch »das vor sich hin und zu sich her Stellen« kommt das Seiende im Ganzen »als Gegenstand zum Stehen«,17 wird die Welt zum Bild – und unsere Epoche zur »Zeit des Weltbildes«. Dieses Weltbild ist – um im Bild des Bildes zu bleiben, aber Heideggers Sprachspiel zu verlassen – eigentlich ein Rahmen: der Rahmen, in dem, was Objekt ­eines Subjekts werden kann, erscheint. Noch bevor neuzeitliche Wissenschaft und Technik bildgebende Verfahren entwickelt haben, waren (und sind) sie in diesem elementaren Sinne – wie man sagen könnte – bereits weltbildgebende Prozeduren. Im Weltbildrahmen spielt sich – nun wiederum mit Heidegger formuliert – auch der »Kampf der Weltanschauungen« ab, der Kampf um die Stellung, in der der Mensch »dasjenige Seiende sein kann, das allem Seienden das Maß gibt und die Richtschnur zieht«.18 Als ein solcher Kampf war auch das Weltraumwettrennen zwischen den beiden Weltmächten gestartet worden, das uns Bilder der Welt beschert hat – Bilder der lebensweltlichen Erde im Kontrast zu einem lebenswidrigen »Weltall« –, die in verschiedenerlei Sinn als Welt-Bilder gesehen und begriffen werden können. Bleiben sie im Rahmen dessen, was Heidegger »Weltbild« nennt, im Rahmen eines wissenschaftlich-technischen Weltbemächtigungsunternehmens? Oder fallen sie heraus aus ihm, sprengen ihn gar? Haben die ersten astronautischen Augenzeugen des Weltaufgangs, die zugleich Fotografen waren, den entscheidenden Fingerzeig gegeben? Von der Erde losgerissen, verspürten sie offenbar instantan den Drang, sich wieder zu »verwurzeln«. Das Sinnbild einer kostbaren, zerbrechlichen, schützenswerten und Schutz bietenden Oase, eines irdischen Gesamtorganismus, für das die Zeugen in Authentizität versprechender Unmittelbarkeit zu werben scheinen, ist jedoch nicht ohne Konkurrenz geblieben. Die Erdkugel mag fragile Schönheit ausstrahlen, es könnte 15 Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, 19 ff. 16 Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes«, in: ders., Holzwege, Frankfurt / M. 1950, 69–104,

hier: 87. – Die Zusammenführung einiger Gedanken aus dem Weltbild-Aufsatz und aus den Technik-Vorträgen drängt sich sachlich auf, ist werkgeschichtlich aber naturgemäß undifferenziert. 17 Ebd., 85. 18 Ebd., 87.



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sich in solchen Welt-Bildern aber ebenso die Erhabenheit eines aus der Distanz ›global‹ zugreifenden Gestaltungswillens wiedererkennen.19 Allmachtsphantasien gewinnen materielle Gewalt nicht nur im Zuge der Globalisierung, der ökonomisch-technisch-politischen Vernetzung und Vernutzung der gesamten Biosphäre, sie schlagen sich bisweilen auch in deren Gegenbewegung nieder, die – Stichwort »Anthropozän« – den Globus retten und als eine Art umweltfreundliches Gesamtkunstwerk neu zu erschaffen sich vornimmt.20 Gerade ihre Auf ladung zu ›Ikonen‹ könnte mithin dafür sprechen, dass es so einfach und einsinnig nicht ist, was diese Welt-Bilder zeigen, sagen und sind. Es gibt mehr als eine Weltanschauung, die sich in ihnen spiegelt. Unter technisch-handwerklichem Aspekt und in einer trivial-heideggerianischen Perspektive lassen sich die Fotografien des Earthrise und der Blue Marble ohne weiteres als technische Artefakte, als hergestellte Vorstellungen beschreiben, die zudem – für die Veröffentlichung – noch ›manipuliert‹ worden sind. Auch im Falle der ›Blauen Murmel‹ galt es, den Nordpol oben im Bild zu haben und den Südpol unten; zudem wurde der Bildausschnitt geändert, um das blauweiß und grünbraun schimmernde Rund in die (optische) Mitte zu rücken.21 Solche Anpassung an Sehgewohnheiten und Formerwartungen kann freilich – und andererseits – auch als Problemanzeige aufgefasst werden. In den Fotografien und ihrer Bearbeitung ist dokumentiert, wie bei dem Versuch, die Welt »vor sich hin und zu sich her« zu stellen, das gewohnte Koordinatensystem durcheinanderzugeraten beginnt, das dem Menschen die – sozusagen senkrechte – Subjektstellung garantiert. Vor diesem Hintergrund liest sich, was Günther Anders assoziiert, wie die Aufzeichnung eines überempfindlichen Seismografen. Von einem kosmischen Schwindelgefühl heimgesucht, imaginiert er sich als Bewohner eines aus der Verankerung gerissenen Schwimmkörpers, der im interplanetaren oder interstellaren Weltenmeer driftet. Wer solchermaßen sinn- und steuerlos hin und her getrieben wird, kann sich schwerlich zu Hause fühlen. Von einem ›entwurzelten‹ Astronauten, der hin und wieder von der Raumkrankheit befallen werden mag, unterscheidet sich der seekranke Erdbojen-Bewohner dadurch, dass er nicht weiß, wohin er soll, wohin er gehört.22 Er ist kein Astronaut, der wieder nach Hause wollen kann und können muss; dennoch könnte er zur mentalen Stärkung gebrauchen, was Hans Blumenberg in einschlägigem Zusammenhang »Rückkehrfähigkeit« nennt: 19 Vgl. u. a. Horst Bredekamp, »Blue Marble. Der Blaue Planet«, in: Atlas der Weltbilder, hrsg. von Christoph Markschies, Ingeborg Reichle, Jochen Brüning und Peter Deuflhard, Berlin 2011, 366–375, hier: 372. 20 Einen Hinweis auf den Globus als Kunstwerk gibt Lazier, »Earthrise; or: The Globalization of the World Picture«, 617 et pass. 21 Dazu Sebastian W. Hoggenmüller, »Die Welt im (Außen-)Blick. Überlegungen zu einer ästhetischen Re|Konstruktionsanalyse am Beispiel der Weltraumfotografie ›Blue Marble‹«, in: Zeitschrift für Qualitative Forschung, 17/1-2 (2016), 11–40, hier: 24 f. – Die optische Mitte weicht leicht von der geometrischen Mitte ab. 22 Und womöglich auch dadurch, dass er vergessen hat, dass die Erde in ihrer annähernd elliptischen Bahn um die Sonne recht stabil gehalten wird.

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»Alle Weltabenteuer des Menschen setzen voraus, dass er sich immer wieder und irgendwann wieder auf ein Stück festen Bodens stellen kann.«23 Dem unfreiwilligen Geonauten – oder, passender: Geonoetiker24 – ist solche Rückkehrfähigkeit abhandengekommen. Unter ihm schwankt der Boden wie ein wogendes Meer. Die ästhetische Erfahrung, die er beim Anblick der Geo-Boje macht, jedenfalls gemacht zu haben behauptet, hat den Charakter eines Schocks. Ein wenig dramatisierend zugespitzt: Das Welt-Bild, in das er sich versetzt sieht, ist hermetisch, ausweglos. Der schreckliche Augenblick, der eigenen Gefährdung und Nichtigkeit gewahr zu werden, werde kaum je verwunden werden, prophezeit er. Auf den gar nicht so fernliegenden Gedanken, dass der Augenblick des Schreckens selbst der Beginn einer Verwindung sein könnte, einer Rückwendung zur Erde, zur einzigen bewohnbaren Lebenswelt, kommt er nicht. – Oder lässt er ihn nicht zu? Für Hans Blumenberg war ebendies der wichtigste Ertrag der bemannten Raumfahrt im Ganzen: die Rückwendung zur Erde. Mit Anders trifft er sich gleichwohl – und ironischerweise? – darin, der sinnlichen Evidenz das größte Gewicht beizumessen. Das Bild der Erde aus dem Raum habe schlechthin »jede imaginative Vorwegnahme« überstiegen: »Versucht man die jahrhundertelange vorbereitende Imagination, die kosmische Neugierde ins Verhältnis zum Ereignis zu setzen, so war die ebenso unerwartete wie herzbewegende Peripetie der gigantischen Absetzung von der Erde dieses Eine, dass am Himmel des Mondes die Erde steht. Kepler hatte es im Voraus beschrieben, aber dafür bedeutete Wissen nichts.«25 Es geht Blumenberg um den Erfahrungsgehalt dieses Ereignisses, in dem eine zentrifugale Bewegung sich in eine zentripetale umkehre, eine kopernikanische Exploration eine »vorkopernikanische Überraschung« mit sich bringe: die überwältigende »optische Evidenz« nämlich, dass die Erde eben doch eine »kosmische Ausnahme« sei.26 Es sei »mehr als eine Trivialität, dass die Erfahrung, zur Erde zurückzukehren, nicht anders hätte gemacht werden können als dadurch, sie zu verlassen«. Nur als »Erfahrung einer Rückwendung« werde »akzeptiert werden, dass es für den Menschen keine Alternative zur Erde« gebe.27 – Die Erfahrung jedoch, die Erde zu verlassen und auf sie zurückzukehren, so ließe sich zu bedenken geben, haben nur wenige gemacht. Und der Augenblick der visuellen Rückwendung, in den sich dank fotografierter Welt-Bilder aus dem All die vielen anderen vertiefen können, die nicht ›dort‹ waren, ist augenscheinlich deutungsoffen. »Es hat sich etwas abgespielt, was wir noch nicht voll verstehen«, gibt Blumenberg zu.28

23 Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt / M. 1997, 482; das Kapitel trägt die Überschrift »Die Erde am Himmel des Mondes«. 24 »Astronoetik«, die Gedankenraumfahrt, hat Hans Blumenberg, wie man weiß: nicht ganz unironisch, als philosophische Subdisziplin begründet; vgl. ebd., 547 ff. 25 Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt / M. 1975, 785 f. 26 Ebd., 787. 27 Ebd., 793, 794. 28 Ebd., 786.



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Apropos: Haben wir »Weltanschauer«29 eigentlich genau hingeschaut? Welches Antlitz zeigt der wundersam leuchtende Körper? Was sehen wir im Bild des aufgehenden Globus und der »Blauen Murmel«? Jedenfalls sehen wir keine Menschen. Auch das ist Blumenberg nicht entgangen: »Die Erde sah aus, als gäbe es den Menschen, seine Werke und seinen Unrat, seine Desertifikationen nicht! Keine Spur vom Menschen. Eine Reinheit des Kostbaren, als sei es lupenrein. Und damit auch ein noch unberührter und ungenutzter Boden für das fatal dazugedachte Wachstum. Es war eine Versicherung, was man sah, keine Warnung.«30 – Vielleicht schimmert heute im saphirblauen Marmor31 der menschenleeren und müllfreien Erdkugel etwas anderes durch; nicht mehr die Einladung, sie noch einmal zu nutzen und auf Verderb oder auch Gedeih umzuarbeiten, sondern ein Abschied – der Abschied des Menschen von ihr. Melancholie klingt als Oberton in manchen Erdzeitalter-Namen mit, in demjenigen aber besonders deutlich hörbar, der den Beginn einer Zeit des Menschen ausruft und damit auch deren Ende evoziert. Mit dem Anthropozän wird auch die Zeit des Weltbildes vorüber sein.

29 Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, 439. 30 Ebd., 440. In demselben Gedankengang distanziert sich Blumenberg denn auch von der

selbstverständlich gewordenen Behauptung, der neue Blick auf die Erde habe sie »als endliche Wahlheimat des Menschen sehen lassen. Das ist einfach eine rückprojizierende Überdeutung.« (Ebd.) Damit relativiert er die These von der unwiderstehlichen Evidenz der Erd-Oase im »Genesis«-Buch. 31 Dazu auch: Verf., »Der Schimmer des Marmors. Ein Raumschiff, eine Göttin, eine Zauberin und das Erdzeitalter namens ›Anthropozän‹«, in: ders., Zeit – in Gedanken erfasst. Philosophische Glossen, Basel 2020, 97–101.

Andreas Gursky, Rimini, 2003.

Christian Begemann

Das Verschwinden des Strandes Andreas Gursky: Rimini (2003)

Ebenso sehr wie von Wellen, Wind und Sand sind Strände in unserer Wahrnehmung von einer langen Imaginationsgeschichte geprägt. Seit Jahrhunderten ist der Strand ein Raum, der die Einbildungskraft der Menschen aufgrund seiner Lage, seiner Beschaffenheit und seines semantischen Potentials besonders anregt. Er besteht immer auch aus den Bildern, die wir uns von ihm – und an ihm – machen. Insofern ist er nicht nur ein topographischer Raum, sondern auch eine »kulturelle Tatsache«.1 Die moderne Vorstellung vom Strand als Raum der Freizeit und der Freiheit, der Abwesenheit der Zwänge des Alltags, eines unbeschwerten Lebens und eines erfüllten Augenblicks, wie sie in Andreas Gurskys Fotografie mit dem schlichten wie vielsagenden Titel Rimini von 2003 noch einmal anklingt, um zugleich demontiert zu werden, bildet nur eine schmale Facette in diesem Spektrum. Doch auch sie transportiert viel ältere Vorstellungen, selbst wenn diese latent oder gänzlich unbewusst bleiben. Für den Strand gilt dieselbe Offenheit und Unabschließbarkeit der Deutungsarbeit, die Ralf Konersmann für das Meer konstatiert hat. Auch er »bedeutet schlechthin […], ohne daß gesagt werden könnte, was«.2 Allerdings lassen sich semantische Konzentrationsherde feststellen. Am Strand stoßen verschiedene Sphären aufeinander. Zwischen ihnen verläuft keine klare Grenze, vielmehr berühren sie einander, überlagern sich, konfligieren und bilden derart einen liminalen Raum. Welche Sphären das sind, hängt zu einem guten Teil von kulturellen Denkmustern, Sehweisen und Bildwelten ab. Schon dass es sich dabei simplerweise um Wasser und Land handelt, kann man kaum feststellen, ohne damit eine metaphysische Reminiszenz zu verbinden, macht doch der Strand das Geschehen des dritten Schöpfungstags anschaulich. Auch wenn der biblische Schöpfungsbericht die Entstehung des Lebens nicht an diese Konstellation bindet, ist sie in anderen Mythen mit Wasser, Meer und Strand verknüpft. Bei Thales von Milet, so berichtet Aristoteles, hat das Leben seinen Ursprung im Wasser,3 und darin folgt er den Mythen. Für Homer steht O ­ keanos im Anfang, und bei Hesiod erfolgen Zeugung und Geburt der Aphrodite aus dem Samen des Uranos im Element des Meeres. Erst Sandro Botticellis berühmtes Gemälde allerdings siedelt La nascita di Venere am Strand an, lässt das Prinzip des ­Begehrens und der Prokreation also selbst in der liminalen Uferzone geboren wer1 Ralf Konersmann, »Die Philosophen und das Meer«, in: ders., Kulturelle Tatsachen, Frankfurt / M. 2006, 190–205, hier: 190. 2 Ebd., 205. 3 Aristoteles, Metaphysik, 983 b.

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den und aus dem Wasser ans Land steigen, um dort das Leben fortzupflanzen. Ein bemerkenswertes Phänomen ist, dass die säkularen Naturwissenschaften, und insbesondere die Evolutionstheorien, diesen Mythos seit dem 18. Jahrhundert letztlich nur umkodieren und mit einem neuen Begründungsrahmen versehen, wenn sie die Autogenese des Lebens aus dem Akt einer ›Urzeugung‹ im ›Urschlamm‹ eines ›Urmeeres‹ erklären.4 Es ist kein Zufall, dass genau um diese Zeit, den Anregungen des Hippokrates folgend, die Heilkraft von Meerwasser und Meeresschlamm, Seeluft und Strandleben wiederentdeckt wird und in eine therapeutische Emphase mündet,5 die im 19. Jahrhundert dann auch vitalistische Züge annehmen kann, wo das Meer zum Inbild eines ›dionysischen‹ oder ›ozeanischen‹ Lebensganzen wird. Noch vor allen empirischen Evidenzen herrscht im Kern der Meerwasser- und Thalasso-Kuren die Vorstellung, dass das, woraus das Leben entstanden ist, auch der Aufrechterhaltung und Heilung des Lebens dienen müsse, wie man sie etwa in Jules Michelets großem Werk La mer von 1861 formuliert findet.6 Seit Mitte des 18. Jahrhundert entstehen in England die ersten Seebäder, in denen sich der kurförmige Gebrauch von Meer und Strand mit der Fortführung des mondänen gesellschaftlichen Lebens von Adel und Bourgeoisie verbindet. Angesichts ihrer eklatanten Vorzüge fragt 1793 Georg Christoph Lichtenberg indigniert, warum Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad habe, wie das in England längst der Fall sei, aber im folgenden Jahr schon wird Heiligendamm eröffnet und zahlreiche andere Seebäder an den kontinentalen Küsten folgen in kurzem Abstand. In mancher Hinsicht ist dieser therapeutische Impetus Teil und Ausläufer einer neuen Naturerfahrung. Man reduziert diese häufig auf die ästhetische Wahrnehmung der Natur in den Kategorien des Schönen und Erhabenen, doch umfasst sie mehr. Natur, die im 18. Jahrhundert zur Berufungsinstanz par excellence wird, ist das schlechthin Heilende, und zwar schon darum, weil sie zum Anderen ­einer Kultur stilisiert wird, deren pathogene Züge in grellen Farben gemalt werden. Fragwürdig scheint nicht nur die höfische oder die städtische Kultur, sondern die Kultur schlechthin, zu deren Voraussetzungen die Entzweiung von der Natur, die Entfernung von den eigenen Ursprüngen zu gehören scheint. Der neue Trend zur Naturerfahrung geht daher seit dem 18. Jahrhundert nicht lediglich in die Felder und Wälder, aufs Land, von dessen Erfahrung man sich eine Art kultureller Gesundung an Leib und Seele verspricht; er geht insbesondere an die räumlichen 4 So etwa Ludwig Büchner, Kraft und Stoff oder Grundzüge der natürlichen Weltordnung (1855), Leipzig 191898, 159–177 (Kap. »Urzeugung«), hier v. a. 175. Zum literarischen Fortleben dieser Denkfigur vgl. Verf., »Stimmen über der Tiefe, gärender Schlamm, Wasserleichen – Theodor Storms Strände«, in: Narrating and Constructing the Beach: An Interdisciplinary Approach, hrsg. von Carina Breidenbach et al., Berlin  /  Boston 2020, 354–383, hier: 363–371. 5 Vgl. dazu Alain Corbin, Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste, Berlin 1990, 83–120, 319–357; Dieter Richter, Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft, Berlin 2014, 145– 161. 6 Vgl. Jules Michelet, Das Meer, übers. und hrsg. von Rolf Wintermeyer, Frankfurt  /  New York 2006, v. a. 248–257 (»Der Ursprung der Seebäder«).



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Grenzen des Kulturraums überhaupt, in die Gebirge oder ans Meer, dorthin, wo diese Grenzen selbst und die Abwendung des Betrachters von der Zivilisation sinnfällig werden. Die Grenzgebiete erhalten so auch eine gewissermaßen diffus metaphorische Qualität. Hier weitet sich in jedem Sinne der Horizont, man hat die Kultur im Rücken und blickt in einen offenen, auch deutungsoffenen Raum, der die Idee von subjektiver Freiheit ebenso evozieren kann wie die Erinnerung an den eigenen Ursprung, die Vorstellungen des Unermesslichen und Erhabenen oder die des Numinosen – ununterscheidbar miteinander verbunden etwa in C ­ aspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer. Auf dieser vielgestaltigen und vieldeutigen Basis entsteht die neuzeitliche Entdeckung des Strandes, die in mancher Hinsicht eine Erfindung ist. Philosophie, Literatur und Malerei interessieren sich vor dem 18. Jahrhundert nur in Ansätzen für den Strand, danach aber umso mehr. Der Strand wird nun zum Ort und Gegenstand komplexer diskursiver Verhandlungen. Und hier beginnt auch der moderne Strandtourismus. Die Klage über ihn ist so alt wie er selbst und wird zumeist aus seiner eigenen Mitte heraus artikuliert, von Menschen, die selbst an ihm teilhaben. Reisebeschreibungen seit dem späten 18. Jahrhundert schildern das Treiben auf den Bergen, und bereits der Harzwanderer Heine ironisiert im Angesicht des Brocken die Heerscharen gefühlsbereiter Städter, die stets eine romantische Phrase auf den Lippen haben. Die Strände folgen mit allenfalls geringer Verspätung und werden sogleich auch zum literarischen Thema, wie Jane Austen (Sandition, 1817) oder Charles Dickens belegen (The Tuggses at Ramsgate, 1836). Jakob Philipp Hackert dokumentiert bereits 1780, wie sich vornehme Spaziergänger am tyrrhenischen Meer den Strand mit Fischern teilen, die ihre Netze einholen und aufräumen.7 Diese Mehrfachnutzung des Strandes, die soziale Begegnung ganz unterschiedlicher Schichten mit ebenso unterschiedlichen Anliegen, Arbeitender, Meditierender, Badender und Spielender, bleibt ein markantes Thema der Bildgeschichte des Strandes über die bedeutenden Strandmaler Peder Severin Krøyer und Joaquin Sorolla hinaus bis in die Gegenwart. Seit den 1840er Jahren werden die Küsten von der Eisenbahn erschlossen, und auf dieser infrastrukturellen Basis beginnt jene ›Demokratisierung‹ der Stranderfahrung, der Theodor Fontane sarkastischen Ausdruck verleiht: »Und sind auch verschieden der Menschen Lose, / Gleichmacherisch wirkt die Badehose«8 – sie wirkt aber auch nur so, denn natürlich bleiben die sozialen Schranken bestehen. Mit der Begrenzung der Arbeitszeit, der Trennung von Arbeit und Freizeit und den Anfängen des Sozialstaats erfolgt die Besitzergreifung der Strände durch Massen von Erholungssuchenden. Ein frühes Dokument ist Heinrich Zilles Berliner Strandleben von 1912; hier wird vor der proletarisch-kleinbürgerlichen Berliner Haustür am Wannsee das erprobt, was als7 Palazzina Borghese in Pratica di Mare, 1780. 8 Theodor Fontane, »Der Sommer- und Winter-Geheimrat«, in: ders., Werke, Schriften und

Briefe, hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. I, Bd.  6, München  /  Wien 21978, 372 f.

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bald den Nordsee-, Ostsee- und den Mittelmeerstränden blühen wird, die vorerst noch überwiegend in der Hand wohlhabender Bürger sind. Eduard von Keyserling und insbesondere Thomas Mann haben das Strandleben der Jahrhundertwende beschrieben und auch seinen Wandel bilanziert. Man mag versucht sein, diese stetig wachsende Faszination vom Strand auf ein Moment von schierer Evidenz zurückzuführen: die physische Wirkung von Sonne, Luft, Wind, Wasser und warmem Sand, den optischen Eindruck des blauen oder grauen Himmels im Kontrast mit der oszillierenden Meeresoberfläche und akustisch die Geräusche des Wellenplätscherns oder der Brandung. Aber diese Evidenz hat es eben Jahrtausende hindurch nicht gegeben. Erst jetzt, im Zusammenwirken vieler Faktoren entsteht sie. Man darf wohl vermuten, dass hier wiederum mehr als historischer Zufall im Spiel ist. Mit der Schaffung von institutionalisierter Freizeit, die mit ihrer hohen emotionalen ›Ladung‹ mehr sein soll als bloß arbeitsfreier Feierabend und durchaus anderes ist als das antike otium, werden zunehmend Räume an der Grenze der Zivilisation aufgesucht, Räume, in denen diese ebenso abwesend sein soll wie in der von ihr vermeintlich befreiten Zeit. Die räumlichen Grenzgebiete, die Ränder der Kultur werden zum Schauplatz der emphatisierten freien Zeitzonen, zu Frei-Räumen, in denen man sich vom Druck des kulturellen Alltags frei macht und in denen diese Befreiung selbst anschaulich wird. Räum­ liche und zeitliche Sphären des A-Kulturellen und quasi ›Kultur-Befreiten‹ werden deckungsgleich, und ein Teil der Attraktion des Strandes mag sich daher seiner kulturellen Randlage selbst verdanken. Darin folgt der moderne Massentourismus dem Naturgefühl des 18. und 19. Jahrhunderts, und man darf vermuten, dass in ihm, zumindest latent, auch die alten, um Wasser und Strand zentrierten Bildwelten fortwirken. Der Rand der Kultur wird nun zur Heterotopie (Foucault), die als Teil der modernen Arbeitswelt faktisch ebenso dazugehört, wie sie das nicht tut, die also zwar Ausnahmebedingungen realisiert, aber doch nicht außerhalb der Kultur steht. So wird die Randzone zu einer Form eines eingeschlossenen Ausgeschlossenen. Dieses heterotopische Moment ist aber auch der Anfang vom Ende des Strandes. Denn Frei-Zeit und Frei-Raum werden in der Massengesellschaft zunehmend von dem erfasst, was sie programmatisch nicht sein wollen. An dieser Reflexionsstelle ist Andreas Gurskys Rimini angesiedelt. In mehrfacher Hinsicht haben die Strände heute ihre Unschuld verloren, wenn sie denn einmal eine hatten. Zwischen dem Nimbus und der Realität des Strandes besteht mittlerweile eine deutliche Diskrepanz. Die steigenden Meeresspiegel und die Tsunami-Katastrophen der letzten Jahrzehnte haben die Blindheit einer noch so perfektionierten Naturbeherrschung und die Verletzlichkeit einer bedenkenlos betriebenen Kulturation demonstriert. Zugleich zeigt sich in den Bildern von unterm Plastikmüll nicht mehr wahrnehmbaren Stränden eine gespenstische Wiederkehr des Verdrängten. Hatte man früher das Kulturland mit Deichen gegen das Meer verteidigt – und tut es noch immer –, so kehren jetzt nicht nur das Inkalkulable der Natur, sondern auch die ausgeschlossenen Überreste der Kultur in einer gruseligen Dialektik aus dem Naturraum selbst zurück – und machen fraglich, ob es diese



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Unterscheidung überhaupt noch gibt.9 Und schließlich wiederholen sich in den Bildern von Bootsflüchtlingen, die an türkischen und griechischen Stränden auf befremdete Touristinnen im Bikini treffen, die alten Konstellationen einer mehr oder weniger konfliktuösen Kulturbegegnung am Strand, wie wir sie aus den Berichten der Entdeckungsreisen kennen, etwa aus Georg Forsters Reise um die Welt. Gurskys Rimini markiert einen anderen Aspekt. Das hochformatige Foto zeigt – wenn der Titel tatsächlich eine Ortsangabe und nicht selbst bloß eine Metapher, oder genauer vielleicht eine Metonymie für ein viel umfassenderes Syndrom ist – den Strand von Rimini aus der Vogelperspektive, vermutlich aus einem Helikopter, von Südosten nach Nordwesten. Es soll hier nicht untersucht werden, inwieweit das Bild digital bearbeitet wurde – in der Konsequenz der Maxime Gurskys: »Wirklichkeit ist überhaupt nur darzustellen, indem man sie konstruiert«.10 Trotz des warmen Grundtons und der satten bunten Farben verrät diese Perspektive den Blick eines nicht involvierten, distanzierten, ja kalten analytischen Blicks, der in einem nüchternen, quasi dokumentarischen Gestus Strukturen beobachtet und buchstäblich über den Dingen steht. Der Strand dominiert das gesamte Bild. Er zeigt sich in einem nach oben hin sich verjüngenden und leicht nach rechts abknickenden Streifen, der bis etwa zur Mitte des Bildes dessen ganze Breite ausfüllt und Raum für vielfältige Assoziationen bietet, z. B. an eine Autobahn mit Verkehrsstau. Erst in der linken oberen Ecke wird die Bebauung im Hinterland sichtbar, die durch eine nur zu ahnende Straße und einen schmalen Streifen von gleichförmigen Pavillons vom Strand getrennt ist. Linkerhand hinter ihr deutet sich ein anders genutzter Raum mit kleineren Häusern, Grünflächen und Bäumen an. Rechts gegenüber liegt ein Streifen Meer, sodass der Strand hier als Zwischenraum erkennbar wird. Die Bebauung links oben besteht aus architektonisch wenig abwechslungsreichen Hotels und Appartmenthäusern, deren relativ strenge, dem Strand parallel laufende Formation jedoch fast schon regellos wirkt gegenüber dem, was sich am Strand abspielt – allerdings auch nur in diesem Kontrast. Denn der Strand steht unter dem strikten Diktat der Geometrie. Der triste kleine Kinderspielplatz auf der linken unteren Seite weist ein bisschen Plastikspielzeug auf und ist rechtwinklig eingezäunt. Die farbig markierten Wege, die im rechten Winkel auf das Meer stoßen, teilen den Strand in Parzellen, die von jeweils im selben Farbmuster gehaltenen Sonnenschirmen dominiert werden. Offenbar wird dadurch – aber das ist ein Kontextfaktor, den man nicht sieht – die Zugehörigkeit eines Strandabschnitts zu einem Hotel markiert. Schirme und Liegen sind exakt ausgerichtet, nur wenige tanzen aus der Reihe, und ähnlich verhält es sich mit ihrer Farbgebung, soweit man das unterscheiden kann, denn nur im unteren Bereich  9 Dass Gursky auch dieses Thema durchaus im Blick hat, zeigt sein Werk Ohne Titel XIII von 2002; URL: http://www.andreasgursky.com/de/werke/2002/ohne-titel-13 10 Zitiert in Udo Kittelmann, »Das denkende Auge. Zur Ausstellung von Andreas Gursky im Museum Frieder Burda«, in: Andreas Gursky. Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Museum Frieder Burda, hrsg. von Udo Kittelmann, Baden-Baden  /  Göttingen 2015; hier zitiert nach: URL: http://www.andreasgursky.com/de/downloads/2015/udo-kittelmann

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erkennt man überhaupt Einzelheiten, während deren Masse sich nach oben / h inten zu in Streifen und Farbflächen formiert. So unterstreichen Perspektive und Tiefenräumlichkeit des Fotos die ›Ordnung‹ seines Gegenstands. Der Strand erstarrt hier unter einem strikten Regiment, und an ›Regimenter‹ erinnert auch das Heer der Sonnenschirme, das seine Macht flächendeckend über den ganzen Strand ausgedehnt hat. Das weckt die Erinnerung an jene düsteren Szenarien, in denen der Strand Kriegsschauplatz ist, etwa in den Filmen zum D‑Day oder zur Evakuierung von Dünkirchen. Das heitere Strandchaos bei Zille oder Sorolla jedenfalls ist einer strikten Ordnung gewichen. Es gibt so gut wie keine freie Strandfläche mehr, als herrsche hier ein horror vacui, der der Natur und dem Natürlichen keinen Millimeter Platz einräumen möchte. Dass dieser Geometrisierung von der ›Natur‹ und den natürlichen Gegebenheiten Grenzen gesetzt werden, dass sie sich dem vorgefundenen Raum anbequemen muss, ist kaum mehr wahrzunehmen. Natur wird vielmehr minimiert, wie sich auch an den Wellenbrechern vor dem Strand zeigt, die die Kulturgrenze ins Meer hinausschieben und dessen gefährliche elementare Potenz eindämmen. Das Meer ist hier buchstäblich zu einer Randerscheinung reduziert, einer Marginalie am Rand des Strandes. Strandausstattungen wie auf dem Foto sind üblicherweise für Menschen gemacht. An Gurskys Foto fällt auf, dass die Zahl der Strandbesucher in keinem Verhältnis zur Infrastruktur steht. Es sind zwar durchaus Menschen auf Liegen und im Wasser sichtbar, aber es sind wenige, und ganze Parzellen sind nahezu entvölkert. Der ganze Strand macht einen ausgesprochen menschenarmen Eindruck, und das führt dazu, dass die facilities überhandnehmen. Sie scheinen sich verselbstständigt zu haben gegenüber ihren Benutzern, die nur noch als winzige Statisten vorkommen. Nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen werden von der Struktur dominiert, der Naturraum Strand wird überlagert von etwas, das man, um erneut einen Begriff Foucaults zu verwenden, als ›Dispositiv‹ Strand bezeichnen kann. Die Genese dieses Dispositivs lässt sich an der Literatur ablesen, etwa an seinen unterschiedlichen Ausprägungen in Theodor Storms Psyche (1875), Eduard von Keyserlings Wellen (1911) oder den vielen Strandtexten Thomas Manns, etwa den Buddenbrooks (1901) oder dem Tod in Venedig (1912). Schon diese letztere Erzählung beschreibt, wie sehr der ehemalige Frei-Raum Strand bereits institutionell organisiert wird. Der primäre Zweck des Strandurlaubs, die Erholung und das Baden, wird gerahmt und umstellt, ja eigentlich erst ermöglicht von einem Ensemble von Infrastruktur, von Institutionen, Verwaltung, speziellen Bauten, Regeln, Verboten und Überwachungsmaßnahmen. Da sind etwa die großen Hotels am Lido, der Eingangsbereich vor dem Strand, die Umkleidehütten mit kleiner Terrasse und guter Aussicht, die hölzernen Gehwege, die dienstbaren Geister, die fliegenden Händler und die speziellen Bademoden. Und natürlich haben auch die literarischen und theoretischen Texte sowie die Bilder selbst Anteil an diesem Dispositiv, das sie zugleich reflektieren. Bei Gursky gewinnt es etwas Geisterhaftes. Die strenge Struktur des Strands erstreckt sich bis an den Bildrand und lässt kaum mehr ein Außerhalb erkennen. Sie ist eine Struktur ohne Subjekte, aber eine, in der Sys-



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temstellen für die Subjekte vorgesehen sind, Parklücken, in die diese eingepasst werden, statt sich frei am Strand bewegen zu können. So erscheint der Strand der modernen Freizeitgesellschaft nicht als Ort einer Befreiung und der außer Kraft gesetzten Normierungen, sondern vielmehr als deren Fortsetzung. Freizeit erweist sich als Instrument der Disziplinargesellschaft und der kapitalistischen Verwertung, die alles erfasst, auch das, was aus ihr entfliehen will. Der Strand ist keine Heterotopie und schon gar keine Utopie mehr, sondern ein nur äußerlich bunter Zwangsund Normalisierungsapparat. Das alles wäre angesichts einer langen Tradition der Kulturkritik vielleicht nicht weiter bemerkenswert, sondern lediglich der nackte Normalfall einer fortgeschrittenen Moderne, wenn es nicht ein Bildgedächtnis der Strände und Meere gäbe, das hier zu einem seiner Endpunkte geführt wird und doch nach wie vor wirksam bleibt, sodass sich immer wieder Menschen auf den Weg zum Strand machen, getrieben von einem Versprechen, das sich in aller Regel nicht erfüllt. Insofern hat Gurskys Foto einen entschieden historischen Index. Es verweist zwar nicht auf das Ende einer Bildgeschichte des Strandes, aber doch einer bestimmten Geschichte der Bedeutungszuschreibung gegenüber dem Strand. Was früher Ausblicke in ein ganz Anderes, ins Unendliche, Göttliche, Elementare oder ins ›Leben‹ bot und Raum eines ›grenzenlosen‹ Freiheitsgefühls war, ist nun überbaut, verregelt und vernutzt. Auch hier ist der Alltag der kapitalistischen Welt eingekehrt. So bewährt sich der Strand als Grenzraum am Ende wenigstens noch einmal in seiner epistemologischen Qualität. Von den Rändern einer Kultur aus betrachtet, aus einer relativen Außensicht, zeigen sich deren Eigenheiten in besonderer Schärfe. Gursky, so hat er verschiedentlich zu Protokoll gegeben, versteht seine Bilder nicht primär als Abbildungen, sondern als konstruierte »Megazeichen«.11 Im Fall von Rimini ist also mehr gemeint als nur der konkrete Badeort selbst, nicht nur dessen Besonderes, sondern auch ein Allgemeines. Schon der Titel verweist auf ein Inbild, eine berühmt-berüchtigte Ikone des Massentourismus im 20. Jahrhundert, die auch in der Umgangssprache metonymisch für eine bestimmte Form des Urlaubs stehen konnte (ähnlich wie etwa ›Ballermann‹ oder, inzwischen wohl schon wieder obsolet, ›Neckermann‹). Rimini, der Titel und das Abgebildete, wäre, so verstanden, ein »Megazeichen« der Moderne, ein Bild nicht nur ihres Verbrauchs an Natur und Umwelt, sondern auch ihres Verbrauchs an sozialen Freiräumen, an Lücken im System, an utopischen Orten und nicht zuletzt an tradierten Bildern eines Anderen. Mit Udo Kittelmann lässt sich auch über dieses Bild Gurskys s­ agen: »Die Seherlebnisse weiten sich aus zu einem Denkraum, der sich zu einem bildhaften Archivraum verdichtet und die Vorstellung erfüllt, dass das Denken ikonisch funktioniert.«12 Möglicherweise aber bietet der Strand von Rimini gar kein so geschlossenes Bild, wie man zunächst meint. An manchen Stellen lassen sich Risse erkennen. Zunächst 11 Zit. nach Kittelmann (wie Anm.  10) 12 Ebd.

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scheint es eine ganz leichte und kaum nachweisbare Instabilität in der Statik des Bildes zu geben. Obwohl die vertikalen Linien der Häuser geradestehen, senkt sich der Strand ein wenig nach rechts, was vielleicht nur dem natürlichen Gefälle geschuldet ist, aber doch den Eindruck eines minimalen Schwankens und Abkippens hervorruft. Vom rechten Rand her drängt das Meer dagegen, das in einem stumpfen Winkel den Strand gleichsam zum Abbiegen zwingt und dessen totalisierenden Eindruck untergräbt. Leichte Irritationen bietet auch der vordere / u ntere Teil des Bildes. Die gerade Ausrichtung der Liegen kommt gelegentlich aus dem Lot, und ähnlich verhält es sich mit der Farbgebung, denn man bemerkt, dass rote, grüne und blaue Liegen, die mutmaßlich die Farbgebung der zugehörigen Sonnenschirme variieren sollen, nicht überall streng getrennt, also offenbar durch­ einan­der gekommen sind. Schwerer wiegt vielleicht, dass das anfänglich alles abdeckende Band des Strandes sich nach oben hin immer weiter verdünnt. Ein ›fading out‹ dieses Strandes und der Form seiner Bewirtschaftung? Sind solche Aspekte des Megazeichens interpretierbar oder doch nur Effekt der Perspektive? Noch trennt Gurskys Rimini manches vom hybriden Irrwitz der Palm Islands in Dubai, die Gursky gleichfalls ins Bild gesetzt hat. Rimini weist nicht die geschlossene, geradezu dystopische Struktur von Jumeirah Palm (2008)13 auf, aber der italienische Strand ist in Gurskys Darstellung doch schon auf dem Weg zu diesem Fluchtpunkt einer neuen, rein artifiziellen Naturkonstitution, einer alternativen Natur, deren Technikförmigkeit sich unter der quasinatürlichen Gestalt einer Palme tarnen könnte, wäre diese nicht selbst so exzessiv stilisiert, dass sie aus der Luft, kontrafaktisch zur vermutlichen Intention der Bauherren, eher einem gigantischen Skelett ähnelt – und dadurch wiederum dann doch ein Moment von ›Wahrheit‹ gewinnt. Zwar werden in Rimini Momente einer Störung und punktuell quasi entropische Tendenzen sichtbar, doch die neue Ordnung des Strandes vermögen sie kaum zu beeinträchtigen. Als emphatischer Raum verschwindet der Strand.

13 URL: http://www.andreasgursky.com/de/werke/2008/jumeirah-palm

Barnett Newman, Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV, 1969–70.

Michael Makropoulos

Das visuelle Ende des Signifikanten I. Zwei Quadrate, rot und gelb, dazwischen ein senkrechter Balken, blau; die Farbe auf der Leinwand rein, ihr Auftrag glatt, ohne Pinselstriche, Nuancen oder andere Spuren des Gemalten; nur die Primärfarben, keine Nichtfarben, keine schwarzen, weißen oder grauen Konturen, keine Strukturen und auch keine Trennlinien: Vielleicht markiert das riesige Bild tatsächlich das Ende der traditionellen Malerei in ihrer symbolischen, auf externe Bedeutungen verweisenden Funktion, wie sakral, repräsentativ oder autonom diese Funktion auch immer sein mag. Auf jeden Fall aber setzt Barnett Newmans Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV den Endpunkt in der Entwicklung der abstrakten Malerei. Damit setzt das Bild auch einen Punkt hinter die Entwicklung jener heterogenen Strömung in der nordamerikanischen Malerei, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage der Abstraktion radikalisiert hat und durch die Kunstkritik der frühen 50er Jahre zum Abstrakten Expressionismus homogenisiert worden ist, obwohl sie weder ein kohärenter Stil noch eine organisierte Bewegung, sondern eher ein vielfältig realisiertes Manifest der Relevanz des Ästhetischen im Medium der Farbe war. Und mindestens in einer Hinsicht eine Praxis der Emanzipation. Indem der Abstrakte Expressionismus die Farbe von ihrer instrumentellen Rolle befreite, an die sie die traditionelle Ausrichtung der Malerei auf außerästhetische Bedeutungen gebunden hatte, radikalisierte er die moderne Abkehr von der Gegenständlichkeit zur Abkehr von der Repräsentation überhaupt. Gleichzeitig revolutionierte er die klassisch-modernen Konzepte der abstrakten Malerei, weil er die Autonomie der Gestaltung auf folgenreiche Weise mit der Autonomie des Materials konfrontierte. Vielleicht war diese Befreiung des Materials aus seiner Bindung an überkommene Gestaltungsprinzipien, die mit tradierten Bedeutungserwartungen korrespondierten, am Ende einfach die ästhetische Dimension jener epochalen Entfesselung der Produktivkräfte aus ihrer Bindung an tradierte Produktionsverhältnisse, die das menschliche Weltverhältnis seit der frühen Moderne einer fundamentalen Transformation unterzogen hatte. Schließlich stand die Befreiung des Materials nicht nur für die schrankenlose Verfügbarkeit seiner ästhetischen Möglichkeiten, sondern signalisierte zugleich deren selbsteigene Qualität. Vielleicht überschritt die Malerei mit dem Abstrakten Expressionismus auf diese Weise auch die entscheidende, wenn nicht die eigentliche Modernitätsschwelle in der Geschichte der bildenden Kunst, hinter der ein Wandel stand, der ohne Zweifel einen Paradigmenwechsel im Wirklichkeitsverständnis der menschlichen Wahrnehmung bedeutete. Aber auf der anderen Seite verlieh diese Befreiung dem

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Material – der Farbe – auch eine eigene ontologische Dimension, die über seine instrumentelle Bestimmung als manipulierbarer Rohstoff hinauswies. Das gab der Farbe zwar keine eigene Bedeutung im strikten Sinne, aber es verlieh ihr dennoch eine besondere Dimension, die gerade nicht auf eine transzendente symbolische Ordnung, sondern auf einen immanenten Modus der Erfahrung verwies. II. Newmans Malerei, hat Max Imdahl erklärt, sei »amerikanisch«, weil ihr hervorstechendes Charakteristikum »das große, unüberschaubare Bildformat (›big canvas‹) als eine Verneinung des europäischen Tafelbildes und der im Tafelbild verwirklichten Komposition« sei. Dieser »Unüberschaubarkeit des Bildes entspricht dessen antikompositionelle Binnenstruktur« und »die mit ihm vollzogene Abwendung vom Tafelbild und dessen Komposition«. Bemerkenswert an dieser Abwendung vom »europäischen Tafelbild« ist allerdings, dass der Begriff hier auch die abstrakte Malerei der Klassischen Moderne einschließt, für die bei Newman vor allem die – aus seiner Sicht – dogmatischen Arbeiten von Piet Mondrian stehen. »Für ­Newman steht Mondrian auf der Seite der traditionalen Malerei, der ›etablierten Rhetorik der Schönheit‹, das heißt unter der Voraussetzung der Idee des komponierten Tafelbildes«, das »ein in sich selbst abgeschlossenes, insgesamt zu überschauendes und insofern notwendig distanzgebietendes System« sei, weil es ein »System der Ordnung« von »unveränderlichen, harmoniestiftenden Beziehungen« repräsentiert. »Genau diese Repräsentationsfunktion des Bildes«, betont Imdahl, »hat Newman kritisiert«.1 Die Abwendung von seiner Repräsentationsfunktion durch die Unüberschaubarkeit und Kompositionslosigkeit des Bildes ist zunächst einmal die Überbietung der primären Abstraktion im Kubismus, im Suprematismus und im Neoplastizismus. Denn die primäre Abstraktion stand als Antwort auf die zunehmende Unübersichtlichkeit und Unanschaulichkeit moderner Wirklichkeiten noch weitgehend im Horizont eines selbstverständlichen Wirklichkeitsbezugs der Kunst. Der komplexen Artifizialität dieser Wirklichkeiten entsprach – analog zum Weltbild der modernen Naturwissenschaften – die irreduzible Standpunktabhängigkeit des Sehens und die damit verbundene Einsicht, dass jede Totalität in einzelne, gegeneinander nicht privilegierbare Perspektiven zerfiel. Das führte zumal die Kubisten dazu, die dinglichen Gegenstände zu zerlegen und ihre verschiedenen Innen- und Außenansichten frei ineinander zu verschränken, so dass Inneres und Äußeres der Objekte gleichzeitig aus verschiedenen Gesichtswinkeln gesehen werden konnten. Der Kubismus brach auf diese Weise nicht nur mit der Zentralperspektive und der 1 Max Imdahl, »Barnett Newman, ›Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue III‹«, in: ders., Zur Kunst der Moderne, Gesammelte Schriften, Bd.  1, Frankfurt / M. 1996, 244–273, hier: 267 bzw. 249 f.



Das visuelle Ende des Signifikanten

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illusionistischen Beleuchtung der Objekte, die die Wahrnehmung seit der Renaissance auf die räumliche und materiale Integrität des Gegenstandes gegründet hatte, die ein materialistisches Objektverhältnis realisierte, das dem klassischen wissenschaftlichen Weltverhältnis entsprach; der Kubismus zielte auch auf die prinzipielle Überwindung der Perspektivität überhaupt, um so das Wesen der Gegenstände zu erschließen, das gleichsam als analytische Form aus ihrer freigelegten Struktur ­erschlossen werden sollte. Die simultane Darstellung mehrerer Ansichten desselben Gegenstandes von ­a llen Seiten, hat Arnold Gehlen erklärt, war der Versuch, »die standpunktsbezogene Erscheinungsmalerei aufzugeben« und dadurch »den Gegenstand ›selbst‹, seinen vollen ›Begriff‹ in die Darstellung zu zwingen; so daß nichts hinderte, mittels mehrerer Ansichten desselben Gegenstandes eine ›analytische Beschreibung‹ von ihm zu geben«.2 Aber die potentielle Gesamtheit der Perspektiven war unendlich, sofern immer neue Einzelperspektiven interpolierbar waren. Entscheidend war deshalb die Transformation des »fragmentarischen Ansichtsbilds in ein ganzheitliches Vorstellungsbild«, wie Werner Haftmann diesen Sachverhalt mit Blick auf das Konstruktive gefasst hat, das bereits im ›analytischen Kubismus‹ steckt. Dazu bedurfte es freilich eines weiteren, synthetisierenden Moments, das allerdings kein Widerruf des analytischen war, sondern dessen ›logische‹ Ergänzung. Es war einfach konsequent, die »analytische Interpretation des Gegenstandes zu verlassen und im synthetischen Umgang mit der Form selbst Gegenstände herzustellen, die sich entweder als Unvergleichbares der Natur gegenüberstellten oder den natürlichen Gegenstandsformen eine Eindringlichkeit und Wirklichkeit gaben, mit der sie bisher noch nicht gesehen wurden«.3 Die kubistische Lösung des modernen Wirklichkeitsproblems lag zwar in der Reduktion aufs Elementare, aber sie befreite sich nicht wirklich von der gegenständlichen Vorgabe. Vielmehr zielte sie durch die analytische Summe ihrer per­ spek­t ivischen Ansichten hindurch gleichsam auf den synthetischen Quotienten der konstituierenden Prinzipien dieser Vorgabe. Nicht das spezifische Objekt in seinen verschiedenen perspektivischen An- und Durchsichten war jetzt der Gegenstand, sondern sein allgemeines und gerade deshalb abstraktes Bauprinzip. Und in diesem Sinne war die primäre Abstraktion der Klassischen Moderne noch eine ausgesprochen konkrete Kunst, nämlich das Medium für die Sinnlichkeit einer Ab­ strak­t ion, die die Gegenständlichkeit zumindest als virtuelle noch mit sich führte. Dass diese virtuelle Gegenständlichkeit nicht nur transzendentale Ordnungssysteme repräsentierbar machen sollte, sondern auch ganz neue Möglichkeiten der visuellen Kommunikation eröffnete, die die warenästhetischen Reklamewelten und die piktographischen Symbolwelten bestimmen, ist allerdings nicht die geringste 2 Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt / M., Bonn 21965, 91. 3 Werner Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert. Eine Entwicklungsgeschichte, München 71987, 125 bzw. 147.

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Leistung der primären Abstraktion. Der lebensweltliche Effekt der abstrakten Malerei, so könnte man sagen, ist schließlich ihre unverzichtbare Bedeutung für die generalisierte Ästhetisierung moderner Weltverhältnisse. Diese Ausrichtung der klassischen abstrakten Malerei auf die Objektwelt bildet den Angelpunkt für die absolute Gegenstandslosigkeit des Abstrakten Expressio­ nismus, wie Timothy J. Clark mit Blick auf Jackson Pollock erklärt hat. »Man arbeitete in den Jahren 1947–1950 daran, die grundlegendsten Elemente des Malens – Linie, Farbe, Handwerk – von ihren normalen Assoziationen mit der uns bekannten Welt zu befreien, oder zumindest von der Welt, die aus Objekten, Körpern und ihren Zwischenräumen besteht.«4 Abstraktion ermöglichte hier deshalb nicht nur die Emanzipation des Sehens von der gegenständlichen Welt, sondern auch die Emanzipation der Abstraktion von jeder symbolischen Wirklichkeit. Worauf der Abstrakte Expressionismus damit zielte, war gleichsam eine Abstraktion zweiter Ordnung. In dieser Emanzipation der Malerei vom repräsentativen Wirklichkeitsbezug realisiert sich deshalb die besondere Selbstreferentialität der absoluten Gegenstandslosigkeit. Selbstreferentiell waren schließlich schon die elementaristischen Quadrate von Kasimir Malewitsch oder – noch früher und durchaus gegenständlich – der flirrende Pointillismus der Landschaften von Georges ­Seurat oder Camille Pissarro. Selbstreferentiell waren eben schon der Suprematismus und der Impressionismus. Aber unter der Voraussetzung einer Abstraktion zweiter Ordnung signalisierte die Selbstreferentialität ein weiteres, nämlich jene Performativität, die nicht nur für Pollocks, sondern auch für Newmans Ausprägung des Abstrakten Expressionismus charakteristisch ist, weil sie bei jenem das Produktions- und Formprinzip und bei diesem das Rezeptionsprinzip des Bildes bestimmt, indem sie eine besondere sinnliche Erfahrung ermöglicht. Es ist die ­sinnliche Präsenz der Asignifikanz. III. Zur Unüberschaubarkeit und Kompositionslosigkeit des Bildes in der Malerei des Abstrakten Expressionismus kommt also ein Drittes hinzu, nämlich die performative Asignifikanz des ästhetischen Aktes und der ästhetischen Erfahrung. Pollocks »›drip paintings‹«, erklärt Clark, »sollten eine bestimmte Erfahrungsordnung mitteilen«, deren Voraussetzung »gerade das Zerfallen jeder einzelnen, eindeutigen Zugehörigkeit zu einem Raum, einem Teil der Welt, einer Art von Natur« bildete. Dabei ging es konsequenterweise nicht um »Dissonanz«, sondern um die Emanzipation der Erfahrung von ihrer Bindung an Eindeutigkeiten überhaupt. Es war der Versuch, »den Formen von Dissonanz ebenso wie den Formen von Totalität die Herrschaft nicht zu ermöglichen«.5 Das trifft auch für Newmans Gemälde zu. 4 Timothy J. Clark, Jackson Pollock. Abstraktion und Figuration, Hamburg 1990, 34. 5 Clark, Jackson Pollock, 43 f. bzw. 48.



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Die Asignifikanz manifestiert sich hier in der Erfahrung einer absoluten Präsenz, einer vollkommenen Gegenwärtigkeit, die jede Möglichkeit des Erhabenen negiert und gerade darin ihre eigene Aura entfaltet. Man mag darin die amerikanische Variante dessen sehen, was dann ein Vierteljahrhundert später im europäischen Kontext philosophisch als Bruch mit der Herrschaft des Signifikanten zum Einsatz gegen die totalitären Tendenzen der klassisch-modernen, wenn nicht der ganzen abendländischen Bedeutungswelten wurde und noch in dieser Verspätung von der Fixierung an die europäische Tradition geprägt ist. Die Positivierung des Performativen im Abstrakten Expressionismus läßt sich jedenfalls wie die Positivierung des Unüberschaubaren und Antikompositionellen als Emanzipation der Malerei von ihrer Bindung an die Idee einer ästhetischen Souveränität verstehen, die gerade für die abstrakte Malerei der klassisch-modernen Avantgarden charakteristisch ist, weil sie das konkrete Modell einer idealen und deshalb ebenso definitiven wie universalen metaphysischen Ordnung sein sollte, wie Mondrian programmatisch erklärt hat.6 Damit stand die klassische Abstraktion noch weitgehend in der Tradition der europäischen Melancholie, wie Walter Benjamin nahegelegt hat, weil sie auch in der Selbstreferenz noch instrumentell blieb, solange sie gleichsam kompensatorisch eine Antwort auf den Verlust der kosmologisch, theologisch oder rationalistisch garantierten, allemal aber sinnförmig orientierten Ordnung der Wirklichkeit sein wollte. Unüberschaubarkeit, Kompositionswidrigkeit und Performativität als tragende Momente der rückhaltlosen Positivierung der Asignifikanz führen dagegen auf ein Weltverhältnis, das nicht im Horizont der europäischen Melancholie steht. Es geht in diesem Weltverhältnis nicht um die Kompensation einer – verlorenen – Einheit der Wirklichkeit im Ästhetischen, es geht auch nicht um die Option auf eine Souveränität der Kunst aus dem Geist der barocken Allegorie, die noch in den konstruktivistischen Abstraktionen bestimmend bleibt. Der historische wie systematische Bruch des Abstrakten Expressionismus mit der Klassischen Moderne, die eine zutiefst europäische Moderne war, ist vielmehr der Bruch mit einem Weltverhältnis, das selbst dort noch auf ein garantierendes oder wenigstens stabilisierendes situationstranszendentes Ordnungsprinzip fixiert blieb, wo es bestenfalls noch dessen Trümmer feststellen konnte, wie Benjamin das barocke Weltverhältnis beschrieben hat: »Jeder Wert war den menschlichen Handlungen genommen. Etwas Neues entstand: eine leere Welt«. Denn »die tiefer Schürfenden sahen sich in das Dasein als in ein Trümmerfeld halber, unechter Handlungen hineingestellt«.7 Die Abkehr von diesem Weltverhältnis trennt die amerikanische abstrakte Malerei von der europäischen. Und am Ende ist vielleicht genau das – mehr als alle ›Ökonomisierung‹ des Ästhetischen – die zureichende Bedingung für die Heraus6 Vgl. Piet Mondrian, »Plastic Art and Pure Plastic Art«, in: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, hrsg. von Walter Hess, Reinbek 1956, 100–105, bes. 102 f. 7 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd.  I.1, Frankfurt / M. 1974, 203–430, hier: 317 f.

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Michael Makropoulos

bildung jener säkularen Massenkultur, die gerade durch die Befreiung der ästhetischen Gestaltungsmittel aus ihren tradierten Bindungen an fixierte und vor allem transzendente oder zumindest transzendentale Bedeutungen zur genuinen Kultur einer globalisierten Moderne werden konnte.8 Ihr soziologisches Charakteristikum ist die generalisierte Mobilität, ihr philosophisches Charakteristikum aber ist das Hier und Jetzt einer absoluten Gegenwärtigkeit. Sie ist wahrscheinlich der Preis einer Positivierung der Asignifikanz, deren ästhetisches Modell die Abstraktion zweiter Ordnung, deren Weltverhältnis die absolute Immanenz und deren kulturphilosophische Signatur ein Erfahrungsraum ohne Erwartungshorizont ist.

8 Vgl. Verf., Theorie der Massenkultur, München 2008, bes. 127 ff.

Diego Velázquez, Las Meninas, 1656.

Bärbel Frischmann

Repräsentationen und Spiegelungen Foucaults Deutung der Las Meninas von Velázquez

Michel Foucault rekonstruiert in seinem Buch Die Ordnung der Dinge1 die methodischen Grundmuster, nach denen seit der Renaissance die zentralen Wissenschaften vom Menschen mit ihren thematischen Feldern Sprache, Wirtschaft, Leben ausgerichtet wurden. Er konnte zeigen, wie fundamental verschieden das Ordnen der Wissenselemente in den historischen Konstellationen der Renaissance, Klassik und Moderne vollzogen wurde, nach dem Muster der Ähnlichkeiten, dann der Repräsentation und in der Moderne historisierend. Nach dem Vorwort und noch vor den eigentlichen historisch-systematisch angelegten Analysen findet sich das erste Kapitel »Die Hoffräulein«, dessen Status aber nicht genau bestimmt ist, da es im Unterschied zu allen folgenden Kapiteln keine systematisierende Überschrift trägt. Schon hier finden wir einen Spiegelungseffekt: Das erste Kapitel strahlt aus auf alles Weitere und wird vom Folgenden aufgenommen und reflektiert. Foucault beschäftigt sich in diesem ersten Kapitel mit dem Velázquez-Gemälde Las Meninas (1656). Das Interessante an diesem Bild ist die Eröffnung von Deutungsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen: Zunächst gibt es die Wiedergabe einer Malerszene mit Personen und Interieur, sodann finden wir in der Art der Komposition und Darstellung einen Aussagegehalt, der erst durch die verschiedenen wechselseitigen, repräsentierenden Bezugnahmen der Figuren und dann der Betrachter hergestellt wird, und schließlich gibt es auf der Metaebene ein Interpretationsangebot, das Funktionsprinzip »Repräsentation« selbst zu denken. Denn Foucault sieht in den Las Meninas so etwas wie die künstlerische, sinnbildliche Darstellung des Themas der Repräsentation, »die Repräsentation der klassischen Repräsentation und die Definition des Raums, den sie eröffnet«. (45) Mit der Herausbildung des neuzeitlich-klassischen Weltbildes wird nun eine Vorstellung davon etabliert, dass Repräsentationen, also die Symbolisierungen der Welt, frei gewählt werden können und die Sinngehalte dieser Symbolisierungen aus kreativer Interpretation hervorgehen. Die Rückbindung an die faktische Welt wird gekappt und das Spiel der wechselseitigen Verweisungen eröffnet. Gehen wir nun mit Foucault diesen repräsentationalen Bezügen in den Las Meninas etwas genauer nach.

1 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1971),

Frankfurt / M. 121993. Die verwendeten Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe.

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Bärbel Frischmann

Der Maler Velázquez porträtiert sich selbst, als Maler, der ein Bild malt, er repräsentiert und reflektiert das eigene Tun. Der reale Maler Velázquez und der dargestellte Maler auf dem Bild sind nicht dasselbe. Und dies gilt für alle dargestellten Figuren. Sie alle sind Repräsentationen realer Personen, deren Platzhalter im Bild, und dabei immer schon Interpretationen: durch ihre Positionierung, ihre Blickrichtungen, ihre Haltung, ihre Kleidung. Vom Maler ist nur die obere Körperhälfte zu sehen, vor allem sein Gesicht wird durch das vom gegenüberliegenden Fenster einfallende Licht beleuchtet. »Seine dunkle Gestalt, sein helles Gesicht bilden die Mitte zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem.« (31) Diese Spannung wird weiter erhöht durch seinen Standort. Er steht so, dass er zwar sein Modell sehen kann, aber damit zu weit von der Leinwand entfernt ist, um malen zu können. Wenn er malen wollte, müsste er einen Schritt nach vorn tun, damit wäre er uns aber verdeckt. Das Subjekt der Repräsentation wäre dann in seinem Tun, im Herstellen der Repräsentation, nicht zu fassen. Es bliebe verborgen, und zwar hinter dem Produkt seiner Tätigkeit: Das Subjekt verschwindet hinter der Repräsentation. Die Beziehung zwischen dem Gegenstand, der Symbolisierung (Vorstellung, Verbildlichung, Versprachlichung usw.) und dem repräsentierenden Subjekt ist insgesamt also nicht vollkommen durchsichtig. Foucault sieht darin »ein subtiles System von Ausweichmanövern«. (31) Der Maler auf dem Bild arbeitet an einem Gemälde, aber dieses sieht man nur von hinten. Die Repräsentation, die es gibt, ist unserem Blick entzogen. Es ist also gar nicht klar, was auf der Leinwand eigentlich dargestellt ist, ob der Maler überhaupt schon begonnen hat oder erst einmal nur die Szene zurechtrückt, das Licht prüft oder seine Farben anrührt. Das Gemälde als Repräsentation ist uns verschlossen. Oder doch nicht? Zumindest haben wir alle Freiheit, das Gemälde selbst zu imaginieren. Das optische, lichterfüllte Zentrum des ganzen Arrangements bildet die Infantin, sie zieht die Blicke auf sich, umgeben von ihren höfischen Begleitpersonen. Das Mädchen präsentiert sich wahrscheinlich ihren Eltern, dem Königspaar, das sich aber außerhalb des Bildraums befindet, nämlich perspektivisch dort, von wo aus die Betrachter das Bild ansehen. Und auch der Maler blickt nicht auf die Infantin, sondern in Richtung des Königspaars. Dieses ist das Modell, aber man sieht das Paar nicht, es ist da und doch nicht da. Der Maler, der sein Modell ansieht, richtet seinen Blick auf uns, bzw. wir sehen ihm in die Augen – und er uns. Wir sind also sowohl Betrachter der ganzen Szenerie als auch zugleich an der Stelle des Modells, wir wechseln mit dem Königspaar die Rolle. Doch woher wissen wir, dass es das Königspaar ist, vor dem die Infantin sich präsentiert und das der Maler malt? Das Paar, obwohl außerhalb des Bildraumes platziert, ist dennoch auch abgebildet, nämlich im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Unser Blick wandert zum Spiegel, die eigene Reflexion führt uns zurück zum Ausgangspunkt des Gespiegelten, zum Königspaar bzw. uns selbst. Doch auch hier leiten uns die Deutungsmöglichkeiten in verschiedene Richtungen, denn es ist wiederum nicht ganz klar, ob im Spiegel tatsächlich das Königs-



Repräsentationen und Spiegelungen

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paar zu sehen ist, denn die Spiegelung ist nur schemenhaft zu erkennen und die Perspektive ließe es auch zu, dass sich das auf der Leinwand Dargestellte im Spiegel reflektiert. Die Funktion des Königspaars als vermutliches Modell für den Maler im Bild ist nicht genau bestimmbar. Wir sehen die Leinwand eben nicht von vorn, sondern nur von hinten. Da wir mit dem Modell den Platz ständig wechseln können, sind auch wir damit ins Ungewisse getrieben. »Weil wir nur diese Rückseite sehen, wissen wir nicht, wer wir sind und was wir tun. Sehen wir, oder werden wir gesehen?« (33) Und was macht uns selbst eigentlich aus, unsere Identität, unser Ich, unser Subjekt-Sein? Wir erfahren uns selbst auch als Objekt für andere. Sie reagieren auf das, was wir sagen und tun, und wir reagieren auf sie. Unser Selbst-Bild konstituiert sich durch die Repräsentation von Repräsentationen, die Reflexion der Reflexionen unserer Mitmenschen, die Spiegelung ihrer Reaktionen. Da das Herrscherpaar nur vage im Spiegel sichtbar wird, sind König und Königin als Figuren die am wenigsten realen, am wenigsten präsenten, sie sind nur Spiegelung, und doch sind sie diejenigen, um die sich das gesamte Geschehen dreht. (43) Sie bilden »eine Vakanz« (45), die die Betrachter dazu zwingt, die Lücke der Repräsentation zu füllen. Wenn es aber so zu sehen ist, dass der Spiegel gegenüber den Betrachtern hängt und wir quasi in den Spiegel schauen, dann wechseln wir uns mit dem Modell, dem vermutlichen Königspaar, ständig ab. In dieser Anordnung »kehren Subjekt und Objekt, Zuschauer und Modell ihre Rolle unbegrenzt um«. (33) Diese Überlegungen ließen sich sogar verlängern bis hin zur Anspielung auf die Repräsentation als politisches Geschehen, auf die Repräsentanten der Macht, mit denen die Betrachter des Bildes sich selbst identifizieren können. Wir werden so selbst zum imaginären Träger der Macht und sind deren Beobachter zugleich. Diese Überlegung wirft den Gedanken aber auch wieder zurück zur Infantin. Sie, die im Lichtzentrum steht, verkörpert nicht das Machtzentrum, zumindest nicht zum Augenblick, der auf dem Gemälde festgehalten ist. Sie ist als Thronfolgerin Anwärterin auf die Macht, ist aber noch nicht in deren Besitz. Ihre soziale Rolle als zukünftige Herrscherin ist politisch vorgegeben. Sie wird gerahmt von Hofdamen, die ihr und den Eltern ihre ganze Aufmerksamkeit schenken. Zugleich repräsentiert sie gerade als Kind die Zukunft, die immer unbestimmt und gestaltungsoffen ist. Dann gibt es im Gemälde auch einen Beobachter der ganzen Szenerie, der in einer offenen Tür steht, uns als Beobachtern genau gegenüber, rechts neben dem Spiegel, so als ob er auch uns in den Blick nehmen würde. Wir blicken ihn an, er blickt uns an, aber nicht nur uns, sondern alle, nur von der anderen Seite, von der Rückseite, während wir von vorne schauen. Er hat uns gegenüber einen Vorteil. Er sieht das Königspaar und die Vorderseite der Leinwand, wir aber nicht. Er hat, obwohl Außenstehender, die entscheidende privilegierte Position. Seine Funktion ist damit nicht eindeutig fixierbar. Auch seine Körperhaltung lässt nicht eindeutig darauf schließen, ob er kommt oder geht oder einfach nur beobachtend verharrt.

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An den Wänden ringsum hängen Gemälde, die kaum zu identifizieren sind, ihr Repräsentationsgehalt ist für uns als Betrachter damit vollkommen unbestimmt. Unsere Fantasie kann alles Mögliche hineinprojizieren. Wir gestalten damit den Raum selbst mit. Er öffnet sich unserer Fantasie. Und bedenkt man, dass sich die Figuren alle in der unteren Hälfte des Gemäldes befinden und die obere Hälfte nur von Wänden und Zimmerdecke eingenommen wird, bricht und reflektiert sich hier das Menschliche am bloß Stoff lichen. Hinzu kommt, dass Foucault und ich in verbaler Sprache über das Bild sprechen. Doch auch »Sprache und Malerei verhalten sich zueinander irreduzibel«. (38) Viele Blicke sind nun schon über das Gemälde hin und her gewandert. Das Ganze ist durchzogen von Linien und Perspektiven, die alle wechselseitig aufeinander Bezug nehmen. Unsere Repräsentationen konstituieren sich so wechselseitig. Und dies alles umkreist dasjenige, was im Zentrum des Bildes steht: die Infantin. Unsere Blicke wandern über das Bild und bleiben bei ihr hängen, sie aber schaut uns an und wir biegen so die Reflexion auf uns selbst zurück. Wir sind verstrickt ins Wechselspiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Präsenz und Imagination: angezeigt in der Position des Malers, in der Verborgenheit der Vorderseite der Leinwand, im Außerhalb des Königspaars, in der Unzugänglichkeit der Gemälde an der Wand, in der Differenz von hell und dunkel, oben und unten, vorn und hinten, ohne Ende. Foucault geht es in der Velázquez-Deutung um das Thema der Repräsentation, um die prinzipielle Inkongruenz und Inkompatibilität zwischen Darstellung und Dargestelltem, zwischen Gegenstand und Inhalt, zwischen Betrachtern und Dargestelltem, zwischen Subjekt und Objekt, so dass der Gegenstand selbst hinter der Repräsentation erodiert, indem er zugleich gezeigt wird und verborgen bleibt. Und es geht genauso um die Destruktion der einzelnen Funktionen und Positionen selbst, was Subjekt und was Objekt, was Betrachter und was ihr Gegenstand, was Gezeigtes und was Gemeintes ist, lässt sich nicht mehr klar konturieren. Die Beziehung der Repräsentation »ist notwendig unterbrochen«, »nie kann sie ohne Rest präsent sein«. (45) Die Repräsentation bildet einen vorgegebenen Gehalt nicht ab, sondern schafft ihn erst. Das Velázquez-Gemälde wird so zur Verkörperung von Darstellung und Misslingen der Darstellung, es repräsentiert die immanente Brüchigkeit der Repräsentation. Die sich immer neu herstellenden Relationen zwischen Signifikanten und Signifikaten finden nie zur Deckung. Es gibt »eine essentielle Leere« (45), die es gerade wegen ihrer Auslassung und Nichtrealisierung ermöglicht, die Funktion der Repräsentation als ein Netz von sich verschiebenden Bedeutungen zu verstehen. »Die Beziehung des Bezeichnenden zum Bezeichneten stellt sich jetzt in einen Raum, in dem keine vermittelnde Gestalt ihr Zusammentreffen mehr sichert; sie ist im Innern der Erkenntnis die zwischen der Vorstellung (idée) einer Sache und der Vorstellung einer anderen hergestellte Verbindung.« (98)



Repräsentationen und Spiegelungen

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Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens, das, was es aussagt, konstituiert sich nicht durch direkten, simplen Bezug auf die Gegebenheiten der Welt, sondern durch die Einbindung in das sprachliche Gesamtsystem. Für eine solche Theorie bleiben unsere Orientierungs- und Verstehensbemühungen immer im Fluss, können wir kein endgültiges Fixum erreichen. Und dennoch lösen sich die Dinge auch nicht einfach unter unserem Blick auf. Wir verfügen über einen kulturellen Vorrat, der immer wieder neu bestätigt, weiterentwickelt, umgestaltet wird. Alles Setzen, alles Errichten, alles Gründen ist damit implizit schon die Forderung nach Bestätigung. Neben die Differenz tritt die Wiederholung, die Iteration. Aber die Iteration ist nicht die Wiederholung des Gleichen, sondern verändernde Wiederholung. Wenn also unser Blick immer und immer wieder kreuz und quer über die Las Meninas wandert, dann verändert er sich stets und das heißt, das Gemälde verändert sich für uns. Wir können von dem Moment an, wo wir z. B. im Spiegel das Königspaar entdecken, nicht mehr davon absehen, dass wir dies wissen, und binden dies Wissen in das Spiel der wechselseitigen Verweisungen ein. Wir reichern in e­ iner Art »zyklischer« Interpretation, wie Friedrich Schlegel dies nannte, unsere Interpretation immer weiter an, verschieben sie, lösen einzelne Deutungsideen wieder auf und kreieren neue. Es gibt hier kein Zu-Ende-Kommen, sondern immer nur neue Versuche des Deutens und Bestimmens, die sich aus den wechselseitigen Bezügen zwischen den Signifikanten oder Repräsentanten ergeben, ohne uns in einer Gewissheit zur Ruhe kommen zu lassen. Wir bleiben herumgetrieben im endlosen Versuch der Repräsentation der Repräsentation der Repräsentation. Der Maler interpretiert sein Sujet, Foucault inter­ pretiert das Gemälde, wir interpretieren das Gemälde und Foucaults Interpretation des Gemäldes …

Jan van Eyck, Die Arnolfini-Hochzeit, 1434.

Johann Kreuzer

Wiederholte Spiegelungen Über eine Frage aus dem Jahr 1434

1)  Bilder geben Rätsel auf – zumindest solche, die dem Sehen etwas bedeuten, ­indem sie sich »selbst zeigen«.1 Bilder hingegen, die nur kopieren, was je schon gegeben ist, tragen nichts zur Belebung des Gemüts bei und veranlassen auch wenig zu denken.2 Anders ist es mit einem Bild aus dem Jahr 1434: Geläufig ist es unter dem Titel »Arnolfini-Portrait« oder »Arnolfini-Hochzeit«, seiner ersten Nennung nach heißt es freilich »Hernoul-le-Fin mit seiner Frau«.3 2)  Dass es Bilder gibt, die allein kopieren, was schon gegeben ist, mag der Grund dafür gewesen sein, dass Platon die Bildermacher aus dem Zusammenhang vergesellschafteten Lebens verbannte.4 Das macht diese unverzeihliche Verbannung nicht besser, im Gegenteil: Die Reduktion des Bildermachens aufs bloße Kopieren erfolgt in der Politeia wider besseres Wissen. Denn an anderer Stelle (im Sophistes) unterläuft Platon die strikte, sozusagen basal ikonoklastische Trennung, dass nur ein tatsächliches Sein – eines, das seinem mentalen Gehalt nach dingfest zu machen ist – wahrheitsfähig sei (Geltung habe). Alles andere erschöpfe sich in bloß schattenhaftem Schein, den es zu beseitigen gelte. Im Sophistes lässt Platon den Dialog darauf zusteuern, dass sich ein scheinfreies Sein aus dem Insgesamt der Erfahrungswirklichkeit nicht heraussäubern lässt, womit auch die scharfe Trennung zwischen einem ›reinen‹ Sein und dem bloßen Schein (z. B. der ›Bilder‹) hinfällig wird. Um Wahrheitsanmaßungen sophistischer Art abweisen zu können, braucht es den reflektierten Umgang mit Gegenständen der Erfahrung, die als Mischung oder ­genauer als Verbindung von Sein und Nichtsein zu begreifen sind.5 Ein solcher Erfahrungsgegenstand nun ist das Bild6 – wobei Platon den Dialog vom 1 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 523; Philosophische Grammatik § 123. 2 »Geist in ästhetischer Bedeutung« heißt Kant bekanntlich »das belebende Prinzip im Ge-

müte«, von der dazugehörigen »ästhetischen Idee« merkt er weiter an, dass sie »diejenige Vorstellung der Einbildungskraft« sei, »die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter […] Begriff [eines Objekts, JK] adäquat sein kann«. (KU, § 49, B 192/93, W 413/14). 3 So wird es in dem am 15. Juli 1516 angelegten Inventar der Gemälde Margaretes von Österreich genannt. Das Gemälde war ihr von Don Diego von Guevera geschenkt worden. Vgl. Jean-Philippe Postel, Der Fall Arnolfini. Auf Spurensuche in einem Gemälde von Jan van Eyck, übers. von Cordula Unewisse, Stuttgart 2017, 33 f. 4 Vgl. Platon, Politeia, 596 e –598 c. 5 Vgl. Platon, Sophistes, 237 a, 241 d, 258 b –259 a. 6 Der andere Gegenstandsbereich, der als ›Verflechtung von Sein und Nichtsein‹ – genauer als Einheit von Identität und Differenz – zu begreifen ist, ist der der Sprache (vgl. Sophistes, 262 a–264 d).

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Johann Kreuzer

eidōlon zum eikōn springen lässt: Die eidōla sind als bloße Nach- und Täuschungsbilder erkenntnisfern. Als eikōn / icona hingegen verstanden ist das Bild zwar ein erstaunlicher, aber doch zugleich erkenntnisaffiner Gegenstand. Es ist intelligibel nicht verortbar, aber ihm eignet Intelligibilität. Definiert wird es als dasjenige, was »wirklich ein Nicht-Wirklichseiendes ist«.7 In diesem Sinn oder aus diesem Grund ist es symplokē (Verflechtung) von Seiendem und Nichtseiendem. Ist das der Grund, aus dem heraus Bilder Rätsel aufgeben – und die Sicherungsbedürfnisse vereindeutigenden Denkens unterlaufen und so beunruhigen?8 Platon hat dieses Beunruhigungspotential im Sophistes markiert, wenn er die Semantik des Bildes als átopon bezeichnet.9 Verstehen und erkennen wir etwas als Bild, dann begreifen wir es als ›Bild von etwas‹ – es ist die Gegebenheitsweise von etwas, was nicht Bild ist (1). ›Was nicht Bild ist‹ deutet nun aber nicht auf ein den Bildern gegenüber anzunehmendes oder neben der Sphäre der Bilder vorhandenes NichtBild (2). Worauf ein Bild verweist, ist in der Tat sein von ihm verschiedener intelligibler Gehalt: sonst wäre es nicht ›Bild‹. Dieser intelligible Gehalt ist aber nur im oder durch das Bild selbst zu erkennen. Denn bestünde das Erkennen eines Bildes darin, das materiell gegebene Bild mit einer daneben gegebenen Wahrheitssphäre zu vergleichen, so würde das entweder bedeuten, ein Bild als Zweitkopie eines ursprüngliche(re)n ›Erstbildes‹ anzusehen, oder es liefe auf die Vorstellung hinaus, jener intelligible Gehalt wäre so etwas wie ein bildloser Bereich unabhängig von der Sphäre der Bilder – gleichsam ein Bild vor dem Bild, mit dem das jeweils anschaulich gegebene als ›zweites‹ (Bild) verglichen wird. In beiden Fällen bliebe das, wovon das Bild als Bild zu denken ist, wie ein Bild gedacht: Es bliebe vorgestellt als das primäre Bild, das durch sekundär-nachfolgende nachgeahmt wird (3). Nur das Erkennen des Bildes (als Bild) ist demgegenüber selbst nicht wieder Bild. Umgekehrt bedarf die Erkenntnis dessen, wovon das Bild Bild ist, eben der Verschiedenheit der materiellen Bilder – denn nur als Beziehung zur sinnlichen Differenz der materiell erscheinenden Bilder vermag dies Erkennen sich zu realisieren. Daraus folgt (4) sowohl die Irreduzibilität des intelligiblen Gehalts, der in Bildern sich zeigt und ihnen gegenüber ein konstitutiv Anderes bleibt, wie die Einzigartigkeit der Bilder: Denn nur in sinnlicher – verkörperter, endlicher: von der Endlichkeit individuellen Daseins ausgehender und eschatologisch auf sie zurückverweisender – Gestalt wird jener intelligible Gehalt wirklich.

7 Vgl. Platon, Sophistes, 239 c–240 C. – Zur Konjektur oder Nichtkonjektur eines ›zweiten nicht‹, so dass zu übersetzen wäre: »nicht wirklich ein Nicht-Wirklichseiendes« vgl. zusammenfassend Christian Iber, »Kommentar«, in: Platon, Sophistes. Text und Kommentar, hrsg. von Christian Iber, Frankfurt / M. 2007, 247–249. Auch die Variante »nicht wirklich ein …« kommt mit dem Ergebnis der Intelligibilität des Bildes überein, ja steigert sie noch: auch wenn das Bild kein reales Sein ist, ist es nicht wirklich bloß ein Nicht-wirklich-Seiendes. 8 Vgl. Ralf Konersmann, Die Unruhe der Welt, Frankfurt / M. 2015, 14–17. 9 Vgl. Platon, Sophistes, 240 c.



Wiederholte Spiegelungen

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3)  Nun gibt es nicht nur die eben skizzierte lebenszeitneutrale Semantik des Bildes, sondern damit verbunden eine zeitlich-lebensgeschichtliche oder zugespitzt formuliert: eschatologische Dimension – jenes Omega, das als Alpha von Beunruhigung und Belebung des ›Gemüts‹ genau dann wirksam wird, wenn wir uns selbst, d. h. unser Dasein in der Zeit, (nach Gen. 1.26) als Bild begreifen. Der primäre Bezug für diese lebensgeschichtlich-endzeitliche Dimension des Bildes ist 1 Kor. 13.12: »Jetzt schauen wir in einem Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber […]. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber […].«10 Der klassische Deutungsbeginn von 1 Kor. 13.12 findet sich bei Augustinus. An das Paulus-Zitat schließt Augustinus folgende Überlegungen an: »[D]urch das Bild, das wir selbst sind, [sehen wir] irgendwie jenen […], von dem wir geschaffen sind gleichwie in einem Spiegel. […] ›Wir schauen‹ hat er in dem Sinn gesagt, dass wir durch einen Spiegel schauen, nicht in dem Sinne, dass wir von einer Anhöhe herabschauen. Im Griechischen, aus dem die apostolischen Schriften ins Lateinische übertragen wurden, ist das nicht doppeldeutig. Dort ist nämlich das Wort für Spiegel, in dem die Bilder der Dinge erscheinen, von dem Worte für Warte, von deren Höhe aus wir etwas in weiterer Entfernung sehen, auch schon rein klanglich durchaus verschieden.«11

Abgesehen davon, dass Augustinus hier die erste etymologische Deutung dessen gegeben hat, worin die spekulative Natur des Denkens besteht, setzt er kurz nach dieser etymologischen Exposition der spekulativen Natur des Geistes speculum und imago in eins. Paulus habe mit dem Wort Spiegel das Bild verstanden wissen wollen – parallel dazu, dass er Rätsel und Ähnlichkeit (similitudo) zusammengezogen habe.12 ›Rätsel gleich dunkle Ähnlichkeit‹ – heißt das: der Geist ist ›Spiegel‹, indem er sich als Bild begreift? Aber wie sieht sich ein Bild als Bild? Wohl dadurch, dass es sich in einem Spiegel reflektiert. Und was meint diesbezüglich ›Rätsel und dunkle Ähnlichkeit‹? Will man über ein direktes, die Sphäre der Bilder überspringendes Sehen verfügen, müsste man eine Perspektive jenseits der Bedingungen der Erfahrung einnehmen können. Das ist Wesen, die um ihre Kreatürlichkeit wissen, unmöglich. Statt das Sehen überspringen zu können, müssen wir vielmehr reflektieren, was sich im Bild und mit ihm als Spiegel zeigt – deshalb heißt es in De trinitate an anderer Stelle: 10 Einheitsübersetzung von 1979, zit. nach: Das Neue Testament. Griechisch u. Deutsch, Stuttgart 1986, 463. – Die Septuaginta hat für Spiegel »esoptrou«, für Rätsel »ainigmati« und für ›erkenne ich‹ »gignōskō«; die Vulgata: »per speculum / in enigmate / cognosco«. 11 »[…] per hanc imaginem quod nos sumus uideremus utcumque a quo facti sumus tamquam Per speculum. […] – Speculantes dixit, per speculum uidentes, non de specula prospicientes. Quod in graeca lingua non est ambiguum unde in latinam translatae sunt apostolicae litterae. Ibi quippe speculum ubi apparent imagines rerum ab specula de cuius altitudine longius aliquid intuemur etiam sono uerbi distat omnino.« (De trinitate XV.8.14, zit. nach Augustinus, De trinitate, übers. und hrsg. von Johann Kreuzer, Hamburg 2001, 280–283) 12 »[…] mihi uidetur sicut nomine speculi imaginem uoluit intellegi, ita nomine aenigmatis quamuis similitudinem obscuram […]« (De trinitate XV.9.16, ebd., 286).

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»Denn nicht sagt der Apostel: ›Wir sehen jetzt einen Spiegel‹, sondern: ›Wir sehen jetzt durch einen Spiegel.‹«13 – Nicht einen Spiegel, sondern per speculum sehen wir. Im Spiegel sehen wir immer zugleich, dass wir uns in einem Spiegel sehen. Bilder, die das zeigen, geben deshalb Rätsel, weil sie uns vom gezeigten Gegen­ stand in das Zeigen des Gegenstandes verweisen (und damit den Gegenstands­ bereich exponentiell intensivieren). 4)  Warum all diese Vorüberlegungen? – Sie dienen einem Bild, in dem die bislang formulierten Koordinaten (die Überlegungen zu Sein und Schein; die Frage, was ein Bild zum Spiegel macht und wie sich in ihm spiegelt, was es zeigt; schließlich die lebensgeschichtliche Spannung des Bild-Seins) in singulärer Weise ineinandergewoben sind: in Jan van Eycks Porträt des Ehepaars Arnolfini – oder genauer: in dem Gemälde »Hernoul-le-Fin mit seiner Frau«.14 Den geläufigen Interpretationen des Portraits nach scheint hier freilich nichts oder wenig ›Rätsel‹ aufzugeben. So heißt es: »Dass van Eyck das Doppelportrait von Brautleuten oder Verlobten malte, ist nicht zu bezweifeln, obwohl das eigentliche Ritual nicht gezeigt wird.« Man könne das Gemälde »durchaus mit einem modernen Hochzeitsfoto vergleichen, denn es kommt der objektiven Ablichtung eines Fotoapparates erstaunlich nahe. […] »Fotografie« bedeutet […] Schreiben mit Licht, und was sonst hat van Eyck hier vollbracht.«15 Anders setzt folgende Deutung ein: »Auch dem Arnolfini-Portrait ist eine symbolische Auslegung nicht erspart geblieben. Immer schon hat man das Doppelportrait als ein Hochzeits- oder Vermählungsbild angesehen […], als die Verewigung einer privaten, unkirchlichen Trauungsszene […]. Das Interieur ist zentralperspektivisch konstruiert […], wobei aber in diesem Fall die Tiefenflucht nicht wie sonst an der Rückwand ihr Ende findet, sondern in einem vom Spiegel vorgetäuschten Miniaturraum ihre Fortsetzung erf ährt […]. Links öffnet sich das Interieur durch das Fenster in Freie, rechts in die Raumzelle des Alkovens, […] in der Mitte erweitert es sich in den illusionierten Hohlraum des Spiegels.« Das Portrait entzieht dem Sehen den Boden der Sicherheiten, es eröffnet ihm einen Raum, der verunsichert. Die perspektivischen Verunsicherungen verstärken sich noch im Gestischen des dargestellten Paars: »Bei beiden geht der Blick ins Leere, sie sinnen vor sich hin, sind ganz eingesponnen in ihre Innenwelt […]. Ja, ihre Passivität muß als direkte Folge ihrer Geistesabwesenheit angesehen werden. Andererseits bringt die Spaltung von körperlichem Gebaren und Aufmerksamkeit das Psychische überhaupt erst zum Vorschein. […] In der tiefen Stille des Gemachs […] beginnt auf einmal ein anderes Interieur sich leise zu öffnen, das viel dunklere des Menschen-Innern.«16

13 »Non enim ait apostolus: ›Uidemus nunc speculum,‹ sed: ›Uidemus per speculum.‹« (De trinitate XV.23.44, ebd., 345) 14 Vgl. Anm.  3. 15 Vgl. Dirk de Vos, Flämische Meister, Köln 2002, 59 f. 16 Vgl. Otto Pächt, Van Eyck: Die Begründer der altniederländischen Malerei, hrsg. von Maria Schmidt-Dengler, München 2007, 105–107.



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Vorschnellen Metaphysizierungen gegenüber kann man die Vorsicht der Reflexion des materialiter sich Zeigenden entgegengehalten. »Mit dem Sujet des Spiegels ist eine Möglichkeit gefunden, den perspektivisch geordneten Bildraum zu erweitern. […] Der Spiegel überbrückt schließlich nicht nur interne Grenzverläufe, sondern spielt auch mit der Scheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit.«17 Das Bild wird zum Spielraum der Spiegelungen von Sein und Schein, wenn die Spiegelung des Blicks mit dem Blick durch das Fenster (des Bildes) dem Auge die perspektivische Natur des Sehens öffnet und damit die Endlichkeit des Sehens entgrenzt.18 Wenn es zum Spiegelsehen gehört, sich im Spiegel sehen zu sehen, entzieht sich dem Blick der sichere (Referenz-)Boden. Es beginnt dann im Bild das Spiel von Sein und Schein, von Fiktion und Wirklichkeit, ein Spiel der Spiegelungen und Entgrenzungen: Jan van Eyck hat es in dem Bild, das er als im Jahre 1434 gemacht signiert – »Johannes de Eyck fuit hic / 1434« steht zwischen dem Hohlspiegel und dem Kerzenleuchter, an dem nur eine Kerze (und dies am Tage) brennt –, perfekt gespielt: so schon mit der Signatur selbst, die das »war hier« über den Spiegel setzt, in dem man den Macher des Bildes sieht, wie er ›hier war‹. Das Spiel der Spiegelungen fängt im Bild ein, dass es bei den Fragen nach Sein und Schein wie dem in seiner Endlichkeit wie in einem Spiegel sich begreifenden Dasein zugleich um ein Spiel auf Leben und Tod geht.19 Ein Spiel auf Leben und Tod? – wem das zu pathetisch ist, der möge die These herunterdimmen auf das pikturale Spiel mit Leben (als Gegenwärtigkeit) und Tod (als Nichtgegenwärtigkeit): auf das Spiel, dass ein Bild sowohl Nichtgegenwärtiges ins Bild setzt, d. h. vergegenwärtigt, als auch dem gegenwärtig-vorhanden Scheinenden das Privileg, allein zu sein, entzieht, wenn denn das Alleinsein ein Privileg ist. Die Trennung geht mitten durchs Bild – eine Trennung der Sphäre des Lebendigen (zu ihr gehört im Bild der Mann) und der Toten (zu ihr gehört die Frau, die in der Gegenwart des Bildes wiederkehrt).20 Aus beidem setzt sich zusammen, was wir jetzt nur wie im Spiegel und einem dunklen Rätsel zu sehen vermögen. Freilich dann auch zu sehen vermögen, wenn uns ein Bild die Schichten der Erfahrungswirklichkeit erschließt – wie van Eycks Bild, das ein Doppelportrait in mehrfacher (zentral-, aber vielleicht noch mehr tiefenperspektivischer) Hinsicht ist: durch das Hündchen, das im Bildvordergrund, aber nicht im Spiegel erscheint; durch den schwarzen Fleck, den es auf den sich berührenden Händen von Mann und Frau im Spiegel gibt und der als Strähne hinter der Kleidung des Mannes bis zum offenen 17 Vgl. Konersmann, »Das Hochzeitsbild der Arnolfini«, in ders., Lebendige Spiegel. Die Me-

tapher des Subjekts, Frankfurt / M. 1991, 115. 18 Vgl. Verf., »Der Geist als lebendiger Spiegel. Zur Theorie des Intellekts bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues«, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 4 (2010), Stuttgart 2011, 49–66, hier: 54. 19 Die jüngste Deutung des Portraits stellt das überzeugend zur Diskussion. Vgl. Postel, Der Fall Arnolfini. Auf Spurensuche in einem Gemälde von Jan van Eyck (vgl. Anm.  3). 20 Das Portrait kann als Epitaph gedeutet werden, als »das bildliche Pendant einer mit Grabfigur verzierten Grabstätte.« (Vgl. ebd., 82)

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Fenster herumläuft; durch Löwen, Kirschbäume und Teufelchen, die durchs Bild geistern; durch die Kerze, die auf der Bildseite des Mannes (noch) brennt, und die erloschene Kerze auf der Seite der Frau als Pendant (usw.). Ein Bild zeigt (auf ) sich selbst. Es zeigt, wovon es als Bild gedacht wird. In ihm verbinden oder durchdringen sich Sein und Nichtsein – Gegenwärtiges und Nicht-Gegenwärtiges (Vergegenwärtigtes) – zu einer Gleichzeitigkeit, die erblickt werden will: erblickt werden will genau in dem Sinn, wie etwas, dessen stillschweigender Anspruch erhört werden will. 5) Jan van Eycks Bild aus dem Jahr 1434 zeigt, dass wir ›jetzt‹ – vor den letzten Dingen – nur im Spiegel und wie im Rätsel zu sehen vermögen. Nicht mehr (nur) ›wie in einem Spiegel‹ bzw. einem Bild sehen zu wollen, forderte als Preis, auf die Seite gegangen zu sein, die sich nur mehr vergegenwärtigen lässt und auf der die Frau in van Eycks Portrait steht. Erst auf der Seite erloschenen Lichts gibt es keine Unruhe mehr. Das ist zutiefst beunruhigend. Was es deshalb ›davor‹ braucht, ist eine »Kultur der Unruhe«.21 Bilder – wie das hier herangezogene von Jan van Eyck – setzen das seit 1434 auf die Tagesordnung.

21 Vgl. Konersmann, Die Unruhe der Welt, 330.

Paul Klee, Hauptweg und Nebenwege, 1929.

Christian Bermes

Culture conceptuelle Die Eigenständigkeit der Kulturphilosophie

I. Ausgerechnet das »schönste Werk Klees« hängt »merkwürdigerweise übrigens zu tief«. Fast genau in der Mitte der Zeit-Bilder, nach einer akribischen Sichtung der jüngeren Geschichte der Malerei, kommt Arnold Gehlen auf Hauptweg und Neben­ wege als das schönste Bild Paul Klees zu sprechen.1 Es zählt zu den sogenannten Streifen- oder Lagenbildern, wurde zuerst im Wallraf-Richartz-Museum ausgestellt und 1976 an das Museum Ludwig überwiesen. Das Bild entstand 1929 im Anschluss an eine Reise Klees nach Ägypten und hat zahlreiche Interpretationen provoziert.2 Gehlen erläutert seine Kritik an der Platzierung des Bildes. Der nach »oben wandernde Augenpunkt und die dabei erfolgende Erweiterung des Blickfelds« wird vom Bild »energisch erzwungen« – »deswegen muss das Bild so hängen, dass der Blick in normaler Augenhöhe am unteren Teil einsetzt und dann zügig ansteigen kann, wobei sich so etwas wie das Phantasma einer Aufstiegsbewegung schlechthin einstellt, die bis oben hinführt, wo der ganz hoch gelegene Horizont zugleich Standpunkt wird: Man ist im Himmel«. (155) Für Gehlen ist Klee der »pictor doctus«, vielleicht der »denkendste und gebildetste aller modernen Künstler« (142 f.), in ihm erkennt er den »reinen Fall« einer peinture conceptuelle. (157) II. Gehlens Analysen in den Zeit-Bildern spüren der ›Bildrationalität‹ der modernen Malerei nach. Er versucht, sich ein Bild von dem zu machen, was es mit den Bildern in der abstrakten Malerei auf sich hat. Keineswegs rückwärtsgewandt, sondern offen für die Entwicklungen, die mit dem Impressionismus einsetzen und zum Kubismus führen, widmet er sich dem Versuch, »an die Malerei denkend, in der Absicht auf Erkenntnisse heranzugehen« (5). Er wusste, dass er sich damit den Vorwurf eines Intellektualismus einkauft, er wusste aber auch ebenso gut, dass ein 1 Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960/1986), in: ders., Gesamtausgabe, Bd.  9, hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt / M . 2016, 154. (Im Folgenden mit Seitenangaben im Fließtext zitiert.) 2 Vgl. Frank Zöllner, »Paul Klee. Hauptweg und Nebenwege (1929)«, in: Wallraf-RichartzJahrbuch 61 (2000), 263–289.

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solcher Vorwurf töricht ist und mehr über den aussagt, der ihn erhebt, als über die Sache, die es zu verstehen gilt. Hier sind sich Gehlen und Adorno, der die ZeitBilder schätzte, einig. Adorno schrieb zu den Zeit-Bildern am 2. Dezember 1960 an Gehlen: »Mein Eindruck davon ist außerordentlich. […] Sollte ich, auf einem Fuße stehend sagen, was an Ihrem Buch so besonders mich berührt, dann ist es das, daß Sie mit der Sache der neuen Kunst sich identifizieren, ohne in Apologetik zu geraten und das Moment von Negativität zu verleugnen, das zur Sache selbst notwendig dazu gehört.«3 Häufig werden die detailreichen Sichtungen der Kunstwerke Gehlens in den Zeit-Bildern, aus denen nicht einfach nur ein geschultes Auge, sondern ein Connaisseur und Liebhaber der modernen Kunst spricht, auf die »Kommentarbedürftigkeit« als Hauptthese des Buches reduziert.4 Die These ist prägnant, gründet sie doch auf dem Gedanken, dass die moderne Kunst optisch prononciert, jedoch begriff lich gleichsam ungesättigt ist und somit eines konzeptionellen Halts bedarf. Waren – so die These Gehlens – Kunstwerke zuvor in ihren ästhetisch-begriff­ lichen Arrangements institutionell eingebettet und abgesichert, indem in der ideellen Kunst »Konnotationen« religiöse oder moralische Bezugssysteme »vergegenwärtigen« und in der realistischen Kunst Natur »wiedererkannt« – vielleicht sogar im Bund mit den Naturwissenschaften erkannt – werden konnte, so wird mit dem kunstästhetischen Epochenbruch in dem ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts das Kunstwerk freigestellt. (16 f.) Es ist gleichsam in seiner begriff lichen Situierung obdachlos geworden, was zugleich ein prekäres Freiheitsversprechen bedeutet. Prekär ist dieses Versprechen, weil es entweder angenommen werden kann, indem die frei gewordenen begriff lichen Horizonte neu ausgeschritten werden. Oder aber das Freiheitsversprechen wird zugunsten einer Emotionalisierung der Kunst ausgeschlagen. Letzteres nutzt Gehlen auch mit Vorliebe für seine Zeitkritik. Die »endlose mechanische vermittelte Erlebnisanreicherung« habe »das Erleben« »endgültig trivialisiert«. (136) Von der abstrakten Malerei auf die realistische Kunst rückblickend kommt es somit zu einer prinzipiellen Irritation. Es entsteht die Frage, wohin die dem Kunstwerk eigene Begriff lichkeit abgewandert ist. Denn Gehlen hält grundsätzlich an der kognitiven Bedeutung der Welterfahrung durch das Kunstwerk fest. Wenn die begriff lichen Momente nicht mehr durch Konnotieren (in der ideellen Kunst) oder Wiedererkennen (in der realistischen Kunst) gegeben sind, so sind sie doch nicht obsolet geworden und lassen sich nicht durch Emotionen ersetzen. Sie sind abgewandert »in die Kommentarliteratur, die geradezu als Bestandteil dieser Kunst angesehen werden muss«. (18) Die Zwischenüberschrift Der Begriff im Bild und daneben (69) bringt zum Ausdruck, um was es hier geht: »Die aus dem Bilde nicht mehr eindeutig ablesbare 3 Zit. nach Karl-Siegbert Rehberg, »Nachwort«, in: Gehlen, Zeitbilder, 557–626, hier: 557. 4 Vgl. Michael Hog, Die anthropologische Ästhetik Arnold Gehlens und Helmuth Plessners, Tü-

bingen 2015, 123 ff.; Rehberg, »Nachwort«, 587 ff.



Culture conceptuelle

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Bedeutung etablierte sich neben dem Bild als Kommentar, als Kunstliteratur und, wie jedermann weiß, auch als Kunstgerede.« (73) Wenn auch Gehlens Analysen selbst sich wohl nicht als ›Kunstgerede‹ verstehen wollen, so sind sie doch Teil dieser Entwicklung. Die Zeit-Bilder selbst gehören zur Kommentarliteratur, sie greifen die ästhetischen Tendenzen des frühen 20. Jahrhunderts auf und schreiben sie fort. Nimmt man Gehlens Pointe ernst, dann gehören seine Ausführungen zu dem von ihm beschriebenen ästhetischen Prozess, sie stehen nicht den Kunstwerken gegenüber, die Zeit-Bilder selbst sind vielmehr Ausdruck eines neuen begriff lichästhetischen Pakts. Die Funktionen der Kommentare sind vielfältig. Da die abstrakte Malerei zwar optisch konzentriert und verdichtet auftritt, begriffslogisch jedoch auf nur noch weniges setzen kann, weil die klassischen Bezugssysteme der Religionen und Moralen brüchig geworden sind und die Natur in der realistischen Kunst als eine geborgte Natürlichkeit – als eine Natur zweiter Hand – gleichsam sichtbar wurde, ist die Malerei »arbeitslos« geworden. Sie kann auch nicht mehr als ein Gemeinschaftsprojekt mit den Naturwissenschaften an der Entdeckung der Natur mitwirken. So »war wirklich die Zeit gekommen«, »sich aus sich selbst zu begründen, d. h. letzten Endes aus den eigenen Kunstmitteln«. (58) Die in diesem Sinne arbeitslos gewordene Kunst setzt auf eine neue Instanz, gleichsam ein eigenes, innovatives und kaum auszuschöpfendes Arbeitsbeschaffungsprogramm: die Subjektivität. (72) »Die hochintellektuellen und sensiblen Prozesse im schaffenden Künstler schlagen sich im Bilde als Spur nieder, sind aber aus dieser Spur heraus nicht mit Sicherheit nachzuvollziehen. Der Durchschnittskommentar bietet eine rhetorische Brücke, die dem Betrachter die Überzeugung verschafft, dass sein irgendwie gearteter Bildeindruck innerhalb eines Rahmens von Vorstellungen über den Sinn von Kunst berechtigt ist; insofern gehört der Kommentar in der Tat wesensmäßig zu dieser Kunst dazu.« (73) Damit ist eine besonders prominente Funktion der Kommentare angedeutet, sie rechtfertigen den Souveränitätsanspruch der modernen Kunst. Denn sie tritt mit einem solchen Anspruch auf, der jedoch erkannt und erfüllt werden muss. Freilich kann dies auch in und mit den Kommentaren misslingen, und zwar dann, wenn das Bild im Kommentar geradezu aus dem Blick gerät, wenn die Kommentare gleichsam leerlaufen und sich selbst feiern. (230) Gehlen ist sich hier seines Urteils sicher und übt keine Zurückhaltung, wenn er etwa die »gewöhnlichen Kommentar-Großsprechereien« (120) anführt oder bemerkt, dass in nicht wenigen Fällen »Kunstbrahmanen« (318) das Wort ergreifen und »Heilsund Verhängnisphrasen« (319) verkünden. Doch es ist nicht nur die Aufgabe der demgegenüber gelungenen Kommentare, den Souveränitätsanspruch der modernen Malerei zu sichern. Sie übernehmen ebenso die Aufgabe, die ästhetischen Prinzipen und Verfahren zu erklären; sie setzen Künstler und Publikum wieder in ein Verhältnis, sie lassen die »inneroptische Bildstimmigkeit« der abstrakten Malerei verständlich werden und beschreiben die Rolle der zeitgenössischen Kunst »im System der modernen Kultur« überhaupt. (74)

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Gehlens Pointe der hier nur knapp skizzierten Kommentarbedürftigkeit der modernen Kunst ist prägnant. Doch verfehlt wäre es, die Zeit-Bilder darauf zu reduzieren. Man würde damit weder den subtilen Beobachtungen Gehlens im Falle der Bildbeschreibungen gerecht, noch könnte man dem – wie bei Gehlen üblich: immer nur zum Teil – pointensicheren Polemiker, der so manchen sensiblen Rezipienten verschreckt hat, etwas entgegensetzen. Verwiesen sei nur auf seine markanten Deutungen des Expressionismus, die Gehlen als eine begriffsferne Melange von ungebundener Emotionalität, freischwebendem Erlebnis und zügellosem Ausdruck versteht. Für Gehlen ist dies nichts anderes als ein »Grundfehler«, eine Sackgasse der Kunst. (190) Es wäre aber auch kurzsichtig, in der Kommentarbedürftigkeit schlicht eine soziologische Antwort auf eine ästhetische Frage zu sehen. Denn die Kommentarbedürftigkeit resultiert aus der Entwicklung der Kunst hin zu einer peinture conceptuelle, sie wird der Kunst nicht aufgepfropft oder diktiert. Man würde es sich mit der These zu einfach machen, dass Gehlen die Kunst mit der Soziologie sanieren wollte. Das hat sie nicht nötig. Denn die abstrakte Malerei ist peinture conceptuelle, sie ist keine Malerei, die durch ein beliebiges begriff liches Dekor hübsch gemacht wird. Als peinture conceptuelle klärt sie über sich selbst auf. Der »Begriff ist nicht überwachend und leitend allein, er sitzt im Nerv der malerischen Konzeption, die trennende Unterscheidung von ›Vision‹ und ›Rationalität‹ wird falsch, weil die Reflexion, und zwar in ihrer begriff lichen, systematischen Form, bereits als Bestandteil des schöpferischen Prozesses zu gelten hat«. (102) Damit fällt dieser ­Begriff ­einer peinture conceptuelle auch nicht zusammen mit späteren Entwicklungen der 60er Jahre zur concept art oder conceptual art. Der Gedanke der peinture conceptuelle, auf den auch Plessner zu sprechen kommt,5 begründet die Kommentarbedürftigkeit, nicht umgekehrt. Hierzu greift Gehlen auf seinen Gewährsmann Kahnweiler und dessen Ausführungen zu Juan Gris aus dem Jahr 1946 zurück. Als peinture conceptuelle soll eine Bildauffassung gelten, »in die eine Überlegung eingegangen ist, welche erstens den Sinn der Malerei, ihren Daseinsgrund gedanklich legitimiert und zweitens aus dieser bestimmten Konzeption heraus die bildeigenen Elementardaten definiert«. (103, 133) Damit ist die peinture conceptuelle für Gehlen auch eine besondere Form, in der Kunst »neu anzufangen«. (176) Der ästhetische Neuanfang in diesem Sinne – Gehlen sieht ihn prägnant im Kubismus gegeben – setzt weder auf Zufall noch auf Emotionen, er ist noch am ehesten vergleichbar mit dem politischen Neuanfang einer Verfassungsgebung: »An Stelle althergebrachter Selbstverständlichkeiten der Herrschaft, in denen Vorzüge und Fehler verfilzt waren, erscheinen Programme, Pakte und Verträge, alles gedacht, durchreflektiert und aufgeschrieben, die verkündeten, was Aufgabe und Zweck des Staates sei und woraus er bestehe.« (177)

5 Vgl. Hog, Die anthropologische Ästhetik Arnold Gehlens und Helmuth Plessners, 122.



Culture conceptuelle

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III. Gehlen selbst bemerkt, dass ihn im engeren Sinne kunsthistorische Betrachtungen weniger interessieren »als die Frage, welche Entwicklungsmöglichkeiten in dem gegenwärtigen Zustand beschlossen sein mögen, welche Merkmale in die Zukunft weisen und ob nicht die neu auf diesem Gebiete erreichbaren Erkenntnisse sich kulturphilosophisch verallgemeinern lassen«. (288) Nun dürfte es gerade ein besonderes Verdienst der Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts sein, gegenüber Verallgemeinerungen grundsätzlich skeptisch zu sein. Denn die »Welt des Menschen«6 hält verschiedene Orientierungsformen offen. Jedoch lassen sich Gehlens Überlegungen in den Zeit-Bildern in einem kulturphilosophischen Sinne lesen, der über seine anthropologische Grundlegung der Kultur aus den 40er Jahren hinausgeht. Die Analysen in den Zeit-Bildern widersprechen zwar nicht den früheren Gedanken, doch stellen sie markant die Eigenständigkeit der Kultur heraus. Ralf Konersmann macht immer wieder geltend, dass die Kultur weder etwas Beliebiges ist, noch die Kulturphilosophie mit den Kulturwissenschaften identifiziert werden kann. Kultur mag in aller Munde sein, doch sie ist mitnichten ein Allerweltsbegriff. Der Kulturbegriff der Kulturphilosophie ist ausgezeichnet – und zwar durch seine Prägnanz. Damit kann Kultur als »irreduzibel und in diesem Sinne autonom«7 verständlich werden. »Kultur ist etwas Eigenes, Unableitbares. Sie ist weder Basis noch Überbau, und gewiss kein Konstrukt. Ihren speziellen Gegebenheitsmodus zu bestimmen und darüber hinaus die Phänomenwelt der Kultur zu erschließen, setzt die Bereitschaft voraus, die Prägnanz des Kulturbegriffs und der von ihm erfassten Phänomene als theoretische Herausforderungen zu erkennen und die Herausforderung auch tatsächlich anzunehmen.«8 In diesem Sinne hat die Kulturphilosophie »zu zeigen, warum die Fragen der Kultur nicht trivial sind – dass der Kulturbegriff etwas wiegt«.9 Die »spröde Eigengestalt« der Kultur, ihre »Anfälligkeit und Zerbrechlichkeit« wird sichtbar und verständlich, wenn der »Neuanfang« Mitte des 19. Jahrhunderts in den Blick gerät und damit die »Loslösung« der Kultur aus der »Paradigmatik des ›Geistes‹«.10 Sie taucht dann nicht weiter als Bestand auf, der verwaltet, rubriziert oder auch abgeschoben werden könnte oder sogar müsste; sie ist aber ebenso wenig etwas, das durch Kontextualisierungen eingehegt oder durch einen Konstruktivismus zum Verschwinden gebracht werden könnte. 6 Vgl. Ernst Wolfgang Orth, Was ist und was heißt ›Kultur‹? Dimensionen der Kultur und der

Medialität der menschlichen Orientierung, Würzburg 2000, 30 ff. 7 Ralf Konersmann, »Kulturwissenschaft und Kulturphilosophie. Zur Prägnanz des Kulturbegriffs«, in: Kulturwissenschaften in Europa – eine grenzüberschreitende Disziplin?, hrsg. von Andrea Allerkamp und Gérard Raulet, Münster 2010, 28–38, hier: 29. 8 Ebd., 37. 9 Konersmann, »Einleitung«, in: Handbuch Kulturphilosophie, hrsg. von dems., Stuttgart  /  Weimar 2012, 1. 10 Konersmann, »Kulturwissenschaft und Kulturphilosophie«, 31–33.

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Man könnte auch davon sprechen, dass die Kulturphilosophie die Kultur im Übergang zum 20. Jahrhundert als eine culture conceptuelle ernst nimmt – also als einen Phänomenbestand, in den Überlegungen eingegangen sind, welche erstens ihren kulturspezifischen Daseinsgrund gedanklich legitimieren und welche zweitens aus dieser bestimmten Konzeption heraus die kulturellen Elementardaten definieren. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ließe sich auch vor diesem Hintergrund verständlich machen. Kultur ist dann nicht der begriff lichen Souveränität eines idealistischen Geistes entgegengestellt, sie ist jedoch auch keine Stilisierung des Zufälligen. In ihr selbst zeigt sich eine Rationalität, die als culture conceptuelle ihre fortwährende Kommentierung notwendig macht – jedoch nicht als etwas Äußerliches, sondern als Teil der Kultur. Jedem selbstverliebten Konstruktivismus ist damit Einhalt geboten, da die Deutung im Nerv der kulturellen Konzeption sitzt. Es gibt dann auch nichts einzuordnen und zu kontextualisieren, sondern die Sache selbst ist zu begreifen. Dies sind durchaus phänomenologische Motive – auch bei Gehlen. Einer solchen culture conceptuelle ist der Umweg als Kommentar eingeschrieben. Und eine solche Kultur überwältigt nicht, an sie muss man nicht glauben, man kann sie verstehen. Kultur »will nicht geglaubt, sie will verstanden sein. Sie macht nicht nur Umwege, sie ist der Umweg.«11 Die Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts entdeckt, so lässt sich sagen, die Kultur als culture conceptuelle. Methodisch liegen die Wurzeln bei Kant, zur Blüte gelangen sie im frühen 20. Jahrhundert, fast zeitgleich mit der peinture conceptuelle. Diese Entdeckung der Kultur als culture conceptuelle begründet die Eigenständigkeit der Kulturphilosophie, sie markiert eine Differenz zu vorangegangenen Kulturtheorien oder zu den zeitgleich sich entwickelnden Kulturwissenschaften. IV. Gehlen übte sich gerne im Gestus des Richtigstellens. So stellte er auch fest, dass Klees Hauptweg und Nebenwege zu tief aufgehängt war. Das Bild erzwinge eine aufwärts sich ausrichtende Sehbewegung, die »bis oben hinführt, wo der ganz hoch gelegene Horizont zugleich Standpunkt wird«. Daher müsse das untere Drittel des Bildes auf Augenhöhe des Betrachters liegen. (155) Nun könnte es allerdings sein, dass Gehlen seiner Bewunderung Klees erlegen ist. Denn das Bild ist vielleicht doch richtig gehängt worden, da es nicht um das Erzwingen einer Höhe, sondern um die Erfahrung von Tiefe geht – die Tiefe einer Landschaft, die am Horizont von einem Fluss beschlossen wird, dem Nil, den Klee auf seiner Ägyptenreise kurz zuvor gesehen hat. So endet die Blickrichtung nicht »im Himmel« und findet dort ihre Position, wie Gehlen bemerkt, sondern »in der Tiefe«. Dies ist wohl auch die eigentliche Erfahrung einer Kultur der Umwege und die naheliegendere Option, die eine culture conceptuelle eröffnet. 11 Konersmann, Kulturphilosophie, Hamburg 22010, 129.

Francisco de Zurbarán, Heilige Marina, ca. 1645.

Ulrich Johannes Schneider

Das Buch im Bild Zurbaráns Heilige Marina

Francisco de Zurbarán (1598–1664), spanischer Maler des Barock, stellt seine Figuren meist vor sehr dunklem Hintergrund dar, der nichts weiter zu erkennen gibt. Diese Technik gibt dem Bild der Heiligen Marina aus den 1640er Jahren eine beinahe dramatische Qualität. Die junge Frau nimmt gleichsam auf einer Bühne Platz, Licht an, alles andere verschwindet aus dem Blick. Das Gemälde spricht zu den Betrachtern durch den Blick der jungen Frau und durch das Licht, das frontal von links kommt. An dieser überhöhten Alltagsszene irritiert das Buch. Gehalten von der linken Hand, ist es zwar zugeschlagen, aber ein Finger steckt darin wie ein Lesezeichen. Will sie lesen? Hat sie gelesen? Das fragt man sich und weiter, wer denn die junge Frau sein mag, der man sich gegenübersieht. Das fast lebensgroße Bildnis war kein freies Motiv des Malers, vielmehr ein Auftragswerk – nicht der Dargestellten, sondern eines Klosters. Die Heilige Marina gehört zu einer Serie von Bildern weiblicher Heiligenfiguren, für die in Sevilla damals große Nachfrage bestand. Der ­Maler Zurbarán mehrte damit seinen Ruhm. Unter Zurbaráns Werken gibt es viele, auf denen Bücher in Händen gehalten werden. Damit stellt er keine Ausnahme in der europäischen Kunst dar, die im 16. und 17. Jahrhundert vor allem beim religiösen Personal (biblische Gestalten und Heilige) Figuren mit einem Buch in der Hand privilegiert. Die Tradition beginnt im Mittelalter, bedient religiöse Verehrung und stärkt sie zugleich durch Bilder. Da Zurbarán für kirchliche und klösterliche Auftraggeber tätig war, verwundert das Buch in der Hand nicht, auch nicht in der speziellen Variante mit dem Finger ­d arin. Denn auch dieses – insgesamt eher seltene – Motiv hat Zurbarán häufiger gewählt als andere Maler seiner Zeit. Von ihm gibt es einen Hieronymus beim Unter­ richt, was eine plausible Erklärung des Fingers nahelegt: Man las gemeinsam und schlug dazu die Bücher zu und gleich wieder auf. Eine solche Wahrscheinlichkeit gibt es beim Bild der Heiligen Marina nicht. Hier ist der Finger im Buch – wie Zurbarán das auch bei einer Heiligen Margarete sowie in Darstellungen der Gottesmutter ­Maria tat – ein Zeichen höherer Bestimmung.1 Das dargestellte Buch ist 1 Vgl. von Francisco de Zurbarán »Heilige Margareta von Antiochia« (ca. 1645, The National Gallery, London), »Der heilige Hieronymus mit den Heiligen Paula und Eustochium« (ca. 1650, National Gallery of Art, Washington D.C.), »Die Jungfrau als schlafendes Kind« (1655, Galerie Canesso, Paris), »Die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind und dem heiligen Johannes« (ca. 1660, Privatsammlung), dasselbe (1662, Museo de Bellas Artes de Bilbao); nachgewiesen einmal in: The Paintings of Zurbarán, complete edition, hrsg. von Martin S. Soria, London 1953,

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Ulrich Johannes Schneider

in das Bild integriert, um die Betrachter darauf hinzuweisen, dass mit der jungen Frau ein besonderes Schicksal verbunden ist. Das kann man in Büchern nachlesen (etwa in Märtyrergeschichten), und die Motivation dafür ebenfalls (etwa in der Bibel). Es kann das Buch auch auf Gebete hinweisen, die man an die Heilige richten will (etwa in Brevieren). Das Buch im Bild ist nicht nur kein Alltagsgegenstand, es ist vieldeutig. * Nach verschiedenen Legenden bezeugt, lebte die Heilige Marina im ersten Jahrhundert in Galizien, erfuhr heimlich eine christliche Erziehung, wurde von der Familie verstoßen und geriet als junge Erwachsene vor ihren leiblichen Vater als Richter. Dieser verurteilte sie ob ihres Glaubens und ließ sie mit ihrer Schwester, die ihr Schicksal teilte, töten. An der Hinrichtungsstelle entsprang eine Quelle, die man heilig nannte (»aguas santas«), daher der spanische Beiname der Heiligen: »Santa Marina de Aguas Santas«. Zurbaráns Bild der Heiligen Marina ist seiner eigenen Darstellung der Heiligen Margarete sehr ähnlich; schon deren Legenden weisen Parallelen auf und haben bis ins 17. Jahrhundert zu Verwechslungen geführt: In Syrien wurde die junge Margarete vom Vater verstoßen und im Jahr 304 von einem heiratswilligen römischen Gouverneur getötet, weil sie vom christlichen Glauben nicht ablassen wollte. Margarete soll Schäferin gewesen sein, was Zurbarán auf die Gewandung von Margarete wie auch Marina übertrug. Die bunte Stofftasche, die beide halten, findet sich auf weiteren Gemälden beider, die Zurbaráns Werkstatt zugeschrieben werden.2 Von Zurbarán signiert – und damit den insgesamt 300 authentischen Gemälden aus seiner Produktion zuzurechnen3 – hängt das Gemälde der Heiligen Marina im Museo Carmen Thyssen in Málaga und das der Heiligen Margarete in der National Gallery London.4 Wenn Zurbarán die einfache Herkunft Marinas in volkstümliche Kleidung übersetzt, kann das wie ein Theaterkostüm wirken. Dies war schon Zeitgenossen

141, 145, 182, 187, 188 (Kat. n r. 18, 56, 198, 218, 223); und in: Zurbarán, hrsg. von Beat Wismer, Odile Delenda und Maria del Mar Borobia, Düsseldorf 2015, 52, 164, 209, 222, 228 (Abb. 5, 50, 71, 76, 77). 2 Es existieren im Internet veröffentlichte Bilder von mehreren Marinas: beispielsweise im Barber Institute of Fine Arts in Birmingham (http://barber.org.uk/the-studio-of-francisco-dezurbaran-1598-1664/), im Museo de Bellas Artes de Sevilla https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Marina_-_Francisco_de_Zurbaran.png) und im Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marina_-_Francisco_de_Zurbaran.png). Eine weitere Version der Heiligen Margarete ist in Privatbesitz: www.christies.com/lotfinder/Lot/ studio-of-francisco-de-zurbaran-fuente-de-5443531-details.aspx. 3 Ignacio Cano Rivero, »Francisco Zurbarán (1598–1664)«, in: Francisco de Zurbarán (1598– 1664), hrsg. von Ignacio Cano Rivero und Gabriele Finaldi, Brüssel 2014, 1–41, hier: 36. 4 Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Marina_of_Aguas_Santas und https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/francisco-de-zurbaran-saint-margaret-of-antioch



Das Buch im Bild

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aufgestoßen, die gegen die aufgeputzten Heiligenfiguren Zurbaráns protestierten.5 Kann man das so verstehen, dass der Maler seine Bildnisse in das eigene Jahrhundert hineinmalt und radikal zeitgenössisch macht? Durch die Konzentration auf die Person und die malerische Ausblendung jeglicher Umgebung im dunklen Hintergrund nimmt Zurbarán den Betrachtern jede Möglichkeit einer Historisierung mittels einer Szenerie. Wenn er in die Haltung der ästhetisch hervorgehobenen Figur eine gewisse Tapferkeit, jedenfalls Unbeirrtheit legt, in die Kleidung eine edle Einfachheit und in das Buch die höhere Bestimmung, verstärken diese Momente die zauberische Wirkung, die beim langsamen »Lesen« des Bildes in ein Beten übergehen kann. Die ursprüngliche Platzierung des Gemäldes in einem Kloster (oder einer Kirche) unterstützte gewiss diesen meditativen Effekt. * Bei Zurbarán gebe es keine Geheimnisse, schrieb ein Kunsthistoriker,6 was man auch auf die offensichtlich fromme Zweckdienlichkeit des Gemäldes Heilige Marina beziehen kann. Wie aber steht es um die Bedeutung des dargestellten Buches? In den Legenden ist von einem Buch keine Rede. Es ist ein künstlerischer Code, dieses »unwahrscheinliche« Attribut ins Bild zu nehmen und damit den höheren Zusammenhang der Heiligen mit der christlichen Kirche und Religion anzuzeigen. Und doch sagt es mehr, gerade mit dem Finger darin, der eine Geste intensiver Lektüre ist, die als kurzzeitig unterbrochen dargestellt wird.7 Das Buch fungiert als Merkzeichen für Leser, für deren Akt der Meditation. Das Gemälde zeigt zwei Bewegungen. Sehen wir genauer hin: Die erste rührt daher, dass Zurbarán die antike Märtyrergestalt verfremdet und sie in eine zeitgenössische junge Frau verwandelt. Damit wird ein sich über Jahre erstreckendes Leben zur Geste, ein erfahrenes Schicksal zur Gestalt, ein tragischer Lebensweg zu einer Momentaufnahme. Bewegung wird angehalten. Die Dargestellte neigt ihren Kopf zur Seite, blickt aus dem Bild heraus. Für die Betrachter wird der Anblick des Gemäldes zugleich zum Angeblicktwerden. »Ruhe ist Bewegungslosigkeit angesichts der Möglichkeit von Bewegung«, heißt es in einem Kommentar zur Helldunkelmalerei von Zurbarán.8 Das trifft auch auf das Bild der Heiligen Marina zu. Sie scheint kurz innezuhalten, um den Blick nach links zu wenden, wo die Betrachter und Verehrer sind, die Bewunderer und die Gläubigen. Eine zweite Bewegung verrät das Buch, das nicht offen oder geschlossen präsentiert wird. Es wird in der Hand gehalten, an deren Arm der Beutel hängt, während die rechte Hand einen Hirtenstab umfasst, allerdings eher dekorativ, stark 5 Zurbarán, 52. 6 Rivero, »Francisco Zurbarán (1598–1664)«, 1 (»Chez lui, il n’y a pas d’énigme.«) 7 Vgl. Ulrich Johannes Schneider, Der Finger im Buch. Die unterbrochene Lektüre im Bild, Wien

2020. 8 Kaspar H. Spinner, »Helldunkel und Zeitlichkeit. Caravaggio, Ribera, Zurbarán, G. de la Tour, Rembrandt«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 34 (1971), 169–183, hier: 175.

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geneigt. Es ist von dieser Bildkomposition her unwahrscheinlich, dass Marina das Buch eben noch in beiden Händen hielt, und doch suggeriert der Finger der linken Hand genau dies: eine angehaltene Lektüre. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass der Stab abgelegt und das Buch wieder aufgeschlagen wird. Auf keinen Fall wird der Finger ewig im Buch bleiben. Wie die Bewegung des Kopfes nach links rückgängig gemacht werden kann, so kann auch die unterbrochene Lektüre wieder aufgenommen werden. Beide Bewegungen hängen sogar zusammen: Die Blickwendung nach links unterbricht die Lektüre, sie ist dieser simultan. Das Bild zeigt jemanden, der sich vom Buch ab- und unbestimmten Betrachtern zuwendet und dabei die Lektüre unterbricht. Auf mehreren Ebenen drückt das Gemälde eine Adressierung aus. Für die Betrachter verweist die dargestellte junge Frau auf Zeitgenossenschaft (durch die Kleidung), Zugewandtheit (durch den Blick) und auf ein Geheimnis (das Buch mit dem Finger darin). Das Buch ist zu dünn für eine Bibel und mit dem Ledereinband zu gewöhnlich für ein Stundenbuch, eher ist vom Buchkörper her ein Gebet- oder Gesangbuch wahrscheinlich. Es könnte auch Märtyrerlegenden enthalten oder überhaupt erzählende Texte bis hin zur schönen Literatur. Wenn man sich das Buch so vergegenwärtigt, spekuliert man über Marina als Lesende und macht sie zu jemandem, dessen Leben sich in der Phantasie entgrenzt, in der Imagination verliert und durch Vorstellungskraft erweitert. Bücher können entscheidende Lebensveränderungen symbolisieren, das Lesen transformative Kraft entwickeln. Mit Marina ist das bereits geschehen: Von der jungen Christin ist sie zur Heiligen geworden, zur Märtyrerin ihres Glaubens. Das Buch im Bild könnte das Buch zum Bild sein und von ihrem Leben berichten, vom Schicksal der jungen Frau und von ihrem Glauben, der ihr Stärke gab bis in den Tod. Das Buch in ihrer Hand konzentrierte so die religiöse Bedeutung der Dargestellten. Das konnte im barocken Spanien praktische Effekte haben: Man las Heiligengeschichten wohl auch mit der Hoffnung auf Übertragung oder segensreiche Wirkung. Angeblich war es zu Zurbaráns Zeit ein katholischer Brauch, die Lebensbeschreibung der Heiligen Marina als Buch auf den Bauch von Schwangeren zu legen.9 * Historisch wahrscheinlich ist, dass dem Gemälde insgesamt eine fromme Wirkung zugebilligt wurde. Dazu passt, dass Zurbaráns Heilige Marina zwar eine Einzelstudie war, dem Typus nach jedoch in eine ganze Reihe an Bildnissen von Märtyrerinnen gehört, die der Künstler in Serien malen ließ und in Europa wie Südamerika verkaufte. Die verstärkte Nachfrage aus Klöstern und Kirchen nach solchen Serien weiblicher Märtyrerbilder fällt in die beiden Jahrzehnte zwischen 1630 und

9 Zurbarán, 116 (Katalognr. 29).



Das Buch im Bild

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1650, die produktive mittlere Schaffensphase Zurbaráns.10 Diese Bilder waren mehr als Schmuck; sie waren Meditationsvorlagen. Eben diese Dimension der frommen Wirkung bezeugt auch das Buch in der Hand der Heiligen. Es sagt nicht, dass Marina gelesen habe, sondern dass man über sie und ausgehend von ihr, ihrem Schicksal und ihrer Darstellung, lesen könnte: Beten mit einem Buch in der Hand. Im Bild zeigt das Buch mit dem Finger darin, was die Betrachter vor dem Bild tun sollen: Es nimmt die Devotion in die Darstellung hinein, lässt sie durch die Hand der Heiligen erscheinen und so auch bewähren. Das dargestellte Buch leistet also so etwas wie die Spiegelung der Bildbetrachtung. Mag das Buch ein Märtyrerleben anzeigen, mag es die Kraft des Glaubens oder magischen Zauber versprechen, es ist für die Betrachter nicht nur aufzeigend, sondern auch anzeigend, verweist auf das Tun derjenigen, die das Bild zur textgestützten Meditation nutzen. Das dargestellte Buch spiegelt die Aktivität derer, die beim Lesen meditieren.11 Die Heilige Marina demonstriert eine Lektüre, die zum Nachdenken oder zum Gespräch unterbrochen wird – was jedoch nichts über die Dargestellte aussagt, sondern die Bedeutung des Gemäldes als nahezu intimen ­A nreiz für Gedenken und Gebet markiert. Die durch die Lichtsetzung im Bild prominent erscheinende Heilige Marina ist Teil einer Situation, zu der ein Betrachter als frommes Gegenüber gehört. Das ist eine allgemeine Aussage über viele Bilder mit religiösen Sujets, wenn hier nicht das Buch aus der Plausibilität des bloßen Anschauens herausfiele. Wenn man es als Vorgriff, Anzeige oder Spiegelung des unsichtbaren Gegenübers nimmt, bedeutet das, einen gewissen Aktionsradius frommen Handelns rund um das Bild zu ziehen. Angestoßen wird diese Ansicht davon, das Buch als Zutat irritierend zu finden. Es passt nicht zu den sonstigen Attributen einer munteren jungen Frau, die für die Welt zurechtgemacht erscheint und nicht zum stillen Lesen. Das Buch fügt sich nicht ein, es sprengt vielmehr die Bedeutungsebenen einer tragischen Gestalt im Modus einer auf Wirkung hin aktualisierten Darstellung.

10 Rivero, »Francisco Zurbarán (1598–1664)«, 15, 27, 33; in demselben Band vgl. auch: »Peintures pour le Nouveau Monde«, 163–178; ferner Paul Guinard, Zurbarán et les peintres espagnols de la vie monastique, Paris 1988, 54–56. 11 Zum Motiv des Fingers im Buch und dem Zusammenhang von lectio und meditatio vgl. Peter Schmidt, »Der Finger in der Handschrift. Vom Öffnen, Blättern und Schließen von Codices auf spätmittelalterlichen Bildern«, in: Codex und Raum, hrsg. von Stephan Müller, Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, Peter Strohschneider, Wiesbaden 2009, 85–125, besonders 91–95.

Pieter Bruegel der Ältere, Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, um 1560.

Joachim Hake

In der Spur bleiben Pieter Bruegels »Ikarus« und das Handwerk der Dichtung

»ich trug die züge meines vaters, sie waren leicht zu tragen, ganz ohne gewicht  …«1

Von Ikarus, dem zur Sonne fliegenden Himmelstürmer aus Ovids Metamorphosen (Buch VIII, 183–235), sieht der Betrachter bei Pieter Bruegel nur noch die beiden Beine, die aus dem Meer ragen. Eine winzige, zappelnde Spur eines unglücklich verlaufenen Abenteuers. »Halte die Mitte der Bahn, Ikarus«, hatte ihm der Vater Dädalus mahnend eingeschärft, denn zwischen Erde und Sonne sollte er sich halten. Das ist vermutlich eine der vielen Weisungen des Lebens, die sich zwischen Himmel und Erde sehr viel leichter aussprechen als einhalten lassen. Ikarus hält es nicht in der Mitte, es zieht ihn in die Höhe an die Sonne, eine Sehnsucht, die ihm vor allem von den Leidenschaftslosen als Hochmut und Stolz ausgelegt wird. Von dieser Kritik findet sich in dem Bild von Pieter Bruegel keine Spur, auch nicht von Schadenfreude. Ikarus stürzt unbemerkt in die See, ein großes Segelschiff zieht vorüber, nimmt keine Notiz von diesem Vorfall, der Angler auf dem Bild hebt nicht den Kopf, ein Hirt nicht und auch ein Bauer nicht, der auf dem Höhenkamm der Küste fleißig seine Furchen zieht und dabei dem Pferd vor seinem Pflug folgt. Das Bild hat W. G. Sebald die Frage entlockt: »… wird sich, wie auf Brueghels Gemälde, das schöne Schiff, der pflügende Landmann, die ganze Natur irgendwie abwenden vom Unglück des Sohns?«2

Indifferenz, vielleicht sogar die abgewandte kalte Schulter prägen die Stimmung gegen den Sturz des Ikarus wie die Atmosphäre des Bildes insgesamt, das den Betrachter mit einem kosmischen Zauber ebenso fasziniert wie durch den Eindruck einer sich durch das Leid eines einzelnen nicht stören lassenden Gleichgültigkeit. Die Natur, die Welt ist dem einzelnen Leid gegenüber so gleichgültig, wie die Menschen in ihren alltäglichen Tätigkeiten des Angelns, Pflügens und Viehhütens, und der Tod gehört dazu, wie die Natur ihn vorgibt. Erst auf den zweiten Blick findet der Betrachter einen Toten im Bild. Und auch von ihm wird von den Figuren des Bildes keine Notiz genommen. 1 Norbert Hummelt, »pfadfinder«, in: ders., Fegefeuer, München 2016, 19. 2 W. G. Sebald, Nach der Natur. Ein Elementargedicht, Frankfurt / M. 1989, 97.

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Das Bild »Ikarus« (1560) von Pieter Bruegel fasziniert mich seit vielen Jahren, und wenn ich es betrachte, stellt sich stets eine Frage ein: Warum werden gerade die Dichter von diesem Bild so angezogen und haben ihm so viele Gedichte gewidmet?3 Unter diesen Dichtern finden sich u. a. W. H. Auden, William Carlos Williams, Gottfried Benn, Albin Zollinger, Michael Hamburger und Tadeusz Rózewicz. Der Dichter und Essayist Adam Zagajewski hat ihm in seinem Buch Die kleine Ewigkeit der Kunst. Tagebuch ohne Datum eine von tiefer Sympathie bestimmte umf ängliche Notiz gewidmet, in der er der Frage nachgeht, ob wir das Leid, das Grauen und den Terror im Leben bestehen, weil wir stets nur einen Teil des Lebens wahrnehmen, oder aber, weil wir – wie Pieter Bruegel – eine Ahnung von der tröstenden Fülle des Lebens besitzen.4 Mit Bezug auf W. H. Auden und das wohl bekannteste Gedicht über das Bild Ikarus, Musée des Beaux Arts, argumentiert Zagajewski überzeugend für die zweite Antwort. Musée des Beaux Arts Über Leiden waren sie niemals geteilter Meinung. Die alten Meister: Wie gut sie wußten, Wie es für sich ist und einfach stattfindet, Während irgendeiner ißt oder ein Fenster öffnet oder gerade vorbeigeht; Wie immer, wenn die Alten in bangem Aufruhr Auf die wunderbare Ankunft warten, Kinder da sein müssen, die das nicht sonderlich wünschen, Und schlittschuhlaufen auf einem Teich am Waldrand. Niemals vergaßen die Meister, Daß man an Straßenecken foltert oder auf unsauberen Plätzen, Wo Hunde eben wie Hunde herumstehn und des Quälers Pferd, hinten an einem Baum, Gleichgültig scharrt. Breughels ›Icarus‹ zum Beispiel: Wie alles sich Von dem Unheil müßig abwendet; der Pflüger hörte wohl Den Aufprall, den einsamen Schrei, Aber für ihn stand nicht viel auf dem Spiel; die Sonne schien, Wie sie sein mußte, auf die weißen Beine, die im grünen Wasser verschwanden; Und das Prunkschiff, das freilich etwas Erstaunliches sah,

3 Gisbert Kranz hat für das 20. Jahrhundert 41 lyrische Texte zu Bruegels Ikarus gezählt. Vgl. ders., Meisterwerke in Bildgedichten. Rezeption von Kunst in der Poesie, Frankfurt / M. u. a. 1986, 346. 4 Adam Zagajewski, Die kleine Ewigkeit der Kunst. Tagebuch ohne Datum, München 2014, 284–287.



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Einen Knaben, der vom Himmel fiel, Hatte irgendwo anzukommen und nahm ruhig seinen Weg.5

In der Welt geschieht vieles gleichzeitig und immer wieder in der Haltung gegenseitiger Gleichgültigkeit und Blindheit. Das nicht anzuerkennen, wäre töricht und realitätsfremd; es macht die faszinierend schöne wie traurige Fülle des Lebens aus. Pieter Bruegel hat für diese Struktur des Lebens einen untrüglichen Sinn, der sich im Bild »Ikarus« als Ineinander von Schönheit, kosmischer Weite, melancholischträumerischer Gelassenheit, Gleichgültigkeit und Resignation entfaltet und einer Hochschätzung der alltäglichen Arbeit und Aufgabe eines jeden.6 W. H. Auden würdigt diesen Sinn, wenn er in seinem Gedicht notiert, dass dem pflügenden Bauern der Untergang des Ikarus zu gering ist, die Sonne scheint, wie es ihre Pflicht ist, wenn sie sich nicht in Trauer über das Unglück verdunkelt, und Schiffe haben eben jene Ziele, denen sie folgen müssen. Das gleichgültige Scharren des Pferdes (im Original: »and the torturer’s horse / Scratches its innocent behind on the tree«) changiert zwischen Unschuld und Gleichgültigkeit und die in ihrer alltäglichen Arbeit Beschäftigten kehren sich »müßig« (im Original: »leisurely«) vom Unheil ab. Das Bild von Pieter Bruegel ist in diesem Zusammenhang – so scheint mir – auch als Ausdruck einer Wertschätzung von Dichtung zu lesen, die sich in der zentralen Figur des pflügenden Bauern wiederfinden darf, der seinem Zugtier folgt und seine Arbeit tut. Es gibt eine heimliche und unausgesprochene Verwandtschaft zwischen dem Dichter, dem Bauern und seinem Zugpferd, die dem, der sie nachempfinden kann, etwas über das Schreiben offenbart und über den Zusammenhang von Erde und Himmel. Je länger ich über das Bild nachdenke, desto mehr dämmert mir, dass es in diesem Bild um den Dichter geht und ihm Bruegel in der Figur des pflügenden Bauern einen ehrenden Spiegel vorhält, dessen Wahrheit der Dichter als Betrachter aber kaum anerkennen will: der Bauer, der die Furchen zieht, das bist Du, der Dichter, das bist Du, lieber Ovid, deine Verse sind seine Furchen, und wie er bleibst Du in deiner Spur, und dies immer wieder um den Preis einer Blindheit, die unvermeidbar ist und zu Deinem Handwerk gehört. 5 W. H. Auden, »Musée des Beaux Arts«, in: ders., Anhalten alle Uhren. Gedichte, hrsg. von Hanno Helbling, Zürich 2002, 31. 6 Dieselbe Annahme für ein weiteres Werk von Pieter Bruegel: »Ein anderes Bild von Brueghel (offensichtlich dachte dieser philosophisch veranlagte Künstler gern darüber nach, wie sich das verhält: Wie grauenvolle Ereignisse mit vollkommen unschuldigen, alltäglichen einhergehen), Der Weg zum Kalvarienberg ist ebenso didaktisch und will uns sagen: Kaum jemand bemerkt, wie Christus zu seiner Hinrichtung getrieben wird. Die fröhliche Menge ist mit tausend anderen Dingen beschäftigt; die Atmosphäre erinnert eher an ein gelungenes Picknick im Mai, wer würde da auf die unter der Last des Kreuzes gebeugte Gestalt des jungen bärtigen Juden achten, der sich bestimmt mit der Polizei angelegt hat. […] Die Bilder schweigen, würden wir ihnen jedoch eine akustische Aufzeichnung hinzufügen, so hörten wir – bei Brueghel – den unbekümmerten Lärm einer großen Menschenansammlung, der das Stöhnen des Opfers übertönt.« Adam Zagajewski, Die kleine Ewigkeit der Kunst, 285.

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Das deutsche Wort Vers ist bekanntermaßen entlehnt aus dem lateinischen versus (›Linie, Strich, Reihe, Zeile, Verszeile‹) und heißt wörtlich »umgewendet«, meint also das Umwenden der Erde durch den Pflug und die dadurch in einem gewissen vorgegebenen Rhythmus entstandene Furche und die Kehre, die eine Doppelfurche entstehen lässt, in der sich – so z. B. in der Versstruktur des Psalters, im parallelismus membrorum – besonders deutlich zwar nicht Identisches, wohl aber Ähnliches wiederholt. Zwischen Pflügen – Schreiben – Rhythmus – Wiederholung – Vers – Furche besteht ein enger Zusammenhang, auf den ich durch den Dichter und Essayisten Christian Lehnert aufmerksam geworden bin, der hier seinerseits den Überlegungen des Schweizer Komparatisten Hans-Jost Frey folgt: »Das rhythmische Gesetz des produktiven Schreibens lässt in jedem Augenblick der Textentstehung das Bevorstehende aus dem hervorgehen, was schon dasteht. Rhythmisch schreibt, wer die Sprache nicht benützt, sondern sich in ihr bewegt und sich von ihr bewegen lässt, in absichtsloser Voraussicht findend, ohne gesucht zu haben, und heimgesucht werdend, ohne auf das Erfinden zu verzichten.«7

Der Metrik sind die Regeln des Dichtens überlassen, der Vers aber – so Christian Lehnert – entsteht dort, wo die Kehre gemacht wird, im Schreiben wie im Pflügen. Dabei hat das Schreiben etwas In-sich-Gekehrtes und Selbstgenügsames: »Geschriebenes hat seine eigene Zeit. In ihr rufen und erwarten einander die Wörter und Sätze und erfüllen sich in der Bestätigung ihrer Zusammengehörigkeit. Nichts treibt sie über die Ordnung hinaus, die sie bilden. Rhythmisches ist sich selbst genug und sucht immer nur sich selbst. Es wirbt für nichts und um niemanden und erfüllt sich im eigenen Fortgang, zieht aber den, der sich vielleicht übergangen fühlt, weil er nicht angesprochen ist, und trotzdem mitmachen möchte, in sich hinein. Zum Rhythmus nimmt man nicht Stellung. Man macht entweder mit oder bleibt ausgeschlossen.«8

Um das Feld zu bestellen, muss der Bauer dem Zugtier folgen und es gleichzeitig dazu bringen, in regelmäßigen Kehren die Gegenrichtung einzuschlagen, was ihm nur gelingen wird, wenn er und das Zugtier sich an den Rhythmus der Kehren gewöhnen und ihn geführt-führend oder führend-geführt umsetzen. Der Bauer auf dem Bild von Bruegel ist entspannt und folgt der Furche, ohne dass die nächste Kehre bergab zu sehen wäre. Aber sie kommt und führt wieder bergauf und ist allein schon eine mühevolle Tätigkeit, denn mit ihr ist eine Hemmung, ein Innehalten, ein Zögern, eine Synkope verbunden, ein notwendiges Zögern, das den Zugtieren erlaubt, die parallele, wiederholende Spur zu finden. Und in und trotz 7 Vgl. Hans-Jost Frey / Christian Lehnert, »Teilchen. Cherubinischer Staub. Zur Verwandtschaft von poetischer und religiöser Rede«, in: Nah – und schwer zu fassen. Im Zwischenraum von Literatur und Religion, hrsg. von Jan-Heiner Tück und Tobias Mayer, Freiburg im Breisgau 2017, 97–120, 113. 8 Hans-Jost Frey, Lesen und Schreiben, Basel  /  Weil am Rhein 22003, 46 f.



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aller Entspanntheit im Moment der alltäglichen Arbeit: den Sturz des Ikarus sieht der Bauer auf dem Bild von Bruegel nicht. Was für das Pflügen gilt, gilt auch für die Bewegung des Schreibens, deren erster Halt ein Rhythmus ist, dem es sich überlässt. In diesem Rhythmus offenbart sich das »Vorläufige des Schreibens«, in das der Schreibende (oder die Schreibende) hineinfinden muss, wie der Bauer in die wiederholende Spur seiner Furchen. Es ist der Vers, der den ersten Halt gibt, um in die Spur zu kommen, die dann zur offenbarungsträchtigen Fährte der sich einstellenden – oft von Erinnerungen durchwirkten – Imaginationen und Vorstellungen wird. Dass es der Vers ist, der am Anfang steht und dass gerade dieser jenen Halt erlaubt, der allererst das Schreiben ermöglicht, darauf hat besonders nachdrücklich Norbert Hummelt in seiner Poetologie reflektiert: »Am Anfang steht nicht das Wort, sondern der Vers. Einzelnen Wörtern begegnet ein Lyriker unauf hörlich und wird oftmals den Wunsch verspüren, dieses oder jenes im nächsten Gedicht unterzubringen; meist sind es Substantive, die Benn zu Recht für die bevorzugte Wortklasse der Lyriker hielt, denn sie holen die Dinge der Welt ins Gedicht. […] Oder es sind elementare Wörter, die man am liebsten ständig nehmen würde, wie in meinem Fall das Wort Licht, das ich für besonders unwiderstehlich halte, wenn es sich auf nicht reimt. Aber das geht nicht immer und geht überhaupt nicht, solange nicht der Vers da ist, der diesem Wort wieder neu seinen Platz anweist. Der Vers ist ein Satz oder Satzfragment, und er steht unter ­einem rhythmischen Gesetz, das ihm Form gibt, unter der dieser Satz als Vers wahrgenommen werden kann. Dieses rhythmische Gesetz lässt fast immer ein Metrum durchscheinen, wenn der Vers ihm auch nicht genau folgt. Den freien Vers, ganz ohne Rhythmus, gibt es nicht, wie schon T. S. Eliot in seinen Reflexions on vers libre darlegt. ›There is only good verse, bad verse, and chaos.‹«9

Und weiter: »Der Vers setzt den Lyriker auf eine unbekannte Spur, der er nachgeht, bloß um zu merken, dass er auf dem Weg ohnehin schon längst unterwegs war.«10  9 Norbert Hummelt / Klaus Siblewski, Wie Gedichte entstehen, München 2009, 51. Dass der Rhythmus des ersten Verses Halt gibt, wäre immer zu erinnern: »Zu solchen Beobachtungen will die Etymologie von Rhythmus (gr.: rhythmos) gut passen: Rhythmus ist, was einer Bewegung, einem Fließenden Halt gibt. Die ursprüngliche Bedeutung verbindet also Bewegung und Form. Ein Fragment des Archilochos (7. Jahrhundert v. Chr.) (67 a) lautet: ›Erkenne, welcher Rhythmus den Menschen hält‹.« (Gerhard Kurz, Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit, Göttingen 1999, 10) Dabei geht es nicht um »Originalität«, sondern um »die dem Schreiben angemessene gestalterische Form. Sie soll die Sinne ansprechen, ohne vom Gedanken abzulenken, sie muss einleuchtend, schlicht und wohlproportioniert sein, ohne manieriert zu wirken. Dieses Problem stellt sich für jeden Lyriker individuell, und wenn er auch seine Linie gefunden hat, es anzugehen, so muss er sie für jede neue Arbeit prüfen.« (Hummelt  /  Siblewski, Wie Gedichte entstehen, 67 f.) 10 Hummelt  /  Siblewski, Wie Gedichte entstehen, 51–53

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Das Schreiben allgemein und in besonderer Weise das Schreiben von Versen, Strophen und Gedichten unterliegt – wie das Pflügen auch – einem spezifischen Geführtwerden, einem Sog, einem Ineinander von Aktivem und Passivem, auf das sich der Schreibende einlassen muss. Der Rhythmus von Dichtung und ihre Wiederholungsstruktur ist oft bestimmt durch lakonisches Zögern, den Fluss der Vorstellungen zurückhaltende Erwartung und ein die Wiederholungen unterbrechendes Sichöffnen. Er ist bestimmt durch einen Gestus passiver Aktivität, aktiver Passivität, oft melancholisch-heiter gestimmt. Weltenthaltsamkeit und begehrende Leidenschaft stehen in einer ruhig-unruhigen, unruhig-ruhigen Spannung. Soweit ich die jeweiligen Werke übersehe, ist vor allem die Dichtung von Norbert Hummelt, aber auch diejenige von Christian Lehnert und Adam Zagajewski von einem Wissen um diese Struktur geprägt, was ihren je spezifischen Reiz ausmacht, wenn mit ihnen auf die Frage zu antworten wäre, wie es um den poetischen Überschwang steht, der den Dichter und Leser über das normale, alltägliche Leben erhebt, ohne dieses zu verachten oder geringzuschätzen. Wer so die (pflügende) Wiederholungstruktur von Gedichten zu verstehen beginnt, wird mit Einsichten über das Anfangen, Auf brechen und Aufschwingen ebenso beschenkt wie mit Einsichten darüber, dass es ganz gut ist, hier auf der Erde seine Wege zu ziehen, sich hinsichtlich des Himmels zurückzuhalten und ihn jenen zu überlassen, die von Natur aus fliegen können. Er würde beschenkt vor allem auch mit Einsichten über das Glück des Geführtwerdens, das der Erde vorbehalten zu sein scheint und im Himmel keine Anwendung findet. Irgendwie ist es schwer vorstellbar, dass der Vater Dädalus seinen Sohn Ikarus fliegend so durch jene Mitte des Himmels geführt hätte, dass dieser Kurs dem Ikarus den Sturz erspart hätte. Im Himmel gibt es nur den Rat des Vaters, »die Mitte der Bahn« zu halten, aber nicht die Hilfe, von einem »Vers« oder dem Vater selbst an die Hand genommen zu werden. Das Handwerk des Dichtens aus dieser Nähe zum Pflügen zu verstehen, ist alles andere als selbstverständlich. Und in den Bildgedichten zu Bruegels »Ikarus« findet sich auff ällig häufig der Widerspruch und das Unbehagen gegenüber dem pflügenden Bauern, eine Kritik, die Ausdruck einer nicht eingestandenen Nähe der Tätigkeiten des Dichtens und Pflügens sein könnte. Besonders sprechend scheint mir hier das Gedicht »Didaktischer Bericht. V: Rechte und Pflichten« von ­Tadeusz Rózewicz: »Früher (wann, weiß ich nicht) früher dachte ich, daß ich das Recht, die Pflicht habe den Pflüger anzuschreien: ›Sieh’ Sieh!’ Höre, du Baumstumpf! Ikarus stürzt herab! Ikarus, Sohn des Traumes, ertrinkt! Verlasse deinen Pflug! Verlasse dein Land! Öffne deine Augen. Dort ertrinkt Ikarus!‹ Oder diesen Hirten, der seinen Rücken kehrt zum Drama der Flügel, der Sonne des Fluges, des Sturzes. Ich sagte ›ihr Blinden!‹. Doch jetzt (wann jetzt, weiß ich nicht) weiß ich, daß der Pflüger den Boden zu pflügen hat, der Hirt über die Herde zu wachen. Ikarus’ Abenteuer ist



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nicht ihr Abenteuer. Es muß so enden. Und darin ist nichts Erschütterndes, daß das schöne Schiff weiterf ährt zum Bestimmungshafen hin.«11

Pieter Bruegel weiß es, der Dichter und der Bauer wissen es auch: In der schönen und traurigen Fülle des Lebens ist der ersehnte spekulative Höhenflug eine verständliche, aber irreführende Erwartung und der Außenblick von der Sonne her eine Unmöglichkeit. Da empfiehlt es sich, in der Versspur zu bleiben, auf diese Weise die »Mitte der Bahn zu halten« und – mit Adam Zagajewski – die Dichtung als »leichte Übertreibung« zu verstehen, als ein Leben »zwischen Hyperbel und Litotes […]. Wir müssen ja immer über- oder untertreiben, wenn wir sagen wollen, was wir sehen, was uns begegnet, was uns verletzt oder uns Freude bereitet. Wie schwer es doch ist, den Ort zwischen Hyperbel und Litotes zu finden, an dem ­u nsere Erfahrung situiert ist.«12

11 Tadeusz Rózewicz, »Didaktischer Bericht. V: Rechte und Pflichten«, zit. nach: Gisbert Kranz, Meisterwerke in Bildgedichten, 361. 12 Adam Zagajewski, Die kleine Ewigkeit der Kunst, 233 f.

Jacopo Tintoretto, Der Sündenfall, 1551/52.

Volker Schürmann

Der Sündenfall »Historische Semantik ist der Versuch, etwas zu sagen, ohne das letzte Wort haben zu müssen.«1

Bedeutungen haben ihre Geschichte. Das zu sagen, kann einen Erkenntniswert haben; heute ist es aber wohl eher ein Allgemeinplatz. Es trotzdem zu sagen, kann dann wieder einen Erkenntniswert haben, wenn man Unterscheidungen einführt. Es gibt Fälle, in denen jemand sagt »Bedeutungen haben ihre Geschichte«, aber damit lediglich meint, dass es Zeit und historisch-kulturelle Umwege gebraucht hat, um die eigentliche Bedeutung eines Ausdrucks zu wissen. Eine »eigentliche« Bedeutung hat keine Geschichte, und sei der Weg, um diese Eigentlichkeit zu wissen, auch noch so vertrackt oder gar unabschließbar. Eine eigentliche Bedeutung verträgt ein letztes Wort. Wer dann sagen will, dass wir gar keine sogenannten eigentlichen Bedeutungen kennen können, sondern dass die Bedeutungen selbst, und nicht nur ihr Erkennen, eine Geschichte haben, der kann nicht mehr bloß ­sagen »Bedeutungen haben ihre Geschichte«, sondern der muss anders reden, z. B. von der Geschichtlichkeit von Bedeutungen. Historische Semantik Man kann Einsichten als Bagatelle nehmen. Oft ist das gerechtfertigt. Dass die Erde keine Scheibe ist, hat seinen Informationswert eingebüßt und taugt nur noch in ausgewählten Situationen in seinem dann sprichwörtlichen Wert. Man kann aber auch echte Einsichten verharmlosen. Ein beliebtes Verfahren besteht darin, Einsichten von echtem Erkenntniswert dadurch zu bagatellisieren, dass man sie als Selbstverständlichkeit behandelt. Dass das autonome Subjekt gestorben ist und auch nicht wiederbelebt werden sollte, lockt niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Jaja, das wüssten wir jetzt, und es sei zudem auch noch eine Null-Information, weil es niemanden auf der Welt gegeben habe, der eine solche Vorstellung von einem solchen Subjekt je vertreten habe. Im Klima dieser inszenierten Selbstverständlichkeit können Handlungstheorien weiter fröhlich dem Konzept des Intentionen habenden und ins Handeln umsetzenden Subjekts frönen.

1 Ralf Konersmann, »Historische Semantik und Politik«, in: ders., Kulturelle Tatsachen, Frank-

furt / M. 2006, 323.

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Volker Schürmann

Sportgeschichten informieren uns darüber, dass es früher – z. B. zu Zeiten der antiken olympischen Spiele – ganz anders zuging als heute, etwa bei den modernen Olympischen Spielen. Oft beginnen solche Sportgeschichten explizit oder implizit mit dem Gestus ›Schon immer haben die Menschen Sport getrieben‹; auf dieser Basis erzählen sie uns dann, dass die Menschen das früher so und so gemacht haben, heute aber so und so, eben anders, machen. Der Mensch ist dort mit einem SportGen ausgestattet, aber selbstverständlich kann man eine interessante Geschichte erzählen, wie sich die Phänotypen in unterschiedlichen Epochen und Kulturen unterscheiden. In solchen Universalgeschichten des Sports taucht die Möglichkeit nicht auf (oder wird lediglich verbal und konsequenzenlos bekundet), dass Sport ein modernes Konzept sein könnte, so dass man dann nicht im selben Sinne von einem antiken »Sport« reden kann. Wenn man mit dieser Möglichkeit rechnet, reicht es wiederum nicht aus, lediglich den Namen Sport für die Antike zu vermeiden. Für eine Sportgeschichte macht es Sinn, ausführlich die antiken olympischen Spiele zu behandeln, den Trojanischen Krieg aber mehr oder weniger außen vor zu lassen. Es ist schon klar, dass eine Sportgeschichte ganz bestimmte Phänomene, und nicht Alles und Nichts, behandelt. Deshalb ist es ja verlockend, ein Sport-Gen zu unterstellen, das lediglich den Phänotyp wechselt. Wie umgehen mit der Notwendigkeit, dass der Begriff Sport eine Geschichte hat, vor allem aber an sich selbst geschichtlich ist? Eine naheliegende Möglichkeit ist die der Begriffsverwirrung: Man schreibt eine Universalgeschichte des Sports, nennt die aber Kulturgeschichte und will sich und anderen dadurch weismachen, dass Bedeutungen eine Geschichte haben.2 Wer es mit dem Sport nicht so hat, kann das Beispiel wechseln und einen Ausflug in die Höhenlagen der Philosophie unternehmen. Dort gibt es, zum Beispiel, eine pralle Debatte zum Konzept der Menschenwürde. In dieser Debatte kann (und sollte) man mit guten Gründen ein universales Konzept von Würde vertreten – in dem basalen Sinne, dass fraglos allen Menschen und allen Menschen fraglos Würde zukommt. Dieses Konzept von Würde ist eine politische Errungenschaft. So weit, so gut. Dann aber scheiden sich die Geister. Wer nicht bereit ist, einen Unterschied zwischen politischem Umkämpftsein und politischem Dezisionismus zu machen, der sieht sich genötigt, die politische Errungenschaft der Menschenwürde durch philosophische Absicherung zu rechtfertigen. Ein politischer Dezisionismus sei nur dadurch zu verhindern, dass man offensiv kenntlich mache, dass in jener politischen Errungenschaft etwas lediglich zum Ausdruck komme, was Menschen schon von jeher besitzen, nämlich Würde. Dies ist der Paradefall der Vernachlässigung von Geschichtlichkeit: Würde hat eine Geschichte, aber darf keine Geschichtlichkeit haben, weil die Idee der Geschichtlichkeit von Würde identisch sei mit kulturalistischem Relativismus und politischem Dezisionismus. Stattdessen sei das »von Geburt an« wörtlich zu nehmen: Auch die Sklaven der Antike seien eigent­l ich Würdige gewesen, man habe sie nur noch nicht entsprechend behandelt. 2 So Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Sports. Vom antiken Olympia bis zur Gegenwart,

München 2012.



Der Sündenfall

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Das aber ist ein Paradefall von Verharmlosung: Sklaven waren in der Antike nicht Würdige, sondern mehr oder weniger gut zu behandelnde lebendige Werkzeuge. Wohlgemerkt: Ein Paradefall ist kein beliebig herausgegriffenes Beispiel, das sein Allgemeines lediglich veranschaulicht. Ein Paradebeispiel ist ein herausgegriffenes Beispiel, das zugleich das Maß stiftet, worum es über das Beispiel hinaus im Kern geht – entfernt verwandt mit jenen Prototypen, die wir auf Automobil-Ausstellungen zu sehen bekommen. Hier geht es um ein Doppeltes: Die naturrechtliche Verharmlosung der Universalität der Menschenwürde ist politisch nur schwer erträglich; und sie ist auch ein philosophiehistorischer Fehler. Bei Rousseau nämlich kann man lesen von einem »heiligen Recht, das durch Vereinbarungen begründet ist«.3 Rousseau also kennt den Unterschied von politischem Umkämpftsein und politischem Dezisionismus. Historische Semantik meint: Bedeutungen haben ihre Geschichte und in ­a ller Regel auch eine ihnen eigentümliche Geschichtlichkeit.4 Es gibt Fälle, die durch die Unterscheidung von Geschichte und Geschichtlichkeit brisant werden, und dann auch weit über eine bloße Geschichte der Bedeutung hinaus. Will man diese Einsicht der Historischen Semantik nicht verharmlosen, helfen Paradebeispiele, die die Erkenntnis der historischen Semantik auch ohne viel Worte vorführen und zugleich vorführen, dass es eine echte Erkenntnis ist. Solche Paradebeispiele versteht man nur dann, wenn zwei Bedingungen zugleich erfüllt sind. Zum e­ inen muss, analog zur Physik, der auf kulturelle Trägheit geeichte gesunde Menschenverstand »im Hausfrieden [seiner] Seele gestört« werden,5 um nicht der Gewohnheit zu erliegen, »das Sichtbare schon für den thematischen Sachverhalt zu nehmen«;6 und zugleich kann auch der gemeine Menschenverstand dort mit bloßem Auge sehen, was auf dem Spiel steht, weil nicht bloß veranschaulicht ist, was jemand sich so ausgedacht hat. Tintorettos Sündenfall Um 1551/52 malt Jacopo Tintoretto den Sündenfall. Man sieht diese berühmte Szene der Menschwerdung des Menschen aus der biblischen Genesis, und zwar in einem deutlichen Vorher  /  Nachher. Der Bildvordergrund zeigt prominent das Vorher, freilich das Kurz-Vorher: Eva reicht den Apfel, ihrerseits verführerisch 3 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts (1762), in: ders., Politische Schriften, hrsg. von Ludwig Schmidts, Paderborn u. a. 1977, 59–208, hier: 62. 4 Vgl. Karlheinz Stierle, »Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung«, in: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hrsg. von Reinhart Koselleck, Stuttgart 1978, 154– 189. 5 Ludwig Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie. Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie (1837), in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Werner Schuffenhauer, Bd.  3, Berlin ³1984, 92. 6 Konersmann, Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik, Berlin 22006, 21; vgl. ebd. 268 ff.

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Volker Schürmann

von der Schlange unterstützt, aber Adam hat ihn noch nicht genommen und auch noch nicht hineingebissen. Der Bildhintergrund zeigt, eher andeutend, die Folgen dessen, dass Adam hineingebissen haben wird, nämlich die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Das Bild ist eine einzige Häresie. Das gelingt dadurch, dass eine Bedeutung, die es nur im Nachher gibt, ins Vorher verschoben wird. Tintoretto hat »den sonnengebräunten Nacken Adams vom weißen Rücken abgesetzt«.7 Adam muss also schon vor dem Sündenfall bekleidet gewesen sein. In der Welt des christlichen Glaubens gibt es eine für diesen Glauben konstitutive Bedeutungsdifferenz zwischen Nackt-sein und Nackt-ausgezogen-sein: 1. Mose 2, 25: »Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht.« 1. Mose 3, 6: »[…]. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß.« 1. Mose 3, 7: »Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.«

Schurze gibt es im Vorher nicht – weder für ihre Blöße noch für ihren bloßen Rücken. Man kann daran die Maltechnik loben und den »Naturalismus« preisen: »In Venedig, Hochburg der Farbvirtuosen, galt eine differenzierte Wiedergabe des Teints als Summum der Malkunst.«8 Aber man kann es noch so gut oder auch schlecht malen, das ändert nichts daran, dass die Absetzung eines sonnengebräunten Nackens von einem weißen Rücken im christlichen Bedeutungsraum vor dem Sündenfall ein Unding, eben eine Häresie ist. Der Katalog spielt das herun­ ter und spricht von »einem gewagten Detail, das Adam ausgezogen (statt bloß nackt) erscheinen lässt und die historische Authentizität der Darstellung geistreich unterwandert«.9 – Naja.

7 Tintoretto – A Star was born, hrsg. von Roland Krischel, Ausstellungskatalog des WallrafRichartz-Museums, Köln  /  München, 195. 8 Ebd. 9 Ebd.

Hans Canon, Putten beim Bahnbau, ca. 1876.

Gérard Raulet

Proleten im Himmel? In der ersten Etage des Oberen Belvedere durchschreitet man nacheinander die Säle, die dem Barock, dem Biedermeier und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet sind. Das merkwürdige Gemälde, das ich in der vorliegenden Notiz1 vorstellen will, befindet sich in letzterem Raum. Es steht aber in einem sonderbaren Verhältnis zum ersten, dem Barock-Saal – einem Verhältnis, das die Beschilderung für den Besucher nur knapp resümiert: Der Maler dieses Bildes sei ein Schüler von Altomonte. Bartolomeo Altomonte, kein italienischer Künstler, sondern in Warschau geboren, wirkte vor allem in österreichischen Klöstern, gilt als einer der großen Vertreter der Barockallegorie und schuf etliche Deckenfresken – unter anderem jene der Stiftskirche Wihering (1741), der Abteistiege vom Stift Seitenstetten (1744), der Stiftskirche Herzogenburg (1754) und andere mehr. Er lernte bei Daniel Gran. Im ersten, dem Barock-Saal richtete sich meine Aufmerksamkeit allerdings nicht sofort auf Altomonte2, sondern eben auf Daniel Gran, dessen Namen ich aus Winckelmanns Stellungnahmen zu ihm kannte. Das Gemälde, das als Deckenfresko für das Jagdschloss Eckartsau bei Wien vorgesehen war, repräsentiert D ­ iana, die Göttin der Jagd, die von Apollo zu einem von Licht umstrahlten Thronwagen geführt wird. Ringsherum sind die Götter des Olymps versammelt. Die Scheinarchitektur an den Rändern verbindet das Fresko mit dem Gebäude, das sich so zum Himmel öffnet. Wie beeindruckend Grans Werk, von dem das relativ kleinformatige Ölbild im Belvedere nur einen sehr reduzierten Eindruck vermittelt, auch sein mag – und zwar fast im Sinn der von Walter Benjamin evozierten ponderación misteriosa –, so kann es nichtsdestoweniger im Rückblick als Kitsch avant la lettre angesehen werden. Winckelmann, der sonst Grans »gelehrte und sinnreiche Malerei«3 lobt, spricht über die Verwendung von Allegorien ein sehr nuanciertes Urteil aus: »Und was vor Widersprechendes haben endlich Trophäen auf ein fürstlich Jadghaus? Glaubt der Verfasser, als eifriger Verfechter des griechischen Geschmacks, es erstrecke sich derselbe sogar bis auf die Nachahmung Königs Philippi, und der Makedonier überhaupt, von denen Pausanias meldete, daß sie sich 1 Infolge der Vertagung der Festschrift ist die Wiederaufnahme des Beitrags von Gérard Raulet in seinem Buch Politik des Ornaments früher geschehen als die ursprünglich geplante Überreichung des Originaltextes an Ralf Konersmann. (Anm. d. Hrsg.) 2 Von dem im Oberen Belvedere nur die Verklärung der Leiden Christi und die Ekstase des heiligen Franziskus ausgestellt sind, im Unteren Belvedere aber ein Deckenfresko zu sehen ist. 3 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung griechischer Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755), Stuttgart 1990, 37. Winckelmanns Bewunderung gilt insbesondere dem Kuppelfresko der österreichischen Nationalbibliothek.

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Gérard Raulet

selbst keine Trophäen errichtet haben? Eine Diana mit einigen Nymphen in ihrem Gefolge, nebst ihrem übrigen Jagdzeuge, […] schiene etwa dem Orte gemäßer zu sein.«4 Was entscheidet, ist die Angemessenheit: »In allen Verzierungen sind die beiden vornehmsten Gesetze: Erstlich, der Natur der Sache und dem Orte gemäß, und mit Wahrheit; und zweitens, nicht nach einer willkürlichen Phantasie zu zieren.«5 Denn überflüssige Allegorien, die nur als Verzierungen dienen, machen durch ihre Gelehrsamkeit eine Darstellung oder ein Gebäude nicht schöner, ganz im Gegenteil.6 Genau diese Frage wirft das Bild auf, vor dem ich innehielt und das 1876 gemalt wurde. Es passt freilich zu seiner Zeit: Man ist ja auf dem Höhepunkt des Historismus, der vor keinen Anleihen bei früheren Epochen zurückschreckte und sie »zur Unzeit«, wie Winckelmann sagt, verwendete, um einen eigenen Epochenstil zu schaffen. Nicht aber um solche Unzeitgemäßheit, die im Effekt zeitgemäß wird, geht es hier, sondern: Putten bauen eine Eisenbahn. Das Sujet und seine Ausführung haben etwas Skurriles an sich. Zwar sind die Putten genauso fleischig wie ihre Vorfahren und Vorbilder in barocken Kirchen, teilweise ebenso verschmitzt und pfiffig, vor allem die beiden auf der rechten Seite, zugleich aber ausgesprochen geschäftig und ernst, acht an der Zahl, also eine ganze Arbeitsbrigade, mit allerhand Werkzeugen und Messinstrumenten hantierend. Dabei vermisst man den (wie auch immer tiefsinnigen) Leichtsinn, der zur Metaphysik des Barock gehört. Gerade die Wolken, die zu dieser Leichtigkeit beitragen sollten, ballen sich im Hintergrund zu einem dichten und undurchsichtigen, nicht einmal wattigen Haufen, dessen Funktion lediglich darin zu bestehen scheint, dem Maler die Wiedergabe des Horizonts zu ersparen. Von einem Tor zum Himmel kann hier ganz bestimmt keine Rede sein. Bestenfalls lassen diese Kumulonimbusse, um wie das Bild selbst ins Technische einzulenken, heftigen Regen befürchten. Falls diese Putten eine allegorische Funktion im Sinne des Barock erfüllen sollten, so ist sie zunächst ganz verfehlt. Zwischen Erde und Himmel wird keine Brücke geschlagen. Man ist hier auf Erden, auf einer Baustelle, und selbst den Putten haftet etwas Proletarisches an. Aber sie sind nicht einmal echte Proletarier – zu viel Bauch, zu wenig Muskeln. Historistische Proleten und historistische Engel also. Der Ansatz der vorliegenden Interpretationsskizze ist nun umso weniger ungereimt, als der Maler, Hans Canon (eigentlich Johann Strašiřipka, oder auch Hans Purschka-Straschiripka, 1829–1885), um nun endlich seinen Namen zu verraten, den Höhepunkt seiner Kunst 1884–1885 mit dem großen Deckengemälde »Kreislauf des Lebens« für das Stiegenhaus des Wiener Naturhistorischen Museums erreichte.7 In »Makarts Jahrzehnt«, wie man die 1870er Jahre bezeichnet hat, gelang es Canon sich große Anerkennung zu verschaffen, selbst wenn er sich nicht einer 4 5 6 7

Ebd., Sendschreiben, 74. Ebd., Erläuterung, 122. Ebd., Sendschreiben, 73. Ein zweites Deckenbild, »König Mammon«, blieb unvollendet. Es gibt auch Entwürfe zum Deckenbild im Kunsthistorischen Museum (erste Skizzen 1884–1885, Entwurf 1891) unter dem



Proleten im Himmel?

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Hans Canon, Der Kreislauf des Lebens, Öl auf Leinwand, 1884–1885 Deckenfresko im Naturhistorischen Museum Wien

vergleichbaren Publikumsgunst wie Makart erfreute.8 Schon vor seinem Militärdienst von sieben Jahren als Offizier begann Canon bei Karl Heinrich Rahl zu studieren.9 Bei diesem, dem die Ausstattung der Hofoper anvertraut worden war, wandte er sich der Monumentalmalerei zu. Rahl, der fortschrittliche politische Ansichten vertrat, zeigte sich hingegen sehr traditionell in seinen Lehrmethoden, die vor allem auf Kopien und Farbskizzen nach alten Meistern beruhten. Wohl unter diesem Einfluss ließ Canon sich von Rubens stark inspirieren, aber er studierte Titel »Sieg des Lichtes über die Finsternis« und den Entwurf »Die Fruchtbarkeit, umgeben von den vier Elementen« (1875–1880). 8 Ein Erfolg, den ein anderer Konkurrent von Makart, Anselm Feuerbach, in seinem Pamphlet Über den Makartismus als eine »Pathologische Erscheinung der Neuzeit« (so der Untertitel) bezeichnete. 9 Er studierte ab 1845 an der Wiener Akademie der Künste (1847 bei Ferdinand Georg Waldmüller, 1848 bei Carl Rahl), anschließend war er bis 1855 im Dienst als Offizier in der österreichischen Armee und schloss danach sein Studium bei Rahl ab.

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auch die Maltechnik von Van Dyck und Jordaens. Daraus entstanden sehr verschiedene Bilder: »Der Fischmarkt« etwa, der an holländische Stillebenmaler erinnert, hat mit der Manieriertheit seiner neobarocken Werke wenig gemeinsam. Neben dem Einfluss von Tizian in der Farbgebung lehnen sich diese an Rubens stark an: Die Putten können ihre Herkunft nicht verleugnen.10 Man kann nur davon träumen, was Walter Benjamin, dem Barock-Philologen und Kulturphilosophen des 19. Jahrhunderts, beim Anblick dieses Gemäldes hätte einfallen können. Obwohl er sich 1919 eine Zeitlang in Wien auf hielt, bekam er das Bild nicht zu sehen. Aber der Kurzschluss zwischen dem Barock und dem Siegeszug der materiellen Zivilisation im 19. Jahrhundert ist gleichsam die Karikatur des Zusammenhangs, den er herstellt. Was Benjamin in umfangreichen Aufzeichnungen und Exzerpten zu umreißen versucht, liegt hier gleichsam unverhüllt auf der Leinwand. Wahrscheinlich ohne es zu ahnen, hat der Maler ein prägnantes Resümee der Problematik gefasst, der man sich sonst mit Benjamin nur durch eine aufwendige kulturpolitische Materialsammlung zum französischen Second Empire – das sogenannte Passagenwerk – fragmentarisch nähern kann. Benjamin hätte sich gefreut, wenn er dieses Gemälde je zu Gesicht bekommen hätte. Es ist billig, in dieser »Allegorie des Eisenbahnbaus« eine Verherrlichung des technischen Fortschritts und eine »Verniedlichung und Romantisierung von harter und prosaischer Arbeit«11 zu sehen. Die Überlieferungsgeschichte erinnert an die Umstände ihrer Entstehung: Die Direktion der Staatseisenbahnen hat sie 1916 erworben, weil Hans Canon Anfang der 1860er Jahre den Auftrag für die Ausmalung des Großherzoglichen Wartesaales im Karlsruher Bahnhof erhalten hatte. In diesem Zusammenhang hatte er sich zeitgenössische Themen ausgesucht, etwa »Die Dampf kraft« oder »Die Telegraphie« (1862), die beide als Wandbilder für den Karlsruher Hauptbahnhof gedacht waren. Wie vorhin festgestellt, läuft die Ausführung – im Gegensatz zu anderen Werken von Canon und natürlich in erster Linie zu seinem »Kreislauf des Lebens« (wiewohl beim Vergleich mit Gran, zum Beispiel, der Unterschied zum »echten« Barock sofort in die Augen springt12) – auf eine total säkulare Botschaft hinaus: Das Heil ist nicht in der ponderación misteriosa des offenen Himmelgewölbes zu suchen, sondern offensichtlich hienieden am Ende des Schienengestells, wenn er so emsig fortschreitet, wie es das Benehmen der Putten suggeriert. Engel der Geschichte sind diese Putten im umgekehrten Sinn zum Bild von Klee bei Benjamin: Sie arbeiten der Zukunft entgegen. Dass man vor der Entdeckung dieses Bildes durch den Biedermeiersaal geht, habe ich eingangs erwähnt. Es ist keine überflüssige Vorschule. Da erfreut man sich des Anblicks von Idyllen: ländlichen Idyllen, Familienidyllen etc. Stichwort Ferdinand Waldmüller, bei dem übrigens Hans Canon auch studiert hat – er wurde 10 Man findet welche auch in der »Allegorischen Figur mit Löwe und Pfau« bzw. der »Allegorischen Figur mit Statuette und Putto«, zwei Lunettenentwürfen für das Wiener Naturhistorische Museum. 11 Eva Maria Landwehr, Kunst des Historismus, Köln  /  Weimar  /  Wien 2012, 46. 12 Vor allem den nicht nur lebhaften, sondern grellen Kolorismus.



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zuerst als Genre- und Porträtmaler bekannt.13 Waldmüllers Szenen schätze ich übrigens außerordentlich, selbst wenn es eher unwahrscheinlich ist, dass es sich im keineswegs ruhigen neunzehnten Jahrhundert, zwischen 1815 und 1848, so idyllisch zugetragen hat. Das macht den Kurzschluss von Hans Canon umso merkwürdiger. War dieser Kurzschluss eine Parodie? Canon, dem man seinen Eklektizismus oft vorgeworfen hat, malte ja auch Karikaturen.14 Man möchte es annehmen, aber es ist alles andere als abgemacht. Das Bild ist viel zu naiv und scheinbar ungelenk, als dass man es eindeutig interpretieren könnte: entweder satirisch oder, im Gegenteil, ernsthaft, wie es seine Beschreibung für den Besucher tut, nämlich als Übernahme der »einstmals kirchliche[n] und fürstliche[n] Formensprache in die Welt des aufstrebenden Bürgertums«. Es verhält sich vielmehr so, als hätte Canon das Bild nicht für die Eisenbahndirektion, sondern für das Kinderzimmer entworfen, oder – um es mit Winckelmanns vornehmeren Worten auszudrücken –: der Vorwurf des Künstlers gereicht »mehr zur Satire, als zur Ehre desjenigen, dem er seine Kunst weihet«.15 Vielleicht birgt aber die Allegorie des Eisenbahnbaus ein kleines und bei genauem Hinsehen gar nicht so verstecktes Geheimnis. Man braucht sie nur mit einem anderen Gemälde in Verbindung zu bringen: »Die Loge Johannis«, die auf der Wiener Weltausstellung von 1873 präsentiert wurde, wo sie großen Eindruck machte. Dieses Bild muss Canon noch in Stuttgart gemalt haben, da er erst ab 1874 wieder in Wien war. Auch »Die Vereinigung der kirchlichen Sekten« genannt, stellt es Vertreter der verschiedenen christlichen Kirchen dar. Als theologisch progressive Botschaft fand das Bild beim Wiener Publikum gute Aufnahme und Kaiser Franz Josef erwarb es sogar für die Kaiserliche Gemäldegalerie. Wenn der Kontext des Kulturkampfes zunächst zum Erfolg des Werkes beigetragen haben mag, so wurde es aber wenig später zu seinem Unheil: Es wurde zum Opfer gegenreformatorischer Gesinnung und verschwand nach einiger Zeit im Keller. Erst 1996 wurde es in der Österreichischen Galerie im Oberen Belvedere wieder aufgestellt. Man darf allerdings daran zweifeln, dass sein Ziel bloß ökumenisch war, wie man in einigen Interpretationen zu lesen bekommt. Die Freimaurer hatten Canon nämlich damit beauftragt, ein Altarbild für eine Freimaurerloge zu malen. Aber auch für ein freimaurerisches Bekenntnis (zumindest ein offenes) war der Kontext recht ungünstig: Papst Pius IX. richtete 1873 eine Bulle gegen die Freimaurer und Papst 13 Für einen Überblick über sein Werk siehe Kunst des 19. Jahrhunderts. Bestandskatalog der Österreichischen Galerie des 19. Jahrhunderts Wien, Bd 1., Wien 1992, 140 ff; Franz Josef Drewes, Hans Canon 1829–1885. Werkverzeichnis und Monographie, 2 Bde., Hildesheim  /  Zürich  /  New York 1994. Herangezogen wurde auch die Geschichte der bildenden Kunst in Wien, Bd.  2: Geschichte der Malerei in Wien, Wien [u. a.] 1955. 14 1861 entwarf er eine Serie politischer Karikaturen, die zu Schwierigkeiten mit der Zensur führten und ihn zwangen, nach Karlsruhe umzuziehen. Dort unterhielt er ein Privatatelier, das zahlreiche Schüler – u. a. Hans Thoma – anzog. Wegen der Rivalität anderer Lehrer musste er Karlsruhe für Stuttgart verlassen. Er kehrte erst 1874 nach Wien zurück. 15 Winckelmann, Gedanken, 38.

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Leo XIII. verschärfte noch deren Verurteilung. Die Freimaurer wurden katholischerseits des »Anschlags auf Thron und Altar« verdächtigt.16 Ein freimaurerisches Bekenntnis in Form einer Verherrlichung des technischen Fortschritts mochte freilich noch hingehen. Denn es ist belegt, dass Canon bekennender Freimaurer war, obwohl es bis jetzt nicht gelungen ist, in deutschen Logen­ listen seinen Namen zu finden. Auf den ersten Blick sind die freimaurerischen Zeichen im Bild nicht völlig eindeutig. Sie lassen sich jedoch in dieser Richtung deuten.17 So fehlen eigentlich das Winkelmaß und der Kompass, aber sie werden ersetzt durch ein dreifüßiges Messgerät, das auf die Dominanz des Dreiecks in der geometrischen Komposition und damit auf die Bedeutung der Geometrie überhaupt aufmerksam macht. Die räumliche Disposition wird durch eine horizontale Achse, die Himmel und Erde trennt, und zwei Diagonalen – dem von zwei Putten mit großem Kraftaufwand betätigten Hebel (einem von den Freimaurern beliebten Werkzeug) und dem von einer Hacke verlängerten Arm des umgewandten Putten – organisiert. Zusammen mit der horizontalen Geraden teilen die beiden Diagonalen das Bild in sieben teilweise ineinander verschachtelte Dreiecke (rechtwinklige pythagoreische Dreiecke). Die Sieben ist in der Freimaurerei die Zahl des Meisters (die Drei ist die Zahl des Lehrlings, die Fünf die des Gesellen). Aus der Kreuzung der Linien ergeben sich geometrische Figuren, die an das Winkelmaß und an den Kompass erinnern und die sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Holztäfelung am Portal der Großloge von Österreich in der Rauhensteingasse Nr.  3 aufweisen. Die horizontale Achse bestätigt unsere Betonung des Irdischen und Weltlichen – man hat es ja mit profaner Monumentalmalerei zu tun. Zugleich erscheint die Erde, auf dem der Dreifuß feststeht (wieder ein symbolischer Hinweis), als hart und dürr, aus dem Boden schießt eine einzige ausgedörrte Pflanze. Von einer menschenfreundlichen Natur kann keine Rede sein, nur von der Technik und von seinem wissenschaftlich angeleiteten Fleiß kann der Mensch eine Verbesserung seines Schicksals erhoffen. Dazu müssen freilich noch die Schienen gelegt werden. Die Arbeitsbrigade der Putten besteht aus acht Mann, was zunächst keine symbolische Zahl ist, aber sie lässt sich deutlich in drei Gruppen aufteilen: zwei wissenschaftlich (geometrisch) arbeitende auf der linken Seite, vier körperlich arbeitende in der Mitte und auf der extremen rechten Seite zwei Figuren, die ein Pendant zu den zwei Geometern bilden und sich dadurch unterscheiden, dass sie eine Pause 16 List der Geschichte: Das Denkmal, das Kaiser Franz Joseph für Maria Theresia errichten

ließ, zeigt oben die Kaiserin und unter ihr vierundzwanzig wichtige Männer ihrer Zeit, davon sieben Freimaurer. Als das Denkmal 1888 eingeweiht wurde, war die Freimaurerei im habsburgischen Österreich wieder verboten. Das änderte sich erst 1918 mit dem Ende der Monarchie und der Ausrufung der Republik. 17 Auf zahlreiche Zeichen hat mich der Historiker Jacques G. Ruelland, selber Mitglied der Respectable Lodge John T. Desaguliers (Großloge von Quebec), aufmerksam gemacht. Vgl. sein Buch The Cornerstone: Eine Geschichte der regelmäßigen Freimaurerei in Quebec, Outremont (Quebec) 2002. Ihm sei hier gedankt.



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machen; eine ist auf ihren Spaten gestützt, die andere schaut einfach zu. Das legt drei Interpretationen nahe: Erstens teilte Hiram Abif, der Meister-Bauherr des Tempels von Salomon in Jerusalem, bekanntlich seine Arbeiter in drei Gruppen auf, und zwar in Lehrlinge, Gesellen und Meister-Maurer (die ersten drei Freimaurergraden). Zweitens erscheinen geistige und körperliche Arbeit als komplementär. Drittens versinnbildlicht das rechte Puttenpaar die Erholung nach getaner Arbeit, so dass die gesamte Gruppe das Studium, die Arbeit und die Erholung vereinigt. Da die beiden Diagonalen sich unterhalb der Horizontalen kreuzen, bilden sie in der Mitte des Bildes ein kleines Dreieck, in dem drei Putten zum Teil erscheinen: wiederum ein Symbol dafür, dass erfolgreiches Schaffen nur aus Gruppenarbeit folgen kann. Es ist bekannt, dass die Freimaurer und vor allem unter ihnen die Anhänger des Saint-Simonismus sehr engagierte Befürworter des technischen Fortschritts und insbesondere der Eisenbahn waren. Für Canons Mitgliedschaft im Bunde der Freimaurer sprechen außerdem noch weitere Indizien. Kronprinz Rudolf, dessen Zugehörigkeit zur Freimaurerei freilich umstritten ist (war er doch als Offizier in Österreich an den Eid gebunden, keiner Geheimgesellschaft im In- und Ausland anzugehören), hatte Freunde unter den Freimaurern und es ist bezeugt, dass er anlässlich seines Aufenthalts in Prag als Oberst eines Infanterieregiments ab 1878 zusammen mit Canon, der selbst Leutnant bei den Kürassiers war, freimaurerische Sitzungen besuchte. Also doch eine allegorische Botschaft – eine freimaurerische Fantasie.

Caspar David Friedrich, Morgennebel im Gebirge, 1808.

Hartmut Böhme

Steinerne und eisige Welten C. D. Friedrich – Annette von Droste-Hülshoff – Mathias Kessler

Die steinerne Welt bei Caspar David Friedrich und Annette von Droste-Hülshoff Menschenlos ist die Landschaft in Caspar David Friedrichs Gemälde »Morgen­ nebel im Gebirge« (1808). Nebelschwaden ziehen über eine pyramidal aufstrebende Felsformation. Das nebelverhangene Gebirge dagegen bleibt vage, wie auch die Nadelbäume, die in mäßiger Menge, nicht zum Wald verdichtet, aus dem grauen Geschwader aufragen, festgekrallt in das Gestein. Diffus und gestaltlos auch die Wolken über dem Gebirge, die oben sich zum Blau des Himmels zu öffnen beginnen. Das Wolkenfenster lässt das frische Frühlicht ein in die formlose Nebelwelt, aus der die Gipfelpartie des verwitterten Bergs heraustritt. Er ist teilweise von Moos überzogen, das zusammen mit den Bäumen die Farbe des Lebens, das Grün, im Grau von Nebel und Wolken zu behaupten versucht. Mehr als eine winzige Andeutung ist das Gipfelkreuz nicht, das auf dem höchsten Fels-Turm ein Zeichen einer anderen Wirklichkeit zu senden scheint. Die Natur erwacht im ersten Licht und schält sich langsam aus dem Chaos der Formlosigkeit heraus. Angedeutet wird der Prozess der Weltwerdung. Das Gefüge der Steine ist der erste Halt des Seins. Im Stein zuerst tritt die vis plastica, die Formkraft der Natur hervor. Das Lebensfernste, die Lithosphäre, trägt das Leben, das im strebenden Wuchs der Bäume seine charakteristische Form zeigt. Wir sehen nicht, wie bemooster Fels, Erde und Wurzeln dem Baum Halt geben, sehen aber das Ragende – die vertikale Ausrichtung des Pflanzlichen zum Licht. Vielleicht erfährt dieses Naturbild im Gipfelkreuz vor dem ersten Himmelsblau eine metaphysische Botschaft. Dies würde bei Friedrich der Spur des Göttlichen in der Natur entsprechen. Nach der Nacht, der Zeit des düsteren Nicht-Seins, hält Friedrich den Augenblick der täglich erneuerten Welt-Geburt im Licht fest. Das mag christlichen, aber auch mythischen Schöpfungsbildern entsprechen: man kann dabei an Parmenides ebenso denken wie an Christus. Es ist von besonderer ästhetischer Evidenz, dass das Gemälde den Zwischen­ zustand zwischen Gestalt und Gestaltlosigkeit festhält. Diese Liminalität gehört zum Chronotopos der Natur. Sie führt immer neu das Spektakel auf von Dunkel und Licht und der dazwischen geschalteten Trübe des Nebels (ganz wie in Goethes Farbenlehre): der Übergang vom formlosen Gebrodel zu werdender Form. Aufführung aber für wen? Der Beobachterstandpunkt ist nicht aus der Raumordnung

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des Bildes abzuleiten: er schwebt vis-à-vis im Nirgendwo, ohne gegenständliche Ortung, im Abstrakten. Es ist mithin der Standpunkt der Reflexion, die sich selbst und ihre Position angesichts der Natur bedenkt. Wie so oft bei Friedrich, ist auch dieses Werk vordergründig die mimetische Darstellung eines landschaftlichen Prospekts (man mag an Partien im Elbsandsteingebirge denken). Zugleich aber ist es ein Denkbild, das der Erkundung des Menschen gilt, der nicht (wie in vielen anderen Bildern) in der Landschaft als Betrachterfigur gegenwärtig sein muss. Auch das Menschenlose, das Nicht-Menschliche reflektiert uns. *** Gut drei Jahrzehnte später, 1844, publiziert Annette von Droste-Hülshoff ihr grandioses Gedicht »Die Mergelgrube« (1841/42).1 Mergel ist ein hauptsächlich aus Kalk und Ton verdichtetes Sedimentgestein, in dem sich oft Fossilien finden. Im Münsterländischen, der Heimat der Droste, wurden seit alters Plaggen oder Mergel als Düngung für nährstoffarme Böden eingesetzt.2 Das lyrische Ich, ausgerüstet wie ein Geognost und Landschafter in Nachfolge von Carl Gustav Carus, begegnet einer Fülle von herrlich bunten Gesteinsarten und Fossilien, aber auch von Findlingen, die aus weiter Ferne herangewälzt wurden. Anfangs scheint dies wie ein Museum der Naturgeschichte, die in den Sedimenten ein geognostisches Archiv angelegt hat. Doch schon der Eindruck, dass die »Natur« das bunte Gestein wie in einer »Trödelbude« zur Auktion (»zur Gant«, ›zur Zwangsvollstreckung‹) darbietet, passt nicht zu dem seinerzeit verbreiteten Enthusiasmus von Freizeit-Geognosten (vgl. Mörike, »Der Petrefaktensammler«, 1844). Es entsteht auch kein Bild einer geomorphologisch integrierten Landschaft, wie dies bei Carus, Stifter oder auch bei Goethe der Fall ist. Die Gesteinsarten zerfallen in heterogene visuelle und materiale Qualitäten; auch geognostisch weisen sie auf entgegengesetzte Herkunfts­ linien: in der Grube mengen sich Steine, die von »des Berges Kuppe« stammen mit solchen, die Wasser, Meer, ja die Sintflut hierher transportiert haben. Die post­ dilu­v iansche Natur, aus der »ein neues Leben quoll« – hier zuerst taucht das Motiv der Resurrektion auf –, besteht aus »Findlingen«, die von der mütterlichen Brust gerissen sind: die neue Welt ist ein »Waisenhaus« für die dissoziierten Migranten der Natur. Der Abstieg des Ich, das sich selbst als herkunftslosen »Findling« empfindet, in die Mergelgrube ist ein Abstieg in die Tiefenzeit der tellus mater. Sie ist keineswegs das gute Mutterobjekt (terra eius nutrix est), sondern sie kennt dramatische Epochen der Zerstörung. So wie anfangs das lyrische Ich die Farben der Steinarten als eine unruhige, abstrakte Chromatik erlebte, so visioniert es nun ein dissonantes Klang1 Annette von Droste-Hülshoff, »Die Mergelgrube« [1841/1842], in: dies., Gedichte, Stuttgart 1873, 43–47. 2 Wilhelm von Laer, Plaggendüngung oder Mergel? Im Auftrage des Landwirtschaftlichen Hauptvereins und zunächst für die Verhältnisse des Münsterlandes, Münster 1865.



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bild von Wind und Gestein. Wie im Traum, einem Traum der Angst, nimmt ein »zerstörtes All«, ein »zerfall’ner Weltenbau«, eine tote Natur das perhorreszierte Ich gefangen. Es sucht in einer (uterinen) Höhle Schutz, um »der Verödung Schrecken« nicht schauen zu müssen. Doch das schützt nicht vor der visionären Erfahrung gewaltiger Metamorphosen in der Lithosphäre, wobei für das Ich undeutlich bleibt, ob es sich um kreative oder zerstörende Prozesse handelt. Diese chaotische Erfahrung löst die im Weltzusammenhang verankerte Position des Ich auf. Es weiß nicht mehr, ob es »der erste Mensch oder der letzte« ist, Adam also oder jener apokalyptische Zeuge, der finis mundi und zugleich finis hominis erlebt. In jedem Fall aber wird eine dramatische Umwälzung und Dissoziation erlebt, bei der aus der Zersetzung des Alten Neues quillt. Doch was bedeutet dies? Das nicht erfahren zu können, bannt das lyrische Ich auf die Ungewissheit, erster oder letzter Mensch zu sein, Findling jedenfalls wie die Steine ringsum. Man erinnert sich an Le dernier Homme (1805) von Jean-Baptiste de Grainville, der die mythische Figuration des »letzten Menschen« für die Moderne entworfen hat, die im Anthropozän heute ihre Zuspitzung erfährt. In dieser gewaltigen, ur- wie endgeschichtlichen Dimension ist das Gedicht von Droste-Hülshoff entwickelt. Das Ich reflektiert sich als Element einer untergegangenen Welt (»die alte Welt ist hin«): es selbst ist schon zum »Ich Petrefakt« geworden, versteinertes Relikt, Mumie. Elemente des ägyptischen Totenkultes, indem nicht nur der Körper, sondern die Zeit selbst mumifiziert und stillgestellt wird, werden angerufen. Man kann diese Partien des Gedichtes eine Art Jenseitsreise nennen. Unversehens verwandelt sich das Gedicht in eine rituelle Passage, in der das Ich zu grauem Gestein verwandelt wird. Nichts scheint toter zu sein als Stein. Und doch wird er erlebt als Durchgang durch die uralte Lithosphäre und zugleich als eine retrograde Verwandlung des Ich ins Anorganische. Der Abstieg in die Mergelgrube ist ein Abstieg in eine mythische Initiationshöhle (die mythische Fassung des descensus ad inferos). Man darf sagen, dass niemals zuvor und niemals danach in so wenigen Zeilen vollzogen wird, was Adorno einmal die »Mimesis ans Anorganische« genannt hat. Darin sind höchstens die Romantiker, Carus und Goethe in ihren lithopoetischen Phantasien3 der kühnen Vision Droste-Hülshoffs vorausgegangen. Der eigene Tod als Versteinerung wird parallelgeführt zum terrestrischen Werden und Vergehen der Erde. Im Prozess der »kreativen Zerstörung« (A. Schumpeter) erkennt sich das Ich und erkennt es die Natur. Am tiefsten Punkt des Endes, dem Tod von Ich und Welt zugleich, wechselt im wahrsten Sinn der Ton, die Klangfarbe des Gedichts, wenn das versteinte Ich ­einen Hirten das »Ave Maria« sowie ein Liebeslied singen hört: eine anakreontische Hirten-Idylle erscheint wie ein erlöst-erlösendes Klangbild. Das Ich ist, 3 Verf., »›Geheime Macht im Schoß der Erde‹. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie«, in: ders., Natur und Subjekt, Frankfurt / M. 1988, 67–144; ders., »Stein-Reich. Zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des Menschenfremdesten«, in: ders., Natur und Figur. Goethe im Kontext, Paderborn 2016, 85–134.

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wie bei einer Wiedergeburt, aus der steinernen Geburtshöhle wieder aufgestiegen. Witzig-ironische Spielereien mit den mythischen Bildern der Petrifizierung und mit »Bertuchs Naturgeschichte«4 konfrontieren das im Schillerschen Sinn sentimentalische Ich mit dem naiven Bewusstsein des strickenden Hirten. Dieser erklärt das lyrische Ich für »verrückt«, das ihm Fossilien als Zeugnis der tiefenzeitlichen Versteinerungen vorzeigt: ausgerechnet eine petrifizierte Meduse, Namensträgerin jener mythischen Figur, deren Anblick versteinert. Wir erinnern uns, wie viele der romantischen Phantasten des Gesteins, der Höhlen und des Montanbaus dem Wahnsinn verfielen. Wenn Goethe im Brief an Wilhelm von Humboldt vom 17. März 1832 – fünf Tage vor seinem Tod – den Faust II als »diese sehr ernsten Scherze« anspricht, dann ist damit auch die ebenso verstörend-heillose wie humoresk-versöhnende Spannung der Töne in Droste-Hülshoffs Gedicht erfasst. Fast ist man bestürzt von dieser kühnen Kehre Drostes von der lithosphärischen Tragödie in das kokett Humoreske und Anekdotische (wie man es allenfalls auch von J. P. Hebel kennt). Man kann aber auch vorausdenken an die Poetik des Anorganischen bei Rilke und Celan, bei denen das Steinerne die Tiefen-Erfahrungen des furchtbaren 20. Jahrhunderts hergibt.5 Ohne dass damit das Gedicht hinreichend interpretiert wäre, ist festzuhalten: in der frühen Moderne, nicht erst im Anthropozän wird die Figur des Endes von Natur und Geschichte, von Menschheit und Kultur phantasiert. Mag, wie bei Friedrich, die Natur ihrem gesetzlichen Rhythmus scheinbar ewig folgen: ungewiss ist, welche Botschaft für die Selbstpositionierung des Menschen in der Welt darin liegen mag – vielleicht gar keine. Möglich ist, wie in der ersten Vision DrosteHülshoffs, die Rückverwandlung allen Lebens ins Steinerne, und damit auch die Versteinung des Menschen, der sich hier schon als totes Fossil im Archiv der Erdgeschichte sieht. Wir denken an die Phantasien des alten Freuds, selbst ins Anorganische zurückzukehren (»eine Kruste von Unempfindlichkeit umzieht mich langsam«): das nennt er den »ursprünglichen Todestrieb«.6 Drostes Gedicht, Freuds Phantasie, Adornos Begriff des Anorganischen: es sind mythopoetische Reflexe der Entropie, deren universalgeschichtliche Gesetze Mitte des 19. Jahrhunderts physikalisch formuliert wurden und in der Öffentlichkeit Anlass für apokalyptische Erregungen boten.7 Damit ist die Spannweite des Naturdenkens in der Moderne vorgezeichnet, bedenkenswert bis heute, auch wenn wir 4 Friedrich Justin Bertuch, Bilderbuch für Kinder enthaltend eine angenehme Sammlung von Thieren, Pflanzen, Blumen, Früchten, Mineralien, Trachten und allerhand andern unterrichtenden Gegenständen aus dem Reiche der Natur, der Künste und Wissenschaften […], 12 Bde, Weimar 1792–1830. 5 Vgl. Friederike Felicitas Günther, Grenzgänge zum Anorganischen bei Rilke und Celan, Heidelberg 2018. – Ulrich Johannes Beil, Wiederkehr des Absoluten. Studien zur Symbolik des Kristallinen und Metallischen in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende, Frankfurt / M. 1988. 6 Nachweise und Kontext bei Verf., »Die Antike ›nach‹ Freud«, in: Freud und die Antike, hrsg. von Claudia Benthien, Hartmut Böhme und Inge Stephan, Göttingen 2011, 423–458, hier: 441  ff. 7 Vgl. Elizabeth Neswald, Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850–1915, Freiburg 2006.



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der christlichen Resurrektion im Zeichen des Kreuzes (bei Friedrich) oder der Liebesbotschaft des bukolischen Hirten (bei Droste-Hülshoff ) kaum mehr glauben. Die Ästhetik von Eismeer und Eisbergen Auf archaische wie endzeitliche Traditionen gehen auch die Fotografien zurück, die der New Yorker Künstler Mathias Kessler auf seinen Expeditionsreisen geschaffen hat, in extreme Randzonen der Natur. Man denkt an Andrej Tarkowskijs Film »Stalker« (1979) und die menschenverlassene »Zone«, in die hinein Expedi­t io­ nen zu wagen vielleicht das allegorische Urbild all der Explorationen ist, die seither von Künstlern in heterotopischen Arealen dieser Erde unternommen wurden. In Anknüpfung an die Arktis- und Antarktis-Expeditionen um 1900 unternimmt Kessler eine Reise nach Grönland, um auf dem Meer treibende Eisberge nachts zu fotografieren: Daraus entsteht später für den Kunstraum die Labor-Installation »The Taste of Discovery«, worin die Hitze und der Geruch im Inneren des Schiffes und die Erfahrung der eisigen Kälte draußen simuliert werden. Mit Hilfe gewaltiger Scheinwerfer von 200.000 Watt fotografiert Kessler nächtliche Ansichten von Eisbergen in Grönland, aber auch von Felsformationen in Mexico im Guainía-

Mathias Kessler, The Sea of Ice, 2013.

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Hochland von Venezuela. Die gewaltigen Kohle-Tagebaureviere in West-Virginia werden vom Flugzeug aus und per Fahrzeug und zu Fuß erkundet, um die Verwüstungen des Energie-Hungers zu dokumentieren: tote Natur, oder, mit Kessler zu sprechen, »Monuments of Destruction«. Wir haben, so die Botschaft, nur diese, die eine Erde – und über ihr: der gestirnte Himmel, der als visuelle Erfahrung etwas völlig anderes ist als nur ein kosmophysikalisches Objekt. Dass wir Menschen eine Winkel-Existenz im Weltraum sind, ist eine Konsequenz der kopernikanischen Wende, die besonders Nietzsche, aber auch schon John Donne oder Blaise Pascal im 17. Jahrhundert formuliert haben. Recht verstanden heißt sie, dass – angesichts dieser Erde irgendwo im kalten Raum des Alls – der Geozentrismus die einzige politisch und kulturell sinnvolle Option ist. Wahrnehmungsästhetisch bleiben wir ohnehin geozentrisch und heliotrop. Für das Leben auf der Erde ist dies die angemessene Option. Bei Kessler sehen wir nächtliche Gletscher pyramidal aus dem schwarzen Wasser auftauchen und glauben, die ebenso pyramidale Komposition von Caspar David Friedrichs Gemälde »Das Eismeer« (Die gescheiterte Hoffnung, 1823/24) zu erkennen. Tatsächlich friert Kessler das Friedrich-Gemälde gleichsam noch einmal ein: in seiner digitalen Bearbeitung verliert diese Ikone der Romantik ihre Farbigkeit und wird gleichsam in kaltes Weiß getaucht. Das Bild wird dadurch noch eisiger,

Caspar David Friedrich, Das Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung), 1823–1824.



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der Schiff bruch der Zivilisation noch aussichtsloser, das residuale Leben, das bei Friedrich noch in Farben spielt, noch todesnäher. Finis naturae, das heißt auch das Ende der Kultur. In die aufgegipfelten Eisschollen unter dem Licht der nördlichen Sonne klemmt Friedrich ein Schiffswrack, das zum Symbol einer Todeslandschaft wird, in der das lebenspendende Wasser zum Sarkophag geworden ist. Der Schiff bruch auf Friedrichs »Eismeer« ist ein Emblem menschlicher Geschichte. Im fahlen Weiß und der Kälte des Eises sind alle Hoffnungen erfroren. Die Ästhetik der schönen, Natur und Geschichte versöhnenden Landschaft löst sich auf und gibt Raum für die schroffe Erfahrung des Erhabenen, des Schreckens und der Zerstörung. Das Schöne ist aus der Ewigkeit gestürzt. Das ist der Ausgangspunkt der modernen Künste, der Ausgangspunkt auch für eine ästhetische Erfahrung von gleißender Hitze und tödlicher Kälte, die nicht allein in den Randzonen der Erde herrschen, sondern zu Merkmalen unserer Gesellschaft geworden sind. Eisberge, Eiswände, die abbrechen, durchs Wasser treiben, bis sie sich auf lösen – das ist Ökozid in Grönland, der Arktis oder Antarktis: sie sind niemals nur erstarrte Zeit, geschichtslose Ansichten des Fluids Wasser in seiner überhistorischen Form, dem Starren, dem Permafrost. Erd- und Klimageschichte, so wissen wir heute, wird aus den Bohrkernen des sog. ewigen Eises rekonstruiert. Das Eis ist ein Ar-

Mathias Kessler, Ilulissat S010. Islands of Time, Ilulissat, Greenland, 2007.

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chiv der Erdgeschichte, allerdings in anderen Idiomen sprechend als solche Phänomene der Natur wie Steine, Wolken, Licht, Pflanzen oder Tiere. Einer der großen fotografischen Dokumentaristen der sterbenden Eisberge ist seit Jahrzehnten der Künstler Olaf Otto Becker, dessen Porträts vom Schelfeis vor Grönland und den Eisbergen in der arktischen See von magischer Schönheit und von der Melancholie der Vergängnis erfüllt sind. Es sind Denkmäler der Trauer. Eis ist ein sensibler Index der Erdgeschichte. Nicht nur Tier- und Pflanzenspezies verschwinden, nicht nur Landschaften verwüsten, sondern das Welteis schmilzt, ein gewaltiges fading out – und das erleben wir in einem Tempo, das im Verhältnis zu den langen Zeiten der Erde dramatisch ist. Die künstlerischen Fotografien der Eisberge sind Dokumente eines Vergehens, das durch den anthropogenen Klimawandel induziert ist. Was schmilzt, ist das Archiv der Erdgeschichte, deren Erzeugnis nicht zuletzt wir selbst sind. Mit dem schmelzenden Eis, so Becker, sterben auch wir.

Richard Oelze, Erwartung, 1935/36.

Tim-Florian Steinbach

Der Künstler und sein Schatten Zu Richard Oelzes Erwartung

Richard Oelzes Erwartung (1935/36) bannt eine Situation, die die Bruchlinien des 20. Jahrhunderts zur Chiffre eines ganzen Jahrhunderts haben werden lassen und die in ihrer Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit jeden anzusprechen scheint.1 Erwartung entstand zur Zeit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland; es verwundert daher nicht, dass viele Deutungen das Hauptmotiv des Werkes in einer apokalyptischen Bedrohung sehen, die in ihrer Absolutheit lähmend und nahezu unerträglich auf den Betrachter wirkt. Bereits die Anordnung der Personengruppe lässt den Betrachter ganz in das Geschehen eintauchen, die unheil­ verkündende Szenerie verstärkt diesen Effekt noch: Die Bedrohung wirkt in ihrer Ausweglosigkeit absolut, so dass sich Unruhe und Unsicherheit unmittelbar auf den Betrachter übertragen. Zugleich jedoch erzeugt die Unbestimmtheit der Erwartung eine eigentümliche Faszination, die den Betrachter nach mehr fahnden lässt als nur nach der Ursache einer nahenden Katastrophe. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag: Oelzes Erwartung beschwört nicht in erster Linie ein apokalyptisches Endzeitszenario herauf, sondern reflektiert die eigene Haltung ­a ngesichts dieser unbestimmten wie scheinbar ausweglosen Situation. Sosehr Oelze mit Erwartung die weltumspannenden Veränderungen seiner Zeit atmosphärisch eingefangen haben mag, so war er doch in weit höherem Maße ein Beobachter der eigenen Innen- als der (politischen) Außenwelt. Resultat der nach innen gerichteten Streifzüge sind die von ihm erschaffenen surrealistischen Traumwelten, mit denen sein Werk in erster Linie in Verbindung gebracht wird. Was in diesen Traumwelten einem Hintersinn der Wirklichkeit entstiegen scheint, kommt in seiner realistischen sowie detaillierten Darstellungsweise einer fotografischen Abbildung gleich. Das Medium der Fotografie faszinierte Oelze aufgrund der Möglichkeit, einen Augenblick zur Anschauung zu bringen, der im Augenblick zwar wirklich zu sein beansprucht, sich als reine Gegenwart der Wirklichkeit jedoch immer auch entzieht. Das fotografische Bild verweist auf eine Ebene der Wirklichkeit, die ohne diese Momentaufnahme schwerlich sichtbar werden kann, verewigt darin die Gegenwart und schließt sie ausschnitthaft in sich ab, nicht zuletzt aufgrund des Rah1 Für die Auseinandersetzung mit Oelzes Werk im Allgemeinen sowie Erwartung im Besonderen sind die Arbeiten Damsch-Wiehagers unerlässlich. Auch die folgenden Ausführungen verdanken diesen viel. Vgl. Renate Damsch-Wiehager, Richard Oelze. Ein alter Meister der Moderne. München  /  Luzern 1989, sowie dies., Richard Oelze: Erwartung. Die ungewisse Gegenwart des Kommenden, Frankfurt / M. 1993.

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mens, den das Foto mit sich bringt. Diese Möglichkeit, die das Medium der Fotografie eröffnet, macht sich Oelzes Malerei in gesteigerter Form zunutze. Erwartung bannt eine Situation, die in dieser Intensität kaum anders als im Medium der Malerei zur Darstellung gebracht werden kann.2 Der Titel Erwartung verweist auf das Eintreten eines Ereignisses in der Zukunft, das Bild selbst löst dieses Versprechen jedoch nicht ein; vielmehr vergegenwärtigt es die Spannung der im Bild erstarrten Szenerie. Das Ausbleiben des Ereignisses, die Absolutheit sowie die Unbestimmtheit dieser Situation perpetuieren die Erwartungshaltung: Aus der Erwartung wird ein Zustand bangen Wartens. Die erzeugte und nicht aufgelöste Spannung sorgt beim Betrachter für Unruhe und Unsicherheit und fordert zugleich dazu auf, sich zu dieser Situation zu verhalten, wenngleich oder gerade weil sie ausweglos zu sein scheint. Bereits die Unbestimmtheit der figurativen Darstellungsebene in Erwartung spricht den Betrachter an. Sie birgt Identifikationspotential und ist zweifellos mit ausschlaggebend für die große Resonanz gewesen, die dieses Bild im Unterschied zu den surrealistischen Traumwelten Oelzes schon früh erfahren hat. Letzteren fehlt mitunter die Eindeutigkeit und Zugänglichkeit auf der figurativen Ebene; was hier als gestaltgewordenes Echo des eigenen Unbewussten in Erscheinung tritt, wirkt fremd und doch bekannt zugleich, verweigert gerade deshalb aber die Möglichkeit zur unmittelbaren Identifikation mit der dargestellten Wirklichkeit. Was bleibt, ist die Ahnung, dass, was Oelze in die Darstellung überführt, jeden betreffen könnte. Erwartung hingegen lässt keinen Zweifel daran, dass jeder betroffen ist. Bereits die Ebene der figürlichen Darstellung erzeugt durch Typisierung die Möglichkeit zur Identifikation. Die Figuren weisen physiognomisch keine charakteristischen Züge auf, die Gesichtszüge sind entindividualisiert, das Individuum scheint ganz in der Anonymität der Masse aufzugehen. Zwei Aspekte jedoch durchbrechen die Homogenität und Anonymität der Gruppe: Zum einen sind die Figuren so gekleidet, dass sie als Städter zu erkennen sind, die inmitten der Natur fremd wirken. Die Diskrepanz zwischen den Stadtmenschen und der Landschaft wird noch dadurch gesteigert, dass das Licht, das die dargestellte Flora illuminiert, unnatürlich wirkt. Weder lässt der von dunklen Wolken verhangene Himmel Raum für eine natürliche Lichtquelle, die die Natur derart erleuchten könnte, noch lassen sich die Bereiche, die in helles Licht getaucht sind, auf eine gemeinsame Quelle zurückführen: Zeigt sich die Pflanzengruppe links im Bild von vorne erleuchtet – und weist im Hintergrund ein geheimnisvolles Glimmen auf –, so die Baumgruppe rechts im Bild von links sowie die tiefer gelegenen Sträucher daneben von rechts vorne. Zum anderen stechen drei der dargestellten Figuren links im Bild insofern aus der Masse heraus, als sie in andere, zudem jeweils unterschiedliche Richtungen 2 Vgl. Marcel Brion, Jenseits der Wirklichkeit. Phantastische Kunst, Wien  /  Stuttgart  /  Basel 1962,

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blicken. So allgegenwärtig die Bedrohung auch sein mag, so scheinen die meisten Personen im Bild doch zu vermuten, dass sie aus einer bestimmten Richtung naht. Dass die Blickrichtung der drei Figuren von der der anderen abweicht, mag für die Ubiquität und Unausweichlichkeit der Bedrohung stehen; auch die Unbestimmtheit im Titel – Erwartung steht ohne Artikel – und der dargestellte Himmel unterstreichen diese These: Es gibt kein Entrinnen, die Bedrohung ist absolut, gleich wohin wir uns auch wenden. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass sich überhaupt nicht ausmachen lässt, ob alle Figuren auch tatsächlich ein und denselben Punkt im Blick haben. Scheint jede Form von Individualität zunächst ganz in der Anonymität der Gruppe aufzugehen, so tritt diese in Form unterschiedlicher Perspektiven wieder in Erscheinung. Sobald der Blick des Betrachters auf die drei Abweichler fällt, wird jene Unmittelbarkeit, mit der er zunächst ganz in das Bild hineingezogen und Teil der Gruppe wird, irritiert und durchbrochen. Ebendiese Irritation ermöglicht es aber dem Betrachter, sich vom Geschehen ein Stück weit zu distanzieren. Die männliche Figur, deren Blick nach rechts gerichtet ist, scheint die anderen Personen der Gruppe zu beobachten. Er nimmt damit eine ähnliche Position ein wie wir, die Betrachter von Erwartung, die, einmal auf Distanz zum Geschehen, zu Beobachtern der Wartenden werden. Der rückgewendete Blick der zweiten männlichen Figur dieser Dreierkonstellation hebt allerdings die soeben entstandene Distanz ein Stück weit wieder auf; der Betrachter wird als Teil des Geschehens reintegriert, insofern er nun damit rechnen muss, als Beobachter selbst nicht unbeobachtet zu sein; er ist Wartender unter Wartenden und sich bewusst, als solcher auch erkannt zu werden. Von zentraler Bedeutung ist schließlich die Frau links im Vordergrund, die als einzige Figur auszeichnende Merkmale aufweist: Die roten Blumen an Hut und Revers stehen im Kontrast zu den sonst ausschließlich kühlen Farben und heben sie vom Rest der Gruppe deutlich ab. Der Blick der Frau ist auf die Pflanzengruppe links im Bild gerichtet, die keine der anderen Personen beachtet. Anders als die übrigen Pflanzengruppen im Bild weist sie genuin surreale Züge auf, darunter die Unschärfe der sonst im Bild scharf gezeichneten Konturen und die partiell miteinander verschmelzenden Formen. Diese Darstellungsweise individualisiert die Perspektive der Frau und ist, aufs Ganze gesehen, untypisch für Erwartung, da sie viel eher den »innere[n] Landschaften« Oelzes entspricht,3 jenen Traumwelten, in denen Traum und Wirklichkeit ineinander übergehen und die Oelzes Werk in die Nähe des Surrealismus von Max Ernst, Salvador Dalí und Yves Tanguy rücken. Dass die Frau die Pflanzengruppe links im Bild tatsächlich im Blick hat, wird dadurch unterstrichen, dass ihr Blick und die künstliche Illumination der Pflanzengruppe korrelieren: Die Bedrohung ist zwar umfassend und in ihrer 3 Richard Oelze zitiert nach Hans Kinkel, »Richard Oelze [Innere Landschaften, 1965]«, in: ders., Vierzehn Berichte: Begegnungen mit Malern und Bildhauern, mit vierzehn Bildnisaufnahmen des Verfassers, Stuttgart 1967, 125–131, hier: 131.

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Unbestimmtheit und Allgemeinheit weder privat noch individuell, sie betrifft alle gleichermaßen – und doch ist jeder imstande, eine eigene Perspektive auf das Geschehen einzunehmen, dargestellt durch die Orientierung der Blickrichtung, die damit einhergehende Illumination und die Vermengung von realistischer und surrealistischer Darstellungsweise. Die hier nachgezeichnete Reflexionsbewegung, in die Erwartung den Betrachter verwickelt, provoziert die Frage nach der eigenen Haltung angesichts einer Bedrohung, die absolut und unausweichlich scheint. Oelze selbst hat diese Haltung eingenommen, mit Erwartung hat er sie ins Allgemeine übersetzt, an anderer Stelle hat er sie für sich reflektiert, auf seine Art. Einschlägig ist dafür sein Selbstbildnis vor Landschaft (1947/48). Im Hintergrund des Bildes findet sich eine jener inneren Landschaften, für die sein Werk bekannt ist. Diese wirkt nicht minder einnehmend als die in Erwartung dargestellte Szenerie, jedoch mit dem Unterschied, dass die Identifikation des Betrachters auf der Figurenebene ausbleibt. Verwachsen mit einer phantastisch anmutenden Landschaft erzeugt sie Unbehagen, wirkt auf unbestimmte Weise bekannt und fremd zugleich. Für die Deutung dieses Selbstbildnisses ist zentral, dass die Traumwelt die Ränder der im Bild angedeuteten Leinwand übersteigt und sie damit zum Bild im Bild werden lässt. Es gibt keine Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, beide gehen fließend ineinander über. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Figur im Vordergrund von ­einem Schatten begleitet wird. Darstellungsweise und Perspektive machen deutlich, dass der Schatten durchaus ein Eigenleben besitzt, er tritt als Alter Ego der Figur im Vordergrund in Erscheinung. Wie das Bild im Bild seinen Rahmen sprengt, so übertreten auch die dargestellte Figur und ihr Alter Ego die ihnen in der Wirklichkeit gezogenen Grenzen: Am rechten unteren Bildrand vereinnahmt der Schatten die Figur, dargestellt durch den Schattenwurf auf dem Jackett. Der Schatten gewährt der Figur im Vordergrund Zugang zur Traumwelt im Hintergrund; vielleicht wirkt dessen Blick, die Stirn in Falten, deshalb besorgter als der der Figur im Vordergrund: Das Alter Ego bleibt der Traumwelt verhaftet, im Gegensatz zur Figur im Vordergrund, die weit weniger besorgt, fast kühl und nüchtern wirkt. Dass sich eher der Schatten, nicht die Figur besorgt zeigt, vermittelt der wechselseitigen Durchdringung von Traum und Wirklichkeit zum Trotz Souveränität. Diese Souveränität ist entscheidend: Die Figur im Vordergrund ist sich ihrer Position bewusst. Sie hat Anteil an beiden Welten und lässt sich von ihrem Schatten nicht schrecken. Der Maler Oelze, mit dem wir die Figur zwangsläufig identifizieren, wird zum Vermittler und ist imstande, die Grenzüberschreitung zwischen beiden Welten in die Darstellung zu überführen. Vor eben jenem Selbstbildnis vor Landschaft hat der Worpsweder Fotograf Rudolf Dodenhoff Oelze 1948 abgelichtet. Das Foto ist ein Glücksfall: Es verdoppelt noch einmal die beschriebene Darstellungsebene und übersteigt zugleich die Grenzen, die dem Selbstbildnis vor Landschaft als Bild im Bild – ungeachtet aller Grenzüberschreitung zwischen Wirklichkeit und Traum – wesentlich gesetzt sind. Auf dem Foto steht Oelze vor dem Selbstbildnis und blickt in einen Handspiegel, über den



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er den Blick gezielt auf den Betrachter richtet. Aufgrund des Winkels, in dem Oelze den Spiegel hält, kann er sich in dem Spiegel selbst nicht sehen. Der Rahmen, den das Foto vorgibt, wird dadurch durchbrochen. Zusätzlich steigert das Foto den Realitätsgrad gegenüber dem Selbstbildnis. Der Betrachter sieht sich gerade nicht auf das Selbstbildnis verwiesen, sondern begegnet mit seinem Blick in den Spiegel  – aus seiner eigenen Perspektive – der Haltung des Malers, die dieser zu seinem Schaffen einnimmt. Siegfried Kracauer hat diese Haltung als die vielleicht vornehmste Haltung beschrieben, um dem metaphysischen Sinnverlust der Moderne begegnen zu können. Auf der einen Seite sieht Kracauer seinerzeit maßgeblich den Typus des »prinzipiellen Skeptikers« am Werk, auf der anderen Seite den des »Kurzschluss-Menschen«. Rudolf Dodenhoff, Portrait Richard Oelze, 1948. Sucht der Skeptiker keinen Ausweg aus dieser Situation und überantwortet deshalb die Welt insgesamt der Sinnlosigkeit, so hängt der »Kurzschluss-Mensch« allzu schnell neuen Glaubensrichtungen an und drängt vorschnell auf eine Lösung, obwohl eine solche Situation doch deutlich mehr Ruhe und Umsicht verlangt. Zwischen der Entzauberung der Welt durch den Skeptiker und dem Selbstbetrug des Kurzschluss-Menschen situiert Kracauer die Wartenden, die der Dinge harren, die da kommen mögen. Sie sind imstande die Situation auszuhalten, ohne auf vorschnelle Lösungen zu drängen – dies haben sie mit den Skeptikern gemeinsam –, und sind, auch wenn sie nicht sofort jedem noch so oberflächlichen Heilsangebot hinterherlaufen, doch zugleich offen für ­einen neuen Glauben – dies verbindet sie mit den Kurzschluss-Menschen. Kracauers Beitrag wirbt dafür zu warten, solange nicht absehbar ist, wann die Zeiten sich ändern. Wer vorschnell agiert, verfällt in Unruhe und betrügt sich selbst oder sich um die Welt.4 Oelze geht es Mitte der 1930er Jahre nicht so sehr um eine neue Transzendenz, wie Kracauer sie im Blick hat, sondern um die Möglichkeit, angesichts der scheinbaren Ausweglosigkeit einer als absolut empfundenen Situation eine angemessene Haltung zu gewinnen. Diese Haltung macht sich frei von akuter Bedrängnis, schafft Distanz und gewinnt dadurch einen Freiraum, in dem zu handeln möglich bleibt; zu ›er-warten‹ im Sinne Oelzes ist keine passive Haltung, sondern widersetzt sich behutsam den Widrigkeiten der Wirklichkeit, um einen produk4 Vgl. Siegfried Kracauer, Die Wartenden (1922), in: ders., Werke, Bd.  5.1, hrsg. von Inka

Mülder-Bach, Berlin 2011, 383–394.

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tiven Umgang mit ebendiesen Widrigkeiten zu finden, denen sich doch niemand entziehen kann. Oelze selbst hat diese Haltung eingenommen, das Foto Dodenhoffs führt sie dem Betrachter vor Augen: Mein »Malwerk«, so Oelze, »ist von einer bitteren Lebenserfahrung, die ich in beiden Kriegen gemacht habe, ganz frei. Ich warte eher – deshalb male ich Bilder«.5 Mit Erwartung transzendiert und transponiert er diese Haltung ins Allgemeine: Auch in Situationen, in denen es kein Entrinnen zu geben scheint und wir uns als bloß passive Beobachter wähnen, bleibt jeder verantwortlich für die eigene Perspektive auf das Geschehen und die Haltung, die er zu diesem einnimmt.

5 Oelze zitiert nach Kinkel, »Richard Oelze [Innere Landschaften, 1965]«, 131.

Antonin Artaud, Sort vom 8. Mai 1939 An Dr. Léon Fouks »Tragen Sie dieses Los auf dem Herzen. Und im Fall der / Gefahr berühren Sie ihr Herz mit / dem Zeigefinger und dem Mittelfinger der rechten / Hand UND DAS LOS WIRD AUFLEUCHTEN.«

Melanie Reichert

Linie, Farbe, Asche Im Jahr 2016 begegnete mir Antonin Artaud in Zürich. In der dunklen, labyrinthartigen Anordnung der Ausstellung »Dada internatio­ nal« stand ich plötzlich vor einer kleinen Vitrine, die dem Theatervisionär gewidmet war – eher unerwartet, da Artaud, obgleich ein Zeitgenosse und Verehrer ­d adaistischer Ideen, nicht zu den Protagonisten dieser Bewegung zählt. Im Fall der anderen Exponate ließ sich ein Bezug zum Ausstellungsthema sofort herstellen: Es handelte sich entweder tatsächlich um ›dadaistische Kunst‹ oder um Werke, Objekte, Mythen und Techniken, die diese inspiriert hatten. Im Vergleich dazu wirkte die Präsentation einiger Zeichnungen, Schriften und Objekte aus der Hand und dem Besitz Artauds wie ein Überschuss, wie ein Verweis, der sich aus der Peripherie heraus aufzwingt, sich aber nicht kausal zum Zentrum verhält. Neben dem Hammer, mit dem Artaud mit den Rhythmen der Sprache und des Atems experimentiert hat, wurden hier einige der von ihm so genannten sorts1 gezeigt – kleine Papierstücke, die von Artaud beschrieben, bemalt und absichtlich beschädigt wurden. Was ihre lesbaren Bestandteile angeht, so weisen die meisten von ihnen Elemente kabbalistischer Zeichen- und Zahlenmystik auf, die durch Sprüche, Anweisungen oder Flüche ergänzt werden. Die ersten sorts hat Artaud 1937 während seiner sechswöchigen Irlandreise an Freunde und Bekannte in Paris verschickt – oft zusammen mit Bettelbriefen oder solchen, die seinen fortschreitenden psychischen Verfall bezeugen. Am traurigen Ende dieser von Hunger und Einsamkeit gezeichneten Reise – deren Auslöser die Erwartung der kommenden Apokalypse war – stand die zwangsweise Internierung Artauds in der Psychiatrie von Saint-Anne. Obwohl die Gedanken Artauds zeit seines Lebens um das Theater kreisten, hat er sich immer auch im Zweidimensionalen ausgedrückt: ob schriftstellerisch, zeichnerisch oder entwerferisch. Die sorts jedoch nehmen innerhalb des Artaud’schen Werks einen ganz eigenen Status ein, entziehen sie sich als ›papierne Objekte‹ doch einer eindeutigen medialen Kategorisierung. Die kleinen Papierfetzen sind geschundene Objekte, beschmiert, verbrannt, bekritzelt. Das Ringen der lebendigen, dynamischen Singularität mit dem Schicksal der Erstarrung zur Form war das Lebensthema Artauds – und seines Theaters der Grausamkeit, das eben dieses Drama ausstellt. Die sorts springen mich aus dem Kosmos der künstlerischen Hinterlassenschaf-

1 Der französische Begriff ist übersetzbar mit Los im Sinne von Schicksal, aber auch mit Fluch

oder Bann.

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ten Artauds an, und zwar als Zeugnisse des Ereignisses der Singularität: Beim Anblick der sorts erfasst mich die Gewissheit, dass es ihn gab, wie ein Schock. Zuerst wird dieser Schock von einem Gefühl der Schuld begleitet. Mein eige­ ner Voyeurismus offenbart sich mir, mein fetischistisches Bedürfnis, Artaud in den Blick zu bekommen, und zwar im Moment seiner absoluten Verwundbarkeit, im intimen und zugleich banalen Moment des Elends, das der Wahnsinn und die ­A rmut ihm gebracht haben. Als hätte das Gewebe auch meiner eigenen Realität all die Zeit vorher und ohne mein Wissen auf dem Spiel gestanden, kippt diese voyeuristische Schuld jedoch alsbald in eine merkwürdige Erleichterung: Er hat tatsächlich existiert. Ich hätte verrückt sein können, doch ich bin es nicht. Dessen versichert mich die Jeweiligkeit der sinnlichen Erscheinungen. Es war seine Zigarette, sein Stift, die in einem bestimmten Moment ihre spezifischen Spuren auf eben diesem Papier hinterlassen haben – die Unregelmäßigkeit der Verfärbungen des versengten Papiers, die brüchigen Ränder der Löcher, die die Zigarettenglut hinterlassen hat, die Unentschiedenheit des Striches der farbigen Flächen wie der exzessiv nachgemalten Buchstaben, in denen ich die tief empfundene Dringlichkeit eines geradezu kindlichen Bemühens um Exklamation erkenne, die mich berührt. Für Roland Barthes tritt im Ereignis des punctum die Bedeutung einer fotografischen Darstellung zurück zugunsten kleiner materieller Details: Was wichtig wird, was berührt, fesselt und umtreibt, ist nicht der in Sprache übersetzbare Inhalt des Bildes, sondern die ästhetische Beschaffenheit des Abgebildeten und des Papiers als Bildträger. Die Berührung durch das punctum ist eine persönliche Angelegenheit, untrennbar verbunden mit dem Arkanum der Individualität des Betrachters. Solche Erfahrungen lassen sich daher lediglich sammeln und sichten – als Ereignisse der Intensität sind sie in ihrer Singularität nicht verallgemeinerbar, obgleich als Modus ästhetischer Subversivität beschreibbar. Weil es in der Tiefe der persönlichen Lebenserfahrung des Betrachters gründet, ist das Sprechen über das punctum ein exhibitionistischer Akt, und obwohl keine Analyse der Welt den Grund für die Affizierung des Betrachters durch dieses oder jenes Detail transparent machen könnte, enthüllt sich der, der über das punctum spricht, als Fetischist. Dieser Sog des sinnlich Konkreten, der Bedeutungszusammenhänge fragmentiert, begründet die subversive Kraft ästhetischer Verfahren – was Artaud lange vor Barthes wusste und in allen Medien, die ihm zur Verfügung standen, zum Ausdruck gebracht hat. Das mit Feuer und Farbe geschundene Papier der sorts zerrt die besondere Dignität des Konkreten in meinen Blick. Als eine solche sinnliche Konkretion tritt mir aus den Gestaltungsmitteln der sorts Artaud entgegen: Die Glut der Zigarette, mit der Artaud sein Papier zerstört hat, wurde durch seinen Atem am Leben gehalten, durch die sinnliche Verfasstheit des Menschen Artaud. Die winzigen Unregelmäßigkeiten der Buchstaben, das Chaos der bunten Kritzeleien verdankt sich der Lebendigkeit seiner Hand. Für einen kurzen Moment klafft im Mythos vom wahnsinnigen Genie ein Riss. Dahinter offenbart sich das schlichte Dass seiner Existenz und der Existenz der Dinge, die ihn umgaben.



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Obwohl die Glut einer Zigarette vom lebendigen Atem abhängt, lässt sich nicht kontrollieren, wie genau sie abbrennt. Drückt man sie auf ein Blatt Papier begegnet dieselbe Ungewissheit: Es lodert oder glüht, wie schnell und wie lang weiß niemand zu sagen. Das erklärte Ziel des Theaters der Grausamkeit ist es, eine marode Kultur in Brand zu stecken, bis nur noch Tod oder Heilung möglich sind – eine verzweifelte wie heroische Umarmung jener Ungewissheit, die die Moderne in die Koordinaten der menschlichen Existenz eingetragen hat und die die Zwischenkriegszeit unbarmherzig verschärft. Artauds Schriften zur Metaphysik der Grausamkeit zehren vom metaphorischen Raum des Feuers, in dem der Brand, der Scheiterhaufen, die Flamme zentrale Motive sind. Das ›kalte Feuer‹ der schockierenden moralischen Neutralität des Lebens zu schüren, das sich um Gut und Böse nicht schert, sondern die Formen verschlingt, auf dass neue Formen entstehen – in diese Kunst will sein Theater einführen. In den sorts begegnen mir die Spuren eines nunmehr erloschenen Feuers, genährt zwar vom Atem Artauds, seiner absoluten Verfügung aber dennoch entzogen, weil eben kein Mensch jemals ganz Herr seiner Hervorbringungen ist. So bleiben die tatsächlichen Versehrungen des Papiers unkontrolliert, womit sich in den sorts eine Ästhetik manifestiert, die die Schönheit des Wohlgeordneten längst verabschiedet hat zugunsten des Chaotischen. Das Chaos aber nicht etwa anzuklagen oder fatalistisch hinzunehmen, sondern als Schönheit eigener Ordnung zu affirmieren, offenbart – bei aller aggressiven Rhetorik, für die er berüchtigt ist – Artauds Versuch einer Rettung der Humanität. Als Subjektile für das Chaos des Lebens sind Menschen und Dinge Versehrte. Die sorts zeigen mir als ›mimetische Objekte‹ den prägnanten Moment der lebendigen, im Guten wie im Schlechten versehrenden Berührung – den ich am Papier beobachte und am eigenen Leib ­erfahre. Zeigen ist nie neutral. Wer zeigt, hat ein Anliegen. Als papierne Gesten Artauds sprechen die sorts eine Sehnsucht nach Weltkontakt aus, selbst in den Fällen, in denen sie als Bannflüche – etwa gegen Hitler – gedacht sind. Sie trachten nach magischer Intervention und Transformation durch Zeichen-, Zahlen- und Sprachmystik. Artauds Reminiszenz an das mythische Denken liegt die Annahme zugrunde, dass wir in einem schöpferischen Kontakt zur Welt stehen. Seine Anrufung einer mythischen Ordnung in den sorts lässt sich leicht als romantische Spinnerei eines Wahnsinnigen abtun, wurzelt aber doch in dem Anspruch, in die raue Wirklichkeit der Moderne vorzustoßen, ihren Herausforderungen ins Gesicht zu sehen und Umgangsstrategien zu evaluieren, wo sich auf Bewältigung und Wahrheit nicht mehr hoffen lässt. Seine Mythosdeutung nimmt – ganz ähnlich wie die großen Mythostheorien des 20. Jahrhunderts – ihren Ausgangspunkt bei der kulturphilosophischen Urszene, in der der Mensch sich die Welt durch die Leistungen mythischen Denkens vom Leib hält. Jedoch verhindert die Hybris der instrumentellen Vernunft die kritische Evaluation dieser Weltbewältigungsstrategien. Diese entfalten sich im Verlauf der technisierten Moderne

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zur Katastrophe. Angesichts der totalen Unterjochung des Lebendigen unter rationalistische Prinzipien deutet Artaud den mythischen Zugriff nun zu einer Strategie um, die Welt wieder zu sich heranzuziehen. Als Ergebnisse eines übersteigerten Rationalismus sind Intelligibilität und Moral für den Nietzscheverehrer die beiden prominenten Leistungen der Distanznahme, gegen die es im Sinne einer redynamisierenden Verlebendigung kultureller Formung anzugehen gilt. Das ästhetische Ereignis, der Moment der schamlosen fetischistischen Verabsolutierung der Singularität soll die instrumentelle Vernunft, die sich die Welt im Modus des Subsumierens unter die begriff liche Form gefügig macht, in uns ausbrennen. Auf dem Feld der Sprache werden Intelligibilität und Moral gleich mehrfach heraus­gefordert, das Spektrum der Artaud’schen Berührungsvarianz erweitert: Während manche sorts als liebevolle Schutzzauber fungieren, befremden andere durch die Aggressivität und Vulgarität des Geschriebenen, etwa wenn Artaud – selbst Sohn einer jüdischen Mutter – antisemitisch durchfärbte Flüche und Vergewaltigungsdrohungen an Lise Deharme richtet oder die öffentliche Misshandlung seiner Feinde ankündigt. Das Vulgäre, das im gesamten Schreiben Artauds immer wieder aufflammt, entzieht sich der teleologischen Ökonomie von Rationalität und Moral – und lässt auch letztere als Auswuchs der instrumentellen Vernunft erscheinen. Demgegenüber kreiert Artaud einen Überschuss, eine Verschwendung, ist Vulgarität doch vollkommen unnötig für die Ökonomie sprachlicher Bedeutung. Auch hierin artikuliert sich Artauds Wunsch, die Welt und vor allem sich selbst nicht im Sinne der instrumentellen Vernunft zu kontrollieren und zu ökonomisieren. So lassen der auf Papier gebannte ›Aberglaube‹, die Gewaltfantasien und Beschimpfungen der sorts ein neues existentielles Ideal erkennen: Nicht vernünftig und gut, sondern lebendig soll man sein. Auch das Vulgäre ist ein Versuch der lebendigen Berührung und zugleich das Ausstellen der eigenen Berührbarkeit und Versehrbarkeit durch die soziale Sanktion des Ausschlusses und die moralische des Gewissens. Artaud überhöht das Wort durch seine sprachmagischen Beschriftungen der sorts zur verändernden, weltschaffenden Kraft – und löst es auf diese Art aus seinem Bedeutungszusammenhang. Gleichzeitig aber bricht er im vulgären Exzess diese Überhöhung auf und reduziert es erneut zum ›bloßen Wort‹, das ebenso sakral wie profan benutzt werden kann und keine eigenständige Macht besitzt. Sakralisierung und Profanisierung wirken zusammen, verhindern die Erstarrung des Bedeutungszusammenhangs und weisen dem Wort den Stellenwert eines prägnanten Ereignisses zu. Als solches lenkt es meine Aufmerksamkeit nicht auf seine Bedeutungen und die Konsequenzen seines Gebrauchs, sondern auf die bloße Ästhetizität des Klangs, der Schrift und der Assoziation. In diesem Sinne wirkt die vulgäre Sprache als Ergänzung zur interventiven Vorstellung der Artaud’schen Sprachmystik und als Befreiung von moralischer Hysterie. Eine plumpe Aufforderung zur Realisation aller nur möglichen Fantasien ist aus Artauds Anspielungen allerdings nicht herauszulesen. Wohl aber geht es um die



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schonungslose und angstfreie Sichtung dessen, was menschenmöglich ist – in der Hoffnung auf eine heilsame, nicht tödliche Wirkung bei gleichzeitigem Wissen um ihre Ungewissheit. Mit den sorts erscheint für einen kurzen Moment das ganze Spektrum der menschlichen Möglichkeiten – einschließlich seiner verfemten Anteile. Die Humanität Artauds ist also die Herausforderung, die sich mir beim Betrachten dieser Fetzen entgegenstellt. Als papierne Gesten fordern die sorts mich dazu auf, stellvertretend in Artaud die menschliche Existenz zu bestaunen. Die Voraussetzung dafür ist das Eingeständnis, dass wir mehr sind als Wesen der Vernunft und der Moral. Zugleich ergeht damit die Aufforderung, nicht in abgeschmackten Narrativen vom Menschen Halt zu suchen. Das Chaos der sorts, auf dem Gipfel des Artaud’schen Wahnsinns hervorgebracht, lässt mich klarer auf das blicken, was Mensch und Welt zu bieten haben. Über das Versehrte, Unvollkommene, Schmutzige und Verpönte zu staunen, ist die Tugend dieser anderen Ethik, die nicht das Urteil, sondern den Kontakt sucht.

»Parzival erlöst mit seiner Frage Anfortas«.

Astrid von der Lühe

»Was beunruhigt dich?« Zur Kultur des Fragens

Wo zwei Menschen in ein Gespräch kommen, geschieht mehr als eine bloße Mitteilung, ein Austausch von Gedanken oder Informationen. Das Gespräch macht einen Unterschied zu angenehmer Unterhaltung, höf licher Konversation oder beiläufigem small talk. Die Illustration aus Wolfram von Eschenbachs Parzival, entstanden im frühen 13. Jahrhundert, zeigt das Gespräch als ein inniges Zusammenspiel: Zwei sind einander zugewandt und blicken sich an. Ihre Hände bilden einen Kreis lebhafter Gesten. Die Linke des offenbar Anredenden weist dabei zeigend auf den anderen, während seine Rechte geöffnet ist, wie um dessen Antwort zu empfangen. Der Angesprochene reicht ihm die Rechte fast zum Handschlag, seine eigene Linke ist geöffnet nach oben gerichtet. Nahezu greif bar wird hier eine wechselseitige Aufgeschlossenheit – in diesem Gespräch gehen beide im Doppelsinne des Wortes einander an. Dabei bleibt ein bemerkenswerter kleiner Zwischen-Raum, der gleichwohl nichts Trennendes hat. Martin Buber hat dieses Zwischen im Kontext des Gesprächs einmal den »schmalen Grat, darauf Ich und Du sich begegnen«,1 genannt. Es ist die Begegnung zwischen Personen in einem anspruchsvollen Sinne, die sich im Gespräch eröffnet, so dass es sich vor allen anderen Kommunikationsformen auszeichnet. Die »Entfaltung« eines solchen kostbaren »Einander-gegenüber« nennt Buber »das Dialogische«.2 Jede dialogische Bewegung beginnt mit der Hinwendung zu jemandem durch Anrede, genauer gesagt: mit einer Frage. So bezieht sich denn auch die Federzeichnung aus dem Parzival auf den Höhepunkt dieses berühmten höfischen Glaubens- und Bildungsepos: Sie zeigt, wie der junge Ritter Parzival nach langen Irrwegen den Gralshüter Anfortas wiedertrifft und mit einer einfachen Frage an ihn eine beide gefangenhaltende Leidensgeschichte in ein Heilsgeschehen verwandelt. Ungeachtet des Inhalts der Anfortas-Frage (auf die noch einzugehen bleibt) ist es in dieser Erzählung tatsächlich vor allem der Akt des Fragens selbst, der die erlösende Wirkung erzeugt, weil er im Sinne Bubers dialogischen Charakters ist. Diese Schlüsselszene des Parzival gibt Anlass, nach der Praxis und Bedeutung des Fragens als solchem zu fragen. Ohne Frage gehört das Fragen zu den spezifischen Verhaltensformen des Menschen, er ist »ein fragendes Wesen«.3 Fragen ist Ausdruck seiner eigentümlichen 1 Martin Buber, Das Problem des Menschen, in: ders., Werke, Bd.  1, München  /  Heidelberg 1962, 307–407, hier: 406. 2 Buber, »Elemente des Zwischenmenschlichen«, a. a. O., 267–289, hier: 272. 3 Erwin Straus, »Der Mensch als ein fragendes Wesen«, in: ders., Psychologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften, Berlin  /  Heidelberg 1960, 316–334. – In der Philosophie und Anthro­

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Fähigkeit, sich der Welt, den Mitmenschen und nicht zuletzt sich selbst denkend zuwenden zu können. Es entspringt einer ihm wesentlichen Beunruhigung, die Aristoteles als Staunen gefasst hat: Alle Menschen »beginnen […] mit der Verwunderung, daß die Dinge so sind, wie sie sind«.4 Mit einer Irritation, Verblüffung oder gar Verstörung, die die gewohnte Sicht der Dinge durchbricht, weil sie möglicherweise auch anders sein könnten, hebt die Suche nach Erkenntnis an. Der Antrieb, die Welt, jemand anderen oder sich selbst verstehen zu wollen, manifestiert sich sprachlich (mitunter auch stumm) im Fragen, das auf ein Antworten aus ist, um – zumindest vorläufig – befriedigt zu werden und zur Ruhe zu kommen. Auch wenn Aristoteles mit dem Staunen den Ursprung der höchsten Form menschlichen Fragens, des Philosophierens zu erklären sucht, ist Fragen doch zunächst ein eher triviales Tun: Wir informieren uns alltäglich über Ursachen bestimmter Geschehnisse oder suchen nach Gründen von Handlungen, wir forschen nach Lösungen von Problemen, wir bitten um Auskunft nach der Zeit oder dem Weg, wir erkundigen uns oft mit einem »Wie geht’s?« nach anderen, bloß um Kontakt aufzunehmen. Fragend orientieren wir uns im Leben, das zeigt sich schon beim Kind. Fragen bewegen uns, aristotelisch gesprochen, von Natur aus; sie zu stellen braucht – so scheint es – nicht eigens gelernt zu werden. Dennoch versteht sich das Fragenstellen keineswegs von selbst. Wie voraussetzungsreich es ist, wie sehr man es zu lernen hat, erweist sich nicht nur bei methodisch geleiteten, theoretischen Fragen, die auf die wissenschaftliche Erkenntnis eines Gegenstandes zielen. Mehr noch gilt dies im zwischenmenschlichen Bereich. Denn im Umgang mit anderen kommt es auf ein Wissen um das Verhältnis vom Fragenden zum Befragten, auf die rechte Maßbestimmung, unter Umständen sogar auf die Entscheidung über ein Tun oder Lassen des Fragens überhaupt an. Fragenkönnen gehört zu jenen bedeutsamen Praktiken des Menschen, die elementare Aspekte kulturellen Lebens sind. Für eine solche Kultur des Fragens gibt Wolframs Parzival ein Beispiel. Denn er schildert den wechselvollen Weg des Helden zum Ritter und späteren Gralskönig als einen Weg des stufenweisen Einübens in das wohlverstandene Fragen. Obwohl er als Kind durch die Mutter streng von der höfischen Gesellschaft abgeschirmt aufwächst, stellt Parzival bald beim zufälligen Hören des Wortes »Ritter« neugierig die (typisch kindliche) Wissensfrage: »Ritter. Was ist das?«5 Er fragt nach der ihm von der Mutter verwehrten, aber zuletzt bestimmten Lebensform. Auf der Suche nach Antwort bricht er auf und erhält in seiner ersten Begegnung mit dem Fürsten Gurnemanz eine Einweisung in die ritterliche Tugend- und Anstandslehre, pologie des 20. Jahrhunderts rückt das Fragen als Wesensmerkmal des Menschen vielfach in den Blick, besonders bei Martin Heidegger, Karl Jaspers, Helmuth Plessner, Heinrich Rombach und Klaus Heinrich. Vgl. neuerdings auch Volker Gerhardt, Humanität. Über den Geist der Menschheit, München 2019, 49. 4 Aristoteles, Metaphysik I, 2, 983 a 10. 5 Wolfram von Eschenbach, Parzival, 2. Auf lage, nach der Ausgabe Karl Lachmanns, übertr. von Dieter Kühn, Bd.  1, Frankfurt / M. 1994, 209.



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durch die dem naiven Novizen neben der Bedeutung der Anteilnahme am Leid anderer und der hilfsbereiten Tapferkeit besonders eines eingeschärft wird: »Ihr sollt nicht viele Fragen stellen!«6 Dies weiß Parzival zu beherzigen, als er auf die Königin Condwiramurs trifft: Er hält sich zurück und erfüllt damit das oberste Gebot der Gastlichkeit, dem zufolge dem Gastgeber stets die erste Frage, nämlich die nach Name, Herkunft und Widerfahrnissen eines Fremden gebührt. Doch bei seiner ersten Zusammenkunft mit Anfortas in der Gralsburg versagt der junge Held: Obwohl sein Gastgeber zwar nicht in äußerlicher Bedrängnis ist, wohl aber sichtlich von tiefem Leid gezeichnet, schweigt Parzival, der Warnung seines Lehrers vor unbedachtem Fragen gehorchend. Dass er das Fragen unterlässt, wird ihm nun jedoch als Gleichgültigkeit vorgeworfen: »Ihr hättet Mitleid zeigen müssen mit ihm, den Gott gezeichnet hat, ihn nach dem Leiden fragen müssen!«,7 muss er anschließend nicht nur von Sigune hören. Parzival begeht die Sünde der Teilnahmslosigkeit und verfehlt an dieser Stelle seine ihm zugedachte Bestimmung, die Gralsherrschaft zu übernehmen. Anderen eine Frage zu stellen, so zeigt das Beispiel Parzivals, kann angebracht oder unangebracht sein. Dies gilt gewiss unabhängig vom mittelalterlichen Sittenkodex auch unter den Bedingungen ungezwungenerer Umgangsformen unserer Tage. Um eine solche Unterscheidung jedoch angemessen treffen zu können, bedarf es nicht allein der Kenntnis von (expliziten oder impliziten) Regeln, sondern auch eines Gespürs für die jeweilige Situation. Jedes praktische Gebot hat qua Abstraktion eine Eindeutigkeit an sich. Doch immer gilt, es unter konkreten und das heißt: bisweilen undeutlichen Umständen anzuwenden. Parzival verkennt die Situation, er versteht sich als Gast in einer bestimmten Rolle und nicht – ursprünglicher – als Mitmensch. Er weiß zwar um die Konvention des Fragens, doch ihm fehlt im entscheidenden Moment die Intuition, solche Regeln zu durchbrechen, um nachfragend Mitgefühl auszudrücken. Rechtes Fragen beruht nicht allein auf Kenntnis um die Geltung von Regeln, sondern es bedarf der Urteilskraft, um einzuschätzen, wann zu fragen oder nicht zu fragen ist. Im uneindeutigen Zwischenreich menschlicher Begegnung hat die Zurückhaltung im Fragen zweifellos ihren Wert. Fragen erscheinen dort unangebracht, weil aufdringlich, wo der soziale oder persönliche Abstand nicht beachtet wird. Georg Simmel hat im modernen, urbanen Lebensstil eine zunehmende Distanzlosigkeit beobachtet und auf die Bedeutung der Diskretion verwiesen, die nicht nur in Bekanntschaften, sondern selbst noch in der Freundschaft und Ehe zu wahren sei. In der »freiwilligen Reserve« der Individuen sieht Simmel eine Leistung des situativen Taktgefühls, das zu respektieren weiß, was der andere seinerseits an Ungesagtem zurückhält. Genau diese Aufmerksamkeit auf das Zwischen als »Grenze« und »Geheimnis« der Persönlichkeit ermögliche erst eine »fruchtbare Tiefe der Beziehung, die hinter jedem geoffenbarten Letzten noch ein Allerletztes ahnt und 6 Ebd., 289. 7 Ebd., 425.

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Astrid von der Lühe

ehrt«.8 So kann für Simmel das Nicht-Fragen unter Umständen paradoxerweise dialogisch wirken, weil es Ausdruck eines wechselseitigen, schweigenden Verständnisses ist. Doch Diskretion meint im ursprünglichen Sinne des Wortes die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen einem Zuviel und Zuwenig in zwischenmenschlichen Situationen. Während Simmel aber lediglich eine Balance zwischen berechtigtem Fragen und notwendiger Enthaltung anmahnt, diskreditiert Aron Bodenheimer jedwedes Fragen per se als einen Akt der Aggression, weil er »eine Situation von Obszönität erzeugt«,9 indem es den Befragten einseitig zur Reaktion und damit zur Entblößung zwinge. Mehr noch diagnostiziert er eine gegenwärtig geradezu grenzenlose Inkontinenz im Fragen, die ihrerseits eine Haltlosigkeit des Auskunftgebens evoziere: »Die fragende Haltung ist die Extremform der Geschwätzigkeit.«10 Bodenheimers Befund mag einseitig sein, trifft aber einen problematischen Aspekt des Fragens, insofern es den Fragenden und Befragten in ein asymmetrisches Verhältnis bringen kann: Fragen ist dann keine Gestalt der Responsivität in einer gegebenen Situation, sondern es führt eine Situation herbei, über die der Fragende gebieten kann gemäß der Parole: Wer fragt, der führt. Solche strategischen Praktiken eines taktgebenden Fragens lassen sich etwa in Talkshows beobachten, sie werden mittlerweile als Gesprächstechniken im Bereich des Coachings und Managementtrainings gelehrt. Ob Bodenheimers Plädoyer für eine ›Kultur des Sagens‹11 statt des Fragens ein (dialogisches) Korrektiv sein kann, erscheint allerdings zweifelhaft angesichts einer in den sozialen Netzwerken inzwischen herrschenden Hemmungslosigkeit im posting von statements, die ungefragt geäußert werden und ihrerseits machtvoll, aber letztlich monologisch auf Reaktion dringen. Die Parzival-Erzählung erinnert indes an eine Art zu fragen, die vom Befragten weder als zudringlich noch als bestimmend empfunden wird. Im Gegenteil: Sie ist ersehnt, ihr Ausbleiben schmerzt. Nach jahrelanger Ritterfahrt, in deren Verlauf Parzival selbst viel Leid erdulden muss, kehrt der Held schließlich zur Gralsburg zurück und trifft erneut auf Anfortas. Diesmal spricht er ihn an mit den Worten: »œheim, waz wirret dier?«12 Auch wenn diese Frage im Kontext von Anfortas’ körperlichen Gebrechen für gewöhnlich mit: »Was tut dir weh?« übersetzt wird, lässt sie sich jedoch auch in weiterer und zugleich tieferer Bedeutung wiedergeben: »Was beunruhigt dich?« oder »Was bewegt dich?«. So übersetzt verweist sie auf die Qualität eines Fragens, das in einer gegebenen Situation zugleich eine übergreifende Dimension stiftet: Sie zielt gar nicht auf eine bestimmte Sache oder ein Ergebnis, sondern an-erkennt den anderen zuvor selbst in seiner Fragwürdigkeit und  8 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. von Otthein Rammstedt, Bd.  11, Frankfurt / M. 1992, 405; ders., »Psychologie der Diskretion«, a. a. O., Bd.  8, Frankfurt / M. 1993, 82; 86.  9 Aron Ronald Bodenheimer, Warum? Von der Obszönität des Fragens, Stuttgart 72011, 18. 10 Ebd., 268. 11 Vgl. ebd., 127 f. 12 Wolfram von Eschenbach, Parzival, 356.



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bringt so beide Gesprächspartner in eine symmetrische Anwesenheit. Die Anfortas-Frage macht der Form nach einen Unterschied ums Ganze zwischen einem bloßen Befragen und einem Erfragen.13 Inhaltlich kann sie von Fall zu Fall verschieden gefüllt und formuliert sein – es kommt ganz auf das jeweilige Gegenüber, ganz auf die konkrete Situation an. Aber immer handelt es sich bei der Frage nach der Unruhe oder dem Bewegtsein eines anderen um einen selber bewegten Ausdruck des Entgegenkommens – um den Moment einer Geistesgegenwart des Fragenden, durch die das Gespräch im vollen Sinne des Wortes erst eröffnet wird: Die Vorsilbe Ge- steht im Deutschen unter anderem für das Merkmal der Verbindung, des Mit-Seins.14 Ein Erfragen, wie es sich zwischen Parzival und Anfortas bei ihrem Wiedersehen ereignet, steht am Anfang eines Gesprächs, das nicht einfach geführt wird, sondern das, wie Hölderlin es präsentisch genannt hat, »wir sind«.15 Bezeichnenderweise wird im Parzival nicht geschildert, was Anfortas auf die Frage des nunmehr vielerfahrenen und daher geistesgegenwärtigen Ritters erwidert. Zweifellos hat er etwas für beide Bedeutsames zu sagen gehabt, denn genau als ein solches Gegenüber ist er nun erkannt, angesprochen und gewürdigt worden. Die vertrauliche Anrede »Oheim«, welche Parzivals Einsicht in die ihm zuvor verborgen gebliebene verwandtschaftliche Beziehung aufnimmt, markiert viel allgemeiner die wahrgenommene Verbundenheit mit einem anderen zu einem gegebenen Zeitpunkt als einem »Du«. Berichtet wird im Epos allein von der wohltuenden Wirkung des Erfragtwordenseins: Der vormals kranke, ans Bett gefesselte Anfortas kann nun aufstehen und gehen, er ist, wie im Bild zu sehen, belebt und bewegt. Er erblüht, wie zu lesen ist, in »Schönheit«.16 Und Parzival selbst tritt seine Nachfolge als Gralskönig an. Tun und Lassen des Fragens sind nicht trivial. Zwischen unbedachtem Fragen, das keine Zurückhaltung kennt, und gedankenloser Zurückhaltung, die zu keiner Frage findet, steht eine Form des Fragenkönnens, das Zartheit mit Zärtlichkeit zu verbinden versteht. Sie wäre eine Gabe an den anderen. Jedes Gespräch von e­ iner »verwandelnde[n] Kraft«17 aber, das daraus entstehen könnte, bleibt – Anfortas’ Linke zeigt es im Bild – unverfügbar wie ein Geschenk. 13 Vgl. Heinrich Rombach, Über Ursprung und Wesen der Frage, Freiburg 21988, 32: »Die ge-

sprächshafte Frage […] bringt den Befragten selbst in Rede […]. Der Be-fragte ist in einer bestimmten Weise auch der Er-fragte.« Diese Unterscheidung knüpft an Heideggers Unterscheidung zwischen Gefragtem, Befragtem und Erfragtem an. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 2, Tübingen 192006, 5. 14 Johann Christoph Adelung, Art. , in: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd.  2 , Leipzig 1796, 439–443, hier: 442: »Ge scheint in dieser collectiven Bedeutung mit dem Lat. co, con und cum aus Einer Quelle herzufließen.« 15 »Viel hat erfahren der Mensch. Der Himmlischen viele genannt, / Seit ein Gespräch wir sind / Und hören können voneinander.« Friedrich Hölderlin, »Friedensfeier (Zweiter Versentwurf )«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Michael Knapp, Bd.  1, München 1992, 361. 16 Wolfram von Eschenbach, Parzival, Bd.  2 , 357. 17 Hans-Georg Gadamer, »Die Unf ähigkeit zum Gespräch«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd.  2, Tübingen 21993, 207–215, hier: 211.

Pieter van Steenwyck, Ars longa, vita brevis, um 1650.

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Vita brevis, ars longa Cassirer, Simmel und der Streit um Goethe

Einleitende Bemerkungen Georg Simmel war der konsequente Kantkritiker unter der kleinen Anzahl von Autoren, die ihrer thematischen Verwandtschaft wegen, keineswegs aber aufgrund ausdrücklicher Bekundungen der Zugehörigkeit, immer wieder gern zum Paradigma des Neukantianismus gezählt werden. Ernst Cassirer hat sich dazu zwar diplomatisch, aber dennoch hinreichend deutlich erklärt: »Ich selbst bin oft als ›NeuKantianer‹ bezeichnet worden, und ich nehme diese Bezeichnung in dem Sinne an, daß meine gesamte Arbeit in Gebiete der theoretischen Philosophie die methodische Grundlegung voraussetzt, die Kant in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ gegeben hat. Aber viele der Lehren, die in der philosophischen Literatur der Gegenwart dem Neu-Kantianismus zugeschrieben werden, sind mir nicht nur fremd, sondern meiner eigenen Auffassung diametral entgegengesetzt.«1 Ähnliches ließe sich cum grano salis auch von Georg Simmel sagen. Während jedoch Cassirer sein Projekt einer Kritik der Kultur ausdrücklich in direktem Anschluss an Kants Kritizismus verortet wissen will, ist Kant für Simmel eher der große Gegner, an den er nicht anschließt, sondern an dem er sich abarbeitet. Zu den bekanntesten Schriften, die das Verhältnis Simmels zu Kant als schonungslos kritisch dokumentieren, zählt unzweifelhaft seine prominente Abhandlung Das individuelle Gesetz. Aber nicht nur an Kant, sondern auch an Goethe schieden sich die beiden Geister markant. Anhand eines naheliegenden Vergleichs zweier über 20 Jahre auseinanderliegender, doch unter demselben Titel »Kant und Goethe« erschienener Texte2 lässt sich zeigen, dass beide sich wie zwei miteinander konkurrierende Rezeptionen und Bewertungen der verglichenen Primärautoren Kant und Goethe lesen lassen. Darüber hinaus lassen sich generell deutliche Unterschiede in der Beurteilung von Poesie, Philosophie und Wissenschaft in ihrer Bedeutung als Bausteine der Kultur ausmachen. Der frühere der beiden Texte – Simmels »Kant und Goethe« – erschien 1906 und liegt seiner großen Goethe-Abhandlung aus dem Jahre 1912 deutlich voraus. Der spätere, nämlich Cassirers gleichnamiger Vergleich, erschien 1924. Lehrer und Schüler gehen in der Durchführung des Vergleichs der 1 Ernst Cassirer, »Was ist Subjektivismus?« (1937), in: ders., Erkenntnis, Begriff, Kultur, hrsg. von Rainer A. Bast, Hamburg 1993, 201  f. 2 Georg Simmel, Kant und Goethe. Zur Geschichte der modernen Weltanschauung (1906), Leipzig 1916; Cassirer, »Kant und Goethe« (1924), in: ders., Rousseau, Kant, Goethe, hrsg. von Rainer A. Bast, Hamburg 1991, 101–106.

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großen Vorfahren deutlich entgegengesetzte Wege – sowohl im Kant-Verständnis als auch in der Goethedeutung. Dabei ließe sich plausibel zeigen, dass sich die von Cassirer erstellte Synopse von Kant und Goethe bei weitem nicht so schlüssig mit dem charakteristischen Profil seiner eigenen Philosophie zusammenfügt, wie häufig angenommen wird. Kant bleibt auch in der Darstellung Cassirers durchgehend ein postcartesischer Dualist, Cassirer selbst aber vertritt, wie sich zeigen wird, einen eigentümlichen Kulturmonismus. Das Resultat der Simmel’schen Gegenüberstellung von Kant und Goethe hingegen steht in keiner Spannung zu seinen andernorts eingenommenen Positionen in dieser Sache. Cassirer vermittelt die Posi­tio­nen einander, Simmel kontrastiert sie; Cassirer harmonisiert, Simmel markiert die Unvereinbarkeiten scharf. I.  Vita brevis Aus Cassirers Sicht haben sich Kants wissenschaftlich analytischer Zugang zur Erschließung von Welterkenntnis und objektiver Wahrheit einerseits und Goethes ästhetisch intuitiver Zugang andererseits einander mit der Zeit angenähert – spätestens seit Goethes Lektüre von Kants im Jahre 1790 erschienener Kritik der Urteilskraft. Für Simmel hingegen bleibt der Gegensatz zwischen dem ›Szientismus‹ des Königsberger Wissenschaftsphilosophen und dem Ästhetizismus des gelehrten Dichterkönigs aus Weimar unüberwindbar. Es ist offenbar, dass Simmel das Experiment der Kritik der Urteilskraft nicht als gelungen anerkannte, das darin besteht, die beiden unterschiedlichen Dispositionen – wissenschaftlicher Objektivismus hier, subjektive Naturästhetik dort – einander zu vermitteln. Kants Anspruch, den subjektiven Geschmacksurteilen objektive Gültigkeit zukommen zu lassen, führt zu einer Verwissenschaftlichung der ästhetischen Welterschließung. Für Simmel, dem es um die Authentizität ästhetischer Erfahrung geht, führt dies zu einer bedenklichen Tendenz des Subjekts, das Wissen dem Gefühl überzuordnen bzw. das Gefühl zu einer Form des Wissens zu machen. Tatsächlich gewinnt diese Beobachtung an Plausibilität dadurch, dass sich die Gegensätzlichkeit zwischen den ›Weltanschauungen‹ auch im übrigen Werk der beiden Autoren auf jeweils eindrucksvolle Weise sichtbar machen lässt. Der eminente Auf klärer sprach den traditionellen Typen und Theorien teleologischer Naturerklärungen zunächst jeden wissenschaftlichen Rang ab; allerdings hat er damit keineswegs untersagt, sondern sogar empfohlen, in komplementierender Ergänzung zur streng objektivierenden Vorgehensweise der empirischen Wissenschaften mit Hypothesen der Naturerklärung zu arbeiten, die der Natur eine teleologische Ordnung zuschreiben. Kant votiert sogar mit Nachdruck für Hypothesen dieser Art, da der teleologische Blick dem konsequent mechanistischen bzw. kausalistischen Weltbild der Naturwissenschaft keineswegs widerspricht, sondern ihn konstruktiv und bereichernd erweitert. Man könnte sagen, das Weltbild des »Naturmechanism« ist indikativisch: Die Natur ist der Inbegriff empirisch zugänglicher



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Gegenstände, die unter Gesetzen stehen. Das Weltbild der teleologisch geordneten Natur hingegen ist konjunktivisch: Der Naturforscher beurteilt seine Gegenstandswelt, als ob sie nach teleologischen Prinzipien verständlich gemacht werden könnte – verständlicher jedenfalls als ausschließlich auf der Basis des Naturmechanismus. Eben dazu entwickelt Kant im Ansatz eine Philosophie des ›als ob‹: Die Natur sei zu betrachten, ›als ob‹ sie zweckmäßig organisiert sei.3 Vor diesem Hintergrund gehen meine Überlegungen von folgender Ausgangsthese aus: Simmels Goethe-Text bestätigt einmal mehr die allenthalben in seinen Werken erkennbare Tendenz zu einer kritischen Haltung gegenüber dem wissenschaftlichen Objektivismus der Moderne insgesamt, in welchem er nicht nur eine verhängnisvolle Mitgift der triumphalen Wirkungsgeschichte des Cartesianismus sieht, sondern mit dem in der Version Kants eine fatale Verwechslung von Subjektivität und Individualität, wenn nicht sogar eine Ersetzung von Individualität durch Subjektivität einhergeht. Die Kritik, die Simmel konsequent an Kant übt, trägt er vor im Namen des Individuums, das sich selbst Gesetz sein soll und das nicht dem determinierenden Apriori einer transzendentalen Subjektivität untergeordnet sein kann.4 Gerade in diesem elementaren Anliegen hätten Cassirer und Simmel durchaus zusammengehen können – ja müssen: Cassirer ist Autor der bahnbrechenden Schrift Individuum und Kosmos (1927), in der er nicht nur eine wissenschaftsgeschichtliche Entdeckungsreise durch die Epoche der Renaissance unternimmt, sondern eine aus den Theorien des Renaissancehumanismus rekon­stru­ ierte, kunsttheoretisch, philosophisch und wissenschaftsgeschichtlich profilierte Anthropologie der Individualität vorlegt. Der Grund dafür, dass es nicht zu einem Schulterschluss des Schülers mit dem Lehrer kam, liegt weniger in der Differenz der Beurteilungen Goethes, als vielmehr in Cassirers Opposition gegen den Simmelschen Kulturpessimismus begründet – was sich allerdings erst 1942 vollends deutlich zeigt.5 Und Goethe? Er setzt sich, im Unterschied zu Kant, eindeutig gegen den Cartesianismus ab, soweit er als Verfechter eines monistischen Wirklichkeitsbegriffs und damit als Gegner des zum Leitbild der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte gewordenen »Dualismus« zwischen Subjektivität und Objektivität auftritt. Allerdings gilt sein Interesse dabei vorzugsweise der im cartesischen Schema als objektive Welt begegnenden Dimension der Natur. Sie wird bei Goethe zum Inbegriff alles Geistigen erweitert, auf dessen Grundlage seine »vitalistische« bzw. »holisti3 Die in der Kritik der Urteilskraft allenthalben begegnende Als-ob-Fiktion hat bekanntlich

Hans Vaihinger motiviert, mit Berufung auf Kant eine eigenständige »Philosophie des Als-Ob« zu entwickeln. 4 Vgl. Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hrsg. von Michael Landmann, Frankfurt / M. 1987. 5 In dem erstmals 1942 unter dem Titel Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien erschienenen Band ist es die letzte der fünf Abhandlungen, mit der Cassirer unter dem Titel »Die ›Tragödie der Kultur‹« Simmels gleichnamigen Aufsatz von 1911 (»Der Begriff und die Tragödie der Kultur«) scharf kritisiert.

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sche« Weltsicht ruht.6 Das heißt aber: Simmel sieht in beiden Autoren, Goethe und Kant, zwar tendenzielle Anticartesianer, insofern sie dem ontologischen Dualismus in der cartesischen Version tatsächlich entgehen wollen. Sie entscheiden sich allerdings stattdessen für einseitige Präferenzen, die sich aus Simmels Sicht beide als wenig plausibel erweisen: Für Kant ist es das transzendentale Subjekt in seiner Rolle als gesetzgebender Verstand, der der Natur die Gesetze vorschreibt und damit den cartesischen Dualismus auf dem Fundament der Transzendentalphilosophie in abgewandelter Version fortschreibt. Goethe hingegen positioniert das Subjekt überhaupt nicht mehr gegenüber der Natur, sondern innerhalb derselben: Das Subjekt, sein Leben und Wirken, will er – Simmel zufolge – als einen »Pulsschlag des All-Lebens der Natur« verstanden wissen.7 »Für Kant kam alles darauf an, und so lässt sich seine gesamte Leistung zusammenfassen, die Kompetenzen der inneren Mächte, die das Denken und die das Handeln bestimmen, gegeneinander abzugrenzen: der Sinnlichkeit ihre Grenze gegen den Verstand, dem Verstand die seinige gegen die Vernunft, der Vernunft die ihrige gegen den Glückseligkeitstrieb, der Individualität die ihre gegen das Allgemeingültige zu setzen.«8 Doch wo Kant Grenzen setze, verbinde Goethe: »›Trennen und Zählen‹, bekennt Goethe, ›lag nicht in meiner Natur‹«; und Simmel resümiert: Kant setze die »Verbindung« ­voraus – gemeint sind die »synthetischen Urteile a priori« –, um sie dann aufzulösen. Goethe hingegen trenne und unterscheide, um zu verbinden: »Für Goethe ist die Einheit das Helle, die Getrenntheit das Dunkle. Für Kant umgekehrt.«9 Cassirer geht in seiner Gegenüberstellung von Kant und Goethe nicht derart ins Detail wie Simmel – wohl auch im Interesse seiner für ihn charakteristischen Versöhnungsstrategie: Kant komme aus der Sicht Goethes das Verdienst zu, mit den traditionellen metaphysischen Teleologien in der Naturerklärung definitiv gebrochen zu haben: »Jetzt preist er [scil. Goethe; ER] es als ein ›grenzenloses Verdienst‹, das sich Kant um die Welt und um ihn selbst erworben habe, daß er unser Denken von den ›absurden Endursachen‹ befreit – daß er Kunst und Natur nebeneinandergestellt und beiden das Recht zugestanden habe, aus großen Prinzipien zwecklos zu handeln.«10 Diese Versöhnungseuphorie verblüfft: Das Programm der Kritik der Urteilskraft zeichnet aus, dass Kant – wie bereits erwähnt – die Teleologie keineswegs verabschiedet und unser Denken gerade nicht von den ›absurden Endursachen‹ befreit;  6 Vgl. Willfried Gessner, Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur, Weilerswist 2003, 283–285, dessen treffenden Charakterisierungen ich mich in diesem Punkt gern anschließe.  7 Simmel, Kant und Goethe. Zur Geschichte der modernen Weltanschauung, in: Georg Simmel Gesamtausgabe (GSG), Bd.  10, hrsg. von Michael Behr, Volkhard Krech und Gert Schmidt, Frankfurt / M. 1995, 119–166, hier: 132. Siehe auch Gessner, Der Schatz im Acker, 283.  8 Simmel, Kant und Goethe, GSG 10, 138.  9 Simmel, Kant und Goethe, GSG 10, 139. 10 Cassirer, »Goethe und das 18. Jahrhundert«, in: ders., Goethe und die geschichtliche Welt, Hamburg 1995, 79.



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sondern im Gegenteil hebt er das teleologische Denken auf ein neues spekulatives Niveau, um die Hypothese der teleologischen Ordnung der Natur von der Konkurrenz mit dem auf objektive Gültigkeit zielenden Naturmechanismus zu entbinden und sie als unentbehrliche Hypothese empfehlen, mit Kants eigenem Wort: »ansinnen« zu können. Damit wird aus einem ursprünglich metaphysischen Dogma – der Lehre von der teleologischen Ordnung der Natur – ein Methodologem. Dieser Befund kann gar nicht hoch genug bewertet werden, handelt es sich dabei doch um ein Musterbeispiel für Kants in den drei Kritiken durchweg angewandte Transformation traditioneller Metaphysik in Transzendentalphilosophie. Im Rahmen der Kritik der Urteilskraft vollzieht sich diese Transformation am Leitfaden des Begriffs der natürlichen Zweckmäßigkeit, dessen Geltungsanspruch von der Kunstschönheit auf die Naturschönheit erweitert wird, um so eine Verknüpfung zwischen Naturästhetik und Naturwissenschaft herzustellen. Mit dieser Verknüpfung setzt sich Kant von dem engeren empiristisch und positivistisch motivierten Verständnis der Naturwissenschaft ab – nicht um den Kausalmechanismus als Modell der Naturerklärung abzulösen, sondern um ihn zu komplementieren. Als Theoretiker der Unterscheidung dieser beiden Komplemente bleibt Kant allerdings gleichwohl der Repräsentant eines spezifischen szientifischen Dualismus – nicht nur von Subjekt und Objekt, sondern auch von subjektiver Ästhetik und objektiver Naturerkenntnis –, ein Dualismus, über den derselbe Cassirer in seiner Eigenschaft als Vertreter eines monistisch konzipierten Kulturbegriffs hinausgelangt sein mag, den aber Kant keineswegs hinter sich gelassen hat und wohl auch nicht hinter sich lassen wollte. Diese zu Kants Zeit innovative und – gemessen an seinem kritischen Programm – konstruktive Umgangsweise mit der metaphysischen Tradition der Teleologie dokumentiert zugleich, dass Kant sich anhaltend mit dem von ihm von Beginn der kritischen Phase an verteidigten Prinzip der Endlichkeit menschlicher Erkenntniskapazität auseinandersetzte: Der Mensch ist zwar in der Lage, seine Endlichkeit zu reflektieren, nicht aber sie zu überwinden: Wie die Perspektive der praktischen Vernunft auf eine als unendlicher Verlauf gedachte Menschheitsgeschichte zeigt, braucht Kant die Idee der Endlichkeit für seine Konzeption praktischer Vernunft, um den Handlungen der Menschen einen über die Lebensfrist hinausreichenden Sinn überhaupt zusprechen zu können. Es ist die Kürze des Lebens, die Kant moraltheoretisch kompensieren möchte, aber wissenschaftlich keineswegs leugnet. Nicht die moralisch motivierte Perspektivenerweiterung auf einen unendlichen Handlungsraum der Geschichte ist die pro­ble­ matische Herausforderung, an der sowohl die Utopie einer moralischen Verbesserung der Menschheit als auch die Lust einer ästhetisch schwärmenden Vernunft, die bekanntlich Ewigkeit will, zu scheitern drohen, sondern es ist die Einsicht in die unumgängliche Endlichkeit unseres Daseins: Vita brevis.

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II.  Ars longa Deutlich sieht Cassirer sich – im Gegensatz zu Simmel – gleichermaßen interessiert an einer authentischen Nachfolgeschaft sowohl zu Kant als auch zu Goethe. Das hätte ihn nötigen sollen, seinerseits eine plausible These über die Komplementarität des wissenschaftlichen und des ästhetischen Zugangs zur Natur auf der Grundlage der unterschiedlichen Vorlagen bei Goethe und Kant aufzustellen. Da Kant aber nicht zu einer konsequenten Überwindung der überkommenen Version des cartesischen Dualismus angesetzt hat, hätte Cassirer sich entscheiden müssen: zwischen Kants systematisch durchgeführter Transformation des cartesischen Gegensatzes einerseits und der wissenschaftlich aufgeladenen poetischen Vision eines den Menschen einschließenden Natur-Holismus bei Goethe andererseits. Die von Cassirer unterschiedenen repräsentativen historischen Formen der kulturellen Evolution (Mythos, Wissenschaft, Kunst etc.) haben gemeinsam, dass sie nicht dem cartesischen Dual verhaftet bleiben – hier die Form, dort die Materie, hier der Begriff, dort die Wahrnehmung –, sondern dass sie je auf ihre Weise das Ganze der Kultur symbolisieren, dass sich in ihren historisch jeweils verändernden Ensembles die Kultur ungeteilt manifestiert. Das eben ist sie, die Kultur, mit ihren verschiedenen und wandelbaren Gesichtern: Die Kunst, die exemplarisch am Beispiel Goethes den cartesischen Dualismus souverän hinter sich lässt, steht hier in einer Reihe mit einem Modell von Wissenschaft, dem dies ebenso zuzusprechen ist – Wissenschaft verstanden als eine Tätigkeit des Menschen, in der die Natur sich selbst reflektiert, und Kunst verstanden als die ›Form der Formen‹, da sie die Kreativität des Menschen, der sich jeweils alles verdankt, was Kultur ist, am intensivsten symbolisiert: »Kunst ist Intensivierung der Wirklichkeit«.11 Das heißt, Kultur umfasst alles, wovon man sinnvollerweise sagen kann, dass es ist; sie kennt kein ihr ›äußerlich‹ bleibendes ›Ding an sich‹ – also eine Welt der Dinge, die von der Reichweite menschlicher Weltwahrnehmung nicht erfasst werden kann. In diesem Sinne ist Cassirers Kulturbegriff eine holistische Kategorie, die integriert, was der Cartesianismus zerrissen hat, und die diesseits jeder Ontologie operiert. Zum besseren Verständnis der Gedankenführung Cassirers ist es hilfreich, sich abermals daran zu erinnern, dass Cassirers primärer Lehrer Leibniz hieß, nicht Kant. Ihm hat er mit einer ebenso innovativen wie kongenialen Systematisierung seines Philosophiebegriffs in seiner ersten großen Veröffentlichung bereits im Jahr 1902 ein Denkmal gesetzt,12 wodurch er sowohl Leibniz als auch sein eigenes Werk in je verschiedener Hinsicht zum Maßstab seiner philosophischen Entwicklung machte. Keinem Autor hat Cassirer eine derart sowohl inklusive als auch exklusive Rekonstruktion angedeihen lassen wie Leibniz; keinen Autor hat er in derart 11 Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2011,

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12 Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, in: ders., Gesammelte Werke.

Hamburger Ausgabe, hrsg. von Birgit Recki, Bd. 1, Hamburg 1998.



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privilegierter Weise zum Vordenker seiner Vordenker gemacht, und an keinem Autor hat er in vergleichbar ausführlicher Weise demonstriert, wie konsequent er ihn als den eigentlichen Konzepteur der Moderne auffasste. Dieser Befund lässt sich noch bekräftigen durch den Hinweis, dass sich Cassirers erste große systematische Abhandlung Substanzbegriff und Funktionsbegriff aus dem Jahre 1910 lesen lässt wie eine programmatische Anwendung der Symboltheorie von Leibniz auf die Beschreibung der Aufgabenstellung der neuzeitlichen Wissenschaft. Substanzbegriff und Funktionsbegriff lässt sich damit zugleich schlüssig deuten als Rahmenhandlung für die später ausgeführte Philosophie der Kultur, für die die Wissenschaft als symbolische Manifestation des Fortschritts der Kultur gilt, solange die Geschichte der Wissenschaften ein Prozess der Steigerung des Wissens und der durch Wissen erlangten Kompetenzen ist. Die Vermehrung des Wissens als Symbol des Fortschritts – die These wäre heute prekärer denn je. Alle Symbole sind Zeichen, aber natürlich sind nicht alle Zeichen Symbole. Symbole sind solche Zeichen, die den Dingen, auf die sie zeigen, Bedeutung vermitteln oder die den Dingen per se eine Bedeutung zuerkennen, die wir oft voraussetzen, ohne sie zu kennen. Beispiele für die letzteren sind die Kunstwerke, für das erstere die Denkmäler: Kunstwerke zeigen auf sich; Denkmäler auf anderes, auf das, woran sie erinnern sollen. Nach Leibniz kann eine gewöhnliche Funktionskurve generell den Lebensprozess eines organischen Körpers oder speziell den eines menschlichen Individuums symbolisieren. So wie die Kurve in jedem Punkt die Geltung des in der Funktionsgleichung enthaltenen Entwicklungsgesetzes des betreffenden Menschen repräsentiert, so ist das Leben des Menschen die zur sichtbaren Darstellung kommende Manifestation seiner notion individuelle. Die beiden in sich bereits symbolisch relationierten Verweisungszusammenhänge der Kurve und des Lebensverlaufs ›zeigen‹ aufeinander, beide sind je füreinander Symbole, d. h. sie vermitteln die Bedeutung, die sie für die Zeichendeuter haben: Die Funktionsgleichung enthält das Entwicklungsgesetz und ›zeigt‹ wie ein Code auf die Determinanten des Lebensprozesses eines Individuums; das Individuum zeigt seinerseits auf die Welt, die es auf einmalige Weise repräsentiert. Bei Leibniz – das ist der einzige vormoderne Aspekt dieses ansonsten modernen, ja sogar aktuellen Symbolismus – vermitteln die Symbole Bedeutungen, die auch gelten, wenn es niemanden gibt, der diese Bedeutungen wahrnimmt oder kommuniziert. Leibniz war – im Gegenzug zum Cartesianismus – ein klassischer Vertreter des philosophischen »Realismus«, für den die Annahme charakteristisch ist, dass die Welt und ihre Ordnung unabhängig davon Bestand haben, ob sie von jemandem wahrgenommen werden oder nicht. Die Moderne hingegen schreibt dem Subjekt die Rolle zu, die Bedeutungen durch Symbolisierungen allererst zu stiften und zu kommunizieren: Etwas bedeutet immer etwas für jemanden, der die Bedeutung stiftet oder identifiziert. So erkennen wir in einer Nationalflagge den Verweis auf den nationalen Geltungsanspruch eines Volkes; so prägt ein Holocaustmahnmal das politische Gewissen eines Kollektivs durch Verweis auf das gleichnamige Geschehen. Bei Leibniz macht ein mathematisch denkender göttlicher Verstand die

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Welt als Netzwerk von Symbolen für uns erkennbar – Gott ist der ideale Mathematiker (»Geometer«), für den alles individuelle Geschehen in gleichermaßen transparenter Weise Zeichen für alles ist. Entscheidend bleibt: Jedes Individuum ist eine einmalige repraesentatio mundi, eine Monade. Es ist diese Figur der Individualität, über die Cassirer sich mit Simmel hätte austauschen sollen. Kants Transzendentalisierung des Subjekts wäre gegenüber der Radikalität, mit der Leibniz die Theorie der Individualität der »metaphysischen Atome« – das sind die individuellen Substanzen oder Monaden – sowohl mathematisch als auch philosophisch zu Ende gebracht hat, als ein Rückfall hinter die Philosophie der Individualität zu bewerten, während der von Cassirer gehegte (bzw. von Simmel kritisierte) Goethe das Ganze, den hellen Geist der umfassenden Einheit, die Entgrenzung beschwört, die alles umfasst. Was von Cassirers affirmativer Goethe­ rezeption bleibt, ist die metaphorische Anwendung der Kategorie der »Morphologie« auf die Kulturentwicklung. Abschließende Bemerkungen In Cassirers Simmel-Kritik aus dem Jahre 1942 spielt seine Goethe-Orientierung ebenso wenig eine Rolle, wie überhaupt in der Zeit seiner zunehmenden Politisierung (d. h. etwa seit der Verfassungsrede aus dem Jahr 1928) die Tendenz, sich bei Goethe um Beglaubigungen für seine Philosophie zu bemühen, nachlässt. Cassirer entwickelt sich mehr und mehr vom Analytiker der Kultur zum Apologeten der Kultur und sieht sich – möglicherweise zusätzlich motiviert durch die Konfrontation mit Heidegger in Davos (1929) – mit einer Reihe von Protagonisten und Repräsentanten des Kulturpessimismus konfrontiert, die in Vom Mythus des Staates, seinem letzten Werk, mehr und mehr gegnerische Gestalt annehmen. Hier stehen Heidegger (Schicksalsfatalismus), Spengler (Untergangsfatalismus) und auch – seit 1942 explizit – Simmel (Kulturfatalismus) in einer Linie von Vertretern des philosophischen Fatalismus, gegen die Cassirer verhalten polemisiert. In seiner Abhandlung über »Die ›Tragödie der Kultur‹« wirft er Simmel vor, in seiner Bewertung von Kulturprodukten als Symbolen der Entfremdung einer mystischen Gedankenfigur erlegen zu sein. Diese sei auf eine exklusiv bilaterale Relation zwischen Individuum und Kulturobjekt fixiert, anstatt sich multilateral zu öffnen: für den Dialog mit Dritten über die Kunstwerke, wodurch sich ihre Bedeutung als Symbole der Kultur überhaupt erst verständlich machen lässt. Umso interessanter ist Cassirers Blick auf Goethe, wie er sich spät im Kunst­ kapitel des Essay on Man niederschlägt, in jenem Text also, der gelegentlich auch als Ersatz für die ungeschriebene Kunsttheorie im Rahmen der Philosophie der symbolischen Formen bewertet wird. Der Goethebezug ist durchaus noch deutlich markiert, er hat sich aber verändert: Stilistisch wechselt Cassirer vom früheren Typ der Eloge zum Typ einer eher nüchternen Exegese, inhaltlich vom bloßen Reproduzieren zum Verwenden und Weiterführen. Goethe habe mit dem Begriff der »charak-



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teristischen Kunst« die Verhaftung der Kunst an das Mimesis-Paradigma durchbrochen – darin sieht er seine große Leistung. Dabei aber könne es nicht bleiben: »Charakteristische Kunst« verbinde Expressivität, die für sich genommen noch im Bann des Mimesis-Paradigmas stehe, mit dem Anspruch, Farbe und Worte nicht bloß als Materie der künstlerischen Tätigkeit, sondern vor allem als Elemente einer authentischen Kreativität aufzufassen. Es ist die »symbolische Kunst«,13 die Cassirer nun ausruft, eine Kunst, die sich nicht mehr als Darstellung der »disjecti membra poetae« begreift, sondern die auf ein neuartiges Verständnis von Kunst zielt: Kunst verstanden als »Deutung der Wirklichkeit […] durch Anschauung«, nicht durch Begriffe: »Rerum videre Formas« als Komplement der Maxime »Rerum cognoscere causas«.14 Diese Komplementierung richtet sich gegen einseitige Festlegungen sowohl der Philosophie und der Wissenschaft als auch der Kunst auf eine Wahrheit, die entweder nur begriffen oder nur angeschaut werden kann. Philosophisch lässt sich eine solche These sicher streng aus Leibniz’ Begriff der Apperzeption – der Perzeption, die ihre Perzeptionen perzipiert – ableiten, insofern sich hier Begriff und Anschauung weder voneinander trennen noch gegeneinander ausspielen lassen. Cassirers Kulturbegriff knüpft dabei mit wünschenswerter Deutlichkeit wieder an den selbstgesetzten Maßstab von 1902 an, an Leibniz’ Philosophie als gegen­cartesianisches Modell und als Theorie der natürlichen Individualität in der Sprache der hohen Kunst der Mathematik. Cassirers vorheriger Goethekult hätte seine philosophische Wissenschaftlichkeit kompromittieren können, ließ er sich doch weder mit seinem 1939 angekündigten Projekt eines »universellen Individualismus«15 noch mit der späteren Politisierung seines Kulturbegriffs sinnvoll verbinden. Die Kunstheorie des Essay on Man ist übrigens auffällig stark von Aristoteles und einer revidierten Kant-Exegese inspiriert: »Symbolische Kunst« kandidiert als ars longa.

13 Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2011,

225

14 Ebd., 260. 15 Cassirer, »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« (1939),

Erkenntnis, Begriff, Kultur, 249. Auch in: Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, Hamburg 2011. Anhang: 135–161.

Paris Match Nr.  1435 vom 26. November 1976.

Albert Meier

Paris Match était là Bruno Latour infiziert Ramses II. 3000 Jahre nach dessen Tod mit Tuberkulose

Demarcation, it should be underlined, is the moral, philosophical, and historical enemy of differentiation. Bruno Latour

Wo immer die Rede auf postmoderne Verirrungen kommt, da zeigen die Finger zuverlässig auf Bruno Latour. In einem Beitrag zur populärwissenschaftlichen Monatsschrift La Recherche (März 1998)1 soll der französische Soziologe resp. Wissenschaftsforscher allen Ernstes behauptet haben, Pharao Ramses II. könne 1213 v. Chr. schon deshalb nicht an der Tuberkulose gestorben sein, weil man deren Erreger erst seit 1882 n. Chr. kennt.2 Seinen Ruf als wissenschaftshistorischer Scharlatan verdankt Latour namentlich einer kopfschüttelnden Fußnote in Alan Sokals und Jean Bricmonts Streitschrift Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectuals Abuse of Science (1998).3 Der seitdem vielfach verspottete Aufsatz streitet freilich in keiner Weise ab, dass der berühmteste aller ägyptischen Herrscher einst der Tuberkulose zum Opfer gefallen ist. Er könnte das auch gar nicht, weil niemand diese Diagnose je gestellt hat: weder im Herbst 1976, als französische Spezialisten in Paris daran gingen, die Mumie mit ihren avancierten Mitteln vor weiterem Verfall zu schützen,4 noch irgendwann 1 Bruno Latour, »Ramsès II est-il mort de la tuberculose? Jusqu’où faut-il mener l’histoire des découvertes scientifiques?«, in: La Recherche, no. 307: Dimanche 1 mars 1998, 84 f. 2 Vgl. etwa Paul Boghossians Attacke auf den ›fact-constructivism‹: »When French scientists working on the mummy of Ramses II (who died c. 1213 bc) concluded that Ramses probably died of tuberculosis, Latour denied that this was possible. ›How could he pass away due to a bacillus discovered by Robert Koch in 1882?‹ Latour asked« (Paul Boghossian, Fear of Knowledge. Against Relativism and Constructivism, Oxford 2006, 26). 3 Alan Sokal / Jean Bricmont, Fashionale Nonsense. Postmodern Intellectuals’ Abuse of Science, New York 1998, 96 f. (die bereits 1997 erschienene Fassung auf Französisch weiß von Latours »extreme example« einer »confusion between facts and our knowledge of them« zwangsläufig noch nichts). 4 Unter diplomatisch heiklen Umständen ist Ramses II. am 26. 9.  1976 in Paris eingetroffen und wie ein höchstrangiger Staatsgast mit militärischen Ehren empfangen worden. Die Untersuchung seiner sterblichen Überreste am Musée de l’Homme (Paris) hat u. a. einen Befall durch Pilze (Daedalea biennis) aufgezeigt, der sich durch eine riskante Bestrahlung mit Kobalt-60 stoppen ließ. Am 10. 5.  1977 ist die – gewissermaßen ›geheilte‹ – Mumie an Ägypten zurückgegeben worden und befindet sich seitdem im Ägyptischen Museum Kairo.

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Albert Meier

in der Folgezeit.5 Tatsächlich zieht Latours vermeintlich so widersinnige These die schlüssige Konsequenz aus einem – gewiss bewusst missverstehbar formulierten – Gedankenexperiment:6 »Si l’on diagnostique au Val-de-Grâce que Ramsès est mort de la tuberculose, comment a-t-il pu décéder d’un bacille découvert par Robert Koch en 1882?«7 Eine unverfängliche Übersetzung des skandalösen Satzes müsste in etwa so lauten: ›Angenommen, man würde im [Pariser Militärhospital] Val-de-Grâce feststellen, dass Ramses  II. an der Tuberkulose gestorben ist: auf welche Weise hat er dann einem Bazillus erliegen können, den Robert Koch 1882 entdeckt hat?‹. Indem sie das konditionale »Si l’on diagnostique« indikativisch lesen und das indikativische »comment a-t-il pu« konditional, haben sich Sokal  /  Bricmont daher gleich doppelt vertan (›Wenn man im Val-de-Grâce diagnostiziert, dass Ramses an der Tuberkulose gestorben ist, wie hätte er dann einem Bazillus erliegen können, den Robert Koch doch erst 1882 entdeckte?‹). Umstandslos zu behaupten, der Pharao sei seinerzeit einer mykobakteriellen Infektion zum Opfer gefallen, erscheint Latour zwar nicht als medizinischer, sehr wohl aber als historischer Kunstfehler: als Anachronismus. Wovon »Ramsès II estil mort de la tuberculose?« handelt, ist demgemäß nicht das Pathologen-Interesse an den Ursachen, die einst zum Tod einer Persönlichkeit von welthistorischem Rang geführt haben mögen. Wie der stets unbeachtet gebliebene Übertitel betont, zielt Latours Essay vielmehr auf die genuin philosophische Frage nach einer spezifischen Historizität wissenschaftlicher Entdeckungen (»Jusqu’où faut-il mener l’histoire des découvertes scientifiques?«). Den unmittelbaren Bezugspunkt bildet dabei ein zweiseitiger Artikel in der Illustrierten Paris Match (Nr.  1435: 26. November 1976, S.  74 f.):8 eine großflächige Fotografie und deren Legende: »Unsere 5 Die Ägyptologin Christiane Desroches Noblecourt, deren Initiative der Transport der

Mumie nach Paris zu verdanken ist, gibt keinen Hinweis auf die eventuelle Todesursache (vgl. Christiane Desroches Noblecourt, Ramsès II. La véritable histoire, Paris 1996, 48–58). 6 Vgl. Jean-Michel Le Bot, »Construction sociale et modes d’existence. Une lecture de Bruno Latour«, in: Revue du MAUSS 2014/1 (nº 43), 357–373, hier: 361. – In der von seinen Kritikern stets übersehenen Anmerkung 4 zum Recherche-Artikel erklärt Latour ohnehin explizit, die Tuberkulose nur als Beispiel für mögliche Diagnosen zu benutzen: »Il va de soi que, n’étant pas médecin de momies, je ne prends ici la tuberculose que comme exemple des diagnostics possibles.« 7 Die Fehlinformation, Ramses’ Leiche sei ins Militärhospital Val-de-Grâce gebracht worden (und nicht ins Musée de l’Homme), erweist sich in diesem Zusammenhang als diskreter Fiktionalitätsmarker, der umso passender ist, als Ramses II. der französischen Öffentlichkeit auch von Seiten der behandelnden Wissenschaftler als Patient präsentiert wurde, der ärztlicher Versorgung bedarf (vgl. die einschlägigen Kapitelüberschriften in der Ramses-Biografie von Christiane Desroches Noblecourt: »Il faut soigner Ramsès« / »Pharaon et ses cent dix soignants« / »Le mal dont souffrait la momie« / »La cure du roi«). 8 Vorangegangen ist am 5. Juni 1976 (Paris Match Nr.  1410, 43–54) der umfangreich bebilderte Hintergrundbericht (Anonym: »Ramses  II ou le Charlemagne du Nil«) zur laufenden Ramses II.-Ausstellung im Grand Palais; am 29. Juli 1977 (Paris Match Nr.  1470, 3–9/79) folgt als »Le roman de la momie« eine von Marie-Thérèse de Brosses verfasste Darstellung aller diplo­ matischen, militärischen und wissenschaftlichen Umstände der Arbeiten an der Mumie Ramses’ II.



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Gelehrten bei der Rettung des 3000 Jahre nach seinem Tod erkrankten Ramses«.9 Dieses pikante Wechselspiel von Bild und Wort ist das eigentliche Thema, dem sich Latour unter Anspielung auf ein prä-surrealistisches Diktum in Lautréamonts Chants de Maldoror (1874)10 widmet: ›Die so treffende Legende zu dieser Collage kann nur ein tiefsinniger Philosoph verfasst haben: Begegnung eines Pharaos und mehrerer Ärzte auf einem Operationstisch – ein cadavre exquis,11 wie nur je einer‹.12 Latour nimmt die Bild-Inschrift beim Wort, der vor gut 3000 Jahren verstorbene Ramses  II. habe sich neuerdings eine Krankheit zugezogen, und bedient sich des zugehörigen Fotos, um den Illustrierten-Artikel als »petite leçon de philosophie« auszulegen. Unbeschadet ihrer Richtigkeit sei die Ansicht des gesunden Menschenverstandes, 1882 entdeckte Keime könnten auch zuvor schon tödlich gewesen sein, epistemologisch unergiebig (Forschungsgeschichte gestalte sich aus diesem Blickwinkel als Blinde-Kuh-Spiel von Wissenschaftlern, denen ein Historiker nachträglich ›heiß!‹ oder ›kalt!‹ zuruft). Weiterführende Aufschlüsse soll demgegenüber der Gedanke versprechen, der Tuberkulose-Erreger habe gewiss auch vor 1882 schon sein fatales Werk getan, besitze jedoch erst seit seiner Entdeckung durch Robert Koch eine »réelle existence« und unterliege insofern selbst der Geschichtlichkeit.13 Damit würde es zu kurz greifen, wenn man sagt, dass Forscher ›ent-decken‹: In Latours Augen ›produzieren‹, ›fabrizieren‹ und ›konstruieren‹ sie ähnlich wie Ingenieure, weshalb auch ein Bazillus als ›objet technique‹ gelten muss (wollte man behaupten, eine Maschinengewehr-Salve hätte Ramses II. das Ende bereitet, wäre der historische Widersinn evident).  9 »NOS SAVANTS AU SECOU R DE R A MSES tombé malade 3000 ans après sa mort«.  – Die am rechten Rand platzierte Spalte mit Fließtext (Verfasserin: Catherine Tardrew) spielt in Latours Argumentation ebenso wenig eine Rolle wie das kleine, hochformatige Foto darüber und die links davon befindliche Legende, die beiden Abbildungen ihre Gegenstände zuweist: »Mme Saunier Seïté et le Pr. Balout (à sa dr.) devant la momie dans sa chambre stérile. | Cicontre: les pieds en loques« (›Madame [Alice] Saunier Seïté [damals Staatssekretärin für Universitäten] und Prof. [Lionel] Badou (r.) [wissenschaftlicher Leiter der Rettungsarbeiten] vor der Mumie in deren keimfreier Kammer. | Gegenüber: die in Fetzen gehüllten Füße‹). 10 »[…] beau […] comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie!« (Isidore Ducasse, comte de Lautréamont, Les Chants de Maldoror (Chant sixième I): ›schön wie die zuf ällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!‹). 11 Bei der abgebildeten Mumie handelt es sich buchstäblich um eine ›exquisite Leiche‹; in Latours Deutung handelt es sich bei Foto und Legende zugleich aber auch um das, was die surrealistische Ästhetik als cadavre exquis bezeichnet: Text- oder Bild-›Collagen‹, die nach einem Zufallsprinzip entstehen, indem mehrere Personen der Reihe nach einen bestimmten Satz- oder Körperteil verfassen / zeichnen, ohne zu wissen, was sich auf dem durch Falten verdeckten Blatt befindet. 12 »Profond philosophe celui qui a rédigé cette légende frappante au pied de ce collage: rencontre d’un pharaon et de médecins sur une table chirurgicale – cadavre exquis s’il en fut jamais.« 13 »[Latour] veut montrer que ce ne sont pas seulement les découvertes qui ont une histoire, mais aussi les objets eux-mêmes« (Le Bot, »Construction sociale et modes d’existence«, 368: ›Latour will zeigen, dass nicht allein die Entdeckungen eine Geschichte haben, sondern auch deren Gegenstände selbst‹).

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Das Foto in Paris Match führt nun vor Augen, mit welchen Mitteln sich dem lange schon toten Herrscher aus Ägypten rückwirkend noch eine Todesursache zuweisen ließe: indem man die Leiche in ein Krankenhaus einliefert und sie dort fachgerechten Prozeduren unterzieht;14 man übergibt sie, mit anderen Worten, ­einer zuständigen ›Institution‹, die dadurch für Gewissheit sorgt, dass sie sämtliche Daten auf ihre Weise konfiguriert.15 Unter Latours (fiktionaler!) Voraussetzung, an der Mumie wäre Tuberkulose nachgewiesen worden, hätte sich Ramses II. de facto 1976 in einer Pariser Klinik damit infiziert, weil die Erkrankung zuvor unmöglich zu bestimmen war. Anstatt sich eines ›transzendentalen Fehlschlusses‹ vom Wissen auf das Sein16 schuldig zu machen, versucht Latours Ausdeutung eines Illustrierten-Fotos in Wahrheit zu erläutern, warum es zumindest zweier Achsen bedarf, um zurückliegende Ereignisse sachgerecht zu erfassen (das entsprechende Koordinatensystem ist dem Aufsatz als Grafik beigefügt): Während die horizontale Achse in linearer Reihung Jahr um Jahr markiert, lagern sich auf der vertikalen Achse die durch neue Einsichten bedingten Modifikationen eines bestimmten Jahres Schicht für Schicht ab und bilden so eine Art Zeit-Säule.17 Bis 1976 könnte etwa zum Jahr 1000 v. Chr. ein Pharao mit unbekannter Todesursache gehören, ab 1976 aber ein Pharao mit wohlbekannter Todesursache. Um mit Paris Match sagen zu können, dass Ramses II. 3000 Jahre nach seinem Tod erkrankt ist, bedarf es daher keiner »causalité rétroactive« und erst recht keiner idealistischen Theorie, der zufolge man die Vergangenheit von der Gegenwart aus erfände; um einem nun fest in der modernen Medizin verankerten Jahr 1000 v. Chr. die Möglichkeit zuzuschreiben, dass sich 14 »Comment faire le diagnostic sur la cause de la mort? Mais en amenant le corps à Paris. Mais en le faisant pénétrer dans l’hôpital. Mais en l’éclairant sous les sunlights. Mais en le passant aux rayons X. Mais en prélevant pour analyse des fragments de tissu examinés sous le microscope.« 15 »On peut croire que Ramsès II crachait déjà des bacilles de Koch en postillonnant contre Moïse – on ne peut le savoir avec certitude qu’en le faisant venir au Val-de-Grâce« (›Es lässt sich glauben, dass Ramses II. bei seiner feuchten Aussprache schon Moses mit Kochs Bazillen angespuckt hat – mit Sicherheit wissen kann man das aber erst dann, wenn man ihn ins Val-de-Grâce holt‹). 16 Maurizio Ferraris hat diesen Vorwurf wiederholt erhoben: »Il proton pseudos è la fallacia trascendentale, quella che ha indotto Bruno Latour a sostenere che Ramsete II non poteva morire di tubercolosi (ontologia) perché i bacilli della tubercolosi sono stati isolati da Koch solo nel 1882 (epistemologia)« (Maurizio Ferraris, Postverità e altri enigmi, Bologna 2017, 35). 17 »Une année en effet ne se repère pas grâce à une seule dimension, mais grâce à deux. La première suit la chronologie; elle avance toujours dans le même sens, irréversiblement; elle égrène la série des nombres entiers. La seconde, au contraire, modifie chaque année toutes celles qui l’ont précédées et, selon les progrès des sciences, dote les années passées de traits plus ou moins nouveaux« (›Ein bestimmtes Jahr erfasst man nicht über eine einzige, sondern über zwei Achsen: Die erste folgt der Chronologie; sie schreitet immer in derselben Richtung voran, unumkehrbar; sie folgt der Reihe der natürlichen Zahlen. Die zweite aber verändert jedes Jahr die vorangegangenen und stattet, den wissenschaftlichen Fortschritten gemäß, die vergangenen Jahren mit mehr oder weniger neuen Zügen aus‹).



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im Mund des berühmtesten Pharaos ein tödlicher Bazillus befindet (bis zum eventuellen Erweis des Gegenteils), genügt es voll und ganz, eine zuvor undenkbare Verbindung zwischen Robert Koch, Kairo und Paris herzustellen. Wenn man so will, unternimmt Latour in seinen Überlegungen zum eventuellen Tuberkulose-Tod Ramses’ II. den stillschweigenden Versuch, Jacques Derridas Konzept der différance auf die Geschichtsschreibung der Wissenschaften anzuwenden und unser Wissen von der Vergangenheit als durchaus instabile Rückbeziehung zu dekonstruieren. Wie das funktioniert und welche Konsequenzen es hat, lässt der Artikel in La Recherche im Wesentlichen offen; umso mehr steht dieser Zusammenhang im Zentrum eines Tagungsbeitrages von 1995 (»On the Partial Existence of Existing and Nonexisting Objects«18) und erst recht in der ganzen Breite eines Buches von 1999 (Pandora’s Hope. Essays in the Reality of Science Studies).

18 In: Biografies of Scientific Objects, hrsg. von Lorraine Daston, Chicago  /  L ondon 2000, 247–

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Black Mirror (2011–)

Ralf Becker

Schwarze Spiegel In Arno Schmidts eschatologischer Erzählung Schwarze Spiegel (1951) notiert der namenlose, einsam durch verwüstete Landschaften wandernde Überlebende eines Atomkriegs nach nächtlichem Verweilen: »Schwarze Spiegel lagen viel umher«.1 Gemeint sind Regenwasserpfützen, die den in Mondlicht getauchten Nachthimmel widerspiegeln. Die schwarzen Spiegel, um die es im Folgenden gehen soll, liegen, stehen oder hängen ebenfalls viel umher: auf Tischen, Stühlen und Sofas, an Wänden und Armaturenbrettern, in Taschen und vor allem in unseren Händen. Es sind die glänzenden Oberflächen jener mobilen oder stationären ›Endgeräte‹, über die vielfältig Kommunikation und Datenaustausch stattfinden: Smartphones und -watches, Tablets, Notebooks, Computermonitore und Smart-TVs. Schlau (engl.  smart) sind freilich weder die Apparate noch zwangsläufig ihre Benutzer, sondern am ehesten noch die Menschen, die sie konstruieren, darunter nicht nur Informatiker und Elektroingenieure, sondern unter vielen anderen auch Produktpsychologen. Man soll die schwarzen Spiegel gerne verwenden und sie zum Leuchten bringen. Aus der modernen Welt sind sie nicht mehr wegzudenken. Die Zahl der Menschen, die mindestens eins der genannten Geräte täglich nutzen, steigt rasant, seit 2007 das erste iPhone von Apple auf den Markt gekommen ist, das entscheidend zur Proliferation des Touchscreens beigetragen hat. Die Tiefe, mit der diese Technologie in das alltägliche Leben von Menschen fast aller Länder eingedrungen ist, macht die Covid-19-Pandemie von 2020 deutlich, bei der auch Applikationen (kurz Apps) zum Einsatz kommen sollten, um die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus besser nachvollziehbar zu machen (Contact Tracing-Apps). Auf den Smartphones von genügend Bürgerinnen und Bürgern installiert, können Infektionswege leichter rekonstruiert werden, indem z. B. die Mobiltelefone von Menschen, die einander für eine bestimmte Zeit näherkommen, als der Mindestabstand zur Verhinderung von Ansteckung gebietet, Signale austauschen, die gegebenenfalls später erlauben, die Besitzer über die mögliche Ansteckungsgefahr zu informieren und einen entsprechenden Test anzuraten. In Demokratien erfolgt der Gebrauch einer solchen Software mehrheitlich auf freiwilliger Basis; autoritäre Systeme werten dagegen im großen Maßstab Tracking­d aten und andere persönliche Informationen der Mobilgeräte ihrer Bürger aus, ohne deren Erlaubnis einzuholen. Das Beispiel zeigt, dass es durchaus möglich ist, einen vernünftigen Gebrauch von solchen Techniken zu machen, wenn rechtsstaatliche Standards eingehalten und keine Bürgerrechte verletzt werden. Ohnedies liegt es dem Verfasser fern, die 1 Arno Schmidt, Schwarze Spiegel, Berlin 22018, 27.

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Technologie der schwarzen Spiegel zu verdammen – ist doch nicht zuletzt dieser Text gleich vor mehreren entstanden. Vielmehr soll der schwarze Spiegel in seiner ambivalenten Rolle für die Subjektbildung behandelt werden. Ralf Konersmann hat herausgearbeitet, welche Bedeutung die Spiegelmetapher für die neuzeitliche Begriffsgeschichte des Subjekts besitzt, das sich durch Reflexions­f ähig­keit vor Objekten auszeichnet.2 Schwarze Spiegel reflektieren, vom konvexen Claude-­ Glas3 abgesehen, deutlich schlechter als silberne unser optisch-analoges Spiegelbild, dafür generieren sie durch Gebrauch im Laufe der Zeit ein digitales, das wir teils selbst gestalten, von dem wir aber in einem erheblichen Maße auch gestaltet ­werden. »Von Jubel begleitet« nehmen wir, sozusagen in einem zweiten Spiegelstadium, unser vom schwarzen Spiegel entgegengeworfenes Spiegelbild auf. Wie bei dem von Jacques Lacan beschriebenen ersten Spiegelstadium, in dem das Kleinkind sich im silbernen Spiegel erstmals selbst erkennt, vollzieht sich im zweiten der Nutzung schwarzer Spiegel eine Identifizierung »als die beim Subjekt zustande gebrachte Verwandlung, wenn es ein Bild auf sich nimmt«. Lacan analysiert das Spiegelstadium im Hinblick auf seine Gestaltung der Ichfunktion durch eine »Dialektik der Identifizierung«.4 Dem ersten Auf-sich-Nehmen des Spiegelbildes: ›Das bin doch ich‹ folgt die Verinnerlichung des äußeren Bildes als ein imaginäres Ideal-Ich, hinter dem die stets nur partielle körperliche Selbstwahrnehmung (wir sehen niemals unvermittelt unser eigenes Gesicht, wie wir z. B. unsere Hände sehen) zurückbleibt: ›Das soll ich sein‹. Diese Objektwerdung des Ichs motiviert die Bemühung einer vermittelten Rückerstattung der Subjektfunktion durch andere Mittel der Reflexion (Lacan nennt die Sprache). Wo dies nicht gelingt, droht die narzisstische Fixierung auf die Spiegelung im Gegenüber. Das Anregungspotenzial dieser Dialektik der Identifikation mit dem Spiegelbild gilt es, auch für die schwarzen Spiegel zu nutzen. Dazu bietet es sich an, mit der Wortbedeutung von Subjekt als dem Unterworfenen (lat. sub-iectum) zu spielen bzw. die Begriffsgeschichte nachzuvollziehen, war Subjekt in der mittelalterlichen Scholastik doch noch der Gegenstand, der erst für ein denkendes Wesen (später dann Subjekt genannt) zum intentionalen Objekt wird. In der Neuzeit kehren sich die Bedeutungen von Subjekt und Objekt um. Die Dialektik der Identifikation mit den von schwarzen Spiegeln erzeugten Bildern wäre entsprechend in einem logischen Dreischritt (dem nicht voneinander abgrenzbare zeitliche Phasen entsprechen) zu konstruieren: Dem Auf-sich-nehmen des Bildes folgt eine Objektivie2 Vgl. Ralf Konersmann, Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts, Frankfurt / M. 1991. 3 Benannt nach dem französischen Landschaftsmaler Claude Lorrain (1600–1682), ist das

Claude-Glas ein konvexer schwarzer Spiegel, den Maler des 17. und 18. Jahrhunderts in der Landschaftsmalerei einsetzten. Die Oberfläche spiegelt den im Rücken liegenden Prospekt en miniature und mit schärferen Farbkontrasten. 4 Jacques Lacan, »Das Spiegelstadium als Gestalter der Funktion des Ichs, so wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung offenbart wird«, in: Schriften, Bd.  1, übers. von Hans-Dieter Gondek, Wien  /  Berlin 2016, 109–117, hier: 110.



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rung (Subjektivierung im Sinne von Unterwerfung), aus der sich das Individuum befreien muss, um seine Subjektivität (im Sinne eines reflektierten und autonomen Selbstbewusstseins) zurückzuerlangen bzw. erst eigentlich Subjekt zu werden. Diese einstweilen noch abstrakten Überlegungen zum digitalen Bild, das schwarze Spiegel reflektieren, bedürfen freilich der Konkretisierung. Literatur ist eine Möglichkeit konkreten Denkens. So beginnt dieser Essay denn auch mit Arno Schmidts apokalyptischem Landschaftsbild. Die Apokalypse ist bislang immer noch ausgefallen. Dystopische Szenarien haben gleichwohl eine große gegenwartsdiagnostische Potenz. Für das, was hier gezeigt werden soll, drängt sich ein anderes narratives Medium auf, das seine Zeit in Bildern erfasst: die britische Fernseh­ serie Black Mirror. Die ersten sieben Episoden wurden in zwei Staffeln und e­ inem Weihnachtsspecial zwischen 2011 und 2014 auf dem britischen Sender Channel 4 ausgestrahlt. Seit 2016 wurden in drei weiteren Staffeln 15 Folgen sowie ein Film auf Netflix veröffentlicht. Kreativer Kopf der Anthologie-Serie ( jede Folge erzählt eine in sich abgeschlossene Geschichte mit immer anderen Darstellern) ist der Brite Charlie Brooker, der bis auf zwei Ausnahmen zu allen Folgen und auch zu dem Film Bandersnatch (2018) die Drehbücher verfasst hat. Regie geführt haben insgesamt 18 Personen, darunter als vermutlich prominenteste Regisseurin Jodie Foster. Die titelgebende Metapher vom schwarzen Spiegel steht für den Einsatz moderner IT, die jeweils in einer Zukunftsprojektion über die heute gegebenen Möglichkeiten hinaus, aber auf durchaus bestehende Visionen hin übersteigert dargestellt wird. Der Fokus ist weniger technik- als vielmehr gesellschaftskritisch. Das Label Science Fiction trifft das Serienkonzept daher nur zum Teil, da wissenschaftliche Erklärungen keine Rolle spielen und Hightech nur als Vehikel für die Handlung fungiert. Die oben skizzierte Dialektik der Identifikation im ›Schwarzen Spiegelstadium‹ soll nun an ausgewählten Folgen der Serie Black Mirror gleichsam doppelt ins Bild gesetzt werden, dreht sich die Interpretation doch jeweils um ein (Spiegel-)Bild im (TV-)Bild. In der Welt von The Entire History of You5 tragen die meisten Menschen freiwillig ein »grain« unter der Haut hinter dem Ohr. Dieses Implantat zeichnet nicht nur alles Erlebte (Bild und Ton) wie durch eine ständig mitlaufende Kamera auf, sondern erlaubt in Verbindung mit einer Fernbedienung auch, die Aufzeichnungen entweder auf externen Bildschirmen oder auf speziellen Kontaktlinsen unmittelbar auf den eigenen Augen wieder abzuspielen. Diese »re-dos« werden u. a. auch bei Jobinterviews oder Sicherheitskontrollen an Flughäfen eingesetzt, um anhand eines Schnelldurchlaufs der letzten Tage oder Wochen die Vertrauenswürdigkeit der Person zu überprüfen. Es ist zwar möglich, einzelne Episoden (ob Sekunden, Stunden oder Tage) zu löschen, aber dann entstehen Lücken in der »timeline«, die den Besitzer natürlich verdächtig machen. Weitere Funktio5 Staffel 1, Folge 3, Erstausstrahlung auf Channel 4 am 18. Dezember 2011, Drehbuch: Jesse Armstrong, Regie: Brian Welsh. Dies ist die einzige Folge der Serie, die nicht aus der Feder von Charlie Brooker stammt.

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nen erlauben, die Erinnerungen thematisch zu archivieren oder Unterhaltungen entfernt stehender Personen nachträglich durch eine Lippenlese-App verständlich zu machen. Die vorherrschende Ideologie (»memory is for living«) wertet die herkömmlichen, »organischen« Erinnerungen ab, da sie unzuverlässig und leicht manipulierbar seien. Wir könnten ohne die »grains« nie sicher sein, was tatsächlich vorgefallen sei. Wer zu der Minderheit der »grainless« gehört, die ohne diese Technologie leben wollen, sieht sich einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Bereits Kleinkindern werden die ›Körner‹ eingesetzt, wie eine Szene zeigt, in der die Mutter anhand der Aufzeichnungen ihres Kindes den Babysitter kontrolliert. Im Mittelpunkt der Handlung steht das junge Paar Liam und Ffion Foxwell, die von einer Party nach Hause kommen und über den Gastgeber Jonas, einen früheren Geliebten der Frau, in Streit geraten. Der eifersüchtige Ehemann verdächtigt seine Frau, dass sie ihn über ihre wahren Gefühle für Jonas belüge. Keine ihrer Beteuerungen kann ihn beruhigen. Immer mehr steigert er sich in eine obsessive Eifersucht hinein und geht seine aufgezeichneten ›Erinnerungen‹ am heimischen Monitor (der nicht schwarz, sondern durchsichtig ist) wieder und wieder durch. Er analysiert jeden Blickwechsel, jedes Lachen, jedes kleinste Detail. Volltrunken fährt Liam schließlich zu Jonas und zwingt ihn gewaltsam, dessen sämtliche Er­ inne­r ungen an Ffion zu löschen, und zwar nachvollziehbar auf dem WohnzimmerTV. Liam erkennt anschließend in einer Detailvergrößerung der Archivbilder, dass es wirklich erst im vergangenen Jahr zu einem Seitensprung gekommen sein muss. Mit dieser Entdeckung konfrontiert er Ffion und nötigt sie, ihre Erinnerungen in »re-dos« preiszugeben. Auf dem Schlafzimmermonitor verfolgt er den gesamten Beischlaf mit dem Nebenbuhler nach. In der Schlusssequenz sieht man Liam durch das ehemals gemeinsame Haus wandeln, in dem nun die Hälfte der Möbel fehlt, während er die schönsten Erinnerungen an seine Zeit mit Ffion auf den Kontaktlinsen Revue passieren lässt. Schließlich steht er vor dem Badezimmerspiegel und entfernt sich mit einer Rasierklinge das »grain«. Liam Foxwell ist eine Art Ireneo Funes in Zeiten des Neuro-Enhancement. In Jorge Luis Borges’ Erzählung »Das unerbittliche Gedächtnis« (1942) sind Wahrnehmung und Gedächtnis des jungen Ireneo nach einem Unfall unfehlbar. Gegenwart und Vergangenheit sind für ihn total verfügbar. Doch hat diese doppelte Totalität ihren Preis: Funes ist »zu allgemeinen, platonischen Ideen so gut wie nicht imstande«. »Denken heißt, Unterschiede vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art.«6 Vergessen ist eine notwendige Bedingung dafür, denkend Abstand von den Einzelheiten des sinnlich Gegebenen zu gewinnen. Die Welt, in der Funes lebt, ist positivistisch und nominalistisch: Es gibt nur Einzelheiten und Eigennamen, kein Allgemeines und keine Begriffe. Vermittlung durch Distanz ist 6 Jorge Luis Borges, »Das unerbittliche Gedächtnis«, in: Fiktionen (Ficciones). Erzählungen 1939–1944, übers. von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs, Frankfurt / M. 1992, 95–104, hier: 102 f.



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aber auch eine Voraussetzung für die Autonomie des Subjekts. Liam Foxwell verliert, wenn er sich wahnhaft in den Details des letzten Abends verliert, zugleich sich selbst. Erst mit der Inzision, die ihn von dem unerbittlichen künstlichen Gedächtnis befreit, gewinnt er die Macht über sich zurück. Emblematisch dafür steht der Blick in den einfachen, ›analogen‹ Spiegel. Reflektieren die Spiegel der Foxwells die ›eigene‹ Vergangenheit (»The Entire History of You«), so zeigen die Bildschirme und wiederum Kontaktlinsen in Nosedive7 permanent in Echtzeit den aktuellen eigenen Beliebtheitswert in Punkten zwischen Null und Fünf bis auf die dritte Nachkommastelle an. Dieses Ranking, das an die Zählung von Likes und Followern bereits zeitgenössischer Social Media erinnert, ist jedoch kein bloßer Zeitvertreib, sondern hat ernsthafte Konsequenzen, angefangen von der Befugnis, bestimmte Gebäude zu betreten, über die Vermietung von Autos (verschiedener Wagenklassen) und Wohnungen, die Teilnahme an einem der zahlreichen Premiumprogramme bis hin zur Zuteilung exklusiver Behandlungsplätze in Kliniken – für alle diese Dinge benötigt man einen jeweiligen Mindestpunktwert. Der aktuelle Score ist ständig in Bewegung, da man buchstäblich für alles bewertet wird, nicht nur für auf Plattformen hochgeladene Bilder und für Taxifahrten (Fahrer und Fahrgast bewerten sich nach der Fahrt wechselseitig), sondern schon die einfache Begegnung auf der Straße oder im Fahrstuhl endet mit dem je auf die andere Person gerichteten Smartphone und der Evaluation mittels Tippen auf die Anzahl der Sterne (Null bis Fünf ), die man vergeben möchte. Jede kleinste Interaktion, ob im öffentlichen oder im privaten Raum, ist begleitet von dieser Dauerbewertung. Jederzeit lässt sich, z. B. über die Kontaktlinsen, der aktuelle Score des Gegenübers anzeigen. Dafür muss man weder die Person noch ihren Namen kennen. Die gesellschaftliche Stratifikation erfolgt gewissermaßen nach der Instagram-Logik sogenannter Influencer. Die Stars haben Traumwerte von 4,8 oder 4,9 (niemand erreicht 5,0). Da auch der Umgang mit anderen Menschen in die eigene Wertung eingeht, muss man sich bemühen, möglichst viele »Likes« von Hochgerankten zu erhalten und möglichst wenig mit Niedriggerankten gesehen zu werden. Bei Bedarf kann man sich von der Firma »Reputelligent« beraten lassen, wie man seinen Wert steigern kann; die Beratung stützt sich auf die Analyse der »sphere of influence« nach Zentrum und Peripherie des sozialen Netzwerks. Temporäres »downscaling« ist eine Strafe für Vergehen wie z. B. öffentliches Fluchen. Kurz, »it’s all about numbers«. Die Parallelen zum Sozialkredit-System, das die Volksrepublik China in einigen Städten seit 2017 erprobt, liegen auf der Hand. Dieses System soll auf ganz China ausgeweitet werden. In den persönlichen Punktestand gehen neben Einkaufsverhalten und Zahlungsmoral auch Äußerungen in sozialen Medien, wie überhaupt potentiell alle im digitalen Raum hinterlassene Spuren, und nicht zuletzt Informationen staatlicher Stellen ein. Ein positives Ranking, das ein im Sinne der Kom7 Staffel 3, Folge 1, Veröffentlichung auf Netflix am 21. Oktober 2016, Idee: Charlie Brooker,

Drehbuch: Rashida Jones und Michael Schur, Regie: Joe Wright.

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munistischen Partei normenkonformes Verhalten abbildet, gestattet Privilegien wie bessere Wohnungen oder Auslandsreisen, ein negatives Ranking entzieht korrelativ zur sozialen Reputation Freiheitsrechte. Was hier staatlich gesteuert wird, machen die Menschen in der Black-Mirror-Wirklichkeit selbständig. An die Seite der physischen Existenz in einem analogen Raum und in analoger Zeit tritt das, was Gesa Lindemann die Netzexistenz oder kurz »Nexistenz« in einer »digitalen Raumzeit« nennt. Diese Nexistenz setzt sich aus allen digitalen Datenpaketen zusammen, die wir – meist automatisch mit GPS-Koordinaten und exakten Zeitpunkten verknüpft – ständig bei unserer Nutzung schwarzer Spiegel erzeugen und die beliebig abruf bar sind. Die Konstellation von Nosedive führt prägnant vor Augen, was Lindemann ein »generalisiertes Panoptikum«8 nennt: Alle beobachten sich wechselseitig, die Beobachtung kann – technisch vermittelt – prinzipiell von überall her erfolgen, ist jederzeit für jeden verfügbar und intentional diffus, weil es nicht den einen Beobachter mit der einen Beobachtungsabsicht gibt. Gleichwohl wirkt das generalisierte Panoptikum als eine Disziplinarmacht (Foucault) par excellence, wie man an der verzweifelten Bemühung der Protagonistin um Konformismus sehen kann. Lacie Pound erfährt durch Verkettung unglücklicher Umstände einen rapiden und radikalen sozialen Absturz (engl. nosedive) von einem Wert um 4.2 auf unter Eins. Anfänglich um nichts so sehr besorgt wie um das eigene Ranking, findet sie sich am Ende in einer Arrestzelle wieder, ohne Smartphone; die mit diesem verknüpften Kontaktlinsen werden ihr entfernt, sie steht nun außerhalb des Rankingsystems und damit außerhalb der Gesellschaft. In der letzten Szene tauscht sie mit einem anderen Inhaftierten Beschimpfungen und »dislikes« aus – und wirkt befreit. Der weiter oben beschriebene Dreischritt der Identifizierung lässt sich an der Handlung gut nachvollziehen: Der Blick auf den schwarzen Spiegel wirft (scheinbar) ein digitales Bild seiner selbst zurück: ›Das bist Du (wert)‹. Im Laufe der Abwärtsspirale stimmen die Wertungen der anderen nicht mehr mit dem gefühlten Eigenwert (dem Ideal-Ich) überein: ›Das bin ich nicht (ich bin mehr wert)‹. Erst die Befreiung von den schwarzen Spiegeln und der Ausstieg aus der Daueraffirmation des Bestehenden erlaubt es der Ausgestoßenen, sich aus der Unterwerfung zu lösen und zu emanzipieren – wenn auch um den hohen Preis der Exklusion. Die Psychoanalytikerin Alessandra Lemma weist darauf hin, dass der schwarze Spiegel nicht »re-flektiert«, »er spiegelt nicht zurück, sondern projiziert intrusiv in den Betrachter hinein. Er ›pusht‹ Wünsche, Bilder und Empfindungen in Körper und Geist«.9 Die Pushfunktion macht uns nicht nur umgehend auf neue Nachrichten oder Neuerungen in abonnierten Social-Media-Profilen aufmerksam, sondern 8 Gesa Lindemann, »Die Verschränkung von Leib und Nexistenz«, in: Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung. Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Plessners, hrsg. von Johannes F. Burow u. a., Baden-Baden 2019, 47–72, hier: 61. 9 Alessandra Lemma, »Der schwarze Spiegel. Sexuell werden im digitalen Zeitalter«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 73 (2019), 644–672, hier: 651.



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drängt uns zahlreiche weitere Inhalte auf, die uns ›interessieren‹ könnten. Im Falle von Nosedive pusht der schwarze Spiegel permanent den aktuellen persönlichen Sozialkreditwert, mit dem man sich identifizieren soll. Wer über Subjektkonstruktionen in schwarzen Spiegeln spricht, darf über Avatare nicht schweigen. Der Ausdruck geht auf das Sanskritwort für Abstieg oder Herab­kunft (einer Gottheit in irdische Gefilde) zurück und bezeichnet im Hinduismus vor allem die zahlreichen Inkarnationen des Gottes Vishnu. In der Welt schwarzer Spiegel sind Avatare unsere digitalen Doppelgänger, insbesondere in Computerspielen. Striking Vipers10 heißt das Videospiel, mit dem die beiden Freunde Danny Parker und Karl Houghton schon als Mitbewohner die Nacht zum Tage machten. In jungen Jahren unzertrennlich, sehen sie sich als Enddreißiger nur zu Dannys Geburtstagen. Karl, immer noch ein passionierter Gamer, schenkt Danny Striking Vipers X, die gerade erst veröffentlichte Virtual-Reality-Version des Martial-Arts-Spiels. Am Abend spielen es die beiden online, jeder in seiner eigenen Wohnung. Karl erklärt Danny die Funktionsweise des Equipments: Die Software befindet sich auf einem Chip, der in den Controller eingeführt wird. Darüber hinaus muss man einen kleinen Knopf, den Karl unspezifisch als »disc doohickey« (Scheibendingsbums) bezeichnet, an der Schläfe anbringen; er überträgt die VR-Effekte direkt ans Gehirn. Man startet das Spiel, nachdem man seine Avatare gewählt hat, die miteinander kämpfen sollen. Wie in der früheren NichtVR-Version entscheidet sich Karl für die Spielfigur Roxette und Danny für Lance. Nach dem Start verfallen die Spieler in eine Art Trance, sie bewegen die Figuren mental, nicht mit dem Controller. Die Illusion ist hyperrealistisch: Ihr Körperempfinden verschmilzt mit ihrem jeweiligen Avatar. In einer fernöstlichen Landschaft kämpfen nun Karl-Roxette und Danny-Lance: Aus den beiden Afroa­meri­ kanern wird eine junge blonde Frau und ein junger Asiate, beide gutaussehend und durchtrainiert. Das Spiel simuliert11 alle physischen Empfindungen, und man sieht, wie die realen Körper im Kampf zucken; die Avatare erholen sich umgehend von ihren Wunden, die sie sich in übertriebenen, phantastischen Kampf bewegungen zufügen. Karl-Roxette gewinnt die erste Runde und bezwingt auch in der nächsten Danny-Lance, den sie schließlich zu Boden wirft – und küsst. Danny-Lance entzieht sich und beendet das Spiel mit dem Satz »exit game«. Wieder ›bei Sinnen‹, sind beide Spieler irritiert, Karl geht ins Bad, wäscht sich das Gesicht und betrachtet sich im (silbernen) Spiegel, Danny legt sich ins Bett zu seiner Frau, merklich sexuell erregt. Am nächsten Abend sitzen die Freunde wieder vor ihren schwarzen Spiegeln (Smart-TVs) und Karl lädt Danny online zu Striking Vipers X ein. Nach10 Staffel 5, Folge 1, Veröffentlichung auf Netflix am 5. Juni 2019, Drehbuch: Charlie Brooker, Regie: Owen Harris. 11 An der betreffenden Stelle heißt es: »the game emulates all physical sensations«. Als Emulation wird in der Regel die Nachahmung eines Computersystems auf einem anderen bezeichnet. Im vorliegenden Fall wird das Gehirn also als eine Art von Computer aufgefasst.

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dem die beiden den gestrigen Ausgang dem Alkohol zugeschrieben haben, vereinbaren sie, heute ein »serious game« zu spielen. Doch bereits in der ersten Runde fallen Karl-Roxette und Danny-Lance, noch bevor sie zu kämpfen beginnen, mit leidenschaftlichen Küssen übereinander her. Nach dem Sex sagt Karl-Roxette im Spaß: »so, guess that’s us gay now«. Danny-Lance antwortet dagegen ernst: »Don’t feel like a gay thing«. Beim dritten Mal ist es schon ein Date, die beiden nutzen das Spiel überhaupt nicht mehr zum Kämpfen. Karl und Danny sind tagsüber in Gedanken bei den gemeinsamen nächtlichen Begegnungen, die außer Sex auch Zärtlichkeiten einschließen; das Interesse an ihren Partnerinnen ist auf dem Nullpunkt. In einem weiteren Rendezvous fragt Danny-Lance Karl-Roxette, wie es ist, Sex in einem Frauenkörper zu haben, und erhält die unbeholfene Antwort »crazy […] satisfying«. Das Ganze fühlt sich für die beiden auch im realen Leben immer mehr wie eine Aff äre an. Nachdem Danny sogar seinen Hochzeitstag vergisst und seine Frau Theo glaubt, er habe eine andere, schließt er das Spiel weg und macht mit Karl Schluss. Die beiden treffen sich erstmals nach sieben Monaten wiederum zu Dannys Geburtstag, dessen (schwangere) Frau Karl eingeladen hat. Beim Abendessen flüstert Karl Danny in einem unbeobachteten Moment zu, dass nichts und niemand die gemeinsamen Stelldicheins ersetzen könne, er habe es mit anderen Spielern versucht, aber der Sex mit Danny-Lance sei der beste seines Lebens gewesen. Als Karl Danny einlädt, ein letztes Mal um Mitternacht Striking Vipers X zu spielen, kann Danny nicht widerstehen. Nach dem Akt entfährt Karl-Roxette das Geständnis: »I love this. I love you«. Darauf hin schlägt Danny ein reales Treffen vor, um durch einen Kuss, den nicht ihre Avatare, sondern sie selbst austauschen, herauszufinden, ob die physische Anziehung auch zwischen Karl und Danny besteht. Der Test fällt negativ aus. Danny zieht für sich daraus den Schluss, die virtuelle Aff äre zu beenden, Karl dagegen will sie fortsetzen. Die beiden geraten in einen Kampf, sie werden verhaftet, und nachdem Theo ihn von der Polizeiwache abholt, gesteht Danny ihr alles. In der Schlusssequenz überreichen sich Theo und Danny an dessen Geburtstag zwei kleine Schächtelchen. In dem für Danny befindet sich das »Scheibendingsbums«, in das andere legt Theo ihren Ehering. Wir sehen, wie Karl (in dessen Wandkalender der Termin markiert ist) und Danny Striking Vipers X starten und Theo sich in einer Bar mit einem anderen Mann trifft. Für diese eine Nacht im Jahr sind Aff ären gestattet. Die Geschichte erzählt gewissermaßen in Reinform den dialektischen Prozess der Subjektivierung: Auf die erste Identifikation mit dem eigenen Avatar in den Kampf handlungen folgt die Irritation angesichts der auf kommenden Erotik. Die Identifikation mit dem Avatar reicht aber so weit, dass die sexuelle Orientierung in Frage steht. Offenbar ist die Lage nicht so einfach, dass die Handlungen in der virtuellen Realität Gefühle und Begierden wecken, die auch in der ›realen‹ Realität vorhanden wären. Die Avataridentitäten müssen in die je eigene Persönlichkeit integriert werden, aber sie überschreiben nicht die physisch real gelebte Sexualität. Wenn Danny und Karl zu Lance und Roxette werden, vollzieht sich eine »Dis­



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intermediation« ihrer Körper.12 Dieser Begriff hat seine Tücken, da er insinuiert, der Körper sei ein bloßer Vermittler, ohne den der Geist auch unmittelbar arbeitsfähig wäre. Gemeint ist hier daher auch nicht, dass die Körper von Danny und Karl ausgeschaltet wären – denn das sind sie nicht, spüren sie doch schließlich alles, was ihre Avatare empfinden, und zeigen dies auch in ihren körperlichen Reaktionen. Aber sie üben aneinander keine physischen Handlungen aus, und das weder in der ›echten‹ Wirklichkeit (sie befinden sich ja nicht einmal im selben Haus) noch in der virtuellen Realität, da sie dort ein heterosexuelles Paar in anderen Körpern sind. Die Subjektivierung, die über die Objektivierung in Avataren führt, stellt beide vor die Herausforderung, ihre Begriffe von Homosexualität und Heterosexualität zu überdenken und sich jenseits dieser Differenz in einem anderen, neuen Konzept des Begehrens zu positionieren. Schließlich geht die wechselseitige Attraktivität in mindestens demselben Maße von den Spielern wie von ihren Avataren aus – was Karls Experimente mit der Variation beider Faktoren belegen. Die Beispiele von Liam Foxwell, Lacie Pound, Danny Parker und Karl Houghton zeigen, wie eine Resubjektivierung nach der Identifikation mit dem schwarzen Spiegel aussehen kann: Liam entfernt gewaltsam sein künstliches unerbittliches Gedächtnis; Lacie erkennt erst durch Ausschluss aus dem Kollektiv die befreiende Wirkung der Negation; Danny und Karl integrieren ihre ›spezielle‹ Form der Sexualität in ihr ›normales‹ Leben durch ein neues Ritual, sie unterwerfen sich weder den bestehenden Kategorien sexueller Orientierung noch der Suggestion der bloßen Identifikation mit ihren Avataren. Der Ausgang des letzten Falls ist zugleich der versöhnlichste. Liam und Lacie erreichen ihre Erlösung vom narzisstischen Sog der Spiegelbilder nur durch Verzicht – auf die Technologie, aber auch auf Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft. Anders als Danny und Karl sehen wir sie nicht ein Jahr nach der Inzision bzw. der Inhaftierung. Man darf aber davon ausgehen, dass sie einen sozioökonomischen Abstieg (Liam) bis hin zur Pariaexistenz (Lacie) erleiden. Insbesondere die schwarzen Spiegel des Sozialkredit-Systems stehen für eine totale Vergesellschaftung des Individuums. Dies führt zum letzten Beispiel, der Folge Fifteen Million Merits.13 In dieser Welt bewohnen die meisten Menschen winzige Apartments, deren Wände aus Bildschirmen bestehen, die im Dauerbetrieb sind. Alles, von der Zahnpasta bis zum Wegklicken der aggressiven Popup-Werbung, kostet »merits«, die man sich auf Fahrradergometern verdienen muss, mit denen Energie gewonnen wird. Die Radler bilden eine Klasse dieser dystopischen Gesellschaft, unter ihnen stehen die übergewichtigen Putzkräfte, die den Müll der Fahrradfahrer (Essens- und Getränke­verpackungen) wegräumen. Sie sind ehemalige Radler, die ernährungs12 Lemma, »Der schwarze Spiegel«, 669: »Disintermediation ist ein Prozess, der einem Nutzer oder Endverbraucher direkten Zugang zu einem Produkt, einer Dienstleistung oder Information verschafft, d. h. unter Umgehung eines Intermediärs – eines Vermittlers – wie etwa eines Großhändlers, eines Rechtsanwaltes oder eines Verkäufers.« 13 Staffel 1, Folge 2, Erstausstrahlung auf Channel 4 am 11. Dezember 2011, Drehbuch: Charlie Brooker und Kanak Huq, Regie: Euros Lyn.

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bedingt bzw. aufgrund mangelnder Fitness ein bestimmtes Körpergewicht nicht zu halten vermochten. Schließlich gibt es noch die Hosts der verschiedenen TVShows, die permanent in diversen Streams laufen, und die ›Stars‹ dieser Shows, die Privilegien genießen – nicht mehr aufs Rad müssen und in größeren Wohnungen leben. Bingham Madsen, »Cycle 6-324«, bezahlt 15 Millionen »merits«, um an der Casting-Show Hot Shot teilnehmen zu dürfen. Er will nicht, wie die meisten Kandidaten, Sänger oder Pornostar werden, sondern stellt sich bloß als »entertainer« vor. Doch auf der Bühne hält er sich nach einer Tanzeinlage eine Scherbe an den Hals und droht, sich vor laufenden Kameras damit die Halsschlagader aufzuschlitzen, wenn man ihm nicht zuhöre. Die Glasscherbe hatte sich aus einem der Wandscreens seines Miniapartments nach einem kräftigen Faustschlag gelöst. Bingham lässt seiner Wut verbal freien Lauf und verurteilt das System von Kandidaten, die das gleiche »fake fodder« seien, das man ihnen zu essen gebe, und für die der Auftritt in einer Castingshow das Größte sei. In einer wahren Kaskade von »fuck you’s« verflucht er die Juroren. Doch die Jury ist keineswegs schockiert. Der schmierige Judge Hope hält Binghams Tirade vielmehr für »the most heartfelt thing«, das er je in dieser Show gehört habe. Bingham bringe etwas zum Ausdruck, das vielleicht nicht alle verstünden, aber trotzdem fühlten. Es sei eine Wahrheit, Binghams Wahrheit zwar, aber dennoch Wahrheit. So erhält Bingham für seine ›Authentizität‹ einen eigenen Slot in Judge Hopes Streamingkanal: Zweimal die Woche darf Bingham 30 Minuten lang Systemkritik üben. In der Schlussszene sieht man ihn in seiner Sendung mit der Scherbe am Hals, den sinnlosen Konsum im Hamsterrad anprangernd. Fans können gleichzeitig die »Bing shard« für ihre Avatare erwerben. Am Ende der Sendezeit verabschiedet sich »Bing« von seinem Publikum mit den Worten: »farewell forever«, als würde er sich nun die Scherbe in den Hals rammen – und fährt nach einer dramatischen Pause fort: »till the same time next week«. Nach der Übertragung beobachten wir Bingham in seiner luxuriösen neuen Behausung, wo er die Scherbe sorgsam in ein schwarz ausgekleidetes Etui legt und aus dem Fenster in eine Waldlandschaft schaut. Auch wenn es nur eine täuschend echte Wandprojektion sein sollte, so bliebe sie immerhin von der störenden Werbung frei. Binghams Freiheit ist gleichwohl trügerisch, da er nicht aus der Totalvergesellschaftung ausbricht. Das gesellschaftliche System ist derart absolut, dass es auch Fundamentalkritik problemlos integrieren kann, ohne sich ändern zu müssen – indem es ihr Sendezeit gibt. Es scheint keinen Ausweg nirgends zu geben. Die Verfeaturerung der Kritik legt nahe, Fifteen Million Merits so zu interpretieren, dass die Serie sich im schwarzen Spiegel als Produkt der Kulturindustrie selbst reflektiert. Für diese Autoreferenzialität gibt es zudem ein ikonisches Indiz: Die Scherbe, die Bingham aus seinem ›schwarzen Spiegel‹ herausschlägt und an seinen Hals hält, sieht in ihrer länglichen Form jenem Glassplitter zum Verwechseln ähnlich, zu dem der Bildschirm im Vorspann der Serie zerspringt. Die Oberflächenschicht eines Touchscreens ist ja nicht selbst schwarz, sondern besteht ebenso aus einer durchsichtigen Schicht (meistens Glas) wie ein ›silberner‹ Spiegel. »Bing’s Shard«,



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die in der Folge als Fanartikel erhältlich ist, verweist über die Isomorphie mit dem Intro der ganzen Serie auf den kulturindustriellen Charakter von Black Mirror, die ihrerseits nur auf schwarzen Spiegeln über einen Streamingdienst verfügbar ist. Das Scherbenpaar verdeutlicht, dass die Serie selbst jener Dialektik unterworfen ist, die sie sichtbar macht. Die Verwandlung, die das Subjekt durchläuft, wenn es sein Bild auf sich nimmt, das ein schwarzer Spiegel zurückwirft, ist grundsätzlich nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen getrennt zu betrachten, unter denen die Spiegel produziert, vermarktet und eingesetzt werden. Dass nicht die Technik selbst schlecht ist, sondern ihr Missbrauch, ist eine Binsenweisheit, mit der es sich der gut gemeinte Rat zu leicht macht, man müsse bloß eine kritische Mediennutzung kultivieren. Die emanzipierte Subjektbildung allein dem Individuum zu überlassen, führt zu seiner Überforderung und programmiert letztlich sein Scheitern. Wie individuelle Freiheit im status digitalis möglich ist, bleibt eine virulent offene politische Frage. Der radikale Verzicht auf schwarze Spiegel geht nicht nur mit dem Verlust technischer Möglichkeiten einher, er macht verdächtig. Wer kein mobiles Endgerät besitzt, fällt in freiheitlichen Systemen einstweilen bloß durch die Maschen sozialer Netzwerke, in autoritären Staaten führt man ein Geisterleben – ohne Nexistenz keine bürgerliche Existenz. Auf der anderen Seite darf auch nicht aus dem Blick geraten, dass das Leben von Menschen in der analogen und nicht der digitalen Welt stattfindet. Dass die Pflege von Lebensformen wie Freundschaften und Partnerschaften von schwarzen Spiegeln sogar profitieren kann, zeigte die wochenlange weltweile Quarantäne von 2020 – erlaubten Videochats doch rund um den Globus, das epidemiologisch gebotene und exekutiv verordnete social distancing zu überbrücken. Zugleich machten sie aber ex negativo, teilweise schmerzlich, deutlich, dass Technik echte, das bedeutet: körperliche Nähe nicht zu ersetzen vermag. Auch das gehört zur Dialektik vermittelter Unmittelbarkeit beim Blick in einen schwarzen Spiegel.

Daniel Kuge, BMV2-G3WG1L-17, 2017.

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Ambige Objekte 1. Unbestimmtheit Es ist selten, dass uns vollkommen Unbestimmtes begegnet. Alles scheint säuberlich vermessen, eingeordnet und benannt. Umso irritierender ist die Begegnung mit unvorgreif lichen Ereignissen, unbekannten Situationen oder unbestimmten Objekten. In seinem pseudoplatonischen Dialog Eupalinos ou l’architecte (1921), dem Ralf Konersmann eine erhellende Lektüre gewidmet hat,1 schildert Paul Valéry eine solche Begebenheit. Der Fund eines rätselhaft unbestimmten Gegenstands, objet ambigu, wird zur Urszene der Genesis von Bedeutung aus dem Geist der Unbestimmbarkeit. Valérys Dialog lässt Sokrates, ins Gespräch mit Phaidros vertieft, am Ufer des Unterweltmeeres auf einen weißen Gegenstand (une certaine chose blanche) stoßen. Das Objekt widersetzt sich jedem Begriff, jeder Definition. Die bestimmende Urteilskraft kann ihn nicht fixieren; der ambige Gegenstand bleibt offen für unterschiedliche Perspektiven. Dabei besteht das Rätsel weniger in der Unbestimmbarkeit als in der unbestimmten Bestimmtheit des Gegenstandes. Denn sehr wohl ist das ambige Objekt unzweideutig handgreif lich: weiß, abgeschliffen, zart, leicht, faustgroß, hart. Nur deshalb kann seine Betrachtung, so schildert es Valéry, beständig zwischen Erkennen (connaître) und Konstruieren (construire) umschlagen. Einzelne Eigenschaften sind bestimmbar, nicht aber ihre Einheit – vielleicht, spekuliert V ­ alérys Sokrates, das »Bruchstück einer Muschel«. Nach einem solch zweideutigen Gegenstand lässt sich nicht suchen; man kann ihn allenfalls finden. Das objet ambigu ist ein objet trouvé und sein Fund so zufällig wie die natürlichen Kräfte, die an ihm wirkten. Das immerhin lässt sich von Sokrates’ ambiger Trouvaille wohl sagen: Eher mutet sie an wie ein bizarr Naturschönes denn wie ein künstlich geschaffener Gegenstand. Bleibt offen, wie es ins Meer kam, so war es doch der Hadesozean, der es ans Land warf. Allerdings gibt es ambige Objekte nicht nur als Naturschönes. Der Plastik, Skulptur und Installation der Gegenwartskunst sind mehrdeutige Situationen, ungewisse Erscheinungen und rätselhafte Objekte mindestens seit den ready mades Marcel Duchamps ein wohlvertrautes Thema. Die Spannbreite der ambigen Kunstobjekte reicht von artifiziellen Biofakten über biomorphe Formen hin zu morphoplastischen Gebilden. Die »Plastiken« des Künstlers Daniel Kuge (* 1984) – von ihm selbst als »Objekte«, nicht als »Skuplturen« verstanden – bilden in diesem Spektrum einen der 1 Vgl. Ralf Konersmann, »Stoff für Zweifel. Eine Lektüre Valérys«, in: ders., Kulturelle Tat-

sachen, Frankfurt / M. 2006, 267–289.

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äußeren Pole. Während Eduardo Kac aus genetisch veränderten Zellmassen ambige organische Kreaturen herstellt, Luca Trevisani in ungesteuerten chemischen Prozessen biomorphe Gefüge entstehen lässt, verharren die sterilen räumlichen Gebilde Daniel Kuges ausdrücklich nicht an der Grenze von Natur und Kultur, sondern siedeln ganz in der Sphäre des planvoll und künstlich Hervorgebrachten (vgl. Abb. 1). Alles Naturwüchsige ist von Kuges plastischen Objekten abgezogen. Sie sind befreit von den manuellen Spuren des Werkprozesses, wirken wie maschinelle Artefakte aus dem 3D-Drucker. In Wahrheit aber sind sie durch und durch handwerkliche Produkte, entsprungen einer konzeptionellen Strenge, materialen Präzision und formalen Konsequenz, über die man mit Valérys Sokrates sagen könnte: »Die größte Freiheit geht aus der größten Strenge hervor.« 2. Funktionslosigkeit Die Funktionslosigkeit der frühen ready mades war noch das Resultat einer Umfunktionierung: das Urinal als Exponat, das abmontierte Speichenrad als Ausstellungsstück. Das jeweilige Zeug wurde seiner Funktion als Gebrauchsding entfremdet und verlor den Charakter seiner Zuhandenheit. Urinal und Fahrrad waren benutzungsunf ähig geworden, hatten Tausch- und Gebrauchswert eingebüßt, aber im Gegenzug einen Ausstellungswert gewonnen. Ihnen wuchs eine sekundäre Funktion zu: Anstoß zu einer Erfahrung von Kunst zu werden; sei es durch Schock, Empörung oder Einsicht. Dass die Form der Funktion folge, war das Prinzip des Funktionalismus; dass die Funktion der Form folge, die des Formalismus. Beide Richtungen blieben, über die Mitte der Abstraktion vom ursprünglichen Zeugsein, an die Funktion gebunden. Dagegen simulieren Daniel Kuges Solitäre eine Funktionalität, die sie im nächsten Moment verweigern. Zu dieser Suggestion verhilft, wie etwa in dem Werk BMV2-G3WG1L-17 (2017) (Abb. 1), ihr Schweben zwischen Architektur, Skulptur und Bild. Man ist versucht zu fragen, ob es sich um ein Postament, ein Sockelgesims oder ein Kapitell handelt. Hat man es mit einem Baustein, einem technischen Prototyp, einer Stele oder einem Sarkophag zu tun? Rasch wird klar, dass keine Funktion, keine unzweideutige Bestimmung auszumachen ist. Stattdessen drängt sich die Materialität der Objekte auf. Sie lassen fragen, woraus sie bestehen, wie sie gemacht sind, warum sie diese Form gewannen. Motiviert scheint die Gestaltung vom physiognomischen Blick des Kindes. Die frühkindliche Begriffsstutzigkeit gegenüber einer scheinbar planvoll eingerichteten Alltagswelt heftet sich an selbstverständliche, aber rätselhaft unheimlich werdende Objekte: die Spurrille im Boden, die mechanischen Bewegungen einer Pumpe, die Steckdose in der Wand. Es ist das Erstaunen über Objekte, die von ihrer Heimeligkeit in die Unheimlichkeit kippen; vom Vertrauten ins Geheimnisvolle, vom Leichten ins Schwere – zuweilen auch umgekehrt. An solche Objekte heftet sich der morphosemiotische Blick des Kindes, um sich ebenso vertraute wie



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undurchsichtige Bild- und Körperschemen unserer Lebenswelt einzuprägen. Von diesem Staunen steckt etwas in Kuges materialen Objekten. Wie die meisten seiner dreidimensionalen Werke besteht auch BMV2-G3­W­ G1L-17 aus geschnittenen und verleimten MDF-Platten. Es gleicht zwar keinem der fünf idealen platonischen Körper (oder deren Verbindung). Doch auch die Gestalt von BMV2-G3WG1L-17 ist die eines regelmäßigen, symmetrischen Polyeders, genauer gesagt: eines Achtzehnflächners. Dieser Oktokaidekaeder trägt eine Farbe, der am ehesten vielleicht die Violettschattierung »maroon« nahekommt. Aber auch dies soll zuletzt im Unbestimmten bleiben. Den Eindruck größtmöglicher Unbestimmtheit zu erzeugen, erfordert die handwerkliche Präzision sowohl der Form- als auch der Farbgebung. Die »Plastik« ist unendlich fein geschliffen, ihre ausdrucksvolle, aber unbestimmt bleibende Farbe in zahlreichen Schichten aufgespachtelt. Auch sie wird derart homogenisiert, dass so wenig Arbeits- und Spachtelspuren erkennbar sind wie an Kuges Bildern Pinselspuren. Kuges Objekte, die nicht aus störrischem Stein gemeißelt, sondern aus kantigen Platten gefügt sind, verleugnen an jeder Stelle ihren Herstellungs- und Formwerdungsprozess. Es ist, als wollten sie einfach nur da sein: funktionslos, kontextlos, zeitlos. Der Zug dieses umgebungslosen Daseins verleiht Kuges Arbeiten ihre eigentümliche Ruhe. Sie wirken wie Solitäre und sie scheinen wie Monolithen. Als Solitäre verweigern sie sich dem Musealen: sie dulden eigentlich keine anderen Exponate neben sich; als Monolithe stehen sie gelassen im Raum wie künstliche Findlinge. Entsprechend verbindet sich in den Skulpturen das Prototypische der Form mit dem Archetypischen eines Überzeitlichkeitsgefühls. Die Gebilde wirken der Zeit entrückt – nur weiß man nicht recht, ob sie aus der Gegenwart in die Archaik gefallen oder ob sie aus dem Jetzt ins Futur gesprungen sind. Das gibt ihrer Form den Gestus der Absolutheit; und der paradoxalen Gegenwärtigkeit. Zugleich ist ihnen das Kantige und Geordnete, das Harte und Abgrenzende anzusehen. Auch die Farben sind im Wortsinn abstrakt: Sie setzen sich ab von den reinen Farben und sie lösen sich ab von der Farbgebung sowohl der Natur- als auch der Alltagsgegenstände. Form und Farbe sind bis ins Letzte durchdacht, entworfen, gemacht. Indem sich, ganz wie in BMV2-G3WG1L-17, Form und Farbe absolut setzen, verdrängen Kuges geometrische Gebilde zugleich die Subjektivität des Künstlers. Sie tritt zurück, verschwindet in der Autonomie des Werks. Anders jedoch als in den formalen Abstraktionen der Aleatorik oder als im reduzierten Dezisionismus der Konzeptkunst, in denen die Subjektivität der hervorbringenden Ursache (der Künstlerin, des Künstlers) ganz zugunsten der Formal- und Materialursachen getilgt wird, stellt BMV2-G3WG1L-17 den Rest künstlerischer Subjektivität, den die Objektivität des Werks verdrängt, selbst noch einmal in dessen materialer Bestimmt­heit und in seinem codierten Namenstitel aus.

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3. Namenlosigkeit Denn was hat es mit dem Titel auf sich; was meint BMV2-G3WG1L-17? Der Name des Oktokaidekaeders erschließt sich dem Einblick in den Chiffrencharakter seines Produziertseins. Entsprechend hat auch der Code die Materialität des Werks zum Prinzip: Medium, Technik, Größe, Zeit. Wer die Werke auf ihr Entstehungsdatum durchsieht (z. B. BMV1-G3UR2H-17, 2017, oder auch BMV1-G3MM1B-18, 2018), erkennt rasch das Prinzip der Ziffern hinter dem letzten Bindestrich: ein Kürzel des Entstehungsjahres. So auch bei BMV2-G3WG1L-17 (2017). Der Rest ist komplexer. Die Ziffernreihe vor dem ersten Bindestreich chiffriert die Gattung (»Bildhauerisches«), das Material (MDF), die Technik (verleimt, gespachtelt) sowie eine interne Größenklassifizierung des Objekts. Die mittlere Ziffernreihe nennen Dreidimensionalität, Kürzel eines Arbeitstitels (WG für »Waggon«), Häufigkeit des Werkversuchs und Farbschattierung. Alles genau bestimmbar. Die Titel der »Skulpturen« und Bildwerke Daniel Kuges lassen sich also dekodieren. In Wahrheit aber verdecken die Titel nur ihre Namenlosigkeit. Den Künstler interessiert das Unbenennbare. Indem die abstrakten Titel kein Sujet, sondern formale Bestimmungen, keine Intention, sondern Materialursachen, keinen Sinn, sondern ein Sein benennen, fingieren sie den Namen der Werke mehr als dass sie sie beim Namen nennten. Anders als Namen, deren Bezug unbestimmt ist und nur durch einen Taufakt fixiert werden kann, referieren die Titel zwar auf Konkretes, verstärken aber im selben Moment die Namen- und Benennungslosigkeit des Ganzen. Darin liegt eine sachliche Konsequenz: Jeder andere Titel drohte dem Gegenstand einen Sinn abzupressen oder aufzudrängen. An die Stelle der Ambiguität des Objekts träte Eindeutigkeit. Kuges Arbeiten wollen aber keinen Sinn ergeben, sondern Bedeutung haben. Ihre Bedeutung jedoch ist keine andere als das mehrdeutige Sichselbstbedeuten des Gegenstandes. Es steht nicht für anderes und repräsentiert nichts, was außerhalb seiner selbst läge. Es bezieht sich auf nichts, was schon da wäre. Die Autosemantizität des ambigen Objekts bezeugt seinen ­A nspruch auf Autonomie. In seinem Nichts-anderes-als-sich-selbst-bedeuten liegt die eigentümliche Evidenz von BMV2-G3WG1L-17. An Kuges dreidimensionalen Objekten kommt deshalb ein ähnliches Motiv zum Vorschein wie in seinen abstrakten ›Tafelbildern‹ (z. B. MPM2-G37Z2L-16, 2016). Während viele von ihnen eine Dreidimensionalität antäuschen, die in den plastischen Objekten real wird, so beruht ihr Sichselbst-bedeuten gleichermaßen auf dem Zusammenfall von Bildträger, Bildsujet und Bilderscheinung. Deshalb gehen Plastik und Tafelbild ineinander über. Beide bestehen in Kuges Kunst aus besonderen shaped canvasses. Das Bildsujet ist nichts anderes als der Bildträger selbst und an diesem kommt gar nichts anderes zur Ansicht als die Bilderscheinung. Die Differenz von Architektur, Skulptur und Tafel­ bild verwischt, Darstellung, Dargestelltes und Darstellendes fallen in eins. Die Titel der Werke zeigen dies an. Sie erinnern eben jene Arbeit des Begriffs (Konzeption) und jene Arbeit am Material (Handwerk), deren Spuren in der scheinbar



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maschinellen Präzision der Objekte so gut wie getilgt wurde. Die Titelchiffren der Werke lassen, kodiert, jene Materialbearbeitungsprozesse sehen, die unsichtbar gemacht wurden. Es liegt nahe, dem Namenlosen, Numinosen, Unnennbaren einen sakralen Sinn zu unterstellen. Numinosität ist, einer berühmten Deutung zufolge, Charakterzug alles Heiligen. Doch scheint BMV2-G3WG1L-17 ebenso wenig ein Kultgegenstand zu sein wie das objet ambigu, das Valérys Sokrates am Ufer fand – am Ufer der Totenwelt allerdings. Während ein Naturgegenstand nur durch die bewusste Übertragung von Statusfunktionen nachträglich zu einem sakralen Objekt werden kann (etwa als Reliquie), mag Kunstgegenständen von Anbeginn solch übersinnliche Bedeutung zugeschrieben sein. Auch BMV2-G3WG1L-17 lässt sich zumindest der Schein von Sakralität nicht rundweg absprechen. Dazu sind die Mehrdeutigkeiten und Andeutungen zu stark. Blickt man erst einmal mit solchen Assoziationen auf den Gegenstand, so beginnt er zwischen dem Eindruck von Profanität und Sakralität zu schweben. Seine Autarkie, Autosemantik und Autonomie machen BMV2-G3WG1L-17 ergreifend ambig: vielleicht ein profanes, funktionsloses Kunstding, vielleicht aber auch ein sinnlich-übersinnliches Kultding; vielleicht Sarkophag, vielleicht Opferaltar, vielleicht Waggon? Modern ist BMV2G3WG1L-17 wohl auch darin, dass es uns ein Licht über diese Differenz aufsteckt: Kunst und Kult sind nicht mehr eins, aber auch nicht säuberlich zu trennen. 4. Unnatürlichkeit BMV2-G3WG1L-17 hat seine eigene Natürlichkeit, aber nichts Natürliches. Wenn man die überwundene Unterscheidung von Kunst- und Naturschönem zugrunde legen wollte, so weben Kuges Arbeiten nicht einmal an dem Schein des Naturschönen, den sich die biofaktischen Prozesse Eduardo Kacs, die biomorphen Gebilde Luca Trevisanis oder die biologisch verrottenden Kollagen Wolf Vostells noch vindizieren konnten. Mag Adornos Ästhetische Theorie für eine Rehabilitierung jenes Naturschönen gesorgt haben, welches Hegels Ästhetik, hellhörig für die anbrechende Moderne, aus dem Bezirk der Kunst verbannt hatte, so hat doch Adorno weder die Differenz von Natur und Kunst erneut befestigen noch beide wieder dem Schönen zuschlagen wollen. Mit dem Primat der nicht-mehr-schönen Künste und der Wiederanerkennung des Naturschönen im Horizont seiner allgegenwärtigen Zerstörung war zugleich der Charakterzug der Erhabenheit in die modernen Kunstwerke zurückgekehrt: the sublime is now. Daniel Kuges Arbeiten siedeln jenseits der Linien von Schönheit und Erhabenheit: le sublime est passé. Sie erheben weder den Anspruch auf das eine noch das andere. Die Unnatürlichkeit seiner ambigen Kunstobjekte ist zunächst eine Absage an Naturwüchsigkeit. Nichts an ihrer Gestaltung ist dem Zufall überlassen; nichts entsteht aus sich heraus oder von sich her. Nichts geht natürlicherweise in anderes über. Kein zureichender Grund ihrer Existenz könnte auch ein anderer gewe-

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Dirk Westerkamp

Daniel Kuge, SB2-KB12-15, 2015.

sen sein. Tatsachenwahrheiten sind Skulpturen wie BMV2-G3WG1L-17 nicht als natür­liche, sondern nur als kulturelle Tatsachen. In der Wahl der Materialien dokumentiert sich zweitens Naturlosigkeit. Natürliche Materialien (Holz, Stein, Erde) fehlen, auch die Farbgebung orientiert sich nicht an Naturfarbigkeit, sondern an der Imitation industrieller Massenproduktion. Unnatürlichkeit ist allerdings kein Dogma: Kuges Werkgegenstand SB2-KB12-15 (2015) (Abb. 2) bezeugt noch die Reminiszenz des Natürlichen. Der Bronzeklumpen wirkt wie ein Relikt aus der anorganischen Frühe der Erdgeschichte. Seine geologische Rohheit und geometrische Ungestaltheit scheinen sich von ihrer durch und durch menschengemachten künstlichen Umwelt abzuheben. Doch auch diese Differenz ist bloßer Schein. Die saubere Schnittkante der beiden Teile lässt die Gemachtheit auch ihres Ganzen erahnen. Auch das erdgeschichtliche Relikt ist in Wahrheit künstlerisches Artefakt. Unnatürlichkeit fällt in diesen Arbeiten zusammen mit natürlich wirkender Künstlichkeit. Nichts ist geworden, sondern alles gemacht; nichts ist dem Zufall überlassen, sondern gehorcht einem Ausführungsplan; nichts bleibt ungestalt, sondern wird durchgearbeitet. Das fein Gearbeitete, aber Funktionslose weckt heute, da in der Kunst Dysfunktionalität zum guten Ton gehört, den Verdacht des l’art pour l’art. Vor dem allzu angenehm Dekorativen dieser Objekte, die gut in jedes repräsentative Foyer zu passen scheinen, schützt ihre Sprödheit, Widerständigkeit, Ambivalenz. Wer weiß, dass ein größerer metallener Oktokaidekaeder Kuges in einer Wolfsburger Ausstellung als Mahnmal der NS-Zwangsarbeit diente (vgl. BMS2-G3WS1M-18, 2018), der bekommt die Assoziation des Waggons nicht mehr aus dem Kopf. BMV2-



Ambige Objekte

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G3WG1L-17 legt uns nicht auf diesen Gedanken fest; aber es kann uns auch nicht mehr von der Assoziation eines Deportationswaggons befreien. Darin besteht das Kippmoment ins Unheimliche, das Kuges Werke von der Selbstgenügsamkeit des l’art pour l’art trennt: vielleicht ein entsetzlich profaner Gegenstand, letzte Station zusammengetriebener homines sacri. Weit davon entfernt, simple Gegenwartsdiagnosen oder gar Thesenstücke zu sein, lassen Kuges Arbeiten jenen Urgrund der Gewalt erahnen, auf dem sich, vermeintlich unschuldig, alle schöne Kultur erhebt. So entlassen die Objekte in eine nicht zu verscheuchende Suche nach Auskunft. In einer letzten Gebärde begriff licher Ratlosigkeit schleudert Valérys Sokrates das objet ambigu wieder ins Meer. Vielleicht kehrt es in den hadischen Naturzusammenhang zurück, dem es einmal entsprang. Die Begriffsstutzigkeit, mit der man den ambigen Gebilden Daniel Kuges begegnet, ruft keine ähnlich heftigen Reaktionsweisen hervor. Ihre unerhabene Zartheit weckt eher Schutzinstinkte. Alles an ihnen signalisiert, dass sie weder in eine immerseiende Unterwelt noch in eine ewige Überwelt gehören, sondern in die endliche Welt, in der die mensch­lichen Werke so vergehen wie diese selbst.

Blick in den Lichthof Süd des Museums für Abgüsse Klassischer Bildwerke München.

Ellen Harlizius-Klück

Penelopes Weberei und die Herausforderung des Konkreten Penelope ist die Gattin des berühmten griechischen Helden Odysseus. Siebzehn Jahre lang wartet sie auf die Rückkehr ihres Mannes aus dem Trojanischen Krieg, während Freier den Palast belagern. Jetzt wollen die Freier sie zwingen, sich für ­einen von ihnen zu entscheiden. Sie will erst noch ein Gewebe für ihren Schwiegervater fertigstellen und verspricht, sich dann festzulegen. Aber alles, was sie tagsüber webt, löst sie nachts wieder auf und verschafft sich – und Odysseus – dadurch Zeit. Mêtis nannten die Griechen diese Form pragmatischer Klugheit, die verwickelte Lagen durch geschicktes, manchmal unbemerktes Aufdröseln in die gewünschte Richtung lenkt, anstatt sie wie den gordischen Knoten zu durchschlagen. Auch Penelopes List bleibt lange unbemerkt, bis schließlich eine Dienerin sie an die Freier verrät. In der späteren Überlieferung wird Penelope zum Sinnbild der treuen Gattin, die sich in der Abgeschlossenheit ihres Frauengemachs weiblichen Handarbeiten widmet – Sinnbild eines heute überholten Bildes von Weiblichkeit. Der Statuentypus der trauernden Penelope war in der Antike sehr beliebt; aber keine der zahlreichen Statuen ist vollständig erhalten. Das Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke in München stellte sich der Aufgabe, aus den erhaltenen Fragmenten verschiedener Statuen eine einheitliche Figur zu rekonstruieren.1 Die Abbildung zeigt die sogenannte Münchener Penelope vor einer der sechzehn Säulen des südlichen Atriums. Sie sitzt auf einem Schemel, unter dem ein Wollkorb steht, und stützt den Kopf auf die rechte Hand, die eine Art von Spindel hält. Das große Stoff banner im Hintergrund des Fotos zeigt eine stark vergrößerte Zeichnung einer antiken Vase, den berühmten Skyphos Chiusi. Für Diana Buitron-Oliver und Beth Cohen bezieht sich die Abbildung auf dem Skyphos nicht auf eine spezifische Episode der Odyssee, weil es dort keine Begegnung von Telemach und Penelope in den Frauengemächern gebe.2 Dennoch werden Penelope und ihr Sohn Telemach vor einem antiken Webstuhl gezeigt, auf dem ein Gewebe mit Figuren und Ornamenten zu sehen ist. Zu dieser Darstellung schrieb der Althistoriker Hugo Blümner in seiner antiken Technikgeschichte, ein derartiges Gewebe sei auf 1 Penelope rekonstruiert: Geschichte und Deutung einer Frauenfigur, hrsg. von Inge Kader, München 2006. 2 Diana Buitron-Oliver / Beth Cohen, »Between Skylla and Penelope: Female Characters of the Odyssey in Archaic and Classical Greek Art«, in: The Distaff Side: Representing the Female in Homer’s Odyssey, hrsg. von Beth Cohen, New York  /  O xford 1995, 29–58, hier: 44.

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dem dargestellten primitiven Webstuhl nicht herstellbar,3 wodurch die bildliche Darstellung auf die Leistung des Vasenmalers zurückzuführen wäre. Der im Vordergrund des Bildes platzierte reale Gewichtswebstuhl und das d­ arauf begonnene Gewebe widersprechen dieser Einschätzung. Außerdem passt die Aufstellung von Statue und Webstuhl in einer offenen und öffentlich zugänglichen Halle nicht zur Idee des privaten Raumes, in den sich die Frau zurückzieht, um über die Handarbeit gebeugt zu trauern. Es ist, als ob die konkreten Bedingungen moderner Museumspräsentation, bei der die Objekte aus ihrem Kontext gelöst werden, die konkreten Bedingungen der historischen Situation konterkarierten: das Gewebe erweist sich nicht nur als machbar, sondern sogar als höchst komplexe Konstruktion; die trauernde Penelope sitzt mit ihrer Spindel in einer großen Halle, und das ganze Setting suggeriert, dass eine Begegnung mit Telemach hier durchaus stattgefunden haben könnte. Doch welche konkrete Situation entspricht den Quellen? Wie werden diese im Hinblick auf Penelope und ihre Orte im Palast interpretiert? In einem derzeit recht erfolgreichen Buch über Frauen und Macht benutzt Mary Beard die Abbildung vom Skyphos Chiusi als Illustration des »ersten Beispiel[s] ­eines Mannes, der einer Frau sagt, sie solle ›den Mund halten‹; der ihr sagt, dass ihre Stimme in der Öffentlichkeit zu schweigen habe«.4 Diese öffentliche Stimme oder autoritative öffentliche Rede macht sie an dem griechischen Wort mythos für Rede fest, das in dem von ihr verwendeten Zitat aus Homers Odyssee verwendet wird. Telemach spricht dort: »Du aber, gehe ins Haus und besorge die eignen Geschäfte, / Spindel und Webstuhl […] die Rede ist Sache der Männer, / Aller, vor allem die meine! Denn mein ist die Macht hier im Hause.«5 Penelopes Weblist wird an drei Stellen in der Odyssee erwähnt. In Buch 2 (2.85–110) entlarvt Antinoos, einer der Freier, Penelopes List in der Versammlung der Ithaker und fordert von Telemach, dass er seine Mutter zurückschickt ins Haus ihres Vaters, damit die Hochzeit vorbereitet werden kann. (Offensichtlich ist dies nicht möglich, solange Penelope im Palast weilt, da sie den Mägden und Dienern vorsteht.) Telemach weist dieses Ansinnen zurück. Als zwei Adler über den Platz fliegen, verkündet ein Seher, dass Odysseus bald heimkehren werde. Darauf hin bekräftigt und wiederholt Eurymachos, ein anderer Freier, die Rede des Antinoos und fordert die Ausrichtung der Hochzeit. Stattdessen fordert Telemach von der Versammlung ein Schiff und Gefährten, um seinen Vater zu suchen. Die Männer aber trauen Telemach diese Unternehmung nicht zu. Er erntet Spott und die Versammlung wird beendet. Athene unterstützt ihn und beide bereiten heimlich die Reise vor. Später hört Penelope von Tele3 Hugo Blümner, Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste bei Griechen und Römern, Hildesheim 1912, 158. 4 Mary Beard, Frauen und Macht: Ein Manifest, Frankfurt / M. 2018, 13. Im Untertitel der Abbildung heißt es: »[D]as Weben war immer das Markenzeichen einer guten griechischen Hausfrau« – eine Formulierung, die selbst nicht gerade Wertschätzung ausdrückt. 5 Ebd., 14.



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machs Schiffsreise, ist verzweifelt und beklagt schon den Verlust ihres Sohnes. Als dieser zurückkehrt und nach einem Bad mit seinem Gefährten in der Palasthalle speist, setzt sich Penelope an eine Säule und spinnt. Dabei fordert sie ihn auf, von seiner Reise zu berichten. Diese Rede der Penelope wird ausdrücklich als mythos bezeichnet und außerdem in der großen Halle gehalten, wo sie ihre Textilarbeiten ausführt. Antinoos sagt nämlich auf der Versammlung, Penelope habe den Webstuhl im megaron, also in der großen Halle aufgebaut (2.94). Dies stimmt auch mit den Worten Penelopes im Buch 19 (139–140) sowie mit dem Bericht der Seele des Amphímedon in der Unterwelt in Buch 24 überein (128–146). Es gibt also eine Begegnung von Telemach und Penelope vielleicht sogar vor dem Webstuhl, aber eben nicht in einem separaten Frauengemach. Dennoch scheint diese Vorstellung zum festen Bestandteil des antiken Frauenbildes zu gehören.6 Zur Darstellung von Telemach und Penelope vor dem Webstuhl auf dem Skyphos Chiusi schreibt Stansbury-O’Donnell, es sei leicht, den dargestellten Raum als einen Bereich des Hauses aufzufassen, der sich in beträchtlicher Entfernung sowohl vom Eingang des Hauses als auch vom andron befindet, wo die Freier essen und trinken. Er ordnet dennoch dem Bild die Szene nach der Rückkehr Telemachs von Pylos zu, als dieser, frisch gebadet, Penelope Bericht erstattet, nachdem sie, so Stansbury-O’Donnell, Rocken und Wolle beiseitegelegt hat (Od.  17.96–108).7 Tatsächlich beschreibt Homer genau hier, dass sich Penelope im megaron vor eine Säule setzt und spinnt (17.96–97). Die Bezeichnung als andron findet sich in der Odyssee dagegen nicht. Erich Kistler hat im Zusammenhang mit der Geschichte vom Gelage darauf hingewiesen, dass es eine »Entwicklung von einer Megaronkultur mit Ehefrau zu einer Andronkultur ohne Ehefrau« gab.8 Noch im 7. Jhd. v. Chr. dominiere das Ideal der ›schönen Gastgeberin‹ und ›kundigen Tuchherstellerin‹, wie es in den homerischen Epen beschrieben werde. Erst die Herausbildung von geschichteten Bürgergesellschaften führe zu einem Ausschluss der Ehefrau aus dem sozialen Raum des Banketts.9 Kistler spricht in diesem Zusammenhang von einem »Schauakt der Produktion besonders prächtiger Tuche«,10 der zu den Aufgaben der Hausherrin und Gast­ geberin gehöre und ohne den die Praxis der Netzwerkbildung durch Gastrecht  6 Vgl. Beate Wagner-Hasel, »Frauenleben in orientalischer Abgeschlossenheit? Zur Geschichte und Nutzanwendung eines Topos«, in: Der altsprachliche Unterricht 2/32 (1989), 18–29.  7 Mark Stansbury-O’Donnell, »Composition and Narrarive on Skyphoi of the Penelope Painter«, in: Approaching the Ancient Artifact. Representation, Narrative, and Function, hrsg. von Amalia Avramidou und Denise Demetriou, Berlin  /  Boston 2014, 373–383, hier: 379.  8 Erich Kistler, »Ehefrauen im Megaron, aber keine im Andron! Ranghohe Frauen beim Bankett im vor- und früharchaischen Griechenland«, in: Gender Studies in den Altertumswissenschaften: Räume und Geschlechter in der Antike, hrsg. von Henriette Harich-Schwarzbauer und Thomas Späth, Trier 2005, 15–36, hier: 16.  9 Vgl. ebd., 16–17. 10 Ebd., 20.

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und Gabentausch in der homerischen Welt nicht aufrecht erhalten werden ­könne.11 Er kann sich dabei auf mehrere archäologische Befunde für Webgewichte und Spinnwirteln im Megaron beziehen, z. B. in einer Palastanlage im kleinasiatischen Gordion oder in Prinias auf Kreta oder in Zagora auf Andros.12 Und Beate Wagner-Hasel, auf deren Arbeiten sich Kistler bezieht, hat ausführlich beschrieben, wie der Tausch von Textilien und metallenen Gegenständen die sozialen und poli­ tischen Beziehungen in einer Gesellschaft reguliert, wie sie in den homerischen Epen dargestellt ist.13 Demnach ist die Herrin des Hauses durch die Verfügungsgewalt über Gaben und Arbeitsleistungen »in einer besonderen Weise für die Männer attraktiv, die ohne Zugang zu den Textilarbeiten keinen Gast beherbergen, keine Freundschaften knüpfen und keine Bundesgenossen für ihre kriegerischen Unternehmungen gewinnen können«.14 Penelopes Weben wird von Kistler dennoch als Abweichung von der Megaronkultur aufgefasst. Für ihn ist klar, dass sie in Abwesenheit ihres Mannes nicht als ›schöne Gastgeberin‹ auf dem Bankett der täglich schmausenden Freier auftreten kann. Doch Kistler geht sogar noch weiter und behauptet, entgegen der dreimaligen Erwähnung von Penelopes Webstuhl im megaron: »Mit gutem Grund versucht daher Penelope soweit irgend möglich, das Festtreiben der Freier im Megaron ihres Mannes zu meiden, weshalb sie auch ihren Stoff- und Webdienst nicht wie ­üblich im Bankettsaal bei den Gästen, sondern fern von diesen, im nicht frei zugäng­lichen Obergeschoss des Hauses versieht.«15 In einer Replik auf Beards Behandlung des Themas schreibt dagegen WagnerHasel: »Im megaron, […] empfängt Penelope den als Bettler verkleideten Odysseus (Homer, Odyssee, 17,569) […]; im megaron drehen sie und andere ranghohe Frauen Fäden auf der Spindel (Homer, Odyssee 4,134–136; 17,96)«.16 Und: Im megaron stellt sie ihren Webstuhl auf. »Penelopes ›Wohnzimmer‹, das zugleich ihr ›Arbeits- und Empfangszimmer‹ ist, ist das megaron, das Mary Beard irrigerweise zur männlichen Öffentlichkeit stilisiert hat.«17 Bei den Worten, die Telemach an seine Mutter richtet und die für unsere Ohren so befremdlich klingen, handelt es sich, wie Wagner-Hasel bemerkt, um eine Wendung, die schon in der Ilias benutzt wird. Matthew Clark, der einen ganzen Artikel der Frage widmet, ob Telemach mit diesen Worten zu seiner Mutter unverschämt war, kommt ebenso zu dem Schluss, dass mythos keine typisch männliche 11 Ebd., 21. Ausführlicher zu Gastrecht und Gabentausch vgl. Beate Wagner-Hasel, Der Stoff der Gaben. Kultur und Politik des Schenkens und Tauschens im archaischen Griechenland, Frankfurt / M. 2000. 12 Kistler, »Ehefrauen im Megaron«, 25–26. 13 Vgl. Wagner-Hasel, Der Stoff der Gaben. 14 Wagner-Hasel, »Frauenleben in orientalischer Abgeschlossenheit?«, 27. 15 Kistler, »Ehefrauen im Megaron«, 22. 16 Wagner-Hasel, »Penelopes Wohnzimmer. Polemische Anmerkungen zu Mary Beards ›Frauen & Macht‹«, in: Historische Anthropologie: Kultur – Gesellschaft – Alltag 3/26 (2018), 414–421, hier: 419. 17 Ebd.



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Rede bezeichnet.18 Laut Clark hält Penelope sogar die größte Zahl von mythosReden aller Frauen.19 Trotzdem verf ällt auch Clark der Vorstellung, dass diese Beteiligung von Frauen andeute, dass der mythos nun nicht mehr die autoritative Rede der Helden sei, sondern auch auf das private und intime Sprechen angewendet werde. Die Darstellung auf dem Skyphos Chiusi muss immer wieder als Beleg für die Trennung von männlicher und weiblicher Sphäre herhalten. Selbst jenes Element, das Telemach und Penelope umfängt, nämlich der Webstuhl, wurde zum Emblem einer strikten Geschlechtertrennung. Reyes Bertolín argumentiert, dass das griechische Wort für den Webstuhl und den Mast, histos, eine Trennung von männlicher und weiblicher Sphäre bezeichne, die mit der allgemeineren räumlichen Trennung von männlichem Außenraum und weiblichem Innenraum zusammenfalle.20 Dies sei eine spezifische Eigenschaft des griechischen Wortes histos, da man in modernen Sprachen niemals für zwei völlig beziehungslose Gegenstände das gleiche Wort verwenden würde.21 Die Vorstellung, das Segel am Mast habe keinerlei Bezug zum Gewebe am Webstuhl, ist merkwürdig, da ja schließlich jedes Segel einmal auf einem Webstuhl hergestellt wurde und dort ähnlich befestigt war wie später an Mast und Rah des Schiffes. Marie-Louise Nosch hat kürzlich gezeigt, wie die Technologie des Schiffsbaus mit der Textilarbeit zusammenhängt, welche Formen und Techniken sie gemeinsam haben und wie weitgehend sich die Terminologie überschneidet.22 Viel eher als auf getrennte Rede-Räume verweist das Bild vom Skyphos auf die Aktionsräume von Schifffahrt und Hausverwaltung (oikos), die durch den Zusammenfall von Segel und Gewebe sowie Mast / Speere und Webstuhl einen gemeinsamen Hintergrund für Telemach und Penelope bilden. Anstatt den Webstuhl als Indiz für eine untergeordnete weibliche Sphäre zu lesen, sehe ich ihn als konzeptionellen Rahmen für die Zusammenfügung von zwei komplementären Bereichen. Gerade der Webstuhl, der histos, ist für die Markierung dieser Schnittstelle gut geeignet, und mit den Speeren, die Telemach im Bild genau in der Mitte des Gewebes aufrichtet, also genau dort, wo der Mast mit dem oberen Querbalken das Segel trägt, markiert er nicht nur den exakten Schnittpunkt der entsprechenden Geräte, sondern teilt auch den Bereich, der sowohl ihn als auch Penelope umfasst, in zwei gleiche Hälften. Das Wissen um die 18 Matthew Clark, »Was Telemachus Rude to his Mother? Odyssey 1.356–359«, in: Classical Philology 96/4 (2001), 335–354. 19 Ebd., 349. 20 Reyes Bertolín, »The Mast and the Loom: Signifiers of Separation and Authority«, in: Phoenix 62/1-2 (2008), 92–108, hier: 92. 21 Ebd., Fußnote 2: »Obviously, in modern languages we construct reality in a different way, since we need to use two different words for objects that for us also seem totally unrelated.« 22 Marie-Louise Nosch, »The Loom and the Ship in Ancient Greece: Shared knowledge, shared terminology, cross-crafts, or cognitive maritime-textile archaelogy?«, in: Weben und Gewebe in der Antike: Texts and Textiles in the Ancient World, hrsg. von Henriette Harich-Schwarzbauer, Oxford  /  Philadelphia 2016, 109–132.

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Verkreuzung und Verflechtung von Kette und Schuss im gewebten Hintergrund unterstreicht diese strukturelle Verbindung, diese Fügung, die die Griechen mit dem Wort harmonia bezeichnen. Das Bild auf dem Skyphos ist also gerade keine Illustration des Mythos der Penelope als ins Private, Unsichtbare und Verschwiegene verwiesene Frau; und die Präsentation der Statue der Penelope, die die Arbeit des Spinnens unterbricht, vor der Säule der südlichen Halle des Museums ist ebenso keine Aufstellung, die der modernen Ausstellungspraxis geschuldet ist. Sie verweist stattdessen auf die Szene in der großen Halle, bei der Telemach Penelope von seiner Reise berichtet.

Meret Oppenheim, Wolke auf Brücke, 1963.

Christine Blättler

Wolkenzauber Tritt die Wolke als Metapher auf, hat sie einen schweren Stand. Substanzverliebte Griechen bezichtigten die Sophisten der wolkigen Rede und suchten sie aus der Philosophie auszugrenzen;1 bis heute genießt Rhetorik im Fach einen zwiespältigen Ruf. Ein wolkiger Gegenstand stellt auch eine epistemologische Herausforderung dar, und weist nicht bereits die Ausdrucksweise auf ein so obskures wie verworrenes Objekt hin? Auf Wolken wird denn ebenfalls gerne rekurriert, um Einspruch gegen das von René Descartes formulierte rationalistische Erkenntnisparadigma von clare et distincte zu erheben. Wolken gelten dann als seltsame Objekte, die von Unterscheidungen gekennzeichnet seien, die alle Unterscheidungen unterlaufen, sie werden zum Paradigma eines »Halbdings«2 erkoren und zu einem »ontologischen Sonderfall« erklärt. Dies wird dadurch gerechtfertigt, dass Wolken zwar einen einheitlichen Eindruck vermitteln, aber einen Zusammenhang aus lauter einzelnen Teilchen formen, die ständig in Bewegung sind und lose, flüchtige sowie dauernd wandelbare Gebilde erzeugen. Die daran gehefteten Diskussionen machen dieses fuzzy object zu einem geradezu idealen interdisziplinären Studien­objekt, das es erlaubt, in ausgreifenden Erzählungen Bögen von der altgriechischen Mythologie und Naturphilosophie bis in die Gegenwart der digitalen cloud zu spannen. Derartige Assoziationen mögen unmittelbar einnehmen, doch ihre Stoßrichtung wirft Probleme auf. Indem sie ganz auf eine irrationale Wolkenunschärfe abheben und diese als Gegenparadigma zu einseitig auf klärerischer, nämlich wolkenloser und von gleißendem Licht gekennzeichneter Rationalität einsetzen,3 perpetuieren sie genau deren binäre Struktur, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Theoriendynamisch betrachtet hat man es hier mit einer Verfestigung, ja Kanonisierung zu tun, die polemische Vorstöße, die sich Mythos gewordener Rationalität entgegenstellen, ihrerseits verabsolutieren. Vielversprechender ist es, die damit angezeigten Spannungen über eine »doppelte Bewegung«4 in den Blick zu nehmen.

1 Vgl. Aristophanes, Die Wolken und Die Vögel; Barbara Cassin, L’effet sophistique, Paris 1995. 2 »Editorial«, in: Wolken. Archiv für Mediengeschichte 1/2005, hrsg. von Lorenz Engell, Bern-

hard Siegert und Joseph Vogl, Weimar 2005, 5–8, 5. 3 Siehe dazu Claus Michael Schlesinger, Aufklärung und Bewölkung. Poetik der Meteore, Göttingen 2018. 4 Vgl. Les nuages. Du tournant des lumières au crépuscule du romantisme (1760–1880), hrsg. von Pierre Glaudes und Anouchka Vasak, Paris 2017.

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Descartes’ Wolken Rationalitätskritiker kaprizieren sich auf Wolken, um Descartes’ methodologischer Forderung ein alternatives Paradigma entgegenzuhalten. Dabei übersehen sie nicht nur die literarische Form, sondern vor allem die Tatsache, dass sich der bekannte Discours gerade auch an diesen ominösen Gegenständen entzündet hat und als Einleitung zu drei Essays konzipiert war, die ihrerseits die methodologischen Überlegungen mit Beispielen vorführen und stützen sollten. In den meisten Ausgaben von Descartes’ kanonischer Schrift fehlen allerdings diese ausgesprochen explorativen Texte zu Dioptrik, Meteorologie und Geometrie. Dabei sind gerade Die Meteore »ein zentraler und aufregender Text frühneuzeitlicher Naturphilosophie«.5 Seit Aristoteles’ Meteorologie dienten Meteore als Sammelname für alle über der Erde und in der Luft sich in der Schwebe zwischen Mond und Erde befindlichen Phänomene. Während die Bahnen der Planeten berechenbar waren und in den Bereich der Astronomie fielen, galten die meteorologischen Phänomene zwar als natürlich verursacht, doch aufgrund ihrer äußerst unregelmäßigen Bewegungen, ihres unvorhersehbaren Auftretens und der Komplexität ihrer Prozesse als weder berechenbar noch in allgemeinen Gesetzen formulierbar. Das machte sie Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte nicht nur verdächtig, sie wurden geradezu daraus verdrängt.6 Für die wissenschaftliche Forschung selbst bildete die Meteorologie jedoch »von der Antike bis weit in die Frühe Neuzeit hinein das Experimentierfeld für neue wissenschaftliche Erklärungsansätze und -modelle«.7 Über genaue Beobachtungen, Erfahrungsberichte und präzise Beschreibungen konnten plausible Hypothesen und Prognosen über Entstehung und Verhalten aufgestellt werden. Meteorologische Phänomene mochten zunächst als dunkle und verworrene wahrgenommen werden, sie wurden jedoch nicht entsprechend klassifiziert und schon gar nicht ontologisch darauf fixiert. Vielmehr konfrontierten sie die Naturphilosophen und Wissenschaftler mit besonderen theoretischen wie praktischen Herausforderungen. Darüber hinaus gehörten sie einem lebensweltlich relevanten und ausgesprochen numinos besetzten Bereich an. Descartes übernahm die terminologische Unterscheidung in eine supra- und sublunare Sphäre und legte eine neue Meteorologie vor, die mit dem aristotelischen Ansatz brach. Anstatt auf Substanzen und Akzidentien zu rekurrieren, tätigte Descartes viele und genaue Beobachtungen, berücksichtigte Erfahrungsberichte von Seefahrern, führte Experimente 5 René Descartes, Les Météores  /  D ie Meteore [1637], hrsg. von Claus Zittel, Frankfurt / M.

2006, Buchumschlag. Es handelt sich um die erste deutsche Übersetzung dieser Schrift. Hier folge ich weitgehend der Darstellung von Zittel; vgl. Zittel, »Einleitung«, in: Descartes, Les Météores  /  D ie Meteore, 1–28. Michel Serres, einer der wenigen Philosophen, der den Discours inklusive der Essays herausgab, ist nicht zuf ällig auch als Wolkenliebhaber in Erscheinung getreten. 6 Vgl. Michel Serres, La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce. Fleuves et turbulences, Paris 1977, 85. 7 Zittel, »Einleitung«, 2.

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aus und fertigte Zeichnungen an. Auf dieser Grundlage erklärte er die meteorologischen Phänomene hypothetisch mit Gestalten und Bewegungen aus Materieteilchen. Er spielte verschiedene Kombinationen durch, malte sie sprachlich aus, versah sie mit zahlreichen Abbildungen und veranschaulichte sie in vielen Analogien und Metaphern.8 Die Meteorenschrift zeigt Descartes als genuinen Naturforscher, der undogmatisch, explorativ und multimedial versiert vorgeht, seine Überlegungen nicht in Form eines Lehrbuchs, sondern als Gespräch und Essay vorlegt und komplexe Gegenstände wie Wolken für epistemologisch besonders attraktiv hält. Wolkenmode Während Descartes im Zuge seiner Forschungen Wolkenzeichnungen anfertigte, erregten Wolken auch das besondere Interesse von Malern und Künstlerinnen. Seit der Renaissance sehen sie sich mit dem Problem ihrer Darstellbarkeit konfrontiert,9 wenn sie einen Himmel malen wollen, der nicht numinos bestimmt ist, sondern auf Naturbeobachtungen beruht. Wohl nicht zuf ällig lässt sich um 1800 eine »Mode des Wolkenmalens«10 feststellen. Diese »Nubomania«11 beschränkte sich keineswegs auf die Malerei und ist historisch in mehrfacher Hinsicht interessant. Zunächst ist der Himmel ohne Wolken schwerlich malbar. Dann zeugen in dieser ›Sattelzeit‹ gerade die gemalten Himmel davon, dass sie nicht einer programmatischen Gegenüberstellung von Licht vs. Dunkelheit folgen, wie man von der Terminologie her annehmen könnte und wie es oft genug behauptet wurde: helle Auf klärung vs. dunkle Romantik. Stattdessen wird besonders an den Wolken das Geschehen am Himmel als dynamischer Transformationsprozess beobachtbar. In der Himmelsbeobachtung musste das Naturstudium den Zusammenhang von Form und Zeit in der Materie viel rasanter und überraschender, dramatischer und im kosmischen Maßstab sinnlich wahrnehmbar und erfahrbar gemacht haben als etwa die Ontogenese eines Organismus, wie sie die entstehende Biologie der Zeit erforschte. Wolkenmetamorphosen mochten immer noch physiognomische Deutungen anregen, die der ›Episteme der Ähnlichkeit‹ gehorchen und beispielsweise nach Tiergestalten suchen ließen. Wissenschaftliche wie ästhetische Herangehensweisen schärften jedoch den Sinn für morphologische Prozesse, ja eine eigentümliche Dia­lektik von Gestaltung und Entstaltung. Wolken jedenfalls er 8 Vgl. Zittel, »Einleitung«, 9; zum Stellenwert von Bildern und Metaphern bei Descartes vgl. Zittel, Theatrum philosophicum. Descartes und die Rolle ästhetischer Formen in der Wissenschaft, Berlin 2009.  9 Vgl. Hubert Damisch, Théorie du nuage, Paris 1972; Wolkenbilder. Die Entdeckung des Himmels, hrsg. von Bärbel Hedinger, Inés Richter-Musso und Ortrud Westheider, München 2004 (Ausstellungskatalog Bucerius Kunst Forum Hamburg  /  Nationalgalerie Berlin). 10 Inés Richter-Musso, »Die Wolke als Lehrmeisterin der Malerei in Rom um 1800. Das Vermächtnis Valenciennes’«, in: Wolkenbilder, 48–55, hier: 55. 11 Werner Hofmann, »Wolkenthrone und Wolkendienste«, in: Wolkenbilder, 10–17, hier: 15.

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regten Goethes morphologischen Spürsinn, wie bereits Wolkenzeichnungen von seiner zweiten Reise in die Schweiz 1779 belegen, zu einem Zeitpunkt, als Wolken noch nicht fixiert und klassifiziert wurden. Erst die Abhandlung On the Modification of Clouds des Apothekers und Chemikers Luke Howard hat 1803 die Wolken als sortierbare Gegenstände ›erfunden‹.12 Die von Howard aufgestellte und bis heute grundlegende Nomenklatur und Klassifikation hatte Goethe zu Gedichten von dessen Wolkentypen oder »Wolkengestaltungen« angeregt, zur tiefen Schichtwolke (Stratus), zu Haufenwolke (Cumulus), Federwolke (Cirrus) und Regenwolke (Nimbus), und sie ließ ihn »Wolkendiarien« in Serie führen. Howard schien ihm zu versprechen, »dem Formlosen Form, dem Gestaltlosen Gestalt«13 zu geben: er »[b]estimmt das Unbestimmte, schränkt es ein / Benennt es treffend!«14 Darüber hinaus vermochte Howards Typologie offenbar, Goethes intellektuelle Unruhe bezüglich dieser sich dauernd entziehenden Gegenstände einzuhegen. Zugleich schien sie sein spekulatives Verlangen nach einem harmonischen Verhältnis von Vielgestaltigkeit und Einheitlichkeit zu befriedigen. Diese Typologie offerierte Goethe die Möglichkeit, die Spannung zwischen dem stetig wandelbaren Wolkenschauspiel einerseits und wenigen Grundtypen andererseits im Konzept der Metamorphose aufzuheben. Derartige Spekulationen brauchten die Wolkenmaler nicht. In William Turners Gemälden findet die durch das Feuer angeheizte Veränderung menschlicher Arbeit im Zeitalter der Dampfmaschine nicht zuletzt auch in den von dieser produzierten Wolken ihren Ausdruck. Als Landschafts- und Meeresmaler auch ein großartiger Himmelsmaler, bezeichnet Michel Serres Turner als das »erste richtige Genie der Thermodynamik«.15 Dieser habe gesehen, wie sich Materie durch das Feuer transformiert, diese Materie malerisch dargestellt und damit »die entzündete Materie in die Kultur« eingeführt. An Turners Gemälden wird deutlich, wie die Malarbeit an den Wolken nicht nur von dem Versuch zeugt, diesen schwierigen Gegenstand »Wolke« darstellbar zu machen. Genauso gibt dieser Maler eine materielle Realität zu sehen und führt gerade damit, gleichsam als Realist16 vor Augen, wie das Malen von Wolken zu ungegenständlicher Malerei tendiert.17 Noch vor den neuen thermodynamischen Studien beschäftigt die Darstellung der wandelbaren Wirklichkeit Malerei und Philosophie, insbesondere die Konstellation von Turner und Hegel lässt auf horchen. Während der eine aus dem empirischen Naturstudium heraus auch die Himmelslandschaft malerisch verflüssigt, sucht der andere ange12 Vgl. Richard Hamblyn, The Invention of Clouds, London 2000. 13 Werner Busch, »Die Wolken: protestantisch und abstrakt. Theoretische und praktische

Empfehlungen zum Himmelmalen«, in: Wolkenbilder, 24–31, 25. 14 Goethe, »Howards Ehrengedächtnis« (1822), in: ders., Werke (Hamburger Ausgabe), Bd.  1, hrsg. von Erich Trunz, München 1981, 350–351, hier: 350. 15 Serres, Hermès III. La traduction, Paris 1974, 236. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Ortrud Westheider, »Wolken und Abstraktion. Ein Motiv verändert die Malerei. Von Blechen zu Mondrian«, in: Wolkenbilder, 216–225.

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sichts der in neuer transformativer Dynamik erfahrenen Realität das Denken zu verflüssigen und auf diese Art dem Einbruch der Zeit in die Philosophie gerecht zu werden. Die nach Naturgesetzen ablaufende und berechenbare »Pünktlichkeit der Sterne«18 langweilte Hegel geradezu, Sterne waren ihm ›dürftige‹ Gegenstände, ja »Licht-Ausschlag«19 und »leuchtende[r] Aussatz am Himmel«.20 Wolken hingegen faszinierten ihn. Äußerst wertschätzend bezieht er sich auf Goethes meteorologische Schriften und dessen Howard-Gedicht. Statt jedoch wie dieser die Bewegung von Gestaltung und Entstaltung im Konzept der Metamorphose zur Synthese zu bringen, findet Hegel im Prozess der Wolkenbildung eine negative Unruhe ausgedrückt: Auch die Wolkenbildung zeuge von einem »Konflikt«21 der Elemente Wasser, Luft, Feuer und Erde. Die meteorologischen Phänomene zählt er bezeichnenderweise zum ›Kometarischen‹, welches charakterisiert sei durch »unruhige[] Bewegung«, »Ausschweifung« als einer Tendenz, der herrschenden »Ordnung zu entfliehen«, »formale[] Freiheit«, ein »Treiben in die Zukunft«; durch »Wirbel«, »Wandel«, »Werden[]« und »Selbständigkeit«.22 Genauer habe man es mit einer »Spannung der Erde in sich selbst und der Erde und der Atmosphäre gegeneinander«23 zu tun. Ein Wolkenobjekt von Oppenheim Ob nun die Wolke als neues Paradigma, das die herrschende Regel, Ordnung und Rationalität sprenge, gefeiert wird oder nicht, über ihren dynamisch-wandelbaren Charakter herrscht Einigkeit. Hierbei stehen Wolken als Gegenstand im Zentrum eines dramatischen Geschehens, heute in großangelegten Klimasimulationen, um 1800 als Gewitterwolken wie bei Turner und Hegel, der das Gewitter »Vulkan in der Wolke«24 nannte. Gegen dieses Einverständnis regt sich Widerstand; ein Beispiel dinglichen Einspruchs gibt ein Objekt von Meret Oppenheim mit dem Titel Wolke auf Brücke. An diesem Werk fallen zuerst die Linien auf, seien sie gerade oder geschwungen – diese Wolke weist klare und deutliche Konturen und glatte Flächen auf. Jede Erwartung von etwas Flockigem, Flüchtigem oder Verfranstem wird durch Material wie Form enttäuscht, lediglich die Anmutung von Leichtigkeit bleibt, auch im übertragenen Sinn. Es herrscht weder Sturm noch Gewitter, 18 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, in: ders., Werke in zwanzig Bänden (Theorie-Werkausgabe), hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd.  9, Frankfurt / M. 1970, 114. 19 Ebd., 81. 20 Heinrich Heine, Geständnisse, in: ders., Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hrsg. von Klaus Briegleb, Bd.  11, 472. 21 Hegel, Enzyklopädie II, 146. 22 Ebd., 102, 103, 154. 23 Ebd., 150. 24 Ebd., 153.

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es ist windstill, die Wolke ruht auf einer Säule und gewissermaßen auch in sich. Ab den frühen 1960er Jahren treten im Werk der Künstlerin zunehmend Wolkenarbeiten auf.25 Während Turner und andere Himmelsmaler die gestaltlosen Gebilde über Farbe praktisch darstellten,26 erstaunt es, dass Oppenheim erstens zwar auch Wolken malte, aber genauso dreidimensionale Objekte herstellte, und zweitens ihre Wolken oft als feste geometrische, organische oder gezackte Körper präsentierte. Dies gab Anlass dazu, von Widersinnigkeit und Verkehrung zu sprechen: die ephemeren und wandelbaren Gebilde träten gleichsam als ihr eigenes Gegenteil auf und stellten damit jede Bewegung still. Doch werden diese Wolken tatsächlich eingefangen und festgehalten, »auf stabiles Terrain«27 gesetzt und am »Davonfliegen«28 gehindert? Hier jedenfalls gewinnt man eher den Eindruck, diese Wolke verweile von sich aus auf der Säule, trete über verschiedene Stufen indirekt einen Moment lang leicht mit dem Boden in Kontakt und verliere gleichwohl nichts von ihrer Luftigkeit. Es wird weniger eine ›Strategie gegen die Vergänglichkeit‹ ersichtlich als ein Vertrauen in Kontingenz, das Zuf älliges wie Vorübergehendes begrüßt und als Einladung zur Gestaltung aufnimmt. Dabei kommen surrealistische Verfahren zum Zuge. Oppenheim gehörte zum Kreis der Pariser Surrealisten, frühe Berühmtheit erlangte sie durch die Bilderserie von Man Ray, der sie im Winter 1933/1934 an der Druckerpresse von Marcoussis fotografierte, und durch ihre Pelztasse, die 1936 sogleich vom Museum of Modern Art New York gekauft wurde. Gleichwohl lässt sich die Künstlerin nicht umstandslos dem Surrealismus zuordnen. Ihr Werk zeugt eher von einer »Durcharbeitung des Surrealismus«29 auf dem Weg zu ihrer eigenen künstlerischen Sprache. Zum einen lässt sich dies am Stellenwert der Träume beobachten, zum anderen an ihrem Umgang mit dem deklarierten absoluten Nonkonformismus des ersten surrealistischen Manifests,30 das mit der Ausstellung L’écart absolu von 1965 auf die beiden methodischen Grundregeln von Charles Fourier bezogen wurde: Der unbedingte Zweifel gegenüber jedem Vorurteil und die unbedingte Abweichung von allem, was bekannt ist.31 Diese Forderungen werden nicht zu Dogmen, sondern informieren den Zugriff, wie es bei der Künstlerin auch die Träume tun. Dieses Wolkenobjekt 25 Vgl. das Werkverzeichnis in: Bice Curiger, Meret Oppenheim. Spuren durchstandener Freiheit, Zürich 1982. 26 Vgl. Werner Busch, »Die Wolken: protestantisch und abstrakt«, 25. 27 Belinda Grace Gardner, Transitorisch: Strategien gegen die Vergänglichkeit. Gestaltgebungen des Ephemeren in der Gegenwartskunst von Meret Oppenheim bis Christian Boltanski, Bielefeld 2017, 55; vgl. 51. 28 Ebd., 49. 29 Karlheinz Barck, »Der Sürrealismus«, in: Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Burkhardt Lindner, Stuttgart  /  Weimar 2006, 386–399, hier: 389. 30 André Breton, Manifeste du surréalisme (1924), in: ders., Manifestes du surréalisme, Paris 1985, 13–60, hier: 60. 31 Vgl. L’écart absolu, Galérie L’Œil 1965 (Ausstellungskatalog); Charles Fourier, Théorie des quatre mouvements, in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von Simone Debout-Oleszkiewicz, Paris 1966–1968, Bd.  I, 2–5.

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jedenfalls gehorcht weder einer Klassifikation noch springt es einfach zu seinem Gegensatz über, weder inszeniert es einen heroischen Konflikt noch hebt es sich harmonisch in ein Metamorphosenkonzept auf. Es gewinnt seinen Reiz aus der Schwebe, und unterbricht es nicht gerade damit Wolkenselbstverständlichkeiten?

Edward Hopper, Morning Sun, 1952.

Ole Kliemann

Das Licht, die Stille und die Imagination » – dass ich dich singen hiess, siehe, das war mein Letztes!«1 Also spricht Zarathustra zu seiner Seele. Es gibt im Schaffen diesen einen Moment, ganz kurz bevor der Gedanke sich in Worte kleidet, wenn die Seele übervoll ist. Man kann den Finger nicht darauf legen. Entweder er bleibt nichts, oder er wird alles – und ist vorbei. Ich behaupte, dass Hopper diesen Moment malt. Man könnte denken, die Sonne hätte der Frau auf dem Bild bereits die Augen ausgebrannt – sie sind schwarz und leer. »Soll es vielmehr überhaupt Bewußtsein geben, soll irgend etwas irgend jemandem erscheinen, so muß notwendig im Untergrunde all unserer besonderen Gedanken ein Abgrund von Nicht-sein, ein Selbst sich öffnen«,2 schreibt Merleau-Ponty. Die Leere ist der notwendige Hintergrund, vor dem sich das Licht erst inszenieren kann. Das Schweigen, die Stille, das Leer-Sein sind also die Voraussetzungen für das Schaffen. Das klingt zunächst paradox, würde man doch erwarten, dass die Fülle der Schöpfung vorausgeht. Verfolgt man das Thema in Nietzsches Also sprach Zarathustra, dann findet man ein diffiziles Spiel um die Begriffe von Licht und Nacht sowie von Geben und Nehmen. Zarathustra sagt, Nehmen sei seliger als Geben. Wie genau das zu verstehen ist, bleibt ambivalent. Offenbar ist es zunächst die Umkehrung des Jesus-Wortes, ­Geben sei seliger als Nehmen: »Denn ihr wisst selber, dass mir diese Hände zum Unterhalt gedient haben für mich und die, die mit mir gewesen sind. Ich habe euch in allem gezeigt, dass man so arbeiten und sich der Schwachen annehmen muss im Gedenken an das Wort des Herrn Jesus, der selbst gesagt hat: Geben ist seliger als nehmen.« (Apostel 20, 34–35)

Schon hier sind zwei Auslegungen möglich: Die moralische, die besagt, dass man mit den Schwachen teilen, also altruistisch handeln soll. Oder man sieht hier bereits den Bezug zum Schaffen, die existentielle Auslegung, dann ist Geben seliger als Nehmen, weil der Sinn der Arbeit nicht in der Anhäufung von Reichtümern, nicht im Festhalten zu finden ist, sondern im Loslassen, mithin nicht im Ergebnis, sondern in der Arbeit selbst. Zunächst steht Zarathustra auf dem Boden der ersten, der moralischen Auffassung, dreht den Ausspruch lediglich um und macht daraus: Nehmen ist seliger als Geben. Denn selbstverständlich ist Nehmen seliger als Geben – man bekommt ja 1 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd.  4, München 1999, 280 (im Folgenden Z). 2 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), Berlin 1966, 455 (im Folgenden PhW).

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schließlich etwas. Die Lust am Nehmen zu verwandeln und stattdessen die gute Tat des Gebens vorzuziehen, dafür bedarf es der Verkehrung durch eine Moral, die Nietzsche ablehnt. So ist die moralische Auffassung aber noch nicht zur existentiellen hin überschritten, sondern lediglich der Inhalt der Moral richtiggestellt: Wille zur Macht statt naiver Altruismus. Andererseits ist Zarathustra aber ein Gebender, und als solcher kann er nicht selig sein und klagt deshalb: »Licht bin ich: ach, dass ich Nacht wäre! Aber diess ist meine Einsamkeit, dass ich von Licht umgürtet bin. / Ach, dass ich dunkel wäre und nächtig! Wie wollte ich an den Brüsten des Lichts saugen! / […] / Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und oft träumte mir davon, dass Stehlen noch seliger sein müsse, als Nehmen.« (Z,136)

Das ist die Einsamkeit des Ek-statischen, des Aus-sich-Getretenen. Das Selbst ist, wie Merleau-Ponty uns lehrt, dunkel, ist Nacht, damit es als Hintergrund fungieren kann. Der Schaffende darf nicht in der Geborgenheit seines Selbst verharren, muss aus sich treten, das Licht werden, das sich von der Nacht abhebt. Und er muss sich der Schärfe des Realen in seiner Widersetzlichkeit stellen, dem Widerstand, den es zu überwinden gilt, um auszudrücken, was ist. Die hier erklingende Klage über die Einsamkeit und das Leid des Gebenden kann nur aufgelöst und zu etwas Positivem umgewertet werden, wenn man den Schritt von der moralischen Auffassung hin zur existentiellen geht. »Ein Anderes ist Verlassenheit, ein Anderes Einsamkeit: Das – lerntest du nun!« (Z,231), spricht später die Heimat zu Zarathustra. Und weiter: » – bis du endlich durstig allein unter Trunkenen sassest und nächtlich klagtest ›ist Nehmen nicht seliger als Geben? Und Stehlen noch seliger als Nehmen?‹ – Das war Verlassenheit!« (Z,232)

Es gibt also offenbar einen Unterschied zwischen Verlassenheit und Einsamkeit. Verlassenheit ist Verloren-Sein im Außen seines Selbst; der andere spielt hier nur die Rolle des Diebes. Der aus-sich-tretend Schaffende ist verloren in seiner Ekstase, weil der andere nur der stehlend Nehmende ist, nicht der Angesprochene, der Adressat und Rezipient seines Schaffens, weil er gleich dem Dieb ist, den man nur noch in die Dunkelheit fliehen sieht. In der Einsamkeit hingegen erfüllt der andere – trotz seiner Abwesenheit oder Unerreichbarkeit – eine positive Rolle. Der Schaffende ist aufgehoben, weil er sein Schaffen aufgehoben im anderen findet. Die Transformation von der moralischen zur existentiellen Auffassung des Wortes »Geben ist seliger als Nehmen« ist also eine Transformation des anderen und seiner Rolle. Was passiert hier im Detail? Die Wendung ist schon angedeutet in der ersten Rede, dem »Nachtlied«, wenn Zarathustra klagt: »Oh Begierde nach Begehren.« (Z,137) Die von Zarathustra Beschenkten sind keine Abnehmer seiner Geschenke, er findet keine Begierde bei ihnen, das heißt seine Rede ist nicht Ansprache an jemanden. Aber Sprechen kann man nur zu jemandem. Verlassenheit ist also letztlich Schweigen, das Aus-sich-treten ist hier nicht wirklich, ist nur imaginiert, das Licht,



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das Zarathustra vermeint zu sein, bleibt verloren in der Nacht des Selbst. »Nacht ist es: nun bricht wie ein Born aus mir mein Verlangen – nach Rede verlangt mich« (Z,138), heißt es dann gegen Ende des »Nachtliedes«. Inwiefern stellt Hopper den Augenblick, der dem schöpferischen Ausdruck vorausgeht, in seinem Bild dar? Wenn der Ausdruck aus dem Selbst hervorgeht, dann entspringt er der Nacht. Der Rückzug, die Rückbesinnung auf das Selbst geht ihm voraus. Es ist wie eine Implosion, ein kollabierender Stern, eine Konvergenz zur Einsamkeit des Selbst hin. Und dann, aus dieser kritischen Masse heraus – aus der verdichteten Dunkelheit der Augen, um bei Hoppers Bild zu bleiben – spricht es! Ohne den anderen wird diese Einsamkeit zur Verlassenheit. Mangels Adressat verbleibt das Sprechen im Schweigen, das Selbst in der Verlassenheit seiner Nacht. »Because being a true artist is its own reward. If that’s what you are, then you are always that. You could be locked away in a prison with no way at all to communicate what’s in there, but you’re still an artist. The imagination and the ability to transform is what makes one an artist.« (Patti Smith)

Hier zeigt sich, dass der Mensch den anderen seiner Ansprache ein Stück weit internalisieren kann und auch in der Gefangenschaft seine grundsätzliche Intersubjektivität nicht einbüßt – weil er auch in der Einsamkeit nicht notwendigerweise verlassen ist. Die Fähigkeit, das Innere im Äußeren manifest werden zu lassen – »imagination and the ability to transform« –, kurz, die Fähigkeit zum Ausdruck, erlaubt es, die Verlassenheit hin zur Einsamkeit zu transzendieren. Wahrscheinlich ist das gemeint, wenn Zarathustra mit seiner Seele redet. Nachdem er im »Nachtlied« über seine Einsamkeit geklagt hat und dann in der »Heimkehr« von seiner Heimat aufgeklärt wird, dass das nicht Einsamkeit, sondern Verlassenheit war, kommt es in »Von der grossen Sehnsucht« zur Aussprache zwischen ihm und seiner Seele. Die Überfülle verlangt danach zu geben. Die in der Dunkelheit des Selbst sich immer weiter verdichtende, auf sich selbst hin konvergierende Bedeutung verlangt nach Aussprache. Darum ist Geben seliger als Nehmen im existentiellen Sinne: Der Gebende hat zu danken, dass ihm genommen wird, dass seine Ansprache einen Adressaten findet. Darum spricht Zarathustra schließlich: »singe mir, singe, oh meine Seele! Und mich lass danken!« (Z, 281) Doch warum sitzt die Frau aufrecht im Bett? Es richtet sich auf, wer aufgerufen ist. »Das Gewissen«, so Heidegger in Sein und Zeit, »ruft das Selbst des Daseins auf aus der Verlorenheit in das Man.«3 Die Verlorenheit ist die andere Verlassenheit. Ich kann schweigend in der Verlassenheit meines Selbst verharren oder mich in leerem Gerede im Außen verlieren – in keinem der beiden Fälle spreche ich wirklich, bin ich wirklich ich selbst. Es bedarf der eben bereits angedeuteten doppelten Bewegung: der Konvergenz hin zum Selbst und dann, aus dieser Sammlung heraus, der Ansprache an den anderen. Die Konvergenz ist also, was dem Ausdruck vorausgeht, und die Konvergenz fällt zusammen mit dem Aufruf aus der Verlorenheit. 3 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 192006, 274.

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Heidegger sagt, dass es das Gewissen sei, das das Dasein aufruft und es an seine ontologische Schuld erinnert: Das Dasein ist es sich selbst schuldig, es selbst zu sein. Das ist eine bemerkenswerte Wendung dieser Begriffe, die doch ursprünglich dem sozialen Kontext entspringen: Mein Gewissen bereitet mir Schuldgefühle, wenn ich glaube, soziale Normen verletzt zu haben. Viel elementarer ist hier Heideggers Verwendung, die Schuld als ontologische Schuld zu verstehen. Sie weist mir nicht die Richtung im sozialen Miteinander, sondern die meines eigenen existentiellen Entwurfs. Ich bin es mir schuldig, aus mir selbst herauszutreten und die mir eigenen Seinsmöglichkeiten zu ergreifen. Oder noch anders gesagt: Ich muss mich im Außen manifestieren, mich ausdrücken, und die Schuld ist es, die mich dazu treibt. Das ist kohärent mit der eben formulierten Aussage, der Aufruf falle zusammen mit der Konvergenz des Selbst im – oder besser: unmittelbar vor dem – Augenblick seines Aus-sich-selbst-heraustretens. Man müsste also ein besseres Verständnis dafür entwickeln, was genau in diesem Augenblick geschieht. Es wird sich nicht endgültig klären lassen, aber man kann sich ihm annähern. Merleau-Ponty unterscheidet zwischen Ausdruck und Bedeutung. Im Augenblick des Sprechens fallen Ausdruck und Bedeutung unmittelbar zusammen: Der Ausdruck ist die Bedeutung, und die Bedeutung ist der Ausdruck. Doch diese Kongruenz hält nicht an, und in dem Maße, in dem das Sprechen als Akt verblasst und zur Vergangenheit wird, verblasst auch das eben noch so klare Bild der vermeinten Bedeutung. Man kann die Bedeutung also nicht festhalten. Zeitlich gesprochen ist sie flüchtig, ist sie Ereignis; strukturell gesprochen ist sie aufgeschoben. Die Spannung hin auf eine Bedeutung, die selbst nicht mehr gegeben ist, bleibt am Ausdruck haften. Was ist die Bedeutung dann? Das ist schwer zu sagen. Denn das Gesagte ist immer nur Ausdruck und hat seine Bedeutung je schon hinter sich gelassen. Was sich also von der Bedeutung festhalten lässt, das ist ihre Struktur als Spannung, als »Entzug« oder »Leerstelle«, das ist die mit dem Ausdruck verbundene Verheißung, die vermeinte Bedeutung in einem weiteren Sprechakt gleichsam einzulösen. Oder, noch anders gesagt, es ist die Schuld, mit der der Ausdruck behaftet ist, weil er die Bedeutung uns schuldig bleibt. Eine Schuld, die uns weitersprechen lässt, um sie zu begleichen. Man kann das Verhältnis von Ausdruck zu Bedeutung analog sehen zu dem von Werk und Existenz. Die Existenz, die nicht schafft, die nicht aus sich selbst heraustritt, bleibt verloren – oder: verlassen – in ihrer Schuld. Das Gewissen ruft mich auf, aus mir herauszutreten. Das Heraustreten ist aber niemals dauerhaft, ich falle immer wieder in die Schuld zurück, muss also immer wieder über mich hinausgehen. Ich kann nicht – mit Heidegger gesprochen – ein für alle Mal meine Seinsmöglichkeiten ergreifen. Das macht die Verbindung zur Zeitlichkeit deutlich: Ich kann mich nicht treiben lassen, sondern muss jeden Schritt auf mein unvermeidliches Ende hin ausdrücklich gehen, das heißt sprechend, schaffend, mich ausdrückend. Die Schuld hat hier eine zweifache Funktion, die sich letztlich als einfache herausstellt. Sie fordert mich zu sprechen auf, und sie ist das Band, mit dem der Ausdruck auch später mit der verlorenen Bedeutung verbunden bleibt.



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Was ist mit diesem Band gemeint, das Ausdruck und Bedeutung verbindet? Transponiert man Merleau-Pontys Konzept von Ausdruck und Bedeutung auf ­Lacans drei Register des Symbolischen, Imaginären und Realen, dann ist ganz offensichtlich das Symbolische im Großen und Ganzen mit dem Ausdruck identifizierbar. Das Imaginäre und Reale fallen auf die Seite der Bedeutung und erlauben so eine innere Differenzierung dieses Begriffs, die bei Merleau-Ponty selbst höchstens angedeutet ist. Das Reale bildet die Funktion der Leerstelle ab. Es ist nur Entzug und Stille, bis es entweder im Sprechen symbolisiert oder wenigstens als Bild imaginiert wird. Das Bild hingegen ist nicht nichts, aber es ist auch noch nicht Ausdruck: Ich kann über das Bild sprechen, dann trage ich es in die Sphäre des Symbolischen, bringe es zum Ausdruck. Oder ich kann das Bild selbst als ein Symbol verwenden, dann verwende ich es als Ausdruck für etwas anderes. Damit aber verliert es seinen Charakter als Bedeutung, wird eben zum Symbol – und bedeutet etwas anderes als sich selbst. Einerseits kann diese Differenzierung ein wenig das Paradoxon erhellen, dass Merleau-Pontys Bedeutung nichts ist, bis sie sich im Ausdruck manifestiert: Zwischen das Nichts und den vollen Ausdruck hat sich die Imagination, die Fantasie und ihre eigentümliche Grammatik, geschoben. Andererseits behält Lacan die grundsätzliche Kluft zwischen Signifikant und Signifikat bei: Ein Signifikant verweist immer nur auf andere Signifikanten, das Signifikat bleibt dunkel, es ist die Antwort auf ein Rätsel, ein »Bedeutungsrätsel« (R. Nemitz). Analog könnte man das Imaginäre als ein Bilderrätsel auffassen: Es fordert uns auf, die Worte zu finden, die aussagen, was wir in unserem Inneren sehen. Doch wenn wir es ausgesprochen haben, dann sind die Worte selbst rätselhaft und fordern uns auf, weiterzureden auf der Suche nach ihrer Bedeutung und dem Bild, das sie ursprünglich motiviert hat. Die Ausdrucks-Schöpfung ließe sich dann folgendermaßen weiter explizieren: Zuerst ist die Leere da, die Stille. Das ist die Erfahrung des Realen, der Aufruf. Dann kommt die erste Reaktion auf diese Erfahrung. Oben war es als Konvergenz des Selbst beschrieben worden. Nun kann man sagen, es ist die Entstehung eines imaginierten Bildes im Inneren des Subjekts. Dieses Bild ist aber von einer Beschaffenheit, die ihm eine äußere Manifestation verweigert. Es ist mehr ein leiblicher Eindruck, eine Konfiguration, die wir in unserem Inneren spüren, ohne schon sagen zu können, was sie ausmacht. Doch spielt hier der andere schon eine Rolle, wir sind in unserer Imagination auf ihn bezogen, weisen ihm gleichsam eine Rolle zu in unserem Körperschema. Bliebe man auf dieser Stufe stehen, wäre man verlassen, wäre man verloren. Notwendig ist es nun, dass der Mensch spricht und auf diese Weise seiner Fantasie symbolische Wirklichkeit verschafft. So erst kann er den anderen ansprechen in einer Weise, die es dem anderen zu antworten ermöglicht, also in einer Weise, die den anderen überhaupt erst als anderen anerkennt – nicht mehr inkorporiert in die eigene leibliche Konfiguration. Es ist also tatsächlich so, wie es geschrieben steht: Mein Gegenüber wird mir aus meinem Leib herausgeschnitten.

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Doch wie kann ich mit jemandem sprechen, wenn die Bedeutung der Signifikanten immer aufgeschoben ist? Zwischen den Signifikanten ist das Band der Schuld geknüpft. Lacan verweist hier auf Rabelais, der die Gesetzmäßigkeit der Planetenbewegungen auf eine Schuld unter ihnen zurückführt.4 Ohne Schuld wäre die Welt Chaos. Ob man mit Heidegger sagt, das Dasein sei es sich selbst schuldig zu sprechen, weil es in einer ontologischen Schuld steht, zu werden, was es ist, oder ob man das Subjekt als ursprünglich intersubjektiv auffasst und damit einhergehend eine Urschuld dieser Intersubjektivität gegenüber benennt, aus der heraus es sprechen muss – das sind letztlich nur zwei verschiedene Perspektiven auf ein und denselben grundlegenden Aspekt unserer Existenz: Ich muss weiterreden, in der Zeit entschlossen nach vorne schreiten, damit die vorangegangenen Worte nicht ihren Wert verlieren. Im Sprechen bleibe ich dem anderen die Bedeutung schuldig. Doch gleichzeitig gebe ich ihm etwas, nämlich den Signifikanten. So bleibt er mir schuldig, ihn beizeiten als Antwort an mich zurückzugeben. Geben und nehmen sind also gleich selig, denn beide haben gleichen Anteil daran, das Netz zu stricken, das die Bedeutung unserer Welt ist. Zurück zu Hopper. Wenn die Bedeutung dem Ausdruck vorangeht, im Ausdruck aber letztlich immer verloren ist und man die These akzeptiert, dass Hopper genau diesen Augenblick vor dem Ausdruck malt, dann ist das Bild gleichsam der Versuch eines metaphysischen Schwindels, das Unternehmen, die verlorene Bedeutung im Bild doch zu bannen. Ein Schwindel deshalb, weil es natürlich nicht möglich ist: Das gemalte Bild ist nicht zu verwechseln mit dem imaginierten Bild Lacans. Sobald es Teil des Diskurses wird, ist es selbst Symbol und besteht aus Symbolen. So einfach lässt sich die Bedeutung nicht übertölpeln. Deshalb begnügt sich Hopper damit, das zu malen, was man malen kann, und überlässt den Rest der Fantasie des Betrachters, in der Hoffnung, seine Imagination werde resonieren mit der des Malers, dass er dem gleichen Rätsel verfalle wie er: Die surrende Stille, die angedeutete Einsamkeit, das klare, harte Licht des Morgens, die sich ankündigende Frische des Vormittags, den Zarathustra so geliebt hat. Dann, als Zeichen der Konvergenz, der astronomischen Konjunktion, die Sonne im Zenit, der große Mittag, – und später das Tönen und die lärmende Geschäftigkeit des Nachmittags. »Oh meine Seele, nun gab ich dir Alles und auch mein Letztes und alle meine Hände sind an dich leer geworden: – dass ich dich singen hiess, siehe, das war mein Letztes!« (Z, 280)

4 Jacques Lacan, Schriften I, übers. von Hans-Dieter Gondek, Wien  /  Berlin 2016, 328.

Vincent van Gogh, Sternennacht über der Rhône, 1888.

Axel Beelmann

Nicht schon wieder van Goghs »Schuhe«! Die Künstler haben die Chance Sterne zu sein. Sterne am Firmament, Sterne auf der Erde. Ernst Wilhelm Nay

Die Einladung des Herausgebers annehmend, den Leser anhand eines Bildes oder seiner Interpretation zur Reflexion anzuregen, wäre es das Nächstliegende gewesen, van Goghs »Schuhe« aus dem Schrank zu holen, um denen, die mit ihrer Auslegung ebenso hart an der Sache wie dem Künstler und seiner Intention auf den Fersen zu sein glaubten, auf leisen Sohlen zu folgen. Indessen lehrt die fiktive Debatte zwischen Heidegger, Schapiro und Derrida neben Wahrheiten und Methoden vor allem eines, die Besinnung auf ›Wahrheit und Methode‹: Verstehen heißt anders verstehen, auch und gerade dann, wenn Authentizität durch Re­kon­ struk­tion der Produktion erreicht werden soll.1 Wer wie Ralf Konersmann die Herausforderung des Konkreten sucht, darf die ausgetretenen Schnürschuhe diesmal bei den alten Hüten lassen und zur Abwechslung ein anderes Werk des niederländischen Meisters aufrufen: »Sternennacht über der Rhône« (Nuit Étoilée sur le Rhône, F 474  /  JH 1592), ein Gemälde von 1888. Die Frage, was wer beim Anblick dieses Werkes oder seiner Reproduktionen sieht oder gesehen haben könnte, führt in der nächsten hermeneutischen Ausbaustufe zu derjenigen, was der Künstler mit dem, was man zu sehen glaubt, »gemeint« haben mag und was uns davon noch erreicht. Es wäre vermessen, sich inmitten dieser potenzierten ›Unübersichtlichkeit‹ als Cicerone aufzuspielen. Wer jedoch unter dem Vorbehalt, dass verständnisfreie Wahrnehmung unmöglich ist, dem Konkreten die Stirn bietet und hinschaut, muss unvermeidlich Stellung beziehen, hier in Form einer Miniatur mit vier fiktiven Akteuren: einem x-beliebigen Besucher des Pariser Museé d’Orsay, wo das Werk beheimatet ist, einem illustren Denker, dem viel am Sternenhimmel lag, nämlich Immanuel Kant, dann dem labilen Maler selbst und schließlich einem modernen Rezipienten. Die Wahrnehmung des durchschnittlichen Kulturtouristen lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: Das dunkel gehaltene Bild zeigt einen Ausschnitt des Rhôneufers der Stadt Arles bei Nacht; am Himmel stehen hellgelb funkelnde Sterne mit leuchtender Aura, unter ihnen der Große Wagen; das gelborange Licht der Gaslaternen auf der Promenade spiegelt sich in streifigen Reflexionen auf dem 1 Vgl. Geoffrey Batchen, Van Goghs Schuhe. Ein Streitgespräch, dt. von Kurt Rehkopf, Leipzig 2009, sowie Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: ders., Gesammelte Werke 1/1, Tübingen 1990, 296–305.

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Wasser des Flusses; im Vordergrund erkennt man zwei Personen am Ufer, vermutlich ein Paar, drei kleine Segelboote im Rücken; das unausgeführte Gesicht des Mannes wirkt, als sei es der Frau zugewandt, die ihrerseits dem Betrachter ins Auge zu blicken scheint − und Romantizismen evoziert: Birgt nicht die Dunkelheit die beiden eher als sie zu schlucken? Wirkt das Ganze nicht ebenso einträchtig wie getragen? Entwirft van Gogh da am Ende oder kurz davor eine Idylle unter dem milden Glanz der Sterne? Genau diesem Eindruck kann sich der gehetzte Ausstellungsbesucher nicht entziehen. Auf dem Gang durch die weitläufigen Säle gegenüber dem Tuileriengarten wird sich die Frage verlieren, ob man ausgerechnet einem Mann wie van Gogh, bekannt für Trunksucht, Selbstverstümmelung und Wahn, zutrauen möchte, unverhohlen mit einer heilen Welt aufzuwarten, die noch dazu als Nachtstück präsentiert wird. Man darf sich an das Fazit des Kunsthistorikers Richard Thomson zur Wirkung des Himmelsmotivs halten, auch wenn es der »Sternennacht« von 1889 gilt: Der Anblick des Nachthimmels in seiner stillen Erhabenheit und unendlichen Größe hat zu allen Zeiten das Gefühl von innerem Frieden und demütig-ehrfürchtiger Verwunderung erzeugt. In etwa also die Gemütslage unseres Besuchers, der sich zudem, nicht von optischen Turbulenzen mitgerissen, wie sie die im Sanatorium von Saint-Rémy entstandene paysage composé bestimmen, der von den Figurinen ausgestrahlten Harmonie hingeben darf.2 Wir verlassen Paris und wenden uns Königsberg zu. In der preußischen Provinz musste man auf manches verzichten, erst recht auf den Kontakt zur künstlerischen Avantgarde. Kant hatte zwar Gelegenheit, Werke von Dürer, Cranach und van Dyck zu sehen, war aber ansonsten nicht im Bilde. Turner hat er leider nicht mehr erlebt, ansonsten hätte ihn der van Gogh bereits deutlich weniger irritiert. Stilfragen hin oder her, welche Assoziationen hätte Kant angesichts des Sujets haben können oder müssen, um es seinem »System« einzupassen oder vor dessen Hintergrund zu deuten? Zur aktiven Aneignung des Gemäldes bietet die Staffage eine kaum zu verpassende Chance. Was anderes würde der Philosoph dem Paar im Vordergrund durch den Kopf gehen lassen wollen als eben den einen Gedanken, dass der »bestirnte Himmel« über und das »moralische Gesetz« in ihnen »das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht« erfüllen − vielleicht auch, Kants latente Misogynie in Anschlag gebracht, nur das der Mannsperson, nicht das des Frauenzimmers. Auf jeden Fall eine Reflexion mit Sprengkraft: das Firmament zeigt sich von seiner anderen, bedrohlichen Seite, folgt man der zweiten Kritik, an deren Schluss man sich einiges gefallen lassen muss, weil der »Anblick einer zahllosen Weltenmenge« die eigene »Wichtigkeit« vollends zu vernichten droht. Der junge Kant hatte noch dreist behauptet, mit ein bisschen Newton in der Tasche aus Materie von leichter Hand eine jener »Welten« 2 Vgl. Richard Thomson, Vincent van Gogh: The Starry Night, New York 2008, 38, sowie J. L. Aragón / G. G. Naumis / M. Bai / M. Torres / P. K. Maini, »Turbulent luminance in impassioned van Gogh paintings«. https://arxiv.org/pdf/physics/0606246.pdf 18 Oct 2006 (Zugriff am 26. 10. 2018).



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bauen zu können, deren numerischer Exzess die Bedeutung des Menschen für das Große und Ganze einzudampfen scheint: Ursa Major − zu diesem Sternbild gehört als Asterismus der Große Wagen − zeigt die Zähne. Zur Abwehr fährt Kant schweres Geschütz auf, das Sittengesetz; über den Umweg der Postulatenlehre garantiert es dem gebeutelten Sinnenwesen ein intelligibles, von Raum und Zeit »unabhängiges Leben« − mehr kann man nicht versprechen und mit weniger wäre die Vernunft damals nicht zufrieden gewesen.3 Eigentlich müsste jemanden, der wie Kant beharrlich behauptet, Raum und Zeit seien bloße Formen der sinnlichen Anschauung und nichts außerdem, bei so viel Raum, wie ihn van Goghs Darstellung öffnet, ein ungutes Gefühl beschleichen. Kann man allen Ernstes das, was sich da als ›Weltraum‹ präsentiert, kurzerhand als seiner Erscheinungsweise nach der Spezialität unseres Sensoriums geschuldet abtun? Gibt es keine robusten Entitäten, die auch dann blieben, wenn alle gingen? Diese Fragen rühren an einen empfindlichen Punkt, sie erwischen Kant auf dem falschen Fuß − selbst dann, wenn man konzediert, dass das »Ding an sich« nicht nichts ist.4 Die »transzendentale Ästhetik« ist das Bollwerk, hinter dem sich der Philosoph samt der Transzendenz verschanzt. Ohne die Idealität von Raum und Zeit wäre kein Platz für Gott, den in Raum und Zeit zu denken sich verbietet. Und ohne ihn, das war klar, würde die Vernunft in Erklärungsnöte geraten, weil ihr mit dem transzendentalen Ideal der gute Grund für den Zusammenhang von innerer wie äußerer Erfahrung abhandenkäme. Immerhin hätte sich Kant durch van Gogh in einem wichtigen Punkt bestätigt fühlen dürfen: Wir haben Anschauung von diesem und jenem, nicht vom Großen und Ganzen. Die Spannweite des Himmelszelts belehrt über das, was es für uns nicht gibt; die verweigerte Totalität machte unter dem Titel der ›Weltanschauung‹ begriffsgeschichtlich eine steile Karriere, an deren Ende der Terminus ziemlich genau das Gegenteil von dem meinen sollte, was Kant mit dem für die partikulare Gegebenheitsweise des Universums sensibilisierenden empirischen Regress in indefinitum im Sinn hatte.5 Während die fertige Weltanschauung späterer Jahre ein Quietiv ist, zumindest für den, der sie hat, schwingt im ursprünglichen Kontext der offenen Rückwärtssuche nach ersten Anfängen etwas vom Abenteuer der Forschung mit. Die Fortschritte der Naturwissenschaft wurden in Königsberg gewissenhaft registriert. So war Kant die endliche Geschwindigkeit des Lichts durchaus geläufig. Das Opus postumum notiert als seine Laufzeit von der Sonne bis zur Erde siebeneinhalb Minuten und liegt damit kaum zehn Prozent zu hoch. In diesem Zusammenhang findet sich die lapidare Feststellung, dass mit einem Stern, würde 3 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1. Auf lage 1788), Akademie-Ausgabe [AA], Bd.  5, 1–164, hier: 161  f. (A 288 f.); vgl. ders., Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, AA 1, 215–368, hier: 230. 4 Vgl. Tobias Rosefeldt, »Dinge an sich und der Außenweltskeptizismus. Über ein Missverständnis der frühen Kant-Rezeption«, in: Self, World, and Art. Metaphysical Topics in Kant and Hegel, hrsg. von Dina Emundts, Berlin  /  Boston 2012, 221–260. 5 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (2. Auf lage 1787), AA 3, 354–357 (B 545–551).

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er plötzlich vernichtet, auch seine »agitierenden Kräfte« verschwänden. Einen kleinen Schritt weiter gedacht, wäre Kant bewusst geworden, dass viele der freundlich leuchtenden Sterne, ob auf dem Gemälde oder andernorts, bereits erloschen sein könnten.6 Jedenfalls hätte der Naturforscher, der er gerne gewesen wäre, gerade unter gegenteiligen Bedingungen stutzig werden müssen. Die inflationäre Zahl der dem Universum in der Allgemeinen Naturgeschichte attestierten Welteninseln, die der Große Bär auf der Leinwand vertritt, lässt bei konzedierter ›Unendlichkeit‹ der kosmischen Veranstaltung fragen, warum der Nachthimmel dunkel und nicht hell ist. Der Sternenbesatz des Gewölbes müsste doch lückenlos sein und dieses mit mittlerer Helligkeit illuminieren. Die Entschärfung dieses erst von Olbers aufgebrachten Paradoxons setzt die komplexe Physik von Expansion und Rotverschiebung voraus. Der Philosoph hätte mit Bordmitteln höchstens auf die geringe Lichtgeschwindigkeit und die antizipierte Objektflüchtigkeit verweisen können: nicht schnell genug, um schon heute den Himmel über der Erde zu erhellen, nicht dauerhaft genug, um es auf immer zu tun.7 Einstweilen wäre Kant wohl davon ausgegangen, dass alle Sternlein, die da stehen, auch existieren, und hätte an van Goghs Gemälde eine dem Kunstkonsumenten entgehende Besonderheit bemerkt, nämlich die präzise inszenierte Korrespondenz zwischen Himmel und Erde. Den Hauptsternen über der Stadt entspricht in lotrechter Abwärtsverlängerung jeweils eine Gasleuchte auf der Promenade mitsamt ihrer Reflexion auf dem Fluss; die beiden Sphären sind gleichgeschaltet und verweisen wechselseitig aufeinander. Die kontraintuitive Verknüpfung beider Bereiche wird durch die Halos der astralen Lichtquellen überdeutlich; sie muten wie kleine Sonnen an, die sich im Übersprung direkt in den Wassern der Rhône spiegeln. Der Künstler hat die passagere Konstellation im Moment der Passung von Oben und Unten eingefroren, um das Arrangement in tiefe Harmonie zu tauchen. Für Kant hätte das geheißen: Die Passung der Natur zum moralischen Zweck des Menschen findet ihren symbolischen Niederschlag. Nur zum moralischen Zweck? Zu dem gehört zumindest auch eine Natur, die mit Kausalität aus Freiheit kompatibel und durch ihren Determinismus verlässlich ist. Größere Sprünge sind sittenwidrig; Handlungen als Außenseite der Moralität setzen Berechenbarkeit voraus. Und da war Kant im Laufe seines Denkens zusehends mutiger geworden. Den »hypothetischen Vernunftgebrauch« der ersten Kritik löst in der letzten die Vorstellung vom systematischen Zusammenhang empirischer Erkenntnis ab, die als transzendentales Prinzip der »reflektierenden Urteilskraft« fungiert. An die zweckmäßige »Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen« gemahnt van Gogh durch die Aufforderung zur bidirektionalen Rezeption, die den Blick himmel- wie erdwärts auf parallelen Strahlenbahnen hinauf- und hinabschickt.8 Der Außenaspekt dieser Natur ver6 Kant, Opus postumum [OP] I, AA 21, 71; vgl. OP II, AA 22, 56. 7 Vgl. Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, AA 1, 306–322. 8 Kant, Kritik der Urtheilskraft (2. Auf lage 1793), AA 5, 185 (B XXXVI).



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meidet das Zusammengewürfelte einer wahllos herausgegriffenen astronomischen Konstellation und sorgt durch Helligkeitsüberhöhung der Sterne dafür, dass sich die Sphären gegenseitig ins rechte Licht setzen und holistisch verschmelzen. Eine scharfe optische Grenze fehlt. Das Ganze hat nichts Aggregatförmiges, sondern etwas rasterhaft Geordnetes, dem man ablesen kann, dass − zumindest seit Newton − alles in geregelten Bahnen läuft. Die Kraft, die den Apfel zu Boden fallen lässt, ist dieselbe, die den Mond im Orbit hält, wissenschaftstheoretisch reformuliert: Die Physik dieser heterogenen Objekte ist nicht nur reduktiv, sondern obendrein ein und dieselbe. L’Arlésienne und ihren Begleiter hätte das wenig gekümmert; sie wirken zufrieden mit sich und der Welt − wie ihr Schöpfer, der zumindest bei dieser Gelegenheit ein ungefiltertes ›Stimmungsbild‹ geschaffen zu haben scheint: womit indirekt die Datierungsfrage aufgeworfen ist. Wenn van Goghs Briefentwurf RM 16 tatsächlich auf Schreiben Nr.  688 von Gauguin reagiert und die Durchstreichung der geplanten Zeilen an den Malerfreund zeitlich vor dem verso ausgeführten croquis von Nuit Étoilée sur le Rhône (F 1515  /  JH 1593) erfolgte, fällt die Entstehung des Gemäldes in die letzten Septembertage des Jahres 1888.9 Das für diese Phase relevante Psychogramm findet sich in der Korrespondenz mit seinem Bruder Theo; am 25. berichtet van Gogh von einer Art Schaffensrausch, in dem sich äußerste Hellsichtigkeit mit Depersonalisation paart und die Motive ihn wie im Traum anspringen. Für diese Euphorie fürchtet er im Herbst mit einem Rückfall in die Melancholie bezahlen zu müssen − aber eben erst dann. Über die jüngste Lektüre von Tolstois Mein Glaube bleibt seine Meinung ambivalent. Zwar scheint der Russe Auferstehung und ewiges Leben zu leugnen, offeriert aber eine solide Tröstung in Gestalt der durch die Generationen fortgetragenen Idee der Humanität. Das ist immerhin etwas, solange es Unverbesserliche gibt, die den Versprechungen des siebten Himmels misstrauen und sich dem verweigern, was van Gogh durch die Aussicht auf enge Zusammenarbeit mit Gauguin am Horizont heraufziehen sieht: »Hoffnung«.10 Insgesamt eine ausbalancierte Stimmungslage, in der sich der Künstler befand, als er im Schein einer Gaslaterne den Sternenhimmel über Arles einfing − so jedenfalls die Schilderung gegenüber Theo, ergänzt um die erwähnte Skizze, nach der Vorlage in Bleistift und schwarzer Tinte angefertigt. Nicht ohne Zögern räumt van Gogh ein, auch die harte Arbeit an der Staffelei hemme nicht sein enormes Bedürfnis nach »Religion«, weshalb es ihn nachts hinaustreibe zum Malen der Sterne. Die beruhigende Wirkung speziell dieses Sujets veranschlagt er ähnlich hoch wie den sedierenden Effekt der eintönigen Ackerdarstellung Ploughed Fields (F  574  / JH  1586). Kein Grund zur Sorge, könnte man sagen, solange die Welt einen An 9 Vgl. Vincent van Gogh, The Letters. The Complete Illustrated and Annotated Edition, hrsg. von Leo Jansen, Hans Luijten und Nienke Bakker, 6 Bde., London 2009, zit. nach http://van goghletters.org/vg/ mit Briefnummer, Empf änger und Datum, hier RM 16 und 688 (Briefentwurf an Gauguin vom 26.(?) Sept. 1888). 10 Vgl. van Gogh, The Letters, 687, 694 (Brief an Theo vom 25. Sept. und 3. Okt. 1888); erg. 683 (Brief an Theo vom 18. Sept. 1888).

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blick wie diesen gewährt. Später wird van Gogh die beiden Werke den sujets poetiques zurechnen, nicht ganz frei von Konzessionen an den Publikumsgeschmack.11 Gegenüber Eugène Boch behauptet van Gogh erneut steif und fest, sur le motif gemalt zu haben, als er den Großen Bären über Arles auf die Leinwand zauberte: und bindet ihm damit ebenso einen Bären auf wie seinem Bruder Theo zuvor.12 Die Silhouette der Stadt lässt erkennen, dass der Blick südwärts gewandt ist, in eine Gegend also, wo der Große Bär, ein Sternzeichen der Nordhemisphäre, gar nicht hätte auftauchen können. Zudem beharrt van Gogh darauf, Ursa Major dargestellt zu haben, obwohl nur die Binnenkonstellation des Großen Wagens korrekt reproduziert wird.13 Die Installation des imaginären Firmaments über der recht realistischen Stadtansicht, kombiniert mit der Parallelisierung von Sternenposition und Uferbeleuchtung, kommt einer antikopernikanischen Spitze mit religiöser Stoßrichtung gleich. Als Augenmensch hält der Maler natürlich nicht die Erde an, sondern den Himmel. Das hatte vor ihm schon einmal jemand getan, auch wenn zu Gibeon und Ajalon nur Sonne und Mond stillstanden. Liest man Josua 10, 13 mit Hiob 38, 32 zusammen, wo der Herr in donnernder Rede gegenüber dem Aufmüpfigen sein Machtmonopol durch die rhetorische Frage bekräftigt, wer denn den Morgenstern heraufziehen lasse und den Bären samt seinen Jungen, gewinnt man einen zusätzlichen Anhalt dafür, warum van Gogh ausgerechnet Ursa Major aufs Tapet hebt. In einem Pfarrhaus aufgewachsen, war er mit der Bibel von klein auf vertraut. Die in den Niederlanden gebräuchliche Statenvertaling von 1637 spricht anders als die Septuaginta sogar direkt von »den Wagen met zijn kinderen«. Deswegen ist Nuit Étoilée noch keine Sakralkunst, aber man darf ohne Übertreibung sagen, dass gesunde Zuversicht am Werke war und ein kryptoreligiöses Gemälde schuf, dessen kaum codierte Botschaft eine frohe ist. Wer ein illustriertes pratum ridet bevorzugt hätte und an der Positivaussage e­ iner tiefdunklen Leinwand zweifelt, kann beruhigt werden. Nachtstücke waren damals en vogue und galten keineswegs als typisches Vehikel depressiver Emotionen. Vor der Abreise nach Arles hatte van Gogh Gelegenheit, Georges Seurats Parade de cirque im Atelier zu studieren. Es wurde ein Jahr vor Nuit Étoilée auf der Ausstellung der Société des Artistes Indépendants in Paris gezeigt und inspirierte ihn zu eige­nen Experimenten mit technisch illuminierten Nachtszenen: Caféterrace at night (F  467  / JH  1580) etwa. Die Nokturne als solche ist bei van Gogh demnach alles andere als negativ besetzt. Dennoch wird häufig der Ruf nach mehr Tragik laut, bis hin zum Schiff bruch mit Zuschauer, der die Zwei im Vordergrund dem Untergang ihrer Barke knapp entrinnen lässt. Der an Boch gesandte Sketch lässt als ex post-Kommentar zum Original jedoch keine Wünsche offen: das Pärchen artig untergehakt, die Segelboote am Ufer seetüchtig, die paradoxe Synchronizität von Himmel und Erde, Sternen und Lampen völlig intakt. − Am Ende der Kontextu11 Vgl. 691, 697 (Brief an Theo vom 29. Sept. und 4./5. Okt. 1888). 12 Vgl. 692 (Brief an Boch vom 2. Okt. 1888). 13 Vgl. C. A. Whitney, »The Skies of Vincent van Gogh«, in: Art History 9/3 (1986), 354 f.



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alisierung scheint der naive Museumsbesucher mit seinem zur bürgerlichen Idylle tendierenden Spontaneindruck recht zu behalten. Kein Platz für Katastrophen − sie sollten noch drei Monate auf sich warten lassen. Und der desillusionierte Betrachter von heute, mit den angebotenen Interpretationen im Gepäck, von aufgeklärter Vernunft und abgeklärten Geistes, was könnte ihm angesichts des Bildes durch den Kopf gehen? Zunächst und zuerst, dass Kants Versuch, die Bestimmung des Menschen ein letztes Mal mit dem Kosmos zu verklammern, ungewollt durch van Goghs künstliche und gewaltsame Art, den Großen Bären an den Südhimmel zu zerren und das Setting passend zu fixieren, ausgehebelt wird. Den Ideen von Seele, Welt und Gott lässt sich durch den Gedanken der Sittlichkeit kein neues Leben einhauchen. Es wäre zu sehr pro domo gedacht, ein schwaches argumentum ad hominem, basierend auf der Verwechslung des vermeintlichen »Faktums der Vernunft« mit einer bloßen Konvention: »Und die Moral von der Geschicht’: Die Moral gibt es nicht!« − so wenig wie die Praxis dazu taugt, den Ideen von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit Realität zu verschaffen. Zudem spielt der Nahbereichshimmel über Arles suggestiv den instrumentell zugänglichen Teil des Ganzen herunter. Die Astronomie damals wie heute sammelt mit ihren Datensätzen zielstrebig Informationen, um eine empirisch bewährte Grand Unified Theory an den Start zu bringen. Die große Vereinheitlichung, die den Physikern am Herzen liegt, greift nach den Sternen und bietet die Totalität der angeblich dem Menschen verwehrten ›Weltanschauung‹. Zu diesem Zweck darf der heuristische Grundsatz einer sparsamen Natur strapaziert werden, solange man die Tücke des Objekts einkalkuliert; ästhetisches Korrelat einer solchen Arbeitshypothese ohne metaphysischen Ballast ist die Eleganz der mathematischen Formulierung − deren Bestätigungswert auf der ohnehin unbegründeten Skepsis gegenüber der sperrigen Theorie eines ›hässlichen Universums‹ basiert. Im antikopernikanischen Reflex religiöser Überhöhung stellt van Gogh den Himmel wieder als »Zeichen« anstatt als »Zeichen für das Ende der Zeichen« dar.14 Dagegen wird der Connaisseur theoretischen Protest einlegen, ohne die ästhetische Zustimmung verweigern zu können. Aber noch einmal meldet sich der Eingangsverdacht, womöglich den tragischen Oberton der Komposition überhört zu haben. Denn ausgerechnet diejenigen, die am meisten hätten profitieren können, kehren dem verheißungsvollen Prospekt den Rücken zu: die Spaziergänger am Ufer. Das Liebespaar wirkt wie eine unbewusste Korrektur am Anachronismus des Arrangements, die beiden ignorieren den Himmel einfach. Moderne Menschen, möchte man sagen; sie erwecken nicht den Eindruck, als entginge ihnen etwas. Die Zwei sind auf sich allein gestellt. Der Mann blickt die Frau an, diese schaut auf den Betrachter und der zurück ins Bild; soll es ihn auf die Höhe der Zeit heben, kann der Glanz der Sterne nur noch als physikalisches Nachleuchten gedeutet werden: Sie mögen längst vergangen sein − wie er es bald sein wird. 14 Hans Blumenberg, »Kopernikus im Selbstverständnis der Neuzeit«, in: Akademie der Wis-

senschaften und der Literatur in Mainz 5 (1964) 339–368, hier: 366.

Grandville, Das neue Verfahren in der Baukunst, 1838.

Peter Körte

Streuende Bedeutungen Über Gullivers Reisen, den westlichen Marxismus und andere vergangene Lektüren Die Suche nach einer Vorlage für die Abbildung führte, nicht ganz unerwartet, ins Antiquariat. Mit Erstaunen ließ sich dabei festzustellen, dass ein Westlicher Marxismus heute kaum unter 40 Euro zu haben ist. Ob das nun eine gute Nachricht ist oder ein bedenklicher Kursverfall, sollen andere entscheiden. Aber seltsam passend ist es, dass der Weg dann von Perry Anderson weiter führte zu Jonathan Swift. Der Umschlag von Andersons Buch1 zeigt eine Zeichnung des französischen Litho­g rafen, Malers und Zeichners Grandville von 1838 für eine Ausgabe von Swifts Gullivers Reisen. Titel: »Das neue Verfahren in der Baukunst«. Zu sehen ist, leicht unscharf, eine stadtartige Versammlung von Häusern, wie an einen Hang gebaut, eng und tief gestaffelt, aus Stein und aus Holz; scheunenartig wirken zwei von ihnen, daneben ragt hoch, mit flachwinkligem Dach und einem überdachten Balkon auf halber Höhe, ein anderes Haus auf. Ein Gebäude mit Turm steht da auch, aber ein einheitlicher Baustil oder eine Siedlungsstruktur lassen sich nicht erkennen. Im Vordergrund findet sich noch eine Ruine mit einem Torbogen, im Hintergrund ein Viadukt mit hohen Bögen. Über der Stadt, auf einer Art Plateau, das zu schweben scheint, sieht man ein Satteldach, umgeben von fünf Fesselballons, die an diesem Dach befestigt sind, einer erkennbar bemannt. Nur ein paar hölzerne Pfosten tragen das Dach. Bauarbeiten scheinen im Gange zu sein. Es wird dabei ganz offensichtlich von oben nach unten gebaut. Die Zeichnung steht neben weiteren, nicht weniger amüsanten und boshaften von Grandville im fünften Kapitel des dritten Teils von Gullivers Reisen, der überschrieben ist: »Die Reise nach Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib und Japan«. Laputa, das ist die schwebende Insel, die sich dank eines Diamantmagneten in der Luft hält. Aus Swifts Text geht eindeutig hervor, dass die Zeichnung sich auf die dortige Akademie von Lagado bezieht: »Auch befand sich dort ein wahrhaftes Genie, durch welches man die neue Baukunst-Methode verbesserte, nach welcher man mit dem Dache anfangen und so bis zum Fundamente fortfahren sollte. Er rechtfertigte dieses Verfahren durch die Bauart der klügsten Insekten, der Bienen und Spinnen.«2

1 Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus, Frankfurt / M. 1978. 2 Jonathan Swift, Gullivers Reisen zu mehreren fernen Völkern der Welt, übers. von Franz Kot-

tenkamp, Leipzig 41971, 197.

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Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus, Syndikat-Verlag, Frankfurt  /  M . 1978.

Was hat das nun mit dem »westlichen Marxismus« zu tun, mit jenem Buch, das 1976 auf Englisch erschien, in weit spröderer Aufmachung, und 1978 auf Deutsch? Eine ganze Menge, wenn zum Bild der Begriff kommt und zum Sinn der Hintersinn. Die deutsche Ausgabe im handlichen Klein-Oktav-Format stammt aus dem Syndikat-Verlag, der nur zwischen 1976 und 1986 existierte, aber in diesen Jahren ein imponierendes Programm vorlegte, das weniger an Homogenität interessiert war als an der Vielfalt der Denkbewegungen. Und der durch Umschlaggestaltung, Layout und Formate erkennen ließ, dass er, im Gegensatz zu vielen seiner Zeit­ genossen, Fragen der Ästhetik nicht für Nebenschauplätze hielt. Man kann daher auch unterstellen, dass der Syndikat-Mitbegründer und ehemalige Suhrkamp-Lektor Karl Markus Michel sehr genau wusste, was er tat, als er Swift und Grandville mit dem westlichen Marxismus zusammenbrachte; dass ihm die Streuung der Bedeutungen, die sich daraus ergab, nicht nur bewusst, sondern ein großes Vergnügen war, weil es für jene, die überhaupt auf die Zeichnung achteten, da einiges zu deuten gab; weil unübersehbar war, dass hier spielerisch auch das Verhältnis zwischen Basis und Überbau kommentiert wurde.



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Vielleicht wusste Michel, dass Walter Benjamin, einer der Akteure bei Anderson, über Grandville geschrieben hatte: »Wenn die Ware aber ein Fetisch ist, so ist Grandville ihr Zauberpriester.«3 Ganz sicher aber hatte er Marx’ Vergleich zwischen Baumeister und Biene aus dem Kapital und dazu den schönen Satz vor Augen: »Im Unterschied von andern Baumeistern zeichnet die Wissenschaft nicht nur Luftschlösser, sondern führt einzelne wohnliche Stockwerke des Gebäudes auf, bevor sie seinen Grundstein legt.«4 Ausschließen lässt sich nicht einmal, dass Marx Grandvilles Zeichnung kannte. In jedem Fall wird, wenn man die Einladung des Buchcovers nicht ausschlägt, der westliche Marxismus mit Swifts neuer »Baukunst-Methode« verknüpft, ohne dass sich eindeutig klären ließe, ob die Deutung des einen mit der der anderen zur Deckung gebracht werden soll. Ob sich mit den Augen Grandvilles und Swifts die zerklüftete intellektuelle Formation namens »westlicher Marxismus« schärfer fassen lässt; oder ob umgekehrt ein Angehöriger oder Anhänger des westlichen Marxismus sich in der Zeichnung und Swifts Text hätte wiedererkennen sollen. Wir haben dieser Verbindung damals nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt, wie sie es vielleicht verdient gehabt hätte. Was daran gelegen haben mag, dass wir ja klassische »Überbauarbeiter« waren, ohne rechten Kontakt zur »Basis«. Ralf Koners­m ann und ich haben Andersons Buch Anfang der Achtziger gemeinsam gelesen, genauer: durchgearbeitet, wie man damals sagte – und dazu viele der Autoren, die bei Anderson auftreten als Protagonisten des westlichen Marxismus. Weniger die Frankfurter Schule, die lag schon hinter uns, aber Althusser, Colletti, Della Volpe, Gramsci und einige andere, zu denen sie uns Wege gewiesen hatte. Wenn ich mir heute die Anstreichungen in den Büchern ansehe, war das eine sehr gründliche Lektüre, vereinzelt stecken sogar noch eng beschriftete Karteikarten in den Bänden, die leicht verstaubt und unberührt über Jahre im Regal ausgeharrt haben. Diese Wiederbegegnung mit Büchern wird zu so etwas wie einer privaten Archäologie des Wissens, sehr frei nach Foucault, den wir auch zu lesen begannen. Das erste Kapitel »Die Hoffräulein« aus Die Ordnung der Dinge, das von Velázquez’ »Las Meninas« handelt, war für Ralf Konersmann schon ein deutlicher Schritt auf das Gelände, auf dem dann seine Dissertation entstehen sollte. Es ist also eine Reise in die Vergangenheit des eigenen Nachdenkens. In eine Zeit, in der Theorie etwas bedeutete, wobei die Größe dieses »etwas« sich schwer bestimmen lässt. Eine Reise zu den weißen Syndikatbänden oder den Merve-Büchern mit der typischen Raute und den verschiedenen Farben. Diese Beziehungen zwischen Gestaltung und Gestalt der Theorie fallen einem im Rückblick viel stärker auf. 3 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd.  V, Frankfurt / M. 1982, 249. 4 Karl Marx, »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd.  13, Berlin 1978, 43.

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Wir lasen Perry Anderson und all jene, die in seiner Erzählung vom westlichen Marxismus auftraten, nicht, weil wir glaubten, die Revolution stehe vor der Tür oder man müsse ihr mit Theorie auf die Sprünge helfen. Es ist auch gar nicht so einfach, die Motivlage von damals zu ergründen, ohne der einen oder anderen Selbsttäuschung zu erliegen. Vielleicht hatte Anderson recht und wir wollten, wie die westlichen Marxisten, »für Marx eine philosophische Abstammungslinie konstruieren«.5 Wenngleich: Ein Primärziel war das sicher nicht. Wir hatten auch nicht vor, das Verhältnis von Basis und Überbau von den F ­ üßen auf den Kopf stellen; es war nur so, dass sich auch ganz gut denken ließ, ohne ständig nach der Determination durch die Basis zu fragen. Dass ein bisschen Widersinnigkeit nicht falsch war. Aber es geht hier auch gar nicht so sehr um Anderson und die Frage, was uns der westliche Marxismus heute noch zu sagen hat; es geht um die Ausschläge, um die Intensität einer vergangenen Lektüre, um ihren noch verschwommenen Erwartungshorizont und darum, was uns ein Umschlagbild viele Jahre später womöglich darüber erzählen kann. Wir lasen, weil wir Neues erwarteten, keine Lichtung des Seins, eher einen »Terrainwechsel«, wie es bei Althusser hieß. Das klang entschieden nach Neuland – und Neuland klang da noch nicht nach Bio-Fleisch. Uns war dabei auch nicht so wichtig, wie und ob das, was wir lasen, zueinander passte, ob es sich eines Tages, wie die Einzelteile eines Puzzles, zu einem lückenlosen, homogenen Ganzen fügen würde; oder ob da am Ende ein Bild des Widersinns herauskäme wie in Grandvilles Vorstellung vom Hausbau auf Laputa. Wir freuten uns an Querverbindungen, an einer zwingenden Beobachtung, an einem neu kalibrierten Begriff, an einer Denkräume öffnenden Metapher. Es gab ja auch kein Haus, das errichtet werden sollte. Es gab vage, ungerichtete Pläne, bei mir zumindest. Bei Ralf Konersmann gewannen die Pläne immer mehr an Kontur. Wir hielten jedoch Abschweifungen für notwendig, wir musterten potentielle theoretische Baumaterialien, folgten Interessen, die wir teilten, in gemeinsamer Lektüre. Wenn man die Leseliste betrachtet, die ich heute nur unvollständig aus den in alten Büchern vermerkten Anschaffungsdaten rekonstruieren kann, schimmert da rückblickend allerdings schon ein Muster durch: Althussers Freud und Lacan, ­Lacans »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion«, Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie, Leibniz’ Monadologie, Bourdieus Zur Soziologie der symbolischen Formen, um nur ein paar zu nennen. Und dazwischen auch Michael Rutschkys Essayband Erfahrungshunger, aus dem die Formulierung von der »Utopie der Allgemeinbegriffe«6 unvergessen ist; eine Utopie, nach der sich das Leben eben nicht einrichten ließ, noch nicht einmal eine Theorie ließ sich darauf bauen. 5 Anderson, Über den westlichen Marxismus, 99. 6 Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre, Frankfurt / M. 1982, 57.



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Wenn man zurückschaut, fällt auch auf, wie unsere Lektüren immer weiter ausfransten. Der jeweilige Kompass gab verschiedene Richtungen vor. Gemeinsam jedoch war dabei eine Verschiebung des Blicks, hin zu den Bildern, wodurch die Begriffe ja nicht verschwanden oder überflüssig wurden. Im Gegenteil. Metaphern forderten den Begriff heraus, erwiesen sich »gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent«;7 das Konkrete drängte in den Vordergrund und verlangte nach anderen sprachlichen Mitteln. Dass einem selbst dieser Prozess, während er sich vollzog, entging, würde einen nur verwundern, wenn man all das Gelesene vergessen hätte. Es ist leicht, zu leicht, mit dem Abstand von fast vierzig Jahren vor allem die Distanz hervorzukehren. Von den Hauptdarstellern in Andersons Buch lebt längst keiner mehr. Erben sind nicht bekannt. Und überhaupt nur einer hat es bis ins neue Jahrtausend geschafft: Lucio Colletti starb 2001 als Parlamentsabgeordneter der Forza Italia, als Freund und Berater Berlusconis. Er hatte zuvor mit Craxis Sozialistischer Partei geflirtet. Eine Irrfahrt, die Swifts satirische Vorstellungskraft überfordert hätte. Althusser, das wussten wir schon damals, hatte seine Frau erwürgt und später dann noch ein Buch mit dem vielsagenden Titel Die Zukunft hat Zeit geschrieben. Galvano Della Volpe, Lucien Goldmann oder Henri Levebvre – liest die noch jemand? Kennt jemand noch Karl Korsch? Die Frankfurter Schule taucht ab und zu im Schulunterricht auf oder im Grundstudium. Und es gibt ein 902-Seiten-Buch aus dem Jahr 2017 namens Westlicher Marxismus.8 Es muss wohl als Nachschlagewerk betrachtet werden, um von etwas zu erfahren, das verschollen ist. Der routinierte Distanzierungsgestus sollte nun aber nicht das letzte Wort haben. Man muss, gelegentlich auch sich selbst, mit den Worten des Filmkritikers Serge Daney, entgegnen: »Man sollte sich loyal verhalten dem gegenüber, was einmal durch uns hindurchgegangen ist – denn es hat ein Antlitz. Und jede ›Form‹ ist ein Antlitz, das uns anschaut.«9 Es gibt also fraglos Sedimente, und seien es nur Spurenelemente. Nicht viel besser als der Sicherheitsabstand ist die nostalgische Versenkung, von der ein Buch wie Philipp Felschs Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte von 1960 bis 1990 (München 2015) nicht frei ist, wenn es die Geschichte des Merve Verlags wie eine Coming-of-Age-Story erzählt. Auch Ulrich Raulffs Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens (Stuttgart 2014) entgeht dem nicht. Und bei all seinen Qualitäten kann es nie begreif lich machen, worin denn nun die ›Wildheit‹ der Lektüren lag. Felschs Buch hat sogar einem Film von Irene von Alberti zu dessen Titel verholfen. Der Autor tritt darin auf und wird befragt. Er stellt dort auch für die Ge7 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt / M. 2013, 16. 8 Diethard Behrens / Kornelia Hafner, Westlicher Marxismus, Stuttgart 2017. 9 Serge Daney, Im Verborgenen. Kino. Reisen. Kritik, aus dem Französischen von Johannes

Behringer, Wien 2000, 35.

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genwart ein Defizit an Theorie fest – und beglaubigt es zugleich insofern, als auch seinem ›langen Sommer‹ bei allem Charme dann doch ein bisschen Theorie und Analyse fehlen. Dass diese Bücher heute so gerne gelesen werden, das hat sehr viel mit den Spezialeffekten der Nostalgie zu tun, wie sie der amerikanische Kulturhistoriker Norman M. Klein in The History of Forgetting beschrieben hat: »Nostalgia convinces the viewer because the actual events of the past have been forgotten. In fact, the past is not the issue at all. It serves merely as a ›rosy‹ container for the anxieties of the present. Political ideology uses nostalgia in much the same way as architecture, ironically enough. It builds the unremembered.«10 Ich habe, wenn ich zum Beispiel in einem Filmkritik-Seminar Auszüge aus Ralf Konersmanns Kulturkritik behandelt oder, abseits von Seminaren, andere Texte von ihm gelesen habe, weder Distanzierung noch Nostalgie in ihnen gefunden. Wohl aber – bei aller Vorsicht vor retrospektiver Teleologie – eine ungeminderte theoretische Neugierde und die konstante Aufmerksamkeit für Bilder als Ausdrucksmittel der Philosophie, ohne dass da je Text und Bild gegeneinander ausgespielt würden. In einem Konersmann-Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung (vom 26. 8. 2018) über die Malerei der Moderne, der die Überschrift trägt »Nicht bloss denken, sehen!«, lese ich über Gerhard Richters Landschaften: »Statt des Durchblicks auf die Natur, wie sie die klassische, als offenes Fenster verstandene Bildtafel zu gewähren versprach, weist nun die Landschaft zurück auf diesen Blick, der auf sie fällt.« Wenn man jetzt noch einmal auf Grandvilles Zeichnung schaut, auf die wunderbar undurchsichtige Beziehung, die das Bild mit dem Sujet des Buches eingegangen ist, auf die verkehrten Verhältnisse von Basis und Überbau, dann könnte dieser Satz auch eine kleine Sehhilfe sein, wo es um Theorielandschaften geht. Und es schadet in keinem Fall, dem Imperativ der Überschrift zu folgen, der ja eine Ermunterung ist und kein Befehl. »Das neue Verfahren in der Baukunst« mag auf den ersten Blick widersinnig erscheinen, ein Schildbürgerstreich, eine Reprise jener Vorurteile, welche das theoretische Denken begleiten, seit Thales beim Sterneschauen angeblich in den Brunnen fiel. Aber wenn man ein zweites Mal hinsieht, nach all den Jahren, steckt in der Zeichnung die ganze Ambivalenz eines längst vergangenen Phänomens, dem sie als emblematisches Bild diente. Zugleich aber ist diese Akademie von Lagado, beim Wiedersehen und Wiederlesen, ganz unabhängig von Anderson, zu einem Bild für die Forderungen geworden, die sich heute an Geschlossenheit, systematische Strenge und Sinnstiftungskompetenz der Philosophie richten lassen, ohne sie heillos zu überfordern. Auch ohne ontologisches Fundament kann man das Dachgeschoss ausbauen oder sich in der Bel Etage wohnlich einrichten. 10 Norman M. Klein, The History of Forgetting. Los Angeles and the Erasure of Memory, London

1997, 11.



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Wem das zu viel Widersinn ist und zu wenig Sinn, dem könnte man mit Hans Blumenberg erwidern: »Vielleicht sollten wir nicht nur die Wut über die Sinn­ losigkeit der Welt kultivieren, sondern auch etwas von der Furcht vor der Möglichkeit, sie könnte eines Tages voller Sinn sein.«11

11 Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt / M. 1987, 81.

Eduardo Chillida, Diálogo – Tolerancia / Toleranz durch Dialog, 1992.

Norbert Herold

Toleranz durch Dialog Kunst gibt zu denken

Das Bild zeigt eine Skulptur des spanisch-baskischen Künstlers Eduardo Chillida, »Toleranz durch Dialog«, zwei aus rostbraunen Stahlblöcken stilisierte Bänke, die im Münsterschen Rathausinnenhof stehen.1 Im Zusammenhang mit der Skulpturenausstellung 1987 waren Kontakte zu Chillida geknüpft worden, der 1992 schon im Hinblick auf das Ende der Reconquista vor 500 Jahren eine Skulptur ›Toleranz‹ geschaffen hatte und nun für den Ort, an dem im Jahr 1643 die Friedensverhandlungen zur Beendigung des 30jährigen Krieges begonnen hatten, dieses Stahlmonument von erstaunlicher Leichtigkeit schuf. Der Betrachter hat den Eindruck, dass die schweren Stahlklötze in Form von Bänken – jede wiegt 9 Tonnen – über dem Boden schweben. Aus Anlass des 1200jährigen Stadtjubiläums und im Hinblick auf die vor 350 Jahren begonnenen Verhandlungen wurden 1993 die Bänke, Symbol der sich zugewandten Verhandlungsparteien, aufgestellt, wohl auch schon im Blick auf den 5 Jahre später groß gefeierten 350sten Jahrestags des Westfälischen Friedens, der nach langwierigen Verhandlungen zum Ende der Religions- und Bürgerkriege führte und eine neue politische Ordnung für Europa schuf. Die Skulptur war ursprünglich im Besitz der Westdeutschen Landesbank, wurde dann aber im Zuge von deren Liquidierung als Spätfolge der Bankenkrise von 2008/9 vom Land NRW für die Stadt Münster gekauft und konnte zur großen Erleichterung der Münsteraner an ihrem angestammten Platz bleiben. Auf diesen für Münster glücklichen Ausgang bezieht sich die Karikatur von Arndt Zinkant, die am 9. Juli 2016 in den Westfälischen Nachrichten erschien. Was zeigt die Karikatur aus dem Jahr 2016? Alles wieder in Ordnung? Chillidas Skulptur bleibt und Münster hat seinen Frieden? Der Oberbürgermeister, im Anzug und mit Amtskette, hält auf der linken Seite nach langem Papierkrieg wieder die Hand auf »seine« Skulptur. Rechts im Bild sieht man zwei Jungen, die kampfeslustig, wenn auch noch spielerisch die Klingen kreuzen, ein Schwert und den türkischen Krummsäbel. Auch die Türkenkriege sind nur ein paar Jahrhunderte vorbei. Das Paar in der Mitte holt uns zurück in die Konflikte und Widersprüche der Gegenwart. Die verschleierte Frauen­ gestalt in der Niqab provoziert tief verwurzelte mitteleuropäische Abwehrkräfte, 1 Zu Chillidas Skulpturen vgl. Sabine Maria Schmidt, Die öffentlichen Monumente von Eduardo

Chillida, München 2000; Klaus Bussmann, Eduardo Chillida – Hauptwerke, Mainz 2003.

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Arndt Zinkant, »›Toleranz durch Dialog.‹ Chillida bleibt!«. Westfälische Nachrichten vom 9. Juli 2016.

auch wenn sie optisch ein wenig abmildernd an das kleine Schlossgespenst erinnert mit ihren großen, weit geöffneten Augen im Seeschlitz. Insofern mobilisiert die schwarze Gestalt nicht nur Befremden und Ängste, sondern ruft auch ein wenig Sympathie ab. Wer erinnert sich nicht an die Hilf losigkeit des kleinen Nachtgespensts am hellen Tage. Außerdem ist sie noch eingehängt am Arm ihres Mannes im weißen Kaftan, mit runder Kopf bedeckung und Vollbart, bei aller Fremdheit eine Lichtgestalt, die sich mit erhobenem Zeigefinger dem Amtsträger zuwendet. Eine Provokation? In dem Moment, in dem alles geregelt erscheint, wird in sokra­ tischer Manier nur noch eine kleine Frage gestellt, die dann – so jedenfalls bei Sokrates – mit schöner Regelmäßigkeit einen langen Dialog auslöst, der das tiefe Unwissen der Befragten zu Tage treten lässt. Insofern steht der Mann, vielleicht die Figur des weisen Hodscha, auch in bester abendländischer Tradition, wenn er einwirft: »Eine Frage noch …« In unserer Karikatur ist allerdings nicht der Befragte, sondern der Fragende der Unwissende. Seine Frage offenbart zumindest auf den ersten Blick eine Unwissenheit, die zum Lachen reizt. Wie kann man nur so ahnungslos sein? Was will jemand in einer modernen pluralistischen Gesellschaft, der noch nicht einmal das Wort ›Toleranz‹ kennt? Das Lachen auf seine Kosten ist berechtigt, befreiend, sozusagen lizensierte Aggression. Auf den zweiten Blick ist die Frage gar nicht so dumm. Sie offenbart in entwaffnender Manier die Fußangeln und Schwierigkei-



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ten der kulturellen Annäherung, auch und gerade deshalb, weil sie durchaus eine Nähe zur lokalen Kultur erkennen lässt. »Wer ist eigentlich dieser tolle Ranz?« Die eingesessenen Münsteraner kennen zwar keinen tollen Ranz, aber den tollen Bomberg. In der Garnisonsstadt des 19. Jahrhunderts hatte der reiche Kohlebaron und tollkühne Reiter die etwas eintönige Stadt dadurch aufgemischt, dass er z. B. hoch zu Ross über Tische und Bänke sprang.2 Giesbert von Romberg, die historische Vorlage der Romanfigur aus den 1920er Jahren, war ebenso wie sein Zechkumpane Professor Landois, der Gründer des Münsterschen Zoos, ein Provokateur, der keine Gelegenheit ausließ, auf Kosten anderer üble Scherze zu machen. »Was die beiden verband, war ihre Verachtung gängiger gesellschaftlicher Normen und ihre schiere Lust an der Provokation«.3 Was die Zeitgenossen empörte und die ungeliebte preußische Obrigkeit seinerzeit erboste, macht die Provokateure, die aus der Reihe tanzten, schon eine Generation später zu bewunderten Originalen und sagenhaften Romanhelden, quasi zu festen Bestandteilen der Münsteraner Identität. Kann man sich das auch für unseren Zuwanderer mit verschleierter Frau vorstellen? Verglichen mit den Eskapaden des tollen Bomberg ist unser Hodscha die Harmlosigkeit in Person, bemüht um Anpassung und Verständnis, auch wenn ihn allein sein Aufzug, ob er nun will oder nicht, an den Klippen der Xenophobie scheitern lassen wird. Spielt der Karikaturist mit der Möglichkeit, dass nicht nur der Fremdling in unserer Zeit, sondern seinerzeit auch der übermütige Landbaron die Toleranz der Obrigkeit und seiner Mitbürger strapazierte, sich die beiden also – als Zumutung und Provokation – ähnlicher sind als auf den ersten Blick erkennbar? Eine andere Klippe ist die des Sprachverständnisses. Unser Hodscha denkt konkret und lernt durch Hörverstehen. Kommunikation ist aber abhängig vom Kontext, der häufig erst über die Bedeutung der sprachlichen Äußerungen entscheidet und den Witz einer sprachlichen Äußerung ausmacht. Witze leben bekanntlich davon, dass Mehrdeutigkeit der Sprache im Nachhinein eine Bedeutungsverschiebung rechtfertigt, die ursprünglich nicht erwartet wurde. Ein Beispiel: »In der Stalinzeit fragt jemand: Was gibt es für neue Stalinwitze?« – offensichtlich eine Aufforderung, einen neuen Witz zu erzählen. Die Antwort besteht nicht im Erzählen des neuen Witzes, sie lautet: »Zehn Jahre Straf lager«. Wer nicht in der Lage ist, mit Sprache zu jonglieren, hat nichts zu lachen.4 2 Der sagenhafte Sprung über die Kaffeetafel im Café Middendorf wurde von dem Münsterischen Historienmaler Fritz Grotemeyer in einem Gemälde festgehalten, das heute im Saal des Gasthofes ›Großer Kiepenkerl‹ hängt. 3 Rudolf Grosskopff in der SZ vom 30. 8. 2019; vgl. https://www.sueddeutsche.de/leben/ historie-die-zechkumpane-von-der-tuckesburg-1.4578826 , zuletzt abgerufen am 10. 5. 2020. 4 Vgl. Ulrich Greiner, Auf sie mit Gelächter! in: Die Zeit, 20. 2. 2020

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Wer eine fremde Sprache erlernt, muss nicht nur dahin gelangen, Sprachspiele zu erfassen und die kulturellen Barrieren zu überwinden, die sein Verständnis behindern, er ist schon elementar mit den Klippen des Hörverstehens konfrontiert. In der Regel stehen verschiedene Deutungsmuster zur Verfügung, die Sinn geben könnten. Gibt »tolle Ranz« also Sinn? Wie unser Exkurs zum tollen Bomberg zeigen sollte, ist die Assoziation so dumm nicht, aber wohl kaum tragfähig. Das steht aber nicht von vornherein fest, und es gibt in der Kunst berühmte Beispiele dafür, wie man sich Homophone zunutze machen kann, um unterschwellige Botschaften zu transportieren.5 Eine erhebliche Spannung besteht auch zwischen dem Kunstwerk und dem Titel, den es trägt. Was haben tonnenschwere Klötze aus Corten-Stahl – in eine Form geschmiedet, die entfernt an sich gegenüberliegende Bänke erinnert – zu tun mit den hehren Ideen ›Toleranz‹ und ›Dialog‹? Kann man abstrakte Begriffe wie ›Toleranz‹ und ›Dialog‹ wirklich in eine »allgemeinverständliche bildnerische Sprache« übersetzen, evoziert die Verbindung von Material, Form und sprachlicher Benennung tatsächlich »eine inhaltliche Aussage, die alle tradierten nationalen und kulturellen Grenzen sprengt und verbindlich wirkt, weil sie menschlich im weitesten Sinne des Wortes ist«?6 Dann wären ja die Schwierigkeiten unseres eifrigen und willigen Hodscha leicht zu beheben. Er müsste eben nur hinschauen. Wir leben aber weder in einem Orbis pictus, einer Welt, die sich mit einem Lexikon der Emblemata entschlüsseln ließe, noch halten sich die Künstler an ein Programm, dem sie auf ihre Art und mit ihren Materialien lediglich Ausdruck zu verleihen hätten. Allerdings sehen der Künstler selbst und auch seine Interpreten durchaus eine Verbindung zwischen Kunstwerk und Idee. Chillida betont, das Gewicht der beiden Münsteraner Bänke sei notwendig, um die von ihm »gewünschte Beziehung dieser Skulpturen mit dem Raum, mit dem Kosmos, deutlich werden zu lassen«. Seine Interpreten stellen Bezüge her zwischen den Stahlbänken im Rathaushof und den Positionen der Parteien während der historischen Friedensverhandlungen, wobei sie die Metaphorik der Sprache zu Hilfe nehmen: Das Gewicht der je eigenen Verhandlungspositionen, die Bereitschaft, sich auf eine Ebene mit den Verhandlungspartnern einzulassen, der Eindruck, dass beide Bänke »in ein und denselben geistigen Raum eingebettet« seien.7 Aber es bleibt doch fraglich, ob sprachliche Metaphorik und künstlerischer Ausdruck wirklich so nahtlos und kulturübergreifend Chillidas Skulptur und die durch deren Titel angesprochenen Ideen verständlich machen. Allein Magrittes bekannter Hinweis, dass eine Pfeife auf dem Bild noch lange keine Pfeife sei, dürfte 5 Niki de Saint Phalle etwa nennt ihre Schießbilder in den 1950er Jahren »tu est moi«, gleichklingend mit »tuer moi«. Vgl. dazu Horst Bredekamp, Der Bildakt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Neufassung 2015, Berlin 2015, 100 ff. 6 Sabine Maria Schmidt, http://www.welt-der-form.net/Eduardo_Chillida/Chillida1992-Dialogo_Tolerancia.html , zuletzt abgerufen am 9. 5. 2020. 7 Ebd.



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genügen, um in Erinnerung zu rufen, wie fragil und widersprüchlich die Beziehungen von ­Kunstwerken und ihren jeweiligen Titeln in der Moderne geworden sind. Die Mehrdeutigkeit der lebendigen Sprache, erst recht die des kulturellen Verhaltens ist eine ständige Quelle von Missverständnissen und Konflikten, auch von Angst, Empörung und nicht selten Hass, freilich auch von Witz und Gelächter, wenn es denn gut läuft. Wenn man schon fassungslos wird angesichts von Ahnungs­losigkeit, Unverständnis, auch Bosheit, dann ist das Lachen sozusagen das Instrument der Schwachen, die sich angegriffen fühlen. Es ist quasi die gesellschaftliche Lizenz, die Fassung zu verlieren. Die Frage unseres wissbegierigen Orientalen ist also nachvollziehbar, auch nicht ganz unberechtigt, weil sich der Mann offensichtlich etwas dabei gedacht hat, aber trotzdem ein Schock. Der Dialog, das angepriesene Instrument auf dem Weg zur Toleranz, offenbart gleich am Anfang Abgründe des Nichtverstehens, sprachlich und kulturell, die auch bei gutem Willen zur Verständigung erst einmal überbrückt sein wollen. Dass es mit der Aufstellung der Skulptur mit dem schönen programmatischen Titel »Toleranz durch Dialog« nicht getan ist, dass jetzt vielmehr erst recht die Frage: »Was bedeutet Toleranz?« im Raum steht, macht die Karikatur klar. Wir sind aufgefordert, unsererseits Rechenschaft zu geben, zunächst über die Frage, was denn, jetzt richtig verstanden, Toleranz bedeutet bzw. bedeuten soll, sodann, wie der richtig verstandenen Toleranz durch den Dialog zum Durchbruch verholfen werden kann. Dazu nur stichwortartig einige Hinweise. Was heißt ›Toleranz‹? Die Frage nach der Bedeutung von Toleranz lässt sich kaum mit einer einfachen Begriffsdefinition klären. Begriff liche Definitionsversuche enden schon in den sokratischen Dialogen nicht selten in der Aporie. Ein Blick auf Definitionsversuche in einschlägigen Lexika zeigt jedenfalls sehr schnell, dass entweder zu viele alternative Elemente einbezogen werden oder dass, wenn dies ausgeschlossen werden soll, die Formulierung viel zu vage wird und das Spezifische der Toleranz nicht mehr erfasst werden kann.8 Weil der Begriff erst in den Konfessionsstreitigkeiten der frühen Neuzeit seine spezifische Bedeutung gewonnen hat, kann er auch nicht ohne die Einbeziehung der historischen Kontexte verstanden oder dargelegt werden. Der Inhalt dieses schillernden Begriffs wird umso diffuser, je mehr man sich um Klärung bemüht.9 8 Vgl. Ludger Jansen, »Staatliche Toleranz und staatliche Wertorientierung«, in: Wo hört die Toleranz auf?, hrsg. von Christian Starck, Göttingen 2006, 21  ff. 9 Rainer Forst, »Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft«, in: Toleranz, hrsg. von dems., Frankfurt  /  New York 2000, 119; vgl. zum Begriff der Toleranz: ders., Toleranz im Konflikt, Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt / M. 2003; Gisela Schlüter / Ralf Grötker, Art. Toleranz, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd.  10, Basel 1998, 1251–1262.

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Die Bedeutungen von ›Toleranz‹ variieren, je nachdem, wer Adressat der Aufforderung zur Toleranz ist: die einzelne Person, der Staat, die Gesellschaft. Weitere Faktoren der Variation: Wem gegenüber soll Toleranz geübt werden – Minderheiten, Dissidenten, Abweichlern, Fremden? In welchen Punkten oder Bereichen ist Toleranz erforderlich – Religion, Kultur, Kunst? Politische und staatliche Praxis ist zu unterscheiden von persönlicher Einstellung und Haltung. Die Toleranz, die dem einzelnen in seinem Denken oder Handeln als Tugend abverlangt oder zugesprochen wird, ist nicht auf einen Nenner zu bringen mit den Ansprüchen an einen Staat, der Rechte schützen und die elementaren Freiheiten seiner Bürger garantieren soll. Die Antwort der modernen pluralistischen Gesellschaften ist die Etablierung von Grundrechten: Religions- und Bekenntnisfreiheit, Meinungs- und Redefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Sie bilden den Rechtsrahmen, der die Duldung von Abweichlern und Minderheiten durch den Obrigkeitsstaat ersetzt. So weit die Theorie. Staatliche Toleranz macht nur wirklich Sinn, wenn sie praktisch von bürgerlicher Toleranz begleitet und unterstützt wird. Die öffentliche Meinung wie auch die berühmte schweigende Mehrheit, ebenso staatliche Funktionäre wie Polizisten, Lehrer, Verwaltungsbeamte setzen der staatlichen Toleranz faktisch Grenzen, wenn sie diese nicht mittragen. Auch ein Staat muss also durch schulische Erziehung und politische Bildung dafür sorgen, dass seine Bürger das politische Selbstverständnis verinnerlichen und praktizieren, das in Verfassung und Rechtsordnung festgeschrieben ist. Bezogen auf unsere Karikatur ist also der Oberbürgermeister, den seine Amtskette als Repräsentanten des Staates und seine Wahl als Vertreter der Bürger ausweist, durchaus die richtige Adresse für die Frage unseres Fremdlings nach der Toleranz. Die Antwort dürfte allerdings, wie schon die skizzenhaften Überlegungen gezeigt haben, etwas länger ausfallen und außer begriff lichen Klärungen und historischen Erklärungen auch die praktische Einübung anhand von Fallbeispielen umfassen. Kommen wir noch einmal zurück auf das Beispiel ›Niqab‹ in unserer Karikatur. Wäre es ein Affront und eine Zumutung, wenn ein solches Paar durch Münsters Straßen zöge, wohlgemerkt nicht beim Karneval, sondern im Alltag, auch nicht als zahlungskräftige Sommer- oder Medizintouristen, sondern als Kriegsflüchtlinge oder Migranten mit der Hoffnung auf ein besseres Leben als Mitglieder der hiesigen Gesellschaft? Oder wäre es eher umgekehrt eine Beleidigung, wenn ich in der Karikatur die Frau als kleines Nachtgespenst darstelle oder im Karneval derartig kostümiert – oder auch als Scheich, Indianerhäuptling oder schwarzer Piet – fremde Lebensart ins Lächerliche ziehe bzw. dessen geziehen werde? Dass Karikaturen als Aggression oder tödliche Beleidigung aufgefasst werden, wissen wir spätestens seit Charlie Hebdo. Die Konflikte unserer Zeit zeigen nur zu deutlich, wie berechtigt und notwendig der Ruf nach Toleranz ist, wie aber andererseits auch die Frage nach den Grenzen der Toleranz für moderne und offene Gesellschaften zu einer Existenz- und Überlebensfrage geworden ist.



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Im konkreten Fall kann das durchaus strittig sein. Wer also z. B. als Bürgerin unseres Staates der Schulpflicht unterliegt und auch von ihrem Recht auf Bildung auf diese Weise Gebrauch machen möchte, aber weiterhin oder, wie im Falle einer Hamburger Konvertitin, frischbekehrt die Niqab im Unterricht tragen möchte, muss damit rechnen, dass dieses bisher ungewohnte Begehren als Provokation verstanden wird und der Staat in Gestalt einer Schulbehörde einschreitet. Die Beschäftigung der Gerichte mit dem Problem führt in der Regel erst recht zu der notwendigen lebhaften inhaltlichen Debatte in der Gesellschaft. Es ist Zeit für eine Zwischenbilanz: Mit der Skizze zum Thema ›Toleranz‹ – so ist zu hoffen – haben wir fürs erste unserer philosophischen Pflicht, Rechenschaft zu geben, genüge getan. Die Frage nach dem »tollen Ranz« ist zurechtgerückt und eine Erklärung hinzugefügt, die deutlich machen kann, worauf der Begriff ›Toleranz‹ zielt. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass die Grenzen fließend sind und immer wieder neu gezogen werden müssen. Das führt zu Konflikten und macht eine permanente Verständigung unter den Beteiligten notwendig. Wir können und müssen also miteinander reden: die Stunde des Dialogs. Diálogo, Tolerancia – Toleranz durch Dialog? Zielen die Forderung nach Toleranz und die Frage nach den Grenzen der Toleranz vor allem auf den Staat, so richtet sich die Aufforderung zum Dialog vor allem an die gesellschaftlichen Gruppen und Individuen. Im Titel der Skulptur stehen nicht von ungef ähr die Schlüsselbegriffe ›Diálogo‹ und ›Tolerancia‹ nebeneinander, zumindest in der spanischen Version. Die deutsche Titelversion klingt ambitionierter. »Toleranz durch Dialog« impliziert, dass dem Dialog eine Schlüsselrolle auf dem Weg zur Toleranz zugesprochen wird. Das ist nicht unproblematisch und bringt die Gefahr überhöhter Erwartungen mit sich, für die die Enttäuschung schon vorprogrammiert sein kann. Derzeit jedenfalls haben wir einerseits eine ›Ideologie des Dialoges‹, voller unrealistischer Erwartungen in das ›Gespräch auf Augenhöhe‹. Andererseits beklagen wir den allgemeinen Niedergang der öffentlichen Diskussionskultur und die Polarisierung der Öffentlichkeit vor allem durch den zunehmenden Hass in den sozialen Netzen. Offensichtlich sind selbst Dialoge nicht ungefährlich. Wie schon Sokrates und seitdem unzählige mutige Auf klärer erfahren mussten, ist es riskant, Unterschiede zu artikulieren und Widersprüche auf den Begriff zu bringen. Halten wir daher – im Bewusstsein, dass die philosophische und historische Auseinandersetzung mit dem Thema ›Dialog‹ Bände füllen würde10 – nur einige elementare Grundregeln für einen gelingenden Dia­log fest: Der andere könnte rechthaben. Selbst wenn er nicht recht hat, ist seine Position vertretbar und er verdient auch dann, wenn er im Irrtum ist, als Person Respekt. 10 Vgl. z. B. Zur Geschichte des Dialogs. Philosophische Positionen von Sokrates bis Habermas, hrsg.

von Martin F. Meyer, Darmstadt 2006.

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Um die eigene Dialogbereitschaft oder -fähigkeit zu überprüfen, sollte man unterscheiden zwischen Verstehen, Verständnis und Einverständnis. Um e­ inen Dialog zu führen, ist das Verstehen des Partners unverzichtbar; das Verständnis für seine Position erleichtert eine sachgerechte und auch weiterführende Debatte, die aber auch ohne Einverständnis geführt werden kann. Allerdings muss man bei fehlendem Einverständnis auch die weiterhin bestehenden Differenzen aushalten und damit umgehen können. Erst dann ist Toleranz als Praxis gefragt. Das gilt für den persönlichen Dialog wie auch für den öffentlichen Diskurs,11 wie uns schlaglichtartig die Debatte um das Tragen der Niqab verdeutlichen kann.12 In der persönlichen Diskussion wird es nicht immer positiv bewertet, jemandem die Dinge ins Gesicht zu sagen. Dazu gehört Mut, aber unter Umständen auch Taktgefühl und Einfühlungsvermögen in die Grenzen der Zumutbarkeit. ›Gesicht zu zeigen‹ gehört aber gleichwohl zu den Kernelementen der Kommunikation. ›Schau mich an!‹ ist eine zentrale pädagogische Forderung. Es ist wohl kaum eine pädagogisch fruchtbare Unterrichtssituation vorstellbar, in der eine vermummte Lehrerin einer Schar von lauter kleinen Schlossgespenstern gegenübersäße. Es mutet daher fast wie eine Ironie der Geschichte an, dass im Zuge der Corona-Krise jetzt ein Gebot, in der Öffentlichkeit und auch in der Schule Gesichtsmasken zu tragen, diskutiert und durchgesetzt wird. Was im medizinischen Kontext geboten erscheint, mutet gespenstisch an, wenn es zur Regel im öffentlichen Raum und Umgang miteinander erklärt wird. Es würde jedenfalls bezogen auf unsere Diskussion um das Tragen der Niqab offenlegen, dass die Regeln der Zumutbarkeit eines Verhaltens weder selbstverständlich noch beliebig, sondern variabel sind und der historischen und gesellschaftlichen Situation angepasst werden können und müssen. Die Bedeutung eines Verhaltens erschließt sich erst aus dem jeweiligen Kontext, welcher zunehmend weniger selbstverständlich ist und daher die Grenzen der Zumutbarkeit zunehmend zum Gegenstand öffentlicher Debatten werden lässt. Der öffentliche Diskurs ist allerdings selbst zunehmend zum Problem geworden, so dass nicht nur Medienwissenschaftler den Zustand der Debattenkultur beklagen und uns daran erinnern, dass wir in einer »Gesellschaft der Gleichzeitigkeiten« (Bernhard Pörksen) leben, in der unnötige und falsche Polarisierungen genauso wie die Erwartung einfacher Rezepte für die Lösung gesellschaftlicher Konflikte fehl am Platze seien. Das zeigt auch anschaulich unsere Karikatur. Ohne falsches Harmonie- und Konsensversprechen wird doch eine Dialog- und Diskursbereitschaft signalisiert, die es erlauben würde, reale Gegensätze und zu klärende Zukunftsfragen vernünftig zu diskutieren. Auch wenn das Reden und Streiten im öffentlichen Diskurs durchaus anspruchsvoller und schwieriger werden sollte, so 11 Vgl. Bernhard Pörksen / Friedemann Schulz von Thun, Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik, München 2020; Bernhard Pörksen, Gut kühlen, Artikel in: Die Zeit vom 6. 2. 2020. 12 Vgl. Svenja Flasspöhler, »Die Wiederkehr der Physiognomik«, in: Philosophie Magazin 3/2020, 12.; Argumente für ein Burka-Verbot diskutiert auch Martha Nussbaum, Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst, Darmstadt 2014, 93–114.



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bleibt es doch möglich und ein entsprechender ›Diskursoptimismus‹ ohne Illusio­ nen auch für demokratische Gesellschaften eine unverzichtbare Voraussetzung. Mit anderen Worten und um die Sache abzukürzen: Die Aufforderung zum Dialog ist berechtigt und sogar unverzichtbar, aber auf der verbalen Ebene des Dia­logs zeigen sich doch ähnliche strukturelle Probleme wie auf dem Felde der Toleranz, die ebenfalls die Gefahr eines Abgleitens in die rohe Gewalt mit sich bringen. Wieweit der Dialog zur Toleranz beiträgt und die Toleranz erst einen Dialog ermöglicht, bleibt in der spanischen Titelversion, in der beide Begriffe nebeneinander stehen, offen. Sie dürfte daher weniger voraussetzungsreich und damit ehrlicher sein als die deutsche Version des Titels. Fazit Was die Skulptur am historischen Ort und angesichts historischer Erfahrungen anmahnt, Toleranz und die Bereitschaft zum Dialog, das nimmt die Karikatur auf und erinnert daran, dass es sich um einen Prozess handelt, der erst noch und immer wieder zu leisten ist. Chillida bettet das schwere Material in einen Raum ein, in dem seine Skulpturen fast zu schweben scheinen und den er als Kosmos versteht. Aber die Bänke, die aus rostigem Stahl bestehen und zersägt, unvollständig und aus der Nähe geradezu brutal schwer erscheinen, laden nur bedingt ein, sich auf ihnen niederzulassen. Wer sich auf ihnen zum Dialog mit dem Gegenüber einlassen würde, kann kaum auf einen Ruhe- oder gar Wohlfühlfaktor setzen. Die Karikatur macht in spielerischer Manier, aber gleichwohl unmissverständlich bewusst, dass wir immer wieder neu am Anfang eines Prozesses stehen, in dem Verständigung, Verständnis und Toleranz erst noch errungen werden müssen.

Stefan Wewerka, Kölner Döme, 1970.

Dirk Baecker

Kölner Döme Auf diesem Bild gibt es keine Rückseiten. Das Bild selbst, das Blatt, auf dem es gedruckt ist, hat eine Rückseite. Man kann es umdrehen und sich überlegen, ob man die Rückseite anderweitig verwenden will. Aber das Motiv dieses Bildes, die »Kölner Döme«, die auf ihm abgebildet sind, haben keine Rückseite. Das ist für nichtfigurative, nicht unbedingt abstrakte, aber primär grafische Bilder typisch. Was sie zu zeigen haben, zeigen sie ohne Vorbehalt. Sie haben nur eine Vorderseite. Ihnen fehlt die Perspektive, die, wie Hans Blumenberg im Anschluss an Edmund Husserl zeigt,1 dafür verantwortlich ist, dass Dinge zu Körperdingen werden, von denen wir wissen, dass wir sie niemals vollständig sehen können. Selbst wenn wir um sie herumgehen, verbergen sie uns immer wieder eine ihrer Seiten. Man könnte nervös werden und wie John Franklin in Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit jene Hühner, die immer dann ruckartig den Kopf bewegen, wenn man gerade nicht hinschaut,2 die Wirklichkeit generell unter den Verdacht stellen, einen üblen Schabernack mit dem Betrachter zu treiben. Das grafische Bild ist Balsam für die Seele des nervösen Betrachters. Es verbirgt nichts. Das ornamentale Spiel, das es wie kompliziert auch immer spielt, liegt auf seiner plan dem Blick des Betrachters geöffneten Vorderseite. Aber sind Stefan Wewerkas »Kölner Döme« aus dem Jahr 1970 tatsächlich eine Grafik?3 Was sagen uns die Verzerrungs- und Vervielfachungseffekte, mit denen die Türme dargestellt sind? Gewinnen sie dadurch nicht ihre eigene Körperlichkeit? Nicht ganz, denn der Blick wird nach links und rechts gelenkt; er wird unruhig, wandert in die untere Bildhälfte, findet dort jedoch keinen Halt. Es entsteht keine Tiefe, die auf eine Perspektive schließen ließe, die ihrerseits die Körperlichkeit der abgebildeten Gegenstände in ein Verhältnis zur Körperlichkeit des auf ­einen Fluchtpunkt gerichteten Blicks setzen würde. Entsteht keine Tiefe? Kann man sich die Oszillation, als die ich diese Verzerrung und Vervielfachung verstehen möchte, ohne einen Raum vorstellen, in dem sich die Bewegung vollzieht? Haben wir es mit einer hinterrücks eingeführten Perspektive zu tun, doppelt verdächtig, weil sie uns nicht nur die Rückseite vorenthält, sondern auch den Apparat, der die Verzerrung und Vervielfachung bewirkt? Können wir sicher sein, dass es nicht sogar unser Blick ist, der verzerrt und vervielfacht? Wäre das ein dritter Ver1 Siehe Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, Frankfurt / M. 2008, 275 ff. 2 Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, München 1983, 11. 3 Die vorliegende Grafik ist im Vergleich zu dem in drei Farbvarianten vorliegenden Sieb-

druck, der ebenfalls »Kölner Döme« betitelt ist und ebenfalls aus dem Jahr 1970 stammt und in Stefan Wewerka, Verschiebung der Kathedrale. Shifting the Cathedral, Berlin 2017, 10–12, abgedruckt ist, ein weiterer Abstraktionsschritt.

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dacht, der sich mit uns beschäftigt, die wir zu schnell und zu selbstsicher behaupten, letztlich sei es unser Blick, der die Dinge auch wieder zu beruhigen vermag? Und doch hebt die Oszillation, dieses trügerische Spiel mit der Perspektive, sich von einem Weiß und einem Schwarz ab, die beide nicht anders als grafisch zu bezeichnen sind. Auf beiden Flächen spielt sich nichts anderes ab als die Enttäuschung jeder Suche nach einem Anhaltspunkt für weitere Hinweise auf die Bildlichkeit des Bildes. Auf diesen Flächen wird nichts abgebildet. Sie sind, was sie sind, noch nicht einmal Bilder, sondern schwarzes und weißes Papier. Aber das stimmt auch nicht ganz; das Schwarz franst an den Rändern aus und bekommt dadurch eine gewisse Materialität; und das Weiß hat nicht genug Höhe, um nicht auch schlicht als Hintergrund der Figur der Döme gesehen werden zu können. Dennoch, was sagt uns dieses Sandwich eines Motivs zwischen zwei Nichtmotiven? Verlängert man die Betrachtung der Turmspitzen in die Flächen oben und unten, bringt das Bild einen Himmel und eine Fassade zum Vorschein, die es zugleich verschwinden lässt. Es gibt keinen Himmel und keine Fassade auf diesem Bild. Und doch gibt es sie, darauf lassen die Turmspitzen schließen. Das ist vielleicht zu weit hergeholt, aber ich muss an die beiden Abgründe, die beiden Unendlichkeiten denken, die Blaise Pascal in die Philosophie und Theologie des Abendlandes eingeführt hat.4 Der Platz des Menschen in der Natur, so Pascal, sei der einer prekären Mitte zwischen dem unendlichen All des Kosmos und der unendlichen Kleinheit des Nichts. Er lebe in einer unendlichen Sphäre, deren Zentrum überall und deren Umfang oder besser Umriss nirgendwo sei. Was, deswegen, sei der Mensch in der Natur? »Un néant à l’égard de l’infini, un tout à l’égard du néant, un milieu entre rien et tout.«5 Ewig müsse er daran verzweifeln, das Prinzip oder den Sinn und Zweck dieser Welt zu durchschauen. Immer wieder stößt er auf sich selbst in einer Mitte, die nicht leer, aber nichtssagend ist. Sie erschließt eine Welt, die sich jeder Ordnung, die nicht die eines wandernden Zentrums, einer bleibenden Unruhe ist, entzieht. Als was wird diese Welt erschlossen? Und wer ist es, der sie sich erschließt? In jedem Fall, so beobachtet Pascal, seien die meisten Menschen mehr daran interessiert, in das Zentrum dieser Welt, im Singular, zu gelangen, als an ihren Umriss, der doch, für jede Beobachtung, ein mindestens ebenso privilegierter Ort sei. Tatsächlich ist jeder einzelne Mensch bereits in diesem Zentrum, von dem es jedoch nicht eines, sondern ebenso viele wie Menschen, Individuen, Einzeldinge jeglicher Art gibt. Leibniz greift Pascals Idee auf und macht sie für seine Monadologie fruchtbar.6 Jetzt spiegeln sich die beiden Unendlichkeiten in der Monade. Sie geben ihr den Halt, den sie braucht, um sich auf dem Umweg über die Allgegenwart eines noch 4 Blaise Pascal, Pensées, in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von Jacques Chavalier, Paris 1954, 1079–1345, hier: 1105–1113. 5 Ebd., 1106 f. 6 Gottfried Wilhelm Leibniz, »Double infinité chez Pascal et Monade«, in: Textes inédits d’après les manuscrits de la Bibliothèque de Hanovre, hrsg. von Gaston Grua, Bd 2, Paris 1948, 553–555.



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so fernen Gottes auf sich selbst und auf jede benachbarte Monade beziehen zu können. Die Verzweiflung Pascals, übersetzt in Bescheidenheit und schweigende Kontemplation,7 wird zum Rechenexempel.8 Die »Kölner Döme« begegnen Spekulationen dieser Art mit Witz. Vielleicht ist nichts anderes gemeint als der beglückte Blick eines Kölsch-Trinkers, der am frühen Morgen aus der Kneipe tritt und sich nicht am Umriss der Welt, sondern am Umriss des Doms orientiert, leicht beschwipst, einen allmählich hell werdenden Himmel über sich und eine noch schlafende Stadt vor sich. Rückseiten sind in diesem Moment irrelevant. Es genügt die Vergewisserung, dass man sich noch immer in der Domstadt befindet. Hier gibt es keine Abgründe, die sich nicht durch ein weiteres Glas Kölsch auf lösen ließen. Und es liegt auf der Hand, dass jeder Trinker ein Zentrum ist, das viele weitere Zentren neben sich nicht nur zu dulden hat, sondern aufrichtig begrüßt. Mit Sicherheit hat da schon wieder ein Huhn seinen Kopf bewegt, genau in dem Moment, da man nicht hinschaute. Aber was soll’s? Sicherheitshalber werden die Domtürme multipliziert, sonst käme man noch auf die Idee, es gäbe eine dominante Perspektive.

7 »[…] sa curiosité se changeant en admiration, il sera plus disposé à les contempler en silence qu’à les rechercher avec présomption«. Pascal, Pensées, 1106. 8 Siehe auch Michel Serres, »La communication substantielle démontrée more mathematico«, in: ders., Hermès I: La communication, Paris 1968, 154–164.

Ohne Titel.

Hjördis Becker-Lindenthal

Bild und Entbildung Gedanken zum »Selfie« im Ausgang von Meister Eckhart, Tauler und Kierkegaard* »Zu den Denkwürdigkeiten des frühen 19. Jahrhunderts gehört seine Aufmerksamkeit für Spiegel.«1 Leicht variiert liefert dieser Satz, mit dem Ralf Konersmann seine frühe Studie zur Metapher des Subjekts einleitet, eine treffende Formel für die Situation des Subjekts in Zeiten der Digitalisierung: Während vor 200 Jahren Spiegel die Großstadterfahrung prägten und ausgehend von Cafés und Kauf häusern Einzug in die privaten Haushalte hielten, so wird heute die Welt- und Selbstwahrnehmung des Subjekts von dem Mobiltelefon dominiert bzw. von der im Mobiltelefon integrierten Kamera. Sich mit dieser selbst zu fotografieren und das Bild, das sogenannte »Selfie«, dann über die sozialen Medien zu verbreiten, mag als Trend unter Jugendlichen begonnen haben, betrifft inzwischen jedoch alle Altersklassen und gesellschaftlichen Schichten. Zu den Denkwürdigkeiten des frühen 21. Jahrhunderts gehört daher seine Obsession mit Selfies. Im Folgenden gilt es, den Implikationen dieser zeitgenössischen Form des Selbstbildnisses nachzuspüren. Dabei wird ein religiöser Denker zu Wort kommen, der für gewöhnlich eher als Advokat eines intensiven Selbstbezugs, nicht aber als dessen Kritiker wahrgenommen wird: Søren Kierkegaard. Seine Interpretation des Eckhart’schen und Tauler’schen Bildungs- und Entbildungsgedankens wirft nicht zuletzt auch Licht auf den ethischen Aspekt der Selfiekultur. Das Selbst und sein Selfie Selfies sind ein Teil der Lebenswelt geworden. Das lässt sich besonders gut vor Touristenattraktionen beobachten: Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ließen sich die Besucher vor dem Eiffelturm noch von professionellen Fotografen ablichten, und bis vor knapp zwei Jahrzehnten wurde dann mit Selbstauslösern auf umständliche Weise versucht, das Reiseerlebnis eigenständig festzuhalten. Heute dagegen sieht man auf dem Champ de Mars die Touristen mühelos einen Arm ausstrecken und in die Linse des Mobiltelefons strahlen. Umgehend wird das Bild aufgerufen, man zoomt hinein und betrachtet kurz das Resultat, um dann vor demselben Motiv, nur mit leicht geändertem Winkel und vielleicht in einer ande*  Der Beitrag entstand mit freundlicher Unterstützung des Leverhulme Trusts und des Isaac

Newton Trusts der University of Cambridge. 1 Ralf Konersmann, Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts, Frankfurt / M. 1991, 15.

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ren Pose ein weiteres Foto von sich zu machen. Dieser Prozess wird oft mehrfach wiederholt. Was in ihm geschieht, kann sowohl als Hyperbolik des Spiegelns als auch des Fotografierens gelten. Das Ergebnis: ein digitales Selbstporträt. Nicht nur vor Sehenswürdigkeiten, auch vor alltäglichen Dingen wie Kleiderständern, Fitnessstudiogeräten, sogar im Restaurant über dem gefüllten Teller fotografieren wir uns selbst. Ist das gewünschte Ergebnis erzielt, werden häufig noch mit Filtern die Konturen weichgezeichnet oder mit eigens dafür entwickelten Programmen sonstige vermeintliche Verschönerungen vorgenommen. Anschließend wird das Selfie über social media geteilt. Da das digitale Bild nicht unter Zeitund Kostenaufwand erst entwickelt werden muss, zudem immense Datenmengen zu niedrigen Preisen online gespeichert und verbreitet werden können, hat die Menge derartiger Selbstbildnisse radikal zugenommen – wir scheinen geradezu davon besessen, uns in jeder Situation, vor jedem Hintergrund abzulichten und das modifizierte Bild dann zu kommunizieren.2 Welche Rolle das digitale Selbstbildnis in psychologischer und sozialer Hinsicht spielt, ist eingehend untersucht worden. Resonanz in den sozialen Medien, Gruppenzugehörigkeit und das damit verbundene Wetteifern um die meisten ›Likes‹ stellen zentrale Aspekte der Attraktion von Selfies dar. Darüber hinaus machen Selfies das Selbstverhältnis als etwas erfahrbar, was jederzeit und an jedem Ort eigenständig beeinflussbar ist. Man fotografiert sich, um seine Stimmung zu verändern – ein digital verschönertes Selbstbildnis hebt die Laune. Hier wirkt Autosuggestion frei nach dem Motto ›Wer gut aussieht, fühlt sich gut‹.3 Das Selfie ist ein leichter Gegenstand der Kritik; erscheinen doch Leute, die derart viele Bilder von sich produzieren, editieren und verbreiten, als oberflächlich und eitel. Problematisch ist nur, dass einer Kritik, die Selfies als ein separates Phänomen attackiert, sie womöglich in einer bestimmten Bevölkerungsschicht oder Altersgruppe verortet, die tiefe und weitreichende Verwurzelung in der eigenen Kultur entgeht. Schließlich ist die westliche Kultur eine, in der sich das Subjekt über sein Verhältnis zu Bildern thematisch wurde, allen voran Spiegelungen des eigenen Antlitzes. Im Folgenden soll daher das Selfie als symptomatisch für unsere Zeit verstanden werden – was nicht bedeutet, dass ihm unbeanstandet Akzeptanz zu verschaffen wäre.

2 Siehe Will Storr, Selfie. How the West Became so Self-Obsessed and What it’s Doing to Us, New

York City 2018. 3 Es kann allerdings auch gegenteilige Folgen haben und zu Psychosen wie der Dismorphophobie führen. Vgl. Janarthanan Balakrishnan & Mark D. Griffiths, »An Exploratory Study of ›Selfitis‹ and the Development of the Selfitis Behavior Scale«, in: International Journal of Mental Health and Addiction 16.3 (2018), 722–736; Sarah Diefenbach & Laura Christoforakos, »The Selfie Paradox: Nobody Seems to Like Them Yet Everyone Has Reasons to Take Them. An Exploration of Psychological Functions of Selfies in Self-Presentation«, in: Frontiers in Psychology 8 (2017), 1–14.



Bild und Entbildung

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Bildung und Entbildung bei Meister Eckhart und Johannes Tauler Die Bedeutung des Bildes für das Selbstverhältnis findet sich bereits in dem frühen Konzept der Bildung, wie es im 13. Jahrhundert in der deutschen Mystik entwickelt wurde. Meister Eckhart zufolge mündet der Bildungsprozess darin, ein Bild Gottes zu werden bzw. die mit der Schöpfung in uns angelegte, durch den Sündenfall verschüttete imago Dei wiederherzustellen.4 Wir müssen uns dazu all der Bilder entledigen, die unsere Empfänglichkeit für Gott blockieren: »Nun verlangt Gott nicht mehr von Dir als das, dass Du aus Deinem Selbst, insofern es geschaffen ist, herausgehst und Gott Gott in Dir sein lässt. Das winzigste geschöpf liche Bild, das in Dir entsteht (mhd. sich erbildet), das ist genau so groß, wie Gott groß ist. Warum? Es versperrt Dir einen ganzen Gott. Sobald das Bild [in Deine Seele] hineingeht, muss Gott weichen und mit ihm all seine Göttlichkeit. Aber sobald das Bild hinausgeht, geht Gott sofort hinein.«5

Aus der Perspektive des Menschen erscheint es so, als ob wir in dieser Entwicklung etwas erhielten – Gottes Abdruck oder Spiegelbild. Zu beachten ist, dass Bildung hier als ein zweifacher Prozess verstanden wird. Er beinhaltet eine Reduktion. Um ge-bildet oder über-bildet zu werden, muss man erst ent-bildet werden, und das bedeutet bei Eckhart: gereinigt werden von kreatürlichen Bildern ebenso wie von dem Bild, das wir von uns selbst haben. Die Totalität dieser Forderung unterstreicht Eckhart mit der Metapher des Todes. So lesen wir in dem Buch der göttlichen Tröstung: »Denn ein vollkommener Mensch soll von seinem Selbst so abgestorben sein, seines Selbst so entbildet in Gott und in Gottes Willen so übergebildet, dass all seine Seligkeit darin besteht, von sich selbst nichts mehr und [auch sonst] nichts [mehr] zu wissen und nur von Gott allein zu wissen.«6 Im 19. Jahrhundert wird das Werk Eckharts wiederentdeckt. 1840 veröffentlicht der Kopenhagener Theologe Hans Lassen Martensen eine einflussreiche EckhartStudie, die auch ihren Weg in Kierkegaards Bibliothek findet und dessen EckhartVerständnis entscheidend prägt.7 Das spekulative Vorzeichen, mit dem Eckhart im 4 Auch wenn die ›Erfindung‹ von Bildung nicht Eckhart zugeschrieben werden kann, so hat er doch wesentlich zur Etablierung des Begriffs als Übersetzung von lat. imago und exemplum beigetragen. Siehe Ernst Nündel, »Ein Kennwort Meister Eckharts: bilde«, in: Wirkendes Wort 13 (1963), 141–147. 5 Meister Eckhart, »In hoc apparuit caritas« (Predigt 5 b), in: Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke, Bd. 1–5, hrsg. von Josef Quint et al., Stuttgart 1936 ff., Bd. 1, 83–96, 92 f. Übersetzung Vf. 6 Meister Eckhart, »Daz buoch der götlîchen trœstunge«, in: Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke, Bd.  5, 1–136, 21. Übersetzung Verf. 7 Hans Lassen Martensen, Mester Eckart. Et Bidrag til at oplyse Middelalderens Mystik, Kopenhagen 1851 (Erstausgabe 1840). Siehe auch Peter Šajda, »Meister Eckhart: The Patriarch of German Speculation who was a Lebemeister: Meister Eckhart’s Silent Way into Kierkegaard’s Corpus«, in: Kierkegaard and the Patristic and Medieval Traditions, hrsg. von Jon Stewart, Aldershot 2008 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd.  4), 237–264

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19. Jahrhundert begeistert rezipiert wird, führt allerdings bei Kierkegaard, der zeitlebens nur Spott für den Hegelianismus übrig hat, zu einer eher negativen Sicht auf den Dominikaner.8 Das heißt jedoch nicht, dass Kierkegaard die Ideen der mittelalterlichen deutschen Mystik grundsätzlich zurückweist. Der lebensnahe Zugang Johannes Taulers hat ihn durchaus inspiriert. Tauler gilt als Schüler Eckharts, und seine Predigten basieren auf Eckharts Lehre, unter anderem seiner Bildungstheorie. Zwar ist es nicht möglich, Taulers Einfluss auf Kierkegaard direkt zu ›beweisen‹, jedoch legen die Ähnlichkeiten von Kierkegaards Einübung im Christentum (1851) eine Rezeption von Taulers Predigten äußerst nahe. Der dritte Teil ist eine Aus­legung von Johannes 12:32 »Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen« – ein Vers, über den Tauler am Tag der Kreuzerhöhung zwei Predigten hielt. Diese sind in der Werkedition enthalten, welche Kierkegaard besaß.9 Tauler kritisiert an seinen Zeitgenossen ein falsches Verständnis des Christentums. Man konzentriere sich eher auf die Sieghaftigkeit des Auferstandenen als auf die »Bitterkeit des Kreuzes«.10 Selbst in den Klöstern, in denen doch das Leid Christi im Zentrum stehen sollte, trügen Mönche und Nonnen das Kreuz oft nur vordergründig.11 Wahres Christsein setze jedoch einen innerlichen Wandel voraus, eine Entbildung, die bis auf das Mark des Selbst gehe. Dass man sich scheut, sich darauf einzulassen, versteht Tauler durchaus: »Aber so hart und schwer es ist, […] den thierischen Menschen mit seinen sinnlichen Lüsten von den geschaffenen Dingen […] abzuziehen, so schwer ist es auch, den äußerlichen Menschen in den innerlichen zu ziehen, und von den sichtbaren Formen und Bildern in das Unsichtbare, das ist, in den Grund zu führen.«12

 8 Vgl. Sören Kierkegaard, Entweder / O der. Zweiter Teil, übersetzt von Emanuel Hirsch, Düsseldorf  /  Köln 1957 (Gesammelte Werke, Abt. 2/3), 257–263. Siehe dazu Verf., »Mirroring God. Reflections of Meister Eckhart’s Thought in Kierkegaard’s Authorship«, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2012, 3–24. 9 Vgl. Verf., »Kierkegaard’s Reception of German Vernacular Mysticism: Johann Tauler’s Sermon on the Feast of the Exaltation of the Cross and Practice in Christianity«, in: International Journal of Philosophy and Theology 80:4–5 (2019), 443–464. 10 Johann Tauler’s Predigten auf alle Sonn- und Festtage im Jahr. Zur Beförderung eines christlichen Sinnes und gottseligen Wandels, 3 Bd., hrsg. von Eduard Kuntze and Johann Heinrich Raphael Biesenthal, Berlin 1841–1842, Bd.  3 (im Folgenden: Johann Tauler’s Predigten 3), 159. Da Kierkegaard diese Ausgabe besaß, wird im Folgenden aus dieser zitiert und nicht aus der Edition von Ferdinand Vetter. 11 Vgl. Johann Tauler’s Predigten 3, 157. 12 Ebd., 162.



Bild und Entbildung

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Bild, Einbildung und Entbildung in Kierkegaards Einübung im Christentum Der dritte Teil der Einübung im Christentum (1851) beschreibt die Entwicklung eines Kindes zu einem authentischen Christen. Kierkegaard knüpft hier nicht nur an die Tradition des Bildungsromans an, sondern geht einen Schritt weiter und beschreibt Bildung als einen durch Bilder konstituierten Prozess.13 Eine entscheidende Rolle spielt dabei die von Eckhart und Tauler entwickelte Idee der Entbildung. Fiktiver Autor der Schrift ist Anti-Climacus. Er gilt als ernsthafter Sprecher Kierkegaards, als einer, der dem Ideal wahren Glaubens näher ist als Kierkegaard selbst. Anti-Climacus lädt seine Leser ein, sich den gekreuzigten Jesus vorzustellen, und zwar so, als sähen sie ihn zum ersten Mal. Wir werden direkt angesprochen: »Vergiß […] einen Augenblick alles, was du von ihm weißt […], gib ganz dich hin, als hörtest du zum ersten Male von Christus, dem Erniedrigten, erzählen.«14 Da eine solche Unvoreingenommenheit jedoch nicht möglich ist, weicht Anti-Climacus auf eine andere Strategie aus: »So denk dir denn ein Kind, dem du eine Freud machen möchtest. Zeig diesem Kinde einige jener künstlerisch unbedeutenden aber für Kinder so wertvollen Bilder, wie man sie in der Krambude kauft.«15 Inmitten der Bilderserie von Helden sollen wir ein Porträt des Gekreuzigten einfügen. Dieses fällt aus der Reihe, und das Kind ist perplex, es fragt, »was das zu bedeuten hat, warum der Mann an solch einem Balken hängt«.16 Anti-Climacus bittet uns dann, dem Kind von der Leidensgeschichte Jesu zu berichten. Das Kind ist so geschockt, dass es die nachfolgende Information über Jesu Himmelfahrt nicht aufnehmen kann, hat doch die Geschichte von Jesu Leiden einen derart tiefen Eindruck hinterlassen, »daß es sich ganz und gar nicht aufgelegt fühlt, von der Herrlichkeit zu hören, die hernach kam«.17 Damit unterscheidet sich das Kind von dem Erwachsenen – von uns, die ihm das Bildchen zeigen und erklären. Sich Jesus hauptsächlich als glorreich vorzustellen, ist laut Anti-Climacus sowohl dem Sozialisationsprozess als auch individueller Bequemlichkeit geschuldet, schließlich müsse man »schon gründlich verhunzt und durch die Gewohnheit vieler Jahre abgestumpft sein […], wenn man […] spornstreichs nach der Hoheit zu greifen vermag«.18 13 Siehe Joakim Garff, »Kierkegaards billeddannelsesroman – om at mime det sublime«, in: Geni og Apostel. Litteratur og teologi, hrsg. von David Bugge, Kopenhagen 2006, 11–27. 14 Kierkegaard, Einübung im Christentum, übersetzt von Emanuel Hirsch, Düsseldorf  /  Köln 1962 (Gesammelte Werke, Abt. 26), 166. Für eine ausführliche Analyse der Rolle des Bildes und der Einbildungskraft siehe Hjördis Becker-Lindenthal & Ruby Guyatt, »Kierkegaard on Existential Kenosis and the Power of the Image: Fear and Trembling and Practice in Christianity«, in: Modern Theology 35/4 (2019), 706–727. 15 Kierkegaard, Einübung im Christentum, 167. 16 Ebd., 167. 17 Ebd., 169. 18 Ebd., 169.

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Aufmerksame Leser werden es schon vermutet haben: Anti-Climacus geht es nicht um die Erziehung von Kindern. Indem Anti-Climacus vordergründig die ideale religiöse Bildung von Kindesbeinen an beschreibt, findet die Entbildung des Lesers statt. Derart darauf konzentriert, der Herausforderung gerecht zu werden und dem Kind ein bestimmtes Jesus-Bild zu vermitteln (nämlich das des Erniedrigten, nicht des Auferstandenen), entledigen wir uns unmerklich des konventio­ nellen Jesusbildes, das gängige Münze einer Weltreligion geworden ist. Zusammen mit dem imaginierten Kind, so zumindest die Hoffnung von Anti-Climacus, können wir dann das ursprüngliche Provokationspotential des Gott-Menschen neu erfahren.19 Anti-Climacus zeigt am Beispiel des aufwachsenden Kindes, wie das naiv wahrgenommene Jesus-Bild eine lebenslange Wirkung ausübt und das Selbst- und Weltverhältnis des Heranwachsenden prägt. Das Leiden Jesu, das sich in das Bildgedächtnis des Kindes regelrecht eingebrannt hat, motiviert zu authentischem Christsein, d. h. zu Nächstenliebe, Wahrhaftigkeit und Akzeptanz eigenen Leids. Diese Unvoreingenommenheit dem Gekreuzigten gegenüber ist im 19. Jahrhundert allerdings so gut wie unmöglich geworden, wurde doch das Konzept des erniedrigten Gott-Menschen (an sich ein unverständliches, widersprüchliches Zeichen: wie kann ein allmächtiger Gott sich kreuzigen lassen?) durch ein intellektuell zugängliches »phantastisches Bild von Christus [et phantastisk Billede af Christus]« ersetzt20 – durch das Bild des sieg- und ruhmreichen Christus. Verblasst ist damit auch die existentielle Provokation, verstummt die Frage, ob wir selbst auch »Gib uns Barabbas!« gerufen hätten. Dass ein popularisierter Hegelianismus die Rolle des christlichen Staates in der Weltgeschichte und die damit verbundene Unterordnung des Individuums unter das Allgemeine der Sittlichkeit feiert, erschwert die Sache laut Anti-Climacus zusätzlich: »Diese Erhebung des Bestehenden zur Gottheit ist die selbstgefällige Erfindung des verkehrten weltlichen menschlichen Sinns, der sich zur Ruhe setzen möchte und sich einbilden [bilde sig ind], daß nunmehr ewiger Friede und Sicherheit sei, nunmehr wir das Höchste erreicht haben.«21 Dies, so Anti-Climacus, ist jedoch eine Illusion. Denn laut Kierkegaard bedeutet wahrhafte Existenz, unsere radikale Eigenverantwortung gegenüber Gott zu akzeptieren, und dabei könne man sich nicht hinter religiösen Institutionen oder Konventionen des bürgerlichen Lebens verstecken. Anti-Climacus betont daher eindringlich, den Leser direkt ansprechend, dass es nicht erlaubt sei, »dir ohne Selbstprüfung ›von den andern‹ einbilden [indbilde] zu lassen, oder selber dir einzubilden [indbilde Dig selv], daß du 19 Damit hätten wir Kierkegaards Methode der indirekten Mitteilung an uns selbst erfahren, mit der er darauf zielt, »hinein[zu]täuschen in das Wahre«. (Kierkegaard, »Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller«, in: Die Schriften über sich selbst, übers. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf    /    Köln 1964 (Gesammelte Werke, Abt. 33), 48) 20 Kierkegaard, Einübung im Christentum, 92 (SKS 12, 107). 21 Ebd., 82 (SKS 12, 97).



Bild und Entbildung

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ein Christ seiest – also prüf dich nun selbst – wenn du nun zu gleicher Zeit mit ihm lebtest!«22 Um von Christus angezogen zu werden, wie in Johannes 12:32 versprochen, muss man zuerst die bequemen Vorstellungen von sich selbst, vom Christentum, von Nächstenliebe usw. loslassen. Diese Entbildung ist zugleich Voraussetzung und Ziel der Nachahmung Christi. Denn dem Vorbild Christi – auch im Dänischen heißt es Forbillede, wörtlich also ein Bild, welches sich vor uns befindet23 – zu folgen, bedeutet nicht allein, sein Leben von Nächstenliebe bestimmen zu lassen, sondern auch, sein bisheriges Selbst aufzugeben, in gewisser Weise also zu sterben. Natürlich können wir Jesus nicht vollständig imitieren. Schon eine solche Annahme ist laut Anti-Climacus ketzerisch. Worin besteht die Nachahmung dann? Die Einübung im Christentum, die Anti-Climacus uns vorschlägt, beruht auf der kontinuierlichen Praxis einer existentiellen Kenosis.24 Es ist von uns eine umfassende »Selbsttranszendierung«25 hinsichtlich der sozialen, politischen und kulturellen Vorstellungen gefordert, all der ›Bilder‹, welche uns konstituieren.26 Es gilt, unser Gottesbild, unsere Denkgewohnheiten, kollektiven Werte und Gebräuche, individuellen Vorlieben und Wünsche und schließlich unser Selbstbild aufzugeben. Denn all diese (das ist Anti-Climacus’ unhintergehbare Prämisse) sind selbstgefällig und bequem, kurzum: sündhaft. Das Bild des Anderen Nun handelt es sich bei der Einübung im Christentum um eines der religiösesten Werke Kierkegaards, und seine Betonung des Leidens als notwendiges Element wahren Christentums mag nicht nur für Konfessionslose eine anachronistische Zumutung darstellen. Was, so lässt sich fragen, könnte Nachfolge Christi im 21. Jahrhundert bedeuten? Wie wird man zu jemandem gebildet, der selbstlos Nächstenliebe ausübt, auch ohne bekennender Christ zu sein oder überhaupt einer Religion anzugehören?27 Gibt es ein zeitgenössisches Pendant zur Entbildung, wie Kierke­ gaard sie von Eckhart und Tauler übernommen hat? 22 Ebd., 37 (SKS 12, 52). 23 Ebd., 229 f. (SKS 12, 232). 24 Vgl. David R. Law, Kierkegaard’s Kenotic Christology, Oxford 2013, 286, 287. 25 Merold Westphal, »Kenosis and Offense: A Kierkegaardian Look at Divine Transcen-

dence«, in: International Kierkegaard Commentary, Bd.  2 0 (Practice in Christianity), hrsg. von Robert L. Perkins, Macon, GA 2004, 19–46, 23. 26 Schüler Ralf Konersmanns werden bei derart radikalen Forderungen hellhörig, können wir die Gegebenheiten der Kultur doch nicht einfach per Dekret hinter uns lassen. Es ist jedoch die Unabschließbarkeit des Prozesses zu betonen. Und auch das reflexiv wahrgenommene Scheitern einer kulturellen Entleerung fungiert als Teil existentieller Kenosis. 27 Es wären hier die nicht-theistischen Religionen zu erwähnen, für die existentielle Kenosis ein zentrales Element spiritueller Praxis ist.

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Kierkegaards Adaption der mystischen Bildtheorie veranschaulicht etwas Offensichtliches, das dennoch gern verdrängt wird: Die Minuten, die wir damit verbringen, Selfies zu produzieren, sie zu bearbeiten und in social media zu verbreiten, sind Momente der Egozentrik, in denen wir geradezu randvoll von uns sind. Diese Minuten summieren sich und werden zur Gewohnheit, konstituieren schließlich eine Lebensauffassung. Wenn wir uns ständig selbst betrachten, verschwindet der Andere. Allein schon die rhetorische Frage, ob Jesus Selfies gemacht haben würde, hätte er die technischen Möglichkeiten gehabt, erscheint als blasphemisch – daran wird die ethische Problematik der digitalen Selbstbildnisse deutlich. Und selbst für Atheisten wirkt ein Selfie unter dem Kreuz unangemessen, das ließ sich bei der Produktion des Fotos erfahren, welches diesem Essay zugrunde liegt.28 Unsere Kultur der digitalen Bilder birgt jedoch auch das Potential der Entbildung – einer Reinigung von unseren Selbstbildern, von den Selfies der Celebrities, von dem Glanz eines auf Konsum und manipulierbare Schönheit ausgerichteten Lebens. Denn ab und an, wie aus dem Bilderbogen von Anti-Climacus’ Kind, fällt uns aus der Bilderflut der Medien ein Foto entgegen, vor dem auf einen Schlag unser Selbst- und Weltverständnis nichtig wird. Man denke nur an das Bild des ertrunkenen Migranten mit seinem Kind; mit dem Gesicht nach unten liegen sie angespült zwischen Plastikmüll, das Ärmchen der Zweijährigen immer noch um den Hals des Vaters geschlungen. Der Widerschein des Gekreuzigten begegnet uns in Bildern wie diesen. Die Frage, die sich uns stellt, ist ganz einfach: Was machen wir damit? Verdrängen wir sie, übertünchen wir sie mit Bildern unseres Selbst, fliehen wir in die digitale Illusion einer geschönten Welt? Oder lassen wir uns entbilden und werden empfänglich für das Leid derer, die unserer Nächstenliebe bedürfen?

28 Selfies mit Jesus als Gekreuzigtem sind extrem selten, es gibt sie jedoch mit Jesus als Erlöserfigur. Um die Welt gingen die Bilder eines Briten, der in Rio de Janeiro auf der Statue von Christ The Redeemer sich für Selfies in Positur geworfen hatte. Vgl. BBC Newsbeat, 2. Juni 2014.

Günter Figal, Jean-Paul Sartre auf der rororo-Bildmonographie, 2019.

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Das Bild des Philosophen 1. Wie sieht ein Philosoph aus? Für den Gymnasiasten, der ich war, nicht wie Sokra­ tes, Platon oder Aristoteles, also nicht mit Vollbart und aus Marmor oder Gips. Er trägt keine weiß gepuderte Perücke mit Zopf, keinen überlangen Seehundschnauzer und auch kein scharf geschnittenes Bärtchen zu süddeutscher Tracht mit Zipfelmütze. Er trägt einen robusten Mantel mit – echtem oder imitiertem? – Fellkragen. Das glatte Haar ist auf der linken Seite gescheitelt, die Brille, wahrscheinlich aus Horn, ist eher rund. Mit der linken Hand hält er eine Tabakspfeife, an der er zieht – nachdenklich, skeptisch, wie die Stirnfalten und die leicht nach unten gezogenen Mundwinkel verraten. Für den Gymnasiasten, der ich war, sah ein Philosoph also aus wie Jean-Paul Sartre, und er war es auch, den ich als ersten Philosophen wahrnahm – weniger als Autor seiner im engeren Sinne philosophischen Schriften, zum Beispiel L’Être et le néant oder La Transcendance de l’Ego, die erst später, während des Studiums, auf mein Bücherregal fanden, sondern als Dramatiker und Erzähler. Seine Theaterstücke, Erzählungen und Romane erschienen mir philosophisch genug, darin, dass sie Grenzsituationen vorführten und zeigten, wie Menschen sich in diesen verhalten. Noch bevor ich mit dem Wort ›Existenzphilosophie‹ etwas anfangen konnte, lernte ich aus Sartres literarischen Texten, was mit dem Wort gemeint sein konnte. Das Bild des Philosophen sah ich auf einem Buch. Es war auf dem Umschlag der von Walter Biemel verfassten rororo bildmonographie über Sartre zu sehen. ›Schwarzweiß‹ mag man die Photographie kaum nennen, denn sie ist in einem gelblichen Grün oder grünlichen Gelb eingefärbt, einer bereits auf den ersten Blick trostlosen Farbe, die, wie sich der Gestalter möglicherweise gedacht hatte, zum eher trost­ losen Inhalt von Sartres Schriften passen sollte. Meine Ausgabe von Biemels Monographie enthält keinen Hinweis auf das Titelbild. Nachgewiesen sind nur die Photographien im Inneren des Bandes, die sehr viel weniger eindrucksvoll sind – Bilder aus dem Familienalbum, Schnappschüsse, Pressephotos, konventionelle Photographenarbeiten, die den Philosophen zeigen, ohne ihn wirklich zu zeigen: Jugendbilder, Sartre als Soldat, Sartre am Schreibtisch vor einer Bücherwand, bei Theaterproben, im Gespräch mit Journalisten, mit anderen in einer Bar, auf dem Balkon seiner Wohnung, am Zeitungskiosk, hinter Mikrophonen, auf Reisen mit Simone de Beauvoir. Man sieht ihn als Autor, als öffentliche Person, seltener als Privatmann. Doch man sieht nicht diesen nachdenklichen und ein wenig verloren wirkenden, zur Seite blickenden Mann, wobei der Blick zur Seite durch die Schrägstellung des rechten Auges noch verstärkt wird.

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Nur das Titelbild der ›Bildmonographie‹ war so, dass es als Bild eines Philosophen einleuchten und sich im Gedächtnis festsetzen konnte. 2. Erst sehr viel später sah ich das Bild wieder, bei einer Ausstellung im Martin-­ Gropius-Bau in Berlin, im Sommer 2004, im Rahmen einer dem Photographen, der es gemacht hat, gewidmeten Retrospektive. Diesem, Henri Cartier-Bresson, war das Bild so wichtig, dass er es in das erste von ihm selbst konzipierte und zusammengestellte Buch mit seinen Photographien aufgenommen hat – Images à la Sauvette, ›Bilder auf die Schnelle‹, im selben Jahr, 1952, auf Englisch unter dem Titel The Decisive Moment. Es ist ein Kunstbuch im mehrfachen Sinn des Wortes – großformatig, so dass es den Photographien den Raum gibt, den sie brauchen, auf sehr hochwertigem, ganz leicht getöntem, mattem Papier direkt von den Negativen gedruckt, so dass man noch die feinsten Abstufungen der Grautöne sieht. Einband, Schutzumschlag und Schuber sind von Henri Matisse gestaltet. Das Bild des Philosophen findet sich auf Seite 60. Bezeichnet ist es nicht auf derselben Seite wie die Photographie, sondern in einem auf den ersten Abbildungsteil des Buches folgenden Anhang: Jean-Paul Sartre on the Pont des Arts, Paris, 1946. Cartier-Bresson hat das Bild auch in die letzte von ihm selbst zusammengestellte Auswahl seiner Arbeiten aufgenommen, in den 1979 erschienen Band Henri Cartier-Bresson, photographe. Doch will man Cartier-Bressons Photographien und nicht nur Abbildungen von ihnen sehen, ohne dass man Zugang zu Originalabzügen hätte, muss man The Decisive Moment betrachten. Schlägt man das Buch auf Seite 60 auf und legt die rororo Bildmonographie daneben, so mag man erstaunt und auch verärgert sein, denn man sieht auf den ersten Blick, wie Cartier-Bressons Photographie verf älscht wurde. Der Umschlag von Biemels Monographie zeigt nur einen Ausschnitt, der mit Cartier-Bressons Bild so viel zu tun hat, wie die gekürzte Fassung eines Gedichts mit dem Gedicht selbst. Zwar ist auch auf dem Umschlag der Monographie zu sehen, dass Sartre nicht allein ist. Ein Mann, der eine Aktentasche vor sich hält, steht ihm im verlorenen Profil am rechten Bildrand gegenüber und schaut ihn an, indem er auf ihn herabschaut. Doch seine Gestalt ist so abgeschnitten, dass Kopf und Schulter zusammenhanglos wirken. Zwar lässt auch das Umschlagbild sehen, dass Sartre auf einer Brücke steht. Hinter ihm zieht sich etwas, das als Brückengeländer identifiziert werden kann, schräg nach links oben, und am oberen linken Bildrand ist unscharf eine Laterne zu sehen – schaut man genauer hin, ahnt man, dass sich hinter ihr, diffus und verschwimmend, die Reihe der Laternen fortsetzt. Doch die Brücke bleibt schemenhaft. Hätte man nur den Umschlag der ›Bildmonographie‹, wäre es unmöglich, sie zu identifizieren. Auf Cartier-Bressons Photographie sieht man die Brücke, die für den Buchumschlag auf der linken Seite brutal abgeschnitten ist, sehr viel deutlicher. Kennt



Das Bild des Philosophen

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man den Ort, so weiß man, auch ohne die Bildlegende in The Decisive Moment zu lesen, dass es Pont des Arts ist. Im Hintergrund, auf dem linken Seine-Ufer, ragt die Kuppel des Collège des Quatre Nations auf, das der Sitz des Institut de France ist. Auch sieht man, wie sich links und vor allem rechts unter der Kuppel Gebäude erstrecken, man ahnt den Fluss. Und während die über die Brücke führende Straße auf dem Umschlagbild schlammig eingefärbt ist, hat sie auf Cartier-Bressons Photographie zum Hintergrund hin, unterhalb der Kuppel, Lichtflecken, die das Bild von hinten erhellen. Doch auf der Umschlagversion des Bildes sind nicht nur die Szenerie und Sartres Gegenüber beschnitten. Auch der Blick auf Sartre ist verfälscht. Der Buchgestalter hat den Ausschnitt so gewählt, dass Sartre beinah im Zentrum steht. In der Monographie geht es um ihn, und das soll man sehen. Aber mit dem Ausschnitt hat man Sartre die ›exzentrische Position‹, die er auf Cartier-Bressons Photographie hat, genommen – im rechten unteren Viertel des Bildes, als Halbfigur, deren linke Schulter ebenso wie die linke, die Pfeife haltende Hand durch die Gestalt seines Gegenübers verdeckt ist, im lichten Raum der verschwimmenden Stadtszenerie. Auch ist durch die Beschneidung des Bildes die Kameraperspektive unkenntlich geworden. Cartier-Bresson hat Sartre deutlich von oben photographiert, von einer auch im Verhältnis zu Sartres Gegenüber erhöhten Position aus, die den Philosophen sehr klein wirken lässt – so klein wie er war und vielleicht noch ein wenig kleiner. Zu diesem Eindruck trägt auch die steil ins Bild ragende Form des Brückengeländers bei. Sartre scheint auf dem tiefsten Punkt des Bildes zu stehen – sein Gegenüber schaut auf ihn herab und die Kamera noch mehr. So, im rechten unteren Viertel des Bildes mit viel freiem Raum neben und über sich, sieht Sartre unsicher, beinah verletzlich aus, gar nicht wie ein schon berühmter Autor, drei Jahre nach der Veröffentlichung seines philosophischen Hauptwerks und seiner so erfolgreichen Version des Atridenmythos, dem Drama Les mouches, ein Jahr, nachdem er sich entschlossen hatte, als freier Schriftsteller zu leben. 3. Solche biographischen Details sieht man nicht auf Cartier-Bressons Photographie – man kommt auf sie nur im Anschluss an die Jahresangabe der Bildbezeichnung. Was man sieht, hat einen Zusammenhang ganz eigener, nicht lebens- und werkgeschichtlicher Art. Man sieht eine Situation, ein Treffen auf dem Pont des Arts, Sartre hat jemanden getroffen, den er möglicherweise kennt, und ist angesprochen worden. Oder er wird gerade angesprochen, hört zu und überlegt, was er antworten soll. Aber sieht man das oder vermutet man es nur? Denkt man sich zu der Photographie, während man sie betrachtet, nur eine Geschichte aus? Man sieht Sartres Gegenüber nicht sprechen, und ob Sartre zuhört oder abwesend ist und an etwas anderes denkt, ist auch nicht zu sehen. Was man sieht, ist nichts als eine Photogra-

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phie, und die Situation, wie sie gerade skizziert wurde, ist nur mit der Photographie da – nicht als wirkliche Begegnung zweier Personen auf dem Pont des Arts, deren Verlauf man erzählen könnte. Es gibt die Begegnung nur als Bildsituation – zwei Personen, eine von ihnen im verlorenen Profil und durch den Bildrand abgeschnitten, die andere ihr gegenüber, en face, den Blick leicht von ihrem Gegenüber abgewendet, und beide im Ausschnitt, als Halbfiguren, im rechten unteren Bildviertel, darüber der Himmel, die Silhouette des Collège des Quatre Nations und über und neben ihnen der bis auf eine schemenhafte dritte Person leere Pont des Arts. Die Situation des Bildes ist dieses Bild, sie ist das begrenzte Ganze, das CartierBressons Photographie ist. Das sollte man nicht so verstehen, als gäbe es das Treffen von Sartre und seinem Gegenüber auf dem Pont des Arts allein in der Photographie. Irgendwann im Jahr 1946 standen die beiden auf dieser Brücke, sonst hätte Cartier-Bresson seine Aufnahme nicht machen können. Die Photographie ist eine realistische Kunst. Damit eine Kamera etwas registrieren, ›aufnehmen‹ kann, muss etwas da sein, eine bestimmte Verteilung von Licht und Schatten, die auf die lichtempfindliche Oberfläche des Films – oder inzwischen auf den Sensor einer Digitalkamera – bei der Öffnung der Objektivblende einwirkt. Doch wie diese Einwirkung geschieht, lässt sich bestimmen, zunächst indem man die Lichtempfindlichkeit des Films oder Sensors sowie die Belichtungszeit und die Blendenöffnung einstellt. Außerdem legt man durch die Wahl des Objektivs und beim Blick durch den Sucher den Ausschnitt der Photographie fest. Vor allem dabei entscheidet sich, ob eine Photographie ein stimmiges Bild wird, also etwas Geschlossenes, das auf irgendwie einleuchtende Weise eine Ganzheit seiner Momente ist. Das photographische Bild ist immer das Bild von etwas Realem. Aber die Photographie als solche ist nicht dieses Reale, sondern ein mehr oder weniger gelungenes, mehr oder weniger gestaltetes oder auch manipuliertes Bild. Cartier-Bresson hat von der nachträglichen Bearbeitung belichteter Negative nichts gehalten. Das Beschneiden eines Bildes und sogar die Ausschnittvergrößerung lehnt er ausdrücklich ab. Sie sei der Tod des geometrisch richtigen Zusammenspiels von Proportionen und außerdem geschehe es nur sehr selten, dass eine schwach komponierte Photographie unter dem Vergrößerungsgerät der Dunkelkammer gerettet werden könne. Nach seiner Überzeugung sollte eine Photographie im Augenblick der Aufnahme entstehen und dabei so realistisch und zugleich so sehr Bild wie nur irgend möglich sein. Wie Cartier-Bresson im Vorwort zu The Decisive Moment schreibt, sollte man die Realität weder bei der Aufnahme noch in der Dunkelkammer manipulieren. Um Manipulationen bei der Aufnahme auszuschließen, hat Cartier-Bresson am liebsten Objektive der Brennweite 50 mm verwendet, denn beim Kleinbildformat der von ihm bevorzugten Leica-Kameras kommen diese dem normalen menschlichen Blick am nächsten. Aber die Photographie ist für Cartier-Bresson trotzdem keine protokollarische Aufzeichnung des Blicks. Entscheidend ist vielmehr die Komposition des Bildes im Sucher. Cartier-Bresson nennt sie the result of a simultaneous coalition, the organic co-



Das Bild des Philosophen

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ordination of elements seen by the eye und bezeichnet sie damit als etwas, worauf man sich beim Photographieren einstellt und das man zugleich gestalten muss – intuitiv, im flüchtigen Augenblick der Aufnahme. So musste der Photograph die Situation auf dem Pont des Arts, das Gegenüber der beiden Personen, sehen, und er musste im Augenblick sehen, wie das Gesehene – Sartre und sein Gegenüber, die Brücke, das linke Seineufer mit dem Collège des Quatre Nations – im Sucher der Kamera zum Bild werden konnte, das potentielle, gesehene Bild zum gestalteten Bild. Diese beiden Weisen des Sehens dürften kaum trennscharf voneinander zu isolieren sein. Beim Photographieren sieht man kein potentielles Bild, das man festhalten und dann, in einem eigenen Vorgang, mit der Kamera nur noch umsetzen würde. Doch andererseits sind die Wahrnehmung eines potentiellen Bildes und der Blick durch den Sucher auch nicht einfach dasselbe. Vielmehr gehören sie in ihrer Verschiedenheit zusammen und bilden in ihrer Zusammengehörigkeit die eigentümliche Spannung des Photographierens. Zur Photographie, schreibt Cartier-Bresson im Vorwort zu The Decisive Moment, gehöre das Erkennen eines Rhythmus in der Welt der realen Dinge – the recognition of a rhythm in the world of real things – also, wie man das erläutern kann, einer Ordnung in der Bewegtheit der Dinge. Der Rhythmus kann eine Verteilung von Licht und Schatten sein, ein besonderes Gefüge von Linien oder Formen oder auch die Weise, in der etwas oder jemand sich von einem Hintergrund abhebt oder in einer offenen Weite steht. Eine solche Ordnung ist darin rhythmisch, dass sie in die Bewegtheit gehört, auch in die Ruhe, wenn die Ruhe so ist, dass sie wieder in Bewegung übergehen oder umschlagen kann. In jedem Fall muss sie von einer bestimmten ikonischen Dichte sein, um als potentielles Bild entdeckt werden zu können und so die photographische Bildgestaltung zu motivieren. Sie ist Motiv im Wortsinne, jedoch nur dann, wenn jemand schon mit einem Kamerablick und einer Kamera in der Hand durch die Welt geht. Dann aber ist eine wahrgenommene ikonische Dichte motivierend und herausfordernd – wie eine Frage, auf die ein fertiges Bild eine Antwort ist. Ob diese Antwort angemessen ist oder nicht, lässt sich allerdings nicht entscheiden, indem man sie gleichsam neben die Frage hält, denn sobald die Antwort, das gestaltete Bild, vorliegt, ist die Frage, das potentielle Bild, so, wie es die Antwort motiviert hatte, nicht mehr da. Seine ikonische Dichte ist in die des gestalteten Bildes transformiert worden. Dieses bezeugt, dass die Welt ikonisch dicht sein kann. Wenn das gestaltete Bild gelungen oder gar ein Kunstwerk ist, ist es kein Abbild, sondern ein Zeugnis für die ikonische Dichte der Welt. Das photographische Frage-und-Antwort-Spiel findet, mit Cartier-Bressons Buchtitel gesagt, ›im entscheidenden Augenblick‹ statt. Zögert man etwas zu lange, so kann die motivierende Frage, auf die ein Bild antworten soll, vorbei und also nicht mehr beantwortbar sein. Deshalb ist die Photographie, wie Cartier-Bresson sie versteht, intuitiv. Sie geschieht in einer Aufmerksamkeit, die sich von den erscheinenden Dingen in Anspruch nehmen lässt und diesen Anspruch in bewusster Wahrnehmung und Gestaltung einlöst. Sie ist Wachheit im sehenden Tun und tuenden Sehen und ganz sie selbst, wenn sie einfach nur beim Sichtbaren ist,

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ohne den Hiat einer Möglichkeiten abwägenden Überlegung. Oder wie CartierBresson es ausdrückt: You must be on the alert with the brain, the eye, the heart, and have a suppleness of the body – Zen in der Kunst des Photographierens. 4. Meine erste Faszination für das Bild des Philosophen hatte nichts mit der Photographie zu tun. Ich wusste ja noch nicht einmal, von wem das Bild stammte, und als Bild ließ sich der Ausschnitt, auf den man Cartier-Bressons Werk reduziert hatte, ohnehin nicht beurteilen. Was mich faszinierte, war der Philosoph, der zugleich ein Schriftsteller war, seine verletzlich wirkende Skepsis und Illusionslosigkeit. Die Faszination wurde mit den Jahren weniger. Dass Sartre ideologisch wurde, sich in Radikalismen verstrickte und sich sogar von den Anwälten der ›Roten Armee Fraktion‹ instrumentalisieren ließ, fand ich befremdend. Dafür hatte ich inzwischen mehr von ihm gelesen, nicht nur die Genealogie seines Lebens als Autor, sein grandioses Buch über ›die Wörter‹, sondern vor allem sein frühes philosophisches Hauptwerk mit seinen eindringlichen Beschreibungen, zum Beispiel der Unaufrichtigkeit (mauvaise foi) und des beobachtenden und fixierenden Blicks, der bewirkt, dass man nicht mehr ›Herr der Situation‹ ist. Sartre schaut bei seinen Beschreibungen genau hin. Er trifft Erfahrungen wie die, sich beobachtet zu fühlen, so genau und eindringlich, dass man ihm beim Lesen immer wieder zustimmen möchte. Gemessen am philosophischen Anspruch seines Buches hat Sartre damit erreicht, was beabsichtigt war, nämlich das, was sich zeigt, so zu beschreiben, wie es sich zeigt. Sartres L’Être et le néant ist ein Beitrag zur Phänomenologie, der Philosophie also, für die Phänomene keine oberflächlichen Erscheinungen sind, hinter denen ein ›wahres Sein‹ (un être véritable) stünde, sondern gültige Erfahrungskorrelate, etwas, das ›absolut sich selbst anzeigend‹ ist (absolument indicatif de lui-même). Doch andererseits scheint Sartre den Phänomenen weniger zu trauen, als man es könnte. Seine Gedankengänge sind nicht selten allzu abstrakt, sie leben von begriff lichen Unterscheidungen, die oft genug nicht deskriptiv ausgewiesen sind und so über das nur Begriff liche nicht hinauskommen. Das philosophische Denken, wie es sich mit L’Être et le néant artikuliert, steht eigentümlich fremd in der Welt, zumindest immer dann, wenn es so bei sich bleibt wie der Autor des Buches auf der Photographie von Cartier-Bresson – wie der Autor, der als Phänomenologe vom ›An sich‹ des phänomenalen ›Seins‹ ausgeht und schließlich doch, durch die Negation des ›Seins‹, beim ›Für sich‹ des Menschen und bei der ›existentiellen Psychoanalyse‹ ankommt. Könnte, ja müsste die Phänomenologie nicht offener für die Phänomene sein und damit photographischer, so wie der Blick des Photographen Cartier-Bresson offen für den Rhythmus der Welt realer Dinge ist und auf diesen mit seinen Bildfindungen antwortet? Dazu muss sie nur den Phänomenen vertrauen. Wenn Be-



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griffe zu einer Beschreibungsdichte finden, in der sie auf den Rhythmus der Welt antworten, sind sie wie photographische Bilder und derart ganz im Sinne einer in der Anschauung begründeten, von der Anschauung geleiteten Phänomenologie. Nicht das Bild des Philosophen, sondern das Bild als solches und die Philosophie, die im Bild steckt, sind dann philosophisch motivierend – nicht nur zur begriff lich reflektierten Betrachtung photographischer Bilder, sondern auch dazu, den phänomenologischen Blick photographisch zu schulen. Wenn das möglich ist, kann auch der Blick durch den Sucher einer Kamera philosophisch sein.

Ohne Titel.

Monika Schmitz-Emans

Umriss-Hände Fundstück 1:  Kinderhandabdrücke auf einem Leinenbeutel Ein Erinnerungsstück, in mehr als einem Sinn ein Bild ›von Kinderhand‹. Angeleitet von Kindergärtnerinnen hat es ein kleiner Junge vor mehr als 25 Jahren hergestellt, in dem er seine beiden mit Farbe bedeckten Handflächen auf einen Leinenbeutel drückte. Ein Bild, das an viele ähnliche Bilder denken lässt, begonnen bei prähistorischen. Zu den frühesten bildartigen Spuren menschlicher Kultur gehören Handabdrücke an Höhlenwänden verschiedenster Regionen – Produkte einer frühen artistischen, möglicherweise rituellen Praxis, über deren Bedeutung und Funktion sich allerdings nur spekulieren lässt. Solche Bilder aus dem Kindergarten der Kultur deuten voraus auf verschiedenste Verfahren, Räume durch Bedeckung mit Zeichen mit Bedeutung anzureichern, sie in Besitz zu nehmen oder anderen Instanzen zu widmen. Und sie erscheinen als Vorläufer einer sich in vielen weiteren Spielformen ausdifferenzierenden Kunstpraxis. Fundstück 2:  John Cage / Lois Long: »Mud Book« Die Hand ist zum Gegenstand vielfältiger philosophischer, kulturtheoretischer und anthropologischer Diskurse geworden; dabei ging es (unter wechselnden Akzentuierungen) um Kernthemen, die sich an den Fingern einer Hand allein nicht mehr abzählen lassen.1 So erscheint (erstens) die Hand als Grundwerkzeug des Menschen, als Matrix, Muster und praktisch-konkrete Möglichkeitsbedingung anderer, ja aller Werkzeuge, als Schnittstelle zwischen menschlichem Körper und Technik.2 Schon Aristoteles (De anima 3, 8, 432; De partibus animalium, IV, 10, 687 a) würdigt 1 Vgl. zum Thema u. a.: Benjamin Bühler, Art. »Hand«, in: Kultur. Ein Machinarium des Wissens, hrsg. von Benjamin Bühler und Stefan Rieger, Frankfurt / M. 2014, 60–79. – Elias Canetti, Masse und Macht (1960), Frankfurt / M. 2006. – Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kultur­ geschichte, hrsg. von Mariacarla Gadebusch Bondio, Berlin 2010. 2 »Unmittelbar durch die Hand wird ohne Ausnahme das gesammte Handwerkszeug in Bewegung gesetzt. Ihre Betheiligung giebt die Unterscheidung von Handbohrer und Maschinenbohrer. Die Bewegung des Handwerkszeuges ist die Fortsetzung der Hand- und Armbewegung durch Ueberleitung derselben auf die technische Verlängerung, die in Form eines Glied­ ansatzes an das Organ stattfindet. Dieselbe nimmt an den Bewegungen des natürlichen Werkzeuges Theil und folgt ihnen um so ungestörter und leichter, je handlicher die Anpassung bewerkstelligt worden ist.« Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten (1877), hrsg. von Christian A. Bachmann und Sylvia Kokot, Berlin 2015, 65.

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John Cage / Lois Long, Mud Book. How to make pies and cakes, Abrams & Chronicle Books 2017.

sie in diesem Sinn.3 Als Werkzeug wird die greifende und gestaltende Hand (zweitens) zu demjenigen Organ, das die Genese und Ausdifferenzierung menschlicher Kultur tiefgreifend beeinflusst.4 Gerade in dieser Funktion liefert sie (drittens) ein Kriterium der Differenzierung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen. Zahllose Reflexionen von Kulturphilosophen und Paläontologen gelten dem Bedingungszusammenhang zwischen dem aufrechten Gang der Primaten, der Entwicklung neuer Wahrnehmungsmodi, des menschlichen Gehirns sowie menschentypischer Lebens- und Verhaltensweisen, darunter insbesondere der Ge3 Vgl. dazu Sergius Kodera, »Giordano Brunos (1548–1600) Lob der Hand: eine Philosophie der Transgression«, Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte, 63–77. 4 Vgl. u. a. Gerhard Baader: »Die Hand in der Tradition des Tenach, der Mischna und des Talmud«, Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte, 3–21.

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brauch von Werkzeugen.5 Fragen nach der Hand, ihren Wirkungsweisen, ihren Produkten und Spuren eröffnen ein breites Feld entwicklungsbiologischer, psychologischer, verhaltenstheoretischer, kultur-, kunst- und technikphilosophischer Diskurse.6 In den Blick rückt dabei (viertens) unter anderem die Hand als Produzentin von Zeichen, von »Graphien«, von Kultur- und Kunstobjekten, nicht zuletzt von Schriften. Dass Schriftstellerei eine Art »Handwerk« ist, rufen vor allem moderne und zeitgenössische Autoren gern in Erinnerung.7 Kultur-, sozial- und kommunikationstheoretisch interessant ist die Hand (fünftens) als Exekutivorgan verschiedener Gesten und sonstiger Hand-Zeichen, schlichter und spontaner wie auch intentionaler und hochgradig symbolischer. Gesten des Grüßens leiten Kommunikationsprozesse ein oder markieren deren Ende; das Winken signalisiert Verbundenheit auch über Distanzen hinweg. Handzeichen überwinden oder ziehen (sechstens) aber auch selbst Grenzen, schon weil deren Markierung unausweichlich mit Handarbeit einhergeht (etwa wenn Mauern gebaut, Gräben angelegt, Stigmatisierungen vorgenommen werden). Symbolisches Relikt eines vertrauensvollen Sich-Auslieferns ans Gegenüber, neutralisiert der Händedruck Fremdheitsmomente und bekräftigt auch Verträge zwischen Partnern, die als Antagonisten agieren. Zeiten und Räume, kulturelle Differenzen sowie die Gegenläufigkeit rechtlicher und ökonomischer Interessen überbrückend, erscheint die Hand als ein Organ, das zugleich Zeichen produziert, Zeichen gibt und Zeichen ist: Bilder der Hand sind ausnehmend symbolische und dabei polyseme Bilder. John Cages und Lois Longs Mud Book, Untertitel How to make pies and cakes, entstanden in den 1950er Jahren (erstpubliziert 1983, neuaufgelegt in New York 2017), ist eine Anleitung zum Matschkuchenbacken. Entscheidend für die Entstehung der »mud pie« sind vor allem die Hände; dies signalisiert schon der Schutzumschlag der Ausgabe von 2017, der das weißgebliebene Umrissbild einer Hand zeigt, das von braunen Matschspuren umgeben ist, durch sie also erst seine Kontur gewinnt. Dass die Hand selbst von Matsch bedeckt wird, wenn sie mit diesem arbeitet, illustrieren, komplementär dazu, braune Handabdrücke im Buch, die denen von Fundstück  1 gleichen: Handformen auf hellem Grund. Als praktischer Ratgeber zum Matschkuchenbacken durchaus brauchbar, ist das Mud Book zugleich ­Materialisierung einer Ästhetik. Es macht sinnfällig, wie die Hand, das von ihr verarbeitete Material und das dabei erzeugte Produkt sich wechselseitig beeinflussen – in einem Zusammenwirken, das zugleich ein reizvolles Gesellschaftsspiel sein kann.

5 Vgl. u. a. André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst (1964/65), Frankfurt / M. 1980. 6 Vgl. u. a. Ernst Cassirer, »Form und Technik« (1930), in: Technikphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von Peter Fischer, Leipzig 1996, 157–213. 7 Vgl. insbesondere Roland Barthes, Variations sur l’écriture/Variationen über die Schrift, übers. von Hans Horst Henschen, Mainz 2006.

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Fundstück 3:  Ein Touristenprospekt mit Abbildungen prähistorischer Handumrisse an den Wänden der Höhlen von Gargas bei Aventignan, Hautes Pyrénées Ein Bild von Bildern mit einem mehrfachen Zeitindex, aufgetaucht als ein weiteres (nicht gesuchtes, nicht erwartetes) Erinnerungsstück: Auf der Frontseite eines Faltblattes über die »Grottes préhistoriques« von Gargas (»Récouverture en juillet 2003, nouvel eménagement, nouvel éclairage, ouvert toute l’année«) findet sich das Foto eines Handumriss-Bildes an einer Höhlenwand; weitere Hand-Bilder werden beim Entfalten sichtbar, daneben andere Bilder (von Tieren), produziert durch Ritzung oder durch Farbauftrag. Prähistorische Abdruck- und Umrissbilder von Händen gehören zusammen mit den geritzten und gezeichneten Bildern verschiedener Objekte zu den Urtypen des Bildes. Während der Abdruck eine bildhafte Spur darstellt (wie sie auch unabsichtlich entstehen kann), resultiert das Umrissbild aus einer Konturierung. Es erinnert an den Mythos vom Ursprung der Malerei aus der Fixierung eines Schattenbildes durch eine Töpferstochter, die damit zum ersten Maler wurde: die Tochter des Butades, die den Schatten ihres in den Krieg ziehenden Geliebten an der Wand umriss und so fixierte (vgl. Plinius, Naturalis historia 35,151–152). Ausgehend von diesem Gründungsmythos der Porträtkunst, erscheint das Umrissbild als Inbegriff des Bildes, als Matrix aller Bilder. Impliziert ist im Mythos über die Genese der Porträtmalerei eine Idee über deren Funktion: Es gilt, das Flüchtige wenigstens in effigie festzuhalten, um so der Zeit und der Sterblichkeit etwas entgegen zu setzen. Auch Handumriss-Bilder lassen sich als Fixierungen betrachten, wenngleich sie primär zu anderen Zwecken produziert worden sein mögen: Sie sind Abbilder von Körperteilen (wie die Silhouette), Produkte der Verwandlung von Bewegungen in statische Ansichten (wie die Fotografie), relativ dauerhafte Relikte flüchtiger Lebensmomente. Als Inbegriff des Bildes betrachtet, machen sie den Zeitindex von Bildern umso stärker bewusst, als sie aus so fernen Zeiten menschlicher Prähistorie stammen, dass eine Deutung spekulativ bleiben muss. Und doch signalisieren sie immerhin eines ganz gewiss: »Wir waren hier«. Der Akzent liegt allerdings nicht nur auf »hier«, sondern auch auf »waren«: Sichtbar sind die Handabdrücke, die Hände selbst sind längst unsichtbar. Nicht nur mit Blick auf das Alter der Bilder von Gargas deutet der HöhlenProspekt deren Zeitlichkeitsindex an. Er verweist auch auf die Geschichte des Sehens dieser Bilder, die der Wiederentdeckung lange unzugänglicher Bildräume, der Neuorganisation ihrer Besichtigungsmöglichkeiten samt neuen Öffnungszeiten. Und den, der viele Jahre später den Prospekt findet, erinnert dieser auch an die seit dem eigenen Besuch vergangene Zeit. Bilder scheinen Fenster in die Vergangenheit zu sein – in diesem Fall gleich in mehrere Vergangenheiten. Und doch: Dass es Umrissbilder sind, gibt zu denken. Das, was das Bild hervorgerufen hat, ist gerade nicht ›im Bild‹, bleibt das unsichtbare Pendant des Sichtbaren. Das Foto im Prospekt ist nicht ›das Bild‹, ist nur ein Negativabdruck eines Negativabdrucks,

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und in der Erinnerung kehrt Vergangenes nicht wirklich zurück – allenfalls im Umrissbild. Fundstück 4:  Katalog: Robert Filliou. Centre Georges Pompidou. Musée national d’art moderne. Galeries Contemporaines. 10 juillet – 15 septembre 1991 (Paris 1991) »Wir waren hier« – das bleibt im Fall der Höhlenhandmalereien denkbar unbestimmt, anders als im Fall des Leinenbeutels aus dem Kindergarten. Und doch ist das Abbild der Hand Spur und Index von jemand Besonderem – zumindest kann man sich von diesem Gedanken schwer lösen –, von ›einem‹, der ›da war‹ und sich in seinem Handumriss profiliert hat. Während allerdings Gesichtsprofilbilder (Schattenrisse, Foto-Silhouetten) bis heute dazu dienen können, jemanden als Individuum zu porträtieren, werden Handumrisse dazu kaum je eingesetzt (eine gewisse Suggestion von »das ist genau meine Hand« haftet allerdings an Objekten wie Fundstück 1, aber da ist der Empfänger des Handabdrucks ja auch mit dem Urheber ohnehin bestens bekannt). Nur Fingerabdrücke als späte, mittels moderner Bildgebungsverfahren ermöglichte Objekte zur Identifikation individueller Händebesitzer, dienen genau diesem Zweck: Sie werden als Spur eines Einzelnen gelesen und verwendet. Von einer individuell-charakteristischen »Hand« spricht man allerdings metaphorisch und metonymisch, etwa wenn jemandem attestiert wird, ›ein Händchen‹ für dieses und jenes zu haben, oder wenn es um die ›Handschrift‹ im konkreten wie im übertragenen Sinn geht, um Spuren persönlicher Schreibgestik, um Personalstile, um Signaturen. Wenn nun aber das Bild der eigenen Hand als Handumriss oder Handabdruck der Inbegriff des manuell produzierten Kunst-Werks ist, sozusagen der Nukleus aller Dokumente künstlerischer Praxis – wäre es da nicht reizvoll, über alle metaphorischen und metonymischen Relationen hinaus den einzelnen Künstler an seiner besonderen Hand erkennen zu können? Dass zumindest diese Frage von Künstlern gelegentlich aufgeworfen, wenn auch vielleicht nicht definitiv beantwortet wird, bezeugt eine New Yorker Installation von Robert Filliou von 1967, bei der, fotografiert von Scott Hyde, Bilder der Handflächen von 24 Künstlern gezeigt wurden (»Exposition personelle. ›Hand Show‹, avec le photographe Scott Hyde, dans les vitrines de Tiffany, New York.« Ausst.: 27. 3. – 12. 4. 1967). Zu den Hand-Besitzern gehören Alison Knowles, Dick Higgins, Andy Warhol, John Cage, Ray Johnson, Arman und Robert Filliou selbst. (1991 hat eine andere Ausstellung an jene »Hand Show« erinnert.) Es mag dem Betrachter der Handbilder schwerfallen, ja abwegig erscheinen, zwischen diesen und den fraglichen Künstlerpersönlichkeiten Zusammenhänge zu ›sehen‹; dass die Gestalt einer Hand über das Oeuvre ihres Besitzers etwas verrät, mag allenfalls jemand annehmen, der an Handlesekünste oder an eine relativ

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schlichte Spielform der Physio- bzw. Pathognomik glaubt. Wie bei vielen FluxusProjekten ist ein Moment der Irritation, der Destabilisierung vermeintlicher Gewissheiten hier wichtiger als ein verifizierbarer Sachzusammenhang. Doch das Hand-Projekt Fillious signalisiert noch mehr: Indem es nicht die Gesichter, sondern die Hände der Künstler porträtiert, betont es die manuell-physische Dimension künstlerischer Praxis sowie die Entgrenzung zwischen Kunst und anderen Formen der Praxis im Zeichen der Hand-Arbeit. Jeder ist Künstler, Kunst kann und soll von allen gemacht werden, von allen, die Hände tragen, so das FluxusCredo. Die zeitgenössische Kunst hat schon darum gute Gründe, sich dem Elementaren, Atavistischen zuzuwenden. Fluxuskunst legt es im Übrigen nicht primär darauf an, Dauerhaftes zu schaffen. Der meist ephemere Handabdruck liegt ihr insofern mehr als das signierte, unverwechselbare Meisterwerk. Sichtbar gewordene unsichtbare Hände. Weitere Fundstücke Die Suche nach Handumrissbildern fördert auch lange nach der Ära prähistorischer Wohnhöhlen im häuslichen Umfeld allerlei Funde zutage, wie die Verfasserin dieses Textes feststellen konnte. So unähnlich einander die Objekte auch teilweise sind, erinnern sie doch auf jeweils eigene Weise an den Zusammenhang zwischen Handabdruck, Handarbeit, künstlerischem Hand-Werk und dem Selbstverständnis von Kunst (auch im weiteren Sinn), an Praktiken der Kommunikation durch Hand-Zeichen sowie an das Bedürfnis, Spuren zu legen und Spuren zu lesen – zumindest manchmal ganz individuelle. Nur eine kleine Auswahl: Zunächst ein Buch über Hände: Karl Rihas Das Buch der Hände. Eine Bild- und Text-Anthologie.8 Die von Riha zusammengestellte Kollektion von Hand-Bildern und Texten über Hände umfasst ganz verschiedene Bild- und Textgenres und deckt einen Zeitraum von der Renaissance bis zum späten 20. Jahrhundert ab. Die visuellen und textuellen Sammelstücke stehen in Beziehung zu verschiedenen Themen und Diskursen, medizinischen, semiologischen, politisch-gesellschaftlichen – vor allem aber immer wieder zu ästhetischen und poetologischen, zu Modi der Reflexion über künstlerische Praktiken, über Bilder und über Texte, über poeti­sche Hand-Abdrücke und Hand-Schriften im konkreten wie im übertragenen Sinn. Programmatisch eröffnet eine Zeichnung von Ernst Jandl, zu sehen auf der inneren Titelseite, die Serie – eine textbildliche Konstruktion, bei der die Hand zwischen Bild, Schrift und Sprache agiert. Jandls Zeichnung zeigt drei Handumrisse, zusammen mit den drei zu weitläufigen Kommentaren einladenden handschriftlichen (!) Zeilen: »my right hand / my writing hand / my handwri-

8 Mitherausgegeben von Gertrud Stinner und Waltraud Wende-Hohenberger, Nördlingen

1986.

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Ernst Jandl, »my right hand / my writing hand / my handwriting«.

ting«. Wie wichtig Künstler Hände nehmen, bestätigt sich in Rihas Hand-Buch auf vielfältige Weise.9 Ein Roman: Der Schutzumschlag von Jonathan Safran Foers 9/11-Roman Extremely loud and incredibly close (New York 2005) zeigt zwei Handflächen-Umrisse. Angespielt ist damit auf eine traumatisierte Figur im Buch, der das Entsetzen über die Schrecken des Bombenkriegs die Rede verschlagen hat und die nurmehr mit9 Als ein weiteres eindrucksvolles Beispiel genannt sei das bei Riha fotografisch abgebildete

Buchobjekt von Timm Ulrichs »Handlese-Kunstbuch«: ein Buchobjekt in Form von zwei in Bronze abgegossenen und an den äußeren Handkanten durch ein Scharnier verbundenen Händen. Hand-Paar und Buch zugleich, erinnert dieses Hand-Buch an die traditionsreiche Hoffnung auf eine »Lesbarkeit der Welt« (Blumenberg), vor allem in aufgeklapptem Zustand, wenn sich die Handlinien als ein zu entziffernder Text darbieten. Zusammengeklappt sieht Ulrichs’ Handbuch auf dem Foto aus wie Dürers Bildmotiv der »Betenden Hände« – und erinnert so an die kultischen Ursprünge von Hand-Bildern, an ihre Einbindung in eine Kommunikation mit transzendenten Instanzen.

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tels ihrer Handflächen kommuniziert. Auf der einen steht »Yes«, auf der anderen »No«. Hand-Sprache als Surrogat lebendiger Rede – Bilder der beiden beschrifteten Hände sind im Buch zu sehen – wie als Pendant der Doppelseiten des Buchs. Eine Hausarbeit im Zeichen der Mimesis an den eigenen Gegenstand: Eine Studentin, die im Rahmen eines von mir mit Petra Gehring zusammen veranstalteten Seminars eine Arbeit über die »Cueva de las Manos« (Argentinien) verfasst hat, hat das Deckblatt der Arbeit mit einem Abdruck der eigenen Hand versehen: Mit goldenem Spray wurde der Umriss fixiert. Und eher Praktisches: Die Künstlerin Marion Deuchars zeichnet Figuren aus Handabdrücken; ein Modehersteller druckt diese auf T-Shirts; im Zeit-Magazin vom 27. September 2018 (S.  9) wird das Shirt mit dem Hand-Bild einer Großkatze unter den »Entdeckungen der Woche« vorgestellt. Immerhin: eine kreative Antwort auf versehentliche Farbspuren auf T-Shirts. Wir sind, das bestätigt diese (hier keineswegs komplett aufgelistete) Objekt-Konstellation, von unsichtbaren Händen umgeben – nicht nur in dem Sinn, dass sich da manches Hand-Bild findet, wenn man erst einmal sucht. Die prähistorischen Schöpfer der Hand-Umrisse mögen versucht haben, mit unsichtbaren Mächten zu kommunizieren; anderen mag es vor allem daran gelegen haben, dauerhafte Spuren zu hinterlassen und ihre vom Umriss jeweils ausgesparten, insofern selbst ›unsichtbaren‹ Hände über weite Zeiträume hinweg nach ihrer Nachwelt auszustrecken. Wieder andere signalisieren durch Hand-Abdrücke als ostentative Spuren die Abwesenheit dessen, der die Spur hinterließ – und wollen diese Abwesenheit doch gerade kompensieren. Unsichtbar sind die Hände der Künstler, die für den späteren Betrachter hinter ihre Arbeit zurücktreten, sei es intentional, sei es, weil man sie nicht (mehr) kennt. Im Ensemble umrahmen und ›umreißen‹ Hand-Umrissbilder die Unsichtbarkeit einer verlorenen Gegenwart, einer vergangenen Zeit, eines ungreif baren Referenten – und lassen dabei die von entfernten Vorfahren entwickelten Ideen und Verfahrensweisen doch eigentümlich präsent erscheinen.

Der Ochse und sein Hirte (8. Bild der Zen-Ochsenbilder).

Tilman Borsche

Wie das Abbild sein Urbild bildet Man betrachte das links abgebildete Bild. Dann stellt sich 1.  Die Bildfrage Was ist das? Das ist ein »Bild«. Was stellt es dar? Was soll es bedeuten? Wer so fragt, weiß, dass ein Bild (oder ein Zeichen oder ein Symbol) mehr und anderes ist, als das, als was es erscheint; etwas, das irgendwie darstellen oder bedeuten soll. Also noch einmal gefragt; vorsichtiger; noch zeichenfrei, noch bedeutungslos: Was ist dieses Bild materialiter, als Ding, diesseits seines Bildseins? Gewiss: es ist Menschenwerk; ein Naturding, wie alles, was ich sehen kann, aber kein Naturereignis, kein der Natur eigenes Ding. Das, was es auch noch zu einem Bild (Zeichen, Symbol) macht, seine Form, ist Menschenwerk. Das zeigen mir die Spuren von Technik, die Machart, die ich glaube, wiederzuerkennen: Seiner Natur nach, d. h. hier: vor seiner Formung durch Menschenhand, ist es vermutlich Tusche auf Papier, Druckerfarbe auf einer Buchseite, ggf. auch noch einmal Pixelfiguren auf einem Bildschirm abgebildet. Zwar sind auch Papier und Bildschirm schon menschlich bearbeitete, also künstliche Natur, aber eine künstliche Natur, die nicht zu dem gehört, wonach hier gefragt ist. Auch Buchseite bzw. Bildschirm, die nicht zur Sache (zur Form des Bildes) gehören, haben eine Form, eine Begrenzung, einen Rahmen, der aber nicht als Teil des Bildes, nach dem gefragt wurde, markiert ist. Sie begrenzen das Feld, von dem die Form des Bildes sich abhebt, nach außen, gegen seine Umwelt. Buchseite, Papier oder Bildschirm können auch wichtig sein, sind aber hier nicht Thema. Nicht als Bild betrachtet, ist, was ich hier sehe und wahrnehme (was erscheint), weiße Tusche auf schwarzem Papier. Diese Antwort mag zutreffen, aber wer so spricht, weiß, dass die oben schon zweimal zurückgenommene Frage, ebenso die zuletzt gegebene Antwort Eingeständnisse eines Scheiterns darstellen. Das war nicht die erwartete Antwort auf die erste Frage. Was also stand in Frage? Es kam schon zur Sprache: nicht die Materialität des Bildes, sondern die besondere Form, durch die es darstellt, was es darstellt. Doch man muss genauer antworten: Denn in einem weiteren Sinn ist alles, was ich wahrnehme, Form. Es geht hier nicht um Formen wie Farbe oder Ton, nicht um Geruch, Geschmack oder Gefühl von dem, was da in Frage steht. Zwar sind durch jedes Bild und jederzeit alle Sinne angesprochen, wenn es um die Wahrnehmung

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und Benennung oder Beschreibung dessen geht, was das Bild zeigt. Doch geht es hier vornehmlich um die Form, verstanden als die sichtbare Gestalt des in ihm, dem Bild, Wahrgenommenen. Das ist schon eine erste Antwort. Diese Gestalt ist es, die hier bedeutet. Sie ist der Träger der Bedeutung des Bildes, dieses Bildes. Was aber kann und soll diese Gestalt bedeuten? Ich stelle die Frage in Hinblick auf eine zweite Abgrenzung, denn ich sehe, dass diese Form offensichtlich zu nichts zu gebrauchen ist. Als solche dient sie keinem lebenspraktischen Zweck, sie nutzt nichts und sie schadet nichts. Das wäre kaum bemerkenswert, wäre ich nicht aufgefordert, bei ihr zu verweilen, sie zu befragen, zu fragen, was sie bedeute. Bilder dieser Art, d. h. Formen, denen lebenspraktische Nutzlosigkeit zugesprochen wird, sind entweder über ihre Nutzlosigkeit hinaus auch noch bedeutungslos oder – sie gelten als Kunst. Dann haben sie vielleicht trotzdem auch einen indirekten, sekundären, mittelbaren Nutzen, aber um den geht es hier auch nicht. Als Kunst wahrgenommen hätte das Bild direkt, primär und unmittelbar Bedeutung. Zwar müsste niemand sagen können, was es bedeutet. Aber es hat Bedeutung, indem es mich anspricht und auffordert, etwas dazu zu sagen. Es lädt mich zum Antworten ein; und sei es auch nur zu der Antwort, dass es mich sprachlos macht, dass ich im Moment nichts dazu sagen kann. Ein Naturding ist (wirkt als) Kunst, indem es zu einer Reflexion einlädt, die nicht schon geleistet, zu einer Benennung, einer Antwort auffordert, die nicht schon gegeben ist. 2.  Die Kunstfrage Mit Kunst haben wir gelernt umzugehen. Auf geregelte Weise. Nach dieser Regel (Konvention) stellen wir ein paar bestimmte Fragen, die aber für die Bedeutung dieses Bildes irrelevant sind, jedenfalls hier und jetzt als irrelevant gelten sollen: (1) Wir fragen nach dem Autor: den gibt es hier nicht, zumindest soll er keine Rolle spielen, bedeutungslos sein. Ein acheiropoietisches Werk ist es aber auch nicht. Die Autorlosigkeit heißt nicht, dass das Bild keinen Autor hat, sondern dass jede und jeder Autor sein und ein »gleichbedeutendes« Bild erstellen kann. (2) Wir fragen nach der Zeit, gewohnheitsmäßig zumeist, aber nicht unbedingt nach der Entstehungszeit. Denn wir wollen nicht nur wissen, seit wann, sondern mehr noch in welcher und für welche Zeit ein Kunstwerk die Bedeutung gewonnen hat, die wir ihm zusprechen. (3) Wir fragen nach der Herkunft, nicht unbedingt nach dem Entstehungsort. Zwar ist auch der interessant, aber mehr noch die Frage, in welchem Kontext (z. B. unter welchem Auftrag) das Bild entstanden ist und ihm die Bedeutung zugesprochen wird, die es für uns hat. Vom Entstehungsort können wir uns lösen, ebenso wie vom Autor und von der Zeit. Damit verlassen wir das Gebiet der Kunst, nicht das des Bildes als Bild. Die Frage nach dem Kontext bleibt. Ohne Kontext hat das Bild keine Bedeutung, ist es kein Bild. Der Kontext ist seine Bedeutung.



Wie das Abbild sein Urbild bildet

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Zurück zu diesem Bild: Mit Autor, Zeit und Ort geht die Individualität des Kunstwerks verloren. Aber stimmt das in diesem Fall wirklich? Nein, nicht generell, es bleibt erkennbar ein individuelles Menschenwerk. Man kann gerade dieses Bild durchaus als ein Kunstwerk betrachten; so sehr und so wirklich, dass ich allein durch seine Reproduktion für diese Betrachtung mit dem geltenden Urheberrecht in Schwierigkeiten kommen könnte. Hier aber, eben in dieser Betrachtung behandle ich das Bild nicht als ein Kunstwerk, sondern eher wie einen Buchstaben, genauer vielleicht: wie ein Kanji, egal ob gedruckt oder handschriftlich oder wie immer materialisiert, und frage, wie es als Bild Bedeutung haben  /  t ragen  /  hervorbringen, wie es bedeuten könne. Der Bildcharakter eines Bildes tritt klarer hervor am (künstlichen, aber kunstlosen) type als am noch so kunstvollen token. (Die atemberaubende Schönheit des tokens, dieses tokens, hat für meine Frage keinen Eigenwert, sondern lediglich Signalcharakter, Aufforderungscharakter: Schau hin, und frage dich, was Du siehst, was sich zeigt. Vergiss die Schönheit und frage, was das Bild evoziert über das hinaus, was zu sehen ist.) So verstanden, so angesehen, so betrachtet, ist das Bild kein Kunstwerk, aber doch bedeutend. Ich frage also nicht nach dem Kunstwert des Bildes, sondern – ja, wonach? Und das mit welchem Recht, mit welcher Erwartung? Nach seinem »Symbolwert« – so sage ich einmal, indem ich mich einer in ähnlichen Kontexten nicht unüblichen Terminologie bediene, die aber ihrerseits auch zu Missverständnissen Anlass geben kann; ich könnte auch sagen: nach seinem »Zeichenwert«, oder: nach seinem »Bildcharakter«. Fragen wir also nicht die Kunstwissenschaft, sondern die Ikonographie. 3.  Die Frage nach dem Urbild (dem Denk- oder Vorstellungsbild) Ein gebildeter Zeitgenosse sieht den buddhistischen Hintergrund. Er kennt die Serie der zehn Ochsenbilder des Chan- bzw. Zen-Buddhismus und erkennt das Bild Nr.  8.1 Legt man diesen Kontext zugrunde, kann man erneut und anders gerichtet, anders gerahmt spezifischer fragen: Was zeigt oder was sagt das 8. Bild der Ochsenserie? Wenn man »es« »weiß«, ist es einfach und einleuchtend. Ich bezweifle, dass eine bloße Meditation ohne einschlägiges Vorwissen eine angemessene Antwort finden 1 Zur Illustration sei die deutsche Übersetzung einer englischen Übersetzung der das Bild kommentierenden Verse wiedergegeben, die einem chinesischen Zen-Mönch der Sung-Dynastie zugeschrieben werden und quasi-kanonische Verbreitung auch in Japan fanden: »8. Mensch und Ochse vergessen. – Weltliches Empfinden und Täuschung abgefallen, / Leer sogar von heiligem Streben nach Erleuchtung. / Nicht dort bleiben, wo Buddha weilt, / Vorübereilen, wo kein Buddha ist. / In keinem von beiden verweilen. / Nicht einmal die tausend Augen können dies durchdringen. / Hunderte Vögel bringen Blumen dar – / Welche Verschwendung! // Peitsche und Seil, Mensch und Ochse – verschwunden. / Azurblauer Himmel, weit und unermesslich, ohne Hindernisse. / Schneeflocken vergehen über rötlich glühendem Herdfeuer. / Und so eins werden mit den Alten Meistern.«

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Tilman Borsche

könnte. (Diese Mutmaßung ist schwer zu verifizieren: Denn ohne Vorwissen ist niemand, der eine Frage stellt; aber welches Vorwissen als einschlägig zu gelten hat, ist ungewiss, die Grenzen des Einschlägigen bleiben unbestimmt.) Die Antwort ist trotzdem einfach, aber sie ist schwer zu »formulieren«, d. h. in eine Form zu bringen und (schrift)bildlich darzustellen. Will ich es trotzdem versuchen, so muss ich die Schrift wechseln, wenn ich an der Sprache meiner Darstellung (der deutschen Sprache) festhalten will. Die Antwort lautet dann: Dieses Bild zeigt und sagt »nichts«, das hier ohne Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung, d. h. jenseits der Unterscheidung von adverbiellem und nominalem Gebrauch von »nichts« verwendet wird. nichts (ohne Anführungszeichen, also intentione recta gebraucht) kann man (nicht) sagen. Sagt man es oder sagt man es nicht – in beiden Fällen hat man nichts gesagt. »nichts« also ist die Rede dieses Bildes, adverbiell und nominal gelesen: Es sagt und zeigt präzise nichts: Der Kreis dient hier als Geste des Zeigens. Er kann diesen Dienst allerdings nur leisten, weil in dem durch den Kreis bezeichneten, umschriebenen Ort vorher etwas gewesen ist. Man hat dort in den verschiedenen Konstellationen der Bilder 1–7 einen Ochsen, einen Hirten und wechselnde Landschaften gesehen. Doch bleiben wir streng: Isoliert genommen, steht dieses Bild für nichts. Es sagt nichts, denn es ist kein Sprachzeichen, es gehört keiner Sprache an (wie das Augustinische verbum nullius linguae). Es gehört nicht einmal einer Schrift an. Jeder Betrachter weiß, dass es sich nicht um ein alphabetisches »o« handelt; es ist kein chinesisches Kanji, schon seiner Rundung wegen, auch kein Schriftzeichen einer der vielen indischen Schriften und Sprachen. Und es zeigt nichts; besser: es zeigt, was es zeigt, nur dem mitdenkenden Betrachter, der erfährt, was es zeigen soll, indem er die Stationen 1–7 der Bilderserie durchlaufen und durchsehen, verstanden und erinnert hat. Wie gesagt, ihm soll dieses eine Bild nichts zeigen. Jetzt wird wichtig, was oben über die Materialität des Bildes festgestellt wurde. In einem phänomenologischen Sinn gefragt, zeigt die Darstellung, die als Menschenwerk zu erkennen ist, dem einschlägig geübten Auge einen weißen Kreis auf einem leeren (schwarzen) Untergrund. Soweit muss der Betrachter die Absicht des Bildners verstanden haben, bevor er überhaupt danach fragen kann, was das Bild bedeuten mag. Das nimmt er ihm zweifelsfrei ab, weil genau das von ihm oder ihr, wer immer es war, erwartet wurde. Es kommt nicht auf die Kreisförmigkeit des Kreises an, genauso wenig wie auf die Farbe des Kreises und die Farbe des Hintergrunds. Allein die Differenz und der Kontrast sind wichtig. Ich muss sehen und sehend sagen und bestätigen können, dass es sich um einen Kreis handelt, der sich von einem leeren Hintergrund abhebt. Es ist auch nicht wichtig, dass (ob und wie) das Bild gerahmt ist; sogar die Materialien von Kreis und Hintergrund sind belanglos. Wichtig ist allein der Blick auf einen Kreis, der sich deutlich abhebt, und zwar so, dass der Betrachter einen »leeren Kreis« wirklich »sieht«. Dann weiß er und sagt und denkt, er sehe, dass dieses Bild nichts bedeutet: Es bedeutet nichts, so hat er es erfah-



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ren, in einer doppelten Bedeutung: Verschwunden sind nicht nur die konkreten Gegenstände, die vorher das Bild, genauer: die Kreise der vorhergehenden, aber erinnerten Bilder bevölkert haben: Hirte, Ochs und Landschaft, verschwunden sind vielmehr alle Dinge überhaupt. So zeigt und bedeutet das Bild durch diese doppelte Abwesenheit der Dinge die Nichtigkeit der Welt, und vielleicht auch, in einer eher europäisch-spekulativ inspirierten Lesart, »das Nichts«. Jedenfalls müssen Sehen, Verstehen und Erinnern zusammentreffen, damit ich weiß, dass dieses Bild nichts bedeutet. Damit bedeutet es signifikant mehr als das, was ich sehe, nämlich dass sich nichts im »Kreis«, dem kunstvoll markierten Bildfeld, befindet. Dieser Überschuss des begriff lichen Denkens und Erinnerns ist es, was einen Sinneseindruck ggf. – d. h. im passenden Kontext und ins rechte Licht gerückt – zu einem Bild macht. Was habe ich damit gesagt / intendiert? Dieses spezielle Bild (s. o.), nicht in seiner individuellen künstlerischen Realisierung, sondern als jederzeit auch anders realisierbarer Entwurf verstanden, der sich unter den die Bildlogik verkehrenden Anspruch stellt, nichts darzustellen,2 zeigt eben damit, was ein Bild zu einem Bild macht. Das Bild ist der Rückbezug (die Reflexion) auf ein Urbild, das nicht wahrnehmbar und nicht darstellbar ist. Das Urbild – nicht aller Bilder, sondern jedes Bildes – ist ein Bild in der Vorstellung des Betrachters, ein Vorstellungsbild. Dieser Bildgedanke wird hier eindrucksvoll, für entsprechend vorbereitete Betrachter einleuchtend und überzeugend durch ein so oder anders, aber als leerer Kreis erkennbar realisiertes Menschenwerk evoziert. Und was sagt das Bild, nicht nur dieses Bild in diesem (kulturellen) Kontext? Es sagt, dass, wenn sogar »nichts« darstellbar ist, dann auch das Undarstellbare, Unsichtbare (Nicht-Wahrnehmbare), das Undenkbare und Unsagbare darstellbar und sagbar sind. – Das genau ist denken, sagen, zeigen: Im Nichts einen Unterschied feststellen, den Augenblick durch ein Wort zum Verweilen bewegen. Und wie man sieht, kann man das vielfältig und auf schöne Weise tun. Nicht nur mit einem gelungenen Pinselstrich auf edlem Papier, auch im Sand am Strand, und prinzipiell in jeder Vorstellung, die etwas (ab)bildet – im Denken. Man sieht es doch!

2 Man kann das gegebene Bild auch ganz anders lesen. Viele kanonisch gewordene Deutun-

gen innerhalb und außerhalb der zen-buddhistischen Tradition schlagen weniger spekulative Deutungen vor. Das Bild fordere den Betrachter auf, »sowohl den Menschen als auch den Ochsen zu vergessen. Damit ist die achte Stufe auf dem Weg zur vollkommenen Erleuchtung dargestellt. Hier denkt man nichts und stellt sich auch nichts vor. Man vergisst alles, auch sich selbst. Damit erreicht man die Erleuchtungsstufe der Leere. So stellt der Kreis das Nichts bzw. die Leere nicht symbolisch, sondern eher schlicht anschaulich dar, indem er mit keinerlei Bedeutung, d. h. auch nicht einmal mit der Bedeutung des ›n ichts‹, belastet und mithin ganz leer ist.« (Hinweis von Teruaki Takahashi, Tokyo)

Eine Hauswand in Rom.

Jürgen Goldstein

Eine Hauswand in Rom Zu den großen Sätzen, die so unverständlich wie anregend sind, gehört Goyas Bildlegende zu einer seiner berühmtesten Zeichnungen: »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«, el sueño de la razón produce monstruos. Schon die Übersetzung bereitet Probleme, denn ist mit el sueño der Schlaf oder der Traum gemeint, der die Monster hervorbringt? Und was für Ungeheuer? Warum entstammen sie dem Schlaf oder gar der Vernunft? Ralf Konersmann hat in seinem Buch Die Unruhe der Welt Goyas Radierung und den ihr beigefügten Rätselspruch mit Blick auf das spannungsreiche Verhältnis von Ruhe und Unruhe befragt. Während die Nachtwesen in chaotisch umherflatternder Weise den niedergebeugten Mann bedrängen, ist es der Luchs am rechten Bildrand, auf dem Boden ruhend, der die Klugheit verkörpert und mit leuchtenden Augen und wachem Blick das Treiben fixiert: »In ihm scheint die Vernunft sich doch noch besinnen und sich selbst ermahnen zu wollen, den Ungeheuern, die sie herauf beschwört, nicht auch noch zu willfahren.« Ihm sei die »Distanz des Staunenden« eigen, der das Treiben der Getriebenen beobachte, um zu erfahren, was es mit der Unruhe auf sich hat. Diese Deutung ist ein schönes Beispiel dafür, wie die Vernunft es schafft, mit dem Widervernünftigen umzugehen: Sie lässt es zu, ohne sich ihm zu ergeben, ihr Kunstgriff ist die Distanz. Es gehört zu den aufregendsten Beobachtungen, die an der Vernunft zu machen sind, wie sie mit dem Amorphen, Ungestaltigen, Befremdlichen umzugehen weiß, mit dem Ungeheuren und Erschreckenden. Sie hat in ihrer Geschichte Mittel ersonnen, sich noch dort zu behaupten, »wo die Vernunft nicht hinreichte und wo man doch die Unvernunft nicht wollte walten lassen«, wie Goethe in einem Brief an Zelter vom 19. März 1827 schreibt. Stets ist es ihr Ziel, sich mit Mitteln, die allein durch die Vernunft nicht zu generieren sind, das Fremde vertrauter zu machen. Der Mythos ist so ein Hilfsmittel der Vernunft jenseits der Vernunft. Die Erzählung sowieso, aber auch die Magie und das Ritual. Ein weiteres probates Mittel, das Gegenüber der Vernunft nicht als das ganz und gar Fremde gewähren lassen zu müssen, ist die ästhetische Phantasie – oder sollte man mit Goya sagen: die träumerische Kraft, wird doch mit phantasma auch das Traumbild bezeichnet. In seinem Buch von der Malerei, im 66. Abschnitt des zweiten Teils, hat Leonardo da Vinci eine Empfehlung gegeben, wie man den Geist dazu anregen könne: »Sie besteht darin, dass du auf manche Mauern hinsiehst, die mit allerlei Flecken bedeckt sind«, man werde da Dinge erblicken, »die verschiedenen Landschaften gleich sehen, geschmückt mit Gebirgen, Flüssen, Felsen, Bäumen, großen Ebenen, Tal und Hügeln in mancherlei Art. Auch kannst du da Schlachten sehen, lebhafte Stellungen sonderbar fremdartiger Figuren, Gesichtsminen, Trachten und unzählige Dinge.« Das ist mehr als bloß ein Anreiz, das künstlerische Auge

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Jürgen Goldstein

auszubilden. Es ist ein Exempel für die Gestaltsuche im scheinbar Gestaltlosen, für den Sieg der wiedergefundenen Form im scheinbar Formlosen. Wenn aus Flecken Figuren werden, hat der Mensch seine Welt verteidigt. Außer auf Mauerflecken hatte Leonardo empfohlen, »in die Asche im Feuer, in die Wolken, oder in Schlamm und auf andere solche Stellen« zu schauen, um etwas zu sehen, wo es nichts Bedeutsames zu sehen gibt. Darauf gibt es eine Probe von seltenem Rang. Als Goethe am 6. März 1787 während seiner Italienreise zum zweiten Mal den Vesuv besteigt, ist die Natur der Vulkane noch nicht erschlossen. Die feuerspeienden Ungetüme sind Inbegriff des Rätselhaften und Monströsen in der Natur. Das Zedler’sche Universal-Lexicon von 1746 warnte denn auch den Leser, der Vesuv sei »sehr gefährlich«, und es bereite »viel Mühe, diesen grausamen Ofen zu besteigen«. Auch für Goethe, bekennender Neptunist und somit allem Eruptiven abhold, erweist sich der Blick in den aktiven Krater als eine seelische Herausforderung. Er kann sich nicht anfreunden mit der unbändigen Gewalt dieses »mitten im Paradies aufgetürmten Höllengipfels«. Der Vulkan widerspricht seiner Vorstellung einer mitteilsamen Natur, ist er doch eine Ausgeburt der Hässlichkeit. Zwischen zwei Eruptionen wagt sich Goethe mit seinem Führer an den Rand des Kraters, um einen Blick in das für ihn widersinnige Spektakel zu werfen: Dampf und Rauch, Donner und umherfliegende Steine. Im Rückblick hat er dieses Erlebnis in einen Satz gefasst, der einen Einblick erlaubt, wie die Vernunft es auch dieses Mal macht, mit dem sich ihr Verweigernden umzugehen: »Der Anblick war weder unterrichtend noch erfreulich, aber eben deswegen, weil man nichts sah, verweilte man, um etwas herauszusehen.« Die Auf klärung hat als Anthropomorphismus gerügt, was doch vielleicht die bedeutendste Eigenschaft des menschlichen Bewusstseins ausmacht: Nichts auf sich beruhen lassen zu müssen, sondern noch das Widerständigste auf sich zu beziehen und etwas ›herauszusehen‹, wo es nichts zu sehen gibt. Die Phantasie ist der Kunstgriff, das Andere nie ganz und gar das überwältigend Fremde sein zu lassen. So beobachtet Goethe am Vesuv während seiner nächsten Besteigung am 20. März die fließende Lava, den Glutstrom, der »ruhig fortfließt wie ein Mühlbach«. Die Urgewalt aus dem Verborgenen der Erde ist eingefriedet, hat er doch in ihr das Bekannte ausgemacht. Auch Goyas Zeichnung steht in dieser Tradition, durch Phantasie die Monster, die sie ruft, nicht nur heraufzubeschwören, sondern im selben Moment auch zu bändigen. Bei allem Schrecken, den sie im Bild verbreiten: Es sind Eulen und Fledermäuse. Mögen sie noch so sehr ängstigen, gänzlich fremd sind sie uns nicht. Darin besteht der Trost, wenn die Ungeheuer nicht von außen kommen, sondern Ausgeburten unserer schlafenden oder träumenden Vernunft sind. Mit ihnen werden wir fertig. Solange aus den unheimlichen Mächten Eulen und Fledermäuse werden, ist noch nicht alles verloren.

Jacques (III) Roëttiers de la Tour, Bronzemedaille auf John Locke, 1774.

Andreas Urs Sommer

Mens habitat molem John Locke, uneasiness und Denkerheldentum im Medium der Medaille »Nicht, wie die älteren Philosophien gelehrt hatten, um des Guten willen oder aus Liebe handeln […] die Menschen, sondern weil die uneasiness sie umtreibt und nicht ruhen lässt.«1 So beschreibt Ralf Konersmann jenen »Bruch mit den Werthaltungen der Vergangenheit«, der sich an unscheinbarem Ort in John Lockes Essay Concerning Human Understanding vollzogen hat. Dort heißt es: »The motive for continuing in the same state or action, is only the present satisfaction in it; the motive to change is always some uneasiness: nothing setting us upon the change of state, or upon any new action, but some uneasiness. This is the great motive that works on the mind to put it upon action«.2 Scheinbar aller uneasiness abhold ist der hier ins Auge gefasste physische Gegenstand. Es handelt sich um eine Medaille aus Bronze, die auf der Vorderseite das nach links gewandte Brustbild des in Frage stehenden Philosophen zeigt, mit der Umschrift JOA N N ES LOCK (sic!), unten die Künstlersignatur JAC. ROËTTIERS . Die Rückseite ist bildlos und weist in fünf Zeilen den Schriftzug: MENS / H A BITAT / MOLEM / VIRG. GEOR. / M.DCC.LX XIV auf.3 Alles kein Anlass zu Unbehagen, sollte man denken: Die Medaille als ein typisches Zeugnis der großbürgerlich-aristokratischen Memorialkultur, die den längst verblichenen Philosophen in einem Porträt festhält, das die Größe des Denkens mit der Größe des politischen oder militärischen Handelns kurzschließt. Der Denker erscheint in feldherrischer Erhabenheit und wird auf dem Revers mit der Girlande eines Klassikerspruches aus Vergils Georgica umkränzt. Die Medaille als Erzeugnis definitiver Festschreibung, der plakativen Verknappung, die alle weiteren Fragen verbietet? Denn auch sonst scheint alles klar zu sein: Der Medailleur nennt sich selbst beim Namen und datiert sein Werk auf 1774. Alles verfestigt, bronzefest. Und doch. Je länger man das Stück in Händen hält, desto mehr macht sich uneasiness bemerkbar – zumal, wenn man sich noch rechts oder links umschaut. Über die zumindest nicht orthodoxe Schreibweise des Philosophen-Namens »LOCK« mag man noch hinwegsehen, Stempelschneiderhast eben. Der Forschung ist hinlänglich bekannt, um wen es sich bei JAC. ROËTTIERS handelt, nämlich 1 Ralf Konersmann, Wörterbuch der Unruhe, Frankfurt / M. 2017, 204. 2 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, hrsg. von Alexander Campbell

Fraser, Bd.  1, Oxford 1894, 331. 3 Zu den numismatischen Details: Das abgebildete Exemplar dieser sehr seltenen Medaille im Privatbesitz wiegt 92,29 Gramm und hat einen Durchmesser von 53,5 Millimetern sowie einen Stempelstand von 3 Minuten.

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Andreas Urs Sommer

um einen berühmten Spross aus der Medailleursfamilie der Roettiers, die in ganz Europa, vor allem aber in Frankreich und England tätig war. Auf der Insel figuriert der 1707 in St Germain-en-Laye Geborene als James (IV) Roettiers, auf dem Kontinent hingegen als Jacques (III) Roëttiers de la Tour. Ausgebildet in Zeichnen und Bildhauerei und nach ersten Karriereschritten in Paris und Rom ging er 1732 oder Anfang 1733 nach London, wo er sich als Medailleur betätigte. »Sir Hans Sloane and Dr Mead […] advised him to engrave a series of medals with portraits of cele­ brated Englishmen, and Conduit procured for him drawings of Newton, Locke, and others.«4 Bereits 1733 kehrte er nach Frankreich zurück. Fortan machte er vor allem wegen seiner feinen Gold- und Silberschmiedearbeiten von sich reden. 1772 wurde er geadelt, 1773 als ordentliches Mitglied in die Académie royale de peinture et de sculpture aufgenommen. Bei der lexikalischen Aufzählung seiner »best known medals« beginnt freilich schon die historisch-numismatische uneasiness: »John Locke (medal executed in 1731 in compliment to the memory of Locke)«.5 1731? Eine Seite vorher hieß es doch eben noch, Roettiers sei erst 1732 oder 1733 nach London gegangen6 und habe da den Ratschlag bekommen, berühmte Engländer wie Locke ins Medaillenrund zu bringen. Von dieser Geschichte ist eine weitere Version überliefert, die statt Sloane und Mead einen anderen Auftraggeber vermutet und ebenfalls das Jahr 1731 nennt, das bei Forrer dann wenigstens kein Druckfehler wäre: »This medal was executed about the year 1731 in compliment to the memory of Locke, probably at the expense of Mr. Thomas Hammond, who certainly ordered one of Newton by the same artist. The dies are in the British Museum.«7 Der Augenschein kann helfen, da etwas Klarheit ins Datenwirrwarr zu bringen – und zum Glück stellt das British Museum seine Bestände nicht nur beschreibend, sondern oft auch bildlich der digitalen Allgemeinheit zur Verfügung. Und da wird sogleich die Diskrepanz zwischen Bild und Beschreibung offenkundig: Zwar übernimmt das Museum den Kommentar aus den Medallic Illustrations of the History of Great Britain wortwörtlich und behauptet wie dort, die Medaille sei aus Silber und von 1731.8 Wer römische Zahlen lesen kann und nicht farbenblind ist, wird mit einem Blick auf das beigegebene Foto jedoch unschwer erkennen, dass die Medaille aus Bronze oder Kupfer sein muss, und dass M.DCC.X X XIX nicht 1731, sondern 1739 bedeutet. Es lässt sich schlechterdings kein Grund dafür angeben, warum jemand eine Medaille, die er 1731 anfertigt, auf 1739 vordatieren sollte – zumal 1739 kein Locke-Jubiläumsjahr war (ebenso wenig wie 1731), 4 Leonard Forrer, Biographical Dictionary of Medallists […], Bd.  5, London 1912, 160. 5 Ebd., 161. 6 Im Bericht von Thomas Snelling, den B. Nightingale in einer Abschrift von James Bindley

mitteilt, wird als Jahr für Roettiers’ Übersiedelung nach England allerdings bereits 1730 genannt (»The Roettiers«, in: The Numismatic Chronicle 3 (1840), 56–60, hier: 57). 7 Edward Hawkins / Augustus W. Franks / Herbert A. Grueber, Medallic Illustrations of the History of Great Britain and Ireland to the Death of George II, Bd.  2 , London 1885, 272, Nr.  73. 8 https://www.britishmuseum.org/collection/object/C_M-8038, 5. Mai 2020.



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das nach Memorialobjektproduktion geheischt hätte.9 Eine Locke-Medaille von Roet­t iers aus dem Jahr 1731 ist bislang ein bloßes literarisches Gespenst.10 Nun spreche ich hier aber eigentlich nicht über ein Werk von 1739 (geschweige denn von 1731), sondern über eines, das dem Exemplar des British Museum zwar stark ähnelt, aber doch auf der Rückseite zweifelsfrei das Jahr 1774 nennt. In dem Thomas Snelling zugeschriebenen Bericht (vgl. Anm.  6) ist ebenfalls von ­einer solchen Medaille die Rede: »I have a medal of John Locke, engraved by him [sc. Roet­t iers], with his name under it; but I should believe he never did a Reverse for it as my proof has an inscription on the back, with the date M.DCCLX XIV.«11 Geht man einmal davon aus, dass der Medailleur seine Medaille nicht auf mystische Weise datiert hat wie der späte Hölderlin seine Gedichte, wird man der Schlussfolgerung von Jacob Henry Burn12 zustimmen, wonach das hier sprechende »I« nicht der bereits 1773 verstorbene Snelling, sondern der Abschreiber seines Manuskriptes, James Bindley gewesen sein dürfte. Dieses »I« jedenfalls bestreitet, dass es sich bei unserer Medaille um ein echtes Werk Roettiers’ handelt. Man könnte im Vergleich mit dem Exemplar von 1739 aus dem British Museum sowie dem hier vorgestellten noch feststellen, dass neben dem Datum auf der Rückseite auch die Vorderseite abweicht: Die Signatur ist statt in fließenden, Groß- und Kleinschreibung beachtenden, eine Unterschrift imitierenden Lettern 1774 mit Antiqua-Majuskeln ausgeführt; statt IOA NN ES wie 1739 steht nun JOA NN ES . Also sind weder die Vorder- noch die Rückseitenstempel von 1739 und 1774 miteinander identisch. Apropos Prägestempel: Es hieß in der Literatur ja, dass im British Museum auch diejenigen der dortigen Medaille verwahrt würden. Also erneut ein virtueller Ausflug nach London, der sich in diesem Fall freilich mit der Beschreibung begnügen muss, da eine Abbildung fehlt. Und bei der Beschreibung ist wiederum der Wurm drin: Obwohl der Medailleur richtig identifiziert wird, wird als »production date« diesmal das Jahr 1704 angegeben – zwar Lockes Todesjahr, aber doch immer noch 3 Jahre vor Roettiers’ Geburt. Trotz des fehlenden Fotos ist ein Detail wichtig, nämlich JOA NN ES statt IOA NN ES in der Beschreibung.13 Und der zugehörige Reversstempel bestätigt den sich aus dem Avers ergebenden Verdacht –  9 Hingegen stand 1732 Lockes 100. Geburtstag zu feiern an, was sich Roettiers als guter Geschäftsmann schwerlich hätte entgehen lassen, wäre er bereits aus dem Vorjahr mit einem Medaillenstempel ausgestattet gewesen. 10 Jean Bingen, Les Roettiers. Graveurs en médailles des Pays-Bas Méridionaux. Brüssel 1952, 38 f. erwägt, ob an der Produktion der 1739er-Medaille auch Roettiers’ gleichnamiger Cousin Jacques (II) Roettiers (1698–1772) beteiligt gewesen sein könnte, mit dem er nach England gereist war. Vielleicht sei sie dann auch in Antwerpen geprägt worden. 11 »The Roettiers«, 58. 12 Jacob Henry Burn, »Memoir on the Roettiers«, in: The Numismatic Chronicle 3 (1840), 158–188, hier: 187, Fn. 28. 13 https://www.britishmuseum.org/collection/object/C_HARR-191, 5. Mai 2020. Dazu gibt es auch noch den passenden »puncheon«: https://www.britishmuseum.org/collection/ object/C_HARR-192.

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obwohl seine virtuelle Museumspräsentation ebenfalls ohne Abbildung und mit der Datierung 1704 auskommen muss –: »M[EN]S. [H]A BITAT. MOL[E]M. VIRG. GE[OR]. M DCC.LX[XIV] « wird als Inschrift zitiert.14 Das British Museum besitzt also keineswegs, wie es selbst spätestens seit 1885 glaubt, das Stempelpaar zur Medaille im eigenen Bestand, sondern vielmehr zu derjenigen von 1774. Und dabei handelt es sich mitnichten, wie immer wieder kolportiert wird, um eine womöglich betrügerische Nachahmung von Roettiers’ Werk von 1739. Worum aber dann? Der Bericht über Roettiers’ Aufnahme als ordentliches Mitglied in die Académie royale de peinture et de sculpture anlässlich der Generalversammlung vom 2. Oktober 1773 schafft Klarheit: »M. Roëttiers ayant offert, pour sa réception, les quarrés des portraits de deux hommes célèbres, Loke [sic] et Newton, l’Académie les a acceptés. En conséquence, l’Académie a reçu et reçoit le Sr Roëttiers Académicien«.15 Um Akademiemitglied zu werden, musste man sogenannte »morceaux de réception« vorlegen. Diese Aufnahmestücke waren also in diesem Fall »les quarrés des portraits« von Locke und Newton. »Quarré« ist der Prägestempel einer Medaille16 – hier just jener beiden Medaillen auf Locke und Newton, die wir mit Roettiers’ Signatur aus dem Jahr 1774 kennen.17 Roettiers recycelt also seine früheren Schöpfungen, die ob ihrer Seltenheit auf dem Kontinent kaum bekannt gewesen sein dürften – eigentlich sollte das »morceau de réception« ein ganz neu gefertigtes Werk sein –, überarbeitet entweder die Stempel oder fertigt neue an. Die versieht er nun mit einer neuen Signatur, die den barockisierend fließenden Schriftzug in klassizistische Antiqua transferiert und auf dem ersten E des Namens ein der französischen Schreibweise seines Namens entsprechendes Trema setzt. Roettiers sah augenscheinlich seine frühen Produkte als wiedererweckungswürdige Meisterwerke an. Den Beweis dafür, dass es sich bei den beiden 1774er Medaillen tatsächlich um Roettiers’ eigenständige Erzeugnisse handelt, bringt eine naheliegende Quelle, die freilich wie das Protokoll der Akademie-Aufnahme in der Numismatik nie konsultiert worden zu sein scheint, nämlich der journalistische Bericht über den 14 https://www.britishmuseum.org/collection/object/C_HARR-193, 5. Mai 2020. 15 Procès-verbaux de l’Académie Royale de peinture et de sculpture 1648–1793. Publiés […] par

Anatole de Montaiglon, Tome VIII: 1769–1779, Paris 1888, 134. 16 Vgl. Encyclopédie ou dictionnaire universel raisonné des connoissances humaines, mis en ordre par M. de Felice. Bd.  35, Yverdon 1774, 690. 17 Die Newton-Medaille mit der Revers-Inschrift: QUAERITUR / HUIC / ALIUS / VIRG. AENEID / M.DCC.LXXIV: https://www.coinarchives.com/w/openlink.php?l=69759 3|510|1106|df52b545a769f16d478e64517e450314 (5. Mai 2020). Das British Museum besitzt auch zu diesem Stück den Rückseitenstempel, weist ihn aber f älschlich einer unbekannten LockeMedaille zu (https://www.britishmuseum.org/collection/object/C_HARR-194, 5. Mai 2020). Roettiers’ Newton-Medaille aus dem Jahr 1739 wich mit der dort bildlichen Rückseitendarstellung davon ganz ab; erst in der Version von 1774 kam – parallel zu Locke – ein Vergil-Motto hinzu. Milo Keynes, The Iconography of Sir Isaac Newton to 1800, Rochester NY 2005, 113, Nr.  G 5 weiß den Urheber dieser Medaille nicht zu identifizieren und hält sie fälschlich für imitatorisch.



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Akademie-Salon, den Mathieu-François Pidansat de Mairobert am 29. September 1775 gibt: »Je ne vois que deux médailles de M. Roettiers, qui sont les Portraits de Loke & de Newton. On ne choisit pas ordinairement de pareils Bustes, lorsqu’on ne se sent pas en état de les rendre. Rien de mieux frappé.«18 Roettiers selbst hat also seine Medaillen bei der öffentlichen Leistungsschau der Akademie präsentiert und Bewunderung erregt. Damit scheint die historisch-numismatische uneasiness beseitigt zu sein – sie hat sich, ganz gemäß Lockes Diagnose, als »motive to change« erwiesen, nämlich in der allgemeinen Verwirrung Ordnung zu stiften. »Satisfaction« will sich allerdings nicht einstellen, fängt doch die philosophische uneasiness hier erst an. Denn jener Spruch, der 1739 und 1774 gleichermaßen die Medaillenrückseite ziert – »mens habitat molem« –, findet sich nicht in der eigens angegebenen Quelle, Vergils Geor­gica. Im 6. Buch der Aeneis bekommt der Titelheld Aeneas beim Besuch in der Unterwelt von seinem Vaters Anchises immerhin zu hören: »mens agitat molem« (VI 727), »der Geist bewegt den Stoff«. Die Fassung auf Roettiers’ Medaille ist hingegen sonst nirgends belegt. Nun könnte man, zwecks »satisfaction«, einwenden, hier sei eben ein Medailleur und kein Altphilologe am Werk gewesen, dem ein bedauerlicher Irrtum unterlaufen sein müsse, womöglich auf Grund einer falschen Vorlage, die wir nicht kennen. Warum aber hat Roettiers dann den falschen Satz und die falsche Quellenangabe, die gebildete Freunde bestimmt gleich hätten entlarven können, nicht nur 35 Jahre später noch einmal aufgelegt, sondern dann sogar noch die Parallelmedaille auf Newton mit einem genau analogen, diesmal allerdings echten VergilSpruch (Aeneis V 378) versehen (vgl. Anm.  17)? In der originalen Vergil-Fassung würde der Spruch ja nicht schlecht zu e­ inem Philosophen-Memorialobjekt passen, entweder, weil man ihm qua Philosoph gemeinhin zuschreibt, er werde wohl schon den Geist über die Materie gestellt ­haben, oder aber, weil der Philosoph selbst jenen Geist verkörpert habe, der dem bloß Physischen Leben einhauchte. Gesetzt aber, Roettiers sei kein Fehler unterlaufen, oder gesetzt, es sei möglich, dass eine philosophische Erkenntnis spontan entstünde, ohne dass jemand sie angestrengt herbeidenkt, dann wäre es zwingend, sich die Sache näher anzuschauen. Das Ersetzen von »agitat« durch »habitat« produziert weder grammatikalisch noch semantisch Unsinn. Beim klassisch Gebildeten erzeugt Roettiers’ Medaille mit dem falschen Zitat uneasiness, und zwar, obwohl Medaillen den zweifelhaften Ruf genießen, Verfestigungsmedien zu sein: Sie stehen vermeintlich für den Ruhemodus des Denkens, für das Festschreibende, zumal wenn sie spröde als Porträtstücke daherkommen, garniert mit einem lateinischen Motto, das kaum einer versteht – eben altbacken, 18 Lettres sur les peintures, sculptures et gravures de Mrs. de l’Académie Royale, exposées au Sallon du Louvre depuis MDCCLXVII jusqu’en MDCCLXXIX. Commencées par feu M. de Bachaumont, & depuis sa mort continuées par un Homme de Lettres célebre, London 1780, 226. Louis Petit de Bachaumont starb schon 1771, danach hat Pidansat de Mairobert die Fortführung dieser Salon-Brief berichte übernommen.

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gravitätisch, aes grave: Philosophie konservierend, jede Denkbewegung einfrierend. So scheint es. Die Medaille als Mittel gegen die Unruhe. Jedoch ist sie mit der Münze verwandt, die hochgradig wendig, konvertibel, beweglich ist und zugleich Substanz bewahren soll. Es hilft nichts, das Unbehagen bleibt. Im Vertrauen darauf, dass Unbehagen die Quelle aller Philosophie sei, wird man sich also ans Übersetzen machen. Vorauszuschicken ist, dass Locke selbst zumindest – wenigstens gemäß den häuslichen Ressourcen, die zu Corona-Zeiten bei geschlossenen Bibliotheken zur Verfügung standen – die originale Vergil-Stelle nie zitiert hat (geschweige denn die abgeänderte Version), dass sie jedoch von manchen Locke-Kritikern herangezogen wird. So von Edward Stillingfleet19 und Thomas Burnet, für den sie Beleg eines Locke unterstellten »Deism« ist, dessen Prinzip es sei, dass »[t]here’s one Infinite universal Spirit that actuates Matter always«.20 Würde die Medaille mit dem originalen Vergil Locke für die Eingeweihten des Deismus bezichtigt haben? Aber der originale Vergil steht ja nicht da. Fragt man zuerst, wie im Lateinunterricht gelernt, nach dem Prädikat, das allein von der Vergil-Vorlage abweicht, so belehren einen die einschlägigen Wörterbücher, dass habitare gewöhnlich ein transitives Verb ist, das also den Akkusativ fordert, den wir in »molem« ja auch vor uns haben. Dritte Person Singular im Indikativ: »er / sie / es bewohnt«. Während agitare als »in Bewegung setzen«, »bewegen«, »aufwirbeln« die geradezu idealtypische Verbalisierung der uneasiness wäre, steht das habitare für Festsetzung, Verfestigung, Beruhigung, scheinbar also die idealtypische Verbalisierung für die Medaille als Medium gegen die Unruhe. Aber der Effekt ist genau gegenteilig: Erst das Beruhigungsverb löst die uneasiness aus, die philosophisch mit dem Bewegungsverb im echten Klassiker-Zitat ausbliebe. Wie im Original ist mens das Subjekt – mit weitem Bedeutungsspektrum: »Denken«, »Denkkraft«, »denkender Geist«, »Verstand«, »Überlegung«, »Gedanke«, aber auch »Gemüt«, »Absicht«, »Wille« – und die Göttin Mens ist die »Göttin der Besinnung(skraft) und Einsicht«.21 Und die Spannweite des Akkusativobjekts ist kaum geringer: moles hat zwar die Erstbedeutung »Masse«, »Last«, »Schwere« und »Größe«, steht aber auch für »Anstrengung«, »Schwierigkeit«, »Mühe«, sogar für »Not« und »Gefahr«.22 Geht man von den gängigen Deutungen des Originalspruches »mens agitat molem« aus, nämlich von der Geistdurchwirktheit alles Materiellen, könnte man 19 [Edward Stillingfleet,] The Bishop of Worcester’s Answer to Mr. Locke’s Letter, Concerning Some Passages Relating To His Essay of Humane Understanding […]. London 1697, 63. 20 [Thomas Burnet,] Third Remarks upon an Essay Concerning Humane Understanding, in a Letter Addres’d to the Author. London 1699, 23. Das längere Zitat aus der Aeneis wird am Rand als gedruckte Marginalie ausgewiesen. Unmittelbar darauf folgt eine Marginalie, die auf die Georgica verweist. Man könnte darüber spekulieren, ob Roettiers oder sein Inspirator diese Passage kannte und dann den Beleg falsch zuordnete, so dass die Georgica auf der Medaille landeten. 21 Hermann Menge, Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch mit besonderer Berücksichtigung der Etymologie. Dritte Auf lage, Berlin-Schöneberg 1911, 469. 22 Ebd., 480.



Mens habitat molem

Frontispizkupfer zur 8. Ausgabe von ­Lockes ­Essay, London 1721.

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Frontispizkupfer zu Pierre Costes französischer Übersetzung von Lockes Essay, Amsterdam 1723.

das auf der Medaille zum Ausdruck gebrachte Philosophem als deren entschiedene Abschwächung zu verstehen geneigt sein: »Der Geist bewohnt den Stoff« wäre eine erste Übersetzung, was den Herrschafts- und Gestaltungsanspruch des Geistes relativiert, ihn auf eine materielle Basis angewiesen sein lässt und die Idee eines Geistes ohne materielles Substrat zumindest in Frage stellt, ja geradezu materialistische Folgerung zuließe. Eine zweite Übersetzung könnte lauten: »Die Denkkraft wohnt dem Stoff lichen inne«, was immerhin eine dominante, prägende Rolle dieser Denkkraft zu restituieren vermöchte. Nimmt man in einem dritten Übersetzungsversuch die eher sekundären Wortbedeutungen hinzu, wird man auf Varianten wie »Der Wille bewohnt die Not«, »die Absicht wohnt der Anstrengung inne«, »das Gemüt bewohnt die Gefahr« verfallen. Würde das bedeuten, dass mens, vielleicht sogar die Besonnenheitsgöttin Mens die moles bewältigt – dass immer schon in der Gefahr das Rettende des Geistes aufscheint und wächst? Oder setzt, als vierter Versuch der Annäherung, womöglich der zitatverfälschende Medailleur sich hier mit seinem eigenen Tun auseinander, das dem ungeformten Metall seinen Willen aufprägt: »Der schaffende Geist formt die rohe Materie«? Was uns schließlich beim Versuch, den Schleier des Timanthes zu lüften, nämlich das zur Anschauung zu bringen, was man nicht sieht,23 zum Vorderseitenmotiv 23 Siehe Konersmann, Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik, Frank-

furt / M. 1994.

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von Roettiers’ Medaille bringt. Ein medaillenförmiges Philosophenporträt ist in der Zeit an sich nichts Ungewöhnliches; an Locke hatte sich beispielsweise schon Jean Dassier (1676–1763) versucht.24 Dort aber, sowie auf zeitgenössischen Stichen (vgl. Abbildungen 2 und 3), erscheint der Philosoph ein wenig verdruckst, abwesend, in sich gekehrt, wenn mitunter auch in barocker Perückenpracht, immer aber als Biedermann. Roettiers hingegen, der Locke nie leibhaftig zu Gesicht bekommen hat, inszeniert ihn als Brandstifter. Seine Medaille zeigt, wie sich der tote Stoff begeistern lässt – einen Mann in uneasiness, mit wehendem Haar und trotzigem Blick – einen Mann, der unbedingt entschlossen scheint, uneasiness mannhaft anzugehen. In der Physis, im Stoff soll sich zeigen, was für ein Geist ihm innewohnt. Roettiers’ Medaille zeigt den Philosophen als Helden. Der dem Stoff seinen Geist einhaucht – wie der Künstler es tut. Offensichtlich ist Roettiers überzeugt, dass das Publikum – die Betrachter und Käufer der Medaille – Philosophen als ­Heroen sehen wollen, nicht als Gelehrte wie beim Konkurrenten Dassier.25 Roettiers’ Locke-Porträt ist sehr frei, sehr mächtig – mit der Anmutung eines edlen Wilden – und bringt damit die vielleicht unfreiwillige philosophische Erkenntnis mens habitat molem tatkräftig zur Geltung – in einem heroischen Ideal­ typus des Philosophen. Gut allerdings, wenn auch diesem Idealtypus gegenüber ein Rest uneasiness bleibt.

24 Vgl. https://www.coinarchives.com/w/openlink.php?l=4214762|4361|3502|53d41de95a 967488caa5735bf9fcc9da, 8. Mai 2020. 25 Vielleicht hat Roettiers 1774 in Frankreich für den heldenhaften Philosophen erstmals ein Publikum gefunden – im Anschluss an Rollenvorbilder wie Voltaire und Rousseau –, ein Publikum, das es 1739 in England noch nicht gegeben hatte, und vielleicht damals auch in Frankreich nicht, wo doch vermutlich das englische Projekt zu Ende geführt worden war.

Autorinnen und Autoren Dirk Baecker, Dr. phil., Seniorprofessor für Soziologie und Management an der Universität Witten / Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Kulturtheorie, Organisationsforschung und Managementlehre. Ralf Becker, Dr. phil., Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Arbeitsschwerpunkte: Kulturphilosophie, Wissenschaftsphilosophie, Philosophische Anthropologie, Phänomenologie und Hermeneutik. Hjördis Becker-Lindenthal, Dr. phil., Leverhulme Early Career Fellow, Faculty of Divinity, University of Cambridge. Arbeitsschwerpunkte: Religionsphilosophie, Kulturphilosophie, Deutsche Mystik, Kierkegaard, Film-Philosophie, Ecotheology.  A xel Beelmann, Dr. med. Dr. phil., Privatgelehrter. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Philosophie, Philosophische Anthropologie, Phänomenologie, Philosophische Ästhetik. Christian Begemann, Dr. phil., Professor i.R. für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der LMU München. Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, insbesondere Realismus, Körpergeschichte, Kulturanthropologie und Semiotik, Theorien der ästhetischen Produktivität von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Vampirismus und literarische Gespenster. Christian Bermes, Dr. phil., Professor für Philosophie an der Universität KoblenzLandau, Campus Landau. Arbeitsschwerpunkte: Klassische Philosophie, Phänomenologie, Kulturphilosophie und Philosophische Anthropologie. Christine Blättler, Dr. phil., Professorin für Philosophie an der CAU Kiel. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie und Geschichte von Wissenschaft, Technik, Kunst. Hartmut Böhme, Dr. phil., Professor em. für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Kulturtheorien, Natur- und Technikgeschichte in den Überschneidungsfeldern von Philosophie, Kunst und Literatur, Historische Anthropologie, Literaturgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts. Tilman Borsche, Dr. phil., Professor i.R. am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Zeichenphilosophie, Kulturphilosophie, Begriffsgeschichte, Geschichte der Philosophie.

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Autorinnen und Autoren

Günter Figal, Dr. phil., Professor em. für Philosophie an der Universität Freiburg im Breisgau. Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologie, Ästhetik, Hermeneutik, Metaphysik. Bärbel Frischmann, Dr. phil., Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Erfurt. Arbeitsschwerpunkte: Deutscher Idealismus und Frühromantik, Existenzphilosophie, Sozialphilosophie, Kulturphilosophie. Jürgen Goldstein, Dr. phil., Professor für Philosophie an der Universität KoblenzLandau. Joachim Hake, Direktor der Katholischen Akademie in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Literatur, Ästhetik und Theologie, Kultur und Politik, Kritik der Lebenskunst. Ellen Harlizius-Klück, Dr. phil., Leiterin des EU-Projekts »PEN ELOPE : A Study of Weaving as Technical Mode of Existence« (gefördert durch einen ERC Consolidator Grant im Rahmenprogramm Horizon 2020 der Europäischen Kommission, Fördernummer 682711) am Forschungsinstitut des Deutschen Museums, München. Arbeitsschwerpunkt: Technik und Philosophie der Weberei. Norbert Herold, Dr. phil., Akademischer Oberrat a. D. am Philosophischen Seminar der Universität Münster. Arbeitsschwerpunkte: Cusanusforschung und Renaissancephilosophie, Geschichtsphilosophie, Politische Philosophie und Sozialphilosophie, Wirtschaftsethik. Ole Kliemann, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der CAU Kiel. Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologie, Psychoanalyse und Technikphilosophie. Peter Körte, leitender Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Studium der Philosophie und Geschichte. Bücher über Quentin Tarantino, die Coen-Brüder, Hedy Lamarr und den Bagel. Johann Kreuzer, Dr. phil., Professor für Geschichte der Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität-Oldenburg. Präsident der Internationalen HölderlinGesellschaft. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte und Kritik der Metaphysik (einschl. Sprach- und Religionsphilosophie) von der Antike bis zur Gegenwart, Deutscher Idealismus, Ästhetische Theorie, originäre Kritische Theorie. Astrid von der Lühe, Dr. phil., akademische Oberrätin am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des 18. Jahrhunderts, Philosophie der Gefühle.



Autorinnen und Autoren

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Michael Makropoulos, Dr. disc. pol., lehrte bis 2020 Soziologische Theorie und Kultursoziologie mit dem Schwerpunkt Theorie der Moderne, zuletzt an der Humboldt-Universität zu Berlin. Albert Meier, Dr. phil., Professor i. R. für Neuere deutsche Literatur an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Arbeitsschwerpunkte: Poetik und Ästhetik, Klassik / Romantik, Literatur / Philosophie der Post- und Post-Postmoderne. Gérard Raulet, Dr., Professor em. für Deutsche Ideengeschichte an der Sorbonne. Arbeitsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Philosophische Anthropologie und Kritische Theorie. Melanie Reichert, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der CAU Kiel. Arbeitsschwerpunkte: Kulturphilosophie, Ästhetik, Erkenntnistheorie und Kunstphilosophie. Enno Rudolph, Dr. phil, Professor em. für Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Luzern. Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie, Kulturphilosophie, Wirkungsgeschichte der griechischen Philosophie, Geschichte des Renaissancehumanismus in Europa, Morphologie des politischen Denkens. Monika Schmitz-Emans, Dr. phil., Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Literatur westeuropäischer Sprachräume von 1800 bis zur Gegenwart, Beziehungen zwischen Literatur und Bildern, Materialität der Literatur. Ulrich Johannes Schneider, Dr. phil., Direktor der UB und Professor für Kulturphilosophie an der Universität Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Enzyklopädistik, Buch- und Bibliotheksgeschichte, Geschichte der modernen Philosophie, Michel ­Foucault. Volker Schürmann, Dr. phil., Professor für Philosophie, insbesondere Sportphilosophie an der DSHS Köln. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Anthropologie, Sportphilosophie, Hermeneutik und Philosophische Skepsis. Andreas Urs Sommer, Dr. phil., Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Kulturphilosophie, Philosophiegeschichte, Nietzsche. Tim-Florian Steinbach, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeitsschwerpunkte: Kultur- und Technikphilosophie, Hermeneutik und Geschichtsdenken, Philosophische Anthropologie.

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Autorinnen und Autoren

Uwe Justus Wenzel, Dr. phil., arbeitet an der ETH Zürich als Senior Scientist in dem Forschungsprojekt Wissenschaft und Philosophie zwischen Akademie und Öffentlichkeit, das – ermöglicht von der Nomis Foundation – an der Professur für Philosophie und an der Professur für Wissenschaftsforschung angesiedelt ist. Dirk Westerkamp, Dr. phil., Professor für Theoretische Philosophie an der Chris­ tian-­A lbrechts-Universität zu Kiel. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Ästhetik, Deutscher Idealismus.

Bildnachweis

Umschlag und S. 8: Auguste Rodin, La pensée, um 1895, Marmor, 74,2 x 43,5 x 46,1 cm, Musée d’Orsay, Paris. © bpk / RMN-Grand Palais (Musée d’Orsay). Fotograf: René-Gabriel Ojéda. S. 16

NASA / Bill Anders, Earthrise (1968). Courtesy of NASA. Bildquelle: https://t1p.de/nd3h.

S. 18 NASA / Apollo 17 crew, Blue Marble (1972). Courtesy of NASA. Bildquelle: https://t1p.de/s6ey. S. 26 Andreas Gursky, Rimini, 2003, 298 x 207 cm. © Andreas Gursky / VG Bild-Kunst. Courtesy: Sprüth Magers. Mit bestem Dank des Verfassers an Andreas Gursky und die Galerie Sprüth Magers. S. 36 Barnett Newman, Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV, 1969–70, Öl auf Leinwand, 274,3 x 604,5 cm, Berlin, SMB, Nationalgalerie. © Barnett Newman Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Foto: akg-images. S. 44 Diego Velázquez, Las Meninas, 1656, Öl auf Leinwand, 318 x 276 cm, Museo del Prado, Madrid. Abbildung: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/f25n. S. 50 Jan van Eyck, Die Arnolfini-Hochzeit, 1434, Öl auf Holz, 81,8 x 59,7 cm, National Gallery, London. Abbildung: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/635q. S. 58 Paul Klee, Hauptweg und Nebenwege, 1929, Öl auf Leinwand, 83,7 x 67,5 cm, ­Museum Ludwig, Köln. Abbildung: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/l02w. S. 66 Francisco de Zurbarán, Heilige Marina, ca. 1645, Öl auf Leinwand, 111 x 88 cm, ­Museo Carmen Thyssen, Málaga (Colección Carmen Thyssen-Bornemisza). ­Abbildung: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/0czo. S. 72 Pieter Bruegel der Ältere, Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, um 1560, Öl auf Leinwand, 73,5 x 112 cm, Königliche Museen der Schönen Künste, Brüssel. Abbildung: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/nmer. S. 80 Jacopo Tintoretto, Der Sündenfall, 1551/52, Öl auf Leinwand, 150 x 220 cm, Galleria dell’Accademia, Venedig. Abbildung: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/w4z7. S. 86 Hans Canon, Putten beim Bahnbau, ca. 1876, Öl auf Leinwand, 157 x 280 cm, ­Österreichische Galerie Belvedere, Wien. Abbildung: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/jupd.

268 Bildnachweis S. 89 Hans Canon, Der Kreislauf des Lebens, 1884–1885, Öl auf Leinwand, Deckenfresko im Naturhistorischen Museum Wien. Foto: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/03h7. S. 94 Caspar David Friedrich, Morgennebel im Gebirge, 1808, Öl auf Leinwand, 71 x 104  cm, Thüringer Landesmuseum Heidecksburg, Rudolstadt. Abbildung: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/ob5m. S. 99 Mathias Kessler, The Sea of Ice, 2013, 3D Maya Rendering. © Courtesy: der Künstler. S. 100 Caspar David Friedrich, Das Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung), 1823–1824, Öl auf Leinwand, 96,7 x 126,9 cm, Hamburger Kunsthalle. Abbildung: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/2zg0. S. 101 Mathias Kessler, Ilulissat S010. Islands of Time, 2007, Ilulissat, Greenland, Digital C print, 120 x 159 cm. © Courtesy: der Künstler. S. 104 Richard Oelze, Erwartung, 1935/36, Öl auf Leinwand, 81,6 x 100,6 cm, Museum of Modern Art, New York. © 2021. Digital image, The Museum of Modern Art, New York / Scala, Florence. S. 109 Rudolf Dodenhoff, Portrait Richard Oelze, Worpswede 1948, Privatbesitz. Bildquelle: https://t1p.de/o4t0. S. 112 Antonin Artaud, Sort vom 8. Mai 1939, Violetter Tintenstift und Farbstifte, das ­Papier ist versengt, 21 x 13,5 cm, Privatsammlung. Aus: Antonin Artaud. Zeichnungen und Portraits, hrsg. von Paule Thévenin und Jacques Derrida, Verlag Schirmer / Mosel, München 1986. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Schirmer / Mosel. S. 118 »Parzival erlöst mit seiner Frage Anfortas«, in: Wolfram von Eschenbach, Parzival (Handschrift), Hagenau, Werkstatt Diebold Lauber, um 1443–1446. Bildquelle: Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 339, Bl. 582 r. S. 124 Pieter van Steenwyck, Ars longa, vita brevis, um 1650, Öl auf Leinwand, 74,5 x 96,5  cm, Privatbesitz. Abbildung: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/ml3t. S. 134 Paris Match Nr. 1435 vom 26. November 1976, S. 74/75. S. 140 Black Mirror, written by Charlie Brooker, Channel 4 / Netflix, 2011–, Opening ­sequence, 00:00:10. © 2021 Netflix. Bildquelle: https://t1p.de/pohw. S. 152 Daniel Kuge, BMV2-G3WG1L-17, 2017, Mixed Media, 25 x 45 x 18 cm. Foto: © Daniel Kuge, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 2020. S. 158 Daniel Kuge, SB2-KB12-15, 2015, Bronze, 6 x 6 x 7 cm, zweiteilig. Foto: © Daniel Kuge, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 2020. S. 160 Blick in den Lichthof Süd des Museums für Abgüsse Klassischer Bildwerke München. Foto: © Ellen Harlizius-Klück, 2019.

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S. 168 Meret Oppenheim, Wolke auf Brücke, 1963, Kunstmuseum Bern. © VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Foto: © Peter Lauri, Bern. Die Abbildung stammt aus: Meret Oppenheim. Retrospektive, hrsg. von Heike Eipeldauer, Ingried Brugger, Gereon Sievernich, Hatje Cantz Verlag, Berlin 2013, S. 161. S. 178 Edward Hopper, Morning Sun, 1952, Öl auf Leinwand, 71,5 x 102 cm, Museum of Art, Columbus, © Heirs of Josephine N.Hopper / ARS, NY / VG Bild-Kunst, Bonn 2021. Foto: akg-images. S. 184 Vincent van Gogh, Sternennacht über der Rhône, 1888, Öl auf Leinwand, 72.5 x 92  cm, Musée d’Orsay, Paris. Abbildung: Courtesy of Wikimedia Commons. Bildquelle: https://t1p.de/i5bz. S. 192 Grandville, »Das neue Verfahren in der Baukunst«, 1838. Aus: Jonathan Swift: Reisen in verschiedene ferne Länder der Welt von Lemuel Gulliver, erst Schiffsarzt, dann Kapitän mehrerer Schiffe, übers. von Kurt Heinrich Hansen, München 1974, S. 275. S. 200 Eduardo Chillida, Diálogo – Tolerancia / Toleranz durch Dialog, 1992, Platz des ­Westfälischen Friedens, Münster. Foto: Dietmar Rabich, Wikimedia Commons, »Münster, Skulptur – Toleranz durch Dialog – 2016 – 2457 / CC BY-SA 4.0«. ­B ildquelle: https://t1p.de/ozv2. S. 210 Stefan Wewerka, Kölner Döme, 1970, 69 x 76 cm, Privatbesitz. Foto: © Dirk Baecker, 2019. S. 214 Ohne Titel. Foto: © Hjördis Becker-Lindenthal, 2019. S. 224 Jean-Paul Sartre auf der rororo-Bildmonographie. Foto: © Günter Figal, 2019. S. 232 Ohne Titel. Foto: © Monika Schmitz-Emans, 2019. S. 234 Buchcover: John Cage / Lois Long, Mud Book. How to make pies and cakes, Abrams & Chronicle Books 2017. S. 239 Ernst Jandl, »my right hand / my writing hand / my handwriting«. Aus: Karl Riha: Das Buch der Hände. Eine Bild- und Text-Anthologie, mitherausgegeben von Gertrud Stinner und Waltraud Wende-Hohenberger, Nördlingen 1986. S. 242 Der Ochse und sein Hirte (8. Bild der Zen-Ochsenbilder). Bildquelle: Plakat des 100. Philosophischen Kolloquiums der Universität Hildesheim im WS 2011/12. S. 248 Eine Hauswand in Rom. Foto: © Jürgen Goldstein, 2020. S. 253 Jacques (III) Roëttiers de la Tour (1707–1784), Bronzemedaille auf John Locke, Paris 1774. Foto: © Andreas Urs Sommer, 2020. S. 259 Frontispiz (links) aus: John Locke, An Essay Concerning Human Understanding (1690), London 81721; Frontispiz (rechts) aus: John Locke, Essai philosophique concernant l’entendement humain, où l’on montre quelle est l’etendue de nos connoissances cer­ taines, & la manière dont nous y parvenons, traduit de l’anglois de Mr. John Locke, par Pierre Coste, Amsterdam 1723.