Was bedeutet Fluchtmigration?: Soziologische Erkundungen für die psychosoziale Praxis [1 ed.] 9783666404771, 9783525404775


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Was bedeutet Fluchtmigration?: Soziologische Erkundungen für die psychosoziale Praxis [1 ed.]
 9783666404771, 9783525404775

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Birgit Behrensen

Was bedeutet Fluchtmigration? Soziologische Erkundungen für die psychosoziale Praxis

V

Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten Herausgegeben von Maximiliane Brandmaier Barbara Bräutigam Silke Birgitta Gahleitner Dorothea Zimmermann

Birgit Behrensen

Was bedeutet Fluchtmigration? Soziologische Erkundungen für die psychosoziale Praxis

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit einer Abbildung und einer Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40477-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Nadine Scherer © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Reihenredaktion: Silke Strupat Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen . . . . . . . . . . 7 1 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2  Flüchtlinge oder Geflüchtete? Eine einleitende soziologische Interpretation . . . 13 3  Der empirische Ausgangspunkt: Fluchtmigration in Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 4  Fluchtursachen und globale Verflechtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1  Fallstricke bei der Identifizierung von Fluchtursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2  Krieg und Terror . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3  Klimakatastrophen und Hunger . . . . . . . . . . . . 4.4  Diskriminierungen und soziale Benachteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5  Die Flüchtlingsschutzkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1  Nationalstaatliche Paradoxien im Zeitalter der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2  Verschiebungen der Paradoxien an die europäischen Außengrenzen . . . . . . . . . . . . . . . 5.3  Fluchtmigration als soziale Frage . . . . . . . . . . .

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Inhalt

6  Flüchtlingsintegration in Deutschland: Aktuelle Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1  Soziale Ungleichheit und Globalisierungsangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2  Die Konstruktion von Flüchtlingen als Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3  Systembedingte Entmündigungen . . . . . . . . . . .

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7  Implikationen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 7.1  Wege in die Zukunft: Bildung und Ausbildung 75 7.2  Respekt und Empowerment in einer Welt voller Widersprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 7.3 Kontextkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 7.4  Die wichtigsten Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 8 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 9 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

Der Band »Was bedeutet Fluchtmigration? Soziologische Erkundungen für die psychosoziale Praxis« eröffnet die Buchreihe »Fluchtaspekte. Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen«. Die Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin Birgit Behrensen stellt darin die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die gesellschaftliche Verantwortung für das Phänomen der Flucht in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Sie bedient damit eines der wesentlichen Anliegen dieser Reihe, das darin besteht, soziale Bedingungen individuellen Leids genauer in den Blick zu nehmen. Ziel der Reihe ist es, psychosoziale Fachkräfte, Sprachmittler und ehrenamtlich Engagierte in ihrer Begegnung und Arbeit mit geflüchteten Menschen mit theoretischem Hintergrund- und nützlichem Praxiswissen zu unterstützen. Birgit Behrensen beginnt mit einem fundierten und faktenreichen Überblick zu den komplexen Fluchtursachen und neuen Dimensionen der Globalisierung; dazu zählen neben Kriegen und Terror ebenso die fatalen Auswirkungen des Klimawandels und verschiedene Formen von Diskriminierung. Sie behandelt weiterhin die international bestehende Krise im Flüchtlingsschutz und thematisiert die Notwendigkeit, eine neue Praxis zu etablieren, um geflüchteten Menschen den Zugang zu ihren Menschenrechten zu gewähren. Darüber hinaus beschreibt sie die Dilemmata der Integrationsbemühungen von geflüchteten Menschen in Deutschland, die beispielsweise darin bestehen, dass diese quasi Opfer bleiben müssen, um ihren Status nicht zu verlieren, und so zu wenig als Ak-

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Geleitwort

teurinnen und Akteure angesprochen werden, die an der Mitgestaltung demokratischer Prozesse teilhaben und so auch Verantwortung übernehmen können. Der Band endet mit sehr konkreten Überlegungen für mögliche Konsequenzen in der psychosozialen Praxis und löst so auch den in dieser Reihe zentralen Anspruch ein, theoretische Überlegungen mit praxisbezogenen Ideen zu verknüpfen. Wir freuen uns sehr, dass wir Birgit Behrensen als ­aktives Mitglied im Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e. V. und als Professorin für Soziologie der Sozialen Arbeit an der BTU Cottbus für diesen Eröffnungsband gewinnen konnten, und hoffen, dass die Leserinnen und Leser sich durch die Lektüre angeregt und bereichert fühlen. Barbara Bräutigam Maximiliane Brandmaier Silke Birgitta Gahleitner Dorothea Zimmermann

1 Vorwort

Als sich 2015 mehr Menschen als jemals zuvor aus Afrika, dem Nahen Osten, Südasien und anderen Regionen der Welt auf verschiedenen Wegen nach Europa aufmachten, erlebte Deutschland eine neue Dimension der Globalisierung. Die transkontinentale Suche vieler hunderttausender Menschen nach gesicherteren Lebensmöglichkeiten verweist darauf, dass die Menschheit zu einer globalen Weltgemeinschaft wird – auch wenn politische Antworten zur Steuerung der damit einhergehenden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen noch nicht gefunden sind und der Gedanke der Weltgemeinschaft viele erschreckt. Dieser Band der Reihe »Fluchtaspekte« beschreibt aus soziologischer Sicht einige der gegenwärtigen Veränderungen und mit diesen zusammenhängenden Herausforderungen. Die Veränderungen und Herausforderungen wirken auf vielfache Weise in das Feld »Arbeit mit Flüchtlingen« hinein, führen zu Widersprüchen und offenen Fragen. Die soziologischen Beschreibungen sollen helfen, den Blick auf das Feld zu erweitern, auch dort, wo es keine schnellen Antworten gibt. Eine Orientierung für die Beschreibungen dieses Buches liefert der US-amerikanische Soziologe Charles Wright Mills (1963). Er wies in den 1960er Jahren darauf hin, dass die Soziologie einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Demokratie leisten könne, wenn sie individuelle Probleme kontextualisiere. Dies gelingt, wenn sie ihr Kerngeschäft ernst nimmt, nämlich gesellschaftlich wirkmäch-

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Vorwort

tige Muster und Zusammenhänge herauszuarbeiten, die hinter individuellen Problemen stehen. Auf diese Weise ordnet die Soziologie individuelle Schwierigkeiten in größere gesellschaftliche Kontexte ein. Dahinter stehende Probleme werden so zu öffentlichen Problemen und damit zu Fragen öffentlicher Verantwortung. In diesem Buch wird das Vorhaben einer Beschreibung aktueller Probleme, die sich aus der Fluchtmigration ergeben, in der Form betrieben, dass immer von einer untrennbaren Einheit von Individuum und Gesellschaft ausgegangen wird. Mit dem deutsch-britischen Soziologen Norbert Elias (1984) wird die Verbundenheit aller Menschen miteinander als Grundkonstante verstanden. Schließlich ist jede und jeder in der eigenen Entwicklung aufs Engste mit der umgebenden Gesellschaft verbunden und wirkt zugleich in sie hinein. Diesen Gedanken im Sinne der Entwicklung der Menschheit zu einer Weltgemeinschaft ernst zu nehmen, ist eines der Anliegen der im Folgenden zu findenden Beschreibungen und Überlegungen. Das Verstehen der Fluchtmigration als Dimension der Globalisierung ist dabei mehr als eine akademische Übung im soziologischen Elfenbeinturm. Das Buch will zum Nachdenken über die Mehrdimensionalität von Verflechtungen, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten über nationalstaatliche Grenzen hinaus anregen, um auf dieser Basis psychosoziale Ansätze weiterzuentwickeln. Das ist im Kontext einer sich durch Globalisierung verändernden Gesellschaft dringend geboten.

2 Flüchtlinge oder Geflüchtete? Eine einleitende soziologische Interpretation

Während es vor 2015 üblich war, Geflüchtete als »Flüchtlinge« zu bezeichnen, ändert sich der öffentliche Sprachgebrauch im Zuge der Fluchtzuwanderungen seit Sommer 2015. Der Begriff »Geflüchtete« löst seitdem den Begriff des »Flüchtlings« immer häufiger ab. Die sprachliche Sensibilität, mit der um die Begrifflichkeiten gerungen wird, erinnert an Debatten in Westdeutschland in den 1980er Jahren. Ähnlich wie heute wurden damals emotional aufgeladene Diskussionen unter den Angehörigen der – ehedem westdeutschen – Gesellschaft geführt. In großen Teilen der Bevölkerung gingen die Diskussionen darum, wem legitime und wem illegitime Gründe der Fluchtzuwanderung unterstellt werden könnten. Im Kern ging es um die Frage, wer Zugang zu Teilhabe und Bleibeperspektiven haben dürfe. Das Wochenmagazin »Der Spiegel« fragte im Sommer 1980: »Wird Westdeutschland überflutet von einer Fremdenwelle, müssen Massenlager her für die Asylanten oder gar Grenzrichter, die kurzen Prozeß machen?« Anlass für die Debatten war damals  – ähnlich wie heute – der relativ plötzliche Anstieg der Zahlen von Asylanträgen, verbunden mit einer wirtschaftlich schwierigen Arbeitsmarktsituation. Der Migrationsforscher Klaus J. Bade (2015) sieht in dem Aufheizen der Debatten rückblickend vor allem eine politische Instrumentalisierung: »Dabei entstand das ›Asylantenproblem‹ nicht etwa allein als Folge der zunächst nur zeitweise und erst später anhaltend starken Zunahme von Asylanträgen. Es wurde bei der Politisierung der ›Ausländerfrage‹ auch bewusst geschaf-

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Flüchtlinge oder Geflüchtete?

fen […] Die populistischen Argumente in der politischen Diskussion um Asylrecht und Asylrechtspraxis, die in den Medien skandalisierend fortgeschrieben wurden, hatten dabei mit der Realität oft wenig zu tun. Das zeigte sich z. B. darin, dass sogar noch Anfang der 1980er Jahre, bei kurzzeitig wieder sinkenden Asylbewerberzahlen, in den Reihen von CDU und CSU weiter die Rede ging vom ›Asylmissbrauch‹ im Schatten einer angeblich ›anhaltenden Flut von Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlingen‹ (S. 5).« In dem Artikel des Spiegels im Sommer 1980 heißt es weiter: »Der Mißbrauch der Asylbestimmungen heizt die Überfremdungsdebatte an und bedroht eine Verfassungsgarantie, die zum Besten der bundesdeutschen Rechtsordnung gehört.« Die Gewährung politischen Asyls ist ein wichtiges Element der demokratischen Verfasstheit des westdeutschen Staates. Beides zusammen, Demokratie und die Verpflichtung zur Asylgewährung, manifestieren einen deutlichen Bruch mit der nationalsozialistischen Gesellschaft Deutschlands. Was bedeutet es für das nationale Selbstverständnis, wenn diese Verfassungsgarantie nicht mehr uneingeschränkt gewährt würde? Die Verweigerung widerspräche dem nationalen Selbstbild einer Gesellschaft, die auf Humanität, Weltoffenheit und Egalität basiert. Psychisch lieferte die Begründung, die Schutzsuchenden seien nur Scheinasylanten, daher eine Entlastung. Damit wären die Asylanten selbst schuld, wenn ihnen kein Schutz gewährt würde. Die Schuld läge nicht in der westdeutschen Gesellschaft. Mit der Schuldverschiebung war es Angehörigen der westdeutschen Gesellschaft möglich, Fluchtzuwanderung abzulehnen und trotzdem das eigene Selbstbild aufrechtzuerhalten, Angehörige einer humanistischen, weltoffenen und egalitären Nation zu sein (Behrensen, 2006). Die in den Jahren zuvor neutral verwendeten Begriffe des »Asylanten« und der »Asylantin« erhielten im

Flüchtlinge oder Geflüchtete?15

Zuge dieser Umdeutungsprozesse immer stärker eine negative Konnotation. Die Bezeichnungen »Asylant« und »Asylantin« gingen immer deutlicher mit der Kreation von Sprachbildern einher, dass es sich bei Asylanten um Personen handelte, die aus eher zweifelhaften Gründen Asyl suchten. So schrieb »Der Spiegel« weiter: »Dieses Gemenge fremder Kulturkreise, auf engem Raum und unter gespannten sozialen Bedingungen, das erscheint nun vielen doch zu viel […] Und bei manch einem klingt das Wort Asylant so wie Simulant oder Bummelant.« Der zunächst nur in politischen Unterstützungskreisen alternativ etablierte Begriff des »Flüchtlings« als neuer neutraler Begriff setzte sich allmählich im öffentlichen Sprachgebrauch durch. Immer häufiger wurde dieser Begriff dort verwendet, wo es darum ging, die Menschen, die Schutz und Sicherheit in Deutschland suchten, als Gruppe zu beschreiben. Der Grund ihres Kommens, die Flucht, ist begrifflich – und damit auch moralisch – präsent. Die Formulierung »Asylant« fand und findet sich fast nur noch dort, wo bewusst negative Unterstellungen im zuvor beschriebenen Sinne transportiert werden sollen. Der Wandel der Begrifflichkeit im Jahr 2015 hat eine andere Ursache. Erneut hängt die Suche nach einem neuen, geeigneteren Begriff für die Gesamtgruppe der schutzsuchenden Menschen aber mit der Frage des Miteinanders von Aufnahmegesellschaft und Zuwandernden zusammen. Dabei besteht ein Unterschied zwischen den 1980er Jahren und heute darin, dass Selbstorganisationen Geflüchteter und anderer Migranten und Migrantinnen eine aktive Rolle in politischen Diskussionen einnehmen. So haben Geflüchtete mittlerweile nicht nur auf regionaler Ebene, sondern auch auf bundesdeutscher Ebene funktionierende Netzwerkstrukturen entwickelt. Anders als in den 1980er Jahren entstand die Notwendigkeit eines neuen Begriffs nicht, weil der Begriff des

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Flüchtlinge oder Geflüchtete?

»Flüchtlings« einen negativen Bedeutungswandel erfahren hätte. Vielmehr wird mit der Suche nach einem neuen Begriff der Beiklang von Abhängigkeit, Objektivierung und Passivität im Begriff des »Flüchtlings« zur Disposition gestellt. Der neue Begriff, der sich gegenwärtig durchsetzt, ist mit dem Adjektiv bzw. dem als Adjektiv verwendbaren, auf die Vergangenheit bezogenem Partizip Perfekt »geflüchtet« verbunden. Mit diesem neuen Begriff wird sprachlich versucht zu fassen, dass es sich um Menschen handelt, die nicht auf den Fakt des Flüchtens reduziert werden können. Es handelt sich um geflüchtete Frauen, Männer und Kinder, um geflüchtete Familien, aber auch um geflüchtete Schüler und Schülerinnen, geflüchtete Akademiker und Akademikerinnen, geflüchtete politische Aktivisten und Aktivistinnen und vieles mehr. Flucht wird zu einem Merkmal unter vielen anderen. Die Beschreibung eines Merkmals mit einem substantivierten Adjektiv bzw. Partizip passt gut in eine Gesellschaft, die sich auf dem Weg zur Inklusion befindet. Inklusion als Ideal verlangt, dass Geflüchtete perspektivisch in Institutionen wie Kindergarten, Schule, Hochschule und auch auf dem Arbeitsmarkt integriert werden, ohne dass sie auf ihre Flüchtlingseigenschaft reduziert werden. Sprachlich überwunden werden soll mit dem neuen Begriff das Bild von dem passiven Flüchtling, der verwaltet und über den entschieden wird. Geflüchtete sind Menschen, die sich auf den Weg in eine bessere Zukunft gemacht haben und die ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben. Im Zentrum des neuen Begriffs steht die Idee, dass Geflüchtete keine Objekte einer für sie gestalteten Umgebung sind, sondern dass sie selbst mitgestalten. Das Ideal dahinter ist, dass Angehörige der Aufnahmegesellschaft und Geflüchtete stärker als zuvor zu einer Fluchtmigrationsbewegung (Pries, 2016) zusammenwachsen.

Flüchtlinge oder Geflüchtete?17

In diesem Buch werden die Begriffe »Flüchtlinge« und »Geflüchtete« synonym verwendet, weil die Quellen, auf die sich bezogen wird, beide Begriffe verwenden. Wichtiger als die Frage der Begrifflichkeit stellt sich aus soziologischer Sicht die Frage, welchen gesellschaftlichen Status Geflüchtete in der Wahrnehmung von Verwaltung, Politik und deutscher Aufnahmegesellschaft haben. Wie wird ihnen begegnet? Wie wird über sie und mit ihnen gesprochen und verhandelt? Wer ist an diesen Diskussionen und Verhandlungen in welcher Position beteiligt? Dabei gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass die deutsche Gesellschaft ebenso wie die anderen westlichen Gesellschaften über Jahrhunderte ihren Herrschaftsanspruch in der Welt als selbstverständlich wahrgenommen hat. Eine ideologische Legitimation für diesen Herrschaftsanspruch, der tief im Selbstverständnis verwurzelt ist, ist die Idee, dass westliche Gesellschaften rationaler, demokratischer und egalitärer sind als der Rest der Welt. Die Sozialwissenschaftlerin Birgit Rommelspacher hat sich mit der daraus resultierenden »Dominanzkultur« (1995) detailliert auseinandergesetzt und die Selbstverständlichkeiten der Entmündigung sowie des Überhörens differenter Sichtweisen herausgearbeitet. In Anlehnung an den USamerikanischen Soziologen William Edward Burghardt Du Bois (1903/2003) kann auch gesagt werden, dass es für Angehörige der Dominanzkultur so selbstverständlich ist, die Bedürfnisse der Nicht-Dominanten zu ignorieren, dass sie es gar nicht merken. Wenn sich heute der Begriff des und der »Geflüchteten« neben dem Begriff des »Flüchtlings« etabliert, dann markiert dies den Versuch der Etablierung eines nachhaltigen Perspektivwechsels im Miteinander. Bis zur Überwindung einer über Jahrhunderte tradierten Dominanzkultur ist es allerdings noch ein langer Weg, der sich nicht so schnell ändern lässt wie die Begrifflichkeiten.

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3 Der empirische Ausgangspunkt: Fluchtmigration in Zahlen

3

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) zählt in seiner aktuellen Veröffentlichung (2017) fast 66 Millionen Menschen auf der Flucht. Diese Gesamtgruppe lässt sich in drei große Gruppen unterteilen, für die unterschiedliche Bedingungen gelten. Die größte Gruppe bilden die Binnenflüchtlinge, die innerhalb der eigenen Staatsgrenzen nach Zufluchtsorten suchen. Im Jahr 2015 waren das fast 41 Millionen Menschen. Davon konnten bis Mitte 2016 immerhin 3,2 Millionen Menschen an ihre Herkunftsorte zurückkehren. Die zweitgrößte Gruppe bilden die Flüchtlinge, die unter dem Mandat des UNHCR in verschiedenen Aufnahmelagern leben – Mitte des Jahres 2016 waren das etwa 6,5 Millionen Menschen – oder die als palästinische Flüchtlinge bei der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) registriert sind – etwa fünf Millionen Menschen im Jahr 2015. Hinzu kommen als drittgrößte Gruppe Asylsuchende, die in anderen Staaten auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention und ihren Folgebestimmungen Schutz suchen. Das waren im Jahr 2015 etwa drei Millionen Menschen (2016, 2017). Betrachten wir die offiziellen Zahlen der Staaten mit den meisten Menschen auf der Flucht ergibt sich für das Jahr 2016 das Bild, das Tabelle 1 zeigt.

Fluchtmigration in Zahlen19

Tabelle 1: Überblick über die Gruppe der geflüchteten Menschen im Jahr 2016 (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – BMZ, 2017, S. 10 f., berechnet auf Basis von Zahlen des UNHCR, 2017) Staat

Gesamtanzahl der geflohenen Menschen

Binnenvertriebene

Internationale Flüchtlinge und Asylsuchende

Syrien

11,7 Mio.

6,1 Mio.

5,6 Mio.

Kolumbien

6,7 Mio.

6,4 Mio.

0,3 Mio.

Afghanistan

4,5 Mio.

1,5 Mio.

3,0 Mio.

Sudan

4,1 Mio.

3,4 Mio.

0,7 Mio.

Irak

3,9 Mio.

3,3 Mio.

0,6 Mio.

Süd Sudan

2,7 Mio.

1,8 Mio.

0,9 Mio.

Somalia

2,4 Mio.

1,2 Mio.

1,2 Mio.

Demokratische Republik Kongo

2,3 Mio.

1,7 Mio.

0,6 Mio.

Nigeria

2,3 Mio.

2,1 Mio.

0,2 Mio.

Jemen

2,2 Mio.

2,2 Mio.

0,02 Mio.

Ukraine

2,1 Mio.

1,7 Mio.

0,4 Mio.

Pakistan

1,6 Mio.

1,4 Mio.

0,2 Mio.

Myanmar

1,1 Mio.

0,6 Mio.

0,5 Mio.

Zentralafrikanische Republik

0,9 Mio.

0,4 Mio.

0,5 Mio.

Eritrea

0,5 Mio.

Keine Angabe

0,5 Mio.

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Fluchtmigration in Zahlen

Seit 2011 zeichnet sich, wie Abbildung 1 verdeutlicht, im Hinblick auf die Gruppe der Geflüchteten eine deutliche Zunahme der globalen Trends ab.

3 Abbildung 1: Trend der Weltflüchtlingszahlen (UNHCR, 2016, S. 6)

Hält diese Entwicklung an, so wird bald 1 % der Weltbevölkerung aus Menschen bestehen, die aus ihrer Herkunftsregion fliehen (UNHCR, 2016). Die Hauptaufnahmeländer der international Schutzsuchenden waren mit Stand zum Jahresende 2015 Türkei, Pakistan, Libanon, Islamische Republik des Iran, Äthiopien und Jordanien (UNHCR, 2016). Wenden wir den Blick auf die europäische Union, dann lässt sich sagen, dass auch hier die Zahl der Asylerstanträge im Jahr 2015 erheblich zugenommen hat. Die Zahl der Asylerstanträge betrug 2015 in den 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union etwa 1.324.000 Anträge gegenüber einer ebenfalls bereits hohen Zahl von etwa 563.000 Anträgen im Jahr 2014. Die Zahl der Asylerstanträge ist allerdings nicht identisch mit der Zahl der Menschen, die in der Europäischen Union angekommen sind. Die tatsächliche Zahl dürfte aufgrund von Doppelzählungen, Weiterreisen und Rückreisen etwas

Fluchtmigration in Zahlen21

geringer ausgefallen sein. Im Jahr 2016 waren die Zahlen dann wieder auf einem ähnlichen Stand wie in 2014 (Eurostat, 2016). Gegenwärtig ist unklar, wie die Entwicklung weitergehen wird. Bewegungen auf den Fluchtrouten an den europäischen Außengrenzen zeigen ähnliche Tendenzen. Wurden im Jahr 2015 von der Europäischen Grenzsicherungsagentur Frontex noch etwa 885.000 Menschen gezählt, die über die Ägäis nach Griechenland eingereist sind, so war diese Zahl auf etwa 162.000 im ersten Halbjahr des Jahres 2016 gefallen. Seit der Schließung der Balkan-Route und dem Türkei-Abkommen wurden nur noch zwischen 1.500 und 1.700 Menschen pro Monat erfasst, die über die Ä ­ gäis-Route nach Griechenland gelangt sind. Auf der anderen großen Flüchtlingsroute, der zentralen Mittelmeerroute von Libyen nach Italien, sind im Jahr 2015 etwa 153.000 Menschen in die Europäische Union gelangt. Hier war die Zahl im ersten Halbjahr des Jahres 2016 mit rund 70.000 Personen gegenüber dem ersten Halbjahr des Jahres 2015 konstant. Die Zahl der Menschen, die auf anderen Routen in die Europäische Union gelangt sind, zum Beispiel über Spanien oder Bulgarien, ist in dieser Zeit vergleichsweise gering gewesen (Frontex, 2016). Dabei gilt es sich auch zu vergegenwärtigen, wie viele Menschen an den europäischen Außengrenzen sterben. Eine Arbeitsgruppe europäischer Journalisten und Journalistinnen hat auf der Basis der Auswertung von Medienberichten und Regierungsdokumenten einen detaillierten Datensatz zu Todesfällen und Vermisstmeldungen zusammengestellt. Die Arbeitsgruppe kommt zu dem Ergebnis, dass seit Anfang des Jahrhunderts mehr als 23.000 Menschen auf dem Weg nach Europa gestorben sind oder als vermisst gemeldet wurden (The migrants files, 2016). Angesichts der dramatischen Zahlen von Flüchtenden weltweit weist die Menschenrechtsorganisation Amnesty

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Fluchtmigration in Zahlen

International darauf hin, dass gegenwärtig mehr Menschen vertrieben werden und Schutz suchen als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieges (Amnesty International, 2016, S. 14). Die genaue Zahl der nach Deutschland Geflüchteten konnte für das Jahr des bisherigen Höhepunkts 2015 erst nachträglich ermittelt werden. Von Januar bis Mai 2015 wurden im EASY-System (Erstverteilung der Asylbegehrenden auf die Bundesländer) 172.556 Zugänge von Asylsuchenden registriert. Aber nur 141.905 Asylanträge wurden vom Bundesamt entgegengenommen. Darunter waren 125.972 Erstanträge. Im zweiten Halbjahr stiegen die Zahlen der EASY-Registrierungen deutlich an. Im November 2015 erreichten sie mit 206.101 in diesem Monat vorgenommenen Registrierungen einen neuen Höchststand – demgegenüber wurden im selben Monat lediglich 57.816 Asylanträge registriert, von denen 55.950 Asylerstanträge waren. Für Deutschland wurden im Jahr 2015 im EASY-System zunächst knapp 1,1 Millionen Zugänge von Asylsuchenden erfasst. Allerdings enthielt die Zahl Fehl- und Doppelerfassungen. So wurden auch diejenigen mitgezählt, die möglicherweise in andere Länder weitergereist sind. Mit Abschluss der Nachregistrierungen bis September 2016 wurde deutlich, dass die Zahl der Einreisen im Jahr 2015 tatsächlich bei rund 890.000 Menschen gelegen hatte. Geschätzt wird, dass davon etwa 50.000 Menschen in andere Staaten der Europäischen Union weitergereist sind (BAMF, 2016). Damit wurde der höchste Wert nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht. Der Wert übertrifft sogar deutlich den Wert der Erst- und Folgeanträge während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, der 1992 seinen höchsten Stand hatte (2016).

4 Fluchtursachen und globale Verflechtungen

In diesem Kapitel geht es darum, die Schwierigkeiten bei der Identifizierung der Fluchtursachen sowie die komplexen globalen Verflechtungen, die die Fluchtmigration prägen, aufzuzeigen. Krieg und Terror, Klimakatastrophen, Hunger, Diskriminierungen und soziale Benachteiligungen sind wesentliche Faktoren und werden daher in den Blick genommen.

4.1 Fallstricke bei der Identifizierung von Fluchtursachen Geflüchtete sind einerseits eine besondere Gruppe von Migranten und Migrantinnen. Andererseits bestehen die genauen Hintergründe der Fluchtmigration aus einer Gemengelage an Motiven, die sich nicht immer sauber von denen anderer Migranten und Migrantinnen trennen lassen. Allgemein betrachtet kann gesagt werden, dass Flüchtlinge sich aufgrund existenzieller Notlagen auf einen gefährlichen Weg in eine meist unbekannte Zukunft gemacht haben, dass die Entscheidung zur Flucht aber oft auch Kosten-Nutzen-Abwägungen beinhaltet. Das, was Flüchtende durch die Flucht an materiellen Werten, persönlichen Netzwerken und Lebensentwürfen zurücklassen, ist sehr unterschiedlich. Ebenso sind die Fluchtursachen vielfältig. Krieg, Terror, Umweltzerstörung, staatliche Verfolgung, Armut, Arbeitslosigkeit und Diskriminierungserfahrungen sind mögliche Ursachen dafür, dass Menschen sich entscheiden, ihr Land zu verlassen. Oftmals treffen mehrere Ursachen gleichzeitig zu-

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24

4

Fluchtursachen und globale Verflechtungen

sammen. Manchmal geschieht die Flucht aus einer existenziellen Bedrohung heraus schnell und plötzlich. Oft aber fliehen die Betroffenen nicht von heute auf morgen, sondern ihre Flucht vollzieht sich als ein geordneter und geplanter Prozess. Das gilt in besonderem Maße für die internationale Flucht, die vieler strategischer und logistischer Vorbereitungen bedarf. Der rechtliche Schutz international Flüchtender basiert auf Vereinbarungen, die auf den Völkerbund und seine Nachfolgeorganisation, die Vereinten Nationen, zurückgehen. Das »Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge«, die Genfer Flüchtlingskonvention, wurde am 28. Juli 1951 verabschiedet. Bis heute ist dieses Abkommen das wichtigste internationale Dokument für den Flüchtlingsschutz. Die Idee der Konvention basiert auf der Festlegung, wer ein Flüchtling ist: Ein Flüchtling ist eine Person, die »aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will« (Art. 1A, Abs. 2). Damit wurde sich zum ersten Mal international darauf geeinigt, dass ein Mensch, der außerhalb seines Staates Schutz sucht, nicht allein auf zufällig gewährte Barmherzigkeit angewiesen ist. Vielmehr konnte er von nun an auf die Verpflichtung derjenigen Staaten bauen, die die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hatten. Hierzu gehörte die Sicherheit, dass er oder sie nicht in Situationen zurückgeschickt würde, in denen erneut Verfolgung drohte. Auch weitere Hilfen und soziale Rechte lassen sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention ableiten. Dabei gilt es, sich daran zu erinnern, dass die Genfer Flüchtlingskon-

Fallstricke bei der Identifizierung von Fluchtursachen 25

vention in einer Situation entwickelt wurde, in der es darum ging, europäische Flüchtlinge nach Ende des Zweiten Weltkrieges und im Zeitalter des kalten Krieges zu schützen. Andere Fluchtursachen im Zuge von Widerstandsbewegungen im kolonialisierten Süden der Welt, im Zuge von Diktaturen und Militärputschen sowie weiterer Krisen machten es notwendig, den Wirkungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention zeitlich und räumlich zu erweitern, was mit dem Protokoll von 1967 gelang. Bisher sind insgesamt 147 Staaten der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. dem Protokoll von 1967 beigetreten. Der Soziologe Albert Scherr (2015) weist darauf hin, dass die soziologische Flüchtlingsforschung sich davor hüten muss, Flüchtlinge ihren jeweiligen Fluchtursachen im Sinne einer Identifizierung von Merkmalen zuzuordnen. Wichtig für seine Argumentation ist die Tatsache, dass die Unterscheidung von freiwilliger Migration und Flucht, verstanden als erzwungene Migration, nur eine grobe Vereinfachung komplexer Zusammenhänge darstellt. Deutlich wird das beispielsweise darin, dass einer großen Gruppe von Migranten und Migrantinnen, den Armutsflüchtlingen, die Anerkennung als Flüchtlinge verweigert wird. Aus soziologischer Sicht ist es nicht plausibel, ökonomische und politische Zwänge voneinander zu unterscheiden. Auf der Ebene des Handelns der Flüchtlinge führt beides zu einer unfreiwilligen Migration (2015). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird den Fluchtursachen im Folgenden aus einer anderen Perspektive nachgegangen. Der Blick auf Zusammenhänge von Fluchtursachen verdeutlicht die vielfachen globalen Verflechtungen, unter denen Fluchtmigration heute stattfindet. Dabei geht es nicht um die Bewertung der Fluchtmigration im Einzelfall, sondern um eine Darstellung von Zusammenhängen. Zu diesem Zweck werden die Dimensionen Krieg und Terror, Klimakatastrophen sowie Dis-

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Fluchtursachen und globale Verflechtungen

kriminierungen und sozialen Benachteiligungen in ihrer Komplexität genauer betrachtet.

4.2  Krieg und Terror

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Ein gegenwärtig starkes Fluchtmotiv ist die Suche nach Schutz vor eskalierender Gewalt durch Krieg und Terror. Das Heidelberger Institut für internationale Konfliktforschung (2017) zählte in 2016 insgesamt 18 umfassende Kriege, 20 begrenzte Kriege sowie 226 gewaltförmige Konflikte auf der Welt. In acht der 48 Staaten des subsaha­ rischen Afrikas gab es im Jahr 2016 gewaltsame und militärische Auseinandersetzungen sowie Anschläge. Islamistischen Terror übten die Boko Haram in Nigeria und seinen Nachbarstaaten aus. Weitere islamistische Gewalt fand in Mali, Niger und Burkina Faso statt. Darüber hinaus hielten die seit über zehn Jahren stattfinden Bürgerkriege im sudanesischen Darfur und in Somalia weiter an. In Teilen Somalias gelang es islamistischen Gruppierungen, die Kontrolle wiederzuerlangen, obwohl die Regierung militärische Unterstützung von den USA, der Europäischen Union und der Afrikanischen Union erhalten hatte (Heidelberger Institut für internationale Konfliktforschung, 2017). Die meisten Kriege zählte das Heidelberger Institut für internationale Konfliktforschung im Jahr 2016 in den Regionen des Vorderen und Mittleren Orients sowie des Maghreb. Hinzu kam auch hier islamistischer Terror. In Afghanistan wurde der Kampf gegen die Taliban und weitere islamistische Gruppen fortgesetzt. Im Jemen gab es Luftangriffe der saudi-arabischen Militärkoalition. In Syrien kam es neben dem Kampf oppositioneller Gruppen gegen die Regierung von Präsident Assad und gegen den sogenannten Islamischen Staat auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen oppositionellen und islamistischen Gruppen.

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Die Regionen Asien und Ozeanien zählten mit 123 Konflikten die meisten Konflikte, wobei viele nicht oder nur in geringem Umfang gewaltförmig waren. Die Gewalt war in Pakistan am stärksten. Hier jährte sich der Krieg zwischen verschiedenen islamistischen Gruppen und der Regierung bereits zum zehnten Mal. Zudem haben sich die diplomatischen Beziehungen zwischen Pakistan und Indien im Berichtszeitraum verschlechtert und gewaltsame Auseinandersetzungen in der Grenzregion Kashmir mehrten sich (Heidelberger Institut für internationale Konfliktforschung, 2017). Gewaltförmige Konflikte in Nord- und Südamerika fanden dagegen vor allem im Kontext von Drogenkonflikten statt. Der Konflikt zwischen Kartellen und Regierung in Mexiko befand sich dabei im Kriegszustand. Weitere hochgewaltsame Konflikte gab es 2016 in Brasilien und El Salvador. Auch in Kolumbien gab es trotz der Friedensverhandlungen zwischen der Guerillabewegung und der kolumbianischen Regierung weiterhin hochgewaltsame Konflikte. Luftangriffe und Bodentruppen der Regierung führten 2016 weiterhin zu begrenzten Kriegen. Für Europa ist der anhaltende Kriegszustand in der Donbas-Region der Ukraine als hochgewaltsamer Konflikt im Jahr 2016 zu nennen. Dabei beschuldigten die Konfliktparteien sich gegenseitig, die Waffenruhe gebrochen und Kriegsverbrechen begonnen zu haben. Darüber hinaus gab es weitere gewaltsame Konflikte in Russland und Moldawien gegen die politische Opposition (Heidelberger Institut für internationale Konfliktforschung, 2017). Die dramatische Situation in Syrien hat dazu geführt, dass Syrer und Syrerinnen heute die größte Flüchtlingsgruppe unter dem Mandat des UNHCR sind. Die Nachbarländer Libanon, Jordanien, Türkei, Irak und Ägypten sind in ihrer Ökonomie, ihrer öffentlichen Verwaltung, ihrem sozialen Miteinander und den Möglichkeiten der

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gesellschaftlichen Versorgung extrem belastet durch die Fluchtzuwanderung (Guterres, 2014). Im Herbst 2015 führte die Aktivistengruppe von »Adopt a Revolution« in Kooperation mit »The Syria Campaign« und »Planet Syria« unter wissenschaftlicher Beratung durch das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) eine Befragung unter fast 900 geflohenen Syrern und Syrerinnen durch, die zum Zeitpunkt der Befragung in zwölf verschiedenen Aufnahmeeinrichtungen in Berlin, Hannover, Bremen, Leipzig und Eisenhüttenstadt lebten. Die Befragung sollte die Sicht der geflohenen Syrer und Syrerinnen auf ihre Fluchthintergründe und Perspektiven einer Rückkehr erhellen. Daher wurde danach gefragt, warum die Menschen geflohen seien und unter welchen Bedingungen sie sich eine Rückkehr vorstellen könnten. Im Kern lassen sich die Befragungsergebnisse dahingehend zusammenfassen, dass die Menschen zu einem ganz überwiegenden Teil vor unmittelbarer Gefahr für ihr Leben geflohen sind. Andere Ursachen, etwa ökonomische Gründe oder das Ziel, einen europäischen Pass zu erhalten, spielten nur eine sehr geringe Rolle. Noch eindrücklicher ist die Wahrnehmung der Gefahrenquellen in Syrien durch die damals Befragten. Als unmittelbare Gefahr wurden die bewaffneten Konflikte (92 %), die Angst vor Verhaftungen und Entführungen (86 %) sowie vor Fassbomben (73 %) gesehen. Dabei gibt es aus Sicht der Befragten eine klare Zuordnung der Gewalt zur Regierung von Bashar al-Assad als Hauptverantwortlichen. Über zwei Drittel der befragten Syrer und Syrerinnen gaben an, dass die Assad-Armee und ihre Alliierten für die bewaffneten Kämpfe verantwortlich seien. Weniger als halb so viele Befragte benannten den sogenannten »Islamischen Staat« (IS) als Verursacher. Das Assad-Regime ist nach Ansicht der Befragten mit Abstand derjenige Akteur, der für Festnahmen und Entführungen hauptsäch-

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lich verantwortlich sei (77 %), gefolgt vom IS mit 42 %. Da nur die syrische Armee Fassbomben einsetzt, ist auch diese Fluchtursache dem Assad-Regime zuzuordnen. Weitere bewaffnete Gruppen wurden bei beiden Fragen nach Kämpfen und Festnahmen bzw. Entführungen mit deutlich unter 20 % genannt. Für 52 % war eine Rückkehrbedingung, dass Bashar al-Assad geht, 44 % können sich eine Rückkehr vorstellen, wenn der IS das Land verlässt. Deutlich wird auch der Wunsch nach einer demokratischen Entwicklung. 42 % der Befragten sahen in freien Wahlen eine Voraussetzung, um nach Syrien zurückzukehren. Das Ende des Krieges als allgemeine Bedingung für eine Rückkehr erhielt jedoch mit 68 % die höchste Zustimmungsrate (Adopt a Revolution, 2015). Wenden wir nun den Blick nach Afghanistan. Hier drohen gegenwärtig in einem erheblichen Umfang Abschiebungen. In einigen Bundesländern sind bereits mehrfach Abschiebungen vollzogen worden. Nur noch 60,5 % der Afghanen und Afghaninnen erhielten im Jahr 2016 einen dauerhaften Schutz vor Abschiebung (Deutscher Bundestag, 2017a, 2017b). Seit Abschluss des Rücknahmeabkommens zwischen Deutschland und Afghanistan im Herbst 2016 stieg die absolute Zahl der Ablehnungen. Allein von Januar bis März 2017 wurden fast 25.000 Afghanen und Afghaninnen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt. Das sind mehr als im gesamten Jahr 2016. Hintergrund ist, dass es in Afghanistan vermeintlich sichere Regionen gibt, also im Gegensatz zu Syrien nicht das ganze Land gleichermaßen von Krieg und Terror betroffen ist. Der UNHCR sieht diese Situation allerdings anders. In seinem Lagebericht wird festgestellt, dass das gesamte Staatsgebiet Afghanistans von einem »innerstaatlichen bewaffneten Konflikt« (2016) im Sinne des europäischen Flüchtlingsrechtes betroffen sei.

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Im Zusammenhang mit Krieg und Terror ist auch ein Blick auf die Warnungen des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland interessant. Mitte März 2017 fanden sich hier Reisewarnungen vor extremer Gewalt in Afghanistan, in Teilen Ägyptens, in Teilen Algeriens, Burkina Fasos und Eritreas, in den georgischen Regionen Abchasien und Südossetien, im Irak, im Jemen, in Kamerun, in Teilen der Demokratischen Republik Kongo, im Libanon, in Libyen, in Teilen Malis, in Mauretanien, im Niger, in Nigeria, in Pakistan, in den Palästinensischen Gebieten, in Somalia, im Süd-Sudan, in Syrien, im Tschad, in Teilen der Ukraine und in der Zentralafrikanischen Republik. Diese Warnungen des Auswärtigen Amtes richten sich an deutsche Staatsangehörige. Im Gegensatz zu den Menschen in den genannten Regionen haben Deutsche allerdings die Wahl, sich gegen einen Aufenthalt zu entscheiden und auf ihre Reise dorthin zu verzichten. Was die beschriebenen Gefahren konkret für diejenigen bedeuten, die in einer solchen Region leben, verdeutlicht die in Uganda geborene Juristin Winnie Adukule (2016) in ihren Erinnerungen, die uns in eine andere Krisenregion der Welt führen: »Als Kind lebte ich mit meinen Eltern und Geschwistern in Kampala. Wir wohnten im dritten Geschoss eines Mietshauses, als die National Resistance Army (NRA) unter Yoweri Museveni 1985 die Hauptstadt erreichte, um die aktuellen Machthaber zu stürzen. In den Straßen wurde geschossen, Granaten detonierten, an jedem Morgen lagen Leichen vor unserem Haus. Über die Stadt war eine Ausgangssperre verhängt worden, niemand durfte vor die Tür treten, es sei denn, man maß dem eigenen Leben nicht viel Bedeutung zu. Ein Vierteljahr verließen wir unser Haus nicht. Wir ernährten uns von Bohnen und Mais (zwei Säcke hatten unsere Eltern in weiser Voraussicht eingelagert) und von dem, was die Männer nachts in den verlassenen Geschäften der Um-

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gebung plünderten. Wir Kinder spielten im Treppenflur, und wenn das Artilleriefeuer nachließ oder kein Regen fiel, durften wir zuweilen auch aufs flache Hausdach. […] Wir hungerten und spielten und fürchteten uns an jedem Tag, dass die Soldaten ins Haus kämen und uns erschlagen oder erschießen würden. […] Zu Hause, daheim auf den Dörfern, schickte man die Kinder weg, wenn man sie nicht mehr ernähren konnte, oder verheiratete die Töchter, kaum dass sie ihre erste Periode hatten. Es war eine Chance zu überleben« (S. 9 f.). In dieser Erinnerung wird deutlich, dass Krieg und Terror tief in das Innere des einzelnen Menschen eindringen. Todesangst und Hunger werden ebenso zum Teil des eigenen Lebens wie das kindliche Sich-Einrichten in dieser Lebenslage. Leben, Hunger und Todesangst verschmelzen miteinander. In den letzten Sätzen, in denen die Autorin ihren Blick auf die Dörfer richtet, aus denen ihre Familie kommt, wird darüber hinaus die Verzahnung mit geschlechtsspezifischen Gewalterfahrungen erkennbar. Die Verheiratung der noch minderjährigen Töchter ist aus dem selbst erlebten Hungern heraus als ein Versuch verständlich, deren Leben und das Leben anderer Familienangehöriger zu retten. Die Beschreibungen von Winnie Adukule stammen aus einer Zeit, in der in Uganda Milton Obote herrschte. Obotes Regierung war einem Untersuchungsbericht des US-amerikanischen Kongresses zufolge für mehr Opfer verantwortlich als der für Folter und Terror auch in Europa bekannte Tyran Idi Amin, der 1979 gestürzt und von Obote abgelöst worden war. Die Gewaltherrschaft von Idi Amin und von Obote kostete zusammengenommen knapp einer Million Menschen das Leben. Zum Aufbau Idi Amins – und damit auch seines ehemaligen Verbündeten Milton Obote – zur zentralen Machtfigur im nachkolonialen Uganda trug die Politik einer ganzen Reihe von Staaten

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bei. Die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien lieferte ebenso wie Israel, die USA, die UdSSR, Kuba, Nordkorea und die DDR technische Hilfen, von der auch das State Research Bureau, Ugandas Geheimdienst, profitierte. Erst als Idi Amins Truppen 1972, ein Jahr nach seinem Machtantritt, über Nacht 50.000 Bürger und Bürgerinnen mit asiatischem oder europäischem Migrationshintergrund enteigneten und des Landes verwiesen sowie Angehörige verschiedener afrikanischer Volksgruppen verfolgten und ermordeten, wendeten sich die bisherigen internationalen Unterstützer ab. Die vor diesen Verhältnissen fliehenden Menschen gelangten damals kaum als Flüchtlinge nach Europa. Wer vor der Gewalt sowie der damit verbundenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Misere floh, blieb oft in Ostafrika. Dies galt insbesondere für diejenigen, denen es an Geld und Beziehungen für eine Emigration in ein entfernteres Land fehlte. Die Flucht etwa nach Großbritannien war zwar einfach, da Visa für Angehörige des Commonwealth leicht erteilt wurden, aber die Finanzierung der Reise bildete eine weitere Hürde. Wer damals nach Großbritannien oder in andere Länder ging, tat dies eher als Studentin oder Arbeitssuchender. Die Suche nach Asyl in Europa war für die Menschen damals kaum eine Option. Gleichwohl gab es schon damals Verflechtungen zwischen Deutschen und ugandischen Flüchtlingen. Allerdings sind diese nicht in Deutschland, sondern in Kenia angesiedelt. Der wirtschaftlich und politisch vergleichsweise stabile ostafrikanische Nachbarstaat Kenia wurde zu einer zweiten Heimat für viele Menschen aus Uganda. Mit der Globalisierung ist die Welt in den mehr als dreißig Jahren seit diesen Ereignissen näher zusammengerückt. Geld-, Waren- und Informationsströme überwinden immer rasanter nationale Grenzen. Zugleich können diese Ströme aufgrund internationaler Verflechtungen immer

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weniger national gesteuert werden. In der Folge können auch Probleme sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit weder nationalstaatlich begrenzt noch nationalstaatlich gelöst werden. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung im Irak seit Anfang der 2000er Jahre. Mit der sich später als falsch herausstellenden Behauptung, das Regime von Saddam Hussein habe chemische Massenvernichtungswaffen angehäuft, wurde unter dem US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush 2003 ein Krieg begonnen, der die gesamte Region destabilisierte. Die Folgen, die dieser Krieg für die Landwirtschaft und die bäuerliche Bevölkerung hatte, beschreibt die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown (2015). Während des Krieges wurde die seit den 1970er Jahren aufgebaute Saatbank, in der die über Jahrtausende von den Bauern der Region getauschten und durch Kreuzungen gezüchteten Getreidesamen gelagert wurden, in Abu Ghraib zerstört. Zusätzlich geschwächt durch Wirtschaftsembargo, Kriege und Dürreperioden war die irakische Weizenproduktion so angeschlagen, dass die Bevölkerung erstmals seit Jahrhunderten nicht mehr vollständig ernährt werden konnte. Als Hilfsmaßnahme gab die US-Regierung 2004 genetisch modifiziertes Saatgut aus, das zunächst nahezu kostenlos verteilt wurde. Verbunden mit dem Versprechen großer Erntegewinne wurden die für dieses Saatgut notwendigen Fungizide, Pestizide und Herbizide ebenfalls eingeführt. Zeitgleich wurde mit Verweis auf das geistige Eigentum von Patenten ein Verbot der eigenmächtigen Weiterzüchtung mit dem gespendeten, genmanipulierten Saatgut erlassen. Dieses Verbot ist eines von mehr als hundert Verordnungen, die der von den USA ernannte Chef der Interimsbehörde der Koalitionskräfte Paul Bremer in der Zeit der US-amerikanischen Besatzung von 2003 bis 2011 erließ. Ausgehend von einer internationalen Hilfeleistung war auf diesem

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Wege die Abhängigkeit der irakischen Landwirtschaft und somit auch der irakischen Ernährungssituation von Agrarhandelskonzernen wie Monsanto fest verankert. Aus einer autarken Landwirtschaft erwuchsen globale Abhängigkeitsverhältnisse. So bezahlen irakische Bauern heute ihre Einkäufe bei Monsanto damit, dass sie für Schulkantinen in den USA Teigwaren liefern, andererseits aber auf Einfuhren ehemals eigenständig angebauter landwirtschaftlicher Güter angewiesen sind (Brown, 2015, S. 168 ff.). Diese Beispiele zeigen nur einige der globalen Verflechtungen, ohne die wir Krieg und Terror ebenso wenig verstehen können wie die individuelle Konsequenz der Fluchtmigration vor Hunger, Gewalt und Perspektivlosigkeit. Verschärft wird die Lage in vielen Krisenregionen der Welt durch einen schon seit Jahren stattfindenden Klimawandel.

4.3  Klimakatastrophen und Hunger Katastrophen aufgrund drastischer klimatischer Veränderungen mehren sich in der Welt. Die Folgen für die Lebensbedingungen der davon betroffenen Menschen sind aber extrem unterschiedlich. Welche Folgen Klimakatastrophen dieser Art für die Menschen eines Staates haben, hängt von den individuellen, gesellschaftlichen und staatlichen Ressourcen ab. Und hier manifestieren sich die Unterschiede in der Bewältigung der Folgen, die eben nicht überall gleichermaßen zu Verelendung und Fluchtmigrationen führen. Ist beispielsweise die Infrastruktur ohnehin marode, sind Gebäude baufällig und Stromnetze unsicher, dann führen extreme Wetterphänomene mit hoher Wahrscheinlichkeit eher zu katastrophalen Folgen für die Bevölkerung als in anderen Fällen. Insbesondere der Agrarsektor ist für Schäden durch Naturkatastrophen und klimawandelbedingte Extrem-

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wetterphänomene extrem anfällig. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hat festgestellt, dass sich mit 78 extremen Naturkatastrophen zwischen 2003 und 2013 die jährliche Zahl seit den 1980er Jahren nahezu verdoppelt hat. Der ökonomische Gesamtschaden kann auf 1,5 Billionen US-Dollar beziffert werden. Der Anteil des ökonomischen Schadens für die Landwirtschaft betrug etwa ein Viertel dieser Summe. Zugleich hing von der Landwirtschaft, die durch die Naturkatastrophen betroffen war, das Überleben von 2,5 Milliarden Menschen unmittelbar ab (FAO, 2015). Umfängliche Analysen, was ökologische Katastrophen für das Leben der Menschen in den einzelnen Staaten bedeuten, liefern die Berechnungen des Weltrisikoindexes, die vom »Bündnis Entwicklung Hilft – Gemeinsam für Menschen in Not e. V.« in Kooperation mit dem Institut für Umfeld und menschliche Sicherheit der Universität der Vereinten Nationen publiziert werden. Das Bündnis ist ein Zusammenschluss der acht deutschen Hilfswerke Brot für die Welt, Christoffel-Blindenmission, Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe, Kindernothilfe, medico international, Misereor, terre des hommes, Welthungerhilfe sowie der beiden assoziierten Partner German Doctors und Plan International. Gegründet wurde das Bündnis im Jahr 2005 nach der Tsunamikatastrophe in Asien. Der vom Bündnis herausgegebene WeltRisikoBericht versucht herauszuarbeiten, wann und warum Krisen zu Katastrophen werden, welche Hürden es bei der Hilfe zu überwinden gilt und wie langfristige Verbesserungen erzielt werden können. In die hierfür vorgenommenen Berechnungen fließen strukturelle Merkmale, Rahmenbedingungen und Fähigkeiten der Gesellschaft, Ressourcen, Strategien sowie soziale, physische, ökonomische und umweltbezogene Faktoren ein (Bündnis Entwicklung Hilft, 2016). Auf der Basis dieser Berechnungen sind die von Naturkatastro-

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phen am stärksten gefährdeten Staaten in der Reihenfolgen ihrer Bedrohung: Vanuatu, Tonga, Philippinen, Guatemala, Bangladesch, Salomonen, Brunei Darussalam, Costa Rica, Kambodscha, Papua-Neuguinea, El Salvador, TimorLeste, Mauritius, Nicaragua und Guinea-Bissau. Darüber hinaus gilt es, sich bewusst zu machen, dass 80 % der weltweit 795 Millionen hungernden Menschen (Grebmer et al., 2015, 2016) in jenen Regionen von Afrika, Südostasien und Lateinamerika leben, die besonders von den Folgen des Klimawandels betroffen sind (Bündnis Entwicklung Hilft, 2016). Als Beispiel sei hier die gegenwärtige Dürre in den ostafrikanischen Staaten Äthiopien, Kenia und Somalia erwähnt. Es handelt sich dabei um die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten. Auf der aufgeführten Liste monetärer Schäden tauchen diese Staaten allerdings nicht auf. Das liegt daran, dass in den betroffenen Regionen vorwiegend eine nichtmonetäre Subsistenzökonomie betrieben wird. Für die bäuerlichen Gesellschaften der betroffenen ostafrikanischen Regionen bedeutet die Dürre, dass gegenwärtig Tausende ihrer Nutztiere sterben und damit ihre Lebensgrundlage in Gefahr ist. Wenn die regionale Subsistenzökonomie in den ländlichen Gebieten zusammenbricht, kann es zu einer weiteren Ausbreitung von Hunger kommen. Für März 2017 ging die Welthungerhilfe von zwanzig Millionen Menschen aus, die durch dürrebedingten Hunger in ihrem Leben bedroht sind (Grebmer et al., 2016). Damit wird die Zahl der 795 Millionen hungernden Menschen steigen. Der Human Development Report der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2007 berichtet, dass jede 19. Person aus den sogenannten Entwicklungsländern im Zeitraum von 2004 bis 2007 von einer mit den Auswirkungen des Klimas verbundenen Katastrophe betroffen war. In den OECD-Staaten war dies nur eine Person unter 1.500 (United Nations Development Programme, 2017). Zu diesen

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Auswirkungen gehören in den armen Regionen der Welt neben Hunger und Wasserknappheit in Folge von Dürren auch die Ausbreitung von Krankheiten wie Malaria und Durchfallerkrankungen, die nach ungewöhnlich starken und anhaltenden Regenfällen zunehmen. Diese Zusammenhänge verdeutlichen, dass diejenigen, die am wenigsten zum Entstehen des Klimawandels beigetragen haben, am stärksten den Folgen ausgesetzt sind. Zudem lässt sich statistisch ein Zusammenhang zwischen extremen Wetterphänomenen und Bürgerkriegen feststellen. Beispielsweise waren bereits 2009 von den rund 22 Millionen Menschen, die die Bevölkerung Syrien bildeten, 1,5 Millionen von der fortschreitenden Wüstenbildung betroffen. Eine der Folgen war eine massive Landflucht von Bauern, Viehzüchtern und ihren Familien. Eine weitere Folge war Überweidung, Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe und der Rückgang der Grundwasserreserven um fast 50 %. Auch dies ist im Kanon der Ursachen für die dann zunehmenden sozialen Unruhen anzusiedeln, das heißt, letztlich den Ursachen für den Bürgerkrieg zuzurechnen (Jäggi, 2016). Gleiches gilt für die B ­ okoHaram-Gebiete im westlichen Afrika. Hier lässt sich ebenfalls eine Verbindung zu massiven klimatischen Veränderungen herstellen, die Dürre und andere ökologische Probleme verursachten, die die Zerstörung ganzer Dörfer zur Folge hatten (2016). Das Geflecht aus einer schlechten Wirtschaftslage, Extremwetterphänomenen, bewaffneten Konflikten, Armut, Klimawandel und Gewalt lässt sich nur noch als akademische Übung entwirren. Für die in den Regionen lebenden Menschen sind die Verflechtungen alltägliche Realität. Hochrechnungen der International Organization for Migration (2012) gehen für die nächsten vierzig Jahre von 25 Millionen bis zu einer Milliarde Menschen aus, die in Folge von Klimaveränderungen ihr Land verlassen müs-

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sen. Mit der Fluchtmigration kommt der Klimawandel auf zuvor nicht gekannte Weise nach Europa und auch nach Deutschland. Der Soziologe Ulrich Beck wagt in seinem letzten, posthum veröffentlichten Buch »Die Metamorphosen der Welt« (2017) die These, dass der Klimawandel auch eine Chance beinhaltet, nämlich die, das nationalstaatliche Denken endgültig zu überwinden und sich als Weltgesellschaft zu begreifen. Er sieht im Klimawandel das Potenzial einer emanzipatorischen Katastrophe. Die globalen Dimensionen des Klimawandels können nicht mehr durch die nationalstaatlich etablierten Institutionen aufgefangen werden. Daher verlangt der Klimawandel eine gesellschaftliche Weiterentwicklung. Damit geht eine Transformation in der Wahrnehmung der Welt und auch im gesellschaftlichen Handeln einher, sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf politischer Ebene: »Ganz gleich, ob der Klimawandel als eine Transformation der Herrschaft des Menschen über die Natur dargestellt wird, als Problem der (Klima-)Gerechtigkeit, als Frage der Rechte künftiger Generationen oder des grundsätzlichen Verhältnisses von Rechten und Klimaereignissen, als Problem der EU oder des internationalen Handels oder gar als Indiz für einen selbstmörderischen Kapitalismus […] – immer geht es um den dramatischen Einbruch nicht beabsichtigter und unvorhergesehener emanzipatorischer Nebenfolgen globaler Risiken, die unser In-der-Welt-Sein, unsere Weltsicht und unser politisches Tun längst verändert haben« (Beck, 2017, S. 155). Als Belege für das politische Tun nennt Beck eine ganze Reihe von Beispielen, in denen ein global stärker werdender Konsens sichtbar wird, dass technologische Antworten für einen steigenden Energiebedarf bei gleichzeitiger Ressourcen- und Klimaschonung gesucht werden müssen. Darüber hinaus erschüttert der Klimawandel die Grund-

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festen der auf Wachstum und Konsum angelegten Weltordnung und fordert zur Suche nach anderen Normen und Werten auf. Damit ist die globale Dimension des Klimawandels nicht mehr auf, auch in Deutschland zunehmende Wetterphänomene und ihre Folgen für Infrastruktur und Flächennutzung beschränkt. Vielmehr hebt die Fluchtmigration Fragen der Klimagerechtigkeit auf die politische Agenda. Zu einer Frage von Gerechtigkeit wird der Klimawandel vor allem deshalb, weil diejenigen, die am wenigsten von dem nichtnachhaltigen Wachstum der Wirtschaft profitierten, als Folge des Klimawandels am stärksten Leid und Vertreibung zu erwarten haben.

4.4 Diskriminierungen und soziale Benachteiligungen Quer zu den Fluchtursachen Krieg, Terror und Klimawandel liegen Diskriminierungen und soziale Benachteiligungen. Sie formen den Zugang zu Ressourcen, um den gesellschaftlichen und individuellen Katastrophen zu begegnen. Und sie können zugleich selbst Ursache für weitere Katastrophen sein, die aus direkter, indirekter oder struktureller Gewalt (Galtung, 1975) gegen Einzelne oder Gruppen entstehen. Dabei stehen Diskriminierungen und soziale Benachteiligungen in einem Wechselverhältnis. Wer diskriminiert wird, ist faktisch sozial benachteiligt. Soziale Benachteiligung ihrerseits beinhaltet die Tatsache, diskriminiert zu werden (Scherr, 2008). Wesentliches Element von Diskriminierungen sind gesellschaftlich verfestigte Annahmen ungleicher Eigenschaften oder Fähigkeiten. Diese Annahmen sind nicht zufällig, sondern erfüllen historisch gewachsene Funktionen. Nach Angaben der Vereinten Nationen werden weltweit 900 Millionen Menschen in den jeweiligen Gesell-

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schaften ausgegrenzt, benachteiligt, in ihren Rechten eingeschränkt und zum Teil auch aktiv verfolgt. Dabei sind staatliche und gesellschaftliche Diskriminierungspraktiken oft miteinander verwoben. Deutlich wird dies beispielsweise an den Ausgrenzungen der Minderheiten der Tamilen auf Sri Lanka, der Yesiden im Irak, der Kurden in der Türkei oder der Roma in Serbien, Mazedonien und dem Kosovo. Global betrachtet identifiziert das United Nations Development Programme (2017) folgende Gruppen als besonders benachteiligt: ȤȤ Mädchen und Frauen; ȤȤ ethnische Minoritäten; ȤȤ Migranten, Migrantinnen und Flüchtlinge; ȤȤ indigene Völker; ȤȤ Homosexuelle; ȤȤ Transgender; ȤȤ Behinderte. Diskriminierungen und Benachteiligungen dieser Gruppen prägen die Strukturen, Prozesse und Praktiken des gesellschaftlichen Miteinanders, indem sozioökonomische Ungleichheitsverhältnisse und politische Machtbeziehungen in komplexer Weise mit der Unterordnung und Ausgrenzung dieser Bevölkerungsgruppen verschränkt sind. Einerseits bedeutet das, dass der Fakt, diskriminiert zu werden, Benachteiligungen und Erfahrungen, wie selbstverständlich untergeordnet zu werden, beinhaltet. Andererseits zeigt sich, dass Diskriminierungen besonders dort zu einer politischen Stabilisierung beitragen, wo soziale Ungleichheit das gesellschaftliche Miteinander belastet. Ungleichheit erscheint als naturgegeben, gerechtfertigt und unabänderlich. Im Ergebnis formen Diskriminierungen auch den Umfang und die Qualität des Zugangs zu Ressourcen. Hierzu gehört wesentlich der Zugang zu Rechten, Arbeit, Wohnen, Bildung, Land und Nahrung.

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Weil diskriminierende Praktiken oftmals unbewusst und tief in einer Kultur verankert sind, erscheint auch der sozial ungleiche Zugang zu Ressourcen selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund können Diskriminierungen als eine sozial folgenreiche Unterscheidungspraxis verstanden werden, die Produktions- und Reproduktionsprozesse sozialer Ungleichheiten legitim erscheinen lassen. Hunger ist heute im Kern ein menschengemachtes, politisches Problem. Dies wird schon daran deutlich, dass paradoxerweise das Gros der Hungernden selbst Nahrungsmittel produziert und in den meisten Ländern des globalen Südens eine zentrale Säule der nationalen Ernährungssicherung bildet. Dies haben die Vereinten Nationen 2004 erstmals auf globaler Ebene festgehalten. Demzufolge ist die Hälfte aller Hungernden kleinbäuerlich tätig, 22 % sind Landlose und 8 % sind Indigene, Nomaden oder Fischer. Übrigens leben 80 % der Hungernden auf dem Land und nur 20 % in urbanen Gebieten. Das bedeutet, dass Hungernde zu einem großen Anteil selbst Lebensmittel erzeugen, aber eben nicht genug, um dauerhaft satt zu sein. Sie haben weniger Zugang zu fruchtbarem Land bzw. zu den Erzeugnissen, die aus diesem gewonnen werden. Und sie müssen die Folgen von Anbau- oder Abholzungspraktiken tragen, zu denen etwa Umweltzerstörungen gehören. In der Konsequenz kann gesagt werden, dass Hunger mit dem diskriminierenden Zugang zu Ressourcen zu tun hat. Deswegen ist die Beseitigung von Hunger keine alleinige Frage technologischer oder agrarindustrieller Lösungen. Sie ist vor allem eine Gerechtigkeitsfrage. An dieser Stelle sind die Industrienationen mit den Diskriminierungspraktiken in den armen Ländern des globalen Südens verwoben. Auch in den Industriestaaten findet sich ein sozial ungleicher Zugang zu Ressourcen. Zugang zu Arbeit, Bildung, Wohnen und Nahrung sind historisch ungleich verteilt und diese soziale Ungleichheit

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ist im Zunehmen begriffen. Aber zugleich profitieren alle Angehörigen der Industriestaaten – wenn auch auf unterschiedliche Weise – von den Ausbeutungsbedingungen im Süden. Durch soziale Ungleichheit im Süden, deren Grundlage Diskriminierungspraktiken sind, können sowohl Lebensmittel als auch Konsumgüter billig produziert und damit auch billig auf den Märkten der Industrieländer angeboten werden.

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5  Die Flüchtlingsschutzkrise

Mit Norbert Cyrus (2017) wird die gegenwärtige Krise, für die politisch Verantwortliche den Begriff der »Flüchtlingskrise« prägen, als Krise des internationalen Systems des Flüchtlingsschutzes bezeichnet. Schließlich wird durch die hohe Zahl der Schutzsuchenden deutlich, dass es eine neue internationale Praxis braucht, um diesen Menschen ihren Zugang zu Menschenrechten zu gewähren. Deutlich werden an der gegenwärtigen Krise nationalstaatliche Paradoxien, denen im Folgenden nachgegangen wird.

5.1 Nationalstaatliche Paradoxien im Zeitalter der Globalisierung Eigentlich markiert die Globalisierung das Ende einer Weltordnung, in der Nationalstaaten ihre Einflusssphären aufgeteilt haben. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen der Nationalstaaten an sich nicht neu sind. Seit ihren Anfängen hat die nationalstaatlich verfasste, kapitalistische Ökonomie globale Wirtschaftsbeziehungen entwickelt. Dies gilt auch für die Dimension der Migration. Arbeitsmigration innerhalb Europas, Armutsmigration von Europa nach Nord- und Südamerika, Australien und Neuseeland sowie erzwungene Migration in Form des transatlantischen Sklavenhandels sind ebenso wie Flucht vor religiöser und politischer Verfolgung aufs Engste mit der Entwicklung moderner Nationalstaaten verbunden (Oltmer, 2012). Neu ist aber die Erleichterung, Beschleunigung und Intensivierung grenzüberschreitender Produktionspro-

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zesse und Handelsbeziehungen sowie die extrem schnelle, globale Vernetzung von Informations- und Kommunikationsprozessen. Seit der Jahrtausendwende schreiten diese Prozesse durch technische Entwicklungen immer rasanter voran. Verantwortlich hierfür sind die Entwicklungen immer neuerer, komplexerer und schnellerer digitaler Medien sowie die zunehmenden und ebenfalls immer schnelleren Möglichkeiten eines weltumspannenden Verkehrswesens. Diese Entwicklungen haben nicht nur den Waren- und Informationsverkehr verändert. Auch Migrationsprozesse haben sich im Zuge der Globalisierung weiterentwickelt und an Tempo gewonnen. Im Ergebnis haben sich Anlässe, Motive und Möglichkeiten von Migration, Remigration und Transmigration vervielfältigt. Zumindest theoretisch ist die Bildungs- und Arbeitsmigration zum Normalfall geworden. Qualifikationen im Ausland zu erwerben oder dort berufliche Möglichkeiten zu ergreifen, sind mitzudenkende Optionen individualisierter Karriereentscheidungen in allen Teilen der Welt. Dies gilt umso mehr, je höher der formale Bildungsabschluss ist. Am unteren Ende der ökonomischen Hierarchie findet sich dagegen eine zunehmende Armutsmigration. Hierzu gehört die Binnenmigration von ländlichen Regionen in die Städte ebenso wie die grenzüberschreitende »Überlebensmigration« (Survival Migration; Betts, 2013). Ein Ergebnis sind transnationale Familienformen, bei denen Vater oder Mutter über lange Zeiten hinweg im Ausland arbeiten, um den daheim gebliebenen Kindern ein Überleben oder aber einen besseren Bildungszugang, verbunden mit dem Versprechen einer späteren ökonomischen Aufwärtsmobilität, zu ermöglichen. In einer Welt sich auflösender nationaler Gewissheiten scheint der Versuch einer Steuerung und Kontrolle von Migrationsbewegungen tatsächlich das einzige Feld zu sein, in dem die nationale Kontrolle überhaupt noch annä-

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hernd gelingen kann. Grenz, Lehmann und Keßler (2015) gehen so weit, zu sagen, dass »Migrationspolitik von einzelnen Staaten gemacht [wird], weil sie noch von einzelnen Staaten gemacht werden kann« (S. 66 f.). Die Souveränität des Nationalstaates müsse sich darin beweisen, dass konsequent diejenigen ausgeschlossen würden, die aufgrund nationalstaatlicher Logiken nicht hinein gehörten. Damit erweisen sich die Grenzen des Nationalstaats bzw. des an seine Stelle getretenen supranationalstaatlichen Verbundes der EU als »institutionalisierte Gleichheits- und Ungleichheitsschwellen« (Stichweh, 2000, S. 69). Die Regeln, nach denen jemand diese Schwellen überschreitet, entscheiden über den Zugang zu rechtlich regulierten Arbeitsmärkten, zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen sowie zur rechtsstaatlichen Gewährleistung bürgerlicher Freiheiten. Die »Fähigkeit und Möglichkeit zur Grenzüberschreitung« (Beck, 2007, S. 32) stellt deshalb eine entscheidende Dimension sozialer Ungleichheit in der globalen Welt dar. Während Waren und Informationen global ausgetauscht werden, stellen sich für Menschen je nach nationaler Zugehörigkeit unterschiedliche Hürden. In diesem Zusammenhang verweisen Flüchtlinge auf eine besondere Dimension der Globalisierung. Ihre Anerkennung ist theoretisch nicht nationalstaatlich geregelt, sondern sie baut auf der Anerkennung universalistischer Menschenrechte sowie des damit eng verbundenen Völkerrechts. Schließlich haben sich die Staaten mit Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention jenseits eigener ökonomischer und politischer Interessen zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet. Damit sprengt die Kategorie des Flüchtlings in gewisser Weise den nationalen Rahmen. Scherr und Inan (2017, S. 134 ff.) argumentieren in diesem Zusammenhang, dass die Kategorie des Flüchtlings eine moderne Kategorie sei. Schließlich ist sie dazu geeignet, zumindest theo-

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retisch das universalistische Prinzip des Menschenrechts über nationalstaatliche Interessen zu stellen. Eine Einschränkung des universalistischen Prinzips des Menschenrechts geschieht in Rechtsprechung, Verwaltung und öffentlicher Diskussion über die Unterscheidungskriterien zwischen denjenigen, die als »echte« Verfolgte verstanden werden können, und denjenigen, denen man unterstellen kann, sie seien allein aus wirtschaftlichen Gründen geflohen und hätten somit kein Recht auf Asyl. Dies aber widerspricht der eigentlichen Schutzidee. Der Begründungszusammenhang für diese Unterscheidung liegt zwar in den historischen Bedingungen der Entwicklung der Genfer Flüchtlingskonvention nach Ende des zweiten Weltkriegs. Vor dem Hintergrund der Verwobenheit existenzieller Fluchtgründe ist diese Unterscheidung aber faktisch überholt. Das zähe Festhalten daran kann als Versuch verstanden werden, staatliche Regulierungen zu legitimieren (Nassehi, 2015, S. 3). So nimmt aus Sicht nationalstaatlicher Logik die Fluchtmigration eine besondere Rolle ein. Während im nationalstaatlichen Nebeneinander anerkannt ist, dass Arbeitsmigration durch den ökonomischen Bedarf eines Landes gesteuert wird, stellen die allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) sowie die Genfer Flüchtlingskonvention (1951) mit der Ausweitung ihres Geltungsbereichs (1967) das Recht auf Schutz des einzelnen Geflüchteten eindeutig vor nationalstaatlich definierte wirtschaftliche oder politische Interessen. Schließlich haben sich die Staaten mit der Unterzeichnung dieser Abkommen verpflichtet, verfolgte oder bedrohte Menschen als Flüchtlinge anzuerkennen und ihnen jenseits staatlicher Interessen Schutz zu gewähren (Grenz, Lehmann u. Kessler, 2015, S. 39 ff.). Gleichwohl haben Staaten zahlreiche Einschränkungen durchgesetzt. In Deutschland beispielsweise sind eine

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ganze Reihe administrativer und gesetzlicher Maßnahmen erlassen worden, um die Asylverfahren insgesamt zu beschleunigen und zugleich die Bleibeperspektiven zu reduzieren. Die wesentlichen 2015 und 2016 erlassenen administrativen und gesetzlichen Maßnahmen sind (BAMF, 2016, S. 13): ȤȤ das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung (in seinen wesentlichen Teilen zum 1. August 2015, im Übrigen zum 1. Januar 2016 in Kraft getreten), ȤȤ das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (Asylpaket I, zum 24. Oktober 2015 in Kraft getreten), ȤȤ das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher (zum 1. November 2015 in Kraft getreten), ȤȤ das Datenaustauschverbesserungsgesetz (zum 5. Februar 2016 in Kraft getreten), ȤȤ das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren (Asylpaket II, zum 17. März 2016 in Kraft getreten), ȤȤ das Gesetz zur erleichterten Ausweisung straffälliger Ausländer und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern (zum 17. März 2016 in Kraft getreten), ȤȤ das Integrationsgesetz und die begleitende Verordnung (in den wesentlichen Teilen zum 6. August 2016 in Kraft getreten). Statt freier Zuwanderung wird Fluchtmigration damit weiterhin in ein reglementiertes Aufnahmesystem gelenkt. Schmalz (2015) spitzt diese Entwicklung in der Formulierung zu, dass dahinter das Bild des Geflüchteten weniger als Mensch denn vielmehr als eine Bedrohung stehe, weil er die Vorstellung der absoluten Souveränität des Nationalstaats in Frage stelle.

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5.2 Verschiebungen der Paradoxien an die europäischen Außengrenzen

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Da es keine Verpflichtung von Staaten gibt, Asylsuchenden einen legalen Zutritt zu ihren Ländern zu verschaffen, sind die europäischen Außengrenzen ein wichtiger Ort, an dem sich Paradoxien zwischen einer universalistischen Menschenrechtsorientierung und einer nationalstaatlichen Schließung zeigen. Innerhalb der europäischen Union sowie bei Nachbarstaaten sind die Grenzen als Binnenraum weitgehend geöffnet worden. Damit ist die dauerhafte und temporäre Migration für diejenigen, die ein legales Aufenthaltsrecht in einem der beteiligten Staaten haben, erheblich erleichtert worden. Gleichzeitig wurden die Grenzsicherungen an den europäischen Außengrenzen zu einer gemeinsamen Anstrengung, um irreguläre Zuwanderung und damit auch Flüchtlingszuwanderung zu stoppen. In der rasanten Entwicklung der Europäischen Union während der letzten Jahrzehnte sind beide Bewegungen – Offenheit nach innen und Abschottung nach außen – eng miteinander verbunden. Die wichtigsten Stationen auf diesem Weg im Hinblick auf Regelungen der Fluchtmigration vor 2015 sollen hier nur kurz skizziert werden: ȤȤ Schengener Abkommen von 1985: Abschaffung der Binnengrenzen, dem sukzessive in den folgenden Jahren 29 Staaten beigetreten sind; ȤȤ Schengener Durchführungsübereinkommen von 1990: Vereinheitlichung der Vorschriften für die Einreise von Ausländern und Ausländerinnen, unter anderem durch Einführung eines einheitlichen Visums, Bestimmungen des für einen Asylantrag zuständigen Mitgliedsstaates sowie die Einführung von strengen Kontrollen an den Außengrenzen des Schengenraums; ȤȤ Maastrichter Vertrag von 1992: Verpflichtung zur Zusammenarbeit im Bereich der Asyl- und Einwande-

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rungspolitik, wobei der Flüchtlingsschutz selbst noch im Ermessen der nationalen Regierungen verblieb; ȤȤ Amsterdamer Vertrag von 1997: Verbindliche Festlegung auf eine Vergemeinschaftung der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik bis 2004; ȤȤ Dublin-II-Abkommen von 2003 und Dublin-III-Abkommen von 2013: Regelungen zur Rückführung von Asylsuchenden in den europäischen Staat, der als erster Staat legal oder illegal betreten wurde, mit dem Ziel der Asylantragstellung allein in diesem Staat; Festlegung technologischer Datenverarbeitungssysteme. Zur Sicherung der Außengrenzen der Europäischen Union gehörten zunehmend Abwehrsysteme wie mit Stacheldraht bewehrte meterhohe Barrieren, der Einsatz von Überwachungstechnik, Schnellboten, Hubschraubern, Drohnen und Kriegsschiffen. Mit dem Ziel der technischen Unterstützung bei der Abwehr Hilfesuchender förderte die EU in den vergangenen Jahren Forschungsvorhaben in einem Gesamtwert von 1,4 Milliarden Euro. Angeknüpft wird dabei an Technologien, die sich im militärischen Bereich und in der Luftsicherheit bewährt haben. Entwickelt werden radarbasierte 3-D-Luftüberwachungssysteme, Roboter, Überwachungsplattformen auf hoher See sowie unbemannte Luft- und Bodenfahrzeuge. Im Oktober 2013 wurde außerdem die Einrichtung eines »Europäischen Grenzüberwachungssystems« (EUROSUR) beschlossen. Dabei wird eine grundsätzlich doppelte Zielrichtung betont. Einerseits soll die Todesrate der illegal Einwandernden auf dem Mittelmeer reduziert werden. Andererseits aber sollen die Kontrollen intensiviert werden, um Zuwanderung abzuwehren. Das System baut auf eine gemein­same Nutzung von Daten aus verschiedenen Behörden und von Überwachungsinstrumen­ten wie Satelliten oder Schiffsmeldesystemen (Luft, 2013, S. 14).

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Darüber hinaus werden »Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke« (Rapid Border Intervention Teams, ­RABIT) eingesetzt, »wenn ein Mitgliedstaat sich ei­nem massiven Zustrom von Drittstaatsange­hörigen gegenübersieht, die versuchen, illegal in sein Hoheitsgebiet einzureisen, was unver­zügliches Handeln erfordert« (Human Rights Watch, 2011). In den Jah­ren 2010 und 2011 unterstützten RABIT-Ein­heiten Griechenland bei der Bewältigung von rund 12.000 Flüchtlingen aus dem türkisch-griechischen Grenzgebiet. Primat des Handelns war damals weniger die Wahrung der Menschenrechte als die Abwehr der Zuwanderung. In diesem Zusammenhang darf ein Blick auf die Agentur Frontex nicht fehlen. Frontex wurde 2005 gegründet und hat die Aufgabe, die Außengrenzen der Europäischen Union zu schützen. Beschäftigt sind hier Vertragsbedienstete und Entsandte von Behörden der Mitgliedsstaaten. Zu den Aufgaben von Frontex gehören die Koordination operativer Maßnahmen zur Grenzsiche­rung, die Schulung von Grenzbeamten und Grenzbeamtinnen, die Erstellung von Risikoanalysen, der Informa­tionsaustausch und die Mitwirkung bei Abschiebungen. Seit ihrer Gründung sind die Aktivitäten der Agentur immer wieder kritisiert worden. Durch ihre konkreten Aktivitäten habe Fron­tex an der inhumanen und erniedrigenden Be­handlung beispielsweise in griechischen Lagern mitgewirkt, bemerkte etwa Human Rights Watch mit Bezug auf die beschriebenen Aktivitäten in den Jahren 2010 und 2011. Vertreter und Vertreterinnen des EU-Parlaments mahnen ihre begrenzten Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Agentur an, die in ihrem Auftrag an den Außengrenzen Europas handelt. Eine Regulierung war zunächst nur über die Mittelzuweisung im Haushalt möglich. Notwendig erscheint dagegen eine direkte Kontrolle, verbunden mit einer stärkeren Transparenz, um eine Übereinstimmung des ope-

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rativen Handelns von Frontex mit den grundlegenden Normen des Menschenrechtsschutzes zu erreichen. Im Oktober 2011 novellierten EU-Rat und EU-Parlament deswegen die Frontex-Gründungsverord­nung. Eingefügt wurde unter anderem die Verpflichtung auf die Grundrechte-Charta, die Genfer Flüchtlingskonvention und den Grundsatz der Nichtzurückweisung. Damit eine Überprüfung der Einhaltungen gelingt, soll ein Grundrechts­beauftragter entsprechende Möglichkeiten erhalten (Art. 26a, 3, Frontex VO). Das Tempo der politischen Entwicklungen hat sich seit den Flüchtlingszuwanderungen 2015 noch weiter gesteigert. Im Mai 2015 wurde in der Europäischen Migrationsagenda ein Katalog von Sofortmaßnahmen beschlossen, der Fragen der Rettung von Menschenleben auf See, der Bekämpfung sogenannter Schleusernetze, der Umsiedlung neuankommender Flüchtlinge, der Zusammenarbeit mit Drittstaaten und der Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten klären sollte (Europäische Kommission, 2015). Ein deutliches – wenn auch schnell wieder relativiertes – Bekenntnis zur Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention, des Völkerrechts und der Menschenrechte ist in dem berühmten Sommerinterview der Bundeskanzlerin Angela Merkel zu erkennen, in dem sie am 31. August 2015 ihr vielzitiertes Resümee: »Wir schaffen das!« formulierte. Nach dem Umgang mit der Flüchtlingszuwanderung gefragt, sagte sie: »Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.« Damit hat die Kanzlerin ein klares Votum der Verantwortung für globale Entwicklungen formuliert. Entsprechend wurde diese Haltung in den darauf folgenden Wochen im In- und Ausland gewürdigt. Wenig später haben

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die politischen Akteure – und auch die Bundeskanzlerin – die Verantwortung für die Steuerung irregulärer Migration nach außen weg von Deutschland verschoben. In dem Flüchtlingsabkommen der Europäischen Union mit der Türkei, das am 18. März 2016 unterzeichnet wurde, vereinbarten die Verantwortlichen in der Europäischen Union und der Türkei die Möglichkeit, Geflüchtete, die irregulär nach Griechenland kämen, wieder in die Türkei abzuschieben. Darüber hinaus sollten Möglichkeiten der legalen Einreise für Syrer und Syrerinnen von der Türkei nach Europa ausgebaut werden. Ferner sollte die Türkei insgesamt 6 Milliarden Euro erhalten. Und schließlich wurden zum damaligen Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union sowie Visafreiheit für Angehörige der Türkei in Aussicht gestellt. Des Weiteren werden von Angehörigen des EU-Parlaments Pläne verfolgt, gemeinsam mit Libyen die Wanderung von Flüchtlingen weit vor den europäischen Außengrenzen zu stoppen. Zu den bisher verabredeten Aktivitäten zählt die Ausbildung der libyschen Küstenwache, die Einrichtung spezieller Flüchtlingslager in Zusammenarbeit mit dem UNHCR und der International Organization of Migration (IOM), die Förderung der freiwilligen Rückkehr von Flüchtlingen sowie die Verstärkung des Grenzschutzes zu Libyens südlichen Nachbarstaaten. Den Flüchtlingen wird auf diese Weise der Zugang zum EUTerritorium und damit zu einem Asylverfahren verweigert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteil­te dieses Vorgehen im Falle von Italien, das Geflüchtete direkt nach Libyen zurückge­führt hatte, für die damit erfolgte Verletzung der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und sprach den Beschwerdeführern Entschädi­gungen zu. Grundlage der Zusammenar­beit mit Libyen war ein »Freundschafts- und Kooperationsabkommen« Italiens mit Liby­en (Luft, 2013, S. 14 f.).

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Wie gefährlich das Leben für Geflüchtete in Libyen ist, zeigen Berichte von Amnesty International (2015). Die Menschenrechtsorganisation hat ernst zu nehmende Hinweise zusammengetragen, dass Geflüchtete ohne reguläre Aufenthaltsgenehmigung zahlreichen Entführungen durch kriminelle oder terroristische Organisationen ebenso ausgesetzt sind wie Folter, Misshandlungen, Vergewaltigungen und andere Formen von sexueller Gewalt. Zudem liegen sogar Berichte vor, dass es auch innerhalb der Flüchtlingslager zu sexueller Belästigung, sexueller Gewalt und anderen Formen der Folter und Misshandlung kommt. Offensichtlich ist die vollständige Abwesenheit von weiblichem Sicherheitspersonal, die den Standards der Vereinten Nationen zum Umgang mit Häftlingen widerspricht, weil Frauen dadurch sexueller und gender­basier­ ter Gewalt ausgesetzt sind. Zwei nigerianische Frauen beispielsweise, die im Dezember 2014 aus dem Flüchtlingslager in Sabratah kamen, berichteten von Leibes­ visitationen durch männliche Sicherheitskräfte sowie von Vergewaltigungen, sexuellen Angriffen und Belästigungen (Amnesty International, 2015). Als Ergebnis stärkerer Abwehraktivitäten an den Außengrenzen Europas nehmen die Zahlen derjenigen stetig zu, die bei dem Versuch der Einreise sterben. Die deutsche Flüchtlingsrechtorganisation »Pro Asyl« zählt 35.000 Tote an den Außengrenzen Europas seit dem Jahr 2000. Damit wurden die Außengrenzen der EU faktisch zu Orten, an denen die in der EU geltenden Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden (Fischer-Lescano u. Löhr, 2007). Mit dem Ethnologen Christian J. Jäggi (2016, S. 3) können die Reaktionen vieler Transit- und Zielländer auf die aktuellen Wanderungsbewegungen als hektisch und wenig nachhaltig bezeichnet werden. Eine Haupttendenz besteht in Versuchen, Fluchtmigration außerhalb Europas zu kanalisieren oder die eigenen Landesgrenzen abzuschotten.

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Strategische Überlegungen, die auf langfristige Wirkungen angelegt sind, lassen sich hier ebenso wenig erkennen wie die bedingungslose Anerkennung der Menschenrechte.

5.3  Fluchtmigration als soziale Frage

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Die gegenwärtige Fluchtmigration sowie die daraus resultierenden Paradoxien nationalstaatlichen Denkens und Handelns verdeutlichen die Notwendigkeiten eines gesellschaftlichen Umdenkens. Bisher fehlt es allerdings an Denkfiguren, die die transnationale Verwobenheit von Individuen und Gesellschaften in ihrer globalen Mehrdimensionalität überhaupt fassen können. Ulrich Beck (2017) schlägt in seinem letzten Buch hierfür das Bild der »Metamorphose« vor, die die Weltgesellschaft gegenwärtig durchlebt: »Die Erde dreht sich nicht um Nationen (egal welche), sondern die Nationen kreisen um die neuen Fixsterne ›Welt‹ und ›Menschheit‹. Das Internet ist ein Beispiel dafür. Erstens vereint es die ganze Welt in einem einzigen Kommunikationsraum. Zweitens erschafft es so etwas wie ›die Menschheit‹ – schlicht, indem es jedem Menschen ermöglicht, mit buchstäblich jedem anderen in Verbindung zu treten. Und in diesem neugeschaffenen Raum werden nun nicht nur die nationalstaatlichen, sondern auch alle anderen Grenzen neu verhandelt, lösen sich auf, entstehen anderswo in anderer Form – durchlaufen eine Metamorphose« (S. 18 f.). Diese Metamorphose hat eben erst begonnen. Noch verbleibt das Ringen um Lösungen der gegenwärtigen Flüchtlingsschutzkrise im Kontext der bestehenden nationalstaatlichen Strukturen. Trotz der Intensivierung der Fluchtmigrationsprozesse sind es bisher noch nationalstaatliche Strukturen, die das gesellschaftliche Miteinander rahmen. Das Primat des nationalstaatlichen Denkens gilt selbst für die Diskussionen um die Weiterentwicklung der Euro-

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päischen Union. Hier geht es in erster Linie immer wieder um ein Ausloten nationalstaatlicher Gewinnmaximierung. Deshalb steht die Entwicklung von Migration als Teil des individualisierten Lebenskonzepts weiterhin im Widerspruch zur nationalstaatlichen Verfasstheit der Gesellschaft. Der Migrationssoziologe Michael Bommes (2011) verweist auf den grundlegenden Widerspruch der Migrationspraxis in den Nationalstaaten. Einerseits wird versucht, unkontrollierte Zuwanderung zu kontrollieren und einzudämmen. Andererseits ist Zuwanderung durchaus gewünscht, um gezielt Wege für Arbeits- und Bildungsmigration zu öffnen. Der Bedarf an politisch motivierter Kontrolle und ökonomisch motivierter Freiheit stehen in einem diametralen Widerspruch. Somit sind trotz der komplexen und zunehmenden Globalisierungsprozesse Nationalgesellschaften bisher keiner kosmopolitischen Weltgesellschaft gewichen. Vielmehr verbleiben die Staaten im Nebeneinander eines nationalen Wettbewerbs. Deutlich wird dies an der Entwicklung der Europäischen Union hin zu einer supranationalen Wirtschaftsregion, bei der letztendlich nationalstaatliche Eigeninteressen in das Zentrum gestellt werden. So lässt sich verstehen, warum Migration überwiegend mit Blick auf kurzfristige Gewinnmaximierung diskutiert wird. Nach diesem ökonomischen Nutzenkalkül lässt sich für eine Liberalisierung der Migration dort argumentieren, wo es dem nationalstaatlichen ökonomischen Interesse entspricht. Wer hier als unnütz, belastend oder politisch unerwünscht gilt, fällt durch das Raster des ökonomischen Primats. Anders als bei der Arbeits- und Bildungsmigration gelten für den Umgang mit Geflüchteten aber internationale Vereinbarungen, die nicht zweckgesteuert entlang nationalstaatlicher Interessen und Aushandlungsprozesse sind. Bei der Aufnahme geflüchteter Menschen geht es nicht um

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den Nutzen der Migration für die Aufnahmegesellschaft, sondern zunächst einmal allein um die Schutzbedürftigkeit der Ankommenden. Diese Logik liegt der Genfer Flüchtlingskonvention zugrunde. Die dahinter stehende Argumentation ist die allgemeine Anerkennung der Menschenrechte – unabhängig von nationalstaatlicher Zugehörigkeit und damit unabhängig von Herkunft und Geburtsort. Damit sprengt die Kategorie des Flüchtlings in gewisser Weise den nationalen Rahmen. Der Migrationssoziologe Ludger Pries (2016) sieht in der hohen Zahl individueller Fluchtentscheidungen nicht nur die Häufung einer spezifischen individuellen Überlebensstrategie. Vielmehr erkennt er in der Organisation der Flüchtlinge und ihren Unterstützern und Unterstützerinnen eine herausragende politische Bewegung. Er versteht die Fluchtmigrationsbewegung als eine »emergierende, transnationale, zivilgesellschaftlich-soziale Bewegung vergleichbar mit den nationalen Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts, die im Kampf zwischen Kapital und Arbeit auf die Lösung der sozialen Frage zielten« (Pries, 2016, S. 23). In diesem Sinne steht die Fluchtmigration in einem engen Zusammenhang mit globalen Ungleichheiten. Bereits in den 1970er Jahren verwiesen Angehörige ehemaliger britischer Kolonien in Großbritannien auf die historischen Hintergründe ihrer Einwanderung: »We are here because you were there!« – »Wir sind hier, weil ihr dort ward!« Mittlerweile wird der Blick auf aktuelle Zusammenhänge gelenkt. Neben anhaltenden Folgen der Kolonialzeit verweisen der durch die Industrialisierung ausgelöste Klimawandel, imperial motivierte Eskalationen in regionalen Krisen und Kriegen sowie wirtschaftliche Verflechtungen auf Zusammenhänge, an denen die europäischen Staaten ebenfalls einen Anteil haben. So sagen nicht wenige politische Organisationen von Geflüchteten heute: »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört!«

6 Flüchtlingsintegration in Deutschland: Aktuelle Dilemmata

Nach der anfänglichen Euphorie im Sommer und Herbst 2015 wurde deutlich, dass der Weg der Integration neuzugewanderter Flüchtlinge lang sein wird. Die soziologischen Betrachtungen, die in diesem Kapitel vorgenommen werden, sollen den Blick auf einige Dilemmata richten. Dabei geht es darum, mögliche Stolpersteine auf dem Weg zur Integration zu identifizieren, die in der Gesellschaft mit ihren Widersprüchen und Einstellungen begründet sind.

6.1 Soziale Ungleichheit und Globalisierungsangst Die voranschreitende Globalisierung im Sinne eines immer schnelleren Austausches von Informationen, Waren und auch Menschen führt zu neuen sozialen Ungleichheiten und damit auch zu neuen Unsicherheiten in den Industriestaaten. Gewachsene gesellschaftliche Positionen sind nicht mehr sicher. Der Arbeitsmarkt verändert sich und mit ihm verändern sich die Berufsbilder. Ob der einmal erlernte Beruf tatsächlich zukunftstauglich ist, steht in Frage. Zusätzlich steigt in immer mehr Arbeitsmarktsegmenten die Gefahr der Konkurrenz durch internationale Verschiebungen von Produktionen und Dienstleistungen. Die Folgen dieser Entwicklungen treffen – wenn auch in unterschiedlicher Weise – Angehörige aller gesellschaftlichen Schichten. In der Mittelschicht beispielsweise wird es enger. Längst haben sich Mittelschichten aus Regionen des globalen Südens hinzugesellt, die ihren Anteil an Konsum und Gestaltungsmacht beanspruchen. Nimmt man beispielsweise

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die mit dem Modernisierungserfolg entstehende asiatische Mittelschicht, so weist diese Konsummuster und Lebensstile auf, die denen der Mittelschicht in den Industrieländern gleichen. Das Bildungs- und das Einkommensniveau steigen. Mit der in dieser Entwicklung eingebetteten formalen Bildungs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen ändern sich zudem patriarchale Wertmuster und traditionelle familiale Strukturen. Der für Konsum verfügbare Teil des Einkommens wächst. Mit der nötigen Kaufkraft ausgestattet, entwickeln die Mittelschichten eine Lebensweise, die ihnen durch die Kulturindustrie und die Massenmedien nahegebracht wird (Schwinn, 2008). In der Folge mehren sich Ängste der ehemals dominanten und sicheren Mittelschicht in den Industriestaaten vor einem gesellschaftlichen Abstieg in diesen globalen und unübersichtlichen Zeiten. Auch für diejenigen, die in den Industrieländern weniger privilegiert sind, steigen Ängste vor einem weiteren Abstieg. Fluchtzuwanderung bedeutet hier die Erfahrung direkter Konkurrenz aus zweierlei Gründen. Aufgrund ihrer entrechteten Situation sind Geflüchtete attraktive Adressaten und Adressatinnen für genau die Berufe, auf die auch Angehörige der Unterschicht angewiesen sind. Möglicherweise bringen sie für diese Tätigkeiten sogar bessere Qualifikationen und einen stärkeren Aufstiegswillen mit. Zum anderen verdeutlichen die Geflüchteten durch ihre Anwesenheit, dass es noch Lebenslagen weit unterhalb des bisher Gekannten gibt. Auf dieser Basis entsteht nur selten ein »Klassenbewusstsein« (Giddens, 1983) im Sinne einer Entwicklung gemeinsamer Interessen. Sowohl in der Mittelschicht als auch in der Unterschicht findet das Ringen um Erhalt oder Aufstieg der sozialen Position stattdessen vermehrt individualisiert statt. Heinz Bude (2015) beispielsweise verdeutlicht, wie die Panik von Eltern um die formale Bildung ihrer Kinder ihre Ursache in der diffusen Angst vor dem interge-

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nerationellen Abstieg hat. Dem Bemühen, bei dem Wettbewerb um Bildungsvorsprünge mitzuhalten, stehen am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie nicht nur fehlende materielle Ressourcen im Wege, sondern auch eine zunehmende soziale Erschöpfung (Lutz, 2014), die aus dem Kampf gegen Ausgrenzungserfahrungen und damit verbundenen Erniedrigungen resultiert. An dieser Stelle setzen die Beobachtungen von Zygmund Bauman (2016) an. Er arbeitet heraus, wie Armut, Elend und Verachtung einerseits bereits zum Alltag der vermeintlich reichen Länder gehören und wie andererseits auf Geflüchtete in der Form reagiert wird, dass ihnen Positionen am unteren Rand der Gesellschaft zugewiesen werden. Werden die Dynamiken sozialer Ungleichheit in Deutschland aus der bereits dargelegten Perspektive gelesen, dann kann mit Bauman auch darüber nachgedacht werden, welche Reflexe bei der plötzlichen Zuwanderung im Jahr 2015 möglicherweise zum Tragen kamen. Dabei gilt es, sich bewusst zu machen, dass eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung dieser Reflexe niemals monokausal verstanden und die Schichtzugehörigkeit als ein Element der Lebenslage niemals absolut gesetzt werden kann. Was nach Vergegenwärtigung dieser Einschränkungen aber mit Bauman gesagt werden kann, ist, dass die Begegnungen sich anders gestalten und daher unterschiedliche Anstrengungen verlangen. Dies ist zunächst unangenehmer als die Ausgrenzung Geflüchteter. Denn Ausgrenzung erscheint zunächst als die einfachere Antwort auf die durchaus ängstigenden gesellschaftlichen Veränderungen. Darin sieht Bauman allerdings keine langfristige Strategie. Diese sieht er stattdessen in der bewussten Suche nach solidarischen Begegnungen: »Der einzige Weg aus den aktuellen Unannehmlichkeiten wie auch den zukünftigen Leiden führt über die Ablehnung der trügerischen Versuchung, sich abzuschotten. Statt uns zu

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weigern, den Realitäten unserer Zeit, den mit dem Diktum ›Ein Planet, eine Menschheit‹ verbundenen Herausforderungen ins Auge zu blicken, statt unsere Hände in Unschuld zu waschen und die störenden Unterschiede, Ungleichheiten sowie die selbst auferlegte Entfremdung auszublenden, müssen wir nach Möglichkeiten suchen, in einem engen und immer engeren Kontakt mit den anderen zu gelangen, der hoffentlich zu einer Verschmelzung der Horizonte führt statt zu einer bewusst herbeigeführten und sich selbst verschärfenden Spaltung« (Bauman, 2016, S. 23). Allgemein kann gesagt werden, dass Menschen am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie der einheimischen Gesellschaft erheblich mehr Berührungspunkte im Alltag mit Geflüchteten haben als Angehörige der Mittelschicht. Sie wohnen beispielsweise häufiger in den gleichen Stadtteilen. Sie begegnen sich häufiger in den gleichen Behörden. Sie suchen häufiger Unterstützung in den gleichen Beratungsstellen und sozialen Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände. Für Angehörige der etablierten Mittelschicht ist es dagegen wahrscheinlicher, dass ihre Berührungen mit Geflüchteten eher initiierter Natur sind. Da der Konkurrenzkampf der Mittelschicht, wie beschrieben, gegenwärtig vor allem ein Kampf um den Statuserhalt ist, können sie zudem für sich das Bild, Geflüchteten offen zu begegnen, einfacher aufrechterhalten. Die Reproduktion des Statuserhalts ist ein Kampf, der nicht gegen Geflüchtete ausgetragen wird. Geflüchtete bedrohen unabhängig von der sozialen Position, die sie vor ihrer Flucht hatten, den Status zunächst nicht. Dafür sind sie in ihrer gegenwärtigen Situation viel zu entrechtet. Die caritative Sorge um Geflüchtete kann stattdessen dazu beitragen, das Selbstbild als weltoffen und solidarisch zu stärken. Es wäre sicherlich zu kurz gegriffen, Hilfe für Geflüchtete auf ein

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Mittel zur Statusdistinktion zu reduzieren. Das würde den vielen Anstrengungen, die geleistet werden, sicherlich nicht gerecht werden. Gleichwohl werfen diese Überlegungen einen Blick darauf, dass Macht und Ohnmachtsverhältnisse zwischen Einheimischen und Flüchtlingen reflektiert werden müssen, denn Projekte, die auf einer Begegnung auf Augenhöhe basieren, finden sich bisher nur selten.

6.2 Die Konstruktion von Flüchtlingen als Opfer Die gesellschaftlichen Debatten um Flüchtlinge in Deutschland lassen sich in verschiedene Positionen einordnen. Erwägungen zur Nutzbarmachung im Sinne positiver wirtschaftlicher oder demographischer Effekte stehen neben Bedrohungsszenarien in kultureller, humanitärer oder organisatorischer Hinsicht (Eppenstein u. Ghaderi, 2017, S. 5 f.). Dabei überwiegen in den öffentlichen und medialen Debatten häufig stereotype und einfache Bilder. Flüchtlinge werden selbst kaum als Akteure erkennbar, denen sukzessive eine Teilhabe in der deutschen Gesellschaft zugetraut wird. Spätestens seit der Silvesternacht 2015 überwiegen stattdessen Bedrohungsszenarien. Damit verbunden sind Bilder binärer Genderstrukturen von weiblichen Flüchtlingen als Opfer und männlichen Flüchtlingen als Täter. Dadurch aber werden Flüchtlinge beider Geschlechter auf einen statischen Kulturbegriff reduziert. Die Komplexität sozialer Rollen und Beziehungen wird ebenso vernachlässigt wie die Fähigkeit zur biografischen Entwicklung. Völlig unsichtbar wird zudem das bisher nur unzureichend erforschte, aber zu vermutende hohe Ausmaß der Gewalt gegen Männer in Flüchtlingssituationen weltweit. Dass erlebte Gewalt sich auf das Wohlergehen und das Rollenverständnis geflohener Männer auswirkt

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und in einem solchen Zusammenhang zu verstehen ist, geht in dieser Debatte schnell unter. Ebenso reduziert ist die Sicht auf weibliche Flüchtlinge, wenn sie nur als Opfer gesehen werden. Die Vielfältigkeit von Bedrohungen und Ressourcen wird in den öffentlichen Debatten höchstens verkürzt diskutiert. Eine solche Opferperspektive auf Frauen verkennt aber, dass auch Frauen Akteurinnen sind, die erlebte Gewalt und geschlechterspezifische Gefahren individuell und strategisch bearbeiten. Zugleich geht die Opferperspektive auf Frauen damit einher, dass die Unmündigkeit in Hilfestrukturen möglicherweise reproduziert wird. Beides, die diskursive Zuspitzung von vor allem männlichen Flüchtlingen als Bedrohung sowie von weiblichen Flüchtlingen als unmündige Opfer, lässt sich mit Verweis auf den Soziologen Max Weber (1922) als eine Form der sozialen Schließung beschreiben. Auch hier findet sich die bereits beschriebene nationalstaatliche Paradoxie wieder. In öffentlichen und medialen Diskursen werden Flüchtlinge als Fremde konstruiert. Während denjenigen, die zur eigenen Gemeinschaft zählen, biografische Entwicklungsmöglichkeiten zugestanden werden, werden Fremde mit dem Verweis auf ihr Anderssein sowie auf ihre Kultur als wenig veränderlich gesehen. Sie erscheinen auch perspektivisch nicht als Teil der eigenen Gruppe. Die zentrale Grundlage ist auch hier die nationalstaatliche Orientierung. Diese Orientierung ist deutlich von Varianten eines ideologisch aufgeladenen, partikularen Nationalismus zu trennen. Vielmehr geht die nationalstaatliche Orientierung selbstverständlich von der Annahme aus, dass sich »Bürger und Regierungen […] stärker um [das] Überleben und Wohlergehen ihres eigenen Staates, ihrer Mitbürger und ihrer Kultur kümmern« dürfen und sollen als um das »Überleben und Wohlergehen fremder Staaten, Kulturen und Personen« (Pogge, 2011, S. 150 f.).

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Auch im Hinblick auf menschenrechtliche und humanitäre Grundsätze wird in der Logik des gewöhnlichen Nationalismus zwischen Mitbürgern der eigenen Nation, des eigenen Staates und anderer Staaten und Nationen im Sinne einer Hierarchie der Rechte und Verpflichtungen unterschieden. Nur für diejenigen, die nach Maßgabe jeweiliger politischer und rechtlicher Definitionen als wirkliche Flüchtlinge gelten, ist ein besonderer Status vorgesehen und wird der Schutz vor der Verletzung grundlegender Menschenrechte auch im Fall von Nicht-Staatsbürger oder Nicht-Staatsbürgerinnen als Verpflichtung anerkennt. Damit erweist sich der Flüchtlingsbegriff als eine sehr wirkmächtige Kategorie (Scherr u. Inan, 2017, S. 136). Parkin (1983) analysiert Ausschlussstrategien als Ausdruck herrschender Gruppen, durch die der »Zugang zu wichtigen Ressourcen, wie etwa Land, esoterisches Wissen, oder Waffen, auf einen begrenzten Kreis von Auserwählten mit bestimmten sozialen Merkmal beschränkt worden ist« (S. 125). Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive arbeiteten Heike Niedrig und Louis Henry Seukwa (2010) bereits vor einigen Jahren das Dilemma heraus, das bei dem Versuch entsteht, Fluchtmigration von anderen Formen der Migration zu trennen. Problematisch ist dieses Unterfangen, weil damit Menschen als Opfer stilisiert werden, um ihr Bleiberecht zu argumentieren. Unabhängig von der juristischen Komplexität des Asylrechts bedeutet, Flüchtling zu sein, im deutschen Alltagsverständnis, Opfer von Verfolgung zu sein. Flüchtlinge, die die Opferrolle nicht eindeutig erfüllen, weil sie sich beispielsweise nicht passiv verhalten, passen nicht so recht in das Bild der Schutzbedürftigkeit. Norbert Cyrus (2017) bearbeitet dieses Problem aus politikwissenschaftlicher Sicht. Bei der Betrachtung der wissenschaftlichen Beiträge zur Flüchtlingspolitik und Fluchtmigration kommt er zu dem Ergebnis, dass bis heute in erster Linie den Akteu-

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ren und Akteurinnen in Regierungen und Behörden der Nationalstaaten Handlungsfähigkeit zugesprochen wird. Flüchtlinge verbleiben Objekte und passive Empfänger und Empfängerinnen der von Staaten, internationalen Organisationen und Hilfsorganisationen angebotenen Aktivitäten. Als der deutsch-syrische Schriftsteller Rafik Schami Anfang des Jahres 2016 zehn Thesen formulierte, mit denen er seine Erwartungen an Geflüchtete richtete, gab es auf Seiten von Unterstützenden sowohl Begeisterung als auch Skepsis und Kritik. Die Kritik bezieht sich dabei vor allem auf zweierlei. Zum einen zeigen die Thesen, dass hier implizit ein Verdacht gegenüber Geflüchteten formuliert wird, sie würden weniger als andere Angehörige der deutschen Gesellschaft von Demokratie und Egalität überzeugt sein. Zum anderen wurde die Kritik geäußert, dass die Erwartungen sich einseitig an Geflüchtete richteten und nicht an die deutsche Aufnahmegesellschaft, die Teilhabe überhaupt erst einmal ermöglichen müsse. Trotz der Berechtigung dieser Kritik sind die Thesen bedeutsam, weil Flüchtlinge hier als Akteure und Akteurinnen angesprochen werden, denen Demokratie zugemutet werden kann und die zugleich auch teilhaben sollen an den Errungenschaften der Demokratie und zur Mitgestaltung eben dieser Demokratie aufgefordert werden: »1. Die Zeit ist hier in Deutschland reif für sie, um in Freiheit nachzudenken, selbstkritisch und ohne Angst und Tabu, was sie zu dieser Misere geführt hat. Ich gebe ein paar Stichpunkte: die Sippe, das Erdöl, die Diktatur, die Vermischung von Religion und Politik. 2. Die Flüchtlinge sollten zur Kenntnis nehmen, dass sie im christlichen Abendland aufgenommen worden sind. Und sie werden dieses weder kurz- noch langfristig verändern. Wollen aber sie sich verändern und damit am zivilisatorischen Prozess teilnehmen, dann müssen sie die Sprache dieses Landes ernsthaft lernen.

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3. In diesem Land sind Frauen und Männer gleichberechtigt. 4. Die reichen arabischen Länder haben sie im Stich gelassen. Diese Länder spielen sich auf als Hüter des Islams und handeln gegen den Koran und seinen Propheten. 5. Sie sollten wissen, ein Gast in der arabisch-islamischen Welt ist ein edler Gefangener seines Gastgebers. Die bürgerliche Gesellschaft achtet die Würde, auch die des Fremden, daher sind sie keine Gefangenen, sondern Gäste mit beschränkten Rechten. Ein Weiser wirft keinen Stein in den Brunnen, aus dem er trank. 6. Dass Dankbarkeit nicht darin besteht, unterwürfig und schleimig gegenüber den Deutschen zu sein, um insgeheim rassistisch über sie zu denken, sondern dass die Dankbarkeit in erster Linie im Respekt den Helferinnen und Helfern gegenüber besteht. Diese tapferen Frauen und Männer sind ein Garant für die Flüchtlinge gegen die Rassisten und Populisten. 7. Die deutsche Gesellschaft ist eine demokratische, freiheitliche Gesellschaft, die nicht selten schwächer erscheint, als sie ist. Sie ist aber wehrhaft. Die Flüchtlinge sollen sich von keinem Kriminellen zur Dummheit verführen lassen, die Abwesenheit von Militärs und Polizei auf der Straße bedeute Gesetzlosigkeit. 8. Dass in diesem Land ein einziges Gesetz gilt: Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Alle anderen Gesetze der Sippe, der Ehre, der Scharia gelten hier nicht. Wer den Flüchtlingen etwas anderes erzählt, will ihnen nur schaden. 9. Dass sie nicht heucheln sollen, die Homosexualität existiere in den islamisch-arabischen Ländern nicht. Hier in Deutschland haben die Homosexuellen ihr Recht auf Gleichheit und Normalität im Umgang erkämpft. Nichts wurde ihnen geschenkt.

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10. Sie sollen nicht zu gelähmten Zuschauern werden, sondern aktiv am Leben teilnehmen und mit allen demokratischen Kräften dafür kämpfen, dass die Zustände und Ursachen, die zu ihrer Vertreibung führten, verschwinden.«

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Schami, selbst Zugewanderter, wendet sich mit seinen Forderungen gegen das in der deutschen Aufnahmegesellschaft reproduzierte Bild, Geflüchtete besäßen keine oder eine nur stark eingeschränkte Handlungsfähigkeit. Eine solche Sichtweise ist in Deutschland noch nicht durchgängig etabliert. Wie Cyrus (2017) herausarbeitet, ist die Handlungsfähigkeit von Flüchtlingen ein weitgehend vernachlässigtes und kaum beachtetes Forschungsfeld. Als Ursache hierfür identifiziert Cyrus, dass die Perspektive des Flüchtlings als Opfer bisher geholfen hat, seine Schutzbedürftigkeit zu begründen. Er stellt diese Vermutung in den Zusammenhang mit der Notwendigkeit von Hilfsorganisationen, Spenden zu sammeln. Dafür ist das Bild des passiven Opfers zweckdienlich. Aber auch im Zusammenhang mit der politischen Legitimation der Aufnahme der Geflüchteten in so großer Zahl wie 2015 und 2016 lässt sich das Bild der Flüchtlinge als Opfer finden. Deutlich wird dies beispielsweise daran, mit welcher Wucht der Begriff der Traumatisierung in die öffentliche Debatte drängte. Aufgrund dieser systembedingten Widersprüche ist der Subjektstatus der Geflüchteten immer noch ein äußerst fragiler Zustand.

6.3  Systembedingte Entmündigungen Als im Jahr 2015 die Fluchtzuwanderung in Deutschland plötzlich und dramatisch anstieg, entstanden auf Länderund kommunaler Ebene Notwendigkeiten, große Zahlen von Menschen nicht nur verwaltungsrechtlich zu managen, sondern auch sehr schnell unterzubringen. Neben

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der vorübergehenden Nutzung von Turnhallen wurden große zentralisierte Unterkünfte geschaffen. Solche Einrichtungen haben in Deutschland eine lange Tradition. Gleichwohl sind in den Jahren zuvor aufgrund der damit einhergehenden psychosozialen Probleme und auch aufgrund der fehlenden Notwendigkeit diese großen Einrichtungen zugunsten dezentraler Unterbringung in vielen Bundesländern abgeschafft worden. Mit der Notwendigkeit, im Jahr 2015 wieder sehr schnell Geflüchtete in großer Zahl unterzubringen, sind zentralisierte Unterbringungsformen verstärkt eingerichtet worden. Dabei sind die Bundesländer und ihre Kommunen nach dem anfänglichen Chaos von 2015 sehr unterschiedliche Wege in der Unterbringung von Geflüchteten gegangen. Eine besonders extreme Form der zentralisierten Unterbringung ist im September 2015 in Bayern geschaffen worden. In Bamberg und Manching hat die Bayrische Staatsregierung sogenannte Ankunfts- und Rückführungseinrichtungen (ARE) eingerichtet. Darin sollen Geflüchtete aus den Balkanländern sowie aus anderen Herkunftsländern untergebracht werden, die vermeintlich als sicher gelten. Die Unterbringung ist dabei für die vollständige Dauer des Asylverfahrens anvisiert. Zudem soll diese Gruppe Geflüchteter statt ordentlicher Asylverfahren verkürzte Schnellverfahren erhalten. Ein spezielles Clearingverfahren etwa zur Identifizierung von Traumatisierungen ist in diesen Einrichtungen nicht vorgesehen. Darüber hinaus erhalten die hier untergebrachten Geflüchteten nur Sachleistun­gen und Kantinenversorgung statt Bargeld. Und sie unterliegen Arbeits- und Ausbildungsverboten. Selbst der reguläre Schulbesuch ist für die hier untergebrachten Kinder und Jugendlichen beschnitten. Legitimiert wird dies über die Bereitstellung schulischer Maßnahmen, die im Umfang von zwölf Stunden wöchentlichen Unterricht, aber weit unterhalb

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des Bildungsangebots regulärer Schulen liegen (Andrae u. Kostka, 2016). An dieser Stelle soll auf ein Dilemma hingewiesen werden, das sich zwangsläufig ergibt, wenn Menschen zentralisiert untergebracht und versorgt werden. Das, was in zentralisierten Unterkünften passiert, lässt sich mit dem Begriff der »Totalen Institution« (Goffman, 1973) fassen. Der totale Charakter von Institutionen, den Erving Goffman in den 1970er Jahren herausgearbeitet hat, entsteht durch die Wechselwirkung zweier Grundzüge. Zum einen herrscht in diesen Einrichtungen der Anspruch einer allumfassenden Versorgung. Zum anderen beschränken die Einrichtungen den sozialen Verkehr mit der Außenwelt sowie die Freizügigkeit ihrer Insassen. Die Charakteristika von totalen Institutionen lassen sich nach Goffman (1973) folgendermaßen zusammenfassen: ȤȤ ein tendenziell allumfassende Versorgungsanspruch der Einrichtung; ȤȤ Beschränkungen und Kontrolle der Außenkontakte; ȤȤ Verschränkungen der Lebensbereiche Schlafen, Arbeiten, Freizeit an einem Ort und unter den gleichen Autoritäten; ȤȤ Unfreiwilligkeit der Teilhabe; ȤȤ zeitlich gleichbleibende Durchstrukturierung des Tagesablaufs durch Autoritäten und durch festgelegte Regeln; ȤȤ Summierung aller Tätigkeiten zu einem gemeinsam Plan, dessen Ziel von der Institution und nicht von den in den Institutionen lebenden Menschen bestimmt ist. Die so geschaffenen Lebensbedingungen weichen in vielerlei Hinsicht von den Vorstellungen ab, die sich Zuwanderer und Zuwanderinnen von Deutschland gemacht haben – und auch von dem, was die Mehrzahl der Bevölkerung der Aufnahmegesellschaft als normal empfindet. Bedenkt man,

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dass das Leben eines Geflüchteten durch beengtes Wohnen in mit baulichen Mängeln behafteten Gebäuden, unter finanziell eingeschränkten Bedingungen, mit begrenzter Bewegungsfreiheit, eingeschränktem Besuchsrecht sowie eingeschränkter Privatsphäre und in unfreiwilliger Gemeinschaft mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sprache gekennzeichnet ist, so zeigt sich, dass hier eine Reihe von Beschränkungen eigener Handlungs-, Entfaltungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten bestehen. In einer Studie, die Anfang der 2000er Jahre in Niedersachsen durchgeführt wurde, konnte herausgearbeitet werden, welche Belastungen mit einer zentralisierten Unterkunft für die Bewohner und Bewohnerinnen einhergehen (Behrensen u. Groß, 2004). Neben Zukunftsängsten aufgrund des unsicheren Asylverfahrens, das mit sehr langen Wartezeiten verbunden sein kann, wirkt sich das Zusammenspiel von drei Faktoren bei einer zentralisierten Unterbringung negativ auf die Geflüchteten aus und verstärkt somit ihre Problemlage: ȤȤ Die Vermischung und Unklarheit von Zuständigkeiten stärken das Erleben von Willkür in einem undurchschaubaren System. ȤȤ Die Systemlogik, mit der viele Dinge im Alltag festgelegt sind, wie beispielsweise die Kantinenversorgung oder die Kontrolle der Außenkontakte, führt zu dem Gefühl einer Beschneidung von Handlungsmöglichkeiten. ȤȤ Unzureichende Beratung aufgrund mehrdimensionaler und komplexer Problemlagen verstärkt das Gefühl von Unsicherheit. In der Studie von 2004 wurde herausgearbeitet, dass aufgrund dieser Faktoren die Versorgung von Geflüchteten in solchen Strukturen eine gesteigerte Gefahr beinhaltet, dass hier ein Teufelskreis der Entmündigung entsteht.

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Zentralisierte Unterkünfte bestehen vielerorts in ähnlicher Form wie die in 2004 untersuchten Einrichtungen weiter. Ein Beispiel hierfür sind die beschriebenen Lager in Bayern, die den Zweck einer Kooperation bei der Abschiebung zum Ziel haben. Andernorts, wie etwa in Niedersachsen, hat sich die Situation in vielen Kommunen seit 2004 gebessert. Das sogenannte Ausreisezentrum, das damals in den Blick genommen worden war, existiert allerdings fort. Hinzu kommt, dass auf den Markt der Anbieter verstärkt private Betreiber drängen, deren Personal nur selten Ausbildungen im psychosozialen Bereich vorweisen kann. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass ausgehend von einem durch Flucht und Fluchthintergrund hohen Bedarf an Unterstützungsleistungen Geflüchtete in Strukturen, in denen sie kaum selbstbestimmt ihr Leben gestalten können, auf psychosoziale Unterstützungsleistungen angewiesen sind. Vor dem Hintergrund des weiteren Bestehens zentralisierter Unterkünfte sei auf die Studienergebnisse von 2004 etwas ausführlicher hingewiesen: Vordergründig erscheint es so, dass Bewohnerinnen und Bewohner in den zentralisierten Einrichtungen umfassend versorgt sind. Die vor Ort angebotenen Einrichtungen decken zunächst alle essenziellen Lebensbereiche ab. Im Alltag ist daher kein Verlassen des Geländes notwendig. Dies trifft insbesondere für Mütter zu, die sich um die Belange ihrer Kinder kümmern und auch hierfür auf Angebote der Einrichtungen zurückgreifen können. Gleichzeitig führt die Situation aber zu einer Reduzierung alltäglicher Handlungsmöglichkeiten, das eigene Leben selbst zu organisieren. Es besteht die Gefahr, dass Geflüchtete bei langem Aufenthalt in der Einrichtung in eine Situation hineinwachsen, in der sie auf eine umfassende Versorgung angewiesen sind. Langandauernde

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Unterbringung in zentralisierten Unterkünften geht mit der Gefahr eines Verlusts von Alltagskompetenzen einher. Die für das Zurechtkommen in der Aufnahmegesellschaft notwendige »strukturelle Assimilation« (Gordon, 1964, S. 81) kann ebenso wenig stattfinden wie die dazugehörige Möglichkeit, »zunehmend am Leben sozialer Cliquen, Organisationen und Institutionen [zu] partizipieren« (Han, 2000, S. 53). In der Studie konnte zudem festgestellt werden, dass umgekehrt proportional zur Reduzierung ihrer Handlungsmöglichkeiten der Bedarf entsteht, Probleme von anderen lösen zu lassen. Werden alle Versorgungsleistungen vor Ort angeboten, sind Geflüchtete auch auf die Lösung der durch die reduzierten Handlungsmöglichkeiten entstehenden Probleme auf Hilfe innerhalb der Einrichtung angewiesen. Sie sind der Situation in der Einrichtung also im doppelten Sinne ausgeliefert. Auf diese Weise wird ein steigender Bedarf an Versorgung produziert. Der auf diese Weise produzierte Bedarf kann aber von den wenigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen nur unzureichend erfüllt werden. Die Entscheidung, wessen Bedarf gedeckt wird, führt daher zu Stress. Zugleich erleben Mitarbeitende auch, dass sie eine Machtposition haben. Als Reflex auf die Überforderung treffen Mitarbeitende Entscheidungen über ihre Hilfeleistungen. Eine Entscheidungsform, die in der Studie von 2004 sehr häufig anzutreffen war, war die, einer kleinen Gruppe von Geflüchteten ein hohes Maß an Fürsorge zukommen zu lassen und einer großen Gruppe die Berechtigung auf jegliche Unterstützung abzusprechen. Bei der Differenzierung und Auswahl wurden 2004 insbesondere zwei Kriterien erkennbar. Das eine bestand darin, dass Geflüchtete, die Hilfeleistungen aktiv, laut und mit Nachdruck forderten, in die Kategorie derer definiert wurden, die keine Unterstützung bräuchten. Stattdessen wurden diejenigen unter-

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stützt, die als bescheiden, leise und zurückhaltend wahrgenommen wurden. Dies galt allerdings nur für diejenigen, die in ihren Bedürfnissen überhaupt noch gesehen wurden, was in sehr großen Einrichtungen nicht als die Regel angesehen werden kann. Das andere Kriterium, das in der Erhebung von 2004 deutlich wurde, betraf die Entscheidung, bestimmte Herkunftsgruppen vorzuziehen. Damit einher ging das Bild, dass bestimmte Gruppen sich angemessener benähmen, weil sie eben zurückhaltender seien. Als ein Ergebnis der Untersuchung von 2004 wurde somit deutlich, dass die Mehrheit der Geflüchteten in der Tendenz eher nur eine minimale Versorgung erhielt. Grob pointiert kann gesagt werden, diese Geflüchteten wurden verwahrt und verwaltet. Eine Minderheit bekam dagegen viel Aufmerksamkeit und Unterstützung. Interessant war, dass diese Unterstützung teilweise sogar über den beruflichen Auftrag hinausging. Darüber hinaus wurde in der Studie von 2004 sichtbar, dass in beiden Fällen, im Falle der einfachen Verwahrung und Verwaltung ebenso wie im Falle der Fürsorge, ein Teufelskreis einsetzte, der einen Mangel an selbstbestimmten Möglichkeiten der Lebensgestaltung auf höherem Niveau zur Folge hatte. Zugespitzt kann gesagt werden, dass mit der Zentralisierung ein Verlust an Handlungsautonomie einherging, weil das Leben vor Ort von anderen organisiert wurde. Ob sich der beschriebene Teufelskreis mit der Weiterentwicklung der aktuellen Fluchtmigrationsbewegung seltener findet, ist eine offene Frage. Das Chaos im Jahr 2015 bedeutete für Geflüchtete zunächst einen Verlust der euphorischen Vorstellungen und Hoffnungen, die sie vor der Einreise hatten. Turnhallen mit notdürftig aufgestellten Trennwänden, Wohncontainer, ehemalige Kasernen, die kaum Privatsphäre ermöglichten, waren Ad-hoc-­Lösun­ gen der Unterbringung. Was eigentlich nur als Übergang geplant war, ist mittlerweile Realität geworden. Immer

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noch leben viele Menschen in diesen zentralisierten Einrichtungen. Sie warten auf ihre Aufenthaltserlaubnis, auf Deutschkurse, auf Plätze an Schulen und Kindergärten, auf einen geregelten Zugang zu Wohnungen oder auf ihre Abschiebung. Anders als 2004 hat eine überwältigende Zahl von Menschen in Deutschland sich im Zuge der Flüchtlingszuwanderung 2015 bereit erklärt, bei der Ankunft von Flüchtlingen in den deutschen Kommunen helfend zur Seite zu stehen. In einer explorativen Studie zu den Strukturen und Motiven der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit in Deutschland wird deutlich, dass Ehrenamtliche, die oft auch selbst einen Migrationshintergrund haben, mit einem hohen zeitlichen Aufwand arbeiten. Sie übernehmen nicht selten Aufgaben der fundamentalen Versorgung, etwa mit Kleidung, Unterkunft oder Mobiliar. Dies tun sie vor allem dort, wo das öffentliche System nicht zeitnah funktioniert. Ein großer Anteil der ehrenamtlichen Arbeit geht darüber hinaus in die Unterstützung von Flüchtlingen bei der Adressierung ihrer Anliegen in Behörden (­Karakayali u. Kleist, 2015). Flüchtlingshilfe in diesem Sinne kann als kulturelle Praxis der Gastfreundschaft verstanden werden, die es dem Gast ermöglichen soll, sich in der neuen Umgebung einzufinden und hier einen Platz auszufüllen. Damit bewegen sich die Unterstützer und Unterstützerinnen stärker als die nationalstaatlichen Organe auf dem Weg der universalistischen Anerkennung der Menschenrechte. Die Sensibilität, mit der zumindest Teile der Unterstützungsbewegung heute an der Aktivität der Zuwandernden ansetzen, statt sie zu entmündigen, lässt den Anfang eines sich verändernden, eher gleich­ berechtigen Umgangs vermuten. Dem steht allerdings das Verwaltungshandeln diametral gegenüber. So hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2016 der Unternehmensberatung

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McKinsey einen Auftrag in Höhe von 1,8 Millionen Euro erteilt, um Maßnahmen zur verbesserten Abschiebung von Geflüchteten zu erarbeiten. In dem Entwurf der Studie schlägt McKinsey der Regierung 14 Maßnahmen vor. Hierzu gehören die Einrichtung von Abschiebegefängnissen, mehr Geld für freiwillige Rückkehrer, die digitale Erfassung im Ausländerzentralregister, mehr Personal in den Ausländerbehörden und eine Zentralisierung der Verantwortlichkeiten für die Rückkehr. Wie sehr Menschen in diesem Beratungssetting zu entmündigten Objekten gemacht werden, zeigt ein Blick in einige der diskutierten Vorschläge. So empfehlen die Berater und Beraterinnen, geduldeten Flüchtlingen die Geldleistungen zu kürzen. Diejenigen, die aufgrund von Krankheit oder fehlender Papiere nicht abgeschoben werden könnten, sollte man statt Bargeld nur Sachleistungen für Nahrung und Kleidung geben (Süddeutsche, 2016). Die anhaltende zentralisierte Unterbringung sowie solche Praktiken bei der Verwaltung von Geflüchteten erschweren Prozesse des Ausbaus der Handlungsfähigkeit. Die systematische Berücksichtigung der Handlungsfähigkeit von Geflüchteten (Cyrus, 2017), wie sie beispielsweise in internationalen Kriseneinsätzen durch die Einbeziehung lokaler Kompetenzen schon seit Jahren üblich ist, lässt sich nur in Einzelfällen erkennen. Im Gegensatz zur Unterstützungsbewegung ist Fluchtmigration von verwaltungsrechtlicher Seite zunächst eine Frage der Steuerung. Wie die Fluchtmigrationsbewegung sich unter diesen Bedingungen weiterentwickelt, bleibt zu beobachten.

7  Implikationen für die Praxis

Bei den nun folgenden Überlegungen, welche Implikationen die vorangestellten Beschreibungen für die psychosoziale Praxis haben, wird ein bewusst weites Verständnis von psychosozialer Arbeit angelegt. Faktisch leisten in dem Feld der Begleitung von Geflüchteten gegenwärtig Angehörige psychosozialer Berufsfelder zusammen mit fachfremden Quereinsteigern und Quereinsteigerinnen sowie eine große Zahl unterschiedlich ausgebildeter und motivierter Ehrenamtlicher wichtige Arbeiten. Daher berühren die nun fokussierten Implikationen unterschiedliche Arbeitsfelder in unterschiedlicher Weise. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Herausforderungen sollen hier vier Themenfelder verstärkt in den Blick genommen werden: 1. Bildung und Ausbildung als Wege in die gesellschaftliche und individuelle Zukunft, 2. Respekt und Empowerment als aktuelle Herausforderungen in einer widersprüchlichen Welt, 3. Kontextkompetenz als Gebot der Arbeit im Feld 4. und daran anschließend ein kurzer Hinweis auf die wichtigsten Adressen, um sich im Feld der Fluchtmigration zu orientieren.

7.1 Wege in die Zukunft: Bildung und Ausbildung Ein wichtiges Moment für das Gelingen von Teilhabe ist die Integration in den Arbeitsmarkt. Diese kann durch zahlreiche Maßnahmen wie Sprachförderung, Erwerb von

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Implikationen für die Praxis

Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen in Deutschland, Kompetenzerfassung und Anerkennung von Abschlüssen bis hin zur Arbeitsvermittlung unterstützt werden. Der Erfolg der Integrationspolitik wird auch davon abhängen, wie gut es gelingt, diese verschiedenen Politikmaßnahmen zu koordinieren und zu einem konsistenten Programm zu bündeln (Karakayali u. Kleist, 2015, S. 2). Blicken wir auf die Menschen, die gekommen sind, so sind ihre formalen Qualifikationen sowie mögliche Perspektiven ihrer Arbeitsmarktbeteiligung von zentraler Bedeutung für ihre Perspektiven einer nachhaltigen Integration in die deutsche Gesellschaft. Hierzu gibt es in der gegenwärtigen Situation nur wenige gesicherte Zahlen. Der Ökonom Herbert Brücker weist darauf hin, dass nach Angaben der Statistik der Bundesagentur für Arbeit gut 70 % der Beschäftigten zusammen mit den registrierten Erwerbspersonen aus außereuropäischen Herkunftsländern, aus denen Asylsuchende und Flüchtlinge kommen, über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Aufgrund unterschiedlicher Bildungssysteme und Ausbildungstraditionen wird ein erheblicher Bedarf an Kompetenzfeststellung und Nachqualifizierung formuliert (Brücker, 2016, S. 3). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) veröffentlichte im Mai 2016 eine Kurzanalyse mit Daten zur Qualifikations­struktur und Berufstätigkeit von volljährigen Asylbewer­bern und Asylbewerberinnen, die im Jahr 2015 ihren Erstantrag gestellt haben. Die Befragung war zwar freiwillig, aber es haben sich mehr als 70 % der volljährigen Erstantragsteller und Erstantragstellerinnen daran beteiligt. Erfasst wurden nicht weiter belegte Selbstauskünfte zur formalen Bildung, zu Berufserfahrungen und Sprachkenntnissen, wobei es aufgrund der fehlenden 30 % zu Verzerrungen kommen kann. Von den Befragten haben 18 % nach eigenen Angaben eine Hochschule be-

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sucht. Dauer und Abschluss der akademischen Ausbildungen wurden in dieser Erhebung allerdings nicht erfasst. 20 % der Befragten haben ein Gymnasium, 32 % eine Mittelschule und 22 % eine Grundschule als höchste besuchte Bildungseinrichtung angegeben. Nur 7 % gaben an, über keine formelle Schulbildung zu verfügen (Heß u. Wälde, 2016, S. 90). Hinsichtlich der Qualifikationsstruktur aller Geflüchteter lassen sich Berechnungen aus den Daten der Weltbank und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ableiten. Maier, Wolter und Zika haben diese Daten auf der Grundlage der Zahlen der bis zum 31. Dezember 2015 eingegangenen Asylanträge gewichtet und daraus Schätzungen für die Qualifikationsstruktur der in 2015 neu eingewanderten Asylsuchenden berechnet (2016, S. 121 f.). Diese Schätzungen ergaben, dass unter den bis Ende 2015 anerkannten 138.000 Flüchtlingen etwa 13 % eine Berufsausbildung bzw. eine Hochschulzugangsberechtigung aufweisen könnten. Knapp 6 % müssten sogar einen aka­demischen Abschluss besitzen. Der Anteil an Personen mit einem Fachschulabschluss bzw. einem äquiva­ lenten Abschluss dürfte hingegen mit knapp 2 % relativ gering sein. Nach Sonderauswertungen des Mikrozensus der Jahre 2012 bis 2014 über die zwischen 2011 und 2014 zuge­ wanderten Personen aus den häufigsten Herkunftslän­dern wäre zu erwarten, dass von den über 15-Jährigen in naher Zukunft rund 28 % eine Ausbildung aufneh­men werden. Von allen anerkannten Flüchtlingen im Jahr 2015 wären demnach rund 45 % künftig in Bildung. Dagegen würden rund 35 % der anerkann­ten Flüchtlinge nicht am Bildungssys­tem teilnehmen und langfristig ohne Berufsabschluss bleiben (Maier, Wolter u. Zika, 2016, S. 121 f.). Einen erheblichen Nachqualifizierungsbedarf macht Herbert Brücker vor allem bei den Flüchtlingen im Alter ab 18 Jahren aus, die gar keine Schule oder nur eine

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Grundschule besucht haben. Das ist immerhin ein Viertel der volljährigen Flüchtlinge. Zu dieser Zahl prekärer Bildungsbiografien kommt eine noch nicht genau benennbare Zahl von Flüchtlingen, die ihre Schulausbildung unterbrechen mussten (Brücker, 2016, S. 6). Aufgrund ihres Alters wird ein Einstieg in ein auf Altershomogenität aufgebautes Schulsystem von Schwierigkeiten begleitet sein. Heß und Wälde (2016) heben in ihren Analysen deutliche Unterschiede zwischen den Herkunftsländern hervor (S. 90 f.). Von den syrischen Antragstellern und Antragstellerinnen haben nach eigenen Angaben 27 % eine Hochschule besucht. Diese Quote wird nur von den iranischen Antragstellern und Antragstellerinnen übertroffen, bei denen es 35 % sind. Dagegen haben von den serbischen, mazedonischen und eritreischen Antragstellern und Antragstellerinnen jeweils nur weniger als 4 % eine Hochschule besucht. Diese deutlichen Unterschiede im Qualifikationsniveau lassen sich auf zwei Ursachen zurückführen. Zum einen gibt es in den verschiedenen Herkunftsländern grundsätzlich Unterschiede, wie viele Menschen dort beispielsweise Zugang zu höherer formaler Bildung haben. Zum anderen ist die Bevölkerung, die von dort geflohen ist, auch unterschiedlich formal gebildet. Unabhängig von der Vorbildung lassen sich insgesamt gute Potenziale für die bildungsbiografische Entwicklung der geflüchteten Bevölkerung ausmachen. Dies gilt besonders dann, wenn diese Entwicklung mittelfristig gesehen wird. In 2015 waren: ȤȤ rund 15 % der Geflüchteten im schulpflichtigen Alter, ȤȤ rund 10 % der Geflüchteten im Vorschulalter und damit bereits Bildungsinländer und Bildungsinländerinnen, ȤȤ insgesamt 55 % der Geflüchteten unter 25 Jahre, ȤȤ etwa 30 % der Geflüchteten zwischen 16 und 25 Jahre alt und damit im Ausbildungsalter (Brücker, 2016, S. 6).

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Knapp die Hälfte der Acht- bis 24-Jährigen (49 %) gab an, ein Gymnasium, eine Fachhochschule oder eine Hochschule besucht zu haben. Hier ergibt sich ein hohes Potenzial an Personen, die ihre Bildungsbiografien an Gymnasien und deutschen Hochschulen fortsetzen wollen (S. 6). Dabei hängt der Erfolg der beruflichen Integration von Investitionen in sprachliche, formale und berufliche Bildung ab. Wie diese Investitionen aussehen müssen, darum ist in den letzten Jahren viel gerungen worden. Aus pragmatischer Sicht scheint es sinnvoll, Lernarrangements so zu gestalten, dass individuelle Förderung möglich ist (Behrensen u. Solzbacher, 2016). Schließlich kommen die Neuzugewanderten mit sehr unterschiedlichen formalen Bildungserfahrungen und Kompetenzen. Darüber hinaus unterscheiden die Geflüchteten sich in dem, was sie im Herkunftsland oder auf der Flucht an Gewalt erlebt haben und welche Möglichkeiten der Bearbeitung dieser Erfahrungen sie haben. So wirken sich Gewalterfahrungen auf unterschiedliche Weise auf die individuelle Bildungsfähigkeit aus (Behrensen, 2017). Vor diesem Hintergrund ist die heterogene Landschaft an Beratungs-, Schulungsund Vermittlungsangeboten, die sich zusätzlich zu den Integrations- und Sprachkursen entwickelt hat, durchaus sinnvoll. Aus der Notwendigkeit, das Angebot über einzuwerbende Projektfördergelder abzusichern, haben sich Migrantenselbstorganisationen, Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände in der gesamten Republik auf den Weg gemacht, innovative Ansätze zu formulieren, zu erproben und weiterzuentwickeln. Beispielhaft seien hier die Erfahrungen von Hamburger Netzwerken (Meyer, 2014) erwähnt, die sich seit vielen Jahren in Zusammenarbeit mit Wirtschaftsakteuren mit der beruflichen Integration von Flüchtlingen und Asylsuchenden auseinandersetzen. Auf der Basis einer inhaltsanalytischen Auswertung von Interviews in acht Koopera-

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tionsbetrieben, in denen Erfahrungen mit der Ausbildung junger Flüchtlinge bestehen, wird deutlich, dass die Beseitigung struktureller Hürden ebenso wichtig ist wie die Einrichtung von Unterstützungsmaßnahmen. Die daraus abgeleiteten Empfehlungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: ȤȤ Sicherung des Aufenthalts für den Zeitraum der Berufsausbildung, um die Auszubildenden in dieser Zeit nicht zusätzlich psychisch zu belasten; ȤȤ Überbrückung von Problemen der Ausbildungsförderung, Einleitung gesetzlicher Nachbesserungen zum Schließen bestehender Förderlücken und Einrichtung von Lehrmittelfonds, um Ausbildungsabbrüche aufgrund unzureichender finanzieller Mittel zu vermeiden; ȤȤ Lockerung von Beschäftigungsverboten, um die Potenziale der Neuzugewanderten schnell nutzen zu können und ihnen die Entwicklung von Zukunftsperspektiven zu ermöglichen; ȤȤ Gestaltung ausländerbehördlicher Verfahren auf eine für Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen nachvollziehbare und transparente Weise, um die Zumutbarkeit an die Betriebe realistisch zu gestalten; ȤȤ Einführung interkulturell sensibler Einstellungsverfahren in Betrieben, um ungewollte Diskriminierung zu minimieren und Entwicklungspotenziale in den Vordergrund zu stellen; ȤȤ Aus- und Fortbildung der ausbildenden Gesellen und Gesellinnen, um deren Sicherheit im pädagogischen Umgang mit geflüchteten Jugendlichen zu erhöhen; ȤȤ Initiierung von Auszubildendenstammtischen, um den Kompetenzerwerb der geflüchteten Jugendlichen in Bezug auf ihre Fähigkeit zum Selbstlernen und zur Selbstorganisation zu stärken; ȤȤ Mentoring für Flüchtlinge in der Ausbildung und Ansprechpartner für Ausbilder und Ausbilderinnen, um

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dem mitunter spezifischen Unterstützungsbedarf gerecht zu werden; Qualitätsentwicklung des Deutschunterrichts und Etablierung eines integrierten Fach- und Sprachlernens durch Fortbildungen, Monitoring und Reflexion, um geflüchtete Jugendliche entlang ihrer individuellen Sprachfähigkeiten besser vorzubereiten und zu begleiten; Etablierung didaktischer Werkstätten an beruflichen Schulen, um möglichst optimal entlang der Bedürfnisse der geflüchteten Jugendlichen zu lehren; Förderung von Mathematik und Englisch, um bei Bedarf Wissenslücken aufzufüllen, sowie Unterstützung des Führerscheinerwerbs, um weitere berufliche Möglichkeiten zu eröffnen; Unterstützung der Fähigkeiten zum Beobachten und Fragenstellen in der Berufsvorbereitung und in den ersten Berufsschultagen, um den kompetenzorientierten Wissensgewinn zu unterstützen.

Die Breite dieser Empfehlungen macht den Handlungsbedarf deutlich, der sich im Zuge der Neuzuwanderung einer großen Bevölkerungsgruppe gerade erst zeigt. Deutlich wird die Mehrdimensionalität, in der sich die spezifischen Bedürfnisse Geflüchteter auf ihren Bildungs- und Ausbildungswegen zeigen. Zugleich aber gelingen diese Wege nur, wenn Geflüchtete als Subjekte betrachtet werden, die eigenverantwortlich an der Gestaltung ihrer Biografie mitarbeiten.

7.2 Respekt und Empowerment in einer Welt voller Widersprüche In einer aktuellen Publikation der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international (2017, S. 4) wird darauf hingewiesen, dass die Zahl der in Deutschland im

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Implikationen für die Praxis

Jahr 2015 angekommenen Flüchtlinge zwar sehr hoch gewesen sei, aber nur einen geringen Teil der weltweit geflüchteten Menschen ausmache. Allein im Libanon mit einer Bevölkerung von etwa 4,5 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen lebten zwischenzeitlich ein bis zwei Millionen geflüchteter Syrerinnen und Syrer. Um ein solches Verhältnis zwischen Flüchtlingen und einheimischer Population herzustellen, müssten in Deutschland mehr als zwanzig Millionen Menschen aufgenommen werden. Bei diesem Vergleich sind zusätzlich die Bedingungen der staatlichen Verfasstheit des Libanons und Deutschlands zu berücksichtigen. Sehr verkürzt kann gesagt werden, dass Syrerinnen und Syrer im Libanon auf die persönliche Gastfreundschaft der Bevölkerung angewiesen sind – und sie erfahren diese Gastfreundschaft trotz der massiven Belastung immer noch vielerorts. In Deutschland dagegen steht die Gastfreundschaft, die sich seit 2015 ebenfalls in großem Maße gezeigt hat, in einem anderen Verhältnis zum Staat. Hier geht es eher darum, sozialstaatliche Sicherungen als Selbstverständlichkeit für alle – und somit auch für Geflüchtete – zu verstehen und Wege der Teilhabe zu gestalten. In beiden Fällen geht es um die Gewährung von Respekt, der von einem universalistischen Menschenbild getragen ist. Für das Leben in Deutschland, in dem Geflüchtete per Definition zunächst erfahren, dass sie Objekte der Verwaltung sind, geht es immer auch darum, die Handlungsfähigkeit zu stärken. Es geht damit um die klassische Aufgabe der Sozialarbeit: das Empowerment – das heißt, um die Begleitung beim Ausbau der Fähigkeit der Selbstbemächtigung. Ausgangspunkt ist die Wiederentdeckung und der Ausbau der Handlungsfähigkeit der Geflüchteten. Empowerment unter interkulturellen Bedingungen zu leisten, die von extremen Machtasymmetrien geprägt sind, ist allerdings ein Prozess, der das Arbeiten in Widersprüchen

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verlangt. Ein erster Schritt ist, dass Experten und Expertinnen der psychosozialen Praxis bereit sein müssen, die Stärken von Geflüchteten überhaupt zu sehen und ihnen dann auch noch zu vertrauen. Hierzu gehört maßgeblich, deren Sichtweisen kennen zu lernen. Hierzu wiederum bedarf es der Bereitschaft und Fähigkeit, sich der eigenen Zugehörigkeit zur Dominanzkultur bewusst zu werden. Dies unter Bedingungen zu tun, die häufig nicht nur von Machtasymmetrien, sondern auch von unterschiedlichen Fähigkeiten der verbalen Kommunikation geprägt sind, verlangt von Angehörigen der psychosozialen Praxis die Bereitschaft, sich zurückzunehmen und zu lernen. In einem nächsten Schritt geht es um eine Reflexion, wo die Expertenmacht zu Ungleichheit führt. Auch dies ist im Feld der Fluchtmigration ein Handeln in Widersprüchen. Hier geht es darum, sich gemeinsam darüber bewusst zu werden, wo Ausgrenzungen und Entwürdigungen gesellschaftlich bedingt stattfinden. Je transparenter diese Mechanismen sind, umso besser kann es gelingen, im Interaktionsprozess nicht in eine bevormundende Fürsorglichkeit zu verfallen. Verantwortung als Angehörige der Dominanzkultur zu übernehmen, bedeutet, gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen. Verant­wortung für den Arbeitskon­trakt zu übernehmen, bedeutet dagegen, Verantwortlichkeiten gleich zu verteilen. Es gilt also faktische Machtunterschiede und Handlungsräume nicht zu verleugnen, aber auch nicht absolut zu setzen. Wesentliches Moment ist die Herstellung eines Bezie­hungs­modus des partner­schaftli­chen Aus­handelns, der von Respekt unter Bedingungen der sozialen Ungleichheit (Sennett, 2007) getragen ist. Bei der Entwicklung dieser beiden Schritte kann an der Handlungsfähigkeit angeknüpft werden, die Geflüchtete für ihre Flucht mobilisiert haben – und der sich Experten und Expertinnen immer wieder bewusst werden soll-

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ten. So zeigt der aktuelle Forschungsstand zum Entscheidungsprozess in Gefährdungssituationen, dass Flüchtende keine passiven Opfer sind (Cummings, ­Pacitto, Lauro u. Foresti, 2015, S. 39). Fluchtmigration ist nicht vorrangig die Folge einer spontanen Reaktion auf eine plötzlich auftretende Gefahr für Leib und Leben. Vielmehr ist sie in vielen Fällen das Ergebnis einer länger andauernden Abwägung. Geflüchtet zu sein bedeutet nicht zwangsläufig, auf ein einmaliges Ereignis zu reagieren. Vielmehr können Fluchtursachen auch kumulieren und allmählich zu der Erkenntnis reifen, dass das Leben unter den gegebenen Bedingungen immer weniger möglich erscheint. Im Sinne einer Kosten-Nutzen-Theorie kann dieser Prozess als ein Entscheidungsprozess verstanden werden. Die Risiken und Nachteile des Bleibens und des Flüchtens werden unter den Bedingungen schwer einzuschätzender Konkretheit der Gefahr und der ungewissen Entwicklung der Situation bewertet (Zimmermann, 2011). Hierzu gehört auch die Einbeziehung von Überlegungen, welche möglichen Nachteile eine verfrühte und schlechter vorbereitete Flucht mit sich bringt. Ebenso gehört hierzu die Einschätzung der Gefahren, ja auch der Todesgefahren der Flucht sowie sämtlicher materieller und immaterieller Kosten. Erst wenn in diesem Entscheidungsprozess die Einschätzung der aktuellen Gefahren für die eigene Sicherheit und das Überleben im Heimatland gegen ein Bleiben spricht, sind Menschen bereit, die Risiken der Flucht einzugehen. Zusammengefasst kann also gesagt werden, dass mit der Flucht bereits ein großes Potenzial an Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit gezeigt wurde. Gleiches gilt für die Bewältigung des Fluchtweges. Hier bedarf es einer ganzen Reihe von Überlebens- und Anpassungsstrategien. Dazu gehören etwa die Fähigkeit, sich mit anderen zusammenzuschließen, sich Anordnungen zu widersetzen, laut zu protestieren oder über öffentli-

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chen Protest auf die eigene Lage aufmerksam zu machen, wie Cyrus (2017) mit Verweis auf Cummings et al. (2015) es formuliert. Geflüchtete bringen also eine ganze Reihe von Fähigkeiten, Erfahrungen und Überlebensstrategien mit, die als wichtige Ressourcen verstanden werden können, um ihre Handlungsfähigkeit zu stärken. Zugleich ist die Erfahrung der Flucht oft begleitet von Belastungen, die nicht zu verleugnen sind und deren Bewältigung Ressourcen bedarf. Um an die eigenen Ressourcen heranzukommen, brauchen Geflüchtete einen Zugang zu ihren Selbstkompetenzen, weil damit ein authentischer Zugang zu eigenen Interessen, Emotionen und Erfahrungen möglich wird. Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Motivation, Planungsfähigkeit und andere Facetten von Selbstkompetenz können durch Ohnmachtserfahrungen erschüttert worden sein. Die große Zahl derjenigen, die vor oder während ihrer Flucht Grausames erlebt haben, gilt es hier anzuerkennen, ohne sie deshalb zurück in den Status des Opfers zu manövrieren. Vielmehr hängt die Bearbeitung dessen, was an Grausamkeiten erlebt wurde, auch davon ab, welche Ressourcen zur Verfügung stehen, um die für die menschliche Existenz notwendige Sicherheit und Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen. Eine besondere Rolle kommt dabei der Partizipation zu. Hierfür ist das dreigeteilte Stufenmodell von Petersen und Kriener (1999) hilfreich, in dem diese zwischen »Beteiligung«, »Quasi-Beteiligung« und »Nicht-Beteiligung« unterscheiden. Die Stufe der Nicht-Beteiligung umfasst Situationen, in denen Menschen keinen Einfluss auf Entscheidungsprozesse haben. Das ist die Stufe, die Geflüchtete in allen verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten schmerzlich erleben. Auf der Stufe der Quasi-Beteiligung werden Menschen über Problemlösungen informiert. Sie werden im Idealfall individuell beraten. Entscheidun-

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gen werden idealerweise so transparent und in der Folge nehmen Ohnmachtserfahrungen ab. Die Stufe der Beteiligung zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass Geflüchtete eigene Entscheidungen treffen können. Partizipation zu gestalten ist auch deshalb wichtig, weil Menschen, die aus entmündigenden Diktaturen geflohen sind und im Aufnahmeland zunächst wieder unter Bedingungen der Entmündigung leben, durch Partizipation stärkende Momente erleben können. Für Menschen, die in traumatischen Situationen lebensbedrohliche Ohnmacht erfahren haben, bedeutet die Erfahrung von Partizipation darüber hinaus die Stärkung eigener Handlungsfähigkeit. Cyrus (2017) verweist darauf, dass Handlungsfähigkeit zwar eine Kombination der Nutzung und Erweiterung von Handlungsräumen verlangt, dass es für den Beginn des Aufbaus von Handlungsfähigkeit unter den fragilen Bedingungen eines unsicheren Aufenthaltsrechts aber zunächst grob vereinfacht darum geht, die Fähigkeit bewusst zu machen und zu stärken, etwas herbeizuführen. Das ist der erste »Gegensatz zu dem Fall, in dem einem etwas bloß widerfährt« (Searle, 2012, S. 116). Damit dies gelingt, brauchen Akteure im Feld der psychosozialen Arbeit mit Geflüchteten eine ressourcenorientierte Haltung. Hierzu gehört immer auch die Frage, was das Gegenüber potenziell leisten kann, wenn sie oder er dafür alle notwenigen Ressourcen, die geeignete Unterstützung oder Assistenz hätte. Damit eröffnen sich Möglichkeitsräume für die Gestaltung von Partizipationsprozessen, die weg von einer vielerorts etablierten entmündigenden Praxis führen.

7.3 Kontextkompetenz Kontextkompetenz geht über interkulturelle Kompetenz hinaus. In den vergangenen Jahrzehnten wurde interkulturelle Kompetenz so verstanden, dass sie zu einem besse-

Kontextkompetenz87

ren Gelingen interkultureller Begegnungen beiträgt, weil sie hilft, Irritationen besser auszuhalten. Zentrales Instrument ist die Reflexion des eigenen Denkens und Verhaltens sowie die Wahrnehmung möglicher anderer Logiken und Selbstverständlichkeiten. Schwierig an der Idee der interkulturellen Begegnung ist, dass damit das Bild einhergeht, dass es sich um weitestgehend isolierte Welten handele, die sich interkulturell begegnen würden. Ein solches Bild wird dem, was Kultur ist, wenig gerecht. Kultur zeichnet sich zwar durch bestimmte Umgangsformen, Werte, Grundannahmen, Normen und Maßstäbe aus. Gleichwohl geht es hier niemals um statische und absolut gesetzte Formen. In jeder Begegnung geht es darum, sich auf die Situation des Gegenübers einzustimmen, wahrzunehmen, zu interpretieren und zu reagieren. Dies gilt für Angehörige der gleichen Gesellschaft ebenso wie für die anderer, unterschiedlicher Gesellschaften. Interkulturelle Wechselbeziehungen führen hier zu Einflüssen, die es in Begegnungen innerhalb der eigenen Gesellschaft in dieser Form nicht geben würde. Im Denken, Handeln und Fühlen entwickelt sich das Verständnis für die Lebenslage des Gegenübers. Dies geht über das Erlernen möglicher Verhaltensweisen sowie vermeintlicher Ge- und Verbote weit hinaus. Vielmehr geht es darum, in Situationen flexibel zu reagieren. Kontextkompetenz bedeutet in einem ersten Schritt, den Kontext des Gegenübers wahrzunehmen, seine Lebensverhältnisse, seine Probleme, kulturellen Verhältnisse, Milieus, politischen Konstellationen, Konflikte und sein Lebensumfeld. In einem zweiten Schritt bedeutet Kontextkompetenz Netzwerkarbeit. Durch die Vernetzung kann es besser als allein gelingen, all die Herausforderungen in den Blick zu nehmen, die die Lebenswelt von Geflüchteten schwierig machen. Aus diesem Grund folgen im anschließenden Kapitel einige zentrale Adressen.

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Implikationen für die Praxis

7.4  Die wichtigsten Adressen Die Arbeit im Feld der psychosozialen Begleitung von Geflüchteten bedarf aufgrund der Komplexität der Anforderungen einer guten Vernetzung. Mittlerweile haben sich in vielen Kommunen Netzwerke etabliert, in denen Akteure mit unterschiedlicher Expertise, Haupt- und Ehrenamtliche, zusammenarbeiten. Die Strukturen für die Zusammenarbeit hängen stark von den institutionellen und personellen Ressourcen einer Region ab. Die folgenden Adressen liefern erste Anlaufstellen für diejenigen, die in ihren Regionen bisher noch nicht vernetzt sind.

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Flüchtlingsräte und Pro Asyl: Eine gute Adresse, um einen ersten Überblick über die Aktivitäten in der eigenen Kommune zu erhalten, ist die Internetseite des Flüchtlings­rates des entsprechenden Bundeslandes. Hier laufen viele Fäden der Vernetzung aller Kommunen im Bundesland zusammen. Kontaktdaten der Flüchtlingsräte finden sich auf der Internetseite der Bundesarbeitsgemeinschaft Pro Asyl e. V. (www.proasyl.de). Psychosoziale Zentren für traumatisierte Flüchtlingen bzw. für Flüchtlinge und Folteropfer: Weitere wichtige Ansprechpartner sind psychosoziale Zentren, die sich auf die Arbeit in den Themenfeldern »Trauma und Flucht« sowie »Folter und Flucht« spezialisiert haben. Zentren dieser Art finden sich mittlerweile in allen Bundesländern, wobei sich in den Zentren unterschiedliche Strukturen und Schwerpunkte entwickelt haben. Kontaktdaten zu den Psychosozialen Zentren finden sich auf der Internetseite der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. (BAfF, www. baff-zentren.org).

Die wichtigsten Adressen89

Sprach- und Kommunikationsmittlung: Sehr unterschiedlich ist die Situation in den Bundesländern im Hinblick auf die Frage, wo Übersetzer und Übersetzerinnen gefunden werden können. Auch sind behördliche, medizinische und soziale Einrichtungen es in unterschiedlichem Maße gewohnt, mit Übersetzern und Übersetzerinnen zusammenzuarbeiten. Übersetzer und Übersetzerinnen, die für die Belange von Geflüchteten ausgebildet sind, nennen sich beispielsweise Gemeindedolmetscher und -dolmetscherinnen oder Sprach- und Kulturmittler und -mittlerinnen. Die Kosten für diese Dienste sind in der Regel geringer als bei anderen Dolmetscher- und Übersetzungsdiensten. Die Kostenübernahme in den Kommunen ist unterschiedlich geregelt. Hier gilt es, hartnäckig nachzufragen. In den Regionen, in denen es keine Institution zur Vermittlung dieser spezialisierten Übersetzer und Übersetzerinnen gibt, gilt es, mit Unterstützung anderer Akteure im Feld zu erproben, wie die Zusammenarbeit bestmöglich gelingt. Hierzu gibt es allerdings keine zentrale Adresse. Einige Ideen zur Gestaltung finden Sie auf der Internetseite von SPuK (Sprach- und Kommunikationsmittlung, http://www.spuk.info/). Unbegleitete Minderjährige: Der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e. V. (BumF) setzt sich für die Rechte von Jugendlichen ein, die ohne sorgeberechtigte Begleitung nach Deutschland kommen. Etwa neunzig Organisationen sind hier Mitglied. Zudem gibt es in fast jedem Bundesland eine Landeskoordination. Kontaktdaten, zahlreiche Informationen sowie Stellungnahmen und Einordnungen zu rechtlichen Entwicklungen finden sich auf der Internetseite des Bundesfachverbands (www.b-umf.de).

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Implikationen für die Praxis

Allgemeiner Überblick: Der Informationsverbund Asyl und Migration e. V., ein Zusammenschluss von Organisationen, die in der Flüchtlings- und Migrationsarbeit aktiv sind, bietet auf seiner Internetseite viele Tipps, Adressen, Ratgeber, Gerichtsentscheidungen und andere Dokumente zur Nutzung an (www.asyl.net). Darüber hinaus findet sich hier eine Datenbank zur gezielten Adressenrecherche (unter www.adressen.asyl.de).

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8 Ausblick

Mit der Suche der vielen hunderttausender Menschen, die im Zuge der Fluchtmigration nach Sicherheit und Schutz vor Verfolgung, Gewalt, Armut, Elend und Hoffnungslosigkeit oder auch nur nach einem besseren Leben suchen, ist die Welt und auch Deutschland in einem bisher noch nicht gekannten Ausmaß transkontinental geworden. Begleitet ist diese Entwicklung von menschlichen Dramen vor und auf der Flucht, an den europäischen Außengrenzen, im Inneren Europas und auch Deutschlands. Die Zugewanderten müssen sich ihr Leben in Deutschland in einem oftmals undurchschaubaren Feld von Bleibe-, Familiennachzugs- und Abschiebungsperspektiven einrichten. Die Suche nach Wohnungs-, Bildungs- und Arbeitszugängen ist begleitet von der Notwendigkeit, sich mit Restriktionen und Wartezeiten zu arrangieren. Trauer, Bangen und Hoffen um zurückgelassene Familienmitglieder und Freunde finden ebenso wie das Entsetzen über Erlebtes innerhalb der daraus resultierenden komplexen Lebenslagen statt. Die damit verbundenen individuellen Krisen verweisen zugleich auf nationalstaatliche Herausforderungen. Die Suche nach Handlungsmöglichkeiten, die sich aus den Konsequenzen ergeben, wenn das Versprechen universalistisch geltender Menschenrechte ernst genommen wird, hat gerade erst begonnen und verlangt ein gesamtgesellschaftliches Umdenken. Der psychosozialen Arbeit kommt in diesen Prozessen eine wichtige Rolle zu. Hier bieten sich Gelegenheiten, Geflüchteten Wege zu Teilhabe und Integration aufzuzeigen. Die Gestaltung von Empowerment und Partizipation

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Ausblick

trotz aller verwaltungstechnischen Widrigkeiten scheint hier dringend geboten, um die Handlungsfähigkeit von Geflüchteten zu stärken. Darüber hinaus brauchen psychosozial Tätige Kontextkompetenz und die Fähigkeit zur Vernetzung, um den komplexen und in mehrdimensionaler Hinsicht schwierigen Lebensbedingungen von Geflüchteten gerecht zu werden.

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