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German Pages 368 Year 2007
Wanderungen und Kulturaustausch im östlichen Mitteleuropa
Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa Im Auftrag des
Johann-Gottfried-Herder Forschungsrats herausgegeben von Dietmar Willoweit und Klaus Roth
Band 1
Wanderungen und Kulturaustausch im östlichen Mitteleuropa Forschungen zum ausgehendenMittelalter und zur jüngeren Neuzeit Herausgegeben von Hans-Werner Rautenberg
R. Oldenbourg Verlag München 2006
Gedruckt mit Unterstützung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien
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Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Druck: MB Verlagsdruck GmbH, Schrobenhausen Bindung: Buchbinderei Klotz GmbH, Jettingen-Scheppach ISBN-13: 978-3-486-57838-6 ISBN-10:3-486-57838-3
Hartmut Boockmann zum Gedenken
Inhalt
Dietmar Willoweit (Würzburg) Zum Geleit Hans-Werner Rautenberg (Marburg) Einführung Hartmut Boockmann t (Göttingen) Wanderungen und Kulturaustausch im östlichen Mitteleuropa im 15. und 16. Jahrhundert Andrzej Janeczek (Warschau) Kolonisationsströmungen im polnisch-reußischen Grenzgebiet von der Mitte des 14. bis zum 16. Jahrhundert Christian-Frederik Felskau (Köln) Das Franziskushospital in Prag und das Matthiasstift in Breslau. Über den schwierigen Beginn einer Beziehungsbalance beim Aufbau eines ostmitteleuropäischen Hospitalordens, der Kreuzbrüder mit dem roten Stern Wolfgang von Stromer von Reichenbach t (Nürnberg) Handel und Kulturaustausch zwischen Oberdeutschland und dem östlichen Mitteleuropa im 15. Jahrhundert Zenon Hubert Nowak t (Thorn) Wanderungen und Kulturaustausch im 15. und 16. Jahrhundert: Studenten und Gelehrte im östlichen Mitteleuropa Cornelia Ostreich (Bad Schwartau) Ostjüdische Migration Anna Veronika Wendland (Leipzig) Urbane Identität und nationale Integration in zwei Grenzland-Metropolen: Lemberg und Wilna, 1900-1930er Jahre. Vorstellung eines Forschungsprojektes Georg W. Strobel (Groß-Umstadt) Das multinationale Lodz, die Textilmetropole Polens, als Produkt von Migration und Kapitalwanderung
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Inhalt
Hans-Jakob Tebarth (Herne) Technologietransfer in die preußischen Ostprovinzen im 19. Jahrhundert
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Jolanta Karpaviäene (Vilnius) Zur Frage des Magdeburger Rechts in Litauen Dietmar Willoweit (Würzburg) Das europäische ius commune als Element kultureller Einheit in Ostmitteleuropa Arnold Bartetzky (Leipzig) Zur Rezeption nordisch-manieristischer Architektur
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im Nord- und Ostseeraum am Beispiel Danzigs (ca. 1560-1620)
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Klaus Garber Bücher (Osnabrück) Alte deutsche in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas. Ein Reisebericht
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Andre de Vincenz (Heidelberg) Wanderungen von Wörtern. Zu den deutsch-polnischen Sprachkontakten im 19. und 20. Jahrhundert
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Karl Sauerland (Warschau/Thorn) Deutsch-polnische Symbiosen. Eine Forschungsproblematik
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Hartmut Krones (Wien) Wanderung und Kulturaustausch im Habsburgerreich und im südostdeutschen Raum
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Primot Kuret (Ljubljana) Kulturaustausch zwischen den südslawischen Ländern und Tschechien
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Zum Geleit Der Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat hat sich in seiner Satzung „die Erforschung des östlichen Mitteleuropa in europäischen Bezügen" zum Ziel gesetzt. Diese umfassende Aufgabenstellung ist vor dem Hintergrund der nunmehr über fünfzigjährigen Forschungsarbeit des Herder-Forschungsrates und des Herder-Instituts in doppelter Weise zu verstehen. Zum einen gehören sowohl historische wie auch sozialwissenschaftliche Fragen zu den hier gemeinten Forschungsanliegen. Zum anderen ist das „östliche Mitteleuropa" ein Raum, der sowohl durch eine jahrhundertelange deutsche Geschichte wie auch durch besondere Beziehungen zu den Nachbarvölkern und Nachbarstaaten in Vergangenheit und Gegenwart geprägt ist. Die historischen und sozial wissenschaftlichen Aspekte wie auch das Interesse an den historischen deutschen Ostgebieten und am Schicksal der Nachbarstaaten überschneiden sich dabei in vielfältiger Weise. Solange die deutsche Teilung andauerte und die staatliche Selbständigkeit der osteuropäischen Nachbarvölker teils unterdrückt, teils durch die sowjetische Hegemonie beschränkt war, sah sich auch die Forschung zu Themen aus dieser Region mit politischen Fragen konfrontiert, die sowohl ihre Position in der Bundesrepublik wie ihre Beziehungen zur Wissenschaft in den ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten komplizierte. Dennoch hat der Johann-Gottfried-HerderForschungsrat mit dem Herder-Institut unter schwierigen Bedingungen über Jahrzehnte hinweg sowohl die deutsche Geschichte in Ostmitteleuropa vergegenwärtigt als auch intensive Beziehungen zur ostmitteleuropäischen Wissenschaft entwickelt und gepflegt. Im vergangenen Jahrzehnt haben sich unter politisch grundlegend gewandelten Verhältnissen neue Möglichkeiten wissenschaftlicher Forschung und Zusammenarbeit ergeben - einerseits im Verhältnis zur ostmitteleuropäischen Geschichte überhaupt, andererseits in Hinblick auf die besondere Geschichte und Kultur der historischen deutschen Ostgebiete und Siedlungsgebiete im östlichen Mitteleuropa. Jedes Land hat nicht nur seine eigene, sondern auch eine Nachbarschaftsgeschichte. Die ostmitteleuropäische deutsche Geschichte und Nachbarschaftsgeschichte unterscheidet sich fundamental vom Verhältnis zu West- und Südeuropa. Es ist daher geboten, spezifische wissenschaftliche Vorhaben, Institutionen und Publikationen zu planen und in die Tat umzusetzen, welche gerade auch die Beziehungen zu den ostmitteleuropäischen Nachbarvölkern und -Staaten zum Gegenstand haben. „Beziehungsforschung" in diesem Sinne meint dabei nicht eine nur moderner formulierte Beschränkung auf die traditionellen Themen der ostdeutschen Geschichte, sondern möchte ein Modell entwickeln, in dessen Rahmen traditionell ostdeutsche und traditionell ostmitteleuropäische Fragestellungen miteinander verbunden werden. Es steht außer Zweifel, daß sich die deutsche Wissenschaft weiterhin der Aufgabe stellen muß, deutsche Geschichte im Osten Europas zu erforschen und lebendig zu bewahren, weil sonst deutsche Geschichte überhaupt fragmentarisch bliebe und in Zukunft deutsche
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Zum Geleit
Kompetenz im Dialog mit den Wissenschaften Ostmitteleuropas verloren ginge. Darüber hinaus aber muß der Versuch gemacht werden, zu einem allgemeineren sozialgeschichtlichen und anthropologischen Verständnis von Nachbarschaft und Spannungsverhältnissen im ostmitteleuropäischen Raum zu gelangen. In jüngerer Zeit haben die historischen Wissenschaften nicht ohne Grund die nationalgeschichtliche Perspektive des Historismus wenn nicht aufgegeben, so doch eingeschränkt und relativiert. In den Vordergrund getreten sind Fragestellungen, welche die Geschichte und Struktur des menschlichen Zusammenlebens überhaupt betreffen. Dazu hat sicher wesentlich beigetragen, daß in Europa nationale und ideologische Konfrontationen, die gerade hier eine besondere Rolle spielten, an Gewicht verloren haben und dennoch härteste Konfrontationen ethnischer Art und Erscheinungen sozialer Desintegration mit Wanderungsbewegungen und hohen Kriminalitätsraten ihren Fortgang nehmen, während andererseits ein politischer und gesellschaftlicher Wille zu fortschreitender Integration und Konfliktkontrolle im internationalen Maßstab unverkennbar ist. Vor dem Hintergrund eines solchen Szenariums stellen sich sowohl an Historiker wie an Sozialwissenschaftler verwandte Fragen nach den Bedingungen und Möglichkeiten der menschlichen Existenz. Denn die modernen wie auch die historisch verifizierbaren, durchaus verwandten Probleme können nicht weiterhin allein auf historische Zufälligkeit, auf konfessionelle Konfrontation, auf die Epoche der Nationalstaatsbildung, auf totalitäre Ideologien usw. zurückgeführt werden. Mit dem vorliegenden Band werden die ersten Schritte auf dem nunmehr ins Auge gefaßten Wege des Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrates dokumentiert. Sie sind maßgeblich von Hartmut Boockmann vorbereitet worden. Seinem Andenken sei dieses Buch gewidmet.
Für den Johann Gottfried Herder-Forschungsrat: Dietmar Willoweit
Einführung In seinem „Memorandum zur zukünftigen Arbeit des Johann-Gottfried-HerderForschungsrates" von 1997 hat Dietmar Willoweit Perspektiven einer erweiterten „Beziehungsforschung" zwischen den Deutschen und ihren ostmitteleuropäischen Nachbarvölkern entwickelt, deren Grundzüge im vorstehenden Geleitwort wieder aufgenommen werden. Von seinen Überlegungen ausgehend haben Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat und Herder-Institut in den Jahren 1997 und 1998 in Marburg zwei Tagungen unter dem Gesamtthema „Kulturtransfer und Wanderungen im östlichen Mitteleuropa" durchgeführt1. Dabei haben Wissenschaftler aus Polen, Litauen, Slowenien, Österreich, Frankreich und Deutschland insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen den einzelnen Nationen und den sie umgebenden Nachbarschaftsvölkern einschließlich der damit verbundenen Konfliktfelder und der Integrationsproblematik thematisiert. In einem offenen, interdisziplinären Ansatz haben sie nicht nur Einzel- oder Massenwanderungen von Personen und Gruppen analysiert, sondern auch die den Kulturtransfer und Kulturaustausch charakterisierende „Wanderung" von bildender Kunst, Architektur, Literatur und Musik einschließlich der Geschichte ihrer Rezeption in den Aufnahmeländern behandelt. Dabei erstreckte sich der zeitliche Rahmen generell von der mittelalterlichen Kolonisationsbewegung bis ins 20. Jahrhundert. Wegen der zeidich begrenzten Möglichkeiten mußten allerdings bestimmte Themenbereiche ausgeklammert werden, darunter zum einen eine eingehendere Behandlung von Reformation und Aufklärung, zum anderen die Problematik der Zwangswanderungen in Form von Flucht, Vertreibung oder Deportationen, wie sie besonders im Gefolge der beiden Weltkriege in Erscheinung treten, - Themenkreise also, die einer gesonderten, ausführlicheren Behandlung bedurft hätten. Zum Auftakt der ersten, dem Zeitraum des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gewidmeten Tagung hielt der eigentliche Spiritus rector der Gesamtthematik, Hartmut Boockmann, ein in seinen wesentlichen Aussagen auch für die Folgetagung grundlegendes Einführungsreferat mit einer Standortbestimmung der behandelten Thematik im Rahmen der Ostmitteleuropaforschung, das wir als besonderes Vermächtnis des inzwischen verstorbenen Vorstandsmitglieds des Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrates an den Anfang dieses Bandes stellen, der seinem Gedenken gewidmet ist. Die Abschlußdiskussion der ersten Tagung erwies nicht nur eindrucksvoll die Tragfähigkeit sozialwissenschaftlicher Ansätze der modernen Migrationsforschung einschließlich der drei bekanntesten Erklärungsmodelle wie der „Push1
„Wanderungen und Kulturaustausch im nördlichen Ostmitteleuropa im 15. und 16. Jahrhundert", Marburg 8. bis 10. Oktober 1997; „Kulturtransfer und Wanderungen im 19. und 20. Jahrhundert im östlichen Mitteleuropa", Marburg 8. bis 9. Oktober 1998.
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Einfihrung
and-Pull-Faktoren", der „Zentrum-Peripherie-Strukturen" und des „Kettenmigrationsmodells" auch für frühere Epochen. Es wurden ebenso Forschungsdesiderata bezeichnet wie eine gründlichere Untersuchung zeitspezifischer Wahrnehmungen des Eigenen und des Fremden oder Probleme der Terminologie, wobei nicht zuletzt eine stärkere Orientierung an der Begrifflichkeit der Quellen und der Verzicht auf monokausale Erklärungen gefordert wurden. Es wurde vereinbart, auf der zweiten Tagung die Wechselwirkung von Wanderung und Kulturaustausch stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Leider konnten nicht alle Referate zum Abdruck gewonnen werden; ein Beitrag ist inzwischen in leicht veränderter Form an anderer Stelle erschienen2. Die Gliederung im vorliegenden Band versucht dem Anliegen beider Tagungen gerecht zu werden und gleichsam „Sachgebiete" zu markieren. Daher mußte die chronologische Abfolge, wie sie auf den Tagungen ursprünglich vorgenommen worden war, teilweise aufgehoben werden. Dabei ergaben sich generell die thematischen Blöcke „Migration von Menschen", „Kulturtransfer und Kulturaustausch in unterschiedlichen Bereichen" sowie speziell „Sprache, Literatur und Musik", wobei manche Beiträge naturgemäß nicht nur einem einzigen thematischen Bereich zuzuordnen sind, sondern einen übergreifenden Charakter aufweisen. So wird beispielsweise zu Anfang nach der Beschreibung der Kolonisationsströmungen im polnisch-reußischen Grenzgebiet als einer Region wechselnder staatlicher Zugehörigkeit und unterschiedlicher ethnischer Zusammensetzung das für „Zwischeneuropa" eigentümliche Spektrum religiösen Lebens hinsichtlich seiner Verschmelzung und Durchdringung anhand von Ordensneugründungen behandelt - also weniger die Wanderung von Personen als vielmehr die Übertragung von Institutionen im Sinne von Innovationen. Vergleichbares gilt für die Bereiche des Handels und des Bildungswesens. Einen wesentlichen Bestandteil der „Migration von Menschen" bildete jahrhundertelang die jüdische Migration als eine Wanderbewegung sui generis in ihrem allmählichen Entwicklungsprozeß infolge positiver und negativer Wirkungsfaktoren. „Kulturtransfer und Kulturaustausch" werden insbesondere am Beispiel der Metropolen Lemberg, Wilna und Lodz als Zentren der kulturellen Berührung behandelt, können diese doch in ihrer Eigenschaft als Brennpunkte kultureller Kontaktzonen als Spiegel wesentlicher Integrationsprobleme der ostmitteleuropäischen Länder gelten. Sie eignen sich in besonderer Weise zur Erforschung der kulturellen Beziehungen in ihrer Rezeption und wechselseitigen Durchdringung in Konkurrenz und Auseinandersetzung. In diesen Teilzusammenhang gehören aber ebenso der Technologietransfer wie auch Entstehung, Ausbreitung und Wandel des ius commune als zwei ursprünglich heterogene 2
KAROL SAUERLAND: Deutsch-polnische Symbiosen? Samuel Gottlieb Linde, Tadeusz Zieliüski, Elida Maria Szarota, Ludwig Zimmerer, in: MATTHIAS WEBER (Hg.), Deutschlands Osten - Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde. Frankfurt am Main 2001 (Mitteleuropa - Osteuropa, 2), S. 195-206.
Einführung
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Bereiche, deren Verbindung in ihrer jeweiligen Rolle als ein Beispiel für die sogenannte Modernisierung aufgefaßt werden kann. Auf der zweiten Tagung erfolgte eine räumliche Ausweitung der Thematik über das Habsburgerreich bis in die südslawischen Länder hinein. Der kulturelle Austausch wird gerade auch am Beispiel der Musik behandelt, wobei hier besonders Breite und Vielfalt des Kulturtransfers zum Ausdruck kommen. Der Herausgeber hofft, mit den Beiträgen dieses Bandes einen Anstoß zu weiterer wissenschaftlicher Beschäftigung mit einer Thematik zu geben, die nur in grenzüberschreitendem und interdisziplinärem Diskurs erfolgen kann, wenn sie denn frühere nationalgeschichtlich verengte Perspektiven durch anthropologische und strukturelle Fragestellungen des Zusammenlebens verschiedener Ethnien im ostmittel- und südosteuropäischen Raum überwinden oder zumindest modifizieren helfen will.
Hans-Werner Rautenberg (Marburg)
Wanderungen und Kulturaustausch im östlichen Mitteleuropa im 15. und 16. Jahrhundert Hartmut Boockmann f
Wer wissenschaftliche Tagungen veranstaltet und verhindern möchte, daß die einzelnen Vorträge und Diskussionen auseinanderfließen, tut gut daran, einen Zuhörer damit zu beauftragen, am Ende eine Zusammenfassung zu geben. Das ist mühevoll, aber es läßt sich machen. Meine Aufgabe ist von ähnlicher Art. Ich soll Verbindungen zwischen den Vorträgen knüpfen, die wir morgen und übermorgen hören werden. Doch soll ich das nicht am Ende tun, sondern am Anfang. Man könnte das so zu organisieren versuchen, daß man die Redner um die frühzeitige Einlieferung ihrer Manuskripte bittet, doch das führt selten zu einem Erfolg, und es ist ja vielleicht auch gar nicht wünschenswert, daß bei einer Tagung vorgetragen wird, was schon Wochen vorher zu Papier gebracht worden ist. Mir liegen also die Referate, die wir morgen und übermorgen hören werden, nicht vor. Doch wie kann ich mich unter diesen Umständen meiner Aufgabe entledigen? Eine Möglichkeit eröffnet Jean Paul in seiner Novelle über „Das Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal" aus dem Jahre 1790. Man liest hier, der titelgebende Held habe sich eine ganze Bibliothek nicht etwa durch den Kauf von Büchern geschaffen - dafür war er zu arm - , sondern vielmehr so, daß er diese Bücher, sobald er ihre Ankündigung im Katalog der Messe-Neuheiten, den er als einziges Buch zu kaufen pflegte, gelesen hatte, selbst schrieb: Werthers Leiden, Die Räuber, Die Kritik der reinen Vernunft oder was immer ihm angesichts der Titelformulierung lesenswert erschien. Wollte ich diesem Vorbild folgen, so wäre mein Messekatalog das Tagungsprogramm mit den Namen der Vortragenden und ihren Themen. Und im einen oder anderen Falle, nämlich dort, wo mir die Materien halbwegs bekannt sind und ich die Vortragenden zu kennen glaube, könnte ich immerhin versuchen, nun die Zusammenfassung eines Vortrags zu liefern, von dem ich vermute, daß wir ihn morgen oder übermorgen hören werden. Wo diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, müßte ich das Verfahren des Schulmeisters Wuz ganz unmittelbar kopieren. Jean Paul schreibt zum Beispiel von dessen Reisebeschreibungen: „Denn da dieser Enzyklopädist nie das Innere Afrikas oder nur einen spanischen Mauleselstall betreten oder die Einwohner von beiden gesprochen hatte: So hat' er desto mehr Zeit und Fähigkeit, von beiden und allen Ländern reichhaltige Reisebeschreibungen zu liefern ...".
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Hartmut Boockmann
Im einen Falle würde ich auf diesem Wege in die Nähe der heute - jedenfalls in einigen Naturwissenschaften - so aktuellen gelehrten Fälschungen geraten. Oder aber ich käme zur Wissenschaftsparodie, was reizvoll sein könnte. Doch ist Parodie vermutlich nicht das, was Sie heute abend erwarten, und vielleicht müßte man auch die wissenschaftspolitische Situation als zu ernst ansehen, als daß man sich an Parodien erheitern dürfte. Damit bin ich fast schon bei dem, was ich nach diesem einleitenden Divertimento vortragen möchte. Denn von der gegenwärtigen wissenschaftspolitischen Situation, von deren Vorgeschichte und von der Zukunft sollte angesichts unseres Themas die Rede sein. Ich werde mich diesen wissenschaftspolitischen Implikationen im dritten Teil meines Vortrags zuwenden. Im zweiten Teil werde ich über einige wissenschaftsgeschichtliche Sachverhalte sprechen. Davor, also an erster Stelle, soll es aber um das Thema gehen - wenn auch nicht nach der Methode des Schulmeisters Wuz. Ich will vielmehr auszugsweise skizzieren, was diejenigen geleitet hat, die für das Tagungsprogramm verantwortlich sind, was sie sich von den Themen und den Vortragenden versprechen.
1. Ich beginne mit der geographischen Bestimmung unserer Tagungsthemen, die sich auf das nördliche Ostmitteleuropa beziehen. Das ist zunächst eine pragmatische Abgrenzung. Ostmitteleuropa ist das Arbeitsgebiet von Herder-Forschungsrat und Herder-Institut. Dabei stehen die nördlicheren Teile im Vordergrund. Auch das hat pragmatische Gründe, darunter vor allem den, daß in Deutschland nicht nur für die Südosteuropa-Forschung eigene Institutionen zur Verfügung stehen, sondern auch für die Erforschung Böhmens und Mährens. Gleichwohl wird, so hoffe ich, hier auch die Geschichte Böhmens zur Sprache kommen, und wenn sich unsere Planung wunschgemäß hätte verwirklichen lassen, so hätten Sie von einer Prager Referentin einen Vortrag über die Geschichte der böhmischen Brüder hören können. Wenn ich eben vom Pragmatismus der geographischen Abgrenzung unserer Themen gesprochen und auf das Arbeitsfeld von Herder-Forschungsrat und Herder-Institut verwiesen habe, so könnte das die Frage nach den Gründen für diese Abgrenzung der Arbeitsfelder nach sich ziehen. Eine Antwort auf diese Frage dürfte sich mit der bald fünfzigjährigen Geschichte dieser beiden Institutionen nicht begnügen. Sie müßte nach deren Vorläufern fragen und nach den geschichtlichen Umständen, unter denen die Begriffe Mitteleuropa und östliches Mitteleuropa in Gebrauch gekommen sind. Das läßt sich hier nicht einmal andeuten, doch wird im zweiten, historiographischen Teil dieser Skizze beiläufig davon die Rede sein müssen. An dieser Stelle ließe sich immerhin zweierlei sagen. Es wäre erstens darauf zu verweisen, daß in diesem Zusammenhang im höheren Grade, als das in der deutschen Historiographie der Nachkriegszeit die Regel war, die geographischen
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Fundamente von Geschichte reflektiert werden, daß viel über historische Räume nachgedacht wird. Daß solche Überlegungen in der deutschen Nachkriegshistoriographie eine geringere Rolle gespielt haben, ja in den Augen vieler obsolet, wenn nicht verdächtig waren, hat Gründe, die offensichtlich sind. Angesichts der deutschen Tradition des geopolitischen Denkens und der Rolle, die Geopolitik bei der Zerstörung der Nachkriegsordnung von 1918 und der nationalsozialistischen Politik gespielt hat, empfahl es sich in Deutschland nicht, hier fortzufahren, als sei nichts geschehen, und so ist denn auch, was den größeren Teil der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft angeht, nicht fortgefahren worden. Im Gegenteil: Die Verwendung des Wortes Raum als eines historischen Begriffs hatte und hat geradezu etwas Anrüchiges. Wer von Deutschlands Mittellage zu sprechen wagte, den traf ein Bannstrahl aus Bielefeld, der ihn als gefährlichen Mystagogen kennzeichnete. Hier ließe sich der Wandel von einer Einsicht zu einem die Erkenntnis hemmenden Tabu studieren, der Weg auch von der gebotenen Verarbeitung der eigenen Vergangenheit zur Provinzialität. Denn auf die Dauer darf die deutsche Geschichtswissenschaft ja doch wohl nicht - unausgesprochen, vielleicht auch unbewußt - meinen, alle in der Welt irrten sich, wenn sie die geographischen Bedingtheiten und Implikationen von Geschichte bedenken, während nur die deutschen Historiker mit ihrer Ablehnung von alledem über den Schlüssel der Wahrheit verfügten. Das wäre der eine Sachverhalt, der hier, bei einer Tagung über historische Räume, zu bedenken wäre. Doch wäre dem zweitens gleich anzufügen, daß sich gerade bei der Untersuchung der Geschichte der hier interessierenden Gebiete und Länder offensichtlich auf die Kategorie historischer Raum nicht verzichten läßt. Es ließe sich zum Beispiel nicht ohne Erkenntnisverluste verkennen, daß durch die hochmittelalterliche Ostsiedlung ein Gebiet strukturiert worden ist, das sich künftig nicht nur durch die so geschaffenen Siedlungsstrukturen von anderen Regionen unterschied, sondern zu der Frage nötigte und nötigt, ob und in welcher Hinsicht es sich auch durch andere Strukturmerkmale von seiner Nachbarschaft unterschied und unterscheidet. Ich formuliere das so vorsichtig wie möglich, denn sobald man sich, und damit bin ich wieder beim ersten Punkt, an einer Definition versucht, gerät man unvermeidlich in den Schatten der Vergangenheit. Zitate drängen sich auf, in denen historische Räume als so etwas wie objektive Gegebenheiten oder sogar die primären Ursachen aller Geschichte erscheinen - und das Pathos, mit dem diese vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten aufs Papier gebracht wurden, erschreckt. Im Vorgriff auf den eben schon erwähnten historiographischen Teil dieser Skizze will ich das an dieser Stelle mit einem Zitat illustrieren: „In ununterbrochener Folge waren nomadische Awaren, Madyaren, Petschenegen, Kumanen und Tataren während des Mittelalters durch die Kaspische Pforte und die südrussische Steppe einhergebraust. Bald darauf hatten sich die osmanischen Türken
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Hartmut Boockmann
von Kleinasien her über den Balkan bis vor die Tore Wiens gewälzt. Auch führten die Russen erste verheerende Vorstöße ins Baltikum". So formulierte Hermann Aubin 1952 programmatisch für Herder-Forschungsrat, Herder-Institut und die Zeitschrift für Ostforschung in deren erstem Heft unter der Überschrift „An einem neuen Anfang der Ostforschung". Wollen wir nun abermals an einem neuen Anfang der Ostforschung stehen? Das wollen wir nicht, aber die Frage nach dem östlichen Mitteleuropa muß trotzdem gestellt werden. Doch wie soll man sie heute stellen? Das habe ich indirekt und mit einem Beispiel schon gesagt, indem ich von der strukturierenden Wirkung von Ostsiedlung und davon sprach, daß man danach fragen müsse, ob und wo man in dieser Region weitere gemeinsame Strukturen findet - oder auch, so füge ich jetzt hinzu, das Gegenteil davon, also Unterschiede. Abstrakt gesprochen heißt das: Wir müssen empirisch fragen, wir dürfen Ereignisse nicht vorwegnehmen oder gar wünschen. Vielleicht könnte ich sagen, wir müssen so fragen, wie das morgen und übermorgen geschehen wird. Sojedenfalls ist unser Programm gemeint, und ich würde mich freuen, wenn es sich in diesem Sinne bewähren würde, wenn sich herausstellte, daß wir auf dem richtigen Wege sind, wenn wir, wie es geboten ist, mit einem siedlungsgeschichtlichen Vortrag (Janeczek) beginnen, uns jedoch nicht auf die Siedlungsgeschichte beschränken. Als in den Jahren 1970 und 1972 auf einer wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswerten Tagung über die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte über diese Probleme diskutiert wurde, gaben die Einleitung parallel ein deutscher und ein tschechischer Historiker. Das mochte damals noch angebracht erscheinen, obwohl sich gerade auf dieser Tagung sehr deutlich zeigte, daß von den traditionellen nationalhistorischen Antagonismen nicht mehr die Rede sein konnte. Heute wäre es geradezu absurd, wenn man meinte, dem Vortrag eines polnischen Kenners der Siedlungsgeschichte müsse der eines deutschen Spezialisten folgen, damit die Sache rund und ausgeglichen sei. Wir dagegen lassen, wie Sie dem Programm entnehmen, etwas anderes folgen, nämlich einen Vortrag über jüdische Migrationen (Frau Petersen) in dem hier interessierenden Gebiet und im 15. und 16. Jahrhundert. Soll man sagen, das Thema sei in jenen eben erwähnten Tagungen nicht behandelt worden, weil man noch so stark unter dem Eindruck der herkömmlichen deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Kontroversen stand? Das wäre vermutlich eine zu spitze Interpretation. Doch darf man umgekehrt wohl feststellen, daß die heutige Nichtexistenz dieser traditionellen historiographischen Gegensätze den Blick auf jene Gruppen erlaubt, die bei diesen Kontroversen aus dem Blick geraten sind. So dürfen wir hoffen, daß schon die Kombination dieser beiden ersten Vorträge das herkömmliche Bild wirklichkeitsnäher machen wird. In einem zweiten Block wird es nicht um Migrationen von Personen gehen, sondern um Formen kirchlichen Lebens, um die Ausbreitung von Orden (Rüther), und es hätte, wie schon erwähnt, in einem Vortrag über die böhmischen Brüder auch um die Migration von Glaubenslehren und von deren Vertretern
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gehen sollen. Man könnte auch sagen, wir ließen auf einen siedlungs- einen kirchengeschichtlichen Tagungsteil folgen. Ganz abgesehen davon, daß dieses kirchengeschichtliche Programm nun nur zur Hälfte verwirklicht werden kann, liegt die Frage nahe, ob wir nicht Flickwerk bieten, wenn von der Reformation nicht eigens die Rede ist, obwohl es doch um das 15. und 16. Jahrhundert gehen soll. Oder wollen wir die Reformation verleugnen, indem wir vom 15. und vom 16. Jahrhundert reden, als läge zwischen diesen beiden Jahrhunderten nicht eine Epochengrenze von allererster Ordnung? Dazu wäre zunächst zu sagen, daß wir um die Reformation nicht gerade einen Bogen machen wollen, aber doch meinten, diese solle besser Gegenstand eines eigenen Tagimgsprogramms sein, und das ist sie ja in den letzten Jahren auch wiederholt gewesen. Ganz ähnlich steht es mit dem Humanismus, um den wir gleichfalls einen Bogen zu machen scheinen. Tatsächlich ist jedoch das eine wie das andere vor allem deshalb nicht der Fall, weil unser Generalthema ja beide Jahrhunderte umfaßt, das letzte mittelalterliche und das erste neuzeitliche. Diese zeitliche Definition bedarf, so möchte ich meinen, eines eigenen Kommentars, und den schiebe ich nun ein, bevor ich zu den anderen Themen unseres Programms komme. Im marxistischen Geschichtsschema wäre die Kombination von 15. und 16. Jahrhundert, jedenfalls was dessen Programm anging, nicht weiter auffällig gewesen, da die Grenze zwischen den großen Formationen, zwischen Feudalismus und Kapitalismus, ja nicht dort angesetzt wurde, wo die traditionelle Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit verläuft. In der Forschungspraxis wurde diese Grenzlinie trotzdem beachtet, so daß unserer Kombination von 15. und 16. Jahrhundert auch in dieser Perspektive etwas Innovatives anhaften könnte. Ist das der Fall? Am ehesten vielleicht insofern, als unserer zeitlichen Bestimmung des Tagungsthemas - jedenfalls in meinen Augen - die grundsätzliche Annahme zugrunde liegt, daß Epochenscheiden und Zeitalterbestimmungen Hilfsmittel der Erkenntnis sind, heuristische Instrumente, deren man sich bedienen sollte, daß sie dagegen nicht vorgegebene Teile der Vergangenheit darstellen, die der Historiker entdecken muß. Epochengrenzen und Zeitalter sind vielmehr ausschließlich sein Werk. Das gilt auch für die Grenzlinie zwischen 15. und 16. Jahrhundert, zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wenn wir in unseren Gesprächen diese Grenzlinie erster Ordnung probeweise zur Diskussion zu stellen oder gar gegenstandslos zu machen versuchen, so hat das nicht den Grund, daß jene Ereignisse, die es nahelegen, zwischen spätem Mittelalter und früher Neuzeit um 1500 eine andere Grenzlinie zu ziehen als die Reformation, doch ihre Vorgeschichte im 15. Jahrhundert hatten. Das war eine der festesten Überzeugungen des 19. Jahrhunderts - einer Geschichtswissenschaft, die historische Verläufe nach biologischem Muster konstruierte und Vor- und Frühstufen von Blüte, Vollendung und Verfall unterscheiden zu können meinte. Das marxistische Geschichtssystem hat diese Scheidungen am entschlossensten vorgenommen, aber es war damit - wie auch sonst doch nur ein Beispiel für das, was im 19. Jahrhundert üblich gewesen ist.
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In der Perspektive des 19. Jahrhunderts waren Kirchenreformer Reformatoren vor der Reformation, gerieten Abweichungen von kirchlichen Normen zu vorreformatorischen Mißständen, die nach Reformation schrien und zur Reformation denn auch mit vermeintlicher Notwendigkeit führten. Heute, so kann man unsere Einsichten in Kirchlichkeit und Frömmigkeit des 15. Jahrhunderts zusammenfassen, sehen wir, daß die beiden hier interessierenden Jahrhunderte Zeiten der Kirchenreform waren, daß weder in Deutschland noch gar außerhalb des Reichs mit dem Auftreten Luthers ohne weiteres ein neues Zeitalter begann. Die Entstehung der Konfessionen und ihres Auseinandertretens war ein längerfristiger und keineswegs zielgerichteter Prozeß. So darf man auch nicht erwarten, daß man in der Bildungsgeschichte oder gar in der Siedlungs- oder gar in der Wirtschaftsgeschichte um 1500 einen tiefen Einschnitt vorfindet. Die Frage aber, wo denn hier im einzelnen die Einschnitte liegen und welche Tiefe sie haben, wird, so darf man hoffen, auch zu einer besseren Einsicht in jenen Prozeß führen, den man Reformation nennt, und sie wird, soweit es um geistesund kunstgeschichtliche Phänomene geht, auch unseren Blick auf Humanismus und Renaissance aus der einseitig genetischen Perspektive des 19. Jahrhunderts zu lösen helfen. Das ist nicht zuletzt von wirtschafts- und handelsgeschichtlichen Untersuchungen zu hoffen, die der Gegenstand des nächsten Vortrages sein werden (Stromer von Reichenbach). Gewiß wird es bei diesem Thema nicht in erster Linie um solche Verbindungen gehen, sondern zunächst um die Bloßlegung elementarer Sachverhalte. Gerade im Zusammenhang dieses Themas wird sich, so möchte ich vermuten, ferner die Frage diskutieren lassen, ob der historische Raum, der durch Siedlungsstrukturen definiert ist, mit dem identisch ist, der sich durch Handelsströme bestimmen läßt. Die Frage insbesondere, ob die Rede vom östlichen Mitteleuropa nicht die Verbindungslinien zu den skandinavischen Ländern kappt, wird sich vielleicht gerade bei diesem Thema stellen. Sie muß, so scheint mir, auch sonst beachtet werden. Dennoch fände ich es reizvoll, wenn die im Zusammenhang der italienischen Renaissance so viel diskutierte Frage nach dem Zusammenhang von Wirtschaftskonjunktur und Handelsgewinn auf der einen Seite und Kunstblüte und Mäzenatentum auf der anderen von uns aufgenommen werden könnte. Vielleicht darf man auch daran denken, daß in den Fässern auf den Frachtwagen der Kaufleute nicht nur Wachs und Pelze verstaut wurden, sondern auch Bücher oder jedenfalls doch bedrucktes Papier, das am Bestimmungsort zu Büchern gebunden wurde. Die in den Kirchen überlieferten Gemälde dagegen und die Portraits, die wir aus dem 16. Jahrhundert besitzen, dürften in der Regel nicht von Kaufleuten transportiert worden sein. Hier haben wir es doch wohl meistens mit Wanderungen nicht der Werke zu tun, sondern der Meister. Doch was bestimmte deren Weg? Das hing auch von dem Verhältnis ab, in dem Angebot und Nachfrage zueinander standen, das jedoch, so scheint mir, angesichts der problematischen Überlieferung meistens nur schwer zu bestimmen ist. Doch selbst wenn hier Gewißheit herrschte, wäre damit noch nicht allzuviel gewonnen. Woran orientierten sich die Auftraggeber der Maler? Folgten sie sachkundigen Beratern,
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richteten sie sich nach einer Mode, womöglich nach dem, was der Nachbar hatte? Ging es um die Repräsentation von Macht und Ansehen? Oder dürfen wir gar mit Kennerschaft rechnen? Das sind schwierige Fragen, doch zeigen sie, daß jedes Bild aus älterer Zeit zur Quelle des Historikers werden kann und der Historiker sich fundamentale Einsichten verstellt, wenn er Kunstwerke ausschließlich für Gegenstände einer anderen Disziplin ansieht. Oder sollte es selbstverständlich sein, daß in einem Zusammenhang wie dem unseren nach Kunstwerken gefragt wird? Antworten freilich erhält man nur, wenn man Kunsthistoriker findet, die bereit sind, Historikern zu helfen, doch das ist heute erfreulicherweise gar nicht so selten der Fall. Professor Adam Labuda hat sich schon in vielen Publikationen als ein Gelehrter erwiesen, dessen Arbeiten den Historiker interessieren müssen. Die heutige Kunstwissenschaft ist so vielfältig interessiert, daß auch die besonderen Historikerfragen nach dem sozialen Status des Künstlers und dann nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht aus dem Fach hinausführen. Auf der anderen Seite sollte der Historiker aber nicht nur solche Fragen stellen. Er sollte sich auch für klassische kunsthistorische Probleme interessieren, nicht zuletzt für den Wandel von Stil und Form. Wenn er danach fragt, wie Wirklichkeit in der Vergangenheit wahrgenommen wurde, ist er, recht betrachtet, von einer klassischen Kunsthistorikerfrage nicht eben weit entfernt. Nicht anders steht es bei dem folgenden Thema. Die Rezeption der niederländischen Architektur im Danzig des späteren 16. und des frühen 17. Jahrhunderts (Bartetzky) ist nur scheinbar ein ausschließliches Kunsthistoriker-Problem, sondern tatsächlich auch eine genuine Historikerfrage, beantwortbar freilich nur mit Hilfe der Kunstgeschichte. Diese Hilfe aber könnte, so darf man hoffen, im Dialog der Disziplinen über das spezielle kunsthistorische Problem hinausführen, da es ja offensichtlich nicht nur die Baukunst war, die die Danziger damals in die Niederlande blicken ließ. Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen? Folgten die Architekten den Händlern? Und warum folgten sie diesen Händlern und nicht jenen, die Danzig mit anderen Regionen verbanden? Solche Fragen müßten auch an Studenten und Gelehrte gestellt werden, und sie sind in den letzten Jahren vielfach gestellt worden. Die Universitätsgeschichte hat Konjunktur, nicht zuletzt, weil Universitäten ihre Jubiläen feiern. Aber wir haben nicht nur diese - meist nicht nur jubilierende - Literatur. Auch die Matrikeln der Universitäten sind seit geraumer Zeit als sozialgeschichtliche Quellen hohen Ranges geradezu entdeckt worden, und entdeckt wurden auch Studenten und Universitäten als Indikatoren von Entwicklungsstadien. Peter Moraw hat verschiedentlich versucht, Regionen nach ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung zu unterscheiden, und das Studium und die Universitäten haben ihm dabei als brauchbare Unterscheidungsmerkmale gedient, gerade auch für unser Untersuchungsgebiet. So bietet das Thema von Professor Zenon Nowak weit mehr als nur bildungsgeschichtliche Erkenntnismöglichkeiten. Auch dieses
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Thema führt uns ins Zentrum dessen, was uns während dieser Tagung interessieren soll. Das gleiche gilt auf andere Art für den Gegenstand, den Professor Klaus Garber behandeln wird. Es geht bei seinen Forschungen um das, was man vor aller Geistesgeschichte hätte klären müssen und doch nicht geklärt hat. Geistesgeschichte ist lange Zeit als eine Art von Gedankengeschichte praktiziert worden, die wenig danach fragte, auf welchem Wege die Gedanken von einem Kopf zum anderen wanderten. Gewiß waren die Beziehungen von Schülern und Lehrern immer interessant gewesen und man verfolgte, wo man konnte, die künftigen Geistesgrößen auf ihrem Bildungsweg. Aber die umfassende und gleichsam empirische Frage nach den Strukturen und Voraussetzungen der Kommunikation, nach den Wegen der geschriebenen und gedruckten Worte, war das nicht. Solche Fragen werden erst heute systematisch gestellt, wobei aber in unserem Untersuchungsgebiet besondere Schwierigkeiten hinzukommen. Fragt man nach Büchern des 15. und 16. Jahrhunderts in Basel, so hat man es gewiß mit schwierigen Problemen zu tun, aber darf doch damit rechnen, daß die Bestände, die dort um 1600 vorhanden waren, auch heute zur Hand sind. In unserem Gebiet dagegen hat man es mit einer nicht erst in unserem Jahrhundert von Zerstörungen geprägten Bücherlandschaft zu tun und am Ende nicht nur mit Problemen der Heuristik, sondern auch von Politik und Völkerrecht, und das nicht nur im bekannten Streit zwischen Deutschland und Rußland um Kriegsbeute, sondern auch im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen. Um Bücher geht es auch im nächsten Referat, doch wird es in diesem Falle, da hier eine spezielle Gruppe von Büchern interessieren soll, Handschriften des Magdeburger Rechts in weißrussischer Sprache, in höherem Maße als bei dem allgemeineren Thema auch um die Funktion von Büchern und ihren Inhalt gehen können. Zugleich leitet dieses Vortragsthema zum Anfang unserer Tagung zurück. Denn das magdeburgische Recht ist ja das wichtigste jener Rechte, das die Ostsiedlung in unser Untersuchungsgebiet gebracht hat. In den älteren Diskussionen, in denen es stets auch oder sogar vorrangig um nationalgeschichtliche Wertungen ging, galt das Magdeburger Recht als Indikator von Deutschtum. Man weiß seit langem, daß der Rechtswandel, der die Folge der Ostsiedlung war, zunächst funktional verstanden werden muß. Das neue Recht war besser geeignet, den jetzigen Siedlungsverhältnissen zu dienen als das herkömmliche. Wer es verliehen bekam, war nicht notwendigerweise ein Zuwanderer und erst recht war er nicht in erster Linie ein Deutscher. Auf der anderen Seite bürgerte sich gerade im Ostsiedlungsgebiet für die Zuwanderer die Bezeichnung Deutsche ein, und als Generalbegriff für die neuen Rechte kam es zur Bezeichnung deutsches Recht. Assimilation der einheimischen Bevölkerung zu den Zuwanderern hin konnte durch die Bewidmung mit Neusiedlerrecht befördert werden, doch die notwendige Folge einer solchen Bewidmung war das nicht, und das um so weniger, als das neue Recht ja in die einheimische Sprache übersetzt werden konnte. Ich bin damit beim Thema des Vortrags von Frau Jolanta Karpaviöiene, der demzufolge sowohl siedlungs- wie rechts- und kulturgeschichtliche Aufschlüsse erhoffen läßt.
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Was sich von dem letzten Beitrag erhoffen läßt, kann ich selbst nur andeutungsweise sagen, weil wir zu diesem abschließenden Vortrag einen Historiker gebeten haben, dessen Arbeitsgebiete in der Hauptsache nicht im 15. und 16. Jahrhundert angesiedelt sind, sondern später, und dessen besonderes Arbeitsthema die modernen Migrationen sind. Ob wir es da tatsächlich mit gänzlich anders strukturierten Prozessen zu tun haben als in älteren Jahrhunderten, steht dahin. Daß das Erscheinungsbild moderner Migrationsvorgänge ein anderes ist als das von derartigen Hergängen in älterer Zeit, liegt auf der Hand. Und noch sichtbarer springt in die Augen, daß man dank dem Reichtum an zeitgeschichtlicher Überlieferung Migrationsvorgänge des 20. Jahrhunderts ganz anders untersuchen kann als solche in der frühen Neuzeit oder gar im Mittelalter. Doch heißt das, so schien uns bei der Planung unserer Tagung, keineswegs, daß denjenigen, der sich mit dem Transfer von Menschen und Kulturgütern im 15. und 16. Jahrhundert beschäftigt, nicht interessieren sollte, was sich in der modernen Migrationsforschung ergeben hat, und vielleicht ist es ja auch für den zeitgeschichtlich interessierten Migrationsforscher interessant zu hören, was sich bei der Erforschung ähnlicher Vorgänge in älteren Jahrhunderten ergeben hat. Angesichts der Überlieferungslücken, mit denen man es bei der Erforschung der älteren Jahrhunderte stets zu tun hat, könnte es hilfreich sein, aus der Erforschung besser dokumentierter ähnlicher Gegenstände jüngerer Zeiten so etwas wie Modelle abzuleiten und danach zu fragen, ob diese Modelle dazu verhelfen könnten, das Dunkel der unzureichenden Überlieferung aufzuhellen. Doch diese Modelle kann nur derjenige bauen, der auf dem Felde der modernen Migrationsforschung selber tätig ist, und so erklärt sich unsere Einladung an einen Migrationsforscher, unsere Tagung aus seiner Sicht und aufgrund seiner besonderen Forschungserfahrungen zu kommentieren und abzuschließen (Beer).
2. Den angekündigten zweiten Abschnitt dieser einleitenden Bemerkungen kann ich kurz fassen, da von den forschungsgeschichtlichen Aspekten unseres Themas ja direkt und indirekt schon die Rede war. Ich habe Hermann Aubin mit einem programmatischen Satz von 1952 zitiert und hätte ähnlich lautende Sätze zitieren können: Aus den früheren Jahrzehnten unseres Jahrhunderts und aus den letzten Jahren des vorigen, und solche Sätze ließen sich nicht nur in deutscher Literatur finden, sondern auch in polnischer, tschechischer und in anderer. Nachdem im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die Siedlungs- und Nationalitätenverhältnisse, wie sie sich im Ergebnis der Ostsiedlung und der nachfolgenden Jahrhunderte ergeben haben, in der uns hier interessierenden Region zum Problem geworden waren, nachdem sich hier nun, um nur Beispiele zu nennen, preußische und deutsche Germanisierungspolitik auf der einen Seite und polnischer Selbstbehauptungswille kreuzten, nachdem in den baltischen Provinzen des russischen Reichs eine energische Russifizierungspolitik eingesetzt hatte, wurde die Vergangenheit als Arsenal für politische Argumente der Gegenwart entdeckt. Es kam
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zur Ausbildung jener gegeneinander gestellten Nationalhistoriographien, die ich an zwei oder drei Stellen bereits erwähnt habe. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen waren nicht dazu angetan, die Geschichtswissenschaft aus dem Dienst an der politischen Gegenwart zu entlassen im Gegenteil. Revisionsforderungen - nicht nur auf deutscher Seite - und das Bedürfnis, die neuen Grenzen historisch zu legitimieren, führten dazu, daß sich die Historiker ihrer politischen Gegenwart und ihren Zukunftshoffhungen nun erst recht verpflichtet fühlten. In Deutschland konnte das umso leichter geschehen, als der Kampf gegen die Grenzbestimmungen von Versailles, der Kampf insbesondere gegen die Abtretungen an den wiedererstandenen polnischen Staat, die Angehörigen aller politischen Gruppierungen einte. So bezeichnet das Jahr 1933 in dieser Hinsicht keinen bemerkenswerten Einschnitt in der deutschen Geschichte. Die der Revision der deutschen Grenzen und der Sache der Deutschen in den nichtdeutschen Staaten Ostmitteleuropas dienende Forschung brauchte ihre Ziele, Methoden und Organisationsformen nicht zu ändern. Damit soll nicht gesagt sein, daß in Deutschland schon vor 1933 nationalsozialistische Geschichtswissenschaft praktiziert worden sei. Nationalsozialismus als geistiges System zu definieren, fallt bekanntlich ohnehin schwer. Gewiß findet man Bücher und Aufsätze, in denen nun von Blut und Rasse die Rede war, doch handelte es sich auch nach 1933 dabei keineswegs um einen großen Anteil an dem, was publiziert wurde, und für die wissenschaftlich seriöse Literatur galt das erst recht. Doch ist zu fragen, ob hier von Seriosität überhaupt gesprochen werden darf. Muß nicht aus heutiger Situation höchst verhängnisvoll erscheinen, was damals als wissenschaftlich ernstzunehmen galt? Das ist gewiß der Fall, aber das heißt doch nicht, daß damit der Unterschied zwischen wissenschaftlich fundierter Literatur und Propandatext gegenstandslos wäre. Und es kommt noch etwas anderes hinzu. Es geht nicht nur um die einfache Forderung, anachronistische Maßstäbe zu vermeiden. Man hat es auch damit zu tun, daß die Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre, die uns im Hinblick auf ihre nationalpolitischen Intentionen und auch das, was wir aus der späteren Zeit wissen, so fatal vorkommt, methodisch als progressiv erscheinen kann. Wenn damals prononciert an die Stelle traditioneller Dynasten- und Staatengeschichte die Volksgeschichte gesetzt wurde, so berührt sich das nicht nur mit vielem, was wir heute für modern und angemessen halten, sondern es bestehen auch unmittelbare Beziehungen. Solche Historiker, die nach 1945 zu Lehrmeistern moderner Strukturgeschichte wurden, wie namentlich Otto Brunner und Werner Conze, haben in ihren Anfängen prononciert jene eben erwähnte Volksgeschichte gefordert und praktiziert. Auch deshalb konnte die Forschung über das östliche Mitteleuropa, wie sie in Westdeutschland nach 1945 neu etabliert wurde, so stark im Zeichen der Kontinuität stehen. Heute sieht man deutlich, was da zusammengefügt wurde: Heimat- und Landesforschung herkömmlicher Manier, die nun einen notdürftigen Hafen erhielt, prononciert nationalgeschichtliche Arbeit, die sich ganz im Sinne des traditionellen Kampfes gegen Versailles weiterhin zur politischen Dienstleistung
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bereit hielt und anbot, und dann eben jene Forschung, die schon vor 1945 modern gewesen und jetzt erst recht modern war. Wie sollte es auch anders sein? Die Bundesrepublik, die da aufgebaut wurde, war kein totalitärer Staat, der die Flüchtlinge und Vertriebenen gezwungen hätte, sich als Umsiedler zu verstehen und ihre Heimat zu vergessen. Die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge, die zu den großen Leistungen der westdeutschen Nachkriegsgeschichte gehört, war nicht nur eine Sache der materiellen Hilfen. Zu ihr gehörte auch, daß die geistigen und kulturellen Traditionen der Vertriebenen und der Vertreibungsgebiete gepflegt und gefördert wurden. In der Perspektive der Sowjetunion und der Staaten des Warschauer Pakts, insbesondere der DDR, die sich hier wie auch sonst als besonders systemhörig erwies, war dies alles nichts anderes als Revanchismus und Vorbereitung auf einen weiteren imperialistischen Krieg. In der DDR hörte die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte an Oder und Neiße auf, als hätte diese Grenze schon immer bestanden, und so war es mit den Grenzen innerhalb des Warschauer Pakts auch sonst. Daß es gleichwohl zu fruchtbaren Gesprächen zwischen deutschen und polnischen, zwischen deutschen und tschechischen Historikern kam, versteht sich nicht von selbst und sollte deshalb umso deutlicher in Erinnerung gerufen werden. Der Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der Sowjetunion ist als Ursache der gegenwärtigen Möglichkeiten gewiß nicht zu überschätzen, aber man sollte ihn doch nicht absolut setzen. Dem vertrauensvollen Gespräch der deutschen und der polnischen Historiker hat er kaum etwas hinzufügen können. Anders sah es schon in der Tschechoslowakei aus, und für die der Sowjetunion unterworfenen baltischen Republiken galt das erst recht, während eine ukrainische und weißrussische Geschichtswissenschaft vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht zur Kenntnis genommen werden konnte, weil es sie als solche ja auch nicht gab. Damit bin ich bei den gegenwärtigen Möglichkeiten, von denen in einem letzten Abschnitt noch kurz die Rede sein muß.
3. An dritter und letzter Stelle sollen, wie schon angekündigt, einige Bemerkungen zur aktuellen und das heißt notwendigerweise nicht zuletzt wissenschaftspolitischen Situation unserer Bemühungen stehen. Die eben zitierte Meinung, daß „Ostforschung" nichts anderes sei als ein Stück Kalter Krieg, war nicht nur eine Propagandaformel, die man jenseits der innerdeutschen Grenze und weiter östlich hören konnte. In mehr oder weniger abgemilderter Form gab es diese Meinung auch in der alten Bundesrepublik, was nicht ganz unverständlich ist angesichts der Kontinuitäten vom Kampf gegen Weimar bis zum Aufbau der Ostforschung nach 1945, von denen ich gesprochen habe. Doch haben sich diese Kontinuitäten im Laufe der vier Jahrzehnte alten Bundesrepublik, wie nicht verwunderlich, abgeschwächt. Der Generationswechsel hat dazu beigetragen, wachsende Einsichten taten ihr Werk, und auch der Gang der Politik war daran nicht unbeteiligt. In dem Maße, wie der Dialog über die Systemgrenze hinweg
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möglich wurde, schwächten sich die traditionellen, aus der ersten Nachkriegszeit stammenden Fronten ab. Die am östlichen Mitteleuropa orientierten Historiker standen also seit Ende 1989 keineswegs vor einer neuen Situation. Nur wurde nun, da die politischen Hindernisse wegfielen, sehr viel leichter, was vorher immer nur unter Schwierigkeiten äußerlicher Art praktiziert worden war. Man konnte also hoffen, daß nun, nach dem Zerfall des Warschauer Pakts und der Sowjetunion, die auf diesem Felde tätigen Institutionen besser würden arbeiten können als jemals zuvor. Das ist auch der Fall, aber auf der anderen Seite türmen sich neue Hindernisse auf, und sie bestimmen die gegenwärtige Situation. Auf der einen Seite stehen auch die hier einschlägigen Einrichtungen - also Herder-Forschungsrat und Herder-Institut - unter jenen Zwängen, unter denen die Wissenschaft in Deutschland heute generell steht. Evaluation, Verschlankung, Innovation: so heißen die bekannten Forderungen, gegen die kein vernünftiger Wissenschaftler etwas sagen wird, weil er ja weder als Verschwender öffentlicher Mittel erscheinen noch den Eindruck erwecken möchte, er setze die Resultate seiner Forschungen nicht der öffentlichen Kritik und der Frage aus, ob denn das, was er herausgebracht habe, tatsächlich so neu sei, wie er meint. Im einzelnen sieht die Sache freilich schwierig aus. Wer ist schon in der Lage, kompetent zu evaluieren? Am ehesten noch derjenige, der genauso viel von der Sache versteht, wie derjenige, der evaluiert werden muß. In diesem Falle befinden sich aber die beiden Parteien schon seit längerem in einem Dialog, der es etwas künstlich erscheinen läßt, daß der eine nun in die Richterrolle schlüpft und der andere in die des Angeklagten - es sei denn, der Dialog ist gescheitert und der Evaluator ist ein notorischer Gegner dessen, der da evaluiert werden soll. Ein vernünftiges Verfahren ist auch in diesem Falle nicht zu erwarten. Und was verspricht schon tatsächlich innovativ zu sein? Die Gefahr, daß das Bohren dicker Bretter, von dem Max Weber gesprochen hat, in einem solchen Zusammenhang weniger günstig erscheint als das Durchlöchern schmaler Gipsplatten, ist bekanntlich groß. Doch geht es hier, wie schon gesagt, um Schwierigkeiten, die alle wissenschaftlichen Fächer im Augenblick haben. Die Erforschung dessen, worum es hier geht, leidet aber zusätzlich daran, daß die alte DDR-Parole, es sei hier nur um eine Abstützung des Kalten Krieges gegangen, von manchen Bildungs- und vor allem von Finanzpolitikern heute indirekt durch die Annahme bekräftigt wird, die Geschichte unserer östlichen Nachbarn brauchten wir nun nicht mehr zu erforschen, da die ja keine militärische und politische Gefahr mehr für uns darstellten. Ich bin einigermaßen sicher, daß dieses Argument zu den Gründen dafür gehörte, daß das Herder-Institut vor wenigen Monaten vom Bundesfinanzministerium schon einmal auf die Todesliste gesetzt worden war. Von ähnlicher Art ist die Argumentation, daß nach der definitiven Anerkennung der Grenze an Oder und Neiße die Beschäftigung mit den einstigen deutschen Gebieten unnötig, ja vielleicht sogar politisch unerwünscht sei. Kann es dem Frieden dienen, wenn man in Deutschland weiterhin weiß, daß Breslau bis 1945 eine deutsche Stadt war, daß in Königsberg bis zu jenem Jahr eine
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deutsche Universität existierte und was dergleichen der Gegenwart scheinbar widersprechende Sachverhalte mehr sind? Man fühlt sich in dieser Situation als Historiker im ersten Moment fast ein wenig belustigt, da solche Erwägungen den tiefsten Kern dessen verkennen, was das Handwerk der Historiker ausmacht, nämlich die Analyse von geschichtlichem Wandel. Doch besteht zur Belustigung kein Anlaß, im Gegenteil. Auf der einen Seite ist die Kenntnis der Vergangenheit wohl so etwas wie ein geistiges Urbedürfhis. Doch ist kaum weniger stark der unbewußte Wunsch, zwischen Vergangenheit und Gegenwart Harmonie herzustellen, da stört es, daß die deutsche Geschichte bis zum Jahre 1945 auf einer ganz anders gestalteten Bühne stattfand als danach. Und es gibt ja auch geläufige Techniken, diesen Bühnenwechsel zu bewältigen. Wer heute eine Geschichte Badens schriebe, würde Freiburg im Breisgau ganz selbstverständlich dazurechnen, obwohl die Stadt und die Region doch erst seit knapp zwei Jahrhunderten zu Baden gehören - von Baden-Württemberg, das eine Schöpfung erst des Jahres 1952 ist, gar nicht zu reden. In einer österreichischen Geschichte findet Freiburg keinen Platz, obwohl es doch jahrhundertelang habsburgisch war, und für Salzburg, das erst seit derselben Zeit zu Bayern gehört - nach langen Jahrhunderten österreichischer Zugehörigkeit - , gilt das gleiche. Warum soll man nicht auch im Falle von Königsberg oder Breslau ebenso verfahren, Kant demzufolge zu einer Figur der russischen Philosophiegeschichte machen und Andreas Gryphius zu einer Gestalt, vielleicht nicht gerade der polnischen Literaturgeschichte, aber, wenn es so etwas gibt, zu einer Figur der auslandsdeutschen Literatur? Warum kann es so nicht gehen? Eine Antwort läge darin, daß die Grenzveränderungen von 1945 Nationen und Nationalstaaten umgeformt haben, die es zweihundert Jahre zuvor und bei früheren Grenzveränderungen nicht gab. Zum anderen wurden 1945 nicht nur Grenzen verändert, sondern Millionen von Menschen vertrieben. Kant als russischer Philosoph und Gryphius als auslandsdeutscher Dramatiker würden den Vertriebenen und ihren Nachkommen die eigene Geschichte nehmen. Dagegen könnte man die Erwägung stellen, daß damit ja nur im Geschichtsbild nachvollzogen würde, was sich auf der Ebene der konkreten politischen und sozialen Wirklichkeit als Integrationsvorgang erfolgreich vollzogen hat. Folgt das eine nicht aus dem anderen? Man braucht wohl nicht Historiker zu sein, um eine solche Forderung als Trugschluß zu erkennen, denn sie liefe ja auf nichts anderes hinaus, als auf ein Umschreiben der Geschichte, das etwas ganz anderes wäre als das, was man meint, wenn man sagt, daß die Geschichte ständig neu geschrieben werden müsse. Im Hinblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts aber würde ein Deutschland, das immer schon an Oder und Neiße geendet hat, nicht zuletzt die Folge haben, daß die Ursachen dieser Grenzveränderung von 1945 an Gewicht verlören. Die nationalsozialistische Periode der deutschen Geschichte würde unvermeidlich verharmlost, wenn das Ausmaß dessen, was 1945 in der Folge
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dessen, was in den Jahren zuvor zuwege gebracht worden war, verkannt und verkleinert würde. Darüber gibt es unter Historikern, so denke ich, auch einen über die deutschen Grenzen hinausreichenden Konsens. Wenn nun zum Beispiel in Polen die Geschichte der Vertreibung als Forschungsgegenstand ins Auge gefaßt und auch danach gefragt wird, was in den Vertreibungsgebieten nach der Vertreibung geschehen ist, dann fließen, wie auch sonst vielfach, polnische und deutsche Bemühungen um die Vergangenheit ineinander, und sie addieren sich nicht nur, sondern sie potenzieren sich, wie man hoffen darf. Das setzt freilich voraus, daß die entsprechenden Möglichkeiten auf deutscher Seite bestehen, daß die personellen und sachlichen Mittel für die Erforschung der Länder und Völker des östlichen Mitteleuropa in Deutschland weiterhin zur Verfügung stehen. Daß sie gebraucht werden, wird, so hoffe ich, unsere Tagung morgen und übermorgen erweisen.
Kolonisationsströmungen im polnischreußischen Grenzgebiet von der Mitte des 14. bis zum 16. Jahrhundert Andrzej Janeczek
Das polnisch-reußische Grenzland bildet keine ethnische Grenzlinie, sondern einen Raum verschiedener staatlicher Zugehörigkeit und unterschiedlicher ethnischer Zusammensetzung. Es liegt am oberen Bug, am oberen San und am oberen Dnjestr zwischen Kleinpolen, Wolhynien und Podolien, zwischen Podlachien und den Karpaten. Dabei handelt es sich nicht um eine geographische, sondern um eine historische Kategorie von allgemein anerkannter Bedeutung. Dort verläuft die Grenze zwischen dem Ost- und dem Westslawentum; am westlichen Rand dieses Gebietes entstand am Ende des 10. Jahrhunderts die Grenze zwischen der Rus' der Rurikiden und dem plastischen Polen, dem östlichen und dem westlichen Christentum, dort stießen der byzantinische und der römische Kulturkreis aufeinander. Der gegenüberliegende östliche Rand wurde bestimmt durch die Reichweite der Eroberungen Kasimirs des Grossen, der 1340 mit Litauen, Ungarn und den Tataren den Kampf um das Gebiet des untergehenden Fürstentums Halitsch-Wladimir begann. Außerdem ist dieses Gebiet dadurch gekennzeichnet, daß es den westlichen Ausläufer der frühmittelalterlichen Rus' und den östlichen Ausläufer des spätmittelalterlichen polnischen Staates darstellte, also Grenzland war, dessen Besitzer ständig wechselte.1
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OSKAR HALECKI: Geografia polityczna ziem ruskich Polski i Litwy 1340-1569 [Politische Geographie der reußischen Gebiete Polens und Litauens], in: Sprawozdania ζ posiedzeA Towarzystwa Naukowego Warszawskiego, Wydziai I—II 10-2 (1917), S. 5-24. - WLADYSLAW SEMKOWICZ: Geograficzne podstawy Polski Chrobrego [Die geographischen Grundlagen Polens unter Boleslaw Chrobry], in: Kwartalnik Historyczny 39 (1925), S. 258-314. - TEOFIL E. MODELSKI: Sprawa pogranicza polsko-ruskiego w badaniach ruskich [Die Frage des polnisch-reußischen Grenzgebietes in russischen und ukrainischen Untersuchungen], in: Pamietnik IV Zjazdu Historykow Polskich w Poznaniu, Lwöw 1925, S. 1-12 der eigenen Paginierung. - MYRONKORDUBA: Zachidne pohranyöe Halyc'koi'derzavy πύέ Karpatamy ta doliSnym Sjanom [Das westliche Grenzgebiet des Halitscher Staates zwischen den Karpaten und dem unteren San], in: Zapysky Naukovoho Tovarystva im. Sevöenki 138-140 (1925), S. 159-245. - Α. N. NASONOV: Russkaja zemlja i obrazovanie territorii drevnerusskogo gosudarstva [Das russische Land und die Territoriumsbildung des aitrussischen Staates], Moskva 1951. - JAN NATANSON-LESKI: Zarys granic i podziatow Polski najstarszej dobie [Abriß der Grenzen und Einteilungen Polens in der ältesten Zeit], Wroclaw 1953. - GOTT-
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Keineswegs handelte es sich um eine Siedlungsbarriere, eine leere Einöde, sondern um eine ausgedehnte Region alter Besiedlung, von Migrationen aus allen Richtungen betroffen. Wir haben es hier nicht mit einem ethnischen Grenzstreifen zu tun, sondern mit einem Gebiet sich kreuzender und neu zusammensetzender Superstrate auf ruthenischer Basis. Hier lebten ethnische und Glaubensgemeinschaften nicht isoliert nebeneinander und waren nicht durch territoriale Barrieren und lineare Grenzen voneinander getrennt. Es ist gleichfalls keine kulturelle Randzone, kein dünn besiedeltes Land, sondern eine Region des Durchzugs und der Ballung ganz unterschiedlicher Strömungen und Traditionen.2 Dieses Rotreußen oder die Halitscher Rus', wie man es auch genannt hat, wurde seit der Mitte des 14. Jahrhunderts zum Schauplatz intensiver und nachhaltiger polnischer Einflüsse und Einwirkungen. Die Provinz wurde in die beiden Wojewodschaften Lemberg und Beiz (Karte 1) gegliedert.
Die Ostgrenze Polens, Bd. I [mehr nicht erschienen], Köln-Graz Studia nad pograniczem polsko-ruskim w X - X I I w. [Studien über das polnisch-russische Grenzgebiet im 1 0 . - 1 2 Jh.], Wroclaw 1 9 6 2 . - ANDRZEJ NOWAKOWSKI: Gorne Pobuze w wiekach V I I I - X I . Zagadnienia kultury [Das Land an der oberen Bug im 8 . - 1 1 . Jh. Kulturelle Probleme], Lodz 1 9 7 2 (Acta Archaeologica Lodziensia, nr 2 1 ) . - NLKOLAJ F. KOTLJAR: Formirovanie territorii i vozniknovenie gorodov Galicko-volynskoj Rusi IX-XIII vv. [Die Gestaltung des Territoriums und die Entstehung der Burgen des Halitsch-Wolhynischen Reußen des 9 . - 1 3 . Jh.], Kiev 1 9 8 5 . - GERARD LABUDA: Polska, Czechy, Rus i kraj Ledzian w drugiej polowie X wieku [Polen, Böhmen, Rus' und das Land der Ledzanen in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts], in: DERS.: Studia nad poczatkami panstwa polskiego [Studien über die Anfänge des polnischen Staates], Bd. I I , Poznari 1 9 8 8 , S. 1 6 7 - 2 1 1 . - MICHAL PARCZEWSKI: Poczatki ksztaltowania sie polsko-ruskiej rubiezy etnicznej w Karpatach [Die Anfänge der Herausbildung des ethnischen polnisch-reußischen Grenzgebietes in den Karpaten], Krakow 1 9 9 1 . - JANUSZ KURTYKA: Poludniowy odcinek granicy polsko-ruskiej we wczesnym sredniowieczu (przed 1340 r.) [Der südliche Abschnitt der polnisch-reußischen Grenze im frühen Mittelalter (vor 1 3 4 0 ) ] , in: Poczatki sgsiedztwa. Pogranicze etniczne polsko-rusko-slowackie w sredniowieczu [Die Anfänge einer Nachbarschaft. Das ethnische polnisch-reußisch-slowakische Grenzgebiet im Mittelalter], Rzeszow 1 9 9 6 , S . 1 8 3 - 2 0 4 . - DARIUSZ STANCZYK: Pogranicze polsko-ruskie odcinka nadbuzanskiego w swietle zrödel ruskich X I I - X I V wieku i w historiografu [Das polnisch-reußische Grenzgebiet des Abschnitts am Bug im Licht der reußischen Quellen des 12. bis 14. Jahrhunderts und in der Historiographie], ebenda, S. 2 0 5 - 2 1 4 . - ZDZISLAW BUDZYNSKI: Zachodnia rubiez polsko-ruskiej granicy etnicznej w koncu sredniowiecza oraz w epoce nowozytnej [Der westliche Rand des ethnischen polnisch-reußischen Grenzgebietes am Ende des Mittelaters und in der Neuzeit], in: ebenda, S. 2 1 5 - 2 2 0 . HOLD RHODE:
1 9 5 5 . - FRANCISZEK PERSOWSKI:
2
ANDRZEJ JANECZEK: Granice a procesy osadnicze: sredniowieczna Rus Halicka w polu interferencji [Grenzen und Siedlungsprozesse: die mittelalterliche Halitscher Rus' im Wirkungsbereich der Interferenz], in: Poczatki sasiedztwa (wie ANM.l), S. 2 9 1 - 2 9 9 .
Kolonisationsströmungen im polnisch-reußischen Grenzgebiet
Die Territorialgliederung ^ — / Rotreußens im 15. Jh. )Brest
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Pinsk
Landeshauptorte
Cholm Sandomir
Wladimir
ϊ Luzk
Sando• mirischer ϊ/Wald , Wishk Krzemieniec Lemberg
jaj Przemysl
•embowla Halitseh
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Sümpfe , Anhöhen
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Karte 1
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Waldverbreitung Grenzen 100 km , ,
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Wenn wir annehmen, daß ein Grenzland einen Bereich kultureller Interaktion darstellt, dann zeigt sich, daß ganz Ostmitteleuropa durch eine solche Eigenschaft gekennzeichnet ist. Die multiethnische, multireligiöse und multikulturelle Zivilisation dieses Teils unseres Kontinents entstand aus dieser Gegebenheit heraus. Man könnte sogar von einer Vielzahl unterschiedlicher Grenzstreifen sprechen, unterschiedlichen Ranges und unterschiedlicher Bedeutung, von denen nicht alle territoriale Dimensionen aufwiesen, sondern oftmals lediglich auf der sozialen oder geistigen Bewußtseinsebene verliefen. Das Grenzphänomen als Phänomen eines ganzen Landes als eines Grenzlandes und vieler sich überschneidender Grenzstreifen prägte die Geschichte dieses Teils Europas bis ins 20. Jahrhundert hinein. Diese Erscheinungen, bis ins Mittelalter zurückreichend und die ganze Neuzeit überdauernd, haben in der Historiographie bis jetzt keine Bearbeitung erfahren. Wenn die Geschichtsschreibung zu Rotreußen auch beträchtlich ist, so ist sie doch in der Mehrheit veraltet, denn sie hat in den vergangenen sechzig Jahren keine Möglichkeit gehabt, sich zu entwickeln. Dies gilt für alle drei nationalen Historiographien: die polnische, die ukrainische und die russische. Ethnozentrische Verzerrungen dieser Historiographien, ihre Relativität, ihre Einseitigkeit, zeitweise ein verblendeter Nationalismus, erbrachten ungute Resultate, die zu einer scharfen Polarisierung der Ansichten und zur Überschreitung des natürlichen Rechts jeder Geschichtsschreibung, ihre Geschichte vom eigenen Standpunkt aus zu beleuchten, führten. 3 Die ältere polnische Geschichtswissenschaft blickte mit einem Gefühl der Überlegenheit auf die russische Geschichte und war sich des zivilisatorischen Gefälles bewußt, der die beiden benachbarten Völker voneinander trennte. Sie verwies auf die Rückständigkeit der russischen Länder im späten Mittelalter, betonte den schlimmen wirtschaftlichen Zustand des Landes nach den Zerstörungen durch die Tataren, unterstrich deren Entvölkerung und Verwüstung und das Ausbleiben einer Entstehung städtischer Siedlungen.4 3
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ANDRZEJ JANECZEK: Osadnictwo wojewodztwa belskiego w zrodlach i historiografii Rusi Czerwonej [Die Besiedlung der Beizer Wojewodschaft in den Quellen und in der Historiographie Rotreußens], in: Kwartalnik Historii Kultury Materialnej 30 (1982), S. 67-81. ALEKSANDER STADNICKI: Ziemia lwowska za rzgdow polskich w XIV i XV wieku we wzgledzie spolecznych stosunkow rozpoznana [Das Lemberger Land unter polnischen Regierungen im 14. und 15. Jahrhundert hinsichtlich seiner sozialen Verhältnisse], in: Biblioteka Ossolmskich 3 (1863), S . 1-103. - ANTONI PROCHASKA: Nowsze poglady na stosunki wewnetrzne Rusi w XV w. [Neuere Ansichten über die inneren Verhältnisse in Reußen im 15. Jh.], in: Kwartalnik Historyczny 9 (1895), S . 23-42, hier S . 27 ff. - STANISLAW SMOLKA: Rok 1386. W pieciowiekowa rocznice [Das Jahr 1386. Zum 500. Jahrestag], Krakow 1886, S . 120. - KAZIMIERZ J. GORZYCKI: Polaczenie Rusi Czerwonej Ζ Polska przez Kazimierza Wielkiego [Die Vereinigung Rotreußens mit Polen durch Kasimir den Großen], Lwöw 1889, S . 83 ff. - WLADYSLAW ABRAHAM: Powstanie organizacji Kosciola lacuiskiego na Rusi [Die Entstehung der Organisation der lateinischen
Kolonisationsströmungen
im polnisch-reußischen
Grenzgebiet
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Zu diesem Bild zivilisatorischer Verspätung stünden die Fortschritte zu polnischer Zeit, denen die Rus' ihren Aufstieg aus dem Niedergang verdankt habe, in krassem Gegensatz. Der Aufbau der Verwaltung, die Hebung des Wohlstands, der Sinn für Wirtschaftlichkeit, die Vergrößerung der Ackerfläche, die Urbanisierung und die Förderung der Städte, die Ausweitung des Handels oder allgemein gesagt: die Hebung des zivilisatorischen Niveaus seien Errungenschaften der polnischen Herrschaft gewesen. Das unverändert auch gegenwärtig in der polnischen Literatur anzutreffende, wenn auch zeitweilig tief versteckte Motiv „von der geschichtlichen Rolle Polens im Osten", seiner „kulturellen Sendung" verzerrte die historischen Tatsachen. Siedlungstätigkeit, wirtschaftliche Investitionen und Handelstätigkeit haben angeblich ein höheres Ziel gehabt, wurden idealisiert und mit moralischen Kategorien versehen und bildeten Elemente einer besonderen Mission, die das polnische Volk an den Grenzen der europäischen Zivilisation zu erfüllen gehabt habe. In der traditionellen Auffassung der polnischen Historiographie klingen bei den erwähnten Ansichten einige Elemente der Ideologie vom deutschen „Drang nach Osten" an. Hier wie dort treffen wir auf die anmaßende Vorstellung von einem „Kulturgefalle", die die Basis zur Erklärung der Expansionsmechanismen bildet. Hier wie dort begegnen wir der Überzeugung von der kulturellen Mission des eigenen Volkes, eines „Kulturträgertums", die zur Begründung der eigenen Expansion diente und ihr einen hohen ethischen Wert sowie die ideologische Weihe verlieh. Überraschend ähnlich ist auch die historische Bewertung dieser Erscheinungen. Beim Aufbau von Konfrontationen in der älteren deutschen Historiographie mit der Geschichtsschreibung der Länder, gegen die sich der „Drang nach Osten" richtete, kann man im Falle der polnischen Ostexpansion viele Analogien entdecken. Mit dem allgemeinen Tenor der polnischen Historiographie, die die polnische Anwesenheit in Reußen idealisiert und sanktioniert, kontrastiert der anklagende Ton der russischen, ukrainischen und sowjetischen Geschichtsschreibung. Die Gesamtentwicklung Halitsch-Wölhyniens wird positiv bewertet, die demographische Situation im allgemeinen optimistisch gesehen. Die polnische Expansion in die reußischen Länder habe einen ausgesprochen exploitiven Charakter gehabt. Die königlichen Schenkungen hätten Ausländergruppen nach
Kirche in Reußen], Bd. I [mehr nicht erschienen], Lwow 1904, S. 215. - ALEKSANDER JABLONOWSKI: Zasiedlenie Ukrainy [Die Besiedlung der Ukraine], in: DERS., Pisma [Schriften], Bd. I, Warszawa 1910, S. 86 ff. - DERS.: Lud poludniowo-ruski [Das südreußische Volk], ebenda, S. 10 ff. - DERS.: Historya Rusi poludniowej do upadku Rzeczypospolitej Polskiej [Geschichte der südlichen Rus' bis zum Untergang der Republik Polen], Krakow 1912, S. 81 ff. - KAROL SZAJNOCHA: Zdobycze phiga polskiego [Die Eroberungen des polnischen Pfluges], Warszawa 1912, S. 128. - HENRYK PASZKIEWICZ: Polityka ruska Kazimierza Wielkiego [Die reußische Politik Kasimirs des Großen], Warszawa 1925, S. 47 ff., S. 253 ff. - KAROL MALECZYNSKI u. a.: Lwow i ziemia czerwieüska [Lemberg und das Tscherwenische Land], Warszawa o. J., S. 34, S. 50.
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sich gezogen, die sich durch ausbeuterisches und unrationelles Wirtschaften auf reußischem Boden bereichert hätten. Die Städte hätten eine Invasion von Fremden erlebt, die sich bestimmter Privilegien erfreut hätten, die der einheimischen Bevölkerung verwehrt blieben. Besonders kritisch sei die Rolle des deutschen Rechts zu bewerten. Es sei ein Werkzeug der polnischen Expansion gewesen und habe die Schwächung der einheimischen Siedlungskräfte bewirkt, die man durch die Diskriminierung der Ruthenen vor die Stadtmauern gedrängt habe, sie habe den ursprünglichen Reichtum vergeudet und den gleichmäßigen Entwicklungsgang der reußischen Städte unterbrochen. In diesem Licht fällt das Bild der polnischen Herrschaft entschieden negativ aus. Verdüstert wird dieser Eindruck noch durch den dreifachen Druck: nämlich gesellschaftlich, konfessionell und national, dem das Volk ausgesetzt gewesen sei. Aus der polnischen, deutschen und walachischen Kolonisierung (die meist heruntergespielt wird) hätten sich in Bezug auf die Urbanisierung, die Einführung neuer Rechtsinstitutionen, eine andere gesellschaftliche Organisation, den Wandel der Wirtschaftsweise oder das Zusammenleben mit einer anderen Kultur keinerlei positive Effekte ergeben. 5
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IZYDOR SARANEVYC : Istorija halycko-volodimirsko'I Rusi ot najdavnejäich vremen do roku 1453 [Die Geschichte der Halitsch-Wolhynischen Rus' von den ältesten Zeiten bis zum Jahr 1453], L'viv 1863, S. 190 ff., S. 410 ff. - DERS.: Rys wewnetrznych stosunköw Galicyi Wschodniej w drugiej polowie XV wieku [Abriß der inneren Verhältnisse Ostgaliziens in der zweiten Hälfte des 15. Jh.], Lwöw 1 8 6 9 , S. 7 2 . - I. P. FLLEVLC: Bor'ba Pol'Si i Litvy-Rusi za galicko-vladimirskoe nasledie [Der Kampf Polens und Litauen-Reußens um das Erbe HalitschWladimirs], S. Peterburg 1 8 9 0 , S . 2 1 4 , S. 2 1 8 ff. - I. A. LINNICENKO: Juridiceskija formy sljachetskago zemlevladenija i sud'ba drevnerusskago bojarstva ν Jugozapadnoj Rusi XIV-XV v. [Die rechtlichen Formen der adeligen Grundherrschaft und das Schicksal des altreußischen Bojarentums im südwesüichen Reußen
des 14.-15. Jh.], in: Juridiöeskij Vestnik 11 (1892), S. 275 ff. - DERS.: Certy iz
istorii soslovij ν Jugo-Zapadnoj (Galickoj) Rusi XIV-XV v. [Skizzen aus der Geschichte der Stände im südwestlichen (Halitscher) Reußen des 14.-15. Jh.], Moskva 1 8 9 4 , S. 3 7 ff. - MICHAIL F. VLADIMIRSKU-BUDANOV: Nemeckoe pravo ν Pol'Se i Litve. Rozvidky pro mista i miSöanstvo na Ukraini-Rusy ν XV-XVIII v. [Das deutsche Recht in Polen und Litauen. Untersuchungen über die Städten und Bürgertum in der Ukraine-Rus' im 15-18. Jh.], Th. 2, L'viv 1904, S. 305 ff. - MYCHAJLO HRUSEVS'KYJ: Istorija Ukrai'ny-Rusy [Geschichte der UkraineRus'], Bd. V, L'viv 1905, S. 20, S. 246 ff., Bd. VI, Kyiv-L'viv 1907, S. 138 ff., S . 2 3 5 , S . 2 5 4 ff. - ALEKSANDRA J A . EFIMENKO: Istorija ukrainskago naroda [Geschichte der ukrainischen Nation], Bd. I, S.-Peterburg 1906, S. 144 ff. D . DOROSENKO: Narys istorii' Ukrai'ny [Der Abriß der ukrainischen Geschichte], Bd. I, Varäava 1932, S. 131 ff. - Zachidna Ukrai'na. Zbirnyk [Die westliche Ukraine. Ein Sammelband], hrsg. von S . Μ . BELOUSOV, Ο . P . OHLOBLIN, Kyi'v 1 9 4 0 , S . 1 3 ff. - VLADIMIR PICETA: Osnovnye momenty istoriceskogo razvitija Zapadnoj Ukrainy i Zapadnoj Belorussii [Die Grundmomente der geschichtlichen Entwicklung der westlichen Ukraine und des westlichen Weißrußland], Moskva 1 9 4 0 , S . 2 0 ff. - BORIS D. GREKOV: Chlopi na Rusi od czasow najdawniejszych do XVII w. [Die Bauern in Rus' von den ältesten Zeiten bis zum 17. Jh.], Bd. I,
Kolonisationsströmungen im polnisch-reußischen Grenzgebiet
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Diese Übersicht über die divergierenden Auffassungen sollte nicht nur die große Verschiedenheit der Ansichten, ihre Zentrierung um zwei entgegengesetzte Pole und eine symptomatisch verlaufende Trennungslinie aufzeigen, sondern auch veranschaulichen, wie zerbrechlich Aussagen sind, die nicht auf dem Fundament solider und regelgerechter Forschungen beruhen. Der allgemein erhobene Vorwurf der Parteilichkeit, Einseitigkeit und Servilität der öffentlichen Meinung gegenüber wäre aber doch herabsetzend und ungerecht gegenüber einer nicht geringen Zahl sachlicher, unparteiischer und unabhängiger Untersuchungen. Zu dieser Art neuerer Arbeiten, die allerdings nicht eben zahlreich sind, gehört auch das vorliegende Referat. Aus der Vielzahl der Fragen, die das Phänomen „Grenzland" betreffen, wurden Fragen der Besiedlung, besonders Probleme der Kolonisation, der Urbanisierung und des Wechsels von Landbesitz, herausgegriffen, da sie das Fundament bilden für den Ausgangspunkt anderer sozialer und kultureller Prozesse, die Rotreußen seit dem Umbruch in seiner Geschichte seit der Mitte des 14. Jahrhunderts kennzeichnen. Die Beschreibung der demographischen Situation Rotreußens bezüglich der angeblichen Entvölkerung des Landes in der älteren polnischen Historiographie entspricht sicherlich nicht ganz der Wirklichkeit, wenngleich die mittelalterlichen Quellen ständig auf den Bevölkerungsmangel in Dörfern und Städten hinweisen: defectus gentis qua in dicta terra Russie caremus. Siedlung und wirtschaftliches Niveau des Landes umreißen die Termini: desertatio, desolatio, carentiapopuli. Landverleihungen und -Verpfändungen sind notorisch versehen mit der Bedingung zur Wohnsitznahme in den verliehenen Dörfern propter defectum hominum. Aus Bevölkerungsmangel kam es oft zur Unterbrechung oder sogar zum Abbruch bereits begonnener kolonisatorischer Unternehmungen in Gestalt der Lokation neuer Dörfer und Städte. Die polnische politische Expansion führte zur offenen Konfrontation zwischen den wirtschaftlichen Systemen Polens und denen des westlichen Reußen. Auf Grund dieses Aufeinandertreffens entstanden viele zeitgenössische Quellen, die Rotreußen als ein leeres, zugrunde gerichtetes, schwach besiedeltes Gebiet schildern, das der wirtschaftlichen Erschließung bedürfe. Die Ansicht von der relativ schlechten wirtschaftlichen Verfassung Reußens ist bekannt und begründet; der erwähnte Zustand war das Ergebnis nicht nur der Schwächung der oberen Herrschaftsinstanzen, der Krise des Staates, der Abhängigkeit von der Goldenen Horde und der Kriegszerstörungen im Zuge der hier im 14. Jahrhundert häufig stattfindenden militärischen Auseinandersetzungen, sondern auch
Warszawa 1955, S. 249, S. 274 f . , S. 319 ff. - V. D. OTAMANOVSKU: Razvitie
gorodskogo stroja na Ukraine ν XIV-XVIII vv. i magdeburgskoe pravo [Die Entwicklung der städtischen Verfassung in der Ukraine im 14.-18. Jh. und das Magdeburger Recht], in: Voprosy istorii 3 (1958), S. 122-135. - Istorija seljanstva Ukrai'ns'koi' RSR [Geschichte des Bauerntums der Ukrainischen Sozialistischen Republik], Bd. I, hrsg. von V. A. DJADYCENKO, Ky'iv 1967, S. 68 ff. - Istorija Ukrains'ko'i RSR [Geschichte der Ukrainischen Sozialistischen Republik], Bd. I, Th. 2, Kyi'v 1979, S. 39, S. 96.
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Janeczek
der geringen Wirksamkeit der herzoglichen Rechtsverfassung, die in den polnischen Ländern im Gefolge von Kolonisation, Reform der Agrarverfassung nach deutschem Recht und Stadtlokationen im 13. Jahrhundert aufgehoben wurde. Beim Urteil über den schlechten Zustand der Wirtschaft in Reußen verglich man die Region meistens mit Kleinpolen und Schlesien, die von der Besiedlung eher gestärkt worden waren. Diese Diskrepanz bekamen am deutlichsten die Grundbesitzer, also die polnischen Könige und die masowischen Herzöge mit ihren Beamten, der nach Reußen ziehende polnische Adel und die Machthaber sowie die eben erst installierte katholische Kirche zu spüren. Der Eindruck wirtschaftlicher Rückständigkeit setzte Mechanismen zur Modernisierung der von ihnen übernommenen Güter und zur Erhöhung des Einkommens mittels Reformen in Gang, die auf den heimatlichen Landsitzen schon vorher erprobt worden waren. In Bezug auf die Herrscher kam noch ein anderer, ein politischer Faktor hinzu, nämlich die Notwendigkeit, das neu gewonnene, noch nicht gesicherte Land in die Krone Polens zu integrieren. Deshalb war es ein wesentliches Kennzeichen polnischer Politik, Krongüter zu vergeben, die anfangs weit auseinander lagen. Die noch von Kasimir dem Grossen in den fünfziger Jahren des 14. Jahrhunderts, also noch vor den letzten militärischen Entscheidungen in Reußen, begonnene Aktion, wurde von seinen Nachfolgern in der zweiten Hälfte des 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts weitergeführt. 6 Die Lawine von Landvergaben zu Lasten der Königlichen Domäne veränderte die Proportionen in der Eigentumsstruktur radikal; in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts befanden sich nur noch ein Viertel bzw. ein Fünftel der Siedlungen in königlichem Besitz (die entsprechenden Daten sind Forschungen zu den Ländern Sanok, Lemberg und Beiz entnommen).7
6
Wedröwki rodzin szlacheckich. Karta Ζ dziejow szlachty halickiej [Die Wanderungen adeliger Familien. Ein Blatt aus der Geschichte der Halitscher Szlachta], in: Ksiega pamiatkowa ku czci Oswalda Balzera [Gedenkschrift für Oswald Balzer], Bd. I, Lwow 1925, S. 21-43. - DERS.: Zwierciadlo szlacheckie [Spiegel des Adels], Lwow 1928. - ALEKSY GILEWICZ: Stanowisko i dzialalnosc gospodarcza Wladyslawa Opolczyka na Rusi w latach 1372-1378 [Stellung und wirtschaftliche Tätigkeit Wladyslaws von Oppeln in Reußen in den Jahren 1372-1378], Lwow 1929, Sonderdruck aus: Prace historyczne wydane ku uczczeniu 50-lecia Akademickiego Kola Historykow Uniwersytetu Jana Kazimierza we Lwowie [Historische Arbeiten herausgegeben zur 50Jahrfeier des Akademischen Historikerkreises an der Johann-Kasimir-Universität in Lemberg], S . 23-34. - STANISLAW GAWEDA, Moznowladztwo malopolskie w XIV i w pierwszej polowie XV wieku [Die kleinpolnischen Machthaber im 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jh.], Krakow 1966.
7
ADAM FASTNACHT: Osadnictwo ziemi sanockiej w latach 1340-1650 [Die Besiedlung des Sanoker Landes in dem Jahren 1340-1650], Wroclaw 1962. - ANDRZEJ JANECZEK: Polska ekspansja osadnicza w ziemi lwowskiej w XIV-XVI w. [Polnische Siedlungsexpansion im Lemberger Land im 14.-16. Jahrhundert], in: Przeglad Historyczny 69 (1978), S. 597-622, hier S. 611. - DERS.: Osadnictwo
PRZEMYSLAW DABKOWSKI:
Kolonisationsströmungen
im polnisch-reußischen
Grenzgebiet
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Parallel zur Veräußerung herzoglicher Domänen verliefen Migrationsprozesse des Adels. Die Wanderungswelle nach Osten ergab einen neuen, ethnisch unterschiedlichen Adelsstand in Rotreußen. Bisherige Untersuchungen zur gesellschaftlichen Stellung der Lehnsnehmer, die hinsichtlich der Länder Sanok, Lemberg und Beiz vorgenommen wurden, also zumindest teilweise aussagekräftig sind, haben die Heterogenität dieses Bevölkerungsteils erwiesen. Er setzte sich aus verschiedenen Gruppen zusammen: an erster Stelle stand der Hochadel, der zumeist aus Kleinpolen stammte, mit einem tatkräftigen politischen Engagement bei der polnischen Expansion nach Reußen, Personen, die dem königlichen Hof verbunden waren, Hofbeamte, Diplomaten, Ausführungsorgane der königlichen Politik im Osten, die für verschiedene Dienste belohnt wurden; die höhere und mittlere Ritterschaft und endlich der Kleinadel, nur teilweise Adelige, aber auch Emporkömmlinge, denen es gelungen war, die Standesgrenzen zu überspringen, indem sie die günstigen Voraussetzungen für eine schnelle Karriere und den gesellschaftlichen Aufstieg ausnutzten. Die größere räumliche Beweglichkeit erleichterte die gesellschaftliche Mobilität, die Nobilitierung oder sogar die Usurpation des Adelsstandes durch ehrgeizige Bürger und die niedere Ritterschaft. Die unruhige und instabile Kolonisationszeit, das Abreißen der Nachbarschaftsbeziehungen beim umsiedelnden Adel, die Rekrutierung in den neu entstehenden Adelsstand boten eine willkommene Gelegenheit, nach dem Schmuckstück „Adel" zu greifen. Ein Teil der Verleihungen und Verpfändungen hatte rein fiskalischen Charakter - sie kompensierten die Anleihen oder Kredite, die man dem Königlichen Schatzamt, z.B. im Zusammenhang mit der Intervention in Ungarn oder dem Dreizehnjährigen Krieg um Preußen, gewährt hatte. Auf diese Weise finanzierte Reußen die dynastische Politik der Jagiellonen und den Krieg Polens mit dem Deutschen Orden. Räumlich gesehen kamen die meisten Einwanderer aus Kleinpolen (darunter auch Angehörige des Hochadels8), Schlesien, Masowien und Großpolen, sporadisch auch aus Ungarn und Böhmen. Es überwog also eine parallele, dem Breitengrad folgende Ostrichtung der Besiedlung. Es lassen sich verwandtschaftliche Verbindungen einiger Einwanderer, die aus entfernteren Gegenden kamen, mit der Wojewodschaft Sandomierz oder mit den westlichen Gebieten der Wojewodschaft Reußen beobachten. Dieser Befund deutet auf ein stufenweises und nicht in einem Zug erfolgtes Vorschieben nach Osten hin. Eine ähnliche Rolle als Zwischenstation erfüllte das Lemberger Land hinsichtlich des weiter östlich gelegenen Landes Halitsch.9
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pogranicza polsko-ruskiego. Wojewödztwo betskie od schylku XIV do poczgtku XVII wieku [Die Besiedlung des polnisch-reußischen Grenzgebiets. Die Wojewodschaft Beiz vom Ende des 14. bis zum Beginn des 17. Jh.], Wroclaw u.a. 1991, S. 115 ff. GAWEDA: Moznowladztwo malopolskie (wie Anm. 6). DABKOWSKI: Wedrowki rodzin szlacheckich (wie Anm. 6), S. 21-43. - DERS.: Zwierciadlo szlacheckie (wie Anm. 6).
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Die aus dem Westen kommende Wanderungsroute stieß auf eine andere, nämlich die der walachischen Schlachta, die am Karpatenbogen entlang führte. Diese kleine abgelegene Ritterschaft, die mit speziellen Aufgaben im Kriegsdienst betraut wurde, bildete eine Wappengemeinschaft, indem sie sich eines gemeinsamen Wappens bediente (das Geschlecht Drag-Sas).10 Umfang wie Intensität dieser Wanderungsbewegungen überkreuzten sich im geographischen Raum und zugleich zweifelsohne auch im gesellschaftlichen Bereich über die Standesgrenzen hinweg, verliefen in den Ländern des gesamten Königlichen Reußen aber nicht einheitlich. Besonders deutlich von den anderen unterscheidet sich das Beizer Land, das im Jahre 1388 den masowischen Herzögen aus der Dynastie der Piasten verliehen wurde. Hier kam es zu einer Verdrängung der alten bojarischen Grundherrschaften. Am Beginn der masowischen Ära bestand das herzogliche Eigentum an Grund und Boden aus dem gesamten Gebiet des Beizer Landes. Dagegen umfaßte der Adelsbesitz schon um 1472 herum 79 Prozent aller Siedlungen, was vor allem den lawinenhaften Vergabungen durch die Herzöge zu verdanken war. Später hörte diese Schenkungsaktion fast völlig auf. Dank der intensiven Verteilungsaktion wurde dem einheimischen Adelsstand und dessen Grundbesitz während der Herrschaft der masowischen Piasten über das Beizer Land binnen weniger Jahrzehnte die materielle Basis entzogen. Die Bojarenschicht des eroberten westrussischen Staates erhielt hier nicht die Chance, in den Adelsstand aufzusteigen, wie dies in den übrigen Ländern des Königlichen Reußen möglich war. Praktisch wurde die gesamte Beizische Grundherrenschicht importiert, in der überwiegenden Mehrheit aus Masowien (vor allem aus dem westlichen Masowien, des Teilgebiets Plock der plastischen Linie - Karte 2); sie wurde dorthin geleitet, um die entlegene und noch nicht in sicherer polnischer Hand befindliche reußische „Kolonie" zu stärken. So begann der Feudalisierungsprozeß im Beizer Land in den letzten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts sozusagen von neuem und war erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts abgeschlossen." Der in allen reußischen Ländern sich vollziehende Vorgang der Entstehung eines neuen Adelstandes wurde bis zu einem gewissen Grade unterstützt durch den Niedergang des örtlichen Bojarentums; wegen des Fehlens eines reußischen Adels nahm er im Beizer Land ein kurioses Ausmaß an. Die massenhafte Wanderung masowischer Adelsgeschlechter nach Reußen verdient den Namen Invasion und ermöglichte die völlige Kolonisierung dieser frischen Eroberung und das zur gleichen Zeit, in der ein Teil der Schlachta in den übrigen reußischen Gebieten dem einheimischen Bojarenadel entstammte.
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LUDWIK WYROSTEK: Rod Dragow-Sasow na Wegrzech i Rusi Halickiej [Das Adelsgeschlecht der Drag-Sas in Ungarn und in der Halitscher Rus'], in: Rocznik Polskiego Towarzystwa Heraldycznego 11 (1932), S. 1-191. JANECZEK: Osadnictwo pogranicza polsko-ruskiego (wie Anm. 7), S. 69 ff.
Kolonisationsströmmgen im polnisch-reußischen Grenzgebiet
Karte 2
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Die großen Einwanderungen aus der Krone Polen und Masowien, aber auch aus Transkarpatien, verschafften den reußischen Ländern einen völlig neuen Adelsstand, der ethnisch von den Polen dominiert wurde und nur zu einem geringen Grade seinen altreußischen Vorläufer, den alteingesessenen Bojarenstand, einschloß. Die bisherigen genealogischen Forschungen zum Adel des Lemberger und Beizer Landes vermögen keine genauen statistischen Daten zu liefern; dennoch geben sie Aufschluß über die ethnischen Proportionen innerhalb dieser Gesellschaftsschicht (Diagramm 1). Im Falle des Beizer Landes zeigen sie das absolute Übergewicht des polnischen Elements (79 Prozent im 16. Jh.), in Bezug auf das Lemberger Land ein relatives (39-45 Prozent im 15. und 16. Jh.). 12 Dieses Übergewicht wurde noch dadurch verstärkt, daß dem polnischen Adel überwiegend der Grundbesitz gehörte, am meisten den oberen Schichten der mittleren Schlachta (Diagramm 2). Im Ergebnis bewirkte die Ausbreitung der polnischen Schlachta eine Entfaltung der polnischen Adelskultur. Im Gefolge der Einwanderungen und der sich daraus ergebenden kulturellen Wandlungsprozesse wurde die reußische Bevölkerung ihres in der feudalen Gesellschaft am höchsten privilegierten Standes beraubt. Die Veränderungen in den Dörfern Rotreußens waren das Ergebnis des Wechsels der Grundbesitzer. Alle Kategorien der mittlerweile gewandelten Bodenbesitzstruktur wurden zu Faktoren für die Reformierung des Dorfes. Die Grundherren, der kleinpolnische oder masowische Adel und die in Reußen neu installierte katholische Kirche, trachteten danach, ihre neu übernommenen Güter nach ihnen gut bekannten und bereits praktizierten Mustern zu reorganisieren. Für das sich polonisierende Bojarentum waren diese westlichem Muster so attraktiv, daß es sie in verschiedenen Bereichen seines Lebens einführte. Auch die Bojaren, die eine konservative Haltung einnahmen und ihrer Kultur und ihrem orthodoxem Glauben treu blieben, erkannten den Nutzen, den ihnen die Umgestaltung ihrer Güter brachte, wobei sie nicht davor zurückscheuten, auf ihrem Besitz sogar eine katholische Kirche zu errichten, offensichtlich, weil sie mit dem Zufluß von Kolonisten aus dem Westen rechneten oder um der Siedlungsreform iure Theuthonico im ganzen zu genügen, wozu eben auch eine Pfarrei gehörte. Die Einführung des deutschen Rechts erforderte eine kirchliche Stiftung oder zumindest die Einbindung der Siedlung in eine Kirchengemeinde mit einer entsprechenden Festlegung der Abgaben ihrer Bewohner für den Pfarrer, auch wenn dieser ein orthodoxer Pope war. Die Umgestaltung des Dorfes in Rotreußen, deren organisatorische Seite als die Einführung von Neuerungen charakterisiert werden kann, beruhte auf der Festigung der Siedlungsstruktur mit Hilfe von Kolonisierungsaktionen und dem
12
Osadnictwo pogranicza polsko-ruskiego (wie Anm. 7), S. 122-124. DERS.: Polska ekspansja osadnicza (wie Anm. 7), S. 611-617.
JANECZEK:
Kolonisationsströmungen
im polnisch-reußischen
Grenzgebiet
40%
Lemberger Land, 15 Jh. 45%
Lemberger Land, 1578
Β etzer Land, 1570-1589
Diagramm 1: Die ethnische Zusammensetzung des Adels (ohne Geschlechter unbekannter Herkunft).
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Andrzej Janeczek
reußische
walachjsche unbekannte andere
polnische
Arme
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