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German Pages 330 Year 2014
Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne
Europäisch-jüdische Studien Beiträge
Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Redaktion: Werner Treß
Band 19
Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne Herausgegeben von Sven Brömsel, Patrick Küppers und Clemens Reichhold
ISBN 978-3-11-028927-5 e-ISBN 978-3-11-033912-3 ISSN 2195-9602 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Printing and binding: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Grußwort Das Leben und Werk Walther Rathenaus geben uns heute noch zu denken und bieten nachhaltigen Zündstoff für Auseinandersetzungen. In Maximilian Hardens Zukunft erschien im März 1897 unter dem Pseudonym W. Hartenau ein Höre, Israel! betitelter Aufsatz, der in ungewöhnlich selbstbewusster Sprache geschrieben, in jüdischen Kreisen unliebsames, in den Kreisen der Antisemiten amüsiertes Aufsehen erregte. Der Verfasser bekannte, selbst Jude zu sein, was ihn aber nicht hinderte, über seine Glaubensbrüder in hitzigen Worten („Seltsame Vision! Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffällig staffirt, von heißblütig beweglichem Gebahren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde.“) herzuziehen. Rosenbergs Völkischer Beobachter und Streichers Stürmer haben Jahre später es sich nicht nehmen lassen, diese Worte genussvoll immer wieder zu zitieren, wenn es galt, ein antisemitisches Zerrbild der Juden in der Öffentlichkeit zu zeichnen. Es wäre dieser Aufsatz nicht weiter erwähnenswert, wenn es sich bei dem Verfasser um einen Unbekannten gehandelt hätte. So aber war es eine Sensation, als sich 1902 kein Geringerer als Walther Rathenau als Verfasser herausstellte, der zu dieser Zeit noch einfaches Vorstandsmitglied der AEG war, sich aber bereits auf dem Wege befand, als Industrieller, Politiker und Schriftsteller eine der herausragenden Gestalten des zu Ende gehenden wilhelminischen Zeitalters zu werden. Ihm selbst ist der Aufsatz später peinlich gewesen. Er nannte ihn eine „Jugendflegelei“, eine Äußerung, die seine subjektiv empfundene Einstellung zu diesem Zeitpunkt vielleicht richtig wiedergibt, aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Identitätsproblematik im Laufe seines Lebens eine größere Rolle gespielt hat, als er im Rückblick zuzugeben bereit war. Wer war nun dieser Walther Rathenau, der sich zum Judentum bekannte, aber einen Trennstrich zwischen deutschen Juden und Ostjuden gezogen wissen wollte? Im vorliegenden Sammelband wird behutsam dieser Frage nachgegangen und besonders verdeutlicht, dass Rathenaus Sicht des Judentums sich in den Themen spiegelt, die ihn zwischen 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges bewegten. Dem vorliegenden Sammelband „Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne“ liegt ein Symposium vom 7. und 8. Juni 2012 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam zugrunde, das vom WaltherRathenau-Graduiertenkolleg zum 90. Todestag des Politikers und Denkers ausgerichtet wurde. Ich freue mich sehr, dass die Stipendiaten und Kollegiaten des Walther-Rathenau-Graduiertenkollegs sich zusammengesetzt und gemeinsam diese Konferenz geplant haben. Gefördert wurde die hochkarätige Veranstaltung
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Grußwort
von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und der Moses Mendelssohn Stiftung, denen an dieser Stelle noch einmal für die großzügige Unterstützung zu danken ist. Gediegene Wissenschaft und frische Blickwinkel warten nun mit neuen Impulsen und Erkenntnissen in der Rathenau-Forschung auf. Julius H. Schoeps
Inhalt Julius H. Schoeps Grußwort V Sven Brömsel, Patrick Küppers, Clemens Reichhold Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne 1 Dieter Heimböckel Walther Rathenau, das Netzwerk und die Moderne. Einführung Karl Corino Walther Rathenau und Robert Musil. Eine Konstellation
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Clemens Reichhold Walther Rathenau über Entfremdung und Regierung der Massen
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Christian Schölzel Walther Rathenau und Karl Radek. Die gescheiterte Emanzipation im Verhandlungszimmer 53 Ursel Berger „Der Judenrepublik gewidmet“ Der Rathenau-Brunnen im Volkspark Rehberge und die früheren Berliner Projekte für ein Rathenau-Denkmal 70 Volker Mergenthaler „Wie lange noch, o Catilina? …“ Joseph Roths Reportagen über den Prozess „gegen die in die Mordaffäre Rathenau verwickelten Personen“ 87 Steffi Bahro „Höre, Israel!“ Im Netzwerk der Moderne
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Hans Dieter Hellige Walther Rathenaus Pionierrolle in den Diskursen über das Nachhaltigkeitsproblem der Moderne 136 Patrick Küppers Rathenaus Kunstauffassung zwischen Moderne und Antimoderne
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Inhalt
Wolfgang Michalka Rathenaus blockierter Weg in die Politik Jasmin Sohnemann „Der Kaufmann und der Künstler“ Walther Rathenau und Stefan Zweig
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Wolfgang Martynkewicz Geistmenschen unter sich Walther Rathenau und der Salon Bruckmann
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Sven Brömsel Freundschaft mit dem Bohemien Hanns Heinz Ewers Martin Sabrow Rathenau erzählen
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Anhang
Literaturverzeichnis 301 Abbildungsverzeichnis 314 Über die Autorinnen und Autoren Personenregister 318
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Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne Dieser Sammelband kombiniert ausgewählte und überarbeitete Vorträge des Symposiums „Walther Rathenau im Netzwerk der Moderne“ mit zur Causa ausgerichteten Arbeiten anderer Autoren im Spektrum von Politikwissenschaft, Soziologie, Kunstgeschichte, Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie. Indem die Beiträge nicht streng in Sektionen geteilt, sondern in der lockeren Folge eines Protokolls präsentiert werden, ergeben sich Schnittstellen sowohl zwischen den Disziplinen als auch zwischen den Schwerpunkten „politische Umbrüche“, „Kunst/Kultur“ und „Antisemitismus“, nach denen das Symposium gegliedert war. Auf diese Weise gewinnen die einzelnen Beiträge durch gegenseitige Verschränkung und Ergänzung an Dynamik. Es zeigt sich, dass jeder der Beiträge besondere Netzwerke aufdeckt, die an zahlreichen und gelegentlich völlig unerwarteten Stellen Verbindungen mit anderen Beiträgen schaffen. Die Anordnung der Beiträge soll die Leser ermuntern, thematische und disziplinäre Grenzen zu queren und, unterstützt von dem Register, eigene Wege und Verknüpfungen in der Vielseitigkeit der Person und des Lebens Walther Rathenaus zu suchen und zu finden. In der Konzeption des Symposiums und dieses Bandes ging es darum, über den Netzwerkbegriff das Moderne Walther Rathenaus und seines Umfeldes zu erfassen. Als Netzwerker steht Rathenau für eine Epoche der gesellschaftlichen Differenzierung, Spezialisierung und Individualisierung, die gleichzeitig von einem geradezu religiösen Verlangen nach Einheit und Integration geprägt ist. Diesem scheinbaren Widerspruch wird nachgegangen und Rathenau als Persönlichkeit gewürdigt, die aktiv an der Deutung und Gestaltung ihrer Zeit Teil hatte. Aus dieser Konstellation ergibt sich die Relevanz und Attraktivität gegenwärtiger Betrachtung. Die Herausgeber sind daher Dieter Heimböckel zu Dank verpflichtet, der als Experte für die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts die zentralen Begriffe „Netzwerk“ und „Moderne“ einer ebenso erhellenden wie vergnüglichen Reflexion unterzieht und damit diesen Band eröffnet. Umso mehr, als diese Begriffe in fast allen Beiträgen aufgegriffen, diskutiert und nuanciert werden. Hans Dieter Hellige legt im Rahmen dieser Sammlung eine umfassende Darstellung zum Konzept der Nachhaltigkeit in Rathenaus Wirtschaftsdenken und den Debatten seiner Zeit vor und schreibt damit ein Kapitel über die Kulturgeschichte der Ressourcenethik. Es wird deutlich, wie Energie, Rohstoffe und Arbeitskraft zu zentralen Themen des einstigen AEG-Sprösslings werden und diesbezügliche Überlegungen in einer sozialen Wirtschaftsidee kulminieren. Hel-
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liges Ausführungen berühren zudem weitere Untersuchungen zu Rathenaus merkantilen und politischen Vorstellungen in den Beiträgen von Christian Schölzel und Wolfgang Michalka. Rathenaus Haltung gegenüber zeitgerechten Formen gesellschaftlicher und kultureller Ordnung findet Berücksichtigung in den Aufsätzen über seine Kritik der Massen und zu seinen ästhetischen Neigungen im Spannungsfeld von Moderne und Antimoderne. Den Widersprüchen seiner Zeit entsprechend, plädiert er dabei einerseits für fortschrittliche Ökonomie und andererseits für die Überwindung immanenter Prozesse der Entfremdung, engagiert sich für die künstlerische Avantgarde und zeigt Vorlieben für völkische Responsionen. Die Grundlagen dieser Analysen bilden Rathenaus tagespolitische und sozialphilosophische Schriften. Die Ausführungen Martin Sabrows schließen den Band mit unterschiedlichen Narrativen zu Rathenau ab, wie sie das Symposium in Erinnerung an dessen Ermordung vor 90 Jahren eröffneten. Dieser Schlussakkord in drei Teilen lässt noch einmal die prekäre politische Lage der Zeit anklingen und spricht von einem sinnentleerten Attentat, das nur notdürftig mit blindem Judenhass erklärbar sei. Das tatsächliche Mordmotiv: eine „gegenrevolutionäre Putschstrategie“ mit einem „bis in die Wehrmacht reichenden Hochverratsplan“, blieb unaufgedeckt. Die Art, wie dieses Mordes an einer zentralen Figur der Weimarer Republik unmittelbar und in der Folge erinnert wird, kehrt als Aspekt einiger weiterer Beiträge wieder. Neben Ursel Berger, die sich der Erinnerungskultur über die wechselvolle Geschichte des Rathenau-Brunnens in Berlin nähert, suchen andere Autoren Rathenaus Bedeutung und Wirkung für die Gegenwart durch eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Deutungstraditionen zu bestimmen. Die Arbeiten Jasmin Sohnemanns und Volker Mergenthalers befassen sich mit der Bewertung Rathenaus, die kurz nach dessen Ermordung einsetzt und anhand der Schriften Stefan Zweigs und der Gerichtsreportagen Joseph Roths nachgezeichnet wird. Dieser Band wurde durch die organisatorische Unterstützung des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam ermöglicht, das in den letzten zwanzig Jahren unverzichtbare Grundlagenforschung im Bereich der Erinnerungskultur geleistet hat. Wir freuen uns daher, dass die Bedeutung Rathenaus für die Geschichte des Judentums in Deutschland, auf die Julius H. Schoeps, der das Symposium und den Sammelband anregte, hinweist, in den Beiträgen dieses Bandes wiederholt zur Sprache kommt. Der Beitrag Steffi Bahros widmet sich einer neuen Lesart des kontroversen Textes Höre, Israel! und dessen kulturgeschichtlichen Referenzpunkten seit dem 18. Jahrhundert. Rathenaus Umgang und Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft finden zudem Berücksichtigung in den Beiträgen
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über Karl Radek, Hanns Heinz Ewers und über Rathenaus blockierten Weg in die Politik. Zahlreiche Beiträge verbindet eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber den Korrespondenzen Rathenaus, die in der Forschung noch immer sehr lückenhaft untersucht sind. Die diesbezüglich wohl gelungenste Darstellung und Zeitdiagnose gelang Hans Dieter Hellige mit der aufwändigen Herausgabe des Harden-Rathenau-Briefwechsels. Anderer Schriftverkehr des Industriellen, Philosophen und Politikers ist bislang noch nicht oder nur unvollständig ediert, wodurch bereits an dem verwendeten Material deutlich wird, dass immer wieder neue Perspektiven auf Rathenau zu entdecken sind. Einen kaleidoskopischen Blick auf das weite Beziehungsgeflecht eröffnen die vorliegenden Arbeiten über Hanns Heinz Ewers, Stefan Zweig und Robert Musil. Über solche Korrespondenzen hinaus, versuchen Wolfgang Martynkewicz am Beispiel des Münchner Bruckmann-Salons und Christian Schölzel im Falle von Karl Radeks „Haft-Salon“ die Entwicklung von literarischen und politischen Kreisen nachzuzeichnen, die Rathenau geprägt haben. Weitere Kreise ergaben sich über diverse Zeitschriften, die Rathenaus umfangreichem und vielfältigem Schreiben als Orte der Erstpublikation dienten. Auch die Geschichte dieser Zeitschriften und deren Organisation ist ein lohnendes, in weiten Teilen noch zu erkundendes Forschungsfeld, auf dem nähere Erkenntnisse über Rathenaus Bewegungen in den Netzwerken der Moderne gewonnen werden können. Einige diesbezügliche Annäherungen finden sich in dem Beitrag über Ewers’ Deutscher Montagszeitung und klingen in Ausführungen zu Hardens Zukunft an, über die auch der Kontakt zwischen Rathenau und Stefan Zweig zustande kam. Einen Einblick in die Beziehungen innerhalb des Verlagshauses Samuel Fischer gewährt der Beitrag Karl Corinos. Über die auf vielfältige Weise untersuchte Rolle Rathenaus innerhalb der Netzwerke seiner Zeit eröffnen sich zwangsläufig Perspektiven, die über die deutschen Verhältnisse hinausführen. Als Industrieller, als Reisender, schließlich als Minister, vor allem als Außenminister, war Rathenau den Phänomenen der Globalisierung stark ausgesetzt und er gestaltete diese teilweise mit. Diese Aspekte sind innerhalb der Rathenau-Forschung noch immer wenig erschlossen und auch dieser Band zeigt neben einigen Ergebnissen vor allem Möglichkeiten und Desiderate auf. Kommenden Forschungsarbeiten, gerade solchen außerhalb Deutschlands, mögen die hier vorgelegten Erkundungen daher Ermutigung sein, verstärkt den internationalen Netzwerken, Beziehungen, Einflüssen und Wirkungen rund um den sich in einer bereits stark globalisieren Moderne bewegenden Walther Rathenau nachzugehen. Die Herausgeber haben vor allem aus den Texten des Sammelbandes gelernt, dass die politischen, wirtschaftlichen und ästhetischen Rathenau-Kontexte nicht
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nur wertvoll für ein sensibles Zeitverständnis von heute sind, sondern – und vor allem – es noch immer vielfältig anregend sein kann, sich mit den Konturen und Verwebungen dieser einzigartigen Persönlichkeit auseinanderzusetzen.
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Walther Rathenau, das Netzwerk und die Moderne. Einführung Wenn die Moderne, einem Wort Walter Benjamins zufolge,¹ sich am wenigsten gleich geblieben ist, so muss dies auch für diejenigen gelten, die in ihr leben und wirken. Andernfalls macht die Rede von der Moderne keinen Sinn. Denn die Moderne ist, wie jede andere Epoche auch, nichts Gegebenes, sondern etwas Gemachtes. Häufig haben wir es bei Epochenbezeichnungen mit Konstruktionen zu tun, die aus der Retrospektive gewonnen wurden und unter Zeitgenossen selbst nicht einmal bekannt bzw. geläufig waren. Infrage wurde sogar gestellt, ob es überhaupt so etwas wie das Bewusstsein einer Epoche gibt.² Sicher gibt es so etwas wie ein Bewusstsein für Ereignisse, die Epoche machen oder von denen man voraussetzen darf, dass sich mit und in ihnen etwas Grundlegendes ändert. Aber inwieweit sie es verdienen, für die Nachfolgezeit als Epoche bildend zu gelten, liegt regelmäßig im Ermessen derjenigen, die aus der historischen Betrachtung eine auch begrifflich tragfähige Summe ziehen. Bei der Moderne haben wir es allerdings mit einem Sonderfall zu tun, der jenseits von Ermessensfragen liegt. Zumindest erlaubt sie es ihren Interpreten nicht, solange sie sich ihr zurechnen dürfen, auf Distanz zu ihr zu gehen. Die Moderne zu analysieren und gleichzeitig ihr anzugehören, kann dazu verleiten, dass ihr ein Vorverständnis unterlegt wird, das eigentlich Aufgabe einer Rekonstruktion sein sollte. Man müsste, wenn man so will, die Moderne erst hinter sich lassen, um zu unbefangenen Ergebnissen zu kommen – was bei einer Epoche, deren Gründungsinnovation nach wie vor ungeklärt ist,³ einigermaßen schwerfallen
1 Vgl. Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: Gesammelte Schriften. Werkausgabe. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1980. Bd. 2, S. 509–690, 593. 2 Vgl. Blumenberg, Hans: Aspekte der Epochenschwelle – Cusaner und Nolaner. Frankfurt a. M. 1976, S. 20. 3 Exemplarisch hierfür steht die ursprünglich literaturwissenschaftlich geführte, dann aber interdisziplinär ausgeweitete Richtungsdebatte zur Moderne im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur [im Folgenden: IASL]. Vgl. der Reihe nach: Lohmeier, Anke-Marie: Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe. In: IASL 32 (2007), H. 1, S. 1–15; Anz, Thomas: Über einige Missverständnisse und andere Fragwürdigkeiten in Anke-Marie Lohmeiers Aufsatz „Was ist eigentlich modern?“. In: IASL 33 (2008), H. 1, S. 227–239; Stöckmann, Ingo: Erkenntnislogik und Narrativik der Moderne. Einige Bemerkungen zu Anke-Marie Lohmeiers Aufsatz „Was ist eigentlich modern?“
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dürfte. Mit der Problematik des Anfangs stellt sich aber auch die Frage, ob die Trennung zwischen Alt und Neu, Sieger und Besiegtem sich tatsächlich so eindeutig ausmachen lässt, wie es der Moderne und ihrem Stichwortgeber in Form der „Querelle des Anciens et des Modernes“ gerne unterstellt wird. Die jüngere Moderne-Forschung etwa hat aufzeigen können, dass die klassische Dichotomie zwischen Tradition und Modernität an vielen Stellen brüchig bzw. durchlässig ist⁴ und die Moderne als eine Entwicklung begriffen werden kann, die tendenziell ihr Gegenteil (etwa in Form der Antimoderne, der paradoxen Selbstnegation⁵ oder eben auch der Tradition) mit einschließt. Einzelstudien können darüber weitere Aufschlüsse liefern; die Auseinandersetzung mit Walther Rathenau aber scheint dafür wie geschaffen zu sein. So ist die Ergiebigkeit in Sachen Moderne für die Rathenau-Forschung vergleichsweise unstreitig. Das gilt für die Frage, inwieweit Rathenau eine exemplarische Gestalt der Moderne verkörpert, ebenso wie für seine schriftstellerischen Beiträge, die in ihrer diagnostischen Ausrichtung gleichzeitig an der Konstruktion der Moderne partizipieren. Lässt man die unterschiedlichen Arbeiten Revue passieren, in denen Rathenaus Verhältnis zur Moderne thematisiert wurde, so liefern diese selbst ein Stück Geschichte ihrer Aufarbeitung. Dabei gehen mit ihr unterschiedliche Zuschreibungen einher, die einerseits darauf ausgerichtet sind, eine hervorstechende Eigenschaft Rathenaus zu akzentuieren bzw. in seiner zur Multiversiertheit neigenden Eigenart doch so etwas wie eine dominante Stimme zu ermitteln; andererseits folgen sie der Bemühung, seine heuristische Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der Moderne zu betonen. Da ist von Rathenau als „system builder“, „Megaperson“ und „Hochmeister des Kapitalismus“⁶
und Thomas Anz’ Kritik. In: IASL 34 (2009), H. 1, S. 224–231; des Weiteren für die „ModerneDebatte“: IASL 34 (2009), H. 2, S. 176–239, u. IASL 37 (2012), H. 1, S. 31–134. 4 Vgl. Schwinn, Thomas: Die Vielfalt und die Einheit der Moderne – Perspektiven und Probleme eines Forschungsprogramms. In: Ders. (Hrsg.): Die Vielfalt und die Einheit der Moderne. Kulturund strukturvergleichende Analysen. Wiesbaden 2006, S. 7–34, 11: „Traditionen verschwinden nicht unter dem Einfluss der Modernisierung, sondern überleben in modifizierter Form und bestimmen darüber mit, wie Modernitätspfade und -muster aussehen. Nicht nur das Moderne siebt das Traditionale aus, sondern auch traditionale Elemente bestimmen darüber mit, welche modernen ausgewählt, wie sie neu definiert und an die vorhandenen Bedingungen angepasst werden.“ 5 So spricht Anke-Marie Lohmeier für den Bereich von Kunst und Literatur von dem paradoxen Grundzug der ästhetischen Moderne, „die Moderne vollziehend zu verneinen“. Lohmeier, Was ist eigentlich modern? (wie Anm. 3), S. 10. 6 Der Reihe nach: Hughes, Thomas P.: Walther Rathenau: „system builder“. In: Buddensieg, Tilmann [u. a.]: Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne. Berlin 1990, S. 9–31; Lepenies, Wolf: Das Geheimnis des Ganzen. In: Buddensieg, Tilmann [u. a.]:
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sowie vom Visionär und „Phänotyp“ oder sogar von dem Begründer einer anderen Moderne⁷ die Rede. Für die eine oder andere Schwerpunktsetzung kann ein solches Vorgehen durchaus hilfreich sein. Der in dem vorliegenden Sammelband unternommene Versuch, Rathenau und seine Zeit nicht nur allein von der Person her, sondern auch im Lichte seiner Beziehungen zu verstehen, verspricht dazu weiterführende und ergänzende Einsichten gerade auch in Bezug auf die unterschiedlichen und wechselnden Kontexte, in denen er sich bewegte. Denn, wie es der Verlag in der Ankündigung dieses Bandes herausstellt, war Rathenau „„als Intellektueller, Unternehmer und Minister, als Verfasser zahlreicher Schriften und Briefe ein wichtiger Akteur in Netzwerken der Wirtschaft, der Politik, der Soziologie und der Kunst“. Die nachfolgenden Überlegungen greifen diesen Aspekt seines Handelns auf, indem sie seine Netzwerktätigkeit und das darin liegende Aktualitätspotenzial vor dem Hintergrund seiner forcierten Projektaktivitäten in den Blick nehmen. Thomas Mann war der Begriff des Netzwerkers noch nicht geläufig. Aus dieser Not machte er gewissermaßen eine Tugend und bezeichnete Rathenau mangels Alternativen als eine „kulturelle Neubildung von hoher Merkwürdigkeit“.⁸ Es war dies der kaum zureichende Versuch, schlagwortartig den Aktionsradius eines Zeitgenossen zu umgrenzen, der aufgrund seiner unterschiedlichen Aktivitäten eine für deutsche Verhältnisse singuläre Erscheinung war. Gerade aber weil Rathenau sich in den unterschiedlichen Kulturen wie selbstverständlich bewegte, verkörpert er wie kein anderer den Zwiespalt „zwischen technischen
Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne. Berlin 1990, S. 140–142, 141; Pogge von Strandmann, Hartmut: Hochmeister des Kapitalismus. Walther Rathenau als Industrieorganisator, Politiker und Schriftsteller. In: Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau 1867–1922. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute, New York. Hrsg. von Hans Wilderotter. Berlin 1993, S. 33–44. 7 Der Reihe nach: Stern, Fritz: Walther Rathenau and the Vision of Modernity. In: Ders.: Einstein’s German World. Princeton/N. J. 2001, S. 165–190; Delabar, Walter/Heimböckel, Dieter (Hrsg.): Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne. Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien. Bielefeld 2009; Rohkrämer, Thomas: Walther Rathenau. In: Ders.: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933. Paderborn [u. a.] 1999, S. 71–116. Auf Rathenau als einen Modernisierer, „der die Modernisierung ebenso bewunderte wie verabscheute“, weist auch Shulamit Volkov in ihrer jüngst erschienenen RathenauBiografie hin: Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland. München 2012, S. 8 [vgl. dort auch (S. 231f.) die summarische Übersicht der seit den 1920er-Jahren veröffentlichten Biografien über Rathenau]. 8 Mann, Thomas: Rede über das Theater. In: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1974, S. 281–298, 293.
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Imperativen und kulturellen Idealen“,⁹ der ihn zu unzeitgemäßen Betrachtungen über die Ausprägung und Wirkung einer Zeit veranlasste, die selbst voller Umbrüche und Verschiebungen war und die er maßgeblich mitgestaltete. Die Diskrepanz zwischen Erfahrung und Erwartung, zwischen nationaler Vergangenheit und globaler Zukunft, mündet bei ihm jedoch nicht in die Ungewissheitsformel eines „effective distrust“ (Aaron Wildavsky),¹⁰ die nach Maßgabe reflexiver Pluralität die Dynamik des Modernisierungsprozesses aufgreift, ohne noch nach eindeutigen Lösungen zu suchen. Seine diesbezüglichen Überlegungen bewegen sich vielmehr noch im Rahmen eines reflexiven Fundamentalismus,¹¹ dem es um die Herstellung traditioneller und zwischenzeitlich fragil gewordener Werte geht. In der Praxis, als leitender Angestellter und nachmaliger Präsident der AEG und vor allem als Leiter der so genannten Kriegsrohstoffabteilung während des Ersten Weltkrieges, hatte sich Rathenau allerdings eine Position zu eigen gemacht, die seinen Fundamentalismus in eine globale Perspektive auf der Basis eines jener „Weltprojekte“ einschrieb, die um 1900 Hochkonjunktur hatten. Indem er gerade im Rahmen der Kriegsrohstoffabteilung „Wirtschaft zu einem geschlossenen System innerhalb der abgeschotteten Landesgrenzen“ reduzierte, zielte er darauf ab, auf einer vergleichsweise eng begrenzten Region „die ganze Welt abzubilden“¹² und sie – vielleicht ein letztes Mal – in ihrer Gesamtheit zu ordnen. Das dahinter stehende Kalkül ist im Großen und Ganzen das eines Organisators, der darauf aus ist, schnelle Abhilfe für drängende Probleme zu finden, um sich dann, sobald ihre Bewältigung in Sicht ist, neuen Aufgaben zuwenden zu können. Aus der Sicht von Markus Krajewski erfüllte Rathenau damit Voraussetzungen, die es rechtfertigen, ihn der Kategorie des Projektemachers zuzurechnen. Auf der Suche nach Unterstützung, in der Verwertung des ihm einmal anvertrauten Kapitals, vor allem aber bei der Umsetzung seiner Pläne operiert der Projektemacher mit hohem Risiko, nämlich mit dem Risiko zu scheitern. Dabei arbeitet er stets unter Spannung zwischen Erfolg und Ruin, zwischen Gefeiertsein und Bannfluch. Doch seine Unternehmungen erweisen sich nicht nur in finanzieller Hinsicht als Gratwanderung. Der Projektemacher bewegt sich ebenso unter epi-
9 Rohkrämer, Walther Rathenau (wie Anm. 7), S. 84. 10 Zit. nach Beck, Ulrich: Wissen oder Nicht-Wissen? Zwei Perspektiven „reflexiver Modernisierung“. In: Ders./Giddens, Anthony/Lash, Scott: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a. M. 1996, S. 289–315, 305. 11 Zu diesem Konzept vgl. ausführlicher Heimböckel, Dieter: Reflexiver Fundamentalismus. Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“. In: Delabar, Walter/Plachta, Bodo (Hrsg.): Thomas Mann (1875–1955). Berlin 2005, S. 107–123. 12 Krajewski, Markus: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900. Frankfurt a. M. 2006, S. 244.
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stemologischen Gesichtspunkten im Bereich hochgradiger Unentschiedenheit. Denn er befindet sich im status nascendi einer neuen Erkenntnis.¹³ Der Projektemacher ist, obwohl er sich mitten ins Leben stürzt, ein Akteur an den Rändern der Erkenntnis – einer, der es auf „Bauble[s]“ absieht,¹⁴ wie es Daniel Defoe in seiner Grundlagenschrift Essays upon Projects (1692) schon zu einer Zeit bezeichnete, als man sich daran gewöhnt hatte, mit einer eigenartigen Figur zu leben, die, um sich aus einer persönlichen Zwangslage zu befreien, vorzugsweise Pläne für das Gemeinwohl zu schmieden beliebte. Wenn von dem Projektemacher Rathenau die Rede ist, so müssen allerdings noch weitere Konturen dieses Machens geschärft werden, um es mit seinem spezifischen Denken und Agieren verknüpfen zu können. Als Ausgangspunkt gilt: Wer Projekte macht, geht das Risiko ein, zu scheitern. Dabei lenkt die Verengung des Risikobegriffs „auf negative Folgewirkungen und die damit einhergehende pseudothematische Gleichsetzung von Risiken mit ‚Schadenshöhe mal Schadenswahrscheinlichkeit‘“ davon ab, „daß Risiken auch etwas mit Entscheidungen zu tun haben und keineswegs wie Naturkatastrophen über die Menschen hereinbrechen.“¹⁵ In der Unsicherheit über das Ergebnis zeigt sich zwar die Unbestimmtheit des Risikos. Die Möglichkeit, dass etwas eintritt, das man im Nachhinein bereuen könnte, schließt aber auch den – graduell allerdings differenzierbaren – Glauben an einen positiven Ausgang der Entscheidung ein.¹⁶ Erst unter der Voraussetzung der Machbarkeit hat auch das Risiko Konjunktur. Sie wird zum Leitgedanken der „probabilistic revolution“¹⁷ zu Beginn der Moderne, wobei das Risiko nicht zuletzt auch dazu dient, das Nichtwissen, dessen sich die Moderne vermehrt ausgesetzt sieht, in Wissen zu überführen. Auf den Verlust von Gewissheit wird so mit dem Versuch ihrer Rückeroberung geantwortet – in der paradoxen Volte der Reduzierung des Nichtwissens durch ein Mittel, das dessen Bestand angehört. Das wäre eine andere Variante der Risikogesellschaft, die das Risiko sucht, weil sie sich nach Sicherheit sehnt. Damit aber sind gleichzeitig die Aporien eingekreist, in denen sich die Moderne als eine
13 Krajewski, Restlosigkeit (wie Anm. 12), S. 18. 14 Defoe, Daniel: Selected writings. Hrsg. von James T. Boulton. Cambridge 1975, S. 25. 15 Bonß, Wolfgang: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne. Hamburg 1995, S. 33. 16 Die Beschäftigung mit Risiko setzt – nach Ortwin Renn [u. a.] – „ein Mindestmaß an Gestaltbarkeit der Zukunft und damit Vermeidbarkeit von unerwünschten Ereignissen durch vorsorgendes Handeln voraus. Als solches beruht das Risikokonzept maßgeblich auf der Annahme, dass Risiken mentale Produkte, also Produkte des menschlichen Geistes sind.“ Vgl. Renn, Ortwin [u. a.]: Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit. München 2007, S. 20. 17 Bonß, Risiko (wie Anm. 15), S. 286.
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Epoche, die das Unbestimmte durch „Apparate der Kohärenz“¹⁸ einzudämmen versucht, bis heute bewegt. Im Dazwischen des Risikos steht der Projektemacher selbst im Grenzraum von Hochschätzung und Verachtung, Erfolg und Ruin. Als „schlechthin modern[e] Gestalt“¹⁹ ist der Projektemacher darauf aus, das Risiko zu erproben. Für Rathenau wie für andere Projektemacher gilt damit aber auch, dass durch das Eingehen von Risiken der Habitus des selbstverantwortlichen Individuums „zirkulär verstärkt wird“.²⁰ Im Individualisierungsprozess der Moderne wird das Projektemachen so zum Gradmesser von Freiheit – und das Risiko ihr Elixier. Wer macht, wird sich seiner Eigen-Mächtigkeit und Andersheit bewusst.²¹ Walther Rathenau kann „alles simultan verfolgen, denn er macht immer schon in Projekten. Statt den Aufbau von Systemen zu verfolgen, befindet er sich auf der Suche nach zu verwirklichenden Wagnissen. Er zielt ins epistemologische Dazwischen der Ökonomie.“²² Die Risikokonstellation des Dazwischen bezeichnet einen Raum des Unbestimmten, auf den Rathenau sein Handeln als Ökonom und Politiker ausrichtet. Es ist ein Handeln allerdings, das sich keineswegs mit dem Zustand des Liminalen arrangieren oder das Scheitern als Zielgröße akzeptieren will. Angestrebt ist die Verwirklichung, auch wenn es nicht immer dazu kommt. Von der Vorstellung, dass mit der Risikonahme das Wohl der wirtschaftlichen Unternehmungen und des Staates, aber auch die Möglichkeit eigenen Fortkommens gesichert sein könnten, hat Rathenau nie abgelassen. Als Projektemacher suchte er daher nach Unsicherheit, um Sicherheit zu gewinnen; und das heißt auch: Er suchte das Risiko, um es in letzter Konsequenz zu beherrschen oder zumindest
18 Lethen, Helmut: Unheimliche Nachbarschaften. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 1 (1995), S. 76–92, 77. 19 Stanitzek, Georg: Der Projektmacher. Projektionen auf eine ,unmögliche‘ moderne Kategorie. In: Ästhetik & Kommunikation 17 (1987), H. 65/66, S. 135–146, 144. 20 Japp, Klaus Peter: Risiko. Bielefeld 2000, S. 7. 21 Autonomie und Alterität werden – vor allem in der ästhetischen Moderne – immer wieder als ihre zentralen Säulen geltend gemacht. Die Kunst als das Andere des Lebens ist dabei zugleich eine psychosoziale Form der Versicherung gegen den Verlust der Autonomie. Daran partizipierte auch Rathenau, wenn ihm als engagierter Patriot, wie Shulamit Volkov hervorhebt, „doch gleichzeitig sein ,Anderssein‘ immer wichtig war.“ Volkov, Walther Rathenau, S. 8. Zu der mit der Vorstellung vom Anderssein einhergehenden individual- und geistesaristokratischen Haltung bei Rathenau vgl. vor allem Hellige, Hans Dieter: Rathenau und Harden in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs. Eine sozialgeschichtlich-biographische Studie zur Entstehung neokonservativer Positionen bei Unternehmern und Intellektuellen. In: Ders. (Hrsg.): Walther Rathenau. Maximilian Harden. Briefwechsel 1897–1920. München/Heidelberg 1983 [= Walther-RathenauGesamtausgabe. Bd. VI], S. 15–299. 22 Krajewski, Restlosigkeit (wie Anm. 12), S. 235.
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einzudämmen. Auch seine Schriften sprechen davon. Im Reich der Seele, das er in seiner philosophischen Hauptschrift Zur Mechanik des Geistes (1913) entwirft,²³ gibt es für Zufälle jedenfalls keinen Raum. In Rathenaus projektemacherischer Neigung, alles simultan zu verfolgen, dürfte auch einer der Gründe zu sehen sein, warum er zeit seines Lebens nicht nur nach Kräften darum bemüht war, Netzwerke zu bilden, sondern sich auch für deren Aufbau, Strukturen und Funktionsweisen interessierte. Dabei ist die in seinem Werk vielfach wiederkehrende Netzmetapher, mit deren Hilfe er ganz unterschiedliche, einerseits technische oder wirtschaftliche, andererseits kulturelle oder geistige Phänomene zu erfassen und zu beschreiben suchte, charakteristisch für seinen Willen zur synergetischen Denkweise. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass sich in seinem Metaphern-Gebrauch der in systemischen Kategorien denkende Ingenieur, Finanzier und Chemiker zu erkennen gibt.²⁴ Dagegen spricht neben seinem Rekurs auf ganzheitliche Denkweisen lebensphilosophischer Herkunft zum einen die Prävalenz kulturkritischer und literarischer Themen in seinen frühen Schriften, zum anderen aber auch die weitverzweigte, sich nicht allein auf die Darstellung von Energie- und Transportnetzen beschränkende Metaphernbildung. Ihrer bediente er sich auch dort, wo es ihm um die Erfassung von Herrschaftsstrukturen oder Homogenisierungsprozessen ging, sodass sich bei ihm im Bild des Netzes Erscheinungen vereinigten, die durchaus im Widerspruch zueinander standen: Denn während er als Wirtschaftsorganisator die technisch-wirtschaftliche Vernetzung hin zur Konzentration und Zentralisation begrüßte und selbst förderte, bemängelte er als Kulturkritiker die daraus entstehende soziokulturelle Nivellierung und Einförmigkeit. Mit seiner eigenen „eifrige[n] Netzwerktätigkeit“²⁵ verfolgte Rathenau allerdings eine Strategie, die in dieser Form erst für den neuen Geist des Kapitalismus seit den 1980er-Jahren spezifisch ist.²⁶ Denn anders als unter den Voraussetzungen des bürgerlichen Unternehmertums Ende des 19. Jahrhunderts wird im neuen, netzwerkökonomisch organisierten Kapitalismus der „flexible Mensch“²⁷ gefordert und gewünscht. Sein Held ist der flexible Netzwerker, der „homme
23 Vgl. Heimböckel, Dieter: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit. Studien zu Werk und Wirkung. Würzburg 1996, S. 193–203. 24 Vgl. Hughes, „system builder“ (wie Anm. 6), S. 16. 25 Krajewski, Restlosigkeit (wie Anm. 12), S. 235. 26 Vgl. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. Konstanz 2006. 27 Im Sinne von Richard Sennett, bei dem die Konzepte des „flexiblen Menschen“ und des „neuen Kapitalismus“ in der Denkfigur des „flexiblen Kapitalismus“ zusammenfließen. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 4. Aufl. Berlin 2008, S. 10.
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léger“ bzw. „schwerelose Mensch“,²⁸ der seinen zentralen Wertmaßstab in der Aktivität, d. h. in der Fähigkeit findet, Projekte zu entwickeln oder sich ihnen anzuschließen. Im Bezugsrahmen des projektbezogenen Managements ist die Aktivität dasjenige Äquivalenzmaß, an dem sich die Wertigkeit von Personen und Objekten ausrichtet.²⁹ Dabei ist das projektbildende Handeln vor allem deshalb von Bedeutung, weil es Netze erweitert und neue Kontakte knüpft. Zentral sind soziale und kommunikative Kompetenzen und die Verfügung über Beziehungen. Wesentliche Figur ist diejenige des Vermittlers, dessen Aktivität darin besteht, Akteure in Verbindung zu bringen. Vermittler müssen flexibel, anpassungsfähig und mobil sein, neue Verbindungen müssen personal-sozial und gedanklich-konzeptionell hergestellt werden. Offenheit und Umgänglichkeit sind daher weitere Persönlichkeitseigenschaften, die wertgeschätzt werden.³⁰
Die hinter diesem Persönlichkeitsprofil stehende Konnexionslogik folgt einem Muster, das sich an Wissenschaftlern und Künstlern orientiert, weil diese sich einerseits in Bereichen bewegen, „in denen das Wissen hochgradig spezialisiert, kreativ und individuell ist“, und weil ihnen andererseits die Fähigkeit zur fach-, gesellschafts- und kulturübergreifenden Verständigung zugesprochen wird. Wer in der Lage ist, zwischen unterschiedlichen Welten Brücken zu schlagen, „die nicht nur weit voneinander entfernt, in unterschiedlichen Welten beheimatet sind, sondern die sich zudem noch von seinem Herkunftsmilieu und engstem [sic!] Bekanntenkreis unterscheiden“,³¹ der verfügt über eine im projektbezogenen Management gefragte und entsprechend positiv sanktionierte Kompetenz. Diese Kompetenz hatte Rathenau noch unter Zeitgenossen den Ruf eingetragen, „das paradoxeste aller paradoxen Lebewesen des alten Deutschlands“³² zu sein, einen Ruf, zu dem er bezeichnenderweise und häufig genug – sei es nun öffentlich oder privat – selbst die Spur gelegt hatte.³³ Dabei war Rathenau, aus heutiger
28 Boltanski/Chiapello, Kapitalismus (wie Anm. 26), S. 207. Zum „homme léger“ vgl. das Original: Le nouvel Ésprit du Capitalisme. Paris 1999, S. 234. 29 Vgl. Boltanski/Chiapello (wie Anm. 26), Kapitalismus, S. 155. 30 Kocyba, Hermann/Voswinkel, Stephan: Kritik (in) der Netzwerkökonomie. In: Hessinger, Philipp/Wagner, Gabriele (Hrsg.): Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien und Ambivalenzen der Netzwerkökonomie. Wiesbaden 2008, S. 41–62. 47. 31 Boltanski/Chiapello, Kapitalismus (wie Anm. 26), S. 162 u. 164. 32 Jesus im Frack. In: Die Republik (19. 12. 1918), Nr. 17. 33 Dabei konnte es vorkommen, dass er eine Bildungstradition aufrief, deren dadurch vermittelte Selbsterhöhung kaum noch eine Überbietung zuließ – so geschehen in der Tischrede anlässlich seines 50. Geburtstages, in der ihm das Gleichnis vom Wagenlenker und den beiden Rossen aus Platons „Phaidros“ zur Veranschaulichung seiner Hin- und Hergerissenheit diente.
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Sicht zumindest, ein Netzwerker, wie er im Buche steht; vielleicht war Rathenau in dieser ihm eigenen Form der Erste, der das Risiko einging, das Projekt Netzwerk im großen Stil in Angriff zu nehmen. Seine Zeitgenossen konnten sich auf dieses Projekt keinen Reim machen und behalfen sich, wie das Beispiel Thomas Manns zeigt, mit kryptischen Formulierungen oder verhandelten es im Rahmen eines Wissensspektrums, das ihnen bekannt bzw. diskursiv vermittelt war. Entweder stilisierte man ihn – im Sprachgebrauch der Zeit und wenn man es gut mit ihm meinte – zu einem Renaissancemenschen, der es wie Lorenzo de’ Medici, Pico della Mirandola oder Francis Bacon ein letztes Mal verstanden habe, Entferntestes zusammenzubringen, oder man witterte dahinter ein kalkuliertes Vorgehen, das alles „sub specie der AEG“ sehe.³⁴ Für Betroffene, die in Beziehung zu ihm standen, mochte das zuweilen den Eindruck der Gleichgültigkeit oder Oberflächlichkeit erwecken.³⁵ Dass hier jemand dabei war, die in der Vernetzung liegenden Informations- und Kontaktchancen dem materiellen wie dem symbolischen Kapital zuzuschlagen, ohne sich selbst zu binden, mochte wohl niemandem so recht aufgegangen sein. Heute würde man in einem solchen Verhalten womöglich Züge eines Netzwerkopportunisten vermuten.³⁶ Wie dem auch immer sei: War Rathenau schon im Netzwerk der Moderne unterwegs wie kaum ein Zweiter, so dürfte seine eigene Netzwerktätigkeit ohnegleichen sein.
„Ein Kampf ist durch mein Wesen immer gegangen […]. Man sieht, wie das eine Pferd sich bäumt, den Zügel packt, schäumt und schwitzt, sich zusammenreißt, biegt, auf die Hinterbeine setzt und stutzt und dann wieder hinwegfliegt; der Wagenlenker muß sich zur Seite beugen, um der Kurve nachzugeben, und dann geht das Spiel auf der anderen Seite mit dem anderen Gaule los.“ Rathenau, Walther: Zwei Tischreden zur Feier des 50. Geburtstages. In: Ders.: Gesammelte Reden. Berlin 1924, S. 9–25, 19. Vgl. hierzu ausführlicher: Heimböckel, Dieter: Kunst contra Mechanisierung. Walther Rathenaus Beitrag zur Mythenpolitik der Moderne. In: Delabar/ Heimböckel, Phänotyp (wie Anm. 7), S. 11–28. 34 Landmann, Edith: Gespräche mit Stefan George. Düsseldorf/München 1963, S. 90. 35 Davon berichtete jedenfalls Harry Graf Kessler, der Rathenaus Verhalten allerdings einer „halbseitige[n] Lähmung seines Gefühllebens“ zuschrieb: „Beziehung folgt auf Beziehung, mit Männern und Frauen, mit bedeutenden und unbedeutenden, mit berühmten und unberühmten, mit anspruchsvollen und rührend anspruchslosen, mit naiven und schlauen, meistens nur auf Tage, Wochen, Monate und ohne eine Spur zu hinterlassen, so daß nicht ganz ohne Recht jemand, der das Jahr für Jahr mit ansah, von ihm halb bedauernd, halb spöttisch sagen konnte, er sei ,nur ein Don Juan der Freundschaft‘.“ Kessler, Harry Graf: Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk. Mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Cornelia Blasberg. Frankfurt a. M. 1988, S. 70. 36 Zur Vorgehensweise des Netzwerkopportunisten vgl. Hessinger, Philipp: Krise und Metamorphose des Protests: Die 68er Bewegung und der Übergang zum Netzwerkkapitalismus. In: Ders./Wagner (Hrsg.), Netzwerkökonomie (wie Anm. 30), S. 63–102, 90.
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Robert Musil und Walther Rathenau. Eine Konstellation Robert Musil lernte Rathenau gleich zu Beginn seiner zweiten Berliner Zeit, nämlich am 11. Januar 1914 kennen, zusammen mit dem Volkswirt Werner Sombart, und zwar im Hause von Erik-Ernst Schwabach, dem Gönner Franz Bleis, bei einem Diskussionsabend, den Blei arrangiert hatte in Berlin W10, Stülerstr. 14.¹ Es war ein Zusammentreffen, das Literaturgeschichte machte: So kam nämlich der „Großschriftsteller“ Paul Arnheim in den „Mann ohne Eigenschaften“. Musil kannte Rathenau bis dahin vermutlich schon aus den Erzählungen seiner Freunde Alfred Kerr² und Franz Blei; aber die persönliche Begegnung mit diesem Nabob, dem „Aufsichtsrathenau“, einem der reichsten und einflussreichsten Männer Berlins, brachte eine neue Qualität in dieses Wissen vom Hörensagen. Das Gefälle zwischen den beiden Männern hätte zum damaligen Zeitpunkt kaum größer sein können: Dort der Sohn des AEG-Gründers, in engem Umgang mit den bedeutenden Menschen des wilhelminischen Deutschlands einschließlich des Kaisers, Villenbewohner im Berliner Westen, Schlosseigentümer in der Mark (Freienwalde), ein Mensch, der im wörtlichen wie übertragenen Sinne seine Umgebung oft um Haupteslänge überragte³ – hier der kleine 4.000-Kronen-Mann aus Wien, auf der Flucht aus seinem Bibliothekarsberuf, aber noch ohne neue Stellung, einer größeren Öffentlichkeit unbekannt, gerade von seiner Neurose genesen: Gründe genug für Minderwertigkeitsgefühle, die Musil indes nicht hatte. Aber die Länge und Genauigkeit seiner Tagebuchnotiz ist ein Signal, dass er sich der imponierenden Physiognomie Rathenaus nicht entziehen konnte: Etwas Negroides im Schädel. Phönikisches. Stirn und vorderes Schädeldach bilden ein Kugelsegment, dann steigt der Schädel – hinter einer kleinen Senkung, einem Stoß – rück-
1 Anhand einer Bemerkung Oskar Loerkes – „Haltloser Boxkampf zwischen Rathenau und Sombart, die ganz genau über die Zukunft der Menschheit Bescheid wissen und in Logik und Gefühl die großen Linien der Entwicklung haben“ – kommt der Rathenau-Herausgeber und -Biograph Ernst Schulin zu der Hypothese, Loerke und Musil könnten am selben Abend im Hause Rathenaus zu Gast gewesen sein Vgl. Schulin, Ernst (Hrsg.): Gespräche mit Rathenau. München 1980, S. 139. Die Erinnerung Martha Musils besagt etwas anderes. Siehe Frisé, Adolf (Hrsg.): Robert Musil. Tagebücher. Bd. 2. Reinbek 1983, S. 173, Anm. 125a. 2 Alfred Kerr veröffentlichte 1935 bei Querido in Amsterdam sehr aufschlussreiche „Erinnerungen eines Freundes“ an Walther Rathenau – ein Buch, das längst einen Neudruck verdient hätte. 3 Vgl. Schulin, Ernst: Walther Rathenau. Repräsentant, Kritiker, Opfer unserer Zeit. Göttingen [u. a.] 1979. passim.
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wärts empor. Die Linie Kinnspitze – weitestes Hinten des Schädels steht beinahe unter 45° zur Horizontalen, was durch einen kleinen Spitzbart (der kaum als Bart sondern als Kinn wirkt) noch verstärkt wird. Kleine kühne gebogene Nase. Auseinandergebogene Lippen. Ich weiß nicht wie Hannibal aussah, aber ich dachte an ihn. Er sagt gern: Aber, lieber Doktor und faß[t] einen freundschaftlich beim Oberarm. Er ist gewohnt, die Diskussion sofort an sich zu reißen. Er ist doktrinär und immer dabei großer Herr. Man macht einen Einwand. Gern; ich opfere ihnen diese Voraussetzung ohne weiters, aber – Er sagt (und hier erleuchtete er mich als Vorbild zu meinem großen Finanzmann in der Hotelszene): Mit der Berechnung erreichen [S]ie im Geschäftsleben gar nichts. Wenn [S]ie klüger sind als der andere, so sind [S]ie es einmal; denn das nächstemal nimmt er sich ganz zusammen und überlistet [S]ie. Wenn [S]ie mehr Macht haben als er, so tun sich das nächstemal mehrere zusammen und haben mehr Macht als [S]ie. Nur wenn sie die Intuition haben, erreichen [S]ie im Geschäftsleben etwas über die Menschen, wenn [S]ie visionär sind und nicht an den Zweck denken, nicht denken, wie fange ich es jetzt klug an.⁴
In diesem Gespräch äußerte Rathenau eines seiner bekannten Dogmen, nämlich, wie er es gegenüber Graf Kessler äußerte, „daß die Leute, die bloß gescheit sind, in Geschäften unter die Räder kommen“.⁵ Er hielt den klügelnden Zweckmenschen in entscheidenden Situationen für unterlegen, den Verstand für überschätzt. Musil umgekehrt, wirtschaftlich in eigener Sache imbezill, sah in Rathenaus Credo wohl einen Missbrauch der Intuition für wirtschaftliche Zwecke, und in dem zunächst schmeichelhaften Vergleich mit Hannibal schwang vielleicht die Überzeugung mit, dieser Feldherr der deutschen Wirtschaft und des Geistes werde seinen Scipio finden oder habe ihn bereits gefunden – in Musil selbst. Musil eröffnete die Schlacht mit seinem ersten literaturkritischen Beitrag, den er als Redakteur der Neuen Rundschau schrieb, im April 1914. Im Oktober des Vorjahrs hatte Walther Rathenau mit seiner 350 Seiten umfassenden Studie Zur Mechanik des Geistes die Summe seiner damaligen Existenz gezogen. Es war das Buch eines fast Fünfzigjährigen, auf dem Höhepunkt seines Lebens, und er widmete es auf dem Vorsatzblatt „Dem jungen Geschlecht“. Musil hatte es möglicherweise schon gleich nach Erscheinen in Rom gelesen,⁶ noch ohne den Autor persönlich zu kennen, ohne noch vielleicht von seiner starken Stellung
4 Frisé, Adolf (Hrsg.): Robert Musil. Tagebücher. Bd. 1. Reinbek 1983, S. 295. 5 Schulin, Gespräche (wie Anm. 1), S. 73. 6 Vgl. die Tagebuch-Notiz Musils aus dem November 1913, „Von überall ist es nur ein Schritt in die Metaphysik“ [siehe: Musil, Tagebücher. Bd. 1 (wie Anm. 4), S. 283] mit der Einleitung der „Mechanik des Geistes“: „Jede Frage, die wir zu Ende denken, führt ins Überirdische. Von jedem Punkt, auf dem wir stehen, ist nur ein Schritt bis zum Mittelpunkt der Welt.“ [Rathenau, Walther: Zur Mechanik des Geistes. Berlin 1913, S. 11]. Auch die Ausführungen im „Politischen Bekenntnis eines jungen Mannes“ [siehe: Frisé, Adolf (Hrsg.): Robert Musil. Gesammelte Werke. Reinbek 1978, S. 1011] über die Demokratisierung und Mechanisierung der letzten zweihundert Jahre erinnern an Rathenaus „Mechanik des Geistes“.
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im Hause S. Fischer zu wissen: Rathenau war sowohl mit dem Verleger selbst als auch mit dem Cheflektor Heimann befreundet. Seit seiner Anstellung bei der „Neuen Rundschau“ musste Musil die Konstellation kennen. Unter diesen Auspizien hatte seine Rezension etwas Tollkühnes, auch wenn Musils Mentor Alfred Kerr schon im September 1912 in seiner Zeitschrift PAN herbe Kritik an Rathenau geäußert hatte.⁷ Rathenau tat in diesem Buch alles, um den Ruf eines „Zweckmenschen“ hinter sich zu lassen und zum Künder eines Reichs der Seele zu werden. Er wollte seine Einsichten in die Mechanisierung des Lebens seit dem 18. Jahrhundert nicht verleugnen, aber im Grunde agierte er als Schüler Emersons und Maeterlincks (ohne diese Gewährsleute zu zitieren). Er sah einen großen Dualismus zwischen Geist und Seele, den der Geist verlieren sollte, ja eigentlich schon verloren hatte. Denn die „höchste Leistung des Intellekts“ ist nach Rathenau „seine Selbstvernichtung. In ihr ist die Mechanisierung, das Reich des Intellekts zum Tode getroffen. Dieses Reich aber ist wahrhaft und eigentlich das Reich des Antichrist, denn es ruht auf Begierde und Feindschaft, wirbt um Güter und Ehren, zieht das Heilige zum Zweck herab, verhärtet die Herzen und entfremdet die Seelen.“⁸ Bestrebt, der Welt der Rechenhaftigkeit, des Kommerzes, des baren Gewinnstrebens, wie es die Stinnes und sein eigener Vater Emil Rathenau verkörperten, zu entkommen, warf Rathenau alle Kraft und alle Hoffnung auf die Gegenseite. Er, der 1889 mit einer Arbeit über „Die Absorption des Lichts in Metallen“ promoviert und anschließend ein polytechnisches Studium des Maschinenbaus und der Chemie absolviert hatte,⁹ war letztlich bereit, Vernunft und Wissenschaft zu verachten, und warnte davor, „von der Wissenschaft Willensimpulse und Idealziele“ zu verlangen. Was wir glauben, was wir erhoffen, wofür wir leben, wofür wir uns opfern, das wird uns niemals der Verstand verkünden; Ahnung und Gefühl, Erleuchtung und Intuition führen
7 Kerr, Alfred: Walther Rathenau. In: PAN 44 (19. 19. 1912), S. 1193ff. Auch Kerr tadelt die „Armengeschichten“ Rathenaus von den Furcht- und Zweckmenschen einerseits und den „Furchtlos-Zweckfreien“ andererseits, er attackiert die Adels- und Germanenmystik und die komische Polemik eines Großindustriellen ausgerechnet gegen die Mechanisierung, von der er am meisten profitierte. Kerr schließt mit dem Resümee: „Er irrt und strebt. In seinem Tiefsten schlummert Gutes. Er hat in manchem Betracht vorwärts gelenkt. Ich will ihn am Abend seiner Tage segnen. Doch nicht vorher. In seiner vielfältigen Weise steckt Bedrohnis wie Hoffnung. Ich habe sein Bild gemalt, weil er ein zugleich schwanker, zugleich fester Sohn dieser Zeit ist, mit ihren Hinfälligkeiten und mit einem Hauch ihrer Größe. Auch weil ich ihn, Mitte seiner Vierzig, vor dem Kreuzweg finde, wo ein hölzerner Arm in die Milchschwaden weist, ein andrer (dem er folgen soll) in die Luft einer neuen Frühe.“ (S. 1200). 8 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 6), S. 339. 9 Schulin, Gespräche (wie Anm. 1), S. 397.
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uns in das Reich der Mächte, die den Sinn unserer Existenz beschließen. Sinnlos, zufällig und ungerechtfertigt bleibt jegliches Leben und Lebenswerk, wenn es sich auf die Kräfte des rechnenden und planenden Geistes stützt.¹⁰
Musil, der in vielem ja eine ganz ähnliche Ausgangsbasis hatte, im Studium der Technik ebenso wie in der frühen Verehrung für Emerson und Maeterlinck, erkannte in Rathenaus Programmschrift, „daß hier trotz aller Modernität die Welt wieder einmal in Himmel und Hölle zerschnitten wird, während zwischen beiden, aus irgendeiner Mischung, gerade aus einer, freilich noch sehr zu untersuchenden Mischung von gut und böse, krank und gesund, egoistisch und hingehend … die Fragen der Erde blühn.“¹¹ Der zentrale Vorwurf Musils lautete in der Tat, der Chemiker Rathenau verfehle als Philosoph bei diesem großangelegten Versuch die Synthese (so er sie denn überhaupt angestrebt hatte). Als Kritiker erkennt Musil an, es gebe in der Mechanik des Geistes schöne, ja meisterhafte Beschreibungen dessen, was man „das Grunderlebnis der Mystik“ nennen kann – Musil hatte es 1900 in Filzmoos, Rathenau 1906 auf seiner Griechenland-Reise.¹² Diese Liebe versenkt sich in die Natur und verliert sich nicht; sie ruht gleichsam mit ausgebreiteten Schwingen über der Erscheinungswelt. Das Wollen löst sich, wir sind nicht wir selbst und doch zum erstenmal wir selbst. Die Seele, die in diesem Augenblick erwacht, will nichts und verspricht nichts und bleibt dennoch tätig. Sie bedarf nicht des Gesetzes, ihr ethisches Prinzip ist Erweckung und Aufstieg. Es gibt kein ethisches Handeln, sondern nur einen ethischen Zustand, innerhalb dessen ein unsittliches Tun und Sein nicht mehr möglich ist.¹³
Gerade aufgrund derselben geistigen Voraussetzungen und ähnlicher mystischer Erlebnisse war Musil wie kaum ein zweiter prädestiniert, die Übersprung- und Ersatzhandlungen in der Mechanik des Geistes zu finden. Er tadelte, bei der Ausformung seines mystischen Erlebnisses habe Rathenau an die Stelle der Gefühlsmystik eine rationale treten lassen. Von der seelischen Berührung bleibe dann nur das anstrengende Festhalten einiger in intimsten Augenblicken gebildeter Begriffe, zwischen die alles übrige mit einem Geist interpoliert wird, der naturgemäß außer trance ist und sich von dem wissenschaftlichen Verstand eigentlich nur dadurch unterscheidet, daß
10 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 6), S. 15. 11 Musil, Gesammelte Werke (wie Anm. 6), S. 1017. 12 Vgl. das Faksimile seines „Brevarium mysterium“ aus dem griechischen Skizzenbuch von 1906. Kessler, Harry Graf: Rathenau. Sein Leben und sein Werk. Wiesbaden o. J., S. 112. 13 Musil, Gesammelte Werke (wie Anm. 6), S. 1017.
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Karl Corino er auf dessen Tugenden der Methodik und Genauigkeit verzichtet. [...] Das Unglück will, daß die Menschen, die heute für solche Fragen in Betracht kommen, wenig Verständnis für die Tugenden scharfen Denkens haben und kaum fühlen werden, daß hier alles wieder verlorengeht, während die andern, die dieses Verständnis besäßen, meist keine Ahnung haben, was hier ein Griff in der Tiefe erfaßte, dem es auf dem Weg zur Oberfläche wieder entrann. – Wir Deutschen haben – außer dem einen großen Versuch Nietzsches – keine Bücher über den Menschen; keine Systematiker und Organisatoren des Lebens. Künstlerisches und wissenschaftliches Denken berühren sich bei uns noch nicht. Die Fragen einer Mittelzone zwischen beiden bleiben ungelöst.¹⁴
Leider hat niemand überliefert, was sich hinter den Kulissen abspielte, als Musil diesen brillanten Text in die Redaktion brachte und in Satz gab. In S. Fischers großem, lichten Arbeitszimmer werden bei der Lektüre, um ein wenig zu übertreiben, die japanischen Vasen, die Bilder von Kerr, Altenberg, Wassermann, Hauptmann etc. gewackelt haben. Es spricht für die unglaubliche Liberalität dieses Verlegers, wie er diese Kritik an einem Produkt, an einem Freund seines Hauses tolerierte, dass er sie nicht zum Vertragsfall machte. Auszuschließen ist nicht, es habe zunächst einen noch schärferen Verriss Musils gegeben, der Rathenau auch zur Kenntnis gelangt war; und Musil habe ihn dann, aus welchen Gründen auch immer, abgeschwächt. Rathenau verfiel nach der Lektüre in einen monatelangen Verdruss, den er erst drei Wochen nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in einem Brief an Franz Blei vom 20.7.1914 äußerte: Mein lieber Herr Blei! Aufrichtig danke ich Ihnen für Ihren Brief und Ihren Aufsatz; ein schönes mutiges Blatt von frommem Radikalismus. Ich täte Unrecht, gestände ich Ihnen nicht offen den Grund meiner langen Indolenz. Der feindselige Angriff des Herrn M[usil], der in gemilderter Form in der Neuen Rundschau erschienen ist, hat mich tief verstimmt. Nach der lebhaften Ankündigung, die Sie und Herr Scheler mir vor Monaten von Herrn M[usil] gemacht hatten, verließ mich das Gefühl nicht, daß seine Anschauungen sich mit denen Ihres engeren literarischen Kreises deckten, in den Sie mich mit Freundlichkeit eingeführt hatten. Nun wurden mir diese Abende in der Erinnerung bitter; denn da, wo meine Lebensarbeit als verfehlt gilt, konnte ich nur mit meiner Person unterhaltend dienen, und dieser Dienst beglückt mich nicht. Ihr Brief und die Anklänge an vergangene schöne Abendstunden lösten etwas von dieser trüben Empfindung. Ich erwarte gern die Nachricht von Ihrer Heimkehr, die Sie mir versprachen, und hoffe, wenn Sie mit ihrer verehrten Gemahlin mir hier draußen einen Tag schenken wollen, daß die alte Herzlichkeit der Beziehung die Prüfung überstanden hat. Mit freundschaftlichem Gruß Ihr W. Rathenau¹⁵
14 Musil, Gesammelte Werke (wie Anm. 6), S. 1019. 15 Zitiert nach Cathary, Christian: Walther Rathenau und Arnheim. Ein Beitrag zur Deutung der Gestalt Arnheim in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Saarbrücken 1973, S. 37.
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Während die europäischen Mächte auf den großen Waffengang zusteuerten – am 28. Juni 1914 war der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo erschossen worden –, grämte sich der Besitzer von Schloss Freienwalde, im Begriff, eine Schlüsselstellung in der Organisation der deutschen Kriegswirtschaft zu übernehmen, nämlich die Leitung der Kriegs-Rohstoff-Abteilung im Preußischen Kriegsministerium,¹⁶ noch immer über die literarische Attacke Musils, den er, wie Blei, für einen österreichischen Bundesgenossen in litteris gehalten hatte. Am Tag der russischen Mobilmachung, einen Tag vor der Kriegserklärung Deutschlands an Russland, widmete Rathenau von seinem preußischen Schloss aus der Kritik, die soviel Sand in seine Mechanik gestreut hatte, einen weiteren, abschließenden Brief und ließ für den späteren Betrachter keinen Zweifel daran, sie habe ihn kaum weniger geschmerzt als etwa die Trübung seines Verhältnisses zu Lili Deutsch und der Bruch mit Maximilian Harden im Jahre 1912.¹⁷ Blei hatte offenbar, gewillt, keinen seiner Freunde zu verlieren, weder Musil noch Rathenau, meisterhaft laviert und Balsam in die Wunden Rathenaus gegossen: Lieber Herr Blei! In dieser schweren Zeit, wo die Sonderwünsche schweigen, möchte ich Ihnen nur danken für die Sendung Ihres Briefes und Ihres tiefen und reichen Zeitbildes. […] Zwischen uns besteht kein Mißverständnis und soll nie eines bestehen. Daß Scheler mir nicht fernergerückt ist, glaube ich aus Ihren Zeilen lesen zu dürfen. Gern will ich mich bemühen M[usil] ganz objektiv gegenüberzutreten und seine Motive ganz zu verstehen, aber ich gestehe Ihnen, daß ich die schmerzliche Empfindung noch nicht habe bezwingen können. Mit herzlichem Vertrauen und auf wechselseitiges Verstehen hatte ich mich diesem Kreise genähert; und in dieser Form kam die Antwort. Ich schätze jeden Widerspruch als Quelle der Selbstprüfung; deshalb konnte Kritik an sich mich nicht verletzen. Aber Sie, lieber Freund, als Meister der Analyse, wissen wie kein zweiter, daß in der Kritik die Feststellung des Niveaus, ausgesprochen oder als Hintergrund, die höchste Pflicht und die höchste Kunst ist. Jene Besprechung ließ es offen, ob die Arbeit eines frühreifen Studenten oder eines dilettierenden Aestheten abgekanzelt wurde, und da ich M[usil] die Kunst der Abstufung zutraue, so blieb mir nur die Wahl auf eine tiefe Geringschätzung meiner Lebensarbeit oder auf eine feindselige Stellung zu schließen. Zufällig folgte M[usil]’s Aufsatz hinter einer Besprechung Schlenther’s über Unruh’s Drama. Ich mute Ihnen nicht zu, das Heft nochmals vorzunehmen: vielleicht ist der Kontrast zwischen dem liebevollen Eingehen auf menschliche Eigenart und der kassanten Ablehnung einer Existenz Ihnen erinnerlich geblieben […]. Herzliche Grüße Ihr W. Rathenau Freienwalde, 30.7.1914.¹⁸
16 Das geschah am 13. August 1914. Vgl. Schulin, Gespräche (wie Anm. 1), S. 398. 17 Schulin, Gespräche (wie Anm. 1), S. 339. 18 Cathary, Rathenau und Arnheim (wie Anm. 15), S. 38
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Die freundliche Behandlung Fritz von Unruhs in der Neuen Rundschau schmerzte Rathenau umso mehr, als er mit diesem Dramatiker auch befreundet war und ihn zeitweilig in Freienwalde zu Gast hatte, gerade in jenen explosiven Sommerwochen.¹⁹ Was Rathenau damals nicht ahnen konnte, war, dass ihn ausgerechnet ein Autor, mit dem er nur flüchtigen Kontakt hatte, zur Figur in einem groß angelegten epischen Unternehmen machen würde, zu Dr. Paul Arnheim. Ein großer „Finanzmann“²⁰ gehörte, wie berichtet, schon zu den Figuren, die Musil in seine (kaum greifbaren) Romanpläne vor dem I. Weltkrieg einbauen wollte. Die Begegnung mit Walther Rathenau im Januar 1914 scheint diesem Schemen Fleisch und Blut gegeben haben. Die Lektüre und Rezension der Mechanik des Geistes und die Gespräche mit Freunden Rathenaus wie Kerr, Blei und Scheler lieferten offenbar weiteres Material für die Inkarnation der Romanfigur. Bei der Wahl des Namens Arnheim könnten Erinnerungen an Oscar Wildes Komödie Ein idealer Gatte eine Rolle gespielt haben. Dort gilt Baron Arnheim als ein „Mann von bestechender Klugheit. Ein Mann von Kultur, Charme und Vornehmheit. Einer der begabtesten Menschen.“²¹ Darüber hinaus gab es in Berlin vor der Jahrhundertwende eine Tuch-Großhandlung Rathenau und Arnheim,²² und schließlich war Arnheim Firmenname für eine Geldschrank-Fabrik.²³ In vielen „Bestimmungsstücken“ hält Musil sich so eng an Rathenaus Lebenslauf, dass den allermeisten Lesern bei Erscheinen des Romans das Modell Arnheims mit Händen zu greifen war. Es begann bei der Herkunft („Sein Vater war der mächtigste Beherrscher des ‚eisernen Deutschland‘“) und endete bei der „Reichsministerschaft“, auf die sich Arnheim 1913 angeblich schon vorbereitete, die aber einen „Weltuntergang“ voraussetzte.²⁴ Der Text machte Andeutungen über die Jüdische Herkunft Arnheims (obwohl gerade die dafür wesentliche Abstammung der Mutter im unklaren blieb),²⁵ beteuerte indes, „dass er nicht im geringsten jüdisch aussah, sondern
19 Schulin, Gespräche (wie Anm. 1), S. 99f. 20 Musil, Tagebücher, Bd. 1 (wie Anm. 4), S. 295. 21 Wilde, Oscar: Ein idealer Gatte. Komödie in vier Akten. Aus dem Englischen übertragen von Kuno Epple. Stuttgart 1963, S. 34. 22 Vgl. Verzeichnis der bei der Fernsprecheinrichtung Betheiligten. Berlin 1882, S. 35. Demnach gab es Niederlassungen von ‚Rathenau u. Arnheim, Tuch und Buckskin en gros‘, in der Breiten Str. 9 und in der Leipziger Straße 47. 23 Auskunft Eithne Wilkins. 24 Frisé, Adolf (Hrsg.): Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek 1978, S. 96. 25 Musil, Mann ohne Eigenschaften (wie Anm. 24), S. 108.
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ein vornehm bedachter Mann von phönikisch-antikem Typus war“;²⁶ er überging nicht die „Villa in modernstem Stil“, die der Nabob sich in der Königsallee im Grunewald errichtet hatte, und nicht das wacklige alte Schloss „irgendwo in der kärgsten adeligen Mark, das geradezu wie die morsche Wiege des preußischen Gedankens aussah“: der Herrensitz in Freienwalde, den der Industrielle direkt von der preußischen Krone erworben, aufwändig-stilgerecht restauriert hatte und in dem Schriftstellerkollegen Musils wie Franz Blei oder Fritz von Unruh gelegentlich zu Besuch waren.²⁷ Wenn man bei Unruh liest, wie der Gastgeber gelegentlich an seinen Bücherschrank trat und Eichendorffs Mondnacht zitierte, wird klar, dass die ihm zu Beginn des 20. Jahrhunderts angelegene „Vereinigung von Seele und Wirtschaft“²⁸ nicht bloße Phrase war. Rathenau hatte (wie sein Nachbild Arnheim) eine tiefe Beziehung zur deutschen Romantik, und der Kampf gegen die immer weiter um sich greifende Mechanisierung war nicht nur ein Lippenbekenntnis. Es war nur die Frage, wie die heilige Hochzeit von Erde und Himmel in Eichendorffs Gedicht ihre Entsprechung finden sollte bei der Synthese der rationalen und nicht-rationalen Kräfte des Menschen. Trotz aller Skepsis Musils hinsichtlich Rathenaus dutzendfach formulierten Programms legte er offenbar – gegen die historische Überlieferung – Wert darauf, dass Arnheim mitten in einem Zentrum der Mechanisierung, nämlich in Berlin, mystische Erlebnisse hatte. Überliefert ist, dass Fritz Andreae, der Schwager Rathenaus, in seinem Grunewaldhaus eine bedeutende Sammlung christlicher Holzplastik besaß. In der Empfangshalle „hing, über allen antiken Holzfiguren des Hausherrn, ein großer hölzerner Christus und beherrschte den koscheren Raum“.²⁹ Diese Sammlung (die erst nach Rathenaus Tod, unter den Vorzeichen des Dritten Reichs, in sein Wohnzimmer gelangte)³⁰ übertrug Musil in die Villa Arnheims, der sich „oft allein und einsam in seinen Saal“ setzte, und dann war ihm ganz anders zumute; ein schreckartiges Staunen war in ihm wie vor einer halb irrsinnigen Welt. Er fühlte, wie in der Moral ursprünglich ein unsägliches Feuer geglüht hat, bei dessen Anblick selbst ein Geist wie er nicht viel mehr tun konnte, als in die ausgebrannten Kohlen starren. Diese dunkle Erscheinung von dem, was alle Religionen und Mythen durch die Erzählung ausdrücken, dass die Gesetze uranfänglich dem Menschen von den Göttern geschenkt worden seien, die Ahnung also eines Frühzustands der Seele, der nicht ganz geheuerlich und doch den Göttern liebenswert gewesen sein musste,
26 Musil, Mann ohne Eigenschaften (wie Anm. 24), S. 109. 27 Vgl. etwa den Bericht Fritz von Unruhs. In: Schulin, Gespräche (wie Anm. 1), S. 99f. 28 Musil, Mann ohne Eigenschaften (wie Anm. 24), S. 108. 29 Kerr, Alfred: Walther Rathenau. Erinnerungen eines Freundes. Amsterdam 1935, S. 21. 30 Vgl. das Bild des postumen Zustands. Siehe: Corino, Karl: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern. Reinbek 1988, S. 371.
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bildete dann einen seltsamen Rand von Unruhe um sein sonst so selbstgefällig ausgebreitetes Denken.³¹
Dass Arnheim sich „im Barockzauber alter österreichischer Kultur“, in Wien, im Salon Diotimas, „ein wenig vom Rechnen vom Materialismus, von der öden Vernunft eines heute schaffenden Zivilisationsmenschen“ erholen will, ist eine ironische Erfindung Musils.³² Rathenau jedenfalls scheint nach 1900 nicht mehr nach Wien gekommen zu sein,³³ geschweige denn, dass er bei den Gesellschaftslöwinnen dort verkehrt hätte. Richtig ist nur, dass er der Neuen Freien Presse immer wieder wichtige Artikel anvertraute und dass er umgekehrt eine Reihe von Berliner Salons frequentierte, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der Berliner Hofgesellschaft den Ton angaben: den Salon der schönen Palastdame Gräfin Harrach, den der Frau von Hindenburg, […], den der Frau Cornelie Richter, Tochter Meyerbeers, den der Fürstin Guido Henckel-Donnersmarck; [...] den der Fürstin Marie Radziwill [...] vor allem den der Fürstin Bülow, der Frau des Reichskanzlers [...]. Diese Salons übten durch ihre europäischen Beziehungen ihr Ansehen, ihre Unabhängigkeit selbst gegenüber dem Kaiser, ihre Lebensart und gesellschaftliche Klugheit einen Einfluß aus, der bei der Besetzung hoher und höchster Posten, namentlich in der Diplomatie, dem Einfluß der Beamtenkreise die Waage hielt. [...] Rathenau war in dieser Welt, die sich damals noch streng abschloß gegen den neuen Reichtum, bald nach 1900 als einziger seiner Gesellschaftsschicht ein gern gesehener Gast.³⁴
Musil wusste wahrscheinlich durch Kerr (der Rathenau gelegentlich in diesen oder dicht darunter angesiedelten Kreisen traf)³⁵ von Rathenaus Verkehr in diesen Zirkeln und bezog von dorther die Anregung, Arnheim in ein entsprechendes Wiener Ambiente zu schicken. Auch die seraphische Beziehung Arnheims zu Diotima ist wahrscheinlich nach einer Konstellation in Berlin geformt. Rathenau, der – so Kerrs Bericht – bei Bedarf eine Vertraute von der Straße heraufwinkte³⁶ und im Gespräch über
31 Musil, Mann ohne Eigenschaften (wie Anm. 24), S. 187. 32 Musil, Mann ohne Eigenschaften (wie Anm. 24), S. 109. 33 In einem Brief an Dr. Ludwig Mach schreibt er am 2. 3. 1920: „[…] ich bin vor 20 Jahren zum ersten und letzten Mal in Wien gewesen und habe keine Gelegenheit, dorthin zu kommen.“ 34 Kessler, Rathenau (wie Anm. 12), S. 58f. 35 In seinen Erinnerungen an Rathenau beschreibt Kerr eine Begegnung im Hause der Gräfin Marie Gneisenau. Vgl. Kerr, Erinnerungen (wie Anm. 29), S. 171ff. 36 „Unten ging jemand. Es kam ein Pfiff. Wie ein Signalpfiff. Er wußte, wer das war, trat an offne Fenster und beugte sich in die abseitig-schöne Straße des Tiergartens, die menschenstill dahinschwieg in sommerlichem Grün. Er rief ruhig hinab: ‚Heute nicht‘, grüßte leicht mit der Hand
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Liebe und Frauen „von einer zynischen Brutalität“ sein konnte,³⁷ hatte einmal in seinem Leben eine große Passion, die zu Lili Deutsch (1869–1940), der Frau seines Konkurrenten, des AEG-Direktors Felix Deutsch. „Eine sehr schöne, hochaufgeschossene Frau; geistig wertvoll, aber gar nicht preziös – vielmehr in ihrer süddeutschen Sprechart voll eingeborener Frische“, wie Alfred Kerr sie beschrieb. Sie war die Tochter eines Mannheimer Bankiers, seit 1893 in Berlin verheiratet, Mutter dreier Kinder und Herrin eines großen, kunstliebenden Hauses in der Rauchstraße, in dem etwa Richard Strauß aus- und einging.³⁸ Dem Rathenau-Biografen Harry Graf Kessler, der aus Diskretionsgründen nur anonym über ihre Beziehung schrieb, erzählte sie 1927 freimütig von dem Verhältnis zwischen ihr und Rathenau. Er sei „wie mit Eis gepanzert“ gewesen, „durch das niemand durchdrang“. Sie aber sei der Mensch gewesen, der ihm am nächsten gestanden habe. Rathenau habe ihr das selbst bekannt: „Niemals wird ein Mensch mich soweit besitzen wie Sie.“ Eine bestimmte Grenze sei indes nie überschritten worden, obwohl Rathenau sehr leidenschaftlich gewesen sei. Bis „zum Letzten“ sei ihre Beziehung nie gediehen. Vielleicht käme so etwas nur zwischen Juden vor, diese kühle Zurückhaltung trotz starker Leidenschaft. Auch habe in ihr Verhältnis immer die A. E. G. hineingespielt, Walther Rathenaus Angst vor einem Skandal und was der für seine Stellung bedeuten könne [...]. Hier klang deutlich die Enttäuschung und leise Verachtung für Rathenau durch, vielleicht sogar Erbitterung, daß er sie hinter die A. E. G. zurückgesetzt habe.³⁹
Rathenau schrieb ihr seine schönsten Briefe, aber Lili Deutsch hatte nach seinem Tod den Eindruck, er hätte sie „ebensogut an eine andre schreiben können“.⁴⁰ Rundheraus hatte er ihr erklärt, dass er „keinem Menschen ganz gehören“ könne, dass sein Leben ein „Opfer“ und „die Liebe der Menschen dabei zerbrochen“ sei. Sein Aufbruch nach Griechenland im Mai 1906 war wie eine Flucht vor dieser unmöglichen Liebe zu Lili Deutsch, deretwegen er sogar das Delphische Orakel befragte. Die Antwort – einen auffliegenden Adler – habe er so gedeutet: „Steig auf dann findest du Erlösung in der jenseitigen, himmlischen Liebe“ und in der Geburt der Seele. Insofern bildeten die entsprechenden Kapitel in der Mechanik
und kam zurück. Er sprach: ‚Sie fragt immer Abends, ob sie kommen soll. Wenn ich sie haben will, macht ihr der Diener auf.‘“ Kerr, Erinnerungen (wie Anm. 29), S. 59. 37 Blei, Franz: Das große Bestiarium. Zeitgenössische Bildnisse. München 1963, S. 70. 38 Kerr, Erinnerungen (wie Anm. 29), S. 80ff. 39 Corino, Karl: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek 2003, S. 873. 40 Hellige, Hans Dieter (Hrsg.): Walther Rathenau – Maximilian Harden. Briefwechsel 1897– 1920. München/Heidelberg 1983, S. 809.
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des Geistes sieben Jahre später einen Reflex des Lili-Erlebnisses.⁴¹ Selbstdeutung und Fremddeutung klafften dabei anscheinend immer wieder auseinander. Während Rathenau selbst dem nicht-rationalen Bereich in seinem Leben und Schaffen eine große Bedeutung beimaß, wertete ihn Lili Deutsch entschieden ab. Sein Verstand sei phänomenal gewesen, die Gefühlsseite, das Seelische bei ihm in den Vordergrund zu rücken, sei völlig falsch. Gefühle habe er in Wirklichkeit gar keine gehabt, immer nur Sehnsucht nach Gefühlen. Seine Anrufungen der Seele und ihres Reiches in der Mechanik des Geistes und in den Kommenden Dingen sind jedenfalls so emphatisch, dass man nicht selten einen zweiten Schatz der Armen zu lesen meint. Das Maeterlinck-Pastiche, auf das die ganze Beziehung Arnheims und Diotimas gestimmt ist, ist keine absurde Erfindung Musils, sondern nur die Verdeutlichung von Tendenzen, die in Rathenaus Werk angelegt sind. Wie es dem geplanten Rahmen seines Romans entspricht, berücksichtigt Musil nur den Rathenau der Vorkriegsjahre, nicht seine Leistungen als Minister, nicht seinen tragischen Tod. Wenn er ihm jeden Radikalismus, jede Wandlungsfähigkeit und jede Begabung für paradoxe Handlungen abspricht, so drückt Musil die Augen zu vor den Entwicklungen in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs und danach: seine Hinwendung zu einer ganz spezifischen Form des Sozialismus, sein Plädoyer für konfiszierende Erbschaftssteuern, die Opferung eines großen Teils seines Vermögens für Begabte aus den unteren Volksschichten usw. Nur gelegentlich reagierte Musil außerhalb des Romans auf den realen Rathenau, etwa indem er in der Soldaten-Zeitung aus einem seiner Aufsätze über Luxussteuern zitierte⁴² oder indem er im Mai/Juni 1921 für die Prager Presse einen eigenen
41 Kessler, Rathenau (wie Anm. 12), S. 76ff. 42 Vgl. Soldaten-Zeitung (4. 3. 1917), S. 5. „Luxussteuern. In einem Vortrag, den der deutsche Finanzmann Walther Rathenau gehalten hat, kommen Gedanken vor, die auch für Österreich Bedeutung haben. Wir zitieren seine Bemerkung über Luxussteuern: ‚Die Luxusfrage ist im Laufe der Zeiten häufig den Weg gegangen, daß sie die Gesetzgebung berührte, und dann hat man immer wieder festgestellt; Luxuszölle und Luxussteuern unterdrücken den Verbrauch, bringen wenig und sind infolgedessen nutzlos. Nutzlos ja, nämlich im Sinne ihres Ertrages, nutzlos für unsre Wirtschaft sind sie nicht. Denn das, was man als schändliche Nebenwirkung ansah, – die Verkleinerung des Verbrauchs, – kann unter Umständen für unsere Betrachtung die Hauptsache werden. Machen wir uns klar, was es bedeutet, wenn eine Perlenschnur in unser Land gebracht wird; das bedeutet nicht weniger, als daß der Ertrag eines großen Bauernhofes künftig Jahr für Jahr uns verloren geht. Wenn ein paar hundert Flaschen eines kostbaren Weines eingeführt werden, so bedeutet das, daß ein Techniker oder ein Gelehrter weniger ausgebildet werde kann; denn der Betrag, um den wir im Auslande dadurch zinsbar geworden sind, entspricht, ins Geistige übersetzt, der Lehrzeit eines Menschen. Alle Aufwendungen der Arbeitskraft, Rohstoff, Werkzeug, Transport, Einfuhr, Einzelverkauf, Lagerung, die auf ein entbehrliches oder überflüs-
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(leider ungedruckt gebliebenen) Artikel über Rathenau schrieb, wohl die Reaktion auf den Umstand, dass er das Ministerium für Wiederaufbau übernahm.⁴³ Als er, nun der versöhnungsbereite Außenminister der Weimarer Republik, am 24. Juni 1922 von rechten Verschwörern ermordet wurde, war Musil bereit, sich einem öffentlichen Protest anzuschließen, obwohl er „literarisch zu seinen Gegnern zählte“.⁴⁴ Seine etwas fragwürdige, noch immer von Eifersucht geprägte Begründung lautete: „Man hätte ihn nicht überschätzen und eben darum unbedingt am Leben lassen müssen.“⁴⁵ Plausibel scheint, dass Musil nach dem tödlichen Attentat den Namen Rathenau in seinem epischen Projekt nicht mehr verwenden konnte. Verzichten wollte er auf diese Figur jedoch nicht. Gerade die Inkommensurabilität dieses Mannes, seine „Polyphonie“, seine „Kompliziertheit“ dürften den Absichten Musils immer neue Nahrung zugeführt haben. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang Musils Beziehungen zu Ernst von Salomon, der bekanntlich für das Attentat auf Rathenau Kurierdienste geleistet hatte und deshalb bis Ende 1927 in Haft war und 1929 noch einmal eine Untersuchungshaft verbüßte. Ernst Rowohlt beschäftigte ihn mit untergeordneten Tätigkeiten in seinem Verlag, und so lernten die beiden Autoren einander kennen. Sie hatten beide eine Kadettenvergangenheit, Musil eine kakanische, Salomon eine preußische, und so kam man rasch in ein Gespräch über Die Verwirrungen des
siges Erzeugnis des Luxus verwertet werden, bleiben unserer Wirtschaft verloren. […] Es bedarf zum Wohlbefinden und zum Glück nicht jener enormen Mengen von Waren, die heute in unseren Läden, in unseren Verkehrsmitteln, in unsren Lagern und Fabriken kreisen, die vielfach häßlich, schädlich und töricht sind; es ist keine Entbehrung, wenn ein Teil dessen, was wir als Genußmittel Jahr für Jahr verzehrt haben, in Zukunft in Deutschland keinen Platz mehr findet. Um so mehr wird die Gemeinschaft darauf hingewiesen, sich den Dingen hinzugeben, die nicht Werke des materiellen Luxus sind, sondern der geistigen Atmosphäre entstammen. Die Kunst ist kein Luxus, sondern Selbstzweck, und je mehr wir hingeführt werden von trivialen Käuflichkeiten zu denjenigen Werten, die absolute sind, zu den Werken der Kunst und zu den Werken der Natur, desto mehr werden wir Geister und Herzen bereichern und beglücken.‘“ Der wahrscheinlich von Musil stammende Kommentar dazu: „Fragt sich in der Welt von heute nur was Luxus ist? Das Kino oder die Kunst? ‚Sag Schnucki zu mir‘ oder Peter Altenbergs ‚Wie ich es sehe‘? […] Wir glauben, wenn wir Österreich von unten bis oben und von Fels zum Meer überblicken, nicht ohne Grund, Altenberg […] und die Kunst dürften bei einer allgemeinen Abstimmung für Luxus erklärt werden, dagegen sind Schnucki und das Kino ganz bestimmt eine geistige Notwendigkeit.“ 43 In seinem kurzen Brief an Redakteur Otto Pick fragte Musil, ob der Rathenau-Artikel etwas in sich habe, „das einen europäischen Konflikt auslösen könnte, weil er nicht erscheint“. Siehe Frisé, Adolf (Hrsg.): Robert Musil. Briefe 1901–1942. Reinbek 1981, S. 234. 44 Frisé, Musil Briefe (wie Anm. 43), S. 263. 45 Csokor, Franz Theodor: Der Schöpfer Kakaniens. Zum 10. Todestag Robert Musils. In: Neues Österreich (13. 4. 1952).
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Zöglings Törless, und Musil regte Salomon an, seinen Roman Die Kadetten zu schreiben, der dann 1933 herauskam. Als im Januar 1930 Salomons Buch Die Geächteten über den Mord an Rathenau erschien, erklärte Musil, er wolle etwas dafür tun.⁴⁶ Bei der üblichen Weihnachtsumfrage von Stefan Großmanns Tagebuch „Die besten Bücher des Jahres“ nannte er an dritter Stelle die Geächteten. Bei der nächsten Begegnung klärte Musil seinen „Schützling“, dem gegenüber er sich wie ein gütiger Onkel, wie ein liebenswürdiger Mentor benahm, über einige Merkwürdigkeiten seines Votums auf. Zehrend von seinem Ruf der Genauigkeit, hatte er einige „Fehler“ in seinen Text eingebaut, die er anschließend in einer Zuschrift an die Redaktion berichtigte. In der Ausgabe des Tagebuchs vom 13. 12. 1930 ließ Musil drucken: Ernst von Salomons Buch Die Geächteten überrascht durch die Begabung des Verfassers und packt auf das lebhafteste. Denn aus seinen jungen Menschen, die fast von ganz Deutschland seelisch geächtet worden sind, spricht eine mächtige melodische Energie, der bloß die richtige Fassung fehlte.⁴⁷
In die Ausgabe vom 20. 12. 1930 ließ Musil folgende Korrektur einrücken: DRUCKFEHLER. Meine Antwort auf die Umfrage „Die besten Bücher des Jahres“ ist beim Druck leider das Opfer böser Zufälle geworden. Ich habe natürlich niemals geschrieben, daß eine „mächtige melodische Energie“ aus den Figuren in Salomons Buch Die Geächteten spreche, sondern habe sie eine „mächtige moralische Energie“ genannt, ebenso wie ich vorher nicht gesagt habe, daß diese Personen fast von ganz Deutschland „seelisch“, sondern daß sie „moralisch“ geächtet worden seien.⁴⁸
So hielt Musil Salomons Buch wenigstens eine Woche länger im Gespräch. Gewiss blieb das Thema Rathenau en vogue, als Musils Mann ohne Eigenschaften im Dezember 1930 erschien. Salomon bilanzierte die Gespräche vierzig Jahre später mündlich so: Beim Thema Rathenau rügte Musil dessen „wolkigen Stil“. Als konsequenter Österreicher betrachtete Musil den Preußen Rathenau natürlich als Antipoden, meinte zugleich, er selbst als Techniker sei im Grunde ein viel besserer Preuße als Rathenau. Musil bemängelte die schlechte Dialektik von Ratio und Mystik bei Rathenau: „Es sprang kein Funke zwischen Anode und Kathode“.⁴⁹
46 Mündliche Information Ernst von Salomons. 47 Wieder ab gedruckt in: Musil, Gesammelte Werke (wie Anm. 6), S. 1722. 48 Das Tagebuch, hrsg. von Leopold Schwarzschild, Nr. 51 (20. 12. 1930), S. 2054. 49 Mündliche Information Ernst von Salomons.
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Bei der Rechten konnte man sich mit Kritik an Rathenau in den frühen dreißiger Jahren durchaus beliebt machen, und wenn dann der fragmentarische Fortsetzungsband im Dezember 1932 auch noch den missverständlichen Untertitel „Ins tausendjährige Reich“ trug, dann war bei flüchtigen Lesern dem Missverständnis Tür und Tor geöffnet. So bei dem Juror der Harry-Kreismann-Stiftung, Rudolf G. Binding,⁵⁰ der Musil am 9. November 1933 – neben Walter Bauer, Alfons Paquet, Martin Kessel und Emil Strauss – als möglichen Preisträger vorschlug und hopplahopp Arnheim für den „Mann ohne Eigenschaften“ hielt und mit dem Helden Ulrich verwechselte. Die Nominierung Musils schien Binding plausibel besonders wegen der Gediegenheit des genannten Romans und der in ihm bewältigten großen Aufgabe. Die Aufgaben[,] die die anderen Genannten bewältigen[,] sind geringer im Umfang, wenngleich in der Gesamtwirkung vielleicht gleichwertig. Ich halte den Umfang der gestellten Aufgabe überhaupt für eigentliche Kriterium des Schaffens und für ein Wahrzeichen des Schöpferischen.⁵¹
Bald danach kamen Binding Zweifel, ob er die Nummer Zwei auf seiner Liste, Musil, halten könne. Am 29. November 1933 schrieb er dem Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, es sei ihm neuerdings bemerkt worden[,] Robert Musil sei jüdischer Abkunft. Andererseits ist mir auf Erkundigungen vor Nennung seines Namens von einem sehr zuverlässigen Manne die Auskunft erteilt worden[,] er sei kein Jude. Dies letztere scheint besonders glaubhaft[,] weil in dem genannten Roman kein anderer als Walther Rathenau als der Mann ohne Eigenschaften geschildert und aufgezeigt wird [!]. Der Verfasser hegt einen Hass und eine Sezierungswut gegen diesen Mann, dass bei mir der Gedanke gar nicht aufkam[,] er könne ein Jude sein. Wenn auch in meinen und wohl auch in Ihren Augen der genannte Roman nicht schlechter ist[,] weil er einen Juden zum Verfasser hat[,] so möchte ich doch, falls sich das bewahrheiten sollte, jeder Missdeutung einer solchen Verleihung einer wertvollen Stiftung heutzutage aus dem Wege gehen und glaube auch nicht[,] dass das Kuratorium geneigt wäre[,] die Stiftung in diesem Falle an Vorgeschlagenen zu vergeben.“⁵²
Binding beeilte sich mitzuteilen, dass er feststellen werde, „ob Musil jüdischer Herkunft ist“, und dass er in diesem Falle „in kürzester Zeit einen anderen Namen unterbreiten werde“. Er bedaure außerordentlich, „dass durch die erfolgte Benennung ein falscher Eindruck entstanden sei“.
50 Vgl. Corino, Musil Biographie (wie Anm. 39), S. 1140ff. 51 Corino, Musil Biographie (wie Anm. 39), S. 1141ff. 52 Corino, Musil Biographie (wie Anm. 39), S. 1142.
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Die Erforschung von Musils Stammbaum erfolgte rasch, und schon am 4. Dezember 1933 teilte Binding dem Ministerium mit, nach den ihm „gewordenen und offenbar zuverlässigen Angaben des Verlags Ernst Rowohlt, Berlin[,] und einiger Freunde“ sei Robert Musil „Deutsch-Böhme reinarischer Abstammung“. Falls gleichwohl die Leistung Musils in der heutigen Zeit dem Kuratorium der Stiftung nicht repräsentativ genug erscheinen würde, so würde ich für die diesmalige Verteilung Frau Ina Seidel, Berlin[,] namhaft machen. Ihre Leistungen sind umfassender auf dem Gebiet der Lyrik, historischer Essays und des Romans, auf welch letzterem Gebiet vor allem das „Wunschkind“ einen wirklich hervorragenden Platz einnimmt.⁵³
In der Kuratoriumssitzung vom 14. Dezember 1933 zog Binding indes beide Vorschläge zurück und verwandte sich „nunmehr mit besonderer Wärme für den jungen Schriftsteller Karl Benno von Mechow“. In der abschließenden Sitzung des Kreismann-Kuratoriums vom 2. Februar 1934 wurde Mechow dem zuständigen Minister als erster Kandidat für den Preis nominiert. Am 13. März erhielt er den Zuschlag. Drei Jahre später trat er der NSDAP bei. Der Vorschlag, Musil zum Kreismann-Preisträger zu küren, blieb die letzte Nominierung dieser Art in seinem Leben, und es war Glück im Unglück, dass er schließlich nicht gewählt wurde.
53 Corino, Musil Biographie (wie Anm. 39), S. 1142f.
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Walther Rathenau über Entfremdung und Regierung der Massen Die Grundlinien seiner Theorie der Massengesellschaft entwarf Walther Rathenau im Sommer 1911, in seinem erst kürzlich im Stil des preußischen Klassizismus renovierten Schloss Freienwalde. Hier, in gleichsam sicherer und beobachtender Distanz zu einem der dynamischsten Zentren seiner Zeit, der Berliner Großstadt, entwickelte er ein Panorama seiner Gegenwart, das nicht nur seine Zeitgenossen, sondern weit darüber hinaus den Diskurs über die Moderne beeinflusste.¹ Im Gegensatz zu anderen kulturkritischen Autoren seiner Zeit, die wie Werner Sombart oder Max Weber die Rolle des kapitalistischen Geistes hervorhoben oder wie Georg Simmel auf den abstrakten Charakter des Geldes verwiesen, sah Rathenau die Moderne verursacht durch die „ungeheuerste, proportional und absolut gewaltigste Volksvermehrung seit Anbeginn menschenkundiger Zeit“.² Im Zuge dieser „Verdichtung“ der Menschen zu städtischen „Massen“ sei es zu einer weitest gehenden Angleichung vormalig heterogener Bevölkerungsschichten gekommen. Durchgesetzt habe sich, so war sich Rathenau mit vielen Vertretern der „Weltanschauungsliteratur“ seiner Zeit einig, ein rationaler und pragmatischer Menschentypus, den keinerlei Transzendenz mehr über das Dasein in der gesellschaftlichen Masse erhebe.³ Obgleich der Begriff der „Masse“ gegenüber der zeitdiagnostischen Hauptkategorie, der „Mechanisierung“, in Rathenaus Schriften eine geringere Rolle spielt und deshalb auch in der Sekundärliteratur selten gewürdigt wird, spiegeln sich in ihm in besonderem Maße die Beziehungen der Menschen zu einander und zu sich selbst. „Die Theorie der Massengesellschaft“, so stellt in diesem Sinne auch
1 „Bis in unsere Zeit“, so Dieter Heimböckel, hätten Begriffe und Ausdeutungen von Rathenaus Kritik der Moderne, wozu insbesondere seine Kritik an der Masse gehört, Wirkung gezeigt – mehr als alle seiner anderen Theorien und Thesen. Siehe: Heimböckel, Dieter: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit [im Folgenden: WR Literatur]. Würzburg 1996, S. 186. 2 Vgl. Sombart, Werner: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1902; Ders.: Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig 1911; Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Erftstadt 2007; Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig 1907; Rathenau, Walther: Hauptwerke und Gespräche. In: Walther-Rathenau-Gesamtausgabe [im Folgenden: WRG]. Bd. II. Hrsg. von Ernst Schulin. München 1977, S. 27. 3 Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München 2007, S. 206.
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Helmut König fest, widme sich der grundsätzlichen Frage „wie die bürgerliche Gesellschaft Stabilität, Dauer und Einheit herstellt“.⁴ Geschichtstheoretisch aufgeladen, fokussiert Rathenau mit dem Begriff der Masse Prozesse der Entfremdung, die er von der Nivellierung identitätsverbürgender Rassenunterschiede, über die kolonisierende Wirkung kapitalistischer Konkurrenz bis hin zur zweckrationalen Auflösung der Kultur verfolgt. Dem engmaschigen Netzwerk dieser Massenphänomene ist für Rathenau schließlich auch nicht auf abgeschiedenen Landsitzen zu entkommen: „[…] kein verwickelterer und schwierigerer Beruf lässt sich in zivilisierten Ländern erdenken als der des Einsiedlers.“⁵ Der so kritisierten Massengesellschaft entspricht bei Rathenau das Plädoyer für eine Regierung, die zwar auf bestimmte Errungenschaften wie den Produktivitätsgewinn durch Arbeitsteilung und industrielle Massenerzeugung nicht mehr verzichten mag, andererseits einen ihr immanenten Prozess der Individualisierung und Entfremdung zu überwinden sucht. Die von Rathenau anvisierte Regierungskunst⁶ der Masse, die den Selbstregulierungskräften einer Gesellschaft von „Interessenten“ die Orientierung an einer „Gesinnung“ entgegenhält, von der sich eine neue sozialpolitische Autorität des Staates ableitet, ist insofern von besonderem Interesse, weil sich in ihr eine zur damaligen Zeit höchst wirksame Kritik liberaler Regierungsformen abzeichnet. Die von Rathenau hervorgehobene Bedeutung der Massengesellschaft für die Moderne mag im Kontext der am Ende des 19. Jahrhunderts rasant wachsenden Bevölkerung Europas zunächst wenig erstaunen. Zum Jahrhundertwechsel lässt sich so beispielsweise im deutschen Kaiserreich der Scheitelpunkt eines „demographischen Übergangs“ nachweisen, bis zu dem die durchschnittliche Lebens-
4 König, Helmut: Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter. Reinbek 1992, S. 132. 5 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 58. Der dystopische Gehalt dieser Diagnose wird deutlich in folgender Formulierung: „Denn das organisatorische Wesen der Mechanisierung beruhigt sich nicht, bevor jeder ihrer Teile, jede ihrer Summen wiederum zum Organismus geworden ist […]. Genossenschaften, Vereinigungen, Firmen, Gesellschaften, Verbände, Bureaukratie, berufliche, staatliche, kirchliche Organisationen binden und trennen die Menschheit in unübersehbarer Verflechtung; niemand ist für sich, jeder ist unterworfen, andern verantwortlich.“ Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 315. 6 Mit dem Begriff wird auf Michel Foucaults Analysen der Regierungskunst Bezug genommen, der darunter im Gegensatz zur „wirklichen Regierung“ die „reflektierte Weise wie man am besten regiert“ verstand. Siehe: Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt a. M. 2004, S. 14.
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erwartung kontinuierlich angestiegen war, die Geburtenrate jedoch weiter auf unverändert hohem Niveau verharrte und erst nach 1900 allmählich wieder sank.⁷ Genauso gilt die urbane Lebensweise dieser neuen Bevölkerungsmengen durch Prozesse der Neugründung, Umgestaltung und Ausdehnung von Städten seit etwa 1850 unter Historikern als nicht kontrovers.⁸ Auch die von Rathenau beschriebene Erfahrung der „Verdichtung“, ein Gefühl des „Verlustes von Raum“, hervorgerufen durch eine rasant steigende Mobilität der Menschen, erachten heutige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Grunderfahrung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.⁹ Statt deshalb nach zeitgeschichtlichen Ausformungen der von Rathenau diagnostizierten Massengesellschaft zu suchen, soll im Folgenden das Augenmerk auf ihre diskursive Problematisierung gerichtet werden. Von Interesse ist jener konstruktive Aspekt, durch den die gesellschaftliche Entwicklung zur „zehnfach übervölkerten Menschheit“ als „Masse“ bzw. „Menschenschwärme“ nicht nur konstatiert, sondern ethisch, ökonomisch und politisch bewertet wird.¹⁰ Aufschluss darüber gibt bereits der pejorative Sound dieser Begriffe, der seit ihrer diskursiven Einführung im Kontext des revolutionären Aufstandes der „masse du peuple“ und der „levée en masse“ der französischen Revolutionsarmee prägend gewesen ist.¹¹ In Frage stehen somit neben den Potentialen vor allem die spezifischen Gefahren und Krisen, die die Masse in der Psyche des Einzelnen und im Gesamtzusammenhang der Gesellschaft erzeugt. Rathenaus Theorie der modernen Massengesellschaft wird so als eine „Ordnung des Diskurses“¹² analysiert, die eine intelligible Ordnung der Gesellschaft erzeugt und gleichzeitig praktisch-politische Handlungsperspektiven eröffnet. Das Interesse einer diskursanalytischen Perspektive auf die Regierung der Masse, mit der sich Rathenau in seinen drei zwischen 1911 und 1917 geschriebe-
7 Vgl. Wehler, Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914. München 1995, S. 7f. 8 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 11f. Überlegungen von Rathenau zu den städtebaulichen Anforderungen an eine moderne Großstadt finden sich in seinem 1899 veröffentlichen Essay „Die schönste Stadt der Welt“. Vgl. hierzu: Fähnders, Walter: „Die schönste Stadt der Welt“. Walther Rathenaus Berlin-Essay. In: Delabar, Walter/Heimböckel, Dieter (Hrsg.): Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne. Bielefeld 2009, S. 67–85. 9 Vgl. Jureit, Ulrike: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012, S. 50ff. 10 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 309; ebd., S. 37. 11 Pankoke, Eckart: Masse, Massen (II). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Hrsg. von Joachim Ritter. Basel 1980, S. 828–832, hier: S. 828f. 12 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M. 1991.
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nen Hauptwerken immer wieder befasst, ist dabei ein zweiseitiges: ein Rathenauspezifisches und ein mentalitätsgeschichtliches. So eröffnet die Diskursanalyse zunächst den Blick auf das komplexe Geflecht aus konservativen, liberalen und sozialistischen Elementen, die Rathenaus Theorie und Kritik der Massengesellschaft bestimmen. Unterlaufen wird dadurch eine Deutungsverengung, wie sie eine naheliegende, auf Rathenaus parteipolitisches Engagement zurückgeführte liberale Deutung seines Wirkens mit sich bringt. Vorbehalte gegen eine solche Deutung ergeben sich dabei bereits aus dem biografischen Abstand zwischen seinem politischen Engagement und seinem literarischen Schaffen.¹³ „Die hohe Konsistenz der Deutung von einer gesellschaftlichen Position aus“, so stellt in diesem Zusammenhang auch Hans Dieter Hellige fest, gelinge „nur um den Preis einer Ausklammerung wesentlicher Aspekte von Person und Werk, insbesondere der kulturkritischen und sozialphilosophischen Schriften.“¹⁴ In Rathenaus Problematisierung der Masse deutet sich vielmehr an, was Foucault in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Regierungskunst als allgemeine Krise liberaler Regierungsformen im 19. Jahrhundert analysiert hat.¹⁵ An den Veränderungen von Diskursen über die „Rasse“ stellte Foucault dar, wie das liberale Credo eines allseitig wohltätigen Austauschs der Gesellschaft[en] seit Anfang des 19. Jahrhunderts allmählich immer stärker unter Druck gerät durch Probleme hygienischer, biologischer und ökonomischer Art, die aus dem Inneren der
13 Zwar lassen sich parteipolitische Stellungnahmen bereits in Rathenaus publizistischen Beiträgen seit dem 1907 veröffentlichen Artikel „Die neue Ära“ erkennen, die Versuche einer Parteikarriere beginnen allerdings nicht früher als sein gescheiterter Versuch einer Kandidatur für die Nationalliberale Partei im Jahr 1912. Auf die Distanz zwischen organisiertem Liberalismus und Rathenaus Schriften verweist auch Jürgen Fröhlich mit den Worten von Theodor Heuss: „[…] hier sind merkwürdige Töne, die aus der Welterfahrenheit der großkapitalistischen Organisation kommen“ und weiter: „Merkwürdig bleibt uns […] der Schriftsteller [Rathenau, Anm. d. Verf.]“. Solche Merkwürdigkeiten führt Fröhlich vor allem auf Rathenaus wirtschaftspolitische Vorstellungen zurück: „da er [Rathenau, Anm. d. Verf.], sicherlich nicht zuletzt aufgrund seiner Erfahrungen mit der wirtschaftlichen Kriegführung, immer weniger geneigt war, auf das vielen Liberalen heilige ,Freie Spiel der Kräfte‘ zu vertrauen.“ Siehe: Fröhlich, Jürgen: Der organisierte Liberalismus und Walther Rathenau. Neun Jahrzehnte einer schwierigen Beziehung, S. 18. In: Hense, Karl-Heinz/Sabrow, Martin (Hrsg.): Leitbild oder Erinnerungsort? Neue Beiträge zu Walther Rathenau. Berlin 2003. Wie noch zu zeigen sein wird, offenbaren sich Differenzen zu liberalen Prinzipien auch in Rathenaus Bezügen auf die Masse. 14 Hellige, Hans Dieter: Dauerhaftes Wirtschaften contra Wirtschaftsliberalismus: Die Entstehung von Rathenaus Wirtschaftsethik. In: Hense/Sabrow, Leitbild oder Erinnerungsort? (wie Anm. 13), S. 85–106, hier: S. 86. 15 Vgl. Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1999, S. 282ff.
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Gesellschaft zu entstehen scheinen.¹⁶ Rathenaus Problematisierung der Masse fügt sich so in einen Krisendiskurs ein, der auf seiner Rückseite zu einer positiveren Bewertung gesellschaftlicher Normen und der zu ihrer Durchsetzung notwendigen Zentralinstanz des Staates führt.
Die Geschichte der Entstehung, Reproduktion und zukünftigen Regierung der Massen Die Beziehungen, die Rathenau zwischen der Mechanisierung, der oft zitierten Hauptkategorie seiner Kritik der Moderne und der Entwicklung der Masse spannt, sind durchaus komplex.¹⁷ In vielerlei Hinsicht kann Friedrich Naumann dabei als derjenige gelten, von dem Rathenau die diskursive Konstellation seiner Kritik der Masse übernimmt. Bereits in seiner 1902 erschienen Schrift Neudeutsche Wirtschaftspolitik erklärte Naumann, „daß die zwei Grundkräfte der Neuzeit die Masse und die Maschine sind, die Masse aber die erste“.¹⁸ Mit der Betonung der Masse als „erster“, bzw. ursächlicher Triebkraft der Moderne verbindet Naumann zudem „ein Stück Geschichtsphilosophie“. In dieser Hinsicht ist für Naumann der Aufstieg der Massen mit einem Aufstieg einstmals unterdrückter Völkerschichten verbunden: „[…] die einstigen Barbaren aber werden Träger der Kultur und des Menschheitslebens“.¹⁹
16 Vgl. Foucault, Verteidigung der Gesellschaft (wie Anm. 15), S. 58ff. 17 Für die diskursive Wirkmächtigkeit von Rathenaus Mechanisierungsthese ist zu Recht immer wieder auf Karl Jaspers verwiesen worden, der 1931 in „Die geistige Situation der Zeit“ anmerkte dass „die am meisten beachteten Spiegel unserer Zeit: Rathenaus ,Zur Kritik der Zeit‘ (1912) und Spenglers ,Untergang des Abendlandes‘ (1918) [bilden] […]. Rathenau lieferte eine eindringliche Analyse der Mechanisierung des Lebens.“ Siehe: Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit. Berlin/Leipzig 1931, S. 13. An Jaspers’ Schrift ist darüber hinaus sein Rekurs auf die „Massenordnung“ und der von ihm aufgespannte Nexus zwischen technischem Fortschritt und der „Herrschaft der Masse“ von Bedeutung, den er in einigen Passagen fast wortgleich von Rathenau übernimmt. In dieser Hinsicht symptomatisch ist folgende Formulierung Jaspers’: „Die Bevölkerungsmassen können nicht leben, ohne den riesigen Leistungsapparat, indem sie als Rädchen mitarbeiten.“ Ebd., S 26. 18 Naumann, Friedrich: Neudeutsche Wirtschaftspolitik. Berlin-Schöneberg 1906, S. 8. 19 Naumann, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 18), S. 9. Die wichtigste Differenz zwischen Naumann und Rathenau besteht in dem Akzent, den letzterer auf den Prozess der Entfremdung der Massengesellschaft legt. Während auch Naumann die Auflösung individueller Verantwortung in gesellschaftlichen Organisations- und Konzentrationsprozessen erkennt, steht er der Dynamik
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Neben Naumanns Darstellungen der einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen, die sich für ihn aus dem Anwachsen der Masse ergeben: die Ausweitung der Arbeitsteilung und die Tendenz zur Organisation, übernimmt Rathenau auch die Idee einer Geschichtsphilosophie der Massen. Anhand seiner Schrift Zur Kritik der Zeit, in der Rathenau das gesellschaftsund geschichtstheoretische Fundament seiner späteren Arbeiten Zur Mechanik des Geistes und Von kommenden Dingen legte, lässt sich das Verhältnis von Vermassung und Mechanisierung deshalb zunächst in eine zeitliche Abfolge ordnen. Eine solche Abfolge, die neben Vergangenheit und Gegenwart auch eine utopisch bestimmte Zukunft enthält, erkennt auch Walter Delabar, wenn er auf drei Kategorien verweist, die Rathenaus Kritik der Moderne strukturierten: „Entgermanisierung“, „Mechanisierung“ und „Seele“.²⁰ Während die erste Kategorie auf die historische Entstehung der Moderne verweise, die zweite auf eine Diagnose der Gegenwart abstelle, benenne die dritte jene zukünftigen Strategien „mit der die negativen Seiten der gesellschaftlichen Entwicklung beseitigt werden können“.²¹ Pierluca Azzaro hat auf eine ähnliche geschichtsphilosophische Stufenkonstruktion bei Kurt Breysig und Oswald Spengler hingewiesen: „Alle drei Geschichtsdenker sehen in der „Mechanisierung“ (Breysig, Rathenau), bzw. der „Zivilisation“ (Rathenau, Spengler) eine das „Wesen des Menschen“ bedrohende Gefahr.“²² Dieser Gefahr, so Azzaro, seien die genannten Theoretiker mit einem neuen, nietzscheanisch inspirierten Sendungsbewusstsein gegenübergetreten, das er als eine Art „Menschheitsrettungsaktion“ sieht: „Die erlebte Gegenwart gab sich mit kleineren Reparaturen zufrieden, sondern strebte nach regelrechter ,Befreiung‘ und ,Erlösung‘“.²³ An diese Stufentheorie anknüpfend, lässt sich in Rathenaus Geschichtsphilosophie zunächst ein Prozess der Entschichtung als Epoche der Entstehung der Masse identifizieren, woraufhin die Mechanisierung als das Zeitalter ihrer Ausweitung und Reproduktion folgt und erst das noch ausstehende Zeitalter der Seele zu ihrer produktiven Regierung führen wird. In der Rekonstruktion dieser Entwicklung wird deutlich, dass die Epoche der Mechanisierung insofern eine Sonderrolle übernimmt, als die ihr eigenen Gesetze
der neuen Gesellschaft um vieles positiver gegenüber als Rathenau. 20 Delabar, Walter: Die Herrschaft der Mechanisierung. Eine Anamnese von Walther Rathenaus Konzept der Moderne, S. 215f. In: Delabar/Heimböckel, Phänotyp (wie Anm. 8), S. 215–236. 21 Delabar, Mechanisierung (wie Anm. 20), S. 216. 22 Azzaro, Pierluca: Deutsche Geschichtsdenker um die Jahrhundertwende und ihr Einfluss in Italien. Bern 2005, S. 86. 23 Azzaro, Geschichtsdenker (wie Anm. 22), S. 87.
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industrieller Produktion und kapitalistischer Konkurrenz den historischen Höhepunkt der Entwicklung der Masse markieren. Rathenaus Bezeichnung dieser Epoche als „Schicksal“²⁴ lässt dabei erkennen, dass die Zukunft der Massengesellschaft für ihn nicht einfach in der Wiederherstellung früherer Verhältnisse besteht, sondern in der Anerkennung ihrer Potentiale und Gefahren an die sich eine spezifische Form ihrer Regierung anschließt.
Die Entstehung der Masse im Prozess der Entschichtung Die Geburt der Masse beschreibt Rathenau in Zur Kritik der Zeit als einen Prozess der zunehmenden Auflösung älterer Rassenkonflikte zu Gunsten der Herrschaft einer charakterlich minderwertigen Rasse von „Zweckmenschen“.²⁵ Diesem Herrschaftswechsel gehe zunächst eine Epoche voraus, in der sich einst kriegerische Rassen schwächere Rasse unterworfen und als Aristokratie über diese „stammverschiedene Unterschicht“ geherrscht hätten.²⁶ In Europa hätte sich dadurch die Dominanz der germanischen Rasse herausgebildet. Ähnlich wie Nietzsche in seiner Unterscheidung zwischen Herren- und Sklavenmoral ordnet auch Rathenau diesen Ober- und Unterschichten bestimmte charakterliche Eigenschaften zu: „reinere und freiere Ideale“ auf der einen, „Zähigkeit und Anpassung, Schlauheit und Voraussicht“ auf der anderen Seite.²⁷ „Das Beispiel der Juden“,
24 „Die Mechanisierung aber ist das Schicksal der Menschheit, somit Werk der Natur; sie ist nicht Eigensinn und Irrtum eines einzelnen noch einer Gruppe; niemand kann sie ihr entziehen, denn sie ist aus Urgesetzen verhängt.“ Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 310. 25 Delabar weist zu Recht darauf hin, dass sich Rathenaus Schichtenmodell von anderen Rassentheorien seiner Zeit unterscheidet, insofern es eine Trennlinie nicht zwischen rassisch homogenen Gesellschaften ziehe, sondern im Inneren von Gesellschaften. Vgl. Delabar, Mechanisierung (wie Anm. 20), S. 218. 26 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 29. 27 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 30 u. 35. Zur Bedeutung Nietzsches für die Generation Rathenaus, die sich durch diesen Bezug von ihren liberal-bürgerlichen Vätern absetzte, vgl. Hellige, Hans Dieter: Rathenau und Harden in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs. Eine sozialgeschichtlich-biographische Studie zur Entstehung neokonservativer Positionen bei Unternehmern und Intellektuellen, S. 96ff. In: Walther Rathenau – Maximilian Harden. Briefwechsel 1897–1920. WRG, Bd. VI. Hrsg. von Hans Dieter Hellige. München/Heidelberg 1983. Zum gleichen Thema vgl. Aschheim, Steven E.: Nietzsche und die Deutschen: Karriere eines Kults. Stuttgart 1996, S. 51ff. Zur Bedeutung Nietzsches in Rathenaus Schriften, vgl. Hellige, Rathenau und Harden S. 173ff. Hellige verweist dabei auf eine Relativierung der nietzscheanisch-individual-
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die nach Rathenau eine besondere Gabe zur Anpassung besäßen, „bestätigt dies“.²⁸ Rathenaus auf verbreitete Ressentiments zurückgreifende Rassentheorie changiert dabei mit seiner bekannten anthropologischen Unterscheidung zwischen „Mut- und Furchtmenschen“, die er bereits zwischen 1903 und 1904, mit den Aufsätzen Zur Physiologie der Moral und Von Schwachheit, Furcht und Zweck, eingeführt hatte. Die Ziele der Furchtmenschen: künstliche „Genüsse, Macht und Anerkennung“,²⁹ weisen sie als nicht-authentische, bis ins Innerste vergesellschaftete Charaktere aus. Mit dem Verweis auf die Gegenwart als „goldenes Zeitalter“ der Furchtmenschen, das begann „als der Boden Europas von befreiten Rassen und emanzipierten Hörigen zu wimmeln begann“,³⁰ erscheinen diese Schriften deshalb als Präludium von Rathenaus späteren Arbeiten zur Entstehung der Massengesellschaft. Seine Kritik an dem heteronom vergesellschafteten und an Äußerlichkeiten orientierten Charakter der Furcht- bzw. Zweckmenschen macht deutlich, dass die von Rathenau anvisierte Regierung der Massengesellschaft auf eine neue, persönliche wie kollektive Authentizität abzielt. Dem gesellschaftlichen Ausgangszustand aristokratischer Herrschaft über die Rasse der Zweckmenschen folgte nach Rathenau eine Phase der RassenMischung, in der, gleich einer chemischen Reaktion, besondere zivilisatorische Kräfte frei würden, die einen Herrschaftswechsel herbeiführten. Die Unterschicht, die nicht nur ökonomisch, sondern auch bezogen auf ihre Geburtenrate produktiver sei als die Aristokratie, würde von dieser Prosperitätsphase besonders profitieren: „So neigt sich die Kräftebilanz nach der Seite der Unterdrückten“.³¹ Das Ergebnis schildert Rathenau in einer für ihn nicht untypischen androzentrischen Wendung: „sie [die expandierende Unterschicht, Anm. d. Verf.] hat in ihrem schwellenden Drang die dünne Haut der Oberschicht zerrissen, die vormals den europäischen Völkern ihre Farbe liehen“.³² Diese „Entschichtung“ der Gesell-
aristokratischen Positionen Rathenaus „durch sein Verständnis für die kollektiven Triebkräfte des historischen Prozesses und speziell für die vergesellschaftende Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise“. Vgl. Hellige, Rathenau und Harden, S. 180. 28 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 35. 29 Rathenau, Walther: Von Schwachheit, Furcht und Zweck. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Reflexionen und Aufsätze. Berlin 1925, S. 9–33. Zitat: S. 19. 30 Rathenau, Schwachheit (wie Anm. 29), S. 33. 31 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 36. 32 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 309. Zum Frauenbild Rathenaus vgl. Schölzel, Christian: Walther Rathenau (1867–1922): ein Suchender! – ein Liberaler?. In: Schaser, Angelika/SchülerSpringorum, Stefanie (Hrsg.): Liberalismus und Emanzipation. In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Stuttgart 2010, S. 143–155, Zitat: S. 150. Sprechend für seine konservative Haltung gegenüber Frauen ist unter anderem seine Äußerung „daß die Frauen […] nicht bloß der Natur sondern auch den Urvölkern näher stehen als wir“. Siehe: Rathenau,
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schaft führt zu einer wiederum nietzscheanisch anmutenden Umwertung der Werte: „Die transzendenten Ideale der alten Führer sind gefallen, an ihre Stelle tritt der freie Bewerb um den Geschmack der Menge“.³³ Die Geburt der Masse, so ließe sich abschließend feststellen, konzipiert Rathenau als Zivilisationsschub, der eine Auflösung von zuvor geschichtet lebenden Rassen zur Folge hat und zur Herrschaft eines vergesellschafteten und pragmatischen Menschentypus führt, der in seinem Handeln vornehmlich dem Herdenprinzip folgt. „So verschmilzt diese Hypothese [der Entschichtung, Anm. d. Verf.] mit der […] Frage nach den Ursachen der […] Volkszunahme zu einem einheitlichen Theorem.“³⁴ Obgleich insbesondere Rathenaus Hypothese einer irreversiblen Rassenmischung im völkischen Lager zu Recht als Provokation wahrgenommen wurde,³⁵ blieb seine These über die Dynamik der „Verdichtung“ von wenigen skeptischen Kommentaren abgesehen,³⁶ zunächst unbeachtet. Kontroverser erscheint demgegenüber seine Verknüpfung des Vermassungsprozesses mit den Auswirkungen der Mechanisierung, weil darin die von ihm diagnostizierten Krisenphänomene der Massengesellschaft schärfer hervortreten. In Rathenaus Darstellung des Zeitalters der Mechanisierung werden jene Probleme greifbarer, die sich im Entstehungsprozess der Masse bereits andeuten: Entfremdung der Menschen von sich selbst und ihrem Gegenüber, Unterwerfung unter eine allgegenwärtige Norm kapitalistischer Konkurrenz sowie ihre „transzendentale Obdachlosigkeit“ (Lukács).
WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 96. Auf die Gemeinsamkeiten der Attribute von Frauen und der Masse in der Politischen Theorie des 19. Jahrhunderts hat überzeugend Blättler hingewiesen: „Die Assoziation von Frau und Masse ergibt sich aus den traditionellen Geschlechtsstereotypen, die das Männliche als das Aktive, rationale Vorausschauende, Zielgerichtete und Schöpferische dem Logos, das Weibliche als das Passive, Irrationale, Manipulierbare, Reizbare und Fügsame hingegen der Materie zuordnen“. Siehe: Blättler, Sidona: Der Pöbel, die Frauen, etc. Die Massen in der Politischen Theorie des 19. Jahrhunderts. Berlin 1995, S. 14. Diese Assoziation findet sich insofern auch bei Rathenau, als er die Massen genauso wie die Frauen dem Typus der Zweckmenschen zuschlägt, als deren wichtigstes Attribut ihm der Intellekt als „Bewußtseinsform des Begehrens“ gilt. Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 124. 33 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 30. 34 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 36. 35 Vgl. Schulin, Ernst: Zu Rathenaus Hauptwerken. In: Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 520. 36 Vgl. hierzu Franz Oppenheimer, der Rathenau mangelnde Originalität vorwirft und kritisch fragt „woher es sich erklären lasse, daß die Volksvermehrung gerade in dem letzten Jahrhundert ein Schrittmaß eingeschlagen hat, das in keiner früheren Epoche erhört war?“. Zitiert n. Schulin, Hauptwerke (wie Anm. 35), S. 516.
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Produkt und Produzent der Massengesellschaft: Die Mechanisierung Das Zeitalter der Mechanisierung stellt Rathenau zunächst als eine Konsequenz des Bevölkerungswachstums dar, das die Epoche der Entschichtung und die Herrschaft des „Zweckmenschen“ begleitet. So verlange die neu entstandene Bevölkerungsmenge besondere, industriell-maschinelle und organisatorische Anstrengungen, um ihre Subsistenz zu gewährleisten, während der Charakterwandel im Zuge der Entschichtung jenen pragmatischen Menschentyp hervorbringe, der durch sein gesteigertes Interesse für „Tatsachen, Zusammenhänge und Anwendungen“ in der Lage sei, diese Aufgabe auch zu bewältigen.³⁷ Der so in Gang gesetzte Prozess der Mechanisierung, der in erster Annäherung als kapitalistische Industrialisierung und geistige Verwissenschaftlichung aufgefasst werden kann, führt nach Rathenau zu einer Ausweitung und Intensivierung der Massenphänomene: „Das Anwachsen der Bevölkerung hat dies ungeheure Rad in Schwingung versetzt; nun kreist es, indem es selbsttätig und ununterbrochen seine Masse und Geschwindigkeit vermehrt.“³⁸ Mechanisierung und Massengesellschaft, so wird deutlich, bilden nicht nur eine zeitliche Abfolge, sie stehen auch in einem Verhältnis der gegenseitigen Bedingung und Verstärkung. Es ist dieses Bedingungsverhältnis, mit dem Rathenaus Zur Kritik der Zeit einsetzt: Vollends erkennen wir diesseits der Epochengrenze, etwa seit Beginn der fünfziger Jahre, die nicht mehr unterbrochene Gleichförmigkeit eines Zeitalters, das bis zu diesem Augenblick nur größenhafte Steigerungen und technische Verschiebungen erlebt hat. Vor allem aber sind alle diesseitigen Menschen uns als Zeitgenossen ohne Erläuterung verständlich, indem wir ihre Sprache, Lebensauffassung, Wünsche und Denkweise bis in die jüngste Generation unserer Stadtbürger hinein erhalten und wiederholt finden.³⁹
Obwohl sich Rathenau in der Frage nach den Ursachen der Gleichförmigkeit des mechanistischen Zeitalters von ökonomischen Gesellschaftstheorien seiner Zeit zunächst distanziert um zu betonen, dass sich die homogenisierende Logik der Mechanisierung auf alle nur denkbaren gesellschaftlichen Lebensbereiche erstreckt, stellt der Bereich der Produktion, genauer der spezialisierten und kapi-
37 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 37. 38 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 51. 39 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 21.
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talisierten „Massenerzeugung“, für ihn die wichtigste Triebkraft der Mechanisierung dar.⁴⁰ Als ihr zentrales Gesetz definiert er: „Beschleunigung, […], Einheitlichkeit und Einfachheit der Typen, Ersparnis an Arbeit“.⁴¹ Genauso wie die Fähigkeiten, die sich diesem Gesetz anpassten, entbehrten auch die nach ihm gefertigten Produkte einer „organischen“, menschlichen Natur.⁴² Eindringlich schildert Rathenau die Entfremdungsformen dieser Produktionsformen in den Kommenden Dingen: Die Weltarbeit vom Feldherrn bis zum Postboten, vom Tagelöhner bis zum Finanzmann steht unter dem Druck des Akkord- und Rekordsystems […]. Selbst in der Richtung und Fassung seiner Werktätigkeit ist der Mensch nicht frei. Mag er zur Einseitigkeit oder zur Vielfältigkeit bestimmt sein, die mechanistische Ordnung benutzt ihn zur Spezialisierung.⁴³
So wie die mechanistische Produktion die Menschen zu einem Rädchen im Produktionsprozess degradiere und in Hinblick auf ihre Fähigkeiten und den Rhythmus ihrer Arbeit von sich selbst entfremde, so entfremde sich der Mensch auch von seinem Gegenüber: Gilt von den Dingen die Abmessung, so gilt vom Handeln der Erfolg; er betäubt das sittliche Gefühl, so wie Messen und Wägen das Qualitätsgefühl verblödet. […] Die Dinge selbst, vernachlässigt und verachtet, bieten keine Freude mehr, denn sie sind Mittel geworden. Mittel ist alles, Ding, Mensch, Natur, Gott; hinter ihnen steht gespenstisch und irreal das Ding-ansich des Strebens: der Zweck.⁴⁴
Neben diesen Veränderungen im Verhältnis der Menschen zu sich selbst, ihrem Gegenüber und ihren Produkten, sorgt für Rathenau auch die Arbeitsteilung für eine Verstärkung der Massenphänomene. Im Gegensatz zur selbstgenügsamen Einzelwirtschaft wachse vor allem durch die Spezialisierung die gegenseitige Abhängigkeit zum System einer „Gesamtwirtschaft“.⁴⁵
40 Rathenau, WRG, Bd. II, S. 44. „Der Kern der Mechanisierung“, so Rathenau, „ist der Produktionsprozeß.“ Rathenau WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 95. 41 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 48. 42 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 50. 43 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 314f. 44 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 313. 45 Vgl. Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 43 und S. 28. Eine Form dieser Arbeitsteilung erkennt Rathenau auch in der Trennung von Investition und unternehmerischer Verantwortung, die mit der Kommerzialisierung der Wirtschaft einhergehe. Börsengehandelte Wertpapiere, Anleihen und Hypotheken hätten den Charakter von Unternehmen dabei grundlegend verändert. An die Stelle des „selbständige[n], auf Tradition und patriarchalische gestützten Fabrikant[en]“
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Zu der Entfremdung in den Sphären der Arbeit und Produktion trage der Konsum der massenweise produzierten Waren noch weiter bei. Denn indem unterschiedlichen Materialien die immer gleichen Formen aufgepresst würden, eigne den Endprodukten etwas Normiertes und Surrogathaftes.⁴⁶ „Sie [die Mechanisierung, Anm. d. Verf.] spart am Material, aber sie knausert nicht mit Ornamenten.“⁴⁷ Dadurch sei die mechanistische Industrie in der Lage nicht nur schnell wechselnde Produkte herzustellen, sondern auch das ihnen entsprechende Bedürfnis. „So schafft die Mechanisierung sich selbst ungeheuerste Hilfskräfte in dem Warenhunger der Menschen, in der Irrealität, Leblosigkeit und Schattenhaftigkeit ihrer Produkte und in der Mode.“⁴⁸ Durch Waren, die lediglich den abstrakten Wunsch nach „mehr“ erzeugen, erscheinen zuletzt noch die menschlichen Bedürfnisse eingepasst in den mechanistischen Produktionsprozess. In Anlehnung an die Charakterisierung der Unterschichten in seiner rassistisch geprägten Geschichtsphilosophie zeichnet Rathenau den Zweckmenschen der mechanischen Gesellschaft – hier allerdings in soziologischen und psychologischen Kategorien – als „Interessenten“. Dieser schätze andere Menschen und
trete zunehmend der anonyme und rationale „Verwalter eines Kapitals“. Rathenau, WRG, Bd. II, S. 54. Kapitalistischer Besitz sei in diesem Sinne „beweglich, austauschbar, fungibel, seine Erträge mußten vom Stamm trennbar […] sein.“ Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 53. 46 Vgl. Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 50. 47 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 50. Auf einen Zusammenhang zwischen „Masse und Ornament“ hat 1927 auch Siegfried Kracauer hingewiesen. In den Kulturphänomenen der „Stadionmuster“ und „Tillergirls“ erkannte er den Spiegel eines tiefgreifenden Wandels zur Massengesellschaft. „Als Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur.“ Vgl. Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a. M. 1977, S. 50f. Auch Kracauer sieht diese Entwicklung als Ausdruck einer verschärften kapitalistischen Vergesellschaftung: „Den Beinen der Tillergirls entsprechen die Hände in der Fabrik.“ Ebd., S. 54. Doch obwohl er ebenso wie Rathenau im Ornamentalen eine sinnentleerte Form erkennt, die im Kulturellen Ähnlichkeiten mit dem Spektakel antiker „Zirkusspiele“ besitze, warnt er vor ihrer Verdammung und macht auf eine ihr inhärente „Zweideutigkeit“ aufmerksam. „Gerade darum, weil der Träger des Ornaments nicht als Gesamtpersönlichkeit figuriert, als eine harmonische Vereinigung von Natur und Geist, in der jene zuviel und dieser zuwenig erhält, wird er transparent gegen den Menschen, den die Vernunft bestimmt.“ Vgl. ebd., S. 59. Eine Beschwörung des gesellschaftlich Organischen gegen das Massenornament hält Kracauer, wie an Rathenaus Theorie der Kollektivseele noch zu zeigen sein wird, zu Recht für eine Form der Re-Mythologisierung, mit der sich die Nation als höchste und schicksalshafte Einheit verbinde. Vgl. ebd., S. 55. 48 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 51.
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Dinge nicht mehr um ihrer selbst willen, sondern nur in relativer Hinsicht, als Mittel zur wirtschaftlichen Machtvermehrung.⁴⁹ Kritik an einer sinnentleerten kapitalistischen Produktion, durch die „jede Begrenzung des Strebens weggefallen“, die „maßlos, grenzenlos“ geworden sei und tendenziell zum Selbstzweck verkomme, äußerten zur gleichen Zeit auch Sozialtheoretiker wie der weit rezipierte Werner Sombart.⁵⁰ Ähnlich wie Rathenau erscheint ihm der moderne Mensch als vereinzelt durch den Druck der Spezialisierung, gefangen in seinem Erfolgsstreben und bar jeder Persönlichkeit oder kollektiver Zugehörigkeit. An die Stelle dieser Zugehörigkeit treten für Rathenau funktionale Bindungen und anonyme Mächte, die fortan Aufbau und Bewegung der Gesellschaft bestimmten. „Der einzelne“, so Rathenau, „findet das Maß seiner Arbeit und Muße nicht mehr im Bedürfnis seines Lebens, sondern in einer Norm, die außer ihm steht, der Konkurrenz.“⁵¹ Die Gesellschaft der nur auf ihren Vorteil bedachten Interessenten ist für ihn deshalb eine „Gemeinschaft des Kampfes“.⁵² Wie schon die Entstehung der Mechanisierung, die Rathenau als Reaktion auf die gewachsenen Bedürfnisse einer vergrößerten Bevölkerungsmehrheit versteht, beschreibt er die Dynamik der Mechanisierung als „dumpfe[n] Naturvorgang“,⁵³ der auf einer gänzlich unmoralischen Norm beruhe. Einem blinden Naturgesetz der Konkurrenz folgend, tendiere die Mechanisierung zur Machtkonzentration gesellschaftlicher und ökonomischer Großorganisationen.⁵⁴ Mit der Tendenz zur ökonomischen Großorganisation verknüpft sich zudem seine Auffassung der modernen Wirtschaftspolitik, die ebenefalls von einer Unausweichlichkeit gesamtgesellschaftlich ausgreifender Konzentrationsprozesse geprägt ist. „Mit seiner Strategie einer ,Verständigung um jeden Preis‘ und einer Zusammenfassung der Hauptfirmen zu einem einzigen Branchenkonzern, wie mit seinem strikten technischen Effizienzdenken“, so schreibt hierzu Hellige, „bewegte sich Rathenau bereits im Grenzbereich der liberalen
49 Vgl. Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 318. 50 Sombart, Juden und Wirtschaftsleben (wie Anm. 2), S. 228. 51 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 314. 52 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 311. 53 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 317. 54 So erkennt Rathenau zum einen ein fast universelles System der sozialen Organisation in „Genossenschaften, Vereinigungen, Firmen, Gesellschaften, Verbände[n], Bureaukratie, berufliche[n], staatliche[n] und kirchliche[n] Organisationen“, denn „die Mechanisierung als Massenorganisation bedarf der Menschenkraft nicht einzeln sondern in Strömen.“Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 315f.
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Wirtschaftsauffassung.“⁵⁵ Die Idee der wirtschaftlichen Überlegenheit der „economies of scale“ verband er dabei mit Überlegungen zur Leistungsfähigkeit gemischt-wirtschaftlicher Regime.⁵⁶ Der anonyme Zwang kapitalistischer Konkurrenz, der zur Bildung gesellschaftlicher Großorganisationen führe, manifestiert sich für Rathenau in einer kolonisierenden Wirkung auf die Breite der Gesellschaft, worüber auch bürgerliche Freiheiten nicht hinwegtäuschen könnten: „Ein Blendwerk äußerer Freiheit bedeckt die mechanistische Bindung: der Unzufriedene kann Rücksicht auf die Form verlangen, auftrumpfen, die Arbeit niederlegen, wegziehen, auswandern: und doch befindet er sich nach Wochen bei veränderten Namen, Personen und Ortschaften im gleichen Verhältnis.“⁵⁷ Für Rathenau erstrecken sich die Verhältnisse der Mechanisierung prospektiv auf die ganze Welt: „[…] denn ihr Wesen [gemeint ist die Mechanisierung, Anm. d. Verf.], alles in allem betrachtet, besteht darin, daß die Menschheit, halb bewußt, halb unbewußt zu einer einzigen Zwangsorganisation verflochten“⁵⁸ werde. Als Zwischenfazit lässt sich feststellen, dass Rathenau seine Kritik der im Kontext der Entschichtung entstandenen Masse der „Zweckmenschen“ auf einer soziologischen Basis weiter zuspitzt. Die Entfremdung der Masse im Prozess der Mechanisierung erscheint dabei nicht mehr als Defizit bestimmter Rassen, sondern als Ausdruck verallgemeinerter kapitalistischer Produktions- und Konkurrenzverhältnisse. Die Ausweglosigkeit dieser Verhältnisse präsentiert sich besonders schwerwiegend für eine neu entstehende proletarische Schicht, der durch Mangel an Besitz- und Bildungsressourcen jede Aufstiegschance verwehrt bleibe. „Trotz Abendland, Christentum und Zivilisation“, so Rathenau, sei ein Hörigkeitsverhältnis entstanden, das „ohne gesetzlichen Zwang, ohne sichtbare Herrengewalt,
55 Hellige, Wirtschaftsethik (wie Anm. 14), S. 87. Nachdem Rathenau mit seinen Fusionsplänen privatwirtschaftlich weitgehend scheiterte, arbeitete er seine Ideen in verschiedenen Denkschriften, wie zur Bildung eines reichsweiten Elektrizitätsmonopols und anderen wirtschaftspolitischen Aufsätzen weiter aus. 56 Aus Rathenaus Idee einer Verbindung von Staatssozialismus und liberaler Unternehmerstätigkeit gingen verschiedene konkrete Projekte und Vorschläge hervor: Die Bildung einer „Reichsdiamantenregie“ (1910), die Kriegsrohstoffabteilung und Kriegsgesellschaften (1914), eine „Kriegswirtschafts-Abteilung“ in Friedenszeiten (1916), ein „Demobilisierungsamt“ (1918) und die „Wiederaufbaugesellschaften“ (1921). Vgl. Hellige, Wirtschaftsethik (wie Anm. 14), S. 94. 57 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 315. 58 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 309.
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durch den bloßen Ablauf scheinbar freier Wirtschaftsvorgänge gesichert, eine […] erbliche Abhängigkeit von Schicht zu Schicht verbürgt.“⁵⁹ Ausführlicher untersuchte Rathenau die Ungleichheits- und Herrschaftsbeziehungen zwischen den gesellschaftlichen Schichten allerdings erst in den Kommenden Dingen. „Gläserne Mauern“, so stellt er darin fest, umschlössen die bürgerlichen Gesellschaft und mit ihr die Aussicht auf „Freiheit, Selbstbestimmung, Wohlstand und Macht“.⁶⁰ Das größte Hindernis für den sozialen Aufstieg der Unterschichten bestehe dabei in der Erblichkeit ökonomisch relevanter Ausgangsbedingungen, sodass sich auch auf lange Sicht nichts an diesem Missverhältnis ändern werde. Die wohlstandsgenerierenden Kräfte der Mechanisierung, denen Rathenau noch in der Kritik der Zeit eine „Mittelstandstendenz“⁶¹ attestierte, erzeugen den Kommenden Dingen zufolge eine Unterschicht, die nicht nur existenzsichernder Ressourcen entbehre, sondern auch zu ständiger Unselbstständigkeit verdammt sei. In Bezug auf die diskursive Konstruktion der Masse ist hervorzuheben, dass Rathenau nicht darauf verfällt, lediglich die Unterschichten als Masse zu (dis-) qualifizieren. Damit nimmt er Abstand von einer Diskursordnung, in der mit dem Begriff der „Masse“ auf den proletarischen Teil der Gesellschaft Bezug genommen wurde. Zu diesem Diskurs gehört unter anderem Bruno Bauers 1844 veröffentlichte Kritik an den Versuchen, die Massen durch eine neue Form humanistischer Religiosität (Feuerbach) oder durch kommunistische Organisation (Fourier) zu integrieren.⁶² Neben der Illiberalität dieser Utopien betont Bauer ein mangelndes soziales Bewusstsein der proletarischen Massen, die sich in einem Zustand der Vereinzelung und Konkurrenz befänden.⁶³ Anhand von Rathenaus Beschreibung der in der Mechanisierung wirksamen Entfremdungs- und Organisationsprozesse wird demgegenüber deutlich, dass das Problem der Massen in der Mechanisierung eine Krise der bürgerlichen Gesellschaft als Ganzer darstellt. Eine diesem Problemzusammenhang ange-
59 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 317. 60 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 330. 61 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 60. 62 Vgl. Bauer, Bruno: Die Gattung und die Masse. In: Ders.: Feldzüge der reinen Kritik. Frankfurt a. M. 1968, S. 213–223. 63 Vgl. Bauer, Gattung und Masse (wie Anm. 62), S. 214. Die von Bauer konstatierte Desintegration der Massen kommt in folgendem Zitat gut zum Ausdruck: „Die Masse als solche ist eine Erscheinung, die erst eintreten konnte, nachdem die spezifischen Unterschiede, in welchen sich die Gattung bisher dargestellt hatte, erblaßt waren. Sie ist der Verfall der Gattung in die Menge der einzelnen Atome, die Auflösung der besonderen Schranken, welche die Individuen bisher zwar trennten, aber auch verbanden.“ Ebd., S. 215.
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messene Regierung, so lässt sich an dieser Stelle bereits vermerken, richtet sich nicht nur auf die Emanzipation einer bestimmten Schicht innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Wie noch zu zeigen sein wird, stellen die sozialpolitischen Maßnahmen, die Rathenau in den Kommenden Dingen in Anschlag bringt, um die Situation der Unterschichten zu verbessern, lediglich einen Teilaspekt einer noch umfassenderen Integration der Massengesellschaft dar. Bevor die Zielrichtung dieser Integration genauer untersucht werden kann, ist noch auf einen weiteren prägenden Zug der Mechanisierung einzugehen, der die geistige Verfassung der „Interessenten“ betrifft. In ihr offenbart sich eine grundsätzlich ambivalente Haltung Rathenaus gegenüber der Masse im Zeitalter der Mechanisierung. Als eine die Mechanisierung begleitende „Geistesrevolution“⁶⁴ beschreibt Rathenau einen Prozess der Intellektualisierung, der für ihn analog zur Steigerung wirtschaftlicher Produktivkräfte zu einer Erweiterung der geistigen Kapazitäten führt. Es handele sich um eine „gewaltige Steigerung des Erdengeschöpfes zum Intellekt, der in der beispiellosen Zahl seiner Träger, in der Schärfe und Nachhaltigkeit, Zielrichtung, Verzweigung und Sammlung ein ungeheures Maß niedersten Geistes in Bewegung hält.“⁶⁵ Der Intellekt richte sich dabei ausschließlich auf die Welt der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen: „Raum, Zeit, Bewegung“.⁶⁶ Die Steigerung der intellektuellen Fähigkeiten, die sich in einer allgemeinen Verwissenschaftlichung niederschlägt, beziehe sich dabei ausdrücklich nicht auf die Fähigkeiten der Menschen, ihrem Handeln Richtung zu verleihen. „Niemals kann sie [die intellektuale Kraft, Anm. d. Verf.] bestimmen: dies ist als höchstes Gut der Menschheit beschieden und erreichbar, dies sollen wir erstreben, müssen wir erringen. Denn all unser Willen, soweit er nicht animalisch ist, entspringt den Quellen der Seele.“⁶⁷ Schlüsselt man die Defizite der Intellektualisierung weiter auf, ergeben sich vor allem drei Aspekte, die eine Vernachlässigung der seelischen Kräfte für Rathenau mit sich bringen: ein Verlust an handlungsleitenden Wertmaßstäben, von künstlerisch-schöpferischen Kräften sowie ein versagendes Gespür für das Religiös-Absolute. So wie Rathenau der kapitalistischen Konkurrenz eine kolonisierende Wirkung in der Breite der Gesellschaft attestiert, so lässt sich in Bezug auf den Prozess der Intellektualisierung von einer Kolonisierung in den charakterlichen Tiefen der Menschen sprechen.⁶⁸
64 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 322. 65 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 322. 66 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 382. 67 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 325. 68 Thomas Rohkrämer hat diesbezüglich darauf aufmerksam gemacht, dass Rathenaus Schilderung einer bis in die menschliche Psyche vordringenden Dynamik der Mechanisierung besonders in „Zur Kritik der Zeit“ als ausweglose Dystopie erscheine, während in der „Mechanik
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Ähnlich wie Rathenau hatten zu dieser Zeit bereits Soziologen wie Max Weber oder Georg Simmel auf eine rationalistische Tendenz der Moderne hingewiesen. Von Simmel wird diese Rationaliserung in Verbindung mit der steigenden Bedeutung des Geldes als „reinstem Ausdruck bloßer Mittel“ gebracht, das im Geistigen mit einem Verlust von praktischen Zielen verbunden sei.⁶⁹ Simmel wie auch Rathenau können in dieser Hinsicht als prominente Vertreter eines sich zu jener Zeit popularisierenden kulturkritischen Diskurses angesehen werden, den Georg Bollenbeck in Rückgriff auf Weber als Diskurs einer „entzauberten Moderne“ bezeichnet.⁷⁰ Die von Weber konstatierte Ausweitung wissenschaftlicher Erkenntnis, die die Welt zwar weniger geheimnisvoll und schicksalshaft erscheinen lasse, gleichzeitig aber mit einem Verzicht auf praktischen Sinn einhergehe, sieht Bollenbeck begleitet von einer Ernüchterung bezüglich der gesellschaftlichen Errungenschaften der liberalen Ära.⁷¹ Obwohl sich viele Aspekte dieser „Ernüchterung“ in Rathenaus Hauptwerken finden lassen, wird im Folgenden herausgearbeitet, dass seine Haltung gegenüber der Mechanisierung ambivalent blieb. Denn trotz ihrer entfremdenden Wirkung auf menschliche Beziehungen garantiere die durch rationale Weltbeherrschung angetriebene Mechanisierung eine Versorgung der im Prozess der Entschichtung angewachsenen Bevölkerungsmengen: „Sie hat sich verpflichtet, den Menschen mit tausendfach vermehrter Sippe zu nähren, zu unterhalten und zu bereichern, und hält diesen Pakt.“⁷² Die Ambivalenz dieser Haltung gegenüber den Massen lässt sich weiterhin ver-
des Geistes“ eher von dem Verlust der Balance zwischen einer anthropologischen Dualität von „Zweckrationalität und Liebe“ die Rede sei. Vgl. Rohkrämer, Thomas: Politische Religion, Civic religion oder ein neuer Glaube? Walther Rathenaus Vision einer anderen Moderne, S. 204. In: Delabar/Heimböckel, Phänotyp (wie Anm. 8), S. 195–214. Auch wenn Rathenau also eher im Dunklen lässt, wie hoch die Chancen auf eine Überwindung der psychologischen Krise der Massengesellschaft stehen, handelt es sich dabei um ein Ziel, das erst durch eine adäquate „Regierung des Selbst und der Anderen“ (Foucault) erreichbar ist. 69 Vgl. Simmel, Philosophie des Geldes (wie Anm. 2), S. 591ff. 70 Bollenbeck, Kulturkritik (wie Anm. 3), S. 199ff. Zur Popularisierung des kulturkritischen Diskurses, vermittelt vor allem über den Scharnierbegriff der „Weltanschauung“, schreibt Bollenbeck: „Kulturkritik geht in die Breite, wird flach und bleibt in der Publizistik präsent. Im Gegenzug verlagern sich für den Wahrheitsanspruch die Zuständigkeiten. Kulturkritische Problemkonfigurationen werden nun innerhalb verschiedener Denkstile verwissenschaftlicht: in der Philosophie, besonders aber in der Soziologie, im Neomarxismus und in der Kritischen Theorie.“ Ebd., S. 201. 71 Bollenbeck, Kulturkritik (wie Anm. 3), S. 201ff. 72 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 319.
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deutlichen an den Veränderungen, denen der Staat für Rathenau im Prozess der Mechanisierung unterliege. Seinen anthropologischen Charakterstudien von Mut- und Furchtmenschen analog, sieht Rathenau den Staat durch ein zweiseitiges Wesen gekennzeichnet: „[…] das erste berufen, Herkommen und Ziele zu festigen, das zweite von den wachsenden Aufgaben und Sorgen des Augenblicks emporgetragen.“⁷³ Die erste, von Rathenau als „mystisch“ bezeichnete Seite, sei aus einer Verbindung mit der Religion hervorgegangen, während die zweite, „nützliche“ Seite des Staates erst unter den Bedingungen von Mechanisierung und Bevölkerungswachstum entstanden sei.⁷⁴ Den historischen Wendepunkt in Richtung des Nützlichkeitsprinzips erkennt er in der Regierungszeit Friedrich II.: „Da nunmehr der Staat nach Auffassung des königlichen Freigeistes zwar als höchste Einrichtung, immerhin aber nur als Einrichtung der Nützlichkeit und Wohlfahrt und als Menschenwerk dastand.“⁷⁵ Die Funktionalisierung des Staates im Sinne der Nützlichkeit sei seither weiter fortgeschritten und habe schließlich den modernen Verwaltungsstaat hervorgebracht. In dieser Entwicklungsstufe sei die mystische Seite des Staates nahezu verdrängt worden, da „die Zahl und Mannigfaltigkeit der der Interessen und Bedürfnisse innerhalb einer mechanisierten Gemeinschaft den wahren Begriff des Regierens, die Leitung einer Menge durch einen überlegenen Willen und überlegene Einsicht zu vorbestimmten Zielen, nahezu aufgehoben hat“.⁷⁶ Die ambivalente Haltung Rathenaus gegenüber der Instrumentalisierung des Staates für den Nutzen der Bürger äußert sich in seiner Forderung nach mehr bürgerlicher Beteiligung an der Regierung einerseits, andererseits aber präsentiert sich ihm das Ideal dieser Regierung gerade nicht als Mitbestimmung, sondern als „Leitung der Menge“ durch einen „uninteressierten Monarchen“.⁷⁷ Rathenaus ambivalente Haltung gegenüber dem modernen Massen-Staat spiegelt sein insgesamt zwiespältiges Verhältnis zur Masse im Zeitalter der Mechanisierung. So verweist er mit seinen Analysen von Entfremdungstendenzen, der anonymen Herrschaft von Organisationen und verallgemeinerten Konkurrenzbeziehungen, genauso wie mit dem Verlust von Transzendenz zwar auf fundamentale Widersprüche der mechanistischen Gesellschaft hin, die für ihn deshalb bereits „den Tod in ihrem Herzen“⁷⁸ trägt. Auf der anderen Seite wird
73 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 55. 74 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 55. 75 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 55. 76 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 86. 77 Vgl. Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 87f. 78 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 91.
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deutlich, dass Rathenau die Effizienzgewinne einer durch Arbeitsteilung und funktionale Beziehungen integrierten Masse als durchaus positiv erachtet – wozu nicht zuletzt auch die Steigerung der Leistungsfähigkeit durch eine bürgerliche Regierung zählt. Entlang dieser Krisentendenzen und Effizienzpotentiale der Masse werden nun Rathenaus Vorstellungen von der Regierung der Masse einer genaueren Untersuchung unterzogen.
Die Regierung der Masse im Zeichen der „Seele“ In der Mechanik des Geistes, das Rathenau als das Werk bezeichnete, das gegenüber allen anderen weitestgehend dem Reich der Transzendenz gewidmet sei, stellt er die These einer umfassenden Evolution auf.⁷⁹ Zwei Prozesse sind für ihn diesbezüglich von besonderer Bedeutung: die Entstehung eines individuellen „erlebten Geistes“ aus der Mannigfaltigkeit einzelner Geistesinhalte und die komplementär verlaufende Entstehung eines überindividuellen „erschauten Geistes“.⁸⁰ Nach Dieter Heimböckel nimmt die Darstellung des zweiten Prozesses argumentativ eine Schlüsselrolle ein: „Worauf Rathenau zielte, war der Nachweis, daß nicht nur Individuen, sondern auch Gemeinschaften, Familien oder Stämme, Nationen oder Völker, zur Entfaltung der Seele imstande seien.“⁸¹ Vor der Annahme dieser Kollektivseelen ist es für Rathenau ein unerträglicher Gedanke, dass sich die ersten Kulturvölker „nach kurzem Dasein unwiederbringlich in stockenden, neutralen Massen aufzulösen“ begännen.⁸² Die im Prozess der Entschichtung untergegangenen Völker und ihre Tugenden hält er vielmehr für „die Vorläufer, die Propheten“ einer neuen Zeit.⁸³ Ihre wichtigste Eigenschaft, ein unabhängiger Idealismus anstelle von Furcht und Begierde stellen für ihn somit Qualitäten dar, die über die Massengesellschaft hinausweisen. Das größte Übel, das die Mechanisierung im Anschluss an die Entschichtung hervorgebracht habe, beginnt für ihn deshalb dort, „wo die ungebrochene, undurchgeistete Kraft sich des innern Leben bemächtigt“.⁸⁴ Es ist also vor allem die kolonisierende
79 Die Aufteilung der Hauptwerke ist seinem Brief an Constantin Brunner vom 14. 2. 1919 zu entnehmen. 80 Vgl. Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 117ff. und S. 143ff. 81 Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 1), S. 197. 82 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 293. 83 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 293. 84 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 322.
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Wirkung auf das geistige Innenleben der Menschen, der Rathenau eine Rückbesinnung auf „die Seele“ entgegenhält. Als Gegenbegriff zum utilitaristisch ausgerichteten Intellekt⁸⁵ fasst er unter den Begriff der Seele all jene „höheren Geisteskräfte“, die geschwächt durch die Entschichtung im Prozess der Mechanisierung weiter an Wert verlören: „Transzendenz, […] Schöpfungsliebe, Wahrheit, Sachlichkeit, Intuition, […] Freiheit von Dingen, Menschen und vom Ich, […] Versenkung in die Dinge um der Dinge Willen, […] Liebe um der Liebe willen, […], Dank, […] Hingabe“.⁸⁶ Bollenbeck verweist in Bezug auf diese Qualitäten des Seelischen auf ein „Schillern“ des Begriffes zwischen den Polen des Subjektiven und des Objektiven, das zu jener Zeit auch dem Begriff der „Kultur“ eigen gewesen sei.⁸⁷ Indem sowohl „Kultur“ als auch „Seele“ nicht nur auf eine subjektive Innerlichkeit, sondern auch auf eine gemeinschaftsbildende Objektivität verwiesen, wirkten sie handlungsanleitend auch über den Bereich des Privaten hinaus. Vor diesen Hintergründen sind Rathenaus Angriffe auf die sozialistische Bewegung zu verstehen, der er die Vertretung partikularer Interessen und eine Fixierung auf rein weltliche Ziele vorwirft: An die Stelle der Weltanschauung setzte er [der Sozialismus, Anm. d. Verf.] eine Güterfrage, und selbst dies ganze traurige Mein und Dein des Kapitalproblems sollte mit geschäftlichen Mitteln der Wirtschafts- und Staatskunst gelöst werden.“ […] Im Mittelpunkt der Bühne saß der entgötterte Materialismus, und seine Macht war nicht Liebe, sondern Disziplin, seine Verkündung nicht Ideal sondern Nützlichkeit.⁸⁸
Eine Überwindung der durch die Mechanisierung verallgemeinerten und im Selbstverhältnis der Interessenten wirksamen Entfremdungstendenzen, so Rathenau, sei demgegenüber nur möglich durch ein „Streben nach Gleichrichtung, nach Zusammenhang und Verschmelzung, […] der Beseitigung des Individuellen“.⁸⁹ Thomas Rohkrämer, der den Spuren des Religiösen in Rathenaus Kritik der Moderne nachgegangen ist, sieht darin die Vision einer Zukunft, „in der Hoffnung und Liebe eine Gemeinschaft schaffen würden, die mehr ist als die Summe ihrer Teile“.⁹⁰
85 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 123. 86 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 388. 87 Vgl. Bollenbeck, Kulturkritik (wie Anm. 3), S. 206. 88 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 332. „Dieses Buch“, so kommentiert Rathenau einleitend die „Kommenden Dinge“, „trifft den dogmatischen Sozialismus ins Herz“. Ebd., S. 314. 89 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 102. 90 Rohkrämer, Politische Religion (wie Anm. 68), S. 213.
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Die Eigenschaften dieser Vision, die Rathenau in seinen ersten beiden Hauptschriften noch in der Form einer geistig-spirituellen Dimension präsentiert, werden greifbarer wiederum durch eine Analyse der Rolle des Staates, die Rathenau in den Kommenden Dingen konkretisiert. So berge dessen mystische Wesensseite das Potential einer „Heimat der Seele[n]“⁹¹ und garantiere in der Form des Verwaltungsstaats zudem die Durchsetzung transzendenter Visionen. Obwohl Rathenau nicht davon ausgeht, dass Institutionen und Programme in der Lage seien, die von ihm anvisierte idealistische Gesinnung zu verwirklichen⁹², sieht er im Umgang mit der Masse durchaus praktischen Handlungsbedarf des Staates. Soziale Reformen, die auf die Selbstbestimmung der im Prozess der Mechanisierung entstandenen Unterschichten zielen, ergeben sich dabei aus den realen Möglichkeiten der Mechanisierung.⁹³ „Nur dann sind Zukunftsträume glaubwürdig, […], wenn sichtbare Keime der vermuteten Evolution, sei es noch so tief und verborgen, im Kern unserer eigenen Zeit ruhen.“⁹⁴ Mit Rohkrämer lassen sich vier zentrale sozialpolitische Vorhaben Rathenaus identifizieren: die Einschränkung eines durch die Mechanisierung übermäßig gewordenen Verbrauchs und Luxus, die Beschränkung des Reichtums auf eine Menge, die sich nicht mehr ungünstig auf die gesellschaftliche Machtbalance auswirke und dem Staat alle notwendigen Kräfte zur Verfügung stelle, die Einschränkung unproduktiver, monopolistischer und spekulativer Wirtschaftsformen und schließlich die Verschärfung des Erbrechts bei gleichzeitiger Ausweitung der allgemeinen Bildung, um die wichtigsten bürgerlichen Privilegien auszuhebeln.⁹⁵ Die Motivation und das Ziel dieser Reformen, das sei an dieser Stelle hervorgehoben, stammt aus einer neuen Gemeinschaftsvision: „Mit der Forderung der seelischen Freiheit und des seelischen Aufstiegs verträgt es sich nicht, daß die eine Hälfte der Menschheit die andre, von der Gottheit mit gleichem Antlitz und
91 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 320. 92 Grundsätzlich sieht Rathenau das Verhältnis von institutionellem Sein und geistigem Wollen als bestimmt durch den Willen: Das irdische Dasein ist für ihn lediglich „Kleid des Geistes“. Auch die Herausbildung der arischen Rassen sei in diesem Sinne Ausdruck eines Willens zur körperlichen Veredelung. Vgl. Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 323. 93 „Es handelt sich weder darum, die Ungleichheiten des menschlichen Schicksals und Anspruchs auszugleichen, noch alle Menschen unabhängig oder wohlhabend oder gleichberechtigt oder glücklich zu machen: es handelt sich darum, an die Stelle einer blinden und unüberwindlichen Institution die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu setzen.“ Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 333. 94 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 115. 95 Vgl. Rohkrämer, Politische Religion (wie Anm. 68), S. 209; Rathenau, WRG, Bd. II, S. 386ff.
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gleichen Gaben ausgestattet, zum ewigen Dienstgebrauch sich zähme.“⁹⁶ Fluchtpunkt all dieser Reformen, so führt Rathenau im Kapitel „Der Weg des Willens“ in der Mechanik aus, ist der in Sittlichkeit geeinte „Volksstaat“. „Der Volksstaat setzt voraus, daß jede Bevölkerungsgruppe in ihm zur Geltung komme, daß jede berechtigte Eigenart des Volkes sich in seinen Organisationen spiegele, daß jeder verfügbare Geist dienstbar gemacht werde.“⁹⁷ Das Gleichheitsideal des Volkstaates verwirklicht sich dabei jedoch nicht durch (politische) Mitbestimmung, sondern als organische Gesellschaftsordnung. So macht insbesondere Rathenaus Engführung zwischen „Verantwortung“ und „Herrschaft“ deutlich, dass die Integration der Massen durch eine identitäts- und gemeinschaftsstiftende Vision keinen Umweg über einen demokratischpolitischen, vernünftig-moralischen oder wie immer gearteten kommunikativen Willensbildungsprozess nimmt, sondern sich der Gesellschaft unvermittelt bemächtigt.⁹⁸ Der mit allen notwendigen Machtmitteln agierende Volksstaat ist in diesem Sinne „nicht mit Volksregierung […], nicht mit Volkssouveränität gleichbedeutend“.⁹⁹ Die anspruchsvollen Aufgaben der Regierung des Volksstaates verlangten vielmehr „tiefes Eindringen und raschen Entschluß; sie können nur von einzelnen gelöst werden“.¹⁰⁰ Gerade die gesellschaftliche Unabhängigkeit des Seelischen, die künstlerisch-schöpferischen Kräfte des begabten Einzelnen, liefern für Rathenau den Ausweis von Autorität. Mit Blick auf den von Rathenau dargestellten Prozess der Entstehung der Masse und ihrer mechanistischen Verfestigung, aus der sich die Ziele einer zukünftigen autoritären Regierung ergeben, werden einige Ähnlichkeiten zu den seinerzeit verbreiteten Arbeiten Gustav Le Bons erkennbar. In seiner 1885 erschienen Schrift zur Psychologie der Massen stellt Le Bon den Aufstieg der modernen Massengesellschaft als Verfallsprozess von Kulturen dar, die zuvor durch eine vereinheitlichende „Rassenseele“ geprägt gewesen seien.¹⁰¹ Parallel zu Rathenau hält auch Le Bon den Charakter des Massenmenschen für bestimmt durch wechselnde egoistische Interessen, die deshalb auch leicht manipulierbar und „wei-
96 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 331. 97 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 436. 98 „Dies Streben [nach dem eigenen Vorteil, Anm. d. Verf.] darf nicht verwechselt werden mit dem wesentlich selteneren, dem Schaffensdrang verwandten Willen zur Verantwortung und somit zur Herrschaft. So war Napoleon in diesem eitlen Sinne nicht ehrgeizig, wenn auch höchst herrschsüchtig; am Urteil der Menschen lag ihm nur da, wo er ihrer bedurfte.“ Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 73. 99 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 436. 100 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 2), S. 437. 101 Le Bon, Gustav: Die Psychologie der Massen. Hamburg 2009, S. 188ff.
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bisch“ seien.¹⁰² Auch wenn sich Le Bon weniger der Genese als den Effekten der Massenpsychologie widmet, hält er eine in ihren Zielen mit Rathenau vergleichbare Re-Integration der Massen für notwendig. Hierzu greift er auf eine Theorie unbewusster und Stabilität verbürgender Rasseneigenschaften zurück, die sich erst durch zeitintensive Mechanismen der Verinnerlichung einstellten.¹⁰³ Damit teilt er mit Rathenau jedoch die Vision einer Volksgemeinschaft auf vorrationaler Grundlage.¹⁰⁴ Obwohl Rathenau betont, dass die Entschichtung zu einer Überwindung der Rassen-Gesellschaft geführt habe, worin man mit Lothar Gall die Distanzierung von einer ständischen Gesellschaftsordnung erkennen kann, fallen einige Strukturähnlichkeiten zwischen dieser vormodernen Ordnung und Rathenaus Zukunftsvision ins Auge.¹⁰⁵ Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Rathenaus Zugeständnisse an die Herrschaft einer geistigen Elite, genauso wie für sein Festhalten am Vorbild des heroischen Mutmenschen. Zur diskursgeschichtlichen Perspektivierung dieser konservativen Züge in Rathenaus Theorie der Massengesellschaft lässt sich auf Michel Foucaults Arbeiten zur Historisierung des Regierungswissens in seinen Vorlesungen am Collège de France zurückgreifen. Darin rekonstruierte Foucault die Geschichte (neo-)liberaler Regierungsformen als Zusammenwirken einer Regierung des Selbst und der Anderen.¹⁰⁶ Konstitutiv für den Liberalismus sei die Herausbildung eines Subjektes, das sich an nicht-übertragbaren Interessen orientiert sowie die Anerkennung der Natürlichkeit gesellschaftlicher Makrophänomene.¹⁰⁷ Sowohl die auf der Grundlage von Interessen getroffen subjektiven Entscheidungen, als auch die Eigendynamik bürgerlicher Vergesellschaftung entzögen sich in dieser liberalen Konzeption dem Wissen und dem Zugriff Staates.¹⁰⁸ So schematisch und verkürzend diese Darstellung ausfällt: Vor dem Hintergrund der von Foucault rekonstruierten Geschichte der Regierungsdiskurse wird deutlich, dass Rathenaus Problematisierung der Massengesellschaft zu einem Bruch mit fundamenta-
102 Le Bon, Psychologie (wie Anm. 101), S. 40ff. 103 Le Bon, Psychologie (wie Anm. 101), S. 148. 104 „Ein Volk“, so merkt Le Bon zu den Beharrungskräften der Rasseneigenschaften an, „hat also keineswegs die Macht seine Einrichtungen wirklich zu verändern.“ Le Bon, Psychologie (wie Anm. 101), S. 86. Dies gelte auch für so grundsätzliche gesellschaftliche Strukturen wie Verfassungen. 105 Vgl. Gall, Lothar: Walther Rathenau. Portrait einer Epoche. München 2009, S. 164. 106 Vgl. einführend Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Hamburg 1997, S. 172ff. 107 Foucault, Biopolitik (wie Anm. 6), S. 367ff.; S. 405ff. 108 Foucault, Biopolitik (wie Anm. 6), S. 403.
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len liberalen Regierungsprinzipien führt. Das gilt in besonderem Maße für einen Bruch mit der positiven Konnotation individueller Interessen und der daraus resultierenden Makrophänomene, ebenso wie für seine Abkehr von der sozialpolitischen Enthaltsamkeit des Staates. Resümierend lässt sich feststellen, dass Rathenaus Theorie der Massengesellschaft Anknüpfungspunkte für eine Reihe unterschiedlicher Regierungsformen bietet: für solidarische Varianten des Liberalismus ebenso wie für Modelle utopischer Gesellschaftsplanung. In der Vision einer vorrationalen kollektiven Identität, die mit aller Macht des Staates durchsetzbar, am Vorbild einer RassenHerrschaft orientiert ist, um der Entfremdung und Desintegration der Massen zu begegnen, wird allerdings auch eine stark konservative Haltung erkennbar.¹⁰⁹ Es ist nicht verwunderlich, wenn Rathenaus Ideen deshalb während der Weimarer Republik Anhänger auch im rechten und republikfeindlichen Milieu fanden.¹¹⁰ Die Großdemonstrationen und Massenversammlungen zur Verteidigung der Republik – allein über 200.000 Menschen im Berliner Lustgarten –, die nach der Ermordung Rathenaus im Jahr 1922 stattfanden, zeigen allerdings auch, dass Rathenaus Wirken nicht auf einzelne Aspekte seines literarischen Schaffens, wie etwa seine Theorie der Massengesellschaft, reduziert werden kann.
109 Zu dem diskursiven Repertoire der seit der Jahrhundertwende virulenten Strömung der „konservativen Revolution“ vgl. einführend Sieferle, Rolf Peter: Die konservative Revolution: fünf biographische Skizzen. Frankfurt a. M. 1995, S. 26ff. Ein wichtiges Element in diesem Diskurs bildet nach Sieferle ein Bezug auf die Masse, der in direktem Zusammenhang mit einer Krise des Liberalismus stehe. Die mit der Masse assoziierte Verselbstständigung gesellschaftlicher Phänomene habe die Annahme eines vernünftigen Individuums seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend verdrängt. Vgl. ebd., S. 11f. 110 Vgl. Rohkrämer, Politische Religion (wie Anm. 68), S. 213f.
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Walther Rathenau und Karl Radek. Die gescheiterte Emanzipation im Verhandlungszimmer Verzweiflung „Was wissen die Menschen von dieser Einsamkeit, von diesem ehernen Ring, der uns von allen trennt. Sie bewundern uns, sie verlassen sich auf uns, sie gebrauchen uns, aber sie lieben und verstehen uns nicht. Fremd sind wir Rathenaus geblieben, sehr fremd.“¹ Diese Worte schrieb Walther Rathenaus Schwester Edith nach der Ermordung des älteren Bruders in ihr Tagebuch. Waren die Rathenaus eine einsame Familie? War ihr Empfinden Sinnbild einer gescheiterten, einer unvollendeten Emanzipation von Juden in Deutschland?² „[I]ch gehöre ja nicht mehr mir selbst, ich habe mich weggegeben, es bleibt mir nichts […], ich bin nur noch ein Fremder, der gekommen ist, um sich auszugeben, und ich werde nicht länger leben, als bis ich mich ausgegeben habe.“³ Walther Rathenau offenbarte in diesen freimütigen Sätzen von Ende 1919 eine existenzielle Verzweiflung. Die Anpassung an den inzwischen verstorbenen Vater, eine hohe Arbeitsbelastung, Entsetzen über die Lage Deutschlands nach dem verlorenen Weltkrieg, vor allem aber das als gescheitert erkannte Konzept einer ebenso ausdifferenziert, im Werk aufgefächerten wie gegenüber der Außenwelt rigide aufrecht erhaltenen (vermeintlichen) Verleugnung eigener jüdischer Traditionen bedingten eine derartige Äußerung. Walther Rathenaus innere Leere hat einen langen Vorlauf, dessen Hintergrund in den Worten seiner Schwester anklingt.⁴
1 Zitiert nach: Mangoldt, Ursula von: Auf der Schwelle zwischen Gestern und Morgen. Begegnungen und Erlebnisse. Weil a. Rh. 1963, S. 24. 2 Vgl. hierzu jüngst: Volkov, Shulamit: Walther Rathenau. Weimar’s Fallen Statesman. New Haven [u. a.] 2012. 3 Rathenau, Walther: Briefe an eine Liebende. Dresden 1931, S. 30f., hier: S. 30 (Walther Rathenau an Lore Karrenbrock, 3. November 1919). 4 Im Folgenden wird lediglich ein kurzer Abriss zu Walther Rathenaus Werdegang gegeben. Dieser ist hier stark auf seinen Umgang mit dem eigenen Judentum fokussiert, ohne einer monokausalen Deutung das Wort reden zu wollen, vgl. für eine umfänglichere und ebenso differenziertere wie detailliertere Betrachtung hier nur: Kessler, Harry Graf: Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk. Mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Cornelia Blasberg
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Die Familie, in die Walther Rathenau hineingeboren wurde, gehörte zum Großbürgertum des Kaiserreichs. Der Vater, Emil Rathenau, durfte in den Jahren nach der Geburt Walther Rathenaus zu den erfolgreichsten Unternehmern Deutschlands gezählt werden. Wirtschaftlicher Einfluss, Bildung, soziale Netzwerke: Alles schien dem älteren Sohn der Rathenaus gleichsam in die Wiege gelegt zu sein. Und dieser hochbegabte Mann ergriff mit Verantwortungsbewusstsein und Fleiß die ihm gegebenen Chancen als Industrieller, als Politiker wie auch als Publizist und Philosoph. Und doch: Bereits in den Kinderjahren erfuhr er den Alltagsantisemitismus des späten Kaiserreichs in vielfältigen Formen. Die Ablehnung als Jude sollte ihn bis zu seinem Tode begleiten. Rathenau wurde jedoch auch durch den „common sense“ schon verinnerlichter antijüdischer Stereotypen innerhalb seiner Familie beeinflusst.⁵ Beide hier aufgeführten Stränge führten bei ihm zur Internalisierung antisemitischer Haltungen. Rathenau war bemüht, sich der Diskriminierung zu entziehen; durch Erfolg, durch Bekenntnisse zu Deutschland, durch Wohltätigkeit und eben auch durch Versuche, seine kulturelle Prägung als Jude zu verleugnen. Vergeblich. Immer wieder und besonders deutlich nach dem Ersten Weltkrieg räsonierte Rathenau über das Scheitern der Emanzipation. Einer der Auswege, die er zu jener Zeit gleichwohl noch suchte, lag in der Sphäre einer von ihm konstruierten Konfession, niedergelegt etwa in seinem Text De profundis von 1920. Auch dieser Ansatz war vergebens.⁶
und Gerhard Schuster. Frankfurt a. M. 1988. [zuerst erschienen: 1928]; Berglar, Peter: Walther Rathenau. Ein Leben zwischen Philosophie und Politik. Graz [u. a.] 1987. [erste Auflage: 1970]; Kallner, Rudolf: Herzl und Rathenau. Wege jüdischer Existenz an der Wende des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1976; Schulin, Ernst: Walther Rathenau. Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit. Zürich [u. a.] 1979; Hughes, Thomas P. [u. a.] (Hrsg.): Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne. Berlin 1990; Wilderotter, Hans [u. a.] (Hrsg.): Walther Rathenau 1867–1922. Die Extreme berühren sich. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute. New York/Berlin 1993; Sabrow, Martin: Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar. München 1994; Hense, Karl-Heinz [u. a.] (Hrsg.): Leitbild oder Erinnerungsort? Neue Beiträge zu Walther Rathenau. Berlin 2003; Schölzel, Christian: Walther Rathenau. Eine Biographie. Paderborn [u. a.] 2006; Gall, Lothar: Walther Rathenau. Portrait einer Epoche. München 2009; Volkov, Fallen Statesman (wie Anm. 2). 5 Vgl. exemplarisch: Zentrales Staatsarchiv, Moskau [im Folgenden: ZA] Fond 634 Nachlass Walther Rathenau Findbuch 1, Akte 5, Bl. 106 (Walther Rathenau an Therese Rathenau, 10. März 1884); je im selben Findbuch-Bestand, Akte 17, Bll. 27–32 (Walther Rathenau an Mathilde Rathenau, 7. Juni 1886) sowie Akte 22, Bll. 51–56 (Walther Rathenau an Mathilde Rathenau, 5./6. Juni 1887). 6 Rathenau, Walther: De profundis. In: Ders.: Nachgelassene Schriften. Bd. 2. Berlin 1928, S. 181– 197 [zuerst: 17. Januar 1920].
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Begegnungen mit anderen Juden Wie begegnete Walther Rathenau in dieser inneren Verfasstheit anderen Juden?⁷ Handelte es sich um eher akkulturierte Juden wie etwa Carl Fürstenberg, so fand man sich im überwiegend unausgesprochenen Einverständnis über die weitgehende Verneinung des eigenen Jüdischseins. Nicht unerwähnt darf hier das Verhältnis zu Maximilian Harden bleiben, das zwischen Ablehnung und Bewunderung oszillierte. Die zeitweilige Vertrautheit unterstrichen Harden und Rathenau durch die gemeinsam betriebene Konstruktion des vermeintlich „Jüdischen“; einem imitierten Jiddisch oder der Emphase beim Austausch von Anlagetipps an der Börse. Schroff waren hingegen Rathenaus Reaktionen, wenn er meinte, kompromittiert werden zu können. Wer öffentlich sein Judentum akzentuierte, etwa als Zionist, brauchte nicht auf einen näheren Kontakt zu hoffen. Rathenau fürchtete um das von ihm sehr weitgehend gepflegte Außenbild des akkulturierten Juden. Theodor Herzl oder Lesser Ury – nach seiner Hinwendung zu jüdischen Themen – machten diese Erfahrung. Im Falle Karl Radeks lagen die Dinge noch komplizierter, wie zu zeigen sein wird. Ihn lernte Rathenau im Herbst 1919 kennen, wenige Wochen bevor er seiner inneren Einsamkeit gegenüber Lore Karrenbrock Ausdruck verlieh.
Karl Radek⁸ Wer war Karl Radek und wie kamen Rathenau und er miteinander in Kontakt?⁹ Karl Radek wurde 1885 in Lemberg als Sohn jüdischer Eltern geboren; die Mutter war Lehrerin, der Vater Postbeamter. Im Elternhaus Radeks wandte man sich der Aufklärung zu. Dies ging mit der Verleugnung osteuropäischer Traditionen jüdischer Religion und Kultur einher. Radek wuchs also nicht als orthodoxer
7 Hierzu: Schölzel, Rathenau (wie Anm. 4), v. a. S. 141–157. 8 Radek hieß eigentlich Karl Bernhardovič Sobelson. Den Namen Radek nahm er erst später an. Die Motive hierfür bleiben unklar. 9 Carr, Edward Hallett: Radek’s „Political Salon“ in Berlin 1919. In: Soviet Studies III (1951/1952), S. 411–430; Lerner, Warren: Karl Radek. The Last Internationalist. Stanford 1970; Goldbach, MarieLuise: Karl Radek und die deutsch-sowjetischen Beziehungen 1918–1923. Bonn 1973; Möller, Dietrich: Karl Radek in Deutschland. Köln 1976; Schüddekopf, Otto-Ernst: Karl Radek in Berlin. Ein Kapitel deutsch-russischer Beziehungen im Jahre 1919. Hannover 1962; Tuck, Jim: Engine of mischief. An Analytical Biography of Karl Radek. London [u. a.] 1988. Vgl. Schüddekopf, OttoErnst: Nationalbolschewismus in Deutschland 1918–1933. Berlin [u. a.] 1973; Schäche, Wolfgang/ Szymanski, Norbert: Das Zellengefängnis Moabit. Zur Geschichte einer preussischen Anstalt. Berlin 1992, S. 33f., 161.
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osteuropäischer Jude auf. Als kommunistischer Politiker und Publizist lebte er nach Aufenthalten in Russland, Deutschland und dem russisch besetzten Teil Polens von 1908 bis 1914 im Deutschen Reich. Hier war er bis 1912 Mitglied der SPD. 1915 nahm Lenin ihn in den engeren Kreis seiner Mitarbeiter auf. Nach der Oktoberrevolution leitete der Deutschland-Experte Radek die Presse-Abteilung im sowjetrussischen Außenministerium. Zeitweilig war er hier auch Chef der Mitteleuropa-Sektion. Zusammen mit Leo Trotzki zählte Radek zur sowjetrussischen Delegation 1917/1918 bei den Waffenstillstandsverhandlungen in Brest-Litowsk.¹⁰ Zwischen 1918 und 1923 galt Radek als wichtigster Kontaktmann zwischen russischen und deutschen Kommunisten. In diesen Jahren arbeitete er zugleich an der Gründung und am Aufbau der Kommunistischen Partei Deutschlands mit. Am ersten Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin im Dezember 1918 nahm er ebenso teil, wie an den Januarkämpfen in Berlin 1919. Aufgrund seiner politischen Aktivitäten wurde Radek im Februar des Jahres verhaftet. Anfangs saß er in Einzelhaft, doch seit Mitte August 1919 durfte er dort Besuch empfangen. Ab Dezember¹¹ befand er sich in einer Art „Ehrenhaft“, zunächst in der Wohnung eines Kriminalkommissars, nahe der Haftanstalt, dann bei Eugen Freiherr von Reibnitz, einem einstigen Kameraden Erich von Ludendorffs aus dem Kadettenkorps. An beiden Haftorten empfing Radek Besucher: neben Walther Rathenau und Felix Deutsch, dem unter anderem für das Russland-Geschäft zuständigen Direktor der AEG, Enver Pascha, Maximilian Harden, Major Erich von Gilsa, der Adjutant Gustav Noskes, der einst in der dritten Obersten Heeresleitung tätige Oberst Max Bauer, der Russland-Historiker Otto Hoetzsch und andere Prominente aus untergegangenem Kaiserreich und junger Weimarer Republik. Der „HaftSalon“ Radeks entwickelte sich zum geschützten Raum für politische und wirtschaftliche Kontakte zwischen Deutschland und Russland – zwei Ländern, die sich beide im Umbruch befanden und Orientierung suchten. Im Januar 1920 konnte Radek nach Moskau zurückkehren. Man ernannte ihn zum Mitglied des ZK der KPdSU. Dieses Amt sollte er nur bis 1924 bekleiden. Mehr und mehr geriet er unter Stalin in Ungnade. Aufgrund von Veröffentlichungen, die als „oppositionell“ galten, wurde er unter dem Vorwurf des „Trotzkismus“ von 1927 bis 1929 verbannt. Nachdem er im Auftrage Stalins noch einmal als Sonderbotschafter in Polen tätig sein durfte, wurde Radek drei Jahre später erneut
10 Hierfür: Hahlweg, Werner (Bearb.): Der Friede von Brest-Litowsk. Ein unveröffentlichter Band aus dem Werk des Untersuchungsausschusses der Deutschen Verfassungsgebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages. Düsseldorf 1971, S. 103f., 369, 429, 490, 499. 11 Vgl. zur Datierung: Radek, Karl: In den Reihen der deutschen Revolution 1909–1919. Gesammelte Aufsätze und Abhandlungen. München 1921, S. 15.
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verhaftet und zu zehn Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. 1939 ermordete ihn dort vermutlich ein Mithäftling.
Walther Rathenau und Karl Radek 1919/1920 Im September 1919 besuchte Rathenau Radek in der Haftanstalt Berlin-Moabit, Lehrter Straße, zum ersten Mal.¹² Nach Radeks Angaben erschien er dort ohne Voranmeldung. Dagegen schrieb Rathenau einige Monate später, er sei zu dieser Begegnung eingeladen worden. Hierfür spricht einiges. Rathenau dürfte kaum als Freund von Überraschungsbesuchen angesehen werden.¹³ Zudem schilderte Radek seine Version des ersten Treffens mit Rathenau in der russischen Zeitschrift Krasnaja Nov vom Oktober 1926. Vermutlich galt es hier, den Eindruck zu vermeiden, er habe einen kapitalistischen Unternehmer eingeladen. Radek berichtet von weiteren Unterredungen während seiner Berliner Haftzeit. Demnach äußerte Rathenau, er glaube an den dauerhaften Fortbestand Sowjetrusslands. Die Zeiten des Zarenreiches seien endgültig vorbei. Fraglich sei nun, ob es den Revolutionären gelänge, eine neue Gesellschaftsordnung zu errichten. Es gelte nun, die Gemeinwirtschaft zu verwirklichen, wie er sie in seinen Schriften propagiert habe. Er prophezeite Radek, dafür in wenigen Jahren auf Bitten der Bolschewisten als politisch-ökonomischer Berater im Kreml persönlich tätig zu werden. Die dann herrschenden sowjetischen Funktionäre dürften seines Erachtens die Privilegien der Mächtigen behalten, wenn nur ihre politischen Taten der Verwirklichung einer besseren Ordnung tatsächlich dienten. Rathenaus in diesen Jahren häufig zu beobachtende missionarische Sehnsucht, seine „neue Wirtschaft“¹⁴ zum Leben zu erwecken, trat auch hier hervor.
12 Hier und zum Folgenden: ZA Fond 634 Nachlass Walther Rathenau Findbuch 2, Akte 32, Bl. hinter 252 (Walther Rathenau an Geschäftsstelle Berlin des Bundes neues Vaterland, 9. Februar 1920); Pogge von Strandmann, Hartmut: Grossindustrie und Rapallopolitik. Deutschsowjetische Handelsbeziehungen in der Weimarer Republik. In: Historische Zeitschrift 222 (1976), S. 265–341; Schüddekopf, Radek in Berlin, S. 90ff., 153f., 162; Carr, Radek’s Salon, S. 413ff.; Radek, Karl: Germano-russkie otnošenija [Deutsch-russische Beziehungen]. In: Pravda (15. 10. 1921), S. 1; Deutsches Technikmuseum Berlin [im Folgenden DTMB] AEG-Archiv Felix Deutsch Erinnerungen, Kap. IV, S. 3ff. 13 Hierfür sprechen auch die Ausführungen zu Verhandlungstechniken, siehe: Rathenau, Walther: Geschäftliche Lehren. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Berlin 1925, S. 85–105 [zuerst: 1902, 1908]. 14 Hier nur: Rathenau, Walther: Die neue Wirtschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Berlin 1925, S. 179–261 [zuerst: Juli 1917].
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Er suchte die „Probebühne“ einer, in seinen Worten, „versittlichten“ Gesellschaft im „Osten“. Dies erinnert an den ähnlich gelagerten belletristischen Versuch aus Zur Physiologie der Geschäfte fast zwei Jahrzehnte zuvor.¹⁵ In ein russisches Sujet gekleidet, bemühte sich Rathenau hier, noch ohne das theoretische Rüstzeug der Gemeinwirtschaft, um eine ethische Rechtfertigung der Existenz als Unternehmer, und so wird man ergänzen müssen, um die moralische Achtung und Gleichbehandlung des Konstruktes als „jüdischer Industrieller“. Unter dem Pseudonym eines fiktiven, dem deutschbaltischen Adel entstammenden russischen Staatsbeamten betonte Rathenau unter anderem den segensreichen Einfluss der einstmals riskanten Investitionen im Zarenreich, die nun dem Aufbau des Landes und der Beschäftigung seiner Menschen dienten. Der Unternehmer, und damit Rathenau, sollte moralisch „gut“ und „ehrlich“ sein. Schon hier klang die spätere Forderung nach einer „Versittlichung“ der Ökonomie in der „neuen Wirtschaft“ an. In den ersten Gesprächen mit Radek schwächte Rathenau seine ansonsten zu jener Zeit vertretenen Thesen vom industriellen Bankrott Sowjet-Russlands und der kritisch betrachteten Entstehung einer neuen Machtelite dort erheblich ab.¹⁶ Er warb zunächst um sein Vertrauen. Der sowjetrussische Diplomat konnte als Mittelsmann zu den politischen und ökonomischen Machtträgern in Russland für den deutschen Industriellen von Bedeutung sein, der sich ja zu jener Zeit nachdrücklich für die gesellschaftlichen Entwicklungen und das Außenhandelspotenzial des Landes interessierte. Radek selbst schrieb dazu später, Rathenau habe auch über die offizielle Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Russland verhandeln wollen. In den Zeitraum der ersten Unterredungen zwischen Rathenau und Radek fiel auch der Besuch von Felix Deutsch bei Karl Radek. Radek berichtete, Rathenau habe den Vorstandsvorsitzenden der AEG zu einem der folgenden Treffen mitgebracht. Auch Deutsch erwähnt in seinen unveröffentlichten Memoiren eine Unterredung mit Radek. Im Januar 1920 sei er dem Unterhändler Lenins zum ersten Mal begegnet. Bei dem Treffen sei noch Victor Kopp als Vertreter der sowjetrussischen Regierung zugegen gewesen. Rathenau habe erst an einer weiteren Gesprächsrunde teilgenommen. Die Abweichungen in den Schilderungen können nicht endgültig geklärt werden. Erinnerte sich Deutsch ungenau oder wollte er seine Rolle bei der Wie-
15 Rathenau, Walther: Zur Physiologie der Geschäfte. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Berlin 1925, S. 309–336 [zuerst: 5. Oktober 1901]. 16 Hier nur: Rathenau, Walther: Kritik der dreifachen Revolution. In: Walther Rathenau. Kritik der dreifachen Revolution. Apologie. Nördlingen 1987, S. 111–78 [zuerst: August 1919].
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deraufnahme deutsch-russischer Kontakte nach dem Weltkrieg in ein besseres Licht rücken? Nach Deutschs Angaben sei es bei den zwei Gesprächen mit Radek im Januar 1920 vor allem um die Intensivierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland gegangen. Konkret vereinbarten die Anwesenden, Victor Kopp als Beauftragten für den Austausch von Kriegsgefangenen beglaubigen zu lassen. Die beiden Treffen mit Radek dienten also zugleich dem 1921 geschlossenen deutsch-russischen Vertrag über die Regelung der Kriegsgefangenenfragen. Sie fanden somit fraglos in enger Fühlungnahme mit dem deutschen Auswärtigen Amt statt. Für Rathenau stellten die politischen Verhandlungen lediglich die Vorstufe zu einer Annäherung auch auf ökonomischem Gebiet dar. Ende Januar 1920 schrieb er: „Vorauszugehen [einer wirtschaftlichen Annäherung Deutschlands an Russland, Anm. d. Verf.] hat aber die Lösung der politischen Frage. Die heutige Regierung steht noch nicht auf dem Standpunkt, den ich vertrete, daß eine wirtschaftliche Beziehung mit Rußland angeknüpft werden muß.“¹⁷ Laut Felix Deutsch äußerte Rathenau in der zweiten Verhandlungsrunde mit Radek: „[…] wir haben den Eindruck, daß heute schon hinter der Fassade des Bolschewismus eine militärische Oligarchie sich verbirgt und daß, wenn wir uns vielleicht in einigen Jahren wiedersehen, sie eine richtige genizianische Oligarchie mit einigen Juden an der Spitze sein wird.“ Radek soll darauf nur entgegnet haben: „[…] wäre das denn so schlimm?“¹⁸ Rathenau hatte seine Prognose mit negativen Vorzeichen versehen. Die Vermutung es werde eine sowjetrussische Herrschaftsklasse entstehen, verband er mit der Voraussage, diese Elite werde sich vornehmlich aus Juden rekrutieren. In Rathenaus Logik, also in der systemimmanenten Logik des aus innerer Not verinnerlichten Antisemitismus, diente die Vorstellung des aus Moskau kommenden „jüdischen Bolschewismus“¹⁹ der massiven Distanzierung von Radek. Diese sollte ihren Ausdruck auch im weiteren Verlauf des Kontaktes der beiden finden. Radek kehrte jedoch Anfang 1920 zunächst nach Moskau zurück.
17 Rathenau, Walther: Briefe. Bd. 2. Dresden 1926, S. 219f., hier: S. 220 (Walther Rathenau an Gustav Bergmann, 26. Januar 1920). Der Brief falsch datiert bei: Himmer, Robert: Rathenau, Russia and Rapallo. In: Central European History 9 (1976), S. 146–183, hier: S. 150. 18 Für beide Zitate: DTMB Felix Deutsch Erinnerungen, Kap. IV, S. 7. 19 Für die Existenz dieses Feindbildes bereits in der frühen Nachkriegszeit: Eckhart, Dietrich: Deutscher und jüdischer Bolschewismus. In: Auf gut deutsch 1 (1919), H. 25, ohne Paginierung; Rosenberg, Alfred: Die russisch-jüdische Revolution. In: Auf gut deutsch 1 (1919), H. 3, S. 120– 123; ders.: Unter Jakobs Stern. In: Auf gut deutsch 1 (1919), H. 44/45, S. 700–707.
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Walther Rathenau und Karl Radek 1921/1922 Persönliche Gespräche zwischen Rathenau und Radek fanden seit Beginn 1920 nicht statt, doch das wechselseitige Interesse zwischen Berlin und Moskau wuchs. Es brachte Radek und Rathenau seit Ende 1921 bei den Verhandlungen zu einem deutsch-sowjetrussischen Kooperationsvertrag erneut zusammen. Der Weg von hier zum Abschluss des Rapallo-Vertrages vom 16. April 1922 lässt sich in drei Phasen einteilen.²⁰ In einem ersten Zeitabschnitt vom Dezember 1921 bis Mitte Februar 1922 gab es in Berlin mehrere Begegnungen von Vertretern der deutschen Industrie mit deutschen und russischen Regierungspolitikern in Berlin. Diese Gespräche fanden unter absoluter Geheimhaltung statt, schon um die westlichen Alliierten mit Blick auf mögliche Alleingänge der deutschen Diplomatie im Osten nicht zu beunruhigen. Auf deutscher Seite nahm Walther Rathenau zunächst als Vertreter der Wirtschaft, nach seiner Ernennung zum deutschen Außenminister als Regierungsmitglied an den Gesprächsrunden teil. Neben anderen Unternehmern, wie etwa Hugo Stinnes, waren von deutscher Seite hohe Regierungsbeamte an den Geheimgesprächen beteiligt, wobei Ago von Maltzan, der Leiter der Abteilung IVa (Russland) im Auswärtigen Amt, als zentraler Akteur fungierte. Unter den Vertretern der russischen Regierung dominierte Karl Radek. Besaß er zunächst Vollmachten bis zur Unterschriftsreife eines Vertrages zu verhandeln, scheinen seine Kompetenzen später noch erweitert worden zu sein, sodass er als Vertre-
20 Hier und zum Folgenden: Schieder, Theodor: Die Entstehungsgeschichte des RapalloVertrages. In: Historische Zeitschrift 204 (1967), S. 545–609; Himmer, Rathenau, Russia (wie Anm. 17); Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin [im Folgenden: PA AA] Deutsche Botschaft Moskau A II (23/44) Politische Beziehungen Russlands zu Deutschland vom 1. Januar 1921 bis 30. April 1922 Politik A 2, Bd. 1, Bll. 182f.; im selben Archiv R 23696, Bll. L 096600– L 096602, L 096604, L 096606 ff., L 096635–L 096639; im selben Archiv R 83425; Goldbach, Radek (wie Anm. 9), S. 110f.; Linke, Horst-Günther: Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo. Köln 1972, bes, S. 175ff.; Späth, Manfred: Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen in der Zwischenkriegszeit. In: Tausend Jahre Nachbarschaft. Rußland und die Deutschen. Hrsg. von der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Bonn. Zusammengestellt in Verbindung mit Alfred Eisfeld von Manfred Hellmann. München 1989, S. 317–335. Kursorisch sei auf die Arbeiten von Alfred Anderle und Günther Rosenfeld verwiesen. Vgl. exemplarisch zur vermutlichen Kenntnisnahme der Beschreibungen Radeks von den Begegnungen 1919/1920 durch Rathenau die Übersetzung von: Radek, otnošenija in den Akten der Deutschen Botschaft Moskau: PA AA Deutsche Botschaft Moskau A II (23/44) Politische Beziehungen Russlands zu Deutschland vom 1. Januar 1921 bis 30. April 1922 Politik A 2, Bd. 1, Bl. 76 (Übersetzung: Karl Radek, Die deutsch-russischen Beziehungen, aus Pravda (15. 10. 1921).
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ter seiner Regierung sogar einen deutsch-russischen Vertrag hätte abschließen können. Bis zum Ende der Gesprächsserie, Mitte Februar 1922, kam es jedoch zu keinem vertraglichen Ergebnis. Anschließend reiste Radek zurück nach Moskau, um sich mit dem russischen Außenminister Georgij W. Čičerin abzustimmen. In den sich nun anschließenden Wochen bemühte sich vor allem von Maltzan, die angebahnten Verhandlungskontakte zu den Sowjetrussen nicht abbrechen zu lassen. Die bis Februar ausgehandelten Ergebnisse waren in der Form von „Entwürfen“ fixiert. Nach russischen Vorstellungen sollten sie noch vor dem Beginn der internationalen Konferenz von Genua am 10. April 1922 unterzeichnet werden, um den Westen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Der Besuch Čičerins und der mitreisenden sowjetrussischen Delegation für die Genua-Konferenz Anfang April in Berlin unterstrichen diese Absicht. Wie sein Amtskollege aus Moskau fürchtete auch Rathenau die Reaktion der Westmächte. Allerdings kam er hierdurch zu anderen Schlüssen. Auf deutscher Seite blockierte vor allem er eine Unterzeichnung zu diesem Zeitpunkt. Die angestrebten Verhandlungen zur Erleichterung der Reparationslasten für das Deutsche Reich in Genua sollten nicht durch einen diplomatischen „Alleingang“ Deutschlands mit Russland vorab gefährdet werden, der die Entente-Staaten brüskieren musste. Entgegen den ursprünglichen Vorstellungen Rathenaus von einer deutsch-russischen Einigung unter Einbeziehung der Westmächte, kam es am 16. April 1922 am Rande der Konferenz von Genau schließlich doch zu einer separaten deutsch-russischen Übereinkunft in Rapallo, dem Sitz der russischen Genua-Delegation. Bis zu den Unterschriften von Rapallo war es ein langer Weg gewesen. Nach Vorgesprächen mit den deutschen Verhandlungspartnern hatte Karl Radek am 10. Januar 1922 Moskau mit dem Ziel Berlin verlassen. Hier traf er zunächst auf den Reichskanzler Joseph Wirth sowie auf Ago von Maltzan. Rathenau und Radek begegneten sich zum ersten Mal wieder am 25. Januar 1922. In dieser und den bis Mitte Februar folgenden Verhandlungsrunden konkretisierten sich Radeks schon früher auch öffentlich geäußerte Vorbehalte gegenüber Rathenau als kapitalistischem, westorientiertem Unternehmer. Bereits in Stellungnahmen, die bis Ende 1921 erschienen waren, hatte Radek Rathenau als Unternehmer und Außenpolitiker argwöhnisch beschrieben.²¹ Dieses Bild integrierte er in seine
21 Radek, Karl: Deutschland und Rußland. Ein in der Moabiter Schutzhaft geschriebener Artikel für „richtiggehende“ Bourgeois. In: Die Zukunft XXVIII (1920), Nr. 19 vom 7. Februar 1920, S. 178– 189, bes. S. 182–189; ders.: Die auswärtige Politik Sowjet-Russlands. Hamburg 1921, S. 6, 44ff.; ders.: Nemecko-russkie otnošenija [Deutsch-russische Beziehungen]. In: Pravda (11. 1. 1921),
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außenpolitischen Argumentationen. Radek, der die internationalistische Ausrichtung des Kommunismus bejahte, erkannte zugleich, dass sich die Weltrevolution nicht ad hoc verwirklichen ließe. Solange[!] seien daher „[…] die sozialistischen Staaten darauf angewiesen, aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen einen modus vivendi für ihre Beziehungen [zur kapitalistischen Welt, Anm. d. Verf.] zu suchen.“²² Die Kooperation sollte nicht wirklich einer Annäherung der Systeme dienen, sondern der Stärkung Sowjetrusslands. Radek dachte dabei an einen Ausbau des wechselseitigen Handels, speziell mit Deutschland. Aufgrund seiner Kapitalknappheit sollte das Deutsche Reich Russland gegen die Lieferung von Rohstoffen zumindest Spezialisten für Wirtschaft und Technik zum Aufbau der russischen Wirtschaft vermitteln, so Radek zunächst. Eine Reprivatisierung der im Zuge der Revolution verstaatlichten Unternehmen als Gegenleistung sei jedoch undenkbar. Spätestens seit den Verhandlungen Anfang 1922 dachte Radek schließlich auch über einen Vertrag nach, der neben einer Garantie politischer Kooperation auch einen deutschen Warenkredit gegen russische Förder-Konzessionen und Rohstofflieferungen vorsah. Den Wünschen stand ein polemisch geäußertes Urteil gegenüber: Viele Mitglieder des Auswärtigen Amtes in der Wilhelmstraße, so Radek noch in der Pravda vom 15. Oktober 1921, seien „Esel“ [„Osly“].²³ Nicht genug damit, dass Regierungsbeamte, wie Ago von Maltzan, sich zunächst „weißgardistischen Vertretern“ Russlands zugewandt hätten. Nun, da die Hoffnung auf eine Zerschlagung Sowjetrusslands einer Realpolitik gewichen sei, suchten die deutschen Diplomaten zugleich den Kontakt zu Frankreich. Radek unterstellte Rathenau daher eine Doppelzüngigkeit. Einerseits habe dieser ihn, Radek, 1919 vermutlich
S. 1; ders. [unter dem Pseudonym „Viator“]: Deutschland, Sowjetrußland und die Entente. In: Die Rote Fahne (3. 12. 1921), S. 1; ders.: Germanija pered rešeniem [Deutschland vor der Entscheidung]. In: Pravda (4. 12. 1921), S. 1. Vgl. auch retrospektiv: Radek, Karl: Meždunarodno obozrenie [Internationale Rundschau]. In: Pravda (3. 1. 1922), S. 2; ders.: Genua, die Einheitsfront des Proletariats und die Kommunistische Internationale. Rede auf der Konferenz der Moskauer Organisation der Kommunistischen Partei Russlands am 9. März 1922. Hamburg 1922, S. 18ff., 36, 44f., 47, 52f., 56. Vgl. zum Eintreten Radeks für eine separate Annäherung an Deutschland ohne den Westen: Radek, Karl: Der Kampf der Internationale gegen Versailles und gegen die Offensive des Kapitals. Bericht, erstattet in der Sitzung der erweiterten Exekutive der K[ommunistischen] I[nternationale], Moskau, 13. Juli 1923. 2. Aufl. Hamburg 1923, S. 35. Vgl. zur Ermordung und posthumen Deutung Rathenaus: V. M. [?]: K ubijstvu Ratenau. Beseda s T. Radekom [Zur Ermordung Rathenaus. Ein Gespräch mit dem Genossen Radek]. In: Izvestija (28. 6. 1922), S. 1; ders.: Stinnes und Rathenau. In: Die Weltbühne 20 (1924) [hier: Nachdruck der Jahrgänge 1918–1933. Königsstein i. Ts. 1978], S. 633f. 22 Radek, Deutschland und Rußland (wie Anm. 21), S. 182. 23 Hier und für das Folgende: Radek, otnošenija (wie Anm. 12), [15. Oktober 1921].
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im Auftrag des damaligen Reichsaußenministers Friedrich Rosen besucht, um vorgeblich eine deutsch-russische Annäherung voranzubringen. Andererseits habe sich Rathenau Mitte 1921 jedoch als Wiederaufbauminister in Wiesbaden mit seinem französischen Amtskollegen Louis Loucheur nicht nur über Regelungen zur schrittweisen Lösung der Reparationsfrage geeinigt, sondern auch über ein gemeinsames Vorgehen gegen Russland. Radek fürchtete eine Abhängigkeit Russlands von den Westmächten. Zweifelsohne war er hierbei auch durch die Erfahrung der Intervention des Westens im russischen Bürgerkrieg geprägt. Eine wirtschaftliche Zusammenarbeit Deutschlands mit England oder Frankreich, sei es wie im von Rathenau mit gestalteten Abkommen von Wiesbaden, sei es wie in den öffentlich vertretenen Vorstellungen Rathenaus für ein internationales Firmenkonsortium zum Aufbau der russischen Wirtschaft, mussten bei Radek auf vehementen Widerspruch stoßen. Und so plädierte Radek dann auch immer wieder für eine politische Zusammenarbeit Deutschland mit Sowjetrussland als einer Gemeinschaft der „Parias“. Da der englisch-französische Hegemonialkonflikt in Europa seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in Deutschland ausgetragen werde, entwickele sich das Reich unter dem Druck der Reparationslasten zu einer „Kolonie“ der Entente-Mächte. So sei es eine Illusion, wenn man deutscherseits glaube, zu einer gleichberechtigten Zusammenarbeit mit den Alliierten gelangen zu können. Russland stehe als ökonomisch hilfsbedürftiges Land ebenfalls unter dem Druck der Westmächte. Die Anerkennung der Altschulden des Zarenreiches im Ausland durch die neue Führung könnten auch Russland zu einer wirtschaftlichen „Kolonie“ des Westens werden lassen. Seine Kooperationsangebote an die Reichsregierung versah Radek durchaus auch mit Drohungen.²⁴ So deutete er an, Russland könne sich auch mit Frankreich gegen das Reich verbünden. Weitaus gefährlicher wirkte der Hinweis auf Artikel 116 des Versailler Vertrages. Diese Klausel ermöglichte es Russland, gegenüber Deutschland Reparationsforderungen geltend zu machen. Aus all diesen Gedanken leiteten sich die Kritikpunkte Radeks gegenüber Rathenau ab. Die westorientierte Außenpolitik des deutschen Ministers führe Deutschland zu neuen Abhängigkeiten von den kapitalistischen Mächten. Zudem gefährde sie Russland. Das von Rathenau, als Unternehmer und Finanzmann, vor Genua erstrebte internationale Russland-Konsortium westeuropäischer Unternehmen vermochte Radek lediglich als „Zwangssyndikat“ oder eine Koalition zur „Kolonialisierung“ Russlands anzusehen. Er unterstellte Rathenau Unehrlich-
24 Für das Folgende: Goldbach, Radek (wie Anm. 9), S. 107, 111; Radek, otnošenija (wie Anm. 12), [11. November 1921].
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keit. Der bekundete Kooperationswille diene lediglich der ökonomischen „Unterwerfung“ Sowjetrusslands durch das kapitalistische Ausland. Auch die wirtschaftstheoretischen Schriften Rathenaus galten Radek nicht als „aufrichtig“. Rathenau sei ein „Romantiker“, so meinte der sowjetrussische Politiker.²⁵ Noch deutlicher wurde er in einem Nachruf auf Rathenau, der am 27. Juni 1922 in der Pravda erschien.²⁶ Die Wirtschaftstheorien des deutschen Industriellen trügen lediglich eine sozialistische Färbung. Insgesamt sei der Ermordete zunächst Nationalist und Befürworter des Krieges gewesen, dann Demokrat und Pazifist. Rathenaus Zielsetzungen hätten sich immer wieder verändert. Radek hielt Rathenau zu Lebzeiten, 1921, sowie unmittelbar nach dessen Tod, Opportunismus vor. In der Zeit nach Abschluss des Rapallo-Vertrages entwickelte sich aus diesen Versatzstücken das Theorem der „friedlichen Koexistenz“ sowie nachfolgend das unhistorische Konstrukt einer preußisch/deutschen-russischen/sowjetischen Freundschaft. Rathenau wurde hierbei zum „aufgeklärten Bourgeois“ stilisiert, der in Rapallo zumindest zweitweise seinen Klassenstandpunkt dankenswerterweise zugunsten der Kooperation mit dem nachrevolutionären Russland verlassen habe.²⁷ Radek propagierte diese Narrative bereits 1924 in einem Aufsatz.²⁸ Und Rathenau? Der deutsche Außenminister versuchte Anfang 1922 zunächst die bestehenden Ressentiments des Moskauer Diplomaten auszuräumen. Er hob dabei die in Aussicht stehende ökonomische Hilfe Deutschlands für das von revolutionären Unruhen und Bürgerkrieg zerstörte Russland als humanitäre Aufbauleistung hervor. Gleichwohl musste Rathenau durch Radeks Vorwürfe zutiefst gekränkt sein, jenseits aller politischen oder wirtschaftlichen Verhandlungen.
25 PA AA R 23696, Bll. L 096618–L 096621, L 096632–L 096634. Radek erhielt offenbar Kenntnis davon, dass sich Rathenau abfällig über ihn geäußert habe: Im selben Archiv R 31967, Bll. H 119232f. 26 Radek, Karl: Meždunarodnoe obozrenie. Ubistvo Valtera Ratenau i germanskij nacionalizm [Internationale Rundschau. Die Ermordung Walther Rathenaus und der deutsche Nationalismus]. In: Pravda (27. 6. 1922), S. 2. Der wohl informierte Radek zitierte hierbei aus einem Brief Walther Rathenaus an Erich Ludendorff vom 6. November 1915, den er zwei Monate vordatierte, vgl. Walther Rathenau. Politische Briefe. Dresden 1929, S. 50f. 27 Hier nur: Orth, Wilhelm: Walther Rathenau und der Geist von Rapallo. Größe und Grenzen eines deutschen Bürgers. Berlin 1962; Grekow, Boris: Zur Entwicklung der außenpolitischen Ansichten von Dr. Walther Rathenau (vom Vorabend des ersten Weltkrieges bis zur Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages). In: Paech, Norman [u. a.] (Hrsg.): Rapallo – Modell für Europa? Friedliche Koexistenz und internationale Sicherheit. Köln 1987, S. 245–251. 28 Radek, Stinnes (wie Anm. 21). Vgl. zu Stinnes als gegenüber Rathenau weniger „aufgeklärtem“ Unternehmer: Ders.: Meždunarodnoe obozrenie [Internationale Rundschau]. In: Pravda (29. 11. 1921), S. 2.
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In seinem Aufsatz von 1901, aber auch in den Äußerungen gegenüber Radek 1919 hatte Rathenau Russland als tabula rasa²⁹ betrachtet. Durch die dort für ihn als Unternehmer postulierte zivilisatorische Mission, meinte er sich vom Selbstvorwurf des „betrügenden jüdischen Unternehmers“ befreien zu müssen. Und nun warf ihm mit Radek, gerade ein Russe, der Kommunist und Jude aus Osteuropa in einem war, Opportunismus und damit Unehrlichkeit vor; einer, der sich zudem einen unkompliziert ablehnenden Zugang zum Kapitalismus zu leisten gestattete. Rathenau war aus der Logik seiner Haltungen, Vorurteile und Schutzmechanismen gefordert. Seine Reaktionen sollten folgen. Für seinen geheimen Aufenthalt in Berlin Anfang Januar 1922 trug Radek den Tarnnamen Konstantin Römer.³⁰ Gerüchte in der Presse über eine mögliche Ankunft Radeks in Berlin sollten keinesfalls Nahrung erhalten. Zu groß war die Furcht beider Verhandlungsparteien, einschließlich Rathenaus, vor einer negativen Reaktion der Westmächte. Gleichwohl unterrichteten Beamte der Wilhelmstraße zumindest den britischen Botschafter in Berlin über den Fortgang der deutsch-russischen Unterredungen. Radek hielt sich seit dem 16. Januar 1922 in Berlin auf. Bereits nach vier Tagen war Edgar Vincent Viscount d’Abernon, der Vertreter Londons an der Spree, vom Aufenthalt Radeks vertraulich informiert worden. Weitere Mitteilungen von deutscher Seite über den Stand der Unterredungen mit der Delegation aus Moskau sollten zeitnah folgen. Sicher war Ago von Maltzan einer der Zuträger, wahrscheinlich auch Walther Rathenau.³¹ Zu groß waren die Vorbehalte gegenüber den Bolschewisten bei beiden, zu stark der Wunsch nach einer Westorientierung bei Rathenau. Hinzu kam die Angst vor den denkbaren Reaktionen einer antikommunistisch gesinnten deutschen Öffentlichkeit.³² Da beide Seiten sich darauf verständigt hatten, Radeks Anwesenheit in der Reichshauptstadt geheim zu halten, konnte der Unterstützer der KPD nicht öffentlich agitieren. Dies war im Sinne des antikommunistisch orientierten Rathenau. Am 2. Dezember 1921 hatte er gegenüber dem englischen Premier
29 Zur Tradition dieser Vorstellung in deutschen Russlandbildern hier nur: Groh, Dieter: Rußland im Blick Europas. 300 Jahre historische Perspektiven. Frankfurt a. M. 1988, S. 41 ff. 30 Hier und für das Folgende: PA AA R 23696. Vgl. Harden, Maximilian: Genua ist die Spindel. In: Die Zukunft XXX (1922), Nr. 23 vom 4. März 1922, S. 239–253, v. a, S. 245f. Vgl. etwa: Im selben Archiv R 83435, Bll. 1ff. Radek verwendete diesen Tarnnamen später erneut, vgl. Bundesarchiv Berlin SAPMO NY 4126 Nachlass Paul Levi Akte 3, Bll. 17ff. (Karl Römer an Mathilde Jacob, 13. April 1930). 31 D’Abernon, Edgar Vincent Viscount: Ein Botschafter der Zeitenwende. Memoiren. Bd. 1: Von Spa (1920) bis Rapallo (1922). Deutsch von Antonina Vallentin. Leipzig 1929, S. 279ff., 284f., 286; PA AA R 23696, Bll. L 096622–L 096624, im selben Archiv R 28203k, Bl. 112. 32 Hier nur: d’Abernon, Memoiren (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 286.
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David Lloyd George erklärt, mit Bolschewisten lasse sich nur schwer verhandeln. Diese Äußerung bezog sich auf den sowjetrussischen Diplomaten Leonid B. Krassin, war aber zweifellos auch auf Radek übertragbar. So bemerkte Rathenau in einer internen Zwischenbesprechung der Deutschen am 30. Januar 1922: „Die Verhandlungen mit Römer werden nicht einfach sein, denn er muss das ganze Sowjetsystem umändern.“³³ Dem deutschen Außenminister ging es dabei, gegen den Widerstand der russischen Verhandlungspartner, vor allem um die Möglichkeit für deutsche beziehungsweise westliche Firmen in Russland direkt, das bedeutete in Umgehung des sowjetrussischen Außenhandelsmonopols, privatwirtschaftlich handeln zu können. Dass Rathenau bei diesem Wunsch nicht nur von ökonomischen Erwägungen bestimmt wurde, zeigt eine Äußerung vom 31. Januar gegenüber Lord d’Abernon: „Es ist am besten, wenn die Privatfirmen dort [in Russland, Anm. d. Verf.] einzeln ihr Glück versuchen; sobald sie eine genügende Anzahl von Kontrakten bekommen haben, wird das Sowjetsystem von selbst zusammenbrechen.“³⁴ Rathenau instrumentalisierte nicht einfach nur die „bolschewistische Gefahr für Europa“, um die Westmächte für seine Politik zu gewinnen. Er war zeittypischer Antikommunist. Dies zeigt auch sein Verhalten Ende April/Anfang Mai 1922.³⁵ Radek war für die Zeit der Konferenz in Genua als Verbindungsmann zwischen der russischen Delegation und Moskau der Aufenthalt in Berlin von den deutschen Behörden genehmigt worden. Allerdings erhielt er die Auflage, sich jeder öffentlichen Äußerung zu enthalten. Ungeachtet des fraglos schon bestehenden Misstrauens im deutschen Außenministerium warnte der Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung am 8. April 1922 die Beamten in der Wilhelmstraße. Da der russische Gast Bolschewist und Mitglied in der Exekutive der III. Internationale sei, müsse unbedingt ein Verbot jedweder öffentlichen Äußerung für ihn erwirkt werden. Anfang Mai wurde Walther Rathenau, der sich noch in Genua befand, durch den Staatssekretär Edgar Haniel von Haimhausen im Auswärtigen Amt informiert, dass Radek am 28. April 1922 in einer Funktionärsversammlung deutscher Kom-
33 PA AA R 83435, Bl. 19. 34 D’Abernon, Memoiren (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 283. 35 Hier und für das Folgende: PA AA R 23695, Bll. L 096548–L 096550, L 096556–L 096560, L 096567, L 096569ff., L 096577ff., L 096582–L 096586, L 096588–L 096590; im selben Archiv R 23696, Bll. L 096689–L 096692; im selben Archiv R 31707k, Bll. K 105321f., K 105346, K 105352, K 105368f., K 105375; Goldbach, Radek, S. 111ff.; Tuck, Engine, S. 66; O. A.: Kongress Trech Internacionalov [Der Kongress dreier Internationalen]. In: Izvestija (11. 4. 1922) S. 1; O. A.: Sryv soglašenija 3ch Internacionalov [Die Sprengung der Übereinkunft dreier Internationalen]. In: Izvestija (28. 5. 1922), S. 3.
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munisten in Berlin gesprochen habe und auch in Düsseldorf eine Rede gehalten hätte. Zudem habe er verschiedene regionale Gremien der KPD aufgesucht. Aus deutschen Presseberichten ginge hervor, dass er unter anderem gefordert habe, den Aktionsradius der sowjetrussischen Geheimpolizei auch auf Deutschland auszudehnen. Haniel von Haimhausen empfahl, gegen Radek einzuschreiten. Der Außenminister protestierte daraufhin zunächst vertraulich bei seinem russischen Amtskollegen und dessen Stellvertreter, Maksim M. Litvinov, gegen die Übertretung der vereinbarten Verhaltensregeln durch Radek. Zwischen der Zentrale des Außenministeriums in Berlin und der russischen Delegation in Genua wurden Noten gewechselt, um den Vorfall beizulegen. Am 12. Mai 1922 wandte sich Haniel von Haimhausen erneut an die deutsche Delegation. Es ging um die Frage, ob Radek als Mitglied einer Kommission von Mitgliedern der Zweiten und der Dritten Internationale im Reichstagsgebäude an einer nichtöffentlichen Tagung teilnehmen könne. Auch der Reichskanzler war eingeladen worden. Reichspräsident Friedrich Ebert hatte sich jedoch bereits gegen die Teilnahme Wirths ausgesprochen. Staatssekretär Haniel von Haimhausen bat nun um Handlungsanweisungen durch seinen Minister. In seiner Antwort vom selben Tage enthielt sich Rathenau einer Stellungnahme zur Teilnahme Radeks, befürwortete aber das Redeverbot gegen ihn. In einem weiteren Telegramm vom 16. und 17. Mai 1922 kabelte Rathenau schließlich, er sei bei Litvinov erneut vorstellig geworden und habe die Zusicherung des russischen Diplomaten erwirken können, dass Radek am 23. Mai nach Moskau zurückkehren werde. Nicht nur Antikommunismus war hier im Spiel. „Er [Karl Radek, Anm. d. Verf.] ist zweifellos klug und witzig, aber ein schmieriger Kerl, der echte Typus eines gemeinen Judenjungen“, so äußerte Rathenau sich gegenüber Viscount d’Abernon schon am 12. Februar 1922.³⁶ Der Ausdruck „Judenjunge“ war dabei zunächst der Versuch, Radek zu einem unreifen, jungen Menschen zu „verkleinern“. Zudem besaß der Begriff seit dem Berliner Antisemitismusstreit um 1880 eine „assoziative Verbindung“ mit den aus Osteuropa nach Deutschland einwandernden Juden.³⁷ Die Charakterisierung des „Juden“ Radek als „klug“, „witzig“ und „schmierig“ zugleich, nahm das traditionelle Stereotyp vom „überaus intelligenten Juden“ auf. Die Zuschreibungen fügten sich in den Kanon der Eigenschaften von „Furchtmenschen“ ein. In diesem negativen Idealtypus seiner Geschichtsphilosophie hatte Rathenau ja ein ganzes Bündel verinnerlichter antisemitischer Topoi vereinigt. Schon in Höre, Israel! hatte Rathenau Juden, insbe-
36 D’Abernon, Memoiren (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 286. 37 Vgl. Treitschke, Heinrich von: Unsere Aussichten [zuerst: November 1879]. In: Boehlich, Walter (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt a. M. 1988, S. 7–14, hier: S. 9.
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sondere die aus Osteuropa eingewanderten, als „affektiert“ bezeichnet.³⁸ Die hier attestierte „Witzigkeit“ Radeks schien in Rathenaus Wahrnehmung davon nicht weit entfernt.
Fazit Die Ablehnung Karl Radeks durch Rathenau fügte sich somit sowohl in politische und ökonomische Verhandlungsstrategien sowie zeittypische Einstellungen des Antikommunismus als auch in zeitübliche Russlandbilder ein. Zentral jedoch blieb die eingangs umrissene Verzweiflung über das Scheitern der Emanzipation als Jude in Deutschland. Nur aus den hiermit verbundenen quälenden inneren Widersprüchen Rathenaus erklärt es sich, einerseits Radek gegenüber eine „jüdische Herrschaft“ in Russland abzulehnen, den Verhandlungspartner als „schmierigen Judenjungen“ zu denunzieren und parallel von der Verwirklichung einer „versittlichten“ „neuen Wirtschaft“ in Russland zu träumen, in der, so wird man ergänzen dürfen, kein Antisemitismus herrschen sollte. Die rüde Distanzierung gegenüber dem als „Ostjuden“ wahrgenommenen Diplomaten – der allerdings aus einer Familie stammte, die sich an Mendelssohn und Lessing orientierte, nicht aber am Schtetl –, sie diente dem Selbstschutz, entsprang der Verletzung, trotz bester Absichten als Opportunist gesehen zu werden. Kränkungen, kommunikative Missverständnisse und soziale Abgrenzungen gingen Hand in Hand. Die unvollendete Emanzipation der Juden in Deutschland wirkte sich bis in das Verhandlungszimmer aus. Radek, Rathenau und die unvollkommene Gleichberechtigung der Juden blieben auch nach der Ermordung des deutschen Außenministers miteinander verbunden. In der deutschen Presse hielt sich das Gerücht, Rathenaus Schwester Edith Andreae habe sich mit Karl Radek verlobt. Jude/Jüdin trifft Bolschewismus: Da lag die antisemitische Kopfgeburt des „jüdischen Bolschewismus“ in der System-Immanenz kruder Judenhasser nahe.³⁹ Eine andere Variante der keineswegs ungefährlichen Presse-Enten zum Thema nahm vermutlich ihren Ursprung bei Erich Ludendorff: Rathenau sei von Bol-
38 Rathenau, Walther: Höre, Israel!. In: Walther Rathenau. Impressionen. Leipzig 1902, S. 1–20 [zuerst: 6. März 1897] sowie die Urschrift des Textes: ZA Fond 634 Nachlass Walther Rathenau Findbuch 1, Akte 42, Bll. 1–26. 39 Hauptstaatsarchiv Stuttgart E 130 b Staatsministerium 1876–1945, Büschel 1869 (O. A., Meldung in der Schwäbischen Tageszeitung, o. P., 10. 6. 1922).
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schewisten ermordet worden – eine schuldentlastende These für die rechtskonservativen Kräfte nach dem Attentat vom 24. Juni 1922. Arnold Rechberg (1879–1947), Privatier und ein ebenso westorientierter wie antibolschewistischer Publizist, überlieferte in diesem Rahmen seine angeblichen Erlebnisse mit Rathenau nach dessen vermeintlichem Gespräch mit Radek. Rathenau habe Anfang 1919 Unterredungen mit Radek in Berlin geführt. Hierbei habe Radek die Ziele der Bolschewisten offenbart. Der naive Rathenau sei verblüfft und schockiert aus den Besprechungen gekommen, fassungslos über die grausamen Absichten der Bolschewisten. Darauf habe Rechberg gemeint: Ich bin im Gegensatz zu Ihnen fest davon überzeugt, dass Radek Ihnen mit dürren Worten gesagt hat, was er wirklich denkt. Sie sind, mein lieber Herr Rathenau, viel zu intellektuell, viel zu sehr in den Begriffen der europäischen Zivilisation gross geworden […] um den brutalen Eroberungswillen der Bolschewisten überhaupt begreifen zu können. […] Im übrigen aber möchte ich Ihnen den guten Rat geben, lieber nicht mehr allzuviel mit den Bolschewiken geistreiche Zwiesprache zu halten. Es wird damit enden, dass Sie Moskau eines Tages ermorden lässt.“
Später hätten ihn dann Anhänger dieser bolschewistischen Bewegung ermordet, um das Attentat den „Rechten“ zuschreiben zu können.⁴⁰ Und Rathenau selbst? Für ihn gelten wohl die Sätze, die Oskar Maria Graf 1932 in seinem Roman Bolwieser schrieb: Kein Mensch […] ist innerlich klar, einfach und durchsichtig. Die Zwiespältigkeit macht unser aller Leben aus. Gerade die Kraftvollsten, Lebenshungrigsten und Gesündesten sind die Zwiespältigsten. Ihr Handeln ist nie der Ausfluß ihrer wirklichen Gefühle und Gedanken. Sie sind gewissermaßen geheimnisvoll getriebene, schuldlose Lügner, unbewußte Schauspieler und instinktive Irreführer. Sie leiden darunter, aber sie können nicht anders. Sie glauben, sich ständig wehren zu müssen und wissen nicht einmal gegen wen, ob gegen sich selber oder nur gegen die unerwünschten Auffassungen ihrer Mitmenschen.
40 Bundesarchiv Koblenz Nl 1049 Nachlass Arnold Rechberg Akte 89a, o. P. (Rechberg, Arnold: Walther Rathenau und der Bolschewismus. Eine Erinnerung für das Neue Wiener Journal, 18. Februar 1931).
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„Der Judenrepublik gewidmet“¹ Der Rathenau-Brunnen im Volkspark Rehberge und die früheren Berliner Projekte für ein Rathenau-Denkmal Am 27. Oktober 1930 wurde im Volkspark Rehberge in Berlin-Wedding der Rathenau-Brunnen von Georg Kolbe eingeweiht. Im Berliner Tageblatt kommentierte Adolf Donath: „Vater Rathenau und Sohn haben hier Monumente von würdigem Edelmaß gefunden. Und sie ergänzen sich symbolisch in dem Kolbeschen Brunnen, der […] durch ein einfaches plastisch-architektonisches Motiv nichts anderes verbildlicht als ein Symbol der Kraft.“ Vorausschauend meinte Donath: „Kolbes Rathenau-Brunnen im Volkspark Rehberge wird populär werden.“² Gab es also über acht Jahre nach der Ermordung Walther Rathenaus ein glückliches Ende der langwierigen Denkmalsplanungen? (Abb. 1) Unmittelbar nach dem Tod des deutschen Außenministers Walther Rathenau waren erste Überlegungen angestrengt worden, ihm ein Denkmal zu errichten. Am 1. Juli 1922, eine Woche nach dem Mordanschlag, wandte sich Walter Gropius, der Gründer des Bauhauses in Weimar, in einem Brief an den Reichskunstwart Edwin Redslob. Er teilte mit, dass sich die Steinbildhauer-Klasse gerne an einem eventuellen Denkmalswettbewerb beteiligen wolle. „Wir wären in der Lage, unverbindliche Vorschläge für ein solches Denkmal zu machen, wenn wir nur erführen, wo etwa ein solches geplant werden könnte.“³ Redslob, der die eindrucksvolle Trauerfeier ausgerichtet hatte,⁴ antwortete: „Wegen der Rathenauangelegenheit bestehen andere Absichten.“ Zuerst wollte man versuchen, Rathenaus Haus zu erhalten und für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen.⁵ Trotz dieser Mitteilung dachte Redslob noch im gleichen Jahr, 1922, auch an ein Denkmal, dies belegen zwei Zeichnungen von Georg Kolbe, die sich in die sich in seinem Nachlass befanden. Ein Entwurf, der als Geschenk in die
1 Vgl. Abb 9, S.84. 2 Donath, Adolf: Rathenau-Brunnen. Das Werk Georg Kolbes, Berliner Tageblatt vom 28. Oktober 1930. 3 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde [im Folgenden: BArch], R 32, Reichskunstwart, Nr. 15, Bl. 142/43. 4 Welzbacher, Christian: Edwin Redslob. Biographie eines unverbesserlichen Idealisten. Berlin 2009, S. 188–193. 5 Brief vom 18. August 1922, BArch, R 32, Reichskunstwart, Nr. 15, Bl. 142/f. Das Rathenau-Haus in der Koenigsallee wurde im November 1924 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
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Sammlung des Georg-Kolbe-Museums einging, ist beschriftet: „Skizze zur Einfassung des Baumes an welchem W. Rathenau ermordet wurde.“⁶ (Abb. 2)
Abb. 1: Georg Kolbe: Rathenau-Brunnen mit Allee im Volkspark Rehberge, 1930
Kolbe hatte aber nicht nur zeichnerische Entwürfe angefertigt, sondern 1922 die Geniusfigur auch plastisch ausgeführt.⁷ Da sich das Projekt zerschlug, war die Plastik frei für eine andere Verwendung: Das Land Preußen gab sie 1925 als Bekrönung des Grabmonuments für den Komponisten Ferruccio Busoni in Auftrag (Friedhof Stubenrauchstraße, Berlin-Friedenau). Die Bronze steht auf einem hohen Pfeiler, ähnlich wie dies bei den Zeichnungen für das RathenauMonument vorgesehen war. Somit gibt das Busoni-Grabmal das Konzept für das erste Rathenau-Denkmal, das für Berlin geplant war, wieder.⁸ (Abb. 3)
6 Auf der anderen Zeichnung notierte Redslob: „Entwurf für das Denkmal an der Stelle, an der W. Rathenau ermordet“. Abb. in: Walther Rathenau 1867–1922, Ausstellungskatalog Walther Rathenau-Schule. Berlin 1987, Nr. 8/37. 7 Berger, Ursel: „Unsere Unreife für künstlerische Nationalaufgaben“. Projekte für RathenauDenkmäler in Berlin. In: Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau 1867–1922, Ausstellungskatalog Deutsches Historisches Museum. Berlin 1993, S. 247–254, hier: S. 247. 8 Berger, Ursel [u. a.] (Hrsg.): TanzPlastik. Die tänzerische Bewegung in der Skulptur der Moderne. Berlin 2012, Abb. S. 112.
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Abb. 2: Georg Kolbe: Entwurf für ein Rathenau-Denkmal an der Mordstelle, 1922, Bleistiftzeichnung
Als Mathilde Rathenau, die Mutter Walther Rathenaus, 1926 starb, hinterließ sie laut Testament 30.000 RM für einen Gedenkstein, der an der Mordstelle errichtet werden sollte.⁹ Daraufhin wurden die Denkmalspläne wieder aufgegriffen. Allerdings kam es sofort zu Kontroversen um die Inschrift. Mathilde Rathenau hatte vorgegeben: „Hier wurde Walther Rathenau am 24ten Juni 1922 ermordet – Deutschlands treuester Sohn“.¹⁰ Die Reichsregierung dagegen wünschte eine zurückhaltendere Formulierung: „Walther Rathenau / Dem treuen Sohn des deutschen Volkes / zum Gedächtnis / † am 24. Juni 1922“.¹¹ Damit erklärte sich die Familie einverstanden; nun war jedoch der vorgesehene Standort für das Denk-
9 BArch, Rep. 15.01, Nr. 25250. 10 BArch, Rep. 15.01, Nr. 25250. 11 BArch, 15.01, Nr. 25255 und Redslob-Nachlass. Den privaten Nachlass hatte die Autorin bei der Tochter Ottilie Selbach einsehen können. Er gelangte später in das Deutsche Kunstarchiv, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg [im Folgenden: DKA].
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Abb. 3: Georg Kolbe: BusoniGrabmal 1925 mit dem Genius, der 1922 für ein Rathenau-Denkmal geplant war
mal umstritten. Die Stadt Berlin machte Einwände gegen eine Aufstellung auf öffentlichem Straßenland.¹² Auch für das benachbarte Privatgrundstück erhielt man keine Genehmigung.¹³ Dennoch wurde das Projekt weiterverfolgt. Edwin Redslob wandte sich wieder an Georg Kolbe, der 1928 einen neuen Entwurf vorlegte: eine Stele mit einer Flamme, die in einigen Zeichnungen und dem Foto eines plastischen Modells dokumentiert ist. (Abb. 4) Vielleicht waren die Schwierigkeiten im Vorfeld der Grund dafür, dass Kolbe nun eine besonders schlichte Form für diesen Entwurf wählte. 1929 wurde sein
12 Schreiben des Oberbürgermeisters von Berlin an den Reichsinnenminister vom 11. 1. 1927, BArch, 15.01, Nr. 2525. 13 Die Eigentümerin, Giulietta v. Mendelssohn, weigerte sich, das Stück Land bereitzustellen; vgl. Brief von Franz v. Mendelssohn, 30. 12. 1927, DKA.
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Abb. 4: Georg Kolbe: Entwurf für eine Rathenau-Stele, 1928, Bleistiftzeichnung
Projekt von den Entscheidungsgremien wohl aus politischen Gründen, wie sich Redslob später erinnerte, abgelehnt.¹⁴ Daraufhin war zwar noch von einem Wettbewerb die Rede, der unterblieben sein muss, denn im Sommer 1929 enthüllte die Deutsche Demokratische Partei eine Gedenktafel an der Mordstelle.¹⁵ Sie wurde im Frühjahr 1933 beseitigt; seit 1946 erinnert erneut eine Inschrifttafel, nun auf einem Stein angebracht, an den Mord an Rathenau. Bevor die Bemühungen um ein Denkmal an der Mordstelle 1929 zu einem – vorläufigen – Ende gekommen waren, hatte man 1927 mit einem ganz anderen Projekt begonnen. Dieses Mal sollte nicht die öffentliche Hand die Kosten tragen, weder das Reich, wie bei den Projekten für die Mordstelle, geplant, noch die DDP. Der Berliner Stadtsyndikus Friedrich C. A. Lange notierte in seinem Tage-
14 Mitteilung von Redslob an Hella Reelfs, Notiz im Archiv des Georg-Kolbe-Museums, Berlin [im Folgenden: AGKM]. Fritz Andreae, der Ehemann von Rathenaus Schwester Edith, beschwerte sich, dass man im Brief an Kolbe eine Ablehnung von Seiten der Familie vorgeschoben habe, während doch andere, „maßgeblichere Persönlichkeiten“ sich zuerst dagegen ausgesprochen hätten. Vgl. Berger, Ursel: Steuerschraube oder Rathenau-Brunnen. Vor- und Nachgeschichte der Berliner Rathenau-Denkmäler. In: Museumsjournal, August 1987, S. 10–15, hier: S. 11. 15 Versuche, dieses Vorhaben mit dem staatlichen Projekt zu verbinden, scheiterten. Vgl. Berger, Unreife (wie Anm. 6), S. 248.
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buch: „Die Mittel werden von privater Seite gespendet.“¹⁶ Die Familie Rathenau engagierte sich erneut,¹⁷ allerdings war sie beim Entscheidungsprozess nicht vertreten,¹⁸ dagegen war der AEG-Direktor Felix Deutsch in die Planungen einbezogen. Der Unterschied zu den bisherigen Planungen bestand darin, dass kein Walther-Rathenau-Denkmal geplant war; geehrt werden sollte gleichzeitig auch der Vater, der Gründer der AEG. Der erste Denkmalsentwurf – die Figur eines „Lichtbringers“ – stellte sogar die Leistung Emil Rathenaus in den Vordergrund. Das Denkmal sollte nicht an der Mordstelle errichtet werden, sondern in BerlinWedding, wo sich AEG-Firmenbauten befanden. Die Ausführung wurde der Stadt Berlin übertragen; der Oberbürgermeister, die Kunstdeputation und die Bezirksverordnetenversammlung hatten zu entscheiden. Die ersten Entwürfe für das Rathenau-Denkmal lieferte Hermann Hahn, der bevorzugte Bildhauer der AEG und der Familie Rathenau. Er hatte Emil und Mathilde Rathenau porträtiert sowie zwei verschiedene Büsten von Walther Rathenau geschaffen, wie auch Medaillen auf Vater und Sohn. Skulpturen Hahns schmücken das Familiengrabmal von Alfred Messel auf dem Waldfriedhof in Berlin-Oberschöneweide sowie ehemals das vom gleichen Architekten erbaute AEGVerwaltungsgebäude; dort war auch Hahns Sitzstatue von Emil Rathenau aufgestellt.¹⁹ 1927 wurde Hahn von Oberbürgermeister Gustav Böss aufgefordert, einen Entwurf vorzulegen. Der Stadtbaurat Ludwig Hoffmann besuchte den Bildhauer in seinem Atelier in München.²⁰ Hahn modellierte 1927 eine männliche Aktfigur mit einem Blitzbündel in der erhobenen Rechten. (Abb. 5) Mit diesem „Lichtbringer“ spielte er auf die Verdienste Emil Rathenaus an der Verbreitung der Elektrizität an. Felix Deutsch von der AEG, der Berliner Oberbürgermeister und auch Edwin Redslob, der nun als Vertreter der Rathenau-Stiftung in die Planungen einbezogen war, lehnten die recht steife Männerfigur aus künstlerischen Gründen ab. Sie schoben jedoch dem Bildhauer gegenüber inhaltliche
16 Notiz vom 2. 6. 1929, vgl. Lange, Friedrich C. A.: Gross-Berliner Tagebuch 1920–1933. 2. Aufl. Berlin/Bonn 1982, S. 125. 17 Der Brunnen sei von der Familie Rathenau gestiftet, stand in der Berliner Morgenpost am 5. 11. 1930 zu lesen. 18 Edith Andreae, die Schwester Rathenaus, erfuhr erst kurz nach der Einweihung des RathenauBrunnens von dem Projekt, was aus ihrem Brief an Georg Kolbe vom 5. 11. 1930 hervorgeht. Vgl. Tiesenhausen, Maria Frfr. v.: Georg Kolbe. Briefe und Aufzeichnungen. Tübingen 1987, S. 121. 19 Volwahsen, Andrea: Der Bildhauer Hermann Hahn. München 1987, S. 321, 342, 343, 348f., 355, 358f., 375, 393. 20 DKA.
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Abb. 5: Hermann Hahn: Lichtbringer 1927/1928, Statue für ein Rathenau-Denkmal, nicht erhalten
Gründe vor.²¹ Dies führte dazu, dass Hahn sich aufgefordert fühlte, andere Entwürfe einzureichen: einen „Jüngling mit Falken“ und eine Aktfigur, die er „Höhenflug“ benannte. Diese stellte er im Frühjahr 1928 der Berliner Kunstdeputation vor.²² Doch Hahns Entwürfe konnten nicht überzeugen, obwohl er annehmen musste, dass sie im Sinne von Walther Rathenau gewesen wären. Dieser hatte sich nämlich 1911/1912 vehement für Hahns Statue zu dem geplanten Bismarck-
21 Brief von Redslob an Hahn, 23. 2. 1928: „Bei der Umstrittenheit, welche über die Vorgeschichte der Einführung der Elektrizität liegt, erscheint es beispielsweise ungünstig, wenn man die Idee des Lichtträgers in so betonter Weise mit dem Namen Rathenau verbindet.“ DKA; siehe auch Berger, Steuerschraube (wie Anm. 13), S. 11–13. 22 Volwahsen, Hahn (wie Anm. 18), S. 113–115.
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Nationaldenkmal für Bingerbrück eingesetzt.²³ Der Bildhauer hatte eine symbolische Siegfried-Figur vorgeschlagen. Die Jury, der Rathenau angehörte, sprach sich für das Projekt aus, das Hahn zusammen mit dem Architekten German Bestelmeyer eingereicht hatte. Was vor dem Ersten Weltkrieg eine moderne, vielleicht sogar eine zu moderne Lösung war, denn der prämierte Entwurf wurde nicht ausgeführt, erschien den Auftraggebern 20 Jahre später nicht mehr überzeugend. Man wandte sich an Georg Kolbe, der nun also zum dritten Mal ein Rathenauprojekt in Angriff nahm. Zwar hatte er keineswegs so enge Bindungen an die Familie Rathenau wie Hermann Hahn, aber zumindest war er mit Walther Rathenau bekannt gewesen, wenn dies auch kaum in den Quellen belegt ist. 1912 teilte der Bildhauer einem Freund brieflich mit: „Rathenau sehe ich oft.“²⁴ Kolbe war allerdings der Figurenbildner par excellence und sein erster Rathenau-Entwurf war ja auch eine Symbolfigur gewesen. Dieses Mal jedoch plädierte er für eine ganz andere Lösung, eine abstrakte Form. Es war offensichtlich sowohl von den Auftraggebern als auch vom Künstler erwünscht, die Komposition des Monumentes dem Standort anzupassen. Vorgesehen war der neue Volkspark Rehberge, möglicherweise erhoffte man sogar eine Umbenennung des Parks. Hahn gegenüber war einmal vom zukünftigen „Rathenau-Park“ die Rede.²⁵ Nach den Missverständnissen mit dem Bildhauer Hahn versuchte man, sich dieses Mal vorab klar festzulegen. Am Anfang stand deshalb Ende Juni 1928 eine Ortsbesichtigung durch den Oberbürgermeister Gustav Böss und den Bildhauer „zwecks Feststellung des am geeignetst erscheinenden Platzes, auf dem das geplante Rathenau-Denkmal errichtet werden soll“.²⁶ Eine Notiz von Kolbe belegt, dass er sich am Tag zuvor schon mit dem Berliner Gartenbaudirektor Erwin Barth getroffen hatte.²⁷ Man wählte eine markante Stelle in dem Landschaftspark: eine etwa zwanzig Meter hohe Bodenwelle.²⁸ Im ersten Schreiben des Oberbürgermeisters war noch allgemein von einem Rathenau-Denkmal die Rede gewesen, doch schon beim Ortstermin muss die Entscheidung gefallen sein, einen Brunnen auszuführen. Zwei Monate später
23 Lichtwark, Alfred/Rathenau, Walther: Der rheinische Bismarck. Berlin 1912. 24 Brief an Hermann Schmitt, 18. 3. 1912, AGKM, GK. 616. Auch aus einem Schreiben von Edith Andreae lässt sich eine Bekanntschaft ablesen, vgl. Tiesenhausen, Kolbe (wie Anm. 17), S. 121. 25 Redslob an Hahn, 23. 2. 1928. DKA. 26 Schreiben des Magistrats von Berlin an Kolbe, 25. 6. 1928, AGKM. 27 Schreiben des Magistrat (wie Anm. 25), handschriftliche Notiz auf dem Brief. 28 Das Areal war zuvor ein Truppenübungsplatz gewesen, die Bodenwelle diente damals als Kugelfänger. Vgl. Rave, Paul Ortwin: Der Rathenau-Brunnen von Georg Kolbe. In: Museum der Gegenwart 1 (1931), H. IV, S. 143f.
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meldete Georg Kolbe, dass das bei ihm „in Auftrag gegebene Modell zu einem Rathenau-Brunnen“ fertig sei und im Atelier besichtigt werden könne.²⁹ Am 1. Oktober 1928 besuchte Böss das Atelier des Künstlers, danach ließ dieser dem Oberbürgermeister eine Sendung zukommen, bestehend „aus einem Gipsmodell des Brunnens, 2 Fotos desselben, 1 Foto des Tores sowie eine perspektivische Darstellung“.³⁰ Böss bestätigte Kolbe umgehend, „ihren Entwürfen zu einem Rathenau-Hain mit Brunnen für den Volkspark Rehberge und Ihrem Kostenvoranschlag vom 5. 10. 28, abschliessend mit 102.600 RM, stimme ich persönlich zu. Hoffentlich finde ich auch die Zustimmung der Kunstdeputation hierzu, um deren beschleunigte Anhörung ich mich bemühen werde.“³¹ Dort schloss man sich offensichtlich dem Votum von Böss nicht an. Kolbe berichtete später: Ganz verdutzt war die Berliner Kunstdeputation (einige 30 Männer und Frauen), als sie zur Entscheidung über meinen Entwurf zum Rathenau-Brunnen zusammentrat. Keine einzige Figur gab es da zu sehen! Somit erfolgte einstimmige Ablehnung. Es bedurfte nicht einmal der geistvollen Bemerkung eines der Wortführer, das sei ja die Steuerschraube. Immerhin, Schlußpunkt mit Lachsalve. Der Kolbe soll uns doch ein paar schöne Figuren dahin setzen! Daß dies Modell ein Formgebilde darstellte, sah keiner. Genug es war keine Figur.³²
Anders als der Oberbürgermeister und vermutlich auch der Gartenbaudirektor war die Kunstdeputation, die Berlin bevorzugt mit Werken von Bildhauern der wilhelminischen Ära schmückte (Hugo Lederer war der Hauptprofiteur), nicht von der abstrakten Form für das Rathenau-Denkmal überzeugt. Kolbe ging deshalb von einer Ablehnung seines Vorschlages aus. Nachdem er Ende Februar 1929 nachfragte und einen schriftlichen Beleg der Ablehnung erbat,³³ kam jedoch wieder Bewegung in das Verfahren. Für den 16. März 1929 kündigte die Kunstdeputation „unter Führung des Herrn Oberbürgermeisters“ überraschend einen Besuch in Kolbes Atelier an.³⁴ In ihrer nächsten Sitzung beschloss sie, „zwar grundsätzlich die Ausführung eines Brunnens, […], doch konnte auf Grund der vorgelegten zeichnerischen Entwürfe eine Entscheidung darüber noch nicht getroffen werden, ob die einfache Form oder die Spiralform zu wählen sei.“³⁵
29 Kolbe an Böss, 25. 8. 19, Durchschlag, AGKM. 30 Kolbe an Böss, 5. 10. 1928, Durchschlag, AGKM. 31 Böss an Kolbe, 11. 10. 1928, AGKM. 32 Kolbe, Georg: Randbemerkungen zur Entstehung meines Rathenau-Brunnens. In: Museum der Gegenwart 1 (1931), H. IV, S. 144–146. 33 Kolbe an Böss, 21. 2. 1929, Durchschlag AGKM. 34 Schreiben vom 9. 3. 1929, AGKM. 35 Schreiben an Kolbe vom 4. 4. 1929, AGKM.
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Abb. 6: Georg Kolbe: Gipsmodelle für den Rathenau-Brunnen in Spiralform und für die Treppenanlage, 1928/29, Fotomontage mit Bleistiftzeichnung
Der Bildhauer, der anfangs nur einen Entwurf präsentiert hatte, muss also in der Zwischenzeit Alternativvorschläge ausgearbeitet und ins Gespräch gebracht haben. In Entwurfszeichnungen³⁶ sowie Fotografien von vier verschiedenen plastischen Brunnenmodellen lässt sich eine breite Entwurfstätigkeit nachvollziehen. Kolbes präferiertes Projekt war jedoch der Brunnen in Spiralform. Kolbe hatte allerdings nicht nur einen Brunnen vorgeschlagen, sondern einen „Rathenau-Hain mit Brunnen“, den man durch ein Tor in einfachen architektonischen Formen betreten hätte. Mit dieser Idee scheint er in der Kunstdeputation erst recht nicht angekommen zu sein. Er berichtete: Noch naiver von mir, auch den Entwurf zu einem Tore einzureichen. Es bestand nämlich die Absicht, eine schon vorhandene Allee auf einem Bergrücken als „RathenauHain“ auszugestalten. Das Tor sollte am Anfang, der Brunnen am Ende stehen. Ein Bildhauer und eine reine Architektur? Das war ausgeschlossen, das begriff sogar der edelste Laie. Also weg damit!³⁷
Dieser architektonische Beginn, hätte die Rathenau-Ehrung erheblich aufgewertet. Ganz aufgegeben hat Kolbe das Gesamtprojekt aber auch nach der Brunnenein-
36 Georg-Kolbe-Museum, Z 392–395, 546–554, 559–560. 37 Kolbe, Randbemerkungen (wie Anm. 31).
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Abb. 7: Georg Kolbe: Bildnisrelief Walther Rathenau, 1930, Bronze 1933 zerstört
weihung nicht; denn 1931 veröffentlichte er eine Fotomontage, die den ausgeführten Brunnen und die hinführende Allee mit dem Gipsmodell des Tores verband.³⁸ Eine Entwurfszeichnung zeigt wohl eine erste Idee: Zwei Porträtbüsten sind vor den seitlichen Pfeilern des Tores aufgestellt.³⁹ Stattdessen wurden Porträts in Reliefform in die Seitenpfeiler der Treppenanlage, die zum Brunnen hinaufführt, eingeplant und so auch ausgeführt. Vorlagen für die Bildnisse stelle Edwin Redslob aus der Rathenau-Gesellschaft bereit.⁴⁰ Nachweislich bemühte sich Kolbe, Mitglieder der Kunstdeputation für sein Projekt einzunehmen. Dem Maler Hans Baluschek schrieb er: „Obwohl ich weiss, dass Sie für den ersten Entwurf mit dem Spiralemotiv nicht viel übrig haben, möchte ich es nicht unterlassen, Ihnen zu sagen – wie viel mehr er mir am Herzen liegt als der Zweite – Ich meine, dass er für den Park mindestens keine Verschandelung selbst in den Augen der Gegner, bedeuten würde.“⁴¹ Die diskutierte Alter-
38 Kolbe, Randbemerkungen (wie Anm. 31). 39 Georg-Kolbe-Museum, Z 355. 40 Redslob an Kolbe, 19. 12. 1929, AGKM. 41 29. 4. 1929, Durchschlag, AGKM. Am gleichen Tag ging ein ähnlicher Brief an den Baustadtrat Ludwig Hoffmann.
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native war offensichtlich eine ganz einfache, traditionelle Brunnenform, der jegliche inhaltliche Aussage gefehlt hätte. Die Schwierigkeiten, sich zwischen Auftraggeber und Künstler zu einigen, waren in jener Zeit, als keine Normen für die Gestaltung von Denkmälern mehr galten, größer geworden. Sie waren bei sämtlichen der hier vorgestellten Projekte virulent. Kolbe brachte in einem Schreiben an Edwin Redslob das Problem im Hinblick auf den Rathenau-Brunnen zum Ausdruck: „Sicherlich darf sich jeder Besteller für sein Geld anschaffen, was ihm gefällt. Leider weiss er aber selten was er will, und deshalb geht es ans Rätselraten. Wilhelm II. wusste wenigstens ganz genau, was er wollte.“⁴² Beim Rathenau-Projekt musste zwar auf das Tor und somit die Abgrenzung eines Rathenau-Hains, verzichtet werden, doch den Spiralbrunnen und die Treppenanlage konnte Kolbe realisieren. Der Vertrag für die Ausführung wurde am 30. 11. 1929 abgeschlossen; wegen der kalten Jahreszeit zu spät, um unmittelbar mit den Arbeiten zu beginnen. Selbst die Vergrößerung des Gipsmodells, die in der Gießerei Noack vorgenommen werden sollte, konnte wegen des großen Formates nur im Freien durchgeführt werden.⁴³ Für den Bildhauer war die Vorbereitung auch deshalb schwierig; weil der Entwurf, der ihm „am Herzen“ lag, eine geometrische Form hatte. Anders als bei seiner Figurenbildhauerei war er auf Unterstützung angewiesen. Andreas Moritz, ein junger Freund, Student der Bildhauerei, der aber eine Lehre als Werkzeugmacher und ein Maschinenbaustudium hinter sich hatte, war fähig, die Form der Spirale zu errechnen und die Ausführung des großen Gipsmodells zu leiten. Moritz wurde später ein berühmter Silberschmied.⁴⁴ Die Realisierung des Brunnens zog sich schließlich bis zum Herbst 1930 hin, was Probleme mit sich brachte. Der Vertrag war nämlich auf der Grundlage von Kostenvoranschlägen aus dem Jahr 1928 geschlossen worden. Nicht nur der Künstler, auch der Bronzegießer kam nicht auf seine Kosten. Hermann Noack beschwerte sich schon im Dezember 1929, dass „die Löhne um ca. 7 %, die Metalle um ca. 21 % gestiegen“ seien.⁴⁵ Die Fertigstellung des großen Brunnens von 4 m Höhe und 6,65 m Durchmesser konnte nur durch den besonderen Einsatz aller
42 Brief vom 5. 2. 1929, DKA. 43 Am 30. 8. 1929 hatte Kolbe um eine baldige Auftragserteilung gebeten: „Es würde mir daran liegen, das grosse Model noch vor Beginn der kalten Jahreszeit fertigstellen zu können, da es seiner Größe wegen, im Freien aufgebaut werden muss. Auch für die Preisbildung ist diese endlose Verzögerung höchst schwierig.“ Durchschlag, AGKM. 44 Moritz, Andreas: Silber- und Goldschmiedearbeiten 1925 bis 1971, Ausstellungskatalog, Kunstgewerbemuseum Berlin 1971 . 45 Noack an Kolbe, 17. 12. 1929, AGKM.
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Abb. 8: Aufbau des Rathenau-Brunnens Herbst 1930, am rechten Rand: Georg Kolbe und Andreas Moritz
Beteiligten erreicht werden.⁴⁶ Eine Fotografie vom Aufbau des Brunnens zeigt die gewaltigen Dimensionen des Bronzebildwerks im Vergleich mit zwei kleinen Menschengestalten rechts; es sind die Schöpfer des Werkes, Georg Kolbe und Andreas Moritz. Am Anfang dieses Aufsatzes wurde aus dem positiv gestimmten Bericht von der Einweihung aus dem Berliner Tageblatt zitiert. Ganz anders begann Karl Jakob Hirsch seinen Artikel in der linksliberalen Wochenschrift Das Tagebuch: Schlechtes Wetter für die Kunst in diesem Herbst 1930! Besonders an einem rauhen und stürmischen Oktobertage bleibt das offizielle Berlin gern hinter dem warmen Ofen und träumt von besseren Zeiten. In Abwesenheit von Staatsvertretern und Prominenz vollzog sich am 27. Oktober die Übernahme des Rathenau-Brunnens im Volkspark Rehberge durch die Stadt Berlin. In aller Stille wurde ein Denkmal der Öffentlichkeit übergeben, das Anspruch darauf hat, beachtet und gesehen zu werden.⁴⁷
46 Zwischenzeitlich wurde überlegt, aus finanziellen Gründen auf die Treppenanlage mit den Porträtreliefs zu verzichten, was abgewendet werden konnte. 47 Hirsch, Karl Jakob: Der Rathenau-Brunnen. In: Das Tagebuch (1. 11. 1930).
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Insgesamt war die Resonanz auf die Vorstellung des neuen Denkmals verhalten. Das war nicht verwunderlich, denn auch bei dem schließlich realisierten Rathenau-Denkmal in Berlin, war man, wie bei den früheren Projekten, nur halbherzig vorgegangen. Offensichtlich gab es vorab keine Presseinformationen. Erst in den letzten Septembertagen, als der Bronzebrunnen schon aufgebaut war, begann die Berichterstattung in der Presse, anfangs lediglich durch ein Foto mit Bildunterschrift. Ab Mitte Oktober erschienen kurze Artikel.⁴⁸ Wahrscheinlich hüllte man sich deshalb so lange wie möglich in Schweigen, um nicht im Voraus antisemitische und antidemokratische Gegenreaktionen hervorzurufen. Auch bei den früheren Projekten hatte jeweils Geheimhaltung gegolten. Der Spitzname „Steuerschraube“, der innerhalb der Kunstdeputation erfunden worden war, machte schnell die Runde. So wurde „Berlins neuestes Denkmal“ in Gedichtform als Steuerschraube verhöhnt.⁴⁹ Die Berliner Morgenpost wusste zu berichten: Niemand wird ruhige Spaziergänger durch den Anblick der „Steuerschraube“ reizen wollen. Darum wollte das Bezirksamt diesen Brunnen gar nicht. Es soll sehr scharfe Auseinandersetzungen zwischen Bezirk und Zentrale gegeben haben. Sicher hätte ein Erholungshäuschen besser in den Park gepasst. Aber der Oberbürgermeister Böß wollte nun einmal die „Steuerschraube“ den Berlinern in natura zeigen, und so musste der Wedding sich fügen.⁵⁰
Hinter der Aufregung über die „Steuerschraube“ trat anfangs die eigentliche Widmung des Brunnens an Emil und Walther Rathenau zurück. Damit war zuerst einmal ein Kalkül aufgegangen. Schon bei den Verhandlungen mit Hermann Hahn hatte man nämlich argumentiert: „Es ist sogar Auffassung derer, die sich für das Zustandekommen des Rathenau-Parks interessieren, daß die persönlichen Dinge, welche den Namen betreffen, möglichst zurücktreten sollen.“⁵¹ Man wollte also ein Rathenau-Denkmal, dem man möglichst wenig ansehen sollte, wem es gewidmet war. Noch unverfänglicher als eine Symbolfigur musste ein Brunnen erscheinen, den sich die Kunstdeputation am liebsten ganz schlicht gewünscht hätte. Die Nationalsozialisten jedoch hatten die Widmung an Rathenau keineswegs übersehen und sie schlugen wenige Wochen nach der Einweihung zu: Der Brunnen und die Porträtreliefs wurden beschmiert. Ein Foto dokumentiert die
48 Da Kolbe einen Ausschnittdienst beauftragt hatte, dürften die Zeitungsausschnitte im AGKM ein getreues Abbild der Presseresonanz geben. 49 Deutsche Zeitung (30. 10. 1930), AGKM. 50 Berliner Morgenpost (5. 11. 1930). 51 DKA.
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Abb. 9: Beschmierung des Rathenau-Brunnens, 1930
Aufschrift: „Der Judenrepublik gewidmet“, damit kamen sowohl die antisemitische als auch die antidemokratische Stoßrichtung zum Ausdruck. (Abb. 9) Darüber berichtete der sozialdemokratische Vorwärts: In der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag ist der Rathenau-Brunnen im Volkspark Rehberge in übelster Weise beschmutzt worden. Gemeines Gesindel hat das Denkmal beschmiert. Als Visitenkarte prangten Stahlhelm, Hakenkreuz und „Front Heil“. Auch die Reliefs von Emil und Walther Rathenau wurden besudelt. Das ist der Geist des dritten Reiches! Das deutsche Volk wird diesen Elenden einmal tüchtig auf die schmierigen Finger klopfen müssen.⁵²
Dass der „Geist des dritten Reiches“ den Brunnen nicht unbehelligt stehen lassen würde, war zu erwarten. Im Juli 1934 bat das Bezirksamt Wedding um die „Beseitigung des früheren Rathenaubrunnens [...], da die Weiterbelassung des Brunnens für die Zukunft eine große politische Belastung darstellt.“ Der Spitzname „Steuerschraube“ wurde als Grund für das Gesuch angegeben, aber auch, dass die „N.S.D.A.P. beabsichtigt, den Volkspark Rehberge immer mehr für politische Aufmärsche und Kundgebungen heranzuziehen“. Kolbe erhielt Kopien vom Brief-
52 Vorwärts (20. 11. 1930).
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wechsel zwischen dem Bezirk und dem Oberbürgermeister vom Juli 1934,⁵³ die er an einen Mitarbeiter im Kultusministerium weiterleitete. Über diesen Umweg wurde ihm zugesichert, dass die Demontage fachmännisch vorgenommen werde und zwar durch die Bildgießerei Noack, die den Brunnen montiert hatte. „Sobald die wirtschaftlichen Verhältnisse sich etwas gebessert haben, wird die Stadt versuchen, den Brunnen in einem anderen Verwaltungsbezirk aufzustellen.“⁵⁴ Davon konnte jedoch nicht die Rede sein. Einige Monate später berichtete ein Zeuge dem Bildhauer: Es dürfte Sie interessieren, dass der von Ihnen geschaffene […] Rathenau-Brunnen nicht mehr existiert. Nachdem kurz nach der Machtübernahme beide Porträtreliefs gewaltsam entfernt worden waren – sie sollen irgendwo als „Andenken“ in Vorratung liegen – ist vor kurzer Zeit von einem Schlosser des Gartenamtes Wedding [der Brunnen] auseinandergenommen worden. Auf einem Depotplatz dieser Dienststelle lagert nun der Brunnen in seinen einzelnen Teilen, einer ungewissen Zukunft entgegengehend.⁵⁵
Einige Jahre später wurden die Teile eingeschmolzen, um die Bronze für einen Nachguss des Schiller-Denkmals von Reinhold Begas zu nutzen. In der Presse las man dazu 1941: „Das Material hierfür besaß die Reichshauptstadt von einem Bildwerk, das ein expressionistischer Bildhauer in der Systemzeit auf der Terrasse des Volksparks Rehberge in Form einer Spirale, im Volksmund ,Die Steuerschraube‘ genannt, hergestellt hatte.“⁵⁶ Natürlich war sich Kolbe darüber im Klaren, dass die Vernichtung des Rathenau-Brunnens in erster Linie gegen den Juden Rathenau ging, doch fühlte er sich als Künstler ebenfalls betroffen, zumal damals auch andere seiner Werke im öffentlichen Raum „weggeräumt“ wurden und ihm gerade diese Arbeit, für die er zwei Jahre lang gekämpft hatte, besonders „am Herzen“ gelegen hatte. Als er von der Demontage erfuhr, notierte er u. a.; „Die Sache ist doch letzten Endes so, daß Euch Ochsenbrunnen an und für sich besser gefallen. Also – man baue Ochsenbrunnen, die bleiben ewig gültig.“⁵⁷ Im Volkspark Rehberge war die Treppenanlage mit den beschädigten Pfeilern bis in die 1970er-Jahre unverändert erhalten geblieben. Eine Rekonstruktion des Brunnens wurde seit 1956 erwogen. Die Vorstöße in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren verliefen im Sand, obwohl zwischenzeitlich eine Spende der AEG von 50.000 DM eingegangen war, die man dann aber für die Einrichtung des Walther-
53 Kopien von Schreiben und Aktennotizen vom Juli 1934, AGKM. 54 Hans-Werner von Oppen an Kolbe, 1934, AGKM. 55 Erich Bode an Kolbe, 8. 1. 1935, AGKM, GK. 59. 56 Zeitungsausschnitt, von Kolbe beschriftet: „Lokalanzeiger März 41“, AGKM. 57 Tiesenhausen, Kolbe (wie Anm. 17), S. 142.
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Rathenau-Saales im Rathaus Wedding verbrauchte. Erst der vierte Versuch in den 1980er-Jahren hatte Erfolg. Im Zusammenhang mit der 750-Jahr-Feier Berlins wurden von dem Bildhauer Harald Haacke ein neues großes Gipsmodell und die Reliefbildnisse aufgrund von Fotovorlagen nachgeschaffen. Den Bronzeguss übernahm erneut die Bildgießerei Hermann Noack. Am 9. Juli 1987 fand die Einweihung statt. Leider konnte sich der Bezirk in den letzten Jahren ein Funktionieren der Wassertechnik nicht mehr leisten. Der Brunnen steht somit im Trockenen. Doch nicht nur seine Form, sondern auch die Wasserzirkulation war für Bedeutung dieses eindrucksvollen Kunstwerkes ausschlaggebend. Dies stellte zum Beispiel die zeitgenössische Besprechung im Tagebuch heraus: Kolbe hat dem Gedächtnis zweier großer Männer, die schufen und wirkten, die sich erfüllten, auf so verschiedenen Ebenen des Seins ein Denkmal geschaffen, das von dem üblichen Erinnerungspathos, von jeder Denkmaligkeit, weit entfernt ist. Das sich ewig erneuernde fruchtbare Leben der Schöpfung ist in diesem Gleichnis aus Bronze und Wasser heiter und sinnvoll dargestellt worden.⁵⁸
58 Hirsch, Karl Jakob: Der Rathenau-Brunnen. In: Das Tagebuch (1. 11. 1930).
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„Wie lange noch, o Catilina? ...“ Joseph Roths Reportagen über den Prozess „gegen die in die Mordaffäre Rathenaus verwickelten Personen“*
Literatur und Zeitung „3 Tage lang“¹ hat Joseph Roth sich nach eigenem Bekunden (und am Ende erfolgreich) dafür verwendet, dass der mit ihm befreundete Bernard von Brentano in die Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Zeitung aufgenommen wird. Wie Roth von Karl Otten erfahren haben will, bringe Brentano diesem Erfolg zunächst allerdings wenig Begeisterung entgegen, er sei vielmehr „unglücklich und nicht gewillt, für die F. Z. zu schreiben“.² Roth könne deshalb, wie er sich, ein wenig irritiert an Brentano wendet, nicht glauben: 1) daß Sie diese unerhört günstige Gelegenheit sich verscherzen wollen. 2) daß Sie wirklich glauben, kein Feuilleton schreiben zu können. 3) daß Sie diese Unfähigkeit mit ihrer Arbeit am Roman erklären.³
Der Brief schließt mit einer häufig zitierten Bemerkung, die ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen machen möchte: „Hat Ihnen ein Verschmockter eingeredet, die ‚Zeitung‘ wäre eines Dichters unwürdig? Oder Sie der Zeitung? Oder das ‚Feuilleton‘ weniger als ein ‚Roman‘?“⁴ Was Roth anspricht, die divergierende Bewertung von Feuilleton und Roman, von journalistischem und literarischem Schreiben, ist, wie schon ein flüchtiger Blick in die 1922 im Handel befindlichen literaturgeschichtlichen Titel deutlich werden lässt, zu dieser Zeit zwar gängige Münze, doch bedarf es neuerdings offenbar wieder einer Bekräftigung der Differenz, einer „schärfere[n] Unterscheidung […] zwischen Schreiber- und Schriftstellerei“.⁵ „Man
* Zuerst veröffentlicht in: Schriftenreihe der Internationalen Joseph Roth Gesellschaft in Wien 3 (2013), S. 5–22. 1 Joseph Roth an Bernard von Brentano, 7. 5. 1924. In: Joseph Roth. Briefe 1911–1939, herausgegeben und eingeleitet von Hermann Kesten. Köln/Berlin 1970, S. 41–42, hier: S. 42. 2 Roth an Brentano, in: Briefe (wie Anm. 1), S. 41. 3 Roth an Brentano, in: Briefe (wie Anm. 1), S. 41. 4 Roth an Brentano, in: Briefe (wie Anm. 1), S. 42. 5 Seidl, Arthur: Über eine ganz neue Art von „Kritik“. In: Almanach der deutschen Musikbücherei auf das Jahr 1921, S. 91–112, hier: S. 92.
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verwechselt heute“ nämlich gerne, so unterrichtet 1920 der renommierte Literaturhistoriker Albert Soergel, „kunst […] mit berichterstatterei“, „(literatur) mit […] (reportage)“.⁶ Worauf diese Verwechselung zurückzuführen sei, ist einer 1922 veröffentlichten Abhandlung über die „Deutsche Erzählkunst“ des Publizisten und Dichters Hans Franck zu entnehmen: Sinn jeder Dichtung ist es nicht: zu exemplifizieren, sondern: zu mythisieren. Nicht um das Zeitliche, sondern um das Überzeitliche in dem – ach! – nur zu zeitlichen Geschehen seiner Tage geht es dem Dichter. Das Neue, Neuste und Allerneuste, das morgen schon das Veraltete, übermorgen das Belächelte ist, zu betrachten und abzuschildern, ist Sache des Publizisten, des Schriftstellers, nicht des Dichters. Mag der Publizist, der Schriftsteller sich auch noch so anmaßend als Dichter gebärden, mag er auch vielhundertseitige Romane, ja ganze Romanreihen zusammendiktieren, mag er auch in Zeitungen und Zeitschriften als der Messias unserer Erzählkunst gerühmt, bei ästhetischen Tees und in Literarischen Gesellschaften gefeiert, auf Universitäten und in Seminaren seziert werden – alles dies kann und darf nicht darüber wegtäuschen, daß er sich nicht wesenhaft, sondern nur graduell von seinem Kollegen für die Droschkensturzrubrik unterscheidet. Denn er schafft nicht Kunst, er treibt geistige Reportage, wenn auch in allerverfeinertster Form geübt. Reportage aber ist (trotzdem mehr als 90 % unserer heutigen Romanschreiber sie ausüben) dem Wesen des Dichters diametral entgegengesetzt.⁷
In den Augen Roths wäre dieser Sachverhalt 1922 kaum weiter verdrießlich, da er als Dichter von einigen lyrischen und Prosa-Versuchen⁸ abgesehen, nicht nennenswert in Erscheinung getreten war. Seine Meriten liegen bis zu diesem Zeitpunkt im Bereich des Feuilletons und der Reportage.⁹ Als er im Mai 1924 indes auf Bernard von Brentano einzuwirken, ihn zur Mitarbeit an der Frankfurter Zeitung zu bewegen sucht, liegen die Dinge schon ein wenig anders: Im Herbst 1923 nämlich wurde, im Übrigen nicht in Buchform, sondern als Fortsetzungsdruck in der Wiener Arbeiter-Zeitung, sein erster Roman Das Spinnennetz, veröffentlicht, wenig später, Anfang 1924, wiederum in Fortsetzungen, diesmal aber in
6 Soergel, Albert: Die deutsche Dichtung der letzten 30 Jahre: Leitsätze und Streitsätze, Wege und Ziele. Langensalz 1920 [= Quellenbücher der Volkshochschule], S. 9. 7 Franck, Hans: Deutsche Erzählkunst. Trier 1922, S. 79–80. 8 Die Werk-Ausgabe zählt Joseph Roths „Der Vorzugsschüler“ (1916), „Barbara“ (1918) und „Karriere“ (1920) zu den literarischen Beiträgen. Vgl. Roth, Joseph: Werke IV. Romane und Erzählungen 1916–1929. Hrsg. von Fritz Hackert. Köln/Amsterdam 1989, S. 1–13, 14–22 u. 23–29. Lyrische Versuche Roths und kleinere Prosa verzeichnet Siegel, Rainer-Joachim: Joseph RothBibliographie. Morsum/Sylt 1995, Abschnitt E, S. 72–190. 9 So bereits Heizmann, Jürgen: Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. Heidelberg 1990, S. VIII: „Man muß sich bewußt machen, daß Roth seinen Zeitgenossen zunächst nicht als Romancier, sondern als Journalist bekannt war.“
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der renommierten Frankfurter Zeitung, der zweite Roman Hotel Savoy und kurz darauf der dritte: Die Rebellion, ebenfalls in Fortsetzungen abgedruckt in einer Tageszeitung, im Vorwärts nämlich, dem „Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratie Deutschlands“.¹⁰ Vor diesem Hintergrund einer so bemerkenswerten und zugleich aufs Engste an den Publikationsort Zeitung gebundenen literarischen Produktivität ist das im Mai 1924 gehaltene Plädoyer Roths für eine ästhetische Wertschätzung der Zeitung und insbesondere des Feuilletons wenig verwunderlich. Bahnbrechend neu allerdings ist der von Roth vertretene Standpunkt zu dieser Zeit schon nicht mehr. Zwar steht er im Ruf, „keinen einzigen [Essay] über Fragen der Dichtung oder der Journalistik“¹¹ verfasst zu haben und „sein Leben lang der Theorie abhold“¹² gewesen zu sein, gleichwohl finden sich auch vor Mai 1924 schon Stellungnahmen für die Qualität von Zeitungsbeiträgen. Sie zielen allerdings, wie es scheint, noch nicht auf die Einebnung der Differenz von Literatur¹³ und Zeitung. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang vor allen anderen Zeitungsbeiträgen Roths der am 24. Juli 1921 im Berliner Börsen-Courier unter dem Titel „Feuilleton“¹⁴ abgedruckte. Er richtet sich gegen „die Vollbartmänner, die Ernstlinge und Würderiche“, die „das Feuilleton“ „geringschätzen“¹⁵ und sich bevorzugt „mit ewigen Dingen […] beschäftigen. Als da sind: Handel mit Strumpf- und Wirkwaren, Aufkaufen brüchiger Asbestplatten, Füllfederpatente, Pappendeckelherstellung; oder: Politik, Friedensverträge zum Beispiel, und internationale Handelsverträge; oder: Wissenschaft, Umlaute im König-Rothaarlied, Permutationen und Zusätze zu Einsteins Relativitätstheorie.“¹⁶
10 Das Spinnennetz. Roman. In: Arbeiter-Zeitung. Wien (7. 10. 1923–6. 11. 1923); Hotel Savoy. Roman. In: Prager Tagblatt (18. 11. 1923), Nr. 270, Unterhaltungs-Beilage II, sowie in: Frankfurter Zeitung (9. 2. 1924–16. 3. 1924); Die Rebellion. Roman. In: Vorwärts (20. 4. 1924), 4. Beilage, unter dem Titel „Der Häftling“, sowie in: Vorwärts (27. 7. 1924–29. 8. 1924), 1. Beilage. Ich folge den Angaben von Siegel, Roth-Bibliographie (wie Anm. 8), S. 71, 57 u. 58. 11 Aquiar de Melo, Idalina: Joseph Roths Selbstverständnis als Dichter und Journalist. In: Germanistische Mitteilungen 32 (1990), S. 41–52, hier: S. 41. 12 Aquiar de Melo, Roths Selbstverständnis (wie Anm. 11), S. 41. 13 Daß Roths „Selbstverständnis als Dichter und Journalist nur mittelbar zu erfassen ist, durch indirekte Aussagen in Briefen, Gedichten und Artikeln“, gibt auch Aquiar de Melo, Roths Selbstverständnis (wie Anm. 11), S. 41, zu bedenken. 14 Feuilleton. Von Joseph Roth. In: Berliner Börsen-Courier (24. 7. 1921), Nr. 341, Morgenausgabe, S. 56, 1. Beilage, hier: S. 5. Leichter zugänglich: Joseph Roth: Feuilleton. In: Roth, Joseph: Werke I. Das journalistische Werk 1915–1923. Hrsg. von Klaus Westermann. Köln/Amsterdam 1989, S. 616– 619, hier: S. 616. 15 Roth, Feuilleton, in: Werke I (wie Anm. 14), S. 616. 16 Roth, Feuilleton, in: Werke I (wie Anm. 14), S. 616.
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Das Feuilleton dagegen sei entstanden – erster Vorbehalt –, Roth referiert einen „Kesselpauker“, aus dem „Wunsch nach Unterhaltung, oder noch weniger: Amüsement“.¹⁷ Außerdem schlussfolgere man – zweiter Vorbehalt – „aus der angeblichen Tatsache, daß der Verfasser“ eines nur eine halbe Seite umspannenden Feuilletons wohl „nur einen kurzen Zeitraum fürs Schreiben gebraucht hat“, dass die daraus hervorgegangene „halbe Seite“ daher – gut Ding will Weile haben, heißt hier offenbar die Logik – als „Schmierage“¹⁸ zu bewerten sei. „Was hier gesagt wurde“, so schließt Roth, „ist auch ,Feuilleton‘. Deshalb hab ich das Ganze so genannt: und kann hier dennoch Wahrheiten, gültige, gesagt haben. Ich habe etwas über eine Stunde dran geschrieben.“¹⁹ Roth geht mit den Feuilletonkritikern und den von ihnen artikulierten Vorbehalten gegen die vermeintlich populäre „Gattung“²⁰ ebenso ins Gericht wie mit „schlechte[n]“²¹ Feuilletons und „entsetzliche[n] Feuilletonisten“.²² Was genau allerdings ein hochwertiges Feuilleton, einen hochwertigen Zeitungsbeitrag auszeichne, wird begrifflich nicht präzise gefasst. Es lässt sich bestenfalls ableiten – ex negativo aus den von Roth in satirischer Verzerrung referierten kritischen Stimmen und positiv aus den wenngleich nur sparsam eingestreuten Bestimmungskriterien: Das Feuilleton vermag demnach, offenbar unabhängig vom für seine Hervorbringung erforderlichen Zeitaufwand „gültige“ „Wahrheiten“²³ mitzuteilen. Es ist, dies horcht Roth dem Vorbild Heinrich Heines ab, „nicht nur amüsant, sondern eine künstlerisch große Leistung und somit eine ethische“.²⁴ „Künstlerisch“ verdient sie genannt zu werden, weil „die Tatsachen umgelogen“, weil sie nicht verzeichnungsfrei wie durch ein „optische[s] Instrument“ präsentiert werden, nicht so, wie sie sind, sondern „so, wie sie sein sollten“.²⁵ In ästhetischer Hinsicht ist dieser Entwurf Mitte der 1920er-Jahre schwerlich innovativ zu nennen, zumindest nicht in einer epochengeschichtlich ausgerichteten Perspektive. Er orientiert sich noch nicht einmal an den noch mehr oder minder aktuellen Paradigmen der Avantgarde-Bewegungen, schon gar nicht setzt er sich kritisch davon ab. Maßgeblich sind stattdessen die naturalistische Interpretation des in der Rede vom „optische[n] Instrument“ anklingenden Mimesis-
17 Roth, Feuilleton, in: Werke I (wie Anm. 14), S. 616. 18 Roth, Feuilleton, in: Werke I (wie Anm. 14), S. 617. 19 Roth, Feuilleton, in: Werke I (wie Anm. 14), S. 619. 20 Roth, Feuilleton, in: Werke I (wie Anm. 14), S. 618. 21 Roth, Feuilleton, in: Werke I (wie Anm. 14), S. 616. 22 Roth, Feuilleton, in: Werke I (wie Anm. 14), S. 618. 23 Roth, Feuilleton, in: Werke I (wie Anm. 14), S. 617. 24 Roth, Feuilleton, in: Werke I (wie Anm. 14), S. 617. 25 Roth, Feuilleton, in: Werke I (wie Anm. 14), S. 617.
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Postulats und die idealistischen Implikationen des vom bürgerlichen und vor allem vom poetischen Realismus konturierten Kunstbegriffs.²⁶ Auch gibt der Entwurf – wenn für den „Feuilleton“ überschriebenen Beitrag die Bezeichnung ‚Entwurf‘ denn überhaupt zutrifft – keine befriedigende Antwort auf die in den 1920er-Jahren so virulente Frage nach der Relation von Literatur und Reportage, von Dichter und Zeitung, von Kunst und Berichterstattung. Und doch hat sich Roth in dieser Frage positioniert – allerdings subtiler als auf dem Wege explizit-begrifflicher Bestimmung, in den ästhetischen Implikationen seiner Texte nämlich.²⁷
Der Rathenaumord, seine Verhandlung in Leipzig und Roths Reportagen Ich möchte dies an einem prominenten Beispiel demonstrieren, und zwar an einem Beispiel aus der Feder des noch nicht als Romancier in Erscheinung getretenen Vollblutjournalisten Roth, am Beispiel nämlich seiner „vielleicht beste[n] politische[n] Reportagenserie“²⁸ über den im Herbst 1922 in Leipzig geführten Prozess gegen die im Mordfall Walther Rathenau Angeklagten. Veröffentlicht wird die Serie – es sind insgesamt neun Einzelbeiträge²⁹ – vom 4. bis 13. Oktober 1922 in der Neuen Berliner Zeitung, die seit 1919 erscheint und mit dem Ergänzungstitel Das 12 Uhr Blatt auf sich aufmerksam zu machen sucht auf dem unübersichtlichen Berliner Zeitungsmarkt.³⁰ Seit Joseph Roth im Juli 1922 seine Mitarbeit am
26 Zur programmatischen Differenz zwischen Realismus und Naturalismus, vgl. z. B. Rinsum, Annemarie van und Wolfgang van: Realismus und Naturalismus. München 1994, S. 45–47 u, S. 303– 310, Meyer, Theo: Naturalistische Literaturtheorien. In: Mix, York-Gothart (Hrsg.): Naturalismus, Fin de Siècle, Expressionismus. 1890–1918. München/Wien 2000, S. 28–43, hier: S. 32–36 sowie Stöckmann, Ingo: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart/Weimar 2011, S. 47–52. 27 Zuletzt habe ich dies zu demonstrieren versucht an Roths „Hotel Savoy“, worin Roth einen literarischen Autorschaftsentwurf entwickelt; vgl. Mergenthaler, Volker: „In zeitlicher Nachbarschaft“ zur „Aufhebung des Ausnahmezustands“. Joseph Roths „Hotel Savoy“ in der „Frankfurter Zeitung“. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 13/14 (2009/2010), S. 53–73. 28 Sternburg, Wilhelm von: Joseph Roth. Eine Biographie. 2. Aufl. Köln 2009, S. 259. 29 Ein weiterer Beitrag zu den Leipziger Prozessen erscheint unter dem Titel „Die Welt mit den zwei Seiten“ am 14. Oktober 1922 im Vorwärts. Siehe: Die Welt mit den zwei Seiten. Von Joseph Roth. In: Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Morgen-Ausgabe, (14. 10. 1922), S. 2. 30 „Das Zeitungswesen ist in B[erlin]“, wie 1925 Meyers Lexikon zu entnehmen ist, „außerordentlich entwickelt. Es erscheinen in Groß-B. etwa 90 Tageszeitungen“. (Meyers Lexikon. Bd. 2. 7. Aufl.
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renommierten Berliner Börsen-Courier aufgekündigt hat und dafür vor allem das Berliner Volksblatt, den Vorwärts, beliefert, schreibt er verstärkt auch wieder für Das 12 Uhr Blatt,³¹ in dessen Auftrag er im besagten Herbst nach Leipzig reist, um von der Verhandlung vor dem Staatsgerichtshof zu berichten. Unter Anklage stehen dort dreizehn überwiegend junge Männer, die sich in der Mordsache Walther Rathenau als Mittäter und Helfershelfer verantworten sollten. Der Außenminister war am 24. Juni 1922 Opfer eines Attentats geworden. Schon „kurz danach erschienen in Berlin die ersten Extrablätter mit der amtlichen Mitteilung von dem Tode des Ministers.“³² Rathenau ermordet! Um ½12 Uhr teilte der Reichskanzler den in der Wandelhalle des Reichstags versammelten Abgeordneten mit, daß vor etwa einer halben Stunde der Außenminister Dr. Rathenau ermordet worden sei. Als Dr. Rathenau heute vormittag 11 Uhr sein Automobil vor seinem Hause in der Königsallee im Grunewald bestiegen hatte, näherte sich von der entgegengesetzten Seite ein elegantes Privatautomobil, das den Wagen des Ministers bis zur Königsallee, Ecke Wallotstraße, verfolgte. Hier überholte das Privatautomobil, in dem sich drei Leute mit dunklen Brillen befanden, das Auto des Ministers. In demselben Augenblick, als das Auto in die Wallotstraße einbog, erhob sich einer der bebrillten Leute und warf eine Handgranate in das Auto des Ministers. Die Granate explodierte. Rathenau richtete sich einen Augenblick auf und brach dann zusammen. Der Chauffeur fuhr mit dem sterbenden Minister sofort in dessen Wohnung zurück, während einige Passanten die Verfolgung des flüchtigen Automobils aufnahmen. In der Wandelhalle des Reichstags sind jetzt die deutschnationalen Abgeordneten nicht zu erblicken. Sie haben sich zurückgezogen, um den Verwünschungen und Drohungen der übrigen Abgeordneten zu entgehen. Ueber die Täter ist Näheres noch nicht bekannt.³³
Es wird eine Weile dauern, bis man weiß, dass aus dem Wagen der Attentäter nicht nur eine Handgranate geworfen, sondern zudem noch mit einer Maschinen-
Leipzig 1925, Sp. 171–188, s. v. Berlin, hier: Sp. 182). Gegen Ende der 1920er-Jahre zählt Der Große Brockhaus „einschl[ießlich] der 46 Vorortzeitungen 114“ Blätter. (Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden. Bd. 2. 15. Aufl. Leipzig 1929, S. 571–582, s. v. Berlin, hier: S. 578). 31 Vgl. hierzu Westermann, Klaus: Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere 1915–1939. Bonn 1987, S. 37–38. Der erste Beitrag Roths zum 12-Uhr-Blatt, „Chiromanten“, erscheint am 30. 6. 1920 (vgl. Werke I, S. 284–285). 32 Vgl. Sabrow, Martin: Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar. München 1994, S. 89. 33 Rathenau ermordet! In: Sonder-Ausgabe. Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (24. 6. 1922).
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pistole auf Rathenau geschossen wurde, dass die Täter der 23-jährige Jurastudent und Oberleutnant a. D. Erwin Kern und der nur drei Jahre ältere Ingenieur und Leutnant a. D. Hermann Fischer waren und dass der Wagen von Ernst Werner Techow, einem erst 20-jährigen Berliner Maschinenbaustudenten, gefahren wurde. Einige Zeit verstreicht auch, bis man Kern und Fischer auf Burg Saaleck bei Kösen stellen kann. Kern stirbt im Schusswechsel mit der Polizei, Fischer entzieht sich der Festnahme, indem er sich erschießt. In Leipzig nun standen die nach und nach dingfest gemachten Mittäter und Helfershelfer vor Gericht, wobei der Prozess auf ein enormes öffentliches Interesse stieß – enorm, weil mit Walther Rathenau ein überaus prominentes Opfer zu beklagen war, vor allem aber auch aufgrund der politischen Dimension des Attentats und des Prozesses. Rathenau, seit 31. Januar 1922 Außenminister im Kabinett des Reichskanzlers Joseph Wirth, hatte als Intellektueller, als jüdischer Repräsentant Deutschlands und Exponent der so genannten „Erfüllungspolitik“ den Hass der politischen Rechten auf sich gezogen,³⁴ derjenigen Kreise, denen das Gros der Angeklagten zuzuordnen war. Die dem Prozess entgegengebrachte Aufmerksamkeit³⁵ rührte aber auch daher, dass er vor dem Staatsgericht geführt wurde, das in den so genannten Leipziger Prozessen auf Initiative und unter Beobachtung der Siegermächte mit deutschen Kriegsverbrechen befasst war. Die Leipziger Urteile galten innen- wie außenpolitisch als Gradmesser der Stärke und Stabilität der republikanischen Kräfte, der Rathenau-Mord als wichtiger Prüfstein³⁶, und zwar weil „auch bei diesem Morde Mitglieder der Organisation C[onsul]“, einer von Hermann Ehrhardt ins Leben gerufenen deutschnationalen Terrorvereinigung, „ihre Hand im Spiele gehabt hatten. Nicht nur Fischer und Kern, sondern auch ihre Helfershelfer waren zum größten Teil Mitglieder der Organisation.“³⁷ Die politisch interessierte Öffentlichkeit war also gespannt auf das Urteil des höchsten Reichsgerichts, ob es in den Augen der Justiz als erwiesen gilt, dass Walther Rathenau tatsächlich „dem Komplott einer Hintergrundorganisation zum Opfer gefallen war“, oder eben nur „rechtsradikalen Einzeltätern“.³⁸ Der hohe Stellen-
34 Vgl. hierzu Peukert, Detlev J. K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt a. M. 1987, S. 82, sowie Sabrow, Rathenaumord (wie Anm. 32), S. 86. 35 Die Frankfurter Zeitung spricht z. B. vom „mit Spannung erwartete[n] Prozeß gegen die Teilnehmer an der Ermordung Rathenaus“; Frankfurter Zeitung (2. 10. 1922), Morgenblatt, S. 2. 36 Vgl. Sabrow, Rathenaumord (wie Anm. 32), S. 104. 37 Die fünfzehn Verschworenen. Der Beginn des Rathenau-Mörder-Prozesses. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt (2. 10. 1922), S. 1. 38 Sabrow, Rathenaumord (wie Anm. 32), S. 114. Sabrow macht deutlich, dass diese Frage bereits im Vorfeld der Verhandlung, und zwar auf höchster Ebene, kontrovers diskutiert worden ist: „Ursprünglich hatte Oberreichsanwalt Ebermayer sogar noch erheblich weitergehen und seine
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Abb. 1a: Berliner Illustrirte Zeitung
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Abb. 1b: Berliner Illustrirte Zeitung
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wert des Ereignisses ist unschwer an seinem Medienecho abzulesen. Die Berliner Illustrierte Zeitung etwa hatte – um ein prägnantes Beispiel zu geben – fast zwei Seiten für Kurzberichte, Fotografien der Beteiligten und Skizzen aus dem Prozess zur Verfügung gestellt und dies zu Zeiten knappen und teuren Papiers.³⁹ „Etwa 60 in- und ausländische Pressevertreter sind“ nach der Zählung der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Leipzig „erschienen“.⁴⁰ Sie „sitzen“ – unter ihnen, wie man annehmen darf, Joseph Roth – „zwischen den Plätzen der dreizehn Angeklagten und ihren zahlreichen Verteidigern“ an den „eng besetzten Tische[n] der Presse“.⁴¹ Roth nun bezieht – flüchtig besehen – nicht nennenswert Stellung in der Frage, ob man es mit dem Versuch eines Staatsstreichs zu tun habe oder nur mit einem Gewaltverbrechen. Er spricht den meisten Angeklagten Intellekt oder Reife, mehrfach auch beides ab: „Ihre Gesichter“ beschreibt er als „bartlos und ohne Geist“, mit „Nasen, die unreif in die Höhe zielen, typische Primanernasen“.⁴² Ernst Werner Techow wirke immerhin „halbgebildet“,⁴³ seinem jüngeren Bruder bescheinigt Roth dagegen „Unfertigkeit“,⁴⁴ Richard Schütt und Franz Diestel werden als „junge Naseweise“⁴⁵ vorgestellt, Karl Tillessen zeichne sich durch „totale Unwissenheit“⁴⁶ aus, Willi Günther, der „Intellektuelle unter den Mördern“,⁴⁷ sei ein „nationalistischer Schwachkopf“ und als „geistesschwach“⁴⁸ einzustufen, in Friedrich Warnecke und Christian Ilsemann erkennt Roth „zwei
Ausführungen mit der entlastenden Feststellung einleiten wollen, daß die O.C. ‚als solche‘ nicht an dem Mord beteiligt gewesen sei. Reichsjustizminister Radbruch versuchte zu verhindern, daß auf diese Weise Ehrhardts Geheimbund schon vor der Hauptverhandlung aus der Verantwortung entlassen würde, und verlangte die Streichung dieser Ausführungen als ‚sachlich nicht überzeugend […]‘“ (S. 105). 39 Auf die Engpässe in der Papierversorgung macht z. B. aufmerksam: Großpresse und Zeitungsnot. Gegen Anzeigensteuer und Papiermangel. In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Reichsausgabe. Tägliche Rundschau (7. 10. 1922), S. 1. 40 Der Rathenau-Prozeß. Der Auftakt. In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Reichsausgabe. Tägliche Rundschau (4. 10. 1922), S. 1. 41 Der Prozeß gegen die Rathenaumörder. In: Frankfurter Zeitung (4. 10. 1922), S. 1. 42 Die Dreizehn. Von unserem Sonderberichterstatter Joseph Roth. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt (4. 10. 1922), S. 1–2, hier: S. 1 [Roth, Werke I (wie Anm. 14), S. 873]. 43 Roth, Dreizehn (wie Anm. 42), S. 1. 44 Roth, Dreizehn (wie Anm. 42), S. 1–2. 45 Roth, Dreizehn (wie Anm. 42), S. 2. 46 Die Pistole. Von unserem Sonderberichterstatter Joseph Roth. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt (5. 10. 1922), S. 2 [Roth, Werke I (wie Anm. 14), S. 875]. 47 Roth, Dreizehn (wie Anm. 42), S. 1. 48 „Jawoll, Herr Präsident.“ Von unserem Sonderberichterstatter Joseph Roth. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt (6. 10. 1922), S. 1–2, hier: S. 1 [Roth, Werke I (wie Anm. 14), S. 876].
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Jüngelchen“,⁴⁹ Heinz Stubenrauch schließlich stellt er als „achtzehnjährig“ vor, „mit rundem Gesichtchen, sauber gescheiteltem Haar, gut genähtem Anzug, mit einem wichtigtuerischen Säuglingsausdruck in den Augen“.⁵⁰ „Der arme Kleine“⁵¹ blicke „mit dem beleidigten Stolz des Prüflings, dem bitteres Unrecht geschehen, […] zu seine[m] Pubertätsgenossen“⁵² Theodor Brüdigam. „Man hat den Eindruck, daß er jetzt, wenn der Herr Lehrer der Klasse den Rücken dreht, die Zunge herausstreckt“.⁵³ Eine wissentliche Beteiligung an einer groß angelegten Verschwörung, an einem Staatsstreich – wie sonst sollten diese knappen Charakterskizzen zu verstehen sein – ist diesem Personal schwerlich zuzutrauen. Mehrfach kommt zwar die Sprache auf die „Organisation Consul“,⁵⁴ doch entpuppt sich das Warten auf die Enthüllung der groß angelegten Verschwörung als notorisch von Ausgabe zu Ausgabe weitergeführter Aufschub. Im Bericht über den dritten Verhandlungstag kündigt Roth den vierten als „große[n] Tag“ an, weil „die Vernehmung der […] Zeugen über die Geheimnisse der Organisation C.“⁵⁵ auf der Tagesordnung stehe. Im folgenden Bericht ist neuerlich von „großer Ungeduld“ die Rede, mit der der „vom Oberreichsanwalt angekündigte Belastungszeuge der Organisation C.“ „erwartet“⁵⁶ werde; „der Saal“, schreibt Roth, und das gilt für seine Leserschaft mindestens so sehr, „harrt […] in stetiger Spannung“.⁵⁷ Drei Tage später, am 10. Oktober, ist zu lesen, dass „der Angeklagte Voß, der angebliche Sozialist unter den dreizehn, […] heute oder morgen einige Mitteilungen über die Organisation C. machen“⁵⁸ wolle. In der vorletzten Reportage findet sich eine letzte Spur.
49 Roth, Präsident (wie Anm. 48), S. 1. 50 Die Frau und der Koffer. Von unserem Sonderberichterstatter Joseph Roth. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt (11. 10. 1922), S. 1–2, hier: S. 1 [Roth, Werke I (wie Anm. 14), S. 883]. 51 Roth, Frau (wie Anm. 50), S. 1. 52 Roth, Frau (wie Anm. 50), S. 1. 53 Roth, Frau (wie Anm. 50), S. 1. 54 Roth, Pistole (wie Anm. 46), S. 2, sowie Roth, Präsident (wie Anm. 48), S. 2, Der Prozeß der Geheimnisse. Von unserem Sonderberichterstatter Joseph Roth. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt (7. 10. 1922), S. 1–2, hier: S. 2 [Roth, Werke I (wie Anm. 14), S. 878], Die Zeugen. Von unserem Sonderberichterstatter Joseph Roth. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt (10. 10. 1922), S. 1–2, hier: S. 1 [Roth, Werke I (wie Anm. 14), S. 882], und schließlich, in diesem Fall ist nur noch von „Organisationen“ die Rede: Der Oberreichsanwalt spricht. Von unserem Sonderberichterstatter Joseph Roth. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt (12. 10. 1922), S. 2 [Roth, Werke I (wie Anm. 14), S. 886]. 55 Roth, Präsident (wie Anm. 48), S. 2. 56 Roth, Prozeß (wie Anm. 54), S. 2. 57 Roth, Prozeß (wie Anm. 54), S. 2. 58 Roth, Zeugen (wie Anm. 54), S. 1.
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Roth referiert den Oberreichsanwalt: „Die ersten Sätze handelten von den Organisationen, von der politischen Bedeutung des Prozesses“, die letzten allerdings attestieren einem Angeklagten „Verworfenheit und Prahlsucht, Lug und niedrige Gesinnung“ und sie attackieren die „nationale Presse“, „die täglich den unreifen Köpfen ihren verderblichen Unsinn vorkaue“.⁵⁹ In diesem Licht erscheint das Attentat nicht als Bestandteil einer umfassenden Verschwörung, sondern als ruchloser Anschlag unreifer, von der falschen Ideologie infizierter Wirrköpfe. Legte man den Maßstab eines jüngst erst veröffentlichten Beitrags zur Roth-Forschung an die Leipziger Gerichtsreportagen an, so verdiente die Serie kaum weitere Beachtung⁶⁰ und zielte vor allem auf eines: auf das „Zeilenhonorar“.⁶¹ „Die Hintergründe der Verschwörung gegen Rathenau durch die NS Organisation Consul“, so liest man dort, historisch ungenau übrigens, „deckt Roth in seinem Artikel dabei nicht auf. Er ist kein Mann der Recherche, sondern des psychologischen Portraits“.⁶² Fraglos, Zeilenhonorar dürften die Reportagen über die Leipziger Verhandlung auch eingetragen haben. Und ebenso fraglos liefern sie prägnante psychologische Porträts – der Angeklagten, ihrer Verteidiger, der Anklagevertretung, der Gerichtsbediensteten, einzelner Zuschauer, des Publikums insgesamt. Sie leisten zugleich aber, wie ich zeigen möchte, mehr, und zwar in zweierlei Hinsicht, in politischer wie in ästhetischpoetologischer.
59 Roth, Oberreichsanwalt (wie Anm. 54), S. 2. 60 Hohen Stellenwert für die Entwicklung Roths räumt ihr dagegen Fritz Hackert ein: Er liest die Gerichtsreportagen als Bausteine der Politisierung Roths, seines politischen Linksrucks: „Den spektakulären Prozeß zur Ermordung von Walther Rathenau beobachtete und beschrieb Roth im Reichsgericht in Leipzig als Sonderberichterstatter der Neuen Berliner Zeitung. Ist die These abwegig, daß unter dem Eindruck der Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht oder der Erschießung von Arbeitern im Kapp-Putsch der radikale Linksruck durch Roths Schreibe ging, der sich weniger im Vorwärts zeigte als in seinen Beiträgen zu der ,republikanisch-satirischen Wochenschrift‘ Der Drache und dem ,republikanischen Witzblatt‘ Lachen links?“ Siehe: Hackert, Fritz: „Der fleißige Chroniker kriminalistischer Ereignisse“. Die Gerichtsreportagen Joseph Roths. In: Eicher, Thomas (Hrsg.): Joseph Roth und die Reportage. Heidelberg 2010, S. 69–80, hier: S. 77. 61 „Eine der über zwanzig Tageszeitungen dort [in Berlin] war die Neue Berliner Zeitung, eine Nachkriegsgründung linker Tendenz, die sich ab 1922 als 12 Uhr Blatt mehr und mehr zu einem erfolgreichen demokratisch-republikanischen Boulevard-Blatt entwickelte. In dieser Zeitung setzte Joseph Roth seine Wiener Arbeit zunächst fort – für Zeilenhonorar.“; Westermann, Klaus: Brot und Butter. Joseph Roth – Arbeitsbedingungen eines Journalisten. In: Kessler, Michael/Hackert, Fritz (Hrsg.): Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions 1989, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Tübingen 1990, S. 395–405, hier: S. 397. 62 Oei, Bernd: Joseph Roth: der verbrannte Himmel. Metaphysik des Zweifels. Berlin 2012, S. 32.
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Politische und ästhetische Reichweite der Reportagen Politische Implikationen Ihre Bezeichnung verdankte die „Organisation Consul“ dem zeitweilig von ihrem Gründer, Hermann Ehrhardt, genutzten Decknamen „Consul Eichmann“.⁶³ Nur vier Mal kommt Roth, so hat es den Anschein, auf die Organisation zu sprechen. Jedes Mal bleibt es, wie gezeigt, bei einer knappen Andeutung, zumeist übrigens in bester Cliffhanger-Manier platziert am Ende des jeweiligen Beitrags.⁶⁴ Die Situation stellt sich indes anders dar, sobald man eine bereits in der dritten Reportage ausgelegte Spur aufnimmt: Es ist die Rede vom Staatsanwalt, vom höchsten Vertreter der Anklage, dem seit April 1921 amtierenden Oberreichsanwalt Dr. Ludwig Ebermayer:⁶⁵ „In den Falten seiner Toga schlummerte der gefährliche Vorsatz: Heute ist ein großer Tag. Die Vernehmung der von ihm geladenen Zeugen über die Geheimnisse der Organisation C.“⁶⁶ Auch 1922 heißt die Amtstracht von Richtern wie von Staatsanwälten und Verteidigern „Robe“,⁶⁷ wie es in der fünften Reportage Roths, oder „Talar“,⁶⁸ wie es gleich in der ersten sachlich richtig⁶⁹ nach-
63 Vgl. Stern, Howard: The Organisation Consul. In: The Journal of Modern History 35 (1963), H. 1, S. 20–32, hier: S. 21. 64 Am 5. 10. 1922 findet sich der Hinweis auf die „Organisation Consul“ im vorletzten Absatz, am 6. 10. 1922 schließt die Reportage mit dem Hinweis auf „die Geheimnisse der Organisation C.“, am 7. 10. ist im letzten Absatz von ihr die Rede, am 10. 10 am Ende des vorletzten Absatzes. 65 Zu Ludwig Ebermayer vgl. Staufer, Andreas Michael: Ludwig Ebermayer. Leben und Werk des höchsten Anklägers der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung seiner Tätigkeit im Medizin- und Strafrecht. Leipzig 2010, sowie Ludwig Ebermayer. In: Planitz, Hans (Hrsg.): Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Leipzig 1924, S. 25–57. 66 Roth, Präsident (wie Anm. 48), S. 2. 67 Staatsgerichts-Hofluft. Von unserem Sonderberichterstatter Joseph Roth. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt (9. 10. 1922), S. 1–2, hier: S. 2 [Roth, Werke I (wie Anm. 14), S. 881]. 68 Roth, Dreizehn (wie Anm. 42), S. 1. 69 „Seit Einführung der neuen Gerichtsordnung ist die R[obe] auch in Deutschland das Amtskleid aller richterlichen Personen, der Gerichtsschreiber, Advokaten etc.“ Siehe: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 17. 6. Aufl. Leipzig/Wien 1907, s. v. Robe, S. 26; analog: Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden. Bd. 15. Leipzig 1933, s. v. Robe, S. 785. Ebenso gebräuchlich ist der Begriff „Talar“ für das „Amtskleid […] der Gerichtspersonen“. Siehe: Meyers Großes KonversationsLexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 19. 6. Aufl. Leipzig/Wien 1908, s. v. Talar, S. 291–292, hier: S. 292; analog: Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden. Bd. 18. Leipzig 1934, s. v. Talar, S. 433. Die „Toga“ dagegen bezeichnet „das über der
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Abb. 2: Zeitgemäße Amtstracht
zulesen ist, keinesfalls aber „Toga“. Die Toga ist das Habit klassischer Römer, der Bürger und Würdenträger des römischen Reiches. Als solcher tritt Ebermayer dann wenig später, in der unter dem Titel „Der Oberreichsanwalt spricht“ lancierten achten Reportage tatsächlich in Erscheinung: Um 1 Uhr nachmittags steht der Oberreichsanwalt auf. Das dunkle Rot seines Mantels erscheint fast um einen Grad röter. Sein Haupt bedeckt das rote Barett. Sein Gesicht ist unerbittlich, seine Augen sehen geradeaus, seine Bewegungen sind knapp. Im Saal herrscht hörbares Schweigen. Stille, die man greifen könnte. Des Oberreichsanwalts Stimme schneidet sie fast.
Tunika getragene Nationalkleid der Römer im Frieden“. Siehe: Meyers Großes KonversationsLexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 19. 6. Aufl. Leipzig/Wien 1908, s. v. Toga, S. 589; analog: Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden. Bd. 18. Leipzig 1934, s. v. Toga, S. 730.
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Die Angeklagten lauschen mit vorgeneigtem Oberkörper ihrem mächtigen Ankläger. Die Verteidiger blättern in den Akten und schreiben fleißig. Sie lauern auf günstige Offensivgelegenheiten, sammeln Angriffsflächen für morgen, strategische Plädoyerpositionen. Sie graben Schützengräben der Jurisprudenz. Sie bauen Drahtzäune aus Paragraphengeflecht. Der Präsident putzt seine Brille, steckt sie ein und zieht eine andere hervor. Es ist, als verberge er die Verhandlungsbrille und lege die Zuhörerbrille an. Seine Aktivität ist diesmal beendet. Der Oberreichsanwalt spricht. Die Atemzüge der Zuhörer schleichen gleichsam auf Sohlen. Die Wachtsoldaten vergessen, daß sie abgelöst werden. Der Saaldiener steht traumverloren in einer Ecke. Er vergißt seine üblichen Kontrollblicke. Er hat seine Pflicht eingestellt. Der Oberreichsanwalt spricht. So spricht kein deutscher Staatsanwalt. So spricht ein klassischer Römer. „Wie lange noch, o Catilina? …“⁷⁰
Der „klassische Römer“, der hier auf den Plan gerufen wird, ist den Gebildeten unter den Zeitgenossen Roths⁷¹ freilich ein Begriff, vermutlich noch aus der Untersekunda:⁷² Roth zitiert die ersten Worte, die der römische Konsul Marcus Tullius Cicero 63 v. Chr. vor dem Senat an seinen dort erschienenen politischen Widersacher Lucius Sergius Catilina richtet: „Quo usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra?“ – „Wie lange noch, Catilina, wirst du unsere Geduld missbrauchen?“⁷³ Weshalb es zu dieser Ansprache kam, „eine[r] glänzende[n], dem Staatsinteresse dienende[n] Rede“,⁷⁴ war, sofern 1922 nicht ohnehin bekannt, vielerorts nachzulesen, in zahlreichen Werken der jüngeren
70 Roth, Oberreichsanwalt (wie Anm. 54), S. 2. 71 Bronsen, David: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln 1974, S. 79–80, zufolge besuchte Joseph Roth „das K. K. Kronprinz Rudolf-Gymnasium […] in Brody“. „Für die Matura wurde es den Gymnasiasten überlassen, sich für Latein oder Griechisch als Prüfungsgegenstand zu entscheiden. Roth optierte für das erstere.“ Ebd., S. 81. 72 Vgl. hierzu Lehrpläne und Lehraufgaben für die höheren Schulen in Preußen. Halle a, S. 1901. Der Lateinunterricht am Gymnasium sollte das „Verständnis der bedeutenderen klassischen Schriftsteller Roms“ (S. 23) sicherstellen. Die Fünfzehnjährigen in der Untersekunda hatten „7 Stunden wöchentlich“ Latein, wovon auf „Lektüre 4 Stunden“ entfielen. Auf dem Programm standen „Leichtere Reden Ciceros (z. B. pro Sex. Roscio, in Catilinam, de imperio Cn. Pompei)“ (S. 25). Im Realgymnasium sollte Ciceros Rede „in Catilinam“ dagegen erst in der Unter- oder Oberprima Gegenstand sein (vgl. S. 28). 73 Oratio in L. Sergium Catilinam prima, habita in senatu a. d. VI Idus Novembres anno 63 a. Chr. n. In: Ciceros Reden gegen L. Sergius Catilina. Für den Schulgebrauch erklärt von Karl Hachtmann. 9. Aufl., bearb. v. Carl Wagner. Gotha 1913, S. 7–31, hier: S. 7. 74 Sallust: De Catilinae coniuratione / Die Verschwörung des Catilina. In: Sallust. Werke und Schriften. Lateinisch – Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Wilhelm Schöne unter Mitwirkung von Werner Eisenhut. 5. Aufl. O. O. 1975, S. 53.
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Geschichtsschreibung,⁷⁵ aber auch in deren wichtigster ebenfalls zum gymnasialen Schulkanon zählenden⁷⁶ Quelle: Sallusts De coniuratione Catilinae.⁷⁷ Catilina war Statthalter der römischen Provinz Africa und aufgrund eines (nach allem, was man weiß) ausschweifenden Lebenswandels in Geldnot geraten. Zudem galt er als politisch ambitioniert – überambitioniert, wie Sallust meint.⁷⁸ Sein Ehrgeiz zielte auf das Konsulat, für das er sich aber aufgrund anhängiger Gerichtsverfahren zunächst nicht bewerben konnte. Er „verband […] sich“ deshalb, so heißt es lapidar in Meyers Großem Konversations-Lexikon, „mit jungen Männern aus allen Ständen, die unter geordneten Verhältnissen keine Aussichten hatten, um nach Ermordung der Konsuln das Konsulat an sich zu reißen und die Oligarchie zu stürzen.“⁷⁹ Ein veritabler Staatsstreich also, der das Ende der römischen Republik und die Alleinherrschaft Catilinas bedeutet hätte. Catilinas Vorhaben ist aber verraten worden, der Putschversuch missglückt. „Schließlich […] erschien [er] im Senat, um sich unwissend zu stellen oder auch sich reinzuwaschen.“⁸⁰ Auf diesen Auftritt nun reagiert die von Roth zitierte, politisch so folgenreiche Rede Ciceros. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, dass der Senat entschied, den Konsuln umfassende Vollmachten auszustellen, um die an der Verschwörung Beteiligten dingfest machen und die Ordnung im Reich wiederherstellen zu können. Diese Vollmacht ist die umfassendste, die nach der römischen Verfassung einem Beamten erteilt wird: er wird dadurch ermächtigt, ein Heer aufzustellen, Krieg zu führen, Bundesgenossen und Bürger mit allen Mitteln in Ordnung zu halten, daheim und im Felde die höchste militärische und richterliche Gewalt auszuüben; sonst steht ohne Genehmigung des Volkes keins von diesen Rechten dem Konsul zu.⁸¹
75 Zu erwähnen ist insbesondere Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. 13. Aufl. Berlin 1922, S. 183–187. Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse der Jahre 63 und 62 v. Chr. liefert Drumann, Wilhelm Karl August: Geschichte Roms in seinem Uebergange von der republikanischen zur monarchischen Verfassung, oder Pompejus, Caesar, Cicero und ihre Zeitgenossen. Bd. 5. Königsberg 1841, S. 430–577, besonders S. 458–470. 76 Für die Obersekunda wird „eine Auswahl aus Sallust“ empfohlen. Siehe: Lehrpläne und Lehraufgaben (wie Anm. 72), S. 26. 77 Sallust, Verschwörung (wie Anm. 74). Dass Sallusts Werk nur eingeschränkt historisch zuverlässig genannt werden kann und möglicherweise eine politische Tendenz verfolgt, spielt für die Überlieferung der Verschwörung Catilinas ins 20. Jahrhundert eine nachgeordnete Rolle. Im VorVordergrund steht in meiner Argumentation der Aspekt der Verbreitung des historischen Wissens. 78 Vgl. Sallust, Verschwörung (wie Anm. 74), S. 12–13. 79 Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 3. 6. Aufl. Leipzig/Wien 1903, s. v. Catilina, S. 812. 80 Sallust, Verschwörung (wie Anm. 74), S. 53. 81 Sallust, Verschwörung (wie Anm. 74), S. 49.
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Es bedurfte 1922 nicht sonderlich großer hermeneutischer Anstrengungen, um im Einräumen dieser Rechte eine Präfiguration des im Artikel 48 der Weimarer Verfassung angelegten Notverordnungsrechtes⁸² zu erblicken – schon allein deshalb nicht, weil der Reichspräsident von diesem Recht nach der Ermordung des Reichsfinanzministers Matthias Erzberger am 26. August 1921 bereits Gebrauch gemacht hatte⁸³ und eine vor allem unter Staatsrechtlern geführte Diskussion über das Weimarer Notverordnungsrecht entbrannt war.⁸⁴ Wenn Roth also die berühmte Eröffnung der ersten Rede zitiert, mit der Cicero seinen politischen/ Widersacher Catilina vor dem Senat zu überführen und in die Verantwortung zu nehmen sucht, dann durfte er, Roth, davon ausgehen, dass nicht wenige seiner Leser mit dem aufgerufenen historischen Kontext vertraut und in der Lage waren, ihn in Beziehung zu setzen zur in Leipzig verhandelten Sache, der Mordsache Walther Rathenau. Damit erhält zunächst das Plädoyer des Oberreichsanwalts politische Bedeutung, eine politische Bedeutung, die ihm vordergründig ja gerade in Abrede gestellt worden ist. Vor allem aber erscheinen die Ermordung Rathenaus und die Bedeutung der „Organisation Consul“ in einem völlig anderen Licht. Nicht mit
82 „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“ Siehe: Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Taschenausgabe für Studium und Praxis von Dr. F. Giese. 5. Aufl. Berlin 1923, Art. 48, S. 142. 83 Friedrich Ebert verhängt mit dem „Gesetz zum Schutz der Republik“ den Ausnahmezustand am 29. August 1921. Aufgehoben wird er am 23. 12. 1921. Vgl. hierzu Huber, Ernst Rudolf (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 3. 2. Aufl. Stuttgart [u. a.] 1966, S. 249–252. 84 Vgl. hierzu die 1922 veröffentlichten einschlägigen Abhandlungen von Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität [1922]. 6. Aufl. Berlin 1993; Herrmann, Adolf: Der Ausnahmezustand nach Artikel 48 der Reichsverfassung vom 11. August 1919. Eine historisch-dogmatische Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851. Marburg 1922; Kohlheyer, Otto: Der Ausnahmezustand im Reiche und in den Ländern. Würzburg 1922; Rittberg, Georg Graf von: Ausnahmezustand und Notverordnung nach Reichsrecht und nach preußischem Landrecht. Breslau 1922. Bereits 1921 war Carl Schmitt der Frage nachgegangen, ob die Ermächtigung nach Art. 48 nur für das Ergreifen „tatsächliche[r] Maßnahmen“ gilt oder sich auch auf „Gesetzgebung und Rechtspflege“ erstreckt. Siehe: Schmitt-Dorotic, Carl: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. München/Leipzig 1921, S. 202. Dass Joseph Roths „Hotel Savoy“ als literarischer Beitrag zu dieser Debatte gelesen werden kann, habe ich an anderer Stelle darzulegen versucht. Vgl. Mergenthaler, Hotel Savoy (wie Anm. 27).
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Abb. 3: Cesare Maccari: Cicerone denuncia Catilina, 1888, Rom, Fresko
jugendlichen, von deutschnationaler und antisemitischer Propaganda verführten Wirrköpfen hat man es im Horizont dieser von Roth angebotenen Deutung zu tun. Vor Gericht nun stehen, so lautet freilich der politische Subtext der Reportagen-Serie, an einer großangelegten Verschwörung gegen die Weimarer Republik, an einem versuchten Staatsstreich Beteiligte. Was der Leipziger Prozess seinen unmittelbaren wie mittelbaren, ihn in den Printmedien verfolgenden Beobachtern vorenthält,⁸⁵ eine zumindest hypothetische politische Kontextualisierung und Bewertung des Mordanschlags gegen den Reichsaußenminister, das bietet Roths Reportagen-Serie den Lesern des Berliner 12 Uhr Blattes demnach auf subtile Weise an. Einen ersten Hinweis gibt die Rede von der „Toga“ des Oberreichsanwalts. Und als sich nach acht Verhandlungstagen abzuzeichnen scheint, dass die Verstrickung der „Organisation Consul“ in den Anschlag gegen Rathenau zwar immer wieder zum Gegenstand der Erörterung werden sollte, bislang aber nicht geworden ist, gibt Roth den zweiten, schein-
85 Sabrow, Rathenaumord (wie Anm. 32), S. 109, zufolge konnte „nur die Hauptverhandlung selbst noch eine Aufklärung bringen und vor allem die Frage beantworten, ob die Organisation Consul hinter dem Anschlag auf Walther Rathenau gestanden hatte oder nicht. Doch in ihren Auslassungen bemühten sich die Angeklagten in sorgfältig abgestimmten Erklärungen und oft unter Widerrufung früherer Aussagen, jeden möglichen Bezug zur O. C. zu vermeiden.“
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bar unverfänglichen Fingerzeig und unterlegt damit dem in Leipzig weitgehend entpolitisierten Attentat eine entschieden politische, und zwar republikanische Deutung: eine – wie die Geschichtsschreibung später nach und nach erhärten wird – durchaus „gültige“ „Wahrheit“.⁸⁶
Ästhetische Implikationen Mit dieser im Schutz einer intertextuellen Anspielung vollzogenen politischen Volte ist die Reichweite des Rekurses auf die coniuratio Catilinae und die Intervention Ciceros vor dem römischen Senat bisher lediglich in ihren politischen Koordinaten vermessen, noch nicht jedoch in ihren ästhetischen. Ich möchte zum Abschluss demonstrieren, dass Joseph Roths Reportagen-Serie zudem als Stellungnahme zur Frage nach dem Verhältnis von Zeitung und Literatur, von Berichterstattung und Dichtung, von Reportage und Roman gelesen werden konnte. Nicht nur auf das Feld der römischen Geschichte führen die Berichte ihre Leser, sondern auch, und zwar von Beginn an, auf dasjenige der klassischen Rhetorik. Bereits die erste Reportage richtet das Augenmerk des Lesers auf actio und pronuntiatio des „Staatsanwalt[s]“, auf seine gestisch-körperliche und sprachliche Präsentation. Der Besagte „sitzt hager und etwas vorgeneigt, in strenges Richterrot eingefaßt, und wenn er sich erhebt und spricht, hat seine Stimme einen scharfen Akzent, einen schneidenden Ernst.“⁸⁷ Wieder aufgegriffen wird der Faden der Rhetorik, wenn anschließend der Vorsitzende gewürdigt wird. Seine „Stimme […] rechnet nicht mit den sechshundert Zuhörern, nicht mit dem Umfang des Raumes. Sie ist nur für die Richter bestimmt, eine private Stimme, ein Organ für Unterredungen im gelehrten Zirkel.“⁸⁸ Wenn der Fokus anschließend noch auf die Verteidiger gerichtet wird, wird auch den weniger aufmerksamen Lesern deutlich, welches Feld der Rothsche Beitrag soeben bespielt: „Zahlreich sind die Verteidiger. Sie sitzen in schwarzen Talaren und ersetzen, was ihnen an
86 Roth, Feuilleton (wie Anm. 14), S. 6. Roth „entlarvt“ daher nicht nur, wie von Sternburg, Biographie, S. 260–261, darlegt, „welch schrecklicher Geist hier so mörderisch gewirkt hat und welch jämmerliche Gestalten sich da aufspielen, Geschichte zu schreiben.“ Sabrow, Rathenaumord (wie Anm. 32), S. 104–115, führt diejenigen auf, die die Beteiligung und Planung des Attentats, sowie die logistische Unterstützung durch die Organisation Consul bestritten haben und bringt gegen die politische Verharmlosung des Mordanschlags eine Reihe stichhaltiger Indizien in Stellung. 87 Roth, Dreizehn (wie Anm. 42), S. 1. 88 Roth, Dreizehn (wie Anm. 42), S. 1.
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dem feierlichen Rot der Richter abgeht, durch eine ausgiebigere Rhetorik. Ihre Stimmen wollen gehört werden“.⁸⁹ Keine der Reportagen Roths lässt eine Gelegenheit aus, das Paradigma der Rhetorik auf den Plan zu rufen, wenn dies auch nicht immer – wie hier – durch explizite Benennung geschieht: Mal ist von der „Anmut“ und „Präzision“⁹⁰ die Rede, mit der der Angeklagte Ernst von Salomon lüge, mal geht Roth auf die Wirkung ein, die die jeweils ertönende „Stimme“⁹¹ erzielt, mal widmet er sich der „Akustik des Saales“,⁹² dann der Aussprache eines Entlastungszeugen oder dem „Pathos“, mit dem der Angeklagte Brüdigam „sein Antlitz dem Zuschauerraum zu[wendet]. Seine Stimme ist laut, die Silben läßt er aufmarschieren, die Worte nehmen sozusagen den Paradeschritt an, festgefügt wie eine Friedenskompanie steht jeder Satz, das Prädikat am Schluß.“⁹³ Seinen Höhepunkt findet das Rendezvous mit der Rhetorik indes in der vorletzten der im 12 Uhr Blatt abgedruckten neun Reportagen, deren Titel bereits verrät, worum es geht: „Der Oberreichsanwalt spricht“: So spricht kein deutscher Staatsanwalt. So spricht ein klassischer Römer. „Wie lange noch, o Catilina? …“ Das ist Jurisprudenz in literarischem Gewand. Das ist der Stil eines Schriftstellers von Qualität. Da ist Entrüstung durch Weisheit gehemmt und durch Vorsicht in künstlerische Form gezwungen. Da ist Begriff genau abgewogen gegen Begriff. Verwandte Begriffe, verwechselbare, scheiden sich. Da sieht man gleichsam Wälle um jedes Wort gelegt. Nichts ist schwankend. Grenzen erheben sich zwischen Satz und Satz. […] Die ersten Sätze handelten von den Organisationen, von der politischen Bedeutung des Prozesses, Rathenau wurde zitiert (er charakterisierte einmal die Mörder Erzbergers in einem Interview mit einem holländischen Journalisten), und in diesem Augenblick steigt noch einmal die lebendige Wirkung des Ermordeten auf, seine prophetische Gabe. Es ist schwer, ungerührt zu bleiben, wenn der Oberreichsanwalt von dem „Mord an einem der besten deutschen Männer“ spricht. Nach den ersten Sätzen legt der Oberreichsanwalt sein Barett ab. Die Feierlichkeit seiner Rede mildert sich leise, als er auf den sachlichen Teil eingeht. Da werden schwierige juristische Begriffe mit ein paar einfachen Worten verständlich, so einfach, daß sie sogar ein Mitglied des Bundes der Aufrechten verstehen kann. […] Die Anklagerede ist zu Ende. Langsamer als sonst leert sich der Saal. Es ist, als laste die Wucht des Gehörten noch auf allen.
89 Roth, Dreizehn (wie Anm. 42), S. 1, Hervorhebung d. Verf. 90 Roth, Präsident (wie Anm. 48), S. 1. 91 Roth, Prozeß (wie Anm. 54), S. 1; Roth, Staatsgerichts-Hofluft (wie Anm. 67), S. 2; Roth, Frau (wie Anm. 50), S. 2. 92 Roth, Staatsgerichts-Hofluft (wie Anm. 67), S. 1. 93 Roth, Frau (wie Anm. 50), S. 2.
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Die Rechtsanwälte gehen mit schweren Mappen heim. Bücher aus der Bibliothek des Reichsgerichts beschweren sie.⁹⁴
Über das vom Oberreichsanwalt Vorgetragene erfährt der Leser des 12 Uhr Blatt[es] denkbar wenig: „Die ersten Sätze handelten“ offenbar „von den Organisationen, von der politischen Bedeutung des Prozesses, Rathenau wurde zitiert.“ Als der Oberreichsanwalt sich zum Angeklagten Günther äußert, ist von „Verworfenheit und Prahlsucht“, von „Lug und niedrige[r] Gesinnung“ die Rede. Worin aber die „politische Bedeutung des Prozesses“ in den Augen des höchsten Anklägers besteht, welches Gewicht dabei den genannten „Organisationen“ zuzumessen sein mochte, inwiefern schließlich der „sachliche Teil“ von Ebermayers „Anklagerede“ zur „Wucht des Gehörten“ beiträgt, bleibt in der Reportage Roths vollständig im Dunkel. Im Vordergrund stehen – anders als im Fall etwa der Berichterstattung in der Frankfurter Zeitung, der Deutschen Allgemeinen Zeitung oder der Berliner Illustrierten Zeitung⁹⁵ – Beschaffenheit, Vortrag und Wirkung der Rede. Es geht um elocutio, actio und pronuntiatio, um die sprachliche Einkleidung der Argumente, um die Performanz des Redners; um claritas, latinitas und brevitas der Rede, um ihre Verständlichkeit also, um Präzision, begriffliche Schärfe, Sprachrichtigkeit und – last but not least – um die Pointiertheit des Vortrags. Der, wenn nicht wichtigste, so zumindest am meisten Raum einnehmende Bestandteil des Prozesses gegen die in der Mordsache Walther Rathenau Angeklagten, das Plädoyer des Oberreichsanwalts, steht in der Darstellung Roths ganz im Zeichen der antiken Rhetorik-Theorie, zu deren wichtigsten Regelwerken Ciceros De oratore und zu deren herausragenden exempla Ciceros Rede in Catilinam zählen.⁹⁶ Im Horizont dieses Rekurses wird der Oberreichsanwalt Dr. Ludwig
94 Roth, Oberreichsanwalt (wie Anm. 54), S. 2. 95 Im Unterschied etwa zur auf Inhalte und Argumentationsführung den Schwerpunkt setzenden Berichterstattung der Deutschen Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Zeitung und der Berliner Illustrierten Zeitung. Die Frankfurter Zeitung spricht immerhin von „einer wuchtigen Rede“. Siehe: Der Prozeß gegen die Mörder Rathenaus. Vor der Urteilsfällung. In: Frankfurter Zeitung (12. 10. 1922), S. 1–2, hier: S. 1. In der Deutschen Allgemeinen Zeitung ist lediglich vom „2 1/2 stündigen Plaidoyer des Oberreichsanwalts“ die Rede. Siehe: Der Rathenau-Prozeß. Die Anträge des Staatsanwalts. In: Deutsche Allgemeine Zeitung. Tägliche Rundschau (12. 10. 1922), S. 1–2, hier: S. 1. Die Berliner Illustrierte Zeitung schließlich erwähnt nur, daß „der Ankläger“ die Angeklagten „an[ge]donnert“ habe. Siehe: Berliner Illustrierte Zeitung 42 (1922), S. 806–807, hier: S. 806. 96 „Ein Meisterstück ihrer Art“ nennt z. B. Kuffner, Christian: Artemidor. Ein archäologisch-historisches Gemälde der alten Römerwelt in ihrem ganzen Umfange. Bd. 5. Wien 1831, S. 276, „die erste Rede gegen den Catilina“. Dass Ciceros „rednerische Leistungen […] den Höhepunkt der römischen Beredsamkeit bezeichnen“ und der Rede in Catilinam „Vortrefflichkeit“ zu bescheini-
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Ebermayer als imitiatio Ciceronis lesbar, als perfekte Nachahmung des an Cicero geschulten antiken Redner-Ideals. Seine „Anklagerede“ verdient daher offenbar mindestens so viel Lob wie die gegen den Verschwörer Catilina gerichtete „glänzende, dem Staatsinteresse dienende Rede“⁹⁷ Ciceros. Roths Laudatio bewegt sich allerdings, wenn von der „Jurisprudenz in literarischem Gewand“ und vom „Stil eines Schriftstellers von Qualität“ die Rede ist und dem Plädoyer eine „künstlerische Form“ bescheinigt wird, nicht mehr konsequent auf dem begrifflichen Terrain der antiken Rhetorik-Lehre. Sie weicht aus auf ein für die eingangs aufgeworfene Problemstellung zentrales anderes Feld, auf dasjenige nämlich der Literatur. Die pragmatische Textsorte „Strafantrag“, wie sonst wäre dies zu deuten, verfügt in der Auslegung Ebermayers, eines namhaften und als vorbildlicher Stilist bekannten Juristen,⁹⁸ offenbar über Merkmale literarischer Überformung. Strukturell betrachtet, leistet die „Anklagerede“ des Oberreichsanwalts daher genau das, was 1921 der „Feuilleton“ überschriebene Beitrag Roths ansatzweise profiliert. Sie ist als aktuelle, auf die gegenwärtige Lebenswelt bezogene Rede und zugleich als „künstlerisch große Leistung“⁹⁹ einzustufen. Bedeutsamkeit indes kommt der auf diese Weise implizit gegebenen ästhetischen Bewertung der Rede Ebermayers zu, weil sie in einer besonderen Beziehung steht zu Joseph Roths Reportagen über den Leipziger Prozess. Was für das am exemplum Ciceros orientierte und ästhetisch bewertete Plädoyer des Oberreichsanwalts gilt, gilt nämlich mindestens so sehr für die Reportagen Roths. Die von Roth gegebene Beschreibung der Ansprache Ebermayers gibt daher zugleich – vor allem im unmittelbaren Umfeld der rhetorisch-literarischen Würdigung der juridischen Rede fällt dies ins Auge – eine treffende Beschreibung der Rothschen Reportagen über die Verhandlung in Leipzig, womit sie sich latent selbst eine „künstlerisch große Leistung“ bescheinigen: Wie der Oberreichsanwalt seine „Entrüstung […] durch Vorsicht in künstlerische Form gezwungen“ habe, so präsentiert Roth seine Bewertung des Attentats vorsichtig in der künstlerischen Form einer literarischen Anspielung. Wie bei Ebermayer „Begriff genau abgewogen“ wird „gegen Begriff“, so werden auch bei Roth „verwandte Begriffe, verwechselbare“ – man denke an die
gen ist, verdeutlicht Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 4. 6. Aufl. Leipzig/Wien 1903, s. v. Cicero, S. 145–146, hier: S. 145. 97 Sallust, Verschwörung (wie Anm. 74), S. 53. 98 Vgl. Neue Deutsche Biographie. Bd. 4. Berlin 1959, s. v. Ebermayer, S. 248–249, hier: S. 249. 99 Roth: Feuilleton (wie Anm. 14), S. 5. Vgl. hierzu auch Aquiar de Melo, Roths Selbstverständnis (wie Anm. 11), S. 50: Roth sei ein „Schriftsteller, der Literatur als ästhetische Form der ethischen Intervention begreift. […] Für ihn ist die ethische Aufgabe dem Dichter und dem Journalisten gemeinsam.“
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Rede vom Talar, von der Robe und von der Toga – klar voneinander geschieden. Und wie der Vertreter der Anklage es verstand, komplizierte Sachverhalte „mit ein paar einfachen Worten verständlich“ zu machen, so sucht auch Roth jede begriffliche oder syntaktische Komplexität zu vermeiden. Man hat es demnach zu tun mit Reportagen, die sowohl „Wahrheiten, gültige“¹⁰⁰ hervorbringen, indem sie den Rathenau-Mord als Versuch eines Staatsstreichs bewerten und somit in politischer Hinsicht Stellung beziehen gegen den aktuellen Terror von rechts, als auch mit Reportagen, die, wie sie im Übrigen selbstbewusst ausstellen, über literarische Qualität verfügen. Sie folgen damit dem Beispiels Heines, dessen journalistisches Werk in der Einschätzung Roths aufgrund dieser Leistung, politisches Engagement mit literarischer Qualität zu verknüpfen, besondere Anerkennung verdient – als „ethische“ „Leistung“¹⁰¹ nämlich. Die eingangs zitierte, von Roth an Bernard von Brentano gerichtete Frage, ob „die ‚Zeitung‘ […] eines Dichters unwürdig“ oder ein „‚Feuilleton‘ weniger“ sei „als ein ‚Roman‘“¹⁰² – wird schon deutlich vor 1924, wenn auch nicht explizit, beantwortet.
Literatur oder Zeitung? – Literatur in der Zeitung! Wo aber positioniert sich Roths Reportagen-Serie mit dieser selbstreferentiellen Volte in den zu Beginn der 1920er-Jahre bereits so virulenten Auseinandersetzungen über die Relation von „kunst“ und „berichterstatterei“, von „literatur“ und „reportage“,¹⁰³ von Dichtung und Zeitung? Und welchen Ort nimmt sie ein in der literarischen Entwicklung Roths? Im Herbst 1922, ein Jahr also ehe Roth als Romancier in der Wiener Arbeiter-Zeitung debütiert, könnten die Rahmenbedingungen für eine Karriere als Romanautor schlechter kaum beschaffen sein. Nicht nur eine innere Krise des Romans bewegt zu dieser Zeit die literarisch interessierten Gemüter, wie der gleichnamige, überaus wirkungsmächtige Essay von Otto Flake verdeutlicht¹⁰⁴ – es sind auch handfeste, materielle Gründe. Dieser
100 Roth: Feuilleton (wie Anm. 14), S. 6. 101 Roth: Feuilleton (wie Anm. 14), S. 5. 102 Roth, Briefe (wie Anm. 1), S. 42. 103 Soergel, Dichtung (wie Anm. 6), S. 9. 104 Flake, Otto: Die Krise des Romans. In: Die neue Bücherschau 3 (1922), S. 87–94. Zum „Kontext der Romankrise“ vgl. Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, S. 315–320; sowie das dritte Kapitel von Scheunemann, Dietrich: Romankrise. Die Entstehungsgeschichte der modernen Romanpoetik in Deutschland. Heidelberg 1978.
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Sachverhalt tritt in historischer Distanz hervor, er ist aber auch den Zeitgenossen Roths schon 1922 bewusst. Es dürfte nämlich nicht nur für Joseph Roth, sondern auch für manch anderen, literarisch ambitionierten Leser von einigem Interesse gewesen sein, dass in unmittelbarer Nachbarschaft der ersten Rothschen Reportage über den Prozess „gegen die in die Mordaffäre R a t h e n a u verwickelten Personen“¹⁰⁵ in einem „Das Buch als Luxusgegenstand“ überschriebenen Artikel zu lesen war, wie die Erfolgsaussichten für Romanschriftsteller Ende 1922 einzuschätzen waren: Zu den Gegenständen, deren Erwerb für die meisten ein Luxus geworden ist, gehören auch schon längst Bücher. Nunmehr haben die Bücherpreise eine abermalige Erhöhung erfahren. […] Die Folge davon ist, daß der Kreis derer, die in der Lage sind, noch ein Buch zu kaufen, sich immer mehr verringert […]. Welche Wirkung dies alles auf die Entwicklung des deutschen Geisteslebens hat, bedarf wohl kaum der Erklärung.¹⁰⁶
Falls es gleichwohl einer Erklärung bedurfte, so wusste die Neue Berliner Zeitung am 18. Oktober 1922, vier Ausgaben nach der letzten Reportage Roths, Abhilfe zu schaffen, als unter dem Titel „Der Tod der jungen Literatur“ nämlich eine rund eine halbe Seite umfassende Analyse des Buchmarktes abgedruckt wurde. Für ihren Verfasser galt es als ausgemacht, „daß unter den jetzigen Verhältni s s e n b e s o n der s die ju ngen Dichter zu leiden hab en“. Die inflationsbedingte Buchpreis-Entwicklung „bedeutet den absoluten Tod der ju nge n L i te r a tur, der es heute geradezu unmöglich ist, sich durchzusetzen.“¹⁰⁷ Als „junger Dichter“ war Roth 1923 daher gut beraten, seine ersten Gehversuche als Romanautor auf vertrautem Terrain zu unternehmen und für die Veröffentlichung seiner Romane auf den verhältnismäßig preiswerten Publikationsort Zeitung zu setzen.
105 Beginn des Rathenau-Prozesses. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt. (3. 10. 1922), S. 2. 106 Das Buch als Luxusgegenstand. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt (4. 10. 1922), S. 3. „Wer ist heute noch in der Lage“, so fragt in seiner 1924 erschienenen Selbstdarstellung Oberreichsanwalt Ebermayer, „sich Bücher zu kaufen?“. Siehe: Ludwig Ebermayer, in: Planitz, Rechtswissenschaft (wie Anm. 65), S. 49. 107 Der Tod der jungen Literatur. In: Neue Berliner Zeitung. Das 12 Uhr Blatt (18 .10. 1922), S. 2.
Steffi Bahro
„Höre, Israel!“ im Netzwerk der Moderne Der vorliegende Beitrag ist ein Versuch, den hermeneutischen Horizont bzw. den Fragehorizont¹ in Bezug auf den programmatischen Höre, Israel!-Artikel² von Walther Rathenau aus dem Jahre 1897 zu erweitern. Im Fokus steht die Aushandlung des Widerspruchs zwischen der Intention des Autors und den Deutungen seiner Rezipienten. Warum argumentierte er nicht im Sinne der Judenverteidigung? Welchen Zweck hatte die judenfeindliche Perspektivenübernahme?³ Welche Determinanten seiner Argumentation sind in den bisherigen Lesarten unhinterfragt geblieben? Wie ist der Artikel im Vergleich zu ähnlichen Medien im publizistischen Netzwerk der Moderne zu bewerten? Hier interessiert also weniger sein soziales als vielmehr sein semantisches Netzwerk⁴ als geistesgeschichtlicher Horizont, der beim Verfassen des Textes relevant zu sein scheint. Dadurch ist es möglich, das Netzwerk der Moderne nicht nur auf Rathenaus Lebenszeit zu beschränken, sondern die Haskala⁵ mit einzubeziehen. Grundsätzlich knüpfen die Überlegungen jedoch an die Deutung an, dass sein Wunsch
1 Kennzeichnet das Wesen der hermeneutischen Situation: „Horizont ist der Gesichtskreis, der all das umfasst und umschließt, was von einem Punkt aus sichtbar ist.“ Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 6. Aufl. Tübingen 1990, S. 307. „Entsprechend bedeutet die Ausarbeitung der hermeneutischen Situation die Gewinnung des rechten Fragehorizontes für die Fragen, die sich angesichts der Überlieferung stellen.“ Ebd., S. 308. Innerhalb des Fragehorizonts bestimmt sich die Sinnrichtung des Textes. Vgl. ebd., S. 37. 2 Rathenau, Walther: Höre, Israel! In: Schulte, Christoph (Hrsg.): Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland. Stuttgart 1993, S. 28–39. 3 Gemeint ist nicht nur ein Wechsel der Perspektive, sondern ein Hereinnehmen der anderen Perspektive in den Reflexionsvorgang in Abgleichung mit der eigenen Perspektive. Die Verdoppelung des Standpunktes zeigt, dass der zunächst eingenommene Blickwinkel nicht der allein mögliche ist. Vgl. Surkamp, Carola: Perspektivübernahme. In: Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart [u. a.] 2008, S. 568. 4 Das semantische Gedächtnis wird eigentlich in der kognitiven Psychologie als Netzwerk von Relationen verstanden, als System von begrifflichen Knoten (Konzepten) zwischen denen assoziative Verbindungen bestehen. Vernetzt ist hierin das deklarative (bewusste) Wissen: Erinnerungen, die nicht an Erfahrungen geknüpft sind, sondern in Form von Propositionen, Vorstellungsbildern und Schemata gespeichert werden. Vgl. Woolfolk, Anita: Pädagogische Psychologie. 10. überarb. Aufl. München 2008, S. 320f. 5 Schulte, Christoph: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. München 2002. Die Relevanz der Haskala für den vorliegenden Beitrag besteht in ihrer Bedeutung als Zäsur religiöser Pluralisierung des Judentums, ihren Spannungen zwischen der Aufklärung der Juden
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nach Integration der Juden in Deutschland – und zwar nicht als Fremdkörper – es notwendig gemacht habe, das Verhältnis von Weltlichkeit, Staat und Religion sowie den Standort der Juden in der Gesellschaft neu zu bestimmen.⁶ Rathenaus Text Höre, Israel! gilt darüber hinaus als antisemitischer Assimilationsaufruf und Ausdruck jüdischen Selbsthasses.⁷ Letzterer bezeichnet wohlgemerkt eine negative Zuschreibung von Juden für jene unter ihnen, „die sich im Ernst und mit offenen Augen mit dem Problem der Assimilation befassten und sich nicht der Mehrheit anschlossen, die den Erfolg als Ersatz für die Integration akzeptierte.“⁸ Mitnichten scheint die Zuschreibung als Zeugnis jüdischen Selbsthasses die Lesart des Textes derart zementiert zu haben, dass man meint, nichts Neues mehr in ihm entdecken zu können. Schließlich heißt es, dass Rathenau selbst sich 1911 von der „pseudogermanischen Ausschließlichkeit“ seines Artikels distanzierte und die Verantwortung für die gescheiterte politische Integration der Juden dem Staat zuschrieb.⁹ Letztere wies er jedoch schon 1897 maßgeblich dem Staat zu, wie ein genauer Blick in den Text zeigen wird. Seine Distanzierung soll auch nur eine öffentliche Pose gewesen sein, denn in seinen Aphorismen nimmt er die judenfeindliche Diktion von 1897 vermeintlich wieder auf.¹⁰ So interpretierte Harry Graf Kessler Höre, Israel! methodisch fragwürdig mittels einer Textstelle aus den Aphorismen,¹¹ die sich mit der Tragik der Germanen in der
als Menschen und der Aufklärung der Juden als Juden, inklusive des Prinzips der Emanzipation durch Bildung bzw. Erziehung. Vgl. ebd., S. 17–26. 6 Schölzel, Christian: Walther Rathenau. Eine Biographie. Paderborn [u. a.] 2006. Ebenso resümiert Heimböckel, dass es Rathenaus Absicht war, auf die Unhaltbarkeit des staatlicherseits geförderten Grundsatzes „Jude ist Jude“ aufmerksam zu machen. Vgl. Heimböckel, Dieter: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit. Studien zu Werk und Wirkung [im Folgenden: WR Literatur]. Würzburg 1996, S. 49. 7 Heimböckel, WR Literatur, S. 48f.; Volkov, Shulamit: Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867 bis 1922. München 2012, S. 55–64; Sabrow, Martin: Walther Rathenau. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus: Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Berlin 2009, S. 671–672. 8 Als Synonym gilt heute der Begriff jüdischer Antisemitismus. Als Theodor Lessing darüber schrieb, (Der jüdische Selbsthaß, 1930) war das Thema bereits veraltet. Vielmehr kam er vor dem Ersten Weltkrieg auf, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitet und wurde zum Kampfmittel gegnerischer Parteien – zur so genannten „Selbstkritik der Selbstkritik“. Vgl. Volkov, Shulamit: Selbstgefälligkeit und Selbsthass. In: Dies. (Hrsg.): Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays. München 2000, S. 181–196, hier: S. 182f. 9 Sabrow bezieht sich auf Rathenaus Schrift „Staat und Judentum“ aus dem Jahre 1911. Vgl. Sabrow, Rathenau (wie Anm. 7), S. 671–672. 10 Rathenau, Walther: Ungeschriebene Schriften (1903–1907). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Berlin 1918, S. 97–245. 11 Kessler bezieht sich auf Rathenaus Aphorismus: „Der Inbegriff der Weltgeschichte, ja der
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Weltgeschichte auseinandersetzt und eben nicht mit der Lösung der Judenfrage. Durch diese Vermischung der Perspektiven verlor er die Argumentation beider Gedankengänge aus den Augen. Kessler schlussfolgerte trotz der divergierenden Fragestellungen der Texte, dass Rathenaus Einstellung zur Judenfrage durch die Tragik der Germanen und nicht durch die jüdische Tragik bestimmt gewesen sei, weshalb er sich schon in Höre, Israel! auf die Seite der Judengegner gestellt habe. In den Aphorismen heißt es jedoch auch, dass die germanische Tragik auf dem Zwiespalt der ererbten und der erlernten Moral beruhe, den germanisch-heidnischen Tugenden und der fremdorientalischen Ethik. Im Vorfeld merkte Rathenau diesbezüglich den Widerstand der Germanen gegen die Bekehrung zum Christentum an, welchen er auf die Unritterlichkeit des Erlösungsgedankens zurückführte.¹² Die germanische Tragik beruhe darauf, dass jemand an seinen sympathischen Fehlern, den germanisch-heidnischen Tugenden, mit Notwendigkeit zugrunde gehe.¹³ An diese notwendige Geschichtsentwicklung knüpft er 1918 in seinem Aufruf An Deutschlands Jugend ohne Wehmut an. Hier bezeichnet er den Ersten Weltkrieg nicht nur als den Ausbruch aller tiefen Übel und Schwächen der abgelaufenen Epoche¹⁴, sondern betont: Die Völker mit denen die nationale Erinnerung sich in feierlichen Augenblicken identifiziert, leben nicht mehr. Die Italiener sind keine Römer, die Franzosen keine Franken und die Deutschen keine Germanen. Die Verschmelzung mit Unterworfenen und mit den eigenen unbekannten Unterschichten hat die Völker nicht nur von Grund auf gewandelt, sondern auch mehr, als man zuzugeben geneigt ist, untereinander angeähnelt.¹⁵
Menschheit ist die Tragödie des arischen Stammes. Ein blondes, wundervolles Volk erwächst im Norden. […] Jede Wanderung wird zur Eroberung, die Eroberung zur Befruchtung [versteht R. als Vermischung und Wiedergeburt, vgl. Rathenau, Ungeschriebene Schriften (wie Anm. 10), S. 233] der Kultur und Gesinnung. Aber mit zunehmender Weltbevölkerung quellen die Fluten der dunklen Völker immer näher, der Menschenkreis wird enger. Endlich ein Triumpf des Südens: eine orientalische Religion ergreift die Nordländer. Sie wehren sich, indem sie die alte Ethik des Mutes wahren. Zuletzt die höchste Gefahr: die technische Kultur erringt sich die Welt, mit ihr entsteht die Macht der Furcht, der Klugheit, der Verschlagenheit, verkörpert durch Demokratie und Kapital […].“ Zitiert nach Kessler, Harry Graf: Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk. Berlin 1928, S. 43. 12 „Demut und Unterwürfigkeit sollten sie höher stellen als Mut und Entschlossenheit.“ Vgl. Rathenau, Ungeschriebene Schriften (wie Anm. 10), S. 224. 13 „Während in der Tragik der Germanen überall die christliche Ethik recht behält, zeigt Hamlet die heidnische Umkehrung. Hier geht der Mensch zugrunde, weil er im heidnischen Sinn sündhaft, nämlich schwach ist. Heidentum strahlt durch diese ganze Tragödie.“ Vgl. Rathenau, Ungeschriebene Schriften (wie Anm. 10), S. 238f. 14 Rathenau, Walther: An Deutschlands Jugend. Berlin 1918. 15 Rathenau, An Deutschlands Jugend (wie Anm. 14), S. 75.
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Entsprechend zieht Rathenau das Fazit: „Vielleicht keiner von uns stammt unvermischt von taciteischen Germanen“ ab.¹⁶ Rathenaus pathetische Darstellung der „germanischen Tragik“ in den Aphorismen bezeugt in diesem Sinne weniger seine mitleidige Kollaboration mit Judenfeinden als vielmehr die Ironie des germanischen Schicksals.¹⁷ Rathenau greift die kulturkritische Polemik der Antisemiten auf, transformiert sie in die Chiffre der Tragödie und bricht die Wahrnehmung des Tragischen im Verhältnis zur Menschheitsgeschichte. Aus dieser Perspektive kann er die anfängliche Abwehr der Germanen gegenüber der orientalischen Religion in Zusammenhang bringen mit der germanischen Aversion gegen die technische Kultur, mit der die Macht der Furcht, ebenso wie die „germanische Paranoia“ gegen Demokratie und Kapital entstehe – letzteres rekurriert offensichtlich auf den zeitgenössischen Antisemitismus. Was Rathenau also eigentlich mit der Tragik der Germanen meint, ist, dass ihre vermeintlichen Nachfahren nicht begreifen, dass die Vermischung der germanischen und jüdisch-orientalischen Kulturen, die sie für unmöglich und schädlich halten oder zumindest in Frage stellen, schon längst stattgefunden hat – nämlich durch die Christianisierung der heidnischen Germanen, da die christliche Ethik zweifelsfrei auf dem Judentum basiert. Analog zu dieser Dekonstruktion der judenfeindlichen Diktion Rathenaus in seinem Aphorismus wird deshalb nicht mehr davon ausgegangen, dass Rathenau sich mit Höre, Israel! demonstrativ auf die eine oder andere Seite stellen wollte. Vielmehr erscheint es nach der Problematisierung der populären Lesart Kesslers interessant, wie Rathenau selbst sich zu seinem Text äußerte. Wenngleich die Reaktionen der Zeitgenossen auf den Artikel Höre, Israel! vereinzelt waren und der Beitrag weitestgehend „ungehört“ blieb,¹⁸ schrieb Walther Rathenau im August 1901 in einem Brief an Theodor Herzl: Einen anderen der 12 oder 15 Versuche, auf den ich etwas mehr Wert lege, hüte ich mich Ihnen vorzulegen. Er heißt „Höre Israel“ und ist von einzelnen Lesern des Antisemitismus
16 Rathenau, An Deutschlands Jugend (wie Anm. 14), S. 108. 17 Die These stützt sich auf die Ansicht Rathenaus: „Humor gehört zu den höchsten Formen der Betrachtung und Darstellung, solange er souverän bleibt: Teilnahme am Menschlich-Beschränkten ohne Parteilichkeit und Bekümmernis. Mischt sich Sentimentalität hinein nach der Formel der lächelnden Träne, so wird er, wie dies berühmte Bild, zur weinerlichen Grimasse.“ Rathenau, Ungeschriebene Schriften (wie Anm. 10), S. 237. 18 Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 6), S. 51, verweist in Fußnote 15 auf Karl, Gustav: Abwehrvereine oder Einkehrvereine. In: Im Deutschen Reich. Zeitschrift des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 3 (1897) 4, S. 187–192, hier: S. 187. Nachfolgende Ausführungen zu den Reaktionen auf den Artikel beziehen sich ebenfalls auf diese Publikation.
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geziehen worden. In Wahrheit verfolgt er diese Tendenz nicht, ebenso wenig, wie ich selbst dazu berechtigt wäre: Denn ich bin Jude.¹⁹
Der Artikel war Rathenau also nach wie vor von Wert, wenngleich er sich seines ambivalenten Identifikations- und Deutungspotentials bewusst geworden war. So warf ein Rezensent der Zeitschrift Im Deutschen Reich des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Rathenau nicht Kollaboration mit den Antisemiten vor, sondern vielmehr, dass er manches hätte schärfer fassen können und müssen. Vermutlich hat ihn dergleichen Zuspruch darin bestärkt, seinen Aufruf 1902 unter eigenem Namen im Sammelband Impressionen erneut abzudrucken. Die Neuerscheinung war jedoch ein solcher Skandal, dass sein Vater, Emil Rathenau, die Restauflage aufkaufen musste. Darauf rechtfertigt sich Walther Rathenau gegenüber Theodor Herzl erneut in einem Brief, sein grundsätzliches Anliegen sei es gewesen, lediglich die „Apathie des Staates“ zu brechen.²⁰ Schenken wir dieser Intention Glauben, erscheint es wiederum unwahrscheinlich, dass Rathenau später selbst kein Verständnis mehr für seine Anklageschrift hatte und sie deshalb nicht in seine Gesammelten Schriften aufgenommen hat. Vielmehr dürfte ihn die Erfahrung weitestgehenden Missverständnisses und Unmuts bei den Rezipienten von einer erneuten Publikation abgeschreckt haben. Folgen wir der Intention des Autors, wonach der Staat bzw. dessen Entscheidungsträger die eigentlichen Adressaten des Aufrufs gewesen sein sollen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Zweck der judenfeindlichen Perspektive.
„Zwischen den Stühlen“²¹ – Rathenau als Third-Person Intermediary Die leitende These ist, dass Walther Rathenau im nämlichen Artikel die Logik Hegels auf die Judenfrage appliziert, wonach die Ursache in der Wirkung als ganze
19 Zitiert nach Sparr, Thomas: „Versöhnung! Wann? – wann?“ – Ein Exkurs zu Walther Rathenaus Briefen. In: Horch, Hans Otto [u. a.] (Hrsg.): Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Tübingen 2009, S. 153–158, hier: S. 155. 20 Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 6), S. 53. 21 Die Überschrift rekurriert auf ein Zitat von Moritz Heimann (1868–1925), jüdischer Schriftsteller und Lektor des Fischer-Verlages. Heimann gehörte zu einer kleinen Gruppe, die versuchte zwischen politischen Zionisten und Assimilanten Fuß zu fassen. Vgl. Nickel, Gunther:
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Substanz manifestiert ist.²² Damit nahm er zwar zum einen bewusst den Topos der Judenfeindschaft auf, nachdem die Juden durch ihr Verhalten und durch ihre Art ursächlich für die Ressentiments in der Mehrheitsgesellschaft verantwortlich seien. Andererseits ermöglichte ihm das Aufgreifen dieser dialektischen Kausalität, im Gegenzug gleichermaßen auf die Dialektik der Judenfrage an sich als staatliche Wirkung einer staatlichen Ursache zu rekurrieren. Damit knüpfte er an die Theorie der Vermittelbarkeit von bürgerlicher Gesellschaft als Sphäre des Sozialen und dem Staat als Sphäre des Politischen an, die Hegel in seiner Rechtsphilosophie begründet hat.²³ Was er dabei vermutlich nicht bedachte, war die rezeptive Konsequenz, denn: Sofern die hermeneutische Erfahrung ein sprachliches Geschehen enthält, das der dialektischen Darstellung bei Hegel entspricht, gewinnt auch sie an einer Dialektik teil, nämlich […] der Dialektik von Frage und Antwort. Das Verstehen eines überlieferten Textes nämlich hat […] einen inneren Wesensbezug zu seiner Auslegung, und wenn dieselbe auch stets eine relative und unabgeschlossene Bewegung ist, so findet das Verstehen in ihr doch seine relative Vollendung.²⁴
Hiermit wird uns als Rezipienten die hegelsche Dialektik der Deutungen seines Textes bekannt. Rathenau jedoch hat diese erst nach der Publikation anhand der ambivalenten Rückmeldungen erfahren. Er war auf die Theorie der Vermittelbarkeit fokussiert. Den Schlüsselbegriff der Vermittlung machte sich Rathe-
Die Schaubühne – Die Weltbühne. Siegfried Jacobsohns Wochenschrift und ihr ästhetisches Programm. Opladen 1996, S. 201. Seiner Ansicht nach sei es, „[…] wohl möglich, daß man dabei zwischen zwei Stühlen zu sitzen kommt, aber das ist in Wahrheit, der anständigste Platz, den es gibt.“ In: Heimann, Moritz: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte. Essays, mit einem Nachwort von Wilhelm Lehmann. Frankfurt a. M. 1966, S. 74. 22 „In der Ursache als solcher selbst liegt ihre Wirkung und in der Wirkung die Ursache.“ Zur formellen Kausalität vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. In: Werke. Bd. 6. Hrsg. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 1978, S. 222–225, hier: S. 223 u. 225. Über Hegel als Teil von Rathenaus geistesgeschichtlichem Horizont vgl. Berglar, Peter: Walther Rathenau. Ein Leben zwischen Philosophie und Politik. Neuausg. Graz [u. a.] 1987, S. 70–76. 23 Mertens, Stefan: Die juridische Vermittlung des Sozialen. Die konzeptuelle Basis der reifen Theorie des Juridischen und die Bedeutung der Theorie des Rechts für die Theorie des komplementären Zusammenhanges von Gemeinschaft und Gesellschaft in G. W. F. Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1821). Würzburg 2008, S. 38f. Dieses Vermittlungsprinzip basiert auf Hegels Idee des Staates und des inneren Staatsrechts. Letzteres stellt nach Hegel die Verfassung eines Volkes dar und umfasst die Gesamtheit der Sitten und Gebräuche eines Volkes. Aus diesem Grunde gliedert sich der Staat zum einen in die Verfassung im Besonderen, als Institutionen der Familie und bürgerlichen Gesellschaft und zum anderen in die eigentliche politische Verfassung. Ebd., S. 42. 24 Gadamer, Hermeneutik I (wie Anm. 1), S. 475.
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nau aber nur „gezwungenermaßen“ zu eigen, weil seiner Meinung nach weder der Staat noch die Juden selbst eine Lösung der Judenfrage anstreben würden: „Wer sucht ihr heute ernstlich eine Antwort? Dem Stammesdeutschen ist die Frage so zuwider wie der Gegenstand. […] Und was thut Israel, um vom Banne befreit zu werden? Weniger als nichts.“²⁵ Rathenau schlüpfte in die Rolle des Vermittlers – der Third-Person intermediary. Selbige ist eine dritte, als allparteilich geltende Person, die als Schlichter oder Mediator fungiert, um zwischen zwei Konfliktparteien zu vermitteln.²⁶ Unter dieser Voraussetzung wäre die so genannte Judenfrage der ungelöste Konflikt, den Rathenau mittels seines medialen Eingreifens zu schlichten versucht. Diese Rolle schreibt sich meiner Auffassung nach Rathenau zu – als kommissarischer Vertreter des Staates. Gerade weil er zur crème de la crème der jüdischen Minderheit gehört, die als deutsch und jüdisch anerkannt gewesen ist, glaubt er, idealerweise zwischen der christlichen Mehrheitsgesellschaft und der jüdischen Minderheit bzw. zwischen der Sphäre des Sozialen und der des Politischen vermitteln zu können. Er betreibt in gewisser Hinsicht Stigma-Management, welches als allgemeiner Bestandteil von Gesellschaft gilt und einen Prozess bezeichnet, der auftritt, wo es Normen und Differenzen gibt.²⁷ Diesen Prozess beschreibt Erving Goffman jedoch nicht als eine Reihe von Individuen, die in zwei Gruppen, die Stigmatisierten und die Normalen, aufgeteilt werden können. Vielmehr handelt es sich um einen sozialen Zwei-Rollen-Prozess, in dem jedes Individuum an beiden Rollen partizipiert. „Der Normale und der Stigmatisierte sind nicht Personen, sondern eher Perspektiven. Diese werden erzeugt in sozialen Situationen während gemischter Kontakte kraft der unrealisierten Normen, die auf das Zusammentreffen einwirken dürften.“²⁸ Weil die Toleranz der Normalen verschwindend gering ist, hätten die Stigmati-
25 Rathenau, Höre, Israel! (wie Anm. 2), S. 30. Zur Logik von Frage und Antwort vgl. S. 375–384. 26 Mayer, Claude-Hélène: Trainingshandbuch interkulturelle Mediation und Konfliktlösung. Didaktische Materialien zum Kompetenzerwerb. 2. Aufl. Münster [u. a.] 2008, S. 39. 27 Goffman, Erving: Stigma. über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 21. Aufl. Frankfurt a. M. 2012, S. 160f. Die Haupt-Stigmatypen nach Goffman sind: physische Deformationen, Charakterfehler sowie phylogenetische Stigmata, wie Rasse, Nation und Religion. (Ebd., S. 12f.) Es genügt aber auch schon eine unbedeutende Andersartigkeit, deren sich zu schämen die beschämte Person sich schämt. (Ebd., S. 161) Zudem unterscheidet Goffman zwei benachbarte Typen sozialer Kategorien: Zum einen ethnische und rassische Minderheiten, die in der Gesellschaft in einer nachteiligen Position sind. Zum anderen „Mitglieder der unteren Klasse, die das Zeichen ihres Status ganz bemerkbar in Sprache, Erscheinung und ihrem Verhalten tragen und die finden, dass sie in Relation zu den öffentlichen Institutionen unserer Gesellschaft, zweitklassige Bürger sind“, da ihnen keine uniforme Behandlung, auf Basis ihrer Staatsbürgerschaft zuteil wird, sondern auf Basis eines virtualen Mittelklasseideals. (Ebd., S. 178f.) 28 Goffman, Stigma (wie Anm. 27), S. 170.
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sierten die Last der Anpassung zu tragen. Auch Walther Rathenau teilt 1897 den „minderzähligen“ Juden die schwierige Aufgabe zu, die Abneigung ihrer Landesgenossen zu versöhnen.²⁹ Allerdings propagiert er damit nicht, wie es scheinen mag, den Topos der Judenfeindschaft, wonach die Juden durch ihre Art die Ressentiments der Mehrheitsgesellschaft selbst verursachen, sondern wollte seinen „Stammesgenossen“ plausibel machen, dass, wenn nicht sie selbst sich für ihre Gleichberechtigung engagieren, es niemand sonst von sich aus für sie tun wird.³⁰ Die Perspektive der „Normalen“³¹ bestimmten seinerzeit Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus. Letzterer manifestierte sich nach Shulamit Volkov als „cultural code“.³² An allen Dreien musste sich das moderne Judentum in der Fremdbetrachtung bezüglich des Grades seiner Abweichungen messen lassen, obwohl die Emanzipationskonzeption der Rechtsgewährung gemäß dem Grad der Assimilation mit der Reichsgesetzgebung von 1871 aufgegeben worden war.³³ Handelte die „Judenfrage“ ursprünglich von den Möglichkeiten der gleichberechtigten Einbeziehung von Juden in die Gesellschaft, wurde sie nun umgewertet zur Frage nach der zersetzenden Wirkung der Juden auf religiösem, sittlichem, literarischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet – auf die deutsche Kultur. Der moderne Antisemitismus war eine antiliberale, nationalistische Bewegung.³⁴ So konstatiert Volkov, dass Ende des 19. Jahrhunderts Emanzipation und Antisemitismus die Dichotomie zweier Kulturen darstellten. Doch selbst die Tatsache, dass Rathenau vorgibt, in einem anderen Sinne als der Judenverteidigung zu schreiben, schließt nicht aus, dass er in der Rolle des Vermittlers zwischen Deutschen und Juden agierte. Meine These ist vielmehr die, dass Rathenau gerade aufgrund der scheinbar unüberwindbaren kulturellen Dichotomie demonstrativ in die Rolle des Antisemiten schlüpfte und deren antisemitische Narrative benutzte, um sich das Interesse und die Erreichbarkeit der nichtjüdischen Leserschaft zu sichern.
29 Rathenau, Höre, Israel! (wie Anm. 2), S. 31. 30 Ebd., S. 29: „Den Kern der gesellschaftlichen Frage sehe ich […] in der fast leidenschaftlichen Abneigung der uninteressierten Mehrheit.“ Und ebd., S. 30: „Wer sucht ihr heute ernstlich die Antwort? Den Stammesdeutschen ist die Frage so zuwider wie der Gegenstand.“ 31 Diejenigen, die von den jeweils in Frage stehenden Erwartungen nicht negativ abweichen, nennt Goffman die Normalen. Goffman, Stigma (wie Anm. 27), S. 13. 32 Salzborn, Samuel: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich. Frankfurt a. M. [u. a.] 2010, S. 146–157. 33 Rürup, Reinhard: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1987, S. 99. 34 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus (wie Anm. 33), S. 134.
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Wie komme ich darauf? – Rathenau gibt, wie schon erwähnt, die Antwort selbst: „Dem Stammesdeutschen ist die Frage so zuwider wie der Gegenstand.“³⁵ Entsprechend wusste Rathenau mit Sicherheit darum, dass der jüdischen Publizistik um 1900, wenn sie zu Themen wie Staat, Nation, oder Gesellschaft Stellung bezog, eine machtvolle Mehrheitspublizistik gegenüberstand, die sich dem Dialog verweigerte und den deutsch-jüdischen Gegendiskurs nicht zu Wort kommen ließ.³⁶ Das Desinteresse an projüdischen Statements war um 1900 sogar derart signifikant, dass es eine enorme Schwierigkeit darstellte, „Schriften zugunsten des Judenthums, von freier Anschauung“ zu veröffentlichen, weil diese „– so klagen die Verleger – nicht gekauft, nicht gelesen!“ wurden.³⁷ Selbst die publizistischen Versuche von protestantischen Gegnern, den Antisemiten mit Argumenten beizukommen, scheiterten in der Regel an ihrer argumentativen Verstrickung mit Standards der Bildungskultur. „Die gesamte Frage zu problematisieren, wie es der Journalist Richard Nathanson getan hat, war nahezu unmöglich.“³⁸ Rathenau negiert zuerst die Auffassung der Philosemiten, wonach es keine Judenfrage mehr gäbe und kritisiert insgesamt die „fast leidenschaftliche Abneigung der uninteressierten Mehrheit“,³⁹ wonach weder die Ostjuden, noch die „reichen Tiergartenjuden“, noch der Staat bzw. die „Stammesdeutschen“ sich lösungsorientiert mit der „drohenden Kulturfrage“ auseinandersetzten. Um sich überhaupt Gehör zu verschaffen, greift er die pauschale Agitation der Antisemiten gegen die „Fremdlinge“ in der deutschen Nation auf und verweist mit seinem kulturmorphologischen Soziogramm auf das innerjüdische Spannungsverhältnis zwischen devianten Ostjuden, scheinassimilierten separierten Reichen und einem jüdischen Patriziertum, welches seinen „höchst konservativen Neigungen gemäß, bereitwillig anerkannt wird“.⁴⁰ Würde Rathenau die bedingungslose Assimilation predigen, wäre er ein Befürworter der Konversion zum Christentum,
35 Rathenau, Höre, Israel! (wie Anm. 2), S. 30. 36 Brocke, Michael: Visionen der gerechten Gesellschaft. Der Diskurs der deutsch-jüdischen Publizistik im 19. Jahrhundert. Köln [u. a.] 2009, S. 7. 37 Lehmann, Emil: Der Deutsche jüdischen Bekenntnisses. Vortrag gehalten im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens zu Berlin am 27. September 1893. Berlin 1894. Zu den Schwierigkeiten der Publikation vgl. das Vorwort des Vortrages. 38 Jensen, Uffa: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert. Göttingen 2005, S. 192. Richard Nathanson war Redakteur des Berliner Tageblattes, kommentierte unter dem Pseudonym Richard Norton 1881 die Debatte über die Judenfrage und hielt es ebenso verderblich gegen wie für die Unterstellungen der Antisemiten Partei zu ergreifen. In der Verteidigung sah er die Akzeptanz der Judenfrage. Ebd., S. 147. 39 Rathenau, Höre, Israel! (wie Anm. 2), S. 29. 40 Rathenau, Höre, Israel! (wie Anm. 2), S. 33.
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durch welche sich alle Pforten staatlicher Institutionen öffneten. Stattdessen rät er davon ab: „Denn würde die Hälfte von ganz Israel bekehrt, so könnte nichts anderes entstehen, als ein leidenschaftlicher Antisemitismus gegen Getaufte.“⁴¹ Auch Emil Lehmann konstatierte in seinem Vortrag das perpetuierende Prinzip der Judenhetze, welches seine Wirkungen stets zu neuen Ursachen derselben stempelt.⁴² Nachdem der Ausschluss von richterlichen Stellungen und akademischen Lehrämtern sowie dem Offiziersstand zur Folge gehabt habe, dass die Zurückgewiesenen sich Tätigkeiten in der Anwaltschaft und Presse zuwandten, beklagten sich die Antisemiten nun über die vielen jüdischen Anwälte und Journalisten. Aus diesem Teufelskreis des Antisemitismus will Rathenau mit seinem doppelten Lösungsansatz der gegenseitigen Öffnung von Staat und Judentum ausbrechen, indem er dem Staat die Rolle der autoritären Vermittlungsinstanz in der Judenfrage zuweist.
Höre, Israel! als „Machwerk“ Spätestens seit der Entdeckung des Manuskriptes gilt Rathenaus Text als ein wohldurchdachtes und -strukturiertes Machwerk,⁴³ worauf vor allem die Überarbeitung der ursprünglichen Formulierung deutet, „Bedarf es einer Erklärung, wenn ich zum Antisemitismus neige?“⁴⁴ Dabei gilt es zu bedenken, dass er letztere Formulierung mit Bedacht nicht publiziert hat und seine Argumentation deshalb auch nicht antisemitisch verstanden wissen wollte, was im eingangs zitierten Brief an Herzl deutlich wird. Auch der Titel Höre, Israel! scheint weniger eine bloße Provokation, die Verfremdung eines fundamentalen jüdischen Glaubenssatzes zur Forderung nach bedingungsloser Assimilation⁴⁵ zu sein, als mehr der Versuch, die Frage der Integration bzw. deutsch-jüdischen Versöhnung wieder zur Kulturfrage der gesamten Nation zu erheben. Denn, so meine Auffassung, der Aufruf ist nicht nur an deutsche Juden oder Ostjuden adressiert, sondern an die deutsche Nation bzw. den deutschen Staat und seine Bürger insgesamt, da die
41 Rathenau, Höre, Israel! (wie Anm. 2), S. 32. 42 Lehmann, Vortrag (wie Anm. 37), S. 6. 43 Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 6), S. 51. 44 Das Manuskript von „Höre, Israel!“ ist einsehbar im Rathenau-Archiv unter der Signatur NR 1/42, nach Volkov, Walther Rathenau (wie Anm. 6), S. 235, Fn. 34. 45 Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 6), S. 51; Volkov, Walther Rathenau (wie Anm. 6), S. 56, bezeichnet den Text als Frontalangriff auf die deutschen Juden, wegen der unterstellten Unfähigkeit, sich zu assimilieren.
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„Judenfrage“ weder zwischen den Konfliktparteien noch vom Staat lösungsorientiert diskutiert wurde. In aller Deutlichkeit formulierte Rathenau die Dechiffrierung seiner persönlichen Vorstellung des Aufrufes an das Volk Israel in einem Brief an den Judenhasser Major Hanns Breising 1919: Wissen Sie, wozu wir zur Welt gekommen sind? Um jedes Menschenantlitz vor den Sinai zu rufen. Sie wollen nicht hin? Wenn ich sie nicht rufe, wird Sie Marx rufen. Wenn Marx Sie nicht ruft, wird Spinoza Sie rufen. Wenn Spinoza Sie nicht ruft, wird Christus Sie rufen. Sie wollen sterben, um einer alten Weltordnung Willen? Sie werden leben um einer neuen Weltordnung willen. Und diese Weltordnung ist sehr einfach: Nicht die Edlen sind für die Unedlen verantwortlich, sondern […] ganz Israel ist für jeden, ja für jeden verantwortlich. Ganz Israel aber ist jeder, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, das sind Sie und ihr Oberst und ihr Bursche und ich und wir alle.⁴⁶
Dieser jüdische Universalismus und dessen Glaube an den Menschheitsjuden mag der eine als Ausdruck der späten Versöhnung⁴⁷ des 52-jährigen Rathenau mit seinem Judentum sehen, eine andere hält ihn hier für den grundlegenden und permanenten Handlungsimpuls seiner schöpferischen Tätigkeit. In Höre, Israel! scheint er lediglich anders gesinnt, weil er dem antisemitischen Vorwurf des Partikularen nicht mit dem seinerzeit „abgenutzten“ Hinweis auf die gemeinsame abendländisch-europäische Zivilisation⁴⁸ trotzte. Für das Ziel des Aufrufs erscheint dies aber auch ganz unzweckmäßig. Denn publiziert wurde Höre, Israel! in der Zeitschrift Die Zukunft, die seit 1892 ein antiwilhelminisches Publikationsorgan war und als der Kulturhort Deutschlands galt.⁴⁹ Relevant für die irritierende Positionierung des Autors erscheint also, dass er mit seinem Text –
46 Rathenau an Major Hanns Breising am 29. 11. 1919. In Rathenau, Walther: Briefe. Dresden 1928, S. 202. Die Verweise auf Jesus, Spinoza u. a. kennzeichnen für Rathenau „die Grenze aller Rassetheorie“: „Zweifellos ist die Vaterschaft und Vererbungskraft Jesu, Luthers, Spinozas und Goethes auf den germanischen Volkskörper stärker als diejenige irgendeines germanischen Zeitgenossen, dessen ‚Blut‘ noch heute in tausend Individuen weiterlebt.“ Vgl. Rathenau, Ungeschriebene Schriften (wie Anm. 10), S. 212. 47 Versöhnung ist auch ein Schlüsselbegriff der Theologie: Seit der Aufklärung entsprach die Relation zwischen Versöhnung und Gerechtigkeit der Relation zwischen Sünde und Schuld. Schuld bezog sich auf das, worin sich Menschen gegenseitig verfehlen; und Sünde als das, worin sich der Mensch dem Willen Gottes verweigert. Zwischenmenschliche Versöhnung wurde als Voraussetzung zur Versöhnung mit Gott interpretiert. Vgl. Engel, Ulrich: „… ist die göttliche Gewalt entsühnend“. Eine systematisch-theologische Skizze zum schwierigen Verhältnis von Gerechtigkeit und Versöhnung. In: Cortes, Allessandro (Hrsg.): Versöhnung. Theologie, Philosophie, Politik. Berlin [u. a.] 2006, S. 23–40, hier: S. 25. 48 Jensen, Doppelgänger (wie Anm. 38), S. 191, verweist auf die Funktionen des jüdischen Universalismus. 49 Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 6), S. 48f.
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anders als die Medien des Centralvereins oder des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus – sowohl ein deutsch-jüdisches als auch deutschstämmiges Publikum erreichte. Aufgrund der antisemitischen Ausrichtung des Blattes ging er sicher vom Interesse des Herausgebers Maximilian Harden (1861–1927) sowie einer Vielzahl seiner simultanen Leserschaft aus. Aus der Perspektive der mehrheitlich antisemitisch denkenden, deutschen bürgerlichen Gesellschaft formulierte er Identitätsziele⁵⁰ für ein anerkanntes gleichberechtigtes deutsches Judentum, das dann endlich Teil einer inklusiven Nation⁵¹ sein würde, sowie hierzu notwendige Handlungen jüdischer- und staatlicherseits.
Höre, Israel! – eine diachrone Lesart Dass sich assimilierte deutsche Juden berufen fühlten, zwischen ihren Glaubensgenossen und dem Staat zu vermitteln, war kein Novum. Genealogisch betrachtet, folgt Rathenaus Aufruf den Bemühungen von David Friedländers Sendschreiben an seine Hochwürden, Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller, von einigen Hausvätern jüdischer Religion aus dem Jahre 1799 und Emil Lehmanns⁵² Aufruf mit dem beinahe identischen programmatischen Titel Höre Israel! Aufruf an die deutschen Glaubensgenossen aus dem Jahre 1869. Ersteres enthielt das Angebot, zugunsten der Zugehörigkeit zum christlichen Staat auf integrationshinderliche Identitätsbestandteile zu verzichten – insbesondere auf die „unnütze“ Ausführung der Zeremonialgesetze, „um die Erfüllung der Pflichten eines Staatsbürgers“
50 Neue Identitätsziele bilden unser Wunschbild in der Zukunft ab. Sie dienen als Referenzkategorie für den Ist-Zustand, wobei die Diskrepanz zwischen dem Ist-Zustand und dem SollZustand sich motivational auf Handlungen auswirkt, da man bestrebt ist, diese Diskrepanz zum Schwinden zu bringen. Vgl. Müller, Bernadette: Empirische Identitätsforschung. Personale, soziale und kulturelle Dimensionen der Selbstverortung. Wiesbaden 2011, S. 95f. 51 Bezeichnet eine moderate Form des Nationalbewusstseins oder Patriotismus, die alle politisch-kulturellen Gruppen einschließt. Vgl. Riescher, Gisela: Inklusiver Nationalismus. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe. Bd. 2. N–Z. München 2010, S. 639f. 52 Lehmann bemühte sich mit anderen jüdischen Intellektuellen darum, die ständig bedrohte Emanzipation der Juden verfassungsmäßig sicherzustellen, was am 3. Dezember 1868 erreicht wurde. 1869 erschien sein Höre-Israel-Aufruf. Das Bundesgesetz vom 3. Juli 1869 stellte die Juden in den meisten anderen deutschen Staaten gleich. Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung: Emil Lehmann. http://www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel/emil_ lehmann.htm (30. 12. 2012).
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möglich zu machen.⁵³ Das Sendschreiben gilt als Ausgangspunkt nachfolgender Reflexionen deutscher Juden über ihr Verhältnis zu Staat, Nation und Gesellschaft in Deutschland⁵⁴ und endete mit der hoffnungsvollen Schlussformel „Einst werde ich [Gott, Anm. d. Verf.] bei den Völkern die Sprache läutern, dass sie alle den Namen Jehova erkennen, und ihm dienen einträchtiglich.“⁵⁵ Ein Blick in Rathenaus Aufruf zeigt zudem deutlich die Bedeutung Johann Gottfried Herders für diesen Diskurs, denn dieser wertete in seinem pragmatischen Manifest Über die Bekehrung der Juden aus dem Jahre 1802⁵⁶ die Religionsfrage zur einfachen Staats-Frage um und schlug vor, die Juden nicht nach ihrem Bekenntnis, sondern nach ihrer Entbehrlichkeit, Nützlichkeit oder Schädlichkeit zu bewerten und entsprechend über ihre Duldung zu befinden. Allgemein lässt sich Rathenaus Text im innerjüdischen Diskurs über Devianz und Separatismus als Kontrapunkte jüdischer Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft einerseits und einer deutsch-jüdischen Symbiose andererseits verorten. So entwarf Emil Lehmann (1829–1898), in seinem Aufruf Höre Israel! programmatische Vorstellungen von einem neuzeitlichen Judentum, welche einen erheblichen Widerstand orthodoxer Juden weckten. Sein Ziel war es, Abschottungen aufzubrechen und eine Öffnung gegenüber der nicht-jüdischen Gesellschaft zu erleichtern.⁵⁷ Wie später Rathenau, glaubte auch Lehmann fest an die Vereinbarkeit von Deutschtum und Judentum. Grundsätzlich vermitteln sowohl Lehmann als auch Rathenau in ihren Aufrufen die Überzeugung, wonach jüdische Devianz und Separatismus der deutsch-jüdischen Symbiose schaden. Die Fokussierung der so genannten Judenfrage auf die Kulturfrage erscheint bei beiden Autoren als Aushandlungs- bzw. Abgrenzungsprozess zwischen den Identitäten von Ost-
53 Anonym, Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion, Berlin 1799, S. 58. 54 Brocke, Visionen (wie Anm. 36), S. 17. Davor war für Moses Mendelssohn die Trennung von Staat und Religion Voraussetzung für die staatliche Duldung, Anerkennung sowie Gleichberechtigung des Judentums bzw. aller Religionen. Während der Staat die Glaubensfreiheit garantieren sollte, müsste die Kirche die Gewissensfreiheit respektieren. Vgl. Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Berlin 1783. 55 Biblische Prophezeiung für Jerusalem und die Völker: Zephanja 3,9. Vgl. Anonym, Sendschreiben (wie Anm. 53), S. 86. 56 Die folgenden Anmerkungen zu Herders Text beziehen sich auf die Studie von: Berghahn, Klaus L.: Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung. 2., durchges. Aufl. Köln [u. a.] 2001, S. 201–205. Berghahn bezieht sich auf Herder, Johann Gottfried: Über die Bekehrung der Juden. In: Adrastea IV, 5 SW, Band XXIV (1802), S. 61–75. 57 Diese und nachfolgende biografische Ausführungen vgl. Duisburger Institut für Sprachund Sozialforschung: Emil Lehmann. http://www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel/ emil_lehmann.htm (30. 12. 2012).
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juden bzw. Orthodoxen und assimilierten deutschen Juden und findet sich nicht minder scharf bei Lehmann: Wir stehen nicht auf dem Kulturstandpunkt Esra’s und seiner Zeit. […]. Seit wann und wo aber müssen die Vorgeschrittenen ihre Herzens- und Kulturbedürfnisse nach den Zurückgebliebenen einrichten? Heißt das diese fördern, oder nicht vielmehr umgekehrt, diese noch weiter zurückstoßen ins Elend des Wahnes, sich aber selbstmörderisch ihnen zugesellen? Wo stünden wir heute, wenn Moses Mendelssohn in diesem Sinne gedacht? […] Aufwärts nicht rückwärts die Blicke, so wird’s uns gelingen, und die hinter uns Stehenden werden es uns danken; wir trennen uns nicht von ihnen, wir ebnen ihnen die Bahn zum Lichte. […] Mit der Nachahmung fremder Sitten verhält es sich so: wer eine chinesische Mauer um sich ziehen will, der mag nur das thun, was er und sein Volk erfunden. Wir andern, und dazu gehören die praktischen Juden, wissen die Mahnung zu schätzen: „prüfet Alles und das Beste behaltet“.⁵⁸
Dieser Standpunkt Lehmanns verweist auf ein Zeitkonzept der Moderne als Grundlage für seine Bewertung der Ostjuden und orthodoxen Juden – die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Es wurde später von Ernst Bloch in die Form einer Theorie gebracht: „Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit leben sie noch nicht mit den anderen zugleich.“⁵⁹ Auch Rathenau will seine Glaubensgenossen nicht „abschütteln“. Vielmehr solle der weiter entwickelte Zwischenstand der „Anartung“, zu dem er sich zählt, „nach unten hin wirken“.⁶⁰ Sowohl bei Lehmann als auch bei Rathenau spiegelt sich die Geschichtsauffassung der meisten Historiker des 20. Jahrhunderts, die von dem Glauben geprägt war, dass Geschichte ein Zusammenwirken von Entwicklungen auf ein Ziel hin sei, dass es eine fortschreitende Höherentwicklung bis zum Endpunkt gäbe.⁶¹ Beider Fortschritts- und Stufendenken, ihre Auffassung der Ungleichzeitigkeit, die Metapher des Lichtes bei Lehmann und die Forderung nach Selbsterkenntnis und Selbstkritik bei Rathenau deuten darauf hin, dass sie sich selbst und ihre Texte in die Tradition der Haskala stellen und ihnen die Emanzipation des Judentums, nicht nur privilegierter oder konvertierter Juden, ein Anliegen ist. Schon Lazarus Bendavid (1762–1832) beschrieb in Etwas zur Charakteristik der Juden aus dem Jahre 1793 schonungslose Selbstkritik
58 Lehmann, Emil: Höre Israel! Aufruf an die deutschen Glaubensgenossen. Dresden 1869, S 66–68. 59 Ernst-Bloch-Gesamtausgabe. Bd. 4: Erbschaft dieser Zeit. Erw. Ausg. Frankfurt a. M. 1977, S. 104–126, hier: S. 104. 60 Rathenau, Höre, Israel! (wie Anm. 2), S. 33. 61 Jordan, Stefan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Paderborn [u. a.] 2009, S. 55.
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als Voraussetzung für eine jüdische Aufklärung, ohne etwas mit jüdischem Selbsthass zu tun zu haben, wie Christoph Schulte meint.⁶² Denn sein Ziel sei die Emanzipation der Juden gewesen. In dieser geistesgeschichtlichen Verortung begründet sich also die „Unmöglichkeit der Judenverteidigung“ von Seiten Rathenaus und Lehmanns bzw. die historische Legitimation dafür, in einem anderen Sinne als der Judenverteidigung zu schreiben.⁶³ Wie Lazarus Bendavid sehen sie den Staat und dessen Judenpolitik als Mitverursacher für antijüdische Ressentiments und suchen gleichermaßen nach den Fehlern der Juden, um sie zu bewegen, „an ihrer eigenen Verbesserung zu arbeiten“.⁶⁴ Unwahrscheinlich erscheint dementsprechend die hegemoniale These, wonach Rathenau in zunehmendem Maße Hassgefühle gegen die eigene unterprivilegierte Gruppe und deren spezifische Merkmale entwickelte – besagten jüdischen Selbsthass – und sich deshalb nicht mit der diskriminierten Minderheit solidarisierte.⁶⁵ Vielmehr erscheint Höre, Israel! als ein charakteristisches Dokument der Moderne, insofern „modern“ als Wertungsbegriff das Neue bzw. Vorübergehende mit dem Alten bzw. Unzeitgemäßen kontrastiert.⁶⁶ Die Wahrnehmung der Moderne als Ungleichzeitigkeit wird auch nachvollziehbar in Zur Kritik der Zeit.⁶⁷ Lehmanns radikales Reformprogramm rechnet mit sämtlichen jüdischen Eigenheiten ab, die von ihm als unzeitgemäß und unzweckmäßig hinsichtlich ihres Identifikationspotentials angesehen werden, weil sie der Eintracht zwischen deutschen Christen und Juden im gemeinsamen Staat im Wege stünden. So bedürfe es seiner Auffassung nach einer Anpassung der Religions- bzw. Gebetspraxis entsprechend der Primäridentität⁶⁸ als Deutsche und nicht als Juden:
62 Schulte, jüdische Aufklärung (wie Anm. 5), S. 107–114, hier: S.108f. Bendavid verfasste Kommentare zu allen Kritiken Kants und übernahm 1778 die von Saul Friedländer gegründete jüdische Freischule, die bis 1819 eine Simultanschule für Juden und Christen war. Bendavid, Lazarus: Etwas zur Charackteristick der Juden. Leipzig 1793. 63 „Seit wann und wo aber müssen die Vorgeschrittenen ihre Herzens- und Culturbedürfnisse nach den Zurückgebliebenen richten?“, vgl. Lehmann, Israel, S. 65. 64 Bendavid, Charackteristick der Juden (wie Anm. 62), S. 4, zitiert nach Schulte, Jüdische Aufklärung,, S. 108. 65 Vgl. Schulin, Ernst [u. a.] (Hrsg.): Walther-Rathenau-Gesamtausgabe. Bd. VI: Walther Rathenau. Maximilian Harden. Briefwechsel 1897–1920. München [u. a.] 1983, S. 35. 66 Gumbrecht, Hans Ulrich: Modern, Modernität, Moderne. In: Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4 Mi–Pre. Hrsg. von Otto Brunner [u. a.] Stuttgart 2004, S. 96. 67 „[…] so dass alle zentrische Bildung von heute zur peripherischen von morgen wird, und jeder Schritt abseits vom Wege auch ein Schritt abseits von der Zeit bedeutet.“ Vgl. Rathenau, Walther: Zur Kritik der Zeit. 8. Aufl. Hildesheim [u. a.] 1912, ND 1998, S. 14f. 68 Müller, Empirische Identitätsforschung (wie Anm. 50), S. 79.
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Wir wollen nicht nationale Zusammengehörigkeit, nur religiöse. Wir freuen uns, Deutsche zu sein und möchten unser deutsches Vaterland nicht mit Palästina vertauschen. Darum ziemen die Trauerklänge um die Zerstörung Jerusalems, die Klagelieder von zum Theil tiefer Innigkeit nicht mehr unserer Zeit. Sie waren im Ghetto berechtigt, nicht in der Freiheit.⁶⁹
Als „brennendste Kulturfrage unserer Zeit“ benennt Lehmann die Konfessionsschulen, denn die Kinderseelen sollen „erzogen werden für’s Leben, für’s Bürgertum“.⁷⁰ Getrennter Unterricht flöße schon den Kindern den „Gifthauch“ religiösen Vorurteils ein. Gemeinsamer Unterricht vermittele dagegen das Gefühl, „Söhne einer gemeinsamen Mutter, der Heimat“, zu sein. Dementsprechend seien jüdische und christliche Elementarschulen verwerflich,⁷¹ weil sie für die Kinder ein Ghetto errichteten und sie absperrten von denen, mit denen sie dereinst als Bürger vereint leben und wirken sollten.⁷² Konsequent fordert er die konfessionslose Schule und kritisiert, dass die öffentlichen Schulen inklusive der Schulbücher durch den Machtspruch des Staates christlich gefärbt seien, jüdischen Lehrern die Anstellung erschwert werde und Judenverspottung an der Tagesordnung sei.⁷³ Vor dem Hintergrund der protestantischen Sendung Preußens als dem deutschen Nationalmythos⁷⁴ erscheint die heute so selbstverständliche Trennung von Staat und Religion in der Bildung als Unmöglichkeit. Das Prinzip der Simultanschule entspricht Herders Postulat der gemeinsamen Erziehung von christlichen und jüdischen Kindern. Emil Lehmann und Walther Rathenau sahen darin die Voraussetzung für eine „Anartung“ bzw. für die deutsch-jüdische Symbiose. Nicht nur Lehmann und Rathenau, sondern die meisten liberalen Juden waren davon überzeugt, dass die Abschaffung von jüdischen Schulen ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur vollständigen gesellschaftlichen Integration darstellte. Entsprechend regte sich ein liberaler Widerstand gegen ein Bildungssystem, das Kinder nach religiösen Gesichtspunkten trennte. In der Weimarer Republik gaben schließlich nur noch eine Minderheit liberaler jüdischer Eltern ihre Kinder in
69 Müller, Empirische Identitätsforschung (wie Anm. 50), S. 49. 70 Lehmann, Israel (wie Anm. 58), S. 52f. 71 Lehmann, Israel (wie Anm. 58), S. 55. 72 Lehmann, Israel (wie Anm. 58), S. 56. 73 Lehmann, Israel (wie Anm. 58), S. 56. 74 Zur Entwicklung des deutschen Nationalmythos vgl. Wolfrum, Edgar: Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Göttingen 2001, S. 10–25. Schon vor und im Zuge der Reichsgründung konstruierte die Historiografie und politische Publizistik bewusst eine politische Genealogie von Luther über Friedrich den Großen zu Wilhelm I., indem sie Gustav Adolf II. als Symbol für die göttliche Sendung, als „Übergang“ vom protestantischen Reformator zum kosmopolitischen Monarchen Friedrich II. einreihte. Vgl. Droysen, Gustav: Geschichte der Preußischen Politik, 14 Bde. 1855–1886.
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jüdische Schulen, da Simultanschulen von den leitenden Grundsätzen der christlichen Religion beherrscht blieben und den Schulbesuch am Sabbat forderten. Im Jahre 1898 gab es noch 492 jüdische Elementarschulen. Dass die Zahl auf 247 im Jahre 1913 und nur noch 141 im Jahre 1932 rückläufig war,⁷⁵ deutet auf das Identifikationspotential von Rathenaus und Lehmanns Kulturfrage. Diese betreibt Lehmann bis zur letzten Konsequenz, indem er auf die selbststigmatisierende und selbstausgrenzende Wirkung des Sabbats verweist: Allein vergessen wir nicht, dass heutzutage der Sonntag eine bürgerliche Bedeutung hat, die seine kirchliche himmelweit überragt. Und diese bürgerliche Bedeutung ist es, der wir – ob mit oder wider Willen – Rechnung tragen müssen. […] Keinem jüdischen Schüler, der die öffentliche Schule am Sonnabend nicht besuchen soll, wird Sonntags ein Nachunterricht erteilt, keinem jüdischen Stadt- oder Staatsbeamten kann Urlaub für den Sonnabend und amtliche Nacharbeit am Sonntag gewährt werden. Eben weil wir vollständig freie Religionsübung, bürgerliche und staatsbürgerliche Gleichberechtigung fordern und beziehungsweise haben, eben deshalb müssen wir auch streng die Gegenleistung einhalten: den bürgerlichen Pflichten darf durch die Religionsübung kein Eintrag geschehen. […] Und auf der anderen Seite: lässt es sich volkswirtschaftlich rechtfertigen, wenn eine bedeutende Zahl Menschen allwöchentlich zwei Tage hintereinander feiert? […] Noch schlimmer sind jüdische Schüler christlicher Schulen daran, denen die Strenggläubigkeit der Eltern den Schulbesuch am Sabbath verwehrt. […] Andere Eltern erlauben ihren Kindern den Schulbesuch – aber sie dürfen nicht schreiben. […] Als wenn mit derartigen Ansprüchen und Verboten wir uns nicht selbst wieder ein Judenzeichen schlimmer Art anhefteten.⁷⁶
So dränge denn alles darauf hin, die alte Sabbatstrenge aufzugeben und statt des Sabbats, „den wir leider nicht aufrecht erhalten können, den bürgerlichen Ruhetag, den Sonntag, auch religiös und gottesdienstlich zu einem Tage der Erhebung [zu] machen.“⁷⁷ Den Schlussstein „zur endlichen Lösung des langgenährten, altverjährten Glaubens- und Racenhasses“ sieht Lehmann in der Ehe zwischen Juden und Christen.⁷⁸ Denn nachweislich suchte das städtische Judentum in jener Zeit fast nur die Freundschaft von Juden und wollte, so Volkov, auf seine gesellschaftliche Exklusivität nicht verzichten.⁷⁹ Auch Lehmann weist den assimilierten Juden also eine Rolle als identitätsstiftende Vermittler zu, die sie aus Dankbarkeit und zur Bestätigung für die zuteilgewordene Gleichstellung annehmen sollten. Als Vermittler sollen sie ihren
75 Brenner, Michael: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Übersetzt von Holger Fliessbach. München 2000, S. 72. 76 Lehmann, Israel (wie Anm. 58), S. 42–44. 77 Lehmann, Israel (wie Anm. 58), S. 45. 78 Lehmann, Israel (wie Anm. 58), S. 15. 79 Volkov, Selbstgefälligkeit und Selbsthass (wie Anm. 8), S. 185.
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bedrängten Glaubensgenossen in fremden Ländern durch kräftige Hilfe Achtung und Liebe einflößen für deutsche Juden. So wollen wir die Aufgabe lösen: unseren auswärtigen Glaubensgenossen den deutschen, unseren Kindern und unseren Mitbürgern den jüdischen Namen werth zu erhalten.⁸⁰
Für die Beurteilung der beiden „Höre-Israel!“-Aufrufe scheint es an dieser Stelle sinnvoll und nötig, sich von der Konstruktion des kulturellen Gedächtnisses loszusagen, das eine „Exotisierung der Geschichte des europäischen Judentums“ betreibt und „jene nachträglich ins Unrecht“ setzt, „die im Glauben an die Bildungsidee den Weg der Assimilation gewählt haben“.⁸¹ Betrachtet man Rathenaus „Machwerk“ offener in einem Netzwerk der Moderne von Spinoza bis zum Erscheinen seines Artikels ergibt sich eine diachrone Perspektive, in der die „Judenfrage“ nicht nur rein negativ als eine Chiffre funktioniert, die politisches, kulturelles und ökonomisches Unbehagen sowie Existenz- und Überfremdungsängste impliziert,⁸² sondern parallel dazu, nämlich im Kontext der SpinozaRezeption des 18. und 19. Jahrhunderts, positiv besetzt war. Spinoza wurde zum Prototypen des modernen Juden stilisiert, weil er erstmalig seine Kritik an der jüdischen religiösen Tradition mit der Forderung verbunden hat, als Jude in einem liberalen demokratischen Staat leben zu wollen: „Spinoza’s treatment of the Jewish Question is consistent with, even precondition for, liberalism’s attempt to create a new civic identity out of the traditional religious particularities.“⁸³ In der Folge avancierte die Spinoza-Rezeption zur Verhandlungsmasse einer jüdischchristlichen Kohabitation in der Moderne.⁸⁴ In den vier Auflagen des biografischen Romans von Berthold Auerbach⁸⁵ (1812–1882) Spinoza. Ein Denkerleben, den seinerzeit jeder assimilierte jüdische
80 Lehmann, Israel (wie Anm. 58), S. 88f. 81 Gerhard Lauer: Die Rückseite der Haskala. Geschichte einer kleinen Aufklärung. Göttingen 2008, S. 14. 82 Benz, Wolfgang (Hrsg.): Die „Judenfrage“. Schriften zur Begründung des modernen Antisemitismus 1780 bis 1918. München 2002, S. 7. 83 Smith, Steven B.: Spinoza, Liberalism, and the Question of Jewish Identity. New Haven [u. a.] 1997, S. 205–206. 84 Strauss, Leo: Das Testament Spinozas. In: Strauss, Leo: Gesammelte Schriften. Bd. 1: Die Religionskritik Spinozas und dazugehörige Schriften. Hrsg. von Heinrich Meier. Stuttgart [u. a.] 1996, S. 415–422, zitiert nach: Wulf, Jan-Hendrik: Spinoza in der jüdischen Aufklärung. Berlin 2012, S. 34, Fn. 57. 85 Jensen, Doppelgänger, S. 79, verweist auf seine paradigmatische Stellung für die sich verbürgerlichenden Juden: „Kaum jemand sonst verknüpfte die Teilnahme an der allgemeinen Kultur mit dem Festhalten an einer jüdischen Identität erfolgreicher als Auerbach.“ Auerbach lebte in Berlin und hatte einen gemischten Salon, in dem ab 1873 auch Max Nordau verkehrte. Vgl. Zudrell, Petra: Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau. Zwischen Zionismus, Deutschtum
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Bürger verschlungen haben dürfte,⁸⁶ kommt jener „Universalismus“ als inklusive Anschauung zum Ausdruck, den wir schon im Brief Rathenaus an Breising 1919 vernommen haben: Welch Wirrsaal ist das Leben der Menschheit, das sich in Stammes- und Glaubensgenossenschaften abscheidet; Und die eine haßt und verfolgt die andere und dünkt sich allein weise und gottgefällig. […] Eine Stimme, noch mächtiger als in der Synagoge, rief jetzt Baruch, den Segen zu sprechen über das offenbare ungeschriebene Gesetz, dessen beide Säulen Befreiung von jeglicher Stammes- und Glaubenssonderung und Liebe zur Menschheit deuten. […] Baruch war nicht mehr der Sohn Israels, er war der Sohn der Menschheit. Nicht nur seine Abstammung trieb ihn darauf hin, sich als solchen zu erkennen […] – der Geist des Lebens, der Geist Gottes erfasste ihn und trug ihn hinweg über alle Schranken und hielt ihn fest und frei in wonniger Schwebe.⁸⁷
und Judentum. Würzburg 2003, S. 98. Dass Walther Rathenau Auerbachs Werke kannte, geht aus einem Brief an Wilhelm Schwaner vom 5. 2. 1916 über die jüdische Identität deutscher Schriftsteller hervor: „Juden waren und sind sicher: Aram, Auerbach, Franzos, Holländer.“ Vgl. Jaser, Alexander [u. a.] (Hrsg.): Walther-Rathenau-Gesamtausgabe. Bd. 2: 1914–1922. Düsseldorf 2006, Nr. 1424, S. 1512f. 86 Die Verehrung des sephardischen Judentums, insbesondere Spinozas soll im Deutschland des 19. Jahrhunderts teilweise Kultcharakter gehabt haben, wovon das Interesse an der SpinozaÜbersetzung und Spinoza-Biografie Auerbachs zeugen. Vgl. Espagne, Michel: Kulturtransfers unter Juden in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Schmale, Wolfgang/ Steer, Martina (Hrsg.): Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte. Frankfurt a. M. [u. a.] 2006, S. 83–96, hier: S. 93. Trotzdem der Roman ein Plädoyer für die Bewahrung jüdischer Identität darstellt, wurde er bis in die 1850er-Jahre jüdischerseits als Jugendlektüre abgelehnt und erst zu Beginn der 1860er-Jahre in die Empfehlungslisten jüdischer Pädagogen aufgenommen, nachdem 1857 die 3. überarbeitete Auflage erschienen war, in deren Vorwort Hinweise bezüglich des Gegenwartsbezugs getilgt wurden. Demgegenüber bezog Abraham Geiger den Roman bereits in den 1840er-Jahren in seine Vorlesungen zur jüdischen Geschichte und Literatur mit ein. Vgl. Glasenapp, Gabriele: Spielarten jüdischer Identitätsbestimmung im frühen 19. Jahrhundert. Berthold Auerbachs Spinoza-Roman. In: Delf, Hanna (Hrsg.): Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte. Berlin 1994, S. 289–304, hier: S. 300. Für die deutschen Juden der „Generation Rathenau“ war der historische Roman bereits fester Bestandteil der materiellen Kultur deutschen Reformjudentums. Übersetzungen erfolgten ins Französische (1858), Spanische (1876), Englische (1882), Russische (1894), Hebräische (1898 und 1917) Vgl. Shavit, Zohar [u. a.]: Deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur von der Haskala bis 1945: die deutsch- und hebräischsprachigen Schriften des deutschsprachigen Raums; ein bibliographisches Handbuch. Bd. 1. Stuttgart [u. a.] 1996, S. 101f. 87 Auerbach, Berthold: Spinoza. Ein Denkerleben. Dresden 1836, 1854, 1857, 1871, ND Bremen 2011, S. 75. Zitiert nach der überarbeiteten Fassung von 1857, welcher auch die nachfolgende 4. Auflage des Jahres 1871 entspricht.
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Auerbach ging es wie vielen Repräsentanten der jüdischen Minderheit nicht um die Selbstaufgabe der Juden als solche, sondern um eine gemeinsame jüdischchristliche Zivilgesellschaft, um Eintracht – um eine inklusive Nation, die alle politisch-kulturellen Gruppen auf der Grundlage ihres Menschseins in einem Staate einschließt. Berthold Auerbach war ein gleichgesinnter Zeitgenosse und enger Freund von Emil Lehmann. Zwischen 1840 und 1880 galt er als „Lieblingsautor der Nation“,⁸⁸ obwohl er in seinem Werk eine harmonische Verbindung von deutschem Volkstum und jüdischer Kultur beschrieb. Die Propaganda der Unversöhnlichkeit des Antisemitismusstreites 1879/1880 soll ihn letztlich jedoch desillusioniert haben.⁸⁹ Auch Emil Lehmann, der sich seit der 1848er Revolution für die Emanzipation der deutschen Juden engagiert hatte, zog 1893 eine ernüchternde Bilanz: In der That hat trotz des vierundzwanzigjährigen Bestandes der Gleichberechtigung in Deutschland, trotz der Bewährung Deutscher jüdischen Bekenntnisses in Krieg und Frieden, die Mehrheit der deutschen Staaten von dieser Gleichberechtigung sehr mäßigen Gebrauch gemacht. Man hat es wirklich im Verwaltungswege einzurichten gewusst, dass Deutsche jüdischen Bekenntnisses von dem höheren wie niederen Staatsverwaltungsdienst mit vereinzelten Ausnahmen in Baden und Preußen wohl im ganzen übrigen Deutschland, von richterlichen Stellungen und akademischen Lehrämtern außer Preußen, Bayern und Baden wohl ebenfalls im übrigen Deutschland, und vom Offiziersstand – dem ständigen wie dem der Reserve – wieder mit vereinzelten Ausnahmen bei letzterer, überall ausgeschlossen blieben.⁹⁰
An seinem Reformprogramm, wie er es 1869 formuliert hatte, hielt Lehmann auch 1893 fest und erhielt ein disparates Feedback auf seinen Vortrag „Der Deutsche jüdischen Bekenntnisses“, den er vor Mitgliedern des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gehalten hatte. Was einmal mehr zeigt, wie wenig homogen die deutsch-jüdischen Sichtweisen um die Jahrhundertwende waren und dass dem jungen Kollektiv „Centralverein“ in seinem Gründungsjahr als Vergesellschaftung⁹¹ keine kollektive Identität zugeschrieben werden
88 Berthold Auerbach war stolz darauf, von Jacob Grimm als deutscher Dichter anerkannt worden zu sein. Entsprechend schmerzte es ihn, dass man ihn von antisemitischer Seite nicht als Deutschen, sondern als Semiten ansah. Vgl. Höxter, Julius (Hrsg.): Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. Bd. 5: Neueste Zeit. 1789 bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 1930, S. 147. 89 Vgl. auch die biografischen Ausführungen zu Auerbach in Reiling, Jesko: Berthold Auerbach (1812–1882). Werk und Wirkung. Heidelberg 2012. 90 Lehmann, Vortrag (wie Anm. 37), S. 6. 91 Vergesellschaftung soll eine Beziehung heißen, „wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder ebenso motivierter Interessenverbindung beruht. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, rev.
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kann. So schreibt Emil Lehman im Vorwort: „Der nachfolgende Vortrag [...] hat bei Freund und Feind Anfechtung erlitten. Die ihn gehört und ihn nicht gehört, haben ihn in der Presse und sonst von den verschiedenartigsten, einander widersprechendsten Standpunkten aus befehdet.“⁹² Aus diesem Blickwinkel scheinen auch die unterschiedlichen Reaktionen auf Rathenaus Höre, Israel! der mangelnden Kohärenz in den Wahrnehmungen, Positionen und Identitätszielen deutscher Juden geschuldet. Entsprechend scheint es tatsächlich unredlich, von der „jüdischen Kultur“ zu sprechen, da diese keine empirisch beschreibbare zentrale Institution, sondern eine Verbundenheit individueller Identitätsentwürfe darstellt.⁹³ Das Gefühl der Notwendigkeit einer Vermittlung durch eine allparteiliche vorurteilsfreie Person zwischen den Religionen und Religionsgenossen untereinander sowie zwischen „den Rassen“ scheint in dieser Hinsicht umso verständlicher. In Auerbachs biografischem Bestseller über Spinoza, zu dessen Rezipienten auch Rathenau gehört haben mag, verkörpert die Figur Olympia die Rolle der Third-Person Intermediary. Olympia (über Spinoza): Gerade weil er als Jude geboren ist, dem sich die ganze Welt feindlich gegenüberstellt, hat er sich zu einer Vorurteilslosigkeit und Gewissenhaftigkeit des Denkens, zu einem unbeugsamen Gerechtigkeitssinn erhoben, die man bewundern muß, und oft zu eigener innerer Beschämung.⁹⁴ Herr Kerkering: Ich finde die Juden auch recht interessant, sie sind so eine Art historischer Reliquie, […]. Ich betrachte die Juden als Splitter eines asiatischen Stammes, die uns durch ihre seltsamen Formen bisweilen unterhalten können. Olympia: Hatten Sie in Hamburg viel Umgang mit Juden? Herr Kerkering: Sie scherzen, […], aber ich kenne die Juden doch gründlich. En detail mag es manchen ehrlichen Mann unter Ihnen geben. […] Denken Sie nur, ich hatte zuhause einen Freund, der die noble Passion hatte, in ein Judenmädchen verliebt zu sein, und das so sehr, dass er an eine wirkliche Verbindung mit seiner schönen Rahel dachte. Es ist mir noch jetzt unbegreiflich, wie ein Mann von guter Familie nur den Gedanken ertragen kann, den Mausche und den Itzig zu Schwägern zu haben, die alle nach Knoblauch riechen. Das
v. Johannes Winkelmann. 5. Aufl. Tübingen 1972, S. 21f. Kollektive Identität bezeichnet das aus dem Prozess der Vergesellschaftung hervorgehende Selbstverständnis einer Gruppe. Vgl. Emcke, Carolin: Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen. Frankfurt a. M. [u. a.] 2000, S. 200. 92 Vgl. das Vorwort, in: Lehmann, Vortrag (wie Anm. 37). 93 Lauer, Haskala (wie Anm. 81), S. 14. 94 Auerbach, Spinoza. Ein Denkerleben (wie Anm. 87), S. 163. Zur besseren Zuordnung und leichteren Rezeption der gekürzten Aussagen, wurden von der Verfasserin in Abweichung von der Vorlage jeweils die Namen der Sprecher vorangestellt.
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Mädchen scheint allerdings über die Bildungsstufe der gänseschmalztriefenden Locken hinaus gewesen zu sein. […] – Gewiß, Jufrow Olympia scherzt oder gefällt sich in der Paradoxie, wenn sie einen Juden mit dem beneidenswerten Titel ihres besten Freundes beehrt. [...] Olympia: Sie haben ja große Lebenserfahrung gesammelt […], aber sie vergessen, dass Sie in Holland sind, wo man die Religionen nicht in herrschende und beherrschte einteilt. Ich glaube, Amsterdam darf sichs zum Ruhme anrechnen, die einzige Stadt in der Welt zu sein, welche die Religionsfreiheit so weit ausdehnt, dass sie auch den Übertritt vom Christentum zum Judentum gestattet. [Spinoza und Oldenburg treten nacheinander ein, d. Verf.] [...] Olympia: Wir sind hier als die Repräsentanten von den vier großen Mächten, wir wollen eine Quadrupelallianz schließen. Sie Herr von Spinoza müssen den Moses vertreten, Sie Herr Oldenburg Ihren Calvin, Herr Kerkering, muss für seinen Luther einstehen und ich – ich will den Papst repräsentieren. […] Herr Kerkering, geben Sie den beiden Herren die Hand, wir unter uns haben uns schon längst vereint; wir vier wollen den Kreis bilden, der alle Religionsunterschiede in sich aufnimmt und versöhnt. [...] Oldenburg zu Spinoza, als er mit ihm wegging: Frauen können es nicht lassen Bündnisse zu knüpfen; […] haben sie einen Freund, muss der andere auch mit ihm befreundet sein, und ginge es noch so gewaltsam. Was soll uns dieser Kerkering, den sie doch nur wie einen Automaten behandelt? Spinoza: Du solltest nicht so unwillig über solche Verknüpfungen sein, […], denn hier hätte ja Dein Herr und Meister Cartesius wieder ein Beispiel, dass ohne unaufhörliche Vermittlung eines höheren Dritten keine wirkliche Existenz gedacht werden könne und alles in sich zerfallen müsste.⁹⁵
Das Kapitel, in welchem diese Vermittlung inszeniert wird, heißt bezeichnenderweise „Der neue Alliierte“. Der Titel bezieht sich auf den deutschen Protestanten Kerkering, der trotz seiner antisemitischen Einstellung von der resoluten Olympia überrumpelt und in die Allianz aufgenommen wird. Relevant ist hierbei die finale Überzeugung Spinozas, wonach ohne die Vermittlung einer dritten allparteilichen Person bzw. Instanz oder sogar ohne deren autoritäre Festlegung der Allianz, alles zerfallen müsste. Aufgrund der destruktiven erfahrungslosen Vorurteile des Antisemiten muss die „Eintracht“ von dieser allparteilichen weisen Instanz bestimmt und Kerkering wie ein „Automat“ behandelt werden. Eine solche Überzeugung liegt meines Erachtens dem Artikel Rathenaus zugrunde.⁹⁶ Der Zweck, das Ziel bzw. die Intention von Höre, Israel! ist die Rückkehr
95 Auerbach, Spinoza. Ein Denkerleben (wie Anm. 87), S. 163–167. 96 „Aber in dem Maße, wie der Kreis der Kultur sich erweitert, wird es für den Staat zur Pflicht, von dem Grundsatze ‚Jude ist Jude‘ abzugehen.“ Vgl. Rathenau, Höre, Israel! (wie Anm. 2), S. 39.
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zum bewährten Konzept der stufenweisen Emanzipation, wie es zwischen 1780 und 1871 praktiziert wurde.⁹⁷ In Höre, Israel! wird artikuliert, dass die Diskrepanz zwischen Gesetz und tatsächlicher Gleichstellung und die Umwertung der „Judenfrage“ zur Religionsfrage nicht nur die deutsch-jüdische Symbiose behindere, sondern dem Staat schade, indem nicht konvertierte Juden Zuflucht im Liberalismus suchen, der für ihre Gleichstellung eintritt. Die Intention seiner dialektischen Argumentation ist nicht Liberalismuskritik, sondern den Liberalismus als Symptom und die Judenpolitik als Ursache zu benennen. Allein der Staat hat Rathenaus Überzeugung nach die Verantwortung der „unaufhörlichen Vermittlung“, die Rathenau gezwungenermaßen als kommissarischer Vermittler übernimmt. Somit reflektiert der Text nicht nur den Aushandlungsprozess deutsch-jüdischer Identitätsziele. Hauptsächlich geht es ihm darum, die „Judenfrage“ – wie einst Herder und andere Theoretiker – von der Religionsund „Rassenfrage“ zur Staatsfrage umzuwerten. Entgegen dem Mainstream der deutsch-jüdischen Presse, in der seit den 1890er-Jahren vor allem die Erfolge der deutschen Juden, ihre Leistungen und ihre finanziellen Schlüsselpositionen dargestellt wurden,⁹⁸ wollte Rathenau sowohl seine jüdischen Mitbürger als auch den Staat darauf aufmerksam machen, dass die deutsch-jüdische Symbiose noch immer nicht Realität geworden war. Rathenau schien überzeugt gewesen zu sein, dass den deutschen Juden im konservativen Kaiserreich Gerechtigkeit – wenn überhaupt – nur im Einklang mit den rigiden Normen bzw. kulturellen Codes der Mehrheitsgesellschaft und nicht als deviante Parallelgesellschaft zuteilwerden würde. Dementsprechend wollte er seiner simultanen Leserschaft ebenso exemplarisch wie vorbildlich jüdische Selbstkritik, jüdischen Assimilationswillen und -erfolg vor Augen führen. Dass er „deutsch geartete Juden“ zu einem kollektiven Identitätsziel erhob, ist sowohl seiner persönlichen Identifikation mit dem Preußentum geschuldet als auch dem Mangel an alternativen gesellschaftlich anerkannten Identitätszielen. Letztlich demonstrieren die zeitgenössischen disparaten jüdischen Identitätskonzepte vor dem Hintergrund der sozialen Konstruktion der Nation⁹⁹ inklusive des modernen Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert, dass es „kein richtiges Leben im Falschen“ gibt. Denn insofern in der
97 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus (wie Anm. 33), S. 95–99. 98 Volkov, Selbstgefälligkeit und Selbsthass (wie Anm. 8), S. 187. 99 Dem Konstrukt der Nation als semantische Selbstbeschreibung eines Kollektivs und Grenzsetzung von Innen und Außen ist das asymmetrische Prinzip der Aufwertung des Inneren und Abwertung des Äußeren inhärent. Dadurch werden beispielsweise Stereotypen durch Feindbilder ersetzt. Zur Theorie der Nation vgl. Richter, Dirk: Nation als Form. Opladen 1996, S. 252–260; Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Erw. Neuausg. Frankfurt a. M. [u. a.] 1996.
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bestehenden Gesellschaft das Allgemeine vor dem Besonderen herrscht, ist diese Gesellschaft charakterisiert durch Identitätszwang.¹⁰⁰ Solange das Diktum vom jüdischen Selbsthass nicht als Quellenbegriff kritisch historisiert wird und stattdessen Anwendung als methodischer Leitbegriff induktiver Analyse findet, wird auch der Blick auf den hermeneutischen Horizont des Höre, Israel!-Artikels erschwert. Eine andere Lesart war hier nur möglich in Rückbesinnung auf die Intention des Autors und durch die vergleichende Rekonstruktion eines semantischen Netzwerkes der Haskala bis in Rathenaus Gegenwart. Dies und die Erkenntnis der strukturellen Adaptation der hegelschen Dialektik von Ursache und Wirkung sowie seiner Theorie der Vermittelbarkeit der sozialen und politischen Sphäre, haben die Korrelation zwischen der judenfeindlichen Perspektivübernahme und Kritik an der Judenpolitik des Staates deutlich gemacht. Beide, die Selbstkritik und die Staatskritik, intendieren in der Tradition der Haskala die sukzessive Emanzipation aller Juden in Deutschland. Zudem erscheint anstelle des bislang diagnostizierten jüdischen Selbsthasses, Rathenaus zeitgemäße stufentheoretische Geschichtsauffassung von einer fortschreitenden Höherentwicklung als Kausalität. Diese macht Rathenau in seinem Aufruf An Deutschlands Jugend 1918 besonders deutlich, um auf die Tücken kultureller Vergleiche zu verweisen: Die Charakter der Kulturvölker sind ähnlicher als man glaubt. [...] Weit verschiedener als die Völker untereinander sind die Schichten innerhalb ein und desselben Volkes. Die meisten Vergleiche populärer Psychologie haben den Fehler, dass man ungleichartige Schichten verglichen hat; unwillkürlich wählt man bei sich selbst die höhere, beim anderen die tiefere Schicht zum Vergleich. So entstehen jene grauenhaft trivialen, grundfalschen Populärurteile, die mehr als alles andere dazu beigetragen haben, die Völker zu entzweien.¹⁰¹
Aus dieser Perspektive soll Höre, Israel! nicht nur auf die Unhaltbarkeit des staatlichen Grundsatzes „Jude ist Jude“ und die Konsequenzen verfehlter Judenpolitik aufmerksam machen, sondern zugleich die Ungleichzeitigkeit antisemitischer Kulturvergleiche entlarven, um sie zu entkräften. Von dieser komplexen Demontage der Judenfrage versprach Rathenau sich offenbar deutlich mehr Wirkung als von einer einseitig abwehrenden Agitation im Sinne der Judenverteidigung, die kein „simultanes Gehör“ gefunden hätte. 1918 reflektiert er in seinem Aufruf An Deutschlands Jugend indirekt die Unwirksamkeit seiner dialektischen Vermitt-
100 Kerber, Harald: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Zur Metakritik der praktischen Vernunft bei Theodor W. Adorno. In: Mokrosch, Reinhold (Hrsg.): Wertethik und Werterziehung. Festschrift für Arnim Regenbogen. Göttingen 2004, S. 99–114. 101 Rathenau, An Deutschlands Jugend (wie Anm. 14), S. 106.
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lung und seine eigene Naivität: „Werdet ihr mich hören? […] manche, die Klügsten, sitzen in ihren Schreibstuben und Presszentralen, pochen auf ihre Vernunft und Abstraktion und warten, dass ihrer geschulten Dialektik zuliebe die Welt sich wie St. Hieronymus’ Löwentier aufblickend zu ihren Füßen schmiege.“¹⁰² Das Gleichnis des Renaissancehelden Hieronymus zeugt von der zerronnenen Hoffnung Rathenaus, seine Dialektik könnte das Mittel sein, der humpelnden deutschen Nation den Dorn des Antisemitismus aus der Pranke zu ziehen, auf dass Eintracht herrschen und die Judenfrage gelöst sein möge.
102 Rathenau, An Deutschlands Jugend (wie Anm. 14), S. 7. St. Hieronymus bzw. Tintoretto Jacopo Robusti (1518–1594), geboren als Sohn wohlhabender christlicher Eltern, zog 384 nach Palästina, um in Bethlehem ein Kloster zu gründen. H. war in der Wissenschaft seiner Zeit zuhause, besaß eine große Bibliothek, übersetzte die Bibel ins Lateinische. Die Legende besagt, dass in Bethlehem ein hinkender Löwe zu ihm kam. Nachdem Hieronymus ihn ohne Furcht von seinem Dorn befreite, soll der Löwe zahm geworden sein. Vgl. Richter, Gert [u. a.]: Lexikon der Kunstmotive. Antike und christliche Welt. München 1987, S. 136–138.
Hans Dieter Hellige
Walther Rathenaus Pionierrolle in den Diskursen über das Nachhaltigkeitsproblem der Moderne Einleitung Das Leitkonzept „Nachhaltigkeit“ ist das Resultat einer lang andauernden Entwicklung und umfassenden Bündelung einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Diskursen über Grenzen der Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen und der Tragekapazitäten der Erde sowie über dauerhaft entwicklungsfähige Formen des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur einschließlich der dazu erforderlichen Wirtschaftsweisen und Politiksysteme. Eine historische Betrachtung vergangener Debatten über die Begrenztheit von Ressourcen und Tragekapazitäten der Erde führt schnell vor Augen, dass man nicht, wie meist üblich, von einem durchgängigen Nachhaltigkeits-Diskurs sprechen kann, der bescheiden in der Forstwirtschaft anfing und am Ende in den globalen Rio-Kyoto-Prozess mündete. Vielmehr gab es eine ganze Reihe regionaler, bereichsspezifischer Diskurse und sektoraler Nachhaltigkeitskulturen, die sich nur unter besonderen Bedingungen verketteten, politisierten und dadurch zeitweise auch überregionale Bedeutung erlangten. Auslöser für die Entstehung von Nachhaltigkeits-Diskursen und -bewegungen waren in der Regel die vier „K“: Knappheit, Krisen, Kriege, Katastrophen. So entstand der forstwirtschaftliche Nachhaltigkeits-Diskurs und mit ihm der frühneuzeitliche Begriff der Nachhaltigkeit als Folge einer temporären Übernutzung der Zentralressource Holz.¹ Die Debatten über das Ende der Kohlevorräte beeinflussten den naturwissenschaftlichen Entropie-Diskurs in der Thermodynamik und die energetische Rationalisierungs-Bewegung in den Ingenieurwissenschaften. Auch die nationalökonomischen Ressourcen-Diskurse im 19. Jahrhundert wurden durch Sorgen vor einer Überforderung der Rohstoffreserven und Nahrungsgrundlagen ausgelöst. Trotz mannigfacher Querverbindungen blieben diese Diskurse aber letztlich isoliert und temporär. Traditionelle Wissenschaftskulturen mit einem deterministischen Natur-, Technik- oder Gesellschaftsverständnis versuchten den Diskurs zu dominieren und behinderten so die Entstehung interdisziplinärer Nachhaltigkeitsleitbilder wie auch eine institu-
1 Siehe Grober, Ulrich: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. München 2010.
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tionelle Verstetigung von Strategien zur Schonung der Naturressourcen. Zudem zeigte sich eine Art Dialektik der energetischen Aufklärung: Rationellster ArbeitsEnergie- und Materialeinsatz machte die Produkte so billig, dass ihre Massenausbreitung erleichtert wurde. Die Ingenieurbewegung für einen sparsamen Umgang mit Naturressourcen forcierte so am Ende die Skalenökonomie in der Güterherstellung, wodurch gerade die Verkürzung von Produktlebenszyklen sowie Ressourcenvergeudung und höhere Umweltvernutzung begünstigt wurden. Genau dieser Umschlag von technisch-wirtschaftlichen Rationalisierungsstrategien in eine sukzessive Anhebung des Niveaus des Ressourcenverbrauchs wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von einem Vordenker der Nachhaltigkeit erkannt, von dem Großindustriellen, Politiker und Sozialtheoretiker Walther Rathenau. Er war es auch, der die nationalökonomischen und die naturund ingenieurwissenschaftlichen Nachhaltigkeits-Diskurse in Deutschland in dem Leitbild einer „Energetischen Gemeinwirtschaft“ integrierte und dem es dadurch gelang, das Ziel einer die Naturressourcen schonenden, sozial nachhaltigen Wirtschaft zeitweise auf die nationale Agenda zu setzen.² Rathenau bot aufgrund seiner disparaten Biografie besonders günstige Voraussetzungen für diese Integration. Denn sein Studium brachte ihn mit den Nachhaltigkeitspostulaten der Thermodynamiker in Berührung, und die anschließende Bekanntschaft mit Wilhelm Ostwald machte ihn mit der energetischen Bewegung vertraut. Als Unternehmer und Industrieorganisator entwickelte er sein großwirtschaftliches skalenökonomisches Programm der Energie- und Ressourcen-Effizienz. Unter dem Einfluss ethischer Postulate der Kathedersozialisten und lebensphilosophischer Positionen entstanden sein Theorem der Vergeudungsspiralen in der ungehemmten „Mechanisierung“ und sein wirtschaftsethisch begründetes Suffizienzprinzip. Rathenaus politische Aspirationen und seine Aktivitäten in der Kriegswirtschaft und in der Revolution von 1918/1919 führten schließlich zu einer Politisierung und zu einer zeitweise breiten öffentlichen Wirkung seines Nachhaltigkeitskonzeptes. Der Beitrag beginnt mit einem Überblick über die nationalökonomischen und naturwissenschaftlichen Nachhaltigkeits-Diskurse, die Rathenau als Ausgangspunkt und Vorbild dienten, behandelt dann die Herausbildung seines eigenen Nachhaltigkeitskonzeptes und schließt mit einer Würdigung seines Beitrages zur Nachhaltigkeitstheorie. Der Einstieg von der Diskursgeschichte her soll eine neue Dimension des Rathenauschen Werks erschließen: seine bisher von der
2 Zum Problem der Benennung dieses Nachhaltigkeits-Leitbildes siehe den Abschnitt: Die thermodynamische Entzauberung der Welt: Vom Nachweis der Unmöglichkeit von Nachhaltigkeit zur Ressourcenethik.
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Forschung unterschätzte Rolle in den Debatten über das Nachhaltigkeitsproblem der Moderne an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Dagegen wird die Frage, inwieweit seine Anschauungen auch interessenbedingten Rechtfertigungscharakter besaßen und oft im Widerspruch zu seinem unternehmerischen und politischen Handeln standen, hier völlig ausgeblendet. Mit der Darlegung der aus heutiger Sicht oft erstaunlichen analytischen Weitsichtigkeit Rathenaus sollen also die sehr berechtigten kritischen Ausführungen der Forschung über die Interessengebundenheit, Widersprüchlichkeit und ausgeprägte Zeitbedingtheit vieler seiner Positionen nicht entkräftet werden.³
Vorläufer und Vorbilder von Rathenaus Nachhaltigkeitskonzept Nachhaltigkeits-Aspekte in Wirtschaftstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts Im Gegensatz zur bis heute dominierenden neoklassischen Wirtschaftstheorie, die mit mechanischen reversiblen Gleichgewichtsmodellen arbeitet und weitgehend von den Naturgrundlagen der Ökonomie absieht, bildeten in der klassischen und vor allem der vorklassischen Nationalökonomie die Naturressourcen noch einen wesentlichen Bestandteil. Im Merkantilismus spielte die Rohstoffpolitik eine besonders wichtige Rolle. Bei der staatlichen Wirtschaftslenkung und -förderung ging es aber nicht um Ressourcenschutz an sich, sondern um eine Sicherung von Metallen, Mineralien und Energieträgern für bestimmte Gewerbe und für die eigene nationale Wirtschaftskraft, wenn nötig auf Kosten anderer Gewerbe bzw. Nationen. Die den Merkantilismus ablösende Physiokratische Wirtschaftslehre machte demgegenüber die „Herrschaft der Natur“ zum Ausgangspunkt einer Wirtschaftstheorie. Ihr führender Repräsentant Francois Quesnay (1759) entwickelte mithilfe einer medizinisch-biologischen Metapher den Wirtschaftskreislauf als Systemmodell freier Tauschbeziehungen der Hauptakteure des Wirtschaftsprozesses. Das Kreislaufmodell seines „Tableau économique“ war zwar als ein Abbild der von unveränderlichen Naturgesetzen bestimmten „ordre
3 Um zu belegen, in welchem Ausmaß sich Nachhaltigkeitsaspekte durch große Teile des Rathenauschen Werkes ziehen, ist die folgende Interpretation betont quellennah angelegt, auf ein Eingehen auf die Rathenau-Forschung wird daher, nicht zuletzt auch aus Platzgründen, verzichtet.
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naturel“ gedacht, doch hatte es noch nicht den Charakter eines ökonomischen perpetuum mobile. Es war vielmehr abhängig von der Bodenproduktivität und dem Ressourcenbestand, d.h. vom letztlich allein produktiven primären Wirtschaftssektor. Die allmähliche Loslösung von den natürlichen Schranken und von staatlicher Wirtschafts- und Ressourcenlenkung begann bereits bei dem Hauptbegründer der klassischen Nationalökonomie, bei Adam Smith. Bei ihm wurde die industrielle Wachstumsdynamik, die auf der Selbstverstärkung von Arbeitsteilung, Mechanisierung, Produktverbilligung und Marktausweitung beruht, zum Kern des Wirtschaftsmodells. Aufgrund der begrenzt vorhandenen und nicht vermehrbaren natürlichen Ressourcen war nach Smith zwar jeder Volkswirtschaft zwangsläufig eine obere Schranke gesetzt. Das Versiegen der Kohle oder anderer Rohstoffe werde nach dem „progressive state“ zum „stationary“ und später zu einem „declining state“ führen, allerdings sei der ressourcenbedingte Niedergang noch in sehr weiter Ferne. Die auf Smith aufbauenden Ökonomen übersahen aber mehrheitlich die Passagen über den langfristig zu erwartenden stationären Endzustand und rezipierten allein die Wohlstand verheißende Wachstumsspirale. Nur einzelne Vertreter der Nationalökonomie wie David Ricardo warnten vor baldigen ressourcenbedingten Schrumpfungstendenzen, da die Verfügbarkeit oder Nichtverfügbarkeit ergiebiger Böden und Rohstoffvorkommen generell über Wachstums- oder Stagnationstendenzen der Wirtschaft entschieden. Im ganzen 19. Jahrhundert wurde das Thema „Grenzen des Wachstums“ in der ökonomischen Debatte aber weniger auf der Basis der Theorien Ricardos diskutiert als vielmehr im Kontext der rigiden Gesellschaftstheorie von Thomas Robert Malthus. Nachhaltigkeit war in seiner Theorie nur durch Entsagung, Verzicht auf Verteilungsgerechtigkeit und Selbstbeschränkung der Wachstumskräfte auf die vorhandene Ressourcenbasis möglich. An Malthus knüpfte auch John Stuart Mill mit seiner Prognose eines baldigen Übergangs von der Wachstumsökonomie zu einem „stationary state“ in den Principles of Political Economy an. Denn „natural agents“ der Produktion wie Böden, Metalle und Kohle seien nur beschränkt vorhanden. Die unbeschränkt verfügbaren Energieträger Wasser und Wind könnten zwar begrenzte ersetzen, doch längerfristig sei die Abschwächung des Wachstums nicht aufzuhalten. Mill erblickte hierin im Gegensatz zu Malthus aber eine Chance für eine Beendigung des konkurrenzbestimmten Lebenskampfes zugunsten immaterieller Lebensideale. Mill verknüpfte in seinem positiv besetzten Suffizienz-Szenario wertorientierter Selbstbeschränkung, nachhaltiger Lebensstile und Verteilungsgerechtigkeit bereits ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeitsaspekte und schuf zugleich das Vorbild für die „Leisure Growth“-Konzepte von William Morris, Walther Rathenau und Bertrand Russell sowie für spätere Ansätze eines qualitativen Wachstums.
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William Stanley Jevons, einer der Begründer der Grenznutzenschule, ging in seinem Werk The Coal Question von 1865 ebenfalls von der Malthusschen Wachstumskritik aus. Die fortschreitende Erschöpfung der natürlichen Ressourcen mache einen „long-continued progress“ unmöglich. Er kritisierte vor allem die leichtfertige Verschwendung billiger Kohle in der Gegenwart, die folgenden Generationen die Lebensgrundlagen entzöge. Doch Jevons berücksichtigte die Endlichkeit der Ressourcen nicht in dem von ihm mitentwickelten neoklassischen Wirtschaftsmodell. Naturressourcen, die „natural riches“, bildeten zwar für Jevons als „natural agents“ eine wichtige Grundlage der Ökonomie, aber sie waren lediglich „externe Faktoren“ der Wohlstands-Produktion und insofern lediglich Gegenstand der praktischen Ökonomie.⁴ Seine „pure“ bzw. „true theory of economy“ dagegen löste sich wie auch die übrige Grenznutzenschule als rein mengenbezogene streng mathematische Wissenschaft endgültig von den Naturgrundlagen der Ökonomie, indem sie die Dynamik des Wirtschaftsprozesses ausschließlich aus den Tauschbeziehungen der Marktteilnehmer und ihrer scheinbar freien Aushandlung der Preise aufgrund von Nutzenkalkülen erklärte und diesen Prozess als einen ewig gültigen, sich selbst regulierenden Gleichgewichtsmechanismus mathematisch modellierte.⁵ Doch es gab neben der bald international dominierenden neoklassischen Ökonomie auch Strömungen, für die die Naturabhängigkeit, die Endlichkeit der Ressourcen und die Umweltproblematik des Wirtschaftsprozesses weiterhin Bestandteil der Wirtschaftstheorie blieben. Dazu gehörte eine kleine Gruppe von Ökonomen, die neuere naturwissenschaftliche Forschungserkenntnisse über physikalische Energiekreisläufe und physiologische Stoffwechselprozesse aufgriff und zu den Geld- und Warenströmen in Beziehung setzte.⁶ Seit den 1860/1870er-Jahren kamen weitere Wirtschaftstheorien hinzu, die das Wirtschaftsgeschehen im Anschluss an Jakob Moleschotts Kreislauf des Lebens (1852) als biophysikalischen Kreisprozess modellierten und den „gesellschaftlichen Stoffwechsel“ als Leitmetapher in die Ökonomie einführten.⁷ Zu diesen gehörte auch Karl Marx, der sich bereits bei den Vorarbeiten zum Kapital mit Moleschott und Liebig beschäftigt hatte und von ihnen die Sicht der Ökonomie als Stoffwechselprozess übernahm. Obwohl für Marx offensichtlich Parallelen zwischen den
4 Jevons, William Stanley: Science Primer. Political Economy (1878). New York 1880, S. 13, 26. 5 Jevons, William Stanley: Theorie der Politischen Ökonomie. Jena 1924, S. XXX, XXXIII, 2f. 6 Siehe Bramwell, Anna: Ecology in the 20th Century. A History. New Haven/London 1989, Kap. 4, und besonders Martinez-Alier, Juan/Schlüpmann, Klaus: Ecological Economics. Energy, Environment and Society. Oxford/New York 1987. 7 Siehe hierzu Schramm, Engelbert: Im Namen des Kreislaufs. Ideengeschichte der Modelle vom ökologischen Kreislauf. Frankfurt a. M. 1997.
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Störungen des Gesamtprozesses des Kapitals und dem Bruch in den Stoffkreisläufen bestanden, beschäftigte er sich fast ausschließlich mit dem Formenwandel der sozialen Beziehungen, während der Stoffwechsel selber als „regelndes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion“ völlig vage blieb.⁸ Er stellte aber im Hinblick auf die zentrale Bedeutung der Natur als Grundlage von Produktion und Reproduktion der „Exploitation und Vergeudung der Bodenkräfte“ ein gesellschaftsübergreifendes Nachhaltigkeitsprinzip entgegen: das Gebot „selbstbewußter rationeller Behandlung des Bodens als des gemeinschaftlichen ewigen Eigentums, der unveräußerlichen Existenz- und Reproduktionsbedingung der Kette sich ablösender Menschengeschlechter“. Gegenüber den Kapitalisten hielt Marx Forderungen nach Ressourcenschonung jedoch für zwecklos, denn angesichts der Gesetze der kapitalistischen Produktion bleibe „aller Gedanke an gemeinsame, übergreifende und vorherrschende Kontrolle der Produktion der Rohstoffe“ immer nur ein „frommer Wunsch“ oder ein Ausnahmefall „in Augenblicken großer unmittelbarer Gefahr oder Ratlosigkeit“.⁹ Sein mit Blick auf die Entwicklungslogik erfolgter Verzicht auf konkrete alternative Zukunftsperspektiven zum kapitalistischen Raubbau wie auch der Umstand, dass die meisten Äußerungen zur ökologischen Basis der Produktion in erst später publizierten Vorstudien und Randnotizen zu finden sind, behinderten in der Folgezeit die Entfaltung eines eigenständigen Nachhaltigkeitsdenkens in der Arbeiterbewegung.¹⁰ Einen Kontrast zu dieser Nachhaltigkeits-Lücke bilden maßgebliche Vertreter der Historischen Schule der Nationalökonomie. Diese Richtung zerfiel in einen konservativen staatssozialistischen Flügel um Adolph Wagner, einen sozialliberalen Flügel um Lujo Brentano und ein breites Mittelfeld mit der Leitfigur Gustav Schmoller. Über die politischen und theoretisch-methodischen Differenzen hinweg verbanden diese Ökonomen die Ablehnung der quasi-physikalischen Gleichgewichtsmodelle der neoklassischen Grenznutzenschule und eine zugleich ethische und historisch-soziale Ausrichtung der Wirtschaftstheorie. Obwohl diese so genannten Kathedersozialisten bis zur Jahrhundertwende in Mitteleuropa tonangebend waren, sind sie bisher kaum unter Nachhaltigkeitsaspekten erforscht worden. Dabei findet sich neben der menschenzentrierten Wirtschaftsethik bei ihnen auch eine bisher übersehene Ressourcen- und Umweltethik. Diese lässt
8 Foster, John Bellamy: Marx’s Theory of Metabolic Rift: Classical Foundations for Environmental Sociology. In: American Journal of Sociology 105 (1999) 2, S. 366–405. 9 Marx, Karl, Das Kapital. Die Kritik der politischen Ökonomie, (1867/1885/1895). In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. 42 Bde. Berlin 1956–1990. Bd. 25, S. 130, 784, 820. 10 Siehe zu den Kontroversen über Marx und die Ökologie bes. Foster, Marx’s Theory (wie Anm. 8).
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sich sehr eindringlich anhand der Hauptrepräsentanten Schäffle, Wagner und Schmoller belegen, die, wie noch zu zeigen sein wird, eine Vorbildfunktion für Rathenau hatten. Der Ökonom und Gesellschaftswissenschaftler Albert Schäffle gehörte zwar nicht zum engeren Kreis der Kathedersozialisten, doch er hatte maßgeblichen Einfluss auf deren sozialpolitische und sozialökonomische Ausrichtung. Er war der Berater Bismarcks bei den Sozialgesetzen und hatte bereits 1861 den Begriff der „Gemeinwirtschaft“ geprägt. Auch das erweiterte Verständnis der Wirtschaftswissenschaft als einer umfassenden Gesellschaftswissenschaft geht auf ihn zurück. Für ihn war der Mensch Ziel- und Ausgangspunkt aller Wirtschaft, diese war letztlich nur als eine generationenübergreifende „Menschheitsökonomie“ zu verstehen: „Die Gesellschaftlichkeit ist aber eine Solidarität Aller nicht blos im Raume, sondern auch in der Zeit.“ Er stellte deshalb dem auf Egoismus und Konkurrenz beruhenden privatwirtschaftlichen System das die Einzelkräfte und Bedürfnisse harmonisierende gemeinwirtschaftliche System entgegen, das sich über staatliche Institutionen um eine „Einheit aller Interessen in der Gesellschaft“ bemüht.¹¹ In teilweiser Anlehnung an Marx beschrieb er in seinen ökonomischen und soziologischen Schriften die Volkswirtschaft als einen alle Teile des Gesellschaftskörpers durchdringenden Stoffwechselprozess, als „Kreislauf der ökonomischen und sonstigen Cultur“, in dem eine an Zahl und Bildung fortschreitende Bevölkerung durch „Naturconsumtion“ immer mehr mineralische Stoffe und organische Gebilde des Pflanzen- und Tierreiches annektiert.¹² Besonders in seinem Hauptwerk Bau und Leben des Socialen Körpers von 1875–1878 legte er dar, wie der Gesellschaftskörper Tag für Tag sich eine „ungeheure Masse an Naturstoffen und Naturkräften durch Okkupation“ aneignet, verarbeitet und konsumiert, um sie nach der Zersetzung der Natur wieder zu überlassen: „Alle Socialwissenschaft, nicht blos die Nationalökonomie, muss daher auch die ,Natur‘, d. h. den durch Boden und Klima bezeichneten Naturfond der nächsten Weltumgebung des socialen Körpers, als die äußere Umfassungssphäre des gesellschaftlichen Lebens in Betracht ziehen.“¹³
11 Schäffle, Albert: Das gesellschaftliche System der menschlichen Wirtschaft. 2. Aufl. Tübingen 1867, S. 24, 29, 62f. 12 Schäffle, System (wie Anm. 11), S. 13, 31; vgl. Marx, Karl: Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie”. In: Marx/Engels, Werke (wie Anm. 9), Bd. 19. S. 351–380, S. 377. 13 Schäffle, Albert: Bau und Leben des sozialen Körpers, 4 Bde. Tübingen 1875–1878. Bd. I, S. 72.
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Über die biologische Körper-Metapher gelangte Schäffle zu der Erkenntnis, dass allen von der Ökonomie ausschließlich betrachteten Geldkreisläufen stofflich-materielle Zirkulationsprozesse zugrunde liegen: „Die Objekte des socialen Stoffwechsels sind die Güter auf ihrer ganzen Bahn des Unterhaltes von der Herausnahme aus der äußeren Natur bis zu ihrer Rückgabe in den Schoß der letzteren.“¹⁴ Aus seiner umfassenden Produktlebenszyklus-Perspektive heraus sah Schäffle bereits deutlich den dissipativen Charakter und die Umweltwirkungen des sozialen Stoffwechsels: Die unmittelbar an und unter der Erdoberfläche befindlichen und zusammentreffenden Stoffe und Kräfte der Natur bilden diesen Fond, aus welchem der sociale Stoffwechsel immer wieder Güterstoffe schöpft und wohin er Güterleichen zurückgibt. Die Erde, das Land, oder wie die Oekonomisten sagen, die „Natur“ bildet die Quelle, aus welcher der zum kraftvollen Aufbau des Gesellschaftskörpers bestimmte Stoffwechsel immer wieder schöpft. Völlig vernachlässigt ist bis jetzt der Gesichtspunkt, daß das Land nicht bloß als Quelle der Produkte im progressiven, sondern auch als Abzugsort und Aufnahmeplatz der verbrauchten Stoffe, der Abfälle, der Auswürfe, der Abräumungen, der Leichen im letzten Akt des regressiven Stoffwechsels dient.¹⁵
Schäffle forderte deshalb, dass sich die Nationalökonomie zu einer „allgemeinen Stoffwechsellehre“ erweitert, die die „Gesamtheit der Tatsachen des Socialstoffwechsels“ unter Einbeziehung des „regressiven Stoffwechsels“ betrachtet. Sie solle so dazu beitragen, dass durch die erfolgreiche Regelung der „Organisation und Desorganisation von Stoffen“ die Volkswirtschaft zu einem „Stoffwechsel ethischer Art“ wird.¹⁶ Er führte damit ohne Verwendung der Begriffe in rudimentärer Form die Konzepte der „Ökosphäre“ und der „Kreislaufwirtschaft“ in die Ökonomie ein. Auch für Schäffles Schüler Adolph Wagner gehörten neben Kapital und Arbeit der Staat und die Natur zu den Produktivfaktoren des volkswirtschaftlichen Produktionsprozesses. Deren Zusammenwirken sei notwendig, um die Nachteile des Systems der freien Konkurrenz zu beseitigen, d. h. die Schädigung der Masse der Bevölkerung durch rücksichtslose Ausbeutung, die „dauernde Ungleichheit der ökonomischen und socialen Lage“ und den eigennützigen Raubbau an den Naturressourcen. Wagner kritisierte die weitgehende Ausblendung der natürlichen Bedingungen in der abstrakten Ökonomie, denn jede Volkswirtschaft sei aufgrund des Klimas, der Natur eines Landes, der Bodenbeschaffenheit, der vorhan-
14 Schäffle, Bau (wie Anm. 13), Bd. III, S. 236; 2. Aufl.1896. Bd. II, S. 198. 15 Schäffle, Bau (wie Anm. 13), Bd. III, S. 247; 2. Aufl.1896. Bd. II, S. 199. 16 Schäffle, Bau (wie Anm. 13), Bd. III, S. 244; 2. Aufl.1896. Bd. II, S. 192,194, 197.
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denen Natur- und Mineralstoffe eine „geographisch-historische Individualität“.¹⁷ In der auf seiner Standardvorlesung beruhenden mehrfach gedruckten Allgemeinen oder theoretischen Volkswirtschaftslehre erhob er ausdrücklich die Forderung nach dem Schutz „allgemeiner Güter“ wie Luft und Meere, ebenso nach einer „Contrôle des Staats über das private Grundeigentum“ bei Forstwirtschaft, Jagd, Fischerei und Landwirtschaft. Denn hier bestünde die Gefahr der Erschöpfung des Bodens ohne „Garantie des Wiederersatzes“. Angesichts der Gefahr der „übermäßigen Ausnutzung“ der „spontan sich reproduzierenden Naturstoffe“ und der völligen Unsicherheit der Dauer der Vorräte der Mineralstoffe sei die „Verhütung unnötigen Raubbaus“ die oberste Aufgabe des Staates.¹⁸ Da er Staat und Nation als eine auf Dauer angelegte Gemeinschaft verstand, weitete auch er das Nachhaltigkeitsgebot auf alle künftigen Generationen aus: Auch die noch „ungeborenen Geschlechter“ eines Volkes haben bereits Anspruch auf Wahrnehmung ihrer Interessen und Bedürfnisse in der Volkswirtschaft des jetzt lebenden Geschlechts: Insbesondere an möglichster Erhaltung und richtiger (schonsamer) Benutzung der Naturschätze des Bodens, der Vorzüge des Klimas. Das privat-wirtschaftliche System bringt hier die Gefahr einer einseitigen Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Jetztlebenden und oft selbst nur der augenblicklichen Privateigentümer des Bodens mit sich, was zur Verwirtschaftung der Naturschätze des Bodens führen kann. Es muß daher wiederum durch die Rechtsordnung des Staats und zum Teil durch direktes Eingreifen des gemeinwirtschaftlichen Systems [...] diesen Gefahren im Interesse der künftigen Geschlechter vorgebeugt werden [...].¹⁹
Für Wagner folgte daraus, dass sich zur Gewährleistung dieser übergeordneten Wirtschaftsziele die Ökonomik der Ethik unterzuordnen habe und dass die Privatwirtschaftslehre durch eine Gemeinwirtschaftslehre ergänzt werden müsse, die gegenüber den „Individualbedürfnissen“ die zeitlichen wie die dauerhaften „Gemeinschafts-, Kollektiv- und sozialen Bedürfnisse“ zur Geltung bringt.²⁰ Gustav Schmoller sah ebenfalls die Notwendigkeit eines gemeinwirtschaftlichen Korrektivs zum marktwirtschaftlichen Regulationsmechanismus. Egoismus und Konkurrenz dürften nicht das einzige „Gestaltungsprinzip der Gesellschaft“ sein, es bedürfe dauerhafter Institutionen, die für „wirtschaftliche Gerechtigkeit“ und den Schutz des „natürlichen Wohlstandes der Gesellschaften“ Sorge tragen,
17 Wagner, Adolph: Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre, 1. Teil: Grundlegung. Leipzig/Heidelberg 1876, S. 200, 202, 204. 18 Wagner, Adolph: Theoretische Sozialökonomik oder Allgemeine und theoretische Volkswirtschaftslehre, 2 Bde., erw. Ausgabe der 4. Aufl. Leipzig 1907/1909. Bd. I, 113, 116ff. 19 Wagner, Volkswirtschaftslehre (wie Anm. 17), Bd. I, S. 212. 20 Wagner, Sozialökonomik (wie Anm. 18), Bd. I, 96f.
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zu dem er auch den „Reichtum der Länder an Pflanzen und Tieren“ zählte. Denn, so schrieb er in seinem Hauptwerk, dem Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre von 1900/1904: Alles volkswirtschaftliche Geschehen ist unzweifelhafter und sichtbarer als das politische und geistige Leben ein Teil des großen Naturprozesses, die Gesetze der Natur beherrschen es ebenso wie dasjenige physikalische, chemische und organische Leben, auf das der Mensch keinen Einfluß hat. Aus der großen Ordnung der Natur heraus gibt es in der Volkswirtschaft kein Entrinnen.
Alles höhere Menschenleben sei zwar ein Sieg über die Natur, doch es habe sich gezeigt, dass der Mensch stets ein Parasit der Erde bleibt, daß er sich nur an sie anschmiegen, ihre günstigsten Stellen suchend emporsteigen kann. Der Mensch löst sich mit höherer Kultur und Technik nicht von der Natur los, sondern verbindet sich inniger mit ihr, beherrscht sie, indem er sie versteht, aber auch ihren Gesetzen, ihren Schranken sich unterordnet.²¹
Die Voraussetzung für „Langlebigkeit“, d. h. Nachhaltigkeit von Staaten und Volkswirtschaften bildete für Schmoller neben dem Schutz der „Naturverhältnisse“ aber auch die Bewahrung des „Gesamtwohles“ vor „egoistischen Klasseninteressen“, und zwar nicht durch einen allmächtigen Staat, Monopolbetriebe oder Bürokratien, sondern durch eine ethisch „reformierte Unternehmungswelt“ und eine industrielle Selbstverwaltung im staatlichen Auftrag. In Zukunft komme es darauf an, „das Streben nach Individualität, Selbstbehauptung, Ichbejahung“ zu verbinden mit „vollendeter Gerechtigkeit und höchstem Gemeinsinn“. Denn die Historie beweise, dass „Langlebigkeit“ von Gesellschaften nur durch die Bindung an sittliche Kräfte und die Bewahrung der „Kräfte der Regeneration“ zu erreichen sei.²² Zu seinen Lebzeiten hatte Schmoller in Deutschland eine große Wirkung, zumal an seinen Vorlesungen an der Berliner Universität oft auch Vertreter der Ministerialbürokratie teilnahmen und er über den von ihm geleiteten „Verein für Socialpolitik“ eine zusätzliche Breitenwirkung erzielte. Doch mit dem Niedergang der Historischen Schule der Nationalökonomie nach dem Ersten Weltkrieg gerieten seine wirtschaftsethischen Ideen schnell in Vergessenheit, sie wurden erst mit der Renaissance des institutionen-ökonomischen Ansatzes wieder entdeckt.²³
21 Schmoller, Gustav: Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 2 Bde. Leipzig 1900/ 1904. Bd. I, S. 126f., 138f. 22 Schmoller, Grundriß (wie Anm. 21), Bd. II, S. 676ff. 23 Siehe dazu Backhaus, Jürgen G. (Hrsg.): Gustav von Schmoller und die Probleme von heute.
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Der abseits des neoklassischen Mainstreams begonnene wirtschaftsethische Nachhaltigkeitsdiskurs im „Kathedersozialismus“ war zwar aufgrund seiner namhaften Vertreter und der Publikation in viel gelesenen Standardwerken der Volkswirtschaftslehre und der Staatswissenschaften zeitweise nicht ohne Resonanz. Doch letztlich blieb er isoliert und dadurch ohne andauernde Wirkung, er fand mit seinen qualitativen Betrachtungen keinen Anschluss an die quantitativen biophysikalischen und agrarökonomischen Stoffstromanalysen, ebenso wenig an die Ressourcendebatten der Thermodynamik und der Energetischen Bewegung. Er blieb zudem auch weitgehend auf den deutschsprachigen Wirtschaftsraum beschränkt und wurde dann nach 1900 durch den Siegeszug der Grenznutzenschule auch dort so gründlich zurückgedrängt, dass seine Einsichten fast völlig in Vergessenheit gerieten. So triumphierte das die Naturgrundlagen der Ökonomie weitgehend ausblendende neoklassische Wirtschaftsmodell, dem es allein um die Mengenbeziehungen der „Mechanik des Eigennutzes und der Nützlichkeit“ ging.²⁴ Doch neben diesen inneren Faktoren verhinderten auch äußere Faktoren wie die Erschließung neuer Kohlevorkommen, der Aufstieg der neuen Zentralressource Erdöl und der sich Ende des 19. Jahrhunderts verstärkende Ressourcenimperialismus einen dauerhaften Nachhaltigkeitsdiskurs in der Nationalökonomie.
Die thermodynamische Entzauberung der Welt: Vom Nachweis der Unmöglichkeit von Nachhaltigkeit zur Ressourcenethik Die Debatten über ein baldiges Ende der Kohlenvorräte hatten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch den naturwissenschaftlichen Entropie-Diskurs in der Thermodynamik und die energetische Rationalisierungs-Bewegung in den Ingenieurwissenschaften beeinflusst.²⁵ Die physikalische Theoriebildung führte zu einer energetischen „Entzauberung der Welt“, denn namhafte Vertreter dieser Disziplin radikalisierten die sozialökonomische Wachstumskritik, indem sie das auf Sadi Carnot zurückgehende Idealmodell umkehrbarer thermodynamischer Kreisprozesse grundsätzlich infrage stellten. War Carnot noch von einem immensen fossilen Reservoir ausgegangen, mit dem die Natur den Menschen die
Berlin 1993; Koslowski, Peter (Hrsg.): The Theory of Ethical Economy in the Historical School. Berlin [u. a.] 1995. 24 Jevons, Theorie (wie Anm. 4), S. XXXIII, 3. 25 Dieser Abschnitt lehnt sich eng an frühere Überlegungen an, siehe Hellige, Hans Dieter: Wirtschafts-, Energie- und Stoffkreisläufe in säkularer Perspektive: Von der thermodynamischen Entzauberung der Welt zur recyclingorientierten Wachstumsgesellschaft. In: Hübinger, Gangolf [u. a.] (Hrsg.): Universalgeschichte und Nationalgeschichten. Freiburg 1994, S. 291–315.
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Fähigkeit verliehen habe, immer und überall („en tous temps et en tous lieux“),²⁶ die Wärmeenergie und die daraus gewinnbare motorische Kraft für die eigenen Bedürfnisse nutzbar zu machen, so wurde den Physikern durch die systematische Erforschung der Umwandlungsprozesse aller Energieformen nun die – abgesehen von der Sonneneinstrahlung – prinzipielle Endlichkeit des geschlossenen energetischen Systems Erde bewusst: Sie erschütterten die herrschende Vorstellung von ewigen reversiblen Kreisläufen in Natur, Technik und Wirtschaft, indem sie die Historizität eines endlichen entropischen Stroms von Energie und Materie nachwiesen. Die permanente Abnahme der umwandelbaren Energieressourcen zugunsten der nicht mehr arbeitsfähigen Umgebungsenergie (Entropie) ließ den Gedanken an eine dauerhafte, nachhaltige Entwicklung somit grundsätzlich als Illusion erscheinen: Wenn auch der gegenwärtige Zustand der Welt noch sehr weit von diesem Grenzzustande entfernt ist, [...] so bleibt es immerhin ein wichtiges Ergebniss, dass ein Naturgesetz aufgefunden ist, welches mit Sicherheit schliessen lässt, dass in der Welt nicht Alles Kreislauf ist, sondern dass sie ihren Zustand fort und fort in einem gewissen Sinne ändert und so einem Grenzzustande zustrebt.²⁷
Das Entropiegesetz bedeutet so für alle wirtschaftlichen Aktivitäten eine doppelte Schranke: die zeitliche Begrenzung niedriger Entropie in Form natürlicher Ressourcen und die beschränkte Aufnahmekapazität der Erde für Schadstoffe. Hermann von Helmholtz und Rudolf Clausius leiteten deshalb aus der ständig fortschreitenden Energieabwertung die Verpflichtung ab, alle „Arbeitsvorräte, welche in der Welt existieren“, als flüchtig und vergänglich zu betrachten und entsprechend zu behandeln. Denn so ungeheuer groß die „Kraftvorräthe unseres Planetensystems“ auch seien, so „weisen doch unerbittliche mechanische Gesetze darauf hin, dass diese Kraftvorräthe, welche nur Verlust, keinen Gewinn erleiden können, endlich erschöpft werden müssen.“²⁸ Für Clausius rückte
26 Carnot, Sadi: Réflexions sur la puissance motrice du feu et sur les machines propres à développer cette puissance, neugedruckt in: Annales scientifiques de l’École Normale Supérieure Série 2,1 (1872), S. 393–457, hier: S. 394. 27 Clausius, Rudolf: Über den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie. Braunschweig 1867, S. 17. 28 Helmholtz, Hermann von: Vorlesungen über theoretische Physik. Bd. 6: Vorlesungen über Theorie der Wärme, Leipzig 1903, S. 251; Helmholtz, Hermann von: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik: ein populär-wissenschaftlicher Vortrag gehalten am 7. Februar 1854. Königsberg 1854, S. 23ff., 41f.; Clausius, Rudolf: Über die Energievorräte der Natur und ihre Verwertung zum Nutzen der Menschheit. Bonn 1885; neu hrsg. von Otto Krätz. In: Chemie– Experiment und Technik 9 (1977), S. 225–330.
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damit das inter-generationale Gerechtigkeits-Argument in den Mittelpunkt.²⁹ Ein äußerst sparsamer Umgang mit den fossilen Energieträgern sollte den Zeitpunkt des entropischen Endzustandes so lange wie möglich hinausschieben. Das hieß Drosselung des Verbrauches von Kohle und Petroleum zugunsten regenerativer solarer Energien sowie drastische Effizienzsteigerungen bei der Energieumwandlung. Die auf der Welt insgesamt konstante Arbeitsmenge sollte durch „Gleichgewichts- und Kreislauftechniken“ immer wieder nutzbringend umgeschichtet werden, wie es der VDI-Vorsitzende Franz Grashoff 1877 bündig formulierte.³⁰ Damit erhielt die Kreislaufmetapher eine neue Bedeutung: Anstelle der Permanenz und des Überflusses ewiger Kreisprozesse drückte sie nun die Notwendigkeit des Haushaltens mit dem begrenzten „allgemeinen Vorrathe der Natur“ aus. Der Kreislauf wurde zum kritischen Gegenmodell gegenüber exponentiellen Wachstumserwartungen und zum technikethischen Imperativ gegen die Verschleuderung der Natur, die nun ihrerseits als ein „Haushalt“ erscheint, in der Güterknappheit herrscht. Das Leitbild einer die Naturschätze schonenden „weisen Ökonomie“ blieb bei den Thermodynamikern aber noch weitgehend auf die „Kraftvorräthe“, also den Energiebereich beschränkt. Neben einer Verkettung der physikalischen Debatte mit anderen Nachhaltigkeitsdiskursen mangelte es auch an einer öffentlichkeitswirksamen Artikulation der thermodynamischen Erkenntnisse und der daraus gezogenen technikethischen Schlussfolgerungen. Es gelang so nicht, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits vorhandenen Recycling- und Kreislaufwirtschafts-Ansätze zu allgemein akzeptierten Leitkonzepten zu erweitern.³¹ Versuche zu einer wirksamen technikethischen Umformulierung der Hauptsätze der Thermodynamik und der Popularisierung einer grundsätzlich solaren Wirtschaftsweise übernahm Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland die von Wilhelm Ostwald angestoßene „Energetische Bewegung“. Für Ostwald bestand die Wirkungslosigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse vor allem in ihrer Spezialisierung und er sah deshalb die Zeit gekommen, die „Vereinzelung der Wissenschaft“ durch eine große Synthese zu überwinden, die er mithilfe eines
29 Clausius, Energievorräte (wie Anm. 28), S. 329. 30 Grashof, Franz: Über die Wandlungen des Arbeitsvermögens im Haushalt der Natur und der Gewerbe. In: Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, Nr. 288, Hamburg 1877, zit. nach: Dienel, Hans-Liudger, Herrschaft über die Natur? Das Naturverständnis deutscher Ingenieure 1871–1914. Stuttgart 1992, S. 96. 31 Reith, Reinhold: Vom Umgang mit Rohstoffen in historischer Perspektive. In: König, Wolfgang (Hrsg.): Umorientierungen. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft im Wandel. Frankfurt a. M. 1994, S. 47–69.
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ontologisierten Begriffs der „Energie“ zu erreichen hoffte.³² Nach der erstmals 1895 dargelegten „energetischen Weltanschauung“ Ostwalds basiert die gesamte anorganische und organische Welt auf energetischen Umwandlungsprozessen. Die vollkommene Verwertung der jeweils vorgefundenen Energiemengen ist für ihn das zentrale Bestreben der Pflanzen- und Tierwelt und sollte deshalb auch für menschliche Gesellschaften als Vorbild dienen. Die „Anwendung des zweiten Hauptsatzes der Energetik auf sämtliches Geschehen und insbesondere auch auf die Gesamtheit der menschlichen Handlungen“ mache diesen selbst zur „Leitlinie der Kulturentwicklung“. Aus der Verantwortung gegenüber der gesamten Natur und den Mitmenschen erwachse für jedermann die Pflicht, beim Stoffwechsel ein möglichst hohes „Güteverhältnis der Transformation“ bzw. einen maximalen Wirkungsgrad anzustreben.³³ Ostwald bündelte seine Anschauungen in dem normativen Leitbild einer „dauerhaften Wirtschaft“, für die der von der Sonne eingestrahlte Energieertrag als Obergrenze des Energieverbrauchs gilt. Denn das „Energiekapital“ der fossilen Brennstoffe trage keine Zinsen und nehme beständig ab, wenn auch nur langsam: „Wir haben es also hier mit einem Anteil unserer Energiewirtschaft zu tun, der sich etwa wie eine unverhoffte Erbschaft verhält, welche den Erben veranlaßt, die Grundsätze einer dauerhaften Wirtschaft vorläufig aus den Augen zu setzen, und in den Tag hinein zu leben.“ Eine auf Langzeitstabilität angelegte Ökonomie konnte daher für ihn letztlich nur auf der „Energie der Zukunft“, der Solarenergie, und den darauf basierenden regenerativen Energien beruhen.³⁴ Kurz nach 1900 brachte er sein energieökologisches Weltbild in Anlehnung an Kants Kategorischen Imperativ auf die plakative Kurzformel des „Energetischen Imperativs“: Vergeude keine Energie, sondern nutze sie! Dieser kurze Spruch ist in der Tat die allgemeinste Regel alles menschlichen Handelns und zwar erstreckt sich seine Geltung nicht nur etwa
32 Ostwald, Wilhelm: Biologie und Chemie (1903). In: Ders.: Gedanken zur Biosphäre: Sechs Essays (1903–1931). Leipzig 1978. S. 16–29, bes. S. 16. 33 Siehe die Vorträge „Die Energie und ihre Wandlungen. Antrittsvorlesung gehalten am 23. 11. 1887 in der Universität Leipzig“ und „Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus“ von 1895. In: Ostwald, Wilhelm (Hrsg.): Abhandlungen und Vorträge allgemeinen Inhaltes (1887–1903). Leipzig 1904, S. 185–206, 220–240; Ostwald, Wilhelm: Der energetische Imperativ, 1. Reihe. Leipzig 1912, S. 76ff., 83, 85f. 34 Ostwald, Wilhelm: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft. Leipzig 1909, S. 44, 47; ders.: Die Energiequellen der Zukunft, (1897), wiedergedruckt in: Forschen und Nutzen: Wilhelm Ostwald zur wiss. Arbeit. Hrsg. von G. Lotz. Berlin 1978, S. 206–208.
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auf technische oder sonstige praktische Arbeiten, sondern auf des Menschen sämtliche Betätigungen überhaupt bis in die allerhöchsten und wertvollsten Leistungen hinauf.³⁵
Ostwald weitete den ressourcenethischen Effizienz-Diskurs damit auf die gesamte Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur aus. Die Rückführung aller natürlichen und gesellschaftlichen Prozesse auf Energieumwandlungen stellte für ihn eine große Vereinfachung des wissenschaftlichen Lehrgebäudes dar. Die Messung von Energieflüssen und die Bestimmung des Ausnutzungsgrades der eingesetzten Energie wurden dadurch zum entscheidenden Bewertungskriterium der Ökonomisierung aller biologischen und sozialen Abläufe. Damit konnten soziale Prozesse wie thermische Kreisprozesse der Dampfmaschinen energetisch optimiert werden. Die energetischen Normungsbemühungen überschnitten sich dabei teilweise mit der tayloristischen Rationalisierung von Arbeits- und Betriebsprozessen. Aus Monismus, Energetik und Taylorismus entstand so vor dem Ersten Weltkrieg eine progressiv-technokratische Ingenieurbewegung mit dem Ziel des Kampfes gegen jegliche Vergeudung von Energie-, Material- und Arbeitsressourcen in der Gesamtwirtschaft. Unter ihrem Einfluss standen auch die ressourcenpolitischen Überlegungen Walther Rathenaus und Wichard von Moellendorffs. Die „Energetische Bewegung“ hatte die energetische Rationalisierung aber als eine vorrangig technische Aufgabe definiert und selbst Gesellschaft, Geistestätigkeit und Lebenswelt ihren technokratischen Effizienz-Kalkülen und Wirkungsgrad-Messungen unterworfen.³⁶ Die Energetiker weiteten damit zwar ihren Horizont auf Wissenschaften außerhalb der Natur- und Ingenieurwissenschaften aus, doch hielten sie weiter am Anspruch der Diskursdominanz für die letzteren fest und tendierten dabei nicht selten zu rigiden technokratischen Einstellungen. Traditionelle Wissenschaftskulturen hatten mit einem deterministischen Natur-, Technik- oder Gesellschaftsverständnis die Entstehung interdisziplinärer Nachhaltigkeitsleitbilder und dadurch die Politisierung und institutionelle Verstetigung von Strategien der Ressourcen- und Umweltschonung behindert. Breitere und länger anhaltende Erfolge verzeichneten vor dem Ersten Weltkrieg lediglich zwei Nachhaltigkeits-Diskurse, das „Conservation Movement“ in den USA und die „Energetische Gemeinwirtschaft“ im Deutschen Reich, die ihre Nachhaltigkeitskonzepte auf ein breiteres Fundament stellten. Durch die Verknüpfung von bildungsbürgerlicher Naturbegeisterung, naturwissenschaftlichem Expertentum, forstwirtschaftlichen Nachhaltigkeitsbestrebungen und staatlichem
35 Ostwald, Imperativ (wie Anm. 33), S. 13, 85, 96; Ostwald, Wilhelm: Die Energie. Leipzig 1908, S. 1–24. 36 Ostwald, Energie (wie Anm. 35), S. 156 ff.
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Interesse an der Rohstoffsicherung entstand in den USA eine Bewegung, an deren Spitze sich der Präsident Theodore Roosevelt stellte.³⁷ Auch in Deutschland kam es zwischen 1910 und 1920 zu einer zeitweise erfolgreichen Integration von naturwissenschaftlichen, ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeitsdiskursen. Die aus Energetik, Taylorismus, Konservativem Sozialismus und vor allem bürgerlicher und seit der Revolution auch sozialdemokratischer Gemeinwirtschaft entstandene Diskurskoalition war aber weitaus weniger gefestigt und institutionalisiert als das „Conservation Movement“. Die heterogene, stark von Einzelpersonen abhängige Bewegung, die sich weder einen Namen gab noch einen gemeinsamen Leitbegriff entwickelte, ließe sich am ehesten mit der Bezeichnung „Energetische Gemeinwirtschaft“ charakterisieren. Die herausragende Schlüsselfigur war hier Walther Rathenau, der, obwohl Einzelkämpfer, nach und nach ein Unterstützernetzwerk aufbaute, das die Ideen einer gemeinwirtschaftlich organisierten ressourcenschonenden Bedarfswirtschaft in die deutsche Politik trug.
Rathenaus Synthese aus energetischer Modernisierung und sozialer Nachhaltigkeit Rathenaus Programm der Ressourcen-Effizienz durch Skalenökonomie Die ersten und wohl entscheidenden Anregungen für sein späteres Nachhaltigkeitskonzept erhielt Rathenau durch sein Physik- und Chemiestudium in Berlin und Straßburg in den Jahren 1885–1889. Bereits in den ersten beiden Semestern bekam er durch die Experimentalphysik-Vorlesung bei Hermann von Helmholtz und eine Spezialvorlesung über das „Gesetz der Erhaltung der Kraft“ bei dessen Schüler Arthur König erste Einblicke in die Lehren der Thermodynamik. Gründlicher beschäftigte er sich mit der „Mechanischen Wärmetheorie“ im Rahmen einer Vorlesung bei dem Straßburger theoretischen Physiker Emil Cohn, der auf den Entropiesatz und die unvermeidlichen Nutzenergieverluste in Umwandlungsprozessen besonders ausführlich einging. Rathenau notierte in seiner fast 100 Seiten umfassenden ausgearbeiteten Mitschrift:
37 Siehe u. a. Fleming, Donald: Wurzeln der New-Conservation-Bewegung. In: Sieferle, Rolf Peter (Hrsg.): Fortschritte der Naturzerstörung. Frankfurt a. M. 1988, S. 216–306.
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Man kann also nicht die ganze Energie in Arbeit umsetzen, sondern nur die zwischen dem heißen und dem kalten Körper vorhandene Energiedifferenz. Jeder nicht umkehrbare Prozeß vermindert außerdem die Arbeitsfähigkeit der in dem System enthaltenen Wärmeenergie, wie er die Entropie vergrößert.³⁸
Cohn vermittelte ihm anhand der komplizierten Kreisprozesse in der Dampfmaschine auch Einblicke in deren geringen Nutzeffekt und in die Methoden, durch Dampfmaschinen-Konstruktionen mit besserer Dampfausnutzung und gekoppelten Prozessen den Wirkungsgrad zu steigern.³⁹ Rathenau vertiefte seine thermodynamischen Kenntnisse noch anschließend durch die Lektüre des Hauptwerkes von Rudolf Clausius Die mechanische Wärmetheorie, das nach der theoretischen Darlegung der Hauptsätze und der verlustbehafteten nicht-umkehrbaren Kreisprozesse auch die Folgerungen für die Dampfmaschinentheorie und die elektrischen Kraftgesetze systematisch behandelte. Zum Abschluss seines Studiums belegte er dann in Berlin noch einmal eine Vorlesung über die Theorie der Elektrizität und des Magnetismus bei Helmholtz, der ihm 1889 auch das zweite Dissertationsgutachten schrieb und ihn mündlich mitprüfte. Rathenau wurde damit bereits im Rahmen seines Physikstudiums mit dem thermodynamischen Wirkungsgraddenken vertraut gemacht, das später eine so wesentliche Grundlage seines technisch-wirtschaftlichen Rationalisierungskonzeptes werden sollte. In der sich an das Studium anschließenden Industriepraxis in elektrochemischen Unternehmen konkretisierten sich die theoretischen Einsichten in den Gesamtzusammenhang der Energieprozesse nach und nach zu praktischen Handlungsmaximen und schließlich zu einem breiter gefassten energetischen Effizienzdenken. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Bekanntschaft mit Wilhelm Ostwald, den er seit seinem Eintritt in den Vorstand der „Elektrochemischen Gesellschaft“ ab 1894 regelmäßig traf. Ostwald berichtet von wiederholten langen Nachtsitzungen, die angesichts der beiderseitigen „lebhaften philosophischen Interessen [...] zu endlosen Gesprächen führen mußten und führten“, und zwar gerade im Zusammenhang mit seinen damaligen „Denkarbeiten an der Energetik“. Von der entstehungsbedingten doppelten Zielrichtung der „Energetik“, der Überwindung des Idealismus-Materialismus-Gegensatzes durch einen ontologisierten Energiebegriff und der ingenieurethischen Energieökonomie, übernahm Rathenau allerdings nur das aus der Thermodynamik abgeleitete Pos-
38 Nachlass Rathenau, Zentrales Staatsarchiv Moskau, 1/18, Bl. 69 R (die Behandlung der Entropie war damals nicht selbstverständlich). Zu Rathenaus Studium siehe bes. Hellige, Hans Dieter: Walther Rathenaus natur- und ingenieurwissenschaftliches Studium: Verlauf, Resultate und Nachwirkung. (Freienwalder Hefte 7). Leipzig 2006. 39 Nachlass Rathenau (wie Anm. 38), 1/18, Bl. 78 R, 80 R.
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tulat einer durchgängigen energetischen Rationalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. So bildete auch für ihn die Energie „das Urprodukt alles wirtschaftlichen Schaffens“ und die Vergeudung von Energie, Rohstoffen und Arbeitskraft wurde ein Leitthema in seinem Denken und Ausgangspunkt seiner industriellen Effizienzphilosophie und seiner Kritik an einem volkswirtschaftlich schädlichen Verbrauch.⁴⁰ Übereinstimmungen mit Ostwald gibt es aber auch bei der Übertragung naturwissenschaftlicher Denkformen auf gesellschaftliche Prozesse. Auch für ihn war es selbstverständlich, „sich der physikalischen oder mechanischen Anschauung zu bedienen, wo es um soziale, politische, kulturelle oder humane Erscheinungen geht“. Denn es sei klar, dass „Massenphänomene nur auf Massenvoraussetzungen und Massenwirkungen beruhen können“ und somit selbstverständlich, dass die soziale und kulturelle Entwicklung ebenso dem Gesetz der Entropie unterliege wie die Naturkräfte. Wie mit abnehmendem Temperaturgefälle die nutzbare Energie abnimmt, so führe der Verlust gesellschaftlicher Unterschiede infolge zunehmender Egalisierung bzw. ethnischer Vermischung unerbittlich zum Verschwinden des geistig-kulturellen Potentials eines Volkes. Das Idealbild der Volkswirtschaft verglich er wie Ostwald mit einer möglichst reibungs- und verlustlos arbeitenden Dampfmaschine, in der ein Gleichgewicht der Kräfte herrsche: Unter Gleichgewicht ist der Zustand zu verstehen, der allen Kräften gestattet, in der ihnen eigentümlichen Richtung zu wirken, so daß möglichst keine Kraft verurteilt ist, sich in Widerständen und Reibungen aufzuzehren. Es ist der Zustand einer arbeitenden Dampfmaschine, in der zwar nie ein Ruhepunkt erreicht wird, in der aber die Teile in der Richtung ihrer Bewegungskraft sich schieben, heben, senken und rotieren dürfen und müssen. Verderblich gestört ist der normale Zustand, wenn die Organe widergesetzlich gegeneinander arbeiten und einander hemmen und klemmen.⁴¹
Bedingt durch seine beruflichen Tätigkeiten lag der Schwerpunkt von Rathenaus energetischen Rationalisierungsideen vor dem Ersten Weltkrieg in der Elektrizitätswirtschaft. Erste Überlegungen finden sich bereits 1891 in Redeentwürfen für seinen Vater Emil Rathenau, in denen er den Zusammenhang von spezifischem
40 Siehe Mader, Ursula: Emil und Walther Rathenau in der elektrochemischen Industrie (1888–1907). Berlin 2001, S. 86ff., 127f.; Rathenau, Walther: Denkschrift, betreffend ein Reichselektrizitätsmonopol (1913). In: Nussbaum, Helga: Versuche zur reichsgesetzlichen Regelung der deutschen Elektrizitätswirtschaft und zu ihrer Überführung in Reichseigentum 1909 bis 1914. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 3 (1968), S. 192–203, bes. S. 194. 41 Rathenau, Walther: Ungeschriebene Schriften. In: Die Zukunft 60 (13. 7. 1907), S. 64 (Aphorismus XXIV); Rathenau, Walther: Vom wirtschaftlichen Gleichgewicht (1908). In: Ders.: Gesammelte Schriften, 6 Bde. Berlin 1929. Bd. 4, S. 293.
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Kohleverbrauch und Größensteigerung der Maschineneinheiten und Kraftwerke als den Schlüssel für eine Steigerung der energetischen Effizienz herausstrich: „Die Vereinigung vieler Kraftconsumenten zur Errichtung einer gemeinsamen Erzeugungsstelle“ führe zu einer erheblichen Kohleeinsparung und wäre daher gleichermaßen betriebswirtschaftlich und ressourcenökomisch von Vorteil: Auch die steigenden Kohlenpreise weisen daraufhin, jede Möglichkeit der Ersparnis zu erwägen, und man braucht kein Anhänger der Lehre zu sein, daß unsere Enkel die Erschöpfung der Kohlenlager erleben werden, um einzusehen, daß der Wert unseres Brennmaterials beständig zunehmen muß.⁴²
Große Einsparpotentiale erblickte er auch in einer schnellen Einführung der Drehstromtechnik, die den Ferntransport elektrischer Energie rentabel mache und dadurch die Erschließung der natürlichen Wasserkräfte und die Verstromung von minderwertiger Braunkohle ermögliche: Die neuesten Fortschritte werden uns gestatten, großartige Krafterzeugungszentren an beliebigen Stellen, im Bergwerk, an der Meeresküste, um die Ebbe und Flut zu benutzen, an den großen Katarakten anzulegen, die dort vorhandenen, bisher zwecklos vergeudeten Kräfte in nutzbringende Elektrizität umzusetzen, diese in, wir können fast sagen, beliebige Entfernungen zu versenden und dort in beliebiger Art zu verteilen und zu verbrauchen.⁴³
Während in Rathenaus selbstständiger Unternehmertätigkeit in der Elektrochemie die Steinkohlen-Substitution durch Braunkohle und Wasserkraft im Mittelpunkt stand, verschob sich der Fokus mit seinem Eintritt in das AEG-Direktorium wieder zur energetischen Optimierung des Kraftwerkbetriebes. Als Leiter der Abteilung Centralstationen entwickelte er die Methode des systematischen Betriebsvergleichs als ein Instrument der betriebswirtschaftlichen und energetischen Rationalisierung.⁴⁴ Nach 1900 übertrug er den Ansatz der energetischen Bilanzierung auch auf die Antriebstechnik und Stromversorgung der Industriebetriebe:
42 Redeentwurf Walther Rathenaus für seinen Vater über Elektrifizierung und Fabrikansiedlung, um 1891 oder um 1900, Nachlass Rathenau, 1/27. Der Text erscheint in: Walther-Rathenau-Gesamtausgabe [im Folgenden: WRG]. Bd. I (erscheint 2014/15). 43 Rede Emil Rathenaus vor den Festgästen des Internationalen Elektrotechniker-Kongresses in Lauffen a. Neckar, 14. 9. 1891. In: Pinner, Felix: Emil Rathenau und das elektrische Zeitalter. Leipzig 1918, S. 166. (Dieser Vortrag ist wie die meisten offiziellen Reden Emil Rathenaus, wie Briefhinweise und vor allem Stilvergleiche zeigen, von Walther Rathenau verfasst bzw. entworfen.) 44 Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft: 50 Jahre AEG. Als Manuskript gedruckt (1933). BerlinGrunewald 1956, S. 128f.
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Es ist unglaublich, mit wie primitiven Kraftanlagen, zum Beispiel, ein großer Teil der deutschen Privatindustrie noch arbeitet. [...] Es ist anzunehmen, daß die Hälfte unserer Fabriken ihre Kohlenrechnung um die Hälfte reduzieren könnte, wenn sie einen Ingenieur fragte und neue Maschinen aufstellte.⁴⁵
Die mögliche Gesamtersparnis durch Elektromotorenantrieb und modernste Kraftwerkstechnik schätzte er im Jahre 1907 auf 30 %.⁴⁶ Deshalb sollte die umfassende energetische Sanierung der Industrie, vor allem durch Konzentration, die Hauptaufgabe der „heutigen Wirtschaftsperiode“ werden, um so dereinst als „Ära der technischen Reform“ in die Geschichte einzugehen. Seine energetischen Rationalisierungsideen dehnte Rathenau bereits um 1900 auf das gesamte Unternehmen aus. So erwartete er von einer „Reorganisation der elektrischen Industrie in Deutschland“ gewaltige Einsparungen an Fabrikations- und Gemeinkosten, wenn „eine Arbeitsteilung in der Weise angestrebt werde, dass wenn möglich gleichartige Produkte nur an einer Stelle hergestellt und in möglichst grossen Quantitäten“ erzeugt würden.⁴⁷ Die Fabrik könnte dann bei maximalem Mengendurchsatz am optimalen Standort zu einem verlustlos arbeitenden Produktionssystem werden, das nur dem technisch-ökonomischen Effizienzgesetz der Produktion folge: „Dies Gesetz lautet Beschleunigung, Exaktheit, Verminderung der Reibung, Einheitlichkeit und Einfachheit der Typen, Ersparnis an Arbeit, Verminderung und Rückgewinnung des Abfalls.“⁴⁸ Ganz im Sinne von Ostwalds „Energetischem Imperativ“ würde, wie er es später bündig formulierte, dadurch die bisherige „schädliche, zeitvergeudende, arbeitvergeudende Konkurrenz-Reibungsarbeit, Zeitvergeudung, Materialvergeudung, Transportvergeudung“ zugunsten eines höheren sozialökonomischen Organisationsniveaus beseitigt.⁴⁹ Die technische ‚Effizienzrevolution’ wie die relative Verbesserung der Ressourcenausnutzung durch den mechanisierten Großbetrieb blieben in seinem Wirtschaftsdenken in dieser Phase aber noch ganz mit dem Wachstumskonzept verkoppelt. Schließlich erweiterte Rathenau sein betriebswirtschaftliches vergleichendes Bilanzierungs- und Optimierungskonzept zu einem energetischen Rationalisie-
45 Anonym (Rathenau), Deutsche Wirtschaft, Die Zukunft 56 (7. 7. 1906), S. 36–38, künftig in WRG, Bd. I. 46 Rathenau, Walther: Die Goldkrisis, Nachlass Rathenau 1/115; Die Zukunft 59 (4. 5. 1907), S. 187–192, künftig in WRG, Bd. I. 47 Siehe Rathenaus „Memorandum über eine Reorganisation der elektrischen Industrie in Deutschland“ vom Sept. 1902, künftig in WRG, Bd. I. 48 Rathenau, Walther: Zur Kritik der Zeit (1912), WRG, Bd. II, S. 48. 49 Rathenau, Walther: Produktionspolitik (1920). In: Ders.: Gesammelte Reden. Berlin 1924, S. 81–119, S. 113f.
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rungsansatz auf volkswirtschaftlichem Niveau. Von Ende 1910 bis 1913 entwickelte er in seinen Denkschriften die Konzeption einer „einheitlichen Landesversorgung“. Die Elektrizität sollte nur an der Fundstelle natürlicher Kraftquellen in möglichst großen Einheiten hergestellt werden, die durch ein „nach einheitlichem Plane ausgebautes Hochspannungsnetz“ verbunden sind. Er betrachtete die gesamte Energiewirtschaft nun als einen nur mit geringen Verlusten arbeitenden rationellen Gesamtmechanismus, der nur von effizientesten Großeinheiten aus gespeist wird, während Anlagen mit schlechterem Wirkungsgrad möglichst stillgelegt werden sollten.⁵⁰ Zur Durchsetzung der „Großversorgung“ bzw. der „elektrischen Einheitsversorgung“ schlug Rathenau eine halbstaatliche Organisation des Energiesektors vor, in der Monopolrechte und übergeordnete Kontrolle über die Energiemärkte einer obersten Behörde, dem „Reichselektrizitätsamt“ bzw. „Reichsindustrialamt“ vorbehalten waren. Die eigentliche Wahrnehmung der zentralisierten Elektrizitäts- bzw. Energieversorgung sollte aber durch Pachtgesellschaften erfolgen, sodass die Betriebsführung weiterhin der Privatwirtschaft überlassen blieb. In derartigen gemischt-wirtschaftlichen Unternehmungen sah er sogar über die Energiewirtschaft hinaus ein Wirtschaftsmodell der Zukunft. Obwohl er mit seinen Vorschlägen auch industrie- und branchenstrategische Interessen verfolgte, gingen sie doch weit darüber hinaus. Er deklarierte das Zusammengehen von Großindustrie, Elektrizitätsversorgungsunternehmen und Staat bei der Bewirtschaftung des Energiesektors und der Energieträger Wasserkraft, Kohle und Petroleum durch Reichsmonopole ausdrücklich als neuen „sozial-industriellen Weg“, als einen Ansatz, gegenüber den betriebswirtschaftlichen Kalkülen der einzelnen Wirtschaftssubjekte die höhere volkswirtschaftliche Rationalität durchzusetzen: „Denn hier können durch Gemeinwirtschaft Vorteile erzielt werden, die der Privatwirtschaft verschlossen sind.“⁵¹ Indem Rathenau mit seinem energetischen Modernisierungskonzept an die obersten Reichsbehörden herantrat und dabei seinen Vorschlag für eine gemischtwirtschaftliche Organisation des Energiesektors mit dem Leitziel der
50 Rathenau, Walther: Über ein Reichselektrizitätsmonopol (1911). In: Ders.: Nachgelassene Schriften, 2 Bde. Berlin 1928. Bd. 1, S. 165–177; ders., Denkschrift, S. 192 (demnächst auch ausführlich kommentiert in WRG, Bd. I). Siehe auch das mit hoher Wahrscheinlichkeit von seinem Sohn verfasste Vorwort Emil Rathenaus für das Buch von Gustav Siegel: Der Staat und die Elektrizitätsversorgung. Berlin 1915. Zu der Problematik des rein stromwirtschaftlichen Fernversorgungskonzeptes siehe zusammenfassend Hellige, Hans Dieter: Transformationen und Transformationsblockaden im deutschen Energiesystem. In: Radtke, Jörg/Hennig, Bettina (Hrsg.): Die Energiewende nach Fukushima. Beiträge aus der Wissenschaft. Marburg 2013, Kapitel 3 u. 4. 51 Rathenau, Denkschrift (wie Anm. 50), S. 192.
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„Gemeinwirtschaft“ verknüpfte, bekannte er sich offen als Anhänger kathedersozialistischer Programmatik, zumal sich sowohl Schmoller als auch Wagner bereits 1907 bzw. 1911 öffentlich für ein Reichselektrizitätsmonopol ausgesprochen hatten.⁵² Die von Rathenau entwickelte Kompromisslösung zwischen einem staatlichen Regiebetrieb und unternehmensmäßiger Betriebsführung entsprach sogar weitgehend dem Schmollerschen Modell einer quasi genossenschaftlichen industriellen Selbstverwaltung im staatlichen Auftrag, in der die zentralisierende Vergesellschaftung von Infrastrukturbereichen über Betriebsformen einer „reformierten Unternehmungswelt“ erfolgt.⁵³ Auch Rathenau zielte mit seinem Organisationsentwurf für einen gemischtwirtschaftlichen Energiesektor auf eine Verknüpfung von liberalen Unternehmensführungsmethoden und kathedersozialistischem Prinzip solidarischer Verantwortung, d. h. auf eine Grundeinstellung aller „Volksgemeinschaften, welche begreifen, daß die Staatswirtschaft über der Einzelwirtschaft steht, und daß Güter, die nur im Zusammenwirken gemeinschaftlicher Kräfte erworben werden konnten, niemals unbeschränktes Eigentum des Einzelnen werden“.⁵⁴ Damit kamen im Rathenauschen Denken in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die bis dahin noch relativ getrennten Argumentationsstränge einer energetischen Reformierung von Energiewirtschaft und Industrie und der Überwindung der unorganisierten Konkurrenz-Wirtschaft durch eine höhere gesellschaftliche Organisationsform zusammen. Aus dieser Synthese ging das Reformprogramm einer „Energetischen Gemeinwirtschaft“ hervor, das im Jahrzehnt um den Ersten Weltkrieg die bestehenden Barrieren zwischen dem naturwissenschaftlich-technischen und dem nationalökonomischen Nachhaltigkeitsdiskurs überwand und die Frage der Ressourceneffizienz und -schonung zeitweise zu einem zentralen Thema der politischen Agenda machte.
Rathenaus gemeinwirtschaftliche Fundierung der energetischen Modernisierung Wie die energetischen Anschauungen hatten auch Rathenaus gemeinwirtschaftliche Ideen ihren Ausgangspunkt in der Studienzeit. Rathenau nannte Schmoller im Rückblick „einen meiner frühesten Lehrer“: „Ihr Kolleg war das erste und
52 Siehe hierzu Stier, Bernhard: Staat und Strom Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890–1950. Ubstadt-Weiher 1999, S. 62–65, 69ff. 53 Siehe dazu oben den Abschnitt über Schmoller. 54 Rathenau, Walther: Mechanik des Geistes, WRG, Bd. II, S. 275f.
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letzte, das ich über Volkswirtschaft gehört habe.“⁵⁵ Die Vorlesung „Allgemeine oder theoretische Nationalökonomie“ behandelte überblicksartig den Stoff, der dann später in dem Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre ausgebreitet wurde. Über eine Lektüre ökonomischer Schriften während des Studiums und in der Folgezeit ist nichts bekannt. In Rathenaus Bibliothek befanden sich später ca. 120 Werke zur Theoretischen Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsgeschichte, Statistik und Staatswissenschaft, die aber nicht vollständig in einer Bestandsliste erfasst wurden.⁵⁶ Seine Beschäftigung mit dem Kathedersozialismus intensivierte sich in den 1890er-Jahren durch die Freundschaft mit dem Herausgeber der Zukunft, Maximilian Harden, der als leidenschaftlicher Befürworter der Bismarckschen Sozialgesetze führende Vertreter des „Vereins für Socialpolitik“ als Autoren für seine Zeitschrift gewann. Hardens Sympathie galt vor allem dem (agrar-)konservativen Flügel um Adolph Wagner, Rudolf Meyer und Karl Oldenberg, die alle mit Grundsatzartikeln zur Agrar-Industriestaats-Kontroverse vertreten waren. Eine Sonderstellung nahm Albert Schäffle ein, den er als ständigen Mitarbeiter für sozial- und wirtschaftspolitische Fragen gewann und der seine korporativistischen Ideen auch in der Zukunft propagierte.⁵⁷ Die Debatte über den Vorrang von Agrar- oder Industriestaat bildete auch den ersten Schwerpunkt der Streitgespräche zwischen Rathenau und Harden, die sogar einen Niederschlag in dessen Zeitschrift fanden.⁵⁸ Rathenau stand dabei auf Seiten von Kritikern der proagrarischen Richtung, wie Lujo Brentano, lehnte andrerseits das ineffiziente Konkurrieren der vielen mittelständischen Kleinbetriebe in Industrie und Handel ab, denn für ihn gab es zur weiteren Kapitalkonzentration und höheren Produktivität von Großbetrieben keine Alternative. Er entwarf, inspiriert durch Edward Bellamys Utopie eines hochtechnologischen Staatsozialismus, sein Zukunftsideal einer hocheffizienten zentralisierten Produktion und Distribution.⁵⁹ Bereits damals zeigte er sich durchaus offen gegenüber kathe-
55 Rathenau an Schmoller, 3. 5. 1817, WRG, Bd. V, 1, S. 1670f. 56 Siehe die Bestandslisten der Rathenau-Bibliothek, BA Potsdam, Bestand Walther-RathenauStiftung. Genannt werden Schriften von John Stuart Mill, Lujo Brentano, Johannes Conrad und Werner Sombart. 57 Siehe dazu Hellige, Hans Dieter: Rathenau und Harden, WRG, Bd. VI, S. 132–138. 58 Siehe dazu den Anhang in WRG, Bd. VI, S. 815–831. 59 Siehe die Schilderung eines Streitgespräches mit Rathenau in Hardens Artikel „Wertheim“ vom 1. 1. 1898, Auszug im Anhang in WRG, Bd. VI, S. 825. Wie Bellamy versprach sich Rathenau von einer Zusammenfassung der unzähligen kleinen Einzelhandelsgeschäfte zu zentralen Warenhäusern gewaltige skalenökonomische Vorteile: Der „Bazar der Zukunft“ werde zu enormen Einsparungen an Kapital-, Material- und Arbeitsressourcen wie an Zeit- und Transportaufwand führen.
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dersozialistischen Vorstellungen einer Eindämmung des schrankenlosen liberalen Konkurrenzkapitalismus. So schrieb er 1897 an Harden, dass seine „Auffassung nicht mehr capitalistisch im heutigen Sinne sei“: „[...] jetzt beherrscht das Capital die Gesellschaft, einst wird die Gesellschaft das Capital – nicht besitzen – sondern beherrschen.“ Auch Schmoller kritisierte die „rücksichtslose harte Konkurrenz“ und die schrankenlose Gewinnsucht und erwartete, dass der „Mechanismus der Güterproduktion“ und der Privatwirtschaft immer mehr unter die indirekte Kontrolle der Gesamtheit und des Staates kommen werde, wodurch „die großen Unternehmungen, auch ohne Staatsanstalten zu sein im Geiste der großen allgemeinen Interessen und nicht im Geiste habsüchtiger Bereicherung geführt werden müssen.“⁶⁰ Bei Schmoller und den Staatssozialisten fand Rathenau so Vorbilder für seine Appelle zu einer Abkehr vom „ungezügelten Kampf aller gegen alle“ hin zu einem organisierten Kapitalismus „solidarischer Verantwortung“: Wir werden nicht mehr in einem anorganischen, verfahrenen, lediglich vom Individualismus, vom persönlichen Eigennutz getriebenen Wirtschaftsmechanismus leben, sondern in einem gegliederten Organismus, in dem jeder, der Wirtschaft oder Ämter führt, in gleichem Maße sich und der Gemeinschaft verantwortlich ist.⁶¹
Auch das „Wesen der Unternehmung“ werde in Zukunft nicht mehr von „frei spielenden wirtschaftlichen Kräften“ bestimmt, sondern von „bewußter Einordnung in die Wirtschaft der Gesamtheit“ und der „Durchdringung mit dem Geiste der Gemeinverantwortlichkeit und des Staatswohls“.⁶² Und wie Adolph Wagner sprach auch Rathenau von dem „dauernden Interesse der Gemeinschaft“, dem bei der künftigen Umgestaltung des Wirtschaftskreises unbedingte Priorität gegenüber den „zeitweiligen Interessen des Individuums“ eingeräumt werden müsse.⁶³ Rathenaus im Laufe des Ersten Weltkrieges entwickelte „Wirtschaftsethik“ rekurrierte so im hohen Maße auf sehr ähnliche Überlegungen von Schmoller, Wagner, Lujo Brentano und anderen, die die Volkswirtschaftslehre auf Gerechtigkeitserwägungen, sittlichen Gefühlen und Kulturideen gründen wollten. Wie sie wollte er die Wirtschaft der Völker nicht aus abstrakten „aprioristischen Deductionen“ eines „natürlichen Egoismus“ ableiten, sondern aus konkreten Grundbedingun-
60 Schmoller, Grundriß (wie Anm. 21), Bd. I, S. 457. 61 Rathenau, Walther: Demokratische Entwicklung (1920). In: Ders.: Gesammelte Reden, S. 74. 62 Rathenau, Walther: Vom Aktienwesen. Eine geschäftliche Betrachtung (1917). In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 177. 63 Rathenau, Walther: Von kommenden Dingen (1917), WRG, Bd. II, S. 462; Rathenau, Entwicklung (wie Anm. 61), S. 74 [Hervorhebungen d. Verf.].
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gen des Territoriums, der Bevölkerung, der Sitte, des Staates sowie der geistigen und materiellen Kulturstufe.⁶⁴ Als ein durch die natürlichen Umgebungsbedingungen und die soziale Entwicklung historisch entstandenes „Bodenprodukt“ war die Wirtschaft auch für Rathenau offen für eine Gestaltung nach ethischen sowie ressourcen- und gesellschaftspolitischen Kriterien.⁶⁵ Wie bei diesen Ökonomen finden sich auch bei Rathenau bereits theoretische Reflexionen für eine nachhaltige Weltwirtschaft. Seine Forderung, die „Erde als eine einzige, untrennbare Wirtschaftsgemeinschaft“ zu begreifen und sein Eintreten für eine geordnete Weltarbeitsteilung stimmen weitgehend mit Schäffles Auffassung einer „Stoffwechselgemeinschaft der Völker“ und Schmollers These einer zunehmenden Humanisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen überein: Müssen denn Fragen wie diese, die die Existenzbedingungen der Menschheit auf Jahrhunderte präjudicieren – vom nationalen Standpunkt gestellt werden? Soll denn nie der Tag kommen, wo der Erdkreis eine „Arbeitsteilung der Völker“ – wenn dieser Ausdruck gestattet ist – erzwingt? [...] Ob kapitalistische, ob soziale Produktion – ich glaube, das Kügelchen, das wir bewohnen, wird schon in dem allernächsten Jahrtausend oder noch früher, seine Parasiten zu gemeinsamer Produktion zusammentrommeln müssen, damit alles hübsch ökonomisch geregelt wird.⁶⁶
Auch Rathenau sah den „Prozeß aller Güter der Erde“ von den Gewinnungsstätten der Urstoffe über die Werkstätten der Verfeinerung und den Orten der Hauptverteilung bis zur Auflösung in kleinste Partikel im Verbrauch als einen mit dem Kreislauf des Wassers vergleichbaren Stoffwechsel. Diesen „globalen „industriellen Mechanismus“ wollte er im Interesse einer verbesserten Weltarbeitsteilung durch ein rationelleres Verkehrssystem, das die „Reibungsverluste bei der Güterzirkulation“ stark vermindert, zum Wohle aller wesentlich effizienter und billiger machen.⁶⁷
64 Brentano, Lujo: Die klassische Nationalökonomie. Leipzig 1888, S. 28f. Von Brentano, der zurzeit von Rathenaus Studium Professor in Straßburg war, besaß Rathenau neben dieser gedruckten Wiener Antrittsvorlesung zwei weitere agrar- bzw. sozialpolitische Schriften. 65 Rathenau, Walther: Die Neue Wirtschaft (1918), in: Gesammelte Schriften (wie Anm. 41), Bd. 5, S. 214. 66 Rathenau an Harden, 15. 10. 1897, WRG, Bd. VI, S. 308; Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 51; Schäffle, Bau, Bd. III, S. 291; Schmoller, Grundriß (wie Anm. 21), Bd. II, S. 648, 652; das auch von Schmoller verwendete Zitat vom „Menschen als Parasiten der Erde“ stammt ursprünglich von Nietzsche (Götzendämmerung, 1898, Aphorismus „Naturwert des Egoismus“. 67 Rathenau, Walther: Massengüterbahnen (1909), in: Gesammelte Schriften (wie Anm. 41), Bd. 4, S. 162, 167.
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Wie in der Frage der Internationalisierung der Wirtschaftsethik gab es auch in der Einschätzung der Konzentration und Zentralisation der Wirtschaft große Übereinstimmungen mit den Kathedersozialisten. Am größten war sie mit Schmoller, für den Konzernverbunde, Kartelle und Syndikate nach Überwindung missbräuchlicher Praktiken die Vorläufer für kommende „Organe einer höheren Form der vergesellschafteten Volkswirtschaft“ bildeten. Er sah in ihnen die „berufenen centralen Steuerungsorgane“ einer ethikbasierten, volkswirtschaftlich rationalen Produktion: Eine wachsende Vergesellschaftung und Centralisation wird dabei vorhanden sein, aber nicht in der Art, daß der Staat, Gemeinde und Unternehmungen zusammenfallen, sondern in der, daß die reformierte Unternehmungswelt, einschließlich der Genossenschaften und Kartelle, sich immer mehr in einheitlichen Spitzen zusammenfaßt [...].⁶⁸
Auch Rathenau war ein überzeugter Anhänger von Kartellabsprachen und Zusammenschlüssen. Im Unterschied zu seinem Vater vertrat er im AEG-Konzern den Standpunkt, man solle Konventionen schließen, wo sie nur zu schließen gehen. Die Konzentration sollte nicht durch ungeordnetes Niederkämpfen der Konkurrenten erfolgen, sondern durch eine im Großen geplante „Reorganisation der elektrischen Industrie in Deutschland“ in Form eines „Syndikates sämtlicher elektrotechnischer Firmen“.⁶⁹ Fusionen und Kartelle waren für Walther Rathenau Schritte auf dem Weg zu seinem Idealziel der größtmöglichen Massenerzeugung eines Produktes jeweils nur an einem Ort. Im Rahmen der Kriegswirtschaft setzte er sich dann für einen staatlich geförderten Prozess der nationalen Wirtschaftskonzentration ein. Dabei hörten die „Großunternehmungen“ auf, „lediglich ein Gebilde privatrechtlicher Interessen“ zu sein und entwickelten sich tendenziell einzeln wie in ihrer Gesamtheit durch eine „Fortbildung im gemeinwirtschaftlichen Sinne“ zu einem „nationalwirtschaftlichen, der Gesamtheit angehörigen Faktor“.⁷⁰
Entwicklungsstadien von Rathenaus Nachhaltigkeitsprogramm Die Synthese von energetischem Modernisierungsprojekt und gemeinwirtschaftlichem Reformprogramm zu einem breiter angelegten Nachhaltigkeitskonzept erfolgte in mehreren Stufen und auf verschiedenen Ebenen zwischen 1910 und
68 Schmoller, Grundriß (wie Anm. 21), Bd. I, S. 452, 457. 69 Siehe zu Rathenaus Plänen für eine „Vereinigte Elektrizitäts-A.G.“ von 1900/1902 demnächst sein Memorandum von 1900 und die damit zusammenhängenden Aktennotizen in WRG, Bd. I. 70 Rathenau, Aktienwesen (wie Anm. 62), S. 154.
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1918/1919. So legte Rathenau in den letzten Vorkriegsjahren die theoretischen Grundlagen mit seinem in den ersten beiden Hauptwerken entwickelten Mechanisierungs-Theorem. Parallel dazu bemühte er sich, seine energiewirtschaftlichen Zentralisierungspläne auf der politischen Ebene zu verwirklichen. Doch obwohl er die obersten Reichsbehörden und selbst den Reichskanzler für ein Elektrizitätsmonopol gewann, scheiterte das Gesetzesvorhaben am Widerstand der etablierten energiewirtschaftlichen Akteure. Erfolg hatte Rathenau erst mit seinem zweiten ressourcenpolitischen Vorstoß im Rahmen der Rohstoffversorgung des Ersten Weltkrieges. Hier gelang ihm 1914/1915 zusammen mit dem Rohstoffbeauftragten des AEG-Konzerns und Anhänger seiner Anschauungen, Wichard von Moellendorff, der Aufbau einer gemischtwirtschaftlichen Organisation des Rohstoffsektors unter dem Dach des Kriegsministeriums. Dieser „entschiedene Schritt zum Staatssozialismus“ setzte zwar das freie Spiel der Kräfte im Wirtschaftsprozess außer Kraft, doch wurde auch hier die eigentliche „Wirtschaftsregelung“ Kriegsgesellschaften übertragen, über die die beauftragten Industriegruppen die Rohstoffzuteilung selber organisieren konnten: „Es blieb somit nur der Weg der Selbstverwaltung. Es mußten die Industrien zu eigener Tätigkeit aufgerufen werden; sie mußten in Organisationen gefaßt werden, die imstande waren, einerseits die Heranziehung, andererseits die Aufteilung des Materials zu besorgen.“⁷¹ Ziel dieses „Ausfluges auf allgemeinwirtschaftliches Gebiet“ war eine umfassende Rohstoffmobilisierung für die Rüstungsproduktion und die Kriegswirtschaft: „Alle Rohstoffe des Landes mußten zwangsläufig werden, nichts durfte mehr dem eigenen Willen und eigener Willkür folgen.“⁷² Das von Rathenau als Begriff und Rechtsinstrument eingeführte Prinzip des „Rohstoffschutzes“ sollte jegliche Vergeudung kriegswichtiger Stoffe für Luxuszwecke und „nebensächlichen Bedarf“ verhindern und so das reibungslose Funktionieren des geschlossenen Kreislaufs der Kriegswirtschaft garantieren: „So entsteht ein neuer Merkantilismus, nicht um die Ausfuhr ins Maßlose zu steigern, sondern um sie nutzbringend zu erhalten. [...] Der Begriff des Rohstoffschutzes wird uns geläufig werden und sich in Deutschland zum Nutzen unsrer Wirtschaft geltend machen.“⁷³ Der unter kriegswirtschaftlichen Zwängen entstandene neomerkantilistische Rohstoffschutz würde, so hoffte Rathenau, den Boden für ein neues Ressourcenbewusstsein und ein „neues Wirt-
71 Interner Tätigkeitsbericht Rathenaus vom 12. 10. 1914 über die Entstehung der Kriegsrohstoffabteilung in Nachlass Rathenau 1/271. 72 Rathenau, Walther: Deutschlands Rohstoffversorgung (1915), in: Gesammelte Schriften (wie Anm. 41), Bd. 5, S. 31, 40. 73 Rathenau, Rohstoffversorgung (wie Anm. 72), S. 54.
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schaftsleben“ bereiten, in dem gemäß einem „neuen Netz industrialer Gesetzmäßigkeiten“ alles „nach durchdachtem Plan einheitlich geregelt“ wird.⁷⁴ Auch in der Friedenswirtschaft sollte als oberster Grundsatz gelten: „Nichts vergeuden, alle Quellen erschließen, unabhängig werden vom Auslande.“⁷⁵ Im nächsten Schritt weitete Rathenau dann das Prinzip des Ressourcenschutzes vom „Gebiet der Materialien“ auf das „Gebiet der Kräfte“ aus: Wir haben sorgfältiger umzugehen mit der kalorischen Energie, die uns die Sonne einmal geschenkt hat in Form unsrer Kohle, und die sie uns nie wieder schenken wird; wir haben sorgfältiger und entschlossener umzugehen mit den Kräften, die abermals die Sonne uns spendet, indem sie das Wasser emporzieht auf die Höhen und es in Stromgefällen ins Tal herniederfahren läßt. Die Politik unsrer Kraftquellen und unsrer Kraftverteilung wird eine der Grundfragen unsrer Wirtschaft bilden.⁷⁶
Unter dem Eindruck des massiven Strom- und Kohlemangels radikalisierte sich im Weltkrieg Rathenaus energetische Einstellung. Scharf kritisierte er nun den raubwirtschaftlichen Umgang mit der Energie: „Es kann kein größerer Raubbau betrieben werden als die Verschwendung von Kräften, als die Verschwendung von Kohle, als die Verschwendung von irgendeinem Material.“⁷⁷ Damit bahnte sich bei Rathenau ein grundlegender Perspektivwandel an: Es ging ihm nun nicht mehr wie vor dem Kriege allein um eine Steigerung der Ressourceneffizienz, um aus dem vorhandenen Stoff- und Energieangebot maximale Erträge herauszuholen. Zu dem bis dahin vorherrschenden Effizienzprinzip kam nun ein dezidiertes Bestandsdenken hinzu, das ganz im Sinne von Helmholtz und Clausius den gesamten Energieumsatz als ein geschlossenes endliches System betrachtet: Der Wohlstand unsrer Zeit im großen betrachtet, gleichviel ob er aus Produktion oder Verkehr zu stammen scheint, wurzelt letzten Endes in dem edelsten Stoff unsres Planeten, der Kohle. Was Jahrhunderttausende an köstlicher Vegetation getragen, zu Balsam und Essenzen vielfältiger Zusammensetzung verdichtet und im Schoß der Erde aufgespart haben, reißt unser Geschlecht aus ihren Flanken zum unedlen Dienst wahlloser Verbrennung. Es wäre verdient, wenn dies Wirtschaftsalter dereinst nach dem Kohlenraubbau benannt würde, aus dem es seine Schätze gezogen hat. Zu spät haben wir den Wert dieses wahren Steins der Weisen erkannt und beginnen ihn zu schonen.
74 Rathenau, Rohstoffversorgung (wie Anm. 72), S. 57f. 75 Rathenau, Walther: Probleme der Friedenswirtschaft (1916), in: Gesammelte Schriften (wie Anm. 41), Bd. 5, S. 72. 76 Rathenau, Friedenswirtschaft (wie Anm. 75), S. 75. 77 Rathenau, Walther: Produktionspolitik. Gesammelte Reden (wie Anm. 49), S. 103.
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Die Vergeudung von Kohle sollte deshalb künftig als ein volkswirtschaftliches Verbrechen geahndet werden: „[…] in dieser Beziehung ist eine große Umgestaltung unseres Denkens, aber auch unseres Empfindens nötig.“⁷⁸ Viel rigider als vor dem Kriege unterwarf er nun den gesamten Energie- und Stoffumsatz einem strikten energetischen Imperativ, der, obwohl eine absolute „Begrenzung durch Rohstoffmangel des Planeten“ noch fern sei, sich permanent der Endlichkeit der Ressourcenbestände bewusst ist. Doch im Unterschied zu den Thermodynamikern ging es Rathenau nicht nur um die Naturkräfte- und -vorräte, er bezog auch das gesamtgesellschaftliche Arbeits- und Kapitalvermögen mit ein und erweiterte den Begriff des „Naturvorrates“ bzw. „Naturfonds“ zum „Gemeinschaftsvorrat“.⁷⁹ Kraft-, Stoff-, Arbeits- und Kapitalvergeudungen hörten damit für ihn auf, eine Privatangelegenheit zu sein: Denn das ganze Wirtschaftsgebiet, auf dem wir stehen und leben, ist begrenzt und erschöpflich. Die Materialien sind es, die Arbeit ist es, die Kapitalien sind es. Wer aus diesem Gefäß schöpft, der erschöpft. Jedes Schöpfen aber wirkt weiter, wirkt zurück auf die Wirtschaft der Gesamtheit, beeinflußt und verändert die Grundbedingungen des Wirkens der Andern. Wirtschaft bleibt nicht länger Privatsache, sie wird Res publica, die Sache Aller.⁸⁰
Rathenaus anfänglich stark professionsgebundene naturwissenschaftlich-technische Ressourcenethik mündete so in eine generalisierte „Wirtschaftsethik“ ein und wurde durch die universelle Gemeinwohlverpflichtung damit zu einem Gegenstand der allgemeinen Politik. Angesichts der Begrenztheit der Ressourcen stellte Rathenau im nächsten Schritt das gesamte Produktions- und Distributionssystem auf den Prüfstand, um alle Vergeudungsquellen zu identifizieren und durch eine umfassende „Rationalisierung der Wirtschaft“ auszuschalten. Dazu gehörten auf horizontaler Ebene eine forcierte Konzentration von Betrieben sowie eine Stilllegung von „Tausenden von unwirtschaftlichen und überflüssigen Produktionsstätten“ zugunsten einer hocheffizienten Massenproduktion in vollkommen mechanisierten Großbetrieben: „Dem Wirkungsgrade einer Wirtschaft ist eine theoretische Grenze nicht gesetzt.“ Noch größere Rationalisierungspotentiale sah er jedoch in der Distribution und der vertikalen Organisation der Wirtschaft. Denn während innerhalb der
78 Rathenau, Von kommenden Dingen (wie Anm. 63), S. 346f.; Verhandlungen der Sozialisierungskommission über den Kohlenbergbau im Jahre 1920, 2 Bde. Berlin 1920. Bd. I, S. 298f. (Rathenaus Ausführungen am 14. 5. 1920). 79 Rathenau, Walther: Bund der Erneuerung wirtschaftlicher Sitte und Verantwortung. In: Deutsche Politik 5 (1920), S. 30. 80 Rathenau, Friedenswirtschaft (wie Anm. 75), S. 71
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Unternehmen bereits viele Einsparmöglichkeiten ausgeschöpft seien, herrsche in den Beziehungen zwischen den vor- und nachgelagerten Produktionsstufen der „ungeregelte Krieg aller gegen alle“ und völlige „Systemlosigkeit“.⁸¹ Rathenau wollte deshalb die „Zerreißung des Wirtschaftsprozesses“ durch eine geregelte „Arbeitsteilung von Werk zu Werk, von Gruppe zu Gruppe“ neu ordnen.⁸² Auf der betrieblichen Ebene schlug er die Bildung von ‚Kombinaten’ vor, die – wie ansatzweise in der AEG und vor allem in den neuesten Ford-Fabriken – möglichst viele Produktionsstufen an einem Industriestandort bündeln.⁸³ Auf volkswirtschaftlicher Ebene sollte die bislang ausschließlich dem „ungezügelten Wettbewerb“ überlassene und daher mit mannigfachen „Reibungen und Unwirtschaftlichkeiten“ verbundene Prozesskette vom „Urstoff zum Zwischenprodukt, Halbprodukt und Endprodukt“ durch eine „Gruppenarbeitsteilung“ systematisch geplant werden. Das Ziel war eine „Produktionsgemeinschaft, in der alle Glieder organisch ineinandergreifen, nach rechts und links, nach oben und unten zur lebendigen Einheit zusammengefaßt, mit einheitlicher Wahrnehmung, Urteil, Kraft und Willen versehen, nicht eine Konföderation, sondern ein Organismus“.⁸⁴ Von einer derartigen „grundsätzlichen Lösung des Problems der Wiedervereinigung der Produktionsstufen“ versprach sich Rathenau beispiellose volkswirtschaftliche Ressourcen- und Rationalisierungsgewinne: „Die Wirkung ist gewaltige Beschränkung der Vergeudungen und Verluste an Stoff, Kraft, Menschenarbeit und Transport, gewaltige Steigerung des Wirtschaftsgrades, erhöhte Leistung bei verbilligten Kosten, erhöhter Lohn bei verminderter Arbeit.“⁸⁵ Allein der „bloße Kohlenverbrauch Deutschlands könnte auf die Hälfte verringert werden, wenn alle Betriebe wissenschaftlich durchdrungen und geordnet und alle Kraftquellen erschlossen würden“. Ebenso könnte man den Verkehrsaufwand deutlich vermindern, denn „trüge man auf einer Landkarte auf, was eine einzige Warengattung an Hin- und Herwegen der Verarbeitungsstufen von Ort zu Ort, von Werk zu Werk bis zu den Absatzmittelpunkten erfordert, so würde man
81 Rathenau, Neue Wirtschaft (wie Anm. 65), S. 203, 208; Rathenau, Walther: Denkschrift für Bethmann Hollweg, 26. 4. 1917. In: Rathenau, Walther: Politische Briefe. Dresden 1929, S. 113f.; ausführlich kommentiert in WRG, Bd. III (erscheint 2015/16). 82 Rathenau, Neue Wirtschaft, (wie Anm. 65), S. 223ff. 83 Das Voranschreiten zu seinen Urprodukten und zu seinen „verfeinertsten Endprodukten“ zur „Abrundung seiner Wirkungsfläche“ sah Rathenau sogar als ein „absolutes Wirtschaftsgesetz“ an, siehe Rathenau, Aktienwesen (wie Anm. 62), S. 163. 84 Rathenau, Neue Wirtschaft, (wie Anm. 65), S. 216, 224f. 85 Rathenau, Neue Wirtschaft, (wie Anm. 65), S. 225; Rathenau, Walther: Sozialisierung und kein Ende (1919), in: Gesammelte Schriften (wie Anm. 41), Bd. 6, S. 237.
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fast das ganze Netz der Eisenbahnen und Wasserwege nachzuziehen haben.“ Insgesamt erhoffte er sich von einer systematisch geplanten „Reihenfolge der Hauptproduktionsstufen“ des „gesamten Wirtschaftsvorgangs“ Einsparmöglichkeiten von 30–50 %.⁸⁶ Aus der Neustrukturierung der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung ergab sich für Rathenau unmittelbar auch eine grundlegende Reform der Wirtschaftsverfassung des Reiches, denn die horizontale und vertikale Organisation der Wirtschaftsstufen sollte, wie er in einer Denkschrift für den Reichskanzler Bethmann Hollweg vom April 1917 darlegte, zugleich das Fundament des gemeinwirtschaftlichen Systems bilden: Die Aufgabe dieser Berufsverbände und Untergruppen ist die gemeinsame, zielbewußte und wissenschaftliche Rationalisierung des Produktionsprozesses und des Verkehrs. [...] Die Berufsverbände organisieren den Verkehr untereinander, ferner von Gruppe zu Gruppe und von der letzten Gruppe bis zum Kleinhandel. Wollte man für den Gesamtaufbau eine Bezeichnung finden, so wäre es die der nationalen Berufsvereinigung.⁸⁷
Nach dem bereits im Januar 1917 erschienen dritten Hauptwerk Von kommenden Dingen hatten diese Berufsverbände bzw. -vereinigungen einerseits die technischen Betriebe auf ihre Wirtschaftlichkeit zu prüfen, „veraltete, Kraft, Stoff und Arbeit vergeudende Einrichtungen“ zu erneuern, zu schließen oder zusammenzulegen. Sie konnten sogar für „sparsamen Rohstoffverbrauch und jede mögliche Wiedergewinnung“ haftbar gemacht werden.⁸⁸ Andrerseits sollten sie den Rohstoff-, Halbzeug- und Vorprodukte-Bedarf aufeinander abstimmen, Vereinbarungen über Normalien sowie Typen- und Muster-Beschränkungen und eine rationellere Organisation des Vertriebs treffen, um sinnlose Doppelarbeit, Lagerhaltung und Warenverderb zu vermeiden. Erst in der Neuen Wirtschaft vom Januar 1918 unterschied er klar zwischen dem für eine Produktionsstufe zuständigen „Berufsverband“, durch den „die wirtschaftliche Einheitsgruppe geschaffen wird“, und dem für die Organisation der „Gruppenarbeitsteilung“ zuständigen „Gewerbsverband“.⁸⁹ Mit ihrem Status als „staatlich anerkannte
86 Rathenau, Neue Wirtschaft (wie Anm. 65), S. 222; Rathenau, Denkschrift für Bethmann Hollweg, 26. 4. 1917, Politische Briefe (wie Anm. 81), S. 115. 87 Rathenau, Denkschrift für Bethmann Hollweg, 26. 4. 1917, Politische Briefe (wie Anm. 81), S. 116. 88 Rathenau, Von kommenden Dingen (wie Anm. 63), S. 462, Rathenau, Neue Wirtschaft (wie Anm. 65), S. 217ff. 89 Rathenau, Neue Wirtschaft (wie Anm. 65), S. 231ff.; später spricht Rathenau auch von „gildenartigen Vereinigungen, die selbstverwaltend ihre Arbeit ordnen und miteinander in Wechselwirkung treten“, Rathenau, Sozialisierung, (wie Anm. 85), S. 237.
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und überwachte, mit weiten Rechten ausgestattete Körperschaften“ entsprachen sie in vielem ähnlichen, im Zuge kriegssozialistischer Strömungen entwickelten staats- und gildensozialistischen Organisationsmodellen der Zeit. Doch Rathenaus Konzept einer gemischtwirtschaftlichen Neuordnung der Gesellschaft unterschied sich von diesen maßgeblich durch die Fokussierung auf ein volkswirtschaftliches Programm zur Schonung der Ressourcen und eine energetische Durchrationalisierung aller betrieblichen und volkswirtschaftlichen Prozesse. Die auf die Auseinandersetzung um die Wirtschaftsverfassung fixierte Forschung hat diesen eigentlichen Impetus Rathenaus und Moellendorffs für die gemeinwirtschaftliche Organisation weitgehend übersehen. Rathenau beschränkte sich nicht auf eine Rationalisierung der Produktionssphäre, sondern bezog bei seiner Durchforstung der volkswirtschaftlichen Verlustquellen auch die Konsumptionssphäre mit ein. In Anlehnung an die luxus- und konsumkritischen Positionen von Gesellschaftsreformern bzw. Kultursoziologen wie Mill, Bellamy, Morris, Popper-Lynkeus, Sombart und vielleicht auch Veblens „Leisure Class“-Kritik legte er immer wieder dar, wie sich Produktion und Konsum wechselseitig hochschaukeln. Er kritisierte insbesondere die ausufernde, nur dem Statuskonsum dienende Luxus-, Mode- und Tand-Produktion, es ärgerte ihn, ein wie großer Teil der Weltproduktion dem bloßen Zeitvertreib, der Eitelkeit und bloßen Ersatzbefriedigung diene: „Fast möchte man meinen, die Menschheit sei von einer Manie des Warenbesitzes, von einer Gerätetollheit befallen, die man in früheren Zeiten vielleicht gewissenlosen Spekulanten oder auf Ablenkung bedachten Regierungen zur Last gelegt hätte.“ Sein Zukunftsprogramm zielte deshalb bewusst nicht auf ein Warenparadies, in dem, wie im Fordismus, soziale Harmonie über allgemeine Konsumsteigerungen hergestellt würde, die alten besitz-, konsum- und wachstumsorientierten Leitwerte sollten vielmehr durch seelische Werte, Verantwortung, Solidarität der Gemeinschaft, Vergeistigung, schöpferische Muße und ein neues Arbeitsethos ablöst werden. Das Fernziel war der „Aufbau einer kosmischen, durchgeistigten und abgestimmten Wirtschaftsordnung“.⁹⁰ Rathenau begnügte sich also nicht wie viele Ingenieure und Vertreter technokratischer Gesellschaftskonzepte mit einer energie-ökonomischen Umgestaltung der Wirtschaft und einer „Ethik des Wirkungsgrades“, sondern verknüpfte den technikreformerischen Ansatz der energetischen Bewegung mit dem gesellschaftspolitischen Programm der „Gemeinwirtschaft“ und ausdrücklich auch mit
90 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 49; Rathenau, Sozialisierung (wie Anm. 85), S. 236. Siehe dazu unten das Kapitel „Rathenaus Theorieansatz für das Nachhaltigkeitsproblem der Moderne“.
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dem sozialpolitischen Ziel des „Besitzausgleichs“. Denn er erkannte, dass eine Reduktion der gesellschaftlichen Energie- und Materialflüsse und eine generelle Begrenzung des Wachstums notwendigerweise die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit und einem „Wohlstandsausgleich“ aufwerfen würde: „Der Zwang, mit Kräften und Stoffen hauszuhalten, verwandelt den wankenden Gleichgewichtszustand in einen durchdachten und organisierten, und indem der Mensch für seine Notdurft zu sorgen glaubt, wird er gezwungen, für die Gerechtigkeit zu sorgen.“ Ein gesellschaftlicher Besitzausgleich mit dem Ziel eines „gerechten Wohlstands für alle“⁹¹ sollte die verfeindeten Klassen aussöhnen und so langfristig zu einer auch sozial nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft führen. Rathenau bestand so bei allen auch bei ihm vorhandenen technokratischen Tendenzen letztlich auf einem gesellschaftlichen Umbau und dem Vorrang des Sozialen und Ethischen. Er wies, wie vor ihm Wagner, Schmoller und Brentano, der Wirtschaft eine dienende Rolle zu, sie werde zu einem „ethischen Bereich“, der letztlich auf die „Erringung idealer Werte“ ziele: „Selbstzweck aller Wirtschaft ist der Mensch, nur er. Die Wirtschaft selbst kann nicht Selbstzweck sein. [...] Die Wirtschaft hat sich zu beschränken auf das, was erforderlich ist, nämlich die Bedarfsgüter des Lebens zu schaffen, für den menschlichen Verbrauch zu sorgen.“⁹² Damit wurde Rathenau zu einem Vertreter einer normativen „Wirtschaftsethik“ und verband ähnlich wie John Stuart Mill und führende Kathedersozialisten das Programm einer dauerhaften, Ressourcen schonenden Wirtschaftsweise mit dem Postulat sozialer Nachhaltigkeit. Bei der Suche nach einem Leitbegriff für die 1916/1917 weitgehend abgeschlossene Synthese aus einem energetischen Rationalisierungsprogramm und einem wirtschaftsethischen Gemeinwirtschaftskonzept schwankte Rathenau lange. Für sein drittes Hauptwerk, in dem erstmals die Argumentation seiner theoretischen Schriften mit der Programmatik seiner energie-, ressourcen- und wirtschaftspolitischen Denkschriften und Broschüren zusammenkamen, fand er keinen bündigen Titel und er entschied sich erst während der Drucklegung in einer „Nottaufe“ für Von kommenden Dingen.⁹³ Gegen den Begriff „Gemeinwirtschaft“ hatte er gewisse Vorbehalte, obwohl er ihn selber intern seit 1913, öffentlich zuerst 1915/ 1916 und häufiger seit 1917/1918 verwendete. Denn sein „Schüler“ und heimlicher Konkurrent Wichard von Moellendorff war ihm bereits im Sommer 1915 mit der
91 Rathenau, Von kommenden Dingen (wie Anm. 63), S. 350, 346; Neue Wirtschaft (wie Anm. 65), S. 226. 92 Rathenau, Walther: Höhepunkt des Kapitalismus (1921), Gesammelte Reden (wie Anm. 49), S. 174, 184. 93 Siehe hierzu vor allem Schulin, Ernst: Zu Rathenaus Hauptwerken, WRG, Bd. II, S. 560f.
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viel gelesenen und zitierten Broschüre Deutsche Gemeinwirtschaft zuvorgekommen. Rathenau fand den bald zum Schlagwort gewordenen Begriff wegen seiner Vieldeutigkeit als Leitbegriff ungeeignet: „[…] ich fürchte mich immer ein bißchen vor dem Ausdruck ,gemeinwirtschaftlich‘. Man mißversteht sich, wenn er gebraucht wird.“⁹⁴ Als alternativen Programmbegriff brachte Rathenau in seiner Darlegung einer grundlegenden Umstellung der Wirtschaftsverfassung des Reiches für Bethmann Hollweg „Rationalisierung der Wirtschaft“ und „nationale Berufsvereinigung“ ins Spiel, entschied sich dann aber an der Jahreswende 1917/1918 für „Neue Wirtschaft“ als seinen spezifischen Leitbegriff, den er seitdem ständig in Reden und Schriften propagierte. Immer wieder sprach er auch von „Staatssozialismus“, doch weniger im Sinne einer politischen Leitidee als vielmehr zur Bezeichnung einer sozialökonomischen Entwicklungsstufe. Während der Revolutionsjahre kam schließlich auch noch der Begriff „Planwirtschaft“ hinzu, den er aber wegen der heftigen Kritik an der Wissell-Moellendorffschen Planwirtschaft schnell wieder fallen ließ. Der von Rathenau angestoßenen Nachhaltigkeitsdebatte fehlte mithin im Unterschied zum „Conservationism“ in den USA ein allgemein akzeptierter Leitbegriff, der das ressourcenpolitische Rationalisierungskonzept und die gemeinwirtschaftliche Neuordnung gleichermaßen apostrophierte. So zog sein engerer Anhängerkreis „Gemeinwirtschaft“ der „Neuen Wirtschaft“ vor, technische Kreise und Sozialisten diskutierten Rathenaus Programm dagegen meist als Planwirtschafts-Konzept, während Nationalökonomen in ihm in der Regel eine Spielart des Staatssozialismus sahen. Rathenau sandte Von kommenden Dingen im Mai 1917 auch seinem „frühesten Lehrer“ Schmoller, nachdem dieser eine Emil-Rathenau-Biografie sehr positiv rezensiert und sich wohlwollend über Rathenaus Verdienste in der Kriegswirtschaft ausgesprochen hatte. Schmoller äußerte sich außerordentlich lobend und wünschte dem Buch „weiteste Verbreitung u. Wirkung“: Es bewegt sich in Richtungen, deren Hauptlinien u. Ziele meinen vollen Beifall haben. [...] Ganz besonders habe ich mich über Ihr Bekenntnis zu einem weitgehenden Staatssozialismus gefreut, obwohl der Ihrige viel radikaler ist, als der Meinige. Fast noch sympathischer sind mir Ihre großen sittlichen Ideale: der Mensch soll um der Sache willen, u. nicht des äußeren Erfolgs wegen (Reichtum, Macht, Ehre etc.) sich anstrengen.⁹⁵
94 Rathenau, Verhandlungen (wie Anm. 78), S. 160. 95 Siehe den Briefwechsel zwischen Rathenau und Schmoller vom Mai 1917 in WRG, Bd. V, S. 1670f., 1675f. (dort das Zitat), 1682f.; zu den vorangehenden Begegnungen in der „Deutschen Gesellschaft 1914“ S. 1598ff.
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Schmoller besprach das „schöne Buch“ in einer ausführlichen Rezension und würdigte Rathenau als „einen der größten sozialpolitischen Schriftsteller unserer Tage“: „Sein Staatsozialismus steht dem Altpreußens nahe. Seine Pläne sittlicher Reformen sind große und edle Konzeptionen.“⁹⁶ In der zweiten Auflage des Grundrisses der allgemeinen Volkswirtschaftslehre findet sich möglicherweise ein Niederschlag der späten Begegnung mit Rathenau. In dem Abschnitt über den „zentralistischen Entwickelungsprozeß der Unternehmungsformen“ werden die „Riesengesellschaften“ AEG und Siemens als Vorboten jener künftigen „zentralistischen Organe“ hervorgehoben, die, von den fähigsten Geschäftsleuten „mit Hilfe des Kapitals und der neuen Technik, aber ebenso und noch mehr mit moralisch-politischen Eigenschaften“ geleitet werden, und die zusammen mit der „heilsamen Organisation“ der Kartelle für eine „planmäßige Regelung von Angebot und Nachfrage“ sorgen und so eine notwendige Entwicklungsstufe „zum Ziel einer einheitlichen, planvollen Leitung der Produktion und Volkswirtschaft“ darstellen.⁹⁷ Mit dieser späten Anerkennung durch den führenden deutschen Nationalökonomen der Zeit hatte Rathenaus Nachhaltigkeits-Konzept auch endgültig Eingang in den staatswissenschaftlichen Diskurs gefunden.
Historische Wirkung des Nachhaltigkeits-Konzeptes der Energetischen Gemeinwirtschaft Durch die Verknüpfung der natur- und ingenieurwissenschaftlichen Ressourcendebatten mit den sozialreformerischen Diskursen der Nationalökonomie war Rathenau zu einem besonders komplexen Nachhaltigkeitskonzept gelangt, das die Grundlage für eine wesentlich breitere Diskursallianz bot, als sie die Energetiker und die Gemeinwirtschaftler getrennt je erreicht hätten. Deren Kern bildete Rathenau zusammen mit seinem wichtigsten Schüler, Wichard von Moellendorff, der bald selber mit viel beachteten Broschüren an die Öffentlichkeit trat und der mit der Schriftenreihe Deutsche Gemeinwirtschaft ein Publikationsorgan für den engeren Unterstützerkreis initiierte. Wie Rathenau trat er für eine Unterordnung der Privatwirtschaft unter eine sparsame, bedarfsorientierte, rationell organisierte Gemeinwirtschaft ein. Denn das Ziel einer mit Ressourcen haushaltenden Volkswirtschaft war nach seiner Ansicht nicht mit einer Wirtschaftsform zu erreichen, die auf „Bedarfsanregung“ basiere und zu „spekulativen Zickzackkurven“
96 Schmoller, Gustav: Walther Rathenau und Hugo Preuß. Die Staatsmänner des Neuen Deutschland München. Leipzig 1922, S. 16f. 97 Schmoller, Grundriß (wie Anm. 21), S. 543f., 547, 552.
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neige. Deshalb wollte er das „ungeordnete Wechselspiel von privatem Angebot und privater Nachfrage“, die eine „unmittelbare Gefahr für das rohstoffarme Deutschland“ darstellten, mit einer „planmäßigen Gemeinwirtschaft“ eindämmen, die planwirtschaftliche Regulierungsmethoden mit dem wirtschaftlichen Selbstverwaltungsprinzip kombinierte. In dieser bleibe „kein Raum für anarchistisches Raubrittertum der Wirtschaftler, für privates Belieben der Vergeudung von Sachen und Arbeiten“.⁹⁸ Als Ingenieur betonte er noch stärker als Rathenau das Wirkungsgraddenken, wobei er den Schwerpunkt auf den Arbeitsprozess legte, der strikt nach Taylors Vorbild rationalisiert werden sollte. Mit seiner stärker technokratischen Ausrichtung gewann er für das energetische Gemeinwirtschafts-Projekt besonders Anhänger in der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz hinzu.⁹⁹ In der zweiten Kriegshälfte erhielten Rathenau und Moellendorff weitere Unterstützung im Linkliberalismus, besonders im Kreis um Friedrich Naumann und Robert Bosch. Naumanns Privatsekretär Erich Schairer wurde Herausgeber der Schriftenreihe Deutsche Gemeinwirtschaft, 1919/1920 bereitete er sogar mit Unterstützung Wissells und zeitweise auch Moellendorffs die Gründung einer Wochenschrift Gemeinwirtschaft vor, die jedoch nicht zustande kam.¹⁰⁰ Anhänger fanden ihre Ideen auch bei den christlichen Gewerkschaften und im christlichen Sozialismus, besonders bei deren führenden Repräsentanten Adam Stegerwald und Eduard Heimann. Mit den viel diskutierten Broschüren Rathenaus und Moellendorffs und vor allem mit den Bestsellern Von Kommenden Dingen und Die Neue Wirtschaft stießen sie zudem in die große Lücke vor, die das marxistische Utopieverbot in der Sozialdemokratie hinterlassen hatte. Sie gewannen dort auf dem rechten gewerkschaftsnahen Parteiflügel und bei den Freien Gewerkschaf-
98 Moellendorff, Wichard von: Deutsche Gemeinwirtschaft. Berlin 1916, S. 22; ders., Stenogramm einer Ansprache in der Lessing-Hochschule vom 4. Februar 1919, Historische Kommission zu Berlin, Nachlass Wissell, 854-862, S. 3; Braun, Klaus: Konservativismus und Gemeinwirtschaft. Eine Studie über Wichard von Moellendorff. Duisburg 1978, S. 35–42, 65, 163. 99 Die Forschung hat diese Beziehung meist von ihrem Scheitern her interpretiert und, gestützt auf Brief- und Nachlassquellen, vor allem die internen Spannungen und Querelen herausgearbeitet, die in der Öffentlichkeit aber erst 1919 wahrgenommen wurden. Dadurch wurde aber die doch nicht unbeträchtliche Resonanz der mehr als Einheit gesehenen Rathenau-MoellendorffWissellschen Gemeinwirtschaft übersehen. Siehe u. a. Braun, Konservativismus (wie Anm. 98), S. 35–42; Schölzel, Christian: Walther Rathenau. Eine Biographie. Paderborn/München 2006, S. 214f., 274ff. 100 Siehe dazu die Schriftwechsel mit Schairer im Nachlass Wissell (wie Anm. 98), Nr. 2128– 2139. Realisiert wurde stattdessen nur ab 1920 die Heilbronner Sonntags-Zeitung bzw. ab 1921 die Süddeutsche Sonntags-Zeitung, in der häufig Artikel zu gemeinwirtschaftlichen Themen erschienen, mehrfach auch von Rathenau und v. Moellendorff.
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ten Sympathisanten für einen ressourcenschonenden gemeinwirtschaftlichen Umbau der Wirtschaft. Über die zu August Müller und Rudolf Wissell entstandenen politischen und z. T. sogar freundschaftlichen Beziehungen gelangte das Rathenau-Moellendorffsche Programm schließlich auf die höchste Ebene der Reichspolitik. Denn während Rathenau mit seinen Reichsmonopolplänen von 1910–1913 noch völlig gescheitert war, beide in der 1914/1915 von ihnen errichteten deutschen Kriegsrohstoff-Organisation nur eine unmittelbar dem Heeresbedarf dienende neomerkantilistische Rohstoffbewirtschaftung durchsetzen konnten und das Einschwenken Bethmann Hollwegs auf Rathenaus Rationalisierungsprogramm wegen seiner Entlassung nicht mehr zum Tragen kam, wurde die Energetische Gemeinwirtschaft ab 1917 Bestandteil der Planungen für die Übergangswirtschaft und in der Revolution von 1918/1919 sogar ein wesentlicher Kern der Sozialisierungspolitik. Als Unterstaatssekretär im Reichswirtschaftsministerium unter Wissell wurde Moellendorff federführend bei der Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik und der Sozialisierungsgesetze. Von ihm stammt auch der Entwurf für die Leitlinien des Wirtschaftsprogramms, in dem er als die Hauptwege zur „Hebung der Wirtschaftlichkeit in Gewerbe und Industrie“ neben den gemeinwirtschaftlichen Selbstverwaltungskörpern zentrale Ziele zur Schonung der Ressourcen verankern konnte: 1)
2) 3) 4) 5)
Möglichst weitgehende Verwendung einheimischer Rohstoffe und Werkstoffe, deren wirtschaftliche Gewinnung, Aufbereitung und Verarbeitung, sparsamste Wirtschaft mit teuren Einfuhrstoffen. Sparsamste Ausnutzung aller Kraftquellen, insbesondere rationelle Wärmewirtschaft. Erzielung des höchsten Wirkungsgrades der Betriebe durch zeitgemäße Organisation. Wirkungsvollste Auswertung aller Produktionsmittel (wirtschaftliche Fertigung). Verbilligung der Herstellung durch Normung und Typung der Erzeugnisse.¹⁰¹
Als erstes und wichtigstes Ziel der gemeinwirtschaftlichen Sozialisierung wurde der Energiesektor in Angriff genommen, der konsequent nach energetischen Prinzipien ausgestaltet werden sollte. Dafür ließ Moellendorff ein Rahmengesetz für die gesamte Energiewirtschaft ausarbeiten, das wegen der möglichen baldigen „Erschöpfung unsrer Energiequellen“ für deren rationelle Nutzung sorgen
101 Siehe das undatierte Memorandum im Nachlass Moellendorff, BA Koblenz, Nr. 41 (alte Nummerierung); siehe auch das Wirtschaftsprogramm vom 15. Februar 1919. In: Wissell, Rudolf: Praktische Wirtschaftspolitik. Berlin 1919, S. 18f. Wissell war bereits in der Kriegszeit von Moellendorffs Gemeinwirtschaftsideen „stark beeindruckt“, sein Wirtschaftsprogramm vom 15. 2. 1919 lag denn auch „durchaus im Rahmen der von v. Möllendorffs vertretenen Ziele“. Wissell: „Wir brauchen ein Wirtschaftsprogramm!“, undatiertes Typoskript im Nachlass Wissell (wie Anm. 98), Nr. 14504, S. 7.
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sollte: „Deutschland ist durch seine wirtschaftsgeographische Lage genötigt, in seinem Energiehaushalt stark vom Kapital zu zehren. In Zukunft mehr noch als bisher. Geordnete Verteilung und vorteilhafte Verwertung dieser begrenzten Energievorräte ist daher unzweifelhaft gemeinwirtschaftliches Erfordernis.“ Das Reich sollte deshalb nach dem geplanten „Reichsenergiegesetz“ das Recht zur Regelung der „Brennstoffe, Wasserkräfte und sonstigen Energiequellen und der aus ihnen stammenden Energie nach gemeinwirtschaftlichen Gesichtspunkten zugesprochen“¹⁰² bekommen. Doch der in der ersten Hälfte des Jahres 1919 erreichte Höhepunkt des Einflusses auf die Reichspolitik brach schnell in sich zusammen. Die Ursache hierfür lag einmal an dem höchst ungeschickten, halsstarrigen Vorgehen Wissells und Moellendorffs bei der parlamentarischen Durchsetzung. Dann brach ausgerechnet Anfang 1919 der seit langem schwelende Konflikt zwischen Rathenau und Moellendorff offen aus, und auch zwischen Wissell und Rathenau kam es über die geeignete Sozialisierungspolitik zum öffentlich ausgetragenen Dissens.¹⁰³ Vor allem aber geriet das Programm der Energetischen Gemeinwirtschaft mit seinem als Kompromiss zwischen Privat- und Staatswirtschaft angelegten Selbstverwaltungsmodell zwischen die Fronten der auf eine Wiederherstellung der kapitalistischen Ordnung hinarbeitenden Wirtschaftsgruppen und Parteien und der auf Vollverstaatlichung beharrenden Linken. An diesen massiven Widerständen und dem offenen Streit der wichtigsten Protagonisten zerbrach die ohnehin sehr labile Diskurskoalition, der immer eine wirkliche Massenbasis gefehlt hatte. Die in der Rathenau-Moellendorff-Wissellschen Gemeinwirtschaft zeitweise gelungene konzeptionelle Integration von Ressourcen-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik hielt in der Folgezeit der expansiven und ressourcenimperialistischen Dynamik der von den USA dominierten Nachkriegsökonomie nicht stand. Daher spaltete sich die sozialökonomische Ressourcenschonungs-Bewegung wieder in eine Reihe von Einzeldiskursen auf: die tayloristische und technokratische Bewegung, die energiereformerischen Wärmewirtschaftler, die konsumbezogene Vergeudungskritik und philosophische Leisure-Growth-Ansätze. Rathenau hatte bereits 1921 erkannt, dass sich das Gelegenheitsfenster für eine dauerhafte, ressourcenbewusste und sozial nachhaltige Wirtschaft wieder geschlossen hatte und auch bereits deren entscheidenden Schwachpunkt erkannt:
102 Wissell, Begründung des Sozialisierungs- und Kohlengesetzes in der Sitzung der Nationalversammlung, 7. 3. 1919. In: Wissell, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 101), S. 35ff.; Entwurf eines Reichs-Gesetzes über Energiewirtschaft, 14. 1. 1919, in BA Koblenz, Nachlass Silverberg, Nr. 144, Fol 4. 103 Siehe Barclay, David E.: Rudolf Wissell als Sozialpolitiker 1890–1933. Berlin 1984, Kap. 3.
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Es gab einen Augenblick, wo es von der Staatsgewalt aus möglich war, der Entwicklung der Wirtschaft einen rascheren Lauf zu geben. Das war in den Tagen, als der politische Sozialismus die Zügel des Reiches und der Staaten in der Hand hatte. Er hat es verschmäht. [...] Er hat es vorgezogen, die Politik des Ganz oder Garnicht zu verfolgen. [...] Der Moment wird so bald nicht wieder kommen, und es ist vielleicht kein Unglück; denn es ist notwendig, das der Umgestaltung der Einrichtungen die Umgestaltung des Denkens vorausgeht.¹⁰⁴
Rathenaus Theorieansatz für das Nachhaltigkeitsproblem der Moderne Rathenaus Nachhaltigkeitsüberlegungen waren in ihrem Kern eine reflexive Modernisierungstheorie, die aus der Einsicht in die selbstzerstörerischen Tendenzen der „hochkapitalistischen Wirtschaft“ über eine rationale Organisation der Ressourcennutzung und die Bedingungen einer dauerhaft nutzbringenden Wirtschaft reflektierte. Es ging ihm nicht primär um eine biozentrische Bewahrung der Natur angesichts industrieller Naturzerstörungen und begrenzter Tragekapazitäten der Erde. Die „Natur“ war aber auch für ihn die große Lehrmeisterin, die Ehrfurcht verlangt und die auch gefährdet ist durch die den modernen Wirtschaftsprozess bestimmende „feindliche Gegensätzlichkeit zum Naturhaften“.¹⁰⁵ Der solare „Kreislauf des Wassers“ erschien ihm als „das natürliche Vorbild“ für die ökonomischen „Bewegungserscheinungen“ der Stoffströme und Transportflüsse zwischen industriellen Erzeugern und Konsumenten. Doch der „Kreislauf der Natur“ war für ihn mehr eine Gestaltanalogie und noch kein normatives Leitbild für eine strikte Kreislaufführung aller Energie- und Stoffströme.¹⁰⁶ Die Natur bedeutete für ihn wie für die utilitaristischen „Conservationists“ ein riesiges Reservoir an Ressourcen, ein „Naturfonds“, der bei schonendem und gerechtem Umgang unerschöpflich ist, bei ungebremster Entfesselung der hochkapitalistischen Dynamik jedoch unweigerlich an Grenzen stößt. Denn während bei spärlicher Besiedelung und isolierten Wirtschaftsgebieten jeder „der Natur abgewinnen [konnte] was er wollte“, sei mit zunehmender Bevölkerungsdichte und wirtschaftlicher Nutzung ein verantwortungsvoller Umgang mit der Natur erfor-
104 Rathenau, Höhepunkt (wie Anm. 92), S. 179. 105 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 54), S. 294. 106 Rathenau, Massengüterbahnen (wie Anm. 67), S. 156; Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 65.
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derlich. Die Kollektivgüter der Natur wie die der Gesellschaft müssten deshalb vor Gefahren und Beeinträchtigungen geschützt werden.¹⁰⁷ Den theoretischen Kern von Rathenaus Nachhaltigkeits-Konzept bildet sein Theorem der „Mechanisierung“. In ihm erweiterte er seine lebensphilosophisch geprägte Kultur-, Mode-, Konsum- und „Plutokratie“-Kritik der Frühschriften zu einem umfassenden sozialökonomischen und sozialkulturellen Theorem. Die entscheidenden Anstöße hierzu erhielt er durch die Modernisierungsdebatte der Jahrhundertwende, zu der er durch Georg Simmels Philosophie des Geldes und die Bekanntschaft mit dem Schmoller-Schüler Werner Sombart Zugang fand. Nach ihrem Vorbild suchte nun auch Rathenau nach einer Erklärung für die Entstehung und Entfaltung des „Geistes des Kapitalismus“ und für „Wesen und Zusammenhang der Moderne“.¹⁰⁸ Bei Simmel fand er Beschreibungen der den „modernen Kulturprozeß“ bestimmenden, aus der Tauschbeziehung und Geldwirtschaft resultierenden Tendenzen der „abstrakten Intellektualität“, der „Objektivierung, Quantifizierung und Egalisierung“. Als „sozialisierende Mechanisierungen“ seien sie dafür verantwortlich, dass sich die Institutionen zu „Mechanismen, denen die Seele fehlt“ entwickelt hätten und dass die „Kultur der Dinge“ zu einem „Gegenbild des Naturzusammenhangs“, einer „überlegenen Macht über die Individuen“ geworden sei.¹⁰⁹ Die Diskussionen mit Sombart seit 1906/1907 wurden der Anlass für Rathenaus erstes Hauptwerk, das ursprünglich Kritik der Neuzeit heißen sollte.¹¹⁰ In Sombarts Annahme eines vom „ökonomischen Rationalismus“ geprägten „Geistes des Kapitalismus“ als Gemeinsamkeit aller seiner Erscheinungsformen fand Rathenau ein Vorbild für sein die sozialökonomische und geistige Entwicklung umfassendes „idealtypisches Denkgebilde“ der Mechanisierung. Sie habe dem „Gesamtgeist der Völker das mechanistische, rationalistische und unternehmermäßige Denken aufgezwungen, das patriarchalische, feudalistische und zünftlerische Denken abgewöhnt und hiermit eine neue, wirkungsvolle, freilich nicht minder einseitige Geistessphäre geschaffen“.¹¹¹ In Sombarts sozialpsychologischen Begründungen für die „Neuerungssucht“, den „unausgesetzten Formenwechsel der Gebrauchsgüter“ und der „fortwährenden Neugestaltung unserer Umwelt“ fand er auch Anregungen für die Aus-
107 Rathenau, Von kommenden Dingen (wie Anm. 63), S. 343 (selbst die Luft müsse vor Ausdünstungen und Dämpfen rein gehalten werden). 108 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 25. 109 Simmel, Georg: Philosophie des Geldes (1900), 7. Aufl. Berlin 1977, S. 527, 531f. (Hervorhebung d. Verf.). 110 Zur Entstehungsgeschichte siehe Schulin, Rathenaus Hauptwerke (wie Anm. 93), S. 505. 111 Rathenau, Von kommenden Dingen (wie Anm. 63), S. 358.
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formung seiner Mode- und Luxus-Kritik.¹¹² Von den verschiedenen bei Sombart genannten Ursachen für die Entstehung des Kapitalismus akzeptierte er aber nur die Bevölkerungs-These, während er es für einen Irrweg hielt, „die Entwicklung der Mechanisierung von immer neuen Variablen“ abhängig zu machen.¹¹³ Sombarts Hauptwerk Der moderne Kapitalismus enthielt in der ersten Auflage auch bereits einige Hinweise auf die Gefährdungen der wirtschaftlichen Entwicklung durch eine nicht nachhaltige Ressourcennutzung, insbesondere durch großflächige Waldzerstörungen im „Hölzernen Zeitalter“. Doch die spektakuläre Warnung vor einem „Stillstand des Wachstumsprozesses“ bzw. sogar des „drohenden Endes des Kapitalismus“ als Folge des „Raubbaus an Menschen und Ländern“ findet sich erst in der zweiten Auflage von 1916/1917, die keinen Einfluss mehr auf Rathenaus Theorem ausüben konnte.¹¹⁴ Wohl durch Sombart wurde Rathenau auch zur Lektüre von Max Webers Protestantischer Ethik motiviert, die nicht ohne Einfluss auf ihn blieb. Dabei galt sein Interesse nicht der zentralen These Webers, denn im asketischen Protestantismus sah er – wie auch in der von Sombart favorisierten Außenseiterstellung und Erwerbsgesinnung der „jüdischen Wirtschaftssubjekte“ – nur eine Teilerklärung für die Kapitalismus-Genese: Denn nach meiner Auffassungsweise sind auch spezifische Religionsformen, wie der Calvinismus, Zeiterscheinungen, und das Gewissen kann sich nicht damit beruhigen festzustellen, daß sie Ursachen von weiteren Dingen sind, es muß auch wissen, inwiefern sie als Wirkungen tieferer Ursachen angeschaut werden müssen. Dieses Gewissen beruhigt sich erst dann, wenn Urvariable ermittelt sind, deren Bewegungen sich von selbst, aus den menschlichen Grundgesetzen ergeben.
Und die „Urbewegungen des genus humanum als treibende Ursachen“ und ständige Antreiber des säkularen Modernisierungsprozesses waren für Rathenau der „Naturprozeß der Bevölkerungsverdichtung“.¹¹⁵ Beeindruckt zeigte er sich
112 Sombart, Werner: Der moderne Kapitalismus, 2 Bde. Leipzig 1902. Bd. 1, S. 60, 307, 378ff., 559; Bd. 2, S. 4. Zur Beziehung Rathenau-Sombart siehe vor allem Kleinsorg, Johannes: Walther Rathenau: seine Rolle in der industriellen Gesellschaft und seine Beziehung zu ausgewählten Soziologen seiner Generation. Phil. Diss. Würzburg 1992, Kap. 2.1. 113 Rathenau an Wilhelm Solf, 4. 5. 1914, in: WRG, Bd. V,2, S. 1306f. 114 Sombart, Kapitalismus (wie Anm. 112), S. 116, 140, 140; Sombart, Kapitalismus (wie Anm. 112). 3 Bde. 2. Aufl. Berlin 1916/17. Bd. 2, Teil 2, S. 1148, 1152. Erst in der 3. Aufl. von 1927, Bd. 3, S. 1010 ff. verweist Sombart unter Hinweis auf Ostwald auf die Möglichkeiten der solaren Energien als Ausweg aus dem Energieproblem, siehe Radkau, Joachim: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München, Wien 2005, S. 350. 115 Rathenau an Wilhelm Solf, 4. 5. 1914, WRG, Bd. V,2, S. 1306f.
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dagegen von der starken Betonung der Arbeitsdisziplin und Berufspflicht als Faktoren des wirtschaftlichen Erfolges, vor allem aber von Webers pessimistischer Zukunftsvision von 1905, auf die er vermutlich schon in einer sozialökonomischen Betrachtung des Transportwesens anspielt. Weber hatte in dem berühmten Schluss der Protestantischen Ethik dargelegt, wie sich der auf „mechanischer Grundlage“ ruhende „siegreiche Kapitalismus“ von seiner ursprünglichen Wertbasis gelöst und jenen „mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung“ hervorgebracht habe, der „heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“. Aus der anfänglichen „Sorge um die äußeren Güter“ hätte am Ende „das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden [lassen]. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte.“¹¹⁶ Dies zeigten besonders die Vereinigten Staaten, in denen das „seines religiös-ethischen Sinnes entkleidete Erwerbsstreben“ bereits zu seiner „höchsten Entfesselung“ gelangt sei. Rathenau nahm an der Jahreswende 1908/1909 in dem Aufsatz Massengüterbahnen gleich mehrfach Bezug auf die von Simmel, Sombart und Weber angestoßene Modernisierungsdebatte. Er kündigte sogar indirekt seine Beteiligung daran an, doch sei hier nicht der Ort für die Frage, welche „Grunderscheinungen, sei es Übervölkerung, sei es wachsender Einzelbedarf, die Welt zur Uniformierung ihrer Erzeugung zwingen“. Explizit griff er Webers zentrale ideelle Werte der „Arbeitsamkeit, der Zuverlässigkeit, der Disziplin“ auf und verwies auf ihre große Bedeutung für den „industriellen Mechanismus“, sie seien der entscheidende Faktor bei der „Entwicklung aller produzierenden Mächte“ und des „Vorsprungs der einen gegenüber der andern“. Noch eindeutiger erscheint Rathenaus Anspielung auf Webers resignative Einschätzung des grenzenlosen Expansionsdrangs des Kapitalismus:
116 Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Teil II. In: Ders.: Die protestantische Ethik, hrsg. von Johannes Winckelmann. 2 Bde. Hamburg 1973. Bd. 1, S. 188f. Nach Sombart, Kapitalismus (wie Anm. 114), 3. Aufl., Bd. 3, S. 1010f. war Weber sogar der Meinung, dass das Auslaufen der Erz- und Kohlevorkommen dem „Hexensabbat“ der kapitalistischen Länder schon „in verhältnismäßig kurzer Zeit“ ein Ende bereiten würde. Siehe hierzu auch Radkau, Max Weber (wie Anm. 114), S. 165, 326f., 350.
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Der industrielle Gedanke kann nicht ruhen, solange nicht alle auffindbaren Gewinnungsstellen der Erde nach dem Maße ihrer Ergiebigkeit und ohne irgendwelche andre Rücksicht ihre Stoffe liefern; solange nicht diese Stoffe an möglichst einer und zwar der denkbar günstigsten Stätte verarbeitet werden, und solange nicht jeder noch so entfernte oder unbemittelte Verbrauchsfähige zum Konsum herangezogen ist.¹¹⁷
Am folgenreichsten für Rathenaus Modernisierungstheorie und Nachhaltigkeitskonzept wurde indessen Webers These von der „Entfesselung“ des Erwerbsstrebens, der Verselbständigung der Güterproduktion und einer dadurch drohenden „chinesischen“, bzw. wie er in zweiten Auflage von 1920 in Anlehnung an Rathenau formulierte, „mechanisierten Versteinerung“.¹¹⁸ Die „Entfesselung aller irdischen Kräfte“, der grenzenlose „Warenhunger der Menschen“ und die zum Selbstzweck erhobene „mechanisierte Produktion“ wurden Leitmotive in Rathenaus Schriften. Auch Webers These von der „Unaufhaltsamkeit des Fortschritts der bureaukratischen Mechanisierung“ und der „industriellen Mechanisierung“ hat darin offenbar einen Niederschlag gefunden. Hatte Weber 1909 davon gesprochen, dass es „nichts in der Welt [gäbe], keine Maschinerie der Welt, die so präzis arbeitet, wie diese Menschenmaschine“, so hält auch Rathenau die „Homogenität“ der spezialisierten Berufe in der mechanisierten Gesellschaft für unvermeidbar: Sie entwickelten sich zu einer „lebenden Maschinerie“, deren „Teile massenhaft produzierbar und auswechselbar, fest ineinandergefügt und reibungslos, geschwindester und gleichförmigster Bewegung fähig sein müssen“.¹¹⁹ Und auch für Rathenau hatte die Mechanisierung den unerbittlichen Zwangscharakter eines „stählernen Gehäuses“: „Nicht die Einzelglieder der Mechanisierung sind angreifbar, denn sie sind mit eisernen Klammern objektiver Logik verschränkt [...].“¹²⁰ Das Wesen der „Mechanisierung“ bestehe gerade aufgrund ihrer „mechanischen Zwangläufigkeit“ darin, dass die „Menschheit bewußt oder unbewußt zu einer einzigen Zwangsorganisation verflochten“ wird, zu einer „unbewuß-
117 Rathenau, Massengüterbahnen (wie Anm. 67), S. 156, 158. 118 Siehe Merlio, Gilbert. Kultur- und Technikkritik vor und nach dem Ersten Weltkrieg. In: Strack, Friedrich (Hrsg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Würzburg 2000, S. 25. 119 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 59; Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 54), S. 211, 133f.; Max Weber: Debattereden auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1909 zu den Verhandlungen über „Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden“. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Hrsg. von Marianne Weber. 2. Aufl. Tübingen 1988, S. 413 (Hervorhebungen d. Verf.). 120 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 54), S.133f.
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ten Zwangsassoziation, zu einer lückenlosen Gemeinschaft der Produktion und Wirtschaft“.¹²¹ Doch trotz dieser Übereinstimmungen verschob sich die Zielrichtung der Modernisierungstheorie bei der Rathenau grundlegend von der historischen Genese-Frage zu den aktuellen Prozessen und zum Nachhaltigkeitsproblem. Denn er hatte erkannt, dass es angesichts der von Weber und Sombart selber eingestandenen Verselbstständigung der kapitalistischen Entwicklung gegenüber dem Entstehungszusammenhang ein müßiges unermüdliches Spiel der Wissenschaft [ist], die Zweige der Mechanisierung aufeinander zu beziehen und voneinander abzuleiten: Kapitalismus, Entdeckungen, Krieg, Calvinismus, Judentum, Luxus, „Frauendienst“ [...] zur Evolvente des Gangs der Erscheinung zu machen, wobei [...] beständig ein Wunder durch das andre erklärt wird, und niemand einfällt, nach der Urvariablen zu fragen.¹²²
Im Gegensatz zu den Professoren legte der Großunternehmer Rathenau den Fokus seiner Modernisierungstheorie deshalb auf die Verselbstständigungstendenz und selbstzerstörerische Dynamik der mechanisierten Produktion und Konsumption. Zwar hatte auch Weber 1917 in Anlehnung an Rathenaus Begriff konstatiert, dass man „auf absehbare Zeit der Mechanisierung verfallen [sei], die sich in der durchaus starken Bürokratie einerseits, in einem wildwachsenden übermächtigen Kapitalismus andererseits offenbart“.¹²³ Doch während Webers Hauptaufmerksamkeit und noch mehr die der ihm folgenden Soziologen sich vorrangig zu den Bürokratisierungs-Tendenzen, zum „Gehäuse für die Hörigkeit der Zukunft“ hin verlagerte, blieb für Rathenau ganz eindeutig das „stahlharte Gehäuse“ der entfesselten Güterproduktion das zentrale Problem einer ökonomisch und sozial nachhaltigen Gesellschaft. Dabei suchte er im Unterschied zu Weber, der sich aus Sorge vor „bürokratischer Erstarrung“ resignativ mit der Fortdauer des „erbitterten Konkurrenzkampfes“ abfand, nach einem gemeinwirtschaftlichen Ausweg aus dem Teufelskreis der Mechanisierung. Mit der Verschiebung der zentralen Erklärungsmomente für die Genese des modernen Kapitalismus von der Verbindung von Erwerbstrieb und ökonomischem Rationalismus (Sombart) bzw. der religiös motivierten Rationalisierung
121 Rathenau, Von kommenden Dingen (wie Anm. 63), S. 309, 311. Zum „Nicht-Verhältnis“ Rathenau-Weber siehe vor allem Schulin, Ernst: Max Weber und Walther Rathenau. In: Mommsen, Wolfgang J./Schwentker, Wolfgang (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen. Göttingen/Zürich 1988, S. 434–447. 122 Rathenau, Von kommenden Dingen (wie Anm. 63), S. 309f. 123 Zit. nach Schulin, Weber (wie Anm. 121), S. 442.
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der Lebensführung (Weber) hin zu den Massenkräften und zur Wachstumsdynamik ergab sich für Rathenau auch ein neuer Hauptansatzpunkt für die Bewertung des Nachhaltigkeitsproblems: „Alles, was die moderne Zivilisation ausmacht: Arbeitsteilung und Spezialisierung, Industrialismus und Massenproduktion, Massenverkehr und Geschwindigkeitskult, Masseninformation und Oberflächlichkeit, Kapitalismus und Plutokratie – alle diese Erscheinungen sind Übervölkerungsphänomene.“¹²⁴ Da er das Malthussche Rezept einer Hemmung der „natürlichen Quellen des Lebens und der Nachkommenschaft“ als einen „widernatürlichen“ Eingriff in einen „Naturvorgang“ ablehnte, ergab sich aus der „Übervölkerung“ ein permanenter Zwang zur „ökonomischen Uniformierung“ und Vermehrung der Gütererzeugung und zu einer unablässigen Steigerung des Arbeitseffektes und der Ressourcenproduktivität: „Erhöhung der Produktion unter Ersparnis an Arbeit und Material ist die Formel, die der Mechanisierung der Welt zugrundeliegt.“ Der „Geist der Mechanisierung“ beruhe deshalb auf Maß, Zahl und mechanischen Vorgängen und ziele auf die rationale „Beherrschung der Materialien, der Kräfte, der Massen, der Bewegungen, der Organisation“.¹²⁵ Als die allein geeignete Strategie zur fortdauernden Güterversorgung einer wachsenden Population erschien Rathenau eine Forcierung des Systems der industriellen Produktion, wie sie Adam Smith in seinem Modell der auf Arbeitsteilung und mechanisierter Massenfabrikation beruhenden Wachstumsspirale theoretisch entwickelt hatte.¹²⁶ Doch er ging über Smith hinaus, indem die Ressourceneffizienz nicht allein durch Marktausweitung gesteigert werden sollte, sondern auch durch einen staatlich geförderten Konzentrationsprozess. Denn Konkurrenz diente nach seiner Ansicht nur teilweise der echten Selektion von Ideen und höherwertigen Produkten. Den vorherrschenden „unsinnigen Wettbewerb“ ineffektiver Betriebe und veralteter Produktionsmethoden dagegen machte er zu einem erheblichen Teil verantwortlich für die Erzeugung überschüssiger und überflüssiger Güter. Diese bedeutende Vergeudungsquelle wollte er deshalb durch eine zunächst branchenweite und schließlich volkswirtschaftliche planvolle Organisation der Fabrikation und Distribution zurückdrängen.
124 Rathenau, Ungeschriebene Schriften (wie Anm. 41), S. 65 (Aphorismus XXVII). 125 Rathenau, Massengüterbahnen (wie Anm. 67), S. 156; Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 41; Rathenau, Höhepunkt (wie Anm. 92), S. 155. 126 Siehe die Anspielung auf Smith in: Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 42: „Es besteht also die Möglichkeit, den Effekt von Vorgängen und die Ausnutzung von Materialien erheblich zu verbessern, indem man Gelegenheit für möglichst große Mengen gleichartiger und einfacher Nutzhandlungen sammelt, um dieselben kontinuierlich auszuüben – dies ist die Arbeitsteilung, auf der die alte Methode der Manufaktur beruht.“
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Rathenau trieb den skalenökonomischen Ansatz gedanklich sogar noch auf die Spitze, indem er die maximale Konzentration und Zentralisation als das „Produktionsideal“ der Menschheit deklarierte: „Dies Ideal ist erreicht, wenn von den jeweils günstigsten Gewinnungsstätten die Produkte auf kürzestem Wege und mit größter Eile zu der bestgelegenen Verarbeitungsstätte gelangen, um in einem einzigen Prozeß umgestaltet sofort einem Vertriebssystem übergeben zu werden [...].“ Das Prinzip Arbeitsteilung verlange, „daß aus zentralen Werkstätten bei möglichst ausgedehnter und ausgebildeter Produktion ganze Landesteile, ja Länder und Erdteile mit spezialisierten Waren versorgt werden“. Am Ende solle „keiner für sich und jeder für alle arbeiten“. Die höchste Effizienz könne mithin erst durch eine Arbeitsteilung im Weltmaßstab erreicht werden. Rathenau hatte damit das Denkmodell einer nationalen und in Ansätzen sogar globalisierten Wirtschaft entworfen, die im Interesse einer maximalen Ressourcenproduktivität die Skalenökonomie extrem ausweitete und durch eine „technische Reform des Gesamtprozesses“ zu einer planvollen Abstimmung der Wirtschaftskreisläufe führen sollte.¹²⁷ Dieses Szenario eines großtechnischen, korporativistisch verfassten „Organisierten Kapitalismus“ konnte noch als äußerste Steigerung der Moderne-Konzeption nach 1900 gelten, ja sogar mit gutem Recht als eine Legitimationsideologie eines auf nationale Führungsstellung und Weltmarktpräsenz bedachten Großindustriellen einer neuen Wachstumsbranche.¹²⁸ Den entscheidenden Schritt zu einem nachhaltigkeitstheoretischen Ansatz vollzog Rathenau erst mit seiner Einsicht, dass die maximale Ausschöpfung des Effizienzprinzips noch keine Garantie für eine „dauerhafte Wirtschaft“ darstelle, sondern im Gegenteil unter kapitalistischen Bedingungen die Tendenz habe, „über ihr Ziel hinausschießend, überflüssige, nicht mehr konsumierbare Mengen zu fördern“. Wohl ohne Kenntnis des Jevons-Paradoxes kam er zu der Erkenntnis, dass industrielle Warenproduktion dazu neigt, die erzielten Rationalisierungseffekte wieder in neues Wachstum umzuwandeln und dadurch schließlich in einen selbsterzeugten Wachstumszwang gerät: „Die Industrie arbeitet nur am Wachstum ihres eigenen Körpers.“¹²⁹ Die dem „Hochkapitalismus“ inhärente Wachstums- und Vergeudungsdynamik demonstrierte Rathenau anhand eines von ihm selbst entwickelten Systems
127 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 49; Rathenau, Massengüterbahnen (wie Anm. 67), S. 155; Rathenau, Neue Wirtschaft (wie Anm. 65), S. 223f. 128 Siehe Hellige, Hans Dieter: Walther Rathenau: Ein Kritiker der Moderne als Organisator des Kapitalismus. In: Buddensieg, Tilmann [u. a] (Hrsg.): Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne. Berlin 1990, S. 32–54, hier: S. 44f. 129 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 49; Von kommenden Dingen (wie Anm. 63), S. 340f.
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von Kreislaufprozessen, wobei er naturwissenschaftliche, medizinische, technische, ökonomische und soziale Kreislauf-Vorstellungen kombinierte. Für den wirtschaftlichen Gesamtprozess griff er auf die Quesnaysche BlutkreislaufMetapher zurück, die er jedoch mit Blick auf die ungleich höhere Komplexität moderner Ökonomien stark ausdifferenzierte. So unterschied er ähnlich wie Schäffle den Kreislauf der „Urprodukte mineralischer und organischer Abkunft“, den Kreislauf der Halbprodukte und den der Verbrauchsgüter, die sich im Verbrauch in „Abfallstoffe“ verwandeln, die es wieder in den „Gestaltungsprozeß“ zurückzuführen gelte.¹³⁰ Die gegenüber den naturnahen, noch relativ stabilen Kreisläufen traditioneller Ökonomien wesentlich gesteigerte Dynamik moderner Wirtschaftsprozesse erfasste er mittels eines von ihm selbst vom magnetischen Kreislauf und der elektrischen Rückkopplung abgeleiteten Konzeptes selbsterregender bzw. selbstverstärkender Kreisläufe: „Das Anwachsen der Bevölkerung hat dies ungeheure Rad in Schwingung versetzt; nun kreist es, indem es selbsttätig und ununterbrochen seine Masse und Geschwindigkeit vermehrt.“¹³¹ Mit dem Beschreibungssystem interagierender Kreisläufe integrierte er die in seinen ökonomischen Aufsätzen nach 1900 skizzierten Teilkreisläufe der Geldzirkulation, der Innovations- und Krisenzyklen, der Transportkreisläufe und Produktlebenszyklen zu einem dynamischen Gesamtmodell volkswirtschaftlicher Finanz-, Stoff-, Energie- und Güterströme. Indem er auch die anderen Gesellschaftssphären, insbesondere den Konsumbereich und die Massenkultur einbezog und diese wiederum mit der Bevölkerungsentwicklung rückkoppelte, gelangte er zu seinem interdisziplinär angelegten Theorem der Mechanisierung als eines „mit eisernen Klammern objektiver Logik verschränkten“ zwanghaft ablaufenden Prozesses: Der Kern der Mechanisierung ist der Produktionsprozeß. Er teilt mit anderen undurchgeistigten oder irrationalen Prozessen ähnlicher Art – wie zum Beispiel dem Prozeß der persönlichen Bereicherung oder des Ausbaus von Unternehmungen – die Tendenz, in unablässiger Selbsterregung den Umtrieb zu steigern, und zwar in doppelter Progression: einmal so, daß die Produktionssteigerung die Bevölkerung verdichtet, und gleichzeitig die Verdichtung wiederum die Produktion erhöht; sodann in dem Sinne, daß die Menge der Verbrauchsgüter den Einzelverbrauch anregt und wiederum der vermehrte Einzelverbrauch neue Verbrauchsgüter verlangt.¹³²
Anknüpfend an Simmel und Sombart bezog er schließlich auch die Lebenswelt in das Kreislaufsystem mit ein, indem er zeigte, wie sich in einem „psychologischen
130 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 48. 131 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 51. 132 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 95.
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Kreislauf“ Erneuerungsprinzip und ständiger „Wunsch nach Wechsel“ ständig stimulieren. Die markt- und mode-orientierte industrielle Produktion führe durch die Schaffung stets neuer Bedürfnisse zu schnelllebigen „Verbrauchswerten“, sie „setzt an die Stelle der Dauerhaftigkeit bequeme Erneuerung“ und fördere so von sich aus die Vergeudung: „Denn die Mechanisierung will produzieren. Reparaturwerkstätten sind ihr kostspieliger als Fabriken, anstatt zu flicken schmilzt sie um.“ Angetrieben durch die zum Selbstzweck erhobene mechanisierte Produktion und zwanghaften Warenhunger stampfe der erwerbende Mensch durch „Ströme von Waren, mit dem ihm keine eingewohnte Liebe zum Gerät verbindet und läßt Ströme von Abfällen hinter sich zurück“.¹³³ Die Mechanisierung habe somit die Bewegungsform eines von Ehrgeiz und Warenhunger angetriebenen „Kreislaufs ohne Ziel, einer sich selbst verstärkenden Maschinerie“.¹³⁴ Rathenau brachte damit, über Jevons rein ökonomische Rebound-These hinausgehend, eine sozial- und kulturkritische Kreislaufmetapher in die Ressourcendiskussion ein, die eines sinnlosen, aber folgenreichen Leerlaufs der Warenproduktion und -konsumption, durch den sich die Wachstumsspirale zu einer endlosen Vergeudungsspirale entwickelt. Rathenau lieferte mit seinem synkretistischen Mechanisierungs-Theorem eine Innenansicht des „ehernen Gehäuses“ der Güterproduktion und eine Beschreibung ihrer zwanghaften Prozessdynamik und antizipierte damit noch vor ihrer vollen Entfaltung die „Unersättlichkeitsmaschine“ der westlichen „Überfluss- und Konsumgesellschaft“. Angesichts des derzeit ablaufenden globalen Großversuchs einer Universalisierung des „American Way of Life“ und des über Kundenbindung, Kundenausforschung sowie technische und psychologische Obsoleszenz-Strategien zunehmend feudale Züge annehmenden „stahlharten Gehäuses des Konsumismus“ ist seine Mechanisierungskritik aus heutiger Nachhaltigkeitsperspektive sogar von größerer Aktualität als die Weberschen Bürokratieängste.¹³⁵ Während Weber im Interesse der Wahrung der persönlichen Freiheiten die anarchische Produktion und ihre Ressourcenvergeudung fatalistisch hinnahm, machte Rathenau deutlich, wie der unendliche Erwerbstrieb zwangsläufig in Widerspruch zur Begrenztheit des Naturhaushaltes gerät. Er forderte angesichts der Übernutzung der natürlichen Ressourcen auf Kosten künftiger Generationen eine Begrenzung der Güterströme und einen haushälterischen
133 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 50, 52, 73, 75. 134 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 48), S. 76; siehe auch Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 54), S. 294. 135 Siehe dazu Jackson, Tim: Wohlstand ohne Wachstum: Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt, 2. Aufl. Berlin 2011, Kapitel 6.
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Umgang mit dem natürlichen und gesellschaftlichen „Gemeinschaftsvorrat“. Da das „Effizienzprinzip“ selbst bei maximaler Ausschöpfung die Wachstums- und Vergeudungsspirale weiter ankurbele, sei für eine Reduzierung der Ressourcenströme eine die Hierarchie der Bedürfnisse beachtende Beschränkung des Konsums unverzichtbar: „Jeder Konsum ist Konsum aus gemeinsamer knapper Wirtschaft [...]. Jedes verbrauchte Gut ist dem Gemeinschaftsvorrat entnommen, jeder Mensch hat in jedem Augenblick zu prüfen, ob das Gut, das er entnimmt, der Verantwortung entsprechend entnommen werden darf.“¹³⁶ So mündete seine sozialökonomische und sozialkulturelle „Systemanalyse“ der Mechanisierung ein in den „Energetischen Imperativ“ Ostwalds, die Schmollersche Wirtschaftsethik und Mills „Leisure Growth“-Credo verbindendes „Suffizienzprinzip“. Dabei hielt er, die triadische Formel des Brundtland-Berichtes antizipierend, die Durchbrechung des „irren Kreislaufes der Mechanisierung“ nur bei gleichrangiger Beachtung von Ressourcenschonung und wirtschaftlichen und sozialen Nachhaltigkeitskriterien für möglich. Seine zentrale Botschaft lautete daher: „Eine rationale Produktionspolitik läßt sich nur schaffen in Verbindung mit rationaler Konsumptions- und Verteilungspolitik.“¹³⁷ Da sich eine nachhaltige Ökonomie nicht aus dem „freien Spiel der Kräfte“ ergeben kann, setzt ihre Realisierung nach Rathenau eine Abkehr vom „ungezügelten Kampf aller gegen alle“ voraus, d. h. einen Übergang zur „planvollen Ordnung“ und zur „solidarischen Verantwortung“: „Niemals wieder wird Wirtschaft Sache des Privatmannes allein sein, sie wird immer, in aller Zukunft Verantwortungssache sein, der Gemeinschaft gegenüber, der Menschheit gegenüber.“ An die Stelle des „alten Liberalismus“ sollte deshalb ein gemeinwirtschaftlicher Pakt zwischen Staat und Gesellschaft treten, bei dem der Staat die Normen setzt, die Durchsetzung der Nachhaltigkeitsziele aber der Gesellschaft und ihrer Selbstverwaltung überlassen bleibt.¹³⁸ Wegen der weltwirtschaftlichen Verflechtungen war eine „dauerhafte Wirtschaft“ aber nicht als nationale Veranstaltung möglich. Da Rathenau schon früh erkannt hatte, dass die mechanisierte Wirtschaft durch die Ressourcenübernutzung und -verschleuderung Ursache vieler nationaler und internationaler Konflikte zwischen rohstoffarmen und rohstoffreichen Ländern werde, warb er deshalb nach dem Weltkrieg für die Einsicht, „daß auch die Wirtschaft der Welt
136 Rathenau, Walther: Bund der Erneuerung wirtschaftlicher Sitte und Verantwortung. In: Deutsche Politik 5 (1920), S. 30. 137 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 54), S. 284; Rathenau, Von kommenden Dingen (wie Anm. 63), S. 346; Rathenau, Höhepunkt (wie Anm. 92), S. 183. 138 Rathenau, Entwicklung (wie Anm. 61), S. 74, 78.
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eine Gemeinwirtschaft ist und sein soll“.¹³⁹ Die von ihm angestrebte nachhaltige Wirtschaft sollte durch eine generelle Ressourcen-Schonung sowie eine wirtschaftlich rationale Weltarbeitsteilung vor Rohstoffkonflikten bewahren: „Wenn alle sich um die kargen Tröge des Absatzes und Rohstoffes streiten, so muß geteilt werden.“ Dadurch würde die „Fron der Rohstoffmonopole“ beendet und nach der Überwindung des „imperial-nationalistischen Wirtschaftskampfes“ würden aus „Nationen Völker“ und aus dem „Polizeibund der Staaten“ könnte die „Genossenschaft der bewohnten Erde“ hervorgehen.¹⁴⁰ Eine internationale Verständigung über eine gerechte Verteilung der Rohstoffe der Welt, ein „Wirtschaftsbund, eine Gemeinwirtschaft der Erde“, bildeten für ihn sogar die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen eines Völkerbundes: Ohne diese Verständigung führen Völkerbund und Schiedsgerichte zur gesetzmäßigen Abschlachtung der Schwächeren auf dem korrekten Wege der Konkurrenz; ohne diese Verständigung führt die bestehende Anarchie zum Gewaltkampf aller gegen alle. [...] Jahrzehnte werden vergehen, bis dieses System der internationalen Gemeinwirtschaft voll ausgebaut ist; weiterer Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte bedarf es, um die zwischenstaatliche Anarchie durch eine freiwillig anerkannte oberste Behörde zu ersetzen, die nicht ein Schiedsgericht, sondern eine Wohlfahrtsbehörde sein muß, der als mächtigste aller Exekutiven die Handhabung der Wirtschaftsordnung zur Verfügung steht.¹⁴¹
Auch wenn Rathenaus Erwartung, das zunehmende Leiden der Menschen an der Mechanisierung werde in einer Art Hegelscher Dialektik von selbst in deren Überwindung umschlagen, sich als illusionär erwiesen hat und sein Bestreben, dem okzidentalen Rationalisierungsprozess mit einer seelenmetaphysischen Irrationalisierung zu begegnen, wenig überzeugend ist, so erstaunt doch im Nachhinein, dass ein führender Repräsentant des hochkapitalistischen Systems, der während des Kaiserreiches sein praktisches und politisches Handeln ganz der weiteren Durchsetzung und wirtschaftlichen und politischen Absicherung des radikalen Mechanisierungspfades widmete, das Nachhaltigkeitsproblem der Moderne so tiefgehend durchschaut hat, wie es in dieser Komplexität erst wieder nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen ist.
139 Rathenau, Neue Wirtschaft, (wie Anm. 65), S. 226 140 Rathenau, Walther: Kritik der dreifachen Revolution (1919), in: Gesammelte Schriften (wie Anm. 41), Bd. 6, S. 391; Rathenau, Walther: An Deutschlands Jugend (1918), in: Gesammelte Schriften (wie Anm. 41), Bd. 6, S. 166f. 141 Rathenau, Deutschlands Jugend (wie Anm. 140), S. 174f.
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Walther Rathenaus Kunstauffassung zwischen Moderne und Antimoderne Mit dem Begriffspaar von Moderne und Antimoderne möchte ich einen oft konstatierten und als „Zwieförmigkeit“, als „sich berührende Extreme“¹ oder auch als „Zwielicht“² beschriebenen Gegensatzcharakter innerhalb der Schriften Walther Rathenaus betrachten, der sich in seinen Äußerungen über Phänomene der Kunst besonders deutlich zeigt. So sehr die Neutralität oder Leere des Begriffs „Moderne“ immer wieder betont wird, so ist er heute doch grundsätzlich positiv markiert. Man verbindet damit technischen und medizinischen Fortschritt, Demokratisierung und Liberalisierung der Gesellschaften. Er erscheint jeden Tag in den Medien als Gegensatz zu „steinzeitlichen“, „mittelalterlichen“ oder einfach „gestrigen“ Regimen und Gesellschaftsformen. Bei solch einseitig positiver Bewertung der Moderne ist es umso wichtiger, ihr, und sei es nur als eine Hilfskonstruktion, eine „Antimoderne“ zur Seite zu stellen. Allerdings nicht als Gegensatz, eher als einen Zwilling oder ein Komplement.³ Diese als Sammelbecken der „negativen“ Tendenzen, die zu den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt haben und die Moderne bis heute begleiten, zu verstehende Antimoderne ist Teil des vielfältigen Prozesses oder Diskurses der Moderne und eben nicht ein Störfaktor aus der Steinzeit oder dem Mittelalter, der – wie auch immer – in die jeweilige Gegenwart transportiert worden ist. Diese Bedeutung der Antimoderne in der Zeit um 1900 hat der Germanist Helmut Kreuzer folgendermaßen beschrieben: Die antimodernistische Strömung konserviert nicht einfach Erbgut des 19. Jahrhunderts, sondern reagiert auf neue politisch-soziale Verhältnisse, wie sie auch die Modernismen bereits voraussetzt, an denen ihre Protagonisten […] selber Anteil hatten. Sie setzt also keineswegs nur Traditionen fort, sondern sie propagiert Reaktionen und bekämpft Progressio-
1 Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau 1867–1922. Hrsg. vom Deutschen Historischen Museum Berlin. Berlin 1994. 2 Heimböckel, Dieter: Walther Rathenau – Schriftsteller im Zwielicht der Literatur. Leipzig 1999. 3 Dementsprechend reiht sich dieser Aufsatz nicht in die lange Zeit gängige Lesart Rathenaus als einem „Zerrissenen“ ein, die zuletzt durch Dieter Heimböckel [Kunst contra Mechanisierung. Walther Rathenaus Beitrag zur Mythenpolitik der Moderne. In: Delabar, Walter/Heimböckel, Dieter (Hrsg.): Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne. Bielefeld 2009, S. 11–28, hier: S. 12–14] und Martin Sabrow [Beitrag „Rathenau erzählen“ in diesem Band] zu recht hinterfragt und kritisiert wurde.
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nen. Sie ist Ausläufer und aktivistischer Vorläufer zugleich, versucht sich als fortschrittliche Reaktion und legt literarische Keime für die Revolution von rechts im späteren Zeitalter des Faschismus.⁴
Wenn ich die Antimodernismen in den Schriften Walther Rathenaus behandle, geht es mir folglich nicht darum, ihn als der Moderne nicht zugehörig zu „entlarven“, sondern sein Image als Exponent oder „Phänotyp“⁵ der Moderne vielfältiger und vielleicht ausgewogener zu gestalten. Bildlich gesprochen war für Walther Rathenau ebenso sein Schatten charakteristisch. Ein Schatten freilich, der in späteren „Erzählungen“ von Rathenau als Märtyrer der Weimarer Republik⁶ oft verschwiegen wurde. Nähme man ihm den Schatten, stünde er wie Peter Schlemihl nicht recht stabil in seiner Zeit. Er wäre ein Schemen, der allzu offen für Vereinnahmungen ist, die letztlich ein verzerrtes Abbild seiner Person und seiner Epoche kreieren.
Fragliche Komplimente für Max Liebermann Max Liebermann war ein Onkel zweiten Grades von Walther Rathenau. Als Mentor förderte Liebermann die frühen zeichnerischen Versuche Rathenaus, welche dieser nicht ohne Talent immer beibehielt. Folglich überrascht es nicht, wenn Rathenau Liebermann in einem Artikel zu dessen 70. Geburtstag im Jahr 1917 große Anerkennung ausspricht. Überraschend ist es allerdings, dass in diesem durchgehend als Lobrede gehaltenen Artikel ebenso deutlich eine Distanz Rathenaus zu Kunst und Ansichten Liebermanns anklingt. Beides, sein Verständnis der modernen Kunst und auch seine spezifischen Distanzierungen dazu, hatte Rathenau in zahlreichen kleinen Schriften, die er von 1897 bis 1913 vor allem in der Zeitschrift Die Zukunft veröffentlichte, sowie in seinen wirkungsvollen Büchern Zur Kritik der Zeit und Mechanik des Geistes von 1912 und 1913 entwickelt. Auf diesen Korpus früherer Schriften, innerhalb dessen Walther Rathenau seine Auffassungen von der Kunst nur geringfügig entwickelte, konzentriere ich mich bei den weiteren Ausführungen. Walther Rathenau konstatierte klar einen Epochenwandel hin zu einer Moderne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sein 1912 erscheinendes Buch Zur Kritik der Zeit beginnt er mit den Worten „Durch die Mitte des vergan-
4 Kreuzer, Helmut: Zur Periodisierung der „modernen“ deutschen Literatur. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 2 (1971), S. 7–32, hier: S. 21. 5 Delabar/Heimböckel, Phänotyp (wie Anm. 3). 6 Vgl. dazu Sabrow, Rathenau erzählen (wie Anm. 3).
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genen Jahrhunderts geht ein Schnitt. Jenseits liegt alte Zeit, altmodische Kultur, geschichtliche Vergangenheit, diesseits sind unsere Väter und wir, Neuzeit, Gegenwart.“⁷ Als einen wichtigen Akteur dieses Wandels bezeichnet Rathenau Max Liebermann und dessen Kunst, die er im Naturalismus verortet. In diesem Naturalismus läge eine dezidierte, „Abkehr von einer überalteten [!] Epoche, von der totgesagten Romantik, die nicht sterben wollte“.⁸ In Max Liebermann sah Rathenau dementsprechend „die Selbstverkündung einer werdenden deutschen Epoche“, als deren wesentliche Kennzeichen er „Mechanisierung“ und „Großstadt“ nennt.⁹ In seinem Buch Mechanik des Geistes schreibt Rathenau allgemein von dem „männlichen Aufschwung der achtziger Jahre“,¹⁰ den er ausdrücklich begrüßt. Denn, so führt er in einem Aufsatz zur neueren Malerei aus, dabei habe es sich um eine Befreiung von „romantischen Schablonen“ gehandelt und stellt fest: „Diese Abkehr von moralisierenden und sentimentalisierenden Praktiken war notwendig.“¹¹ So notwendig er war, sah Rathenau im Naturalismus aufgrund dessen unbedingter Forderung nach Objektivität doch einen „Einseitigkeitsirrtum“, der ihn „überwindbar“ mache.¹² Er bemängelt an Max Liebermann die fehlende „Naturkindschaft“. Er schreibt: „Dem Städter war die Natur eine Entdeckung“, womit er die „Natur“ positiv gegenüber dem „Naturalismus“ abhebt, dem die Nähe zur Natur eben abgehe.¹³ Zugleich liegt darin eine Kritik an der Konzentration des Naturalismus auf das Sujet der Großstadt. Rathenau verbindet seine Kritik an Liebermann und dem Naturalismus mit Überlegungen zu den aisthetischen, also wahrnehmungsbezogenen Voraussetzungen der Kunst. Damit reiht er sich ein in die für seine Zeit und die frühe Moderne grundlegend wichtige Mimesis-Kritik, die in der teilweise ans Äußerste getriebenen Mimesis der Naturalisten ihren Ausgang nahm und in der Folge den
7 Rathenau, Walther: Zur Kritik der Zeit (1912). In: Walther-Rathenau-Gesamtausgabe. Bd. II: Hauptwerke und Gespräche. Hrsg. von Ernst Schulin. München/Heidelberg 1977, S. 17–103, hier: S. 21. 8 Rathenau, Walther: Max Liebermann zum 70. Jahr (1917). In: Ders.: Gesammelte Schriften in fünf Bänden. Bd. 4. Berlin 1918, S. 75–84, hier: S. 79. 9 Rathenau, Max Liebermann (wie Anm. 8), S. 80. 10 Rathenau, Walther: Mechanik des Geistes oder Vom Reich der Seele (1913). In: WaltherRathenau-Gesamtausgabe. Bd. II: Hauptwerke und Gespräche. Hrsg. von Ernst Schulin. München, Heidelberg 1977, S. 105–295, hier: S. 260. 11 Rathenau, Walther: Von neuerer Malerei (1905). In: Rathenau, Walther: Reflexionen. Leipzig 1908, S. 58–78, hier: S. 63. 12 Rathenau, Max Liebermann (wie Anm. 8), S. 78. 13 Rathenau, Max Liebermann (wie Anm. 8), S. 78.
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Weg zu einer stark psychologischen Ästhetik wies. Etwa wenn Rathenau in seinem Liebermann-Artikel argwöhnt, dass „auch das anscheinend objektiv Charakteristische schließlich nur ein gefühlsmäßig Bevorzugtes ist“¹⁴ und noch deutlicher in seinem weltanschaulichen Aufsatz Ignorabimus: „Wären meine Sinne nicht zufällig auf die Empfindung von Licht und Schatten, Wärme und Druck eingestellt, sondern auf Magnetismus, elektrische Ladung, Dichte und Affinität [...], so wäre mein sinnliches Weltbild von dem gegenwärtigen unendlich verschieden, ohne doch um Haaresbreite weniger ,wahr‘ zu sein.“¹⁵ In diesen Mimesis-kritischen Äußerungen hatte Rathenau zum Beispiel in Kurt Grottewitz und seinem späteren Korrespondenzpartner Hermann Bahr Vorgänger. Bahr fand aus diesen Überlegungen zu einer Auffassung der Moderne, die über den Naturalismus hinausgeht, keinesfalls aber hinter ihn zurück fallen solle.¹⁶ Grottewitz dagegen gelangte von diesen Überlegungen zu einer pauschalen Ablehnung des Naturalismus.¹⁷ Walther Rathenau folgte dem Weg zu einem antinaturalistischen Neuidealismus, den ebenso Kurt Grottewitz (Die zehn Artikel des Neuidealismus 1891) oder auch Fritz Lienhard (Neue Ideale 1901) beschritten. Also von grundlegend modernen, aisthesis- und mimesiskritischen Überlegungen zu einer charakteristischen Antimoderne, welche die im Laufe des 19. Jahrhunderts abgestreifte Metaphysik wiederzubeleben suchte und dabei in den Sumpf der Ideologien geriet. Vor dem Hintergrund dieses neuen metaphysischen Strebens erschien der Naturalismus als ein Nihilismus. Rathenau bezeichnet die in seinem Artikel zu Max Liebermann beschriebene Abkehr von der Romantik in einem früheren Aufsatz zur neueren Malerei als die „nihilistische Evolution des Naturalismus“,¹⁸ welche die „Zerstörung der Romantik“¹⁹ bewirkt hatte, als „eine negierende, kritische Leistung“.²⁰
14 Rathenau, Max Liebermann (wie Anm. 8), S. 78. 15 Rathenau, Walther: Ignorabimus (1898). In: Ders.: Impressionen. Leipzig 1902, S. 72–99, hier: S. 95. Kurz darauf (S. 96) ergänzt Rathenau: „Seien wir rücksichtsloser! gestehen wir ein, daß wir uns als Mittelpunkt der Schöpfung setzen und daß wir uns Welten konstruieren, die zu uns passen und uns rechtfertigen.“ 16 Vgl. Bahr, Hermann: Die Überwindung des Naturalismus (1891). In: Ders.: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887–1904. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Gotthart Wunberg. Stuttgart [u. a.] 1968, S. 33–102, hier: S. 56. 17 Vgl. die beiden Aufsätze von Kurt Grottewitz „Wie kann sich die moderne Litteraturrichtung weiter entwickeln?“ und „Où est Schopenhauer? Zur Psychologie der Modernen Litteratur“. In: Das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes 59, 2 (1890), S. 585–587 u. S. 769–771. 18 Rathenau, Von neuerer Malerei (wie Anm. 11), S. 63. 19 Rathenau, Von neuerer Malerei (wie Anm. 11), S. 65. 20 Rathenau, Von neuerer Malerei (wie Anm. 11), S. 63. Als ebenso „destruktiv“ und entsprechend in einer kommenden Zeit zu überwinden bezeichnete Rathenau in seinem 1897 erschiene-
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Diese negative, destruktive Epoche, die Rathenau in Zur Kritik der Zeit mit deutlich pejorativem Klang als ein „Wühlen und Wählen, das nun schon drei Menschenalter andauert“²¹ beschreibt, müsse durch eine kommende Epoche überwunden werden, die an den Idealismus und die Metaphysik früherer Zeiten anschließt. Dementsprechend schreibt Rathenau in Ignorabimus: „Was ich beabsichtigte, war, unserer Zeit einmal wieder das Recht auf metaphysisches Denken zu vindiziren“,²² und kurz darauf: „Nach neuen Ideen und Idealen lechzen Wissenschaft und Kunst.“²³ Diese historische Bewegungstendenz zurück zu einem früheren Zustand hat Rathenau ebenfalls in Ignorabimus reflektiert und er beschreibt sie, direkt auf Nietzsches Ewige Wiederkehr anspielend, als einen „Cirkelbogen“ und als „Entrollen einer spiralen Linie“.²⁴ Die Moderne gerät demzufolge zu einer Übergangszeit, die zwar notwendig, auf Dauer aber nicht tragfähig ist. Das wird weiter durch die stets emphatische Apostrophierung der „Zukunft“ angezeigt, entsprechend dem Titel der von Maximilian Harden herausgegebenen Zeitschrift, in der Rathenau lange Zeit sehr häufig publizierte. Sie klingt noch in seinem späteren Buchtitel Von kommenden Dingen an und natürlich in dem kommenden „Reich der Seele“, das Rathenau in seinem Buch Mechanik des Geistes andeutete. Diese Ausrichtung auf eine vage, eschatologisch gefasste Zukunft hat folglich nichts mit aufklärerischtechnischem Fortschrittsdenken gemein. In diesem Sinne sind die Figur und der Begriff der Übergangszeit bereits in der konservativen Naturalismus-Kritik der 1880er-Jahre anzutreffen und dies sollte sich immer stärker im modernekritischen Diskurs festsetzen. Bis hin zur Sehnsucht nach einem „dritten Reich“, wie sie bei den Vertretern der konservativen Revolution Allgemeingut wurde. Ein emphatisches Abheben auf die Gegenwart oder auf die Mode hingegen, wie es sich bei Baudelaire, Stéphane Mallarmé oder auch Georg Simmel in epochaler, in bis heute epochaler Form findet, hätte Rathenau sehr fern gelegen, der zwar die Mode erstaunlich oft erwähnt und auf sie reflektiert, sie dabei aber stets barsch abweist. Bei dem Blick auf den Korpus erweist sich auch Rathenaus Kompliment an Max Liebermann, in ihm „malt das neue, großstädtisch mechanisierte Preußen
nen Aufsatz „Höre, Israel!“ (In: Rathenau, Walther: Impressionen. Leipzig 1902, S. 1–20, hier: S.17f.) übrigens die Sozialdemokratie und den Freisinn. 21 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 7), S. 82. 22 Rathenau, Ignorabimus (wie Anm. 15), S. 97. 23 Rathenau, Ignorabimus (wie Anm. 15), S. 98. In seinem Buch „Zur Kritik der Zeit“ (wie Anm. 7) ergänzte Rathenau (S. 93): „Der Mensch begehrt aber Glauben und Werte.“ 24 Rathenau, Ignorabimus (wie Anm. 15), S. 76.
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sich selbst“,²⁵ als problematisch, stand Rathenau doch den Großstädten, das heißt zu jener Zeit allen voran Berlin, kritisch gegenüber. Entsprechend ironisch ist es zu verstehen, wenn Walther Rathenau einen Aufsatz über Berlin mit „Die schönste Stadt der Welt“ betitelt.
Rückbaupläne für Berlin Die Bedeutung dieses Textes für Rathenaus Verhältnis zur modernen Kunst liegt nicht unmittelbar auf der Hand, wird aber deutlicher vor dem Hintergrund, dass die künstlerische Moderne grundsätzlich urban ist. Sie entstand in den Metropolen Paris, London und – mit etwas Verzögerung – Berlin. Seit den Naturalisten entwickelte sich dort die an Manifesten und Proklamationen reiche Moderne über verschiedenste Gruppierungen, die stets eine Erneuerung der gesellschaftlichen und künstlerischen Zustände erstrebten. Ferner war die Verstädterung, bei der es sich oft um eine Vergroßstädterung handelte, das dominante Phänomen der Zeit. Die Technisierung, die frühe Massengesellschaft und die radikalen Veränderungen der Lebensbedingungen eines großen Teils der Bevölkerung verbanden sich mit der Großstadt. Wie man dazu stand, war daher keine Geschmacksfrage, sondern eine Positionierung in politischen, ästhetischen und weltanschaulichen Fragen. Rathenau verlebte seine ersten Jahre nicht nur in der Stadt Berlin, sondern sogar mitten in deren Industriegebiet, der Chausseestraße. Später wurde Rathenau von einer für das Großbürgertum seiner Zeit typischen Bewegung erfasst, die aus dem Zentrum, in dem sich weiterhin die Quellen des Erwerbs befanden, hinausführte. Diese Bewegung führte Rathenau erst in den Tiergarten, schließlich in den Grunewald und, zumindest für die Sommermonate, nach Freienwalde. Diese Bewegungen aus dem Zentrum heraus wurden durch die Entwicklung des Automobils, dessen sich gerade Rathenau begeistert bediente, wesentlich vereinfacht, teilweise erst ermöglicht. Rathenau (und mit ihm zahlreiche weitere Vertreter der Oberschicht) erscheint damit als Vorreiter einer Entwicklung, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts weite Teile der Mittelschicht erfasste und zur Entstehung ausgedehnter Vorortsiedlungen und reiner Schlafstädte führte. Indem Walther Rathenau sich wiederholt und mit einiger literarischer Qualität der in Netzwerken strukturierten Großstadt widmete, erweist er sich als moderner Denker und Schriftsteller, seine letztlich deutliche Ablehnung der Großstadt und die Gründe dafür verdeutlichen die Züge der Antimoderne. Neben einigen Seiten-
25 Rathenau, Max Liebermann (wie Anm. 8), S. 84.
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hieben auf die Architektur der Gründerzeit, äußert Rathenau in dem Aufsatz über die „schönste Stadt der Welt“ grundlegende Vorbehalte gegenüber allen Anzeichen einer lebendigen, aktiven Großstadt. Gegenüber dem „Lärm“, dem „Gewühl“²⁶ und schließlich gegenüber den schädlichen Auswirkungen der Großstadt auf die Gesundheit, der „geistige[n] und körperliche[n] Großstadtvergiftung“.²⁷ In Zur Kritik der Zeit beschreibt Rathenau die Städte regelrecht angewidert als „Gebiete der Seelenlosen“²⁸ oder „Orte der Seelenlosigkeit“.²⁹ Hier herrsche der reine Materialismus, der Konsum vor, und sie seien, wie er in Mechanik des Geistes ergänzt, „angefüllt mit scheußlichem, nutzlosem Modekram“.³⁰ Die sich in Gruppen gerierende, sich – wie Rathenau in seinem Aufsatz Physiologie des Kunstempfindens schreibt, zu einer „Exklusivkunst“ „zusammenschaarende“³¹ großstädtische Kultur, lässt Rathenau neben den als „Vollmenschen“ beschriebenen einzelnen großen Künstlerpersönlichkeiten, wie Rembrandt oder Arnold Böcklin, nicht gelten.³² In seinem Aufsatz Unser Nachwuchs kommt Rathenau 1909 zu dem vorläufigen Fazit: „Was die neue Großstadt uns an Geisteswerten geschenkt hat, ist Kritik und Dekoration, sonst nichts.“³³ Für die Betrachtung der Moderne ist es dabei interessant, dass Rathenau oft und unterschiedslos die Naturalisten und die Ästhetizisten gemeinsam behandelt, als urbane, in Gruppen agierende und vom großen Publikum meist ignorierte Künstler.³⁴ Als lediglich den Moden hinterherlaufendes Publikum³⁵ und als Menschen überhaupt wertet Rathenau die Stadtbewohner als „großstädtischen Pöbel“³⁶ gegenüber der „in
26 Rathenau, Walther: Die schönste Stadt der Welt (1899). In: Rathenau, Walther: Impressionen. Leipzig 1902, S. 137–164, hier: S. 158. 27 Rathenau, schönste Stadt (wie Anm. 26), S. 154. In seinem späteren Aufsatz „Unser Nachwuchs“ (1909) [In: Ders.: Nachgelassene Schriften. Bd. 2. Berlin 1928, S. 349–361] ging Rathenau erneut auf die gesundheitsschädlichen Auswirkungen der Großstadt ein: „Das Gesetz der Großstadt, das die Erinnerungsbilder verjagt, die Sinne und betäubt und alles Erstaunen auslöscht, führt zum Skeptizismus, zur Müdigkeit und Neurose.“ (S. 352). 28 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 7), S. 125. 29 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 7), S. 126. 30 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 10), S. 285. 31 Rathenau, Walther: Physiologie des Kunstempfindens (1901). In: Rathenau, Walther: Impressionen. Leipzig 1902, S. 223–255, hier: S. 248. 32 Zu Rembrandt vgl. Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 10), S. 138. Zu Böcklin vgl. Rathenau, Von neuerer Malerei (wie Anm. 11). 33 Rathenau, Unser Nachwuchs (wie Anm. 27), S. 353. 34 Vgl. z. B. Rathenau, Physiologie des Kunstempfindens (wie Anm. 31), S. 248. 35 Vgl. Rathenau, Walther: Von Schwachheit Furcht Zweck (1904). In: Rathenau, Walther: Reflexionen. Leipzig 1908, S. 1–23, hier: S. 22. 36 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 10), S. 291.
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abgelegenen Gauen“³⁷ lebenden Landbevölkerung ab. Schon früh beschreibt er die Stadtbewohner als gegenüber den heldischen „Mutmenschen“ inferiore „Zweckmenschen“,³⁸ später, wie gesehen, als Seelenlose, die in dem kommenden „Reich der Seele“, das Rathenau 1913 in seinem Buch „Mechanik des Geistes heraufbeschwört, keinen Platz haben. Bei den Umbauplänen für Berlin, die Rathenau in dem Aufsatz Die schönste Stadt der Welt ausführlich darlegt, handelt es sich letztlich um ein aggressiv antiurbanes³⁹ Manifest: „Nein: nicht um Aufbauen handelt es sich, Niederreißen und zerstören, frei legen und Raum schaffen: Das ist das Wichtigste.“⁴⁰ Alle Umbaupläne Rathenaus sollen dazu dienen, die spezifische Urbanität gerade des Zentrums auszumerzen. Stattdessen sollen monumentale Achsen und riesige Plätze, etwa vom Gendarmenmarkt bis zur Spree geschaffen werden, was ebenso deutlich wie unangenehm an die geplanten und realisierten Umgestaltungen Berlins durch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts erinnert. Ich verweise dabei nur auf die gigantische Nord-Süd-Achse, die Albert Speer plante, und das vom real existierenden Sozialismus geschaffene Marx-Engels-Forum, dessen Leere sich über weite Teile des ehemaligen Stadtkerns erstreckt. Der Populismus der verschiedenen Regime baute schließlich auch auf die Feindschaft gegenüber der urbanen Intelligenz. Rathenau plante nach amerikanischem Vorbild⁴¹ die Schaffung einer City, eines aseptischen Geschäftszentrums, das streng von den außerhalb gelegenen, von aller urbanen Verdichtung befreiten, Wohnbezirken getrennt sein sollte: „[…] je höher und gedrängter sich hier die Geschäftshäuser thürmen, desto freier und luftiger können draußen die Wohnhäuser sich ausdehnen. Jede aufgesetzte Etage öffnet in den Gegenden bürgerlicher Bebauung den Platz für ein kleines Gärtchen und ein paar grüne Bäume.“⁴²
Auch hier wirkt wieder der Gedanke oder das Modell vom Übergangszeitalter. Der Großstadt und ihren Bewohnern soll in ihrer verbesserten Zukunft das charak-
37 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 7), S. 23f. 38 Rathenau, Von Schwachheit Furcht Zweck (wie Anm. 35), S. 21. 39 Damit widerspreche ich Walter Fähnders’ [„Die schönste Stadt der Welt“. Walther Rathenaus Berlin-Essay. In: Delabar/Heimböckel, Phänotyp (wie Anm. 3), S. 67–86, hier: S. 84] Interpretation von Walther Rathenaus Aufsatz als „Versuch einer Versöhnung mit der großen Stadt“. 40 Rathenau, Schönste Stadt (wie Anm. 26), S. 156f. 41 Zu Rathenaus Konzeption Berlins als „Spreechicago“ vgl. vor allem Fähnders, Schönste Stadt (wie Anm. 39). 42 Rathenau, schönste Stadt (wie Anm. 26), S. 153.
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teristisch Urbane wieder genommen werden. Nach der Zeit der Verirrung folgt die Rückkehr in das kleine Gärtchen und zu den grünen Bäumen. Bedenklich ist hierbei erneut der autoritäre Eingriff, den die Pläne Rathenaus in die gewachsene und lebendige Urbanität Berlins bedeuten würden. Dies geht vielleicht noch deutlicher aus dem Artikel Berlins dritte Dimension hervor, den Rathenau 1912 für die Berliner Morgenpost schrieb und der ausdrücklich an seinen Aufsatz von 1899 anschließt. Streng führt Rathenau nun aus, die Gardinen der Wohnbevölkerung hätten in der Innenstadt „nichts zu suchen“ und in den Wohnvierteln „dürfen“ sich nur einfachste Läden niederlassen.⁴³
Heroische Landschaften Durch den Abriss, den Bau von Hochhäusern, die Schaffung weiter, freier Flächen und durch die Entvölkerung gerät das urbane Herz Berlins zu der kargen, menschenleeren, von hochragenden Gebirgen und Wäldern durchsetzten Landschaft, die von Walther Rathenau in seinen Texten immer wieder als Ideal- und Sehnsuchtsort angedeutet wird. So lobt er in der Physiologie des Kunstempfindens die „Schönheit des deutschen Waldes“,⁴⁴ in einem Brief an Maximilian Harden erwähnt er den „kargen Boden“⁴⁵ der Nordländer, in den Ungeschriebenen Schriften verherrlicht er eine „[k]örperliche, strapaziöse Lebensweise, rauhes Klima, Kampf und Einsamkeit“,⁴⁶ in Höre, Israel! setzt er der „Ghettoschwüle“ die „Waldes- und Höhenluft“⁴⁷ entgegen, in dem früh seinen Neuidealismus beschreibenden Aufsatz Ignorabimus schwärmt er von dem „eisige[n] Hochgebirg der Metaphysik“⁴⁸ und schließlich in Zur Kritik der Zeit“ von der „Strenge und Schönheit nördlichen Waldlandes“ und der „Seligkeit des Kampfes mit Natur und Geschöpfen“.⁴⁹
43 Rathenau, Walther: Berlins dritte Dimension (1912). In: Ders.: Nachgelassene Schriften. Bd. 2. Berlin 1928, S. 329–333, hier: S. 329. 44 Rathenau, Physiologie des Kunstempfindens (wie Anm. 31), S. 238. 45 Rathenau, Walther: Brief vom 15. 10. 1897 an Maximilian Harden. In: Walther-RathenauGesamtausgabe. Band VI: Walther Rathenau – Maximilian Harden. Briefwechsel 1897–1920. Mit einer einleitenden Studie hrsg. von Hans Dieter Hellige. München/Heidelberg 1983, S. 307. 46 Rathenau, Walther: Ungeschriebene Schriften (1907). In: Rathenau, Walther: Reflexionen. Leipzig 1908, S. 199–270, hier: S. 237. 47 Rathenau, Höre, Israel! (wie Anm. 20), S. 7. 48 Rathenau, Ignorabimus (wie Anm. 15), S. 85. 49 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 7), S. 70.
Walther Rathenaus Kunstauffassung zwischen Moderne und Antimoderne
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Diese Landschaft, die Walther Rathenau stets als Gegensatz zu der übervölkerten, verdichteten und lärmigen Großstadt setzt, ist keinesfalls natürlich, sondern nicht minder artifiziell als die Großstadt es sein könnte. Ihr fehlen in auffälliger Weise die innerhalb der literarischen Konventionen „weiblich“ konnotierten Attribute, die in der positiven Beschreibung von Landschaften häufig angewendet werden. Also Dinge wie Fruchtbarkeit, Lieblichkeit, Gastlichkeit und Friedlichkeit. Rathenaus Landschaft ist eine ausgeprägt männliche Landschaft und sie entspricht den so genannten „heroischen Landschaften“, die seit dem 17. Jahrhundert als Topos der bildenden Kunst bekannt sind. Karge, abweisende, strenge, unwirtliche Landschaften, in denen man sich durch Kampf zu bewähren hat und deren wüste Leere durch das Phallisch-Ragende von Bäumen und Felsgipfeln unterbrochen wird. In dem zu einer Ödnis umgewandelten Zentrum Berlins sollten dementsprechend „Kaisermonumente“ und solche für die „Heroen des neuen Reiches“ nicht fehlen. Gewissermaßen als Pointe wollte Rathenau in die Mitte des Ganzen die Siegessäule pflanzen und das, wie er präzisiert, „[m]it verlängertem Schaft“.⁵⁰
Misogyne Subtexte Der für die wilhelminische Ära äußerst typische Männlichkeitskult korrespondiert mit einem ausgeprägt misogynen Subtext, der sich, ungeachtet der Tatsache, dass Rathenau sich – sehr vorsichtig – für erweiterte Frauenrechte einsetzte,⁵¹ alle seine früheren Texte durchzieht. Weite Teile der von ihm abgelehnten Zivilisationsentwicklung führt Rathenau auf ein klischeehaft weibliches Konsumbedürfnis zurück, das er etwa als „Begehrlichkeit der Weiber“ immer wieder in seine Kritik der Zeit einstreut.⁵² Der misogyne Subtext äußert sich ebenso in Rathenaus nationalistischen und rassistischen Äußerungen, die in seinen frühen Schriften nicht eben selten sind. Bereits die „dunklen gallolatinischen Südrassen“,⁵³ mit denen Frankreich bevölkert sei, betrachtet Rathenau mit Skepsis, umso mehr gilt
50 Rathenau, Schönste Stadt (wie Anm. 26), S. 161. 51 Dies geht aus Rathenaus kurzer Notiz „Frauenrechte“ (1912) [in: Rathenau, Walther: Nachgelassene Schriften. Bd. 2. Berlin 1928, S. 404] hervor. 52 Rathenau, Kritik der Zeit (wie Anm. 7), S. 43, Vgl. auch S. 74 „Das Kaufen und Kaufenkönnen ist zumal das Glück der Frauen“, oder S. 96: „Es wurde erwähnt, daß die Frauen, die nicht bloß der Natur, sondern auch den Urvölkern näher stehen als wir, sich bereitwilliger blenden lassen vom Schimmer des mechanisierten Produkts, wogegen der Mann sich maßvoller dem Genuß der Zivilisationsgifte hingibt.“ 53 Rathenau, Walther: Vier Nationen (1907). In: Rathenau, Walther: Reflexionen. Leipzig1908, S. 118–133, hier: S. 122.
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dies für die als „schwarzes Volk“ bezeichneten Juden. In Höre, Israel! beschreibt er die zwar assimilierten, aber nicht germanisierten⁵⁴ Juden als Frauen in Männerkleidern, da deren „weichliche Rundlichkeit der Formen“ nicht in die Tracht der „hageren“ Angelsachsen passen will.⁵⁵ In dieser Verschränkung von antisemitischen und misogynen Motiven besteht bei Rathenau eine Parallele zu Otto Weinigers 1903 erschienenem Buch Geschlecht und Charakter. Während Weininger Charakterfestigkeit und Formgebung als Vorrechte des „Männlichen“ bezeichnete, sah er auf Seiten des „Weiblichen“ und des „Judentums“ eine „unendliche Veränderungsfähigkeit“. Für beide gelte: „[…] sie sind nichts und können eben darum alles werden.“⁵⁶ Die misogyn gefärbte Ablehnung der dunklen und schwarzen Völker bei Walther Rathenau erstreckte sich schließlich auf die teilweise mit massivem Rassismus bedachte Bevölkerung der deutschen Kolonien in Afrika. Etwa, wenn Rathenau in seiner Denkschrift über Deutsch-Südwestafrika die Sprache auf „die unbezähmbare Kauflüsternheit der Eingeborenen“⁵⁷ bringt. Besonders deutlich wird der misogyne Subtext in Rathenaus Wertung der künstlerischen Moderne. Der Dominanz eines weiblichen Prinzips rechnete er bereits die vor dem „Schnitt“ hin zur Moderne liegende Epoche an. Deren Ursprung sieht er in den von gebildeten Frauen geführten Salons: „Da nun der weibliche Geist auf Erhaltung gerichtet, dem Phantastischen und Kraftvollen fremd, dem Erlernbaren, Handarbeitlichen geneigt ist, so entstand jene seltsam beharrliche, fast fünfzigjährige Epoche verlängerter Romantik und versüßter Epigonik, an deren Ausläufer wir Älteren uns erinnern.“⁵⁸ Im Anschluss beschreibt
54 Zu den stets verherrlichten Germanen und der „Entgermanisierung“ entwickelte Rathenau in seinen späteren Schriften eine komplexe Theorie. Vgl. dazu Delabar, Walter: Die Herrschaft der Mechanisierung. Eine Anamnese von Walther Rathenaus Konzept der Moderne. In: Delabar/ Heimböckel, Phänotyp (wie Anm. 3), S. 215–236, hier: S. 218–221. 55 Rathenau, Höre, Israel! (wie Anm. 20), S. 12. Aufgrund seiner Ablehnung dieser weiblichen „Weichheit“ verweigerte Rathenau auch der Musik Chopins seine Anerkennung. 56 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Wien 1903, S. 429. Vgl. dazu sowie allgemein zum misogynen Diskurs bei Schopenhauer, Nietzsche und Weininger, von dem Rathenau zweifellos beeinflusst wurde, Holland, Jack: Misogynie. Die Geschichte des Frauenhasses. Deutsch von Waltraud Götting. Frankfurt a. M. 2010, S. 257f. u. S. 268–272. Zur „femininen“ Darstellung des Judentums bei Weininger und Rathenau vgl. auch Graber, Marjorie: Category Crises: Way of the Cross and the Jewish Star. In: Boyarin, Daniel [u. a.] (Hrsg.): Queer Theory and the Jewish Question. New York 2003, S. 19–40, hier: S. 28f. 57 Rathenau, Walther: Erwägungen über die Erschließung des deutsch-westafrikanischen Schutzgebietes (1908). In: Ders.: Nachgelassene Schriften. Bd. 2. Berlin 1928, S. 74–141, hier: S. 99. 58 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 10), S. 259f. Vgl. auch S. 259: „[...] wurde die Kunst zur ,Familiensache‘. […] sie sollte zwischen Klavierübungen, Stickereien und Geschichtsunterricht sich einreihen.“
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Rathenau, wie nach dem erwähnten „männlichen Aufschwung“ die moderne Kunst erneut von den Frauen okkupiert wurde: „[…] das weibliche Forum erschrak, sammelte sich dank neubewährter Anpassungsfähigkeit und führte die Revolution zum Siege. Denn es hatten sich inzwischen die Hörsäle und Künstlerwerkstätten dem Ansturm der Frauen geöffnet.“
Travestien Bei diesen, in Eroberermanier die Hörsäle und Ateliers stürmenden Frauen, kommt wie zuvor bei den als Frauen in Männerkleidern beschriebenen Juden das Motiv der Geschlechtertravestie zum Vorschein. Dabei erweist sich Rathenaus Sensibilität auch für unterschwellige Themen der avantgardistischen Kunst seiner Zeit. Er kann die Travestie noch so oft ablehnen, die reine Häufigkeit und literarische Geschicklichkeit, mit der er sie ins Spiel bringt, zeugt von einer Faszination und dem Willen, dieser Faszination schriftstellerisch Ausdruck zu verleihen. Bei diesem neuen, von Rathenau beschriebenen Frauentyp handelt sich nicht mehr um die „gebildete Frau“ der Salons, sondern um das, wie es heißt, „künstlerische und vorgeschrittene Weib“,⁵⁹ das er an anderer Stelle, in seinem Aufsatz zur neueren Malerei, als „androgyne Halbbildungen“⁶⁰ beschreibt. Unter diesem Einfluss kann die Kunst nur den, ich zitiere wieder aus Zur Kritik der Zeit, „beschämenden Weg der karnevalistisch travestierenden Mode“⁶¹ nehmen. Rathenau erstellt für diese aus der Art schlagenden, Travestie betreibenden Frauen die nicht nur in der wilhelminischen Zeit übliche Diagnose der Hysterie und er überträgt diese Diagnose auch auf die zur Modeerscheinung verkommene, von weiblichen Konsumenten abhängige moderne Kunst. Dementsprechend und im misogynen Diskurs verbleibend, sieht Rathenau in der modernen Kunst „die Vormacht des weiblichen und des gewerbsästhetischen Urteils“.⁶² Er beschreibt sie in dem Aufsatz Physiologie des Kunstempfindens als eine „Kunst für Eingeweihte, Suggerirte und Hysterisirte […], während wir mehr denn je eine Kunst für Männer brauchen“⁶³ oder, nicht minder deutlich, in einem Text über das Pariser
59 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 10), S. 260. 60 Rathenau, Von neuerer Malerei (wie Anm. 11), S. 73. 61 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 7), S. 82. Vgl. auch ebd.: „An die Stelle der Beharrung trat der von der Mode übernommene Drang nach dem Neuen und Extremen“, und S. 261: „Bekräftigung des Modemäßigen“. 62 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 7), S. 82. 63 Rathenau, Physiologie des Kunstempfindens (wie Anm. 31), S. 248.
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Théâtre Antoine: „Unsere bedingungslose, schrankenlose Kunst taumelt zwischen allen Extremen, sie ist ein Spielzeug der Launen, der Hysterie, der Mode – nicht anders als Konfektionswaare und Frauenhüte.“⁶⁴ In der Beschreibung des Publikums des Théâtre Antoine geht seine Kritik an der modernen Kunst schließlich in eine Kritik der urbanen Intellektuellen über.⁶⁵ Diese beschreibt er als „[t] riste Figuren, bei denen das triste Organ des Zukunftmenschen hypertrophisch sich zu entwickeln beginnt“.⁶⁶ Dabei fällt auf, dass Rathenau diese Intellektuellen anhand zweier Frauen schildert, deren eine, nämlich „ein Fräulein von schöner, männlicher Erscheinung“,⁶⁷ er erneut unter dem Zeichen der Geschlechtertravestie beschreibt.⁶⁸ An dem von mir ausgebreiteten Material ließen sich über Walther Rathenau nun erneut die bekannten Gegensätze vom intellektuellenfeindlichen Intellektuellen, vom technikskeptischen Industriellen, antisemitischen Juden und so weiter entwickeln, das war aber nicht mein Ziel. Vielmehr versuchte ich, über die komplementär verstandenen Begriffe Moderne und Antimoderne einige der vermeintlichen Gegensätze in ein komplexeres Netzwerk vielfältiger Verbindungsund Einflusslinien zu integrieren. Rathenau erweist sich als jener modernen Kunst, die er vordergründig ablehnt, sehr verpflichtet, sein misogyner Männlichkeitskult ist durchsetzt von einem fast lustvollen Spiel mit Geschlechtertravestien und seine Ablehnung der Großstadt steht im Kontext einer ebenso reizvollen wie interessanten und umfangreichen Auseinandersetzung mit derselben. Das Netzwerk ist genauso ein Hilfsmodell wie die Entgegensetzung, es bietet aber die Möglichkeit, die in den Gegensätzen bestehenden Unschärfen besser auszuloten, ohne dabei die Modernität von Rathenaus Schreiben zu relativieren oder die antimodernen Tendenzen darin zu entschuldigen.
64 Rathenau, Walther: Ein Publikum (=Théâtre Antoine 1899). In: Impressionen. Leipzig 1902, S. 207–221, hier: S. 216. 65 Letztlich beruhte die Ablehnung der modernen Kunst und der Moderne überhaupt durch Rathenau auf einem Ende des 19. Jahrhunderts (nicht nur) unterschwellig sehr verbreiteten Antiintellektualismus, welchen Rathenau in seiner Beschreibung der verschiedenen Epochen auch explizit machte. So wendete Rathenau sich gegen die französische Aufklärung und gegen den Geist Voltaires, wohingegen er sich der aufkommenden Heimatkunst gegenüber sehr aufgeschlossen zeigte. Vgl. dazu z. B. Heimböckel, Kunst contra Mechanisierung (wie Anm. 3), S. 24f. 66 Rathenau, Théâtre Antoine (wie Anm. 64), S. 212. 67 Rathenau, Théâtre Antoine (wie Anm. 64), S. 211. 68 Gegen solche „hysterische Travestie“ stellt Rathenau das explizit männliche „Volk“: „Zu dem Volk müssen wir zurück, zu diesem großen, helläugigen Burschen, der soviel Herz, Verstand, Phantasie und Geschmack hat.“ Rathenau, Théâtre Antoine (wie Anm. 64), S. 216.
Wolfgang Michalka
Rathenaus blockierter Weg in die Politik Obwohl nur wenige Monate im Amt zählt Rathenau neben Stresemann wohl zu den herausragenden Politikern der Weimarer Republik. Sicherlich spielt sein tragischer Tod eine große, aber nicht unbedingt entscheidende Rolle. Wichtiger erscheint mir sein vielfältiges und nachhaltiges Wirken bis in unsere Tage. Rathenaus Weg in die Politik war alles andere als gradlinig und folgerichtig. Man sollte ihn auch nicht isoliert nachzeichnen.¹ Sein Ziel, über den Reserveoffizier in den diplomatischen Dienst aufgenommen zu werden, scheiterte schon daran, dass er als Jude nicht Reserveoffizier werden konnte.² Nach beruflichen Anfangs- und Zwischenetappen im schweizerischen Neuhausen und sächsischen Bitterfeld trat er 1899 in den Vorstand der AEG ein, war zuständig für den Bau von Zentralstationen und international erfolgreich, so auch in Genua, Manchester, Amsterdam, Buenos Aires und sogar Baku. 1902 wechselte er in das Finanz- und Bankgeschäft als Geschäftsträger der Berliner Handelsgesellschaft (BHG) – ein Bankhaus, das mit der AEG eng verbunden war. Rathenau kehrte 1910 zurück in die AEG und wurde 1912 Vorsitzender des Aufsichtsrates. Darüber hinaus gehörte er bald weiteren 80 Aufsichtsräten an. Die Bezeichnung „Aufsichtsrathenau“ kam nicht von ungefähr. Und mit Sicherheit hat sich Rathenau selbst zu den 300 Männern gezählt, die – alle untereinander bekannt – seiner Meinung nach zu einem internationalen Netzwerk vereint die europäische Geschäftswelt bestimmen würden.³ Er galt als geschickter Mediator und Fusionierer unterschiedlicher Wirtschaftszweige, so dass er den weltweiten Konzentrationsprozess im Elektrobereich mitgestaltete. Nach dem Tod seines Vaters, Emil Rathenau, 1915 wurde er
1 Vgl. Michalka, Wolfgang: Rathenaus politische Karriere. In: Hense, Karl-Heinz/Sabrow, Martin (Hrsg.): Leitbild oder Erinnerungsort? Neue Beiträge zu Walther Rathenau. Berlin 2003, S. 67–84. 2 Laut einer kaiserlichen Verordnung vom März 1890 sollten Reserveoffiziere nur […] Träger „christliche[r] Gesinnung“ werden, so dass Juden gar nicht zum Examen für den Reserveoffizier zugelassen wurden. So – trotz guter Leistungen – auch Rathenau. Vgl. Michalka, Wolfgang: Zwischen Patriotismus und Judenzählung: Juden und Militär während des Ersten Weltkrieges. In: Ders./Vogt, Martin (Hrsg.): Judenemanzipation und Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Eggingen 2003, S. 106f. Vgl. generell Hecker, Gerhard: Walther Rathenau und sein Verhältnis zu Militär und Krieg. Boppard a. Rh. 1983. 3 Unser Nachwuchs, 25. 12. 1909. In: Rathenau, Walther: Nachgelassene Schriften. Bd. 2. Berlin 1928, S. 349–362; hier: S. 350.
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zwar nicht dessen Nachfolger in der Konzernspitze der AEG, dafür aber als Präsident Vorsitzender des Aufsichtsrates mit erweiterten Funktionen. Die Politik jedoch übte auf ihn eine besondere Anziehungskraft aus: „Er wollte im innersten Kreis sein, wo die großen historischen Entscheidungen getroffen wurden, wo Geist und Wirklichkeit angeblich zusammenkamen.“⁴ Allerdings – so muss eingewendet werden – verfolgte Rathenau den politischen Weg, wie auch den des Schriftstellers, nicht mit letzter Konsequenz. Stets hielt er sich die Tür zum väterlichen Konzern offen. Erst 1921, nach Übernahme politischer Ämter, beendete er alle wirtschaftlichen Verpflichtungen.⁵ Bereits im Jahre 1906 galt Rathenau als Anwärter für ein politisches Amt. Es war Reichskanzler Bernhard von Bülow, der ihn als Leiter der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes in Betracht gezogen hatte.⁶ Rathenau schien für dieses Amt schon deswegen geeignet, weil die BHG bei der Kolonialerschließung eine zentrale Position einnahm und führend im südafrikanischen Minensyndikat war.⁷ Bülow wird wohl mit politischen Schwierigkeiten bei der Einsetzung eines Juden in dieses einflussreiche Amt gerechnet haben, sodass seine Wahl schließlich auf Bernhard Dernburg fiel, der ebenfalls aus der BHG hervorgegangen und zu diesem Zeitpunkt Direktor der Darmstädter Bank und als Jude längst konvertiert war.⁸
4 Stern, Fritz: Walther Rathenau. Der Weg in die Politik. In: Ders.: Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte. München 1999, S. 176–213; hier: S. 189. 5 Der Rückzug aus seiner beruflichen Tätigkeit fiel Rathenau schwer: „Der Abbau eines Lebenswerkes in 24 Stunden war schwer und bedeutet dennoch wenig im Vergleich zu der gestellten Aufgabe des Aufbaus.“ An Max Desoir, 1. 6. 1921. In: Walther Rathenau: Briefe. Teilbd. 2: 1914–1922. Hrsg. von Jaser, Alexander [u. a.], entspricht Walther-Rathenau-Gesamtausgabe [im Folgenden: WRG], Bd. V,2. Düsseldorf 2006, Nr. 2887, S. 2567. Abgesehen von seiner umstrittenen Stellung in der AEG als „Präsident“ wollte er mit diesem Schritt sicherlich auch möglichen Vorwürfen, er würde sein Amt zum Nutzen der AEG missbrauchen, was er als Organisator der Kriegswirtschaft hinnehmen musste, zuvorkommen. 6 Vgl. Bülow, Bernhard von: Denkwürdigkeiten, Bd. II. Berlin 1930, S. 266. 7 Darüber hinaus beherrschte die BHG die Diamantenregie und die Diamant-PachtGesellschaft. Vgl. dazu Schiefel, Werner: Bernhard Dernburg, 1865–1937. Kolonialpolitiker und Bankier im wilhelminischen Deutschland. Zürich 1974, S. 102f.; Hecker, Verhältnis zu Militär und Krieg (wie Anm. 2), S. 257f. 8 Die Darmstädter Bank war wie die BHG auf dem Gebiet der kolonialen Erschließung tätig. Beispielsweise war sie führend bei der Gründung der Kamerun-Eisenbahngesellschaft. Vgl. Fürstenberg, Carl: Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers 1870–1914, hrsg. von seinem Sohn Hans Fürstenberg. Berlin 1931. Zur Ernennung Dernburgs vgl. Schiefel, Dernburg (wie Anm. 7), S. 37ff. Ein weiterer Grund könnte auch die seit der Jahreswende 1905/06 in Agrarierkreisen geäußerte Vermutung gewesen sein, das AEG-Bankenkonsortium, unter Führung der BHG, sabotiere die Ostmarkenpolitik Wilhelms II. Rathenau stand hierbei als Mitinhaber der BHG unter
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Sicherlich hätte Rathenau durch Übertritt zum Christentum, also über die Taufe, auch politischen Erfolg gehabt, was viele seiner Glaubensbrüder demonstrierten. Rathenau, der im Jahre 1895 diesen Gedanken ernst erwogen hatte, lehnte allerdings diesen Schritt – im Gegensatz zu seiner Schwester Edith – letztlich ab. Er empfand die Konversion als Erniedrigung, als Form des sich anbiedernden Opportunismus, als Zeichen des Einverständnisses mit der staatlichen Ungerechtigkeit, dass Juden eben lediglich nur „Bürger zweiter Klasse“ zu sein haben, und letztlich auch als Aufgabe eigener Identität. Gleichermaßen verwarf er die von den Zionisten propagierte Auswanderung nach Palästina und Gründung eines jüdischen Staates als Rückschritt, ja als Umkehr der Moderne.⁹ Dass Rathenau jedoch von Reichskanzler Bülow nach wie vor geschätzt wurde, demonstriert der Umstand, dass er Dernburg, nunmehr Staatssekretär des Reichskolonialamts, auf Informationsreisen nach Deutsch-Ostafrika 1907 und Deutsch-Südwestafrika 1908 begleitete. Die Kolonialpolitik schien für politische Quereinsteiger ein erfolgversprechendes Terrain zu sein. Rathenaus Ambitionen können nicht zuletzt seine beiden umfangreichen, die deutsche Kolonialverwaltung auf den Prüfstand stellenden Denkschriften illustrieren. Diese erfuhren zwar auf höchster Regierungsebene große Aufmerksamkeit, brachten ihm aber lediglich den Kronenorden 2. Klasse ein. Sie waren ihm offensichtlich so bedeutsam, dass er sie veröffentlichte.¹⁰ Von da ab, also ab seinem 40. Lebensjahr, nahm er häufig zu politischen Themen publizistisch Stellung. 1910 war er als Vermittler zwischen den Gebrüdern Mannesmann und der französischen „Union des Mines“ gefragt – es ging um die Abstimmung von wirtschaftlichen Einflussbereichen in Marokko – eine Aufgabe, die angesichts kompromissloser Forderungen der deutschen Seite nicht zu erfüllen war.¹¹
dem unbegründeten Verdacht, er arbeite mit der polnischen Zentral-Genossenschaftsbank in Posen zusammen. Ein entscheidendes Argument hierbei wird allerdings die Tatsache gewesen sein, dass Rathenau Autor der kaiserkritischen Zeitschrift „Die Zukunft“ von Maximilian Harden war. 9 Vgl. Rathenau, Walther: Eine Streitschrift vom Glauben (1917). In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5. Berlin 1918, S. 95–119. Zur Taufe und zu Rathenaus Chancen für ein politisches Amt vgl. auch Kessler, Harry Graf: Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk. Berlin 1928, S. 57ff. 10 Rathenau, Walther: Reflexionen. Leipzig 1908, S. 143–198. 11 Vgl. hierzu Pogge von Strandmann, Hartmut: Rathenau, die Gebrüder Mannesmann und die Vorgeschichte der Zweiten Marokkokrise. In: Geiss, Imanuel/Wendt, Bernd-Jürgen (Hrsg.): Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Fritz Fischer. Düsseldorf 1973, S. 251–270.
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Das ihm von Ernst Bassermann angetragene Angebot, für die Nationalliberalen 1912 für den Reichstag zu kandidieren, nahm er begeistert an, musste allerdings erfahren, dass er als Kapitalist und vor allem als Jude im Wahlkreis Frankfurt/Oder nicht genehm war, so dass er seine Kandidatur zurückzog. Im Jahre 1912 entwickelte Rathenau dem Schatzamt das Konzept für ein Elektrizitätsmonopol, nach dem unter staatlicher Regie etwa 5–10 privatwirtschaftlich organisierte Pachtgesellschaften die zentralisierte Elektrowirtschaft bestreiten würden. Diese gemischtwirtschaftliche Organisation würde die kostensteigernde Konkurrenzwirtschaft unzähliger Firmen eindämmen und auch notwendige Mittel für die kostspielige Flottenpolitik bereitstellen können.¹² Erst der Weltkrieg sollte Rathenau den Weg in die Politik ebnen. Er, der als Jude nicht einmal Reserveoffizier werden durfte, wurde nun im preußischen Kriegsministerium Abteilungsleiter im Range eines Obersts. Angesichts der britischen Wirtschaftsblockade initiierte und leitete er für acht Monate die Kriegsrohstoff-Abteilung (KRA) und konnte eine drohende Munitionskrise¹³ abwehren – eine Leistung, die sogar dem gegnerischen Ausland Respekt abnötigte, wo er an die Seite der Kriegsheroen von Hindenburg und von Mackensen gestellt wurde.¹⁴ Getragen von Effizienz- und Bestandsdenken entwickelte er das Konzept einer durchrationalisierten Kriegswirtschaft, eine Kombination von Staat und Privatwirtschaft als nachhaltig gelenkte ethische Gemeinwirtschaft. „Unsere Aufgabe ist, was an Mengen fehlt, durch Ordnung und Systematik zu ersetzen.“¹⁵ Dadurch machte die liberale Wirtschaftsordnung der Vorkriegszeit einer staatlichen Lenkungswirtschaft Platz, die zwar die Freiheit der Unternehmen beschnitt, aber im Gegenzug hohe Gewinne garantierte.¹⁶ Über Rathenaus Ausscheiden aus der KRA schon im April 1915 ist viel gerätselt worden. Dass er sich bei seinen Kollegen aus Wirtschaft und Industrie nicht gerade beliebt gemacht hatte – sie sahen die freie Marktwirtschaft von der als Staatssozialismus geschmähten Kriegswirtschaft elementar bedroht, obwohl sie infolge der Staatsaufträge am Krieg recht gut verdienten – ist bekannt, nicht aber
12 Vgl. Nußbaum, Helga: Versuche zur reichsgesetzlichen Regelung der deutschen Elektrizitätswirtschaft und zu ihrer Überführung in Reichseigentum 1909 bis 1914. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1968, H. II, S. 117–203. 13 Vgl. Rathenau an Elisabeth Sommer, 8. 11. 1915: „Der Krieg, den wir führen, ist ein Munitionskrieg.“ Rathenau, WRG, Bd. V,2 (wie Anm. 5), S. 1478). 14 Rathenau, A Businessman and War, The Times (11. Oktober 1915). 15 Rathenau, Walther: Produktionspolitik (1920). In: Ders.: Nachgelassene Schriften. Bd. 1. Berlin 1928, S. 203. 16 So Raphael, Lutz: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945. München 2011, S. 49.
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der entscheidende Grund. Vielmehr sah er sich als Jude bösartigen Vorwürfen und persönlichen Anfeindungen von antisemitischen Kreisen ausgesetzt. „Daß ich als Privatmann und Jude unaufgefordert dem Staat einen Dienst geleistet habe“, erklärte er am 17. Mai 1916 Emil Ludwig, „können beide beteiligten Gruppen mir nicht verzeihen, und ich glaube nicht, daß zu meinen Lebzeiten diese Stellungnahme sich ändert.“¹⁷ Er wurde als „Kriegsgewinnler“ diffamiert, der mit Hilfe der KriegsrohstoffAbteilung aus Deutschland eine Art AEG machen wollte, den Mittelstand aussaugen und generell mit dem „internationalen Judentum“ unter einer Decke stecken würde. In diesem Zusammenhang ist die fatale Judenzählung zu nennen, die Rathenau sehr zusetzte. Ursprünglich hatte er gehofft, der Antisemitismus werde sich durch sachliche Aufklärung und Information widerlegen lassen,¹⁸ kam aber bald resignierend zu der Überzeugung: „Je mehr Juden in diesem Krieg fallen, desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, daß sie alle hinter der Front gesessen haben, um Kriegswucher zu treiben.“¹⁹
17 Rathenau, WRG, Bd. V,2 (wie Anm. 5), S. 1530. 18 Vgl. Rathenau, Gesammelte Schriften, Bd. 5 (wie Anm. 9), S. 95–119. 19 An Wilhelm Schwaner, 4. 8. 1916, Rathenau, WRG, Bd. V,2 (wie Anm. 5), S. 1552, jetzt auch in: Hufenreuter, Gregor/Knüppel, Christoph (Hrsg.): Wilhelm Schwaner/Walther Rathenau, Eine Freundschaft im Widerspruch. Der Briefwechsel 1913–1922. Berlin 2008, S. 161. Von Schwaner, Autor einer Germanenbibel und Herausgeber der völkisch-rassistischen Zeitschrift „Volkserzieher“, bekam Rathenau alle antisemitischen Vorurteile quasi in Reinkultur geliefert, und er nutzte die Möglichkeit, um sich brieflich mit ihnen auseinanderzusetzen. Offensichtlich von den chauvinistischen Anschuldigungen genervt, markierte er seinen eigenen Standpunkt mit folgenden, für ihn typischen Worten: „Ich habe und kenne kein anderes Blut als deutsches, keinen anderen Stamm, kein anderes Volk als deutsches. Vertreibt man mich von meinem deutschen Boden, so bleibe ich deutsch, und es ändert sich nichts. Du sprichst von meinem Blut und Stamm, selbst einmal von meinem Volk, und meinst die Juden. Mit ihnen verbindet mich das, was jeden Deutschen mit ihnen verbindet, die Bibel, die Erinnerung und die Gestalten des Alten und Neuen Testaments. Meine Vorfahren und ich selbst haben sich von deutschem Boden und deutschem Geist genährt und unserem, dem deutschen Volk, erstattet, was in unseren Kräften stand. Mein Vater und ich haben keinen Gedanken gehabt, der nicht für Deutschland und deutsch war.“ (An Schwaner, 23. 1. 1916; siehe: Rathenau, WRG, Bd. V,2, S. 1503). In seinem ersten, noch unter Pseudonym 1897 erschienenen Artikel „Höre, Israel!“ (auch in: Rathenau, Walther: Impressionen. Leipzig 1902, S. 1–20) forderte Rathenau die aus Osteuropa besonders nach Berlin gekommenen Juden zur „Anartung“, zur „Akkulturation durch Selbsterziehung“ – sprich Integration – auf. Allerdings vergriff er sich in Sprache und Stil. Dieses „Dokument innerjüdischen Judenhasses“ (Schulin) löste, besonders als es 1902 unter seinem Namen erschien, eine Protestwelle aus. Rathenau fühlte sich missverstanden, distanzierte sich fortan von dieser als „Mahnung“ verstandenen Schrift und befleißigte sich ausgewogener und rationaler Argumente. Zu den geistesgeschichtlichen Bezügen dieser Schrift vgl. auch den Beitrag von Bahro im vorliegenden Band.
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Seine Hoffnung auf ein Ministeramt erfüllte sich abermals nicht. Karl Theodor Helfferich, der ihn noch am Vorabend seiner Ermordung im Reichstag scharf attackieren sollte, wurde ihm als Staatssekretär des Schatzamtes vorgezogen. Wie schon 1906 und 1908 blockierte abermals sein Judentum Rathenaus politische Karriere. Allerdings bot sich ihm jetzt im Krieg ein neues Forum, die „Deutsche Gesellschaft 1914“, die er mitbegründete und in deren Kreis er über seine kriegswirtschaftliche Tätigkeit, aber auch über seine Vorstellung der Friedenswirtschaft und der Nachkriegszeit, kurz über die „Kommenden Dinge“ referieren konnte. In dieser Vereinigung von Politikern, Militärs, Wirtschaftlern und Künstler, die von Konservativen bis zu rechten Sozialdemokraten reichte und eine Reihe prominenter Juden umfasste²⁰ – in diesem breitgefächerten Netzwerk erfuhr Rathenau offensichtlich die ihm gemäße Aufmerksamkeit, ohne dass ihm sein Judentum als Makel angekreidet wurde. Rathenau bekleidete zwar kein politisches Amt und versah auch keine offizielle Aufgabe mehr, er entwickelte sich aber zu einem nicht mehr wegzudenkenden Politikberater mit Zugang zu den politischen und militärischen Entscheidungsträgern. Heute würde er bei keiner Talkshow fehlen. Neben seinem guten Verhältnis zu Reichskanzler Bethmann Hollweg faszinierte ihn seit Ende 1915 besonders General Ludendorff, den er als den kommenden Mann – um nicht zu sagen: Diktator – zu erkennen glaubte. Damit stand er nicht allein. Ein reger Brief- und Denkschriftenaustausch begann. Rathenau und Ludendorff stimmten darin überein, dass ein militärischer Sieg nur das Ergebnis „totaler Mobilisierung“ materieller und personeller Kräfte sein könnte. Am Einsatz des uneingeschränkten U-Bootkrieges und der Bewertung der kriegsentscheidenden Rolle der USA waren sie jedoch konträrer Ansicht. Und als der bewunderte General Anfang Oktober 1918 sofortige Waffenstillstandsverhandlungen verlangte, reagierte Rathenau am 7. Oktober 1918 mit dem die Öffentlichkeit polarisierenden Artikel Ein dunkler Tag, in dem er eine „Levée en masse“ und die Ablösung Ludendorffs forderte: „Wer die Nerven verloren hat, muß ersetzt werden.“²¹ Dieser revanchierte sich, indem er vor dem Untersuchungsausschuss Rathenau als Defätisten anprangerte und dessen Äußerung vom Beginn des Krie ges zitierte; dass die Weltgeschichte ihren Sinn verloren hätte, wenn Wilhelm II.
20 Vgl. Stern, Fritz, Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München 2007, S. 61; Kessler, Rathenau (wie Anm. 9), S. 250f. 21 Rathenau, Walther: Schriften aus Kriegs- und Nachkriegszeit. Berlin 1929, S. 259.
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mit seinen Paladinen auf weißen Rossen als Sieger durchs Brandenburger Tor ziehen würde.²² Auch parteipolitisch hatte Rathenau wenig Fortune. Der mit Repräsentanten aus Wirtschaft, Geistes- und Kulturwelt im November 1918 von ihm initiierte „Demokratische Volksbund“ löste sich bereits nach wenigen Tagen wieder auf, und Rathenau schloss sich der zur gleichen Zeit gegründeten Deutschen Demokratischen Partei an, blieb auch hier Außenseiter. Und wie schon 1912 wurde abermals seine Kandidatur – diesmal für die Nationalversammlung und die DDP – blockiert. Obwohl nominiert, wurde ihm auf Betreiben der USPD die Mitarbeit in der 1. Sozialisierungskommission verwehrt. Verbittert über diese Zurücksetzung, beklagte er sich in einem Brief vom 16. Dezember1918 an Friedrich Ebert.²³ Er galt als Defätist, Kriegsverlängerer, Ausplünderer Belgiens und musste befürchten, ausgeliefert und wegen Kriegsverbrechen angeklagt zu werden. Er selbst zählte sich „zu den mißliebigsten Leuten des Landes“²⁴ und wurde zur „bevorzugten Zielscheibe“ unterschiedlichster Kreise – kurz: zu einem „Gezeichneten“.²⁵ Und als am 7. Februar 1919 bei der Diskussion um potentielle Kandidaten für das Amt des Reichspräsidenten auch sein Name genannt wurde, und das Protokoll „große Heiterkeit“ verzeichnete,²⁶ fühlte sich Rathenau verlacht, tief gekränkt und politisch am Ende. Er reagierte, wie er reagieren musste: Er schrieb, rechtfertigte seine Position, bilanzierte die wilhelminische Politik, kritisierte aber auch den Umsturz: „Es ist kein Zweifel mehr: was wir deutsche Revolution nennen, ist eine Enttäuschung. [...] Nicht wurde eine Kette gesprengt [...], sondern ein Schloss ist durchgerostet.“²⁷ Erst nach dem gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 war Rathenau wieder gefragt. Und bezeichnender Weise nicht als gesellschaftspolitischer Analytiker und Visionär „Kommender Dinge“ und somit als „Großschriftsteller“, sondern in dieser Krisenzeit wurde sein Sachverstand als Wirtschaftler und Unternehmer, kurz: als „Großindustrieller“ benötigt. Er wurde in die 2. Sozialisierungskommission berufen, nahm im Juli 1920 als international anerkannter
22 Der Kaiser (1919). In: Rathenau, Kriegs- und Nachkriegszeit (wie Anm. 21), S. 305. 23 Rathenau, Walther: Briefe. Neue, erheblich erweiterte Ausgabe. Bd. 2. Dresden 1927, S. 87–89. 24 An Samuel Saenger vom 2. 10. 1918. Rathenau, WRG, Bd. V,2 (wie Anm. 5), S. 1981. 25 Kessler, Rathenau (wie Anm. 9), S. 288. 26 Kessler, Rathenau (wie Anm. 9), S. 273. 27 Kritik der dreifachen Revolution (1919). In: Rathenau, Kriegs- und Nachkriegszeit (wie Anm. 21), S. 341.
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Experte an der ersten Reparationskonferenz in Spa teil. Konferenzen in London (1920), Cannes (1922) und schließlich Genua (1922) folgten. Ermöglicht wurde sein Einstieg in die Politik durch den Zentrumspolitiker Joseph Wirth, der ihn als Sachverständigen kennen und schätzen lernte. Wirth, inzwischen Reichskanzler, berief ihn 1921 in sein Kabinett als Minister für Wiederaufbau und im Januar 1922 als Außenminister, was Max Scheler rückblickend als „eine Tat hohen Mutes seltenster Art“ angesichts der „mächtigen Haßquanten“ gegen Rathenau würdigte.²⁸ Rathenau wurde davor gewarnt, sich in den „giftschwelenden Dunstkreis der Politik“²⁹ zu begeben und den Posten des Außenministers anzunehmen: Ein Jude in Bismarcks geheiligtem Amt, in einem Ministerium, das einen besonderen Nimbus besaß und seit jeher dem deutschen Adel vorbehalten war? Dennoch nahm er an, getrieben von Ehrgeiz und Patriotismus. Nie zuvor (oder seither) sollte ein Jude einen so herausragenden Posten im politischen Leben Deutschlands bekleiden.³⁰
Rathenau übernahm also recht spät – er war inzwischen 54 Jahre alt – ein politisches Amt, und dieses wurde ihm nur kurze Zeit geduldet. Schon vor 1914 forderte Rathenau eine zielorientierte und kreative deutsche Politik: „Was wir brauchen, ist: Ziele in der auswärtigen, Ideen in der inneren Politik.“³¹ In mehreren Schriften warf er der preußischen Politik vor, einseitige und damit schlechte Eliterekrutierung zu betreiben. Besonders in Preußen, so sein Vorwurf, würden Offizierskorps und Diplomatie nahezu ausschließlich aus Aristokraten und Großagrariern rekrutiert werden. Die Zeit dieser traditionellen Eliten sei allerdings vorbei, weil neue Anforderungen andere Qualifikationen verlangten. Den eigentlichen Grund für die antiquierte, ja falsche Führungsauslese sah Rathenau jedoch in der Judenpolitik Preußens.³² Sein Credo lautete daher:
28 Scheler, Max: Walther Rathenau. Eine Würdigung zu seinem Gedächtnis. Köln 1922, S. 11f.; auch in: Ders.: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. Bern/München 1963, S. 361– 376, hier: S. 367. 29 Scheler, Rathenau (wie Anm. 28), S. 11ff. 30 Stern, Fünf Deutschland (wie Anm. 20), S. 84. 31 An Ernst Friedegg, 27. 1. 1912. Rathenau, WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 5), S. 1053. 32 Dies hätte zur Folge, dass wichtige bürgerliche Potentiale aus Wirtschaft und Bildung kaum genutzt und nicht in die Verwaltungs- und Regierungsverantwortung eingebunden würden. Dem Bürgertum kreidete er an, sich zu wenig politischen Aufgaben zu stellen und sich der politischen Verantwortung zugunsten wirtschaftlicher Vorteile zu entziehen: „Kein Mensch will beim Geldverdienen gestört sein. [...] Politik? Mögen Fachleute und Arbeitslose sich drum kümmern, wenn nur die Konjunktur bestehen bleibt.“ Siehe: Politische Auslese. In: Rathenau, Walther: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Berlin 1918, S. 231. Rathenau vermisste in der deutschen
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Ein Industriestaat von der Bedeutung unsres Reiches bedarf aller seiner Kräfte, der geistigen und materiellen; er kann auf einen Faktor wie den des deutschen Judentums nicht verzichten. Noch ehe ein Jahrzehnt vergeht, wird der letzte Schritt zur Emanzipation der Juden geschehen sein.³³
Nach Lothar Gall machte sich Rathenau zum Sprecher des „neuen Bürgertums“.³⁴ Angesichts der immer enger werdenden wirtschaftlichen Verflechtung erschien ihm Krieg als der Wirtschaft schadend und daher als anachronistisch: „Der Kriegsgott unserer Tage heißt wirtschaftliche Macht“.³⁵ An die Stelle kriegerischer Konfliktlösungen sollte der wirtschaftliche Wettbewerb treten. Nicht mehr durch kriegerische Auseinandersetzung würden machtpolitische Konflikte zwischen den Staaten ausgetragen, sondern „Finanz und Technik entscheiden die Geschicke der Welt“. Für Rathenau war die Wirtschaft das zeitgemäße politische Schwungrad. Nicht Politik, sondern „die Wirtschaft ist das Schicksal!“, sollte er 1921 dieses Selbstverständnis auf den Punkt bringen.³⁶ Kein Wunder auch, dass Rathenau den Kriegsausbruch 1914 im Gegensatz zu den meisten seiner bürgerlich-intellektuellen Zeitgenossen nicht als euphorisch begrüßte Erlösung, sondern vielmehr als Verhängnis verstand. „Dieser Krieg ist nicht ein Anfang, sondern ein Ende; was er hinterläßt sind Trümmer“, schrieb er in seinem 1917 erscheinenden Buch Von kommenden Dingen. Und gegen die Kriegszieldiskussion gerichtet: „Ich glaube nicht an unser Recht zur endgültigen Weltbestimmung.“ Sein Fazit lautete schließlich: „[...] wir sterben als ein Geschlecht des Übergangs.“³⁷ Der unnötige, weil vermeidbare Krieg, vor dem er immer wieder gewarnt und auf dessen Beginn er mit tiefer Depression reagiert hatte, sollte dann allerdings professionell und „ergebnisorientiert“ geführt werden.
Politik eine – was er besonders an England bewunderte – kreative Führungsauslese. In der für sein politisches Denken zentralen Schrift „Staat und Judentum“ aus dem Jahre 1911 setzte er sich damit rigoros auseinander. Ganz im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten, wo Juden eine den christlichen Mitbürgern gleichberechtigte Stellung einnehmen, würden in Preußen die Bürger jüdischen Glaubens nach wie vor nicht für verantwortungsvolle, „hoheitliche“ Funktionen zugelassen, vgl. ebd. S. 183–207. 33 Rathenau, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 32), S. 191. 34 Gall, Lothar: Walther Rathenau. Portrait einer Epoche. München 2009, S. 201. 35 Die Neue Ära (1907). In: Rathenau, Nachgelassene Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 15), S. 16. 36 Rede auf der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie. Gehalten in München am 28. September 1921. In: Rathenau, Walther: Gesammelte Reden. Berlin 1924, S. 241–264; hier: S. 264. 37 Rathenau, WRG, Bd. II, Hauptwerke und Gespräche. München [u. a.] 2004, S. 424.
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Unmittelbar nach Kriegsbeginn unternahm Rathenau zwei bemerkenswerte Vorstöße. In seinem Tagebuch lesen wir: Bald nach Kriegsbeginn tat ich zwei Schritte: 1. Ich bot dem Kanzler meine Dienst an und arbeitete ihm ein Projekt einer Zollunion für Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien, Frankreich aus; 2. ich ging zu Oberst Scheüch ins Kriegsministerium und entwickelte ihm den Gedanken der Rohstofforganisation.³⁸
Um dem britischen, aber auf Dauer vor allem dem amerikanischen Konkurrenzdruck wirtschaftlich widerstehen zu können, forderte Rathenau bereits vor 1914 eine europäische Zollunion unter deutscher Suprematie: Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik. Das ist nicht der Weltfriede, nicht die Abrüstung und nicht die Erschlaffung, aber es ist Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation.³⁹
Ausschlaggebend für die Notwendigkeit der wirtschaftlichen Zusammenarbeit waren für ihn vor allem die Begrenzung und letztlich Endlichkeit der Rohstoffe, so dass er – seiner Zeit weit voraus – schon damals ein nachhaltiges und energieeinsparendes Wirtschaften forderte.⁴⁰ Mit seinem Mitteleuropa-Konzept stand Rathenau keinesfalls allein, war dieses doch ein zentrales Thema der politischen und nationalökonomischen Diskussion im wilhelminischen Deutschland vor 1914. Bei ihm sind zwar vergleichbare Ziele zu erkennen, jedoch andere Methoden, sie zu erreichen. Der Kaiser selbst vertrat beispielsweise noch 1912 vor dem Hintergrund der deutschbritischen Sondierungsgespräche anlässlich der so genannten Haldane-Mission gegenüber Rathenau eine probritische Position: „Sein Plan sei: Vereinigte Staaten von Europa gegen Amerika. Dies sei den Engländern nicht unsympathisch. Fünf
38 Rathenau, Walther: Tagebuch 1907–1922. Hrsg. und kommentiert von Hartmut Pogge von Strandmann. Mit einem Beitrag von James Joll und einem Geleitwort von Fritz Fischer. Düsseldorf 1967, S. 185f. 39 Vgl. Deutsche Gefahren und neue Ziele (1913). In: Rathenau, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 32), S. 265–278, hier: S. 278. 40 „Die Zeit naht eilends heran, in der die natürlichen Stoffe nicht mehr wie heute willige Marktprodukte, sondern heiß umstrittene Vorzugsgüter bedeuten; Erzlager werden eines Tages mehr gelten als Panzerkreuzer, die aus ihren Gängen geschmiedet werden.“ Siehe: Rathenau, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 32), S. 269. Vgl. dazu auch Hellige, Hans Dieter: Dauerhaftes Wirtschaften contra Wirtschaftsliberalismus: Die Entstehung von Rathenaus Wirtschaftsethik. In: Hense/Sabrow, Leitbild (wie Anm. 1), S. 85–105.
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Staaten (inkl. Frankreich) könnten etwas ausrichten.“⁴¹ Rathenau selbst sah die beabsichtigte Miteinbeziehung Großbritanniens in einen europäischen Wirtschaftsbund skeptischer, weil er die britische Bereitschaft zu einem Interessenausgleich mit dem Deutschen Reich als relativ gering einschätzte. Seine Warnungen vor illusionären Erwartungen hinsichtlich der britischen Europa- bzw. Deutschlandpolitik bilden eine Konstante, die schon vor 1914 festzustellen ist und besonders auch seine Kriegsdenkschriften prägte. Wenige Monate nach seinem Gespräch mit dem Kaiser und angesichts der gescheiterten Abrüstungsverhandlungen zwischen Berlin und London trug Rathenau während eines Besuches auf Bethmann Hollwegs Gut Hohenfinow im Sommer 1912 dem Reichskanzler sein konkretes Europaprogramm vor: 1. Wirtschaftl[iche] Zollunion mit Österreich, Schweiz, Italien, Belgien, Niederlande etc., gleichzeitig mit engerer Assoziation. 2. Äußere Politik. Ihr Schlüssel: Der Konflikt Deutschland – Frankreich, der alle Nationen bereichert. Schlüssel: England. Heute Abrüstung unmöglich. Situation zunächst weiterspannen – obgleich gefährlich –, ferner Englands Position im Mittelmeer verderben. Dann Bündnis. Ziel: Mittelafrika, Kleinasien.⁴²
Angesichts der internationalen Situation 1912, die von Wettrüsten und zunehmender Konfrontation der machtpolitischen Blöcke gekennzeichnet war, empfahl Rathenau eine wirtschaftliche Vereinigung der Mittelmächte mit den nicht zur Entente gehörenden westeuropäischen Staaten, aus der sich dann die politische Kooperation ergeben sollte. Dabei fällt auf, dass er den Beziehungen des Deutschen Reiches zu Großbritannien eine zentrale Rolle für das internationale System beimaß; denn nicht im spannungsgeladenen Verhältnis zu Frankreich, sondern primär im Flottenwettrüsten mit Großbritannien erblickte er die eigentliche Kriegsgefahr. Im Zuge der deutschen Hochrüstung und anlässlich des ergebnislos verlaufenen Haldane-Besuches in Berlin analysierte Rathenau die auf einen Tiefpunkt angelangten deutsch-britischen Beziehungen: „England fühlt sich bedroht, weil wir rüsten; England rüstet, weil es sich bedroht fühlt; wir rüsten nicht, weil England rüstet, aber wir hören nicht auf, zu rüsten, solange England rüstet: ein Zirkelschluß.“⁴³ Und die Frage „Kann der Vernünftige nachgeben? Können wir den Kreisprozeß anhalten?“ beantwortete er damit, dass internationale politische
41 Rathenau, Tagebuch (wie Anm. 38), 13. 2. 1912, S. 157. 42 Rathenau, Tagebuch (wie Anm. 38), 25. 7. 1912, S. 169. 43 Rathenau, Walther: England und wir. Eine Philippika (1912) in: Rathenau, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 32), S. 209–219, hier: S. 216.
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Konflikte dadurch zu entschärfen seien, dass die dahinter stehenden wirtschaftlichen Spannungen durch ökonomische Vereinbarungen abgebaut werden sollten. Offensichtlich glaubte Rathenau, dass eine wirtschaftliche Einigung, der eine politische folgen werde – mit Italien und vielleicht auch mit Frankreich – Großbritanniens bislang unangefochtene, den Mittelmeerraum kontrollierende Position infrage stellen würde. Das könne schließlich zu einem Interessenausgleich zwischen Deutschland und England führen. Erst dann, auf der Basis eines deutsch-britischen Bündnisses, wären auch eine Neuverteilung afrikanischer Kolonien mit dem Ziel eines vom Deutschen Reich beherrschten „Mittelafrikas“ sowie auch territoriale Regelungen in Vorderasien denkbar. Rathenaus Mitteleuropa-Konzept, das er vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte, parallel zu seinen privatwirtschaftlichen Entwürfen und Aktivitäten, die AEG und generell die deutsche Elektrizitätswirtschaft in Europa marktbeherrschend auszuweiten, zielte auf eine wirtschaftliche Union kontinentaleuropäischer Staaten unter deutscher Führung. Erst aus der Position der hegemonialen Stärke heraus wäre es dann dem Deutschen Reich möglich, sich mit Großbritannien zu einigen. Eingedenk der zu schmalen Rohstoffbasis und des im Vergleich zu den etablierten Kolonialmächten Großbritannien, Frankreich und Portugal geringen Kolonialbesitzes propagierte Rathenau eine der jeweiligen Volkszahl der europäischen Staaten entsprechende Aufteilung kolonialer Territorien in Afrika und Vorderasien. Um zu vermeiden, dass das Deutsche Reich trotz seines Bevölkerungswachstums und seiner industriellen Stärke den Status einer Großmacht verlieren und an der Weltpolitik nicht mehr teilnehmen könne, forderte Rathenau in seiner programmatischen Vorkriegsschrift von 1913 Deutsche Gefahren und neue Ziele mit Nachdruck: „Wir brauchen Land dieser Erde.“ Er verwarf allerdings Annexionen in Europa: „Wir wollen keinem Kulturstaat das seine nehmen, aber von künftigen Aufteilungen muß uns so lange das nötige zufallen, bis wir annähernd so wie unsere Nachbarn gesättigt sind, die weit weniger Hände und unendlich mehr natürliche Güter haben.⁴⁴ Vor 1914 propagierte Rathenau eine aktive deutsche Außenpolitik, die vor allem mit dem Schwungrad der Wirtschaft kriegerische Konflikte vermeiden sollte. Um die zunehmende Kriegsgefahr zu mildern, müsse das kostspielige Aufrüsten auf ein vertretbares Maß reduziert werden, denn dieses schade beiden Kontrahenten, Deutschland und Großbritannien, gleichermaßen. Nutznießer eines deutsch-britischen Konfliktes würden einzig und allein die Vereinigten Staaten sein. Vielmehr propagierte Rathenau eine gemeinsame europäische Front gegen die amerikanische Monroe-Doktrin in der Hoffnung, den wirtschaftlichen
44 Rathenau, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 32), S. 270.
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und politischen Einfluss der USA eindämmen und letztlich auch machtpolitische Gegensätze in Europa abbauen zu können. In den ersten Kriegswochen erweiterte er sein Mitteleuropa-Konzept.⁴⁵ Im Anschluss an die von ihm angeregte deutsch-österreichische Zollunion erklärte er, dass es an der Zeit wäre, nach vorn zu schauen und an die „Ordnung der finanziellen Weltwirtschaft“ zu denken. Vor allem Frankreich und Belgien sollten den Mittelmächten ihre Märkte öffnen. Russland, das für ihn bislang eine untergeordnete Position einnahm, rückte von 1915 an in das Zentrum seiner Überlegungen. „Wir müssen endlich anfangen, uns der Politik unserer nationalen Interessen zuzuwenden“, nachdem wir „30 Jahre lang [...] Gefühlspolitik betrieben“ haben, das heißt „eine Politik empfindungsvoller Schlagworte“. Mit Russland gebe es keine Interessengegensätze, die ein längeres Verhältnis unmöglich machen, wohl aber sei die Sicherung im Osten „eine Kernfrage unserer Machtstellung“.⁴⁶ Er glaubte, eine Spaltung der Entente lasse sich dadurch erreichen, dass sich Russland – nach einem erfolgreichen deutschen Durchbruch an der Westfront – zu einem Separatfrieden bereit finden würde: „Der Friede mit Frankreich [...] zieht den Frieden mit Rußland nach sich.“⁴⁷ Er deklarierte Russland zum „künftigen Absatzgebiet“ des Deutschen Reiches und gab zu erwägen, größere russische Gebiete für längere Zeit zu besetzen und diese wirtschaftlich „zu erschließen“. Dieser Gedanke wurde für Rathenau bestimmend für die zweite Kriegshälfte. Und erfuhr nach dem Kriege seine Fortsetzung – allerdings unter veränderten internationalen Bedingungen und anderen Methoden und Zielrichtungen. Die zunehmende Gewissheit eines langen Krieges gegen England veranlassten Rathenau, zu einem Projekt mit „osteuropäischer Orientierung“ überzugehen. Schon 1915 hatte er gestanden: „Als Liberaler neige ich zu westlichen Kulturformen, jedoch nicht zu westlichen Bündnissen.“⁴⁸ Dabei schloss er nunmehr territoriale Annexionen im Osten nicht mehr aus. In seinem Schreiben an Bethmann Hollweg vom 30. August 1915 forderte Rathenau eine grundsätzliche Neuorientierung der deutschen Politik und warnte vor einer einseitigen Fixierung auf Österreich-Ungarn; denn Konflikte mit diesem traditionellen Bundesgenossen seien auf Dauer unvermeidlich. Sein Hauptinte-
45 Vgl. Michalka, Wolfgang: „Mitteleuropa geeinigt unter deutscher Führung“. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als Friedens- und Kriegsziel. In: Wilderotter, Hans (Hrsg.): Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau 1867–1922. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute, New York. Berlin 1993, S. 179–188. 46 An Max Breslauer, 30. 12. 1915. In: Rathenau, WRG, Bd. V,2 (wie Anm. 5), S. 1489. 47 An Ludendorff, 6. 11. 1915. In: Rathenau, Walther: Politische Briefe. Dresden 1929, S. 51. 48 An Max Breslauer, (wie Anm. 46), S. 1489.
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resse richtet sich nunmehr auf Russland, das für sein außenpolitisches Denken eine Art Schlüsselfunktion erhielt. Deutschlands östlicher Nachbar müsse für ein Bündnis „reif“ gemacht werden. Dabei – und das ist ein neuer Ton bei Rathenau – müsse mit brutalen Mitteln vorgegangen werden, das heißt: St. Petersburg und Moskau erobert und eine lange deutsche Besatzungszeit einkalkuliert werden. Offensichtlich gab Rathenau seine bis dahin gemäßigte Haltung in der Kriegszieldiskussion auf und wollte mit schärferen Forderungen den weitläufigen Kriegszielplanungen der sechs großen Wirtschaftsverbände nicht nachstehen, die sich im Mai 1915 mit einer Eingabe an den Reichskanzler gewandt hatten. Das Russische Reich erschien in dieser Perspektive schon beinahe als Objekt halbkolonialer Aspirationen.⁴⁹ Schließlich – und das spielte bei Rathenau eine nicht unerhebliche Rolle – musste ihm als AEG-Präsident der russische Markt von wichtiger Bedeutung gewesen sein, verlor doch die AEG durch den Krieg über 20 % Umsatz des Geschäftsjahres 1913/1914 und damit die bis 1914 in Osteuropa und in Russland besessene marktbeherrschende Rolle. Die Wiederaufnahme der Elektrifizierung des besiegten und von Deutschland kontrollierten Russlands würde der AEG lukrative Gewinnperspektive vermitteln und verlorene Auslandsmärkte kompensieren können.⁵⁰ Von wegweisender Bedeutung für Rathenau wurde also die Frage, ob Deutschland eine Einigung entweder mit England oder mit Russland anstreben solle. Diese beantwortete er klar: Großbritannien werde stets Gegner eines starken Deutschlands sein, weil die britischen Interessen unvereinbar mit denen des Deutschen Reiches seien. Demgegenüber wäre eine Verbindung mit Russland wesentlich realistischer und damit auch realisierbarer. „Rußland braucht eine Finanzmacht, die Frankreich nicht mehr ist, England nicht werden darf; es braucht einen Schutz gegen England. Wir können Rußland finanzieren. [...] Rußland ist unser künftiges Absatzgebiet.“⁵¹ Rathenau spielt mit dieser Argumentation auf die Erfahrungen der britischen Seeblockade an. Deutschland benötige
49 So Koenen, Gerd/Kopelew, Lew (Hrsg.): Deutschland und die russische Revolution. 1917– 1924. München 1998, S. 255. 50 Die AEG hatte mit Russland enge Geschäftsbeziehungen, zumal 1901 in St. Petersburg eine Tochtergesellschaft, die russische AEG (RAEG) gegründet worden war. Diese „elektrifizierte“ Russland, baute Straßenbahnlinien, rüstetet russische Kriegsschiffe mit Elektrizität aus. Die engen Beziehungen zwischen AEG und RAEG rissen im Krieg ab. Vgl. Grekow, Boris: „Russland ist unser künftiges Absatzgebiet“. Walther Rathenau und Russland zwischen 1914 und 1922. In: Wilderotter, Extreme (wie Anm. 45), S. 203–208. 51 An Bethmann Hollweg, 30. 8. 1915. In: Rathenau, Politische Briefe (wie Anm. 47), S. 45ff.
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einen großen autarken Binnenmarkt, der in erster Linie im Osten Europas zu errichten sei. Anstelle des ursprünglich angestrebten, unter deutscher Führung organisierten kontinentalen Binnenmarktes könnte Russland nun zu einem deutschen „Ostimperium“ werden, wirtschaftliche Autarkie und geostrategische Vorteile garantieren und den Seemächten Großbritannien und Amerika wirkungsvoll Paroli geboten werden. Dieser Gedanke wurde für Rathenau in der zweiten Kriegshälfte bestimmend: „Von allen Kriegszielen interessiert mich nur das eine, daß der Vierverband gesprengt werden muß, und daß [...] wir uns mit Rußland verbünden.“⁵² Um allerdings kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Rathenau wollte dieses Bündnis regelrecht erzwingen, indem „deutsche Soldaten“ neben St. Petersburg und Moskau „einen größeren Teil des wirklichen Rußland längere Zeit besetzt halten“⁵³ sollten. Angesichts des im Stellungskrieg festgefahrenen und „stationär“ gewordenen Krieges im Westen und immer weniger an einen deutschen Sieg glaubend, empfahl er eine gütlich-einvernehmliche Lösung, um den Krieg zu beenden. Nicht Politiker oder Militärs, sondern „Privatleute von internationaler Erfahrung und internationalem Ansehen“ sollten „ohne Auftrag“ das jeweilige Wirtschaftspotential begutachten und auf dieser Grundlage den Krieg geschäftlich „liquidieren“.⁵⁴ Später, als Wiederaufbauminister, wollte er seinen neuen Aufgabenbereich nicht politisch verstehen, sondern „vielmehr privatwirtschaftlich und industriell“, den er „nach rein sachlichen Grundsätzen führen“ werde, nicht beeinflusst von einem parteipolitischen Mandat.⁵⁵ Nach dem Krieg sah Rathenau die vordinglichste Aufgabe daher darin, die komplexe, die deutsche Außenpolitik dominierende Reparationsproblematik dadurch zu entschärfen, sie aus dem Bereich der unversöhnlichen Politik in den der sachlichen und rationalen Wirtschaft zu verlagern und nationale Konflikte durch internationale Verflechtungen abzubauen. Er vertrat eine kompromissbereite Position, um am Verhandlungstisch Zahlungserleichterungen erzielen zu können. Die von den innenpolitischen Gegnern als „Verzichts- und Ausverkaufs-
52 An Conrad Haussmann, 15. 9. 1915. In: Rathenau, WRG, Bd. V,2 (wie Anm. 5), S.1462. 53 An Bethmann Hollweg, 30. 8. 1915. In: Rathenau, Politische Briefe (wie Anm. 47), S. 47. 54 Friedenswege (1916). In: Rathenau, Nachgelassene Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 15), S. 57–59; hier: S. 59. 55 Rathenau, Gesammelte Reden (wie Anm. 36), S. 197–217, hier: S. 200.
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politik“ geschmähte und letztlich missverstandene „Verständigungs- und Erfüllungspolitik“ findet hier ihren Anfang.⁵⁶ Schon im Juli 1919 hatte Rathenau dem Zentrumspolitiker und damaligen Finanzminister, Matthias Erzberger, sein politisches Programm dargelegt:⁵⁷ Das besiegte und durch den seiner Meinung harten Friedensvertrag geknebelte Deutsche Reich müsse in seiner „verzweifelten Lage [...] den beweglichen Punkt [...] finden, von dem aus die ganze Situation aufgerollt werden kann“. Dieser Punkt – so fuhr er fort – liege in Belgien und Nordfrankreich, und zwar beim Problem des Wiederaufbaus. Nicht allein materielle und – wie es die Reparationsforderungen vorsahen – finanzielle Leistungen sollten von dem besiegten Deutschen Reich einseitig erbracht werden, sondern – und darin knüpfte Rathenau an seine bereits vor 1914 entwickelten Europapläne an – die betroffenen Nationen sollten gemeinsam mittels wirtschaftlicher Verflechtung die Kriegsschäden beheben. Möglichst „geschäftlich“ und frei von politischen Ressentiments sollte der europäische Wiederaufbau in Angriff genommen werden.⁵⁸ Rathenau empfahl, mit Hilfe der so genannten „Erfüllungspolitik“ die deutsche Bereitschaft zur Wiedergutmachung verursachter Schäden zu demonstrieren, aber auch die Grenzen, ja letztlich die Unmöglichkeit der geforderten Reparationsleistungen von Deutschland offenbar zu machen. Die Erfüllungspolitik sei niemals „Selbstzweck“,⁵⁹ denn die Revision des Versailler Vertrages würde niemals in Frage gestellt. Mit diesem Verständnis vertrat er einen „kooperativen Revisionismus“. Indem er die Reparationsproblematik aus dem Bereich der Politik in den der Wirtschaft überleiten wollte und vor allem unabhängige Sachverständige forderte, knüpfte er an seine bereits vor
56 Vgl. dazu Michalka, Wolfgang: Walther Rathenau – Begründer einer liberalen Außenpolitik? In: Jahrbuch für Liberalismus-Forschung 22 (2010), S. 9–36. 57 Rathenau, Walther: Briefe. Bd. 2. Dresden 1926, S.167–171. 58 „Der einzige Weg, der beschritten werden kann, um aus der europäischen Verwirrung herauszukommen, um die Wege der Reparation innerhalb der Grenzen der Möglichkeit zu beschreiten, ist der der verständigen Aussprache und der geschäftlichen Verhandlungen. Diese Dinge müssen aus dem Kreis der Politik herausgehoben werden, sie müssen so behandelt werden, wie wir im Kreise der Industriellen große Fragen und Projekte verhandeln.“ Rede auf der Tagung des Reichsverbandes der deutschen Industrie, gehalten in München am 28. September 1921. In: Rathenau, Gesammelte Reden (wie Anm. 36), S. 252. 59 „Wir werden erfüllen und werden bis an die Grenze unseres Könnens gehen. [...] Das hindert uns aber nicht, offen davon zu sprechen, daß die Formen, in denen die Erfüllung von uns verlangt wird, nicht entsprechen dem Kraftzustand des Landes, daß sie nicht angepaßt sind unseren deutschen Verhältnissen.“ Rede auf einem Gesellschaftsabend des Hamburgischen Ausschusses für den Aufbau der Friedenswirtschaft, gehalten am 7. Juli 1921. In: Rathenau, Gesammelte Reden (wie Anm. 36), S. 211. Vgl. Schölzel, Christian: Walther Rathenau. Eine Biographie. Paderborn [u. a.] 2006, S. 306 und passim.
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1918 entwickelten politischen Gedanken an und nahm die spezifische Form der „Bankers’ und Business Diplomacy“ vorweg, die sich in der Mitte der zwanziger Jahre sukzessive gegen die nationalistische Machtpolitik durchsetzen konnte. Neben den traditionellen Diplomaten prägten immer mehr wirtschaftliche Experten die internationalen Beziehungen.⁶⁰ Er entwickelte ein europäisches Wiederaufbauprogramm, aufgrund dessen in den verwüsteten Gebieten Frankreichs und Belgiens deutsche Arbeiter konkrete Aufbauleistungen verrichten würden. In den Verhandlungen mit dem französischen Wiederaufbauminister Louis Loucheur im Sommer 1921 in Wiesbaden war Rathenau bemüht, die von der Reparationskommission geforderten Gold- und Geldleistungen in Arbeits- und Sachleistungen umzuwandeln und zumindest ansatzweise, seine Vorstellungen zu realisieren.⁶¹ Eine kollektive Wirtschaftsverflechtung gleichberechtigter Partner könnte – so argumentierte Rathenau – die vom Krieg emotionalisierte Politik versachlichen und damit auch berechenbar machen. Entscheidend für ihn war, „diejenigen Wege zu finden, die uns mit der Welt wieder zusammenbringen“ – wie er in seiner Antrittsrede als Minister im Reichstag betonte. Es ging ihm darum, „einen Kontinent wiederherzustellen“, um den „Wiederaufbau der Welt“. Für Deutschland würde dies die Behebung der hohen Arbeitslosigkeit, die Reduzierung des Kapitalmangels bedeuten. Der Aufschwung der durch übersteigerte und nicht zu leistende Reparationszahlungen paralysierten deutschen Wirtschaft könnte dadurch erreicht werden, was wiederum der gesamten europäischen Wirtschaft zugutekommen würde.⁶² Nicht Widerstand gegen unsinnige Maßnahmen und Forderungen der Alliierten, wie es beispielsweise Hugo Stinnes bei der Reparationskonferenz in Spa apodiktisch gefordert hatte,⁶³ was zu einem Eklat führte, sondern vielmehr der
60 Vgl. dazu Niedhart, Gottfried: Deutsche Geschichte 1918–1933. Politik in der Weimarer Republik und der Sieg der Rechten. Stuttgart [u. a.] 1994, S. 237. 61 Rathenau, „Es gibt nur einen Weg: unsere Zahlungen zu verwandeln in Sachleistungen.“ (Rede auf der Tagung des Reichsverbandes der deutschen Industrie, gehalten in München am 28. September 1921. In: Rathenau, Gesammelte Reden (wie Anm. 36), S. 282). 62 Rathenau, Walther: „Der Höhepunkt des Kapitalismus“, Vortrag in der Deutschen Hochschule für Politik am 27. April 1921. In: Rathenau, Gesammelte Reden (wie Anm. 36), S. 180 und Rede auf einem Gesellschaftsabend des Hamburgischen Ausschusses für den Aufbau der Friedenswirtschaft am 7. Juli 1921. In: Ebd., S. 207. 63 Rathenau, „Eine Politik des sinnlosen Widerstandes werden wir nicht führen, sondern eine Politik der ruhigen und zuverlässigen Erfüllung der Verpflichtungen, soweit es eben möglich ist, nicht weiter.“ Rede in einer Versammlung des badischen Landesverbandes der DeutschDemokratischen Jugend, gehalten in Mannheim am 27. Oktober 1921. In: Rathenau, Gesammelte Reden (wie Anm. 36), S. 277.
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„Wille zum Aufbau“⁶⁴ sollte die vom Krieg katastrophal geschädigte Wirtschaft Europas sanieren und dies mit amerikanischer Hilfe. Mit Nachdruck forderte Rathenau die USA auf, endlich ihre wirtschaftliche und politische Führungsrolle in Europa wahrzunehmen.⁶⁵ Er war bestrebt, das an die Peripherie der Staatenwelt gedrängte bolschewistische Russland möglichst bald in die europäische Wirtschaft und Staatengemeinschaft zurückzuholen. Denn eine stabile Nachkriegsordnung und Rekonstruktion der Weltwirtschaft wäre ohne Deutschland und Sowjetrussland nicht möglich. Internationale Wirtschaftsbeziehungen waren seiner Meinung nach die beste Voraussetzung einer friedlichen Staatensolidarität. In diesem Politikverständnis erhielt Rathenau vom britischen Premier Lloyd George Unterstützung. Dessen Ziel war der wirtschaftliche Wiederaufbau und die politische Befriedung Europas vom Atlantik bis zum Ural, sodass nun auch das bolschewistische Russland auf die politische Agenda kam und den bereits in der Endphase des Krieges aufgekommenen Gedanken der Bildung eines Syndikats zur wirtschaftlichen Erschließung Russlands diesmal allerdings unter internationaler Beteiligung wiederbelebte. In Kreisen der verarbeitenden und der Elektroindustrie, aber auch in der Schwerindustrie gab es in Deutschland starke Befürworter einer intensiven Zusammenarbeit mit Sowjetrussland, um die diplomatisch isolierte und wirtschaftlich eingeschnürte Situation überwinden zu können. Ein besonders geeigneter Anlass, in engere Verhandlungen mit Moskau treten zu können, war einerseits der russisch-polnische Krieg im Jahre 1920, der für Sowjetrussland territoriale Verluste einbrachte, und andererseits die in Deutschland stark emotionalisiert aufgenommenen Volksabstimmungen in Oberschlesien, die gleichfalls zu deutschen Land- und Bevölkerungsverlusten führten und die Beziehungen zu Polen verschlechterten. Die sowohl von Berlin als auch von Moskau beklagte polnische „Expansion“ ließ beide diplomatisch isolierten Staaten zusammenrücken und schuf eine Basis für eine gemeinsame Politik. Beide Partner begrüßten eine Wiederaufnahme und Intensivierung ihrer vor 1914 sehr regen wirtschaftlichen Beziehungen. Um das finanzielle Risiko angesichts der nach-revolutionären Wirren und der Folgen des Krieges mit Polen möglichst gering zu halten, folgte
64 Rede vor dem Reichstag am 2. Juni 1921. In: Rathenau, Gesammelte Reden (wie Anm. 36), S. 201. 65 „Es ist ferner zu hoffen, daß der große Staat jenseits des Ozeans [...] erkennen wird, daß die Zustände Europas nicht geheilt werden können, wenn ein Komplex von der Riesengröße Amerikas fernbleibt.“ Rede auf einem Gesellschaftsabend des Hamburgischen Ausschusses für den Aufbau der Friedenswirtschaft, gehalten am 7. Juli 1921. In: Rathenau, Gesammelte Reden (wie Anm. 36), S. 215.
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Rathenau als Präsident der AEG, die über vorzügliche Beziehungen zu wirtschaftlichen Kreisen in Russland verfügte, Lloyd Georges Syndikatsgedanken. Er regte im Rahmen der von ihm propagierten „Erfüllungspolitik“ ein internationales Konsortium zwischen dem Deutschen Reich, Großbritannien, Belgien und möglicherweise auch Frankreich an, um die sowjetische Wirtschaft wiederaufzubauen und für die westlichen Staaten als Handelspartner zurückgewinnen zu können. Als Sicherheit bot Deutschland den umworbenen Syndikatspartnern die Kontrolle über spezielle deutsche Wirtschaftszweige an. Dieser Plan fand sowohl in London als auch in Paris Befürwortung. Die Franzosen zum Beispiel sahen darin eine Möglichkeit, Deutschlands Zahlungsfähigkeit für Reparationen zu gewährleisten und zusätzlich zu steigern. Für London konnte dieses Projekt eine Erweiterung der britischen Handelsbeziehungen bedeuten, um damit politischen Einfluss auf das bolschewistische Russland nehmen zu können. Und es ist offensichtlich, dass die deutschen Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik mit diesem Projekt revisionistische und darüber hinausgehende Zielvorstellungen verfolgten. Indem man gemeinsam mit den Westmächten die sowjetische Wirtschaft „erschloss“, sollte die eigene Wirtschaft stabilisiert und ausgebaut werden mit dem Ziel, die vormals besessene und potentiell noch vorhandene wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands in Europa zu erreichen. Liberal-imperialistische Kriegsziele von einem wirtschaftlichen Mitteleuropa unter deutscher Hegemonie und ergänzt bzw. erweitert durch ein wirtschaftliches Ostreich wären somit auf friedlichem Weg und damit dauerhafter erreicht worden. Neu – aber nur im Hinblick auf die Taktik und keinesfalls auf die Zielsetzung – waren Methode und Funktion dieses Unternehmens. Indem nämlich Berlin die Westmächte zur „friedlichen“ Mitarbeit aufforderte, sicherte man sich einmal deren Komplizenschaft und Unterstützung dieser von ihnen bislang bekämpften Politik. Zum anderen aber – und das ist das Besondere und vielleicht auch Wichtigste an diesem Konzept – wollte man innerhalb dieses Syndikats die Gleichberechtigung und auf Dauer – wie das bereits schon vor 1914 der Fall war – die wirtschaftliche Führungsposition Deutschlands erreichen, um auf diesem Wege quasi über Moskau den Vertrag von Versailles revidieren zu können. Für Rathenau bedeutete gerade die „wirtschaftliche Durchdringung Russlands“ schon während des Ersten Weltkrieges eine wichtige Perspektive und sollte nun unter veränderten Rahmenbedingungen eine entscheidende Möglichkeit bieten, das bolschewistische Russland in die kapitalistische Weltwirtschaft zu reintegrieren, die Reparationsproblematik zu lösen und Voraussetzungen für eine schiedlich-friedliche Revisionspolitik zu schaffen. Die Sowjets lehnten jedoch die von Deutschland angebotene „internationale Hilfsmaßnahme“ in richtiger Einschätzung der wahren Absichten ab. Sie baten vielmehr die Alliierten, eine Lösung der ehemaligen Schulden bzw. Auslandsgut-
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haben herbeizuführen. Der britische Premierminister Lloyd George und sein französischer Kollege Aristide Briand beantworteten diese Bitte mit dem Vorschlag, eine internationale Wirtschaftskonferenz in Genua einzuberufen, auf der alle diese Probleme hätten gelöst werden können. Auch die beiden „Paria-Mächte“ Deutschland und Sowjetrussland wurden eingeladen, um eine Gesamtlösung für die europäische Wirtschaft zu finden. Obwohl damit das internationale Russlandgeschäft gescheitert war, bemühten sich sowohl Moskau als auch Berlin, ein einseitiges Zusammengehen des anderen mit den Westmächten zu verhindern. Noch vor Rathenaus Ernennung zum Außenminister am 30. Januar 1922 wurden deutsch-russische Sonderverhandlungen aufgenommen mit dem gemeinsamen Ziel, sich gegenseitig Vorkriegsschulden zu erlassen. Besonders bestrebt war die deutsche Seite, Russland zu bewegen, auf Ansprüche nach Artikel 116 des Versailler Vertrages, der das Recht auf Reparationen begründete, zu verzichten. Die Sowjets signalisierten im Frühjahr 1922, an einer Klärung der deutschsowjetischen Beziehungen interessiert zu sein, und regten darüber hinaus ein Handelsabkommen an. Der Weg nach Rapallo zeichnete sich hierin ab. Kreise der Schwerindustrie, die Ostabteilung im Auswärtige Amt und vor allem die Reichswehrführung waren rückwärtsgewandt bestrebt, die Kontinuität deutscher Machtpolitik hinsichtlich ihrer Ziele wie ihrer Methoden vom Kaiserreich zur Republik aufrecht zu erhalten. In enger wirtschaftlicher, aber auch militärischer Kooperation mit Moskau wollten sie ein Gegengewicht zum neuentstandenen und als „Saisonstaat“ abqualifizierten Polen und letztlich auch zu den Siegermächten im Westen bilden, außenpolitische Handlungsfreiheit gewinnen und Voraussetzungen für eine baldige machtpolitische Revision des Versailler Vertrages schaffen. Für sie bedeute diese Politik der erste Schritt einer auf Bündnisfähigkeit beruhenden, aktiven Außenpolitik. Ulrike Hörster-Philipps und Heinrich Küppers⁶⁶ konnten herausarbeiten, dass Reichskanzler Joseph Wirth für diese Politik eintrat. Besonders zwei Ereignisse ließen ihn von seiner ursprünglich und von Rathenau propagierten, auf Verständigung und Zusammenarbeit beruhenden „Erfüllungspolitik“ zunehmend Abstand nehmen. Zum einen war dies die zuungunsten Deutschlands durchgeführte Abstimmung in Oberschlesien und zum anderen das ebenfalls im Jahre
66 Hörster-Philipps, Ulrike: Joseph Wirth 1879–1956. Eine politische Biographie. Paderborn 1998; Küppers, Heinrich: Joseph Wirth. Parlamentarier, Minister und Kanzler der Weimarer Republik. Stuttgart 1997; vgl. auch Joerres, Niels: Forschungsbericht Rapallo. Zeitgeschichte einer Kontroverse. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 34/3 (2007), S. 103–126.
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1921 verhängte Londoner Ultimatum, das eine über Jahrzehnte währende Reparationszahlung von insgesamt 132 Milliarden Goldmark dem Deutschen Reich abforderte. Wirth setzte nun zunehmend auf eine Alternativpolitik, die auf eine enge wirtschaftliche und auch militärische Zusammenarbeit mit Sowjetrussland zielte. Dabei verfolgte er eine Art Doppelstrategie. Indem er Rathenau als Wiederaufbauminister, dann ab 1922 als Außenminister seine auf kollektive Verständigung und Sicherheit abzielende Politik mit den Westmächten weiter betreiben ließ, forcierte er gleichzeitig die Verhandlungen mit Moskau. Generell war Wirth maßgeblich an der „deutschen Ostpolitik im Umfeld des Rapallo-Vertrages“⁶⁷ beteiligt. Er habe vor allem die geheimen Verhandlungen der Reichswehr mit der Roten Armee⁶⁸ gutgeheißen. Wirth sei der „eigentlich treibende Motor für die RapalloPolitik“ gewesen, die er „im Gegensatz zu seinen Partnern Maltzan und Rathenau mit dem klaren Ziel eines revanchistischen Bündnisses“ betrieben habe.⁶⁹ Bemerkenswerter Weise war Joseph Wirth nicht der einzige, der einen außenpolitischen Positionswechsel vollzogen hatte. So war es der konservative Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau, erster Außenminister der jungen Weimarer Republik und von 1922 bis 1928 erster deutscher Botschafter in Moskau, der ursprünglich vor der bolschewistischen Gefahr gewarnt und eine deutsch-russische Annäherung als höchst belastend für die Verhandlungen mit den siegreichen Westmächten qualifiziert hatte. Wenig später aber, als das von ihm erwartete Entgegenkommen der Siegermächte ausblieb, hatte er ein Zusammengehen mit den neuen Machthabern in Moskau nicht mehr ausgeschlossen. Er versprach sich von der russischen Trumpf-Karte Vorteile bei den festgefahrenen Verhandlungen um einen gerechten Friedensvertrag. Schließlich spekulierte er sogar mit einem antiwestlichen Bündnis mit Moskau. Im Jahre 1922, als es darum ging, Rapallo mit Leben zu füllen, war er es wiederum, der vor allem eine militärische Kooperation strikt ablehnte.⁷⁰ Diese außenpolitischen Pirouetten des erfahrenen Diplomaten
67 Küppers, Heinrich: Zwischen Londoner Ultimatum und Rapallo. Joseph Wirth und die deutsche Außenpolitik 1921/22. In: Historische Mitteilungen 13 (2000), S. 150–173, hier: S. 150; sowie ders., Joseph Wirth (wie Anm. 66). 68 Vgl. dazu Zeidler, Manfred: Reichswehr und Rote Armee 1920–1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit. München 1993, 2. Aufl. 1994; vgl. auch Groehler, Olaf: Selbstmörderische Allianz. Deutsch-russische Militärbeziehungen 1920–1941. Berlin 1992. 69 So kritisch Elz, Wolfgang: Die Weimarer Republik und ihre Außenpolitik. Ein Forschungsund Literaturbericht. In: Historisches Jahrbuch 119 (1999), S. 307–375; hier: S. 363. 70 Vgl. Linke, Horst Günther: Der Weg nach Rapallo. Strategie und Taktik der deutschen und sowjetrussischen Außenpolitik. In: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 33–109; hier: S. 57f.; vgl. generell Scheidemann, Christiane: Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau (1869–1928), eine politische Biographie. Frankfurt a. M. 1998.
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können für die Offenheit der außenpolitischen Situation unmittelbar nach dem Krieg stellvertretend stehen.⁷¹ Die Reichswehr hatte bereits im Sommer 1920 erste Kontakte mit russischen Militärs geknüpft. Dabei ging es auch um die Verlagerung von deutschen Rüstungsprojekten, die der Versailler Vertrag verboten hatte, nach Russland. Der gemeinsame Gegner war Polen, das als „unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands“ angesehen wurde, und deswegen – auch „mit Russlands Hilfe“ –“verschwinden“ müsse⁷² – so General von Seeckt am 11. September 1922. Als der Chef der Heeresleitung im Mai 1921 Reichskanzler Wirth und das Auswärtige Amt um politische und finanzielle Unterstützung für die sich anbahnende Zusammenarbeit mit der Roten Armee bat, wurde ihm beides gewährt. Diese „amtlich geduldeten Geheimkontakte“⁷³ dokumentieren, dass es nicht Wirtschaftskreise und Privatfirmen waren, sondern das Militär, das die Initiative für deutsch-russischen Verhandlungen ergriff, die unmissverständlich die Bestimmungen des Versailler Vertrages verletzten und somit eine machtpolitische Revisionspolitik in Angriff genommen hatte.⁷⁴ Und es war Joseph Wirth, der die polenfeindliche Haltung der Reichswehr unterstützte und mit ihr den „Schulterschluss“ suchte. Wirths „Werdegang [...] zum Rapallopolitiker steht im engen Zusammenhang mit der Entwicklung der deutsch-sowjetrussischen Beziehungen.“⁷⁵ Schon bei seinem ersten Gespräch als Reichskanzler mit Nikolai Krestinski, dem ranghöchsten russischen Diplomaten in Berlin, am 7. Februar 1922 befürwortete er die baldige Aufnahme von diplomatischen Beziehungen. Und noch vor der Ernennung Rathenaus zum Außenminister hatte sich Wirth Mitte Januar 1922 für ein von der Reichswehr gefordertes enges Zusammengehen mit Moskau und damit gegen eine Verständigung mit dem Westen entschieden. Damit konterkarierte Wirth Rathenaus Politik, der eine kollektive Verständigung besonders mit den Westmächten vertrat und es allerdings ablehnte, sich ganz nach Russland bilateral zu orientieren, weil er dem bolschewistischen Regime skeptisch gegenüberstand und auch den Konflikt mit den Westmächten
71 Dazu auch Michalka, Wolfgang: Russlandbilder des Auswärtigen Amtes und deutscher Diplomaten. In: Volkmann, Hans-Erich (Hrsg.): Das Russlandbild im Dritten Reich. Köln [u. a.] 1994, S. 79–104. Vgl. auch O’Sullivan, Donal: Furcht und Faszination. Deutsche und britische Russlandbilder 1921–1933. Köln [u. a.] 1996; Wagner, Armin: Das Bild Sowjetrusslands in den Memoiren deutscher Diplomaten der Weimarer Republik. Münster/Hamburg 1995. 72 Michalka, Wolfgang/Niedhart, Gottfried (Hrsg.): Die ungeliebte Republik. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik Weimars 1918–1933. München 1980, S. 144. 73 So Küppers, Ultimatum und Rapallo (wie Anm. 67), S. 163. 74 Vgl. Linke, Der Weg nach Rapallo (wie Anm. 70), S. 74ff. 75 Küppers, Ultimatum und Rapallo (wie Anm. 67), S. 163.
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vermeiden wollte. Kein Wunder auch, dass seine Ernennung zum Außenminister in Moskau nicht gerade bejubelt wurde, setzte er sich doch sehr für das internationale Russland-Konsortium ein. Deutschland sollte seiner Vorstellung nach eher die Rolle eines Vermittlers zwischen dem Westen und Sowjetrussland übernehmen und auf diesem Wege als gleichberechtigter Partner anerkannt werden. Dass diese Schlüsselfunktion dem Deutschen Reich nicht zugestanden wurde, zeigt, dass in Genua Lloyd George mit den russischen Delegierten verhandelte, allerdings ohne die deutschen Vertreter hinzuzuziehen. Rathenau sah sich demnach im doppelten Sinne in seiner Politik blockiert. Zum einen fühlte er sich nicht mehr von Reichskanzler Wirth unterstützt, zum anderen stieß er zunehmend auf Widerstand bei den Westmächten. Sein Bemühen um kollektive Außen- und Sicherheitspolitik wurde von den Westmächten nicht mit Entgegenkommen in der Reparationsfrage belohnt – Frankreich ließ dieses Thema von der Agenda der Weltwirtschaftskonferenz nehmen, und die USA waren gar nicht in Genua vertreten. Da er eine außenpolitische Isolierung fürchtete, gab er in diesem Dilemma einer seiner Überzeugung entgegengesetzten Position, die von der Reichswehr, der Ostabteilung im Auswärtigen Amt⁷⁶ unter Ago von Maltzan und natürlich auch von Reichskanzler Wirth vertreten wurde, schließlich nach, die ein bilaterales Abkommen mit Moskau befürworteten. Am Rande der Weltwirtschaftskonferenz von Genua wurde am Ostersonntag 1922 in Rapallo zwischen den beiden Außenseitern der internationalen Staatenwelt ein Vertrag geschlossen, der den gegenseitigen Verzicht auf den Ersatz von Kriegskosten und Kriegsschäden, auf deutscher Seite den Verzicht auf die durch Sozialisierungen entstandenen Verluste sowie darüber hinaus die Aufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung zwischen beiden Staaten vorsah. Die dramatischen Tage und Stunden vor Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages sind detailliert nachgezeichnet und untersucht worden.⁷⁷ Der Vertragsabschluss von Rapallo, der wie eine Bombe einschlug und die Konferenz von Genua zu sprengen drohte, wurde von den Befürworter einer „aktiven“ und damit besonders antipolnischen Ostpolitik bejubelt, glaubten sie doch, durch diesen Schritt eigene Handlungsfähigkeit zurückgewonnen
76 Dazu jetzt Sütterlin, Ingmar: Die „Russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes in der Weimarer Republik. Berlin 1994. 77 Vgl. Joerres, Niels: Der Architekt von Rapallo: Der deutsche Diplomat Ago von Maltzan im Kaiserreich und in der früher Weimarer Republik (Diss.). Heidelberg 2005. Jetzt besonders detailliert und die neueste Forschung berücksichtigend Fleischhauer, Eva Ingeborg: Rathenau in Rapallo. Eine notwendige Korrektur des Forschungsstandes. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (2006), S. 365–415.
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zu haben, die dazu beitragen könnte, eine erfolgreiche Revision des Versailler Vertrages zu betreiben und darüber hinaus langfristig die ehemals innegehabte deutsche Großmachtposition wiederherzustellen. Diese Rathenaus eigene Politik einer nach Westen orientierten kollektiven Verständigungs- und Sicherheitspolitik infragestellenden konzeptionellen Ansätze konfrontierten und blockierten eine republikanische Außenpolitik⁷⁸ und damit einen außenpolitischen Neubeginn, wie er ihn gefordert hatte. Nicht mehr die tradierte militärische Machtpolitik als Mittel der Konfliktlösung sollte für ihn bestimmend sein, sondern der alternative Ansatz, der zu einer Zivilisierung und Schlichtung der Nachkriegskonflikte durch Gewaltverzicht, Konferenzdiplomatie und wirtschaftliche Kooperation führen würde. Die von Rathenau vorgedachte und vertretene, nach Westen ausgerichtete, aber auch auf einen Ausgleich mit Sowjetrussland bedachte kollektive Entspannungspolitik sollte erst von Gustav Stresemann realisiert werden. Sie trug letztlich zur Umo-
rientierung der deutschen und gesamten europäischen Außenpolitik bei.
Der bilateral geschlossene Rapallo-Vertrag bedeute für Rathenau einen Notbehelf und entsprach keineswegs seiner kollektiven Verständigungs- und Sicherheitspolitik. Dieser erschwerte einen außenpolitischen Neuanfang und Paradigmenwechsel in den internationalen Beziehungen. Für seine Gegner galt Rathenau nun nicht mehr allein als Hauptvertreter einer Erfüllungspolitik, die Deutschland dem für die Friedensbedingungen letztlich verantwortlichen internationalen Judentum, seinen, wie man immer offener erklärte, „Rassegenossen“, ausliefern wollte. Man sprach jetzt auch von ihm als einem Anhänger des „schleichenden Bolschewismus“.⁷⁹ Er wurde als ein Exponent der „Weisen von Zion“ diffamiert, als derjenige, der als Werkzeug der jüdischen Weltverschwörung Deutschland vernichten wolle. Die gegen ihn gerichteten Hasstiraden eskalierten und mündeten in konkrete Morddrohungen.⁸⁰ Kurz vor seinem Tod fragte Rathenau den Journalisten Hellmut von Gerlach: „Sagen Sie, warum hassen mich diese Menschen eigentlich so furchtbar?“. Dieser antwortete: „Ausschließlich, weil Sie Jude sind und mit Erfolg für Deutschland Außenpolitik treiben. Sie sind die lebendige Wiederlegung der antisemitischen
78 So im Kontext die These von Krüger, Peter: Die Außenpolitik der Republik von Weimar. Darmstadt 1985, 2. Aufl. 1993. 79 Gall, Portrait (wie Anm. 34), S. 243. 80 Stellvertretend: „Auch Rathenau, der Walther, erreicht kein hohes Alter“ oder „Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverfluchte Judensau [...]“. Rathenau, WRG, Bd. V,2 (wie Anm. 5), S. 2587.
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Theorie von der Schädlichkeit des Judentums für Deutschland. Darum sollen Sie getötet werden.“⁸¹ Von Ernst von Salomon wissen wir, dass Rathenau ermordet werden sollte, nicht weil, sondern obgleich er Jude war. Seine Attentäter wollten mit seiner Ermordung die Republik selbst tödlich treffen.⁸²
81 Rathenau, WRG, Bd. II (wie Anm. 37), S. 854 82 Vgl. im größeren Kontext Sabrow, Martin: Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar. München 1994.
Jasmin Sohnemann
„Der Kaufmann und der Künstler“ Walther Rathenau und Stefan Zweig Nebst manchem Blick ins Weite in belebenden Gesprächen [...] nebst der Erweiterung meines Horizonts vom Literarischen ins Zeitgeschichtliche danke ich Rathenau auch die erste Anregung, über Europa hinauszugehen.¹
Stefan Zweigs Darstellung seiner Verbindung zu Walther Rathenau, niedergeschrieben während des Zweiten Weltkrieges für seine als Die Welt von Gestern posthum erschienenen Memoiren, ist in die Geschichtsschreibung zu seiner Person eingegangen. Biografen und Herausgeber sehen Rathenau einhellig als Impulsgeber für die Entwicklung des Schriftstellers vom Schöngeist zum aufmerksamen Beobachter des Zeitgeschehens. Die Begegnung mit Rathenau nennen sie als maßgeblich für Zweigs Entscheidung, die Welt zu bereisen, um durch das damit verbundene Erleben anderer Kulturen die eigene besser zu verstehen.² Der Blick auf andere Überlieferungen lässt allerdings Zweifel an diesem Bild entstehen. Die Entscheidung, einen Beitrag, dessen Schwerpunkt auf der Untersuchung der Zweig’schen Rathenau-Rezeption liegt, in einen Walther Rathenau – und nicht Stefan Zweig – gewidmeten Band aufzunehmen, ist durch den Fokus auf das „Netzwerk der Moderne“ motiviert. Stefan Zweig war nicht nur Teil von Rathenaus Netzwerk; er war auch das, was man heute einen sehr erfolgreichen und besonders aktiven Netzwerker nennen würde. Er brachte ähnlich Gesinnte zusammen, und er vermittelte den literarischen Nachwuchs ebenso wie fremdsprachige Dichter an Verlage oder bereits etablierte Intellektuelle und Künstler. Er knüpfte Beziehungen und ließ seine Verbindungen spielen, um Werke und Menschen, die er schätzte, zu unterstützen. Auch Walther Rathenaus Schriften empfahl er der Öffentlichkeit, und öffentlich hat sich Zweig auch über die Person stets voller Lob geäußert, zu Rathenaus Lebzeiten, zum ersten Todestag und am nachhaltigsten als Sechzigjähriger in Die Welt von Gestern.
1 Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a. M. 2005, S. 210. 2 Vgl. z. B. die beiden einschlägigen Biografien: Prater, Donald A.: Stefan Zweig. Das Leben eines Ungeduldigen. Frankfurt a. M. 1984, S. 67f.; Matuschek, Oliver: Drei Leben. Eine Biographie. Stefan Zweig. Frankfurt a. M. 2008, S. 81–83. Siehe auch den Herausgeberkommentar: Zweig, Stefan: Die schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909–1941. Frankfurt 1990, S. 281.
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Über die unisono konstatierte Bedeutung Rathenaus für Zweigs Werdegang hinaus, wurde die Verbindung zwischen dem Wiener Schriftsteller und dem künstlerisch wie philosophisch ambitionierten Berliner Industriellen von Zweig-Forschern meines Wissens nach aber noch nicht näher betrachtet. In der Rathenau-Forschung wiederum wird Stefan Zweig als Bekannter und prominenter Fürsprecher stets miterwähnt, ebenfalls ohne Details der persönlichen Beziehung zu beleuchten. Man bedient sich jedoch vielfach seiner Charakterisierungen, auch als Aufmacher oder Abschluss von Textabschnitten, die nichts mit dem Schriftsteller zu tun haben. So wird beispielsweise immer wieder Zweigs Bild von Rathenau als „amphibisches Wesen zwischen Kaufmann und Künstler, Tatmenschen und Denker“ zitiert.³ Auch für die Illustration von Rathenaus Einsamkeit, oder der wenig persönlichen Atmosphäre seiner Wohnräume werden Zweigs Erinnerungen herangezogen.⁴ Sein Blick auf Walther Rathenaus Persönlichkeit entspricht demnach der bis heute gängigen Rezeption, obwohl die Zuverlässigkeit seiner Autobiografie als historische Quelle immer wieder in Frage gestellt worden ist.⁵ Auch konstatiert Dieter Heimböckel in seiner Studie zu Rathenau und der Literatur seiner Zeit, Zweig habe neben Emil Ludwig „nicht unwesentlich zur nachwilhelminischen Kanonisierung eines Rathenau-Bildes bei[getragen], das ihn unter Aussparung seiner deutschnationalen Einstellung zum Symbol und Märtyrer der Weimarer Republik stilisierte“.⁶ In eine ähnliche Richtung argumentiert Christian Schölzel, der nach dem Mord eine verstärkte Historisie-
3 Originalzitat in: Zweig, Stefan: Walter Rathenaus „Kritik der Zeit“, Neue Freie Presse (12. 6. 1912), S. 1–3. Unter anderem zitiert in: Brenner, Wolfgang: Walther Rathenau. Deutscher und Jude. München 2006, S. 274; Heimböckel, Dieter: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit. Studien zu Werk und Wirkung [im Folgenden: WR Literatur]. Würzburg 1996, S. 183; Gerstner, Alexandra: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus. Darmstadt 2008, S. 52; Walther-Rathenau-Gesamtausgabe [im Folgenden: WRG]. Bd. V,1. Briefe 1871–1913. Hrsg. von Hans Dieter Hellige und Ernst Schulin. Düsseldorf 2006, S. 18 (Vorwort der Herausgeber). 4 Vgl. z. B. Schölzel, Christian: Walther Rathenau. Eine Biographie. Paderborn 2006, S. 57; Sabrow, Martin: Restaurator einer anderen Moderne. Rathenau und Schloss Freienwalde. In: Heimböckel, Dieter/Delabar, Walter (Hrsg.): Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne. Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien. Bielefeld 2009, S. 190. 5 Mark Gelber, der diese Zuverlässigkeit selbst in Frage stellt und bedauert, dass alle bisherigen Biografen auf diesen Erinnerungstext zurückgreifen, zitiert als weitere Zweifler Julius Bab und Michael Stanislawski. Vgl. Gelber, Mark H.: Stefan Zweig in Berlin und „Die Welt von Gestern“. In: Ders. (Hrsg.): Stefan Zweig und Europa. Hildesheim 2011. Siehe S. 85–86. 6 Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 3), S. 313. Seine Aussage, er und Ludwig hätten „unzählige Rezensionen und Würdigungen“ (ebd.) verfasst, kann ich, was Zweig betrifft, angesichts von – neben der Welt von Gestern – fünf veröffentlichten Rezensionen zu drei Büchern und zwei Porträts in einem Zeitraum von 15 Jahren nicht zustimmen.
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rung Rathenaus und Zweigs Gedenkartikel als ein Beispiel dieser „zeitüblichen Interpretationen“⁷ zitiert, die Rathenaus Schicksal zur Tragödie überhöhen. Angesichts des ambivalenten Umgangs mit Zweigs Erinnerungen halte ich es für sinnvoll, zunächst anhand der nachgelassenen Briefe und Tagebuchaufzeichnungen erstmalig den Versuch einer historisch genauen Rekonstruktion der Verbindung zu unternehmen. Diese soll Zweigs veröffentlichten Texten gegenübergestellt werden, um Erklärungsansätze für Zweigs Rezeption der Person Walther Rathenaus herauszuarbeiten. Dabei soll auch der Beitrag des Rezipierten beleuchtet werden. Zuletzt noch eine Anmerkung zur Geschichte dieses Beitrags. Am Anfang der Recherchen stand die Hoffnung, die bis dato unbekannten Briefe Stefan Zweigs an Walther Rathenau in dessen Nachlass im Sonderarchiv in Moskau zu finden und erstmals als Quelle zur Verfügung zu haben. Leider hat sich herausgestellt, dass dort bis auf vier kurze Schreiben an Rathenau nur Abschriften von dessen Briefen und einige Schreiben an die Hinterbliebenen vorliegen. Es ist wahrscheinlich, dass Zweig seine Briefe nach Rathenaus Tod zurückerhalten hat.⁸ Sie sind aber auch in seinem Nachlass nicht vorhanden und bleiben damit weiterhin verschollen. Bereits auf den ersten Blick hatten Walther Rathenau und Stefan Zweig einiges gemeinsam: Sie lebten mit Berlin und Wien in jeweils einem der beiden deutschsprachigen Zentren Mitteleuropas und wuchsen in weitgehend assimilierten, wohlhabenden Unternehmerfamilien auf, in denen die jüdische Herkunft nicht verleugnet, aber auch keine religiösen Traditionen gelebt wurden. In beiden Familien hatte die Teilnahme am Leben der besseren Gesellschaft ihrer Städte Priorität. Während sich Rathenau als Erstgeborener dem Wunsch des Vaters fügte und eine Laufbahn in der Industrie einschlug, konnte sich Zweig als zweiter Sohn freier entscheiden. Er wählte zunächst ein geisteswissenschaftliches Studium, entschied sich aber schnell für ein Leben als freier Literat. Anfang des 20. Jahrhunderts bereiste er Europa, korrespondierte mit einer wachsenden Zahl von Intellektuellen und Künstlern, betätigte sich als Übersetzer und Herausgeber. Er veröffentlichte neben ersten Lyrik- und Novellenbänden vor allem in Literaturzeitschriften sowie zunehmend in renommierten Feuilletons, wie dem der Wiener Neuen Freien Presse. Rathenau, zur selben Zeit in Berliner Wirtschafts- und Politikerkreisen vor allem als in die Fußstapfen seines Vaters tretender Unternehmer-
7 Schölzel, Rathenau Biographie (wie Anm. 4), S. 377. 8 Laut der Einleitung zur 2006 erschienenen Rathenau-Briefausgabe haben die Hinterbliebenen Briefe an Rathenau an die Absender, zum Beispiel an Emil Ludwig, zurückgegeben. Vgl. WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3), S. 29.
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sohn wahrgenommen, zog es ebenfalls in Intellektuellen- und Künstlerkreise, und auch er betätigte sich als Autor, meist aber pseudonym. Später werden beide Bestsellerautoren sein. Die Geschichte des durch Maximilian Harden vermittelten Erstkontaktes zwischen den beiden ambitionierten Netzwerkern und Schriftstellern wird, fast anekdotisch, regelmäßig erwähnt.⁹ Zweig selbst beschreibt sie in seiner Autobiografie ohne Datierung wie folgt: Eines Tages erschien nun in der „Zukunft“ eine Reihe von Aphorismen, die mit einem mir nicht mehr erinnerlichen Pseudonym gezeichnet waren und mir durch besondere Klugheit sowie sprachliche Konzentration auffielen. Als ständiger Mitarbeiter schrieb ich an Harden: „Wer ist dieser neue Mann? Seit Jahren habe ich keine so gut geschliffenen Aphorismen gelesen.“ Die Antwort kam nicht von Harden, sondern von einem Herrn, der Walther Rathenau unterschrieb und der, wie ich aus seinem Briefe und auch von anderer Seite erfuhr, kein anderer war als der Sohn des allmächtigen Direktors der Berliner Electrizitätsgesellschaft [...]. Er schrieb mir sehr herzlich und dankbar, mein Brief sei der erste Zuruf gewesen, den er für seinen literarischen Versuch empfangen hätte.¹⁰
Nach diesem Erstkontakt sei man, so Zweig weiter, in brieflicher Verbindung geblieben. Er habe Rathenau fortan zur literarischen Betätigung ermutigt, bis er ihn bei einem Berlin-Besuch erstmals traf, am Vorabend von dessen Abreise nach Afrika. Über diese Begegnung, die er bereits 1923 ähnlich beschrieb, heißt es dann: „Wir plauderten bis zwei Uhr morgens. Um sechs Uhr reiste er – wie ich später erfuhr, im Auftrag des deutschen Kaisers – nach Südwestafrika.“¹¹ Rathenau verbrachte den Sommer 1907 in Afrika, und da man sich länger kannte, könnte Stefan Zweig also ein besonders früher Entdecker gewesen sein. Zu dieser Annahme würde passen, dass Zweig vor dessen Schreiben nie von Walther Rathenau gehört haben will und man zudem versucht ist, die von ihm gelobten Aphorismen für Rathenaus ersten literarischen Versuch zu halten. Nach Zweigs erstem autorisierten Biograf, Ernst Rieger, ist er sogar der erste, der auf Rathenaus schriftstellerisches Talent verweist.¹² Spätere Biografen und Herausgeber haben diese These, etwas abgeschwächt, übernommen und die Erstbegegnung entspre-
9 Vgl. für die Zweig-Forschung Anm. 2. Für die Rathenau-Forschung siehe z. B. Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 3), S. 156. 10 Zweig, Welt von Gestern (wie Anm. 1), S. 209f. 11 Zweig, Welt von Gestern (wie Anm. 1), S. 210. 12 Rieger, Erwin: Stefan Zweig. Der Mann und das Werk. Berlin 1928, S. 204 (auch S. 104). Dass der als bescheiden geltende Zweig und seine erste Frau Friderike diesen heroisierenden Text freigegeben haben, geht aus unveröffentlichten Briefen von Erwin Rieger in der Stefan Zweig Collection der Reed Library, Fredonia, hervor und verdiente einer gesonderten Betrachtung.
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chend auf Juni 1907 festgeschrieben. Seither wurde sie immer wieder aufgegriffen und nacherzählt.¹³ Tatsächlich schreibt Maximilian Harden jedoch erst am 23. August 1907 an Walther Rathenau: „Der Mann, dessen Brief an Reinhart ich einlege, ist ein (jungjüdischer) Lyriker und Schriftsteller; vielgereist; so zwischen Verhaeren und Hofmannsthal, aber mehr nach der belgischen Seite.“¹⁴ Der Empfänger bedankt sich am 28. September mit einer Postkarte aus Deutsch-Ostafrika: „Herzlichen Dank, verehrter Herr Zweig, für Ihre an Reinhart gerichteten gütigen Zeilen. Ich will sie von Berlin aus beantworten und würde mich aufrichtig freuen, wenn ich Sie dort einmal begrüßen dürfte. In aufrichtiger Verehrung für Sie und Ihre Kunst, W. Rathenau.“¹⁵ Rathenau verliert demnach kein Wort über einen ersten Zuspruch.¹⁶ Zweig, seit 1901 regelmäßig vor allem mit seiner Lyrik in Hardens Zukunft vertreten, hatte auf Hundert ungeschriebene Schriften von Ernst Reinhart reagiert, die am 13. Juli 1907 erschienen waren. Dieses Pseudonym benutzte Rathenau, der im gleichen Medium schon zehn Jahre zuvor mit seinem Klarnamen als Autor in Erscheinung getreten war, seit 1903 regelmäßig, sodass es als offenes Geheimnis galt, wer sich dahinter verbarg.¹⁷ Weder Reinhart noch Rathenau war ein „neuer Mann“ bei der Zukunft. Zudem hatte er bereits 1902 unter seinem Namen ein erstes Buch, Impressionen, veröffentlicht. Die Geschichte der Entdeckung eines Autors, der gerade erste literarische Schritte versucht, ist damit hinfällig. Auch die nachträgliche Datierung der Erstbegegnung auf Juni 1907 ist nicht länger zu halten. Sie kann frühestens vor Rathenaus zweiter Afrikareise im Jahr 1908 stattgefunden haben. Zwar drückt Rathenau – und wahrscheinlich auch Zweig – schnell den Wunsch nach einem Treffen aus, es kam aber nicht dazu. Erst verpasste man sich im November 1907 in Rom, dann verschob sich die Premiere von Zweigs Drama Tersites, anlässlich der er nach Berlin reisen wollte, durch die Krankheit des Hauptdarstellers immer weiter nach hinten. In der Zwischenzeit schreibt Rathenau von Plänen, ein „Zweites Hundert ungeschriebener Schriften“ veröf-
13 Siehe Anm. 2. 14 WRG, Bd. VI. Briefwechsel 1897–1920. Walther Rathenau – Maximilian Harden. Hrsg. v. Hans Dieter Hellige und Ernst Schulin. München/Heidelberg 1983. Brief Nr. 210, S. 536. 15 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 28. September 1907, Archiv der Jewish National and University Library [im Folgenden: JNUL, ARC], Sign. Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 16 Dieter Heimböckel hat im Zusammenhang mit Zweigs Schilderung darauf verwiesen, dass Rathenau bereits vorher ein Lob von Max Wedekind weitergeleitet bekommen hatte. Vgl. Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 3), S. 156, Anm. 178. 17 Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 3), S. 109, Anm. 5.
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fentlichen zu wollen, wobei er auch Zweigs Zuspruch als Motivation nennt: „Sie sind etwas schuld, dass ich eine neue kleine Collektion für die Zukunft zusammen stelle.“¹⁸ Denkbar ist, dass Zweig diese Worte später zum Anlass genommen hat, sich als ersten Fürsprecher darzustellen. Ende Dezember verschickt Rathenau seinen Aufsatz Von Schwachheit, Furcht und Zweck, der Zweig erklären soll, was er sich unter Ethik vorstelle. Er bittet ihn auch um ein Exemplar des Tersites und schreibt: „Wollen Sie wirklich erst in zwei Monaten kommen? Ich hoffte, im Februar spätestens.“¹⁹ Im April 1908 – Zweig ist mittlerweile sehr verärgert von den Verzögerungen am Königlichen Schauspielhaus – fragt Rathenau, der Zweig „den ganzen März über [...] in Berlin erwartet“²⁰ haben will, nochmals nach. Er kündigt außerdem seine Abreise Anfang Mai sowie sein neues Buch Reflexionen an. Anfang Mai wiederum zieht Zweig sein Stück ganz zurück, nachdem die Premiere mit einem Ersatzschauspieler angekündigt wurde, ohne dass man ihn informiert hatte. Er korrespondiert darüber mit dem Direktor des Theaters, letztmals am 7. Mai, ohne eine geplante Reise nach Berlin zu erwähnen.²¹ Tatsächlich hat er aber in den Folgetagen erst in Berlin und dann in Leipzig Freunde getroffen, sodass eine Begegnung mit Rathenau ein oder zwei Nächte vor dessen Abreise möglich war.²² Am 12. Mai trifft Rathenau in London ein und reist von dort weiter;²³ seine nächste Nachricht ist eine Anfang Juli datierte Postkarte von den Viktoria-Falls.²⁴ Ob Stefan Zweig während dieser wohl tatsachengetreu geschilderten Erstbegegnung jedoch die vielzitierte „erste Anregung“ bekommen hat, „einmal nach Indien und nach Amerika“²⁵ zu fahren, darf bezweifelt werden. Zwar beginnt er um die gleiche Zeit, sich durch das Studium einschlägiger Literatur auf eine Indienreise vorzubereiten. In seinem am 28. Juli 1908 im Leipziger Tageblatt ver-
18 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 18. November 1907, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 19 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 27. Dezember 1907, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 20 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 5. April 1908, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 21 Stefan Zweig an Ludwig Barnays am 4. Mai 1908 und 7. Mai 1908. In: Stefan Zweig. Briefe. Bd. I: 1897–1914. Frankfurt a. M. 1998, S. 166–169. 22 Für den Hinweis auf zwei unveröffentlichte Schreiben – einen Brief vom 11. Mai aus Leipzig und eine mir mittlerweile vorliegende Postkarte an Franz Servaes vom 12. Mai, auf welcher Zweig erklärt, gerade von Treffen mit Freunden aus diesen Städten zurückgekehrt zu sein (Wienbibliothek, Sign. H.I.N. 137458) – danke ich Michèle Schilling, Uerikon (Schweiz). 23 Rathenau, Walther: Tagebuch 1907–1922. Düsseldorf 1967, S. 89. 24 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 4. Juli 1908, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. 25 Zweig, Welt von Gestern (wie Anm. 1), S. 213
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öffentlichten Feuilleton Sehnsucht nach Indien, einer Sammelbesprechung seiner Lektüre, heißt es aber: „Seit manchem Jahr lockt mich der Gedanke nach Indien, dem alten Wunderlande. Und so, mit dem festen Entschluss einer Reise, habe ich mir eine Reihe von Büchern auf den Tisch gelegt, [...].“²⁶ Wahrscheinlicher ist, dass Zweig und Rathenau sich – so kurz vor Rathenaus Abreise fast zwangsläufig – allgemeiner über das Reisen und fremde Kulturen ausgetauscht haben. Zweig war, wie Rathenau schon von Maximilian Harden wusste, selbst viel gereist, wenn auch bislang nur in Europa. Seit Ende der Schulzeit hatte er sich mit Reiseplänen getragen, das Jahr nach der Promotion mit Auslandsaufenthalten verbracht und ab 1902 immer wieder Reiseberichte veröffentlicht. Es ist gut möglich, dass Rathenau ihn zusätzlich motiviert hatte, Europa zu verlassen. Der Wunsch nach einer Fernreise war aber bestimmt schon bei Zweig vorhanden, sodass er Rathenau höchstens eine Bestätigung verdankte. Sein Indien-Feuilleton ist dennoch die erste öffentliche Bezugnahme auf Walther Rathenau. Im Rahmen eines Vergleiches mit Alfred Meebold, Autor eines der von Zweig besprochenen Bücher, schreibt er: „Er [Meebold, Anm. d. Verf.] ist einer jener neudeutschen Kaufmannsgenerationen, in der das innere scharfe Bewußtsein zu literarischer Äußerung neigt, etwa wie bei Walther Rathenau, der edelsten Reinkultur dieses wertvollen Typus.“²⁷ Dass der schriftstellernde Unternehmer den jungen Dichter sehr beeindruckt haben muss, zeigt auch seine am 18. September 1908 erschienene, begeisterte Rezension von Rathenaus im Frühjahr veröffentlichten Reflexionen.²⁸ Er geht dabei jedoch weniger auf den Inhalt des Textes ein als auf den Autor, in dem er den geistigen Menschen einer neuen, über das Materielle erhabenen Generation verkörpert sehen will, die er enthusiastisch begrüßt. Es ist durchaus denkbar, dass er mit der Veröffentlichung dieser Hymne, zumindest in der renommierten Neuen Freien Presse, bis zur Rückkehr ihres Protagonisten gewartet hat. Schon einen Tag später, Zweig muss Rathenau inzwischen von seinen gediehenen Indien-Plänen und einem Vortrag in Berlin im November berichtet haben, schreibt der gerade Zurückgekehrte: „Ihr Feuille-
26 Zitiert aus: Zweig, Stefan: Auf Reisen. Frankfurt a. M. 2008, S. 97. 27 Zweig, Auf Reisen (wie Anm. 26), S. 99. 28 Zweig, Stefan: „Der Kaufmann und der Künstler“, Neue Freie Presse (18. 9. 1908), S. 1–3. Dieter Heimböckel nennt Zweigs anhaltende Begeisterung für „Hundert ungeschriebenen Schriften“ „den eigentlichen Anlass für seine ausgedehnte Würdigung der im darauffolgenden Jahr veröffentlichten ,Reflexionen‘“. Siehe: Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 3), S. 160. Er bezeichnet außerdem zwei weitere, nicht namentlich gezeichnete Rezensionen in „Das kleine Journal“ (Jg. 30, Nr. 19) und „Die Propyläen“ (Wochenschrift der Münchener Zeitung, August 1908) als Zweigs (vgl. S. 161, Anm. 196).
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ton hat mich seltsam gefasst“, lobt außerdem Zweigs Balzac-Buch²⁹ und bestätigt einen Termin, an welchem man auch über Indien sprechen werde.³⁰ Zweigs Fernreise ist mittlerweile fest geplant und wird im Anschluss an die Vortragstournee beginnen. Am 8. November bestätigt Rathenau die Verabredung für den 12. und verspricht „wirksame Einführungen“³¹ für Indien, die er ihm einige Tage später nach Wien sendet. Bis März 1909 ist Zweig daraufhin verreist, auch im Anschluss bleibt der Kontakt unregelmäßig. Im Juli reagiert Rathenau lobend auf sein Essay Die indische Gefahr für England.³² Zweigs Analyse der Situation im Kolonialreich verweist auf die Ursachen aktueller Spannungen sowie auf deren Auswirkungen für die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und England. Rathenau konstatiert, Zweig werde „den Römern unserer Zeit gerecht“.³³ Ein Schreiben im November deutet auf ein kurzfristig vereinbartes Treffen in Berlin; der nächste überlieferte Kontakt datiert erst knapp zwei Jahre später. Zweig informiert Rathenau am 4. Oktober 1911 von Berlin aus über seine aktuelle Anwesenheit und schreibt außerdem, dass er auf der Rückreise von Amerika nach Paris gefahren und so „um den geplanten Besuch“ gekommen sei.³⁴ Nach dieser schon im April beendeten Fahrt zum, wie man meint, „zweite[n] Reiseziel, das Rathenau empfohlen hatte“,³⁵ gab es demnach keinen Kontakt. Rathenau antwortet prompt und lädt ihn in sein Schloss nach Freienwalde ein, inklusive Übernachtung: „Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ich mich freuen würde, Sie dort zu begrüßen.“³⁶ Zweig bestätigt den Termin, möchte aber bereits am Abend zurück nach Berlin fahren.³⁷
29 Wahrscheinlich: Balzac, Honoré de: Balzac. Sein Weltbild aus den Werken. Hrsg. und mit einem Vorwort von Stefan Zweig. Stuttgart 1908. 30 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 19. September 1908, (wie Anm. 15), ARC Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 31 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 8. November 1908, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 32 Neue Freie Presse (13. 7. 1909), S. 2–4. 33 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 22. Juli 1909, JNUL, ARC Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 34 Stefan Zweig an Walther Rathenau am 4. Oktober 1911, Sonderarchiv Moskau, Fond 634, Opis 1, Nr. 174. 35 Matuschek, Drei Leben (wie Anm. 2) S. 89. Vgl. auch Prater, Leben eines Ungeduldigen (wie Anm. 2), S. 78. 36 Brief vom 5. Oktober 1911, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 37 Dies geht aus einem undatierten Brief von Stefan Zweig an Walther Rathenau auf dem Briefpapier des Berliner Hotels Fürstenhof hervor (Sonderarchiv Moskau, Fond 634, Opis 1, Nr.
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In Freienwalde hat Rathenau wahrscheinlich von seinem neuen Buch Zur Kritik der Zeit erzählt, und es folgt kurzzeitig eine etwas intensivere Korrespondenz. Zweig wird das Buch erst im Juni in der Neuen Freien Presse besprechen³⁸, muss dieses Vorhaben aber bereits zum Zeitpunkt von Rathenaus Gratulation zu Zweigs 30. Geburtstag angekündigt haben. Es ist aufschlussreich, den Inhalt dieses Briefes ausführlich wiederzugeben. Rathenau schreibt:³⁹ „Auch danke ich Ihnen für die Absicht, über mein Buch zu schreiben, obwohl ich nicht weiss, ob Sie mir damit Gutes thun. Bisher habe ich in einer seltsamen Anonymität gelebt, [...].“ Viele seiner Kontakte in der Wirtschaft würden an seinem „Gesundheitszustand“ zweifeln, wenn er ihnen auf die Frage, warum er Bücher schreibe, antwortete: „Das ist mein Leben, das andere ein Spiel.“ Seine bisherigen „Bücher waren wie in einer Geheimschrift geschrieben“, man verzeihe ihm seine „krausen Schrullen in Anbetracht dessen, dass man mich in der Verwaltung meiner Industrien brauchbar fand“, kaum jemand habe „auch nur einen Aufsatz“ von ihm gelesen, auch seine Literatenfreunde nicht. Er sei unter Künstlern als jemand mit „dilettantischen Interessen“ geduldet, man denke „einigermaßen verächtlich vom industriellen und finanziellen Leben, weil Einer, der mit bescheidenen Mitteln in Architektur, Naturwissenschaft und Schreiberei dilettirte, auf diesem, sonst ernst betrachteten Gebiet Erfolge haben konnte“. Man halte ihn für „nicht ganz seriös“. Er habe auf diese Weise „unbeobachtet, ungeschwächt, ununterbrochen und leise zu Kindern und Enkeln sprechen können“, täuscht sich aber nicht über die Meinung der übrigen Zeitgenossen, denn: „Wer sein Leben lang Gedanken gebraut und manchen in die Wirklichkeit übersetzt hat [...] weiss, dass andere sich mit Dingen plagen, die für ihn erledigte Voraussetzungen sind.“ Er schließt: Diese Erwägungen, die ich nie zuvor gesprochen habe – werden Sie sie als Grössenwahn ansehen? Ich kann’s nicht glauben, denn Sie sind ein Dichter und wissen im menschlichen Herzen wahres und gefälschtes zu sondern. Ich aber sage mir: wenn nun zum ersten Mal ein Mensch von Bedeutung über mein Buch schreibt; wie ich glaube, manches billigt, und damit dem Buch und Autor einen Rang giebt: ist es dann nicht am Ende vorbei mit der Anonymität, der Tarnkappe, der Narrenfreiheit? Denken Sie das durch, lieber Freund, und wenn Sie dann schreiben, so loben Sie mich nicht – oder nur als Kaufmann.
174). 38 Zweig, Stefan: Walter Rathenaus „Kritik der Zeit“, Neue Freie Presse (12. 6. 1912), S. 1–3. 39 Im Folgenden wird aus einem Brief Walther Rathenaus an Stefan Zweig vom 28. November 1911 zitiert, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3).
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Rathenau stilisiert sich gegenüber Zweig als jemand, der dem Großteil der Menschen in seinen Erkenntnissen weit voraus ist. Nur von einer neuen Generation, zu der er den jüngeren Zweig zählt, darf er hoffen, verstanden zu werden.⁴⁰ Zweig wiederum nennt er so bedeutend, dass er ihn durch seine Prominenz aus der schützenden Anonymität reißen kann, denn, so liest es sich, die Welt ist noch nicht bereit für die Wahrheit. Im eklatanten Widerspruch zu dieser Prognose steht die enorme Rezeption dieses Buches: Schon im ersten Jahr erscheinen mehr als 50 Rezensionen und sieben Auflagen⁴¹ (Zweig selbst ergreift wie erwähnt erst spät das Wort). Es ist schwer vorstellbar, dass Rathenau von diesem Erfolg so überrascht wurde, wie es nach dieser Schilderung anzunehmen wäre. Auch war Rathenau spätestens seit den Reflexionen nicht mehr so unbekannt, wie er sich darstellt.⁴² Wenig später, im Januar 1912, schreibt Rathenau in Bezug auf Zweigs bereits sechs Monate zuvor erschienenen Essay zum Panamakanal:⁴³ „Sie nähern sich jetzt [...] dem Pol des Willens. Hierin begegnen wir uns: den einen Hebel auf die Seele gestützt, den anderen auf den Willen, das ist die Gegenkraft, die unsere Zeit verlangt.“⁴⁴ Es ist anzunehmen, dass Rathenau auf die von ihm in Zur Kritik der Zeit beschriebenen Folgen der Mechanisierung rekurriert, um damit abermals eine Parallele zu Zweig anzuzeigen. Vielleicht hat Zweig, der den Bau des Panamakanals als heroische Meisterleistung menschlicher Tatkraft und Paradebeispiel des technischen Fortschritts wortgewaltig in Szene setzt, ähnlich gedacht und ihm den Text als erste Reaktion auf das am 11. Januar erschienene Buch geschickt.⁴⁵ Es folgt eine Begegnung am 4. März auf einer Gesellschaft, zu der Zweig anlässlich einer Vortragsreise mit dem belgischen Dichter Emile Verhaeren
40 Christian Schölzel verweist auf diesen Brief zur Unterstützung seiner These, dass der schriftliche Dialog für Rathenau eine konspirative Bedeutung hatte. Schriftlich habe sich der im persönlichen Umgang distanzierte Rathenau freier ausdrücken können. Vgl. Schölzel, Rathenau Biographie (wie Anm. 4), S. 82. 41 Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 3), S. 182. 42 Dieter Heimböckel widerspricht in seiner Untersuchung der Rezeption der Reflexionen u. a. der Darstellung Harry Graf Kesslers, nach der dieses großformatige Buch kaum beachtet worden sei. Tatsächlich habe es überwiegend positive Besprechungen, auch in wichtigen Publikationen gegeben (Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 3), S. 161–165). 43 Zweig, Stefan: „Die Stunde zwischen zwei Ozeanen. Der Panamakanal“, Neue Freie Presse (6. 7. 1911), S. 1–4. 44 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 22. Januar 1912, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 45 Rathenau, Tagebuch (wie Anm. 23), S. 154.
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geladen hatte.⁴⁶ Im Anschluss ist bis auf ein Telegramm Rathenaus mit Dank für die „meisterhafte Besprechung“⁴⁷ von Zur Kritik der Zeit, ein weiteres kurzes Dankschreiben im November nach Erhalt einer Buchsendung mit Ausdruck der Vorfreude auf ein Treffen sowie einigen kurzen Briefen, die auf eine weitere, wiederum kurzfristig von Zweig vereinbarte Verabredung am 29. Januar 1914 deuten, bis zum Beginn des Weltkrieges kein Kontakt überliefert.⁴⁸ Im Oktober 1914 wendet sich Stefan Zweig mit zwei Anliegen an Rathenau. Er korrespondiert inzwischen mit dem französischen Schriftsteller und Kriegsgegner Romain Rolland, der sich für das Rote Kreuz in der Schweiz engagiert, über den Austausch von Listen ziviler Gefangener zwischen den Kriegsnationen und ist begeistert von dessen Idee einer Friedenskonferenz in Genf. Rathenau, den er „den tüchtigsten und einflussreichsten Menschen“⁴⁹ nennt, soll bei den Listen behilflich sein und außerdem bei Gerhart Hauptmann, den er für die Konferenz als Abgesandten Deutschlands gewinnen möchte, vermitteln. Rathenau lehnt jedoch schon die Weiterleitung der Frage an Hauptmann ab, da er sich nicht mit Rollands Anregung identifizieren könne. Es klingt durch, dass er nichts davon hält „hinter der Front zu stehen und Ansprachen zu halten“.⁵⁰ Sogar die Vermittlung bei den Gefangenenlisten lehnt er mit Verweis auf seine Arbeitsbelastung ab, obwohl er Rollands Bemühungen immerhin „dankenswert“ nennt. In einem beigefügten Schreiben an Frederik van Eeden, der ihm in gleicher Angelegenheit einen Brief von Rolland weitergeleitet hatte, wird er deutlicher: „Rolland hat Partei genommen; er ist kein Herold mehr. Auch ich bin es nicht mehr; schon deshalb kann ich Ihrem Wunsch nicht dienen.“⁵¹ Rathenau, der
46 Rathenau, Tagebuch (wie Anm. 23), S. 160. 47 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 14. Juni 1912, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 48 Zweig war wahrscheinlich um den 28. 11. 1912 in Berlin und hat möglicherweise auch Rathenau getroffen. Vgl. Zweig, Briefe, Bd. I (wie Anm. 21), Anm. 8 zum Brief an Julius Bab vom 10. 11. 1912, S. 514. Ein am 18. 11. ohne Jahreszahl datierter Brief Zweigs an Rathenau kündigt seine Anwesenheit von Dienstag bis Freitag an und würde zu diesem Aufenthalt passen (Sonderarchiv Moskau, Fond 634, Opis 1, Nr. 174). Für das Treffen im Januar 1914 siehe: Walther Rathenau an Stefan Zweig am 6. Januar 1914, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305; Stefan Zweig an Walther Rathenau am 22. Januar 1914, Sonderarchiv Moskau, Fond 634, Opis 1, Nr. 174; Walther Rathenau an Stefan Zweig am 26. Januar 1914, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. 49 Stefan Zweig an Romain Rolland am 21. Oktober 1914. In: Romain Rolland/Stefan Zweig, Briefwechsel 1910–1940. Frankfurt 1987, S. 82. 50 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 14. Oktober 1914, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 51 Rathenau spielt wahrscheinlich auf Rollands „Offenen Brief an Gerhart Hauptmann“ an, den dieser am 2. September 1914 im Journal de Génève veröffentlicht hatte. Er fragt dort, ob die
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bereits vor dem Krieg ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein gezeigt und deutsche Hegemonialansprüche vertreten hatte, ist überzeugt, dass der Krieg ausgekämpft werden müsse und Verständigung erst nachher einzusetzen habe. Zweig glaubt dagegen an Vermittlungsmöglichkeiten durch international gesinnte intellektuelle Eliten und hatte Rathenaus Position offenbar falsch eingeschätzt. Fast zwei Jahre scheint nach diesem Dissens abermals der Kontakt abgebrochen zu sein, bis Zweig im September 1916 wieder sehr kurzfristig ein Treffen vorschlägt, das aber nicht stattfindet, weil seine Karte erst bei Rathenau eintrifft, nachdem er Berlin bereits wieder verlassen hat.⁵² Trotz ihrer unterschiedlichen Haltung zur Kriegsfrage ist sich Rathenau der Wertschätzung Zweigs aber so sicher – und schätzt ihn wohl auch als Schriftsteller – dass er ihn dem Reclam-Verlag, der ihn um Autorenvorschläge für ein geplantes Porträt seiner Person gebeten hatte, empfiehlt.⁵³ Im Frühjahr 1917 erscheint daraufhin Walter [!] Rathenau, der Organisator der deutschen Kriegsrohstoffversorgung von Stefan Zweig in Reclams Universum.⁵⁴ Angesichts von Zweigs zunehmend pazifistischer Haltung und seiner Nähe zu den französischen Kriegsgegnern um Rolland – er arbeitet seit längerem an seinem Drama Jeremias, wird im Herbst bis zum Kriegsende in die Schweiz übersiedeln und von dort aus verstärkt für Frieden und Verständigung werben, sogar explizit zum Defätismus aufrufen⁵⁵ – überrascht die überaus heroisierende Darstellung in einem immer noch kriegsbegeisterten redaktionellen Umfeld.⁵⁶ Walther Rathenau, so Zweig, habe als Einziger die Schwachstelle Deutschlands, die knappen Rohstoffe, erkannt und genial gehandelt. Sein Treffen mit dem Kriegsminister nennt Zweig „Geheime[n] Entscheidungstag in diesem
Deutschen Söhne Goethes oder Söhne des Hunnenkönigs Attilas seien und gilt danach national gesinnten Kreisen in Deutschland und Österreich als Gegner. 52 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 8. September 1916, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 53 Walther Rathenau an Reclam am 31. Oktober 1916. In: WRG, Bd. VI (wie Anm. 3), S. 1576. Rathenau nennt neben Stefan Zweig auch Wilhelm Schmidtbonn und Emil Ludwig. 54 Zweig, Stefan: Walter Rathenau, der Organisator der deutschen Kriegsrohstoffversorgung. Reclams Universum, Weltrundschau, H. 22, aufgenommen in: Universum Jahrbuch 1917, Nr. 7, S. 69–75. Im Folgenden werden die Seitenzahlen in Klammern im Text angegeben. 55 Zweig, Stefan: Bekenntnis zum Defaitismus. Friedens-Warte. Blätter für zwischenstaatliche Organisation. Berlin/Leipzig, Juli/August 1918, S. 215–216. Parallel in französischer Sprache in: Les Tablettes. Genf, Juli 1918, S. 7–8. Nachgedruckt z. B. in: Zweig, Stefan: Die schlaflose Welt. Frankfurt a. M. 1990. 56 Die von seinem Text unabhängige Bebilderung zeigt u. a. Bombenkrater als „Beweis für die Treffsicherheit der deutschen Artillerie“, nach dem Beitrag folgen die Chronik des Weltkrieges und der „Zug des Todes“, eine Liste der Gefallenen.
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Kriege“ (72), und schreibt in Bezug auf Rathenaus rechtzeitige Vorsorge bei der Munitionsversorgung: „[…] nur die rechtzeitige Beschaffung des Rohstoffes in Deutschland konnte jenen Vorsprung schaffen, der dann wieder Gorlice schuf, und mit Gorlice wieder die Befreiung Galiziens, das große Wunder des Feldzugs im Osten.“ (74) Walther Rathenau, dessen Tat den „bedeutendsten Schritt zum Staatssozialismus hin bedeutete, der jemals unternommen worden war“ (74) würde auch nach dem Krieg benötigt, „um die Schäden der Wirtschaft zu heilen und das deutsche Nationalvermögen [...] wieder aufzurichten und zu beleben“. (75) Er ruft die Regierenden dazu auf, „ihn in rechter Stunde für sich zu fordern – den Zerbrecher der englischen Blockade, den Bewahrer der deutschen Widerstandsorganisationen, den kaufmännischen Feldherrn des Krieges: Walter [!] Rathenau“. (75) Man könnte annehmen, dieser Text sei im Rahmen von Stefan Zweigs Propagandadienst für das Kriegsarchiv des österreichischen Kriegsministeriums entstanden.⁵⁷ Inwieweit ein Lektor zu der patriotisch-militaristischen Tonalität beigetragen hat, bleibt offen, an dieser Stelle soll dieser Artikel als Freundschaftsdienst gewertet werden. Bemerkenswert ist jedoch, dass Zweig, der meist als unpolitischer und ökonomischen Realitäten eher fernstehender Großbürger wahrgenommen wird, die wirtschaftlichen Folgen des Krieges erkennt und das Wort „Staatssozialismus“ positiv konnotiert verwendet. Dass sich Zweig tatsächlich nicht nur oberflächlich mit wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigt, zeigt auch ein Brief Rathenaus vom Februar 1917. Er geht auf einen Gedanken ein, den Zweig, wahrscheinlich als Reaktion auf Rathenaus Probleme der Friedenswirtschaft, geäußert hätte. Es ist anzunehmen, dass Zweig diese Abhandlung im Zusammenhang mit dem Entwurf seines Porträts studiert hat und sie seinen Ruf nach Rathenaus Mitgestaltung des zukünftigen Wirtschaftssystems zusätzlich motiviert hat.⁵⁸ Rathenau nimmt Zweigs Gedanken „sehr ernst“, habe ihn aber nicht erörtern wollen, da es ihm um die Darstellung von unabhängig vom Kriegsausgang und den politischen Entwicklungen mögliche Wege gegangen sei. Das von Zweig angesprochene Feld scheint ihm sehr schwer, aber zunehmend bedeutend.⁵⁹ Zu Zweigs Porträt jedoch ist keine Reaktion Rathenaus überliefert.
57 Seit Ende 1914 arbeitete Zweig in der so genannten „literarische Gruppe“ des Kriegsarchivs. Er hatte dort die „mehr oder minder heroischen Taten“ einzelner Soldaten „in den höchsten Tönen zu rühmen“ und so Geschichten „über Mut und Tapferkeit der Armee“ zu verfassen. Siehe: Matuschek, Drei Leben (wie Anm. 2) S. 136. 58 Am 18. Februar 1917 empfiehlt er diesen Aufsatz Romain Rolland mit den Worten: „Rathenau ist der wachste, weitsichtigste Mensch, den ich kenne, [...]. Sie werden von diesem Buche tief hineinblicken in die Zeit.“ Rolland/Zweig Briefwechsel (wie Anm. 49), S. 260. Das nur 56 Seiten starke Buch wurde nach einem im Dezember 1916 gehaltenen Vortrag bei S. Fischer veröffentlicht. 59 Im Folgenden: Walther Rathenau an Stefan Zweig am 14. Februar 1917, JNUL, ARC (wie Anm.
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Das nächste Schreiben nimmt im September Bezug auf Jeremias, Zweigs an die Bibelgeschichte angelehnte, dramatische Auseinandersetzung mit Krieg und Gewalt. Zweigs Held idealisiert die Niederlage als moralischen Gewinn. Jeremias bringt damit Zweigs Pazifismus zum Ausdruck, der sich während des Krieges zu einem absoluten Gebot verstärkt hat und ihn sein Leben lang begleiten wird. Obwohl Rathenau eine andere Position lebt, lobt er das Drama enthusiastisch.⁶⁰ Mit Verweis auf „das ganze Gewicht des Unausgesprochenen dieser Jahre“, das beim Lesen ins Bewusstsein gedrängt habe, schreibt er sogar: „Es ergriff mich zu fühlen, wie sehr in diesen Erlebnissen und Erduldungen wir verwandt sind.“ Er dankt Zweig für dessen lobende Besprechung seines Buches Von kommenden Dingen⁶¹ und schreibt weiter: Sie haben recht: so wenig wie eine der früheren Schriften war diese an die Grosse Zahl gerichtet, und die Verbreitung hat mich anfangs verschreckt. Aber hier komme ich abermals auf Ihr grosses Werk: freilich im tiefsten, vernünftigsten Abstand vom Riesenbilde des Propheten. Drei Jahre lang war ich drauf und dran, den Vielen Recht zu geben, die mich von Sinnen hielten; wenn die Zeit und ich uns nähern, so habe nicht ich den ersten Schritt getan; und wiederum muss ich meinen Weg weitergehen, obwohl ich weiss, dass er mich abermals entfernt und entfremdet.
Wieder einmal inszeniert sich Rathenau als Klarsehender, lange verlacht, nun, da seine Prognosen Realität sind, ernst genommen. Er vergleicht sich, obwohl er „Abstand“ einräumt, gar mit Zweigs biblischem Propheten, und er kündigt in pathetischem Duktus an, dass er dennoch Außenseiter bleiben werde, weil er weiter eine von ihm erkannte, aber der Masse unvorstellbare Zukunft vorhersagen werde. Er stilisiert sich so beinahe als Märtyrer, der ein Schicksal erfüllt, ungeachtet des hohen Preises, den er dafür zahlen muss. Ganz aufrichtig ist Rathenau aber auch hier sicherlich nicht. Heimböckel notiert in Bezug auf die kleine Gruppe, für die Rathenau Von kommenden Dingen diesem Brief nach geschrieben haben will, dass er sich gegenüber Max Rudolf „weniger bescheiden“ geäußert habe und das Buch zudem massiv beworben wurde.⁶² Schon der Bestseller Zur Kritik der Zeit war für den S. Fischer Verlag Bestätigung gewesen, das nichtbelletristische Portfolio auszubauen.⁶³ Es ist unwahrscheinlich, dass Rathenau, der
15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 60 Im Folgenden: Walther Rathenau an Stefan Zweig am 14. September 1917, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. Veröffentlicht: WRG, Bd. V,1 (wie Anm. 3). 61 Zweig, Stefan: Blick über die Zeit, Neue Freie Presse (6. 9. 1917), S. 1–3. 62 Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 3), S. 298. 63 Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 3), S. 12 und S. 183.
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in seinem Leben als Industrieller und Politiker alles andere als realitätsfremd agierte, diese Rezeption nicht erwartet und schon beim Abfassen des Textes ins Kalkül gezogen hatte. Der Blick auf Zweigs Tagebuchaufzeichnungen zeigt wiederum, dass Stefan Zweig den ehemaligen Leiter der Kriegsrohstoffabteilung zur gleichen Zeit keineswegs so unkritisch idealisiert, wie es seine Öffentlichkeitsarbeit in Sachen Rathenau vermuten lassen könnte. In der neutralen Schweiz begegnet er im Herbst 1917 dem Künstler Fritz von Unruh, der ebenfalls mit Rathenau bekannt ist. Schnell schätzt er an ihm, der von traumatisierenden Kriegserlebnissen erzählt, „seine Strenge gegen alles Halbe (Rathenau, Hauptmann!)“⁶⁴ und amüsiert sich über von Unruhs Schilderungen „von Rheinhart(!) und Rathenau, dessen Eitelkeit und Dienlichkeit er wunderbar persifliert.“⁶⁵ Zum Kriegsende ärgert sich Zweig über Rathenaus Ein dunkler Tag, den dieser am 7. Oktober 1918 in der Vossischen Zeitung als Reaktion auf das Waffenstillstandsangebot an Präsident Wilson veröffentlicht hatte. Rathenau lehnt diese Bitte ab und fordert „die nationale Verteidigung, die Erhebung des Volkes“ und den Aufbruch aller Kampfbereiten, um „den ermüdeten Brüdern an der Front mit Leib und Seele zu helfen“. Nur mit einer „erneuten Front“ würde man „nicht den Frieden der Unterwerfung“ in Kauf nehmen müssen.⁶⁶ Zweig notiert einen Tag später: Ein blödsinniger Artikel Rathenaus der von einem Nationalheer redet, steht allein für sich, sonst Alles in einem nassen Geplätscher. Die Situation des liberalen Kabinetts ist eine höchst gefährliche: nehmen sie schwere Bedingungen an, so werden sie alle auf Ewigkeit von den Conservativen dafür belastet werden, nehmen Sie sie nicht an, dann ist es eben der Untergang. Mit Liberalismus kommt man eben in einem so vorgeschrittenen Stadium nicht mehr weiter: jetzt muss es Radikalismus sein. Für Deutschland kommen jetzt die bitteren Erkenntnisse.⁶⁷
Zweig sieht wie Rathenau die harten Konsequenzen des Friedens und die Folgen für den Liberalismus. Dessen Hoffnung, die Bedingungen durch eine Stärkung der Front zu mildern, nimmt er jedoch – anders als andere Intellektuelle – nicht einmal ernst.⁶⁸ Offen bleibt, ob er mit der Forderung nach Radikalismus eine
64 Zweig, Stefan: Tagebücher. Frankfurt 1988, S. 261. 65 Zweig, Tagebücher (wie Anm. 64), S. 264. 66 Rathenau, Walther: Ein dunkler Tag, Vossische Zeitung (7. Oktober 1918), Morgenausgabe, S. 1. 67 Zweig, Tagebücher (wie Anm. 64), S. 326. 68 Bei anderen Bekannten Rathenaus kam dieser Artikel durchaus positiv an, auch wenn er ihm später den Ruf als Kriegsverlängerer einbrachte und einer der Gründe für seine Apologie werden sollte. Siehe hierzu: Heimböckel, WR Literatur (wie Anm. 3), S. 332–335.
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sozialistische Wende meint, die kurz darauf erfolglos versucht wird. Er würde damit eine weitere, gegensätzliche Position zu Rathenau, der diese Entwicklung vermeiden wollte, einnehmen. Ungeachtet solcher Vorbehalte bleibt Stefan Zweig nach Kriegsende bei seiner Hoffnung auf eine politische Mitwirkung Walther Rathenaus in der neuen Regierung. Richard Dehmel, mit dem Zweig seit 1902 in Verbindung steht und von dem er sich ebenfalls eine öffentliche Beteiligung gewünscht hätte, schreibt er im Juli 1919: „Warum sind die wichtigsten Menschen wie Rathenau, politische Naturen wie Thomas Mann, wie Heinrich Mann bei den Reichstagwahlen abseits geblieben?“⁶⁹ Dass Rathenau erfolglos versucht hatte, für die Nationalversammlung zu kandidieren,⁷⁰ war ihm offenbar nicht bekannt und passt zur Quellenlage. Denn bis auf ein Schreiben im April 1919, das neben Dank für Zweigs Buch über Emile Verhaeren Vorfreude auf ein Wiedersehen ausdrückt,⁷¹ sind ab September 1917 über dreieinhalb Jahre keine Hinweise auf Kontakt mehr überliefert. Erst im Mai 1921 berichtet Zweig an Rolland: „Ich war drei Stunden bei meinem alten Freund Rathenau (der immer noch sehr pessimistisch ist, nicht für Deutschland allein, sondern für ganz Europa).“⁷² Ein halbes Jahr später, am 17. November, lädt Rathenaus Sekretär, Hugo Geitner, Stefan Zweig für den 20. November, einen Sonntag, zum Tee.⁷³ Zweig, der sich zum Zeitpunkt der Einladung bereits in Berlin befindet, hatte sich offenbar wie üblich kurzfristig gemeldet, obwohl Walther Rathenau, seit 1920 wieder mit offiziellem Amt in der Politik, intensiv in die Verhandlungen über Reparationsleistungen eingebunden ist. Nach einem Parteitag der DDP in Bremen war er bis zum 19. November an den Gesprächen mit der Reparationskommission beteiligt. In seinem Gedenkartikel greift Zweig diese Terminfülle auf, um Rathenaus hohe Konzentrationsfähigkeit und die Tatsache, „daß dieser tätigste Mensch gleichzeitig derjenige war, der immer und für alles Zeit hatte“⁷⁴ zu illustrieren. Er schreibt:
69 Stefan Zweig an Richard Dehmel am 12. Juli 1919. In: Stefan Zweig. Briefe. Bd. II: 1914–1920. Frankfurt a. M. 1998, S. 286. 70 Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 3), S. 372. 71 Zweig war erst im Oktober 1919 für einen Vortrag in Berlin. Vgl. Anm. 8 zum Brief von Zweig an Franz Servaes vom 19. Mai 1919, Zweig, Briefe, Bd. II (wie Anm. 69), S. 590f.). 72 Stefan Zweig an Romain Rolland am 6. Mai 1921. In: Rolland/Zweig Briefwechsel (wie Anm. 49), S. 665. 73 Hugo Geitner an Stefan Zweig am 17. November 1921, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. 74 Zweig, Stefan: Zum Andenken Walter Rathenaus. Zum Jahrestage seiner Ermordung, 24. Juni 1922. Neue Freie Presse (24. 6. 1923), S. 1–3. Zitiert nach: Walther Rathenau. Gedächtnisbild (1922). In: Ders.: Zeiten und Schicksale. Frankfurt a. M. 1990, S. 258.
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Er [Rathenau, Anm. d. Verf.] schrieb, es sei richtig, er habe wenig Zeit, aber ich solle nur Sonntagabend zu ihm kommen, pünktlich war er zur Stelle, und zwischen zwei Konferenzen im Reichsamt und zahllosen Erledigungen war er ganz Ruhe, Überlegenheit und Unbesorgtheit im rein abstrakten Gespräch. Und wieder zwei Tage später, im Hause eines Berliner Verlegers, wo eine kleine Gesellschaft versammelt war, kam er abends um ½10 herein, erzählte Dinge der Vergangenheit mit dem Gleichmut eines lässigen, sorglosen Menschen, plauderte dann noch weiter am Weg bis zur Königsallee (wo ihn die Kugel drei Monate später getroffen hat). Es war ein Uhr in der Nacht, man ging zu Bett, stand in den neuen Morgen auf, und da stand schon in den Zeitungen, dass Walther Rathenau heute mit dem ersten Frühzug nach London zu den Verhandlungen gereist sei.⁷⁵
Zwar fand die erwähnte Gesellschaft beim Verleger Samuel Fischer bereits am 24. November statt und die Vossische Zeitung meldete erst am 28. November, dass Rathenau in London eingetroffen und am Vorabend abgereist sei.⁷⁶ Es erstaunt auch, dass Zweig in einem immerhin zum ersten Todestag erscheinenden Artikel die Zeitspanne zwischen November und Juni mit drei Monaten beziffert. Abgesehen davon hält er sich an durch Briefe an seine Frau Friderike bestätigte Tatsachen.⁷⁷ Ganz anders verläuft die letzte Begegnung in Die Welt von Gestern, wo ein langes Gespräch nur wenige Tage vor dem Mord während einer Autofahrt geschildert wird. Zweig, der sich auf der Durchreise nach Westerland befunden haben will, wo ihn dann wenig später die Todesnachricht erreicht habe, schreibt sogar: Und später erkannte ich auf den Photographien, daß die Straße, auf der wir gemeinsam gefahren, dieselbe war, wo kurz darauf die Mörder dem gleichen Auto aufgelauert: eigentlich war es nur Zufall, daß ich nicht Zeuge dieser verhängnisvollen Szene gewesen. So konnte ich noch bewegter und sinnlich eindrucksvoller die tragische Episode nachfühlen, mit der das Unglück Deutschlands, das Unglück Europas, begann.⁷⁸
Den letzten Satz halte ich für den Schlüssel zum Verständnis dieser den Fakten widersprechenden Darstellung.⁷⁹ Doch vor der Interpretation soll zunächst die Rekonstruktionsarbeit abgeschlossen werden. Drei Tage nach dem Treffen am 20. November sagt Rathenau ein von Zweig zu vermitteln versuchtes Interview
75 Zweig, Gedächtnisbild (wie Anm. 74), S. 259. 76 Vgl. Vossische Zeitung (28. 11. 1921), Morgenausgabe, S. 1. 77 Vgl. Stefan Zweigs Briefe an seine Frau Friderike vom 20. November 1921 und vom 25. November 1921, z. B. veröffentlicht in: Stefan Zweig. Briefe. Bd. III: 1920–1931. Frankfurt a. M. 2000, S. 57–59. 78 Zweig, Stefan: Welt von Gestern (wie Anm. 1), S. 354. 79 Zweig hatte tatsächlich eine Reise nach Sylt geplant, allerdings erst im August. Die Unstimmigkeit der letzten Begegnung erwähnt auch Donald A. Prater. Vgl. Leben eines Ungeduldigen (wie Anm. 2), S. 205.
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ab – die knappe Mitteilung ist gleichzeitig der letzte überlieferte Kontakt.⁸⁰ Nach dem Attentat am 24. Juni 1922 kondoliert Zweig bei Rathenaus Mutter Mathilde⁸¹ und äußert sich auch brieflich gegenüber Freunden entsetzt. An Romain Rolland schreibt er über Rathenau: Sie wissen, dass ich mit ihm durch Jahre enger Bekanntschaft, ich wage fast zu sagen: Freundschaft, verbunden bin. Als ich in Berlin war, empfing er mich, obgleich er am nächsten Tag nach London verreisen mußte, um diese historischen und entscheidenden Verhandlungen in Gang zu bringen, und wir unterhielten uns zwei Stunden lang ganz alleine. Wir haben auch von Ihnen gesprochen, den er sehr mochte und respektierte. Ich habe viele Männer in meinem Leben gekannt, darunter die berühmtesten ihrer Zeit – aber niemals habe ich ein hellsichtigeres, schnelleres Hirn als das seine erlebt. Ein ungeheuerliches Gedächtnis, eine einzigartige Geistesgegenwart, die immer alles bereitstellte: er konnte in perfektem Stil ohne Vorbereitung sprechen, seine Stehgreifrede konnte man zum Druck geben, ohne ein Wort daran zu verändern, und es kam ein herrliches Essay dabei heraus. Er war sehr, sehr ehrgeizig, aber er hatte Recht, es zu sein: Nie hat Deutschland einen Mann von solchen Qualitäten, solcher Überlegenheit als Minister gehabt.⁸²
Die Schmähungen gegenüber Rathenaus Mutter verstören ihn kurz darauf zutiefst. Wieder an Rolland schreibt er: „Das ist nun der Triumph des Nationalismus! [...] Die schlimmsten alldeutschen Lumpen wissen nicht ein Wort gegen seine [Rathenaus, Anm. d. Verf.] persönliche Haltung vorzubringen: aber der politische Wahnsinn, das nationalistische Gift verseucht den Verstand gerade der Jugend. Ja, bald haben wir wieder Krieg.“⁸³ Er schreibt auch: „Die Erinnerung an Tote wie Jaurès, Landauer und Rathenau wird eine zukünftige Jugend stark machen, und es ist unsere Pflicht, ihnen die Größe der Menschen zu zeigen, die es vorzogen, für eine Idee zu sterben, als mit der Kanaille zu leben.“⁸⁴ Auch Rathenaus Familie ist das öffentliche Nachleben des Verstorbenen schnell ein Anliegen. Schon Ende Juli schickt Zweig auf Wunsch von Mathilde Rathenau eine Auswahl der Briefe ihres Sohnes für eine von ihrer Seite geplante
80 Walther Rathenau an Stefan Zweig am 23. November 1921, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. 81 Sonderarchiv Moskau, Fond 634, Opis 1, Nr. 636. 82 Stefan Zweig an Romain Rolland am 25. Juni 1922. In: Zweig, Briefe, Bd. III (wie Anm. 77), S. 68 (Übersetzung: S. 408). Zweig meint wahrscheinlich die Londoner Konferenz vom 29. April bis zum 5. Mai 1921. Seinem Schreiben an Rolland vom 6. Mai 1921 nach könnte er Rathenau kurz vor dessen Abreise getroffen haben (Vgl. Anm. 72). 83 Stefan Zweig an Romain Rolland am 29. Juni 1922. In: Rolland/Zweig Briefwechsel (wie Anm. 49), S. 695. 84 Stefan Zweig an Romain Rolland am 29. Juni 1922. In: Rolland/Zweig Briefwechsel (wie Anm. 49), S. 696.
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Publikation nach Berlin. Er unterstützt das Ziel, „eine durch Gehässigkeit, Erbärmlichkeit und Niedrigkeit vor Deutschland so entstellte Gestalt wie Walther Rathenau in seiner vielfachen Bedeutung sichtbar zu machen“ und habe Schreiben herausgesucht, die ihm „wertvolle Bekenntnisse seiner Persönlichkeit zu enthalten schienen“.⁸⁵ Kurze Verständigungen, aber auch Briefe mit Bezügen zu Zweigs eigenen Arbeiten, deren Veröffentlichung ihm, da sie „zu viel Lob“ enthielten, unangenehm wäre, habe er aussortiert. Am 8. August erhält er die Briefe zurück und wird gleichzeitig „um die übrigen, nach Ihrer Ansicht, allzu schmeichelhaften Briefe“ gebeten.⁸⁶ Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass Zweig noch etwas geschickt hat. Im Dezember wendet sich schließlich Rathenaus ehemaliger Privatsekretär, Hugo Geitner, – nach eigener Aussage vertraulich – an Zweig, um ihm mitzuteilen, dass Mathilde Rathenau so begeistert von Zweigs Drei Meister seines Porträts über Honoré de Balzac, Charles Dickens und Fjodor Dostojewski sei, dass sie nun hofft, Zweig könnte „selbst einmal den Wunsch haben [...], über ihren Sohn eine ähnliche Charakteristik zu schreiben“.⁸⁷ Geitner selbst möchte ebenfalls, „dass eine Wertung für die Nachwelt berufenen Händen übertragen wird“, illustriert zudem den Wert der Mutter als Quelle, die es altersbedingt möglichst bald zu nutzen gälte und bietet gleichzeitig an, ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. Zweig bekundet offenbar umgehend Interesse, denn Geitner schreibt schon eine Woche später: „Frau Geheimrat Rathenau [...] lässt Ihnen für den freundlichen Brief aufrichtig danken, sie wird sich freuen, Sie bei Ihrem nächsten Hiersein zu begrüßen und steht Ihnen zu jeder Auskunft, die sie zu geben ist, gern zur Verfügung.“⁸⁸ Ob und wann ein solches Treffen stattgefunden hat, bleibt jedoch offen. Rathenaus Biograf wird Zweig bekanntlich nicht, sondern er beschränkt sich auf den in der Neuen Freien Presse und im Berliner Börsen-Courier parallel veröffentlichten Gedenkartikel am 24. Juni 1923.⁸⁹ Eingedenk der applaudierenden Buchbesprechungen, dem Reclam-Porträt und der Rolland gegenüber geäußerten Pflicht, das Andenken Rathenaus zu bewahren, mag diese Absage überraschen. Umso mehr, als sich Zweig neben seinen enthusiastischen Porträts von historischen Persönlichkeiten bereits regelmäßig als Laudator von ihm wertvollen Zeitgenossen betätigt hatte, die bekanntesten Beispiele sind Romain Rolland und Emile Verhaeren.
85 Stefan Zweig an Paul Kahn am 31. Juli 1922, Sonderarchiv Moskau, Fond 634, Opis 1, Nr. 696. Paul Kahn, der Bruder von Walther Rathenaus Freundin Lili Deutsch, war Mitarbeiter der AEG und Vertrauter der Familie Rathenau. 86 Paul Kahn an Stefan Zweig am 8. August 1922, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. 87 Hugo Geitner an Stefan Zweig am 8. Dezember 1922, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. 88 Hugo Geitner an Stefan Zweig am 15. Dezember 1922, JNUL, ARC (wie Anm. 15), Ms. Var. 305. 89 Zweig, Gedächtnisbild (wie Anm. 74).
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Der letzte überlieferte Kontakt zu Rathenaus Familie findet im Februar 1928 statt. Zweig hatte Edith Andreae nach Erhalt eines Privatdrucks mit Rathenaus Aphorismen den Vorschlag einer günstigen Ausgabe dieser Texte gemacht. Die Schwester begrüßt die Idee und meint auch, „dass man seine Schriften mehr und mehr dem Volk zugänglich machen muss“, allerdings werde sie in den nächsten Jahren kaum Zeit dafür finden.⁹⁰ Die Auswertung dieser Quellen zeigt, dass Zweig auch bei den Hinterbliebenen als Fürsprecher und Nahestehender des Verstorbenen galt, der weiter für Rathenaus Andenken verwendet werden sollte. Dabei existieren für einen Zeitraum von über 14 Jahren kaum eine Handvoll ausführlicherer Briefe und Hinweise auf höchstens zehn Begegnungen. Obwohl er von der Terminfülle Rathenaus weiß und dieser ihn mehrfach um rechtzeitige Nachricht bittet, meldet sich Zweig fast immer sehr kurzfristig. Die Vermutung, dass die Begegnungen für ihn keine Priorität hatten, liegt entsprechend nahe. Immer wieder bricht der Kontakt über Jahre ab, und es ist unwahrscheinlich, dass Zweig, der auch Postkarten und kurze Verständigungen in seine 1933 der Jüdischen Nationalbibliothek in Jerusalem überlassene Korrespondenzsammlung aufgenommen hat, ausführlichere Briefe aussortiert hat. Es ist daher auch nahezu auszuschließen, dass noch ein Austausch nach dem Vertrag von Rapallo, überhaupt nach Rathenaus Übernahme des Außenministerpostens stattgefunden hat. Zweig hätte den historischen Wert eines solchen Dokuments unbedingt erkannt und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufbewahrt. Im Folgenden geht es auf Basis dieser historischen Rekonstruktion um die Einordnung von Zweigs Darstellungen, mit Schwerpunkt auf die bis heute in Öffentlichkeit und Forschung rezipierte Autobiografie. In seinen Studien über Die Welt von Gestern hat Mark Gelber die Rolle von Berlin und Theodor Herzl in diesem Text untersucht und nachgewiesen, dass die vermeintliche Intimität mit Herzl sowie geschilderte Begegnungen nicht den Tatsachen und auch Zweigs Schilderungen von Berlin um die Jahrhundertwende nicht seiner damaligen Wahrnehmung entsprechen.⁹¹ Er schlussfolgert, dass Zweig in seiner Autobiografie vermittels eines „sehr komplizierten literarischen Verfahrens“⁹² bestimmte Schlüsselfiguren wählt, mit denen er seine Geschichte – die eines vormals freien, geistig lebendigen Europas, das sich in ein Europa des Antisemitismus, des Faschismus
90 Edith Andreae an Stefan Zweig am 16. Februar 1928, Sonderarchiv Moskau, Fond 634, Opis 1, Nr. 696. 91 Gelber, Zweig in Berlin (wie Anm. 5) und Gelber, Mark H.: Autobiography and History: Stefan Zweig, Theodor Herzl and Die Welt von Gestern. In: Leo Baeck Institute Year Book 57 (2012). 92 Gelber, Zweig in Berlin (wie Anm. 5), S. 86.
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und des Krieges verwandelt – erzählt.⁹³ Gelbers Vorschlag lässt sich auch auf Walther Rathenau übertragen, wobei er aus meiner Sicht zwei Funktionen erfüllt: Rathenau verkörpert den Einzelnen, dessen Schicksal sich mit der Geschichte verknüpft, so wie Zweig es mit großem Erfolg in seinen Sternstunden der Menschheit⁹⁴ illustriert hatte – und er fungiert, wie Theodor Herzl, als Mentor für den jungen Autor. Zweig zeichnet aber auch das Bild seiner eigenen Bedeutung als Entdecker und Förderer Rathenaus. Die Sternstunde kommt zum Ausdruck, wenn Zweig den Rathenau-Mord mit dem beginnenden nationalsozialistischen Terror und dem politischen Bankrott der Weimarer Republik verbindet. Er illustriert das Deutschland vor dem Mord als geradezu gesund, mit einer im Vergleich zu der österreichischen Krone „großartig“ stabilen Währung, pünktlichen Zügen, sauberen Hotels, Neubauprojekten und der „tadellose[n], lautlose[n] Ordnung, die man im Vorkrieg gehaßt und im Chaos wieder schätzengelernt“ hat.⁹⁵ Am Tag des Attentats wird er Zeuge heitersten Treibens am Strand in Westerland, „wie an jenem Tage, da Franz Ferdinands Ermordung gemeldet wurde“. (355) Mit der Mordnachricht bricht Panik aus, und es beginnt „der wahre Hexensabbat von Inflation“. (355) Das Land versinkt im Chaos, und dieses Chaos setzt Zweig dramatisch in Szene. Er schreibt: „Alle Werte waren verändert und nicht nur im Materiellen; die Verordnungen des Staates wurden verlacht, keine Sitte, keine Moral respektiert, Berlin verwandelte sich in das Babel der Welt.“ (356) Eine allumfassende Entwertung, Enthemmung und Entfesselung dunkelster Triebe – all das ist bei Zweig unmittelbare Folge des RathenauMordes, der damit zur „Weltminute“⁹⁶ wird. Dies auch durch den Vergleich mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger im Juli 1918, der Rathenaus Schicksal unmittelbar mit dem Kriegsausbruch von 1939 in Verbindung bringt. Diesen Kausalzusammenhang verdeutlicht auch Zweigs Einführung der Figur Walther Rathenau. Demnach habe ihm, der „in einer der tragischsten Epochen das Schicksal des
93 Vgl. auch: Gelber, Autobiography (wie Anm. 91), S. 33. 94 Stefan Zweigs unter diesem Titel gesammelte und bis heute erfolgreiche historische Miniaturen illustrieren „solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist.“ Siehe: Zweig, Stefan: Sternstunden der Menschheit, Frankfurt 2006, S. 8. Das Wort Sternstunde hat im Zusammenhang mit dem Rathenau-Mord bereits Donald Prater verwendet, vgl. Zweig, Leben eines Ungeduldigen (wie Anm. 2), S. 205. 95 Zweig, Welt von Gestern (wie Anm. 1), S. 352. Im Folgenden werden die Seitenzahlen in Klammern im Text angegeben. 96 In Anlehnung des Titels einer Miniatur Stefan Zweigs: „Die Weltminute von Waterloo“. Vgl. Zweig, Sternstunden (wie Anm. 94).
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Deutschen Reiches zu meistern hatte“, „der eigentlich erste Mordschuss der Nationalsozialisten elf Jahre vor Hitlers Machtergreifung getroffen“.⁹⁷ Anzumerken bleibt, dass Zweig diesen Mord nicht erst rückblickend im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sieht, sondern schon in seiner ersten Reaktion an Rolland einen weiteren Krieg vorausgesehen hat.⁹⁸ Auch ist die Währung nach dem Mord tatsächlich eingebrochen.⁹⁹ Das darauffolgende Inflationschaos wird von Zweig zwar vereinfachend und moralisierend in Szene gesetzt. Es hat der Stabilität der jungen Weimarer Republik aber de facto großen Schaden zugefügt. Wichtig ist zudem, dass Zweig die Figur Walther Rathenau, trotz ihres weltgeschichtlichen Schicksals und bei aller enthusiastischen Hervorhebung ihrer Wachheit, Intelligenz und Konzentrationsfähigkeit, ihrer politischen Leistungen und ihrem Talent, nicht als Ideal darstellt. Er schreibt vielmehr: „Seine Existenz war ein einziger Konflikt immer neuer Widersprüche“, (211) und nennt sämtliche Eigenschaften, die Rathenau bis heute attestiert und, wie beschrieben, auch in Zweigs Formulierung gern zitiert werden, u. a. sein ambivalentes Verhältnis zum Judentum, die Widersprüche zwischen seinen demokratischen Idealen und seiner Tendenz zur Aristokratie sowie die aus diesen Konflikten resultierende Einsamkeit und Unpersönlichkeit seines Lebens. Auch sei es Rathenau nicht gelungen, „der eigenen Eitelkeit Herr [zu] werden“. (212) Bei aller Bewunderung und allem Respekt ist Rathenau für Zweig nicht seiner Natur nach ein Held. Erst durch seine große Aufgabe, „den zerrütteten Staat aus dem Chaos wieder lebensfähig zu gestalten, wurden plötzlich die ungeheuren potenziellen Kräfte in ihm einheitliche Kraft.“ (212) Nur durch die Erfüllung seines Schicksals durch das Amt, dass er „nicht leichten Herzens und noch weniger gierig und ungeduldig“, (353) sondern klar sehend und pflichtbewusst angenommen habe, wird er zum Heros. Betrachtet man Zweigs öffentliche Rathenau-Rezeption von 1908 bis 1941, so zeigt sich, dass hier eine Entwicklung stattfindet. 1908 steht Rathenau noch exemplarisch und uneingeschränkt für den „Edeltyp“ einer neuen, nur noch ideellen Werten verpflichteten Elite. Er lebe vor und beschreibe „wie Geistiges im Materiellen wirkt, wie das Ethische ein geradezu berechenbarer Faktor des Volkswohlstandes werden kann“.¹⁰⁰ 1912 vergleicht er Zur Kritik der Zeit immer noch überaus lobend mit Spinozas Ethik und stimmt Rathenaus Thesen unein-
97 Zweig, Welt von Gestern (wie Anm. 1), S. 209. Im Folgenden werden die Seitenzahlen in Klammern im Text angegeben. 98 Siehe Anm. 83. 99 Schölzel, Rathenau Biographie (wie Anm. 4), S. 377. 100 Zweig, Rezension Reflexionen (wie Anm. 28), S. 2.
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geschränkt zu. Allerdings schreibt er auch, dass Dichter dies alles längst erkannt und bejaht hätten. Er endet: „Und sie sind im Recht, hier zu bejahen, wo der Kritiker der Tatsachen [Rathenau, Anm. d. Verf.] noch bangt und zögert. Denn von allem Anbeginn sind die Dichter die wahrhaft Wissenden um alle Werte und Wandlungen der Welt.“¹⁰¹ Ein Dichter ist Rathenau in den Augen des Dichters Zweigs demnach nicht, oder nicht mehr – und seine Erkenntnisse sind für ihn auch nicht neu. Sein Auftragsporträt für Reclam aus dem Jahr 1917 verklärt Rathenaus Einsatz für die Rohstoffversorgung zur kriegsentscheidenden Heldentat; in seiner im gleichen Jahr erschienenen Besprechung zu Von kommenden Dingen begeistert er sich für den „idealen Radikalismus“¹⁰² Rathenaus, der sogar den Sozialismus übertreffe. Er merkt aber auch an, dass mancher Leser – und damit zweifelsohne er selbst – noch weiter gehen würde, dass nicht die staatliche Einheit sondern „nur die Vereinigung der Staaten zur brüderlichen europäischen Gesellschaft“ und „weltbrüderliche Liebe“ ohne Waffengewalt das Ziel sein könnte. 1923 schließlich steht die Tragik von Rathenaus Schicksal im Vordergrund. Zweig illustriert in erster Linie das Opfer, dass der geistig überlegene, aber privat einsame Mensch in einer „finstere[n] Pflichtentschlossenheit“¹⁰³ für sein Land bringt, obwohl er weiß, dass „ihm, dem Juden, eine politische Leistung, und auch die größte, nicht im gegenwärtigen Deutschland zuerkannt würde.“ (264) Rathenau vollende sich durch seinen Tod als tragischer Held, dem „eine Stunde Weltwirken“ gegeben war, die er „groß genützt“ (266) habe und so unsterblich geworden sei. Nicht er, nur Deutschland sei zu bedauern, das „wieder hinabrollte in [...] die wütige Ungeschicklichkeit seiner beharrlich unwirklichen und darum ewig unwirksamen Politik“. (266) 1923 wird Rathenaus Tod zur seiner persönlichen Sternstunde, die sein Schicksal als Märtyrer für sein undankbares Volk vollendet.¹⁰⁴ Erst in seiner Autobiografie, den zeitgeschichtlichen Entwicklungen gewahr, zeichnet Zweig diesen Moment als „Sternstunde der Menschheit“.
101 Zweig, Rezension Kritik der Zeit (wie Anm. 38), S. 3. 102 Hier und im Folgenden: Zweig, Rezension Von kommenden Dingen (wie Anm. 61), S. 3. 103 Zweig, Gedächtnisbild (wie Anm. 74), S. 264. Im Folgenden werden die Seitenzahlen in Klammern im Text angegeben. 104 Dieter Heimböckel vermutet, dass es Stefan Zweig, wie auch Emil Ludwig, durch die Herausstellung der kriegswichtigen Tätigkeit schon zu Rathenaus Lebzeiten auch darum ging, „die Bedeutung der Juden für das deutsche Leben beispielhaft hervorzuheben und jenen Kräften entgegenzuwirken, die Zweifel an der patriotischen Gesinnung nicht nur Rathenaus, sondern der Juden insgesamt hegten“. Siehe: Heimböckel, Dieter: WR Literatur (wie Anm. 3), S. 314. Ich kann mich dieser These für die Zeit nach dem Mord anschließen, denke aber, dass es bis 1917 vor allem Rathenaus Ruf nach geistiger Führung und seine Gesellschaftskritik war, die Zweigs Würdigung provoziert haben.
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Die zweite Funktion Rathenaus in seiner Autobiografie, die des Mentors, ist problematischer. Eine maßgebliche Bedeutung für Zweigs Entwicklung zum Beobachter des Zeitgeschehens und Weltreisenden halte ich aus den beschriebenen Gründen für unwahrscheinlich. Es wäre aber zu einseitig, daraus zu schließen, dass es Zweig ausschließlich darum ging, sich mit einer – nicht nur von ihm zum Mythos verklärten – historischen Persönlichkeit zu schmücken, um seinen eigenen Mythos zu schaffen.¹⁰⁵ Stattdessen möchte ich folgende Erklärung vorschlagen: Stefan Zweig erzählt mit Die Welt von Gestern seine Geschichte Europas als der Historiograf, den er in seinen Vorträgen wiederholt als Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben der Völker gefordert hat: Ein Dichter, der „statt des brutalen Heroismus jenen anderen“ illustriert, den der „großartigen Gestalten“, die „ihre ganze Kraft einsetzten, um im Sinne der Verantwortlichkeit, der Versöhnlichkeit und der Humanität zu wirken.“¹⁰⁶ Er ist überzeugt, dass es „ein wahrheitsgemäßes Protokoll der Geschichte nicht gibt“, erklärt sogar, dass „Geschichte bis zu einem Grad immer etwas Gedichtetes sein muss“ und schlussfolgert: „Erst durch die Kunst des Erzählens, durch die Vision des Darstellers wird das bloße Fatum zur Geschichte; jedes Erlebnis und Geschehnis ist im Grunde nur wahr, wenn es wahrhaft und wahrscheinlich berichtet wird.“¹⁰⁷ Es ist nur konsequent, dass er sich in seiner Geschichte an selbst postulierte Regeln hält, auch wenn dies Historiker, die mit Quellen strenger umgehen, irritiert. Zweig wählt zudem das Format einer Autobiografie, und so muss er die Schlüsselmomente und -figuren dieser europäischen Geschichte geradezu zwangsläufig mit seinem eigenen Schicksal verknüpfen. Im Sinne einer solchen literarischen Strategie ist es beispielsweise sinnvoll, dass Zweig den Rathenau-Mord in Deutschland erlebt und die Situation vor und nach der Schicksalsstunde als eigene Erfahrung illustrieren kann. Es ist für sein Vorhaben auch nur logisch, wenn die Verbindungen zu historisch bedeutenden Persönlichkeiten, denen er ein Denkmal setzen möchte, intimer dargestellt und engere Bindungen zu zeitgeschichtlich Unbedeutenderen vernachlässigt werden. Es ist also wichtig, um noch ein Beispiel zu nennen, dass Zweig kurz vor dem Attentat vertrauliche Einblicke in Rathenaus schwierige Situation aus erster Hand erhält. Zweig stellt sich in den Dienst der Sache, dem Gedenken an das – verglichen mit seiner Situation im Weltkrieg – freie Europa und die großen Geister. Er erfüllt damit vor der Beendigung seines Lebens auch
105 Diesen Zweck erkennt lt. Mark H. Gelber Michael Stanislawski in „Die Welt von Gestern“. Vgl. Gelber, Zweig in Berlin (wie Anm. 5), S. 86. 106 Zweig, Stefan: Geschichtsschreibung von morgen. In: Zweig, Stefan: Die schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909–1941. Frankfurt a. M. 1990, S. 244. 107 Zweig, Stefan: Die Geschichte als Dichterin. In: Zweig, Schlaflose Welt (wie Anm. 106), S. 264f.
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die gegenüber Rolland nach dem Rathenau-Mord genannte Pflicht. Die historische Genauigkeit jedoch opfert er der eindringlichen Darstellung, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen, was ihm äußerst nachhaltig gelungen ist. Diesen Dienst verbindet Zweig zudem sehr geschickt mit seinem eigenen Nachleben und dichtet zusammen mit einer europäischen Geschichte seine eigene. Ich halte es daher für gerechtfertigt anzunehmen, dass die von Zweig bei Rathenau erkannten Attribute Dienlichkeit und Eitelkeit ebenfalls beiden gemeinsame Eigenschaften sind.¹⁰⁸ Zuletzt soll das zweifelhafte Bild Zweigs als Rathenaus Freund, erstem Fürsprecher und wichtigem Wegbereiter seines Erfolgs beleuchtet werden – um damit auf Walther Rathenau, den Protagonisten dieses Bandes, zurückzukommen. Die Briefe lassen den Schluss zu, dass es nicht zuletzt Rathenau selbst war, der Zweig diese Rolle nahegelegt hat. Mehrfach hat er sich als verkannten Klarseher inszeniert und Zweig vertraulich als einen Eingeweihten angesprochen, ihm gar Geständnisse gemacht, die er noch nie ausgesprochen haben will. Er hat seine Entfremdung von der Masse betont, aber immer wieder Gemeinsamkeiten mit Zweig erkannt. Die fast unhöflich kurzfristigen Anwesenheitsmitteilungen des Schriftstellers hat er stets umgehend und mit einem vorfreudigen Vorschlag für eine Verabredung, oft zwischen wichtigen Terminen, beantwortet. Rathenaus vermeintlich intime Bekenntnisse passen nicht zu der nur unregelmäßigen Korrespondenz, die Überhöhung von Zweigs Bedeutung für sein Werk nicht zur tatsächlichen Rezeption seiner Publikationen – beides passt aber sehr wohl zu Zweigs nachträglicher Illustration. Zweig hat seine Bedeutung für Rathenau und sein Werk demnach kaum anders dargestellt, als Rathenau in seinen Briefen an ihn. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass beiden daran gelegen war, dem anderen als Freund zu gelten. Möglicherweise war einem vor allem das Innenverhältnis wichtig (mit dem Nebeneffekt positiver Öffentlichkeitsarbeit für die eigene Sache) und dem anderen besonders die Außenwirkung. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Verbindung zwischen Walther Rathenau und Stefan Zweig, gemessen an der Frequenz des Kontakts, eher lose war – zumal beide viel umfangreichere Korrespondenzen führten, man denke z. B. an Rathenau und Maximilian Harden, oder Zweig und Romain Rolland. Es wurde zudem deutlich, dass weder Rathenau besonders wichtig für Zweig, noch Zweig entscheidend für Rathenaus Karriere als Bestseller-Autor war – dass aber beide ein solches Bild gezeichnet haben. Ob Rathenau Zweig durch Überhöhung seiner Bedeutung und vermeintlich intime Bekenntnisse schmeicheln und dessen
108 Zur Unterstützung dieser These sei noch einmal auf die autorisierte Biografie aus dem Jahr 1927 von Ernst Rieger verwiesen (siehe Anm. 12).
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Öffentlichkeitsarbeit beeinflussen wollte, oder ob er tatsächlich so einsam war, dass der junge Schriftsteller mit seinen kurzfristigen Nachrichten bereits ein engerer Vertrauter war, muss hier offen bleiben. Für Zweig steht der Erklärungsvorschlag, dass er mit seinen Erinnerungen eine literarische Strategie verfolgte, die auch sein eigenes Denkmal zur Folge hatte. Primärziel war es jedoch, über das Andenken an geistige Größe sowie an die Opfer von ideologisch motivierter Gewalt – wie Antisemitismus – für eine friedliche Einigung alle Völker und Staaten Europas werben. Er hat durch diese selbstgewählte Strategie sicherlich zur Mythisierung Rathenaus beigetragen, sich aber wohl nicht für die Pläne der Familie instrumentalisieren lassen. Die weltanschaulichen Gemeinsamkeiten und Dissonanzen konnten im Rahmen dieses Beitrags nur am Rande gestreift werden. Zweigs Rezeption von Rathenaus Werk verdiente jedoch eine eingehendere Betrachtung, deren mögliche Richtung hier nur angezeigt werden soll. Es ist davon auszugehen, dass Rathenaus Thesen zur Mechanisierung des menschlichen Lebens von Zweig umfassend geteilt und auch übernommen wurden. Eindringlichstes Beispiel ist sein Essay Die Monotonisierung der Welt aus dem Jahr 1925.¹⁰⁹ Es erwähnt nicht nur Rathenau, viele Sätze lesen sich wie Paraphrasen aus Zur Kritik der Zeit, z. B. über die Vergleichbarkeit von Städten, Langeweile, Vergnügungssucht, Vermassung bis hin zum Amerika-Bild. Auch die von Rathenau postulierte Abkehr von materiellen Zwecken Zugunsten immaterieller Ideale sowie sein Ruf nach einer Geisteselite passen zu Zweigs Haltung.¹¹⁰ Wenn Rathenau also „nicht die Herrschaft der Massen, sondern die Führung der Geeigneten“¹¹¹ und damit eine Art „Seelenadel“ fordert, hätte Zweig eine solche Aristokratie wahrscheinlich begrüßt. Rathenaus „auf einem idealisierten Germanenbild basierende Hochschätzung des preußischen Adels“¹¹² aber hat Zweig bestimmt nicht geteilt, und auch nicht Rathenaus damit verbundene Vision einer deutschen Vormachtstellung in Europa. Näher waren sich beide wiederum in ihrer kritischen Haltung zum Zionismus. Beide sahen die Staatenlosigkeit des jüdischen Volkes als Vorbild, dem langfristig andere
109 Zweig, Stefan: Die Monotonisierung der Welt. Erstmals: Neue Freie Presse (31. 1. 1925), S. 1–4; Berliner Börsen-Courier (1. 2. 1925); Form und Sinn (15. 12. 1926). Nachgedruckt in: Zweig, Zeiten und Schicksale (wie Anm. 74). 110 Zweig sieht sich selbst als Teil einer jüdischen Generation, die ins Geistige strebt und über das Materielle erhaben ist, sogar über den Geldadel spottet. Diese Vergeistigung sei immer schon das Ideal der Juden gewesen. Vgl. Zweig, Welt von Gestern (wie Anm. 1), S. 25–27. 111 Aus einem Programmentwurf für eine „Partei der Deutschen Freiheit“ von Oktober 1918. Sonderarchiv Moskau, Fond 634, Opis 1, Nr. 367. Zitiert nach: Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 3), S. 369. 112 Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 3), S. 357.
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Völker folgen werden, den Judenstaat also als einen Rückschritt.¹¹³ Rathenau dürfte zudem für die Untersuchung von Zweigs Position zum Sozialismus interessant sein. Zweigs Schriften, insbesondere um 1917/1918, deuten darauf hin, dass er eine entsprechende staatliche Organisation möglicherweise begrüßt hätte und ihn auch die Ausrichtung des wirtschaftlichen Systems eingehend beschäftigte. Seiner Besprechung von Von kommenden Dingen nach ist zu vermuten, dass er mit diesem „Radikalismus“ nicht nur materielle Ungleichheit, sondern über die Überwindung des Kapitalismus vor allem die Herrschaft des Materialismus zu beenden hoffte. Es könnte also sein, dass Zweig Rathenau in ideologischer Hinsicht doch einiges dankt. Für welchen Geltungsbereich eine solche These zulässig ist, bleibt an anderer Stelle zu untersuchen.
113 Vgl. z. B. Rathenau, Walther: Schriften, ausgewählt und eingeleitet von Arnold Hartung [u: a:]. Berlin 1965, S. 86; Stefan Zweig an Martin Buber am 24. Januar 1917. In: Zweig, Briefe, Bd. II (wie Anm. 69), S. 130.
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Geistmenschen unter sich Walther Rathenau und der Salon Bruckmann Der Salon repräsentierte die „gute Gesellschaft“, er war ein Ort der Vermittlung und Zusammenführung, der „die Anerkennung der Gleichrangigkeit“¹ erforderte. Das gebildete Bürgertum des 19. Jahrhunderts stellte sich im Salon als selbstbewusste soziale Klasse dar. Frei sollte die Geselligkeit sein, offen und durchlässig für unterschiedliche Teilnehmer. Im Vordergrund stand die gepflegte Unterhaltung, das kultivierte Gespräch – unterschiedliche Gegenstände sollten angesprochen, nicht aber diskursiv erörtert werden, Spezialwissen war verpönt. Friedrich Schleiermacher definiert in seiner Theorie des geselligen Betragens diese Art des Gesprächs als „ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und belehren“.² Zum „Gebot der Schicklichkeit“ gehörte es, „daß nichts angeregt werden soll, was nicht in die gemeinschaftliche Sphäre Aller gehört“.³ Der Gesprächsgegenstand sollte so gewählt werden, dass sich keiner ausgeschlossen fühlen und sich jeder an der Unterhaltung beteiligen kann. Im Salon zeigt sich der Charakter des Menschen nicht am Stoff des Denkens, sondern in der Art, wie er den Stoff „behandelt, verbindet, ausbildet und mitteilt“.⁴ Nach Schleiermacher gehört zur Salonfähigkeit erstens „eine gewisse Elastizität“: „[…] man muß eine Menge von Gegenständen inne haben, und wenn die Gesellschaft beweglich ist, viele derselben leicht und schnell durchlaufen können.“⁵ Und zweitens die „Gewandtheit“, darunter versteht er die Fähigkeit, „sich in jeden Raum zu fügen, und doch überall in seiner eigensten Gestalt darzustehn und sich zu bewegen. [...] Der gewandteste ist derjenige, der zugleich am vielseitigsten und am originellsten ist, der in jeden Stoff hineinzugehen bereit ist, und auch dem geringfügigsten und fremdesten noch seine Eigentümlichkeit auf mancherlei Weise aufzudrücken weiß.“⁶
1 Seibert, Peter: Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart/Weimar 1993, S. 6. 2 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799). In: Schleiermachers Werke. Auswahl in vier Bänden. Hrsg. von Otto Braun und Johann Bauer. Bd. 2. Leipzig 1913, S. 1–31, hier: S. 10. 3 Schleiermacher, Versuch (wie Anm. 2), S. 12. 4 Schleiermacher, Versuch (wie Anm. 2), S. 16. 5 Schleiermacher, Versuch (wie Anm. 2), S. 18. 6 Schleiermacher, Versuch (wie Anm. 2), S. 19.
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Legt man dieses allgemeine Profil zugrunde, dann war Walther Rathenau eine geradezu ideale Verkörperung des Salonmenschen – nicht von ungefähr verkehrte er zeitlebens ja auch in zahlreichen Salons und war dieser Geselligkeitsform besonders zugetan. Rathenau brachte alles mit, was man im Salon schätzte: allgemeine Bildung, Vielseitigkeit, Eloquenz und Esprit. Er war bekanntlich ein Mann, der sich in vielen Bereichen betätigte, der in wirtschaftlichen Fragen, aber auch in Kunst, Literatur, Architektur und Wissenschaft mitreden konnte. Rathenaus Biograf Lothar Gall meint jedoch, die Vielseitigkeit – ansonsten ja ein positives Attribut – habe in diesem Fall „Mißtrauen“¹ erregt. Von Insidern und Experten sei er als Eindringling betrachtet und als Außenseiter abgestempelt worden. Gleichwohl geht von der Person Rathenaus bis heute eine gewisse Strahlkraft aus, er gilt als integer, als ein Mann mit Geist und Charisma. Der Mord an Rathenau am 24. Juni 1922 ist dabei von nicht unerheblicher Bedeutung. Im öffentlichen Bewusstsein ist er dadurch zum Symbol geworden, von seinem Werk und seinen politischen Visionen hat sich dagegen wenig erhalten. Auch zu seinen Lebzeiten standen seine Ideen im Schatten der Person. Der große Menschenkenner und Literat Franz Blei hat die Faszination, die Rathenau auf seine Zeitgenossen ausübte, bestätigt, er spricht von der „Bewunderung“, die der Person „allseitig zuteil wurde“², sie würde sich aber aus der „Zeithaltung“ erklären: ein Mann großer Geschäfte und bedeutenden Reichtumes, der auch bei Verwaltungsratssitzungen den Wert seelischer Güter wie z. B. franziskanischer Armut betonte und inmitten anstrengender geschäftlicher Transaktionen immer Zeit fand, sich in allen Gebieten des Wissens und der Künste „auf dem laufenden“ zu halten, ja selber sowohl Gedichte machte wie Bilder malte, wirtschaftliche Einzelfragen in Monographien darlegte und Kolonialfragen diskutierte, aber ebenso auch göttliche und philosophische, jedem aus jedem Berufe Ratschläge erteilen konnte und einem Universalismus der Tätigkeiten und Betätigungen hingegeben war, der, wie das ja nicht anders sein kann, jede einzelne dieser Tätigkeiten um ihre Genauigkeit brachte, selbst die geschäftliche, wie wenigstens Rathenaus geschäftliche Kollegen versicherten, indem sie nie den hohen Schwung seiner Seele bezweifelten, wohl aber deren Fähigkeit, sich zu dem Geschäft eines guten, gewinnbringenden Abschlusses herabzulassen. Während hinwieder die in ihren gedanklichen Bereichen Genauen, wie Scheler oder Musil, ihn für einen sehr tüchtigen Geschäftsmann hielten, aber in seinen philosophischen Expektorationen nichts als mit Geschmack arrangierte Belesenheit eines Mannes sahen, der Zeit und Geld hatte, es sich also leisten konnte, über alles in der Welt sich etwas zu denken und diesem Insgesamt von Denkungen mit einer über alles hingezog-
1 Gall, Lothar: Walther Rathenau. Portrait einer Epoche. München 2009, S. 251. 2 Blei, Franz: Erzählung eines Lebens. Mit einem Nachwort von Ursula Pia Jauch. Wien 2004, S. 387.
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nen Art seelischer Substanz so etwas wie einen Einheitsbezug zu geben, woraus dann sich die Persönlichkeit wie von selbst ergab.³
In dieser Epoche, so Blei, sei man fasziniert gewesen vom „ungenauen Menschen“,⁴ der alle Gebiete miteinander verbindet, der die kompliziertesten Dinge auflöst und in einfachen Worten zur Sprache bringt; auf den „ungenauen Menschen“ konnte man alles projizieren, er genoss Anerkennung, auch wenn er offensichtliche Irrtümer aussprach. Für Blei hängt die Sympathie, die die Menschen dem Ungenauen entgegenbringen, mit dem geringen gesellschaftlichen Wert des Rationalen zusammen. Bereits „beim geringsten Widerstande“ würden die Menschen einen „Ausweg“⁵ suchen und die Ratio an sich infrage stellen. Rathenau war bekanntermaßen skeptisch, was Vernunft und Verstand anging, er sah die Moderne von einem „rechnenden Geist“⁶ beherrscht, einem instrumentellen Rationalismus, der die Menschen vereinseitigt und ihnen allen wirklichen Lebenssinn, alle Tiefe, genommen habe. Der moderne Mensch hätte zwar hohe Verstandeskräfte, aber er lebe in „seelischer Armut“⁷ und finde keinen Zugang mehr zu seinem eigenen Inneren. Für Rathenau lagen die „höchsten Geisteskräfte“⁸ in der Seele. Der Intellekt kann irren, die Seele aber denkt nicht, sie „schaut, ist des Irrtums nicht fähig“.⁹ Folgen die Menschen der Seele, so sind sie auf dem richtigen Weg. Alles, was aus der Seele kommt, ist echt. Robert Musil hat im Mann ohne Eigenschaften Rathenau in seiner Figur Arnheim porträtiert – auch Thomas Mann und Goethe spielen als Vorbilder eine gewisse Rolle.¹⁰ Für Musil war Rathenau interessant, weil er den neuen Typus des Bourgeois verkörperte, den Unternehmer, der nicht mehr im Gegensatz zur Klasse der Gebildeten stand, sondern selbst gebildet war.¹¹ Arnheim war „ein reicher Mann“ und „ein bedeutender Geist“.¹² Ja, mehr noch, er machte, wie es im Roman heißt, diese beiden Bereiche zu seinem Programm und wollte das bisher
3 Blei, Erzählung (wie Anm. 8), S. 387f. 4 Blei, Erzählung (wie Anm. 8), S. 388. 5 Blei, Erzählung (wie Anm. 8), S. 389. 6 Rathenau, Walther: Zur Mechanik des Geistes oder Vom Reich der Seele. In: Ders.: Gesammelte Schriften in fünf Bänden. Bd. 2. Berlin 1918, S. 14. 7 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 14. 8 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 33. 9 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 55. 10 Vgl. Turk, Horst: Diotimas Salon. In: Simanowski, Roberto [u. a.] (Hrsg.): Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons. Göttingen 1999, S. 282–304, hier: S. 290. 11 Vgl. Turk, Diotimas Salon (wie Anm. 16), S. 290f. 12 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek 1978, S. 108.
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Getrennte zusammenbringen: „Seele und Wirtschaft“, „Idee und Macht“¹³. Mit Arnheim zieht gewissermaßen die neue Zeit in Diotimas Salon: „Die empfindsamen, mit der feinsten Witterung für das Kommende begabten Geister“, prophezeiten diesem Mann eine große Zukunft, er wird „einstmals noch die Geschicke des Reichs und wer weiß vielleicht der Welt zum Besseren lenken“.¹⁴ Schon damals, so heißt es weiter im Roman, hätte „die Periode der Abkehr von den Fachleuten begonnen“¹⁵ Auch Musil hat den „ungenauen Menschen“ als dominanten Zeittypus betrachtet. Von Arnheim heißt es: „Er besaß das Talent, niemals in etwas Nachweisbarem und Einzelnem überlegen zu sein, wohl aber durch ein fließendes und jeden Augenblick sich aus sich selbst erneuerndes Gleichgewicht in jeder Lage obenauf zu kommen, was vielleicht wirklich die Grundfähigkeit eines Politikers ist, aber Arnheim war außerdem überzeugt, daß es ein tiefes Geheimnis sei.“¹⁶ Für Diotimas Salon im Mann ohne Eigenschaften war Arnheim eine Idealbesetzung – charmant und voller origineller Ideen. Als sie den mit großer Spannung erwarteten Gast sah, stellte sie mit Befriedigung fest, „daß er nicht im geringsten jüdisch aussah, sondern ein vornehm bedachter Mann von phönikisch-antikem Typus“.¹⁷ Diese Beschreibung geht zurück auf Notizen, die sich Musil nach einem Treffen mit Rathenau am 11. Januar 1914 machte: Dr. W. Rathenau: Ein wundervoller englischer Anzug. Hellgrau mit dunklen, von kleinen weißen Augen gerahmten, Längsstreifen. Behaglicher warmer Stoff und doch unendlich weich. Faszinierend gewölbte Brust und Seitenebenen weiter abwärts. Etwas Negroides im Schädel. Phönikisches. Stirn und vorderes Schädeldach bilden ein Kugelsegment, dann steigt der Schädel – hinter einer kleinen Senkung, einem Stoß – rückwärts empor. Die Linie Kinnspitze – weitestes Hinten des Schädels steht beinahe unter 45° zur Horizontalen, was durch einen kleinen Spitzbart (der kaum als Bart sondern als Kinn wirkt) noch verstärkt wird. Kleine kühne gebogene Nase. Auseinandergebogene Lippen. Ich weiß nicht wie Hannibal aussah, aber ich dachte an ihn. Er sagt gern: Aber, lieber Doktor und faßt einen freundschaftlich beim Oberarm. Er ist gewohnt, die Diskussion sofort an sich zu reißen. Er ist doktrinär und immer dabei großer Herr.¹⁸
13 Musil, Mann ohne Eigenschaften, S. 108. 14 Musil, Mann ohne Eigenschaften, S. 108. 15 Musil, Mann ohne Eigenschaften, S. 108. 16 Musil, Mann ohne Eigenschaften, S. 194. 17 Musil, Mann ohne Eigenschaften, S. 109. 18 Musil, Robert: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hrsg. von Fanta, Walter/Amman, Klaus/Corino, Karl (DVD-Version 2009), Nachlass Hefte, H. 7 „Tagebücher Berlin“, H. 7/37.
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Am 8. Februar 1908 machte Walther Rathenau seine Aufwartung im Salon Bruckmann in München.¹⁹ An diesem Abend waren auch das Ehepaar Wolfskehl, der Hölderlin-Forscher Norbert von Hellingrath – ein Neffe der Bruckmanns, und der Germanist Friedrich von der Leyen zu Gast im Hause des Verlegers. In seinen Erinnerungen berichtet von der Leyen, dass Rathenau auch bei anderen Gelegenheiten in den Salon der Bruckmanns kam und dort seine „erzieherischen Pläne“²⁰ vorstellte. Die Bruckmanns standen seit der Jahrhundertwende mit Rathenau in Kontakt. Anknüpfungspunkt war der 1901 von Rathenau veröffentlichte Aufsatz zur Physiologie des Kunstempfindens, den die Bruckmanns mit überschwänglichen Worten lobten²¹ – sie reklamierten den Autor als Geistesverwandten, denn er habe ausgesprochen, was sie selbst über die Kunst und das Kunstempfinden dachten. Übereinstimmungen in Fragen der Kunst waren damals keine Nebensächlichkeiten. Die Kunst nahm einen bedeutenden Rang im bürgerlichen Leben ein. Georg Bollenbeck spricht von der „Sonderrolle der Kunst im kollektiven Bewusstsein der Gebildeten“.²² Die Bruckmanns waren da keine Ausnahme, sie dachten groß von der Kunst, die für sie eine höhere Seinssphäre darstellte.²³ Kunst sollte das Leben verwandeln und erheben. Nicht die tradierte, akademische Kunst hatten sie dabei im Blick, sondern die moderne Kunst: den Symbolismus und Impressionismus, insbesondere aber auch den Jugendstil. Man sympathisierte mit dem ästhetischen Aufbruch, verkehrte mit Richard Riemerschmid, Julius Meier-Graefe und Henry van de Velde. Private Interessen und berufliche Ambitionen hingen dabei eng zusammen:²⁴ Hugo Bruckmann hatte 1889, gemeinsam mit seinem Bruder Alphons, die Leitung des väterlichen Verlags übernommen. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Vater, Friedrich Bruckmann, ein Selfmademan, einen Verlag für Kunst und Wissenschaft gegründet und daraus ein erfolgreiches Unternehmen gemacht. Hugo Bruckmann war den Ideen der Moderne gegenüber aufgeschlossen und er wollte den Verlag um 1900 entsprechend positionieren.
19 Vgl. Martynkewicz, Wolfgang: Salon Deutschland. Geist und Macht. 1900–1945. Berlin 2009, S. 269. 20 Leyen, Friedrich von der: Leben und Freiheit der Hochschule. Erinnerungen. Köln 1960, S. 124. 21 Vgl. Rathenau, Walther: Briefe. Teilband 1: 1871–1913. Hrsg. von Alexander Jaser [u. a.]. Düsseldorf 2006, S. 820. 22 Bollenbeck, Georg: ‚Gefühlte Moderne‘ und negativer Resonanzboden. Kein Sonderweg, aber deutsche Besonderheiten. In: Becker, Sabina/Kiesel, Helmuth (Hrsg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin 2007, S. 39–60, hier: S. 56. 23 Vgl. Martynkewicz, Salon Deutschland (wie Anm. 25), S. 71ff. 24 Vgl. Martynkewicz, Salon Deutschland (wie Anm. 25), S. 37ff.
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Während sein Bruder den technisch-kaufmännischen Bereich übernahm, fühlte sich Hugo Bruckmann als der geistige Kopf des Unternehmens, als Ideengeber und Neuerer. Ganz auf dieser Linie lag die 1897 ins Leben gerufene Zeitschrift Dekorative Kunst, die Bruckmann zusammen mit Meier-Graefe herausgab – eine Publikation, in der die führenden Experten der modernen Ästhetik zu Worte kamen und die auch in einer französischen Ausgabe in Paris erschien. Hugo Bruckmann hatte ein Sensorium für neue Trends, er war auf der Höhe der Zeit, er wollte aber auch der Moderne Impulse verleihen. Nicht durch eigene Werke, sondern als Anreger und Spiritus Rector. In dieser Rolle sah er sich auch, als er 1896 Kontakt mit Houston Stewart Chamberlain aufnahm, damals eine noch unbekannte Größe in der geistigen Welt. Bruckmann beauftragte ihn, ein kulturhistorisches Werk zu schreiben, ein Werk, das den im gebildeten Bürgertum allseits spürbaren Wunsch nach Orientierung und neuer Sinnstiftung Rechnung tragen sollte. Chamberlain schrieb daraufhin das heute berühmt-berüchtigte Buch Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. Das Werk wurde zum Bestseller des Verlages, es löste Kontroversen aus, man stritt sich damals über so manche Einschätzungen Chamberlains, die man für überzogen hielt, aber nur selten wurde der Begriff der Rasse kritisiert oder das Bild, das der Autor vom Judentum entwarf. Chamberlains Terminologie und Denkweise waren tief im Bürgertum verankert – das zeigt sich auch im Fall von Walther Rathenau, ich werde unten darauf zurückkommen. Hugo Bruckmann, der vier Jahre älter war als Rathenau, verkörperte ebenfalls den neuen Typus des Bourgeois, erfolgreicher Unternehmer, gebildet, weltgewandt, ein Mann, der mit zahlreichen Künstlern und Geistesgrößen im In- und Ausland in Kontakt stand. Der Salon war ein gemeinsames Projekt der Eheleute, bei dem natürlich die Dame des Hauses, Elsa Bruckmann, als Salonnière im Vordergrund stand. Im Januar 1899 empfing man erstmals Gäste, schon bald gab es einen regelmäßigen Empfangstag. Zu den frühen Habitués gehörten der erwähnte Chamberlain, aber auch Rudolf Kassner, Hermann Graf Keyserling, Hugo von Hofmannsthal, Harry Graf Kessler, Rainer Maria Rilke, Stefan George und Max Reinhardt. Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Zusammensetzung, neue Gäste kamen, die politischer eingestellt waren, unter ihnen Adolf Hitler. In den Salon führte sich Hitler bestens ein, denn er war bekanntlich ein Kunstenthusiast, der die Sorge des Bildungsbürgertums um die Kunst und die geistigen Werte teilte, er sah Verfall und Niedergang und weckte zugleich Hoffnungen auf eine Wiedergeburt des deutschen Geisteslebens.²⁵
25 Zu Hitlers Auftritt im Salon Bruckmann vgl. Martynkewicz, Salon Deutschland (wie Anm. 25), S. 407ff.
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Als Rathenau im Salon der Bruckmanns verkehrte waren diese Entwicklungen freilich nicht abzusehen. Wenn man die Geschichte vom Ende her sieht, stellen sich häufig geradezu unheimliche Kontinuitäten und Beziehungsmuster her. Alles scheint auf bestimmte Zusammenhänge, auf bestimmte „Katastrophen“ zuzulaufen. Das ist natürlich eine Fiktion, eine unterstellte Mechanik, die nicht zuletzt die handelnden Individuen von ihrer Verantwortung entlastet. Die entscheidende Frage ist: Was konnte man an einem bestimmten Punkt der Geschichte wissen? Was konnten orientierte Geister wie die Bruckmanns und Rathenau wissen? Und was brachte sie zusammen? Welche Gesinnungen waren es, die auf beiden Seiten geistesverwandtschaftliche Gefühle weckten? Ich will im Folgenden ein paar skizzenhafte Überlegungen zu diesem Komplex entwickeln. Die Frage, was am Anfang war, das Wort oder die Tat, ließ bekanntlich schon Goethes Faust nicht ruhen. Was ist es, das „alles wirkt und schafft?“²⁶ Erleuchtet vom Geist setzt Faust schließlich die Tat an den Anfang. Mit der Tat meint er, festen Boden unter den Füßen zu haben, wird aber sogleich eines Besseren belehrt: Das Heulen und Bellen des Pudels weist auf den gespenstischen Kern hin – die Dinge sind nicht, was sie sind, sie sind sinnlich und zugleich übersinnlich. Walther Rathenau, der um 1900 wissen wollte, was die Welt im Innersten zusammenhält, hat den von Faust zugespielten Ball aufgenommen und – auf seine Weise – weitergespielt. Die Mechanik des Geistes beginnt mit dem Satz: „Jede Frage, die wir zu Ende denken, führt ins Überirdische.“²⁷ Zunächst scheinen die Dinge „deutlich und wirklich“,²⁸ wenn man sie jedoch ansieht, verschwimmen die Flächen, lösen sich die Konturen auf. „Jeder Schritt unseres Handelns ist ein Doppelschritt: halb irdisch, halb transzendent.“²⁹ Das 19. Jahrhundert hat die Welt einseitig aus der Perspektive der Tat, der Kraft und der Energie interpretiert, sie hat, so meint Rathenau, verkannt, dass die Menschen in Wahrheit „unablässig im Gebiet des Transzendenten [...] leben und wirken“.³⁰ Man kann Rathenaus Kritik am mechanisierten Geist der Epoche auch als eine Kritik an den Vätern lesen, den Vätern der Gründergeneration, zu dem auch sein eigener, Emil Rathenau, gehörte, der das „elektrische Zeitalter“ des späten 19. Jahrhunderts wesentlich geprägt hat: Ein Tatmensch, ein geschickter Stratege, aber, wenn man seinem Biografen Glauben schenken darf, kein intellektueller
26 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Erster Theil. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. – Weimarer Ausg., fotomechan. Nachdr. d. Ausg. Weimar 1887–1919. München 1987, S. 63. 27 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 9. 28 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 9. 29 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 9. 30 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 9.
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Geist, kein Meister der Rhetorik.³¹ Ganz anders der Sohn, der ein glänzender Redner war und ein theoretischer Kopf, gerade das machte ihn in den Augen des Vaters allerdings zunächst ungeeignet als Nachfolger. Walther Rathenau wollte freilich auch kein Nachfolger und Fortsetzer sein, er fühlte sich zum Neuerer und Erlöser der Zeit berufen. Im Gefühl der geistigen Überlegenheit wies er 1898 in dem Aufsatz Ignorabimus die alte Welt in die Schranken: „Das stolze letzte Zeitalter des Realismus und der Naturwissenschaft ist verwelkt; es hat Früchte getragen, aber nicht für den Geist. Es hat die Welt reicher, aber nicht werthvoller gemacht, es hat unser Wissen, nicht unsere Erkenntnis erweitert.“³² Die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft und der zivilisatorische Fortschritt haben die Behaglichkeit des Lebens erhöht, doch die drängenden, existenziellen Fragen sind unbeantwortet geblieben. Von Entdeckungen und Erfindungen haben wir genug, „wir brauchen“, so Rathenau, „lebendigen Geist und neue Gedanken.“³³ In diesem radikalen Gestus rechneten damals viele Intellektuelle mit der Tradition ab und signalisierten den Aufbruch in eine neue Zeit. Hermann Bahr schreibt 1890 in seinem Aufsatz über Die Moderne, dass der Geist nicht mehr zum Leben passt, er sei „alt und starr“, „geduckt und krüppelig“³⁴ geworden, er regt sich nicht und bewegt sich nicht. Auch Bahr fordert einen „neuen Geist“, der mit den überkommenen Strukturen bricht: „Wir wollen wahr werden. [...] Wir wollen die faule Vergangenheit von uns abschütteln, die, lange verblüht, unsere Seele in fahlem Laube erstickt. Gegenwart wollen wir sein.“³⁵ Auf das Innere, das Subjektive, muss sich der Blick richten, damit wir, so Bahr, „nicht länger Fremdlinge sind, sondern Eigentum erwerben“.³⁶ Rathenau teilte diese Perspektive voll und ganz, den „eigenen inneren Menschen“³⁷ müssen wir wieder zur Geltung bringen, schreibt er in Ignorabimus. Doch bevor es so weit ist, müsse man sich zunächst von allem Fremden, so steht es bei Bahr, „reinigen“: „Es darf keine alte Meinung in uns bleiben [...]. Leer müssen wir werden, leer von aller Lehre, von
31 Vgl. Pinner, Felix: Emil Rathenau und das elektrische Zeitalter. Leipzig 1918. 32 Rathenau, Walther: Ignorabimus. In: Ders.: Impressionen. 3. Aufl. Leipzig 1902, S. 71–99, hier: S. 97f. 33 Rathenau, Ignorabimus (wie Anm. 38), S. 99. 34 Bahr, Hermann: Die Moderne. In: Ders.: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften. 1887–1904. Ausgewählt und eingeleitet von Gotthart Wunberg. Stuttgart [u. a.] 1968, S. 35–38, hier: S. 36. 35 Bahr, Moderne (wie Anm. 40), S. 36. 36 Bahr, Moderne (wie Anm. 40), S. 37. 37 Rathenau, Ignorabimus (wie Anm. 38), S. 96.
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allem Glauben, von aller Wissenschaft der Väter, ganz leer. Dann können wir uns füllen.“³⁸ Die Intellektuellen um 1900 fühlten sich um ihr eigenes Leben betrogen und wollten mit der Tradition brechen. Hofmannsthal schreibt 1897 in seinem berühmten Essay über Gabriele D’Annunzio vom „unheimlichen Eigenleben“ der Dinge, wie „Vampire“³⁹ saugen sie alle Lebenskraft aus. Was zurückbleibt ist „frierendes Leben, schale, öde Wirklichkeit, flügellahme Entsagung“.⁴⁰ Man sah sich dazu verurteilt, ein Leben nachzuleben, ein Werk fortzusetzen, ein Epigone zu werden. Ob Rathenau, Bahr oder Hofmannsthal man schrieb im Plural und fühlte sich einem Kreis zugehörig, der eine neue geistige Haltung forderte – ein elitärer Kreis, freilich ohne ein festes Band: „Wir! Wir! Ich weiß ganz gut“, schrieb Hofmannsthal, „daß ich nicht von der ganzen großen Generation rede. Ich rede von ein paar tausend Menschen, in den großen europäischen Städten verstreut. Ein paar davon sind berühmt; ein paar schreiben seltsam trockene, gewissermaßen grausame und doch eigentümlich rührende und ergreifende Bücher.“⁴¹ Hofmannsthal schätzte den Kreis, der das „Bewußtsein“ der Generation bildet, auf „zwei- bis dreitausend Menschen“.⁴² Rathenau gehörte dazu – er war aber um 1900 gewiss nicht der „Wortführer des kulturellen Aufbruchs“,⁴³ wie Lothar Gall meint, dazu fehlte es ihm zu dieser Zeit an Gewicht in der Welt des Geistes. Was er literarisch zu sagen hatte, war dürftig und ist eigentlich nicht der Erwähnung wert, vom „neuen Geist“ spürt man wenig, es sind betuliche Texte, geschrieben in einer geradezu altertümlichen Diktion. Seine Reiseerzählungen zeigen den arrivierten Bildungsbürger, der in den zeitgenössischen Klischees schwelgte, aber kein Blick hatte für Land und Leute. Rathenau war ein Bewunderer Gerhart Hauptmanns, dem er 1912 sein Buch Zur Kritik der Zeit in dankbarer Verehrung widmete. Selbstbewusst schreibt er in diesen Zeilen, dass er es dem Publikum in diesem Werk nicht leicht mache, denn er lehne die „Überredungskunst“ ab, er setze vielmehr auf „klare Gedanken“.⁴⁴ In der Tat positionierte sich Rathenau von Anfang an als Mann der klaren Worte, der sein Ohr am Puls der Zeit hatte.
38 Bahr, Moderne (wie Anm. 40), S. 37. 39 Hofmannsthal, Hugo von: Gabriele D’Annunzio. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa I. Hrsg. von Herbert Steiner. Frankfurt a. M. 1950, S. 147–158, hier: S. 147. 40 Hofmannsthal, Gabriele D’Annunzio (wie Anm. 45), S. 148. 41 Hofmannsthal, Gabriele D’Annunzio (wie Anm. 45), S. 148. 42 Hofmannsthal, Gabriele D’Annunzio (wie Anm. 45), S. 148. 43 Gall, Portrait (wie Anm. 7), S. 69. 44 Rathenau, Walther: Zur Kritik der Zeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften in fünf Bänden. Bd. 1. Berlin 1918, S. 9.
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Ende des 19. Jahrhunderts diskutierte man in ganz Europa über die Stellung und Rolle der Juden – gerade in akademischen Kreisen und im Bürgertum verschärften sich antisemitische Ressentiments. Das Judentum wurde zur Projektionsfläche für alles Fremdartige und Gefährliche. In der aufgeheizten politischen Atmosphäre (man erinnere sich an den Dreyfus-Prozess) verfasste Theodor Herzl 1896 das Manifest Der Judenstaat. Herzl setzte sich für einen autonomen Staat ein, nur auf diese Weise könnten sich die Juden schützen, die Assimilation, für die er lange Zeit selbst eingetreten war, hätte sich als weitgehend nutz- und wirkungslos erwiesen. Während Herzl sachlich den Antisemitismus analysierte, trat der Jude Rathenau, der bis dahin keine größere Arbeit veröffentlicht hatte, mit der polemischen Schrift Höre, Israel! auf die Bühne. Mit augenzwinkernder Ironie benutzte er das Pseudonym „W. Hartenau“. Auf den ersten Blick reproduziert er in dem Aufsatz nur die antisemitischen Vorurteile und Ressentiments seiner Zeit, freilich, die Krux daran war, dass hier ein Jude sprach. Das gab dem Ganzen natürlich eine besondere Note: „Von vorn herein will ich bekennen, daß ich Jude bin.“⁴⁵ Mit Aplomb formulierte Rathenau seine Position und sprach Dinge aus, die man in bildungsbürgerlichen Kreisen zwar dachte, die man aber in der Öffentlichkeit eher feinsinniger zu formulieren pflegte. Rathenau nahm kein Blatt vor dem Mund, er schrieb in einem Gestus, den wir heute sehr gut kennen, wenn es um das Aussprechen vermeintlich unbequemer Wahrheiten geht: „Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffällig staffirt, von heißblütig beweglichem Gebahren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde.“⁴⁶ Ob in der „Thiergartenstraße“ oder im „Vorraum eines Theaters“⁴⁷ überall sieht er „unappetitliche“ und unangepasste Juden, die aussehen, als wenn sie aus anderen Zeiten und Regionen kommen. Rathenau will diese Juden, jedenfalls den verständigen, besseren Teil, „aus der Ghettoschwüle in deutsche Waldes- und Höhenluft“⁴⁸ führen. Um die Juden an „fremde Anforderungen“⁴⁹ anzupassen, schwebt ihm ein Erziehungs- und Selbsterziehungsprogramm vor. Er spricht von „Anartung“⁵⁰ und wendet damit den damals populären Kampfbegriff der Entartung positiv.
45 Rathenau, Walther: Höre, Israel! In: Ders.: Impressionen. 3. Aufl. Leipzig 1902, S. 1–20, hier: S. 3. 46 Rathenau, Israel! (wie Anm. 51), S. 4. 47 Rathenau, Israel! (wie Anm. 51), S. 4. 48 Rathenau, Israel! (wie Anm. 51), S. 7. 49 Rathenau, Israel! (wie Anm. 51), S. 10. 50 Rathenau, Israel! (wie Anm. 51), S. 10.
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Nun könnte man die ganze Geschichte – wie es Lothar Gall gemacht hat – als befremdliche „Jugendsünde“ einstufen.⁵¹ Dagegen spricht nicht nur, dass Rathenau immerhin dreißig Jahre alt war, als er den Text verfasste, vor allem aber spricht dagegen, dass er in seinen späteren Arbeiten den Gedanken einer Erziehung und Kultivierung des Judentums beibehält und weiter ausdifferenziert. Rathenau kämpfte nicht nur gegen die „Mechanisierung“, sondern auch gegen die „Entgermanisierung“.⁵² Die Überwindung der Mechanisierung ist nur möglich, wenn sich die Gesinnungen ändern und die Rasse insgesamt stärker wird. Wobei Rathenau nicht an eine Verbesserung des Blutes dachte, sondern den Geist der Rasse heben will: Rassen sind nicht Ewigkeitsbegriffe, sondern Zeitbildungen, es mögen abermals Jahrmyriaden erforderlich sein, um die dunkelsten Stämme zu veredeln, aber es genügen drei Generationen um einen Sprößling der tiefsten deutschslawischen Schichten auf die Höhe unsres besten Blutes zu heben. Die inneren Bedingungen des Aufstiegs sind geistige; die fördernden physischen Elemente, Stählung, Körperübung, Beseitigung verweichlichender Einflüsse, bilden einen Bedingungskomplex, den ich vor Zeiten Vernördlichung genannt habe.⁵³
Rathenau dachte in den Kategorien von Zucht und Züchtung, er folgte dabei dem Denken Jean-Baptiste Lamarcks. Der Lamarckismus nahm an, dass erworbene Eigenschaften und Fähigkeiten an die nächste Generation weitergegeben werden. Durch steigende Bildung und Erziehung sowie bessere Lebensbedingungen sei die „Rasse“ insgesamt zu heben. Dahinter stand der bürgerliche Fortschritts- und Zivilisationsoptimismus. Um 1900 haben Neodarwinismus und Eugenik dieses Denken verstärkt infrage gestellt und ihm schließlich den Boden entzogen. Rathenau freilich glaubte weiterhin an die Veredelung durch Erziehung und vor allem durch Arbeit. Jeder konnte sich emporarbeiten, seine Anlagen verbessern und die Rasse heben. In Kategorien von Zucht und Züchtung dachte man auch im Salon Bruckmann, hier gab allerdings Houston Stewart Chamberlain den Ton an. Er sprach nicht von einer Hebung der Rasse durch erzieherische Maßnahmen, sondern von einer Veredelung durch „Zuchtwahl“ und „Blutmischung“.⁵⁴ Bei allen Differenzen im Einzelnen stand Rathenau den Gesinnungen, die man im Salon Bruckmann pflegte, mit mehr als nur Sympathie gegenüber, das
51 Vgl. Gall, Portrait (wie Anm. 7), S. 69. 52 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 50), S. 89ff. 53 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 327. 54 Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 1. Hälfte, IX. Aufl. (Volksausgabe) München 1909, S. 278–279.
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zeigt sich insbesondere auch – ich habe oben darauf hingewiesen – an seinen Positionen zur Ästhetik. Die Kunst stellt für Walther Rathenau eine der vornehmsten Verkörperungen der Seele dar: Sie ist in ihrem wahren Kern nur fühlbar. Verstand und Wissen sind in der Kunst nicht nur fehl am Platz, sie haben eine geradezu destruktive Wirkung. In der erwähnten Physiologie des Kunstempfindens schreibt Rathenau: Die Kunst hat vom Baum der Erkenntnis nicht genossen. Sie lehrt uns die unendlichen Gesetze der Welt fühlen und ahnen, aber nicht erkennen. Das Wissen ist ihr Tod. Das, was die Wissenschaft erkannt, entgöttert und entgeistert hat, verläßt sie, um aus den unberührten Tiefen der Natur neue Geheimnisse emporzuholen.⁵⁵.
Rathenaus Text basiert auf zwei Determinanten, die im gebildeten Bürgertum um 1900 Konjunktur hatten: Kunstreligion und Vernunftkritik, insbesondere natürlich Kritik an der Wissenschaft. Bereits 1899 veröffentlichte Rathenau den Aufsatz Ein Publikum, in dem er gegen den Ästhetizismus, gegen das „L’art pour l’art“ Stellung bezieht. In der neuen Richtung sieht er eine Gefahr, verächtlich spricht er von „Künstlerkunst“,⁵⁶ die den Kern der Unwahrhaftigkeit in sich trägt und sich vom Volk, dem eigentlichen Nährboden und Gradmesser, getrennt hat: „Zu dem Volk müssen wir zurück, zu diesem großen, helläugigen Burschen, der so viel Herz, Verstand, Phantasie und Geschmack hat.“⁵⁷ Natürlich gibt es, wie Rathenau einräumt, auch schlechten Geschmack, aber darin sieht er eine Erziehungsaufgabe, die „Instinkte“⁵⁸ seien da und man müsse sie nur aufgreifen und formen. Diese Gedanken zur Ästhetik und zum ästhetischen Empfinden hat Rathenau später konsequent weiterentwickelt. In der Mechanik des Geistes unterscheidet er „uneigentliche Kunst“, die einfach nur „den Geist beschäftigt“ oder „die handgreiflich an Nerven und Sinnen rührt“,⁵⁹ von der „wahren“ und „echten“ Kunst. „Echte Kunst macht die Gesetze des Organischen, des Schicksals, der Seele und des Göttlichen fühlbar: sie stammt aus dem Erlebnis echter Menschlichkeit, ist gestaltet in der Erkenntnis des Wesentlichen, ausgedrückt in der Sprache der Per-
55 Rathenau, Walther: Physiologie des Kunstempfindens. In: Ders.: Impressionen. 3. Aufl. Leipzig 1902, S. 222–255, hier: S. 241. 56 Rathenau, Walther: Ein Publikum. In: Ders.: Impressionen. 3. Aufl. Leipzig 1902, S. 207–221, hier: S. 217. 57 Rathenau, Ein Publikum (wie Anm. 62), S. 216. 58 Rathenau, Ein Publikum (wie Anm. 62), S. 217. 59 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 271.
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sönlichkeit und führt zur Erschütterung der Seele.“⁶⁰ Der Begriff des „Echten“ wird von Rathenau eingeführt, um eine Grenze zu markieren, das Echte ist das Gesunde: Wenn Kunst „echt“ sein will, dann muss sie „dem gesundesten Teile des Volkes die Hand reichen“.⁶¹ Die „echte Kunst“ kann „höchste Gemeinschaft“⁶² stiften, die Kunst der Ästheten aber ist „entwurzelt“ und ungesund. Wir schreiben das Jahr 1913 – es ist klar worauf Rathenau zielte, der Ästhetizismus ist längst überwunden, jetzt richtete sich die Kritik gegen die ästhetische Avantgarde, den Expressionismus, den Kubismus (Braque und Picasso) und natürlich den Futurismus. Voller Unverständnis blickte man zu dieser Zeit auch im Hause Bruckmann auf die neuen Kunstrichtungen der Moderne. In der tonangebenden Kunstzeitschrift des Bruckmann-Verlages, Die Kunst, erschienen in dieser Zeit zahlreiche Artikel, die nicht nur kritisch, sondern diffamierend gegen die neuen Tendenzen in der Kunst zu Felde zogen. Als fremd und feindlich wurde diese Kunst eingestuft – und natürlich greift man auch hier auf das bekannte Schema „gesund und krank“ zurück.⁶³ Wir wissen wie die Geschichte in den zwanziger und dreißiger Jahren weiterging: Auf die 1928 erschienene Schrift Kunst und Rasse von Paul Schultze-Naumburg ist in diesem Zusammenhang oft verwiesen worden. Schultze-Naumburg stellte die Malerei Geisteskranker und die Kunst der Avantgarde gegenüber, um sie als „entartet“ und krankhaft zu diffamieren – die Methode freilich war altbekannt. Knapp zehn Jahre später – 1937 – wurde in München die Ausstellung über Entartete Kunst eröffnet. Dass auch Rathenau den Kampfbegriff der „Entartung“ im Munde führte und zum Beispiel von „entarteter Naturbetrachtung“⁶⁴ sprach oder die Begriffe „Volksgemeinschaft“⁶⁵, „Rassenkampf“⁶⁶ und „Entgermanisierung“⁶⁷ besetzte, zeigt sein Unbehagen in der Moderne. Es sind die damals weitverbreiteten „Angstund Abwehrbegriffe“⁶⁸ des gebildeten Bürgertums. Doch wissen wir auch, dass Rathenau noch einen Schritt weiter ging. In seiner 1921 veröffentlichten Schrift Die neue Wirtschaft entwirft er einen „Volksstaat“, in dem nur die Tüchtigen und Starken noch einen Platz haben sollen. Luxus und „unnütze“ Konsumgü-
60 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 271. 61 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 273. 62 Rathenau, Mechanik des Geistes (wie Anm. 12), S. 271. 63 Vgl. Martynkewicz, Salon Deutschland (wie Anm. 25), S. 217. 64 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 50), S. 88. 65 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 50), S. 38. 66 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 50), S. 39. 67 Rathenau, Zur Kritik der Zeit (wie Anm. 50), S. 45. 68 Bollenbeck: ‚Gefühlte Moderne‘ (wie Anm. 28), S. 46.
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ter⁶⁹ werden nicht mehr geduldet. Damit erledigt sich selbstredend das Problem der modernen Kunst, denn in der Volksgemeinschaft gibt es neben der „echten Kunst“ nur noch „Kunsthandwerk“ und „Kunstgewerbe“.⁷⁰ Wie Rathenau auf die politischen Entwicklungen in den zwanziger und dreißiger Jahren reagiert hätte, darüber kann man nur spekulieren. Zur Moderne jedenfalls hatte der Außenseiter, der gern im Mittelpunkt gestanden hätte, ein eher gespaltenes Verhältnis.
69 Vgl. Rathenau, Walther: Die neue Wirtschaft. Berlin 1921, S. 64. 70 Rathenau, Neue Wirtschaft (wie Anm. 75), S. 66.
Sven Brömsel
Freundschaft mit dem Bohemien Hanns Heinz Ewers Zwischen Januar und Februar 1911 schreibt Walther Rathenau eine Artikelserie über das Judentum für die Deutsche Montagszeitung. Nach seinem brisanten Aufsatz Höre, Israel! hat er mit dieser Thematik per se eine große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, obwohl die Publikation in der Zukunft und in den Impressionen lange Jahre zurückliegt. Anfangs erinnert der Stil noch an Höre, Israel!: „Solange gewisse Stammeseigentümlichkeiten den jüdischen Deutschen seinem christlichen Landsmann verdächtig machen, […] liegt [es] nahe, den Juden anzuraten, durch energische Selbsterziehung [...] alle korrigiblen Seltsamkeiten zu beseitigen.“¹ Dann wird deutlich, dass Rathenau, seine Meinung zur Problematik des Judentums sensibler darzustellen weiß. Er spricht von Bürgern zweiter Klasse, denen die Laufbahnen für Professoren, höhere Beamte und Militär, für Regierung und Richterstand verwehrt sind. Die Erwartung einer Konversion zum Christentum, obwohl mit erheblichen Vorteilen verknüpft, sei für jüdische Bürger eine doppelte Zumutung. Sie müssen sich einerseits als Menschen empfinden, die mit der Aufhebung des Väterglaubens geschäftlich oder sozial profitieren und sich andererseits mit einer preußischen Judenpolitik einverstanden erklären, deren zugrundeliegende Vorstellungen „rückständig, falsch, unzweckmäßig und unmoralisch“² seien. Solcherart ideeller Schritt müsse an Reinheit verlieren, wenn er mit materiellen Vorteilen verknüpft sei. Der preußische Staat könne dauerhaft keine entscheidenden Faktoren der Wirtschaft und Industrie ignorieren, sowie intellektuelle und moralische Kräfte, wie sie das jüdische Bürgertum repräsentiere, entbehren. „Den Kampf aber werden Verhältnisse entscheiden, nicht Menschen. Eine unaufrichtige und unsittliche Politik kann keinen Bestand haben, die preußische Judenpolitik aber wird noch früher an ihrer Unzweckmäßigkeit scheitern als an ihrer Ungerechtigkeit.“³ Das ist der Tenor der Artikel, die der Chefredakteur auf der Titelseite platziert. Der heißt Hanns Heinz Ewers und bringt der Montagszeitung zwischen 1910 und 1911 literarische Popularität. Für Rathenau ist es eine Freude, hier zu
1 Rathenau, Walther: Staat und Judentum. Eine Zeitungspolemik. In: Ders.: Zur Kritik der Zeit. Berlin 1912, S. 220. 2 Rathenau, Staat und Judentum (wie Anm. 1), S. 224. 3 Rathenau, Staat und Judentum (wie Anm. 1), S. 233.
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schreiben, denn das in dieser Zeit bürgerliche und leicht anarchische Blatt hat einen Absatz von 22.000 Exemplaren im westlichen Berlin und sammelt Autoren wie Max Brod, Hermann Bahr, Egon Friedell, Arnold Zweig, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Leo Tolstoi, Maxim Gorki, Paul Scheerbart und Frank Wedekind. Es nimmt nicht wunder, dass Rathenau darum bittet, den Chefredakteur kennenlernen zu dürfen. Der antwortet: „den wunsch einer persönlichen bekanntschaft teile ich sehr mit ihnen: sie würden mich verbinden, wenn sie mir gelegenheit geben würden, das herbeizuführen – es wäre eine große freude für mich.“⁴ Wer ist dieser Hanns Heinz Ewers, der in Rathenau die Neugierde weckte? Da seine Persönlichkeit in diesem Kontext nicht vorausgesetzt werden kann, soll etwas näher darauf eingegangen werden.⁵ Der 1871 in Düsseldorf geborene, also um vier Jahre jüngere, fängt früh an, Gedichte, Märchen und Erzählungen zu schreiben, mit denen er in eigenen Buchausgaben bekannt wird. In Zeitschriften zeichnet Ewers frühe Texte mit dem Pseudonym „Nazi“, was ihn später als einen Vordenker der Nationalsozialisten diskreditiert, allerdings in dieser Zeit die mundartliche Bedeutung von Draufgänger hat.⁶ Er studiert Rechtswissenschaften in Berlin, Bonn und Genf und wird 1898 promoviert. Ewers interessiert sich jedoch vordringlich für Philosophie, Literatur, Okkultismus und Hypnose. Anstelle des Referendariates arbeitet er sich an seinen geistigen Vorbildern Max Stirner, E. T. A. Hoffmann und Oscar Wilde ab. Letzteren hat er auf Capri noch kennengelernt. Die Erzählung C.3.3. stilisiert das Treffen mit der Dandy-Legende; später gibt er dessen Werke auf Deutsch heraus. Nach einer Reihe von Skandalen, seiner Entlassung aus dem Staatsdienst und Mitwirkung an der Homosexuellen-Zeitschrift Der Eigne wird Ernst von Wolzogen auf den jungen Wilden aufmerksam und wirbt ihn für das frisch gegründete Kabarett „Überbrettl“ in Berlin. Schnell steigt Ewers zum künstlerischen Leiter des Varietés auf, für das er nicht nur Satiren liefert, sondern auch mit Erfolg auf der Bühne repräsentiert. Mit einer Wanderbühne wird in der Schweiz, in Österreich, Bosnien, Kroatien, Ungarn, Rumänien, Polen und Russland gastiert. Er führt ein ausgelassenes Leben, hat aber wenig Einkünfte. Im „Überbrettl“ freundet sich Ewers mit Erich Mühsam an. Die beiden überbieten sich im Erfinden von Satiren, schreiben gemeinsam ein Märchen und einen Führer durch die moderne Literatur, der schließlich eine Auflage von 28.000 Exemplaren erreicht.
4 Brief von Hanns Heinz Ewers an Walther Rathenau vom 28. Januar 1911, HHE-Nachlass, Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf. 5 Die biografischen Details zu Ewers sind hauptsächlich aus: Kugel, Wilfried: Der Unverantwortliche. Das Leben des Hanns Heinz Ewers, Düsseldorf 1992. 6 Vgl. u. a. Busch, Wilhelm: Der Schmetterling, München 1895.
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Im Berliner Café des Westens, das gerne als Café Größenwahn bezeichnet wurde, hing noch lange ein Wandbild, auf dem neben anderen Ewers und Mühsam zu sehen waren. Doch Ewers hält es nicht im Varieté. Er will mit seiner Frau, der Künstlerin Ilna Wunderwald, die Welt bereisen und entschließt sich, von nun ab das Leben eines Abenteurers zu führen. Dafür trifft er mit verschiedenen Reedereien Arrangements, gratis zu fahren und als Gegenleistung positive Reiseberichte zu liefern. So fährt er nach Frankreich, Spanien, in die Karibik, nach Indien, Ceylon, Australien, in die Südsee und nach Ostasien. Es entstehen die Bücher Mit meinen Augen, Indien und Ich und Von sieben Meeren. Ewers wird das Globetrotter-Dasein nicht mehr aufgeben, entdeckt eine Grotte auf Capri, spürt sich in den Voodoo-Kult auf Haiti ein und steht fassungslos vor dem inneren Wesen und äußeren Wahnsinn der Ganges-Stadt Benares. Er interessiert sich für Drogen, macht Experimente mit Haschisch, Mescalin, Morphium, Opium, Kokain und behauptet: „[…] in den Narkotiken liegen für den Künstler ungeheure Schätze verborgen. Es ist ein fast unbetretenes Goldland, aus dem der kluge und glückliche Finder immer und immer wieder neue Kunstwerke herausschlagen mag.“⁷ In seinen Büchern gibt es immer wieder Bezüge auf Drogen und narkotische Rauschzustände. Nebenbei ist er ein Anhänger der aus der Reformbewegung gewachsenen Aussteiger- und Nacktkultur. Aber Ewers ist kein Müßiggänger. Er fängt bereits um 1908 an, mit beweglichem Zelluloid zu experimentieren, und mit dem Studenten von Prag gelingt ihm der erste Autorenfilm. Das Werk mit Paul Wegener in der Hauptrolle hat sich wie kaum ein anderes dieser Zeit in die Filmgeschichte eingeschrieben. Ewers ist eine Schlüsselfigur für die neue Kunstrichtung, schreibt die ersten Film-Kritiken und nimmt für sich in Anspruch, ausgehend vom Wort „Kinematograf“ bereits 1907 den Begriff „Kintopp“ geprägt zu haben. Weiterhin bringt er Persönlichkeiten wie Paul Wegener, Alexander Moissi, Tilla Durieux und Ernst Lubitsch zum lebenden Bild. Später dreht er auch mit Enrico Caruso, Werner Krauss, Brigitte Helm und Valeska Gert – es werden über ein Dutzend Spielfilme. Zwischen 1906 und 1910 übersetzt Ewers den in London lebenden Autor Israel Zangwill. Der mit seinen Essays, Romanen und Theaterstücken im angelsächsischen Raum viel gelesene Zionist war ein früher Anhänger Theodor Herzls und Gründer der Jüdisch-Territorialistischen-Organisation. Sein wohl berühmtestes Buch ist der Roman Children of the Ghetto. Ewers ist der deutsche Übersetzer und Herausgeber seiner Schriften, die auf sieben Bände anwachsen.
7 Ewers, Hanns Heinz: Rausch und Kunst. In: Das Blaubuch, Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst, hrsg. von Heinrich Ilgenstein und Albert Kalthoff. Berlin 1906, S. 1730.
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Berühmt ist Ewers allerdings durch seine eignen Bücher, sodass er international als ein deutscher Poe gehandelt wird. Mit den Erzählungsbänden Das Grauen und Die Besessenen sowie seinem Romanerstling Der Zauberlehrling oder die Teufelsjäger wird er einem breitem Publikum bekannt. Er verarbeitet – für diese Zeit unvergleichlich exzentrisch – okkulte Wahrnehmungen mit sexuellen Obsessionen, narkotischen Experimenten und Gewaltexzessen. Der an Nietzsche, Huysmans und Weininger geschulte Autor scheut sich nicht, unliebsame Wege der Selbstangst weiterzugehen und öffentliche Tabus wie Blasphemie, Homoerotik, Päderastie oder Nekrophilie aufzugreifen. Gustav Klimt ist erregt von diesen Ungeheuerlichkeiten; er malt für die Cover-Gestaltung von Das Grauen einen Hexenkopf, der aber erst 1908 als Frontispiz den Besessenen beigefügt wird, und gestaltet für den Dichter ein sehr persönliches Geschenk: Für mich schuf Klimt eine große Schreibmappe, aus Silber getrieben, mit schwarzen Opalen und anderen opaken Steinen besetzt – ein Spiel von Disteln, Meerspinnen und nackten Frauen, Teufelsfratzen dazwischen und immer wieder das H. H. E. meines Namens. „Gebrauchen“ kann man das nicht – aber eine schönere haben kein König und keine Geheime Kommerzienrätin je ihr eigen genannt.⁸
Der Georg-Müller-Verlag macht ein gutes Geschäft mit Ewers, der wie kein Zweiter das Publikum und die Kritik polarisiert. Für die Einen ist er genialisch – für die Anderen ein pathologischer Fall; bei Lesungen seiner Bücher kommt es zu Ohnmachtsanfällen. Von rechts und von links, wie aus der Mitte wurde ich in gleicher Weise beschimpft; es war das allererste Mal, daß ich die Presse aller Parteien völlig einig sah. Ein konservativ antisemitisches Blatt nannte mich „einen perversen Judenjungen, dessen widerlicher Reklamesucht nichts heilig sei“, eine unabhängige sozialistische Wochenschrift beschimpfte mich als einen „pornographischen Nichtskönner [...]“, ein Zentrumsblatt meinte, daß es sich vermutlich „um den kindlichen Versuch eines talentlosen Maulhelden handele, gegen Jesuiten Stimmung zu machen“.⁹
Ewers weiß sich zu inszenieren, und die Presse ist dankbarer Abnehmer der Skandale. Er hinterlässt unverkennbare Spuren in der Moderne, spielt aber bis heute in der Literaturgeschichte fast keine Rolle. Die Ursache ist in einer ideologischen Dissonanz seiner späteren Biografie zu suchen.
8 Vgl. Kugel, Wilfried: Der Unverantwortliche. Das Leben des Hanns Heinz Ewers. Düsseldorf 1992, S. 119. 9 Ewers, Hanns Heinz: Nachwort. In: Ders./Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. München 1922, S. 518.
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Die 1911 beginnende Korrespondenz zwischen Ewers und Rathenau dauert bis zur Ermordung des Außenministers an. Leider ist sie nicht mehr vollständig erhalten. Doch gibt sie auch im dezimierten Zustand Einblicke in den breitgefächerten Austausch beider Persönlichkeiten. Sie schicken sich gegenseitig ihre Bücher, tauschen sich über Kunst aus und debattieren über Max Reinhardt. Auch berichtet Ewers über einen Roman, der gerade seine volle Aufmerksamkeit hat: Alraune. Die Geschichte eines lebenden Wesens. Das Buch wird noch zu seinen Lebzeiten auf dem deutschen Markt über eine halbe Million mal verkauft, in 17 Sprachen übersetzt und schließlich fünfmal verfilmt. Bevor der dritte Teil von Rathenaus Artikel über das Judentum in der Montagszeitung erscheint, trifft er Ewers in Berlin. Sein Tagebuch verrät für den 3. Februar 1912: „Mittags Hanns Heinz Ewers im Klub. Gespräch über Lebensgebiete des Willens.“ Ewers schreibt an seine Mutter: „trotz der zwei telegramme sandtest du mir den cutaway nicht!! statt dessen den Frack!! ich mußte also gleich noch ein drittes telegramm darum senden!“¹⁰ Der Lebemann und Dandy wusste natürlich, dass man unmöglich zur Mittagszeit im Klub einen Frack tragen könne. Es ist naheliegend, dass sich Rathenau und Ewers auch über die Stellung des Judentums in der Gesellschaft ausgetauscht haben. Letzterer hatte 1905 im Berliner Tageblatt den viel beachteten Text Der Jude ein Pionier des Deutschtums und 1907 nach einer Rundfrage von Julius Moses Die Lösung der Judenfrage geschrieben. In den Aufsätzen werden deutsch-nationale und jüdische Begehrlichkeiten eng aneinander gerückt, ja sollen in einem „deutschen Staat jüdischer Nation“¹¹ verschmolzen werden. Rathenaus Aufsätze in der Deutschen Montagszeitung haben den Historiker Werner Sombart inspiriert, ein Buch unter dem Titel Judentaufen¹² herauszugeben und dafür Wortmeldungen bekannter Autoren einzuholen. Als Frontbeiträge sollten dafür die Rathenau-Texte dienen. Der aber lehnt eine Publikation ab, da seine Aufsätze der Fragestellung nicht entsprächen und es ihm zu diesem Zeitpunkt unmöglich sei, sie entsprechend umschreiben zu können. Auch Ewers, der in dem Band wie Erzberger, Mauthner, Dehmel und Wedekind mit von der Partie ist, kann bei Rathenau nicht vermitteln. So erscheint 1912 das Buch Judentaufen
10 Hanns Heinz Ewers an Maria aus’m Weerth am 30. Januar 1911, HHE-Nachlass, HeinrichHeine-Institut Düsseldorf. 11 Ewers, Hanns Heinz: Der Jude als Pionier des Deutschtums, Exemplare des Berliner Tageblattes sind nach Wilfried Kugel verschollen. Hier zitiert aus einem HHE-Manuskript im Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Archiv W. Kugel, S. 4. 12 Vgl. Sombart, Werner: Judentaufen. München 1912.
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Abb. 1: Hanns Heinz Ewers, 1913
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Abb. 2: Porträt Walther Rathenaus von Edvard Much, 1907
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ohne seine Galionsfigur. Dafür tritt Ewers ganz in die Fußstapfen seines neuen Freundes: So erscheint mir die möglichst enge Assimilation dieser beiden Rassen sehr erwünscht, sowohl für uns Deutsche, wie für die Juden. […] Nun ist unser Judentum zweifellos noch immer bei uns ein Fremdkörper, das empfinden wir, das empfinden die Juden selbst. Der Grund liegt auf der Hand: er besteht in der stetig neuen Einwanderung russisch-polnischer Juden, deren Kultur weit unter der unseren steht. Wir versagen ihnen unser Mitleid nicht und geben ihnen alle Lebensmöglichkeiten, […] aber wir können nicht hindern, dass uns ihr Anblick, ihre Sprache, ihre Gewohnheiten in ein gewisses Missbehagen des Gefühls versetzen. Dieser stets neue, trübe Zuzug ist es, der sich wie Bleigewicht an die raschfortschreitenden Füsse „unsrer“ Juden hängt. [...] Wäre nicht dieser stetige Zuzug aus dem Osten her, das deutsche Judentum wäre längst, wenn nicht völlig aufgesogen, doch durchaus assimiliert.¹³ […] Man reisse ferner alle die kleinen Schranken ein, die nichts mehr bedeuten und nur eine zwecklose Bitterkeit erzeugen, lasse die Juden Offiziere, Staatsanwälte werden, lasse sie in die Regierungskarriere, in die Diplomatie eintreten, mache sie im allerweitesten Sinne des Wortes zu Vollbürgern.¹⁴ […] Eines aber können beide gemeinschaftlich tun, was wichtiger wäre als diese Kleinarbeiten. Das ist: das zermorschte Gebilde ihrer Religionen endlich ganz einreissen. Pfaffentum ist Pfaffentum, ob es nun eine Soutane, ein schwarzes Bäffchen oder einen Talles trägt, und Pfaffentum ist heute die schwärende Eiterbeule unserer Kultur. Innerlich ist jeder gebildete Kulturmensch längst fertig mit den abgestandenen Ideen seiner Religion. […] Darum deucht es mich die erste Pflicht jedes anständigen denkenden Menschen, aus seiner Kirche auszutreten, sei er nun Jude oder Christ.¹⁵
Das klingt wie eine Zusammenfassung Rathenauscher Äußerungen über das Judentum zwischen Höre, Israel! und Kritik der Zeit. Freilich hätte dieser nie die Religion als „Eiterbeule unserer Kultur“ beschrieben. Inhaltlich geht Ewers an dieser Stelle mit Bruno Bauer und Karl Marx konform: „Die starrste Form des Gegensatzes zwischen Juden und Christen ist der religiöse Gegensatz. Wie löst man einen Gegensatz? Dadurch, daß man ihn unmöglich macht. Wie macht man einen religiösen Gegensatz unmöglich? Dadurch, daß man die Religion aufhebt.“¹⁶ Solcherart Exaltationen waren Rathenau, der zutiefst von bürgerlichem Konsensverhalten bestimmt war, fremd. Umso mehr fühlte er sich von schillernden Persönlichkeiten wie Ewers angezogen, die sich mit Kompromisslosigkeit etikettierten und für ungewöhnliche Positionen eintraten.
13 Ewers, Hanns Heinz: [ohne Titel], in: Sombart, Judentaufen (wie Anm. 12), S. 37f. 14 Ewers (wie Anm.13), S. 40. 15 Ewers (wie Anm. 13), S. 41. 16 Marx, Karl: Zur Judenfrage. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke. Bd. 1. Berlin 1981, S. 348f.
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Auch hatte sich Ewers bereits mit seinem Reisebild Im Prado¹⁷ ganz dem Madrid-Erlebnis¹⁸ Rathenaus angeschlossen. Hier wie dort wird die spanische Metropole als fade wahrgenommen und deshalb übergangen, um sich dann ausgiebiger dem Prado widmen zu können. Mit der Groteske Mein Begräbnis¹⁹ hat Ewers Rathenaus Erzählung Die Resurrection Co.²⁰ persifliert und damit eine literarische Annäherung vollzogen. Ewers lässt sich für seine exzentrischen Todes- und Liebesgeschichten beileibe nicht nur literarisch inspirieren. Eine 22-jährige Geliebte aus Wien, die sich seinetwegen Anfang 1912 erschießt, wird im Roman Vampir und dem Stück Das Mädchen von Shalott verewigt. Und die später berühmt gewordene Malerin Marie Laurencin aus Paris, für deren Kind er wohl nur Erzeuger, aber kein Vater war, findet Eingang in das Drama Das Wundermädchen von Berlin. Das Stück, bei Max Reinhardt im Deutschen Theater angenommen, wird aber 1914 von der militärischen Zensur verboten. Während des Ersten Weltkriegs hält sich Ewers hauptsächlich in den USA und Spanien auf. Er arbeitet für die Zeitung Fatherland, dem deutschen Propaganda-Organ in Amerika, macht Aufsehen mit patriotischen Vorträgen in 28 Großstädten, versucht vermittels privater Beziehungen das Zeichnen englischer Kriegsanleihen zu verhindern und beteiligt sich an Passfälschungen für deutsche Landsleute. Es ist ihm ein Anliegen, die USA vom Kriegseintritt abzuhalten. Der Roman Vampir und das Manuskript Amerika berichten von seinen Bemühungen in dieser Sache. Mit Rathenau korrespondiert er über seine Agitationen in den USA. Gleicherweise ist er über Rathenaus Fortschritte mit der Kriegs-Rohstoff-Abteilung informiert. Ewers beklagt sich über die Unfähigkeit deutscher Diplomaten in Washington, den antideutschen Kampagnen der amerikanischen Presse entgegenzutreten. Gleichsam wie mit einem siebten Sinn tauscht sich Ewers mit dem vorrangig als Wirtschaftsexperten und philosophischen Autor bekannten über brisante Details der Außenpolitik aus. Seine Berichterstattungen aus Amerika erinnern in Art und Detail an eine Agententätigkeit. Rathenau schreibt am 23. Juli 1915 verschlüsselt: „Auch ich glaube, daß das Rittergut, von dem Sie sprechen, besser und durch geeignetere Kräfte hätte bewirtschaftet werden können, und ich freue mich auf
17 In: Ewers, Hanns Heinz: Mit meinen Augen. München/Berlin 1909, S. 20–27. 18 In: Rathenau, Walther: Impressionen. Leipzig 1902, S. 25–30. 19 In: Ewers, Hanns Heinz: Grotesken. München/Leipzig 1910, S. 1–18. 20 In: Rathenau, Impressionen (wie Anm. 18), S. 121–136. Freilich sind beide Erzählungen vorderhand eine Referenz an Edgar Allan Poes „The Premature Burial“ und „The Fall of the House of Usher“. Dieter Heimböckel hat die Satire „Resurrection Co.“ und die literarische Anleihen bei Poe näher untersucht. Ewers nun erinnert gleichzeitig an sein Alter ego Poe und Rathenau.
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den Geschäftsbericht, den Sie uns so freundlich in Aussicht stellen.“²¹ Mit dem „Rittergut“ ist die Deutsche Botschaft in Washington und dem „Geschäftsbericht“ das Amerika-Manuskript gemeint. Ganz unbedarft schreibt dagegen Ewers fünf Monate später aus Sevilla: „das ‚amerikabuch‘ des letzten jahres hält die zensur zurück! jetzt wieder nach den Staaten zur propaganda!“²² Ewers hatte das Manuskript seinem Freund Artur Landsberger nach Berlin geschickt, der sich um die Publikation beim Müller-Verlag kümmern soll. Doch wird die Veröffentlichung von der Zensurbehörde verboten, da Ewers harsche Kritik am Auswärtigen Amt und deutschen Konsulat in Amerika übt. „Es muß einmal offen ausgesprochen werden: nie hat im Laufe seiner ganzen Geschichte ein Volk ein jammervolleres Fiasko seiner Diplomatie erlebt als Deutschland in diesen Jahren.“²³ Im später gedruckten Vampir-Roman wird er noch deutlicher: „Du – du bist der deutsche Diplomat. Du bist nicht gemein – nur gemeingefährlich. Du bist kein Schuft – bist kein Lügner – bist nicht bestochen und bezahlt. Nur – ungeheuer dumm bist du! Dir tue ich eine große Wohltat an – wenn ich Dich totmache.“²⁴ Nun soll Landsberger versuchen, mit Einfluss von Rathenau das AmerikaBuch durch die Zensur zu bekommen, aber auch diese Mission scheitert. So muss sich Ewers mit dem Schreiben von Stücken und Opernlibretti verdingen und beim amerikanischen Film als Autor, Dramaturg und Schauspieler über Wasser halten. Den Erlös seiner Kriegslieder stellt er polnischen Juden zur Verfügung. Um England zu schwächen, ist er mit Aleister Crowley aktiv für ein deutschirisches Bündnis engagiert. Die beiden zu magischen Ritualen, Drogen und sexuellen Enthemmungen hingezogenen Autoren, nutzen ihre politischen Visionen, um sie mit okkulten Themen zu verbinden. 1915 fährt Ewers nach Mexiko, um den Rebellenfürsten Francisco Villa, genannt Pancho, zu animieren, in die Südstaaten einzufallen. Das sollte die USA davon abhalten, mit der Entente gegen Deutschland zu kämpfen. Ewers hatte den selbsternannten Diktator Villa schon 1906 in Mexiko kennengelernt²⁵ und es kommt tatsächlich zu Überfällen und argen Verwüstungen in verschiedenen Grenzstädten. Natürlich treten die USA dennoch in den Krieg ein und im Juni 1918 meldet die New York Times, dass Ewers inhaftiert worden sei. Seine Freilassung im August 1919 verdankt er den Bemü-
21 Walther Rathenau an Hanns Heinz Ewers. In: Walther Rathenau: Briefe 1914–1922, hrsg. von Hans Dieter Hellige und Ernst Schulin. Düsseldorf 2006, S. 1452. 22 Hanns Heinz Ewers an Walther Rathenau, 15. November 1916, HHE-Archiv, Heinrich-HeineInstitut Düsseldorf. 23 Ewers, Hanns Heinz: Typoskript des Amerika-Buches im HHE-Nachlass, Heinrich-HeineInstitut Düsseldorf, S. 269. 24 Ewers, Hanns Heinz: Vampir. Berlin 1928, S. 484. 25 Ewers hat den Diktator in seinem Roman „Vampir“ verewigt.
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hungen des Romanciers John Galsworthy und einer Kaution von 100.000 Dollar. Ewers verlobt sich mit der Amerikanerin Josephine Bumiller, die später seine zweite Ehefrau wird, und fährt zurück nach Deutschland. Dort kommt 1920, nach abenteuerlichen Umwegen des Manuskripts, der Roman Vampir auf den Markt; ein Buch, das 67 Jahre später den Film Angel Heart mit Mickey Rourke und Robert de Niro beeinflusst haben dürfte. Der Protagonist ist in abartige Bluttaten involviert, bis ihm bewusst wird, dass niemand anderes als er selbst der Täter ist. Auch die Voodoo-Szenen des Films scheinen von Ewers inspiriert. Anstelle einer Überschrift sind den Kapiteln Edelsteine zugewiesen; die Kapitel selbst sind in Anlehnung an den Zodiak geordnet. Zusätzlich werden die Kapitel in hebräischer Sprache zu biblischen Figuren und Sternbildern ins Verhältnis gesetzt, deren Reihenfolge jedoch nicht der üblichen Jahresfolge entspricht.²⁶ Die Edelsteine der Kapitelüberschriften verweisen auf den in der Bibel erwähnten Brustschild des Hohepriesters, über welchen auch im Roman fabuliert wird. Ewers bindet Elemente der jüdischen Astrologie und Mythologie in die Fantastik seines Romans und versucht, Verbindungslinien deutschen und jüdischen Ursprungs nachzuspüren. Er ist fasziniert von der Idee einer deutsch-jüdischen Elite und denkt dabei sicher auch an Walther Rathenau. Im Vampir heißt es: „Juden als Deutsche – als ein gleichberechtigter Stamm im Deutschtum“,²⁷ – bei Rathenau ist zu lesen: „Ich bin ein Deutscher jüdischen Stammes.“²⁸ Ganz ähnlich werden in Rathenaus Talmudischen Geschichten²⁹ jüdische Mythen literarisch verwertet, die sich als moderne Fabeln, als Zeitkritik, Selbstbespiegelung und Sublimierung von Sexualität verstehen.³⁰ Ewers lässt Lotte Lewi, die weibliche Hauptfigur im Vampir, ihren Vater beschreiben, an dem nichts jüdisch gewesen sein soll: „Nichts, außer Namen und Nase.“ An dieser Stelle wird die Kraft kultischer Steine beschworen, von den Kindern Israels gesprochen, die als Sklaven nach Babylon gezogen seien und bis nach Manhattan einen langen Weg gehabt hätten. Eine in Lottes Besitz befindliche Brustplatte sei mit Steinen aus der Zeit des 1. Tempels beschlagen und gehöre dem Stammesvater Aaron. Die Platte verkörpere den magischen Zugang zu ihren Ahnen.
26 Ausgenommen sind drei der fünfzehn Kapitel. Sie tragen die hebräische Bezeichnung für „der erste Tag“, „der zweite Tag“ sowie „der dritte Tag“. Allerdings sind die hebräischen Einschübe teilweise fehlerhaft, was sich auf die Verwechselbarkeit bestimmter Buchstaben beim Satz zurückführen ließe. 27 Ewers, Vampir (wie Anm. 24), S. 128. 28 Rathenau, Walther: An Deutschlands Jugend. Berlin 1918, S. 9. 29 In: Rathenau, Impressionen (wie Anm. 18), S. 101–120. 30 Vgl. Heimböckel, Dieter: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit. Würzburg 1996, S. 75–80.
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Auch für Rathenau ist die Nase ein „sichtbar physiognomisches Zeichen“, das seiner Ansicht nach Tieferes verrät. Einen markanteren Ausdruck des Körperteils nennt er pathetisch „Kainszeichen“, an dem „sich zahllose Fragen von Abstammung und Zusammengehörigkeit lösen, […] manches Rätsel von verflossenen Völkern sich offenbaren“³¹ müsse. Rathenau und Ewers lassen in ihren Texten unbekümmert Rassentheorien der Zeit aufleuchten, die im Rahmen ihrer Verwendung durchaus goutiert werden.³² Als am 1. Februar 1922 Walther Rathenau der erste jüdische Außenminister in Deutschland wird, telegrafiert ihm Ewers seinen Dank für die Courage zu diesem Schritt.³³ Ewers ist guter Dinge, bei der neuen politischen Konstellation mitmischen zu können, denn Rathenau schrieb ihm 14 Tage zuvor: „Ich hoffe und wünsche, daß sich einmal die Gelegenheit findet, Ihre großen Beziehungen und Weltkenntnisse für die Gemeinschaft nutzbar zu machen.“³⁴ Zur Osternummer von 1922 schreibt der umstrittene Historiker Martin Spahn³⁵ unter dem Titel Wiedergeburt in den Düsseldorfer Nachrichten einen Artikel mit antisemitischem Unterton. Er beklagt sich darüber, dass die moderne Gesellschaft statt Eichendorff Heine, statt Görres Börne und statt Bismarck Rathenau hochschätze. Ewers’ Reaktion auf diesen Artikel, die in den Düsseldorfer Nachrichten abgelehnt wurde, wird später in der C. V. Zeitung gedruckt: Professor Dr. Spahn meint: „Wie lange mag es nun noch dauern, bis sich das deutsche Volk auch an die Stelle des Namens Bismarck einen anderen schieben läßt?“ – Einen anderen – nämlich Rathenau! Befürchtet Professor Dr. Spahn das wirklich? Und glaubt er im Ernste, daß es auch nur einen einzigen Deutschen gäbe, der solche Furcht teilen würde? So wenig wie Heine den Glanz Eichendorffs verdunkelt hat, so wenig wird Rathenau Bismarcks Ruhm aus dem Gedächtnis des Volkes wischen! Wenn aber – zum Heile Deutschlands – sein Stern neben dem Bismarcks aufleuchten sollte wie der Heines neben Eichendorffs, nun, dann wollen wir Deutsche uns herzlich darüber freuen! Denn dann wären wir ja der nationalen Wiedergeburt viel, viel näher, als wir alle glaubten – dann dürfte die große Hoffnung Pro-
31 Rathenau, Walther: Reflexionen. Berlin 1908, S. 13. 32 Auch Physiognomiker wie Rudolf Kassner, der für Rassentheorien unverdächtig gilt, exemplifiziert in seiner Schrift „Zahl und Gesicht“ eine gekrümmte Nase an Hand jüdischer Klischees. 33 Vgl. Hanns Heinz Ewers an Walther Rathenau, 1. Februar 1922, HHE-Nachlass, HeinrichHeine-Institut Düsseldorf. 34 Rathenau, Walther: Briefe. Teilband 2: 1914–1922. Hrsg. von Alexander Jaser [u. a.]. Düsseldorf 2006, S. 2629. 35 Der Zentrums- und spätere NSDAP-Politiker trat 1901 ein katholisch gebundenes Ordinariat für Neuere Geschichte in Straßburg an. Das führte zu heftigen Debatten über konfessionell gebundene Professuren. Insbesondere die Wortmeldungen des Althistorikers Theodor Mommsen für eine „voraussetzungslose Wissenschaft“ ließ den „Fall Spahn“ in öffentliche Diskurse münden, in die schließlich Wilhelm II. intervenierte.
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fessor Spahns, wie unser aller, bald in Erfüllung gehen! Gerade in diesen traurigen Tagen sollten wir Deutsche uns hüten, irgend einen unserer Großen gegen den anderen auszuspielen, ihn auf Kosten des anderen herabzusetzen. Es ist auch ein christlicher Ostergedanke, wenn er auch aus heidnischem Munde kam, aus dem der Antigone des Sophokles: „Nicht mitzuhassen – mitzulieben bin ich da!“³⁶
Aber Rathenau wird neun Tage später ermordet – und damit jegliche Hoffnung auf seine Person zerstört. In den 1920er-Jahren bringt Ewers die Presse in Aufruhr, indem er das Schiller-Fragment Der Geisterseher vollendet, – was in bürgerlichen Augen als Verbrechen an der deutschen Klassik angesehen wird. Weiterhin finden seine Editionen Bibliothek des Absonderlichen und Galerie der Phantasten viel Beachtung. Besonders die Herausgabe von Oskar Panizzas Visionen der Dämmerung und Alfred Kubins Die andere Seite wird gleichzeitig als Provokation und Verbindung zwischen Mythos und Moderne verstanden. Ähnlich steht es mit der dreibändigen Prachtausgabe Liebe im Orient, für die Ewers und Magnus Hirschfeld Einführungen verfassen. Als Nächstes will Ewers seinen Roman Fundvogel von 1929, der eine Geschlechtsumwandlung thematisiert, aufwändig verfilmen. Doch das Projekt platzt, weil sich sein Kompagnon mit 150.000 Mark nach Buenos Aires absetzt. In dem Buch, welches wie der Vampir autobiografisch gefärbt ist, wird Rathenau ein Denkmal gesetzt. Die Protagonistin wird darin während des Krieges in eine Grunewald-Villa gefahren, um als deutsche Agentin angeworben zu werden. Hier begegnet sie dem Hausherrn und Chef der nicht genannten Organisation. Das ist „ein großer, glatzköpfiger Mann mit einem sehr gutmütigen, kindlich-naiven Vollmondgesicht. Er verbeugte sich vor ihr, bat um Verzeihung, daß man sie so lange habe warten lassen. ,Ich glaube, wir werden Sie gebrauchen können, gnädige Frau‘, sagte er.“³⁷ Dann lädt er galant zu einem kärglichen Abendmahl aus RunkelrübenGemüse und einem Glas guten Moselweins. Ewers scheint, seine politischen Tätigkeiten in Amerika mit Erinnerungen an die legendäre Villa im Grunewald zu verbinden. Rathenau war bekannt für seine guten Manieren und dafür, dass er eine schlichte Lebensweise kultivierte, da er zur Schau getragenen Reichtum verachtete. Deshalb wurde in seiner Villa eher frugal gekocht. Er hatte einen auf-
36 Ewers, Hanns Heinz: Heine – Börne – Rathenau. In: C. V. Zeitung, Blätter für Deutschtum und Judentum, Organ des Zentralvereins deutscher Bürger jüdischen Glaubens, Jg. 1, Nr. 7, (15. 6. 1922), S. 86. 37 Ewers, Hanns Heinz: Fundvogel. Berlin 1929, S. 256.
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fallenden Kopf, „nicht ganz zum Körper passend“,³⁸ und ein großes Gesicht. Die freundlichen Worte des Herrn im Roman „wir werden Sie gebrauchen können“ lesen sich wie eine Wunschantwort Rathenaus auf das Anerbieten von Ewers im Jahr 1921 an denselben: „ich schreibe ihnen nur, um ihnen zu sagen, daß wenn sie mich [...] einmal gebrauchen können – sie mich stets bereit finden werden!“³⁹ Die als Agentin geworbene Protagonistin des Romans fährt von der Villa im Grunewald ausgerechnet über Arnheim nach London. „Sind wir über die Grenze?“ fragte sie. Der Mann am Steuer nickte, sah auf seine Armbanduhr, fuhr plötzlich langsamer. „Wir sind zu früh“, sagte er. „Es ist besser, wenn wir genau zur Abfahrt ankommen.“ „Wo?“ fragte sie. „In Arnheim“, antwortete er.⁴⁰
Ob sich Ewers und Robert Musil in den 1920er-Jahren über Rathenau als Romanfigur verständigt haben, ist nicht ermittelbar. Fundvogel erscheint kurz vor dem ersten Teil des Manns ohne Eigenschaften mit dem „Großschriftsteller Arnheim“ als Rathenau-Parodie. Musil hatte sich persönlich, soviel bekannt ist, über Ewers eher despektierlich geäußert, könnte ihn aber beispielsweise im Kreis um Alfred Flechtheim und den Querschnitt kennengelernt haben. Jedenfalls scheint der Rathenau-Arnheim-Kontext im Fundvogel-Roman keine Laune des Zufalls zu sein. Als 1931 das politische Klima zusehends rauer wird, schreibt Ewers über Rathenau: „[…] die Männer, die diese Minister (Erzberger und Rathenau) erschossen, betrachtete die demokratische Volksseele als gemeine Meuchelmörder. Auf dem Boden von Versailles waren beide Mordtaten erwachsen; so gut wie Brutus und Tell glaubten die Täter, für ihr Volk zu handeln.“⁴¹ Diesen politisch-psychologischen Verstrickungen möchte Ewers auf den Grund gehen. Er schreibt im Stil Bronnens und von Salomons einen Roman über Fememorde. Das Buch heißt Reiter in deutscher Nacht. Darin empört sich ein Freikorps-Mitglied über einen „politischen Feldzug“ in der Presse: Da sind manche Politiker schwer bloßgestellt: Sozialisten, Demokraten, Zentrumsleute. Das aber haben die Parteien auszubaden – die sind froh, wenn sie etwas haben, das die Öffentlichkeit ablenkt und mit der Nase in einen andern Dreck stößt. Einen Dreck, der zum Himmel stinkt und dazu rechts ist, ganz rechts! Begreift ihr? Ein geheimer Verband von
38 Sabrow, Martin: Beitrag „Rathenau erzählen“ in diesem Band. 39 Hanns Heinz Ewers an Walther Rathenau, 28. Dezember 1921, HHE-Nachlass, HeinrichHeine-Institut Düsseldorf. 40 Ewers, Fundvogel (wie Anm. 37), S. 258. 41 In: Kugel, Der Unverantwortliche (wie Anm. 8), S. 263.
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Verschworenen, der in grausamster Weise die politischen Gegner hinmordet, von Soldaten angefangen bis zu Ministern – Erzberger, Rathenau.⁴²
Die von Ewers ad absurdum dargestellte Presse hat offensichtlich beschrieben, was er hier in einem anderen Licht erscheinen lassen möchte – politisch motivierten Mord.⁴³ „Im dicksten Dreck klebt der deutsche Karren – verhungerte Gäule genug, die ziehn nach rechts und nach links, nach vorn und nach hinten. Aber kein Kutscher auf dem Bock, der die Peitsche schwingt!“⁴⁴ Im Jahr 1922 hätte Ewers, der zwar dem nationalen, nicht aber dem völkischen Spektrum zuzurechnen war, nicht suggeriert, dass rechts vorn und links hinten sei. Er hatte Rathenau telegrafiert: „vor zehn jahren hätte ich geschrieben: herzliche glückwünsche!! heute kann man nur schreiben: dank, dass sie es versuchen, den karren aus dem dreck zu ziehen!“⁴⁵ Die Dekaden ändern sich, aber der Karren ist nach Ewers noch immer im Dreck. Er denkt mittlerweile an andere Kutscher als Rathenau. Reiter in deutscher Nacht erscheint Anfang 1932 und empfiehlt sich wegen des nationalen Pathos gewissen Nazi-Kreisen. Ewers lernt Röhm, Goebbels, Hitler kennen und tritt der NSDAP bei.⁴⁶ Der Autor gilt bei den neuen Herren von Anfang an als unbequem und dekadent, wird jedoch von Ernst Hanfstaengl protegiert, mit dem er seit 1914 in Amerika befreundet ist. Hitler selbst gibt ihm den Auftrag, einen Roman über Horst Wessel zu schreiben. Das Buch erscheint Ende 1932 und ist, obwohl auf Linie gebürstet, für die Nationalsozialisten wertlos. Das beschriebene Zuhältermilieu ist dem Märtyrer Wessel nicht zuträglich und eine Verbindung von christlichen Predigten mit SA-Agitation offiziell unerwünscht. Die Kommunisten werden zwar diffamiert, stehen aber im revolutionären Kampfgeist gegen das Bürgertum auf gleicher Ebene mit der SA. Ein charismatischer Kommunistenführer wird ausgerechnet mit dem Namen Schlageter gerufen, der ein zum Märtyrer stilisierter rechte Freischärler und damit Vorläufer Wessels war. Ewers schwebt eine avantgardistische Verfilmung des Buches im Sinne von Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin vor. Zwischen Juli und September 1933 wird Horst Wessel mit Paul Wegener verfilmt, der einen russischen Kommunistenführer spielt. Auch Ewers spielt eine kleine Rolle und Hanfstaengl komponiert die Musik.
42 Ewers, Hanns Heinz: Reiter in deutscher Nacht. Stuttgart 1932, S. 299. 43 Beschämend, dass es ausgerechnet um Rathenau geht. 44 Ewers, Reiter (wie Anm. 42), S. 60. 45 Hanns Heinz Ewers an Walther Rathenau, 1. Februar 1922, HHE-Nachlass, Heinrich-HeineInstitut Düsseldorf. 46 Vgl. Abdruck der NSDAP-Karteikarte in: Hanns Heinz Ewers Lesebuch, zusammengestellt und mit einem Nachwort von Wilfried Kugel. Köln 1913, S. 114.
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Hermann von Wedderkop, den Ewers noch gut aus der avantgardistischen Galerie Flechtheim und der Zeitschrift Der Querschnitt kennt, schreibt darüber: „Ein sehr großer Eindruck. Völlig neu in der Sachlichkeit seines Berichtes und besonders in der Großartigkeit seiner Massenszenen.“⁴⁷ Und tatsächlich vergleicht der Pariser Journalist Jules Sauerwein Horst Wessel mit dem technischen und künstlerischen Meisterwerk Panzerkreuzer Potemkin.⁴⁸ Doch der WesselFilm wird sofort verboten und darf nur in stark reduzierter Fassung und unter anderem Titel aufgeführt werden. Die Parteispitze distanziert sich von Ewers, und die Presse bezeichnet ihn als judenfreundlichen Schund- und Schmutzliteraten. Seine Bücher werden 1933 mit denen der Exilanten verbrannt, und auch das Horst-Wessel-Buch wird verboten. Ende Juni 1934 steht Ewers im Zusammenhang mit dem so genannten Röhmputsch auf den Todeslisten der SS, kann aber untertauchen und dank Interventionen einflussreicher Freunde überleben.⁴⁹ Er hat wie Gottfried Benn Schreibverbot und stirbt 1943 in seiner Wohnung am Tiergarten. Zur Ironie der Geschichte gehört, dass sich Ewers im Nationalsozialismus schwer die Finger verbrennt, Rathenau jedoch post mortem von manchem neuen Herrn heimlich verehrt wird.⁵⁰ Auch dessen nach eignen Plänen gebaute Villa im Grunewald war in der NS-Zeit von Interesse. Rathenau hatte 1909 den Bauplatz in der Königsallee 65 erworben und zwei Jahre später das dreigeschossige Haus bezogen, in dem er bis zu seiner Ermordung lebte. Von November 1939 bis Herbst 1942 residierte Arno Breker mit seiner griechischen Frau Demetra Messala darin. Breker, der wohl populärste bildende Künstler während der nationalsozialistischen Herrschaft, empfing hier unter anderen Adolf Hitler. „Die Nazis haben in manchem Punkt Walther Rathenaus Politik zu äffen versucht, nachdem sie ihn ermordet hatten. Und auf dem hier betrachteten Feld hat er sie ebenfalls beeinflußt; sie mindestens bestärkt; sie vollends besoffen gemacht.“⁵¹
47 HHE-Nachlass, Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf. 48 Ebd. 49 Auch die graue Eminenz der Schwarzen Reichswehr Paul Schulz (als Gerhard Scholz gezeichneter Protagonist seines Feme-Romans „Reiter in deutscher Nacht“) kann gerade noch mit einem Steckschuss entkommen. Ähnliches Glück hatte der wohl für den Rathenaumord verantwortliche OC-Führer Hermann Ehrhardt. Doch die meisten kritischen Konkurrenten der Nazis wie Edgar J. Jung kommen durch die Mordkommandos um. Auch Ehrhardt und Jung werden in „Reiter in deutscher Nacht“ als Helden gezeichnet. Kein Wunder, dass auch in politischer Hinsicht das Buch nicht mehr tragbar war. 50 Vgl. Speer, Albert: Erinnerungen, Frankfurt a. Main/Berlin 1987, S. 223; Goebbels, Joseph: Tagebücher. Bd. 2: 1930–1934, hrsg. von Ralf Georg Reuth. München 1999, S. 480. 51 Kerr, Alfred: Walther Rathenau. Erinnerungen eines Freundes. Amsterdam 1935, S. 136.
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Obwohl Ewers und Rathenau sehr unterschiedlich gewirkt haben, sind sie doch Intellektuelle mit vielen Gemeinsamkeiten. Sie versuchen deutsch-nationale Ideen mit völliger Akkulturation der Juden zu verbinden und lehnen den Zionismus ostentativ ab – vertreten nationalistische Thesen und sind weltverliebt, geistig kosmopolitisch und polyglott. Der eine ist Weltenbummler und der andere so viel auf Reisen, dass ihn Maximilian Harden als Kollege Globetrotter bezeichnet. Sie sind feingeistige Gentlemen und Kenner von Stierkämpfen, subtile Genießer fremder Kulturen und haben rassische Vorbehalte gegenüber Schwarzen. Beide sind promoviert, lassen sich gerne mit „Herr Doktor“ anreden und sind mit dem Kaiser bekannt. Sie sind mutter-fixiert und werden als Kind in Mädchenkleidern abgelichtet. Obwohl zu Zwecken des Amüsements der frühkindliche Geschlechtertausch in dieser Zeit nicht unüblich ist, hat er häufig ungewollt auf die Infanten eingewirkt. Noch der spätere Minister geht jeden Tag bei seiner Mutter zu Mittag essen, und der weltbekannte Autor der Alraune schreibt der seinen fast täglich einen Brief. Rathenau notiert über Ewers: „Mädchenhafte Physiognomie, etwas affektiert rohe Form.“⁵² Diese Formulierung hätte genauso Harry Graf Kessler oder Emil Ludwig über Rathenau wählen können. Denn auch dieser galt als leicht ephemere Person. Er ist nicht so ein Lebemann wie Ewers und transzendiert seine Bedürfnisse in künstlerische Bezirke: Diese wahrhaft ergreifende Erscheinung einer ernsten, denkenden, erdenstarken Männlichkeit, verklärt zu zartem Empfinden, kindlicher Reinheit und träumendem Gestalten erscheint uns heute seltener als je zuvor; kaum können wir die Vollkraft anders als tatenhaft-kunstlos, die Begabung anders als lax, nervös, hysterisch uns vorstellen. „Süßes kommt vom Starken“, heißt es in der Schrift, und nur unter diesem Wahrspruch ist subjektive Kunst denkbar, denn ihr Gesetz ist das Erlebnis.⁵³
Rathenau und Ewers sind Verfechter einer Physiologie des Kunstempfindens; der AEG-Prinz lässt seine Reflexionen von Peter Behrens, der Märchenfreund und Bürgerschreck seinen Poe-Essay von Heinrich Vogeler gestalten. Sie sind Kunstkenner, -förderer und -sammler. Dieser ist mit Munch und jener mit Klimt befreundet. Beide malen auch selbst. Ewers kann sogar einige seiner surrealen Bilder an Alfred Flechtheim verkaufen. Wie heimlich abgesprochen, lassen sie sich von Liebermann, der bekanntlich die populären Geister seiner Zeit in Öl verewigt, nicht porträtieren. Rathenau lässt nur Kreidezeichnungen seines Großonkels zu, Ewers sagt eine Anfrage des Malers ganz ab, indem er vorgibt, „jetzt keine
52 Rathenau, Walther: Tagebuch 1907–1922. Düsseldorf 1967, S. 126. 53 Rathenau, Walther: Zur Mechanik des Geistes. Berlin 1913, S. 271.
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Zeit“ zu haben.⁵⁴ Kurios erscheint, dass sich Ewers in großbürgerlicher Pose des später so berühmt gewordenen Munch-Gemäldes Rathenaus von 1907 ablichten lässt. Es ist den beiden porträtierten Gentlemen eine Verbindung zwischen Metaphysik und Politik und ein gewisses Interesse für Okkultismus anzusehen. Ewers ist mit Aleister Crowley und Erik Jan Hanussen, Rathenau mit Albert Freiherr von Schrenck-Notzing bekannt. Gemeinsame Freunde sind Gerhart Hauptmann, Herbert Eulenberg, Artur Landsberger, Frank Wedekind und Maximilian Harden. Nicht nur in diesen Kreuzverbindungen bleiben die beiden im Gespräch. Und Rathenau sowie Ewers haben daran großes Interesse. Mehr als Publicity scheinen sie die persönliche und geistige Nähe des Anderen geschätzt zu haben. Doch die Zeitläufte vereiteln eine tiefere Freundschaft. Der Autor bedankt sich herzlich bei Martin Willems vom Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf für die Bereitstellung verschiedener Archivalien und dem EwersForscher Wilfried Kugel für wichtige Hinweise.
54 Vgl. Kugel, Der Unverantwortliche (wie Anm. 8), S. 200.
Martin Sabrow
Rathenau erzählen*¹ Die Zeit, in der Walther Rathenau wirkte, hat sich längst aus der Zeitgeschichte verabschiedet; sie ist heute überlagert von neunzig Jahren, die sich mit ihren Zäsuren und ihrer epochalen Schwere über das Rathenau-Gedächtnis gelegt haben. Unser Gedächtnis haftet an Bildern, sein Leben aber vollzog sich vor dem visual turn der modernen Mediengesellschaft, und neben den wenigen Porträtaufnahmen reichen Edvard Munchs Ölbild und Max Liebermanns Kohlezeichnung nicht hin, um die Erinnerung an Rathenau frisch zu halten. Unser Gedächtnis haftet an Orten, aber auch sie liegen selbst in unserer so konsequent musealisierten Umwelt eher im Schatten. Das gilt für Rathenaus von ihm selbst entworfenes Wohnhaus in Berlin-Grunewald, das noch immer in privater Hand ist; das gilt für seinen Sommersitz in der östlichen Mark, der eine kleine Gedenkstätte mit unsicherer Förderung beherbergt und bis heute keine klare Aussicht hat, auf die Aufmerksamkeitshöhe einer Bundesstiftung à la Ebert oder Heuss gehoben zu werden. Kein Denkmal kündet von Rathenau, und es ist schon ein beachtlicher Erfolg, dass zum neunzigsten Todestag die überfällige Restaurierung des Familiengrabs in Berlin-Oberschöneweide möglich wurde. Unser Gedächtnis haftet schließlich an Worten, aber auch hier sind es nicht so sehr Rathenaus Impressionen, Reflexionen und Essays, die überdauert haben, sondern eher einzelne kurze Aperçus, in denen er bis heute fortlebt: „Die Wirtschaft ist unser Schicksal!“ In einem Wort: Die Rathenau-Erzählung unserer Tage kommt mit kargen Worten aus, und ihre biografischen Hinweisschilder lauten etwa: Präsident der AEG, Prophet von kommenden Dingen, Organisator der Kriegsrohstoffversorgung, Erfinder der Erfüllungspolitik, erstes Mordopfer nationalsozialistischer Verfolgung.
Der innerlich Zerrissene Hinter diesen Platzanweisungen stehen ganz unterschiedliche biografische Erzählstränge, und einer von ihnen steckt in dem wunderbaren Porträt, das Edvard Munch von seinem Gönner malte. 1907 in mehreren Sitzungen mit Rathenau entstanden, zeigt es einen selbstbewussten Repräsentanten der wilhelminischen Gesellschaftselite, der zugleich linkisch und verloren im Raum steht; der
* Durchgesehene und ergänzte Fassung eines zuerst in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 67 (2013), H. 2, S. 95–106, erschienenen Beitrags.
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Kopf nicht ganz zum Körper passend, der Blick herausfordernd selbstbewusst und doch unsicher nach dem Auge des Betrachters suchend; soigniert gekleidet mit Weste und leichtem Embonpoint, aber doch auch jugendlich mit Umschlagkragen und filigraner Zigarette statt schwerer Zigarre und goldener Uhrenkette. Rathenau fand sich von seinem Porträt getroffen, in doppeltem Sinne: „Ein ekelhafter Kerl, nicht wahr? Das kommt davon, wenn man sich von einem großen Künstler malen läßt, da wird man ähnlicher, als man ist.“¹ Rätselhaft, janusköpfig, zerrissen, widersprüchlich – so erschien Rathenau seinem Porträtisten, der sein Konterfei um einen gleichgestaltigen Schatten ergänzte: spiegelbildliche Ergänzung, Alter Ego, unterdrückte Gegenidentität, Mann und Frau, Ich und Es; der Betrachter kann es sich aussuchen. In diesem Narrativ eines Mannes der Gegensätze bewegte sich jedenfalls die zeitgenössische Mitwelt, die den vielseitigen Wirtschaftslenker und Zeitkritiker, Intellektuellen und Politiker Walther Rathenau beurteilte. Als Vereinigung von Kohlepreis und Seele zeichnete Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften (1931/1932) seine Romanfigur Paul Arnheim, die ganz unverkennbar die Züge Walther Rathenaus trägt. Musil stellte sein so boshaftes wie hellsichtiges Porträt des metaphysisch gerichteten Industriellen, mit dem ihn eine jahrzehntelange Hassliebe verband, in einen biografischen Deutungsrahmen, der seine Geltungskraft bis heute bewahrt hat. Nach einem spöttischen Ausspruch des Inhabers der Berliner Handels-Gesellschaft, Carl Fürstenberg, galt Walther Rathenau unter Bankiers als guter Schriftsteller, unter Schriftstellern aber als guter Bankier. Kaum anders urteilte der mit Rathenau freundschaftlich verbundene Stefan Zweig in Die Welt von Gestern: Bei Rathenau spürte ich immer, daß er mit all seiner unermeßlichen Klugheit keinen Boden unter den Füßen hatte. Seine ganze Existenz war ein einziger Konflikt immer neuer Widersprüche. Er hatte alle denkbare Macht geerbt von seinem Vater und wollte doch nicht sein Erbe sein, er war Kaufmann und wollte sich als Künstler fühlen, er besaß Millionen und spielte mit sozialistischen Ideen, er empfand sich als Jude und kokettierte mit Christus. Er dachte international und vergötterte das Preußentum, er träumte von einer Volksdemokratie und war jedesmal hoch geehrt, von Kaiser Wilhelm empfangen und befragt zu werden.²
1 Die Überlieferung dieser Äußerung geht auf Gustav Hillard-Steinbömer zurück, dem Rathenau bei einer Besichtigung seines Elternhauses in Berlin-Tiergarten auch das Zimmer gezeigt hatte, in dem das Bildnis hing. Hillard (Steinbömer), Gustav: Herren und Narren der Welt. München 1954, S. 240. Vgl. auch: Märkisches Museum Berlin (Hrsg.): Das Porträtgemälde Walther Rathenaus von Edvard Munch 1907. Berlin 1993 (Patrimonia 76), S. 20 ff. 2 Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a. M. 1960, S.204 f.
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Rathenau selbst nahm dieses Narrativ der coincidentia oppositorum auf und machte es zu seinem autobiografischen Leitfaden. In der Rede zur Feier seines fünfzigsten Geburtstages am 29. September 1917 im Hotel Adlon kam er auf seine von ihm empfundene „Vielspältigkeit“, sein „Doppeldasein“ zu sprechen, das er selbst ein „anstößiges Ereignis“ nannte³ und zugleich philosophisch überhöhte – wie beispielsweise in der Scheidung zwischen „Zweck“ und „Seele“ in seiner Betrachtung Zur Mechanik des Geistes (1913) oder in der Teilung der Welt in Mutbeziehungsweise Zweck- und Furchtmenschen. Auf seiner Geburtstagsfeier als „eine Art neuen Typs von Menschentum“, als „Mensch mit dem lyrischen Herzen und dem Kaufmannskopf“ gewürdigt,⁴ ging Rathenau sofort auf dieses Bild ein, das ihm offenbar gefiel. In seiner Antwort bemühte er Platons Gleichnis vom Wagenlenker und seinen zwei in verschiedene Richtung zerrenden Rössern: „Von meiner Jugend her ist es mir ein Erbteil gewesen [...], daß ich [...] mich in der Doppelheit fühle.“⁵ Im Spätsommer 1917 mochte dieses Erzählmuster der biografischen Doppelheit noch lediglich eitle Spielerei sein, über die sich der gewesene Freund Maximilian als giftiger Zaungast bis an den Rand des Eklats amüsierte.⁶ Mit der näher rückenden Niederlage im Weltkrieg wurde aus der spielerischen Ambiguität politischer Ernst, der Rathenau die intellektuelle Existenz zu rauben drohte. Besonders ein taktisch ungeschickter Aufruf zum Massenaufstand im Oktober 1918, der in erster Linie auf eine verbesserte Position bei den bevorstehenden Friedensverhandlungen zielte, stempelte den Mann, der den Kriegsausbruch anders als die überwältigende Mehrheit seiner Zeitgenossen mit Schmerz verfolgt und das düstere Ende vorausgesehen hatte, zum vielgeschmähten Kriegsverlängerer, der den Frieden verhindern wolle, um sich mit dem „System Rathenau“ am Leiden der Nation zu bereichern. Selbst die Weltbühne empörte sich am 17. Oktober 1918, „daß aus einer Grunewald-Villa heraus einem Volk, das fünfzig Monate lang
3 Rathenau, Walther: Zwei Tischreden zur Feier des 50. Geburtstages. In: Ders.: Gesammelte Reden. Berlin 1924, S. 9–26, hier: S. 20. 4 Rede Bürgermeister Dr. Reicke. In: Rathenau, Walther: Vier Tischreden, Privatdruck 1917, S. 15 f. 5 Rathenau, Zwei Tischreden (wie Anm. 3), S. 17 f. 6 „Auf der Geburtstagsfeier des 50jährigen Walther Rathenau traf ich Harden wieder“, erzählte der Schriftsteller Wilhelm Herzog später. „Im Hotel Adlon. Das Fest war nicht ohne komische Reize. Die Eitelkeit feierte Triumphe. Wir waren die belustigten Zuschauer, obschon Harden seit Jahrzehnten mit dem Geburtstagskind eng befreundet war. Die Selbstbespiegelungen und das Feuerwerk, das der berühmte Wirtschaftsführer an diesem Tage um sich selbst abbrannte, reizte die kritische Begabung des Satirikers Harden derart, daß er sich an diesem Abend fast unmöglich machte.“ Herzog, Wilhelm: Menschen, denen ich begegnete. Bern/München 1959, S. 80.
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diese ungeheuern Opfer gebracht hat, mit künstlich hären gemachter Stimme die billige Mahnung zugeschleudert wird, zum Schutze der Kriegsgewinnler immer weiter sein Blut zu vergießen.“⁷ Auch sein späterer Biograf Harry Graf Kessler fand Rathenau in dieser Zeit an seiner inneren Widersprüchlichkeit gescheitert: „Überhaupt ist er der Mann der falschen Noten und schiefen Situationen: als Kommunist im Damastsessel, als Patriot aus Herablassung, als Neutöner auf einer alten Leier.“⁸ Die Novemberrevolution gab Rathenau, der als Wirtschaftstheoretiker eines kommenden Staatssozialismus seine Vorschläge einem Millionenpublikum unterbreitet hatte, kein Amt und kein Gehör. Als in der Weimarer Nationalversammlung der Vorschlag verlesen wurde, Rathenau zum Reichspräsidenten zu wählen, bebte das Haus vor Lachen. In die neugebildete Sozialisierungskommission wurde er nicht berufen, und die DDP, der er sich nach einem gescheiterten Versuch zur Gründung einer eigenen Partei anschloss, gewährte ihm keinen Listenplatz für die Wahl zur Nationalversammlung. In der Revolutionszeit erinnerte man sich Rathenaus als eines in sich zerrissenen Relikts einer unheilvollen Vergangenheit und verspottete ihn als Jesus im Frack, [...] Inhaber von 39 bis 43 Aufsichtsratstellen und Philosoph von Kommenden Dingen, Schloßbesitzer und Mehrheitssozialist, erster Ausrufer [...] für die nationale Verteidigung und beinahiges Mitglied der revolutionären Sozialisierungskommission, Großkapitalist und Verehrer romantischer Poesie, kurz – der moderne Franziskus v. Assisi, das paradoxeste aller paradoxen Lebewesen des alten Deutschlands.⁹
Rathenau als personifizierten Zwiespalt zu lesen, half nicht nur distanzierten Zeitbeobachtern. Die Attentäter, die Rathenau im Juni 1922 im Rahmen einer gegenrevolutionären Putschstrategie ermordeten, standen vor dem Problem, ihren weitgesteckten und bis in die Reichswehr reichenden Hochverratsplan auch nach seinem Scheitern dauerhaft geheim halten zu müssen, um ihrem politischen Umsturzziel nicht zu schaden und sich nicht der Femedrohung ihrer Gesinnungsgenossen auszusetzen. Übrig blieb ein sinnentleertes Attentat, das der Leipziger Staatsgerichtshof in seinem Urteil gegen die überlebenden Tatbeteiligten notdürftig mit einem „blinden Judenhaß“ zu erklären versuchte, was allen voran Ernst von Salomon in seinen autobiografischen Schriften empört als entwürdigende Trivialisierung der nationalen Befreiungsabsichten Rathenaus von
7 Goldschmidt, Alfons: Retter Rathenau. In: Die Weltbühne (17. 10. 1918), S. 372–374, hier: S. 374. 8 Kessler, Harry Graf: Tagebücher 1918–1937. Frankfurt a. M. 1961, S. 133. 9 Die Republik (19. 12. 1918).
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sich wies. Aus dem Dilemma eines Mords ohne Motiv half ihm die Interpretation des Attentats als Ausdruck einer Beziehung zwischen Tätern und Opfer, die sich auf Rathenaus eigene Polarisierung von Mutmensch und Furchtmensch bezog und sich auf den Gegensatz von jüdischem Internationalismus und deutschem Nationalismus ausweitete. Der Mordanschlag wurde in Salomons Rathenau-Erzählung zu einem Stück, in dem beide Seiten mit ihren gleichrangigen Exponenten Walther Rathenau und seinem Verfolger Erwin Kern ihr Bestes geben: Rathenau sprach im Volksbildungsheim. Es gelang Kern und mir nicht, im überfüllten Saale einen anderen Platz zu erhalten als einen Stehplatz an einer Säule, drei Meter vom Rednerpult entfernt. Aus der Menge der schwarzberockten Herren, die den Vorstandstisch umlagerten, sonderte der Minister sich durch die Noblesse seiner Erscheinung sofort heraus. Als er ans Pult trat, als über dem blanken Holz der schmale, edle Schädel mit der zwingend aufgebauten Stirn erschien, erstarb das geschäftige Gemurmel der Versammlung, und er stand sekundenlang im Schweigen, unendlich gepflegt, mit dunklen, klugen Augen und einer leichten Lässigkeit der Haltung. Dann begann er zu sprechen. [...] Aber was er in seiner Verkündung scheu zu verschleiern suchte, das trat ans Licht im Tone seiner Stimme, in der Gebärde seiner Hand, im Suchen seiner Augen; das nämlich, wem seine Liebe gehörte. Sie gehörte dem Furchtmenschen. [...] Und dies begreifend, zog ich unwillkürlich den Blick von diesem Manne und wandte mich zu Kern. Der stand, die Arme vor der Brust verschlungen, fast unbeweglich, an der Säule neben mir. Und da geschah das Unbegreifliche. Es geschah, während der Minister sprach von Führertum und Vertrauen, während seine Stimme sich bohrte in den totenstillen Raum, in den Dunst welterfahrener Behäbigkeit, der über der Versammlung lag. Sicherlich, es kann nicht anders sein, schlug jene eine tödliche Sekunde in jedes Herz. Es muß wie ein Pochen gewesen sein, zwei Pulsschläge lang, ein Pochen in jeder Brust, beklemmend, jäh, aufreißend ein Tor zum Tode, von einem Blitzschlag erhellt, und schon vorbei. Vorbei, wie weggewischt, unwirklich nun und doch geschehen. Ich sah, wie Kern, halb vorgebeugt, nicht ganz drei Schritt von Rathenau entfernt, ihn in den Bannkreis seiner Augen zwang. Ich sah in seinen dunklen Augen metallisch grünen Schein, ich sah die Bleiche seiner Stirn, die Starre seiner Kraft, ich sah den Raum sich schnell verflüchtigen, daß nichts mehr blieb von ihm als dieser eine arme Kreis und in dem Kreis zwei Menschen nur. Der Minister aber wandte sich zögernd, sah flüchtig erst, verwirrt sodann nach jener Säule, stockte, suchte mühsam, fand sich dann und wischte fahrig mit der Hand sich von der Stirn, was ihm angeflogen war. Doch sprach er nun fortan zu Kern allein. Beschwörend fast, so richtete er seine Worte zu dem Mann an jener Säule und wurde langsam müde, als der die Haltung nicht veränderte. Das Ende seiner Rede hörte ich nur unverstehend.¹⁰
Dasselbe Erzählmuster wahrte nach 1945 auch die öffentliche Erinnerung im geteilten Deutschland. Besonders im Geschichtsbild der DDR figurierte Rathenau als „ein zwiespältiges Wesen, dessen Füße fest in der kapitalistischen Ordnung
10 Salomon, Ernst von: Die Geächteten. Berlin 1930, S. 267 ff.
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standen, dessen Kopf aber in die Sphäre einer besseren Gesellschaft ragte“, wie Albert Norden 1947 schrieb.¹¹ Der Rapallo-Vertrag von 1922 machte den ostdeutschen Rathenau zu einem Kronzeugen der propagierten deutsch-sowjetischen Freundschaft, zum „rühmlichen Beispiel friedlicher Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftssysteme“.¹² Einen Schritt weiter in der Deutung der inneren Zerrissenheit Rathenaus ging noch das Parteischrifttum der „liberaldemokratischen“ Blockpartei, die ihren Ahnherrn an der Prophezeiung des eigenen Untergangs sterben ließ: „Weil Walther Rathenau als einer der einflußreichsten Vertreter der Großbourgeoisie nicht an die kapitalistische Ordnung und ihren Fortbestand glaubte, im Gegenteil die Brüchigkeit darlegte und das bevorstehende Ende erkannte und aussprach, wurde er von den Interessengruppen und der Reaktion mit tödlichem Haß verfolgt.“¹³ Auch die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik folgte dem Narrativ der biografischen Zerrissenheit und arbeitet sich bis heute an Rathenaus „verwirrender Vielseitigkeit“¹⁴ und seinem „Leben im Widerspruch“¹⁵ ab. Anders als im politischen Pathos der Weimarer Zeit hat sie in der Regel darauf verzichtet, diese Zerrissenheit in einem höheren Sinn biografisch zusammenzufügen. So stellte Ernst Schulin Rathenau gleichrangig als „Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit“ dar oder erklärte Wolf Lepenies in vornehmer Bescheidenheit, dass „die Mittel der Wissenschaft nicht ausreichen, um sich der Person Rathenaus zu vergewissern“.¹⁶ Nur gelegentlich noch gibt sie dem Wunsch nach, das „Geheimnis des Ganzen“ zu enträtseln und Rathenau als Geschöpf „der Mitte und der Mischungen“ zu beschreiben, als „Summenformel des Übergangs vom neunzehnten zum einundzwanzigsten Jahrhundert“.¹⁷ In dieser Sicht kann dann auch noch in unserer Zeit Rathenaus Tod als Meisterstück einer gelebten Einheit in der Vielfalt erzählt
11 Norden, Albert: Der Rathenau-Mord und seine Lehren. Zum 25. Jahrestag der Ermordung des Außenministers der Republik. In: Die Einheit 2 (1947), S. 644. 12 Richter, Martin: Damit die Völker sich die Hände reichen [...]. Vor 120 Jahren wurde Walther Rathenau geboren. In: Neues Deutschland (29. 9. 1987). 13 Orth, Wilhelm: Walther Rathenau und der Geist von Rapallo. Größe und Grenzen eines deutschen Bürgers. Berlin (Ost) 1962. 14 Schulin, Ernst: Walther Rathenau. Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit. Göttingen [u. a.] 1979, S. 139. Jüngst auch mit Betonung seiner „Dualität“ als Deutscher und Jude: Volkov, Shulamit: Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland. München 2012. 15 Hense, Karl-Heinz: Walther Rathenau – ein Leben im Widerspruch. In: liberal. Vierteljahreshefte für Politik und Kultur 28 (1986), H. 4, S. 111–121. 16 Lepenies, Wolf: Das Geheimnis des Ganzen. In: Buddensieg, Tilmann [u. a.] (Hrsg.): Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne. Berlin 1990, S. 140. 17 Berglar, Peter: Walther Rathenau. Ein Leben zwischen Philosophie und Politik, Neuausgabe. Graz [u. a.] 1987, S. 264.
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werden, wie dies Peter Berglar vorführte: „Die Vielheit der Rollen ausfüllen zu können, das war seine innere Einheit; das Riesenrepertoire, einschließlich eines dramatischen und noblen Todes, zu beherrschen, das war seine Größe.“¹⁸ Den Ton der heutigen Forschung trifft dieses Deutungspathos allerdings nicht. In der Einleitung einer jüngeren Publikation gegenwärtiger Annäherungen an Rathenau wird das Erzählmuster der biografischen Zerrissenheit denkbar nüchtern zugrunde gelegt: „Dass Rathenau in Personalunion vereint, was in der modernen Kultur für gewöhnlich getrennt voneinander betrachtet und verortet wird, macht ihn für deutsche Verhältnisse [...] zu einer singulären Erscheinung.“¹⁹
Der heroische Märtyrer Doch bildet das Narrativ der konstitutiven Zerrissenheit nur eine der zwei Großerzählungen, in denen die Zeitgenossen der Weimarer Republik ihr Bild von Walther Rathenau fassten. Entgegengesetzt dazu entwickelte sich nach Rathenaus Ermordung am 24. Juni 1922 ein Erzählmuster, das das Paradigma der Zerrissenheit durch das der Versöhnung im heroischen Martyrium ersetzte. Schon unter dem unmittelbaren Eindruck des Mordes entwarf Georg Bernhard in seinem Nekrolog für die Vossische Zeitung vom 25. Juni 1922 ein Porträt des Ermordeten, in dem sich auch scheinbar gegensätzliche Charakterzüge zu einer höheren Harmonie zusammenfügten: Antlitz, Stimme, Geste, Gestalt und Geist gehörten bei ihm untrennbar zusammen. [...] Man kann sich keiner Einzelheit erinnern, ohne daß das Ganze im Gedächtnis emportaucht. Denn bei ihm bildete alles eine Einheit. Seine Vorzüge und seine Fehler, seine Konsequenz und seine Widersprüche, seine Größe und seine Kleinheit. Diese ganze eigenartige Gegensätzlichkeit, die in Walther Rathenau zusammenstieß und sich vermischte, die Beifall erzwang oder zu Widerspruch herausforderte. All das wirkte bei ihm organisch und selbstverständlich.²⁰
Im Tod wurde so eine neue Rathenau-Erzählung geboren. Sie kündete von einem Ausnahmemenschen, der sein Leben in die Waagschale warf, der „in sich Schick-
18 Berglar, Leben (wie Anm. 17), S. 264. 19 Delabar, Walter/Heimböckel, Dieter: Der Phänotyp der Moderne. Walther Rathenau in der Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Dies. (Hrsg.): Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne. Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien. Bielefeld 2009, S. 7–9, hier: S. 8. 20 Bernhard, Georg: Rathenau. In: Vossische Zeitung (25. 6. 1922).
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sal trug“²¹ und freiwillig zum Helden-Märtyrer wurde, um das Land zu retten. Den eindrucksvollsten Beweis für dieses messianische Rathenau-Bild lieferte Reichskanzler Joseph Wirth, der die sehr konkrete und substantiierte Anschlagswarnung eines katholischen Priesters weiterleitete: „Meine Mitteilung“, so erinnerte sich Wirth sechs Jahre nach Rathenaus Ermordung, machte auf Minister Rathenau einen tiefen Eindruck. Bleich und regungslos stand er wohl zwei Minuten vor mir. Keiner von uns wagte auch nur mit einem Wort die Stille zu unterbrechen. Rathenaus Augen waren wie auf ein fernes Land gerichtet. Er kämpfte sichtlich lange mit sich. Plötzlich nahmen sein Gesicht und seine Augen den Ausdruck unendlicher Güte und Milde an. Mit einer Seelenruhe, wie ich sie nie an ihm gesehen hatte [...], näherte er sich mir, legte beide Hände auf meine Schultern und sagte: „Lieber Freund, es ist nichts. Wer sollte mir denn etwas tun?“ [...] Nach einem nochmaligen Betonen der Ernsthaftigkeit der gemachten Mitteilung und der absoluten Notwendigkeit polizeilichen Schutzes verließ er ruhig und gelassen, mit dem Ausdruck eines mir unverständlichen Sichgeborgenfühlens, die Reichskanzlei.²²
Vor diesem Hintergrund formte sich eine teleologische Erzählung, in der Rathenaus Ermordung als folgerichtiger Höhepunkt seines Lebens erschien und sein Tod „eigentlich erst der Moment [wurde], die ganze Bedeutung seiner Gestalt zu rechter Würdigung gedeihen zu lassen“, wie der Rathenau-Bibliograf Ernst Gottlieb 1929 schrieb.²³ Das kollektive Gedächtnis zumindest der republikverbundenen „Weimar-Deutschen“ schuf sich einen neuen Rathenau, der „in sich Schicksal trug“²⁴ und freiwillig zum Märtyrer geworden war, um das Land zu retten. Über die Parteigrenzen hinaus wurde Rathenau auf diese Weise zum Märtyrer der Republik. Diese Erzählhaltung stattete das Bild Rathenaus in den Folgejahren mit immer neuen und bald auch mythischen Zügen aus, die in der Publizistik bevorzugt aufgerufen wurden. Ein Grundton der überparteilichen Eintracht bestimmte die öffentliche Erinnerung an Rathenau von nun an bis zum Ende des Weimarer Staates. Besondere Verdienste bei der Stilisierung eines messianischen Opferbildes erwarb sich Stefan Zweig, der in seinen autobiografischen Erinnerungen Die Welt von Gestern eine Begegnung mit Rathenau aus dem Abstand von zwanzig Jahren schilderte, die nie stattgefunden hatte:
21 Kessler, Harry Graf: Rathenau. Sein Leben und sein Werk, mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Cornelia Blasberg. Frankfurt a. M. 1988, S. 12. 22 Wirth, Joseph: Walther Rathenau vor seinem Tode. In: Deutsche Republik (13. 7. 1928), S. 1306. 23 Gottlieb, Ernst: Walther-Rathenau-Bibliographie. Berlin 1929, S. 40. 24 Kessler, Rathenau (wie Anm. 21), S. 12.
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Zögernd rief ich ihn in Berlin an. Wie einen Mann behelligen, während er das Schicksal der Zeit formte? „Ja, es ist schwer“, sagte er mir am Telefon, „auch die Freundschaft muß ich jetzt dem Dienst aufopfern.“ Aber mit seiner außerordentlichen Technik, jede Minute auszunutzen, fand er sofort die Möglichkeit eines Zusammenseins.
In diesem Gespräch zeigte Zweigs Rathenau sich als moderner Erlöser, der das Kreuz auf sich nimmt, um die Welt zu heilen: Er war sich vollkommen bewußt der doppelten Verantwortlichkeit durch die Belastung, daß er Jude war. Selten in der Geschichte vielleicht ist ein Mann mit so viel Skepsis und so voll innerer Bedenken an eine Aufgabe herangetreten, von der er wußte, daß nicht er, sondern nur die Zeit sie lösen könnte, und er kannte ihre persönliche Gefahr. Seit der Ermordung Erzbergers [...] durfte er nicht zweifeln, daß auch ihn als Vorkämpfer der Verständigung ein ähnliches Schicksal erwartete.²⁵
Vor dem Auswärtigen Amt in Berlin-Mitte wollte Zweig schließlich Abschied von Rathenau genommen haben, ohne zu wissen, dass es für immer war, und im englischen Exil hielt er die Erinnerung fest, wie er im besonnten Sommer von Sylt Zeuge geworden sei, dass das von Rathenau vorgewusste Schicksal sich erfüllte: Ich war an diesem Tage schon in Westerland, Hunderte und aber Hunderte Kurgäste badeten heiter am Strand. Wieder spielte eine Musikkapelle wie an jenem Tage, da Franz Ferdinands Ermordung gemeldet wurde, vor sorglos sommerlichen Menschen, als wie weiße Sturmvögel die Zeitungsausträger über die Promenade stürmten: „Walther Rathenau ermordet!“ Eine Panik brach aus, und sie erschütterte das ganze Reich. Mit einem Ruck stürzte die Mark, und es gab kein Halten mehr, ehe nicht die phantastischen Irrsinnszahlen von Billionen erreicht waren.²⁶
Doch so bezwingend dieser Kontrast zwischen der sorglosen Leichtigkeit der Vielen und der opferschweren Last des sehenden Staatsmannes sein mochte, war er doch bloße Fiktion, die das Narrativ des versöhnenden Märtyrers dem Dichter Zweig eingegeben hatte: Denn im Juni hielt Zweig sich gar nicht auf Sylt auf. Erst in der Fremdenliste für den 20. und 21. August 1922 in der Westerländer Kurzeitung vom 26. 8. 1922 findet sich der Eintrag: „Der Zweig, Stefan u. Frau, Schriftsteller – Salzburg – 2 Personen – Hotel zum Deutschen Kaiser“.²⁷
25 Zweig, Welt von Gestern (wie Anm. 2), S. 340. 26 Zweig, Welt von Gestern (wie Anm. 2), S. 341. 27 Westerländer Kurzeitung (26. 8. 1922).
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Der historische Lernort Nach der deutschen Katastrophe etablierte sich in Nachkriegsdeutschland ein Geschichtsdenken, das sich nicht mehr an den Helden ausrichtete, sondern an den Opfern, und das nicht mehr mimetisch die Kontinuität einer deutschen Sendung akzentuierte, sondern kathartisch auf reinigende Distanzierung von der Vergangenheit setzte. Auch das Rathenau-Bild unterlag diesem paradigmatischen Wandel und ergänzte die Erzählung vom innerlich Zerrissenen und vom tragischen Helden um ein drittes Narrativ, das Rathenau als historisches Lernbeispiel konfigurierte. Im Geschichtsbild der DDR diente Rathenau, wie viele Straßenbenennungen illustrieren, als Brückenheiliger einer doppelten Verständigung – nach außen zwischen Deutschland und Sowjetrussland und nach innen zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse. Neben seinen gesellschaftstheoretischen Reformvorschlägen war es vornehmlich das deutsch-russische Ausgleichsabkommen von Rapallo, das den ostdeutschen Rathenau zu einem Kronzeugen der Völkerverständigung im Geiste des Fortschritts machte, zu einem „rühmlichen Beispiel friedlicher Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftssysteme“.²⁸ Auch in der Bundesrepublik reifte Rathenau zu einem historischen Kronzeugen und in diesem Falle eines antitotalitären Konsenses, der zwischen rechtem und linkem Totalitarismus keinen Wesensunterschied machte. Jahrfünft um Jahrfünft erinnerten seit den frühen fünfziger Jahren Gedenkreden und -artikel an die Lehre des 24. Juni 1922, „jeder Form des Radikalismus – sei es von links oder rechts – zu widerstehen“.²⁹ Als nicht weniger geschmeidig und anpassungsfähig erwies sich die geschichtliche Verortung des politischen Vermächtnisses, das Rathenau hinterließ. Bis heute bitten die Ausrichter staatlicher Jubiläumsveranstaltungen zu Rathenaus Ehren händeringend um die Übermittlung von Fundstellen aus dessen gedanklichem Vermächtnis, die sich zur aufbauenden Belehrung der Gegenwart eignen. Besonderer Aufmerksamkeit erfreuen sich dabei Belegstellen, die es erlauben, Rathenau zunächst als Wegweiser auf dem Weg zu einer nationalen Neubestimmung nach 1945 und später zur europäischen Einigung zu erzählen. An Rathenaus 1913 unterbreiteten Vorschlag einer europäischen Zollunion erinnerte 1987 Dorothee Wilms, um sich auf seine Idee einer wirtschaftlichen und politi-
28 Richter, Völker (wie Anm. 12). 29 Wilms, Dorothee: Ansprache bei der Gedenkfeier aus Anlaß des 120. Geburtstages von Walther Rathenau am 29. September 1987 in Berlin. In: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Pressemitteilung 39/87, S. 5.
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schen Verschmelzung Europas zu berufen: „Welche klare, vorausschauende Sicht! Aus unserer heutigen Perspektive ist es erstaunlich, mit welcher Deutlichkeit Rathenau schon zum damaligen Zeitpunkt die Möglichkeiten und Voraussetzungen für die Rolle Europas erkannte und seinen Blickwinkel über die nationale Perspektive hinaus erhob.“³⁰ Zehn Jahre später suchte eine Studie die These zu untermauern, dass Rathenau „schon vor 1914 den Gedanken einer notwendigen europäischen Einigung entwickelt“³¹ und „die Geschichte der europäischen Integration die Richtigkeit der Ausführungen Rathenaus erwiesen“ habe.³² In der Tat verdankte das Erzählmuster, das Rathenau als historischen Lernort verstand, seine Durchschlagskraft nicht zuletzt der oft bekundeten Sehergabe, die Rathenau schon im Verständnis seiner Zeitgenossen in gelegentlich unheimlicher Weise auszeichnete. Als die Welt um ihn im Glanz der wilhelminischen Epoche schwelgte und vor der wachsenden außenpolitischen Isolierung des Deutschen Reiches die Augen schloss, veröffentlichte Rathenau eine düstere Warnung vor der achtlosen Unbekümmertheit einer Welt am Abgrund, die ihr Gegenstück allenfalls in der poetischen Beschwörung kommenden Unheils in der zeitgleichen Lyrik von Georg Heym oder auch Georg Trakl hat: Ich kämpfe gegen das Unrecht, das in Deutschland geschieht, denn ich sehe Schatten aufsteigen, wohin ich mich wende. Ich sehe sie, wenn ich abends durch die gellenden Straßen von Berlin gehe; wenn ich die Insolenz unseres wahnsinnig gewordenen Reichtums erblicke; wenn ich die Nichtigkeit kraftstrotzender Worte vernehme oder von pseudogermanischer Ausschließlichkeit berichten höre, die vor Zeitungsartikeln und Hofdamenbemerkungen zusammenzuckt. Eine Zeit ist nicht deshalb sorgenlos, weil der Leutnant strahlt und der Attaché voll Hoffnung ist. Seit Jahrzehnten hat Deutschland keine ernstere Periode durchlebt als diese.³³
Je länger der Erste Weltkrieg andauerte, desto düsterer zeichnete Rathenau das Bild der neuen Stadt, die „mehr Dynamos als Perlentore haben werde“.³⁴ Im Sommer 1918 dann wusste Rathenau klarsichtig wie nur wenige die Folgen des Krieges abzuschätzen: „Die Krise, die wir erleben, ist die soziale Revolution“, sie ist „der Weltbrand des europäischen Sozialgebäudes, das nie wieder erstehen
30 Wilms, Ansprache (wie Anm. 29), S. 5. 31 So das Vorwort von Hamm-Brücher, Hildegard in: Loeffler, Hans F.: Walther Rathenau – ein Europäer im Kaiserreich. Berlin 1997, S. 14. 32 Loeffler, Europäer (wie Anm. 31), S. 14. 33 Rathenau, Walther: Staat und Judentum. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Berlin 1925, S. 206. 34 Rathenau, Walther: Brief an P. A., Himmelfahrt 1917. In: Ders.: Briefe. Bd. 2. Dresden 1927, S. 280.
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wird“.³⁵ Und noch bevor dieser alles verheerende Brand ausgetreten war, sah Rathenau schon die apokalyptische Vision eines neuerlichen, schrecklicheren Waffenganges heraufziehen: Ich sage euch aber: Der kommende Friede wird ein kurzer Waffenstillstand sein, und die Zahl der kommenden Kriege unabsehbar, die besten Nationen werden hinsinken, und die Welt wird verelenden, sofern nicht schon dieser Friedensschluß den Willen besiegelt zur Verwirklichung dieser Gedanken.³⁶
Wie ein Vorgriff auf die heutige Vernetzung der Volkswirtschaften im Zeichen der Globalisierung nach dem Ende der ost-westlichen Bipolarität mutet an, was Rathenau in denselben Monaten, als der deutsche Generalstab durch eine letzte Verzweiflungsoffensive den Sieg des deutschen Heeres doch noch zu erzwingen suchte, auf die Agenda einer künftigen globalen Politik im Zeichen der postnationalen Verständigung setzte. In ihr nahm er die vielen bitteren Lehren schon souverän vorweg, die seiner Nachwelt in den folgenden dreißig Jahren erst noch bevorstehen sollten: „Ein Völkerbund ist recht und gut, Abrüstung und Schiedsgerichte sind möglich und verständig: doch alles bleibt wirkungslos, sofern nicht als erstes ein Wirtschaftsbund, eine Gemeinwirtschaft der Erde geschaffen wird.“³⁷ Die Schriftstellerin und Salonière Marie von Bunsen überlieferte zehn Jahre nach Rathenaus Tod einen weiteren seiner Kassandrarufe, die er im Dezember 1918 nach dem Zusammenbruch des geschlagenen Reiches gemacht hatte. Sie tat es skeptisch und mit dem Bemerken, dass „Rathenaus fürchterliche Prophezeiungen nach dem Umsturz ihm [...] geschadet hätten. [...] Er interessierte stets und hinterließ tiefen Eindruck. Doch hat er keineswegs immer überzeugt.“ Doch wie hätte sie Rathenaus historische Rolle als sträflich verlachter Mahner anerkennen müssen, wenn sie ein weiteres Jahrzehnt später durch die zerstörte Reichshauptstadt gewandert wäre und sich Rathenaus düsterer Vorahnung aus dem Herbst 1918 entsonnen hätte: „,Verkennen Sie das Kommende nicht, mit Berlin nimmt es ein baldiges Ende. In nicht allzu langer Zeit wird Gras in den verödeten Straßen wachsen.‘ [...] ‚Machen Sie sich auf Deutschlands vollständigen Ruin gefaßt, auf einen Untergang, wie in zweitausend Jahren ihn noch nie ein Volk erlebt hat.‘“³⁸
35 Rathenau, Walther: An Deutschlands Jugend. In: Ders.: Schriften aus Kriegs- und Nachkriegszeit. Berlin 1929, S. 95–214, hier: S. 164 und S. 100. 36 Rathenau, Deutschlands Jugend (wie Anm. 35), S. 174. 37 Rathenau, Deutschlands Jugend (wie Anm. 35), S. 174 f. 38 Marie von Bunsen, in: Schulin, Ernst (Hrsg.): Gespräche mit Rathenau. München 1980, S. 219. Eine analoge Prophezeiung teilte Rathenau dem dänischen Journalisten Hohlenberg im Juli 1919 mit. Vgl. ebd., S. 243 ff.
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Eine solche Stimme, die sich unter der Wucht der Kriegskatastrophe und ihrer Folgen schmerzhaft an Rathenaus lehrreiche Worte von einst erinnerte, war die des vormaligen Reichskunstwarts Edwin Redslob, der 1946 im eben gegründeten Berliner Tagesspiegel schrieb: Ich kann den Weg, den ich einmal unter Gesprächen über moderne Kunst mit ihm von der Hundekehle bis zum Jagdschloß Grunewald ging, nie betreten, ohne an diesen Spaziergang zu denken, der meiner Erinnerung nach am Ostermorgen 1921 stattfand. [...] Wir gingen an einem schmalen Wasserlauf entlang, in dessen Nähe das frische Grün des Frühlings schon die Macht gewonnen hatte. Hoch oben in den Wipfeln der Föhren war ein Rauschen, als faßten sie den Wind noch als Boten des Winters auf. Ein Zweig in unserer Höhe, dessen Knospen sich schon zu kleinen Blättern erschlossen hatten, verlockte zur Betrachtung. Indes wir stehenblieben und die werdenden Blattgebilde bewunderten, kam ein Wort aus Rathenaus Mund, vor dessen Prophetie ich noch heute erschrecke: „Es ist ja doch alles nur Vorausahnung des Weltuntergangs, der uns bedroht und den wir mit aller Kraft verhindern müssen“.³⁹
Welche Geltungskraft die Konturierung Rathenaus als Lernort bis heute besitzt, zeigen viele bis heute zitierte Aphorismen ebenso wie politische Vorhersagen, die tatsächlich Wirklichkeit werden sollten. Im September 1920 gab Rathenau der französischen Zeitung La Liberté ein Interview, in dem er die Spaltung der Nation und den Siegeszug des Kommunismus in einem Teil Deutschlands als kommendes Schicksal skizzierte: Meiner Meinung nach [...] ist Deutschland auf dem Wege zu zerfallen. [...] In vielleicht ziemlich naher Zukunft werden wir das Reich in drei Teile zerfallen sehen: auf der einen Seite Bayern, das sich den Trümmern von Österreich anschließen wird, auf der anderen Seite die Rheinprovinzen, die eine Art zweites Belgien bilden werden, und dann der Rest, d. h. Preußen, Sachsen, Hessen, Hannover, die unfähig sind, allein zu existieren, und deshalb notgedrungen den großen Sprung in den Bolschewismus machen werden. Wir werden also eine Baumschule des Kommunismus im Herzen Europas haben, einen Infektionsherd, bedrohlicher als der große Feuerbrand der Russen, weil die deutschen Methoden und die deutsche Disziplin im Dienst dieser Sache eingesetzt werden.
Als sähe er den ostdeutschen Sozialismus über dreißig Jahre hinweg voraus, beschwor Rathenau 1920 seine französischen Interviewer: Aber man kann eine Revolution konzipieren, die von oben geführt wird, und das wäre notwendigerweise der Fall bei uns. Der Bolschewismus wird bei uns methodisch und organisiert sein, wie es das Kaiserreich war. Jeder wird an seinem Platz sein. Die Intellektuellen
39 Zit. nach: Schulin, Gespräche mit Rathenau (wie Anm. 38), S. 296 f.
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werden die glühendsten Propagandisten sein und sie sind es, welche die Stadt der Zukunft bauen. Deshalb wird der preußische Bolschewismus in ganz anderer Weise fürchterlich sein als der russische.⁴⁰
Bekannter noch als diese Vision ist ein Mitteleuropakonzept, das Rathenau im letzten Friedensjahr 1913 entwickelte und das in verblüffender Weise dem Weg zur Europäischen Union unserer Tage nahekommt: Es bleibt eine letzte Möglichkeit: die Erstrebung eines mitteleuropäischen Zollvereins, dem sich wohl oder übel, über lang oder kurz die westlichen Staaten anschließen würden, [...] das Ziel würde eine wirtschaftliche Einheit schaffen, die der amerikanischen ebenbürtig, vielleicht überlegen wäre, und innerhalb des Bandes würde es zurückgebliebene, stockende und unproduktive Landesteile nicht mehr geben. Gleichzeitig aber wäre dem nationalistischen Haß der Nationen der schärfste Stachel genommen. [...] Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik. Das ist nicht der Weltfriede, nicht die Abrüstung und nicht die Erschlaffung, aber es ist Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation.⁴¹
Solche Äußerungen, in denen Opferschicksal und Vermächtnis verschmolzen, schienen den Satz zu bestätigen, dass die Geschichte zu wiederholen verdammt sei, wer nicht aus ihr zu lernen bereit ist. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht steckt in solchem Denken ein ganz irriger Glaube an historisches Lernen und geschichtliche Analogiebildung. Unschwer lassen sich auch Rathenaus luziden Prophezeiungen ebenso eindrucksvolle Missdeutungen an die Seite stellen. Derselbe Rathenau, der die Katastrophe der Kriegsniederlage vorwegnahm, entwickelte beispielsweise völlig abwegig wirkende Betrachtungen zur Zukunft des, wie er es nannte, Mechanisierungszeitalters: Durch die Mechanisierung des Lebens hat der Mann die Gefährtin aus der schützenden Hausstatt gerissen, in Welt und Wirtschaft getrieben, ihr den Schlüssel entwunden und den Geldbeutel in die Hand gedrückt; er hat ihr die Wahl gelassen zwischen Rechnerei, Koketterie, äußerer Arbeit und vereinsamtem Leben. Nicht der Haustyrann, der Egoist und Fronherr hat die schlimmste Sünde begangen, sondern der Müßiggänger und Verweibte, der sie zum flachen Spiel, zum Sachenglück, zur Vergnügungsgier verführte, den haltlosen Mädchensinn, der in jedem Weibe schlummert, erweckte und zum Dirnensinn verkehrte, um die Seele zu töten. Er trägt die Schuld, daß negerhafte Urgelüste, durch Jahrtausende gebändigt, im Frauenleben unserer Zeit emporgestiegen sind, deren Schande und Not die Enkel entsetzen wird.⁴²
40 Pierre Dolmet, in: Schulin, Gespräche mit Rathenau (wie Anm. 38), S. 285 f. 41 Rathenau, Walther: Deutsche Gefahren und neue Ziele, in: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 1 (wie Anm. 33), S. 265–278, hier: S. 276 ff. 42 Rathenau, Walther: Von kommenden Dingen. Berlin 1917, S. 186.
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Folgerichtig konzipiert die Fachwissenschaft ihren Untersuchungsgegenstand Walther Rathenau heute bevorzugt als exemplarischen Lernort, als historischen Spiegel und Schlüssel zum Verständnis eines Epochenumbruchs, der mit der Hochmoderne auch die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts freisetzte.⁴³ In summa: Was Rathenau der Nachwelt bedeutet, wandelt sich mit ihr nicht weniger markant und nachdrücklich, als Rathenau zu Lebzeiten selbst seine Auffassungen und Orientierungen wechselte.
43 Vgl. exemplarisch: „Zugleich aber ist er [Rathenau] nicht minder typisch und exemplarisch für die deutsche Gesellschaft auf dem Sprung in die Moderne.“ Delabar/Heimböckel, Phänotyp (wie Anm. 19), S. 8.
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Abbildungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis U. Berger: „Der Judenrepublik gewidmet“ Abb. 1: Georg-Kolbe-Museum, Fotografin: Margrit Schwartzkopff Abb. 2: Georg-Kolbe-Museum, Berlin (Foto Georg-Kolbe-Museum) Abb. 3: Georg-Kolbe-Museum 73 Abb. 4: Georg-Kolbe-Museum (Foto Georg-Kolbe-Museum) 74 76 Abb. 5: Georg-Kolbe-Museum, aus Redslob-Nachlass Abb. 6: Georg-Kolbe-Museum (Foto Georg-Kolbe-Museum) 79 Abb. 7: Georg-Kolbe-Museum, Fotografin: Margrit Schwartzkopff Abb. 8: Georg-Kolbe-Museum aus Bildgießerei Noack 82 Abb. 9: Georg-Kolbe-Museum aus Bildgießerei Noack 84
71 72
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V. Mergenthaler: „Wie lange noch, o Catilina? …“ Abb. 1: Berliner Illustrirte Zeitung, Nr. 42, 1922, S. 806–807 94, 95 Abb. 2: Berliner Illustrirte Zeitung, Nr. 42, 1922, S. 806 100 Abb. 3: Cesare Maccari: Cicerone denuncia Catilina, Fresko, Palazzo Madama, Rom, 1888. Quelle: Wikipedia, urheberrechtlich gemeinfrei 104 S. Brömsel: Freundschaft mit dem Bohemien Hanns Heinz Ewers Abb. 1: ullstein bild, Fotograf Karl Schenker 270 Abb. 2: Stiftung Stadtmuseum Berlin 271
Über die Autorinnen und Autoren
Über die Autorinnen und Autoren
Steffi Bahro, Literaturwissenschaftlerin und Historikerin. Von 2009–2011 akademische Mitarbeiterin an der Universität Potsdam. Seit 2011 als Stipendiatin der Friedrich-NaumannStiftung Mitglied des Walther-Rathenau-Kollegs. Derzeit Arbeit an einem interdisziplinären Promotionsprojekt über Soldaten in Märchen. Publikationen u. a.: „Denn er sei kein zimpferlicher Ritter!“, Märchenbilder als Medium bürgerlicher Militarisierung 1850–1914. In: Märchenspiegel, Zeitschrift für internationale Märchenforschung und Märchenpflege 3 (2010), S. 2–11. Ursel Berger, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Theaterwissenschaft in Saarbrücken und München. 1975 Dissertation über Palladios Frühwerk. 1978–2012 Direktorin des Georg-Kolbe-Museums in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen und Ausstellungen, vor allem zur Bildhauerei des 20. Jahrhunderts. Sven Brömsel, Studium der Philosophie und Germanistik an der TU, FU und Humboldt Universität in Berlin. Arbeitet als Schauspieler und freier Autor. Essays u. a. in Frankfurter Allgemeiner Zeitung, Süddeutscher Zeitung und Neuer Zürcher Zeitung. Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften und Periodika zur Geistesgeschichte um 1900, speziell Wagnerkontext und klassische Moderne versus konservative Kreise. Darunter über Houston Stewart Chamberlain und Walther Rathenau in: wagnerspectrum 1 (2007). Zurzeit Herausgabe von Werken Hanns Heinz Ewers’. Karl Corino, Dr. phil., Studium der Germanistik, Philosophie und Altphilologie in Erlangen und Tübingen. 1966–1967 Katalogisierung und Studium von Robert Musils Nachlass in Rom. 1969 Promotion bei Friedrich Beißner in Tübingen mit „Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Novellenband ,Vereinigungen‘“. Seit 1970 Redakteur in der Literaturabteilung des Hessischen Rundfunks in Frankfurt a. M., von 1985–2002 deren Leiter. Lebt seither als freier Schriftsteller in Tübingen. Einschlägige Publikationen: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten, Reinbek 1988; Robert Musil. Eine Biographie, Reinbek 2003; En face – Texte von Augenzeugen. Erinnerungen an Robert Musil, Wädenswil 2010. Dieter Heimböckel, Dr. phil., Professor für Literatur und Interkulturalität an der Universität Luxemburg. Arbeitsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Interkulturalität, Literatur- und Kulturtheorie, Drama und Theater, Literatur und Wissen/Nichtwissen, Moderne. Dissertation: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit (1995, veröff. 1996); Jüngste Veröffentlichungen: Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne (hrsg. zus. m. Walter Delabar), Bielefeld 2009; Kleist. Vom Schreiben in der Moderne (Hrsg.), Bielefeld 2013; Zwischen Kalkül und Gefahr. Nichtwissen als Risikophänomen der Moderne, in: Schmitz-Emans, Monika [u. a.] (Hrsg.): Literatur als Wagnis / Literature as a Risk. DFG-Symposium 2011, Berlin [u. a.] 2013, S. 23–46; Der Orient-Diskurs in der Kultur- und Zivilisationskritik um 1900, in: Dunker, Axel/Hofmann, Michael (Hrsg.): Morgenland und Moderne. Orient-Diskurse in der deutschsprachigen Literatur von 1890 bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. [u. a.] 2014, S. 13–33. Hans Dieter Hellige, Dr. phil., Professor für Technikgestaltung und Technikgenese am artecForschungszentrum Nachhaltigkeit der Universität Bremen; Studium der Geschichte mit
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Über die Autorinnen und Autoren
den Schwerpunkten Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte; Promotion an der TU Berlin; Habilitation auf dem Gebiet der historischen Technikgeneseforschung; 1977–2008 Lehrtätigkeit in den Studiengängen Elektrotechnik, Informatik und Geschichte; Publikationen zur Technikgeneseforschung, zur Geschichte und Bewertung von Einzeltechniken der Informationstechnik, zur Geschichte des Computing und der Informatik, zur Unternehmensgeschichte der deutschen Elektroindustrie und Elektrizitätswirtschaft, zur Geschichte der Ressourcenschonung und der Nachhaltigkeit, bis 2009 Mitherausgeber der Walther-RathenauGesamtausgabe. Patrick Küppers, Dr. phil., Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie sowie der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Potsdam und Perugia. Promotion im Rahmen des Walther-Rathenau-Graduiertenkollegs am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Arbeitsschwerpunkte sind die Literatur des 19.– 21. Jahrhunderts, Großstadtkultur sowie Prozesse der ästhetischen und gesellschaftlichen Moderne. 2014 erscheint seine Dissertation „Die Sprache der Großstadt – Zeitkritik und literarische Moderne in den frühnaturalistischen Berlinromanen Max Kretzers“. Wolfgang Martynkewicz, freier Autor und Dozent für Literaturwissenschaft; zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Geschichte der Psychoanalyse. Jüngste Buchveröffentlichungen: Salon Deutschland. Geist und Macht 1900–1945, Berlin 2009; Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne, Berlin 2013. Volker Mergenthaler, Prof. Dr., Promotion und Habilitation an der Universität Tübingen, lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg. Aktuelle Forschungsprojekte zur Journalliteratur im 19. und frühen 20. Jahrhundert, zu Walter Benjamins Jugendschriften, zur Relation von Literatur, literarischem Feld und den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Veröffentlichungen zur Literatur und Kultur der Weimarer Republik. Wolfgang Michalka, Prof. Dr., Universität Karlsruhe, ehemaliger Leiter der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt, einer Außenstelle des Bundesarchivs. Publikationen u. a.: Rathenaus politische Karriere, in: Hense, Karl-Heinz/ Sabrow, Martin (Hrsg.): Leitbild oder Erinnerungsort? Neue Beiträge zu Walther Rathenau, Berlin 2003, S. 67–84; Walther Rathenau, Berlin 2006 (gemeinsam mit Christiane Scheidemann). Walther Rathenau – Begründer einer liberalen Außenpolitik? In: Jahrbuch zur LiberalismusForschung, Jg. 22 (2010), S. 9–36. Clemens Reichhold, Studium der Politischen Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Theorie und Ideengeschichte in Hamburg und Paris. Anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg und am Walther-Rathenau-Kolleg in Potsdam. Dort u. a. Arbeit an einem Dissertationsprojekt zum politischen Denken Friedrich August von Hayeks. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Geschichte des liberalen und neoliberalen Denkens und seiner Kritik. Zum Themenkreis seines Beitrages „Walther Rathenau zur Entfremdung und Regierung der Masse“ im vorliegenden Sammelband erschien: Der Imperialismus als Regierung der Masse. Zur Geschichte der Gouvernementalität bei Foucault, Göttingen 2010.
Über die Autorinnen und Autoren
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Martin Sabrow, Prof. Dr., Studium der Geschichte, Germanistik und Politologie in Kiel und Marburg, 1993 Promotion an der Universität Freiburg mit einer Dissertation zum Rathenaumord, 2004 Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Potsdam und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, seit 2009 Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Politische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Diktaturforschung, Geschichte der Geschichtskultur. Veröffentlichungen u. a.: Die Macht der Mythen. Walther Rathenau im öffentlichen Gedächtnis. Sechs Essays, Berlin 1998; Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution, Frankfurt a. M. 1999; Walther Rathenau und Maximilian Harden. Facetten einer intellektuellen Freund-Feindschaft, Leipzig 2000; Walther Rathenau als Zukunftshistoriker, Leipzig 2000; Leitbild oder Erinnerungsort? Neue Beiträge zu Walther Rathenau (hrsg. zus. mit Karl-Heinz Hense), Berlin 2003. Julius H. Schoeps, Prof. Dr., 1991–2007 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte (Schwerpunkt deutsch-jüdische Geschichte) an der Universität Potsdam, seit 1992 Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, 1993–1997 nebenamtlich Gründungsdirektor des Jüdischen Museums der Stadt Wien, 1974–1991 Professor für Politische Wissenschaft und Direktor des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg. Zahlreiche Publikationen, zuletzt u. a. Das Erbe der Mendelssohns. Biographie einer Familie, Frankfurt a. M. 2009; David Friedländer. Freund und Schüler Mendelssohns, Hildesheim 2012; Der König von Midian. Paul Friedmann und sein Traum von einem Judenstaat auf der arabischen Halbinsel, Leipzig 2014; Deutsch-jüdische Geschichte durch drei Jahrhunderte. Ausgewählte Schriften in 10 Bänden und einem Zusatzband, Hildesheim 2010–2013. Christian Schölzel, Dr. phil., Studium der Geschichte in Hamburg und Berlin (FU). Zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Geschichte von Juden in Deutschland, zur Geschichte der NKWD-/MWD-Lager dort sowie zur deutsch-osteuropäischen Beziehungsgeschichte und zur NS-Zwangsarbeit in Südosteuropa, u. a.: Fritz Rathenau (1875–1949). On Antisemitism, Acculturation and Slavophobia: An Attempted Reconstruction, in: Leo Baeck Institute Year Book XLVIII (2003), S. 135–162; Albert Ballin, Teetz 2004; Walther Rathenau. Eine Biographie, Paderborn u. a. 2006. Nach Tätigkeiten im Museums- und Gedenkstättenbereich seit 2004 Inhaber des Geschichtsbüros Culture and more in Berlin (www.cultureandmore.com). Jasmin Sohnemann, betriebswirtschaftliches Studium, danach Tätigkeit in einem Hamburger Verlagshaus, 2008 Abschluss eines literatur- und kulturwissenschaftlichen Master-Studiengangs in London (Goldsmiths, University of London) mit einer Abschlussarbeit über Stefan Zweig und Sigmund Freud, die in einer überarbeiteten, deutschen Fassung publiziert wurde: Zwei Psychologen und ihre Freundschaft: Stefan Zweig und Sigmund Freud, in: Müller, Karl (Hrsg.): Schriftenreihe des Stefan Zweig Centres, Bd. 3: Stefan Zweig. Neue Forschung, Würzburg 2012. Seit April 2012 Promotionsstipendiatin im Walther-Rathenau-Kolleg. Ihr Forschungsinteresse gilt neben dem Leben und Werk Stefan Zweigs deutsch-jüdischer Literatur und Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Personenregister Personenregister Abernon, Edgar Vincent Viscount d’ 65, 67 Adorno, Theodor W. 5, 134, 301 Altenberg, Peter 18, 25 Andreae, Edith 53, 68, 74, 75, 77, 201, 242, 243 Andreae, Fritz 21, 74 Auerbach, Berthold 128–130, 131, 132 Bacon, Francis 13 Bahr, Hermann 189, 258, 259, 266, 301 Baluschek, Hans 80 Balzac, Honoré de 231, 242 Barnays, Ludwig 229 Barth, Erwin 77 Bassermann, Ernst 202 Baudelaire, Charles 5, 190, 301 Bauer, Bruno 43, 272 Bauer, Max 56 Bauer, Walter 27 Begas, Reinhold 85 Behrens, Peter 281 Bellamy, Edward 158, 167, 303 Bendavid, Lazarus 124, 125 Benjamin, Walher 5, 316 Benn, Gottfried 280 Bernhard, Georg 289 Bestelmeyer, German 77 Bethmann Hollweg, Theobald von 165, 166, 169, 172, 204, 209–213 Binding, Rudolf 27, 28 Bismarck,Otto von 142, 206, 276 Blei, Franz 14, 18–21, 23, 252, 253, 301 Bloch, Ernst 124 Böcklin, Arnold 192 Bode, Erich 85 Bollenbeck, Georg 29, 45, 48, 255, 263, 301, 302 Börne, Ludwig 276, 277, 303 Bosch, Robert 171 Böß, Gustav 75, 77, 78, 83 Braque, Georges 263 Breising, Hanns 121, 129 Breker, Arno 280 Brentano, Bernard von 87, 88, 109
Brentano, Lujo 141, 158–160, 168 Breslauer, Max 211 Breysig, Kurt 34 Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf 219, 311 Briand, Aristide 218 Brod, Max 266 Bronnen, Arnolt 278 Bruckmann, Alphons 255 Bruckmann, Elsa 255, 256, 257 Bruckmann, Friedrich 255 Bruckmann, Hugo VIII, 3, 251, 255, 256, 261, 263 Brüdigam, Theodor 97, 106 Brunner, Constantin 47 Bülow, Bernhard von 200–302 Bülow, Marie Fürstin von 22 Bumiller, Josephine 275 Bunsen, Marie von 294 Busoni, Ferruccio 71, 73 Carnot, Nicolas Léonard Sadi 146, 147, 302 Caruso, Enrico 267 Catilina, Lucius Sergius VII, 87, 101–103, 106–108, 314 Chamberlain, Houston Stewart 256, 261, 302, 315 Čičerin, Georgij Wassiljewitsch 61 Cicero, Marcus Tullius 101, 102, 105, 107, 108 Clausius, Rudolf 147, 148, 152, 163, 302 Cohn, Emil 151, 152 Conrad, Johannes 158 Crowley, Aleister 274, 282 Defoe, Daniel 9 Dehmel, Richard 239, 269 Dernburg, Bernhard 200, 201, 311 Dessoir, Max 200 Deutsch, Felix 23, 56–59, 75 Deutsch, Lili 19, 23, 242 Dickens, Charles 242 Diestel, Franz 96 Dolmet, Pierre 296 Donath, Adolf 70
Personenregister Dostojewski, Fjodor 242 Droysen, Gustav 126 Durieux, Tilla 267 Ebermayer, Ludwig 93, 97–101, 103, 104, 106–108, 110 Ebert, Friedrich 67, 103, 205, 283 Eeden, Frederik van 234 Ehrhardt, Hermann 93, 96, 99, 280 Eichendorff, Joseph Freiherr von 21, 276 Emerson, Ralph Waldo 16, 17 Erzberger, Matthias 103, 106, 214, 269, 278, 279, 291 Eulenberg, Herbert 282 Ewers, Hanns Heinz VIII, 2, 3, 265–269, 272– 281, 303, 304, 306, 314, 315 Franz Ferdinand von Österreich-Este 18, 19, 244, 291 Feuerbach, Ludwig 43 Fischer, Hermann 93 Fischer, Samuel 3, 16, 18, 236, 237, 240 Flake, Otto 109 Flechtheim, Alfred 278, 280, 281 Fourier, Charles 43 Franck, Hans 88 Friedegg, Ernst 206 Friedländer, David 122, 317 Friedrich II. von Preußen 46, 126 Fürstenberg, Carl 55, 200, 284, 303 Fürstenberg, Hans 200, 303 Galsworthy, John 275 Geiger, Abraham 129 Geitner, Hugo 239, 242 George, Lloyd 216–221 George, Stefan 13, 256, 306 Gerlach, Hellmut von 223 Gert, Valeska 267 Gilsa, Erich von 56 Goebbels, Joseph 279, 280, 303 Goethe, Johann Wolfgang von 121, 235, 253, 257, 303 Goldschmidt, Alfons 286 Gorki, Maxim 266 Görres, Johann Joseph von 276 Gottlieb, Ernst 290
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Graf, Oskar Maria 69 Grashoff, Franz 148 Gropius, Walter 70 Großmann, Stefan 26 Grottewitz, Kurt 189 Günther, Willi 96 Gustav II. Adolf von Schweden 126 Haacke, Harald 86 Hahn, Herrmann 75–77, 83, 313 Haimhausen, Edgar Haniel von 66, 67 Haldane, Richard, 1. Viscount Haldane 208 Hanfstaengl, Ernst 279 Hannibal 15, 254 Hanussen, Erik Jan 282 Harden, Maximilian V, 3, 10, 19, 23, 35, 55, 56, 65, 122, 125, 158, 160, 190, 194, 201, 227, 228, 230, 248, 281, 282, 285, 304, 309, 317 Harrach, Helene Gräfin von 22 Hauptmann, Gerhart 18, 234, 238, 259, 282 Haussmann, Conrad 213 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 115, 116, 134, 185 Heimann, Eduard 171 Heimann, Moritz 16, 115 Heine, Heinrich 90, 109, 266, 269, 274, 276– 280, 303 Helfferich, Karl Theodor 204 Hellingrath, Norbert von 255 Helm, Brigitte 267 Helmholtz, Hermann 147, 151, 152, 163, 305 Henckel von Donnersmarck, Katharina Fürstin 22 Herder, Johann Gottfried 123, 126, 133 Herrmann, Adolf 103 Herzl, Theodor 54, 55, 114, 115, 120, 243, 260, 267, 305 Herzog, Wilhelm 285 Hesse, Hermann 266 Heym, Georg 293 Hindenburg, Gertrud von 22 Hindenburg, Paul von 202 Hirschfeld, Magnus 277 Hirsch, Karl Jakob 82, 86, 305 Hitler, Adolf 244, 256, 279, 280 Hoetzsch, Otto 56
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Personenregister
Hoffmann, E. T. A. 266 Hoffmann, Ludwig 75, 80 Hofmannsthal, Hugo von 228, 256, 259, 305 Huysmans, Joris Karl 268 Ilsemann, Christian 96 Jaspers, Karl 33, 305 Jaurès, Jean 241 Jevons, William Stanley 140, 146, 181, 183, 305 Kahn, Paul 242 Karrenbrock, Lore 53, 55 Kassner, Rudolf 256, 276 Kern, Erwin 39, 49, 93, 118, 139, 170, 172, 174, 175, 182, 257, 262, 287 Kerr, Alfred 14, 16, 18, 20–23, 281, 305 Kessel, Martin 27 Kessler, Harry Graf 13, 15, 17, 22–24, 53, 98, 112, 114, 201, 204, 205, 233, 256, 281, 286, 290, 306 Keyserling, Hermann Graf 256 Klimt, Gustav 268, 281 Kohlheyer, Otto 103 Kolbe, Georg 70–75, 77–86, 306, 310, 312, 314, 315 König, Arthur 151 Kopp, Victor 58, 59 Kracauer, Siegfried 40, 306 Krassin, Leonid B. 66 Krauss, Werner 267 Kreismann, Harry 27, 28 Krestinski, Nikolai 220 Kubin, Alfred 277 Lamarck, Jean-Baptiste 261 Landauer, Gustav 241 Landmann, Edith 13, 306 Landsberger, Artur 274, 282 Lange, Friedrich C. A. 74 Laurencin, Marie 273 Le Bon, Gustav 50, 51, 306 Lederer, Hugo 78 Lehmann, Emil 116, 119, 120, 122–128, 130, 131 Lenin, Wladimir Iljitsch 56, 58
Lessing, Gotthold Ephraim 68, 171 Lessing, Theodor 112 Leyen, Friedrich von der 255 Lichtwark, Alfred 77, 306 Liebermann, Max 187–191, 281, 283 Liebig, Justus 140 Liebknecht, Karl 98 Lienhard, Fritz 189 Litvinov, Maksim M. 67 Lloyd George, David 66, 216–218, 221 Loucheur, Louis 63, 215 Lubitsch, Ernst 267 Ludendorff, Erich Friedrich Wilhelm 56, 64, 68, 204, 211 Ludwig, Emil 203, 225, 226, 235, 246, 281 Lukács, Georg 37 Luther, Martin 121, 126, 132 Luxemburg, Rosa 98 Mackensen, August von 202 Maeterlinck, Maurice 16, 17, 24 Mallarmé, Stéphane 190 Malthus, Thomas Robert 139, 180 Maltzan, Adolf Georg Otto von 60–62, 65, 219, 221, 305 Mannesmann, Alfred 201, 308 Mannesmann, Carl 201 Mann, Heinrich 239 Mann, Thomas 7, 8, 13, 239, 253, 304 Marx, Karl 121, 140–142, 193, 272, 303, 307 Mechow, Karl Benno von 28 Medici, Lorenzo de’ 13 Meebold, Alfred 230 Meier-Graefe, Julius 255 Mendelssohn, Franz von 73 Mendelssohn, Giulietta von 73 Mendelssohn, Moses VI, 2, 68, 123, 124, 316, 317 Messala, Demetra 280 Messel, Alfred 75 Meyer, Rudolf 158 Mill, John Stuart 139, 158, 167, 168, 184 Mirandola, Pico della 13 Moellendorff, Wichard von 150, 162, 167, 168, 170–173, 302 Moleschott, Jakob 140 Mommsen, Theodor 102
Personenregister Moritz, Andreas 81, 82 Morris, William 139, 167 Moses, Julius 269 Mühsam, Erich 266 Müller, August 172 Müller, Georg 268, 274 Munch, Edvard 281, 283, 284, 307 Musil, Robert VII, 3, 14, 15, 17–28, 252–254, 278, 284, 302, 303, 307, 315 Nathanson, Richard 119 Naumann, Friedrich VI, 33, 171, 307, 315 Nietzsche, Friedrich 18, 34, 35, 37, 160, 190, 196, 268, 301 Noack, Hermann 81, 85, 86, 314 Nordau, Max 128 Norden, Albert 288 Noske, Gustav 56 Oldenberg, Karl 158 Oppen, Hans-Werner von 85 Oppenheimer, Franz 37 Ostwald, Wilhelm 137, 148–150, 152, 153, 155, 176, 184, 308 Otten, Karl 87 Panizza, Oskar 277 Paquet, Alfons 27 Pascha, Enver 56 Picasso, Pablo 263 Poe, Edgar Allan 268, 273, 281 Popper-Lynkeus, Josef 167 Quesnay, François 138, 182 Radbruch, Gustav 96 Radek, Karl VII, 2, 3, 53, 55–69, 302, 303, 306–309, 311, 312 Radziwill, Marie Dorothea Fürstin von 22 Rathenau, Emil 16, 27, 54, 70, 75, 83, 84, 115, 119, 120, 122–124, 126, 130, 131, 151, 153, 154, 156, 169, 199, 203, 225, 226, 235, 246, 257, 258, 281, 307 Rathenau, Mathilde 54, 72, 75, 241 Rave, Paul 77, 310 Rechberg, Arnold 69 Redslob, Edwin 70–77, 80, 81, 295, 313, 314
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Reelfs, Hella 74 Reibnitz, Eugen Freiherr von 56 Reinhardt, Max 256, 269, 273 Rembrandt van Rijn 192 Ricardo, David 139 Richter, Cornelie 22 Rieger, Ernst 227, 248 Riemerschmid, Richard 255 Rilke, Rainer Maria 256, 266 Rittberg, Georg Graf von 103 Röhm, Ernst 279 Rolland, Romain 234–236, 239, 241, 242, 245, 247, 248 Rosen, Friedrich 63 Roth, Joseph VII, 2, 87–92, 96–99, 101–110, 316 Rowohlt, Ernst 25, 28 Rudolf, Max 237 Russell, Bertrand 139 Saenger, Samuel 205 Sallustius Crispus, Gaius 101, 102, 108 Salomon, Ernst von 25, 26, 106, 223, 278, 286, 287, 317 Sauerwein, Jules 280 Schäffle, Albert 142, 143, 158, 160, 182, 311 Schairer, Erich 171 Scheerbart, Paul 266 Scheler, Max 18, 19, 20, 206, 252, 311 Scheüch, Heinrich 208 Schiller, Friedrich 85 Schlageter, Albert Leo 279 Schleiermacher, Friedrich 251, 311 Schmitt, Carl 103 Schmitt, Hermann 77 Schmoller, Gustav 141, 144, 145, 157, 159, 160, 161, 168–170, 175, 184, 301, 311 Scholem, Gershom 5, 301 Schrenck-Notzing, Albert Freiherr von 282 Schultze-Naumburg, Paul 263 Schütt, Richard 96 Schwabach, Erik-Ernst 14 Schwaner, Wilhelm 129, 203, 305 Scipio, P. Cornelius 15 Seeckt, Hans von 220 Seidel, Ina 28 Seidl, Arthur 87
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Personenregister
Selbach, Ottilie 72 Servaes, Franz 229, 239 Siegel, Gustav 156 Simmel, Georg 29, 45, 175, 177, 182, 190, 312 Smith, Adam 128, 139, 180 Soergel, Albert 87 Solf, Wilhelm 176 Sombart, Werner 14, 29, 41, 158, 167, 175– 177, 179, 182, 269, 272, 312 Sophokles 277 Spahn, Martin 276 Spengler, Oswald 34 Spinoza, Baruch de 121, 128, 129, 131, 132, 245 Stalin, Joseph 56 Stegerwald, Adam 171 Stinnes, Hugo 60, 215 Stirner, Max 266 Strauss, Emil 27 Strauss, Leo 128 Strauß, Richard 23 Stresemann, Gustav 199, 222 Stubenrauch, Heinz 97 Taylor, Frederik Winslow 171 Techow, Ernst Werner 93, 96 Tillessen, Karl 96 Tolstoi, Leo 266 Trakl, Georg 293 Trotzki, Leo 56 Unruh, Fritz von 19–21, 238 Ury, Lesser 55
Veblen, Thorstein 167 Velde, Henry van de 255 Verhaeren, Emile 233, 239, 242 Villa, Francisco 21, 274, 277, 280, 285 Vogeler, Heinrich 281 Wagner, Adolph 12, 13, 101, 141–144, 157, 158, 159, 168, 220, 305–307, 313 Warnecke, Friedrich 96 Wassermann, Jakob 18 Weber, Max 29, 45, 176–180, 183, 309, 311, 313 Wedderkop, Hermann von 280 Wedekind, Frank 228, 266, 269, 282 Wegener, Paul 267, 279 Wessel, Horst 279, 280 Wilde, Oscar 20, 266 Wilhelm I. von Preußen 126 Wilhelm II. von Preußen 81, 200, 204, 208, 209, 276 Wilms, Dorothee 292, 293 Wilson, Woodrow 238 Wirth, Joseph 61, 67, 93, 206, 218–221, 290, 305, 306 Wissell, Rudolf 169, 171–173, 301, 313 Wolfskehl, Hanna 255 Wolfskehl, Karl 255 Wolzogen, Ernst von 266 Wunderwald, Ilna 267 Zangwill, Israel 267 Zweig, Arnold 266 Zweig, Friderike 227, 240 Zweig, Stefan VIII, 2, 3, 224–249, 284, 290, 291, 295, 317