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German Pages [331] Year 2011
Gerrit Lembke (Hg.)
Walter Moers’ Zamonien-Romane Vermessungen eines fiktionalen Kontinents
Mit 13 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-677-1 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stipendienstiftung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und des Allgemeinen Studierenden-Ausschusses der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ð 2011, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr-und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Titelbild: Hildegunst von Mythenmetz (Moers: Die Stadt der Träumenden Bücher, 4 Ð 2004 Piper Verlag GmbH, München) Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Meinen Eltern
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Editorischer Hinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gerrit Lembke »Hier fängt die Geschichte an.« Moers’ Zamonien-Romane. Vermessungen eines fiktionalen Kontinents . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Überblicksdarstellungen Sven Hanuschek »Die Antworten auf fast alle Fragen von heute stehen in alten Büchern«. Trivialdramaturgie und ihre Rettung in Walter Moers’ Zamonien-Romanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ingo Irsigler »Ein Meister des Versteckspiels«. Schriftstellerische Inszenierung bei Walter Moers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anne Hillenbach Intermedialität in Walter Moers’ Zamonien-Romanen . . . . . . . . . . .
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Gerrit Lembke »Der Große Ompel«. Kartographie und Topographie in den Romanen Walter Moers’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eva Oppermann Der deutsche Carroll. Walter Moers’ zamonische Romane im Vergleich mit klassischem englischen Nonsense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
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Inhalt
Daniel Schäbler Frankenstein und die Folgen. Zur Poetik des Monströsen bei Walter Moers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
II. Zu den einzelnen Werken Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär (1999) Eva Kormann Seemannsgarn spinnen oder : im Malmstrom des lebensgeschichtlichen Fabulierens. Walter Moers’ Variante des Schelmenromans . . . . . . . . . 157 Magdalena Drywa Wissen ist Nacht. Konzeptionen von Bildung und Wissen in Walter Moers’ Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Ensel und Krete (2000) Hans-Edwin Friedrich Was ist ein Märchen aus Zamonien? Zu Ensel und Krete von Walter Moers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Ninon Franziska Thiem Auf Abwegen. Von (para-)textuellen Abschweifungen in Walter Moers’ Ensel und Krete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Rumo und Die Wunder im Dunkeln (2003) Maren J. Conrad »Blut! Blut! Blut!« Die Artusepik als heroisches Erbgut wortkarger Wolpertinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Die Stadt der Träumenden Bücher (2004) Tim-Florian Goslar Zurück nach Arkadien. Die Kulturlandschaften Zamoniens in Die Stadt der Träumenden Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Maren J. Conrad Von toten Autoren und Lebenden Büchern. Allegorien und Parodien poststrukturalistischer Literaturtheorie in den Katakomben der Stadt der Träumenden Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Inhalt
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Der Schrecksenmeister (2007) Gerrit Lembke »Leichenfledderer sind wir alle.« Die Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Die Mitarbeiter dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Danksagung
Viele Köpfe und Hände sind an diesem Buch beteiligt gewesen, und ihnen dafür zu danken, ist eine Selbstverständlichkeit, die gerade deshalb nicht vergessen werden soll: Dies gilt zunächst für die Autoren des Bandes, die durch ihre Bereitschaft, auch intensive Diskussionen über die Aufsätze zu führen, die Arbeit zu einer echten Freude gemacht haben! Daneben ist ausdrücklich zu danken: Prof. Albert Meier für Rat und Tat sowie seine verständnisvolle Unterstützung des Moers-Projekts wie auch meiner Dissertation, Prof. Hans-Edwin Friedrich für seine praktischen Tipps, Maren J. Conrad für fachkundige Zamonien-Hinweise und so gründliche wie kritische Lektüren, Frank Pöhlmann für seine stets konstruktiven Anmerkungen zu den Manuskripten, Ruth Vachek (V&R unipress) für ihr offenes Ohr in Verlagsangelegenheiten, Oliver Schmitt für seine Informationen zur Typographie und Gestaltung der Romane, der Stipendien-Stiftung sowie dem Allgemeinen Studierendenausschuss der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel für die finanzielle Teilförderung, dem Eichborn- sowie dem Piper-Verlag für die Abdruckgenehmigungen und schließlich Miriam Hoffmann für ihren Glauben an das Projekt! Hoffen wir, dass genügend Orm durch uns alle geflossen ist und dass wir ohne die berüchtigten Mythenmetzschen Abschweifungen ausgekommen sind.
Editorischer Hinweis
Sämtlichen Aufsätzen liegen die gebundenen Originalausgaben als Text- und Bildquellen zugrunde, deren Texte sich von den späteren Taschenbuchausgaben geringfügig unterscheiden. Die fünf Zamonien-Romane werden aus Gründen der Textökonomie mit folgenden Siglen im Haupttext zitiert: KBB: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär EK: Ensel und Krete R: Rumo & Die Wunder im Dunkeln STB: Die Stadt der Träumenden Bücher SM: Der Schrecksenmeister Die typographische Vielfalt der Romane kann hier leider nicht wiedergegeben werden. Sämtliche Markierungen im Originaltext (durch Schriftstärke, -größe, -art etc.) werden im vorliegenden Band daher kursiv gesetzt.
Abbildungsnachweise Abb. 1: Übersetzungsschritte im Schrecksenmeister (Ð Ingo Irsigler) Abb. 2: Zamonien im globalen Kontext (KBB hinterer Vorsatz) Abb. 3: Zamonien im Detail (KBB vorderer Vorsatz) Abb. 4: Blaubär im Labyrinth (KBB 175) Abb. 5: Gehirn-Karte des Bollogg-Schädels (KBB 430 f.) Abb. 6: Karte von Bauming (EK Umschlag) Abb. 7: Karte vom Großen Wald (EK hinterer Vorsatz) Abb. 8: Karte von Buchhaim (STB 31) Abb. 9: Wolperting (R vorderer Vorsatz) Abb. 10: Rumos Weg (R hinterer Vorsatz) Abb. 11: Untenwelt (R 388 f.) Abb. 12: Visuelle Rahmung in Ensel und Krete (EK 4 f.) Abb. 13: Visuelle Rahmung in Ensel und Krete (EK 224 f.)
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Editorischer Hinweis
Walter Moers: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär Ð 1999 Eichborn AG, Frankfurt; Walter Moers: Ensel und Krete Ð 2000 Eichborn AG, Frankfurt; Walter Moers: Rumo & Die Wunder im Dunkeln Ð 2003 Piper Verlag GmbH, München; Walter Moers: Die Stadt der Träumenden Bücher Ð 2004 Piper Verlag GmbH, München; Walter Moers: Der Schrecksenmeister Ð 2007 Piper Verlag GmbH, München.
Gerrit Lembke
»Hier fängt die Geschichte an.« Moers’ Zamonien-Romane. Vermessungen eines fiktionalen Kontinents
2009 entdeckte der Berner Zoologe Holger Frick auf der Alp Flix in Graubünden eine neue Spinnenart, die er »Zamonische Zwergspinne« (Caracladus zamoniensis) taufte – eine huldvolle Reminiszenz an das literarische Werk Walter Moers’.1 Damit erhielt dessen literarisches Fantasy-Werk einen auch im Feuilleton respektvoll zur Kenntnis genommenen Einzug in die Realität der Biologie.2 Die hiermit vorliegende Aufsatzsammlung zu den fünf Romanen, die auf dem fiktiven Kontinent Zamonien spielen, soll das Werk nun auch in den philologischen Disziplinen als würdigen Gegenstand etablieren. Im Mittelpunkt des Sammelbandes steht die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der fiktiven Welt Zamonien, die sich in eine lange Tradition nicht realer Kontinente eingliedert, deren prominenteste wohl Atlantis (Platon), Lemuria (Perry Rhodan), Mittelerde (J. R. R. Tolkien) sowie die Scheibenwelt Terry Pratchetts sein dürften.3 Hat der Atlantis-Stoff in seiner Rezeptionsgeschichte zu einer angeregten Mythenbildung um die Lage des vermeintlich versunkenen Kontinents geführt, verbleiben Moers’ Zamonien und Tolkiens Mittelerde ganz im ›Wald der Fiktionen‹ (boscho narrativo).4 Der Fokus auf Zamonien mag durchaus im Sinne des medienscheuen Verfassers sein, der dem fiktiven Kontinent die Rolle des heimlichen Protagonisten ein- und zuschrieb: »Bei der Arbeit am ersten Roman kam mir die fixe Idee für eine Buchreihe, bei der eigentlich nicht die Protago1 »Der ›Kopf-Fortsatz‹ der ›Zamonischen Zwergspinne‹ weist erstaunliche Ähnlichkeit mit den Nasen der Zwergpiraten und anderen Bewohnern Zamoniens auf – jenen Wesen, die der deutsche Zeichner und Autor Walter Moers in seinen Romanen über den fiktiven Kontinent Zamonien erschuf. Hiermit lässt sich die Namensgebung der neu entdeckten Spinne erklären. Wissenschaft dürfe schliesslich auch eine unterhaltsame Seite haben, so Holger Frick.« David Fogal: Neue Spinne erhält Namen aus Comic. In: http://www.uniaktuell.unibe.ch/content/ umweltnatur/2010/zwergspinne (Zugriff am 3. September 2010). 2 Andreas Platthaus: Hui Spinne! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 14. Mai 2010. 3 Vgl. Sprague de Camp: Lost Continents. The Atlantis theme in history, science, and literature. New York 1954. 4 Vgl. Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Übers. v. Burkhart Kroeber. München 1994.
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nisten, sondern der Ort, an dem die Handlung spielt, der eigentliche Held sein soll.«5 Dieser ›Held‹ wird auch der Protagonist der versammelten Aufsätze sein. Im literarischen Werk spiegelt sich diese Zurückhaltung der realen persona in der Inszenierung Moers’ als bloßer Übersetzer der Texte wider, die überwiegend auf den zamonischen Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz zurückgeführt werden. Angesichts der literarischen Qualität der Romane ist es bedauerlich, dass Walter Moers in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher kaum als ernstzunehmender Autor gewürdigt worden ist.6 Dies mag dadurch begründet sein, dass das Werk zum einen als überaus humoristisch, zum anderen als dem Jugendbuchsektor zugehörig empfunden wird, was die Texte manchem Vertreter unseres Faches sicherlich ›suspekt‹ erscheinen lässt. Auch wenn beide Beobachtungen sicherlich ihre Berechtigung haben, erschöpft sich das anspielungsreiche Werk bei Weitem nicht darin: Zu zahlreich sind die intertextuellen Verweise, die sich einer flüchtigen Lektüre entziehen und erst in einer gründlichen Revision zum Vorschein kommen. Der Publikumserfolg ist keineswegs immer ein Indikator literarischer Trivialität, sondern manchmal auch Ausdruck von Qualität, wie auch die erheblichen Longsellerqualitäten von Romanen wie 5 Klaus Nüchtern: Mein Zielpublikum bin ich. Interview mit Walter Moers. In: Falter. 24. März 2003. 6 Ausnahmen sind die kurzen Artikel von Lars Korten, Hans-Edwin Friedrich, Remigius Bunia und Stefan Höppner/Nadine Ihle. In monographischen Darstellungen zur Gegenwartsliteratur oder Literaturlexika hat Moers bislang keine oder kaum Erwähnung gefunden. Lediglich die aktuellen Auflagen von Kindlers Literaturlexikon und Killys Literaturlexikon verzeichnen je einen Sammeleintrag zu den Zamonien-Romanen. Siehe Lars Korten: In 1312 Leben um die Welt. Walter Moers’ Zamonien global und regional betrachtet. In: Martin Hellström u. Edgar Platen (Hg.): Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur (Perspektiven. Nordeuropäische Studien zur deutschsprachigen Literatur und Kultur 4). München 2008, S. 53 – 62; HansEdwin Friedrich: Erzählen als Lügen. Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär von Walter Moers. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57 (2010), S. 148 – 161; Remigius Bunia: Mythenmetz & Moers in der Stadt der Träumenden Bücher – Erfundenheit, Fiktion und Epitext. In: Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. v. Alexander Bareis u. Frank Thomas Grub. Berlin 2010 (Kaleidogramme 57), S. 189 – 201; Stefan Höppner u. Nadine Ihle: Projizierte Gesellschaft – fiktive Stadt. In: Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. Hg. v. Winfried Nerdinger u. Hilde Strobl. München 2006, S. 334 – 337; Dirk Engelhardt: Walter Moers, Die Zamonien-Reihe. In: Kindlers Literaturlexikon. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Bd. 11. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar 2009, S. 373 – 375; Kathrin Klohs: Moers, Walter. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Hg. v. Wilhelm Kühlmann [u. a.]. Bd. 8. Berlin [u. a.] 2010, S. 285 f.; am Rande werden die Romane erwähnt bei Klimek und Herzog: Sonja Klimek: Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der phantastischen Literatur. Paderborn 2010; Markwart Herzog: Von Narnia über Hogwarts und Zamonien nach Fowl Manor. Unterweltfahrten in der zeitgenössischen fantastischen Kinder- und Jugendliteratur. In: Höllen-Fahrten. Geschichte und Aktualität eines Mythos. Hg. v. dems. Stuttgart 2006 (Irseer Dialoge. Kultur und Wissenschaft interdisziplinär 12), S. 213 – 243, hier S. 221 – 223.
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Umberto Ecos Il nome della rosa (1980, dt. 1982) oder Patrick Süßkinds Das Parfüm (1985) gezeigt haben. Abgesehen von vereinzelten Aufsätzen sind bislang keine wesentlichen Arbeiten zum Werk von Walter Moers publiziert worden. Interessanterweise steht diese Beobachtung im Gegensatz zum intensiven Interesse, das im literaturwissenschaftlichen Studium an diesem Autor und seinen Werken zu herrschen scheint, wie die Präsenz der Texte in Abschlussprüfungen und -arbeiten nahelegt. In diesem Kontext stehen auch die einzigen monographischen Publikationen zu Moers: Im Rahmen des jüngst in Mode gekommenen Phänomens, Bachelor-, Magister-, Diplom- oder Staatsexamenarbeiten zu publizieren, sind Arbeiten von Jan-Martin Altgeld, Virginie Vökler, Anne Siebeck und Mario Fesler veröffentlicht worden, die sich teilweise oder schwerpunktmäßig mit den Moers-Romanen auseinandersetzen.7 Jan-Martin Altgeld hat sich beispielsweise mit Phänomenen der Intertextualität und Intermedialität in Wilde Reise durch die Nacht und Die Stadt der Träumenden Bücher beschäftigt.8 Virginie Vökler hingegen stellt Die Stadt der Träumenden Bücher in einen Kontext mit anderen Texten der phantastischen und populären Gegenwartsliteratur wie etwa Cornelia Funkes Tintenherz (2003).9 Mit einem mit Vöklers Arbeit zum Teil deckungsgleichen Textkorpus versucht Anne Siebeck die Besonderheiten des Motivs vom ›Buch im Buch‹ herauszustellen.10 Mario Feslers Magisterarbeit setzt sich hingegen mit dem Fantasy-Charakter der Texte auseinander.11 So lobenswert die Arbeiten in Teilaspekten auch sein mögen, haben sie eben den spezifischen Charakter von Abschlussarbeiten und teilen deren Vorzüge wie auch Mängel. In dem vorliegenden Aufsatzband sollen daher die Zamonien-Romane Walter Moers’ einer ersten wissenschaftlich fundierten Revision unterzogen werden. Die Beschränkung auf die fünf bisher erschienenen Romane (Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär, Ensel und Krete, Rumo & Die Wunder im Dunkeln, Die Stadt der Träumenden Bücher sowie Der Schrecksenmeister) und der daraus resultierende Ausschluss unter anderem des umfangreichen Comicwerks (Das kleine Arsch7 Eine grundlegende Abrechnung mit diesem Phänomen liefert Hannes Fricke im Rahmen einer Buchbesprechung. Hannes Fricke: Batman und kein Ende – doch das hat Batman (und die Kunstform Comic) eigentlich nicht verdient! Zu Lars Banholds problematischer Bachelor-Arbeit über den Dunklen Ritter als erstem Band der neuen Reihe »yellow. schriften zur comic-forschung«. http://www.iaslonline.de (Zugriff am 31. August 2010). 8 Vgl. Jan-Martin Altgeld: Intertextualität und Intermedialität in Walter Moers »Wilde Reise durch die Nacht« und »Die Stadt der Träumenden Bücher«. Berlin 2008. 9 Vgl. Virginie Vökler : Die Ästhetik des Bösen in der phantastischen Gegenwartsliteratur. Am Beispiel von Cornelia Funkes »Tintenherz«, W. und H. Hohlbeins »Das Buch« und Walter Moers »Die Stadt der Träumenden Bücher«. München 2008. 10 Vgl. Anne Siebeck: Das Buch im Buch. Ein Motiv der phantastischen Literatur. Marburg 2009. 11 Vgl. Mario Fesler : Die Zamonien-Romane von Walter Moers als zeitgenössische Vertreter der Gattung Fantasy. Norderstedt 2007.
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loch) soll eine gewisse Homogenität gewährleisten, die bereits durch inhaltliche und strukturelle Analogien der Zamonien-Romane gegeben ist. Diesen Analogien, deren Reichweite sich über mehrere Texte erstreckt, wird im ersten Sinnabschnitt des vorliegenden Bandes Rechnung getragen, wenn sechs Autoren sich mit übergreifenden Aspekten befassen, die das Korpus aller Zamonien-Romane betreffen. In diesem Abschnitt wird immer wieder auf die postmodernen Merkmale von Moers’ Erzähltexten eingegangen. Und tatsächlich positioniert sich Walter Moers’ Werk nach der von Leslie Fiedlers Aufsatz Cross the border! markierten Überbrückung jener Kluft zwischen einer ernstzunehmenden, zu kanonisierenden E-Kunst und einer zu marginalisierenden U-Kultur.12 Der postmoderne Roman solle »einen Fuß über die Grenzlinie […] setzen, wenn nicht gar die Lücke […] schließen zwischen hoher Kultur und niederer, belleslettres und pop art«.13 Die Zamonien-Romane sind zugleich in einer naiven Lektüre als Jugendromane unter den Vorzeichen der Spannung oder Unterhaltung und in einer kritischen Lektüre als bewusste und ironische bricolage (L¤viStrauss)14 abendländischer Kultur rezipierbar. Sven Hanuschek setzt sich in seinem Beitrag über »Trivialdramaturgie und ihre Rettung in Walter Moers’ Zamonien-Romanen« mit dem Verhältnis der Romane zu trivialen Strukturmerkmalen auseinander, wobei gleichsam die Trivialität der Romane wie auch deren Überwindung durch die Offenlegung der eigenen Strukturprinzipien und eine Übersteigerung trivialer Merkmale gezeigt wird.
Intermedialität Walter Moers ist im öffentlichen Bewusstsein als polymedialer Künstler und keineswegs nur als Autor der Zamonien-Romane präsent. Zunächst erlangte er eine gewisse Popularität mit seinen Comics um die Figur ›Das kleine Arschloch‹. Konnte er sich hier ebenso wie in seiner Tätigkeit als Zeichner des Käpt’n Blaubär für die Sendung mit der Maus vornehmlich als Zeichner profilieren, hat Moers mit der literarischen Adaption des Blaubär-Stoffs in dem 1999 erschienenen Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär einen Medienwechsel vollzogen, der sein weiteres Werk bis heute nachhaltig geprägt hat: Seitdem sind fünf weitere Romane erschienen, von denen vier auf dem fiktiven Kontinent spielen. Nur Wilde Reise durch die Nacht (2001) spielt nicht explizit auf Zamonien, sondern in einer dem zamonischen Kontinent nicht völlig fremden, aber mit ihr nicht identischen 12 Vgl. Leslie A. Fiedler : Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne. In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hg. v. Wolfgang Welsch. Weinheim 1988, S. 57 – 74. 13 Ebd., S. 60. 14 Vgl. Claude L¤vi-Strauss: Das wilde Denken. Übers. v. Hans Naumann. Frankfurt a. M. 1968.
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Traumwelt. Ist die ikonische Exploration Zamoniens von den Zeichnungen Moers’ geprägt, fehlen diese in Wilde Reise durch die Nacht völlig. Dennoch muss auch dort der Leser nicht auf Abbildungen verzichten, bei denen es sich um Holzstiche von Gustave Dorº handelt. Während sich also das Œuvre der künstlerischen Doppelbegabung Walter Moers’ im Ganzen bereits durch Intermedialität auszeichnet, lässt sich dieser Aspekt auch innerhalb der Zamonien-Romane beobachten: Die Abbildungen in den fünf hier fokussierten Romanen werden von Anne Hillenbach in ihrem Beitrag »Intermedialität in Walter Moers’ Zamonien-Romanen« analysiert. Anhand einer von Irina O. Rajewsky vorgestellten Typologie intermedialer Phänomene15 kann die Verfasserin zum einen die verschiedenen Arten medialer Grenzgänge und die wechselseitigen Bezüge demonstrieren und zum anderen deren spezielle Verwendung in den Zamonien-Romanen charakterisieren. Mit einem speziellen Typus der Abbildungen, nämlich dem den Romanen beigefügten Kartenmaterial, setzt sich Gerrit Lembke in seinem Beitrag »›Der Große Ompel‹. Topographie und Kartographie in den Romanen Walter Moers’« auseinander. Der narrativen Weltmodellierung im Zeichensystem der Sprache steht eine visuelle Darstellung mit den Mitteln der Kartographie gegenüber. Die insgesamt zwölf Karten erschöpfen sich nicht in ihrer Orientierungsfunktion für den Leser, sondern sind in verschiedener Weise in die Diegese eingebunden. Während zum Beispiel die Karten in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär die Funktion eines visuellen Inhaltsverzeichnisses übernehmen, ergänzt die Karte in Ensel und Krete beispielsweise die Exposition des Ortes als touristisch beherrschte Natur.
Leser: Crossover-Literatur und doppelte Codierung Hinsichtlich ihrer realitätsentrückten Weltentwürfe sind die Zamonien-Romane dem Genre der Fantasyliteratur zuzuordnen. Zamonien ist ein Kontinent, auf dem nicht-realitätskonforme Gesetze gelten: Drachen fliegen, Hexen hexen und Trolle oder Magier bevölkern die literarische Landschaft. Diese übernatürlichen Kräfte und Figuren werden aber nicht ernsthaft vom handelnden Personal in Frage gestellt, neben dem Übernatürlichen gibt es kein realitätskonformes Regelsystem, vor dessen Hintergrund sich die Ereignisse als besonders markiert – und damit als phantastisch im Gegensatz zur Fantasy – erweisen würden.16 Als Charakteristikum insbesondere der Fantasy-Literatur sieht Sandra L. 15 Vgl. Irina O. Rajewsky : Intermedialität. Tübingen/Basel 2002. 16 Vgl. Marianne Wünsch: Phantastische Literatur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller [u. a.]. Bd. 3. Berlin/New York 2003, S. 71 – 74, hier S. 72.
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Beckett das Potential, zugleich für jugendliche und erwachsene Leser attraktiv zu sein, was in Deutschland zuweilen als »All-Age-Fantasy« bezeichnet wird.17 Dieses seit den Harry-Potter-Publikationen medial forcierte Phänomen ist alles andere als neu, sondern kann schon bei Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726) oder Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1865) beobachtet werden.18 Unter crossover-Literatur wird verstanden: »[C]rossover literature addresses a diverse, cross-generational audience that can include readers of all ages: children, adolescents, and adults.«19 Diese doppelte Rezipierbarkeit stellt Beckett auch bei den Romanen Walter Moers’ fest: Anhand kurzer Beschreibungen von Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär und Die Stadt der Träumenden Bücher zeigt sie deren Popularität als Effekt ihrer crossover-Struktur,20 worin sie weniger eine Reminiszenz an Michael Ende oder J. R. R. Tolkien, sondern vielmehr an Terry Pratchett und dessen Discworld-Serie sieht.21 Die Kompatibilität der Romane nicht nur für jugendliche, sondern auch erwachsene Leseerwartungen wird sowohl in den Medien der Literaturkritik reflektiert als auch in den Verlautbarungen des Verlags geäußert. So urteilt der Kritiker Christof Siemes beispielsweise über Ensel und Krete, es sei ein »Märchen für Kinder und Erwachsene«.22 Auch Andreas Platthaus, der Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär noch einen »Pflichttermin für groß und klein«23 nannte, stellt fest, dass die Romane zwar immer »aus der Sicht eines Kindes« geschrieben sind, deshalb aber »nicht für Kinder« sind, »natürlich nicht«!24 In einem Interview in der Welt wurde Moers auf die Lesbarkeit seiner Texte für Kinder angesprochen, worauf er gewohnt sarkastisch antwortete: WELT ONLINE: Welche Reaktionen bekommen Sie von Kindern auf ihre [!] BlaubärGeschichten? Walter Moers: Keine Ahnung, ich kenne keine Kinder. WELT ONLINE: Verstehen die Kinder immer, was Sie sagen wollten? 17 »In the minds of many, crossover literature is synonymous with fantasy.« Sandra L. Beckett: Crossover Fiction. Global and Historical Perspectives. NewYork/London 2009, S. 135. 18 Rachel Falconer bezeichnete die Jahre zwischen 1997 und 2007 als »Decade of Border Crossing«. Rachel Falconer : The Crossover Novel. Contemporary Children’s Fiction and Its Adult Readership. New York/London 2009, S. 1. 19 Beckett 2009, S. 3. 20 Ebd., S. 147 f. 21 »Although it has been compared to the fantasy of The Lord of the Rings and The Neverending Story, the comical and satirical treatment of fantasy motifs is more reminiscent of Pratchett.« Beckett 2009, S. 148. 22 Christof Siemes: Wie man Fisch faltet. In: Die Zeit. 29. Juni 2000. 23 Andreas Platthaus: Wenn der Stollentroll kommt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 23. März 1999. 24 Ders.: Blick auf einen Unbekannten. Der wahre Mythenmetz: Walter Moers ist der erfolgreichste deutsche Autor des letzten Jahrzehnts. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 23. Juni 2000, S. 51.
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Walter Moers: Ist mir wurscht. WELT ONLINE: Verstehen die Kinder manchmal mehr als Sie sagen wollten? Walter Moers: Ist mir auch wurscht.25
Der ironische Interviewton des Zamonienerfinders trägt hier sicherlich wenig zum Erkenntnisgewinn bei. Die eigentliche Äußerung muss daher weniger ernst genommen werden als ihre Funktion ein weiteres Indiz für das Streben Moers’ nach einer Dekonstruktion des Autors als Sinninstanz ist. Die Kommentare im Feuilleton hingegen sind schon ernster zu nehmen, wenn sie in Bezug auf das crossover-Phänomen mehrheitlich darauf hindeuten, dass eine erwachsene Leserschaft als primär, eine jugendliche als sekundär intendiert anzunehmen ist. Keineswegs handelt es sich um ausschließlich für Kinder oder Jugendliche konzipierte Literatur, denen sich der Anspielungsreichtum, den die hier versammelten Aufsätze auch demonstrieren wollen, wohl nicht erschließen wird. Hingegen bieten die sich in Adoleszenzphasen befindenden Protagonisten insbesondere Jugendlichen die Möglichkeit, sich mit ihnen zu identifizieren. Die Diskussion um die Tauglichkeit von Rumo für Kinder bleibt offen – zwischen den unterstellten »Splatter-Qualitäten«26 einerseits und dem von Moers selbst vorgenommenen Verweis auf die Brüder Grimm als Ahnherren deutscher Kinderliteratur andererseits: Ich finde das Buch für Kinder sehr geeignet. Wenn Erwachsene sagen, daß sich bestimmte künstlerische Produkte nicht für Kinder eignen, dann fürchten sie meistens nur um die eigene Nachtruhe. ›Rumo‹ hat nicht mehr Splatter-Qualitäten als jedes durchschnittliche Märchen der Brüder Grimm. Allerdings sind die Actionszenen bei mir besser geschrieben.27
Der crossover-Charakter mag insgesamt aber nur zum Teil durch Eigenschaften der Romane selbst bedingt sein, sondern vor allem durch den Ursprung der Blaubär-Figur im deutschen Kinderfernsehen.28 Der vollzogene Medienwechsel in die Welt der Literatur wird einen Teil der Zuschauerschaft als Leserschaft adaptiert haben. Als werkinterne Motivierung für das crossover-Phänomen mag aber eine 25 Hans Hoff: Was Walter Moers über Barack Obama denkt. Interview mit Walter Moers. In: Welt online. 8. November 2008. http://www.welt.de/kultur/article2693143/Was-WalterMoers-ueber-Barack-Obama-denkt.html (Zugriff am 31. August 2010). 26 Volker Weidermann: »Im Jenseits werde ich streng bestraft«. Autor und Zeichner Walter Moers über Bin-Ladin-Comics, Hitler-Musicals und seinen neuen Roman »Rumo«. Interview mit Walter Moers. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 20. April 2003; vgl. auch Oliver Kuhn u. Mario Vigl: »Mein Antrieb ist die Gier«. Interview mit Walter Moers. In: Playboy. Juli 2003. 27 Weidermann 2003, S. 22. 28 Vgl. hierzu den Beitrag von Anne Hillenbach im vorliegenden Band.
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Eigenschaft gelten, die sich als ›doppelte Codierung‹ beschreiben lässt und die Fiedler als Merkmal postmoderner Literatur behauptet hat.29 Die Romane lassen sich zugleich in einer an Effekten wie Spannung, Unterhaltung und Zerstreuung orientierten Lektüre rezipieren, sind aber auch für den an ›ernsthafter‹, auf literarische Traditionen aufbauende und selbstreflexive Bezüge integrierende Literatur interessierten Leser attraktiv. So lässt der freundliche Drachen Deus X. Machina in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär sich sowohl als lustiges Fabelwesen in der Tradition von Jugendbuchmonstern (zum Beispiel ›Fuchur‹ in Michael Endes Die unendliche Geschichte) lesen als auch – für diejenigen, die mit der Terminologie des dramentheoretischen Diskurses vertraut sind – als Manifestation eines theatralisch-dramatischen Elements seit der Antike. Eine dieser Traditionslinien, innerhalb derer sich das Werk verorten lässt, ist die Nonsense-Literatur, deren Kontext im Beitrag von Eva Oppermann sichtbar wird. Die Verfasserin erarbeitet in »Der deutsche Carroll. Walter Moers’ zamonische Romane im Vergleich mit klassischem englischen Nonsense« explizite Gattungsreferenzen auf das Genre der Unsinnspoesie vor allem englischer Provenienz: Als ›Ahnherr‹ dieser Form von sinnverweigernder Literatur wird exemplarisch Lewis Carroll herangezogen, um die Unsinnselemente bei Moers wiederum als sinnhaft erscheinen zu lassen.
Vom Fragment zur Poesie Die Zamonien-Romane präsentieren sich als Fragmente, deren »Ganzheit zerbrochen, unvollendet geblieben, verloren gegangen […] oder planvoll verfehlt«30 ist; wenn sie auch keine Bruchstücke im Realen sind, so werden sie in den Paratexten doch als fingiert fragmentarisch inszeniert. Der erste Roman Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär signalisiert dies in doppelter Weise: zum einen durch das überzählige halbe Leben im Titel, zum anderen durch die Anmerkungen im Vorwort, dass von den 27 Leben nur die erste Hälfte erzählt werde. Das Fragment gerät in den folgenden Romanen geradezu zum programmatischen Kern der Zamonienwelt: Als Anhang von Ensel und Krete folgt eine »halbe Biographie des Hildegunst von Mythenmetz« (EK 227) – natürlich nur eine halbe. Auch in Die Stadt der Träumenden Bücher wird dieses Spiel um fingierte Fragmentarität fortgesetzt, wenn der Übersetzer den aus dem Zamonischen ins Deutsche übertragenen Text als bloßen Ausschnitt aus dem unübersichtlichen Original ausweist: 29 Vgl. Fiedler 1988. 30 Michael Braun: Fragment. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. v. Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 281 – 286, hier S. 281.
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Reiseerinnerungen eines sentimentalen Dinosauriers war das erste Buch von Mythenmetz, das in Zamonien in gedruckter Form erschien, aber es umfaßt in der Erstausgabe über zehntausend Seiten, verteilt auf 25 Bände und würde mein komplettes Leben verschlingen, wollte man es in ganzer Länge herausbringen. Daher entschloß ich mich, die beiden ersten Kapitel aus diesem Buch zu nehmen und sie unter dem Titel Die Stadt der Träumenden Bücher zusammenzufassen. (STB 459)
Abschließend ist auch Der Schrecksenmeister nur ein ›Bruchstück‹, denn auch hier entschied sich der fiktive Übersetzer Moers, »der üblichen Werktreue abzuschwören, sämtliche Abschweifungen [des zamonischen Verfassers Mythenmetz; G. L.] herauszunehmen und das Buch um 700 Seiten zu kürzen« (SM 383). In ihrem romantischen Fragmentcharakter (Friedrich Schlegel, Novalis) verweisen die Texte immer wieder auf ihre Poetizität, ebenso wie durch andere Maßnahmen der Verfremdung, die von der Handlung selbst ablenken und auf die literarische Tektonik des Textes hinweisen. Hierzu zählen insbesondere auch die Mythenmetzschen Abschweifungen in Ensel und Krete, in denen der Erzähler, indem er die Erzählillusion offen legt, die Mittelbarkeit des Geschehens hervorhebt. Das ›Fragment‹ verweist schon in der ursprünglichen Wortbedeutung (lat. frangere: zerbrechen) ex negativo auf die Gemachtheit, die Bauart, eben: die Poetizität (gr. poesis) eines Textes. Auf solche verfremdenden Verfahren der Darstellungsstörung geht beispielsweise Daniel SchÄbler in seiner Untersuchung »Das Monster im Text. Rahmungsstrategien zwischen Darstellung und Darstellungsstörung« ein. Im Rahmen des von Julia Kristeva formulierten Konzepts von abjection zieht er Parallelen zwischen den Darstellungen der zamonischen Monster im Text und der Textgestalt, indem die monströsen Körper und ihre Grenzen problematisiert werden.31 Ebenso wie Frankensteins Monster seine offensichtliche Konstruiertheit nie vergessen lässt, so bleiben auch die Romane Moers’ immer als poetische Bauwerke kenntlich.
Autorschaft Nicht zufällig gibt Moers seiner Herausgeberfiktion in Ensel und Krete einen Namen, der in seinem quasiadeligen Kompositum auf den handwerklichen Beruf des Steinmetzen verweist, denn der Autor ist nicht nur Stimme, er ist auch handfester (Erzähl-)Architekt der phantastischen Welt. Dem Kompositum ›Mythenmetz‹ ist das Poetische bereits lexikalisch inhärent, und die Erzählkunst wird gleichsam zum Handwerk stilisiert. Die Selbstreferenzialität auf das Schreiben bzw. Erzählen erweist sich als programmatisch, wenn nicht nur in der Figur Mythenmetz’ Poetik und Handwerk miteinander verschmelzen, sondern 31 Vgl. Julia Kristeva: Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York 1982.
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auch in den anderen dichtenden Lindwürmern der Lindwurmfeste, die in der fiktiven zamonischen Namenkunde von Enoplios von Ensenhamen vorgestellt werden:32 Epenschmied, Vers- bzw. Silbendrechsler (STB 12) oder Hymnengießer (EK 230) sind typische Namen der Lindwürmer. Der Dichter wird zum Handwerker (L¤vi-Strauss’ bricoleur) der Mythen und Traditionen.33 Interessant sind in diesem Zusammenhang die Übersetzungen der MoersRomane in andere Sprachen: Hier zeigt sich, dass für die Figur des Mythenmetz immer wieder passende Neologismen geschaffen worden sind, um neben dem Archaischen des Vornamens auch den Aspekt des Poetischen im Mythen-Metz zu berücksichtigen. So heißt die Figur im Englischen ›Optimus Yarnspinner‹ (wörtl. ›der beste Garnspinner‹, metaph. ›der beste Geschichtenerzähler‹), im Niederländischen ›Roelant Sagehouwer‹; im Französischen hingegen ist der Name recht eng, aber ohne den handwerklichen Bezug übertragen: ›Hildegunst Taillemythes‹. Den vor über vierzig Jahren ausgerufenen ›Tod des Autors‹ zelebriert Moers geradezu genüsslich, zum Beispiel in der medialen Inszenierung eines Streits des Übersetzers Moers mit dem fiktiven Autor Mythenmetz, wo dieser seinen Übersetzer anklagt: Er kann ja nichts dafür. Wie soll er das denn anständig machen, mit so einem armseligen Vehikel wie der deutschen Sprache? Ihr Alphabet hat sechsundzwanzig Buchstaben, das zamonische 888. Herr Moers gibt sich sicher alle Mühe, und in Anbetracht der ihm zur Verfügung stehenden Mittel macht er seine Sache sehr ordentlich. Ich habe nichts dagegen, wenn er auch in Zukunft meine Werke übersetzt. Auch wenn es in meinen Ohren so klingt, als würde jemand eine Sinfonie auf einer Kindertröte blasen.34
Ebenso aufschlussreich sind in diesem Kontext die Drachengespräche, eine Fernsehaufzeichnung, in der sich ein französisch näselnder Mythenmetz’ – ein lebensgroßer Lindwurm – zu seinem Werk äußert und den Übersetzer Moers so wüst beschimpft, dass der Interviewer ihn mehrfach ermahnen muss und Pieptöne das Gespräch schließlich dominieren: »Soll ich Ihnen sagen, was ich von Walter Moers halte? Ich sage Ihnen, was ich von Walter Moers halte! Für mich ist er ein ganz großes [zensiert]. Das ist er : ein ganz ordinärer [zensiert]!«35 32 »Von Silbenbläsern und Strophenschreinern – Zur Namensgebung von Lindwurmfestbewohnern im Zusammenhang mit den zamonischen Handwerksgilden, von Enoplios von Ensenhagen. Mit ausführlichem Namensregister« (EK 230). 33 Vergleiche hierzu den gegenläufigen Kommentar des korrupten Literaturagenten Claudio Harfenstock in Die Stadt der Träumenden Bücher, der die Metapher aufgreift und das Handwerk der Literatur entgegenstellt: »Wollen Sie wissen, was mich wirklich interessiert? […] Ziegelsteine und Mörtel. Ich mauere gern. Jeden Abend gehe ich in meinen Garten und errichte eine kleine Mauer aus Ziegelsteinen« (STB 75). 34 Andreas Platthaus: Moers trifft Mythenmetz. Natürlich bleibt Ihr Buch ein Schmarrn. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 4. Oktober 2007. 35 Drachengespräche. Ein Gespräch mit Hildegunst von Mythenmetz, dem dichtenden Lind-
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Und Moers urteilt nicht weniger abschätzig über Mythenmetz: »Mir bleibt angesichts einer so schwammigen Anklage nichts anderes übrig, als meinen Gegenvorwurf zu wiederholen: dass Sie weder meine Übersetzungen noch meine Romane gelesen haben.«36 Der ›Tod des Autors‹ wird auch dann thematisiert, wenn der Erzähler sich in Ensel und Krete über die biographistische Rekonstruktionswut mancher Germanisten lustig macht, indem er in der Bibliographie der Werke Mythenmetz’ auch Folgendes auflistet: »Fünfzehn Wochen überzogen – Die Liste der von Hildegunst von Mythenmetz nachweislich ausgeliehenen Bücher aus der Universität von Gralsund, mit den jeweiligen Überziehungsgebühren und einem Anhang mit faksimilierten Randbemerkungen und Fettflecken des Dichters« (EK 232)
– wobei die Erstellung dieses fragwürdigen Dokuments auf eine »Studentenarbeitsgruppe« an der Universität Gralsund zurückgehe. Wo die Gralsunder Studenten also biographisch-reale Leseakte rekonstruieren, anstatt das Werk selbst zur Kenntnis zu nehmen, begeben sie sich auf eine ähnlich wenig Erfolg versprechende Suche wie die verirrten Gralssucher oder Atlantisforscher. Mit dem hier zelebrierten ›Tod des Autors‹ hat Barthes damals die Geburt des Lesers ausgerufen.37 Aber der Leser wird nicht nur in das fiktionale Spiel einbezogen, wenn er den silbernen Faden, der den Wolpertinger in Rumo durch die Handlung führt, in Form eines silbernen Lesefädchens vor sich hat, der reale Leser ist auch in das multimediale Kunstwerk rund um Zamonien integriert: Auf der Homepage der Nachtschule (www.nachtschule.de) übernehmen die Leser die Rolle der Protagonisten, nehmen zamonische Identitäten an und diskutieren über zamonische wie unzamonische Probleme. In dem literarisch-spielerischen Maskenspiel Moers’ lässt sich eine Entwicklung beobachten: Während Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär noch auf dem Titelblatt Moers als realen Autor ausweist, beginnt er seinen Rückzug in die anderen Rollen in einem Interview, das er selbst mit Käpt’n Blaubär führt (»Käpt’n Blaubär, Sie haben jetzt Ihren ersten Roman verfasst …«38). Hier begibt er sich erstmals in die Rolle eines Beobachters und den Schreibakt nur unterwurm von Walter Moers (Achim Zeilmann, D 2007). Das Drehbuch zu dem 20-minütigen Interview stammt von Walter Moers. 36 Walter Moers: Stellen Sie sich, Herr von Mythenmetz! Eine Erwiderung auf die haltlosen Vorwürfe des größten zamonischen Dichters. In: Zeitonline. In: www.zeit.de/2007/35/LMoers (Zugriff am 11. Oktober 2010). 37 »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors«; Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis [u. a.]. Übers. v. Fotis Jannidis. Stuttgart 2000, S. 185 – 193, hier, S. 193. 38 Walter Moers: Selbstgespräch mit Lügenbär. Walter Moers plaudert mit seiner Kunstfigur über deutsche Literatur und nackte Bärenmädchen. In: Focus. 22. März 1999.
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stützendes »lebendes Diktaphon«39, so dass seine Funktion auf diejenige eines scripteurs (Barthes) reduziert wird.40 In Ensel und Krete wird dieses Konzept programmatisch, indem der Autor sich auf dem Titelblatt auf die Rolle eines Übersetzers zurückzieht, die er fortan (mit Ausnahme von Rumo) beibehalten wird. Gleichzeitig wird mit Hildegunst von Mythenmetz eine fiktive Figur erschaffen, die sowohl schreibend als auch handelnd (Die Stadt der Träumenden Bücher) in Erscheinung tritt. In Der Schrecksenmeister wird der Grad der Mediation noch erhöht, wenn auch Mythenmetz nicht mehr die Rolle des Autors einnimmt, sondern wiederum nur als rewriter eines originär von Gofid Letterkerl stammenden Textes auftritt. Damit wird die Anteilnahme Moers’ im paratextuellen Spiel der Fiktion immer weiter reduziert: vom Verfasser und Helfer (Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär) über den Herausgeber und Illustrator (Ensel und Krete, Die Stadt der Träumenden Bücher) bis hin zum Herausgeber zweiter Stufe (Der Schrecksenmeister). Moers wird immer mehr zu »einer Nebenfigur am Rande der literarischen Bühne«41, aber stellt sich paradoxerweise gleichzeitig immer weiter ins Rampenlicht, je intensiver er um seine Nivellierung bemüht ist.42 Ingo Irsigler setzt sich in »›Ein Meister des Versteckspiels‹. Schriftstellerische Inszenierung bei Walter Moers« mit der Inszenierung von Autor- und Herausgeberschaft in den Paratexten der Zamonien-Romanen auseinander. Anhand der Inszenierungspraktiken in den Interviews und den Nachwörtern der Romane wird die künstliche und künstlerische Erzeugung von Dissens als resonanzförderndes Instrument im Kampf um die ›Ressource Aufmerksamkeit‹43 verstanden. Der zweite Abschnitt des vorliegenden Sammelbandes besteht aus Beiträgen, die sich spezifischen Fragestellungen zu den einzelnen Romanen widmen. Um Überschneidungen von grundsätzlichen Informationen zu Werk und Rezeption innerhalb der Beiträge zu vermeiden, folgt nun eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Zamonien-Romane in der Reihenfolge ihres Erscheinens.
39 Ebd. 40 Der scripteur hat »überhaupt keine Existenz, die seinem Schreiben voranginge oder es überstiege; er ist in keiner Hinsicht das Subjekt, dessen Prädikat sein Buch wäre«. Barthes 2000, S. 189. 41 Ebd. 42 Vgl. Bunia 2010, S. 199 f. 43 Vgl. Gustav Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München/Wien 1998.
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Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär (1999) Moers’ erster Zamonien-Roman Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär, der insgesamt 30 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste vertreten war und den meistverkauften deutschen Belletristiktitel des Jahres 1999 nach Günter Grass’ Mein Jahrhundert darstellt,44 ist nicht nur von der Leserschaft, sondern auch im deutschsprachigen Feuilleton äußerst wohlwollend aufgenommen worden. In der Literaturkritik wurde häufig die vom Verlag durch Presseinformationen lancierte Behauptung aufgegriffen, der Roman stehe in der Tradition J. R. R. Tolkiens (Lord of the Rings) und Michael Endes (Die unendliche Geschichte). Beide Prätexte lassen sich argumentativ aber nur teilweise mit Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär in Verbindung bringen, wie eine kurze Inhaltsangabe zeigen soll. Was Käpt’n Blaubär in der ersten Hälfte seiner 27 Leben widerfährt, fasst dieser bereits in seinem Vorwort zusammen: Zwergpiraten. Klabautergeister. Waldspinnenhexen. Tratschwellen. Stollentrolle. Finsterbergmaden. Eine Berghutze. Ein Riese ohne Kopf. Ein Kopf ohne Riese. Wüstengimpel. Eine gefangene Fata Morgana. Schlafwandelnde Yetis. Ein ewiger Tornado. Rikschadämonen. Vampire mit schlechten Absichten. Ein Prinz aus einer anderen Dimension. Ein Professor mit sieben Gehirnen. Eine Süße Wüste. Barbaren ohne Umgangsformen. Hundlinge. Ein Regenwaldzwerg mit Nahkampfausbildung. Denkender Sand. Fliegende Maulwürfe. Ein Monsterschiff. Eine Ofenhölle. Eine kulinarische Insel. Unterirdische Sandmänner. Kanaldrachen. Dramatische Lügenduelle. Dimensionslöcher. Voltigorkische Baßrüttler. Randalierende Bergzwerge. Die Unsichtbaren Leute. Nattifftoffen. Viereckige Sandstürme. Venedigermännlein. Nette Midgardschlangen. Eklige Kakertratten. Das Tal der verworfenen Ideen. Witschweine. Großfüßige Berten. Rostige Berge. Horchlöffelchen. Zeitschnecken. Teufelselfchen. Alraunen. Olfaktillen. Ein Malmstrom. Draks. Fatome. Gennf. Tödliche Gefahren. Ewige Liebe. Rettungen in allerletzter Sekunde … (KBB 6 f.)
Mit dieser in der Tradition der ›Reihung unmöglicher Dinge‹ (impossibilia) stehenden Aufzählung ist zwar vieles gesagt, aber doch wenig anzufangen.45 Der Leser wird weniger über den Inhalt des Romans aufgeklärt als vielmehr auf eine unterhaltsame und ungewöhnliche Lektüre eingestimmt. Das Verfahren der Reihung ist der episodischen Struktur des Romans überdies sehr angemessen, schließlich meistert der Blaubär dank der Hilfe wechselnder Kameraden die Gefahren Abenteuer für Abenteuer und Leben für Leben. Am Ende – vielmehr in Blaubärs Lebensmitte – setzt er sich mit seinen wieder entdeckten und vom Sklavenschiff befreiten Verwandten, den Buntbären, zur Ruhe. Die Gründung
44 Der Spiegel 52/1999. 45 Zur Tradition der impossibilia vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 4. Aufl. Bern/München 1963, S. 104 – 108.
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der neuen Buntbärenkolonie geschieht ausgerechnet in jenem Großen Wald, der später zum Schauplatz von Ensel und Krete werden wird. Eva Kormann beschäftigt sich in ihrem Beitrag »Seemannsgarn spinnen oder : im Malmstrom des lebensgeschichtlichen Fabulierens« mit der Figur des Erzählers, den sie in der Tradition des Schelmenromans und mit der Terminologie Wayne C. Booths als unzuverlässig beschreibt. Blaubär ist ein moderner Simplicissismus, dessen autobiographische Erzählung der Leser allzu leicht als Werk eines versierten Lügengladiators durchschaut. Magdalena Drywa analysiert in »Wissen ist Nacht« die Konzeptionen von Bildung und Wissen in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Dabei stellt sie den enzyklopädischen, an barocken Romanen orientierten Gestus des Romans heraus, der mit verschiedenen paratextuellen Elementen (Marginalglossen, Fußnoten etc.) Authentizität und Wissenschaftlichkeit suggeriert, aber letztlich durch den unzuverlässigen Charakter des Erzählers ironisiert wird.
Ensel und Krete (2000) Der zweite Roman der bisherigen Zamonien-Pentalogie, Ensel und Krete, erschien im Jahr darauf und wurde zwar von der Kritik begeistert aufgenommen,46 blieb mit den Verkaufszahlen aber hinter den Erwartungen zurück. Der Roman hielt sich für sieben Wochen (24. Juli bis 4. September 2000) in der Bestsellerliste, erreichte aber niemals die top ten.47 In Ensel und Krete parodiert Moers das bekannte Märchen der Brüder Grimm Hänsel und Gretel aus den Kinder- und Hausmärchen (1812). Die Handlung spielt in der idyllischen Buntbärenkolonie Bauming, dessen Märchencharakter in der boomenden und die Landschaft mit Verboten und Hinweisschildern überziehenden Tourismusbranche längst verloren gegangen ist. Das fhernhachische Geschwisterpaar Ensel und Krete verschlägt es in den labyrinthischen Großen Wald, wo sie vor Laubwölfen fliehen, einer Halmmuräne entkommen und weitere Abenteuer zu bestehen haben, bis sie schließlich an ein Hexenhaus kommen, das keineswegs das Haus einer Hexe ist, sondern vielmehr Haus und Hexe zugleich. Nur durch das Eingreifen des goldenen Buntbären Boris Boris werden sie gerettet und – wie in der Vorlage des Grimmschen Märchens und im Gegensatz zur stets tragisch endenden zamonischen Märchentradition – wird das Böse aus der Welt verbannt. Hans-Edwin Friedrich beschäftigt sich in seinem Beitrag »Was ist ein Märchen aus Zamonien? Zu Ensel und Krete von Walter Moers« mit den Mär46 Siemes 2000. 47 Der Spiegel 30/2000 – 36/2000.
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chenmotiven, die den Moers-Roman zugleich in die Tradition des Grimmschen Volksmärchens stellen als auch sich davon in spielerischer Art abgrenzen. Die erzählerische Inszenierung der Welt des Großen Waldes wird als ebensolcher Mythos entlarvt, wie Hildegunst ihn für das Buntbärenidyll behauptet. Während Hildegunst das Märchenhafte der Waldspinnenhexe entzaubert, indem er rationale Erklärungen bietet, schafft der totalitäre Erzähler neue Mythen, denen der Leser ebenso wenig trauen kann wie dem Märchen. Ninon Franziska Thiem hingegen fokussiert in ihrem poststrukturalistisch orientierten Beitrag »Auf Abwegen. Von (para)textuellen Abschweifungen in Ensel und Krete« mit den Mythenmetzschen Abschweifungen jene Exkurse, von denen die Handlung immer wieder unterbrochen wird. Damit werden die Abund Umwege der beiden Protagonisten im Akt der Lektüre auch zum Irrgarten des Lesers, dessen Desorientierung im Blätterwald des Buches mit Ensel und Kretes Orientierungslosigkeit im Großen Wald einhergeht. Indem die Erzählinstanz als overt narrator immer wieder die Handlung unterbricht, tritt die Diegese hinter der Gestaltung des discours zurück und erzeugt jene ›Lust am Text‹ (plaisir du texte), von der Roland Barthes einst schwärmte.48
Rumo & Die Wunder im Dunkeln (2003) Mit dem abenteuerlichen Rumo & Die Wunder im Dunkeln, der nicht mehr bei Eichborn, sondern im Münchner Konkurrenzverlag Piper erschien, gelang Moers wiederum ein vergleichsweise großer Erfolg: Rumo stand zwar nur für den Zeitraum von sieben Wochen auf der Bestsellerliste (5. Mai bis 23. Juni 2003) und kletterte bis auf Platz drei der Rangliste.49 In Rumo & Die Wunder im Dunkeln wird eine Randfigur aus dem ersten Zamonien-Roman zum Protagonisten. Der titelgebende Wolpertinger, der sich in einer Reihe von gefährlichen Abenteuern behaupten muss, folgt dem ›silbernen Faden‹, der sich – nicht nur in Form des silbernen Lesefädchens – durch den Text zieht und an dessen Ende das Wolpertingermädchen Rala in der Stadt Wolperting wartet. Dort erfährt der talentierte Rumo seine rassentypische Ausbildung zum Kämpfer – die er in der so genannten Untenwelt zur Entfaltung bringen darf, denn dorthin wurde über Nacht die gesamte Einwohnerschaft seiner neuen Heimat entführt, und damit natürlich auch seine Herzensdame Rala. Rumo kämpft sich durch das Höhlenlabyrinth der von Vrahoks und Frostfratten bevölkerten Katakomben und rettet schließlich sein Volk wie auch 48 Roland Barthes: Die Lust am Text. Übers. v. Traugott König. Frankfurt a. M. 1974. 49 Der Spiegel 19/2003.
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seine Angebetete. So findet das »Kompendium fantasievoll ausgemalter Todesqualen«50 doch noch ein gutes Ende. Maren J. Conrad untersucht in ihrem Beitrag »›Blut! Blut! Blut!‹ Die Artusepik als heroisches Erbgut wortkarger Wolpertinger« die strukturellen und motivischen Gemeinsamkeiten mit zentralen Werken der mittelalterlichen Artusromane, wobei das Verhältnis von minne und aventiure sowie die Doppelwegstruktur von Rumo besonders fokussiert werden.
Die Stadt der Träumenden Bücher (2004) Für den Roman Die Stadt der Träumenden Bücher, der insgesamt 21 Wochen unter den 15 meistverkauften Belletristiktiteln vertreten war,51 erhielt Moers am 9. September 2005 den »Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar« – und kann damit in einer Reihe genannt werden mit den folgenden Preisträgern Thomas Glavinic (2007), Robert Schneider (2008) und Christian Kracht (2009). Von der Presse wurde der Roman einhellig gefeiert, überwiegend als Höhepunkt der ZamonienSerie, deren Beginn »gut« (Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär), die Fortsetzung »besser« (Rumo) und deren vorliegendes Buch schließlich »grandios« sei.52 Andreas Platthaus lobt die »spartanische Komposition«53, die auf die für Ensel und Krete typischen Mythenmetzschen Abschweifungen verzichtet. Dagegen begeistere Die Stadt der Träumenden Bücher nicht nur wegen der »literarischen Virtuosität, überbordenden Phantasie und subtile[n] Komik«, sondern auch durch »sein Geschick, uns mit Hildegunst von Mythenmetz leiden, jubeln, hoffen zu lassen«54. Diese Qualitäten, so ein weiterer Rezensent, öffnen das Buch für ganz unterschiedliche Lesergruppen, für junge »an Popkultur interessierte[] Leser«, für »an Klassik und Romantik interessierte[] Leser und für »Intellektuelle« und »Romanisten« gleichermaßen.55 Die durchweg euphorischen Kritiken bestätigen, was Moers in einem Interview 2004 sagte: »Ich bin von der Buchbranche bislang eher verwöhnt worden. Weder wurde ich von einem Kri50 Matthias Heine: Hier wird schön gefoltert. Warum der bedeutende und belesene Romancier Walter Moers sich den Hadschi Halef Omar-Pokal redlich verdient hat, den sie Musen ausschließlich für die wahrhaftigsten Lügen verleihen. In: Die Welt. 12. April 2003. 51 Der Spiegel 39/2004 – 7/2005. 52 Klaus Wieschemeyer : Ein phantastischer Büchertraum. In: Westdeutsche Zeitung. 27. Juni 2006. 53 Andreas Platthaus: Zum Dichten geboren, zum Leser bestellt. Ein sensibler Lindwurm: Walter Moers verzaubert mit seinem neuen Roman aus Zamonien. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 11. Oktober 2004. 54 Ebd. 55 Holger Kreitling: Wanderer, kommst du nach Buchhaim. In: Die Welt. 25. September 2004.
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tikerfürsten mit Verrissen attackiert noch von einem Agenten aufs Kreuz gelegt.«56 Der Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz bricht im – für Lindwürmer jugendlichen – Alter von 77 Jahren aus seiner Heimat auf, um den so unbekannten wie genialen Verfasser eines ihn überwältigenden Manuskripts zu suchen. Hierfür begibt er sich nach Buchhaim, der titelgebenden ›Stadt der Träumenden Bücher‹, die vor allem von Antiquaren, Dichtern, Verlegern und Bücherjägern bewohnt wird. Hier trifft er auf den gerissenen Antiquar Phistomefel Smeik, eine vielbeinige Haifischmade, die neben dem Buchhandel auch politische – und zudem höchst amoralische – Ambitionen hat. Nachdem Hildegunst diesem das so beeindruckende Manuskript zur Begutachtung überlassen hat, wird er von Smeik vergiftet und in den unterirdischen Teil von Buchhaim, Untenwelt, verschleppt, wo er nicht nur mit den Gefahren eines unübersichtlichen Bücherlabyrinths, sondern auch mit allerlei Ungeheuern, feindlichen Bücherjägern und Fallenbüchern fertig werden muss. Zusammen mit dem legendären Schattenkönig, der zuvor von Smeik in die Untenwelt entführt worden ist, tritt er den beschwerlichen Rückweg an die Oberwelt an, wo sie gemeinsam das Haus von Smeik und damit auch die gesamte Stadt in Flammen setzen. Der in diesem tragischen Finale sterbende Schattenkönig stellt sich schließlich als der von Hildegunst gesuchte Dichter heraus, der Hildegunst vor seinem Tod das Schreiben hat lehren können. Maren J. Conrad beschäftigt sich in ihrem Beitrag »Von toten Autoren und lebenden Büchern« mit der bildlich-allegorischen Darstellung poststrukturalistischer Konzepte und Probleme innerhalb der Diegese des Romans. Dessen mehrfache Codierung als zugleich unterhaltsamer Fantasyroman und intellektuell anspruchsvolle Schnittstelle postmoderner Diskurse mache den Reiz des Romans aus. Conrad demonstriert anhand der rhizomatischen Topographie (Deleuze) der Katakomben unterhalb Buchhaims und zentraler Figuren deren Funktionen im Hinblick auf eine bildlich-räumliche Allegorese von Kristevas Intertextualitätskonzept und die im Zuge Roland Barthes’ (La mort de l’auteur 1968) und Michel Foucaults (Qu’est-ce qu’un auteur? 1969) vollzogene Etablierung eines neuen Konzepts von Autorschaft.57 Tim-Florian Goslar stellt in »Zurück nach Arkadien. Die Kulturlandschaften Zamoniens in Die Stadt der Träumenden Bücher« die romantischen Züge der Quest nach dem verlorenen Manuskript heraus, die sich zugleich als räumlich strukturierte Suche nach einem vergangenen Arkadien erweist, wo »alte Bücher Träume träumen / Von Zeiten, als sie Bäume waren« (STB 7). Nach 56 »Nur der Scheich ist wirklich reich«. Interview mit Walter Moers. In: Buchjournal 3 (2004). 57 Barthes 2000; Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis [u. a.]. Übers. v. Fotis Jannidis. Stuttgart 2000, S. 198 – 229.
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dem Durchgang durch die Räume der Produktion (Lindwurmfeste), Distribution (Buchhaim) und Rezeption (Katakomben der Buchlinge) gelangt Hildegunst schließlich nach Schloß Schattenhall, wo er Zugang zu dem geheimnisumwitterten Orm bekommt, das nicht nur dichterische Höchstleistungen ermöglicht, sondern auch räumlich-utopisch in der Welt verankert und als arkadisches Ideal inszeniert ist.
Der Schrecksenmeister (2007) Moers’ jüngster Zamonien-Roman Der Schrecksenmeister hielt sich hingegen ›nur‹ neun Wochen58 in der Bestsellerliste, erreichte dabei aber immerhin den vierten Platz. Die Presse hat den Roman nicht überschwänglich, aber wohlwollend aufgenommen: So verleiht Christoph Haas dem Roman in der Süddeutschen Zeitung »gerne drei Sterne« und betrachtet ihn in der verhaltend lobenden Kritik nicht als »billiges Lesefutter, sondern [als] deftig-raffiniertes Mahl für Genießer«59. Dagegen ungleich enthusiastischer ist beispielsweise Nico Kohler, der den Roman als seinem Vorgänger überlegen einschätzt.60 Echo, das Krätzchen – so lautet der Ursprungstitel des fiktiven Prätextes von Gofid Letterkerl (ein Anagramm von Gottfried Keller), das Hildegunst von Mythenmetz ins Neuzamonische übertragen und Walter Moers übersetzt und illustriert habe. Echo, das letzte verbleibende Krätzchen Zamoniens, ist eigentlich anatomisch baugleich zu traditionellen Hauskatzen, abgesehen von seiner Sprachfähigkeit und einer zweiten Leber. Nach dem Tod seines Frauchens streunt Echo durch Sledwaya, »den krankesten Ort von ganz Zamonien« (SM 9), wo er schließlich dem örtlichen Schrecksenmeister Succubius Eißpin, dem Verfasser mehrerer Bücher (zum Beispiel »Tabu Schrecksenverbrennung«) und Gründer einer Partei von Schrecksengegnern, in die Arme läuft. Eißpin, der zugleich begabter Koch und passionierter Alchimist ist, bietet Echo einen teuflischen Pakt an: Bis zum nächsten Vollmond will er den halb verhungerten Echo mit seinen Kochkünsten verwöhnen, dafür verspricht dieser ihm zwar nicht seine Seele, aber immerhin sein Leben, denn Eißpin braucht dessen Kratzenfett für seine alchimistischen Projekte. Das Krätzchen stimmt dem Vertrag zu und zieht sogleich in das Schloss des Schrecksenmeisters. In seiner immer misslicher werdenden Lage lernt es Verbündete kennen, die ihm helfen wollen, das Leben trotz Kontrakt zu wahren, darunter den einäugigen Schuhu 58 Der Spiegel 36/2007 – 44/2007. 59 Christoph Haas: Alchimie und Kochkunst. Ein Roman für raffinierte Genießer : Walter Moers »Der Schrecksenmeister«. In: Süddeutsche Zeitung. 11. Dezember 2007. 60 Nico Kohler : Armes Krätzchen. Walter Moers ist wieder in Zamonien unterwegs. In: Heilbronner Stimme. 9. Oktober 2007.
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Fjodor F. Fjodor oder die in Eißpin verliebte Schreckse Izanuela Anazazi. Am Abend der Entscheidung kommt es im Schloss des Schrecksenmeisters zum showdown aller dämonischen Kreaturen, die der Monstersammler Eißpin zeitlebens gesammelt hat. Eißpin und sein Schloss werden vernichtet, Echo entkommt und macht sich auf die Suche nach dem »Wunder der Liebe« hinter den »Blauen Bergen« (SM 377). Gerrit Lembke hat sich in »›Leichenfledderer sind wir alle.‹ Die Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister« den verschiedenen Überschreibungsakten des Romans gewidmet.61 Die mehrfachen (fiktiven wie realen) Überschreibungsakte von (wiederum fiktiven wie realen) Prätexten lassen sich als Manifestation einer impliziten Poetik auffassen, die sich mit der Metapher der aus dem Text stammenden ›Alchimie‹ adäquat beschreiben lässt: Indem im literarischen Laboratorium Texte der Weltliteratur spielerisch miteinander interagieren, wird der Text zum alchimistisch-kulinarischen Genuss für den Leser. Das Vorwort kann nur angemessen mit einem Zitat schließen, und zwar – ganz zamonisch – mit einem Satz aus der Feder des Schattenkönigs, das wiederum Hildegunst von Mythenmetz zitiert und von Walter Moers nur übertragen worden ist: »Hier fängt die Geschichte an.« (STB 9)
Bibliographie (a)
Texte von Walter Moers
Moers, Walter: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des »Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 1999. Moers, Walter: Ensel und Kretel. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 2000. Moers, Walter: Wilde Reise durch die Nacht. Roman. Frankfurt a. M. 2001. 61 Ansätze hierzu finden sich auch bei Friederike Jeromin: Eine Eulenspiegelei mit der Identität eines literarischen Textes: Intertextualität in Walter Moers’ Roman Der Schrecksenmeister. In: Fragen zu Selbstbildern, körperlichen Dispositionen und gesellschaftlichen Überformungen in Literatur und Film. Hg. v. Corinna Schlicht. Oberhausen 2010 (Autoren im Kontext. Duisburger Studienbögen 11), S. 181 – 193.
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Gerrit Lembke
Moers, Walter: Rumo & Die Wunder im Dunkeln. Ein Roman in zwei Büchern. München 2003. Moers, Walter: Die Stadt der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. München 2004. Moers, Walter: Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers. München 2007.
(b)
Erwähnte Primärliteratur
Eco, Umberto: Il nome della rosa. Mailand 1980. Ende, Michael: Die unendliche Geschichte. Stuttgart 1979. Carroll, Lewis: Alice’s Adventures in Wonderland. London 1865. Funke, Cornelia: Tintenherz. Hamburg 2003. Grimm, Jacob u. Wilhelm: Hänsel und Grethel [ED 1812]. In: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hg. v. Heinz Rölleke. Frankfurt a. M. 1999, S. 86 – 92. Süßkind, Patrick: Das Parfüm. Die Geschichte eines Mörders. Zürich 1985. Swift, Jonathan: Travels into Several Remote Nations of the World in Four Parts. By Lemuel Gulliver, First a Surgeon, and then a Captain of Several Ships. London 1726. Tolkien, John Ronald Reuel: The Lord of the Rings. London 1954 – 1955.
(c)
Zitierte Forschungsliteratur
Altgeld, Jan-Martin: Intertextualität und Intermedialität in Walter Moers »Wilde Reise durch die Nacht« und »Die Stadt der Träumenden Bücher«. Berlin 2008. Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis [u. a.]. Übers. v. Fotis Jannidis. Stuttgart 2000, S. 185 – 193. Beckett, Sandra L.: Crossover Fiction. Global and Historical Perspectives. NewYork/ London 2009. Braun, Michael: Fragment. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. v. Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 281 – 286. Bunia, Remigius: Mythenmetz & Moers in der Stadt der Träumenden Bücher – Erfundenheit, Fiktion und Epitext. In: Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. v. Alexander Bareis u. Frank Thomas Grub. Berlin 2010 (Kaleidogramme 57), S. 189 – 201. de Camp, Sprague: Lost Continents. The Atlantis theme in history, science, and literature. New York 1954. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 4. Aufl. Bern/ München 1963. Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Übers. v. Burkhart Kroeber. München 1994.
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Engelhardt, Dirk: Walter Moers, Die Zamonien-Reihe. In: Kindlers Literaturlexikon. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Bd. 11. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar 2009, S. 373 – 375. Falconer, Rachel: The Crossover Novel. Contemporary Children’s Fiction and Its Adult Readership. New York/London 2009. Fesler, Mario: Die Zamonien-Romane von Walter Moers als zeitgenössische Vertreter der Gattung Fantasy. Norderstedt 2007. Fiedler, Leslie A.: Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne. In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hg. v. Wolfgang Welsch. Weinheim 1988, S. 57 – 74. Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis [u. a.]. Übers. v. Fotis Jannidis. Stuttgart 2000, S. 198 – 229. Franck, Gustav : Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München/Wien 1998. Friedrich, Hans-Edwin: Erzählen als Lügen. Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär von Walter Moers. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57 (2010), S. 148 – 161. Herzog, Markwart: Von Narnia über Hogwarts und Zamonien nach Fowl Manor. Unterweltfahrten in der zeitgenössischen fantastischen Kinder- und Jugendliteratur. In: Höllen-Fahrten. Geschichte und Aktualität eines Mythos. Hg. v. dems. Stuttgart 2006 (Irseer Dialoge. Kultur und Wissenschaft interdisziplinär 12), S. 213 – 243, bes. S. 221 – 223. Höppner, Stefan u. Nadine Ihle: Projizierte Gesellschaft – fiktive Stadt. In: Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. Hg. v. Winfried Nerdinger u. Hilde Strobl. München 2006, S. 334 – 337. Jeromin, Friederike: Eine Eulenspiegelei mit der Identität eines literarischen Textes: Intertextualität in Walter Moers’ Roman Der Schrecksenmeister. In: Fragen zu Selbstbildern, körperlichen Dispositionen und gesellschaftlichen Überformungen in Literatur und Film. Hg. v. Corinna Schlicht. Oberhausen 2010 (Autoren im Kontext. Duisburger Studienbögen 11), S. 181 – 193. Klimek, Sonja: Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der phantastischen Literatur. Paderborn 2010. Klohs, Kathrin: Moers, Walter. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Hg. v. Wilhelm Kühlmann [u. a.]. Bd. 8. Berlin [u. a.] 2010, S. 285 f. Korten, Lars: In 1312 Leben um die Welt. Walter Moers’ Zamonien global und regional betrachtet. In: Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Hg. v. Martin Hellström u. Edgar Platen. München 2008 (Perspektiven. Nordeuropäische Studien zur deutschsprachigen Literatur und Kultur 4), S. 53 – 62. Kristeva, Julia: Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York 1982. L¤vi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Übers. v. Hans Naumann. Frankfurt a. M. 1968. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen [u. a.] 2002. Siebeck, Anne: Das Buch im Buch. Ein Motiv der phantastischen Literatur. Marburg 2009. Vökler, Virginie: Die Ästhetik des Bösen in der phantastischen Gegenwartsliteratur. Am Beispiel von Cornelia Funkes »Tintenherz«, W. und H. Hohlbeins »Das Buch« und Walter Moers »Die Stadt der Träumenden Bücher«. München 2008. Wünsch, Marianne: Phantastische Literatur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller [u. a.]. Bd. 3. Berlin/New York 2003, S. 71 – 74.
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Rezensionen und Zeitungsartikel
[Anonym:] Moers, wie er spinnt und malt. In: Der Spiegel 16/2003. [Anonym:] Auf Leben und Tod. Max Frisch fragt Walter Moers. In: Kölner Stadt-Anzeiger. 14./15. August 2004. [Anonym:] »Nur der Scheich ist wirklich reich«. In: Buchjournal 3/2004. [Anonym:] Fressen für Bücherwürmer. In: Facts. Das Schweizer Nachrichtenmagazin. 23. September 2004. [Anonym:] Neues aus Zamonien. In: Live, Heute Das Beste der Woche. 21. September 2007. Balzer, Jens: Was die Kratze in den Fettkeller trieb. Walter Moers’ neuer Zamonien-Roman »Der Schrecksenmeister« erzählt von einem faustischen Pakt. In: Berliner Zeitung. 20. Dezember 2007. Berger, Andreas: Die bizarre Welt Zamoniens. Walter Moers’ Roman »Die Stadt der träumenden Bücher« ist packend bis zur letzten Seite. In: Der Bund. 29. Dezember 2004. Berger, Andreas: Echo im Schloss der Ledermäuse. In Walter Moers’ jüngstem Fantasyroman »Der Schrecksenmeister« lässt sich ein putziges Haustier auf einen teuflischen Pakt ein. In: Der Bund. 5. Dezember 2007. Bukowski, Julie: Der Schrecksenmeister – übersetzt von Walter Moers. In: Leipziger Volkszeitung. 10. Oktober 2007. Dengler, Alex: Fantastisches Leben in Zamonien. In: Bild am Sonntag. 23. September 2007. Drieschner, Frank: Blaubärs Käpt’n. Walter Moers, der scheue Comiczeichner, hat einen Roman geschrieben. In: Die Zeit. 4. März 1999. Ebel, Martin: Einige leben, andere töten. In: Berliner Zeitung. 17. Oktober 2004. Ebel, Martin: Walter Moers trifft Gottfried Keller. In: Tagesanzeiger. 17. Oktober 2007. Grieger, Frank: Der Schrecksenmeister. Von Walter Moers. In: Neue Ruhr Zeitung. 18. September 2007. Haas, Christoph: Alchimie und Kochkunst. Ein Roman für raffinierte Genießer : Walter Moers »Der Schrecksenmeister«. In: Süddeutsche Zeitung. 11. Dezember 2007. Heine, Matthias: Hier wird schön gefoltert. Warum der bedeutende und belesene Romancier Walter Moers sich den Hadschi Halef Omar-Pokal redlich verdient hat, den sie Musen ausschließlich für die wahrhaftigsten Lügen verleihen. In: Die Welt. 12. April 2003. Hübner, Jakob: Der böse Märchenonkel. Mit Zamonien hat Walter Moers einen Kontinent erschaffen, auf dem seine Kreuzung aus bodenloser Phantasie und subversivem Humor prächtig gedeiht. In: Wiener Buch. November 2007. Kohler, Nico: Armes Krätzchen. Walter Moers ist wieder in Zamonien unterwegs. In: Heilbronner Stimme. 9. Oktober 2007. Kospach, Julia: Last Exit Wolperting. Walter Moers’ neuer Zamonien-Roman »Rumo« erzählt eine wilde Abenteuergeschichte. In: profil. 14. April 2003. Krausser, Helmut: Fliegendes Wasser. Kontinent Zamonien: Walter Moers schickt seinen kampfbegabten Wolpertinger Rumo in die Unterwelt. In: Focus. 26. Mai 2003. Kreitling, Holger : Wanderer, kommst du nach Buchhaim. … dann nimm dich bloß in Acht
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vor Haifischmaden. Walter Moers schreibt ein Loblied auf die Literatur: »Die Stadt der träumenden Bücher«. In: Die Welt. 25. September 2004. Krüger, Thomas: Walter Moers’ Blaubärenlese. Das kleine Arschloch macht mal Pause. In: Rolling Stone. April 1999. Kuhn, Oliver u. Mario Vigl; Moers, Walter : »Mein Antrieb ist die Gier«. Interview. In: Playboy. Juli 2003. Nüchtern, Klaus: Mein Zielpublikum bin ich. Interview mit Walter Moers. In: Falter. 24. März 2003. Nüsseler, Hannes: Kleiderschrank mit Cliffhanger. Tiefsinn und Flachwitz: »Der Schrecksenmeister« von Walter Moers. In: bazkulturmagazin. Beilage der Basler Zeitung. 30. November 2007. Platthaus, Andreas: Wenn der Stollentroll kommt. Endlich: Die wahre Geschichte des Käpt’n Blaubär. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 23. März 1999. Platthaus, Andreas: Zum Dichten geboren, zum Leser bestellt. Ein sensibler Lindwurm: Walter Moers verzaubert mit seinem neuen Roman aus Zamonien. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 11. Oktober 2004. Platthaus, Andreas: Der allergrößte Schriftsteller über seinen Schundheftzeichner. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 18. August 2007. Platthaus, Andreas: Moers trifft Mythenmetz. Natürlich bleibt Ihr Buch ein Schmarrn. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 4. Oktober 2007. Platthaus, Andreas: Hui Spinne! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 14. Mai 2010. Siemes, Christof: Wie man Fische faltet. Realistische Fantastik nicht nur für Kinder, sondern auch fürs Oberseminar : Walter Moers neueste Spinnereien aus Zamonien. In: Die Zeit. 29. Juni 2000. Sommerschuh, Jens-Uwe: Baum der Erkenntnuss. Walter Moers spielt mit einem Lindwurm vom anderen Kontinent. In: Sächsische Zeitung, Dresden. 13. Oktober 2007. Spreckelsen, Tilman: Der gerissene Feind erscheint im Verlegerkostüm. Orpheus mit Kurzschwert: Walter Moers besucht Zamoniens Unterwelt auf der Suche nach den Letzten Dingen. In: Frankfurter Allgemeiner Zeitung. 31. Mai 2003. Weidermann, Volker : »Im Jenseits werde ich streng bestraft«. Autor und Zeichner Walter Moers über Bin-Ladin-Comics, Hitler-Musicals und seinen neuen Roman »Rumo«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 20. April 2003. Wieschemeyer, Klaus: Ein phantastischer Büchertraum. Walter Moers: »Die Stadt der träumenden Bücher«. In: Westdeutsche Zeitung. 27. Juni 2006. Ziegler, Helmut: »Ich hatte mit dem Bundesverdienstkreuz gerechnet«. In: Der Tagesspiegel. 20. April 2003. Ziegler, Helmut: Eine Mischung von Humanismus und Anarchie. Walter Moers, der medienscheue Vater von Käpten Blaubär, bricht sein Schweigen: »Die künstlerische Freiheit in sadistische Bereiche zu führen, das ist mein Ziel«. In: Stuttgarter Zeitung. 24. Mai 2003.
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Andere Medien
Drachengespräche. Ein Gespräch mit Hildegunst von Mythenmetz, dem dichtenden Lindwurm von Walter Moers (Achim Zeilmann, D 2007). Fogal, David: Neue Spinne erhält Namen aus Comic. In: http://www.uniaktuell.unibe.ch/ content/umweltnatur/2010/zwergspinne (Zugriff am 3. September 2010). Fricke, Hannes: Batman und kein Ende – doch das hat Batman (und die Kunstform Comic) eigentlich nicht verdient! Zu Lars Banholds problematischer Bachelor-Arbeit über den Dunklen Ritter als erstem Band der neuen Reihe »yellow. schriften zur comic-forschung«. http://www.iaslonline.de (Zugriff am 31. August 2010). Hoff, Hans: Was Walter Moers über Barack Obama denkt. Interview mit Walter Moers. In: Welt online. 8. November 2008. http://www.welt.de/kultur/article2693143/Was-WalterMoers-ueber-Barack-Obama-denkt.html (Zugriff am 31. August 2010). Janzen, Dennis: Enzyklopädische Schreibweise in den Zamonien-Romanen von Walter Moers [2008]. In: http://cyberpunkcrisis.wordpress.com/2008/09/01/enzyklopadische-schreibweise-in-den-zamonien-romanen-von-walter-moers/ (Zugriff am 5. Dezember 2010). Moers, Walter: Stellen Sie sich, Herr von Mythenmetz! Eine Erwiderung auf die haltlosen Vorwürfe des größten zamonischen Dichters. In: Zeitonline. In: www.zeit.de/2007/35/ L-Moers (Zugriff am 11. Oktober 2010).
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Übersetzungen
Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär (1999)
Moers, Walter : Kaptajn Blbjørns 1312 liv. Halvdelen af en søbjørns livserindringer ; med talrige illustrationer og med benyttelse af »Leksikon over forklaringskrævende mirakler, værensformer og fænomener i Zamonien og omegn« af prof. dr. Abdul Nattergal. Übers. v. Lene Henningsen. Valby 2001 [dän.]. Moers, Walter: The 1312 lives of Captain Bluebear. Being the demibiography of a seagoing bear, with numerous illustrations and excerpts from the »Encyclopedia of the marvels, life forms and other phenomena of Zamonia and its environs« by Professor Abdullah Nightingale. Übers. v. John Brownjohn. London 2000 [engl.]. Moers, Walter: Kapteeni Sinikarhun 1312 elämää. Übers. v. Marja Kyrö. Helsinki 2001 [finn.]. Moers, Walter : Les 13 vies et demie du capitaine ours bleu. Souvenirs de la moiti¤ des vies d’un ours marin, avec de nombreuses illustrations et des extraits du »Dictionnaire des merveilles, cr¤atures et autres ph¤nomºnes encore inexpliqu¤s de la Zamonie et de ses environs« par l’¤minent professeur Abdul Rossignol, de l’Acad¤mie zamonienne (2 Bde.). Übers. v. H¤lºne Berthe. Paris 2005 [frz.]. Moers, Walter [B\kteq L|eqr]: Oi 1312 fy]r tou Lpke Aqjo}dou. Übers. v. Laq_a Accek_dou. Athen 2004 [griech.]. Moers, Walter : Le tredici vite e mezzo del capitano Orso Blu. Meta dei ricordi di vita di un orso di mare riccamente illustrate e corredate di citazioni dal Dizionario enciclopedico dei portenti, degli organismi e dei fenomeni bisognosi di spiegazione di Zamonia e
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dintorni del prof. dott. Abdul Noctambulotti. Übers. v. Umberto Gandini. Mailand 2000 [ital.]. Moers, Walter: De 1312 levens van kap’tein Blauwbeer. De helft van de levensherinneringen van een zeebeer ; met talrijke illustraties en met citaten uit het Verklarend lexicon van wonderen, organismen en verschijnselen van Zamoni× en omgeving van prof. dr. Abdullah Nachtegael. Übers. v. Hans Hille. Amsterdam 2000 [niederl.]. Moers, Walter: Kaptein Blbjørns 1312 liv. Halvparten av livserindringene til en havbjørn. Med tallrike illustrasjoner og med støtte i »Leksikon over Zamonia og omegn, underlige ting, livsformer og fenomener som trenger en naermere forklaring« av prof. dr. Abdul Nattergalsen. Übers. v. Erik Krogstad. Oslo 2002 [norweg.]. . Moers, Walter: 1312 zycia kapitana Niebieskiego Misia. Wspomnienia niedz´wiedzia mor. skiego z połowy przezytych lat, opatrzone wieloma ilustracjami, z wykorzystaniem Leksykonu wymagaja˛ cych objas´nienia cudo´w, form istnienia oraz zjawisk w Zamonii i okolicach autorstwa prof. dr. Abdula Nachtigallera. Übers. v. Ryszard Wojnakowski. Gdan´sk 2006 [poln.]. Moers, Walter [3Q\mcVa =_nab]: 1312 WYX^VZ [Q`YcQ^Q `_ Y]V^Y BY^YZ =VUSVUm. Übers. v. Ljudmily Esakovoj. Sankt-Peterburg 2007 [russ.]. Moers, Walter: 1312 zˇivljenj kapitana Sinjedlakca. Pol zˇivljenjskih spominov morskega medveda; s sˇtevilnimi ilustracijami in z uporabo Leksikona razlage potrebnih cˇudes, ˇ rtomira zˇivljenjskih oblik in fenomenov Zamonije in okolice izpod peresa prof. dr. C ˇ rnonocˇnika. Ljubljana 2000 [slow.]. C Moers, Walter : Las 13 vidas y media del Capita´n Osoazul. Memorias de media vida de un oso de mar, con numerosas ilustraciones y ayuda del »Diccionario de prodigios, formas de vida y feno´menos de Zamonia y sus alrededores que requieren explicacio´n« por el Prof. Dr. Abdul Ruysen˜or. Übers. v. Miguel Sa´enz. Madrid 2003 [span.]. Moers, Walter: 13 a 12 zˇivota kapitna Modr¤ho Medveˇda. Polovina pameˇt morˇsk¤ho medveˇda s cˇetny´ mi ilustracemi a za pouzˇit »Lexikonu objasneˇn vyzˇadujcch divu˚, forem byt a fenom¤nu˚ Zamonie a okol« prof. dr. Abdula Nachtigallera. Übers. v. Pravoslav Prokesˇ. Prag 2005 [tschech.]. [daneben gibt es Übersetzungen ins Japanische, Taiwanesische, Koreanische und Chinesische]
Ensel und Krete (2000)
Moers, Walter: Ensel e Krete. Una storia di Zamonia narrata da Idelfonso de’ Sventramitis; tradotta dallo zamonico, illustrata e corredata di mezza biografia dell’autore da Walter Moers; con delucidazioni tratte dal Dizionario enciclopedico dei portenti, degli organismi e dei fenomeni bisognosi di spiegazione di Zamonia e dintorni del prof. dott. Abdul Noctambulotti. Übers. v. Umberto Gandini. Mailand 2002 [ital.]. Moers, Walter: Huviretki hukkateille. Seikkailu Zamoniassa. Übers. v. Marja Kyrö. Helsinki 2002 [finn.]. Moers, Walter: Ni´cˇek a Mrˇenka. Zamonska´ poha´dka od Hildegunsta z My´totesu˚ . Ze zamonsˇtiny prˇel. Ilustroval a polovicˇ ni´ biogr. autora opatrˇil Walter Moers. S vysveˇtlivkami z Lexikonu objasneˇ ni´ vyzˇ aduji´ci´ch divu˚ , forem byti´ a fenome´nu˚ Zamonie a okoli´ prof. dr. Abdula Nachtigallera. Übers. v. Pravoslav Prokesˇ. Prag 2005 [tschech.]. [daneben gibt es Übersetzungen ins Koreanische, Taiwanesische und Chinesische]
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Rumo & Die Wunder im Dunkeln (2003)
Moers, Walter: Rumo & his miraculous adventures. A novel in two books. Übers. v. John Brownjohn. London 2004 [engl.]. Moers, Walter: Pimeyden ihmeet. Helsinki 2005 u. 2006 [in zwei Teilen: Rumo Ylämaailmassa u. Rumo Alimaailmassa] [finn.]. Moers, Walter: Rumo e i prodigi nell’oscurita`. Romanzo in due parti. Illustrato dall’autore. Übers. v. Umberto Gandini. Mailand 2004 [ital.]. Moers, Walter: Rumo & de wonderen in het donker. Roman in twee boeken Übers. v. Erica van Rijsewijk. Antwerpen/Amsterdam 2008 [niederl.]. Moers, Walter: Rumo i cuda w ciemnosciach. Übers. v. Katarzyna Bena. Poznan´/Wroclaw 2008 [poln.]. Moers, Walter: Rumo & Cˇ udezˇi v temi. Übers. v. Stana Anzˇelj. Ljubljana 2009 [slow.]. Moers, Walter: Rumo & za´zraky v tma´ch. Roma´n o dvou kniha´ch. Ilustrova´n autorem. Übers. v. Pravoslav Prokesˇ. Prag 2003 [tschech.] [daneben gibt es Übersetzungen ins Koreanische, Thailändische und Taiwanesische]
Die Stadt der Träumenden Bücher (2004)
Moers, Walter: The city of dreaming books. A novel from Zamonia. By Optimus Yarnspinner. Transl. from the Zamonian and illustrated by Walter Moers whose German text was translated into English by John Brownjohn. Übers. v. John Brownjohn. London 2006 [engl.]. Moers, Walter: Uinuvien kirjojen kaupunki. Romaani Zamoniasta, kirjoittanut Hildegunst von Mythenmetz. Zamonian kielestä kääntänyt ja kuvittanut Walter Moers. Übers. v. Marja Kyrö. Helsinki 2008 [finn.]. Moers, Walter: La cite´ des livres qui reˆ vent. Un roman de Zamonie par Hildegunst Taillemythes. Trad. du zamonien et ill. par Walter Moers. Übers. v. FranÅois Mathieu et Dominique Taffin-Jouhaud. Paris 2006 [frz.]. Moers, Walter: La citta` dei libri sognanti. Da Zamonia, un romanzo de Ildefonso de’ Sventramitis. Tradotta dallo zamonico e illustrato da Walter Moers. Übers. v. Umberto Gandini. Mailand 2006 [ital.]. Moers, Walter: De stad van de dromende boeken. Een roman uit Zamonie¨ door Hildegunst van Mythenmetz. Uit het Zamonisch vertaald en gei¨ll. door Walter Moers. Übers. v. Erica van Rijsewijk. Antwerpen/Amsterdam 2005 [2008 mit dem geänderten Untertitel »een roman uit Zamoni× door Roelant Sagehouwer«] [niederl.]. . Moers, Walter: Miasto S´niacych Ksiazek. Powies´c´ z Camonii autorstwa Hildegunsta ´ ´ ´ Rzezbiarza Mitow. Przekł. z camonskiego i il. Walter Moers. Übers. v. Katarzyna Bena. Wrocław 2006 [poln.]. Moers, Walter [3Q\mcVa =_nab]: 4_a_U =VhcQojYf ;^YT. A_]Q^ YX XQ]_^YZb[_Z WYX^Y FY\mUVTd^bcQ =Ye_aVXQ. Übers. v. Anna A. Komarinec. Moskau 2007 [russ]. Moers, Walter: La ciudad de los libros son˜adores. Un fanta´stico viaje al ma´gico reino de la literatura. Novela de Zamonia por Hildegunst von Mythenmetz. Trad. del zamonio e ilustrada por Walter Moers. Übers. v. Miguel Senz. Madrid 2006 [span.]. Moers, Walter: Az a´lmodo´ könyvek va´rosa. Egy e´rzelmes dinoszaurusz u´ti emle´kei. Hobigo´lemföldi rege´ny. rta Kisba´rd Lomba´rd. Hobigo´lemibo´l ne´metre ford. e´s ill. Walter Moers. Übers. v. Tandori Dezso˝. Budapest 2005 [ungar.]. [daneben gibt es eine Übersetzung ins Koreanische]
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Der Schrecksenmeister (2007)
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Moers, Walter: The Alchemaster’s apprentice. A culinary tale from Zamonia by Optimus Yarnspinner. Transl. from the Zamonian and illustrated by Walter Moers. Whose German text was transl. into English by John Brownjohn. Übers. v. John Brownjohn. London 2009 [engl.]. Moers, Walter: Le maiˆtre des Chrecques. Un conte culinaire zamonien de Gofid Letterkerl. Nouvellement raconte´ par Hildegunst de Taillemythes. Trad. du zamonien et ill. par Walter Moers. Übers. v. Franc¸ ois Mathieu. Paris 2008 [frz.]. Moers, Walter: L’accalappiastreghe. Favola culinaria zamonica di Gofid Letterkerl. Ripoetata da Ildefonso de’ Sventramitis. Tradotta dallo zamonico e illustrato da Walter Moers. Übers. v. Umberto Gandini. Milano 2008 [ital.]. Moers, Walter: Kot alchemika. Übers. v. Katarzyna Bena. Wroclaw 2010 [poln.]. Moers, Walter: El maestro de las burujas. Alquimia y arte culinario en una ma´gica novela de Zamonia. Novela gastrono´mica de Zamonia de Gofid Letterkerl. Recontrada por Hildegunst von Mythenmetz. Trad. del zamonio e ilustrada por Walter Moers. Übers. v. Rosa Pilar Blanco. Madrid 2009 [span.]. [daneben gibt es eine Übersetzung ins Koreanische]
I. Überblicksdarstellungen
Sven Hanuschek
»Die Antworten auf fast alle Fragen von heute stehen in alten Büchern«. Trivialdramaturgie und ihre Rettung in Walter Moers’ Zamonien-Romanen
Was ist ›trivial‹? In Kevin Smiths Clerks II (USA 2006) findet sich die wohl kürzeste (polemische) Umsetzung von dem, was gemeinhin unter Trivialdramaturgie verstanden wird. Randal, einer der beiden in die Jahre gekommenen Jugendfreunde, die ihr Geld beim Burgerbrater ›Mooby’s‹ verdienen müssen, streitet sich mit dem Nachwuchsverkäufer Elias und einem Kunden darüber, ob nun die Star Wars- (USA 1977 – 1983) oder die Lord of the Rings-Trilogie (USA/NZ 2001 – 2003) das einzig Wahre sind. Die polemische Zusammenfassung von Lord of the Rings durch den Star Wars-Fan Randal bringt in größtmöglicher Lakonie die Trilogie auf den Punkt; er findet die Filme »boring as hell«, unsagbar langweilig: »All it was was a bunch of people walking – three movies of people walking to a fucking volcano.« Er spielt die drei Teile vor, und das muss man gesehen haben: Er braucht gerade mal 35 Sekunden für die neun Stunden, die Peter Jacksons Film-Trilogie noch in der allerkürzesten Version benötigt, und beendet seine ›Inhaltsangabe‹ mit dem Wurf eines imaginären Rings aus dem Handgelenk nach unten. »Even the fucking trees walked in those movies«, meint er.1 Dramaturgisch gesprochen, haben Jackson und der Schöpfer seiner Vorlage, J. R. R. Tolkien, gleich zu Beginn eine starke Frage gestellt, einen point of attack gesetzt, der als großer Bogen alle Detailhandlungen überwölbt: Wird der letzte Ring zerstört werden können, oder wird das Böse in Gestalt Saurons die Weltherrschaft an sich reißen können? Randal ist offenbar der Meinung, dies reiche als Bogen nicht aus, oder vielleicht gerade umgekehrt: Die Eingangsfrage ist zu stark für die darunter herlaufenden Teilhandlungen, allein das Ergebnis von Saurons Kampf ist interessant. So oder so: Die Filme haben ihn gelangweilt. Der 1 Der entsprechende Ausschnitt aus dem amerikanischen Original ist im Netz zu finden unter http://www.youtube.com/watch?v=b0sc-gS9AqM; deutsch synchronisierte Version: http:// www.youtube.com/watch?v=Jzx35T5tbZw (Zugriff am 26. Juli 2010).
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Sven Hanuschek
wichtigste, der definierende Aspekt an Trivialliteratur ist schon im Titel von Hans Dieter Zimmermanns Versuch einer Neudefinition (Schema-Literatur, 1979) enthalten gewesen:2 Trivial ist ein Stoff dann aufbereitet, wenn der Verlauf berechenbar bleibt noch in der Unberechenbarkeit. Auch wenn wir nicht genau wissen, wann der nächste Ork-Überfall kommt, wissen wir doch, dass er kommt. Auch wenn Frodo ein paar Schritte weiterkommt, wissen wir, dass sicher gleich eine neue Verzögerung eintritt, ein neuer Kampf, eine neue Gefangennahme und so fort; und wir wissen, am Ende müssen der Vulkan und der Ring stehen. Oder, in einem anderen Genre und als Einzelszenen-Dramaturgie betrachtet: Wenn James Bond sein Hotelzimmer betritt und eine angerauchte Zigarette im Aschenbecher findet (oder gar eine noch rauchende), dann wissen wir sofort, im Nebenraum wird eine schöne, leicht bekleidete Frau ihn erwarten, die er nicht erwartet, aber doch gern in Anspruch nehmen wird; es sei denn, sie ist ›beese‹ und betäubt ihn gleich, mit einem Geheimparfum, einem mechanischen Werkzeug oder ihrem fotogenen Bein.
Überblick: Verwendet Moers Trivialdramaturgie? Welche Rolle spielen solche schematischen Strukturen in Walter Moers’ Romanen? Auf den ersten Blick sind sie ja entscheidend; Moers verwendet bekannte Verlaufsformen und Gattungen für seine Handlungen: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär (1999) folgt offenbar dem Bildungsroman, der nun gerade nicht als triviale Gattung gilt, wohl aber ein Schema besitzt; der Ich-Erzähler und Protagonist versteht von Episode zu Episode mehr von der phantastischen und bedrohlichen Welt, durch die er sich bewegt, und am Ende scheint er sie im Griff zu haben, das ›halbe‹ Leben, von dem am Ende erzählt wird, ist eines »in Ruhe« (KBB 695), der Buntbär hat seinen Platz im Wald gefunden und hat die Wahl, ob er in ein neues Abenteuer aufbricht oder zuhause bleibt, er ist nicht mehr getrieben wie ganz buchstäblich zum Beispiel in seinem ersten Leben, als er in einer Nussschale vom Malmstrom verschlungen wird. Weiterhin spielt das Muster der ursprünglichen Blaubär-Zeichentrick-Geschichten aus der Sendung mit der Maus eine gewisse Rolle, wenn auch etwas zurückgenommen; hier hat Moers sich ja von Lügengeschichten in der Tradition von Lukian (Wahre Geschichten, um 180 n. Chr.) bis zu Gottfried August Bürgers Münchhausen (1786/ 88) anregen lassen. Der Überbietungsgestus ist im Roman sehr zurückgetreten, 2 Hans Dieter Zimmermann: Schema-Literatur. Ästhetische Norm und literarisches System. Stuttgart [u. a.] 1979. – Grundlegende Einführungen in das Thema ›Trivialliteratur‹ bietet vor allem Peter Nusser : Trivialliteratur. Stuttgart 1991. – Ders.: Trivialliteratur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Bd. 3. Berlin 2007, S. 691 – 694.
Trivialdramaturgie und ihre Rettung in Walter Moers’ Zamonien-Romanen
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der Beglaubigungsgestus ist dagegen ausgebaut, ja geradezu systematisiert: Durch die enzyklopädischen Artikel aus dem »Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller kann die erzählte Welt in jedem Detail vorgestellt werden, wo es gerade zum Verständnis nötig ist, und Nachtigallers überwältigenden telepathischen Fähigkeiten können den je benötigten Artikel sogar in den Bärenkopf einblenden, wenn er gerade gebraucht wird – als hätte er ständig ein Mobiltelefon mit Internet-Anschluss zur Hand.3 Blaubärs Leben in Dimensionslöchern und der ›süßen Wüste‹ benutzt zwar Schemata der Science Fiction (von Lukian bis Frank Herbert), aber stets in freier Adaption; sein eigener Roman, gerade was diese Motive angeht, wird nie schematisch. Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien (2000) benutzt als Märchenroman zwar weiterhin das Grimmsche Verlaufsschema, verstreut auch alle Details des Märchen-Vorbilds über den Text, erweitert ihn aber derart, dass es hier unmöglich geworden ist, die Brüche gegenüber dem verwendeten romantischen Quelltext zu übersehen. Nicht nur die Verschiebung des Stoffs in die ZamonienWelt mit all ihren fabulösen Wesen, die die Figurenkonstellation des Textes in eine ungleich komplexere verwandeln, und die Erweiterung um Abdul Nachtigallers fingierte enzyklopädische Artikel, die aus dem Blaubär-Roman schon vertraut sind, ist gemeint. Vor allem die erzählerischen Finten zeigen die Entwicklung, die der Autor Moers von seinem ersten hin zum zweiten Roman vollzogen hat. In Ensel und Krete wird der Leser (wie auch die Protagonisten) in die Irre geführt: Mehrfach ist weder für den Leser noch für die Figuren entscheidbar, ob die beschriebenen Abenteuer halluziniert oder (innerhalb der erzählten Welt) real sind. Hinzu kommt hier erstmals Hildegunst von Mythenmetz als Erzählinstanz, der auch noch seine eigenen Abschweifungen einfügt und seinerseits in einem dreißigseitigen Appendix samt Fußnoten vorgestellt wird4 – von einem offenbar philologisch begabten Autor namens Walter Moers, der das ganze Märchen auch noch illustriert und aus dem Zamonischen übersetzt hat. Mit Trivialliteratur oder -dramaturgie hat das nichts mehr zu tun, das Spiel mit den Erzählinstanzen und literarischer Phantastik erinnert eher an die romantischen Ironiker erzählerischer Wirklichkeitskonstitution wie Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmann. Der dritte Roman, Rumo & Die Wunder im Dunkeln (2003), der bislang umfangreichste der Zamonien-Reihe, wirkt strukturell gegenüber Ensel und Krete wie ein Rückschritt: Hier erzählt ein allwissender Erzähler die schröckli3 Vgl. zur Funktion des Lexikons auch den Beitrag von Magdalena Drywa im vorliegenden Band. 4 »Von der Lindwurmfeste zum Bloxberg. Die halbe Biographie des Hildegunst von Mythenmetz« (EK 227 – 255); vgl. zur Inszenierung von Autorschaft den Beitrag von Ingo Irsigler im vorliegenden Band.
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che Moritat des Wolpertinger-Helden Rumo durch Oben- und Untenwelt unter Zuhilfenahme vieler alter Motive aus nordischen Mythen und der Artus-Legende. Und er verwendet das alte Karl May- und J. R. R. Tolkien-Muster vom Kämpfen, Gefangenwerden, Sich-Befreien, Durch-Die-Prärie-Reiten, gegen die Orks kämpfen, wieder gefangen werden und so fort: »Kolportage im Stile des 19. Jahrhundert[s]«, vermerkt ein Rezensent zutreffend,5 ist das Muster doch auch von Alexandre Dumas, Jules Verne und anderen erfolgreich benutzt worden. Mit dem ›silbernen Faden‹, dem Rumo das ganze Buch hindurch folgt und der sich als der Duft seiner großen Wolpertingerliebe Rala entpuppt, ist überdies auch noch als übergreifender dramaturgischer Bogen eine Liebeshandlung eingesetzt worden, eine Nebenfigur wird sozusagen zur Integrationsfigur, die die weit ausgreifenden Kämpfe des Helden immer wieder als zielgerichtet erscheinen lässt, obwohl er selbst dieses Ziel lange nicht benennen könnte.6 Aber auch hier hat Moers versucht, das Schema zu sprengen und dadurch wieder erträglich, nein: spannend zu machen. Die Kampfszenen sind immer ein bisschen einfallsreicher, detaillierter ausgemalt als in den Vorbildern, der auktoriale Erzähler drängt sich selbst manchmal stärker in den Vordergrund, obwohl er nicht Hildegunst von Mythenmetz heißt, sondern namenlos bleibt. Aber er erzählt Parallelgeschichten, liefert uns das Tagebuch einer Nebenfigur,7 kommentiert die Erkenntnisfähigkeiten seines Helden und verfällt vor allem auf die großartige Idee, aus dem Heldenschwert eine gespaltene Persönlichkeit zu machen, die in Rumos Kopf mal als redseliger Stollentroll ›Löwenzahn‹, mal als blutrünstiger, tumber Dämonenkrieger ›Grinzold‹ spricht, der in Frakturschrift markante Sentenzen von sich gibt, Sätze wie »Wir sollten die verdammte Krähe umlegen« (R 367). Der Witz an dieser Erzählweise ist, dass ohne Ende erzählt und erzählt wird, Rumo ist umgeben von unglaublich eloquenten, ja logorrhoischen Figuren wie der Haifischmade Volzotan Smeik, der Schwerthälfte Löwenzahn und nicht zuletzt dem auktorialen Erzähler, der entschieden kein Lakoniker ist; aber Rumo selbst bleibt die knapp 700 engbedruckten Seiten hindurch ein ungemein schweigsamer Held. »Mach du«, ist hier ein typischer Satz: »Ich kann nicht so gut erzählen.« (R 366)8 Trotz dieser Volten wird die Abenteuerroman-Struktur aber eben doch regelhaft abgearbeitet, die episodische Struktur, die von Helden5 Matthias Heine: Hier wird schön gefoltert. Warum der bedeutende und belesene Romancier Walter Moers sich den Hadschi Halef Omar-Pokal redlich verdient hat, den sie Musen ausschließlich für die wahrhaftigsten Lügen verleihen. In: Die Welt. 12. April 2003. 6 Vgl. Peter Hartmann: Zur Dramaturgie der Nebenfigur in Theater und Film. Marburg 2000, S. 42 f. 7 »Das Nebelheimer Leuchtturmtagebuch von Doktor Oztafan Kolibril« (R 263 – 281). 8 Zu Rumos Schweigsamkeit und der Adaption von Abenteuermustern vgl. den Beitrag »›Blut! Blut! Blut!‹ Die Artusepik als heroisches Erbgut wortkarger Wolpertinger« von Maren J. Conrad im vorliegenden Band.
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kampf zu Heldenkampf voranschreitet, wird keineswegs parodiert, allenfalls hie und da ein wenig übertrieben und dadurch ironisiert, aber das Publikum erhält zuverlässig alles geliefert bis hin zum showdown und dem Anspruch, wie unwahrscheinlich es sei, dass »jemals zuvor« im Schein eines Lagerfeuers »außergewöhnlichere« Geschichten »zum besten gegeben wurden« als die Schicksale dieser Romanfiguren (R 675). Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl (2007) ist sozusagen eine Überschreibung wie schon Ensel und Krete, auch hier mit signifikanten Erweiterungen und Verschiebungen. Hildegunst von Mythenmetz ist diesmal der Verfasser einer Nacherzählung nach der Novelle Spiegel das Kätzchen aus den Leuten von Seldwyla (1856) des anagrammatisch verrückten Gottfried Keller, und Walter Moers tritt wiederum als Übersetzer und Illustrator des Mythenmetzschen Textes in Erscheinung.9 Das Ebenenspiel wäre also wenigstens auf dem Titelblatt um eine Ebene erweitert, die allerdings im Verlauf des Romans keine Rolle spielt. Erst in einer abschließenden »Anmerkung des Übersetzers«, nach dem »Nachwort« Hildegunsts von Mythenmetz, weist Moers darauf hin, es habe sich um ein Werk aus der schlimmsten hypochondrischen Phase Mythenmetz’ gehandelt, mit permanenten Abschweifungen über körperliche Wehwehchen, und er habe sich daher entschlossen, »der üblichen Werktreue abzuschwören, sämtliche Abschweifungen herauszunehmen und das Buch um 700 Seiten zu kürzen« (SM 383; beiläufig genau der Umfang von Rumo). Damit rechtfertigt der Verfasser, dass dieser Roman relativ stringent durcherzählt ist. Das Vorbild des offenbar innig bewunderten Schweizers wird in jedem Detail aufgenommen und auserzählt, erweitert zu einem voll instrumentierten Fantasy-Roman mit einer hochgefährlichen Schneeweißen Witwe (einer zamonischen Monster-Version der Schwarzen Witwe), einem gekochten Gespenst, Dämonenbienen, Ledermäusen und weiteren exzentrischen Geschöpfen. Durch die lineare Erzählung, die auktorial-allwissend dargeboten wird und auf Echo, das genialische ›Krätzchen‹, fixiert bleibt, finden sich auch hier typische Merkmale trivialdramaturgischer Verfahren, es gibt sogar den hook, den Haken, der die Leser zu Beginn einfängt und die Spannung den ganzen Roman über aufrecht erhält: Wird Echo dem tödlichen Pakt mit Succubius Eißpin, dem Schrecksenmeister, entrinnen können, oder wird das Krätzchen am Ende geschlachtet und dem Leichnam sein Fett ausgekocht werden? Diese ›trivialen‹ Elemente sind tatsächlich alle auch schon bei Keller vorhanden, der Schluss ist vielleicht noch etwas unversöhnlicher als bei diesem – schließlich überlebt der Protagonist Echo zwar, und die düstere Stadt Sledwaya ist befreit; 9 Zur Gestaltung der Rahmen vgl. auch den Beitrag »›Leichenfledderer sind wir alle.‹ Die Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister« von Gerrit Lembke im vorliegenden Band.
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aber der Schrecksenmeister selbst und die liebende Schreckse Izanuela Anazazi sind auf der Strecke geblieben, während die tötungslustige Schneeweiße Witwe frei durch die Welt zieht, auf der Suche nach neuen Opfern. Moers ist Gottfried Keller allerdings auf einem anderen Niveau verpflichtet als der Übernahme einiger Handlungslinien; was diese angeht, ist er mit der ihm eigenen Phantasie schon erwartbar souverän und eigenständig verfahren. Zu verdanken hat er dem Realisten allenfalls die ungleich komplexere Psychologie einiger Figuren: Es ist schon sehr überlegt, dass er den Roman nicht ›Echo, das Krätzchen‹ genannt hat, sondern Der Schrecksenmeister. Eine Figur mit solchen dämonischen, tyrannischen wie dagegen auch bemitleidenswerten Zügen, mit einer derart ausgefeilten Psychologie, hat es vorher im Werk von Moers nicht gegeben, und auch Izanuela ist eine tragische, anrührende Figur. Auch über diesen Roman ist also mit der Konstatierung trivialdramaturgischer Elemente noch nicht viel gesagt.
Erfüllung und Reflexion trivialdramaturgischer Muster In dieser kursorischen Durchquerung des Moersschen Zamonien-Erzählkosmos ist ein Roman ausgelassen worden, Die Stadt der Träumenden Bücher (2004). Von ihm soll im folgenden etwas ausführlicher die Rede sein; hier werden die trivialdramaturgischen Muster nicht nur verwendet und gebrochen, sie werden auch ausdrücklich kommentiert, reflektiert oder demonstrativ vorgeführt, als vertraute Moers wie seine Figur Oztafan Kolibril den Germanisten nicht; in dessen Tagebuch heißt es: »So aufregend wie Trockenfleisch. Ich halte die Literaturwissenschaft für eine völlig unexakte Disziplin.« (R 272) Auch hier ist nicht zu übersehen, dass Trivialdramaturgie eine große Rolle spielt. Wie in einem ›ordentlichen‹ Fantasy-Roman unternimmt der Protagonist Hildegunst von Mythenmetz, der gleichzeitig der Ich-Erzähler ist, eine Queste: Sein Pate Danzelot von Silbendrechsler vermacht ihm auf dem Sterbebett den »großartigsten« Text »der gesamten zamonischen Literatur« (STB 17), und er wandert mit diesem Text nach Buchhaim, in die ›Stadt der Träumenden Bücher‹, die Stadt der fünftausend Antiquariate und der unterirdischen Katakomben und Bücherlabyrinthe, um dort den Verfasser ausfindig zu machen. Der zweite große Bogen betrifft die Figur Hildegunst selbst; als er von der Lindwurmfeste aufbricht, ist er noch kein Schriftsteller, er will diesen Dichter finden, um bei ihm in die Lehre zu gehen und sich das ›Orm‹ zu erwerben, die geheimnisvolle Kraft, die Dichter zum Leuchten bringt, ja überhaupt erst zu nennenswerten Dichtern macht.10 Das ist der point of attack, die Frage, die zu Beginn gestellt wird: Wird Hildegunst von Mythenmetz sein Ziel erreichen, wird er ein Schriftsteller wer10 Vgl. hierzu den Beitrag von Tim-Florian Goslar im vorliegenden Band.
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den? Schon bei diesen beiden großen dramaturgischen Bögen sind Paradoxien gesetzt, die das ›triviale‹ Bild stören: Der ›Gral‹ oder dessen Entsprechungen auf einer Queste ist üblicherweise ein Ding, ein Gegenstand – eben ein Ring, die heilige Schale, eine besondere Waffe und so fort. Diesen Gegenstand hat der erzählende Lindwurm aber schon in der Hand, und die Suche nach einem Dichter oder Schriftsteller ist alles andere als prototypisch für einen Fantasyroman, sie würde eher zu den selbstreflexiven literarischen Werken der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts passen.11 Die Frage, ob Hildegunst sein Berufsziel erreichen wird, ist von der ersten Seite an beantwortet: Hildegunst von Mythenmetz erzählt die Geschichte, er steht als Verfasser auf dem Deckblatt, er hat sie offenbar aufgeschrieben, und er ist auch noch sein eigener Protagonist. Dieses Verfahren, um im dramaturgischen Paradigma zu bleiben, ist nicht trivial, sondern es scheint Bertolt Brechts Dramaturgie des ›epischen Theaters‹ zu entsprechen: Der Zuschauer soll von Anfang an wissen, wie der Ausgang der Handlung sein wird, er soll sich ganz darauf konzentrieren können, wie dieses Ziel eintreten wird. Dass es zu einem Protagonisten auch einen Antagonisten geben muss, ist ebenfalls eine Gattungserwartung, die erfüllt und dem Lesepublikum gleich wieder entzogen wird; es ist lange nicht klar, ob es überhaupt einen singulären Antagonisten gibt, einen ›bösen‹ Geist hinter allen widrigen Ereignissen der erzählten Welt. Es zeigt sich schließlich, dass die Haifischmade Phistomefel Smeik dieser Geist ist; spätestens mit dem vergifteten Buch, das er Hildegunst mit einer zwiespältigen Sentenz darbietet (STB 148 f.), entpuppt er sich als Feind: »Die Antworten auf fast alle Fragen von heute stehen in alten Büchern« (STB 146). Die Ausmaße werden aber erst nach und nach klar ; und das Schlussduell, der showdown, wird nicht zwischen Hildegunst und Smeik ausgekämpft werden, sondern zwischen dem Schattenkönig und Smeik, sie sind Antagonisten, Hildegunst wird hier zum Beobachter und Berichterstatter. Er selbst hat keinen direkten Antagonisten, er hat lediglich Feinde, die er manchmal auch noch falsch einschätzt – dass etwa die Bücherjäger zu Smeik gehören, wird ihm erst recht spät klar. Dagegen erweisen sich die Gerüchte über die »Schrecklichen Buchlinge«, die »allesfressenden Zyklopen der Labyrinthe« (STB 207) als falsch, dieses friedliche, intelligente Volk hat in der Literatur seinen Lebenszweck gefunden und muss daher mit einem Bewohner der Lindwurmfeste, der Dichterstadt, freundschaftlich umgehen. Die Buchlinge sind Leser, wie sie sich ein Autor nur wünschen kann, die Gerüchte haben sie als Selbstschutz in die Welt gesetzt. Zwangsläufig und erwartbar müssen sie angegriffen werden, ihre ›Lederne 11 Etwa zu Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979, dt. 1983), oder zu Umberto Ecos Il nome della rosa (1980, dt. 1982).
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Grotte‹ wird zerstört. Immerhin besitzen sie eine Eigenschaft, die sie überraschenderweise am Ende doch zu den Überlegenen macht: Im Schlusskampf können sie Smeiks Bücherjäger hypnotisieren und bringen sie so dazu, sich gegenseitig umzubringen. Die Buchlinge als Wesen, die in und von der Literatur leben, die sich allein von Lektüre ernähren können, die allen ihren Willen aufzwingen können, ohne diese Fähigkeit zu missbrauchen, sie haben ein gewaltiges metaphorisches Potential, so groß, dass es sie womöglich zum geheimen Mittelpunkt des Romans macht – immerhin ist einer von ihnen in der Bibliothek auf dem Umschlag zu sehen, als einzige Figur überhaupt. Um die Besonderheiten im Umgang mit trivialer Dramaturgie in diesem Roman herauszuarbeiten, muss das methodische Rüstzeug etwas erweitert werden. Den einzigen systematischen Überblick hat meines Wissens der Filmwissenschaftler Jens Eder geliefert; eines der weitestreichenden Kriterien, die er nennt, ist der Umgang mit der rezeptiven Kognition. Verlieren die Leser jemals »das Gefühl, die Situation kognitiv unter Kontrolle zu haben«?12 Bilden wir uns Abduktionen, mutmaßende Hypothesen über den Fortgang der Handlung, die ganz in die Irre führen? Der Roman ist ja ganz linear erzählt, was die benannten beiden großen Bögen betrifft; im Detail steckt er aber voller Überraschungen, Umwertungen von Figuren, es werden immer neue Teil-Welten der ZamonienWelt aufgetan und so fort, Hildegunst lebt in einer gefährlichen, labyrinthischen Welt voller Gefahren und Todesdrohungen, er ist zweifellos immer wieder kognitiv überfordert mit den Aufgaben, die ihm gestellt werden. Eine Episode, in der Moers demonstrativ vorführt, wie er mit trivialer Dramaturgie umgeht, ist Hildegunsts Entdeckung von Schloss Schattenhall. Er steht vor der beeindruckenden Fassade und denkt an Werke der ›Zamonischen Schauerliteratur‹, in der solche Szenen immer gleich abliefen. Man wolle den Helden anschreien: »Geh nicht! Geh da bloß nicht rein, du Idiot! Das ist eine Falle!« (STB 313) Aber dann denke man sich: »He – wieso eigentlich nicht? Soll er doch reingehen! Da drinnen lauert bestimmt eine hundertbeinige Riesenspinne, die ihn in einen Kokon einwickeln will oder so was – das wird bestimmt lustig. Das ist schließlich ein Held der Zamonischen Schauerliteratur, der muß das aushalten können.« Und er geht natürlich rein, der Held der Zamonischen Schauerliteratur, gegen jede Vernunft, und prompt wird er von einer hundertbeinigen Riesenspinne in einen Kokon eingewickelt oder so was. (STB 313)
12 Jens Eder : Dramaturgie des populären Films. Drehbuch und Filmtheorie. Hamburg 1999 (Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte 7), S. 114. – Eders Buch ist eine Spezialisierung vorausgegangener Grundlagenwerke (etwa Arnulf Perger: Grundlagen der Dramaturgie. Graz/Köln 1952, besonders S. 149 – 158 u. 173 – 180) und des strukturalistischen Entwurfs von Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 6. Aufl. München 1988, bes. S. 265 – 294 u. 334 – 338.
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Hildegunst reflektiert also die Situation, in der er sich befindet, anhand eines trivialen Schauerromans, erkennt sie als Schema-Situation und meint, er werde sich weit klüger verhalten, schließlich sei er kein »stupider Held, der zur Befriedigung niedriger Unterhaltungsbedürfnisse sein Leben riskierte«, er werde nicht hineingehen, er werde »nur ein bißchen hineingehen« (STB 313), die Tür immer im Auge. Aber seine Neugier ist so groß, dass er dieses ›Bisschen‹ schon unternehmen muss, und er weiß auch, dass die Neugier der Grund dafür ist, dass »letztendlich alle Helden in Zamonischen Schauerromanen irgendwo ›hineingehen‹« (STB 313). Er geht ›natürlich‹ hinein, unter ständigen Rückversicherungen, dass auch der kommende Gang ganz unspektakulär bleibe und er also weitergehen könne, es kommt, wie es kommen muss, er verläuft sich im Labyrinth des Schlosses, das über sich permanent verschiebende Wände und Gänge verfügt, und im Innern des Schlosses wird eine Art Monster ihn erwarten, wenngleich es – der Schattenkönig, Homunkoloss – sich mit ihm verbünden wird. Uns als Leser beunruhigt das in der Tat nicht weiter, wir denken uns, ›das wird bestimmt lustig‹. Hildegunsts Lernprozess liefert den Lesern vor allem emotionales Vergnügen, das »Gefühl kognitiver Kontrolle«13 bleibt erhalten. Wir wissen, Hildegunst ist ein ›Held der Zamonischen Schauerliteratur‹, er wird davonkommen, schließlich geht der Roman noch 150 Seiten weiter, und Hildegunst ist der Erzähler. Wir sind selbst nicht betroffen, es werden sich keine Frustrationen ereignen, die wir aus unserem Alltag kennen, wir werden Hildegunsts Herausforderung jedenfalls gewachsen sein. Mag auch unser Alltag »öde oder überkomplex und problembeladen« sein, im Trivialroman sorgt »ein kontrolliertes Spiel mit Überraschungen und Erwartungen für eine angenehme Balance der kognitiven und emotionalen Forderung« – im Idealfall wird im geforderten, aber nicht überforderten Rezipienten »ein Hochgefühl des flow« erzeugt.14 Moers zeigt in dieser Passage ganz explizit, wie präsent er die Regeln des Trivialromans (hier : des Schauerromans) hat, er lässt sie durch seinen IchErzähler Schritt um Schritt benennen, und er kommt ihnen ganz exakt nach unter der Behauptung Hildegunsts, genau dies tue er nicht. Wie schon bei Rumo & Die Wunder im Dunkeln wird der Trivialroman nicht parodiert, sondern ironisierend-überdeutlich erfüllt.
13 Eder 1999, S. 117. 14 Ebd.
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Wachhypnose und labyrinthischer Trost Der Verweis auf Brechts Dramaturgie des ›epischen Theaters‹ war also nicht wirklich zutreffend; bei Brecht weiß das Publikum mitunter (etwa in Mutter Courage und ihre Kinder, uraufg. 1941) von Szene zu Szene, was sich in ihr ereignen wird, es sind nicht nur die großen Bögen bekannt. Moers verzichtet an keiner Stelle auf Empathie, auf traditionelle Einfühlung, auch wenn er seinen Lesern zumutet, sich in einen schreibenden Drachen aus der Lindwurmfeste einzufühlen. Er hält in diesem Roman an der einen Mittelpunktsfigur fest, an einem Wahrnehmungszentrum, erzählt illusionistisch-spannend, auf Effekte gerichtet, er beschränkt sich auf eine Erzählebene und löst alle Konflikte eindeutig und befriedigend auf. Er verwendet, um wieder mit Brecht zu sprechen, die »alten V-Effekte«, die »das Abgebildete dem Eingriff des Zuschauers gänzlich« entziehen, die es »zu etwas Unabänderlichem machen«.15 Anders gesagt, er verzichtet an keiner Stelle auf die traditionellen Verfahren der Hypnose, die Kunst im 19. Jahrhundert eingesetzt hat. Allerdings hat er seinen Brecht gelesen: wenn die Schwierigkeit darin besteht, eine Hypnose herbeizuführen, d. h. wenn es immer schwerer wird, zu hypnotisieren, dann kann man zweierlei machen: entweder die Versuche mit doppelter Kraft fortsetzen oder sie aufgeben. Das letztere verlangt unter Umständen noch mehr Kraft, ist aber jedenfalls etwas Entgegengesetztes.16
Zweifellos ist es schwerer geworden, im 21. Jahrhundert sein Publikum mit den Mitteln der Schauerliteratur zu hypnotisieren, auch wenn die hypnotischen Fähigkeiten von Literatur durch die Buchlinge beschworen werden. Moers hat die Hypnose also nicht aufgegeben, er hat sie aber auch nicht mit ›doppelter Kraft‹ fortgeführt. Er hat eine eigene Reflexionsebene eingefügt, die das Funktionieren der dramaturgischen Strategien immer präsent hält; und entgegen der Auffassung des ›epischen Theaters‹ führt diese Ebene nicht mehr zur Illusionsbrechung, sondern gerade zur Re-Installierung von Illusion (bzw. von ›Hypnose‹). Ein Romanheld, der naiv das Schloss Schattenhall betreten würde, könnte sich dem Vorwurf der Trivialität wohl kaum entziehen, er würde ein triviales Handlungsmuster erfüllen, das drei Seiten weiter wieder vergessen wäre. Schließlich wissen die Buchlinge, dass man von Horrorromanen Alpträume kriegt, und dass Trivialliteratur »nicht auf Dauer« sättigt (STB 259). Aber einen Protagonisten, der in der Lage ist, seine Handlungen in den Kategorien der 15 Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht [u. a.]. Bd. 23: Schriften 3. Berlin/ Weimar/Frankfurt a. M. 1993, S. 65 – 97, hier S. 81. 16 Ders.: Aufgeben der Einfühlung. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht [u. a.]. Bd. 22: Schriften 2. Teil 1. Berlin/Weimar/ Frankfurt a. M. 1993, S. 174.
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Gattung, in der er sich gerade befindet, zu reflektieren, sie sozusagen reflektierend zu verdoppeln, wird niemand mehr der trivialen Dramaturgie zeihen. Er wird gerade besonders vertrauenerweckend wirken, weil er die Zweifel des kritischen Lesers inkorporiert und ihn dazu bringt, sich dieser Mittelpunktsfigur umso vertrauensvoller hinzugeben. Ein besonders schönes Beispiel für diese selbstreflektierende Ebene ist Hildegunsts Analyse seines Lachens, als er in einem Raum in Schloss Schattenhall mit einem Schrank von ›Haarsträuberbüchern‹ versorgt wird. Er erinnert sich, dass die Effekte dieser Bücher durch die Häufigkeit von Adjektiven wie »klamm, beinern, düster, vielbeinig, fröstelnd, schaurig, madenzerfressen sowie klammbeinern, düsterfröstelnd und vielschaurig« (STB 322) hervorgerufen wurde, verbunden mit der illegalen Alchimie »von hypnotischen Duftstoffen« (STB 321). Er konstatiert, die Duftstoffe täten noch ihre Wirkung, er halluziniere bereits das Knarzen von Särgen, die sich langsam öffneten und das »irre Lachen von Torfmumen«, aber diese Effekte gruselten ihn nicht mehr, sie beruhigten ihn »zutiefst« (STB 322): »Komisch war, daß inmitten eines Wirklichkeit gewordenen Alptraums, in einem unterirdischen Schloß ohne Ausgang mir schon der Anblick von lesbarer Schrift ein Gefühl von Geborgenheit geben konnte. Deshalb mußte ich lachen, oh meine Freunde, schallend und anhaltend.« (STB 322) Das Unheimliche wird in der Ausnahmesituation Hildegunsts zum Heimatlich-Vertrauten, es erzeugt das Gefühl, dass ihm nichts mehr geschehen kann – exakt das Gefühl der Moers-Leser, die sich, des guten Ausgangs gewiss, ganz auf die mehr oder minder schaurigen Probleme des Helden einlassen können, die nicht die ihren sind und die, mit Verlaub, die Komplexität der Lebenswelt nicht erreichen.17 In Die Stadt der Träumenden Bücher werden die Verdopplungsstrategien der Postmoderne eingesetzt, schon mit der Verfasserfiktion der Titelseite;18 und exzessiv gebraucht werden sie in diesem Roman über das Lesen, die Bücher und die Literatur durch die Anspielungen und Witze auf die wirkliche Literaturgeschichte. Die akademischen Moers-Fans haben sozusagen ›Rätselspaß mit Hildegunst‹ und können in Ojahnn Golgo van Fontheweg und Dölerich Hirnfidler Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Hölderlin erkennen und sich über die polemischen Bemerkungen freuen oder ärgern, sie können sich bei den zahlreichen noch nicht entschlüsselten Namen den Kopf zerbrechen, ob die frei erfunden sind oder doch auf tatsächliche Schriftsteller verweisen,19 und sie können Moers’ Virtuosität in Anagrammbildungen bewundern. Er selbst hat sich unter dem Namen »Werma Tosler« als Illustrator der ersten 17 Vgl. Eder 1999, S. 118. 18 Vgl. zu den postmodernen Facetten von Die Stadt der Träumenden Bücher den Beitrag »Von toten Autoren und Lebenden Büchern« von Maren J. Conrad im vorliegenden Band. 19 Die ausführlichste Sammel- und Entschlüsselungsliste findet sich im Netz unter http:// www.mythenmetz.de/zamonische_dichter.php (Zugriff am 2. August 2010).
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Ausgabe ausgerechnet eines Trivialromans, »Das Schweigen der Sirenen«, hineingeschmuggelt; »eher was für grüne Jungs«, meint Smeik (STB 107). Das Erfrischende an Moers’ Roman ist, dass Literatur hier als absoluter Wert gesetzt wird, ohne Berührungsängste mit sogenannter Trivialliteratur. Deren Qualitäten wie Grenzen werden beiläufig benannt, wie Teile von Hochliteratur ohne weiteres komisiert werden, ein dezidiert unklassisches Literaturverständnis wie bei Jean Paul und Arno Schmidt. Alle Literatur wird sozusagen als ›mit-lebend‹ behandelt, alle Autoren sind noch am Leben, solange es die Buchlinge gibt, die sich ihrer annehmen und ihre Namen weitertragen. Kennzeichnend für diese Haltung ist etwa, dass Gottfried Keller, ›Gofid Letterkerl‹, einer der erklärten Lieblingsschriftsteller Hildegunst von Mythenmetz’ (und Moers’), in der Stadt der Träumenden Bücher leibhaftig noch lebt, nicht nur in ›seinem‹ Buchling, sondern als ein »zwei Meter großer Schweinling« (STB 206). Der Erzähler rühmt an den Buchlingen, sie seien »zum Glück keine literarischen Snobs – sie hatten nicht nur Klassiker memoriert, sondern auch Werke der sogenannten Trivialliteratur« (STB 280). Hildegunst schätzt »Prinz-Kaltbluth-Romane«, mehr noch die »Graf-von-Elfensenf-Romane«, und er verteidigt sie eindringlich: »Keine triviale Effekthascherei, kein billiges Klischee, kein eskapistisches Bedürfnis war mir mehr fremd – ein Rüstzeug, das meines Erachtens in das Marschgepäck eines jeden Schriftstellers gehört.« (STB 271) Die Wirkungen trivialer Dramaturgie sind nicht nur nötig, um Mehrfachadressierungen zu erreichen, sonder auch um eine Lektüre auf Handlungsebene und andere nach anderen Kriterien zu ermöglichen. Es ist auffällig, dass in mehreren Romanen Moers’ Labyrinthe eine große Rolle spielen, mythologisch wie historisch immer Verkörperungen der Selbstfindung oder des Todes, der wie der Minotaurus in der Mitte des Labyrinths wartet; oder doch mindestens ein Bild für ein Geheimnis, ein Bild sicherer NichtTrivialität also.20 Die undurchdringliche Komplexität der Welt, das Unbeantwortbare der ›letzten Fragen‹ ließe sich hier allegorisch fassen; für das Labyrinth in Die Stadt der Träumenden Bücher wird es am Ende einen Schlüssel geben, wenngleich es ein Nachtigallscher Unmöglichkeitsschlüssel ist (STB 434). Vielleicht braucht Moers die trivialdramaturgischen Elemente seiner Romane, um seinem Publikum den Trost einer vorübergehenden Durchschaubarkeit zu verschaffen – ehe sie wieder in ihre je eigenen täglichen Labyrinthe verschwinden.
20 Vgl. als Überblick Hermann Kern: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. 4. Aufl. München 1999.
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Brecht, Bertolt: Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg [uraufg. 1941]. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht [u. a.]. Bd. 6: Stücke 6. Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1989, S. 7 – 86. Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht [u. a.]. Bd. 23: Schriften 3. Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1993, S. 65 – 97. Brecht, Bertolt: [Aufgeben der Einfühlung]. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht [u. a.]. Bd. 22: Schriften 2. Teil 1. Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1993, S. 174. Bürger, Gottfried August: Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustige Abentheuer des Freyherrn von Münchhausen. London [recte Göttingen] [ED 1786, erw. 1788]. Nach der Ausgabe von 1788 hg. v. Irene Ruttmann. Stuttgart 1994. Calvino, Italo: Se una notte d’inverno un viaggiatore. Turin 1979. Eco, Umberto: Il nome della rosa. Mailand 1980. Keller, Gottfried: Spiegel das Kätzchen [ED 1856]. In: ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Hg. v. Thomas Böning. Frankfurt a. M. 1989, S. 240 – 279. Lukian von Samosata: Wahre Geschichten [ED um 180 n. Chr.]. Zürich 2000. Moers, Walter: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des »Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 1999. Moers, Walter : Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 2000. Moers, Walter: Rumo & Die Wunder im Dunkeln. Ein Roman in zwei Büchern. München 2003. Moers, Walter: Die Stadt der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. München 2004. Moers, Walter: Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers. München 2007.
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Sekundärliteratur Eder, Jens: Dramaturgie des populären Films. Drehbuch und Filmtheorie. Hamburg 1999 (Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte 7). Hartmann, Peter : Zur Dramaturgie der Nebenfigur in Theater und Film. Marburg 2000. Heine, Matthias: Hier wird schön gefoltert. Warum der bedeutende und belesene Romancier Walter Moers sich den Hadschi Halef Omar-Pokal redlich verdient hat, den sie Musen ausschließlich für die wahrhaftigsten Lügen verleihen. In: Die Welt. 12. April 2003. Kern, Hermann: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. 4. Aufl. München 1999. Nusser, Peter : Trivialliteratur. Stuttgart 1991. Nusser, Peter : Trivialliteratur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Bd. 3. Berlin 2007, S. 691 – 694. Perger, Arnulf: Grundlagen der Dramaturgie. Graz, Köln 1952. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 6. Aufl. München 1988. Zimmermann, Hans Dieter : Schema-Literatur. Ästhetische Norm und literarisches System. Stuttgart [u. a.] 1979.
Andere Medien Clerks II (USA 2006, Kevin Smith). [Clerks II. Ausschnitt, engl.]. In: http://www.youtube.com/watch?v=b0sc-gS9AqM (Zugriff am 26. Juli 2010). [Clerks II. Ausschnitt, dt.]. In: http://www.youtube.com/watch?v=Jzx35T5tbZw (Zugriff am 26. Juli 2010). Lord of the Rings (USA/NZL 2001 – 2003, Peter Jackson). Return of the Jedi (USA 1983, Richard Marquand). Star Wars (USA 1977, George Lucas). The Empire Strikes Back (USA 1981, Irvin Kershner). Zamonische Dichtkunst von A bis Z. In: http://www.mythenmetz.de/zamonische_dichter.php (Zugriff am 2. August 2010).
Ingo Irsigler
»Ein Meister des Versteckspiels«. Schriftstellerische Inszenierung bei Walter Moers
In einer sich stetig ausdifferenzierenden Medienlandschaft müssen Autoren und ihre Verlage in zweifacher Hinsicht immer stärker um die Aufmerksamkeit der Konsumenten konkurrieren. Erstens gilt es, ihre Produkte auf dem umkämpften Literaturmarkt sichtbar zu machen; und zweitens muss die Literatur insgesamt gegen vielfach als attraktiver wahrgenommene Kulturformate wie die Popmusik oder den Film um das Interesse der Leser kämpfen. Ein Pfund, mit dem sich auf dem Markt ökonomischer und symbolischer Güter wuchern lässt, ist der Autor bzw. sein Habitus,1 der gleichsam als »symbolische[] Ressource«2 zur Aufmerksamkeitsgewinnung für das Produkt ›Literatur‹ eingesetzt werden kann. Diese »Strategie der Personalisierung«3 ist in allen relevanten gesellschaftlichen Feldern zu einer wichtigen Praxis sowohl der Selbst- als auch der Fremdpositionierung geworden, und auch im Literaturbetrieb hat sie angesichts der sich immer weiter verknappenden ›Ressource Aufmerksamkeit‹4 beständig an Bedeutung gewonnen. Beispielhaft lässt sich die Tendenz zur Personalisierung an Helene Hegemann illustrieren, die 2010 mit 17 Jahren ihren ersten Roman Axolotl Roadkill vorlegte – und schon allein auf1 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a. M. 1999, S. 278. Bourdieu definiert ›Habitus‹ als »Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren), [die] als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils«. Zur Bestimmung des literarischen Feldes als Markt symbolischer Güter vgl. außerdem Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a. M. 2001, S. 227 ff. 2 Juliana Raupp: Medialisierung als Parameter einer PR-Theorie. In: Theorien der Public Relations. Grundlagen und Perspektiven der PR-Forschung. Hg. v. Ulrike Röttger. 2. Aufl. Heidelberg 2009, S. 265 – 284, hier S. 276. Christine Künzel: Einleitung. In: Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Hg. v. Christine Künzel u. Jörg Schönert. Würzburg 2007, S. 9 – 23, hier S. 10. 3 Raupp 2009, S. 276. 4 Vgl. Gustav Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München/Wien 1998.
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grund ihres Alters genauso schnell wie plakativ zum »Wunderkind« erklärt wurde.5 Die positiven, teilweise euphorischen Besprechungen des Romans stellten überwiegend die personellen Attribute der Autorin aus, die für viele Kritiker faszinierender zu sein schienen als das Buch selbst.6 Sie hat dunkelblonde Haare, unter denen ihr Gesicht hervorschaut, einen bunten Kopfhörer um den Hals, und sie kann reden, reden, reden. Über die falsche Kapitalismuskritik der Berliner Theater und ihre verlogenen Versuche, die Finanzkrise zur Aktualisierung ihrer verstaubten Inszenierungen zu benutzen. Über die Geschlechterbilder im US-amerikanischen Rock der frühen Siebziger, über das Luxusbiotop Prenzlauer Berg, über Kinder und darüber, wie schwer es ist, das Leben zu leben, das man wirklich will.7
Höhepunkt der auf die Person der Schriftstellerin zugeschnittenen Kampagne bildete die offizielle Präsentation des Romans: Diese fand am »ErwachsenenGeburtstag« der Autorin statt, der »zusammen mit dem Ullstein-Verlag und jeder Menge vor Aufregung hyperventilierender Feuilletonisten besten Alters beim offiziellen Buch-Release ihres Debütromans ›Axolotl Roadkill‹ im Berliner Vintage-Technoclub ›Tresor‹« gefeiert wurde.8 Zu diesem Zeitpunkt war das Interesse an Hegemann bereits durch Plagiatsvorwürfe zusätzlich befeuert worden: Hegemann habe Teile ihres Romans aus Internetblogs übernommen und sei auch mit Zitaten aus anderen Quellen ziemlich lax umgegangen. Der Jungstar und ihr Verlag konterten die teilweise »heftigen Anfeindungen« gelassen.9 Ullstein legte die Quellen offen und stufte das Vorgehen seiner Autorin als legitimes künstlerisches Mittel ein: Der Text folge »in Passagen dem ästhetischen Prinzip der Intertextualität«.10 Die Betroffene selbst zog ihrerseits Kapital aus der Debatte, indem sie die Vorwürfe in der Harald Schmidt Show (mit freundlicher Unterstützung des Gastgebers) selbstironisch kommentierte. Dieser entspannte Umgang mit den Anschuldigungen, den Hegemann zumindest öffentlich zur Schau stellte, ist sicher zu einem großen Teil dem Wissen um die Notwendigkeit medialer Inszenierung zuzuschreiben – und dem Wissen um die Möglichkeiten, die die »populäre Kultur heute [bietet], über die Nutzung disparater Gelegenheitsstrukturen in kurzer Zeit hohe Erträge zu realisieren«.11 5 Tobias Rapp: Das Wunderkind der Bohºme. In: Der Spiegel 3/2010. 6 Ein Gesamtblick auf die Rezensionen würde ergeben, dass die Qualität des Buches durchaus kontrovers diskutiert wurde. 7 Rapp 2010. 8 Jenni Zylka: Endlich voll! In: spiegel-online. 20. Februar 2010. http://www.spiegel.de/kultur/ literatur/0,1518,679232,00.html (Zugriff am 22. November 2010). 9 Olivia Kühni: »Eimerweise Scheiße über mich ausgeschüttet«. In: Basler Zeitung. 1. Mai 2010. 10 Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Berlin 2010, S. 208. Ab der vierten Auflage ist dem Text ein Quellenverzeichnis angefügt, das den oben zitierten Hinweis des Verlags beinhaltet. 11 Sighard Neckel: »Leistung« und »Erfolg«. Die symbolische Ordnung der Marktgesellschaft.
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Angesichts des großen Inszenierungsdrucks, dem die Aktanten im literarischen Feld prinzipiell ausgesetzt sind, muss verwundern, dass über den Bestseller-Autor Walter Moers so gut wie nichts bekannt ist, dass er sich als Schriftsteller aus »Fleisch und Blut«12 der literarischen Öffentlichkeit geradezu entzieht. In einem E-Mail-Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung begründet der Autor diese Tatsache wie folgt: »Ich habe ziemlich früh bemerkt, daß es mir nicht behagt, von wildfremden Menschen auf der Straße erkannt zu werden. Von da an habe ich mich konsequent geweigert, mich für Veröffentlichungszwecke fotografieren zu lassen. Das ist alles. Und jetzt bin ich Dr. Mabuse.«13 Und gegenüber Klaus Nüchtern verteidigt er seine öffentliche NichtPräsenz auf ähnliche Weise: »Ich mag einfach keinen Rummel und es ist mir unangenehm, wenn sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich richtet.«14 Diese Abstinenz ist der Popularität und dem kommerziellen Erfolg seiner Werke keineswegs abträglich gewesen, ganz im Gegenteil: Der Comic Das kleine Arschloch avancierte genauso zum Kult, wie die fürs Kinderfernsehen entwickelte Figur des Käpt’n Blaubär zur Kultfigur wurde. »Ein neuer Comic aus seiner Feder«, so beschreibt Andreas Platthaus in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Phänomen Moers, »ist ein programmierter Bestseller«.15 Gleiches gilt für seine Romane, die nicht nur großes ökonomisches Kapital generieren,16 sondern auch regelmäßig hohes symbolisches Kapital einbringen: So wurde schon der Erstling Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär als besserer Herr der Ringe eingestuft und Die Stadt der Träumenden Bücher als »Meisterwerk«17 gefeiert – als »ein großes, ein reiches, ein sensationelles Buch«18. Die starke Resonanz auf die Moers-Romane kann aber nicht als Beispiel dafür gelten, dass sich auch ohne Inszenierung ein Bestseller bewerkstelligen lässt. Vielmehr zeigt der Fall Moers, wie die öffentliche Unsichtbarkeit des empirischen Autors für eine komplexe Form schriftstellerischer Inszenierung19 genutzt
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In: Eva Barlösius [u. a.] (Hg.): Gesellschaftsbilder im Umbruch. Soziologische Perspektiven in Deutschland. Opladen 2001, S. 245 – 265, hier S. 258. Künzel 2007, S. 10. Volker Weidermann: »Im Jenseits werde ich streng bestraft«. Autor und Zeichner Walter Moers über Bin-Ladin-Comics, Hitler-Musicals und seinen neuen Roman »Rumo«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 20. April 2003. Klaus Nüchtern: Mein Zielpublikum bin ich. Interview mit Walter Moers. In: Falter. 24. März 2003. Andreas Platthaus: Am Bart sollt ihr ihn erkennen. Hitler als Witzfigur : Die Beschäftigung mit Nazis hat im Comic Tradition. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 3. Juli 1998. Der Roman Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär (1999) war dreißig Wochen auf der SpiegelBestsellerliste vertreten, Die Stadt der Träumenden Bücher (2004) 21 Wochen unter den 15 meistverkauften Titeln. Martin Ebel: Einige leben, andere töten. In: Berliner Zeitung. 17. Oktober 2004. Platthaus 2004. Vgl. Christoph Jürgensen u. Gerhard Kaiser (Hg.): Kontroversen – Bündnisse – Imitationen:
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wird – eine Inszenierung, die über die Paratexte (sowohl peritextuell als auch epitextuell) gesteuert wird.20 Kern dieser Inszenierungspraxis ist die Fiktion, der berühmte zamonische Schriftsteller Hildegunst von Mythenmetz habe die Texte verfasst und Moers sei lediglich ihr Übersetzer ins Deutsche, der empirische Autor Moers spaltet sich also in zwei Autorfiguren auf.21 Diese ›Schizophrenie‹ erweist sich für die Positionierung der Romane im literarischen Feld als äußerst produktiv, wobei sich zwei konträre Inszenierungsformen differenzieren lassen: Über die Peritexte werden im Konsens der beiden Autorinstanzen die Koordinaten schriftstellerischer Arbeit dargelegt, und zwar sowohl was die Poetologie der Texte als auch das Selbstverständnis literarischer Kommunikation angeht. Die Epitexte, und vor allem diejenigen zu Walter Moers fünftem ZamonienRoman Der Schrecksenmeister (2007), stellen medienwirksam einen Dissens der Autoren zur Schau – und auf diesem Wege gleichzeitig mediale Aufmerksamkeit für die Romane her.
Peritextuelle Inszenierung Ein besonders komplexer stofflicher Vermittlungszusammenhang wird im Peritext des Romans Der Schrecksenmeister fingiert, was bereits der Titelzusatz zu erkennen gibt: »Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers«. Im Titel wird also eine zweifache Vermittlung der ursprünglichen Geschichte behauptet. Der Text, gemeint ist die »schmale Märchennovelle« »Echo, das Krätzchen«, stamme ursprünglich von Gofid LetGeschichte und Typologie schriftstellerischer Inszenierungspraktiken. Heidelberg 2011 [im Erscheinen]; vgl. insbes. die einleitend vorgestellte Typologie. Zum Begriff der Autorschaftsinszenierung vgl. außerdem Felix Steiner : »Der Schöpfung Grundriss übersehn.« Autorschaftsinszenierungen in literarischen und wissenschaftlichen Texten um 1750. In: Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Leitbegriff. Hg. v. Barbara Sabel u. Andr¤ Bucher. Würzburg 2001, S. 200 – 220, hier S. 205. Steiner geht davon aus, dass Inszenierung von einem »Analysanten in einem sekundären Akt der Eigenschaftszuschreibung erst als das erkannt [werden muss], was sie sein könnte und sie [nicht] unbedingt an Intention oder Bewusstsein gebunden sei. Es bedarf eines Interpretationsaktes, um das, was aus Texten an autorschaftlichen Inszenierungssignalen hindurchtönt, zu benennen.« 20 In Seuils definiert G¤rard Genette den Paratext als Beiwerk, »durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt« (Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2001, S. 10). Diesen Paratext differenziert er in den Peritext (Elemente, die in unmittelbarer Nähe zum Haupttext auftreten wie etwa Motti, Klappentexte, Vor- oder Nachworte) und in Epitexte, womit mittelbare Kommentierungen des Textes verstanden werden (z. B. Interviews). 21 Diese Illusion wird nur im äußersten Paratext der Romane gebrochen: Auf dem Schutzumschlag der Originalausgaben firmiert Walter Moers als tatsächlicher Urheber der Texte.
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terkerl, dem »Klassiker der zamonischen Literatur« (SM 379), sei dann von Mythenmetz neu erzählt und schließlich von Moers übersetzt worden. Auffällig ist die strukturelle Homologie der ›Übersetzungsschritte‹, die im »Nachwort« des Autors Mythenmetz (SM 379 f.) und in den »Anmerkungen des Übersetzers« Moers (SM 382 f.) konstruiert wird, präziser : Mythenmetz verhält sich zu Gofid Letterkerls Urtext nahezu wie Moers zum Text von Mythenmetz. Das Konzept beider Übertragungen beruht, so lässt sich die Strukturhomologie näher bestimmen, auf den Prinzipien der Tradierung und Aktualisierung (bzw. Modernisierung) alter Erzählungen. Die modernistische Anverwandlung des Klassikers rechtfertigt Mythenmetz damit, dass der Stil des alten Meisters Letterkerl so sperrig wie ein Kleiderschrank [sei]. Mich hat dieser Stil immer in höchste Verzückung versetzt […]. Aber bei unserem modernen Lesepublikum, und vor allem bei jungen Lesern, könnte ich mir vorstellen, dass Letterkerls sprachliche Exzentrik eher dazu angetan ist, es in die Arme von gewissen Trivialautoren zu treiben […]. (SM 379)
Deshalb überträgt er den Text in ein »zeitgemäßeres Neuzamonisch […], um die Novelle« – und hier formuliert der Autor seine Intention der Traditionsbildung – »ins kollektive Bewusstsein zu rufen und ihr hoffentlich zu frischer Popularität zu verhelfen« (SM 380). Diesem Bestreben sei auch der veränderte Titel des Romans geschuldet: Ich gestehe gerne, dass ich es auch der Verkäuflichkeit halber Der Schrecksenmeister genannt habe – denn wer kauft heutzutage schon ein Buch, weil es von einem harmlosen Krätzchen handelt? Ein Schrecksenmeister aber verheißt schon auf den ersten Blick mysteriöse Ereignisse, abenteuerliche Alchimie und haarsträubenden Grusel. Geben Sie es also ruhig zu, wenn Sie das Buch nur wegen des Titels in die Hand genommen haben! Und schämen Sie sich dafür, dass Sie ein Werk, das vom Orm nur so strotzt, bisher nicht angerührt haben, weil Ihnen der Titel nicht reißerisch genug war! (SM 380)
Mythenmetz rechtfertigt den Titel in erster Linie mit einem Verkaufsargument, verknüpft dieses aber mit dem Anspruch, Literaturklassiker in der Gegenwart populär zu machen. Damit ist nicht nur die Einsicht ausgedrückt, den ökonomischen Gegebenheiten des literarischen Marktes Rechnung zu tragen,22 sondern auch eine wesentliche Dimension des ›Übersetzungsprogramms‹ umrissen, das im Folgenden noch konkretisiert wird. Mythenmetz habe sich die 22 Vgl. auch den Roman Die Stadt der Träumenden Bücher, in dem an zahlreichen Stellen Kritik an einem Literaturmarkt geäußert wird, der sich den Gesetzen der Ökonomie unterwirft (vgl. hierzu den Beitrag von Tim-Florian Goslar im vorliegenden Band). In der Wahl eines resonanzfördernden Titels demonstriert Mythenmetz einen pragmatischen Umgang mit diesem Tatbestand; die Strukturen des Marktes werden hier grundsätzlich anerkannt und für den eigenen Vorteil genutzt.
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Freiheit genommen, »Gofid Letterkerls Erzählung hier und da ein wenig improvisierend zu ergänzen. Denn wo bliebe sonst die kreative Eigenleistung?« (SM 380) Die Übersetzung buchstabiert also nicht bloß die ursprüngliche Erzählung nach, sondern wird vielmehr als künstlerischer Akt, als »kühne[] Bearbeitung« (SM 380) verstanden. Der Schriftsteller als Übersetzer ist in diesem Selbstverständnis Handwerker und kreativer Schöpfer zugleich. Im zweiten Übersetzungsschritt wird dieses Konzept noch stärker in Richtung Handwerk verschoben, was im Paratext dadurch kenntlich gemacht wird, dass die Mythenmetz-Adaption als Erzählung, der Moers-Text hingegen lediglich als Übersetzung und Illustration der Mythenmetz-Geschichte bezeichnet ist. Doch auch Moers betont, dass er nicht bloß Transkribent und Herausgeber eines Klassikers ist. Wie Mythenmetz hat auch er in den Text eingegriffen, mit demselben Ziel wie der zamonische Meisterdichter : Gofid Letterkerl – dem großen Vorläufer des Klassikerdichters Mythenmetz – »wieder einmal zu Aufmerksamkeit verholfen zu haben«, oder, wie es an anderer Stelle des Nachworts heißt, ihn ›unsterblich‹ zu machen (SM 383). Dem Übersetzer Moers geht es also um die Bewahrung der Tradition im doppelten Sinne, denn dem Leser soll Letterkerl und Mythenmetz näher gebracht werden. Um aber im gegenwärtigen literarischen Feld Resonanzgewinne zu erzielen, müsse die »meisterhafte Neudichtung« (SM 382) des Letterkerl-Klassikers ›Echo, das Krätzchen‹ modernisiert und stellenweise neu geschrieben werden. Dass der Übersetzer Moers »der üblichen Werktreue« abschwören und das Buch um 700 Seiten kürzen musste, begründet er mit der »stilistische[n] Eigenheit des Meisters«, den sogenannten »Mythenmetzschen Abschweifungen« (SM 382). Diese für heutige Leser lästigen Manierismen seien »dem Lesefluss« abträglich, weshalb er beschlossen habe, sie zu tilgen (SM 382). »Was sich nach einer Arbeitserleichterung anhört, war tatsächlich eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.« (SM 383) Moers habe die »entstandenen Löcher und Brüche in der Übersetzung […] füllen und […] kitten« (SM 383) müssen: Er musste also, um den Klassiker in eine moderne Form zu überführen, kreativ tätig werden. Dass die Poetologie des vom empirischen Autor Moers verfassten Gesamttextes – und damit lässt sich eine dritte homologe Ebene beschreiben – wiederum auf dem Prinzip der Neuübersetzung von Literaturklassikern beruht, ist ebenfalls im Paratext angedeutet. In der »Anmerkung des Übersetzers« wird ein Zitat dem Werk Gofid Letterkerls zugeschlagen, das in Wirklichkeit aus einem Brief Gottfried Kellers stammt.23 Das im Paratext erklärte Ziel, dem Klassiker Letterkerl zu einer Renaissance zu verhelfen, lässt sich demnach auf Gottfried Keller übertragen. Und tatsächlich bestätigt sich dieser rezeptionslenkende 23 Gottfried Keller : An Marie Frisch. In: ders.: Gesammelte Briefe in vier Bänden. Hg. v. Carl Helbling. Bd. 2. Bern 1951, S. 241 f., hier S. 241.
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Hinweis im Akt der Lektüre, erweist sich Der Schrecksenmeister dem Leser als Palimpsest von Gottfried Kellers Spiegel, das Kätzchen (1856).24 Und was für den Schrecksenmeister gilt, gilt in analoger Form für den Roman Ensel und Krete (2000), der sich paratextuell als Neugestaltung des Klassikers Hänsel und Gretel (1812) aus den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen präsentiert. Bemerkenswert an diesen literaturgeschichtlichen Referenzen ist, dass sich sowohl Keller als auch die Brüder Grimm in besonderer Weise als Paten für die Autorschaftsphilosophie der Moers-Romane eignen: Im Vorwort der Kinderund Hausmärchen weisen die Grimms auf das Ziel der Traditionsbildung hin, das mit dem Sammeln und Archivieren alter Volksmärchen verbunden ist.25 Und eine interessante Parallele des Vorworts zu den Moers-Paratexten ist überdies, dass sie die Echtheit der gesammelten Volksstücke behaupten, sich dementsprechend nicht als geniale Autoren, sondern vielmehr als Dienstleister verstehen: »Wir haben uns bemüht«, so skizzieren die Brüder in der Vorrede ihr Literaturprogramm, »diese Märchen so rein als möglich war aufzufassen […]. Kein Umstand ist hinzugedichtet oder verschönert und abgeändert worden, denn wir hätten uns gescheut, in sich selbst so reiche Sagen mit ihrer eigenen Analogie oder Reminiscenz zu vergrößern, sie sind unerfindlich.«26 Ein Seitenblick auf die Editionsgeschichte der Texte zeigt indes, dass die Brüder sehr wohl dichterisch tätig waren; sie nahmen gattungsspezifische Angleichungen, Ergänzungen, Stilisierungen sowie ›Übersetzungen‹ des ursprünglichen Textes in ein modernes romantisches Gewand vor.27 Das Prinzip der Übersetzung lässt sich auch bei Gottfried Keller beobachten: Die Seldwyla-Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856) wird mit dem Hinweis des Erzählers eingeleitet, dass die Anzahl der »Fabeln«, auf die sich das dichterische Werk gründet, »mäßig« sei, »aber sie ereignen sich immer wieder auf ’s Neue mit veränderten Umständen und in der wunderlichsten Verkleidung«.28 Der Erzähler geht also von historisch invarianten Konstellationen aus, die immer wieder neu erzählt werden müssen. Als besonders geeignet für die poetische Selbsterklärung erweisen sich die Bezüge auf Keller und Grimm vor dem Hintergrund, dass sie die fiktive Konstellation Letterkerl–Mythenmetz in einer realen Konstellation abbilden: Kellers Spiegel, das Kätzchen hat nämlich signifikante »Ähnlichkeiten mit dem 24 Vgl. hierzu den Beitrag »›Leichenfledderer sind wir alle.‹ Die Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister« von Gerrit Lembke im vorliegenden Band. 25 Vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Bd. 1. Berlin 1812 – 1815, S. 5 – 22, hier S. 7. 26 Ebd., S. 18. 27 Zur literarischen Praxis Wilhelm Grimms vgl. Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart 2004, bes. S. 94 – 102. 28 Gottfried Keller : Romeo und Julia auf dem Dorfe [ED 1856]. In: ders.: Sämmtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Hg. v. Thomas Böning. Frankfurt a. M. 1989, S. 69 – 144, hier S. 69.
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berühmten Grimmschen Märchen« Hänsel und Gretel, die »unabweisbar machen, wie präsent – in welcher Form auch immer – Gottfried Keller dieser Volksmärchentext war«29. Die schriftstellerische Praxis, wie sie in den Paratexten der Romane präsentiert wird, ist also eine Praxis der stetigen Anverwandlung von Prätexten.30 Im Falle des Schrecksenmeisters wird im Peritext ein solcher Übersetzungsprozess gespiegelt (und potenziert) und damit prinzipiell als unabschließbarer Prozess dargestellt (vgl. Abb. 1). Der Autor ist in diesem Konzept nicht genialer »second maker«31, der aus sich selbst heraus eigene Welten erschafft. Dieses Verständnis ließe sich, wenn überhaupt, noch dem Ursprungstext Gofid Letterkerls zuschreiben;32 in der Folge bildet die Genealogie der Übersetzungen zeichenhaft die Entwicklung hin zu einem Autorschaftskonzept ab, wie es die Literatur der Moderne hervorgebracht hat. Der empirische Autor versteht sich nicht mehr wie etwa noch in der Aufklärung als »der natürliche Vater«33, und er inszeniert auch nicht im Stile der Romantik die bloße »Aneignung des Textes in Form der Adoption«, indem er sich zum Herausgeber stilisiert.34 Vielmehr stellen die Texte von Walter Moers ein ›modernes‹ Modell aus, das den Autor als »selegierende und arrangierende 29 Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. Quellen und Studien. Gesammelte Aufsätze. Trier 2000 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 50), S. 178. 30 Auch die fiktionalen Instanzen repräsentieren grundsätzlich dieses Autorschaftsverständnis, was bereits der Name ›Mythenmetz‹ und der seines Mentors ›Danzelot von Silbendrechsler‹ ausdrückt. Knapp skizziert wird dieses Konzept u. a. in der »halben Biographie des Hildegunst von Mythenmetz« (EK 227 – 255), die dem zamonischen Märchen Ensel und Krete anhängt ist, in der mehrfach auf die erforderlichen Tugenden des Schriftstellers hingewiesen wird: »soldide Handwerkskunst« und »handwerkliche[] Gründlichkeit« (EK 230). In besonders prägnanter Weise wird die Verknüpfung von Handwerk und Kunst im kulinarischen Märchen vom Schrecksenmeister selbstbezüglich herausgestellt, wenn über den Zusammenhang von (Koch)Kunst und Alchimie reflektiert wird: »›Kochen ist Alchimie und Alchimie ist Kochen‹, sagte Eißpin, als er damit begann, Echo das Essen aufzutragen. ›Vertraute Dinge zu vermischen und daraus etwas vollständig Neues schaffen, das ist das Wesen der Kochkunst wie das der Alchimie. In beiden Disziplinen spielen Topf und Flamme eine wichtige Rolle, es geht um das Aufeinanderabstimmen exakt bemessener Zutaten, das Reduzieren von Substanzen, das Kombinieren von Altvertrautem und bahnbrechend Neuem. Winzige Mengen der Zutaten und Sekunden der Garzeit können über Gelingen oder Misslingen entscheiden‹« (SM 34). 31 Der Begriff stammt von Shaftesbury (Soliloquy, or Advice to an Author, 1710): »Such a poet is indeed a second maker ; a just Prometheus under Jove« (zit. nach: Mark-Georg Dehrmann: Das »Orakel der Deisten«. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008, S. 350). Gemeint ist ein Verständnis, das den Künstler als quasi-göttlichen Schöpfer versteht. 32 Dessen empirische Entsprechung Gottfried Keller suggeriert allerdings, dass auch im Falle von ›Echo, das Krätzchen‹ ein Prätext angenommen werden muss. 33 Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008, S. 26. 34 Ebd.
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Abb. 1: Übersetzungsschritte im Schrecksenmeister
editoriale Instanz« begreift, der für seine übersetzende »Tätigkeit« – in diesem Sinne lässt sich das paratextuell entworfene Autorschaftsmodell insgesamt deuten – »den Anspruch auf Autorschaft reklamiert«.35 Und die Moers-Texte weisen noch eine weitere Dimension eines modernistischen Autorbildes auf: Gezeichnet wird ein Bild des Schriftstellers, der seinen Besitzanspruch auf das eigene Werk aufgibt, und mit dieser »Befreiung des Textes von den Fesseln der väterlichen Autorität […] sein Recht über den Leser« verliert.36 Markant wird diese Befreiung im Mythenmetzschen Nachwort zum Schrecksenmeister formuliert: Der Autor immunisiert sich dort gegen den möglichen Kritikereinwand des »geistigen Diebstahl[s]«: »Das Werk von Gofid Letterkerl«, so der Leser und Übersetzer Mythenmetz, »ist rechtefrei! Und: Wie kann man etwas stehlen, das allen gehört? Verklagt mich doch!« (SM 380) Literatur wird demnach als kollektives Gut begriffen – ein Gedanke, der im romantischen Denken angelegt ist und sich in der Moderne verfestigt. Und überdies geht mit der Schwächung des Autors eine Stärkung des Lesers einher, die sich im Nachwort von Die Stadt der Träumenden Bücher als Partizipation des Rezipienten am Produktionsprozess darstellt: »Dullsgard oder Buchhaim? Das 35 Ebd., S. 428. 36 Ebd., S. 26.
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ist hier die Frage. Vielleicht hilft mir ja der eine oder andere Leser in dieser schwierigen Angelegenheit und gibt sein Votum per E-Mail […]. Denn wenn es etwas gibt, was ich hasse, dann sind es Entscheidungen.« (STB 459) Der Leser wird – zumindest scheinbar – in den Prozess literarischer Kommunikation integriert, was die Vermarktungsstrategie der Texte im Internet grundsätzlich aufnimmt. Die ›Nachtschule‹ (www.nachtschule.de), vom Eichborn-Verlag initiiert, ist als soziales Netzwerk konzipiert, das den Usern unter Annahme einer zamonischen Identität Einlass in den Fiktionsraum der Romane gewährt. Ins Konzept dieser interaktiven und demokratischen Literatur passt, dass die Nachtschüler, seit Moers im Jahre 2003 den Verlag gewechselt hat, die Internetseite selbst verwalten.
Epitextuelle Inszenierung Die Veröffentlichung des Romans Der Schrecksenmeister setzt die seit Ensel und Krete peritextuell entworfene Fiktion der doppelten Autorschaft konsequent zur Vermarktung des Textes ein. Das ZDF-Kulturmagazin »Aspekte« strahlte am 24. August 2007 anlässlich der Veröffentlichung des Romans ein Exklusiv-Interview mit Hildegunst von Mythenmetz aus. Damit betrat eine literarische Figur die mediale Bühne, während der Übersetzer Walter Moers (wie auch sein empirisches Pendant), »unter dessen Namen die Romane firmieren […], seit unzähligen Jahren nicht mehr vor ein Mikrofon, geschweige denn vor eine Kamera getreten« ist.37 Mythenmetz präsentiert sich dem Zuschauer zunächst zwar als alter egoFigur des empirischen Autors. Die Inszenierung des Schriftstellers Moers, sein Image in der Öffentlichkeit wird dadurch aufgenommen, dass Mythenmetz als »Großmeister«38 im Legen falscher Spuren bezeichnet wird. Jedoch tritt in der Person Mythenmetz kein öffentlichkeitsscheuer Schriftsteller ins mediale Rampenlicht, sondern ein Autor, der sich in Szene zu setzen versteht und auf diese Weise Politik für sein Werk betreibt: Er verkauft sich dem Zuschauer als epochaler Klassiker-Autor, der Goethe literarisch überlegen ist. Ausdruck dieser Hybris ist die buchstäbliche Verwerfung eines Goethe-Buches,39 womit sich 37 Drachengespräche. Ein Gespräch mit Hildegunst von Mythenmetz, dem dichtenden Lindwurm von Walter Moers (Achim Zeilmann, D 2007). 38 Vgl. Andreas Platthaus: Zum Dichten geboren, zum Leser bestellt. Ein sensibler Lindwurm: Walter Moers verzaubert mit seinem neuen Roman aus Zamonien. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 11. Oktober 2004. Platthaus bezeichnet Moers als »Meister des Versteckspiels«. 39 Provokant wirft Mythenmetz in den Drachengesprächen einen Goethe-Band in die Ecke, um der These Ausdruck zu verleihen, dass sich die deutsche Literatur zur zamonischen Literatur
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Mythenmetz zum besseren Dichterfürsten stilisiert. Und überdies bedient er den Topos vom verkannten Genie: Das Epochale seiner Werke könne von der heutigen Leserschaft überhaupt nicht erkannt werden, sondern erschließe sich erst künftigen Lesergenerationen. Diese allein schon resonanzträchtige Selbstdarstellung wird ergänzt durch die Inszenierung eines handfesten Literaturstreits – und zwar zwischen dem zamonischen Großdichter Mythenmetz und seinem Übersetzer. Schon im erwähnten Fernseh-Interview lässt sich Mythenmetz zu inhaltsleeren Schimpftiraden gegen seinen Übersetzer Moers hinreißen, der eigentliche Gegenstand des Disputs wird in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachgereicht. Unter dem Titel »Natürlich bleibt Ihr Buch ein Schmarrn«, kritisiert der Autor seinen Übersetzer, »Moers habe für seine eigenen Bücher die mythenmetzschen schamlos plagiiert und außerdem schlampig übersetzt. Er lehne jeden Kontakt mit Moers ab«.40 Bemerkenswert an diesen Vorwürfen ist, dass Mythenmetz genau dasjenige beklagt, was er im Nachwort des Schrecksenmeisters selbst für sich in Anspruch genommen hat, nämlich die Modernisierung eines Klassikers zu betreiben, der ›allen‹ gehöre. Was innerhalb der Peritexte als konsensfähige Schreibpraxis erscheint, wird hier zum Anlass heftiger Anschuldigungen, gegen die sich der Übersetzer Moers inhaltlich in der Zeit zur Wehr setzt.41 Mythenmetz selbst habe sich punktuell der Technik des ›Abschreibens‹ bedient. Um diesen Sachverhalt zu illustrieren, zitiert Moers den Auftakt von Mythenmetz’ »wundervolle[m] Märchen[] Der Wald der Mondscheinminen«, der ursprünglich von Hubert Jamser stamme, einem Autor, der »lange vor Mythenmetz wirkte und schrieb.«42 Moers outet den Dichter demnach zwar als Plagiator (»Aber auch wer kleine Äppel klaut, ist ein Dieb – oder?«43), rechtfertigt aber prinzipiell die literarische Technik des Zitierens ganz im Sinne der Peritexte: »Wer kann reinen Gewissens behaupten, ausschließlich aus sich selbst zu schöpfen? Wer wirft den ersten Stein? Ich bestimmt nicht.«44 Wie in Peritexten, so wird auch hier die Gültigkeit des klassischen Geniegedankens verabschiedet, was wiederum nicht nur im Rahmen der fiktionalen Autorschaft geschieht, sondern auch auf die Realität der literarischen Praxis bezogen wird:
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verhalte »wie eine Mücke zu einem Elefanten. Wer bei Ihnen als Genie gilt, darf bei uns die Klappentexte zu meinen Romanen schreiben.« Ders.: Moers trifft Mythenmetz. Natürlich bleibt Ihr Buch ein Schmarrn. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 4. Oktober 2007. Walter Moers: Stellen Sie sich, Herr von Mythenmetz! Eine Erwiderung auf die haltlosen Vorwürfe des größten zamonischen Dichters. In: Die Zeit. 23. August 2007. Ebd. Ebd. Ebd.
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Ist nicht letztendlich jede Reiseerzählung eine Odyssee? Ist nicht jedes epische Märchen ein Abklatsch der Nibelungen- oder Artussage? Jede Detektivgeschichte ist Edgar Allan Poe zu verdanken, der das Genre erfand. Und jedes Werk der Science-Fiction schuldet seine Existenz eigentlich Shakespeares Sturm. Sind deshalb alle Autoren von Märchen, von Detektiv- oder Science-Fiction-Romanen Diebe und Plagiatoren?45
Dass hier nicht nur der Übersetzer, sondern auch der Autor Moers spricht, signalisiert der Text dadurch, dass sich das Jamser-Zitat bei näherer Betrachtung als eigene Übersetzung des Anfangs von James Thurbers The White Deer (1945), also eines real existierenden Romans entpuppt. Durch die Ausstellung eines zweifachen Plagiats (Mythenmetz plagiiert Jamser, Moers übersetzt Thurber) wird die Mythenmetzsche Selbstdarstellung und gleichsam jedes zur Schau stellen von Originalität als scheinheilige schriftstellerische Inszenierung entlarvt und damit das Autorschaftsmodell der kreativen Anverwandlung, das in den Textrahmen entwickelt wird, prinzipiell gestützt. Die virtuelle Debatte zwischen dem redlichen Handwerker Moers und dem narzisstischen Dichter Mythenmetz demonstriert darüber hinaus, dass zwischen der literarischen Praxis und ihrer öffentlichen Inszenierung eine signifikante Differenz bestehen kann – und im Einzelfall im Interesse der Literatur bestehen muss. Der empirische Autor Moers jedenfalls verzichtet nicht auf Inszenierung, sondern delegiert sie an zwei Instanzen. Diese formulieren im Peritext übereinstimmende poetologische Ziele, nach Außen aber pflegen sie eine literarische Streitkultur und befriedigen damit als Stellvertreter des Autors Moers das Bedürfnis des Betriebs nach Personalisierung und kontroversen Debatten. Auf diese Weise macht sich Walter Moers die Spielregeln des Betriebs zunutze, parodiert aber gleichzeitig eine feuilletonistische Streitkultur, die – wie es der Übersetzer Moers formuliert – darin besteht, sich gegenseitig »die Dolche in den Rücken zu jubeln«.46
Literaturverzeichnis Primärliteratur Grimm, Jacob u. Wilhelm: Hänsel und Grethel [ED 1812]. In: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hg. v. Heinz Rölleke. Frankfurt a. M. 1999, S. 86 – 92. Grimm, Jacob u. Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Bd. 1. Berlin 1812 – 1815, S. 5 – 22. Hegemann, Helene: Axolotl Roadkill. Berlin 2010. 45 Ebd. 46 Ebd.
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Keller, Gottfried: An Marie Frisch. In: ders.: Gesammelte Briefe in vier Bänden. Hg. v. Carl Helbling. Bd. 2. Bern 1951, S. 241 f. Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe [ED 1856]. In: ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Hg. v. Thomas Böning. Frankfurt a. M. 1989, S. 69 – 144. Keller, Gottfried: Spiegel das Kätzchen [ED 1856]. In: ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Hg. v. Thomas Böning. Frankfurt a. M. 1989, S. 240 – 279. Moers, Walter: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des »Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 1999. Moers, Walter: Ensel und Kretel. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 2000. Moers, Walter: Die Stadt der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. München 2004. Moers, Walter: Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers. München 2007. Moers, Walter: Stellen Sie sich, Herr von Mythenmetz! Eine Erwiderung auf die haltlosen Vorwürfe des größten zamonischen Dichters. In: Die Zeit. 23. August 2007. Thurber, James: The White Deer. New York 1945. Tolkien, John Ronald Reuel: The Lord of the Rings. London 1954 f.
Sekundärliteratur Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a. M. 1999. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a. M. 2001. Dehrmann, Mark-Georg: Das »Orakel der Deisten«. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008. Ebel, Martin: Einige leben, andere töten. In: Berliner Zeitung. 17. Oktober 2004. Franck, Gustav : Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München/Wien 1998. Genette, G¤rard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2001. Jürgensen, Christoph u. Gerhard Kaiser (Hg.): Kontroversen – Bündnisse – Imitationen: Geschichte und Typologie schriftstellerischer Inszenierungspraktiken. Heidelberg 2011 [im Erscheinen].
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Kühni, Olivia: »Eimerweise Scheiße über mich ausgeschüttet«. In: Basler Zeitung. 1. Mai 2010. Künzel, Christine: Einleitung. In: Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Hg. v. Christine Künzel u. Jörg Schönert. Würzburg 2007, S. 9 – 23. Neckel, Sighard: »Leistung« und »Erfolg«. Die symbolische Ordnung der Marktgesellschaft. In: Eva Barlösius [u. a.] (Hg.): Gesellschaftsbilder im Umbruch. Soziologische Perspektiven in Deutschland. Opladen 2001, S. 245 – 265. Nüchtern, Klaus: Mein Zielpublikum bin ich. Interview mit Walter Moers. In: Falter. 24. März 2003. Platthaus, Andreas: Am Bart sollt ihr ihn erkennen. Hitler als Witzfigur : Die Beschäftigung mit Nazis hat im Comic Tradition. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 3. Juli 1998. Platthaus, Andreas: Zum Dichten geboren, zum Leser bestellt. Ein sensibler Lindwurm: Walter Moers verzaubert mit seinem neuen Roman aus Zamonien. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 11. Oktober 2004. Platthaus, Andreas: Moers trifft Mythenmetz. Natürlich bleibt Ihr Buch ein Schmarrn. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 4. Oktober 2007. Rapp, Tobias: Das Wunderkind der Bohºme. In: Der Spiegel 3/2010. Raupp, Juliana: Medialisierung als Parameter einer PR-Theorie. In: Theorien der Public Relations. Grundlagen und Perspektiven der PR-Forschung. Hg. v. Ulrike Röttger. 2. Aufl. Heidelberg 2009, S. 265 – 284. Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Quellen und Studien. Gesammelte Aufsätze. Trier 2000 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 50). Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart 2004, bes. S. 94 – 102. Steiner, Felix: »Der Schöpfung Grundriss übersehn.« Autorschaftsinszenierungen in literarischen und wissenschaftlichen Texten um 1750. In: Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Leitbegriff. Hg. v. Barbara Sabel u. Andr¤ Bucher. Würzburg 2001, S. 200 – 220. Weidermann, Volker : »Im Jenseits werde ich streng bestraft«. Autor und Zeichner Walter Moers über Bin-Ladin-Comics, Hitler-Musicals und seinen neuen Roman »Rumo«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 20. April 2003. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008.
Andere Medien Drachengespräche. Ein Gespräch mit Hildegunst von Mythenmetz, dem dichtenden Lindwurm von Walter Moers (Achim Zeilmann, D 2007). www.nachtschule.de (Zugriff am 14. Oktober 2010). Zylka, Jenni: Endlich voll! In: spiegel-online. 20. Februar 2010. http://www.spiegel.de/ kultur/literatur/0,1518,679232,00.html (Zugriff am 22. November 2010).
Anne Hillenbach
Intermedialität in Walter Moers’ Zamonien-Romanen
Eine literaturwissenschaftliche Analyse von Walter Moers’ Zamonien-Romanen lässt sich kaum ohne eine Betrachtung ihrer zahlreichen intermedialen Phänomene denken. Die Überschreitung von Mediengrenzen bildet vielleicht sogar das auffälligste Merkmal von Walter Moers’ literarischer Gestaltung des zamonischen Kontinents und seiner Helden. Im Folgenden soll deutlich gemacht werden, welche Formen von Intermedialität in Walter Moers’ Zamonien-Romanen realisiert werden und welche Funktionen diese für die Sinnkonstitution der Erzählungen erfüllen. Intermediale Kunstwerke betonen meist »die Differenz der an einem Zusammenspiel beteiligten Medien«1, wohingegen dem vorliegenden Aufsatz die These zugrunde liegt, dass in den vorliegenden Romanen weniger ein Spannungsverhältnis besteht, sondern vielmehr ein Zusammenspiel der Medien untereinander dominiert. Es soll gezeigt werden, dass differente Medien in Moers’ literarischem Werk eine Symbiose eingehen und dass die Romane gerade die Schnittstellen und Interaktionen zwischen den Künsten in den Vordergrund stellen. Die drei großen Phänomenbereiche des Intermedialen, nämlich Medienwechsel, intermedialer Bezug und Medienkombination, spielen in unterschiedlicher Gewichtung eine Rolle in Moers’ Romanen.2 Während der Medienwechsel als Transponierung eines Stoffes von einem Medium (hier : einer Fernsehserie) in ein anderes (hier : die Literatur) nur für den ersten ZamonienRoman (Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär) konstitutiv ist, so bestimmen Medienkombinationen und intermediale Bezüge die literarisch-künstlerische Gestaltung aller Romane des Autors.
1 Annette Simonis: Einleitung. In: dies.: Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien. Bielefeld 2009, S. 9 – 17, hier S. 13. 2 Vgl. hier beispielsweise Irina O. Rajewsky : Intermedialität. Tübingen/Basel 2002, S. 15 – 18.
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Medienwechsel 1999 erscheint Walter Moers’ erster Zamonien-Roman mit dem Titel Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die Figur des Blaubären ist dem Rezipienten bereits aus den TV-Episoden der Sendung mit der Maus bekannt. Hier erzählt ein Blaubär seinen Enkeln unglaubliche Geschichten aus seiner Zeit als Seefahrer. Die Figuren werden mit Handpuppen dargestellt, die Geschichten des Blaubären erscheinen als Zeichentrickfilm. Auf der einen Seite stellt es für Moers einen gewagten Schritt dar, seine Figur aus einer Kindersendung zum Protagonisten eines Romans zu machen,3 unter anderem, weil sich das Buch – im Gegensatz zur TV-Sendung – nicht nur an Kinder, sondern auch an jugendliche und erwachsene Leser richtet. Auf der anderen Seite hat die Popularität der Figur dem Roman aber zu einer hohen Aufmerksamkeit verholfen. Das Werk befindet sich folglich in einer Situation, die mit einem Medienwechsel typischerweise einhergeht: Wichtige Charaktere sind dem Rezipienten bereits bekannt, er kann nun der Modifizierung des Charakters in einem anderen Medium positiv oder negativ gegenüberstehen. Nicht selten wird das ›Original‹ als höherwertig im Vergleich mit der nachträglichen Adaption angesehen.4 Im Fall von Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär hat Moers jedoch fast ausschließlich positive Kritiken geerntet.5 Mit der Übertragung der Fernsehfigur in einen Roman nimmt Walter Moers grundsätzlich einen Medienwechsel vor. Medienwechsel sind intermediale Phänomene, bei denen ein bereits bestehendes Werk in ein anderes Medium übersetzt wird. Daher sind Medienwechsel durch ihren Produktionsprozess als intermedial zu bezeichnen, also durch »den Prozess der Transformation eines medienspezifisch fixierten Prä›textes‹ bzw. ›Text‹substrats in ein anderes Medium«6. Moers überträgt nun aber nicht die TV-Geschichten in einen Roman, sondern übernimmt nur die Hauptfigur. Er schildert deren Vergangenheit, ohne dass sich die Geschichten des Romans mit den Geschichten, die der Blaubär in der Sendung mit der Maus erzählt, decken würden. Die Annahme, dass der Blaubär des Romans nur bedingt etwas mit dem Käpt’n Blaubär der Sendung mit der Maus zu tun habe,7 ist allerdings irreführend. Moers verbindet ›beide‹ Figuren auf subtile Weise. Im Vorwort des Romans teilt der Ich-Erzähler Käpt’n Blaubär unter anderem mit, dass ein Blaubär 27 3 Hier wird auf andere Medienwechsel, wie z. B. die Transformation des Romans in ein Musical (2006) durch Martin Lingnau und Heiko Wohlgemuth nicht eingegangen. 4 Vgl. zu dieser Problematik beispielsweise Anne Bohnenkamp: Literaturverfilmungen als intermediale Herausforderung. In: dies.: Literaturverfilmungen. Stuttgart 2005, S. 9 – 38. 5 Vgl. hierzu die Einleitung des vorliegenden Bandes von Gerrit Lembke. 6 Rajewsky 2002, S. 16. 7 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Moers (Zugriff am 31. August 2010).
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Leben habe, er davon aber, um mysteriös und attraktiv zu bleiben, nur die Hälfte schildern wolle (KBB 6). So bleibt diese Hälfte ein spekulatives Desiderat des Lesers, der das ›TV-Leben‹ des Käpt’n als Leben der verschwiegenen Hälfte annehmen kann. Außerdem gibt Blaubär im Vorwort an: »nicht umsonst steht mein Haus auf einer hohen Klippe, und nicht umsonst ist es ein immer noch seetüchtiges Schiff« (KBB 6). In der Sendung mit der Maus lebt der Blaubär in gehobenem Alter mit seinen drei Enkeln in dem auf einer Klippe gestrandeten Schiff ›Elvira‹. Ein weiterer Bezug zur Sendung wird dadurch hergestellt, dass der Käpt’n im Roman äußert: »Ich müßte lügen (und es ist ja hinlänglich bekannt, daß das nicht meiner Natur entspricht), wenn ich behaupten würde, meine ersten dreizehneinhalb Leben wären ereignislos verlaufen.« (KBB 6) Es ist ein Clou in der Kindersendung, dass der Blaubär stets des Lügens bezichtigt wird, im letzten Moment aber immer die Wahrhaftigkeit seiner Erzählungen bestätigt wird. Im Roman wird also ganz bewusst ein ironischer Bezug zur Fernsehsendung hergestellt.8 Der Leser des Romans kann sein Wissen über den Blaubären in die Lektüre miteinbeziehen und sich vorstellen, wie der gealterte Blaubär des Fernsehens seine ersten dreizehneinhalb Leben verbrachte. In diesen literarischen ›Leben‹ findet der Leser unter anderem auch eine Erklärung, warum der Blaubär so gut Lügengeschichten erzählen kann und warum diese nicht unbedingt erfunden sein müssen.9 Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär bietet folglich eine besondere Form des Medienwechsels, in der zwar Bezüge zwischen dem Ausgangsmedium und der fremdmedialen Adaption hergestellt werden, in der aber ganz unterschiedliche Inhalte vermittelt werden. Anstelle einer bimedialen Konkurrenzsituation besteht eher ein symbiotisches Nebeneinander der beiden Medien. Der Leser kann nicht entscheiden, in welchem Medium die Botschaften ›gelungener‹ transportiert werden; nicht nur, weil eine übergeordnete, be- oder entglaubigende Instanz fehlt, sondern auch, weil eben Aussagen über unterschiedliche Referenzbereiche getroffen werden. In Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär erprobt Moers also eine Form des Medienwechsels, die in gewisser Weise als ›eingeschränkt‹ zu bezeichnen ist. Moers übersetzt nicht ein Werk vollständig in ein anderes Medium, sondern ermöglicht vielmehr einer aus dem Fernsehen bekannten Figur weitere ›Leben‹ innerhalb des neuen Mediums. Auch die Fern8 Zum unzuverlässigen Erzählen in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär vgl. den Beitrag von Eva Kormann im vorliegenden Band. 9 Ich spiele an dieser Stelle auf die Zeit an, in der sich der Blaubär hochgradig erfolgreich als Lügengladiator in der zamonischen Stadt Atlantis verdingt. Als ihm während eines Lügenduells keine Geschichten mehr einfallen, beginnt er, ›wahre‹ Geschichten aus seinem Leben zu erzählen, die vom Publikum begeistert als großartige Lügengeschichten gefeiert werden (KBB 588 – 594).
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sehfigur wird dadurch retrospektiv interessanter, dass sie eine äußerst bewegte Vergangenheit erhält. Dadurch, dass die Handlungen, Schauplätze und anderen Charaktere der Fernsehsendung aber keine Rolle im Roman spielen, entsteht kein Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Repräsentationsformen. Außerdem wird eine weitere Trennung zwischen Fernsehsendung und Roman dadurch erreicht, dass die Sendung sich primär an Kinder richtet, wohingegen die Romane auch für ein jugendliches und erwachsenes Publikum konzipiert sind.10
Intermedialer Bezug Moers bezieht sich in seinen Zamonien-Romanen nicht nur auf andere literarische Texte, sondern auch auf weitere Medien, wie zum Beispiel Film oder Musik. Die intermedialen Bezüge bestehen hier sowohl in Einzelreferenzen als auch Systemreferenzen.11 Als Beispiel für eine Systemreferenz, worunter der Verweis auf ein gesamtes künstlerisches System verstanden wird, sollen hier exemplarisch Bezüge der Zamonien-Romane zur Musik analysiert werden. Musik wird in diesen als ein narratives Medium konstruiert, das der Literatur im Erzählen von Geschichten nicht nachsteht. Moers bezieht sich damit auf Ideale der Renaissance, die die Musik als Schwesterkunst der Poesie begreifen. Hildegunst von Mythenmetz, der Held in Moers’ Roman Die Stadt der Träumenden Bücher, wohnt im Park der Stadt Buchhaim einem Trompaunenkonzert bei (STB 114 – 130). Das Konzert ist keine gewöhnliche Musikveranstaltung, da das Hören der dargebotenen Klänge bei geschlossenen Augen dazu führt, dass vor dem inneren Auge der Rezipienten Geschichten sichtbar werden.12 Der Protagonist ist vom Konzert begeistert: Ich lehnte mich zurück. Das war unglaublich: Musik, die ohne Gesang in der Lage war, erzählerische Inhalte zu vermitteln! Das war besser, als etwas vorgelesen zu bekommen. Das war auch besser als jede herkömmliche Musik. Ja, das war eine neue künstlerische Disziplin: Literarische Musik! (STB 116)
Auch wenn sich die Trompaunenmusik im Laufe der Erzählung als tückisch erweist, so kann der Leser dennoch die Begeisterung des Protagonisten nach10 »Dieser wilden Jagd werden kleine Kinder gerne zuhören, und Erwachsene werden sie gerne selber lesen.« Andreas Platthaus: Wenn der Stollentroll kommt. Endlich: Die wahre Geschichte des Käpt’n Blaubär. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 23. März 1999. 11 Vgl. zu den Begriffen ›Einzel‹- und ›Systemreferenz‹ Rajewsky 2002, S. 19 (Schema 2). 12 Vergleiche mit dem Film sind für den Rezipienten natürlich denkbar, jedoch ist das Medium ›Film‹ dem Protagonisten unbekannt. In der bücherverrückten Stadt Buchhaim ist ein Vergleich mit dem ebenfalls innere Bilder evozierenden Medium Literatur naheliegender.
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vollziehen. Dieser betont die Narrativität von Musik und spielt diese somit nicht gegen die Literatur aus, sondern verweist vielmehr auf die Gemeinsamkeiten der beiden Medien. Musik und Literatur verschmelzen an dieser Stelle zu einem eigenen, neuartigen Medium der Kunst. Es ist unter anderem das Evozieren von Bildern, das die beschriebene Musik mit der Literatur verbindet. Da die Literatur auf der Kombination sprachlicher Zeichen beruht und da diese Zeichen »eine Vorstellung und ein Lautbild«13 miteinander verknüpfen, besitzt die Literatur eine große Affinität dazu, Bilder vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Das Wort selbst bleibt nur eine Aneinanderreihung von Lauten, die mit dem, was es bezeichnet, in keinem Ähnlichkeitsverhältnis steht. Daher benötigt der Mensch ein zwischengeschaltetes inneres Bild, um die Beziehung vom Signifikanten zum Referenten herstellen zu können. Auf die gleiche Weise wie das sprachliche Zeichen konstruiert Moers nun auch die Musik. Die Töne des Trompaunenkonzerts lösen bei ihrem Hörer innere Bilder und Vorstellungen aus, als ob sie sprachliche Zeichen wären. Töne werden vom Rezipienten in Bilder übersetzt, die sogar in einem erzählerischen Zusammenhang stehen können. Töne funktionieren hier wie Worte, Melodien funktionieren wie Satzgefüge. Ein Vorteil der beschriebenen Musik liegt nun aber darin, dass sie auch ohne die inneren Bilder ästhetisch wirksam sein kann. Auch als Mythenmetz die Musik kurz mit geöffneten Augen verfolgt, wirken die Töne auf ihn »anrührend und rein« (STB 116). An dieser Stelle lässt sich wiederum eine Brücke zur Lyrik schlagen, der ebenfalls eine ästhetische Wirkung durch Klang gattungstheoretisch zugewiesen wird. Die Verwendung und Ordnung der sprachlichen Zeichen bildet im Gedicht ein ästhetisches Kunstwerk, das auch auf den Betrachter wirken kann, wenn der Sinn der Worte, beispielsweise in einer fremden Sprache, nicht verstanden wird. Der Verstehensprozess von Lyrik und Musik wird hier folglich als verwandt konturiert. Das Trompaunenkonzert ist aber nicht das erste oder einzige Mal, dass Moers der Musik die Fähigkeit zuspricht, Geschichten zu evozieren. Ähnliches wie beim Trompaunenkonzert geschieht auch in Die 1312 Leben des Käptn’ Blaubär : Um an eine Landkarte zu kommen, die den Käpt’n aus dem Labyrinth eines Bolloggkopfes herausführen kann, nimmt der Blaubär einen Job als Traumkomponist an. An der Traumorgel werden im Mikrokosmos des Bolloggschädels Träume erzeugt. Auch wenn die Traumorgel kein wirkliches Instrument darstellt, sondern vielmehr »einen großen bunten Knoten von Tausenden von Nervenenden in einem Hohlraum hinter dem Bolloggauge« (KBB 424) be13 Ferdinand de Saussure: Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. In: Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Charles Sanders Peirce bis zu Umberto Eco und Jacques Derrida. Hg. v. Dieter Mersch. Übers. v. Herman Lommel. München 1998, S. 193 – 215, hier S. 199.
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zeichnet, so bestimmen dennoch Musikmetaphern die Schilderung dieser Episode aus dem Leben des Blaubären. Dieser hat sich an der Traumorgel zum Ziel gesetzt, »die scheinbar unzusammenhängenden Bilder zu einem sinnvollen Ganzen zu komponieren, den Träumen Handlungen zu verleihen, Geschichten zu konstruieren« (KBB 424).14 Der Blaubär entdeckt nach einiger Zeit auch Nervenenden im Schädel des Bolloggs, die Töne hervorrufen können. Nun gelingt es ihm, die Träume musikalisch zu begleiten. Er spricht davon, dass die von ihm komponierten Träume immer »komplexer, fast symphonisch« (KBB 426) werden. Auch wenn die Beschreibungen der Traumkompositionen den Rezipienten in jedem Fall auch an das Medium ›Film‹ erinnern,15 so entstammen die Metaphern zur Beschreibung der Tätigkeit des Blaubären dem Bildbereich der Musik. Auf diese Weise werden Musik und Narrativität zusammengeführt und die Fähigkeit, Geschichten zu evozieren, nicht nur dem literarischen, sondern auch dem musikalischen Medium zugesprochen. Moers setzt sich in seinem literarischen Werk indirekt, und vielleicht sogar unbewusst mit transmedialen Erzähltheorien auseinander, die Narrativität nicht mehr als ein genuin literarisches Element begreifen.16 Durch Traumorgel und Trompaunenkonzert verweist er auf, zugegebenermaßen phantastische, Möglichkeiten, Narrativität durch Musik (und Film) zu erzeugen. Die unterschiedlichen Medien dienen an dieser Stelle also einem gemeinsamen Zweck, nämlich den Rezipienten in das Reich der Geschichten zu entführen.
Medienkombination »Rumo konnte gut kämpfen« (R 16). Mit diesen Worten leitet der Erzähler die Geschichte in Rumo & Die Wunder im Dunkeln ein, und dennoch beginnt der Roman um den zamonischen Wolpertinger nicht mit diesem Satz. Der Autor stellt dem Text einige Zeichnungen voran, die den Leser auf die kommende Geschichte einstimmen und auf wichtige Elemente der Handlung bereits vorausdeuten. Nach der Titelei folgt beispielsweise ein emblematisches Phantasiegebilde, dessen einzelne Elemente die Handlung vorwegnehmen: So ist ein Schwertknauf zu erkennen, der beim Leser Erwartungen an Kampf und Heldentaten weckt, aber es wird auch ein Herz gezeigt, das von einem Spruchband 14 Hervorhebung von mir; A. H. 15 Insbesondere dann, wenn deutlich wird, dass die Träume auch für die Bewohner des Bolloggschädels sichtbar werden und der Blaubär seine Träume gleich einem Film dem Publikum vorführt. 16 Vgl. zur transmedialen Erzähltheorie beispielsweise die Arbeiten von Mahne und Ryan; Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen 2007; Marie-Laure Ryan (Hg.): Narrative across Media. The Languages of Storytelling. Lincoln [u. a.] 2004.
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mit dem Namen ›Rala‹ umwickelt ist. Der Leser erfährt bereits an dieser Stelle: In der Geschichte wird es nicht nur um Heldentaten gehen, sondern auch um die Liebe. Die konzeptionelle Verbindung von Text und Bild ist die augenfälligste Form der Mediengrenzen überschreitenden Gestaltungsweise der Zamonien-Romane. Die zahlreichen integrierten Zeichnungen dienen keinesfalls lediglich der Illustration des Textes, auch wenn der Autor sich in der Tradition bekannter Illustratoren versteht. Moers schreibt in seinem ersten Zamonien-Roman, Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär, über Geschehen, die »mit den unzulänglichen Möglichkeiten unserer Sprache kaum zu beschreiben« (KBB 671) seien. Folglich bieten graphische Gestaltungsmittel dem Autor die Möglichkeit, das ›Unaussprechliche‹ im Medium des Bildes zu präsentieren. Die Comictheorie bietet terminologisches Rüstzeug zur Analyse des Verhältnisses von Text und Bild, das auch für die Analyse der Zamonien-Romane gewinnbringend erscheint.17 In einer ›additiven Verbindung‹ beispielsweise verstärkt das eine Medium die Botschaft des anderen. Text und Bild ergänzen einander in ›korrelativen Verbindungen‹, und in ›Montagen‹ werden Geräusche und Lautwörter in den Bildraum integriert und passen sich so der Umgebung an. In der Montage ist die Schrift also nicht nur Bedeutungsträger, sondern gleichzeitig ein ästhetisches Element auf visueller Ebene. Eine additive Verbindung von Text und Bild liegt beispielsweise in Rumo & Die Wunder im Dunkeln vor, wenn das Gasthaus »Zum gläsernen Mann« beschrieben wird. Der Erzähler beschreibt das Gasthaus wie folgt: »Es war nicht gerade fachmännisch aus Baumstämmen zusammengezimmert, mit schrägen Balken, dreieckigen Fenstern und einem absurden Dach« (R 112 f.). Die bildliche Darstellung des Gasthauses zeigt dem Rezipienten nun, wie extrem absurd das Gasthaus gebaut ist. Es wirkt so gruselig und abweisend, dass der Leser bei der Betrachtung sofort ahnt, dass sich hier nichts Gutes ereignen kann. Die Illustration stellt eine Übersteigerung des Textinhalts dar. Wie in allen Zeichnungen seit dem Roman Ensel und Krete wird auch hier deutlich, dass der Autor und Illustrator Moers den Abbildungen große Aufmerksamkeit gewidmet hat. Es ist erkennbar, dass Moers sehr detailliert mit feinen Tuschestiften gearbeitet hat. Er selbst gibt in einem Interview an, »das Ausmaß der Detailarbeit im Text in den Illustrationen«18 widerspiegeln zu wollen. Er gibt an dieser Stelle ebenfalls an, ein halbes Jahr an den Illustrationen für Rumo gezeichnet zu haben.19 Damit wird deutlich, dass die Illustrationen 17 Vgl. beispielsweise Scott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Übers. v. Heinrich Anders. Hamburg 2007. 18 Klaus Nüchtern: Mein Zielpublikum bin ich. Interview mit Walter Moers. In: Falter. 24. März 2003. 19 Ebd.
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keineswegs nur dem Text untergeordnetes Beiwerk sind, sondern ein Teil der künstlerischen Praxis, die das Buch bestimmt. Die Zeichnung wiederholt nicht einfach die Beschreibungen des literarischen Textes, sie ist eigenständiges Kunstwerk und keinesfalls bedeutungslos. In dem genannten Beispiel schafft die Zeichnung durch das unwirtliche Aussehen des beschriebenen Gasthauses eine bedrohliche Atmosphäre, der sich der Leser des Textes durch den lebendigen visuellen Eindruck kaum entziehen kann. Für die These der eigenständigen Bedeutungsdimension der Illustrationen spricht auch die Tatsache, dass Moers die Zeichnungen nutzt, um auf bekannte Meisterwerke der Kunstgeschichte zu rekurrieren. Als Rumo in Untenwelt die Kalten Kavernen durchschreitet, ist der Wolpertinger beunruhigt: Zwar wird das Eis unter seinen Füßen immer fester, doch mit der zunehmenden Dicke des Eises entdeckt er auch immer mehr Tiere, die unter ihm im Eis eingeschlossen sind. Moers illustriert die Kalten Kavernen durch eine Zeichnung, die stark an Caspar David Friedrichs Eismeer (1823/24) erinnert (R 452 f.). Auch auf diesem Gemälde türmen sich Eisschollen zu bedrohlichen spitzen Erhebungen auf. Im Bildhintergrund ist ein Schiff zu erkennen, das im Eismeer gescheitert ist. Caspar David Friedrich erwog für sein Gemälde neben Eismeer auch den Titel Gescheiterte Hoffnung,20 der sich auf den missglückten Versuch der Schiffsbesatzung bezieht, das vereiste Meer erfolgreich zu durchqueren. Diese Implikationen zeigen die Gefahr der Mission Rumos deutlich auf. Doch Moers lässt seinen Helden nicht nur im Eis einbrechen. Die Gefahr geht vor allem von den bedrohlich wirkenden, messerscharf aufgetürmten Eisschollen aus. Es sind lebende Wesen, Frostfratten, die Jagd auf den Wolpertinger machen. Die aufgetürmten Schollen aus Friedrichs Eismeer werden in Rumo zu einer physischen Gefahr, die die Bedrohlichkeit ihres Äußeren lebendig werden lässt. Diese Medienkombination ist auch eine Verbindung von Hoch- und Populärkultur, wie sie der Autor bereits in seinen Comics praktiziert.21 Die Verbindung von Text und Bild beginnt für Moers allerdings nicht erst bei der Illustration des Textes. Wer einen Zamonien-Roman in die Hand nimmt, wird auf den ersten Blick feststellen, dass es dem Autor nicht nur um einen ›guten literarischen Text‹ geht, sondern auch um eine ästhetische Gestaltung des Buches. Moers stellt fest: »Ich lege viel Wert darauf, daß meine Bücher in der 20 Jutta Held u. Norbert Schneider: Sozialgeschichte der Malerei vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Ostfildern 1997, S. 350. 21 Vgl. etwa im Comic Schöner leben mit dem kleinen Arschloch den Eintrag zum Thema Stechapfel: »Wenn Sie Wert darauf legen sollten, sich einmal zu fühlen wie der Hauptdarsteller in einem Hieronymus Bosch Gemälde, dann brauen Sie sich einfach einen Stechapfeltee.« (Walter Moers: Schöner Leben mit dem kleinen Arschloch. Frankfurt a. M. 1992, S. 31) Eine Zeichnung, die einen Ausschnitt aus Boschs Gemälde Die Versuchung des Heiligen Antonius (1505/1506) verfremdet, ist dem Text beigefügt.
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gesamten Erscheinung stimmig sind. Das geht vom Umschlagpapier über die Typographie bis zur Ausgewogenheit des Verhältnisses von Text und Illustration oder zur Farbe des Lesebändchens.«22 Das Buch ist für den Autor folglich nicht allein ein Medium, um Texte zu transportieren, sondern hat auch seinen eigenen ästhetischen Wert. Eine ähnliche Intention wird auch zu Beginn des Romans Die Stadt der Träumenden Bücher kommuniziert. Auch wenn es hier der Ich-Erzähler ist, der die physischen Qualitäten von Büchern, ihr Aussehen und ihren Geruch preist, so zeigen doch Erfindungen wie die gefährlichen und lebenden Bücher, dass auch die physischen Qualitäten von Büchern von Bedeutung sind. Die in den literarischen Text der Zamonien-Romane eingebetteten zahlreichen Bilder wie Landkarten, Illustrationen und Initialen lassen das Buch nicht nur durch den literarischen Text, sondern auch auf visueller Ebene zu einem Kunstwerk werden.
Mischformen In Moers’ literarischem Werk spielen neben Medienwechsel, intermedialem Bezug und Medienkombination auch Mischformen dieser Kategorien eine Rolle, worunter zum Beispiel die typographischen Modifikationen fallen. Diese bilden eine Mischform zwischen Medienkombination und intermedialem Bezug. Moers’ Zamonien-Romane bieten kein einheitliches Schriftbild. Es wird sowohl mit Schriftart als auch -größe experimentiert. Besondere typographische Formen besitzen eine »eigenständige, sprachunabhängige Bedeutungsdimension«23, die das Erscheinungsbild der Schrift mit ihrem sprachlichen Inhalt verknüpft. In Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär deutet das immer größer werdende »BROMM« beispielsweise das Nahen der Waldspinnenhexe an (KBB 249 – 253). Veränderungen im Schriftbild, insbesondere Hervorhebungen durch die Variation von Schriftgröße und -stärke sind in zeitgenössischen Romanen selten, gehören jedoch zum Standardrepertoire des Comic: Typographische Hervorhebungen rufen dem Leser folglich das Medium ›Comic‹ ins Gedächtnis. Da nur ein einzelnes Darstellungselement aus dem Comic übernommen wird und der Comic nicht als vollständige Struktur mit dem Roman kombiniert wird, kann man nicht von einer Medienkombination sprechen. Auch der Begriff ›intermedialer Bezug‹ ist zur Bezeichnung der typographischen Eigenheiten der Zamonien-Romane unzureichend, da bei intermedialen Bezügen das semioti22 Interview auf der Website http://www.literaturschock.de/autorengefluester/000085 (Zugriff am 31. August 2010). 23 Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 69), S. 145.
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sche System des kontaktnehmenden Mediums einheitlich und geschlossen bleibt.24 Daher möchte ich an dieser Stelle vorschlagen, die typographischen Besonderheiten der Zamonien-Romane als Mischform zwischen intermedialem Bezug und Medienkombination aufzufassen. Moers geht an dieser Stelle nicht nur sehr spielerisch mit den Einzelmedien um, sondern bricht Mediengrenzen sogar auf und etabliert so neue Interaktionsmöglichkeiten zwischen den Medien. Er überträgt mediale Besonderheiten eines Mediums in ein anderes, um dort auf experimentelle Art Bedeutungsdimensionen hinzuzufügen. Im Comic wird durch spezielle Fonts beispielsweise die Lautstärke des Klangs auch in der Wuchtigkeit der Buchstaben sichtbar gemacht. Eine leise, freundliche Stimme hingegen ist meist durch eine elegante und geschwungene Schrift gekennzeichnet. Dieses Vorgehen übernimmt Moers beispielsweise in Rumo, wenn dieser die zwei Stimmen seines schizophrenen (und sprechenden) Schwertes in seinem Kopf hört (z. B. R 358). Die erste Stimme gehört Löwenzahn, dem eher harmlosen Ich des Schwertes, das durch das pulverisierte Gehirn eines Stollentrolls in das Schwert gelangt ist. Seine Worte sind in einer feinen, zierlichen Schrift (Apple Chancery) abgedruckt, die auf visueller Ebene die Harmlosigkeit von Löwenzahns Worten unterstreicht. Auch wenn Löwenzahn vor Rumo zunächst mit seiner Erfahrung im Kampf prahlt, kann er doch seine harmlose Natur nicht verleugnen, wie sich bereits in einem frühen Dialog zwischen Löwenzahn und seinem neuen Besitzer andeutet: Sag mal, wie heißt Du eigentlich? Mein Name ist Löwenzahn. Löwenzahn? fragte Rumo. Wie die Blume? Ich dachte eher an den Zahn eines Löwen. An etwas Scharfes, Gefährliches. Äh … es gibt eine Blume, die so heißt wie ich? Ist es eine gefährliche Blume? Nein. Man kann sogar Salat daraus machen, glaube ich. Mist. (KBB 316 f.)
Löwenzahn findet seinen Gegenspieler in Grinzold, dem blutrünstigen und furchtlosen Ich des Schwertes. Dieses Ich ist durch das pulverisierte Gehirn eines Dämonenkriegers in das Schwert gelangt. Die von Grinzold gesprochenen Worte erscheinen im Roman in einer gotischen Fraktur (San Marco), die den barbarischen Charakter des Dämonenkriegers widerspiegeln soll. Die Unterschiedlichkeit der beiden Stimmen des schizophrenen Schwertes wird in der Typographie auch auf visueller Ebene erkennbar. Ein weiterer Effekt ist, dass der Leser mit der zierlichen Schrift wohl eine freundliche Stimme assoziiert, wohingegen man die Schrift, in der Grinzolds Worte gedruckt sind, mit einer lauten und tiefen Stimme in Verbindung bringt. Dasselbe Phänomen lässt sich auch gegen Ende des ersten Zamonien-Romans beobachten, in dem sich Prof. 24 Werner Wolf: Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft. Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs The String Quartett. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21 (1996), H. 1, S. 85 – 116, hier S. 87.
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Nachtigaller mit dem wahnsinnigen Element Zamomin duelliert. Die Schriftart, in der die Worte des Zamomins abgedruckt sind, ist am ehesten als ›sehr bewegt‹ und ›ungleichmäßig‹ zu umschreiben (KBB 639 – 647). Die Art, wie die Aussagen bestimmter Figuren gedruckt werden, beeinflusst in Moers’ Romanen also das Bild, das sich der Leser von der Klangfarbe und der Lautstärke der einzelnen Stimmen macht. Im Grunde findet hier eine hochgradig synästhetische Verbindung statt, da Klang visuell erfahrbar wird. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass Schriftformen von jeher bestimmte Eigenschaften zugewiesen werden,25 die jedoch »nicht auf unmittelbarer Ähnlichkeit zwischen Zeichen (Schrift) und Bezeichnetem (Textinhalt)« beruhen, sondern beispielsweise auf »kollektiven Wertungen, die Schrift und Text gleichermaßen zugeordnet werden können«.26 Auf genau diese Weise funktionieren auch die unterschiedlichen Typographien im Comic, dessen Vorbild sich Moers an dieser Stelle bedient. Er zeigt mit diesem Verfahren, dass ein Roman durchaus von der Übernahme von Elementen aus anderen Medien profitiert, ohne seine eigene Medialität in Frage zu stellen. Trotz der Verbindung des literarischen Textes mit Comicelementen bleibt der Roman ein Roman, er erweitert nur seine Möglichkeiten, um Bedeutung zu generieren. Gleichzeitig betont Moers aber auch, dass Schrift ein Medium ist, das zunächst visuell erfahren wird. Er dekonstruiert somit Annahmen, die Schrift lediglich als Bedeutungsträger werten, und spricht sich für die Tatsache aus, dass die Schrift ebenso wie das Bild auch auf visueller Ebene bedeutsam sein kann. Dies lässt sich anhand eines Beispiels aus Die Stadt der Träumenden Bücher nachvollziehen: Als der Protagonist durch ein Kontaktgift auf den Seiten eines gefährlichen Buches vergiftet wird, liest er auf Seite 333 des Buches immer wieder den gleichen Satz: »Sie wurden soeben vergiftet.« (STB 148 f.) Diese fiktive Buchseite wird im Roman real nachgeahmt: In verringerter Schriftgröße ist oben genannter Satz in vielfacher Wiederholung seitenfüllend abgedruckt. So kann der Leser den Lesevorgang des Protagonisten und wahrscheinlich auch sein Erschrecken nachvollziehen. Durch die besondere Form der Typographie, die sich vom Rest des Romans unterscheidet, entsteht der Eindruck, der Leser blicke in genau das Buch, das Hildegunst von Mythenmetz in der Hand hält. So ermöglicht eine ungewöhnliche Schriftart und -größe den Eindruck, die Wahrnehmungen der Hauptfigur mit eigenen Augen zu erfahren.
25 Vgl. Wehde 2000, S. 151. 26 Ebd., S. 152 f.
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Schluss Am elften Tag seines Aufenthalts in der Stadt Nebelheim schreibt der hochintelligente Eydeet Dr. Kolibril in sein Tagebuch: »Abends: Versuche, mich lesend zu zerstreuen. Lektüre: ›Die Monosemierung von Polysemien in Texten der Gralsunder Grubendichtung‹. So aufregend wie Trockenfleisch. Ich halte die Literaturwissenschaft für eine völlig unexakte Disziplin.« (R 272) Auch wenn sich einer der intelligentesten Bewohner des zamonischen Kontinents derart vernichtend über literaturwissenschaftliche Texte geäußert hat, so möchte ich an dieser Stelle doch zumindest versuchen, die wichtigsten literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse über Mediengrenzen überschreitende Phänomene in den Zamonien-Romanen exakt zusammenzufassen. Für Moers’ literarisches Werk spielen nicht nur die drei bekannten Subkategorien des Intermedialen, nämlich Medienwechsel, intermedialer Bezug und Medienkombination, eine Rolle, sondern auch Mischformen dieser Kategorien. Die augenfälligste Spielart des Intermedialen ist bei Moers die Medienkombination von Text und Bild. Hier ist hervorzuheben, dass sich die Zeichnungen keineswegs in der Funktion erschöpfen, den literarischen Text zu illustrieren. Weiterhin ist festzuhalten, dass Moers sehr spielerisch mit unterschiedlichen Medien umgeht. Wo es anderen Autoren häufig darum geht, eine Konkurrenz zwischen den beteiligten Medien zu generieren, so gelingen Moers symbiotische Verschmelzungen zwischen den Medien, die seinen Romanen weitere Sinnebenen hinzufügen können. Dieses wird beispielsweise deutlich, wenn Moers seinen literarischen Text um offenkundig bedeutungstragende Typographien ergänzt, wie sie aus Comics bekannt sind. Weiterhin verfolgt Moers mit seinen Romanen die Idee eines Gesamtkunstwerks, in dem Layout, Deckblatt, Illustrationen und sogar Lesezeichen eine ästhetisch bedeutsame Rolle spielen. Walter Moers’ Roman Die Stadt der Träumenden Bücher gilt als eine »Liebeserklärung an das Lesen und die Literatur«27, Moers’ literarisches Gesamtwerk konstituiert sich ebenfalls als eine Hommage, nämlich an das Medium Buch, das viel mehr kann, als ›nur‹ Trägermedium eines literarischen Textes zu sein.
27 Holger Kreitling: Wanderer, kommst du nach Buchhaim. … dann nimm dich bloß in Acht vor Haifischmaden. Walter Moers schreibt ein Loblied auf die Literatur : »Die Stadt der träumenden Bücher«. In: Die Welt. 25. September 2004.
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Moers, Walter: Schöner leben mit dem kleinen Arschloch. Frankfurt a. M. 1992. Moers, Walter: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des »Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 1999. Moers, Walter: Rumo & Die Wunder im Dunkeln. Ein Roman in zwei Büchern. München 2003. Moers, Walter: Die Stadt der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. München 2004.
Sekundärliteratur Bohnenkamp, Anne: Literaturverfilmungen als intermediale Herausforderung. In: dies.: Literaturverfilmungen. Stuttgart 2005, S. 9 – 38. de Saussure, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. In: Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Charles Sanders Peirce bis zu Umberto Eco und Jacques Derrida. Hg. v. Dieter Mersch. Übers. v. Herman Lommel. München 1998, S. 193 – 215. Held, Jutta u. Norbert Schneider : Sozialgeschichte der Malerei vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Ostfildern 1997. Kreitling, Holger : Wanderer, kommst du nach Buchhaim. … dann nimm dich bloß in Acht vor Haifischmaden. Walter Moers schreibt ein Loblied auf die Literatur: »Die Stadt der träumenden Bücher«. In: Die Welt. 25. September 2004. Mahne, Nicole: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen 2007. McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Übers. v. Heinrich Anders. Hamburg 2007. Nüchtern, Klaus: Mein Zielpublikum bin ich. Interview mit Walter Moers. In: Falter. 24. März 2003. Platthaus, Andreas: Wenn der Stollentroll kommt. Endlich: Die wahre Geschichte des Käpt’n Blaubär. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 23. März 1999. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen/Basel 2002. Ryan, Marie-Laure (Hg.): Narrative across Media. The Languages of Storytelling. Lincoln [u. a.] 2004. Simonis, Annette: Einleitung. In: dies.: Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien. Bielefeld 2009, S. 9 – 17. Wehde, Susanne: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 69). Wolf, Werner : Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft. Plädoyer
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für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs The String Quartett. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21 (1996), H. 1, S. 85 – 116.
Andere Medien http://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Moers (Zugriff am 31. August 2010). http://www.literaturschock.de/autorengefluester/000085 (Zugriff am 31. August 2010).
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»Der Große Ompel«. Kartographie und Topographie in den Romanen Walter Moers’ Jetzt hielt ich ein ausführliches, methodisch abgefaßtes Bruchstück der Gesamtgeschichte eines unbekannten Planeten in Händen, mit seinen Bauwerken und seinen Spielkarten, dem Schrecken seiner Mythologie und dem Gemurmel seiner Sprachen, mit seinen Kaisern und Meeren, mit seinen Mineralien und seinen Vögeln und seinen Fischen, mit seiner Algebra und seinem Feuer, mit seiner theologischen und metaphysischen Polemik. Dies alles gegliedert, zusammenhängend, ohne ersichtliche Lehrabsicht oder parodistische Färbung.1
Einleitung: Karten und Räume in der Literatur In den Kulturwissenschaften ist seit den 1970er Jahren im häufigen Wechsel der sich in einer Vielzahl von turns manifestierenden Paradigmen auch der ›Raum‹ als zentrale Kategorie literarischer Produktion und Rezeption in den Fokus des Faches gerückt.2 Schon vor der begrifflichen Prägung als spatial oder topographical turn ist dieser durch die strukturalistische Raumsemantik Jurij M. Lotmans als Gegenstand und Beschreibungsinstrument in die Literaturwissenschaft eingeführt worden;3 und seit den 1980er Jahren ist geradezu eine »Renaissance des Raumbegriffs in den Kultur- und Sozialwissenschaften«4 zu beobachten, die in der anglo-amerikanischen Forschung auf wesentlich mehr Resonanz trifft als im deutschsprachigen Raum.5 Im Zuge des spatial turn sind etwa die Versuche Franco Morettis zu sehen, den europäischen Roman in Karten 1 Jorge Luis Borges: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 3.1: Erzählungen 1935 – 1944. Übers. v. Karl August Horst. München/Wien 1981, S. 93 – 112, hier S. 98. 2 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006, S. 284 – 328. 3 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München 1972, S. 311 – 340. 4 Bachmann-Medick 2006, S. 286; vgl. Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. DFG-Symposium 2004. Stuttgart/Weimar 2005. 5 Vgl. Bachmann-Medick 2006, S. 286.
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zu visualisieren.6 Jüngst hat die Dissertation von Katrin Dennerlein einen umfassenden und interdisziplinären Überblick über strukturalistische bis kulturwissenschaftliche Adaptionen verschiedener Raumkonzepte insbesondere für die Narratologie geliefert.7 Die Aufmerksamkeit eines kulturwissenschaftlichen spatial turn geht in ihrer Reichweite weit über das hinaus, was in diesem Aufsatz geleistet werden soll. Im Gegensatz zu kontextorientierten Projekten liegt diesem Beitrag ein eher poetologisches Interesse an der sprachlichen und ikonischen Erzeugung der dargestellten Welt zugrunde. Die Bedeutung von Karten in literarischen Texten als spezifische Art von Paratext8 ist bisher nicht systematisch untersucht, sondern meist nur en passant gestreift worden; Katrin Dennerlein spart den Bereich graphischer Raumgestaltung etwa ganz bewusst aus.9 Einführungen in den Komplex ›Kartographie und Literatur‹ bieten zum Beispiel Robert Stockhammer, Annegret Pelz und Sigrid Weigel.10 Nahezu jedem narrativen Text liegt eine Topographie zugrunde, die sich meist nur in der Imagination des Lesers konstruiert. Es gibt aber literarische Fälle, in denen sich die Karte auch realiter in Form von Abbildungen manifestiert. Genres, in denen dies bevorzugt der Fall zu sein scheint, sind Reiseberichte und Kriegstexte (z. B. Paul Coelestin Ettighoffer: Verdun, 1936), historische Kriminal- (z. B. Umberto Eco: Il nome della rosa, 1980) sowie Fantasyromane (z. B. J. R. R. Tolkien: The Lord of The Rings, 1954 f.). Mit diesen literarischen Gattungen sind verschiedene poetische Funktionen verbunden: Im Fall der Reise- und Kriegsnarrationen dient die Kartographie als ein Mittel der Authentifizierung des Erzählten, so dass solche Kriegserzählungen, die sich im Untertitel oder Klappentext weniger offensiv als authentisch (oder sogar als fiktional) verkaufen, dementsprechend seltener mit Karten versehen sind.11 In Kriminalromanen 6 Vgl. Franco Moretti: Atlas des europäischen Romans: Wo die Literatur spielte. Übers. v. Daniele dell’ Agli. Köln 1999; vgl. auch ders.: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte. Übers. v. Florian Kessler. Frankfurt a. M. 2009. 7 Vgl. jüngst Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. Berlin/New York 2009. 8 Vgl. G¤rard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1989. 9 Vgl. Dennerlein 2009, S. 74. 10 Vgl. Robert Stockhammer: »AN DIESER STELLE.« Kartographie und die Literatur der Moderne. In: Poetika 33 (2001), S. 273 – 306; ders.: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur. München 2007; Annegret Pelz: Karten als Lesefiguren literarischer Räume. In: German Studies Review 18 (1995), H. 1, S. 115 – 129; Sigrid Weigel: Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2 (2002), H. 2, S. 151 – 165. 11 Vgl. Jörg Vollmer : Kampf um das wahre Kriegserlebnis. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik zwischen Autobiografie und Fiktion. In: Text und Wahrheit. Ergebnisse der interdisziplinären Tagung »Fakten und Fiktionen« der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim, 28.–30. November 2002. Hg. v. Katja Bär. Frankfurt a. M. 2004, S. 65 – 76.
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kann eine solche Authentifikationsfunktion mit weniger Recht angenommen werden, schließlich ist das Genre ein ›klassisch literarisches‹ und behauptet in der Regel keine außertextliche Referenz. Betrachtet man einige solcher Romane, die mit Karten versehen sind, fällt eine deutliche Konzentration in den Subgenres der historischen Kriminalromane ins Auge. Da dem Leser des Kriminalromans die Rolle des Detektivs nahe gelegt wird, sind die Karten Teil der Spuren, deren der detektierende Leser zur Lektüre-Ermittlung bedarf, so dass als Kartenfunktion die Orientierung des Lesers im Vordergrund steht.12 Die dritte literarische Textsorte, innerhalb derer die Implementierung von Karten gebräuchlich ist, sind Fantasyromane. Hier wird einerseits eine Orientierungsfunktion erfüllt, da es dem Leser an dieser angesichts eines fremden und mit unserer Welt inkompatiblen Kosmos an Räumen und Zeiten notwendigerweise fehlt. Darüber hinaus trägt das Artefakt der Karte zur Komplettierung eines Kosmos bei: Eine Welt wird glaubwürdiger, wenn sie auch kartographisch erfasst ist. Außerhalb dieser weniger systematischen als vielmehr heuristischen Kategorisierung ist eine vierte Funktion zu ergänzen, die in der Problematisierung der Referentialität sprachlicher wie ikonischer Zeichensysteme besteht, insofern nicht nur verschiedene Stimmen, sondern auch verschiedene Zeichensysteme (Schrift und Bild) zueinander in Konkurrenz treten. In diese beiden letztgenannten Klassen werden auch die Romane Walter Moers’ einzuordnen sein, die zwar der phantastischen Literatur zugehörig sind, und, wie zu zeigen sein wird, zugleich der Inventarisierung einer imaginären Welt dienen,13 aber auch und vor allem den Status von Zeichensystemen selbstreflexiv problematisieren, insofern sie weniger eine referentielle, sondern vielmehr eine metasprachliche Funktion erfüllen.14 Da Kartenbildung als mentaler Prozess Teil jeder Lektüre von Texten mit räumlich organisierten Welten ist,15 bleibt zu fragen, warum Moers’ Romane eine solche explizite Visualisierung vornehmen, anstatt sie der Imagination des 12 »Nicht zufällig begleiten Karten und Lagepläne häufig auch Kriminalromane, in denen die Indizierung der räumlichen Verhältnisse fast immer zur Bestandsaufnahme der Indizien bei der Suche nach den Tätern zählt«. Stockhammer 2007, S. 63. 13 Zur illusionsbildenden Funktion narrativer Komplexität vgl. Werner Wolf: Illusion (Aesthetic). In: Handbook of Narratology. Hg. v. Peter Hühn. Berlin [u. a.] 2009, S. 144 – 160, hier S. 150. 14 Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921 – 1927. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Übers. v. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 1979, S. 83 – 121, hier bes. S. 88 – 95. 15 Um das mental mapping bei der Lektüre literarischer Texte ist eine rege Diskussion entbrannt; vgl. Richard Bjornson: Cognitive Mapping and the Understanding of Literature. In: SubStance 30 (1981), S. 51 – 62; Marie-Laure Ryan: Cognitive Maps and the Construction of Narrative Space. In: Narrative Theory and Cognitive Science. Hg. v. David Herman. Stanford, CA 2003, S. 214 – 242. Einen umfassenden und kritischen Überblick über die Forschungssituation bietet Dennerlein 2009, S. 99 – 114.
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Lesers zu überlassen. Die literarische Karte zeichnet sich stets durch eine doppelte Referenz aus: Während eine Wirklichkeitsreferenz bei Karten in Fantasytexten keinerlei Rolle spielt (im Gegensatz zu realen Karten), steht bei Moers das Verhältnis des kartographischen zum narrativen Weltentwurf im Zentrum. Die Karten repräsentieren keine realia, sondern unterstützen die narrativ angeregte Imagination des Lesers.
Zamonien – ein Rundgang Während die zeitliche Verortung der zamonischen Geschichten Schwierigkeiten bereitet, ist eine Beschreibung der räumlichen Verhältnisse innerhalb der Fiktion durch die beigefügten Karten nahe liegend. Zamonien ist nicht nur der Ort der Handlung, sondern zugleich ihr Protagonist: »Bei der Arbeit am ersten Roman kam mir die fixe Idee für eine Buchreihe, bei der eigentlich nicht die Protagonisten, sondern der Ort, an dem die Handlung spielt, der eigentliche Held sein soll.«16 Im Gegensatz zu dem Land Uqbar, von dem Borges seinen Erzähler in Tlön, Uqbar, Orbis Tertius sprechen lässt, handelt es sich bei Zamonien durchaus um ein kartierbares und kartiertes Land, wovon nicht nur die zwölf Karten in den Zamonienromanen zeugen,17 sondern auch die Erzählung selbst: Der Große Ompel – das unentbehrliche zamonische Kartenwerk von Geho van Ompel. Gesamtüberblicke, Großkarten, Detailkarten, Gebirgsschnitte, Dämonenwarnkarten, Wanderwege, unterirdische Seen, Minikartographie: In dieser monumentalen Schwarte ist Zamonien bis zum letzten Quadratmilimeter vermessen. Fünfhundert Kartographen jeder denkbaren Größenordnung, vom Gebirgsriesen bis zum Daumenzwerg, haben daran mitgearbeitet. Die Riesen besorgten die großen Übersichtskarten, die Zwerge die Minikartographie, die anderen das übrige. Kein Kontinent wurde besser vermessen als Zamonien. (EK 39)
Dieses, dem realen Leser nicht verfügbare, kartographische Wissen im ›Großen Ompel‹, wird in den Zamonien-Romanen gleichermaßen durch die graphischen Karten vermittelt, aber auch durch narrative Landschaftsbeschreibungen ersetzt. Während die Narration medienbedingt die Daten sukzessive präsentiert, ist die Karte in der Lage, Informationen simultan zu transportieren. In der Regel verweisen Karten auf einen realen Referenten: Sie bilden etwas ab, was außerhalb ihrer selbst liegt, d. h. sie zeigen auf etwas. Fiktive Karten hingegen haben 16 Vgl. Klaus Nüchtern: Mein Zielpublikum bin ich. Interview mit Walter Moers. In: Falter. 24. März 2003. 17 Zum Kriterium der Kartierbarkeit phantastischer Räume in J. R. R. Tolkiens Lord of the Rings und Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius vgl. Stockhammer 2001, S. 289 – 292.
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kein reales Referenzobjekt, sondern bestehen gewissermaßen nur aus der Reziprozität von signifi¤ und signifiant. Es wäre auch irreführend zu behaupten, fiktive Karten verwiesen auf den narrativen Text, den sie meist begleiten; tatsächlich referieren beide Elemente gleichermaßen (Karte und Text) auf ein fiktives, virtuelles und unverfügbares Objekt, hier auf den Kontinent Zamonien. Das Verhältnis der Karten zu ihrem Gegenstand kann also nicht überprüft, sondern nur mit der Realität des Textes verglichen werden. Ebenso wie der Leser das Verhältnis des zamonischen Originals nicht mit der unzamonischen Übersetzung des fingierten Übersetzer Moers vergleichen kann, ebenso liegt die Topographie Zamoniens im Dunkeln: Die Kartographie hingegen ist das Medium, dem der Leser einen wesentlichen Teil seines Wissen von der räumlichen Beschaffenheit verdankt. Die Topographie Zamoniens wird in visueller Hinsicht durch insgesamt zwölf Kartenabbildungen dokumentiert, die sich auf die fünf Zamonien-Romane verteilen. Zwei dieser zwölf Karten sind bloße Varianten anderer Karten, so dass von zehn eigenständigen und grundsätzlich verschiedenen Karten die Rede sein kann.18 Es handelt sich bei sämtlichen Zamonienkarten grundsätzlich um ›topographische Karten‹, in denen »Situation, Gewässer, Geländeformen«19 etc. dargestellt sind und keine spezifischen Themen (Klima, Bevölkerung etc.) wie in ›thematischen Karten‹.
Visualisierung der Diegese: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär Der erste Zamonien-Roman enthält vier Karten (Abb. 2 – 5), auf deren zweier der fiktive Kontinent abgebildet wird, jeweils auf den Doppelseiten der Vorsatzblätter. Eine dritte Karte (KBB 175) zeigt das Labyrinth in den Finsterbergen und eine weitere das Labyrinth der Gehirnwindungen im Kopf des monströsen Bollogg (KBB 430 f.).20 Auf dem vorderen Vorsatz wird »Zamonien und seine nähere Umgebung (in 18 Der Beitrag von Höppner und Ihle zur zamonischen Architektur bildet unter anderem eine Karte von Wolperting (aus Rumo) ab, die nicht in den öffentlichen Buchausgaben zu finden ist; Stefan Höppner u. Nadine Ihle: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die Stadt der Träumenden Bücher. In: Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. Hg. v. Winfried Nerdinger [u. a.]. Salzburg 2006, S. 334 – 337. 19 Günter Hake, Dietmar Grünreich u. Liqiu Meng: Kartographie. Visualisierung raum-zeitlicher Informationen. 8. Aufl. Berlin/New York 2002, S. 27. 20 Bei der Zeichnung der Figur des »Planmachers« (KBB 420) handelt es sich um keine Karte, sondern um die Darstellung einer Figur, deren Oberfläche mit Kartenelementen versehen ist. Die Abbildung des Bolloggschädellabyrinths (KBB 430 f.) ist wiederum keine Abbildung einer Karte, sondern bildet das Labyrinth selbst ab.
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leicht vereinfachter Darstellung)«, auf dem hinteren Vorsatz »Zamonien und seine weitere Umgebung« gezeigt.
Abb. 2 : Zamonien im globalen Kontext (KBB hinterer Vorsatz)
Die zweite Karte mit dem größeren Bildausschnitt zeigt die Position Zamoniens im Kontext einer Weltkarte (Abb. 2), die reale Kontinente (Amerika, SüdAmerika, Afrika, Asien, Australien) und Inseln mit realitätsnahen bzw. assoziativen Namen (»Kalt« als Arktis, »Eisland« als Antarktis, »Grünland« als Grönland, »Kleintroll« als Island, »Großtroll« als Skandinavien) sowie fiktive Kontinente (Ü, Unland, Mumien, Yhúll, Nafklathu, Perm, Urien, Go, Zamonien) abbildet. An der östlichen Spitze Zamoniens liegt die Stadt Atlantis, in deren Norden jene »Säulen des Herkules« aus dem Wasser ragen, die Platon schon in Timaios als Orientierungspunkt zur Lokalisierung von Atlantis nannte und die spätere Schätzjäger zu verschiedenen Lokalisierungen animierten.21 Form und Position der realen Kontinente sind ähnlich den heutigen, allerdings mögen die leicht veränderten Formen der Kontinente auf eine frühere Stellung der Konti-
21 Vgl. Platon: Timaios. Kritias. In: Mythos Atlantis. Texte von Platon bis J. R. R. Tolkien. Hg. v. Oliver Kohns u. Ourania Sideri. Stuttgart 2009, S. 11 – 28; Gerhard Henschel: Jäger des verlorenen Schatzes. Von der Insel Atlantis. In: Kulturgeschichte der Mißverständnisse. Studien zum Geistesleben. Hg. v. Eckhard Henscheid, Gerhard Henschel u. Brigitte Kronauer. Stuttgart 1997, S. 207 – 222.
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nentalplatten zueinander hindeuten, wie auch der retrospektiv erinnernde Erzähler ausführt:22 Wir überflogen Afrika und die Antarktis, das Erzgebirge und Borneo, Tasmanien und den Himalaya, Sibirien und Katmandu, Helgoland und das Tal des Todes, den Grand Canyon und die Osterinseln und schließlich auch die Kontinente Nafklathu, Urien und Yhúll, die es heute nicht mehr gibt. (KBB 108)
Damit wird der zamonische Kontinent in eine Welt integriert, die einer vorzeitigen Phase unserer Erdgeschichte teilweise entspricht, wobei die Detailtiefe der oben zitierten narrativen Topographie die der visuellen Karte übertrifft. So ist im Text vom Erzgebirge und von Borneo die Rede, ohne dass die Karten dies zeigen würden. Die Weltmeere sind von größeren Kontinenten besetzt, die – wenn man die zamonische Welt als menschliche Vorzeit interpretiert – als untergegangen angenommen werden müssen. Darauf deutet auch die Benennung der Hauptstadt Zamoniens als Atlantis hin, deren Position im östlichen Atlantik durchaus mit realen Atlantistheorien kompatibel ist.23 Bei der Detailkarte, die mit geringen Variationen in Ensel und Krete (EK 258 f.) wiederholt wird, werden die Räume nicht nur auf der Karte schriftlich benannt, sondern durch die Darstellung ikonischer Zeichen voneinander unterschieden (Abb. 3). Räumliche Beziehungen werden zwar suggeriert, spielen aber für den Leser im Akt der Lektüre keine Rolle, da die einzelnen Orte eher den Charakter von Stationen haben, die der Protagonist auf seinem episodenhaften Weg durchläuft. Insofern ist die Rede von topographischen Karten in diesem Zusammenhang irreführend, da die Verhältnisse der Orte untereinander (Position und Entfernung) im Text keine große Rolle spielen, wohingegen sie in topographischen Karten entscheidend sind. Ich möchte stattdessen eher von einer performativen Karte sprechen, da insbesondere die erste Karte ihre Orientierungsfunktion weniger im Hinblick auf die dargestellte Welt (histoire), sondern im Hinblick auf deren Darstellung (discours) leistet. Die Karte bildet also weniger die Topographie ab, sondern vielmehr deren narrativ vermittelte Beschreibung, bzw. den Akt der Lektüre. Der Leser wird zwar auch über die räumlichen Verhältnisse der 22 Auf einen vorkatastrophalen Zustand und weit zurückliegenden Zeitpunkt der erzählten Zeit deutet das Vorwort von Käpt’n Blaubär hin: »Man fragt mich oft, wie es früher war. Dann antworte ich: Früher gab es von allem viel mehr. Ja, es gab Inseln, geheimnisvolle Königreiche und ganze Kontinente, die heute verschwunden sind – überspült von den Wellen, versunken im ewigen Ozean« (KBB 6). 23 Vgl. Henschel 1997. Dass solche Atlantisthesen zwar real, nicht aber wahr sind, ist seit der Antike eigentlich communis opinio, wie manche Rezeptionszeugnisse zeigen (Johann Heinrich Zedler : Atlantis. In: Johann Heinrich Zedler : Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste. Leipzig 1732 – 1754. Bd. 2, S. 2045). Nichtsdestotrotz brechen immer wieder Schatzjäger auf, um ein reales Atlantis zu finden.
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Abb. 3: Zamonien im Detail (KBB vorderer Vorsatz)
Zamonienwelt informiert, allerdings ist dieses Wissen tendenziell sinnlos, weil die episodische Struktur des Romans die räumlichen Verhältnisse der Welt nahezu ignoriert.24 Inwiefern ist aber der Bezugspunkt auf der Ebene des discours und in der Interaktion mit dem Leser zu finden? Die Makro-Karte der Zamonien inkludierenden Welt (Abb. 3) zeigt neben den konventionalisierten Kartenzeichen, mit denen Städte, Gebirge und Gewässer repräsentiert werden, auch lebendige und bewegliche Elemente (die Zwergpiraten, die »Moloch«, der »Ewige Tornado« u. a.), deren Lokalisierung im Medium der Karte gewiss problematisch ist; schließlich bewegen sie sich. Damit wird der rein spatiale Charakter der Karte bereits unterlaufen und durch eine weitere Funktion ergänzt: Sie dient nicht nur als Karte, sondern zugleich und vor allem als visualisierte Form eines (auf textueller Ebene fehlenden) Inhaltsverzeichnisses, indem die an verschiedene Orte geknüpften Erlebnisse metonymisch abgebildet werden. Wo der Erzähler nicht nur Stationen der Reise Käpt’n Blaubärs schildert, sondern Reisebewegungen auf der Handlungsebene durchgeführt werden, verliert die Karte ihren Nutzen. Die Beschreibungen sind derart unspezifisch, dass
24 Vgl. zu den Strukturmerkmalen des Romans den Beitrag von Eva Kormann im vorliegenden Band.
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die Karte nicht zur Orientierung des Lesers im Nachvollzug der Ereignisse (histoire) dienen kann: Manchmal segelten wir wochenlang über weite Ebenen, ohne das Meer zu sehen. Zum ersten Mal sah ich gewaltige Bergmassive, große Flüsse, Seen und Urwälder. Mac überflog mit mir die Polkappen, und ich staunte nicht schlecht über die Gebirge aus purem Eis. Ich sah den Dschungel, ein grünes und endloses Meer aus Riesenbäumen, durch deren Blätterdach gelegentlich die Köpfe von feuerspeienden Drachen lugten. […] Mac zeigte mir Wüsten, manche aus Sand, manche aus vielfarbigen Felsen. (KBB 99)
Der Panoramaflug des Flugsauriers Mac alias Deus X. Machina lässt sich mithilfe der Karte nicht nachvollziehen. Die unspezifischen Angaben (»Bergmassive«, »Dschungel«) können nicht zugeordnet werden, die »Dämonenklippen« (KBB 104), von denen später erzählt wird, sind überhaupt nicht verzeichnet. Wird die Karte hier als Orientierungsmaßnahme für die histoire sinnlos, wird sie als graphische Form unzuverlässigen Erzählens in Die Stadt der Träumenden Bücher sogar in Widerspruch zur Narration treten, aber dazu später. Außerhalb der Darstellbarkeit topographischer Karten liegt auch das achte Leben Blaubärs im Dimensionsloch: »Wenn man in ein Dimensionsloch stolpert, stürzt man in alle Richtungen gleichzeitig, nach unten, oben, rechts und links, nach Norden, Süden, Osten und Westen.« (KBB 255) Räumliche Parameter verlieren ihre Gültigkeit: »Versuchen Sie bitte gar nicht erst, sich diesen Raum vorzustellen! […] Man ist also gleichzeitig an jedem Ort der Erde, in den Alpen und auf dem Atlantischen Ozean, am Nordpol und in der Wüste Gobi, auf dem Nil und ihm brasilianischen Regenwald.« (KBB 256) Karten verlieren unter solchen Umständen jeglichen Gebrauchswert für Figur und Leser, weil sie Orientierung nicht bieten können, wo räumliche Ordnung überhaupt fehlt, nicht nur im Dimensionsloch, sondern auch im Labyrinth. Ein fester Topos der Zamonien-Romane sind die labyrinthischen Karten (KBB 175 u. 412 f.), die dem Leser die Desorientierung des Protagonisten demonstrieren (Abb. 4). Die erste Labyrinthkarte (KBB 175) enthält außer dem Schriftzug »Ich« keine symbolischen Elemente, sondern nur verschlungene und einander unsystematisch kreuzende Wege. Durch die sprachliche Bezeichnung »Ich« (statt »Blaubär«) wird der Status der gesamten Karte als Produkt des Erzählers kenntlich: Blaubär hat diese Karte retrospektiv für den Leser seiner autobiographischen Aufzeichnungen selbst angefertigt. Sie ist also ein Produkt des erzählenden Ichs auf der extradiegetischen Ebene. Es handelt sich um eine durchaus ironische Adaption des Labyrinthmotivs, da jeder Weg einen Ausweg aus dem Höhlengefängnis darstellt und der Erzähler seine Position – im Rückblick des erzäh-
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Abb. 4: Blaubär im Labyrinth (KBB 175)
lenden Ich – sehr genau bestimmen kann, wie das »Ich« unmissverständlich signalisiert. Ebenso labyrinthisch ist die »Gehirn-Karte« des Bolloggschädels, die der Planmacher als »Plan Nr. 204766432« für Blaubär anfertigt, damit dieser nach Atlantis entkommen kann (Abb. 5).25 Im Gegensatz zur vorigen (extradiegetischen) Karte ist diese wiederum ein Element der intradiegetischen Ebene, insofern Blaubär diese Karte nicht im Zuge der Narrativierung seiner Biographie erst anfertigt, sondern sie bereits innerhalb der Diegese vorgefunden hat. Dementsprechend ist sie in ihrer materiellen Gestalt als Papier-Karte mit Einrissen dargestellt. Im Gegensatz zur vorigen Karte enthält sie Kartenzeichen (Kompass, Legende, Titel, Beschriftung). Der Kompass stellt die Welt ›auf den Kopf‹: Durch die Invertierung auf der horizontalen Achse (rechts – links) wird das Motiv der ›verkehrten Welt‹ (mundus inversus) adaptiert.26 Andererseits entspricht die invertierte Darstellung der menschlichen Wahrnehmung von ›rechts‹ und ›links‹, die von der jeweils anderen Gehirnhälfte verarbeitet werden:
25 Bei der vorangehenden Abbildung des Bollogschädellabyrinths (KBB 412 f.) handelt es sich nicht um die Abbildung einer (abstrakten) Karte, sondern eine Illustrierung der (konkreten) Textwelt. 26 Vgl. Norbert H. Ott: Welt, Verkehrte. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. Hg. v. Norbert Angermann [u. a.]. München 1997, S. 2158; Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 4. Aufl. Bern/München 1963, S. 104 – 108. Curtius führt den Topos auf die Technik der ›Reihung unmöglicher Dinge‹ (impossibilia) zurück, die in den Zamonien-Romanen ja fester Bestandteil ist.
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›lechts und rinks‹ kann man eben sehr wohl ›velwechsern‹.27 Auf der vertikalen Ebene ist die Angabe (vorne – hinten) nutzlos, sowohl für den Leser als auch – und erst recht – für Käpt’n Blaubär.
Abb. 5: Gehirn-Karte des Bollogg-Schädels (KBB 430 f.)
Die Karten sind also zunächst nach der Ebene, auf der sie produziert und rezipiert werden, zu differenzieren (intradiegetisch vs. extradiegetisch). Ferner unterscheiden sie sich im Hinblick auf ihre Reichweite (lokal vs. regional vs. global) und Detailtiefe ebenso wie in der Fülle der Kartenzeichen und damit im Grad ihrer Abstraktion. Die Überblickskarte über Zamonien hat darüber hinaus ihre Funktion weniger auf der Ebene der histoire, da die räumlichen Verhältnisse und deren Nachvollzug durch den Leser keine entscheidende Rolle spielen, sondern vielmehr auf der Ebene des discours, insofern sie dem Leser als ein Substitut eines textuellen Inhaltsverzeichnisses dient. Dagegen erfüllen die intradiegetischen Karten (KBB 430 f.) eher Funktionen für die handelnden Figuren als für den Leser, wobei der Eindruck der Desorientierung von jenen auf diesen übergeht. Die Karten suggerieren durch ihre Detailtiefe die Existenz einer realen Welt, die der Leser spielerisch akzeptiert.28
27 Ernst Jandl: Laut und Luise. Olten [u. a.] 1966. 28 Vgl. Wolf 2009, S. 150.
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Die Karte als Exposition: Ensel und Krete Ensel und Krete enthält vier Karten, wobei zwei einander entsprechen (EK 14 f. und die Karte auf der Rückseite des Schutzumschlags29) und eine weitere eine Variante der Karte in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär darstellt (EK hinterer Vorsatz und KBB vorderer Vorsatz). die Karte auf der Rückseite des Schutzumschlags von Ensel und Krete ist wesentlich abstrakter als diejenigen im Vorgängerroman. Hat die Karte in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär noch die Funktion eines visualisierten Inhaltsverzeichnisses gehabt, ist sie in Ensel und Krete grundlegend anders instrumentalisiert. Sie kann nur bedingt als Mittel des performativen Nachvollzugs durch den Leser, der sich im Blätterwald ebenso zu verlaufen droht wie die Figuren, verwendet werden, denn die dargestellten Orte sind für die Erlebnisse des Protagonistenpaars nicht von Bedeutung, sondern werden geradezu vom Fortgang des plots gemieden. Die Karten werden vom Erzähler als Element der Diegese eingeführt: Der Waldhüter aber sagte seinen auswendig gelernten Spruch auf: »Willkommen im Buntbärenwald! Wildes Campieren, Phogarrenrauchen, Jagen, Verlassen der bezeichneten Wanderwege und offenes Feuer jeder Art verboten. Bitte entnehmen Sie dem Holzkasten unter meinem Fenster eine kostenlose Waldkarte. Gut Holz!« (EK 12)
In Ensel und Krete sind die Karten vom Großen Wald (EK Umschlag und EK 14 f.) kein neutrales Beiwerk des Erzählers oder Übersetzers oder zufälliges, bloß illustrierendes Artefakt (Abb. 6). Sie sind Teil des erzählerischen Diskurses und somit auch der Diegese. Der Ursprung dieser intradiegetischen Karte ist mit den autoritären Institutionen verknüpft, die den Wald mit Regeln, Befehlen und Ordnung durchziehen. Diese Ordnung ist Ausdruck der territorialen Autorität der Buntbären: Neben den zehn Dörfern waren auf der Karte alle befestigten Wege Baumings verzeichnet, die niemand verlassen durfte, der kein Buntbär war. Wurde man nur einen Meter neben dem Pfad erwischt, dann zeigten die patrouillierenden Wächter des Forstes dem Übeltäter ihr Lächeln und begleiteten ihn freundlich, aber bestimmt auf den rechten Weg zurück. (EK 17)
Die Idylle scheint bedroht und kann nur durch verschiedene Kontrollmechanismen aufrechterhalten werden. Darauf weisen auch die Ge- und Verbotsschilder hin, die dem Touristen den ›rechten Weg‹ weisen.
29 Die Karten unterscheiden sich nur in der Dichte ikonischer Kartenzeichen.
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Abb. 6: Karte von Bauming (EK Umschlag)
Abb. 7: Karte vom Großen Wald (EK hinterer Vorsatz)
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Je näher man aber der Grenze zum unbesiedelten Teil des Großen Waldes kam, desto schmaler und vereinzelter wurden die Wege, und schließlich gab es gar keine mehr, nur noch dunklen, wilden Urwald, umgeben von eindrucksvollen Verbotsschildern: »Weitergehen verboten! Lebensgefahr und gesundheitliche Dauerschäden drohen!« – »Halte ein, Wanderer, wenn Dir Dein Leben lieb ist!« – »Hinter diesem Schild lauert das Ungewisse – Kehre um!« und so weiter. (EK 18)
In den vorangehenden Zitaten wird vor allem die Beherrschung des Raumes, die Kontrolle von Wegen und Orten sichtbar. Es sind aber Landschaft und Gesellschaft des Großen Waldes, die durch eine Vielzahl von Restriktionen reglementiert sind, die zu dem touristischen Idyll von »vollkommener Harmonie« (EK 11) ganz und gar nicht passen wollen. »Alle Buntbären sind ungleich« (EK 23). Dieser Bauminger Grundsatz ist nicht nur Ausdruck einer individualistischen Ethik verschiedenfarbiger Bären, sondern zugleich ein sarkastischer Kontrapunkt zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in der Thomas Jefferson die Gleichheit aller ausrief: ›All men are equal.‹30 In ähnlicher Weise hat bereits George Orwell für seine politische Parabel Animal Farm (1945) den Sinn der ursprünglichen Aussage umgekehrt, um die ethischen Verfehlungen seiner Tiergesellschaft zu markieren: »ALL ANIMALS ARE EQUAL / BUT SOME ANIMALS ARE MORE / EQUAL THAN OTHERS«31. Die touristische Diktatur der Buntbären äußert sich ebenso in der rigiden Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens wie auch in der Organisation der Karte des Großen Waldes. Die Benennungen sind nicht nur referentiellen Charakters, sie sind vor allem Ausdruck subtiler Gewalt, die sich in der Macht äußert, Dinge zu bezeichnen und Dinge nicht zu bezeichnen.32 So werden in beiden Karten vom Großen Wald (EK 14 f., Umschlag) die einzelnen Orte, denen der Reisende einen Besuch abstatten könnte (z. B. Eichendorf, Akazien, Honing), zwar namentlich erwähnt und graphisch hervorgehoben, die Zwischenräume aber werden überschrieben durch Kartenzeichen, die auf touristisch attraktive Plätze hinweisen, an denen man fischen, essen oder trinken könne. »Karten […] werden zumeist von sehr rigide organisierten, geschlossenen Kollektiven erstellt und zwingen ihren Leser mit der Wahl bestimmter Maßstäbe und Projektionen sowie der Auswahl bestimmter Merkmale durchaus zu einem bestimmten Blick.«33
30 »We hold these Truths to be self-evident, that all Men are created equal«; Julian Parks Boyd: The Declaration of Independence. The evolution of the text as shown in facsimiles of various drafts by its author. Hanover/London 1999, S. 98. 31 George Orwell: Animal Farm. A Fairy Story [ED 1945]. Harmondsworth [u. a.] 1982, S. 114. 32 »So kann sich ein Urlaubsgebiet durch gezielte Auswahl von Fakten entweder als naturhafte Idylle präsentieren oder als Kulisse für Modesportarten.« Dagmar Schmauks: Landkarten als synoptisches Medium. In: Zeitschrift für Semiotik 20 (1998), H. 1 – 2, S. 7 – 24. 33 Stockhammer 2007, S. 57; vgl. J. B. Harley : Maps, knowledge, and power. In: The iconography of landscape. Essays on the symbolic representation, design and use of past envi-
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Damit werden aber nicht die Räume zwischen den Wegen inhaltlich gefüllt, vielmehr wird mit der graphischen Füllung jene inhaltliche Leere verborgen, mit der die Buntbären jeden Raum abseits der Wege negieren. Es wird sogar durch die Illustrationen ein System von Normen etabliert, indem eine Leiste von zwanzig Totenkopfsymbolen am linken Rand die Karte abschließt: Während die Wege und Wegesränder dem Wanderer Freude versprechen, droht außerhalb dessen unweigerlich der vielzählige Tod. Was sich auf den ersten Blick als Orientierungshilfe in der Buntbären-Vergnügungswelt darstellt, erweist sich als ausgesprochen autoritäres und subtiles Mittel der Machtkontrolle. Durch implizite Ge- (›Diese Wege kann man benutzen‹) und Verbote (›Geh nicht hier entlang‹) sowie eine interessengelenkte Auswahl von Informationen (›Hier ist kein Weg‹) sind die Karten unbrauchbar für denjenigen, der sich außerhalb der Wege aufhalten möchte. Die Karten fungieren insofern als »Ausschließungssystem« zur »Kontrolle und Einschränkung des Diskurses« und damit ebenso der diskursiven Praktiken.34 Aber wo ist der Gegenpart – oder, um Foucault aufzugreifen: Wer bringt die Unordnung in den Diskurs? Diese Funktion wird vom widerspenstigen Erzähler übernommen. In den für Ensel und Krete charakteristischen »Mythenmetzschen Abschweifungen« führt der Erzähler den Leser auf dieselben Abwege (und Holzwege), auf denen auch die Figuren wandeln.35 Mythenmetz unterbricht regelmäßig die Handlung, um in Exkursen verschiedenen Umfangs, die er selbst als »vollkommen neuartige[] schriftstellerische Technik« (EK 34) bezeichnet, metareferentielle Kommentare zu geben: Diese Technik ermöglicht es dem Autor, an beliebigen Stellen seines Werkes einzugreifen, um, je nach Laune, zu kommentieren, zu belehren, zu lamentieren, kurzum: abzuschweifen. Ich weiß, daß Ihnen das jetzt nicht gefällt, aber es geht nicht darum, was Ihnen gefällt. Es geht darum, was mir gefällt. (EK 34)
Der Erzähler bricht damit mit jenen Konventionen, die man mit Foucault als »interne Prozeduren«36 der Kontrolle bezeichnen kann und die in der zamonischen Fiktion vom Literaturkritiker Laptantidel Latuda personalisiert werden (EK 86 – 88, vgl. STB 86). Der erhebliche Verstoß gegen die – an den Grice’schen Konversationsmaximen orientierten – Erzählkonventionen von Kohärenz, Prägnanz und Wahrheit37 hinterlässt einen wiederum totalitären Eindruck:
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ronments. Hg. v. Denis Cosgrove u. Stephen Daniels. 9. Aufl. Cambridge 2007 (Cambridge studies in historical geography 9), S. 277 – 312. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Übers. v. Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1991, S. 17. Vgl. hierzu den Beitrag von Ninon Franziska Thiem im vorliegenden Band. Foucault 1991, S. 17. Paul H. Grice: Logik und Konversation. Übers. v. A. Kemmerling. In: Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Hg. v. Georg Meggle. Frankfurt a. M. 1993, S. 243 – 265.
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So, jetzt verstehen Sie vielleicht besser, wie so ein totalitäres System funktioniert. Obwohl die Mehrheit der Leser dem Fluß der Geschichte zu folgen wünscht, schaltet sich eine übergeordnete, nicht durch freie Wahlen legitimierte Macht ein und verordnet, daß es nur noch »Brummli« zu lesen gibt. Brummli Brummli Brummli […] (EK 56)
Auch wenn der Erzähler sich damit dem Leser gegenüber denselben Terror narrativ zunutze zu machen scheint, der auf der Inhaltsebene die Figuren peinigt, steht er doch dem Buntbärenhabitus sehr fern: Während diese nämlich ein komplexes ikonisches System von Regeln aufstellen, ist jener umso intensiver damit beschäftigt, gegen diskursive Regeln und Konventionen zu verstoßen. Die daraus sich entwickelnde Widersprüchlichkeit von Gewalt und Auflehnung, Regel und Verstoß wird da zum Paradoxon, wo der Verstoß zur Regel erhoben wird. Hildegunst referiert als siebte Grundtugend des Dichters: »Jawohl, der Dichter gehorcht keinen Gesetzen, nicht einmal denen der Natur. Frei von allen Fesseln muß sein Schreiben sein, damit seine Dichtung fliegen kann.« (EK 37) Wo in der Fiktion der histoire kein Ausweg aus dem autoritären Ordnungssystem besteht, können Erzähler und Leser auf der Ebene der Narration (discours) die Freiheit der Kunst in Anspruch nehmen.38 Die Karten in Ensel und Krete erfüllen zwei Funktionen: Durch die touristischen Kartenzeichen werden das Thema und die Exposition des Textes visualisiert. Die Transponierung des Märchenstoffes in eine phantastische Moderne wird durch die auf eine moderne Tourismusindustrie hindeutenden Kartenzeichen sichtbar gemacht.39 So wird der Verfremdungseffekt des Palimpsests vom Hänsel und Gretel-Ursprung erhöht und vom originalen Prätext entfernt. Es handelt sich um eine Parodie, wenn man darunter die spielerische Transformation eines Stoffes versteht.40 Daneben erfüllen die Karten aber auch eine weitere Funktion: In ihrer Eigenschaft, Orte zu benennen und andere zu verschweigen, wird ihr repressiver Charakter als Instrument der Machtausübung offenbar : »As much as guns, maps have been the weapons of imperialism.«41 Die Karten sind durch ihre Verankerung in der Diegese mit Hintersinn versehen: Sie sollen die räumlichen Bewegungen der Figuren regulieren. In ihnen äußert sich die ›Macht des Diskurses‹ 38 Eine sehr überzeugende Kontrastierung der miteinander konkurrierenden Mythen in Ensel und Krete bietet Hans-Edwin Friedrichs Beitrag im vorliegenden Band. 39 Hinweise hierauf finden sich schon am Ende von Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär : »Der Große Wald wurde bald wieder zu einer der touristischen Attraktionen Zamoniens, beliebt wegen seiner romantischen Gasthäuser, in denen die Tiere des Waldes aus und ein gingen und man von Buntbären paradiesisch bekocht wurde« (KBB 701). 40 Vgl. G¤rard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1993, S. 44. 41 Harley 2007, S. 282.
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einer Buntbärengesellschaft, deren Werte nicht Freiheit und Gleichheit, sondern Unfreiheit und Ungleichheit sind. Das autoritäre Buntbärenprojekt scheitert aber an dem Widerstand der Figuren und zugleich des eigenwilligen Erzählers, deren Wege keineswegs den Vorgaben entsprechen, sondern sich konsequent allen Regeln des Wanderns und des Erzählens widersetzen. Es handelt sich bei dem Großen Wald ebenso wie bei den Katakomben in Die Stadt der Träumenden Bücher um ein labyrinthisches System. Allerdings zeichnet sich das Labyrinth in Ensel und Krete durch die explizite Betonung der Wege aus, wohingegen Die Stadt der Träumenden Bücher praktisch ein Raum ohne Wege ist (s. u.): Die ausweglose Situation in Ensel und Krete entspricht ganz und gar nicht der ›weglosen‹ Situation des jungen Mythenmetz in dem späteren Roman.
Raum ohne Wege: Die Stadt der Träumenden Bücher Im Gegensatz zu den vorangehenden Romanen enthält Die Stadt der Träumenden Bücher keine Karte der Handlungsorte auf den vorderen und hinteren Vorsatzblättern. Stattdessen wird äquivalent zum Schutzumschlag eine Abbildung gut gefüllter Bücherwände präsentiert, die sich dem umblätternden Leser auf zwei Doppelseiten wiederholt und die am Schluss des Buches fünf weitere Doppelseiten einnimmt. Nur an weniger prominenter Stelle im Buch ist eine Karte Buchhaims eingefügt, die zwar verhältnismäßig viele Informationen über die Stadt enthält, allerdings sind diese höchst unbrauchbar (STB 31, Abb. 8). Abgesehen von dem Kompass in der rechten oberen Ecke fehlt eine Legende ebenso wie eine detaillierte Beschriftung, sie enthält kaum charakteristische Merkmale, die eine Identifikation bestimmter beschriebener Orte ermöglichen würden.42 Sie suggeriert durch ihre Detailtreue und fehlenden ikonischen Zeichen zwar einen hohen Grad an Authentizität, lässt aber nur wenig Interaktion mit dem Leser zu, der die Wege der Figuren vergeblich nachzuverfolgen sucht. Buchhaim ist auf der horizontalen Achse wenig ausdifferenziert: »Ein Stadtbild wie jedes andere, wenn nicht all diese Bücher wären.« (STB 11) Mythenmetz bewegt sich zwar in den Straßen der Stadt, allerdings handelt es sich um einen insgesamt recht homogenen Raum, in dem die Bewohner Bücher schreiben oder lesen, mit ihnen handeln, von ihnen berichten oder sie kritisieren. Auf der vertikalen Achse wiederum ist die Stadt äußerst interessant: Nur ein Bruchteil von Buchhaim, vielleicht gerade einmal zehn Prozent der Stadt, liegt an der Oberfläche. Die weitaus größeren Teile befinden sich unter der Erde. Wie ein 42 Ausnahmen sind Smeiks Haus im Zentrum sowie möglicherweise der Park an der nordöstlichen Peripherie, der durch die kreisrunde dunkle Fläche repräsentiert sein könnte.
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Abb. 8: Karte von Buchhaim (STB 31)
monströser Ameisenbau verfügt sie über ein unterirdisches Tunnelsystem, das sich viele Kilometer nach unten erstreckt, in Form von Schächten, Schlünden, Gängen und Höhlen, die sich in einem unentwirrbaren gigantischen Knoten verschlingen. (STB 42)
In dieser Stadt, deren Reiz von der Diskrepanz zwischen ›oben‹ und ›unten‹ beherrscht wird, hilft eine zweidimensionale Karte, wie der Illustrator sie befügt, herzlich wenig zur Orientierung. Die vertikale Ordnung, die eine ikonische Leerstelle des Bildromans darstellt, soll das Thema der folgenden Ausführungen sein. Die Zweiteilung, die das Inhaltsverzeichnis suggeriert (Obenwelt – Untenwelt) stellt sich bald als zu simpel heraus, denn die unterirdische Welt wird wiederum in die oberen und unteren Katakomben unterteilt: »Man sagte den Labyrinthen Verbindungen zu Untenwelt nach, jenem geheimnisvollen Reich des Bösen, das sich angeblich unterhalb von Zamonien erstreckte.« (STB 55) Bei den hier als »Labyrinthe« bezeichneten Passagen der Untenwelt handelt es sich um die Grundsteine der Stadt Buchhaim, die ursprünglich unterirdisch angelegt worden ist: Anfangs war Buchhaim gar keine richtige Stadt, sondern existierte fast nur unterirdisch, in Form von bewohnten Höhlen, die durch künstliche Tunnel, Schächte, Stollen und Treppen immer enger miteinander verbunden wurden und in denen Stämme und Banden der unterschiedlichsten Daseinsformen lebten. An der Oberfläche gab es nur die Höhleneingänge und ein paar Hütten, erst mit der Zeit wuchs daraus die oberirdische Stadt, bis sie schließlich die heutige Größe erreicht hatte. (STB 56)
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Die Übergänge zwischen der Oberfläche und der Tiefe sind von den Bewohnern in unüberwindbare Grenzen umgewandelt worden: Die Zugänge zur unterirdischen Welt wurden überbaut, andere zugemauert, und was offenblieb, wurde durch Türen und Kanaldeckel verschlossen und streng bewacht. Von nun an durften nur noch die Bereiche der Labyrinthe betreten werden, die vermessen und kartographiert waren und als sicher galten. (STB 56 f.)
Aus der bislang dichotomischen Raumordnung ›oben/unten‹ wird durch die zweite Grenzziehung eine dreiwertige ›oben/unten/ganz unten‹. Die Grenze nach ›ganz unten‹ wird nur von verwegenen Bücherjägern überquert, die nach den verlorenen Büchern der legendären »Goldenen Liste« (STB 57) suchen. Mythenmetz flaniert zunächst durch Buchhaims Straßen und Gassen: Er findet den »Friedhof der Vergessenen Dichter« (STB 84), gerät versehentlich in die »Giftige Gasse« (STB 85), die »natürlich eine Sackgasse« (STB 86) ist, spaziert durch die »Lektorenallee« (STB 87) und findet schließlich die »Schwarzmanngasse« (STB 97), wo er der bücherhandelnden Haifischmade Phistomefel Smeik begegnet. Die Raumbewegungen des Protagonisten sind von Zufall und Irrwegen geprägt. Das Haus ist das einzige zweifelsfrei lokalisierbare Element auf der Buchhaimer Karte; die Beschreibung weist es als Mittelpunkt der Stadt aus: Die »Schwarzmanngasse hatte die Form einer Spirale, die sich viele Male um das geographische Zentrum der Stadt wand, in dessen Mitte Phistomefels Haus stand.« (STB 108) Die Welt unterhalb Buchhaims stellt ein Labyrinth dar, wie es schon in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär und Ensel und Krete eine Rolle spielte. Der Zugang zu dieser Unterwelt befindet sich im Haus des korrupten Smeik. Dieser führt Mythenmetz in sein unterirdisches Lager, das »sich etwa einen halben Kilometer« unter der Oberfläche befindet (STB 141). Bei der Ankunft dort, wo Mythenmetz seine Buchhaimkarte nicht mehr helfen kann, stellt sich augenblicklich der für Labyrinthe so charakteristische Effekt ein: »Nie hatte ich mich an einem Ort so orientierungslos gefühlt.« (STB 139) Mythenmetz betritt die Katakomben. Der zweite Teil des Romans (»Die Katakomben von Buchhaim«, STB 155) wird – wie bereits der erste Teil – von einem Gedicht eingeleitet, das wiederum von einem bewohnten und ornamental-figürlichen Rahmen umgeben ist (STB 157 bzw. STB 7).43 Die graphischen Rahmen werden beide von einem lesenden Buchling bewohnt und enthalten einen Totenschädel, eine (den Bücherjägern zuzuschreibende) Axt sowie ein Trinitätssymbol, das Smeik in seinem Sinne interpretiert: Der Dreikreis »symbolisiert die drei Bestandteile der Macht: Macht, Macht und Macht« (STB 146). Gegenüber den Übereinstimmungen 43 Als ›bewohnter Rahmen‹ wird in der Kunstgeschichte ein ornamentaler Rahmen mit Einschluss von Figuren bezeichnet.
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beider Rahmen fällt der Unterschied umso stärker ins Auge: Während das erste Kapitel von geordneten Stapeln geschlossener Bücher eröffnet wird, beginnt der zweite Teil mit fallenden, geöffneten Büchern und losen Seiten. Die Ordnung Buchhaims, die auch von der akribischen – und dennoch sinnlosen – Karte aufgenommen wird, ist hier auch visuell der Unordnung der Katakomben gegenübergestellt. »Irgendwann sank ich zu Boden. Wie lange war ich unterwegs gewesen? Einen halben Tag? Einen ganzen? Zwei? Ich hatte in jeglicher Hinsicht die Orientierung verloren, zeitlich, räumlich, moralisch.« (STB 166) Aber welcher Art ist die räumliche (Un-)Ordnung der Unterwelt? Und wie wird die Desorientierung hergestellt? Um diesen Zustand der Unordnung darzustellen, ziehe ich die Differenzierung von Heinz Vater heran, der in seiner linguistischen Arbeit zum ›Raum‹ die Untersuchungsebenen von ›Positionierung‹ (Stellung im Raum), ›Direktionalisierung‹ (Bewegung im Raum) und ›Dimensionierung‹ (Ausdehnung im Raum) unterscheidet.44 Zunächst problematisiert der Roman nach Eintritt Hildegunsts in die Katakomben die Referenz deiktischer Ausdrücke der Positionierung.45 »›Hier fängt die Geschichte an.‹ Wo war hier? Hier in den Katakomben? Hier, wo ich gerade langging?« (STB 168) Oder – so lässt sich weiterfragen – hier, wo der Leser gerade seine Augen hat? Die statische Raumreferenz (»Hier«) taugt nicht mehr zur Positionierung von Objekten im Raum. Da deiktische Ausdrücke (hier, dort etc.) dadurch charakterisiert sind, dass sie nur einen Aussagewert haben, wenn die Position des äußernden Subjekts bestimmbar ist,46 ›funktionieren‹ sie in der Unterwelt nicht, denn die Position Mythenmetz’ ist ihm selbst ebenso unklar wie auch dem Leser. Die Unterwelt bietet den Figuren und dem Leser, der gerade in Die Stadt der Träumenden Bücher immer wieder in das metaleptische Spiel des Erzählers einbezogen wird, keine Orientierung.47 Inmitten dieses literarischen Labyrinths befindet sich – als räumlicher Gegenpart zu Buchhaim – »Unhaim«, die »gigantische[] Müllkippe der Katakomben, wo Millionen von Büchern verrotteten« (STB 66), von dem der Bücherjäger Colophonius Regenschein in seinem Buch »Die Katakomben von Buchhaim« berichtet (STB 177): »Das war die morbide Kehrseite von Buchhaim« (STB 178). Nach der Durchquerung dieses »papierene[n] Meer[es]« von Unhaim (STB 182) gelangt Mythenmetz in das »Reich der Toten« (STB 183). Die Raumbewegungen
44 Vgl. Heinz Vater : Einführung in die Raum-Linguistik. Hürth-Efferen 1991 (Kölner linguistische Arbeiten 24), S. 42 u. 48 – 95. 45 Vgl. ebd., S. 46. 46 Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 2. Aufl. Stuttgart 1965, S. 102 – 120. 47 Zu den Metalepsen in Die Stadt der Träumenden Bücher vgl. Sonja Klimek: Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der phantastischen Literatur. Paderborn 2010, S. 164 f.
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(als Phänomene der Direktionalisierung), die hier nicht im Detail geschildert werden sollen, bleiben in höchstem Maße diffus: Und mit jedem Schritt drang ich tiefer und tiefer ein in dieses Reich der Toten […]. In einer Reihe hintereinander gelegener Grotten sah ich gewaltige Haufen von gestapelten Knochen und Schädeln […]. Leichen und Grabmäler gaben mir keine Hinweise zur Orientierung, ich konnte einfach nur weiterstolpern durch diesen scheinbar endlosen unterirdischen Friedhof. (STB 184 f.)48
Besonders präzise ist diese Schilderung nicht; mit dem tieferen Eindringen in das unterirdische Stollenlabyrinth und nach der Begegnung Mythenmetz’ mit den Buchlingen wird die Bedeutung der Topographie, deren Raumverhältnisse sich bisher durch die Beschreibungen als unbeschreibbar erwiesen haben (topoi und graphe treten gewissermaßen auseinander), transformiert. Die Welt scheint fortan nur noch aus Orten zu bestehen, deren Verbindungen praktisch nicht mehr existent sind: Ja, meine treuen und geliebten Freunde, das war auch schon alles, was ich in diesem Kapitel berichten kann. Ich kann nur noch sagen, daß wir uns – schwupp! – im nächsten Augenblick an einem ganz anderen Ort befanden! Keine Ahnung, wie die Zwerge dieses Zauberkunststück bewerkstelligten, aber wir standen von einem Wimpernschlag zum anderen vor dem riesigen steinernen Portal einer Grotte. (STB 210)
Die hypnotischen Kräfte der Buchlinge eliminieren nicht die Wege, aber deren narrative Beschreibbarkeit durch den Ich-Erzähler, der die Wege, die er zurücklegt, nicht mehr wahrnimmt und entsprechend auch nicht von ihnen erzählen kann. Solche – vom Erzähler als Teleportationen empfundenen – Ereignisse kennzeichnen auch die folgenden Bewegungen (STB 244). Wenn der Erzähler seine unterirdischen Reisen nicht in hypnotischer Trance vollführt, dann entweder in Ohnmacht (STB 394) oder im Schlaf (STB 419). Wo der Erzähler tatsächlich einen Weg zurücklegt und sich nicht in Hypnose, Schlaf oder Ohnmacht befindet, wird der Weg nicht beschrieben, sondern durch Erzählung ›ersetzt‹; anstatt den Weg zu beschreiben, wird die Tatsache, dass Bewegung stattfindet, von der Erzählung der Figur ›verdeckt‹ (STB 276). Der Erzähler tritt erst wieder hervor, als der Weg ›beendet‹ ist: »Danzelot Zwei hatte vor einem Höhleneingang angehalten, in dem ein Vorhang aus schweren Ketten hing.« (STB 276) Kurz darauf wird die »Lederne Grotte« (STB 286) der Buchlinge von den Bücherjägern unter der Führung von Rongkong Coma angegriffen (STB 285), der die Kontrolle über den Ort zu gewinnen versucht. Mythenmetz kann nur deshalb entkommen, weil er seinen Kontrollverlust selbst herbeiführt, indem er sich der Mechanik der (fast) undurchschaubaren Büchermaschine ausliefert. 48 Hervorhebungen von mir; G. L.
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Dieses komplizierte Transportsystem zeichnet sich markanterweise dadurch aus, dass es Raumveränderungen scheinbar unkontrolliert durchführt. »Ich öffnete die Augen wieder und sah die verdutzten Bücherjäger unter mir, die zu uns hochblickten. Das Regal war in die Höhe gefahren.« (STB 288) Mythenmetz macht eine rasante Fahrt auf der Bahn der Rostigen Gnome, die ihn hin und her befördert: »Steigung und Absturz, Berg und Tal, Links- und Rechtskurve wechselten beinahe im Sekundentakt« (STB 299). Während Mythenmetz anfangs die Wege zwischen den Räumen nicht wahrnehmen kann, so entgehen ihm nun vor lauter Bewegung die Orte. Neben den Problemen der statischen (Positionierung) und dynamischen Raumreferenz (Direktionalisierung) in der Unterwelt wird darüber hinaus die Ausdehnung der Katakomben (Dimensionierung) sowie der einzelnen Objekte in ihnen aufgegriffen: Der überdimensionierte Zyklopenschädel (STB 192), in dem Hoggno der Henker lebt, sprengt ebenso die üblichen Raumverhältnisse wie die Verhältnisse in Schloss Schattenhall. Dort durchquert der Protagonist einen Korridor, »der endlos zu sein scheint« und von dem »unzählige dunkle Türen« (STB 316; vgl. STB 323) abgehen. Die Architektur des Gebäudes basiert auf dem Prinzip unabgeschlossener Ausdehnung; die Objekte erscheinen dem Beobachter als unbegrenzt oder als monströs49 : »Ich erkundete Hallen mit monströsen Kaminen, Säle mit langen Tischen und steinernem Gestühl.« (STB 324) Schloss Schattenhall ist schließlich der Extrempunkt der von Büchern durchsetzten Unterwelt, in dem nicht mehr nur die Wahrnehmung der Topographie gestört ist, sondern schließlich die Topologie selbst: »Aber auch die Abzweigung war nicht mehr da, der ganze Korridor mit der Kerze war verschwunden! Das war doch völlig unmöglich! […] Das war die perfideste Sackgasse, in die ich je geraten war. Schloß Schattenhall war also ein Labyrinth. Ein Labyrinth im Labyrinth.« (STB 315) Die Reminiszenz an Umberto Ecos Il nome della Rosa (1980) ist unverkennbar : »Die Bibliothek ist ein großes Labyrinth, Zeichen des Labyrinthes der Welt. Trittst du ein, weißt du nicht, wie du wieder herauskommst«.50 Die Unterwelt ist eine zutiefst literarische Welt, die von literarischen Manifestationen wie den Buchlingen und dem aus Papier bestehenden Schattenkönig bevölkert wird.51 Die aus Buchhaim stammenden Bücherjäger sind in dieser Welt Fremdkörper und werden eliminiert (STB 441 – 445). Sie gehören der Kulturindustrie Buchhaims an, in der Literatur auf Ökonomie, Macht und Manipula49 Zur Monstrosität der Zamonien-Welt vgl. den Beitrag von Daniel Schäbler im vorliegenden Band. 50 Umberto Eco: Der Name der Rose. Übers. v. Burkhart Kroeber. 44. Aufl. München/Wien 1986, S. 201. 51 Vgl. zum allegorischen Charakter der Figuren den Beitrag »Von toten Autoren und Lebenden Büchern« von Maren J. Conrad im vorliegenden Band.
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tion ausgerichtet ist.52 Im Untergrund dagegen wird Reichtum gering geschätzt: Die Buchlinge »sind das einzige Volk in den Katakomben, das sich nicht an der Geschäftmacherei mit den Büchern beteiligt.« (STB 364) Die Grenze zwischen den Räumen ›Untenwelt‹ und ›Obenwelt‹ wird als (fast) unüberwindlich inszeniert: Der Schattenkönig muss an der Oberfläche angesichts des Tageslichts verbrennen, nachdem (einzig und ausgerechnet) der Unmöglichkeitsschlüssel die entscheidende Tür geöffnet hat (STB 434). Aber trotz der Markierung der oberen Welt als konsum- und erlebnisorientiert bleibt die (lebenswirkliche) Obenwelt notwendige Bedingung für den (literarischen) Untergrund: »Ohne Oberfläche keine Tiefe« (STB 45). Wenn Die Stadt der Träumenden Bücher an dem Ort, wo in der Zamonienreihe traditionellerweise der Schauplatz des Geschehens dargestellt wird, auf dem Vorsatzblatt, dem Schmutztitel und ebenso dem Titelblatt eine ›endlos‹ scheinende Bibliothek präsentiert, ist dies geradezu programmatisch, insofern Moers hier anstelle einer räumlichen Ordnungshilfe eine literarische Un-Ordnung bietet. Die Literatur – in unübersichtlicher Fülle – ist schließlich Gegenstand und eben auch Schauplatz des Romans. Indem reale Bewegungen im Raum zwar stattfinden, nicht aber dargestellt werden, und sich somit eine imaginäre Karte der Unterwelt Zamoniens gar nicht denken lässt, bedarf es einer ›literarischen‹ Orientierung, die Mythenmetz durchaus besitzt: Ich dankte meinem Dichtpaten im nachhinein für die Unbarmherzigkeit, mit der er mich all diese Fakten pauken ließ. Wie habe ich ihn damals dafür verflucht, und nun rettete sie mir vielleicht das Leben! Es war, als würde ich über ein dunkles Meer segeln, in dem auf kleinen Inseln zahllose Leuchttürme standen. Die Leuchttürme, das waren die Dichter, die sich über Jahrhunderte ihre einsamen Botschaften zufunkten, und ich segelte dem Leuchtfeuer der Poesie hinterher, von Insel zu Insel – das war mein Leitfaden aus dem Labyrinth. (STB 171)
Mit räumlichen Metaphern wird der Wert einer literarischen Orientierung hier als im Umfeld der Unterwelt lebensrettend dargestellt. Diese Form der Orientierung darf aber nicht mit einer Art der Kanonisierung gleichgesetzt werden, wie sie – aus ökonomischem Interesse – Smeik mit der »Goldenen Liste« (STB 57) an der Oberwelt praktiziert, sondern muss eher im emphatischen Umgang der Buchlinge mit Literatur gesucht werden: »Die Buchlinge waren zum Glück keine literarischen Snobs – sie hatten nicht nur Klassiker memoriert, sondern auch Werke der sogenannten Trivialliteratur.« (STB 271) Das Ideal der Untenwelt ist eine literarische Welt ohne Markt und Kanon, ohne ordnende Macht.53 Kar52 Zum Begriff der ›Kulturindustrie‹ vgl. Theodor W. Adorno u. Max Horkheimer : Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1947, S. 144 – 198; vgl. zur Semantisierung Buchhaims auch den Beitrag von Tim-Florian Goslar im vorliegenden Band. 53 Es handelt sich bei Die Stadt der Träumenden Bücher zwar durchaus auch um eine Karikatur
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ten, wie sie in Ensel und Krete noch als Repräsentanten der Macht fungieren, gibt es bezeichnenderweise nur an der Oberfläche, in der Tiefe hingegen herrscht nur lustvoll dekonstruiertes Chaos.
Räumliche Missverständnisse: Rumo & Die Wunder im Dunkeln In Rumo handelt es sich wie bei Die Stadt der Träumenden Bücher ebenfalls um eine räumlich dichotom differenzierte Welt, die wiederum entsprechend der Kapitel in »Obenwelt« und »Untenwelt« segmentiert ist. Bereits auf dem Titelblatt und in der Kapitelübersicht deuten die Abbildungen der Engels- bzw. Fledermausflügel auf diese räumliche Unterteilung hin. Mit der topographischen Strukturierung und der Attributierung der Kapitel mit Engels- und Fledermausflügel auf dem Titelblatt wird auf traditionelle Ikonographien zur Kennzeichnung von Himmel und Hölle zurückgegriffen, die im Text durchaus ihre Entsprechung finden, wenn »Hel« (vgl. engl. hell) als zentraler Schauplatz der Untenwelt fungiert. Drei Karten begleiten den Roman um den jungen Wolpertinger Rumo: Ähnlich wie in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär und Ensel und Krete wird auch Rumo von einer Karte des näheren Handlungsschauplatzes auf dem vorderen Vorsatz eingeleitet und von einer Kontextkarte mit größerem Kartenausschnitt auf dem hinteren Vorsatz beschlossen. Hier handelt es sich zunächst um eine Karte der Stadt Wolperting (R vorderer Vorsatz, Abb. 9), die sich durch verschiedene Symbole tatsächlich als Abbildung einer Karte, nicht als Abbildung der Wirklichkeit präsentiert: Hierzu zählt der Kartentitel (Wolperting) ebenso wie die Zahlensymbole inklusive der erklärenden Legende und schließlich die gerahmten Embleme bedeutender Figuren: Rala, Rolv, Ornt La Okro, Urs und Uschan Delucca. Im Gegensatz zu Ensel und Krete wird die Karte aber nicht im Roman thematisiert, sie ist also kein (intradiegetisches) Artefakt der Handlung, sondern Produkt des Erzählers (oder des Autors). Es ist überdies die einzige Karte Zamoniens, die vom (realen) Autor mit »W. Moers« signiert ist.54 Wolperting des Buchmarkts, allerdings geht der Roman nicht in dieser Funktion auf. Moers hat, wie Andreas Berger etwas überspitzt formuliert, »keine Satire über den zeitgenössischen Literaturbetrieb« geschrieben; Andreas Berger : Die bizarre Welt Zamoniens. In: Der Bund. 29. Dezember 2004. 54 Rumo hat im Gegensatz zu Ensel und Krete, Die Stadt der Träumenden Bücher und Der Schrecksenmeister keinerlei Herausgeberfiktion. Hildegunst von Mythenmetz wird zwar mehrfach als zamonischer Schriftsteller erwähnt, tritt hier aber nicht als Autor des Buches auf. Zu der (ungewohnt) offensiven Betonung des Autornamens auf der Karte tritt die Nennung als Illustrator auf dem Titelblatt: »Illustriert vom Autor«. Zudem ist die Abbildung des Bauernhofs, auf dem Rumo aufwächst, ebenfalls signiert (R 16 f.).
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Abb. 9: Wolperting (R vorderer Vorsatz)
wird mit den typischen Bestandteilen einer mittelalterlichen Stadt präsentiert: Eine Stadtmauer mit Wehrtürmen und Toren säumt den Stadtkern, in dessen Zentrum die Wolpertinger Schule als Festung herausragt. Auch in der Gestaltung erinnert die Abbildung an frühneuzeitliche Karten, wie auch die maritimen Ungeheuer auf der Karte mit dem Titel »Rumos Weg« (R hinterer Vorsatz). Diese Makrokarte (R hinterer Vorsatz, Abb. 10) zeigt denjenigen Ausschnitt der Zamonienwelt, in dem die Handlung in Rumo spielt bzw. von dem erzählt wird. Es handelt sich um den Südwesten der Insel, die Gegend von Florinth bis zum Hutzen-Gebirge. Vergleicht man den Ausschnitt mit den Karten in Ensel und Krete sowie in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär, fallen kleinere Modifikationen auf: Die Ergänzungen (das Gasthaus »Zum Gläsernen Mann«, der Nurnenwald, die Lindwurmfeste, Weinau) sind durch die Funktion der mit »Rumos Weg« überschriebenen Karte motiviert, die Stationen des Protagonisten einzubeziehen. Stärker allerdings fallen die Positionsveränderungen ins Gewicht: Dullsgard liegt nun südlich der Irrlichterbucht und die Tatzeninsel, westlich der Friedhofssümpfe, ist verschwunden, wobei eine graphische Notwendigkeit hierfür nicht ersichtlich ist. Die dritte Karte, mit der Rumos Odyssee in Untenwelt eingeleitet wird (R 388 f.), zeigt die Höhlen und Gänge von Untenwelt in starkem s/w-Kontrast (Abb. 11). Zunächst ist sein Weg anhand der Karte über den Ölsee, durch die
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Abb. 10: Rumos Weg (R hinterer Vorsatz)
Kalten Kavernen, das Nurnenwald-Labyrinth und den Totenforst, die VrahokHöhlen und die Steinwassergrotte noch nachvollziehbar, dagegen ist der Zugang zu den Kohlenfällen nicht dargestellt. Überhaupt ist die Beschreibung des Eintritts in Hel durch das Hinabsteigen der Kohlenfälle (R 555 f.) nicht mit den Informationen der Karte vereinbar, derzufolge nur ein Aufstieg der Kohlenfälle sinnvoll wäre. Karte und Text klaffen hier auseinander. Storr der Schnitter gibt Rumo den Rat: »Am besten gehst du stur geradeaus, denn irgendwie führen alle Wege in Unterwelt nach Hel. Es ist nur die Frage, wie weit man kommt. Hier unten gibt es nur zwei Richtungen: geradeaus oder zurück.« (R 410) Der Karte zufolge, deren Herkunft ebenso wenig thematisiert wird wie ihr Zweck, irrt sich Storr : Es gibt viele Wege, die nicht nach Hel führen, sogar nur einen einzigen, der dort endet – und das ist nicht einmal derjenige, den die Figuren letztlich nehmen. Im Gegensatz zu Die Stadt der Träumenden Bücher wird in Rumo die Welt unterhalb der Erdoberfläche kartographisch erfasst. Aber wo Karte und Narration miteinander konkurrieren, widersprechen sie einander – wie im Fall der Untenwelt-Karte –, und wo die Rumo-Karte sich mit den Karten der anderen Zamonien-Romane überschneidet (»Rumos Weg«), wird das Defizit der visuellen Darstellung deutlich. Offensichtliche Widersprüche tragen nicht zur Orientierung des Lesers, sondern zu dessen Desorientierung bei: Dieser geht eben auch »seinen eigenen Weg, und der war nicht immer der geradeste« (R 681).
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Abb. 11: Untenwelt (R 388 f.)
»Rumo« ist nicht nur der Name des Protagonisten, sondern auch derjenige eines Kartenspiels: »Es gab ein zamonisches Kartenspiel, das [Volzotan Smeik] besonders schätzte. Die wichtigste Karte darin, die dem Spiel seinen Namen verlieh, wird Rumo genannt.« (R 37) Das titelgebende Kartenspiel wird im Roman imitiert, indem die topographischen Karten ihrer pragmatischen Funktion beraubt werden und zum Ingrediens eines literarischen Spiels werden.55
Topographische Schwundstufe: Der Schrecksenmeister Der Schrecksenmeister ist der erste Zamonien-Roman aus der Feder Moers’, der seine Topographie nicht in Form von Karten darstellt. Von nicht geringerem Interesse ist aber die narrativ vermittelte Räumlichkeit, die sich von den bisherigen Topographien abgrenzt. In Der Schrecksenmeister gibt es zwar auch eine vertikale Differenzierung wie in Die Stadt der Träumenden Bücher (oben/unten), doch wird diese gemäß dem Motto, das dem Wissensschatz der Ledermäuse entstammt, nivelliert: »Oben ist unten« (SM 5). Stattdessen wird die Welt semantisch horizontal differenziert, 55 Bezeichnenderweise basiert der silberne Faden, dem Rumo folgt, nicht auf rationaler, sondern auf instinktiver Orientierung.
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deren Extremräume das Schloss des Schrecksenmeisters und das Haus der Schreckse Iza sowie die Blauen Berge sind. Sledwaya ist ebenso wie die das Seldwyla Gottfried Kellers ein Ort der Dekadenz.56 Die Bewohner sind krank und vom nahen Tod gezeichnet. Der Schrecksenmeister als Potentat der Stadt selbst ist quasi ein Untoter und beherbergt in seinem Schloss ein Gruselkabinett der ausgefallensten und ehemals gefährlichsten Mumien Zamoniens. Der Raum ist also mit dem Merkmal ›Tod‹ semantisiert, das Schloss des Schrecksenmeisters ist der konzentrierte Extremraum dieser topologischen Ordnung. Als Gegenpol hierzu fungiert das ferne Ideal der blauen Berge, die der Protagonist Echo vom Dach des Hauses beobachtet und am Ende der Erzählung ansteuert. Die Vernichtung des Schrecksenmeisters, die nicht nur seine Person, sondern auch seinen Ort umfasst, wenn das gesamte Schloss zerstört wird, wird minutiös beschrieben: Nun wurde das Schloss zu einem vielarmigen Kraken, seine Türme zu biegsamen Tentakeln, die hilflos um sich schlugen, bevor sie in die Tiefe gesogen wurden. Echo glaubte für einen Augenblick im Zentrum der sinkenden Ruine das Gesicht des Schrecksenmeisters zu erkennen, eine Fratze aus schwarzen Ziegeln, verzerrt von nackter Angst. Dann fiel sie in sich zusammen und wurde vom Erdboden verschluckt. […] Übrig blieb nur ein qualmender Krater, an dessen Hängen wundersam unversehrt die Stadt Sledwaya lag. (SM 368)
Dieses Metaereignis hat den Raum Sledwaya transformiert: Der vermeintlich tote, und von Echo (nur scheinbar) verspeiste, Schuhu Fjodor F. Fjodor taucht unverhofft wieder auf (SM 371) und präsentiert dem Krätzchen seine neue Familie, die aus einer Gemahlin (Feodora) und einem Sohn (Fjodor F. Fjodor der Zweite) besteht: Der Raum wird mit neuem Leben gefüllt. Die den Roman abschließende Illustration zeigt Echo in einer Rückenansicht beim Betrachten einer aufgehenden Sonne über der Silhouette in der Ferne liegender Berge (SM 376). Das Bild nimmt Bezug auf eine frühere Abbildung, die Echo aus derselben Perspektive auf dem Schornstein zeigt, wobei er hier allerdings nicht die Sonne, sondern den Mond betrachtet (SM 103). Auch dieses Bild steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Bergen, denn Fjodor F. Fjodor hat direkt zuvor von diesen erzählt und damit die Sehnsucht Echos verstärkt: »Hier in Sledwaya gibt es keine Krätzinnen mehr. Aber da hinten, hinter dem Hoziront, jenseits der Berge – da gibt es vielleicht noch welche. Und die haben die Antworten auf all deine Fragen, wenn es um die Liebe geht.« »Dann werde ich es nie erfahren«, sagte Echo traurig und blickte wieder hinauf zum Mond. »Weil Eißpin mir vorher die Kehle durchschneidet.« (SM 102) 56 Moers adaptiert die Erzählung Spiegel, das Kätzchen aus Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla (1856); vgl. hierzu den Beitrag »›Leichenfledderer sind wir alle.‹ Die Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister« von Gerrit Lembke im vorliegenden Band.
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Der Mond ist also nicht nur in seiner kulturellen Codierung als der Nacht (und metaphorisch dem Tod) zugehörig relevant, sondern auch textintern als natürlicher Zeitmesser für den nahenden Tod Echos, der für den nächsten Vollmond vorgesehen ist.57 Im Gegensatz hierzu steht das optimistische Abschlussbild der aufgehenden Sonne, deren Kontur Echos Kopf wie ein Nimbus umschließt. Im Abschlussbild werden außerdem die fernen Berge ins Bild erstmals integriert. Die bisher bestehende semantische (und visuelle) Grenze – denn die blauen Berge hatten keinen visuellen Ort, insofern sie nicht abgebildet wurden – wird hier getilgt. Damit hat der Roman zwei verschiedene Einebnungsprozesse vollzogen, nach deren Abschluss die räumliche Ordnung vollständig transformiert ist: Die Vernichtung des Schlosses hat die vertikale Diversität getilgt, die ikonische Vereinigung von Echo und den fernen Bergen im den Roman beschließenden Bild tilgt die bisher konstante Grenze zwischen den semantischen Räumen ›Tod‹ und ›Leben‹: Frieden kehrt ein in Zamonien und das Märchen endet – wie so oft und doch untypisch für zamonische Geschichten: glücklich.
Schluss Die Romane zeichnen sich durch eine komplexe räumliche Gestaltung aus, die sowohl narrativ als auch graphisch präsentiert wird. Die zahlreichen Karten Zamoniens, mittels derer der fiktive Kontinent einer immer detaillierteren Vermessung unterzogen wird, erfüllen dabei verschiedene Funktionen. In Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär dient die Karte noch in erster Linie der Visualisierung und Etablierung der Schauplätze der Diegese sowie dem Nachvollzug des episodischen Lebenswegs des Protagonisten. Anstelle eines schriftlichen Inhaltsverzeichnisses wird das Itinerar Blaubärs graphisch dargestellt. Der intertextuelle Verweis auf Platons Atlantisbericht wird durch die globale Lage Zamoniens sowie die Integration der »Säulen des Herkules« unterstützt. Zamonien wird so als vorzeitlich-mythischer Raum inszeniert. In Ensel und Krete wird die Karte wesentlich stärker in die Handlung eingebunden. Sie nimmt in Form einer Exposition Schauplatz (Großer Wald) und Thema (Tourismus) vorweg. Als Artefakt der Buntbären erweist die Karte sich als diskursregulierendes Element, das einige Räume kreiert, indem sie abbildet, und andere Räume negiert, indem sie verschweigt. Die Stadt der Träumenden Bücher ist 57 Darüber hinaus ist der Mond auch Zeichen der Abwesenheit des erotischen Partners; vgl. Marianne Wünsch: Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes. Die systemimmanente Relation der Kategorien »Literatur« und »Realität«: Probleme und Lösungen. Stuttgart [u. a.] 1975 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 37), S. 74.
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zwar im Hinblick auf die vertikal organisierte Topographie detailliert ausgestaltet, bleibt aber kartographisch nahezu unerschlossene terra incognita. Während der Buchstadt Buchhaim immerhin eine Karte gewidmet ist, bleibt die unterirdische Welt ohne graphisches Pendant. Eine Kartierung scheint aber auch umso schwieriger, da der Raum sich gerade dadurch auszeichnet, ein Raum ohne Wege zu sein. Orientierung stiftende Karten erweisen sich als ebenso nutzlos wie literarische Kanones (die Goldene Liste), wohingegen den Bücherwänden, die den Roman bildhaft rahmen, ein wesentlich höheres symbolisches Kapital innewohnt. In Rumo dominieren unzuverlässige Karten, deren Verfasser nicht innerhalb der Diegese zu suchen ist, sondern die durch die Signatur als Äußerungsakt des Autors zu verstehen sind. Dieser tritt dabei gerade nicht als Garant von Zuverlässigkeit auf, sondern im Gegenteil als Garant der Inkongruenz von Text und Bild. Der Schrecksenmeister ist der einzige ZamonienRoman Moers’, der auf Karten völlig verzichtet, wobei die Topographie dennoch nicht auf eine Visualisierung verzichten muss. In den Illustrationen wird der Ferne der blauen Berge, deren Abbildbarkeit mit einer Transformation der semantischen Raumstruktur einhergeht, ikonische Präsenz verliehen. Im Verlauf der Zamonienserie hat sich der Status der Karten, wie dieser Aufsatz zu zeigen versucht hat, erheblich verändert: Während in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär die Abbildungen der Topographie durchaus noch die Funktion erfüllen, das mentale Modell einer fiktionalen Welt zu gestalten und diese unwahrscheinliche Welt wahrscheinlich zu machen, tritt diese Funktion in Ensel und Krete zugunsten ihrer Funktion im Diskurs über Macht deutlich zurück. In Rumo wird der referentielle Charakter durch die partielle Unzuverlässigkeit der graphischen Gestaltung weiter unterlaufen – die Fehler werden offenbar. Insofern ist es konsequent, dass Kartographie in Die Stadt der Träumenden Bücher nur noch eine sehr periphere Rolle spielt und – wie der Text demonstriert – sogar unmöglich ist. Diese Unmöglichkeit bildet Der Schrecksenmeister gewissermaßen ab, indem er die kartographische ›Schwundstufe‹ der Serie darstellt, wo Räumlichkeit weniger als visuelles, sondern vielmehr als rein textuelles Phänomen relevant ist. Die zamonischen Karten haben keinesfalls authentifizierende Funktion, sondern problematisieren eher den Status der Zeichensysteme in Text und Bild. Die Diskrepanz zwischen den ›sekundären Weltentwürfen‹ in Text und Bild und die Unfähigkeit der Karten, innerhalb der fiktionalen Räume Ordnung zu stiften, bestimmen die Funktion der Karten neu: Sie dienen weniger der Orientierung – weder der Figuren noch des Lesers – sondern leisten ihren Dienst im lustvollen Akt der Lektüre. Es handelt sich nicht um Gebrauchsobjekte, sondern um ein zweckfreies Kartenspiel, das nur dann angemessen gespielt wird, wenn der Leser sich ihnen mit ›interesselosem Wohlgefallen‹ nähert und sie als Teil des ästhe-
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tischen Spiels versteht, ganz »ohne ersichtliche Lehrabsicht«.58 Prodesse? Delectare!
Literaturverzeichnis Primärliteratur Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 3.1: Erzählungen 1935 – 1944. Übers. v. Karl August Horst. München/Wien 1981, S. 93 – 112. Eco, Umberto: Der Name der Rose [ED 1980]. Übers. v. Burkhart Kroeber. 44. Aufl. München/Wien 1986. Ettighoffer, Paul Coelestin: Verdun. Das große Gericht. Gütersloh 1936. Jandl, Ernst: Laut und Luise. Olten [u. a.] 1966. Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen. Braunschweig 1856. Keller, Gottfried: Spiegel das Kätzchen [ED 1856]. In: ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Hg. v. Thomas Böning. Frankfurt a. M. 1989, S. 240 – 279. Moers, Walter: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des »Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 1999. Moers, Walter : Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 2000. Moers, Walter: Rumo & Die Wunder im Dunkeln. Ein Roman in zwei Büchern. München 2003. Moers, Walter: Die Stadt der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. München 2004. Moers, Walter: Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers. München 2007. Orwell, George: Animal Farm. A Fairy Story [ED 1945]. Harmondsworth [u. a.] 1982. Platon: Timaios. Kritias. In: Mythos Atlantis. Texte von Platon bis J. R. R. Tolkien. Hg. v. Oliver Kohns u. Ourania Sideri. Übers. v. Thomas Paulsen u. Rudolf Rehn bzw. Hieronymus Müller. Stuttgart 2009, S. 11 – 28. Tolkien, John Ronald Reuel: The Lord of the Rings. London 1954 f. 58 Borges 1981, S. 98.
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Eva Oppermann
Der deutsche Carroll. Walter Moers’ zamonische Romane im Vergleich mit klassischem englischen Nonsense
Obwohl Walter Moers zu den erfolgreichsten deutschen Autoren der Gegenwartsliteratur zählt, ist er bisher noch kaum zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Abgesehen von Rezensionen und wenigen eher kurzen Beiträgen im fachwissenschaftlichen Diskurs ist Moers in der Literaturwissenschaft wenig präsent.1 Dies ist besonders schade, weil gerade Moers’ Romane als Beispiele für die Anwendung verschiedener literarischer Techniken dienen können. Viele von diesen gehören zum Umfeld dessen, was man aus England als Nonsense-Literatur kennt. Insbesondere die Alice-Bücher von Lewis Carroll müssen hier genannt werden: Von entscheidender Bedeutung dürfte jedoch das folgende Kriterium sein, das sich bei unserer Analyse der Werke Lears und Carrolls immer deutlicher in den Vordergrund geschoben hat: Im Allgemeinen wird ein Text dann als Nonsense anzusehen sein, wenn darin ästhetisches Vergnügen vorwiegend durch eine radikale Befreiung von Denkkonventionen erzeugt wird, seien es Konventionen der Sprache, der Logik, oder der empirischen Welterfahrung. Der Nachdruck liegt bei dieser Wesensbestimmung nicht sosehr [sic!] auf formalen oder inhaltlichen Kriterien, sondern auf den psychologischen Mechanismen der Komikgewinnung. […] Entscheidend für den Nonsense wird hier jene geistige Befreiung angesehen, die der Nonsense-Leser durch die freiwillige Preisgabe seiner rationalistischen Denkweisen erfährt.2
Zwar sind nach Reinhard Döhl bereits ältere Texte der Gattung Nonsense zuzuordnen,3 insbesondere gilt dieser Begriff aber für die von Carroll und Edward Lear verfassten Texte, die zugleich zur Verankerung dieser Gattung speziell in der englischen Literatur geführt haben.4 Innerhalb der deutschen Literatur ist 1 Vgl. hierzu auch die Einleitung von Gerrit Lembke im vorliegenden Band. 2 Dieter Petzold: Formen und Funktionen der englischen Nonsense-Dichtung im 19. Jahrhundert. Nürnberg 1972 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 44), S. 95. 3 Vgl. Reinhard Döhl: Unsinnspoesie. In: Metzler Literatur Lexikon. Hg. v. Günther u. Irmgard Schweikle. 2. Aufl. Stuttgart 1990, S. 481. 4 Zu den wichtigsten Nonsense-Werken der englischen Literatur gehören die beiden Werke Lewis Carrolls, Alice’s Adventures in Wonderland (1865) und Through the Looking-Glass, and
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der Nonsense vor allem mit dem Dadaismus verbunden, außerdem werden noch Christian Morgenstern und Joachim Ringelnatz in diesem Kontext genannt.5 Der Dadaismus ist dabei sicherlich der wichtigste und vielleicht im intertextuellen Bereich sogar der fruchtbarste deutsche Nonsense; nicht nur taucht Kurt Schwitters als T. T. Kreischwurst mit Schwittersgedichten in Die Stadt der Träumenden Bücher auf, auch Max Herre, »Max aus dem Schoße der Kolchose«, nennt seine Regenbekanntschaft wie Schwitters’ Anna Blume: »Wie war das da bei Dada? Du bist von hinten wie von vorne A-N-N-A.«6 Auch Hugo Ball (alias Hulgo Bla, STB 273) wird dem Dadaismus zugerechnet. Diese beiden in Die Stadt der Träumenden Bücher genannten Autoren verweisen aber auch gleichzeitig darauf, dass es sich bei deutschem Nonsense nicht in gleicher Weise wie beim englischen um Texte handelt, die sich eines hohen Bekanntheitsgrades erfreuen. Es handelt sich eher um eine relativ exklusive und elitäre Literatur, wohingegen englischer Nonsense zur Volksliteratur zählt. Man darf allerdings annehmen, dass sowohl Herre als auch Moers wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich der Bekanntheitsgrad der Dadatexte in den letzten Jahren gesteigert hat. Wirft man nun einen genaueren Blick auf Nonsense-Theorien, etwa die von Wim Tigges und besonders die von Elizabeth Sewell, wird klar, dass auch Moers viele der hier diskutierten Nonsense-Eigenschaften einsetzt.7 Wie Carrolls sind auch Moers’ Texte deutlich mit anderen literarischen Werken verlinkt; dadurch werden viele seiner Nonsense-Beispiele deutlicher, wenn man diese Intertexte zur Untersuchung mit heranzieht. Zwei der Zamonien-Romane, nämlich Ensel und Krete (2000) und Der Schrecksenmeister (2007), können sogar im Sinne Genettes als palimpsestes deklariert werden:8 »Darunter verstehe ich jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich, wie zu erwarten, als Hypotext bezeichne), wobei Text B Text A auf eine Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist.«9 Moers verheimlicht weder den Prätext von Ensel und Krete noch den des Schrecksenmeisters. Im Gegenteil; er nennt sie sogar offen (wenn auch in zamonischer Form): In seiner ersten ›Abschweifung‹ (s. u.) nennt Hildegunst von Mythenmetz, Moers’ Erzähler, ein berühmtes Kinderlied, das sowohl auf das
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What Alice Found There (1872), die ich in diesem Aufsatz diskutieren werde, sowie Edward Lears A Book of Nonsense (1845/1861). Vgl. Döhl 1990, S. 481. Max Herre: ANNA. In: Freundeskreis: ANNA (1997), CD-Booklet, S. 3. Vgl. Elizabeth Sewell: The Field of Nonsense. London 1952; Wim Tigges: An Anatomy of Literary Nonsense. Amsterdam 1988. Zum Palimpsestcharakter vgl. den entsprechenden Aufsatz von Gerrit Lembke mit dem Titel »›Leichenfledderer sind wir alle.‹ Die Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister« im vorliegenden Band. G¤rard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1993, S. 14 f.
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Märchen Hänsel und Gretel (1812) der Brüder Grimm als auch auf das ›real existierende‹ Kinderlied zurückgeht.10 Im Nachwort des Schrecksenmeisters erwähnt Mythenmetz »Echo, das Krätzchen« (SM 379) als seinen Ausgangstext. Gottfried Kellers Novelle Spiegel, das Kätzchen (1856) ist unschwer zu identifizieren. Es handelt sich also nicht nur um eine Anlehnung, wie man in der Wikipedia liest,11 sondern um eine genuine Wiedererzählung (re-narration)12 von Kellers Novelle. Innerhalb dieses Aufsatzes möchte ich nun darstellen, dass Moers nicht nur hochintelligente Palimpseste verfasst hat – genuine Parodien berühmter literarischer Texte –, sondern dass seine Wiedererzählungen darüber hinaus durch die Verwendung vieler typischer Nonsense-Elemente, die aus englischen Nonsense-Texten des 19. Jahrhunderts bekannt sind, zu hochgradig experimentellen Romanen werden. In einem zweiten Teil möchte ich zeigen, dass Moers insbesondere ähnliche Techniken verwendet wie Carroll in den Alices (1865/1872), die zu den Prototypen des englischen Nonsense gehören.
Intertextueller und experimenteller Nonsense Ein Beispiel für den Einsatz von Intertextualität und Nonsense ist die folgende Beschreibung eines Sees, den Echo, die Reflektorfigur in Der Schrecksenmeister, auf dem Dach des Hauses findet, in dem er lebt: Echo stieg weiter hinauf, immer höher und höher den First empor, bis er auf eine Terrasse aus Moos geriet. Dutzende von Schindeln mussten dort einst abgegangen sein wie ein Schneebrett im Gebirge, und irgendjemand, vermutlich Eißpin, hatte hier einen Garten angelegt. Ein regelrechter kleiner Urwald war das, der tief in den Dachstuhl hineinführte, mit saftigem moosigem Boden, hochgeschossenen Gräsern und Unkraut. Echo strich auf leisen Pfoten durch das Gestrüpp, geduckt, ganz Jäger auf der Pirsch. Zwei Düfte vermischten sich und wurden übermächtig: die von Milch und Honig. […] Er teilte mit beiden Pfoten einen üppigen Busch aus gelben Gräsern – und dann sah er ihn zum ersten Mal, den See aus Milch! Eine schneeweiße Fläche, sanft gekräuselt vom Wind. Darauf trieben kleine Boote, aus Schilf geflochten, und die Passagiere darin waren knusprig gebratene Täubchen und gegrillte Fische. Sie saßen aufrecht, waren mit Puppenkleidern angezogen und kleinen Schirmchen aus Papier versehen worden. Echo war entzückt. (SM 60 f.) 10 Vgl. [anonym:] Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. In: Das Große Liederbuch. Hg. v. Anne Dieckmann u. Willi Grohl. Zürich 1975, S. 140. 11 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Moers (Zugriff am 7. September 2010). 12 Vgl. Eva Oppermann: Songs on the River. The Archaeological Intertextuality between ›Cnut’s Song‹ and ›The Piper at the Gates of Dawn‹. In: Textual Intricacies. Essays on Structure and Intertextuality in Nineteenth and Twentieth Century Fiction in English. Hg. v. Christiane Bimberg u. Igor Volkov. Trier 2009, S. 25 – 35, hier S. 33.
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Diese Szene ist offensichtlich direkt von Keller übernommen: [Pineiß] baute daher für Spiegel eine ordentliche Landschaft in seiner Stube, indem er ein Wäldchen von Tannenbäumchen aufstellte, kleine Hügel von Steinen und Moos errichtete und einen kleinen See anlegte. Auf die Bäumchen setzte er duftig gebratene Lerchen, Finken, Meisen und Sperlinge, je nach der Jahreszeit, so daß da Spiegel immer etwas herunter zu holen und zu knabbern vorfand. In die kleinen Berge versteckte er in künstlichen Mauslöchern herrliche Mäuse, welche er sorgfältig mit Weizenmehl gemästet, dann ausgeweidet, mit zarten Speckriemchen gespickt und gebraten hatte. Einige dieser Mäuse konnte Spiegel mit der Hand hervorholen, andere waren zur Erhöhung des Vergnügens tiefer verborgen, aber an einen Faden gebunden, an welchem Spiegel sie behutsam hervorziehen mußte, wenn er diese Lustbarkeit einer nachgeahmten Jagd genießen wollte. Das Becken des See’s aber füllte Pineiß alle Tage mit frischer Milch, damit Spiegel in der süßen seinen Durst lösche, und ließ gebratene Gründlinge darin schwimmen, da er wußte, daß Katzen zuweilen auch die Fischerei lieben.13
Zwar kopiert Moers Elemente aus Kellers Text (den See, die besondere Landschaft und die gebratenen Fische und Vögel), aber schon während des Kopierens wird der Effekt durch die Hinzufügung spezifischer Elemente überzogen: Katzen haben an Honig kein genügend großes Interesse, um Honigmilch zu bevorzugen (Sahne oder Butter wären da etwas anderes), und welchen Sinn erfüllen die Puppenkleider der Delikatessen? Echo wird sie vor dem Mahl ausziehen müssen. Die Metapher von ›Milch und Honig‹, aus der Bibel bestens bekannt (Ex. 3,8), lässt das Wasser nur in einem menschlichen Mund zusammenlaufen. Aus dem Wald, in dessen Bäumen die gebratenen Vögel zu finden sind, macht Moers gleich eine neue Episode. Ein weiteres Beispiel findet sich in Ensel und Krete, und zwar in der ersten ›Mythenmetzschen Abschweifung‹ (EK 34 – 46). Die Beschreibung von Mythenmetz’ »Inspirationsschubladen« (EK 42 f.) ist höchstwahrscheinlich eine Anspielung auf Eckermanns Anekdote, dass Schiller stets verrottete Äpfel in einer Schreibtischschublade aufbewahrte, um sich von deren Duft inspirieren zu lassen,14 oder auch auf Prousts plötzliche Erinnerungsattacke beim Geruch einer Madeleine in A la Recherche du Temps Perdu.15 Mythenmetz ist allerdings nicht mit einem Geruch zufrieden; er braucht Dutzende davon, um sie wie Ingredienzien zur Erzeugung bestimmter Texte zu verwenden:
13 Gottfried Keller : Spiegel das Kätzchen [ED 1856]. In: ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Hg. v. Thomas Böning. Frankfurt a. M. 1989, S. 240 – 279, hier S. 246 f. 14 Vgl. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens [ED 1836]. Hg. v. Fritz Bergemann. Frankfurt a. M. 1987, S. 606 f. 15 Vgl. Marcel Proust: A la Recherche du Temps Perdu [ED 1913 – 1927]. Bd. 1. Paris 1954, S. 66 u. 68.
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Eine Schublade ist gefüllt mit Zimtstangen (Zimtgeruch ruft bei mir Spannungs- und Abenteuerliteratur hervor), eine andere mit getrocknetem Lorbeer (weckt meinen Witz), eine mit Koriander (gut für Tiefschürfendes), eine mit Muskat (Orientalisches, Märchen), eine mit Seetang (natürlich nautische Assoziationen), eine mit grünem Tee (läßt mich unvermittelt reimen, keine Ahnung wieso), eine mit Rosinen (befördert meinen Sinn für Avantgardistisches), eine mit Schwefel (Schauerliteratur), eine mit Heu (Schäferdichtung), eine mit Asche (Trauriges, Tragik), eine mit Laub und Walderde (Naturbeschreibung, zur Zeit weit herausgezogen) und noch Dutzende mehr. Die Kunst dabei ist, die richtige Mischung zu erzeugen, die passenden Schubladen zur rechten Zeit im rechten Maße zu öffnen. (EK 42 f.)
Es ist klar, dass Walderde und tote Blätter an den Wald erinnern und dass Seetang »nautische Assoziationen« (nur nautische?) hervorruft, aber was hat Zimt mit Abenteuern zu tun?16 Oder Rosinen mit der Avantgarde? Hier überzieht Moers die (mehr oder weniger klischeehaften) Assoziationen, die durch bestimmte Gerüche erzeugt werden können. Die Liste ist durch die Übertreibung einer seltsamen Angewohnheit ›nonsensisch‹ – allerdings fehlen die ursprünglichen Äpfel. Ein letztes Beispiel für diese Technik findet sich in Rumo & Die Wunder im Dunkeln (2003), nämlich in Uschan DeLuccas Fechtgarten, allerdings ist dies kein direktes Palimpsest und auch keine Parodie. Moers spielt nicht mit einem bestimmten Prätext, sondern mit den Klischees, die man in vielen Mantel-undDegen-Geschichten findet, besonders in Alexandre Dumas’ Trois Mousquetaires (1843/44). Diese können in den Regeln für den Bau eines idealen Fechtgartens nach Uschan DeLucca leicht identifiziert werden. Regel Nummer eins für den Bau eines idealen Fechtgartens la Uschan DeLucca: Fechter bewegen sich gerne […] Regel Nummer zwei für den Bau eines idealen Fechtgartens la Uschan DeLucca: Fechter sind eitel […] Regel Nummer drei für den Bau eines idealen Fechtgartens la Uschan DeLucca: Fechter lieben die Gefahr […] Regel Nummer vier für den Bau eines idealen Fechtgartens la Uschan DeLucca: Fechter sind hoffnungslos romantisch […] Regel Nummer fünf für den Bau eines idealen Fechtgartens la Uschan DeLucca: Treppen sind unverzichtbar […]
16 Diese Frage beschäftigte im Oktober 2002 auch die Schüler der virtuellen Nachtschule im Internet, vgl. http://nachtschule.bplaced.net/aufgmon.html (Zugriff am 7. September 2010).
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Regel Nummer sechs für den Bau eines idealen Fechtgartens la Uschan DeLucca: Fechter kämpfen überall […] Regel Nummer sieben für den Bau eines idealen Fechtgartens la Uschan DeLucca: Einen idealen Fechtgarten la Uschan DeLucca gibt es nicht (R 320 – 322)
Man findet also nicht nur, wie erwartet, viele Spiegel und alle Arten von Treppen und Fallen in Uschans Trainingsgarten, sondern auch blutrote Rosen, schwarze Schwäne und alte Fische zum Plaudern, wenn man melancholisch ist. Tatsächlich könnten viele der in den Romanen von Dumas oder den ZorroBüchern von Johnston McCulley geschilderten Fechtkämpfe den Eindruck erzeugen, dass diese Klischees realistisch seien. In Filmen sind sie sogar noch bedeutender als in den Büchern. Es ist zwar wahrscheinlich, dass Monsieur de Tr¤ville seine Musketiere das Fechten lehrte, weniger wahrscheinlich ist aber das Training auf Treppen – vermutlich wird er sie eher im Umgang mit Musketen unterwiesen haben! – und er hat ihnen mit Sicherheit nicht das Köpfen blutroter Rosen oder die melancholische Konversation mit (stummen!) Fischen beigebracht. Die ursprünglich für ein romantik- und kitschverliebtes Kinopublikum geschaffenen Effektszenen werden so die Grundlage von Uschan DeLuccas Training. Eine typische Gattungseigenschaft ist übertrieben dargestellt. Die beiden letztgenannten Beispiele verweisen zudem auf einen Effekt, den Sewell in ihrem Kapitel »One and One and One and One and One«17 beschreibt: »The point is that the sum-total is unimportant; it is the composition of it that matters, for this is to be the composition of the universe of Nonsense, a collection of ones which can be summed together into a whole but which can always fall back into separate ones again.«18 Einzeln ergeben die Inspirationsingredienzien aus Mythenmetz’ Schreibtisch und die von ihnen evozierten Gedanken durchaus Sinn, mehr sogar noch als die Elemente von DeLuccas Fechtgarten und deren Quellen. In beiden Fällen jedoch ist die Summe des Ganzen entweder olfaktorisches Chaos oder – siehe die letzte Regel – unrealisierbar. Der Effekt einer solchen sinnlosen Zusammenballung ist aber für den Übertreibungseffekt verantwortlich. Dies verweist auf einen von Sewell erkannten generellen Effekt: »Could Nonsense be an attempt at recognizing language, not according to the rules of poetry and prose in the first place but according to those of Play?«19 Beide Listen erwecken den Eindruck, sie seien nicht um des Sinnes willen geschaffen, sondern um zu testen, wie viele Klischees man in einem Fechtgarten realisieren oder wie viele unterschiedliche Gerüche man – und das völlig arbiträr – mit literarischen Bedeutungen verbinden kann. 17 Sewell 1952, S. 44 – 54. 18 Ebd., S. 54. 19 Ebd., S. 25.
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Dabei darf man nicht vergessen, dass die intrinsische Motivation und die freie Kombinierbarkeit des verwendeten Materials zwei bedeutende Eigenschaften des Spiels an sich sind.20 Bis hierhin sollte klar geworden sein, dass Moers’ Werke der Palimpsestbeschreibung Genettes entsprechen. Daraus lässt sich ihr Status als zur gehobenen deutschen Literatur zählend ableiten. Moers’ Werke bedienen sich bei älteren, klassischen Texten auf eine Weise, die literarisch anspruchsvoll und zugleich genussvoll zu lesen ist. Moers kennt seine Prätexte sehr genau. Nicht nur parodiert er sie und bleibt dabei den Originalen sehr verpflichtet, er entwickelt auch neuartige Erzählungen, die deutlich mit ihren Prätexten in Verbindung stehen, ohne diese direkt zu imitieren. Das Ergebnis kann als ›Creative Intertextuality‹ bezeichnet werden: »To produce CREATIVE INTERTEXTUALITY means for both readers and writers to develop new, experimental texts from the d¤j lu of literary pretexts.«21 Moers’ Texte sind zu experimentell, zu lang für Kunstmärchen; das gilt auch für Ensel und Krete, trotz des Untertitels »ein Märchen aus Zamonien« (EK 3).22 Das Grimmsche Märchen ist leicht als Prätext auszumachen, da alle wichtigen Motive übernommen werden. Dennoch erzählt Moers das Märchen nicht einfach neu: Insbesondere die Mythenmetzschen Abschweifungen sind mehr als nur eine bloße Ergänzung der Märchenmotive.23 Viele der anderen Episoden können ebenfalls als schöpferische Ergänzungen gelten. Zwar sind einige sicherlich durch das d¤j lu anderer Märchen motiviert, andere, etwa die der Sternenstauner oder die sprechende Orchidee (EK 151 – 161 und 167 – 180), sind aber Eigenschöpfungen von Moers. Wie andere Märchenautoren behält Moers dabei die Emotionen unter Kontrolle; obwohl Ensel und Krete Reflektorfiguren sind, werden ihre Leiden aus einer neutralen Position heraus erzählt, so dass sie nicht als zu hart erfahren werden. Dasselbe gilt für Der Schrecksenmeister. Wieder ist der Text länger und elaborierter als das Original. Neu sind hier vor allem Eißpins Hausgenossen wie die Ledermäuse und das Gekochte Gespenst. Die einzelnen Episoden gewinnen durch Ausbau und Verwendung an zusätzlichen ›nonsensischen‹ Qualitäten, da vieles über ein sinnvolles und vernünftiges Maß hinaus übertrieben wird. Das Ergebnis ist das gleiche wie bei den meisten Nonsense-Techniken: Der Leser muss lachen. 20 Vgl. Gerd Mietzel: Wege in die Entwicklungspsychologie. Kindheit und Jugend. München 1989, S. 128 f. 21 Gerd Rohmann u. Eva Oppermann: Literature and Intertextuality. In: The Atlantic Critical Review 4 (2004), Nr. 4, S. 1 – 15, hier S. 9. 22 Vgl. hierzu den Beitrag von Hans-Edwin Friedrich im vorliegenden Band. 23 Vgl. Eva Oppermann: Englischsprachige Kinderbücher. »Kinderkram« oder anspruchsvolle Literatur auch für Erwachsene? Kassel 2005, S. 291.
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Dennoch ist Moers’ Methode nicht neu. Wie ich weiter unten noch zeigen werde, hat Lewis Carroll, der größte englische Nonsense-Schriftsteller, genau auf die gleiche Weise Kinderreime in seinen Alices ›benutzt‹. Auch hier sind die Originale leicht erkennbar (und dürften zu Carrolls Zeiten noch wesentlich bekannter gewesen sein, als sie es heute sind), und das Ergebnis entspricht nicht gerade dem Original. Petzold hat festgestellt, dass diese nicht nur erwähnt, sondern selbst auch parodiert wurden, so dass hier eine unübersehbare Parallele zu Moers’ Umgang mit seinen Prätexten vorliegt.24 Eine weitere Parallele sind die Buchlinge aus Die Stadt der Träumenden Bücher. Sie werden aber später noch Thema sein. Die anderen zamonischen Romane von Moers, nämlich Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär, Rumo & Die Wunder im Dunkeln und Die Stadt der Träumenden Bücher sind keine Parodien, sondern ›unabhängige‹ Erzählungen. Allerdings sind auch sie nicht frei von Anspielungen auf andere literarische Werke und Motive. Viele derselben sind ebenfalls wieder in übertriebener und damit ›nonsensischer‹ Manier gebraucht. Insbesondere in Rumo & Die Wunder im Dunkeln, Die Stadt der Träumenden Bücher und Der Schrecksenmeister sind dies die Hauptformen des Nonsense. In Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär und Ensel und Krete, Moers’ frühesten zamonischen Romanen, dienen die Zitate aus Nachtigallers Lexikon und die bereits erwähnten Mythenmetzschen Abschweifungen der Unterbrechung des Erzählflusses. In Ensel und Krete treibt Mythenmetz in einem äußerst spannenden Moment diese Technik mit einer Demonstration auktorialer Macht auf die Spitze: Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Ich bin’s wieder, Mythenmetz – jetzt möchten Sie sicher wissen, warum ich nur noch »Brummli« schreibe, statt mit der Handlung fortzufahren, stimmt’s? Ich sage Ihnen warum: Darum! Künstlerische Freiheit! Schiere Willkür! […] Ich kann soviel »Brummli« schreiben, wie es mir paßt, und Sie müssen es lesen, wenn Sie wissen wollen, wie es weitergeht: Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli 24 Vgl. Petzold 1972, S. 83.
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Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli Brummli (EK 54 f.)
Die Lexikonartikel geben zwar durchaus nützliche und manchmal auch sehr wertvolle Informationen. In beiden Fällen wird so der Lesefluss unterbrochen, wodurch die Leseridentifikation mit Ensel und Krete bzw. Blaubär gebrochen wird. Unglücklicherweise ›schweigt‹ das Lexikon aber meistens dann, wenn es gebraucht wird.25 Der Leser muss sich mit etwas anderem als der Fortsetzung der Geschichte auf der nächsten Seite befassen. Wichtig ist, dass seine Aufmerksamkeit nicht zu einem anderen Erzählstrang innerhalb der Erzählung, sondern zu etwas völlig von der Fabel des Prätextes und der eigentlichen Erzählung Unterschiedlichem gelenkt wird. Man kann dies nicht mit dem beliebten Stilmittel des Szenensprungs zur Spannungssteigerung vergleichen. Das ist an sich ebenfalls nicht neu. Zumindest die beiden englischen Autoren George Eliot und John Fowles haben diese Technik verwendet, Eliot im 17. Kapitel von Adam Bede (1859), »In Which the Story Pauses a Little«26, Fowles in Kapitel 13 von The French Lieutenant’s Woman (1969). Moers’ Mythenmetz geht allerdings wieder einen Schritt weiter. Er kommentiert nicht nur das Geschehen als solches und die verwendeten Techniken, er setzt auch Erklärungen und Beschreibungen ein, die damit nicht das Geringste zu tun haben. Die bereits erörterten Inspirationsschubladen sind hierfür ein gutes Beispiel.
Die Seeschule und die Nachtschule als ›Lehrstätten‹ des Nonsense Ursprünglich ist die Idee zu diesem Aufsatz aus der Überlegung erwachsen, Moers’ und Carrolls unterschiedliche Schulkonzepte in Alice in Wonderland und Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär zu untersuchen, was nun, als ein letztes Beispiel für Intertextualität und Nonsense, auch noch geschehen soll. Dabei möchte ich eine Verbindung zwischen dem Nonsense-Schriftsteller Englands und seinem deutschen Gegenstück herstellen. Beide stellen in ihren Büchern Schulen vor ; Carrolls Mock Turtle erinnert sich an seine samt Oberlehrer, Blaubär verbringt eines seiner 1312 Leben in der Nachtschule, wo er zunächst und vor allem lernt: »Wissen ist Nacht« (KBB 127). Beide Schulen sind an für Bildungseinrichtungen ungewöhnlichen Orten beheimatet; Moers’ in einer Höhle in den »Finsterber25 Vgl. zur Funktion von Nachtigallers Lexikon den Beitrag von Magdalena Drywa im vorliegenden Band. 26 George Eliot: Adam Bede [ED 1859]. London 1994, S. 174.
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gen« (KBB 125), Carrolls »in the sea«27. In beiden wirken interessante Lehrer: Carrolls Tortoise, so genannt »because he taught us«28, und Moers’ Prof. Dr. Abdul Nachtigaller gelten als Meister ihrer Fächer. Der Mock Turtle sagt von sich, »the best of education«29 erhalten zu haben, und Blaubär nennt die Nachtschule eine »Eliteakademie« (KBB 129), weil alle dort unterrichteten Daseinsformen die letzten ihrer Art sind. Nachdem jedoch Fredda, die Berghutze, ausgeschieden ist, treffen zwei neue Schüler ein, die alles andere als brillante Lerner sind; bei einem bleibt einfach nichts hängen, der andere vergisst das Gelernte wieder (KBB 525 f.). Außerdem bietet der Vergleich beider Schulen einen guten Einblick in die zweite große Nonsense-Form, derer Moers sich bedient, nämlich das Wortspiel. Sowohl Sewell (»We are dealing with words«)30 als auch Tigges (»an emphasis, stronger than in any other type of literature, upon its verbal nature«)31 untersuchen in ihren Studien die Bedeutung des Wortspiels und betrachten das Wortspiel jeweils als eigene Nonsense-Kategorie. Sowohl bei Carroll als auch bei Moers ist Nonsense leicht zu finden. Ein herausragendes Beispiel ist sicherlich Moers’ »Wissen ist Nacht«, ohne Frage abgeleitet von »Wissen ist Macht«. Weitere Beispiele sind etwa die ›Definitionen‹ verschiedener philosophischer Schulen, über die Fredda, Qwert und Blaubär diskutieren: Ich: »Ich beschäftige mich gerade mit den Grundlagen des südzamonischen Grobianismus.« Qwert: »Ah, jene philosophische Richtung, die davon ausgeht, daß kein Gegenstand die Existenz eines anderen in sich schließt, solange man nur diese Gegenstände mit der gehörigen Unsensibilität betrachtet?« Ich: »So ist es.« […] Fredda: »Finde ich überhaupt nicht. Das ist mir zu primitiv. Das kommt davon, wenn sich Barbaren mit Philosophie beschäftigen. Der Erfinder des Grobianismus ist in einem Schilfsumpf aufgewachsen und schlägt seine Kritiker mit einer Keule, das ist doch bekannt. Laßt uns lieber über Astronomie reden. Ich bin neuerdings der Ansicht, daß sich das Weltall gar nicht ausdehnt. Es zieht sich auch nicht zusammen. Es wackelt nur.« Qwert: »Du redest von einem geschlossenen Weltmodell mit dem Krümmungsvorzeichen k = +1, bei dem Expansions- und Kontraktionsphasen einander periodisch abwechseln?« Ich: »Also, das ist mir jetzt wieder zu primitiv!« (KBB 151 – 153)
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Carroll 1970, S. 127. Ebd. Ebd., S. 128. Sewell 1952, S. 17. Tigges 1988, S. 55.
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Es ist interessant, dass ausgerechnet die einzige Theorie, die einen gewissen Realitätsanspruch hat, Freddas nämlich, von Blaubär, dem Erzähler, abgewertet wird. Sobald sich ein Funke Sinn im Unsinn zeigt, wird er für primitiv erklärt. Es dürfte klar sein, wie Moers seinen Nonsense bildet: Er bedient sich der Textform der wissenschaftlichen Debatte samt der dort gebräuchlichen Fachbegriffe (Frankfurter Schule, Darwinismus, Dadaismus, Semiotik und dergleichen) und entwickelt neue Formen, die ähnlich aussehen, aber völlig bedeutungslos sind – zumindest außerhalb von Zamonien. Das Gleiche kann man über die Schulfächer des Tortoise im Wonderland sagen, die »Reeling and Writhing, […] Ambition, Distraction, Uglification and Derision, […] Drawling, Stretching, and Fainting in Coils […] Laughing and Grief«32 heißen. Auch ohne Gardners Kommentar33 ist der Lehrplan eines guten Viktorianischen Internats durchaus erkennbar.34 Die von Carroll verwendeten Worte klingen zwar ähnlich wie die Namen der Fächer, bedeuten aber etwas völlig anderes. In Die Stadt der Träumenden Bücher spielt Moers ebenfalls mit der Erfindung von akademischen Strömungen und Epochen. Allein in seinem »Trompaunenkonzert« (STB 114) spielt er mit einer ganzen Reihe von musikalischen Termini. Alle Instrumente werden auf den »Buchtinger Urton« (STB 114) gestimmt; man spielt »Astronomische Ordnungsmusik« (STB 116) und später »Mumenstädter Augenarztmusik« (STB 127), genauer, das »Optometrische Rondo« (STB 127), das, wie die beistehende Illustration zeigt, aus kreisförmig angeordneten Notenlinien besteht, also in der Tat ›rund‹ ist. Ähnlich konstruiert Carroll seine »Looking-Glass Insects«35. Sewell klassifiziert sie als Parodien,36 und so können sie in der Tat auch interpretiert werden. Carroll nimmt die Namen von passenden Insekten und fügt ein Element hinzu, so dass sie Nonsense-Tiere werden. So wird aus einer horse-fly, die sich von Pferdeblut ernährt,37 eine rocking-horse-fly ; aus einem blutrünstigen Insekt wird ein niedliches Spielzeug; die dragonfly, die man wegen der vermeintlichen Gefährlichkeit ihres Stiches so nannte, wird zu einer appetitlichen snap-dragon fly.38 Der butterfly, ein Begriff, der die angebliche Lust der Tiere auf Butter andeutet, wird zur bread and butterfly, also zu dem, wozu man Butter verwendet. Ähnlich wie Moers verschiedene Gattungsklischees und die schrulligen Ange32 Carroll 1970, S. 129 f. 33 Vgl. ebd., S. 129, Anm. 9. 34 Dieser besteht aus reading and writing, addition, subtraction, multiplication and division, drawing, sketching, painting in oils, Latin and Greek. 35 Carroll 1970, S. 215 u. 221 – 223. Die folgernden Ausführungen zu den einzelnen Insekten beziehen sich ebenfalls auf diese Textstellen. 36 Vgl. Sewell 1952, S. 20. 37 Vgl. Oppermann 2005, S. 94, Anm. 44. 38 ›Snapdragon‹ ist ein Weihnachtsbrauch, bei dem Rosinen aus einer Schüssel mit brennendem Weinbrand gefischt und gegessen werden.
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wohnheiten mancher Autoren ›missbraucht‹, so spielt Carroll mit den Namen von Insekten. Letztere (dies hier nur am Rande) bilden ebenfalls eine Reihe wie die oben besprochenen Regeln Uschan DeLuccas und die Inspirationsschubladen. Das »Broplem« (SM 373), das Fjodor mit Fremdwörtern hat, und die palindromische Sprechweise Gaunabs in Rumo scheinen um ihrer selbst willen zu existieren. Sie sind mehr oder weniger einfache Buchstabenspiele. Fast alle Aussagen werden zur Bequemlichkeit des Lesers wiederholt, so dass er sie nicht mühsam zu enträtseln braucht, und Fjodors Ausdrücke sind intuitiv zu verstehen. Einige von Moers’ Wortspielen finden sich in bereits diskutierten Texten, insbesondere in Der Schrecksenmeister, Echos Name ist ein Spiel mit dem seines Gegenstücks in Kellers Novelle (»Spiegel«): Keller verwendet ein visuelles Phänomen zur Namensgebung, Moers das akustische Pendant dazu. Regelrecht ›gespiegelt‹ ist der Name des Hexen- bzw. Schrecksenmeisters; aus Kellers Pineiß wird Moers’ Eißpin. In Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär tragen die Stadtteile und Hauptstraße von Atlantis ausschließlich solche Namen, die Anagramme des Namens der zamonischen Hauptstadt sind (KBB 449). Das sind aber nicht die einzigen Beispiele selbstreflexiver Symmetrie in den Werken. Es ist auffällig, dass sowohl Moers als auch Carroll mit Spiegelbildlichkeit spielen. Die erste Strophe von Carrolls Jabberwocky ist spiegelbildlich abgedruckt, und die Worte der Fatome sind rückwärts wiedergegeben. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Carroll mit speziell angefertigten Lettern arbeitete, wohingegen Moers, der vermutlich nicht die technischen Möglichkeiten hierzu hatte, nur die Schreibrichtung geändert hat: »!motaF nie nib hcI […] .nebah uz tsgnA eniek tshcuarb uD .nethcisbA nehcsitsnepseg eniek hciltnegie reba nebah, sua gilesurg sawte rawz nehes riW .nehcaS ehclos dnu nekcerhcsrE eniem hcI.« (KBB 326) Abgesehen von den Wortspielen als solchen kommt hier noch der Einfluss der Rätselei ins Spiel. Obwohl Moers seinen Blaubär die Sätze zum Vorteil des Lesers wiederholen lässt, sollte dieser die Fatomsprache nicht sofort verstehen, hat man Möglichkeit und Gelegenheit, sich zunächst selbst an den Texten zu versuchen. Petzold sagt, dass ein Rätsel an sich nicht zum Nonsense gehöre, wohl aber dann, wenn es keine Lösung gibt und der Leser/Rater ›genasführt‹ werde;39 man denke etwa an den Raben und den Schreibtisch bei Carroll.40 Petzold spricht in diesem Zusammenhang auch vom Verhalten Tweedledees und Tweedledums und von Löwe und Einhorn, verbunden mit den Kinderreimen, aus denen sie stammen. »Handlungen werden« – und dies ist typisch für den Nonsense – »entweder gar 39 Vgl. Petzold 1972, S. 59. 40 Vgl. Carroll 1970, S. 95.
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nicht oder durch rein äußerliche Dinge erklärt.«41 Auch die Fatomsprache lässt sich dadurch erklären, wie diese Wesen entstanden sind. Moers spielt hier mit der Idee, dass eine Fata Morgana das Spiegelbild einer real existierenden Stadt sein könne (vgl. die Erklärungen aus Nachtigallers Lexikon, KBB 287, 315 f. u. 327). Eine so ›gespiegelte‹ Person kann nicht ›normal‹ reden, sondern nur spiegelverkehrt, ähnlich wie Carrolls Spiegelkuchen erst verteilt werden muss, ehe er aufgeschnitten werden kann.42 Außerdem nutzt Moers wieder einmal die Rolle eines bestimmten Genres für seinen Nonsense: Er vermischt die realistischen Erklärungen für das Entstehen einer Fata Morgana, die wirklich nach Morgan le Fay benannt ist und durch die über dem heißen Wüstensand erwärmte Luft entsteht, mit seinen selbst erfundenen zamonischen naturwissenschaftlichen Möglichkeiten. Der Nonsense von Carroll und Moers unterscheidet sich in seiner Qualität. Zwar ist wohl jedem Leser klar, dass das Gesagte nicht völlig ernst gemeint ist, aber vermutlich ist der Blick eines Literaturwissenschaftlers notwendig, um alle tieferen Bedeutungen von Moers’ Wortspielen zu verstehen. Carrolls Nonsense ist leichter zu erfassen oder war es zumindest zu seiner Zeit. Es ist offensichtlich, dass beide nur direkt in ihrer Zeit mit allen Anspielungen verständlich sind und dass spätere Generationen zusätzliches Wissen, wie etwa Gardners Fußnoten in der kommentierten Alice-Ausgabe, für das Verstehen aller Wortspiele brauchen. Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob die Tatsache, dass Carroll einen realen kindlichen Leser, nämlich Alice Liddell, im Hinterkopf hatte, während Moers eher für Erwachsene schreibt, in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Tatsache ist, dass die Zamonien-Romane ebenso von Lesern im Alter von zehn Jahren wie auch von Erwachsenen gelesen werden.43 Man darf nicht vergessen, dass Käpt’n Blaubär ursprünglich ein Held aus dem Kinderfernsehen war, lange bevor er zum Romanhelden wurde. Moers’ Bücher können ohne weiteres als Crossovers gelten, so dass Leser jeden Alters die Lektüre genießen können.44 Wer jemals ein Schulbuch in Händen hatte, versteht das Meiste von Moers’ Wortspielen, wohingegen die tatsächlich aufs Korn genommenen Schulen, Texte und Theorien einer tieferen Kenntnis bedürfen. Ob dieses dabei 41 Petzold 1972, S. 60. 42 Vgl. Carroll 1970, S. 290. 43 Zumindest ist das die Bandbreite derer, die man im Chatroom der Nachtschule im Internet, der so genannten Raucherecke, antrifft. Neben Schülern im Alter von elf bis achtzehn Jahren gibt es dort Studierende verschiedener Fächer, aber auch Geschäftsleute und mindestens eine Literaturwissenschaftlerin unter den regelmäßigen Gästen. Damit zeigt sich, in welcher Breite die zamonischen Romane rezipiert werden. Moers’ Comics allerdings zählen definitiv eher zur Erwachsenen- als zur Kinderliteratur. 44 Vgl. Stephanie Zvirin: Crossovers: Children’s Books for Adult Readers. In: The Continuum Encyclopedia of Children’s Literature. Hg. v. Bernice E. Cullinan u. Diane G. Person. New York 2001, S. 209 – 211.
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schon im Kindes- oder erst im Erwachsenenalter erworben wird, ist nicht von Bedeutung und vermutlich von Leser zu Leser unterschiedlich.45 Das Gleiche gilt für Die Stadt der Träumenden Bücher. Auch hier spielt Moers auf existierende Systeme der Literaturproduktion und vor allem -vermarktung an, insbesondere die Leipziger und Frankfurter Buchmesse sind hier von Bedeutung. Wieder kann man sagen, dass grundsätzlich das Wortspiel durchschaubar ist, tieferes Wissen aber bei der exakten Entschlüsselung hilfreich sein kann. Orca de Wils oder T. T. Kreischwurst sind leicht als Nonsense-Namen auszumachen, man erkennt sie vielleicht sogar als Anagramme; wenn man aber noch nie von Oscar Wilde oder Kurt Schwitters gehört hat, dürfte das Erkennen schwierig werden, obwohl in den Fällen von Ali Aria Ekmirrmer (Rainer Maria Rilke) und T. T. Kreischwurst (Kurt Schwitters) die zitierten Texte auf die richtige Spur verweisen. Rilkes Herbstlied ist relativ bekannt, und Schwitters’ Kleines Gedicht für große Stotterer (1919) wird wörtlich zitiert; der einzige Unterschied besteht darin, dass Moers’ Buchling wirklich stottert: Ein Fischge, Fisch, ein Fefefefefischgerippe Lag auf der auf, lag auf der Klippe Wie kam es, kam, wie kam, wie kam es Dahin, dahin, dahin? (STB 228)46
Noch schlimmer wird es, wenn er den Titel nennt: »K-k-k-k-k-leines G-G-GGedicht für g-g-g-g-große Stottottottottotterer« (STB 229). Moers’ Epochen und literarische Stile sind frei erfunden. Seine Buchlinge scheinen allerdings Morgensterns Gedicht Die Mittagszeitung wörtlich zu nehmen, in dem eine durch das Lesen sättigende Zeitung beschrieben wird: »the word ›andern‹ here suggests that reading and eating are one and the same thing (››I see what I eat‹ is the same thing as ›I eat what I see‹‹, to quote the Mad Hatter.)«47 Die Rasse der kleinen Zyklopen lebt vom Lesen – für sie ist es zugleich Nahrung – der Werke der größten zamonischen Schriftsteller. Sie sind also nicht nur wegen ihrer Einäugigkeit Zyklopen (letzteres ist nicht nur bei Moers ein Hauptkennzeichen), sondern auch, weil sie eine gewisse Tendenz besitzen, die literarische Elite zu ›verschlingen‹.
45 Vgl. Oppermann 2005, S. 52. 46 Vgl. Schwitters 1997, S. 76. 47 Tigges 1988, S. 177.
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Illustrationen als Teil des Gesamtwerks bei Carroll und Moers Neben Palimpsesten und Wortspielen müssen hier auch die Illustrationen behandelt werden, die sowohl bei Carroll als auch bei Moers eine wichtige Rolle spielen. Sewell und Petzold betonen beide die Bedeutung von Illustrationen für den Nonsense. Sewell schreibt: Illustrations store the mind with images, it is true, but those images are fixed by the illustrator, and where the latter is doing the writing as well, he has a dual control over the reader’s mind. […] The providing of pictures is a regular part of the Nonsense game. They sterilize the mind’s powers of invention and combination of images while seeming to nourish it, and by precision and detail they contribute towards detachment and definition of the elements of the Nonsense universe.48
Carroll und Moers haben beide ihre Werke selbst illustriert, die Originalfassung von Wonderland, Alice’s Adventures Under Ground, zeigt diese Zeichnungen. Allerdings hat Sir John Tenniel mit seinen Illustrationen, die dann hauptsächlich publiziert wurden, hervorragende Arbeit geleistet, wobei er Carrolls Originalen zum Teil sehr nahe kommt. Moers’ Illustrationen sind manchmal fast so bedeutend wie der Text selbst.49 Dies ist insofern nicht verwunderlich, als er seine Karriere mit Comics begann. Oft enthalten seine Illustrationen Informationen, die nicht im Text stehen, aber notwendig für das Situationsverständnis sind. Der »Nachtigallersche Unmöglichkeitsschlüssel« (STB 434) kann nur in einer zweidimensionalen Zeichnung existieren, und es ist unmöglich, diesen mit Worten in einem sinnvollen Rahmen zu beschreiben: Was auf den ersten Blick wie ein solides Objekt wirkt, hat auf den zweiten keine geschlossene Außenlinie. Sowohl Tenniels als auch Moers’ Illustrationen tragen sehr viel dazu bei, die Vorstellungskraft ihrer Leser zu fesseln. Besonders die neu erfundenen, aber auch übernommenen Figuren aus anderen Texten gewinnen in ihnen an Leben – und hinterlassen einen visuellen Eindruck. Through the Looking-Glass ist hier an Beispielen reicher als Wonderland. Dort kann nur der Mock Turtle als Beispiel dienen; die Kartensoldaten werden im Text so gut beschrieben, dass man sie sich gut vorstellen kann. Wie viele von Moers’ Charakteren besteht er aus dem, was man in einer falschen Schildkrötensuppe findet; er hat einen Kalbskopf und Kalbsfüße. Auch die »Looking-Glass Insects«50 sind durch die Illustrationen leichter zu erkennen. Einige der Beschreibungen, besonders bezüglich der rocking horse fly, sind eindeutig zu kurz. Humpty Dumpty, des Rätsels berühmte, lebendig gewordene Lösung, ist in Tenniels Illustration sogar prototypisch 48 Sewell 1952, S. 111 f. 49 Vgl. zu den Abbildungen den Beitrag von Anne Hillenbach im vorliegenden Band. 50 Carroll 1970, S. 215.
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dargestellt worden. Das am Anfang der zweiten Alice abgedruckte Schachspiel könnte in Textform nicht wiedergegeben werden.51 Besonders die Schachzüge benötigen eine verständliche Darstellung. Der Durchgang durch den Spiegel wird durch die Tatsache, dass er als Illustration auf gegenüberliegenden Seiten abgedruckt ist, wesentlich bereichert, weil dadurch der Effekt der Wahrnehmung beider Seiten des Spiegels hervorragend reproduziert wird. Moers’ Schöpfungen sind oft auf ähnliche Weise entwickelt wie Carrolls und gewinnen ihre Form auch nur dadurch, dass sie gezeichnet werden. Das gilt für einige der Apparate in Rumo (R 150 f., 160 – 162 u. 642 f.) ebenso wie für einige der Daseinsformen in Die Stadt der Träumenden Bücher (z. B. STB 35 u. 221). Wie Carrolls Humpty Dumpty, Löwe und Einhorn stammen sie aus anderen Erzählungen, Mythen oder populären Versen, und wie seine »Looking-Glass Insects«52 sind sie oft auf der Grundlage zusätzlicher Eigenschaften aus anderen Bereichen konstruiert. Moers’ Eydeete sind aus dem Terminus ›eidetisch‹ erwachsen; nicht nur kann sich Nachtigaller Dinge auf sehr realistische Weise vorstellen; er kann diese Erfahrung anderen auch vermitteln, selbst solchen Daseinsformen, die nur ein Gehirn haben (Eydeete haben mindestens drei). Neben einer eigenen Geschichte erhalten seine Wolpertinger (eigentlich Fabelwesen aus Bayern) auch einen neuen Look. Aus den ehemals jagdbaren Kleintieren (die oft einen Hasenkopf hatten) sind bei ihm Hunde aller Rassen geworden, die als Zeichen ihrer teilweisen Abstammung von Rehen Hörner auf dem Kopf tragen. Die unterschiedlichen Typen und Charaktere werden wieder besonders in den Illustrationen deutlich. Das Gleiche gilt für Moers’ Fhernhachen, Olfaktillen und dergleichen Daseinsformen mehr. Allerdings ist auffallend, dass manche Episoden überhaupt nicht illustriert sind. Besonders fällt dies bei der Episode im Keller von Schloss Schattenhall in Die Stadt der Träumenden Bücher (STB 376 – 410) auf. Warum Moers ausgerechnet hier auf Illustrationen verzichtet hat, bleibt unklar ; vielleicht soll dadurch der Leser zum Empfang des Orms angeregt werden. Ich hoffe, mit meinem Vergleich deutlich gemacht zu haben, wie viele Techniken des englischen Nonsense Moers in seiner Arbeit genutzt hat. Abgesehen von Wortspielen und Illustrationen, die Moers’ Werk und Carrolls Alices gemeinsam haben, bedient sich Moers diverser Klassiker der Poesie und Prosa, um sie zu verändern und zu karikieren. Dadurch wird sein Werk nicht nur mit dem englischen Nonsense in Verbindung gesetzt (dabei sollte im Gedächtnis bleiben, dass Carroll mit den Kinderreimen Englands ganz ähnlich umgegangen ist), sondern auch mit vielen wichtigen Texten der deutschen Literatur. Moers’ Zamonien-Romane werden dadurch zu einer fruchtbaren Lektüre für junge und 51 Vgl. ebd., S. 172. 52 Ebd., S. 215.
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alte Leserinnen und Leser, sowohl für Fans des Phantastischen als auch der so genannten Hochliteratur, da sich der Sinn der Nonsense-Literatur oft gerade aus der Travestie anderer Gattungen erschließt.
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Eva Oppermann
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Daniel Schäbler
Frankenstein und die Folgen. Zur Poetik des Monströsen bei Walter Moers
Ein Monster erzählt. Es berichtet von den ersten Sinneseindrücken nach seiner Erschaffung und Belebung, von seiner Angst, Verwirrung und den ersten Versuchen, sich in einer fremden Welt zurechtzufinden. Seine Umgebung erlebt es als feindlich; wo immer es sich zeigt, wird es angegriffen und kann nur mit knapper Not entkommen. Sein Verhältnis zu seinem Erschaffer, der notgedrungen eine Vaterfigur darstellt, kann bestenfalls als problematisch bezeichnet werden. Es wird getrieben von der anklagenden Frage, aus welchen Gründen dieser gottgleich zum Schöpfungsakt griff und die dadurch entstandene Kreatur zu einem Leben als Außenseiter verdammte. Das Monster muss diese Frage klären, um Aufschluss über die eigene Existenz zu erlangen. Seine Sinnsuche kulminiert in einer Vernichtungsorgie, die sich sowohl gegen sich selbst und seinen Schöpfer als auch gegen dessen Umfeld richtet. Der Konflikt in der dargestellten Welt kann sich erst auflösen, nachdem sowohl Schöpfer als auch Geschöpf vernichtet sind. Kennern Zamoniens kommt diese Geschichte nur allzu bekannt vor. Die Rede ist hier jedoch zunächst nicht von dem Schicksal des Schattenkönigs, alias Homunkoloss, der in Walter Moers’ Die Stadt der Träumenden Bücher sein Unwesen treibt. Denn der gerade umrissene Leidensweg eines Monsters ist kein Einzelfall in der Literaturgeschichte. Vielmehr liegt seine Genese begründet in einem Schlüsseltext der englischen Romantik – Mary Shelleys Frankenstein or The Modern Prometheus (1818). Dieser kurze Roman einer damals 19-Jährigen veränderte die Literaturgeschichte und fügte ihr gleichsam über Nacht ein neues Genre hinzu: das der science-fiction. Dabei speist sich Shelleys Text, ebenso wie das namenlose Monster, wiederum aus einer Mixtur diverser Quellen der Weltliteratur, etwa aus den Schriften von Jean-Jacques Rousseau und zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Debatten über den Ursprung des Lebens;1 vor allem aber unternimmt der Text ein um1 Zur Relevanz der sogenannten vitalism-Debatte (um 1816) über die Ursprünge des Lebens für den denkgeschichtlichen Kontext von Frankenstein, vgl. Marylin Butler : Frankenstein and
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Daniel Schäbler
fassendes rewriting von John Miltons Paradise Lost (1667). Dieser Prätext ist wiederum eine Bearbeitung der biblischen Genesis, genauer : der Schöpfungsgeschichte des Menschen. Bereits das Motto auf der Titelseite der Originalausgabe von Frankenstein ist ein Zitat aus Miltons Epos: Nach seiner Vertreibung aus dem Paradies fragt Adam seinen Schöpfer, warum dieser ihn erschaffen habe. Die rhetorische Frage »Did I request thee maker […]?« enthält bereits das Motiv der Anklage an den Schöpfer. Shelleys Bearbeitung setzt genau hier an und legt diese Worte gleichsam in den Mund des Monsters. Frankensteins Monster liest im Zuge seiner autodidaktischen Bildung Miltons Text und begreift sich – als naiver Leser – als Reinkarnation von Miltons Adam, viel folgenschwerer aber zugleich als Satan. Dieser doppelte Interpretationsakt legt die Grundlage für seine spätere Rache an seinem Schöpfer, die zur systematischen Auslöschung von Frankensteins Familie, seinem besten Freund, seiner Braut und schließlich zum Tod des Schöpfers selbst führt. Wenn sich also bereits Shelleys Roman aus einer Kette von rewritings speist, dann gilt dies umso mehr für die Zamonien-Romane von Moers. Beginnend mit der Binnenerzählung des Homunkoloss in Die Stadt der Träumenden Bücher, in der dieser dem Erzähler Mythenmetz seine Transformation durch den Antagonisten Smeik schildert, sollen im vorliegenden Beitrag weitere Monster Zamoniens, etwa die Waldspinnenhexe in Ensel und Krete oder der Bollogg in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär untersucht werden. Unter der Prämisse, dass Frankenstein sowohl thematisch als auch narratologisch als Folie für die Erschaffung des Homunkoloss in Die Stadt der Träumenden Bücher fungiert, werden im Folgenden Parallelen und Unterschiede zwischen beiden Texten aufgezeigt. Ausgehend von der Beobachtung, dass im Gegensatz zu Shelleys Text der Zamonien-Zyklus von Moers in einer phantastischen Welt angesiedelt ist, in der es vor Fabelwesen und Monstern nur so wimmelt, soll in diesem Beitrag die Kategorie des Monströsen genauer beleuchtet werden. Da in einer phantastischen Welt wie Zamonien das Monströse als Kategorie grundsätzlich problematisch ist, werden zentrale Monsterfiguren mithilfe zweier Konzepte theoretisch gefasst, nämlich Julia Kristevas Konzept der ›Abjektion‹ und Michel Serres’ Begriff des ›Parasiten‹.2 Dabei liegt der Fokus auf der Poetologie und den narrativen Strategien der jeweiligen Texte, mithin auf ihren Techniken zur Darstellung des Monströsen, wobei besonders das Verfahren der Rahmenerzählung von zentraler Bedeutung ist.
Radical Science. In: Mary Shelley, Frankenstein. The 1818 Text, Contexts, Nineteenth-Century Responses, Criticism. Hg. v. Paul J. Hunter. New York 1996, S. 302 – 313. 2 Vgl. Michel Serres: The Parasite. Übers. v. Lawrence R. Schehr. Minneapolis 2007; Julia Kristeva: Powers of Horror. An Essay on Abjection. Übers. v. Leon S. Roudiez. New York 1982.
Zur Poetik des Monströsen bei Walter Moers
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Narrative Strategien: Das Monster als Erzähler Frankenstein revolutioniert das Genre der Gothic Novel. Der Text greift das Motiv des künstlichen Wesens auf, wie es etwa in der Erzähltradition des GolemStoffes bereits etabliert war,3 erweitert diese aber in zweifacher Hinsicht auf innovative Weise – epistemologisch und narratologisch. Zum einen imaginiert Frankenstein die Folgen eines ungezügelten (männlichen) Forscherdrangs und übt damit Kritik an vorherrschenden Wissenssystemen. Zum anderen bedient sich der Text einer multiperspektivischen Rahmenstruktur, um sowohl den Entdecker Walton, den Schöpfer Frankenstein, als auch das Monster zu Wort kommen zu lassen. Durch dieses Erzählverfahren wird die moralische Ambivalenz im Text erzielt: Indem das ausgegrenzte Monster seine Sicht der Ereignisse schildert, verliert es seine Monstrosität, und seine mörderischen und heimtückischen Taten werden beunruhigend plausibel. Sowohl bei Shelley als auch bei Moers ist der Darstellungsmodus signifikant. Frankenstein betreibt zunächst den aufwändigen Aufbau einer realistischen und glaubhaften Erzählsituation, nur um diese im Verlauf der Erzählung zu dekonstruieren. Auf der Suche nach einer Passage durch die Arktis, von der er seiner Schwester in Briefen berichtet, findet der Forscher Robert Walton den völlig entkräfteten Victor Frankenstein auf einer Eisscholle treibend. Nachdem Frankenstein wieder zu Kräften gekommen ist, erzählt er seine Geschichte Walton, der diese aufzeichnet. Frankenstein schildert, wie er ein riesiges Wesen aus Leichenteilen erschuf, um den Tod zu überwinden und unsterblichen Ruhm zu erlangen. Angewidert von dessen Hässlichkeit lässt Victor das Wesen zurück und flieht in die Berge. In einer für das Genre der Gothic Novel konstitutiven Rückkehr des Verdrängten holt ihn das Monster jedoch ein: Es übt Rache, indem es Victors kleinen Neffen tötet und durch das Legen einer falschen Spur die Hinrichtung eines Dienstmädchens als vermeintliche Täterin initiiert. Von Schuldgefühlen getrieben, aber unfähig, den wahren Mörder zu benennen, flüchtet Frankenstein in die Alpen, wo ihn das Monster konfrontiert und ihm die Geschichte seines Werdegangs, von den ersten Sinneseindrücken, seinem Überlebenskampf bis hin zu den Morden schildert. Es fordert von Frankenstein die Erschaffung einer Partnerin, mit der es sich zurückziehen will. Hier endet die Binnenerzählung des Monsters, und Frankenstein übernimmt wieder das Wort. Als Frankenstein diesen Wunsch nicht umsetzt, beginnt das Monster mit der systematischen Auslöschung von dessen Familie bis hin zu seiner Frau. Von gegenseitigem Hass erfüllt, verausgaben sich Schöpfer und Geschöpf in einer 3 Zur Motivgeschichte des Golem-Stoffes vgl. Thomas Wörtche: Phantastik und Unschlüssigkeit: Zum strukturellen Kriterium eines Genres. Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink. Meitingen 1987 (Studien zur phantastischen Literatur 4), S. 201 ff.
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Jagd bis zum Nordpol, bei der das körperlich überlegene Monster Frankenstein durch hinterlassene Essensvorräte am Leben erhält. Kurz nachdem Victor seine Binnenerzählung beendet hat, kann der Rahmenerzähler Walton nur mit großem Bedauern seinen Tod vermerken. Das Monster erscheint in Waltons Kabine, beklagt ihrer beider Schicksal, kündigt seinen Selbstmord an, und verschwindet dann »in darkness and distance«.4 Das Prinzip der Distanz zeichnet auch die zunächst realistische Erzählsituation aus. Die vielfach verschachtelten Binnenerzählungen, die wiederum als Rahmen für die nächst ›tiefere‹ Erzählebene fungieren, distanzieren die Geschichte, suggerieren aber auch Authentizität. Zudem stellt sich heraus, dass Frankenstein noch vor seinem Tod Waltons Aufzeichnungen nachträglich redigiert hat, um sie ›wahrheitsgetreuer‹ zu machen. Dies hat jedoch zur Folge, dass die Hierarchie der narrativen Ebenen ins Wanken gerät, da nicht mehr zu unterscheiden ist, wer gerade spricht. Hinzu kommt ein ganzes Spektrum an Unzuverlässigkeitssignalen, die Victors Motive und seinen Geisteszustand als Erzähler in Frage stellen. Wenn die narrative Struktur des Textes instabil ist und damit auf ihre eigene Textualität verweist, dann gilt dies auch und umso mehr für das Monster. Es besteht aus einer Textur aus Körperteilen, der man ihre Gemachtheit ansieht: His limbs were in proportion, and I had selected his features as beautiful. Beautiful: Great God! His yellow skin scarcely covered the work of muscles and arteries beneath; his hair was of a lustrous black, and flowing; his teeth of a pearly whiteness; but these luxuriances only formed a more horrid contrast with his watery eyes, that seemed almost of the same colour as the dun-white sockets in which they were set, his shrivelled complexion and straight black lips.5
Zudem bildet sich das Monster vornehmlich durch literarische Texte geistig fort und nutzt ihre Modelle zur eigenen Orientierung in der Welt. Beim Vergleich von Frankenstein mit Die Stadt der Träumenden Bücher fällt eine Reihe von Parallelen auf, die dem Prinzip der Überbietung folgen und den Homunkoloss als übersteigerten Wiedergänger seines literarischen ›Vorfahren‹ lesbar machen. Von dem schurkischen Smeik in die Katakomben von Buchhaim verbannt, begegnet der Ich-Erzähler Mythenmetz dem Schattenkönig, alias Homunkoloss. Ähnlich wie sein namenloser Vorgänger, Frankensteins Monster, der überlebensgroß ist und über immense körperliche Fähigkeiten verfügt sowie vornehmlich bei Unwetter, Dunkelheit und in sublimer Landschaft auftritt, zeichnet sich der Homunkoloss anfangs durch bedrohliche Obskurität aus:
4 Dieses Zitat ist der zweiten Ausgabe von 1831 entnommen: Mary Shelley : Frankenstein. Second Edition [ED 1818/1831]. Hg. v. Johanna M. Smith. Boston 2000, S. 189. 5 Ebd., S. 60.
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Er war riesig, fast doppelt so groß wie ich. Er war wild und stark und sprang mit kraftvollen Sätzen über die Flammen. Noch konnte ich nichts anderes von ihm sehen als seinen schwarzen Umriß vor dem Feuer, aber daran erkannte ich seine Schönheit, die Schönheit eines wilden Tieres. (STB 334 f.)
In der Beschreibung des Monsters folgt Moers’ Text also einem gängigen Alteritätsdiskurs: Was unbekannt ist, ist zunächst auch unfassbar, animalisch und bedrohlich. Wenn der Homunkoloss erklärt: »Ich habe viele Namen«, murmelte er schließlich. »Meffias. Soter. Ubel. Existien. Erohares. Tetragrammaton. Die Halbzwerge in den oberen Höhlen nennen mich Keron Kenken. Bei den Dunklen Völkern in den Kellerlabyrinthen habe ich den Namen Ngyan Spar Du Dung Mgo Gyu’i Thor Tshugs Can.« (STB 336)
und diese dann alle aufzählt, so ist dies eine deutliche Referenz auf Shelleys Monster, das gerade keinen Namen hat. Sowohl die Namenlosigkeit von Frankensteins Monster als auch eine Unmenge an Namen des Schattenkönigs sind mit der Norm in der Diegese unvereinbar und monströs. Auch das Motiv des in eine heterogene Textualität aufgelösten und zusammengefügten Körpers folgt dem Prinzip der Überbietung. Der Homunkoloss berichtet von seiner Kindheit als begabter menschlicher Autor, wie Smeik auf ihn aufmerksam wird und ihn mithilfe eines Giftbuches betäubt (STB 342 f.). Als der Erzähler wieder erwacht, rekonstruiert er die Phasen seiner Transformation durch Smeik. In der ersten Phase wird sein Körper zerstückelt: Phistomefel Smeik drehte den Kopf meines Freundes in eine andere Richtung, so daß er jetzt einen Labortisch sehen konnte, auf dem in einer silbernen Wanne in einer milchigen Flüssigkeit ein menschlicher Arm schwamm. ›Ja, richtig‹, sagte Smeik. ›Das ist dein Arm. Dein Schreibarm!‹ Dann drehte er den Kopf in eine andere Richtung. In einem hohen schlanken Glas auf einem Sockel, eingelegt in eine klare Flüssigkeit, konnte mein Freund ein säuberlich abgetrenntes Bein schweben sehen. (STB 344 f.)
Der zu diesem Zeitpunkt noch menschliche Erzähler ist im Sinne Jacques Lacans zu einem corps morcel¤ geworden, der sich als Ansammlung von Einzelteilen wahrnimmt. In einer grotesken Umkehr des Spiegelstadiums, das Jacques Lacan zufolge für die Entstehung eines Ich-Konzepts nötig ist, löst sich das vormals stabile ›Ich‹ des Erzählers auf.6 Dieser erzwungenermaßen geänderten Körperwahrnehmung entspricht der Darstellungsmodus der Geschichte: Homunkoloss erzählt in der dritten Person, erst im Laufe der Erzählung wird Mythenmetz und dem Leser klar, dass der Homunkoloss seine eigene Geschichte erzählt. Zudem 6 Lacan zufolge erkennt das Kind sich erst im Spiegel als körperliche Einheit. Dieser euphorische Moment initiiert den Eintritt in die symbolische Ordnung, die jedoch eine imaginäre Konstruktion darstellt. Vgl. zum Spiegelstadium Anna-Margaretha Horatschek: Spiegelstadium. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v. Ansgar Nünning. 3. Aufl. Stuttgart 2004, S. 614 f.
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wird ihm sein zerstückelter Körper von Smeik vorgeführt, was eine weitere Distanzierung zum eigenen Körper bewirkt. Die Orientierungslosigkeit, die der Erzähler empfindet, verdichtet sich sinnbildlich, als Smeik den abgetrennten Kopf hochwirft: »Für einen grauenhaften Augenblick konnte mein Freund das ganze Laboratorium überschauen […]. Er sah noch einmal seine einzelnen Körperteile, und er sah die Haifischmade und Harfenstock, die belustigt zu ihm hochblickten.« (STB 345) Nachdem Homunkoloss aus einer neuerlichen Ohnmacht erwacht ist, wird der zweite Transformationsschritt an ihm bereits vollzogen: Da stand ein Geschöpf, das von Kopf bis Fuß aus Papier bestand. Das einzige an ihm, was noch an einen Menschen erinnerte, war die Form des Körpers. Arme, Beine, ein Rumpf, ein Kopf, sogar ein Gesicht – alles war da, aber es setzte sich zusammen aus zahllosen Schichten von uraltem vergilbten Papier. Aus Tausenden von Fetzen, die mit den gleichen seltsamen Runen bedeckt waren wie die Schnipsel, deren Spur ich durch das Labyrinth gefolgt war. (STB 346)
Im Gegensatz zu Frankensteins Monster, dessen Textualität metaphorisch ist, ist die Textualität des Homunkoloss buchstäblich. Es handelt sich mithin um eine Überbietung des Vorgängertextes, die sich in weiteren Einzelheiten der Beschaffenheit des Homunkoloss fortsetzt. Smeik erklärt seinem ›Kunstgeschöpf aus Papier‹, dass er aufgrund der leichten Entflammbarkeit des Materials, aus dem er besteht, nie mehr an die Oberfläche werde zurückkehren können. Desweiteren nimmt Smeik einige interne Änderungen an seinem Geschöpf vor : Die teils mechanisch aufgewerteten Organe, die eine höhere Überlebensfähigkeit gewähren sollen – ein batteriegetriebenes Herz, eine Ochsenleber und die Hirndrüse eines Berggorillas (STB 350) – machen den Homunkoloss zu einem Cyborg, einer hybriden Mischung aus lebendigem Organismus und Maschine. Hierin steht er in einer langen Tradition solcher Wesen in Literatur und Film, überbietet dabei aber das Shelley-Monster, das ausschließlich aus menschlichen Teilen zusammengesetzt ist. Wie bei Frankenstein ist auch bei Moers die Erzählung von der Monstergenese eingebettet in eine Rahmung, die jedoch auf den ersten Blick weniger komplex erscheint, da der Homunkoloss lediglich auf der intradiegetischen Ebene erzählt, und nicht – wie das Monster in Frankenstein – auf der metadiegetischen Ebene. Allerdings ist der gesamte Text von Die Stadt der Träumenden Bücher als Übersetzung aus dem Zamonischen durch einen gewissen – vom realen Autor zu unterscheidenden – Walter Moers gerahmt.7 Dies stellt 7 Zur Inszenierung von Autorschaft in den Zamonien-Romanen vgl. den Beitrag von Ingo Irsigler, bzw. speziell zu Der Schrecksenmeister auch den Beitrag von Gerrit Lembke (»›Leichenfledderer sind wir alle.‹ Die Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister«) im vorliegenden Band.
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fiktionsintern eine weitere distanzierende Textsstrategie dar, da durch den Übersetzungsvorgang eine weitere Vermittlungsintanz eingeschaltet ist. Der Fokus des Textes rückt bei solchen narrativen Strategien von der Darstellung der Ereignisse hin zum Darstellungsmodus.8
Die Abjektion als Kompositionsprinzip des Monströsen Die Probleme mit der Perzeption und Darstellbarkeit des Monströsen sind erklärungsbedüftig: Warum ist das Monster faszinierend und abstoßend zugleich? Wie kann man es angemessen konzeptualisieren und repräsentieren? Was sind die Mechanismen des Monströsen bei Shelley und Moers? Zur theoretisch fundierten Beantwortung dieser Fragen soll im Folgenden auf die Theorien von Kristeva und Serres zurückgegriffen werden.9 Beide stellen Konzepte zur Verfügung, mit deren Hilfe eine bessere Deutung des Kompositionsprinzips der Monster bei Shelley und Moers möglich ist. Die an den beiden besprochenen Beispielen anhand von Serres und Kristeva gewonnene ›Poetik des Monströsen‹, soll anschließend an zwei weiteren Zamonien-Romanen von Moers erprobt werden, Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär und Ensel und Krete. Mit ihrem Begriff der Abjektion beschreibt Kristeva die individuelle physische und psychische Reaktion eines Individuums, wenn es mit Phänomenen konfrontiert wird, die Ekel erzeugen. Kristevas Abjektion ist nicht identisch mit dem Alltagsverständnis des Ekelgefühls: »It is […] not lack of cleanliness or health that causes abjection but what disturbs identity, system, order. What does not respect borders, positions, rules. The in-between, the ambiguous, the composite«.10 Als Beispiel für Abjektion führt sie das Ekelgefühl beim Anblick der Haut auf gekochter Milch oder von verfaultem Essen an. Generalisierend lässt sich sagen, »[a]bjection occurs wherever set borders are crossed and transgression takes place«.11 Kristeva versteht Abjektion als heftige physische Reaktion auf den Tod als maximale Grenzüberschreitung, wobei sie als Vergewisserung der eigenen Vitalität fungiert.12 Sowohl Frankensteins Monster als auch der Homunkoloss sind herausragende Beispiele für Abjektion, jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Das Monster ist aus Leichenteilen zusammengesetzt, besteht also aus reanimierter 8 Vgl. Remigius Bunia: Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien. Berlin 2007 (Philologische Studien und Quellen 202), S. 202 u. 221 – 249. 9 Vgl. Serres 2007, Kristeva 1982. 10 Kristeva 1982, S. 4. 11 Christian Wenk: Abjection, Madness and Xenophobia in Gothic Fiction. Berlin 2008, S. 51. 12 Kristeva 1982, S. 2 f. Vgl. zur Kulturgeschichte des Ekels vgl. Wolfgang Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a. M. 2002.
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Materie, die von Tod durchdrungen ist: »[T]he corpse, the most sickening of wastes, is a border that has encroached upon everything. […] The corpse, seen without God outside of science, is the utmost abjection. It is death infecting life. Abject«.13 Seine grauenhafte Hässlichkeit resultiert gerade aus dem Bemühen seines Schöpfers, ihm ein möglichst schönes Aussehen zu verleihen. Der Homunkoloss hingegen besteht als Cyborg aus Körperteilen, Papier, Tierorganen, sowie aus mechanisch-chemischen Komponenten. Seine gesamte Menschlichkeit ist ihm, bis auf seine Erinnerungen, genommen worden. Die Bandbreite seiner Hybridität ist mithin größer. Vor allem aber teilen beide Kreaturen eine zentrale Eigenschaft der Abjektion – die Problematisierung von Grenzen und damit die Problematisierung vermeintlich etablierter Episteme und moralischer Werte: »The abject continuously tries to violate the borders of the clean and proper self and tries to tear down the barriers of binary categories like self/other, good/bad, sanity/insanity, and, worst of all, dead/alive«.14 Sowohl Monster als auch Homunkoloss sind ambivalente Mischwesen, auch was die Ethik ihrer Handlungen betrifft. Beide werden von Rachebedürfnissen getrieben, die sie an ihrem Schöpfer zu erfüllen suchen, wobei sie aber auch ihre Umwelt zerstören. Von Smeik dazu gezwungen, richtet Homunkoloss unter den Buchjägern ein Blutbad an, da auf ihn ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Dies wäre ein Fall von Selbstverteidigung, doch findet der Homunkoloss immer größere Freude an Macht und überbordender Gewalt und geht in dieser Rolle auf. Sein (Selbst-)Vernichtungszug an die Oberfläche von Buchhaim bleibt ethisch ambig und wirft die Frage nach der Adäquatheit der Rache auf. Ganz ähnlich agiert Shelleys Monster : Wie der Homunkoloss wird es erst zum Mörder, dann zum Brandstifter und schließlich zum Selbstmörder. Anfänglich die Zuneigung der Menschen suchend, reagiert es angesichts ihrer gewaltsamen Zurückweisung immer aggressiver und verbitterter. Seine zahlreichen und systematischen Racheakte in Form von Mord und Brandstiftung stellen schließlich die ethische Urteilsfähigkeit der Leser auf eine harte Probe: Sind seine Taten angesichts seines Schicksals gerechtfertigt oder verkommen sie zu reinem Selbstzweck?15
13 Kristeva 1982, S. 2 – 4. 14 Wenk 2008, S. 51. 15 Die Antwort auf diese Frage ist in der Forschung heftig umstritten, vgl. Lawrence Lipking, der auf provokative Weise das komplexe moralische Dilemma des Textes skizziert; Lawrence Lipking: Frankenstein, the True Story ; or, Rousseau Judges Jean-Jacques. In: Mary Shelley, Frankenstein: Contexts, Nineteenth-Century Responses, Criticism. Hg. v. Paul J. Hunter. New York 1996, S. 313 – 331.
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Serres: Der Parasit An Kristevas Konzept der Abjektion als Grenzverwischung setzt auch Michel Serres an. Seine Theorie des ›Parasiten‹ kann die Wirkungsweisen des Monströsen treffend beschreiben. Serres verwendet zwar die Ratte als leitmotivisches Beispiel, erweitert jedoch die Implikationen dieses Beispiels zu einem über den – vor allem im deutschen Sprachraum – vorbelasteten Term zum universellen Prinzip sozialer und kultureller Interaktion. Der Parasit ist mehr als ein Nutznießer, der, wie im Alltagsgebrauch des Wortes, von anderen nimmt, ohne zu geben. Vielmehr unterwandert der Parasit jegliche Normen, Systeme und damit auch Hierarchien und entlarvt diese als Konstruktion. The thought of the parasite is a form of strategic resistance to the »work of purification«. For the parasite is a reversible or ambivalent, »impure« figure. It is the noise or the static in a system, an interference from another system or a crossing between systems. It resists the notion of levels because it refuses to grant them the »purity of composition« with which […] a system like narratology endows them. For no system or element in a system is without its parasite. The parasite pulls the element away from itself, makes it more (or less) than itself, compromises its identity, troubles its selfsufficiency. As a figure, the parasite announces the irreducible hybridity of – and therefore a certain equality of relation within – all thought, science and discourse. As it destroys all purity, so the parasite necessarily denies the possibility of that vertical dimension without which the concept of levels cannot survive. In effect, the work of the parasite means the collapse of all hierarchies.16
Gibson überträgt hier Serres’ Konzept auf narrative Texte, und erweitert so den ursprünglichen Fokus. Zentrale Denkfigur bei Serres ist die dynamische Kontingenz der parasitären Verbindung. Im Gegensatz zum herkömmlichen, statischen Konzept des Parasiten, das als one-way-Beziehung verstanden wird, können bei Serres Parasit und Wirt unverzüglich die Position wechseln. Dadurch kann des einen Parasit wiederum des anderen Wirt sein, was eine variable Kette parasitärer Beziehungen ergibt: »[W]hen a system admits a parasite, the parasite multiplies immediately, reproduces, makes a chain«.17 Für Serres können die Handlungen des Parasiten weitreichende Folgen haben: »Here then is the game of the third; it is simple as ABC, and it is no longer a play on words; it may be a game of death. It turns around; it wanders; it waits. It looks out; it spies on. It is placed between; it intercepts; it forbids«.18 Serres’ Figuration des Parasiten macht die grundlegenden Wirkungsprinzipien literarischer Repräsentationen des Monströsen bei Shelley und Moers
16 Andrew Gibson: Towards a Postmodern Theory of Narrative. Edinburgh 1996, S. 249. 17 Serres 1982, S. 250. 18 Ebd., S. 249.
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lesbar. Beide Monster untergraben aufgrund ihrer widernatürlichen Ontologie soziale Kategorien und Normen. Der Homunkoloss hat keinerlei Möglichkeit, aus seiner unterirdischen Welt zurückzukehren und ruft sich zum Herrscher über ein obskures unterirdisches Reich aus, in dem er Angst und Schrecken verbreitet. Anders als Shelleys Monster, das den Status als parasitärer Außenseiter erst internalisieren muss, bleibt der Homunkoloss von diesem Vorgang verschont – er ist bereits ein fertig gebildetes Wesen, das sich aber noch an seine Umwelt anpassen muss. Zum Außenseitertum verurteilt, lebt Shelleys Monster außerhalb der Gesellschaft, immer auf der Suche nach einem Weg aus der Peripherie in die soziale Gemeinschaft. Es versorgt sich heimlich mit Lebensmitteln von den Menschen und lebt verborgen neben ihnen. Aufgrund seines Außenseitertums bleiben auch seine Versuche, sich durch Wohltaten die Gunst ›seiner‹ Familie zu gewinnen, parasitär : Seine unergründliche Hässlichkeit lässt jeden sofort fliehen oder gewalttätig werden, und so zerstört es die familiäre Idylle seiner ›Wirtsfamilie‹. Als es sich ihnen offenbart, verlassen sie fluchtartig ihr Heim, und die Erzählung verliert sie aus dem Blick. Nachdem das Monster mit der Menschheit gebrochen und sich auf seinen Rachezug begeben hat, wird es endgültig zum parasitären Anderen: Es tötet Frankensteins Familie und Freunde und nährt seinen Hass von dessen Trauer und Schmerz. Aber auch Victor Frankenstein wird zum Parasiten, indem er Jagd auf das Monster macht. In einer mustergültigen Figuration von Serres’ Theorie ist bei der Jagd der beiden in den arktischen Gefilden ununterscheidbar, wer Jäger und wer Gejagter ist. Beide leben nur noch für die Vernichtung des anderen, gehen zugleich im Hass aufeinander auf. Das Monster hinterlässt seinem Verfolger Nahrung und ermöglicht ihm so die Fortführung der Jagd – Parasit und Wirt vertauschen permanent die Rollen. Sobald Frankenstein entkräftet aufgeben muss, kollabiert das System, und auch der Text bricht genau an dieser Stelle ab.19 Die Erzählung Waltons bleibt als Folge der parasitären Präsenz des Monsters ein Fragment ohne klaren Abschluss.
Die Kontamination von Innen und Außen: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär und Ensel und Krete Im Folgenden gilt es, die Beobachtungen und Thesen zum Monströsen bei Shelley und Moers an zwei weiteren Zamonien-Romanen zu erproben und zu präzisieren. Beispielhaft sollen hier der Bollogg in Die 1312 Leben des Käpt’n 19 Hier ergibt sich eine weitere Parallele zu Die Stadt der Träumenden Bücher. Auch hier wird der Homunkoloss anfangs gejagt und wird sogleich zum Jäger. Die Konfrontation zum Ende hin, die in der Zerstörung Buchhaims mündet, bedeutet zugleich das Ende des Textes.
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Blaubär und die Waldspinnenhexe in Ensel und Krete näher betrachtet werden, es ließen sich jedoch zahlreiche weitere Beispiele anführen.20 Sowohl der Bollogg als auch die Hexe stehen symptomatisch für die enge Verknüpfung von Abjektion und dem Parasiten. Beide greifen das Prinzip der Grenzverwischung auf, das bereits in Frankenstein angelegt und in Moers’ Homunkoloss präsent ist, radikalisieren dieses Prinzip jedoch auf innovative Weise. Stellten Shelleys Monster und der Schattenkönig noch die Grenze zwischen Tod und Leben sowie zwischen körperlicher Einheit und Heterogenität in Frage, so positionieren die folgenden Beispiele die Protagonisten und damit die Leserperspektive in die jeweiligen Monstren. Die absurden Dimensionen dieser beiden Wesen und die damit einhergehende Dekonstruktion von Körpergrenzen, die Verwischung von Innen und Außen, rücken das Monströse in beunruhigende Nähe zum Leser. Das Grundprinzip der Abjektion, nämlich die fundamentale Bedrohung des Selbst durch Tod und Verwesung, wird an beiden Beispielen sinnfällig. Als Blaubär in den abgelegten Kopf des gigantischen Bollogg steigt, um ihn auf seiner Reise zu durchqueren, ist er mit den gefährlichen Bolloggflöhen sowie mit diversen talgigen Sekreten und gigantischen Hautschuppen des Riesen konfrontiert. Auf der Reise hinauf zum Ohr des Bollogg, umgeben von üblen Gerüchen und verfilztem Haar, bleibt die Beschreibung des Erzählers in der Diktion einer Bergtour: »Aber ich kam gut voran, das Wetter war ausgezeichnet, kein Lüftchen regte sich, und Regen war auch nicht in Aussicht.« (KBB 402) Die so entstehende Ironie resultiert aus dem Kontrast zwischen der Distanz des Erzählers und den Ekelgefühlen des Lesers. Dieses Ekelgefühl steigert sich, als Blaubär vor einem Riesenfloh ins Ohr des Bollogg flüchtet. Dort springt er in einen Tümpel aus Ohrenschmalz, das ihn umschließt und an dem er sich verschluckt: »Das war das widerlichste Gefühl in meinem ganzen Leben.« (KBB 404) Der Protagonist, und mit ihm der Leser, ist hier an einen Punkt äußerster Abjektion gelangt, der kulturell tabuisierte direkte Kontakt mit Körperflüssigkeiten des monströsen Anderen wird durch deren unermessliche Dimensionen potenziert. Nachdem der Bär von der ›personifizierten‹ Idee ›16U‹ gerettet worden ist, setzen beide die Reise durch das Innere des Kopfes fort. Die durchquerten Zonen (Gehörgang, Trommelfell, Gehirn) fungieren als Grenzmarkierungen. Das Überschreiten dieser Grenzen fungiert buchstäblich als eine Reise in das Innerste des Monströsen, zu seinen als körperhafte Wesen figurierten Gedanken. Während seines Aufenthalts vertreibt sich der Blaubär auf parasitäre Weise die Zeit: Er spielt auf der Traumorgel und erzeugt so immer ausgefeiltere Träume:
20 Beispielhaft sei hier nur auf die Schrecksenhäuser in Moers’ Der Schrecksenmeister verwiesen (SM 361).
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Ich arrangierte ein paar Alpträume, die ich aus den Ängsten des Riesen zusammensetzte, welche sich hauptsächlich auf kleinwüchsiges, krabbelndes Getier bezogen, für einen Bollogg eigentlich alle Lebewesen außer ihm selbst. Aber das ließ ich bald wieder bleiben, weil der Kopf dadurch sehr unruhig wurde, er fing an zu schnaufen und zu schnarchen, so daß ich fürchtete, er würde vor lauter Angst erwachen. (KBB 426)
Auf diese Weise zieht er ein immer größeres Publikum zu seinen Traumvorstellungen an und nimmt sogar dafür Eintritt. Der Protagonist und Ich-Erzähler ist somit, ähnlich der Bolloggflöhe, zu einem Parasiten geworden. In pointierter Nähe zur Rolle des Autors im Literatursystem befriedigt er die Sensationslust seines Publikums: »Zugegeben, ich näherte mich mit diesen schwelgerischen Kompositionen dem Kitsch, aber das Material war einfach zu verführerisch.« (KBB 429) Blaubärs Parasitentum bleibt jedoch nicht auf seine Traumproduktion beschränkt. Das parasitäre Prinzip infiltriert seine Umgebung und den Text. Als homodiegetisch-autodiegetischer Erzähler fungiert Blaubär als Schnittstelle zwischen Leser und Text. Auch in seinen anderen ›Leben‹ folgt er dem Prinzip der Überbietung, indem er seine Tätigkeiten als ›Vorweiner‹, ›Lügengladiator‹ oder Lebensretter in ihrer Dramatik immer weiter steigern muss, um die Erwartungen seines Publikums zu befriedigen. Da die Position des fiktionsexternen Rezipienten in einem ähnlichen Verhältnis zum Text wie das fiktionsinterne Publikum zum Blaubären steht, befindet sich der Leser in einer ebenso parasitären Position: Auch der Leser will durch immer spektakulärere Geschichten unterhalten werden. Die auf der Handlungsebene des Textes dargestellten parasitären Beziehungen setzen sich mithin auch auf der textexternen Rezipientenebene fort, und kommentieren das parasitäre Grundprinzip von Autor-, Textund Leser-Beziehungen auf subtile Weise. Auch Ensel und Krete entwickelt in mehrfacher Hinsicht Figurationen des Parasitären: Zum einen stellt bereits der Titel ein ironisches rewriting des Grimmschen Märchens Hänsel und Gretel (1812) dar, zum anderen finden sich auch auf der Figurenebene vor allem in der Hexenhausepisode parasitäre Beziehungsketten, auf die abschließend näher eingegangen wird. Die idyllische Waldlichtung mit dem kleinen Häuschen, die Ensel und Krete auf ihrer Reise durch den Wald finden, entpuppt sich als venusfliegenfallenartiges Simulakrum.21 Eingerahmt ist diese Episode durch werkintern als ›Mythenmetzsche Abschweifungen‹ etablierte Betrachtungen des Erzählers Hildegunst von Mythenmetz, die beim Leser bezüglich des weiteren Verlaufs der Handlung Span21 Vgl. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Übers. v. Gerd Bergfleth u. Gabriele Ricke. Berlin 2005, S. 77 – 119. Baudrillard hinterfragt den Realitätsbegriff im Industriezeitalter und entwickelt die These, dass es keinerlei Realität mehr gibt, sondern nur noch zeichenbasierte Simulakren.
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nung erzeugen. So entwirft er zunächst eine optimistische, im weiteren Verlauf dann eine pessimistische Version, in der die Kinder einen Festschmaus vorfinden oder aber von feindlichen Wesen überfallen werden. Die zuletzt entworfene skeptische Version, nach der das Haus eine Halluzination ist, komplettiert die Reihe von Versionen, die sich in ihrer Summe gegenseitig ergänzen.22 Die Geschwister verhalten sich bei Betreten des Hauses parasitär, insofern sie Essbares suchen und finden. Nachdem sie den Kochtopf geleert haben, wird ihnen klar, dass sie in der Falle sitzen: Dort, wo vorher ein rustikaler Kerzenleuchter gehangen hatte, baumelte nun ein großer, prallgefüllter Sack von der Decke, der von innen vielfarbig leuchtete und sich rhythmisch pumpend bewegte. Was zuvor totes Holz gewesen war, war nun lebendige Masse aus wogendem Pflanzenfleisch. »Die Hexe!« rief Ensel, der plötzlich alles begriff. »Aber wo ist sie? Ist sie hier drin?« Krete blickte voller Schrecken um sich. »Nein. Wir sind in ihr.« »Was?« »Das Haus ist die Hexe. Die Hexe ist das Haus. Und sie hat gerade angefangen, uns zu fressen.« (EK 197)
Die erlebte Transformation aus totem in organisches Material ist eine weitere Variante der Abjektion. Dem Frankensteinschen Kompositionsprinzip folgend wird Totes belebt. In grotesker Verdrehung und Überbietung der Märchenvorlage verschmelzen Hexe und Haus zu einem lebendigen Wesen. Wurde das Haus im Märchen von den Kindern verspeist, so wird es bei Moers zum vertilgenden Wesen. Die durch die Hexe hervorgerufene Abjektion wird durch ihre schwammpilzartige Allgegenwärtigkeit verstärkt: »Sie ist … nun ja, etwas, das unterirdisch im Großen Wald wächst. Sie hat die Fähigkeit, böse Träume zu erzeugen. Sie tötet die Tiere des Waldes durch ihren Gesang. Sie raubt ihre Seelen, und ich fürchte, daß sie sich davon ernährt.« (EK 206) Wie die bislang untersuchten zamonischen Monster ist die Hexe also ein weiteres Beispiel für die produktive Kombination aus Abjektion und dem parasitären Prinzip, bedingt vor allem durch ihre amorphe Körperform sowie durch ihre ambige Stellung zwischen ›tot‹ und ›lebendig‹. Ihre Fähigkeit, durch induzierte Halluzination zuerst parasitäres Verhalten in anderen auszulösen – 22 Dieser metanarrative Einschub des Erzählers ist auf intrikate Weise doppelt kodiert: Zum einen dient er auf der Textoberfläche der Spannungserzeugung, zum anderen spielen diese Versionen unterschiedliche Denktraditionen in der westlichen Philosophie durch. Vor allem der Verweis des Erzählers auf die Möglichkeit, dass die Kinder Opfer einer Halluzination sind, ihre Realität folglich nur imaginiert, entspricht der cartesianischen Theorie des Skeptizismus (vgl. Jaegwon Kim u. Ernest Sosa: Epistemology. An Anthology. Malden 2000). Moers’ Text spielt so gekonnt mit verschiedenen Philosophien und Textsorten und eröffnet eingeweihten Lesern spielerisch weitere Bedeutungsdimensionen.
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Ensel und Krete bedienen sich der Speisen im Haus – um dann selbst zum Jäger und Parasiten zu werden, macht die Hexe zur Extremform des Monströsen. Der erzähllogisch notwendige Ausweg aus dieser Situation wird fiktionsintern problematisiert. Zunächst bricht der Text an der Stelle ab, an der die beiden Protagonisten von den Magensäften der Hexe erfasst werden. Es folgt eine weitere ›Mythenmetzsche Abschweifung‹, die den gesamten Text leitmotivisch durchziehen: »Tja. Das war’s. So endet das zamonische Märchen von Ensel und Krete: Der Raum fing an, sich mit Magensäften zu füllen. Sie wissen doch, daß alle zamonischen Märchen traditionell tragisch enden, nicht wahr?« (EK 198) Es folgt eine ironische Abwandlung des Märchenschlusses ›und wenn sie nicht gestorben sind…‹ und in großen Lettern »Ende« (EK 223), was den Text konventionsgemäß abschließt. Bezeichnenderweise geschieht die Zäsur genau an der Stelle der Erzählung, an der die monströse Hexe zu siegen scheint. Direkt im Anschluss nimmt Mythenmetz den Faden jedoch wieder auf und adressiert den Leser direkt: »He, Sie lesen ja immer noch! Was wollen Sie denn von mir? Was soll ich machen? Etwa mit dem größten Tabu der zamonischen Literaturgeschichte brechen?« (EK 200) Es folgt ein Exkurs zu diversen, noch unangenehmeren Märchenendungen, bevor der Erzähler sich dazu entschließt, das Tabu doch noch zu brechen und eine glückliche Wendung herbeizuführen. Da zuvor die metanarrativen Bemerkungen des Erzählers den Fiktionsstatus der Erzählung betont hatten, kann als unmittelbare Folge der Abschweifung der hierdurch als solcher markierte deus ex machina in Form des ›bekloppten Waldbären‹ Boris Boris (EK 206), der die Kinder mit einer Axt aus dem Bauch der Hexe befreit, jedoch nicht mehr überzeugen: Die Handlungsillusion, die aufgrund der spannungsgeladenen Magensaftepisode ein hohes Immersionspotential besaß, ist durch die Reflexionen des Erzählers nachhaltig gestört – was bleibt, ist die Erzählillusion. Damit liegt der Fokus nunmehr erneut auf dem Darstellungsmodus.23 Die durch die regelmäßigen Abschweifungen immer wieder hervorgerufene Oszillation zwischen Handlungs- und Erzählillusion, bzw. zwischen Darstellung und Darstellungsmodus auf der Textoberfläche, führt zu einer Distanzierung des Rezipienten von den monströsen Kräften im Text. Zugleich verweist der Text hierdurch auf seinen eigenen Status als Fiktion, sowie auf die Möglichkeiten und Grenzen der Inszenierung des Monströsen.
23 Vgl. grundlegend zur Theorie erzählerischer Illusion und der Kritik daran Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen 1993, S. 87 – 111; Ansgar Nünning: ›Great Wits Jump‹: Die literarische Inszenierung von Erzählillusion als vernachlässigte Entwicklungslinie des englischen Romans von Laurence Sterne bis Stevie Smith. In: Lineages of the Novel. Essays in Honour of Raimund Borgmeier. Hg. v. Bernhard Reitz u. Eckart Voigts-Virchow. Trier 2000, S. 67 – 91; Bunia 2007, S. 128 – 133.
Zur Poetik des Monströsen bei Walter Moers
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Schluss Diese Erzählstrategie ist ein Effekt der Poetik der Abjektion und des Parasitären: Um das Monströse zu ästhetisieren und darstellbar zu machen, lässt sich an den untersuchten Texten ein ganzes Spektrum an Distanzierungsmitteln nachweisen, die in der Gothic Novel entwickelt wurden, und die bis hin zur phantastischironischen Unterhaltungsliteratur von Walter Moers beobachtbar sind. Obwohl seine Romane als Kinder- und Jugendliteratur gestaltet sind, was auf der paratextuellen Ebene durch die Einbände und Zeichnungen des Autors unterstützt wird, erweitern sie doch das Monsterinventar der Gothic Novel auf innovative Weise, unter Beibehaltung der dieser zugrundeliegenden Poetik des Monströsen. Diese Poetik basiert auf den Prinzipien der Grenzverwischung, der Obskurität und der Überbietung von monströsen Vorgängern. Sie äußert sich in textuellen Motiven, die Züge des Parasitären im Sinne von Michel Serres tragen und deren intra- sowie extratextuelle Wirkung sich mit Kristevas Konzept der Abjektion – so hat dieser Beitrag zu zeigen versucht – treffend erfassen lässt.
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II. Zu den einzelnen Werken Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär (1999)
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Seemannsgarn spinnen oder: im Malmstrom des lebensgeschichtlichen Fabulierens. Walter Moers’ Variante des Schelmenromans
Unter Autobiographietheoretikern galt es bis weit in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein als ausgemacht, dass nur sehr alte und sehr berühmte Männer ihre Lebenserinnerungen schreiben könnten. Diese saßen dann, so lässt sich vorstellen, an schweren Schreibtischen, umringt von alten Büchern und zahlreichen Dokumenten aus einem reichhaltigen Leben, und verfassten eine gewichtige Geschichte, von deren Bedeutung sie selbst überzeugt waren – und noch mehr waren sie davon überzeugt, dass die anderen, das Publikum, an der Relevanz ihrer Lebensgeschichte nicht im mindesten zweifelten. Georges Gusdorf hat in den 1950ern dieses Stereotyp des Autorenkreises von Autobiographien und Memoiren ungeniert politisch unkorrekt in einem Satz zusammengefasst: »Viele bedeutende Männer – und selbst weniger bedeutende – Staatsmänner oder Heerführer, Minister, Naturforscher und Männer der Wirtschaft haben die Muße ihres Alters der Abfassung von ›Erinnerungen‹ gewidmet«.1 Käpt’n Blaubär tritt, daran duldet Walter Moers keinen Zweifel, in seiner sehr speziellen Weise in die Fußstapfen solcher von ihrer Anerkennung überzeugter Männer. Denn der Ich-Erzähler in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär simuliert im Vorwort eine ganz ähnliche Schreibsituation: Meine Lebenserinnerungen müssen der Nachwelt erhalten werden. Die ersten Frostgespenster strecken ihre klammen Finger durch die Dielen meiner Kajüte und greifen nach meinen Füßen. Unsichtbare Eishexen malen Schneeblumen auf die Fenster. Nicht gerade meine bevorzugte Jahreszeit, aber genau der richtige Anlaß, eine Kanne heißen Kakao zu kochen (mit einem winzigen Schuß Rum), dreizehneinhalb gestopfte Pfeifen, dreizehneinhalb Marmeladenbrote und dreizehneinhalb gespitzte Bleistifte bereitzulegen und zu beginnen, meine ersten dreizehneinhalb Leben niederzuschreiben. Ein kühnes, kräftezehrendes Unterfangen von epischem Ausmaß, wie ich befürchte. Denn, wie schon gesagt: Damals gab es von allem viel mehr – natürlich auch mehr Abenteuer. (KBB 7)
1 Georges Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie (1956). In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. v. Günter Niggl. Übers. v. Ursula Christmann. 2. Aufl. Darmstadt 1998, S. 121 – 147, S. 121.
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Schon in diesem Vorwort entsteht damit die spezifische Zamonien-Atmosphäre zwischen abenteuerlichem Jugendroman, skurriler Kaminlektüre und einer Literatursatire, die Selbstreferentialität gewitzt inszeniert.2 Der blaue Seebär fabuliert zunächst ganz ähnlich den Erinnerung reflektierenden Autobiographen des 20. Jahrhundert: Als erstes erzählt er, was er als früheste Erinnerung bezeichnet. Während Jean-Jacques Rousseaus Confessions (1782/87) nach konzeptionellem Vorwort noch mit einer kurzen Geschichte der Familie beginnen oder Johann Wolfgang von Goethes Dichtung und Wahrheit (1811 – 1833) die Geburt des Autors mitsamt ihrer medizinischen Problematik, politischen Folgen und astronomischen Konstellation schildert, rufen Autobiographen des 20. Jahrhunderts, etwa Elias Canetti oder Christa Wolf, zu Beginn gern ihre erste Erinnerung auf: Elias Canettis Geschichte einer Jugend heißt Die gerettete Zunge (1977), weil die Erinnerung des Autors – und seine Autobiographie – damit einsetzt, dass der heimliche Liebhaber des Kindermädchens dem Knaben droht, ihm die Zunge herauszuschneiden. Und Christa Wolfs zwischen Roman und Autobiographie changierender Text Kindheitsmuster (1976) führt in die Ebene ihrer Nelly ein, indem die Erinnerung der Ich-Erzählerin geschildert wird, wie sie, besser : die kleine Nelly, auf der Steinstufe vor dem Laden der Eltern zum ersten Mal sich selbst als ›Ich‹ tituliert. Auch der Großvater aller Seebärchen und gelernte »Oberknotmeister« (KBB 22) von allerlei Seemannsgarn verspricht eine Geschichte des eigenen autobiographischen Gedächtnisses und erzählt als erste Episode seine vorgeblich erste Erinnerung: Als Findelkind treibt er in einer Walnussschale im Ozean auf den Malmstrom zu (KBB 11). Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär wird im Folgenden aber nicht als Satire einer Autobiographie, sondern als – postmoderner – Schelmenroman gelesen. Die Nähe zur Autobiographie ergibt sich dadurch zwangsläufig, denn Schelmenromane, die sich durch einen ›unzuverlässigen Erzähler‹, durch episodische Reihung und durch ein para-enzyklopädisches Weltpanorama auszeichnen, sind Autobiographiefiktionen.3 In dieser Untergattung des Romans, die im Spanien des siglo de oro, des gar nicht so goldenen 16. Jahrhunderts, als Pikaroroman im Kontext der gesellschaftlichen Ausgrenzung der conversos, also der durch die Judenverfolgung der Inquisition zur Konversion gezwungenen ›Neuchristen‹, entstand,4 erzählt ein Schelm als autodiegetischer Erzähler eine episodische 2 Vgl. zur Nähe zum Genre der voyage imaginaire Hans-Edwin Friedrich: Erzählen als Lügen: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär von Walter Moers. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57 (2010), H. 2, S. 148 – 161, hier S. 150. 3 Vgl. zur Theorie und Geschichte des Schelmenromans Matthias Bauer: Der Schelmenroman. Stuttgart/Weimar 1994 und ders.: Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans. Stuttgart/Weimar 1993. 4 Ders. 1993, S. 49 – 57 u. ders. 1994, S. 32 – 35; vgl. dazu zunächst Hans Gerd Rötzer : Picaro –
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Lebensgeschichte, die ihn vertikal durch alle gesellschaftlichen Schichten und horizontal durch die Weite der Welt führt. Der Ich-Erzähler ist dabei, auch wenn er in einigen Episoden von seinem hohen gesellschaftlichen Ansehen berichten kann, stets Neuling und Außenseiter in der jeweiligen Umgebung, deren Regeln er nie ganz durchschaut und denen er deshalb letztendlich immer zum Opfer fällt. Die dadurch entstehende Wechselhaftigkeit der Lebensgeschichte des Pikaro treibt den Roman von Episode zu Episode an neue Schauplätze und den anti-heldischen Protagonisten in immer neue, meist unbequeme und nur durch Gewitztheit und List halbwegs bewältigbare Lagen. So entsteht auch die Doppelrolle des Ich-Erzählers: Die jeweilige Welt beschreibt er zugleich aus der distanzierten Außensicht des Ethnographen und der parteiischen Innensicht des Opfers, das, allem Schelmsein und aller Unzuverlässigkeit zum Trotz, die Sympathie der Lesenden stets für sich zu gewinnen weiß und sie dennoch immer daran erinnert, dass ihm als Erzähler nicht zu trauen ist. Denn da er ein Erzschelm ist und durch verschiedenste intra-, para-, kon- und intertextuelle Signale deutlich wird, dass er seine Lebensgeschichte innerfiktional verfälscht, also gegen die Regeln dessen, was innerhalb der fiktionalen Geschichte als wahr gilt, verstößt, misstrauen die Leser seiner Erzählung.5 Ein solcher Roman provoziert damit eine aktive Rezeptionshaltung, das heißt: eine korrigierende »Komplementärlektüre«.6 Schelmenromane führen ihr Publikum so in einen ›Fuchsbau der Geschichten‹7, das heißt in ein Labyrinth der Episoden und der verschiedensten widersprüchlichen Sichtweisen auf einzelne Ereignisse – und jeder erzählten Episode steht eine korrigierte Version im Kopf der Lesenden gegenüber. Auch Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär versucht die Lesenden in einen ›Malmstrom‹ des spannenden Fabulierens zu ziehen – und animiert zugleich die entspannte Distanz eines Auditoriums, das es ›besser‹ weiß, sich seinen eigenen ›Reim‹ auf die Geschichte macht, sich deshalb dem Strudel der Ereignisse entziehen und je nach Geschmack entspannt eine Gegengeschichte entwickeln kann. Die Rolle des unzuverlässigen Ich-Erzählers spielt der Blaubär, der das Verknoten von Seemannsgarn bei den Zwergpiraten (KBB 21 f.), bei den Tratschwellen das Sprechen (KBB 58 – 61) und in Atlantis den Beruf des Lügengladiators erlernt hat (KBB 532 – 536), mustergültig, Moers’ Text erfüllt dieses Gattungsmerkmal des Schelmenromans damit geradezu hyperkorrekt. Insofern steht, wie Landstörtzer – Simplicius. Studien zum niederen Roman in Spanien und Deutschland. Darmstadt 1972 (Impulse der Forschung 4). 5 Vgl. zum spezifischen – innerfiktionalen – Wahrheitsanspruch fiktionaler Texte Matias Martinez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl. München 2005, S. 95 – 98. 6 Bauer 1993, S. 26 – 34. 7 Ebd.
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Friedrich zeigt,8 Moers’ erster Zamonien-Roman durchaus in der Tradition der Münchhausiaden, aber darüber hinaus in der breiten Gattungstradition des Pikaro- oder Schelmenromans. Den lebensgeschichtlichen Erzählfluss des Seebären aus der Daseinsform der Buntbären, also der »[z]amonische[n] Sonderform aus der Familie landbewohnender Allesfresser mit dichter Fellbehaarung (Ursidae); kräftige, bis zu zwei Meter große Säugetiere mit Sprachbegabung« (KBB 690), um Professor Dr. Abdul Nachtigallers »Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« zu zitieren, unterbrechen immer wieder selbstreferentielle Passagen, die sich auf seine Rolle als fragwürdiger Erzähler beziehen. Intratextuelle Unzuverlässigkeitssignale finden sich zuhauf, so etwa die zahlreichen, zum Teil schon genannten Hinweise auf Lügengeschichten. Paratextuell setzen schon der Untertitel »Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären« – mit dem deutlichen Hinweis auf ein Verschweigen sowie mit der Konnotation des SeemannsgarnSpinnens – und das vorangestellte Motto, das sich als Zitat einer Romanfigur mit sprechendem Namen gibt, ein deutliches Signal, wes Geistes Kind die folgende ›Autobiographie‹ sein wird: »Das Leben ist zu kostbar, um es dem Schicksal zu überlassen.« (KBB 5), soll der Rettungssaurier Deus X. Machina gesagt haben. Als deus ex machina, als Gott aus der Theatermaschinerie, wird der Eingriff eines Gottes in einen schicksalhaften Verlauf kurz vor der Katastrophe bezeichnet. In die Amphitheater der Antike schwebten die Tragödiengötter mit der mechane, einem schwenkbaren Kran, ein.9 Eine solche Rettung in letzter Minute stellt stets das Mechanische, Artifizielle, Konstruierte der Geschichte aus – und rückt somit in einer Lebensgeschichte deren poetisches Gestaltetsein ins Licht der Aufmerksamkeit: Blaubärs Biographie prägt nicht der Zufall oder das Schicksal, sondern die Konstruktion eines Lügengladiators – oder eben: eines Romanautors.10 Wenn Schelmenromane ihr Publikum zur Komplementärlektüre animieren, dann auch dadurch, dass der ›Fuchsbau der Geschichten‹ oft den Einzeltext übergreift und weitere fiktionale Werke in das unüberschaubare Erzähldickicht eingreifen. Das heißt: Auch und vor allem intertextuelle Bezüge senden deutliche Unzuverlässigkeitssignale. Moers ist auch in dieser Hinsicht ein geradezu prototypischer Schelmenromandichter : Dass es zahlreiche Widersprüche zwischen Blaubärs Darstellung einiger Ereignisse und deren Spiegelung in weiteren Zamonien-Romanen gibt, darauf weisen zugleich der Autor in Interviews und Moers-Liebhaber im Internet hin.11 Moers’ Zamonien-Romane führen kein 8 9 10 11
Friedrich 2010, S. 150 f. Nigel Spivey u. Michael Squire: Die Welt der Antike. Stuttgart 2004, S. 263. Vgl. dazu auch Friedrich 2010, S. 155 – 158. Zamonien. In: http://de.wikipedia.org/wiki/Zamonien (Zugriff am 7. September 2010). Vgl.
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Fortsetzungspanorama vor Augen, sondern bilden ein Konglomerat von Geschichten, die Komplementärlektüren ermöglichen. Ein geradezu überdeutliches intertextuelles Unzuverlässigkeitssignal stellt schon die Person des Erzählers dar : Käpt’n Blaubär ist als Kultfigur einer Zeichentrickserie (nicht nur) für Kinder aus der Sendung mit der Maus zum sprichwörtlichen Lügenbär geworden.12 In Moers’ Zamonien-Romanen ergänzen sich intertextuelle Bezüge zudem zu intermedialen: Schon durch die von Moers gezeichneten Umschlagillustrationen erweist sich Rumo & Die Wunder im Dunkeln als Komplementärgeschichte zu Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär : Während die Umschlagillustration zur Autobiographie des Buntbären diesen im dritten Leben (»auf der Flucht« KBB 45) beim erfolgreichen Versuch, vom Tyrannowalfisch Rex nicht verschlungen zu werden, vorwitzig zwischen dessen Barten, »meterlange[n] lianenähnliche[n] Tentakel[n]« (KBB 67), vorlugen lässt, zeigt das Titelbild zur dunklen, blutigen Seite der Geschichte den Wolpertinger Rumo in ähnlicher Haltung, allerdings in Rot statt Blau. Von allen in der Literaturwissenschaft diskutierten Kriterien des unzuverlässigen Erzählens erweisen sich die kontextuellen Signale als die unzuverlässigsten, das heißt: die trügerischsten und diejenigen Signale, die am ehesten der Rezipientenwillkür unterliegen und nicht durch Textsignale untermauert werden können.13 Denn dürfen sich Lesende zu Richtern über die Normen des Erzählten erheben und alle diejenigen Erzähler als ›verdächtig‹ abstempeln, deren Weltsicht ihrer eigenen widerspricht? Anders ausgedrückt: Besitzen auch die Harry-Potter- und Lord-of-the-Rings-Romane einen unzuverlässigen Erzähler, nur weil in ihnen Dinge geschehen und Wesen handeln, die Muggeln und anderen Realisten als hochgradig unwahrscheinlich und damit phantastisch erscheinen? Ruft jede Geschichte, die von einer Welt berichtet, welche die Grenze unseres Alltagsverständnisses überschreitet, eine Komplementärlektüre hervor? Dass dies nicht so ist, beweisen die oben genannten phantastischen Romane und Erzählungen Tolkiens oder Rowlings. Denn das Konzept des unzuverlässigen Erzählens, das Literatur spätestens seit Lukians Wahren Geschichten (um 180 n. Chr.) nutzt und das Wayne C. Booth 1961 in die Narratologie eingeführt hat,14 schließt phantastische Geschichten, die ihre Leser und Leserinnen in fremde zu markierten intra- und intertextuellen Widersprüchen als Kennzeichen für unzuverlässiges Erzählen u. a. Bauer 1993, S. 26 – 34 und Ansgar Nünning: Unreliable, compared to what? Towards a Cognitive Theory of Unreliable Narration. Prolegomena and Hypotheses. In: Grenzüberschreitungen. Narratologie im Kontext. Hg. v. Walter Grünzweig u. Andreas Solbach. Tübingen 1999, S. 53 – 73, hier S. 64. 12 Die Seite mit Käpt’n Blaubär. In: http://www.wdrmaus.de/kaeptnblaubaerseite (Zugriff am 7. September 2010). Vgl. aber zu den deutlichen Verschiebungen zwischen der Figur aus dem Kinderfernsehen und der Romanfigur Friedrich 2010, S. 148 f. 13 Nünning 1999. 14 Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. 2. Aufl. Chicago/London 1983.
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Welten entführen und in denen andere Gesetze der Wahrscheinlichkeit gelten als in deren Alltagsleben, dann aus, wenn dort für die Dauer der Lektüre der Zweifel an der Wahrheit der Geschichte ausgesetzt ist, also der typische suspension of disbelief des Fiktionalen für alle Teile des Erzählten gelten soll.15 Dieser von Coleridge geprägte Begriff meint »die für Fiktionen allgemein bekannte Aufhebung der für die Alltagskommunikation üblichen Wahrheitskriterien«16. Insofern scheint mir auch Friedrichs Zuordnung der Zamonien-Romane zur phantastischen Literatur nicht zwingend.17 Denn während in phantastischen Romanen Abweichungen von unserem Weltverständnis nicht verstören und nicht als ›Lügenmärchen‹ einem unzuverlässigen Erzähler ›angelastet‹ werden, entsteht das Vergnügen der Lesenden in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär gerade dadurch, dass die Lesenden die Lügengeschichten des Erzählers durchschauen. Im Unterschied zum prototypischen phantastischen Roman wird im durchaus phantasiereichen Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär der suspension of disbelief schelmenroman-typisch nur teilweise aufgehoben: Von Anfang an, das heißt konkret: vom Untertitel »Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären« an, gilt das Seemannsgarn des Ich-Erzählers als unterhaltsam und äußerst abwechslungsreich, aber kaum als glaubwürdig. Und diese Unglaubwürdigkeit entsteht keineswegs dadurch, dass Zwergpiraten, Berghutzen, Wolpertinger, Stollentrolle und eine Waldspinnenhexe in der Romanwelt ihr Unwesen treiben, sondern dadurch, wie der Seebär seinen erzählerischen Faden spinnt, mit welcher Ironie und mit welchen Hinweisen auf die eigene Phantasterei die Episoden so vorgetragen werden, dass die Lesenden dem Erzähler nicht ins Netz gehen. Textuelle Markierungen des Unzuverlässigen können nach Nünning unter anderem Leseransprachen, Wiederholungsstrukturen und große Ausdrucksintensität sein.18 Zweifel an der Glaubwürdigkeit eines Erzählers streut ein Text auch dadurch, dass immer wieder deutlich wird, dass das Sensationellste der Geschichte sich nicht mehr empirisch überprüfen lässt, da es inzwischen unwiederbringlich verschwunden ist. So weist Blaubär schon in seinem Vorwort darauf hin, dass es früher »von allem viel mehr« gab (KBB 6). Nicht nur für Walter Moers’ Varianten des unzuverlässigen Erzählens im Schelmenroman, sondern generell für diese Art des Erzählens dürfte ein weiterer intratextueller Unzuverlässigkeitsmarker hinzukommen: die große Dichte an Selbstreferen15 Samuel T. Coleridge: Biographia Literaria or Biographical Sketches of My Literary Life and Opinions [ED 1817]. Hg. v. James Engell u. W. Jackson Bate. Bd. 2. Princeton 1983, S. 6. 16 Renate Hof: Einleitung. Genre und Gender als Ordnungsmuster und Wahrnehmungsmodelle. In: Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay. Hg. v. Renate Hof u. Susanne Rohr. Tübingen 2008 (Stauffenburg Colloqium 64), S. 7 – 24, hier S. 14. 17 Vgl. dagegen Friedrich 2010, S. 148 f. 18 Nünning 1999, S. 65.
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tialität im Allgemeinen und an Anspielungen auf Lügenhaftigkeit, Fiktionalität und andere Unzuverlässigkeiten der Faktenwiedergabe im Besonderen. Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär jedenfalls enthält solche Anspielungen zuhauf. Der lebensgeschichtliche Wortschwall des Blaubären spricht ein Publikum an vielen Stellen und auf verschiedene Weise an. Das beginnt schon im Vorwort, das mit »Käptn Blaubär« (KBB 7) unterzeichnet ist, bereits den im Folgenden üblichen Tonfall des versierten, unterhaltsamen Erzählers anschlägt und den Plan der Lebenserinnerungen erläutert: »Ein Blaubär hat siebenundzwanzig Leben. Dreizehneinhalb davon werde ich in diesem Buch preisgeben« (KBB 6) oder »Aber ich will nicht vorgreifen!« (KBB 7) Dieser Satz ist nicht nur ein Beispiel für Selbstreferentialität des Erzählens in Moers’ Roman, sondern auch für die Verstärkung der Ausdrucksintensität, die sich immer wieder durch Ausrufezeichen, Partikel, Einschübe und unvollständige Sätze oder Fragen an das Publikum zeigt, wie etwa bei der Beschreibung der Klabautergeister : Ich will nichts beschönigen: Die Klabautergeister waren wirklich ein unangenehmer Haufen. Ihre schleimige Art der Fortbewegung, der leichte elektrische Schlag, den man bekam, wenn sie einen berührten, ihre hohen, singenden Stimmen und vor allen Dingen ihre zweifelhafte Vergnügung, sich an der Furcht hilfloser Zeitgenossen zu ergötzen, waren widerwärtig. Dazu kam noch der Geruch von fauligem Holz, den sie verströmten (er hing mit ihren Schlafgewohnheiten zusammen), und ganz besonders ihre abstoßende Art der Ernährung. Doch davon später. Ja, die Klabautergeister waren eigentlich das Letzte, aber trotzdem ging ich mit ihnen. Was blieb mir schließlich auch anderes übrig? (KBB 31; Hervorhebungen von E. K.)
Die Ausdrucksintensität stärkt der Roman auch durch die eingefügten Zeichnungen und durch typographische Effekte, die etwa mehrfach genutzt werden, um das Herannahen einer Gefahr durch ein geräuscherzeugendes Monster anschaulich zu gestalten (z. B. KBB 440 – 442). Das Vorwort enthält schon eine direkte Erzähleranspielung auf Unzuverlässigkeit und auf intertextuelle Bezüge: »Ich müßte lügen (und es ist ja hinlänglich bekannt, daß das nicht meiner Natur entspricht), wenn ich behaupten würde, meine ersten dreizehneinhalb Leben wären ereignislos verlaufen.« (KBB 6) Denn schon als der Roman neu erschien, war vielen Lesenden die ›Natur‹ des Blaubären hinlänglich bekannt – nämlich als Lügenbär der Sendung mit der Maus. Somit wird schon diese Versicherung der ›Wahrheitsliebe‹ zum Signal für die Lügenlust dieses autodiegetischen Erzählers. Das dichteste Feld an selbstreferentiellen Verweisen auf Unzuverlässigkeit findet sich im zwölften Kapitel, also in Blaubärs zwölftem Leben in Atlantis, wo er als ›Lügengladiator‹ Triumphe feiert: Vom ersten Besuch Blaubärs und seines Freundes, des Tabakhütchens Chemluth Havanna, im Megather, dem Schauplatz der Lügengladiatoren-Duelle, bis zu seinem letzten, langen und lebensgefährlichen Kampf mit dem alten Lokalmatador Nussram Fhakir finden sich zahl-
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reiche Hinweise auf Blaubärs spezifische Fabulierkunst: Denn schon als Zuschauer fühlt sich der Seebär im Megather sofort in seinem Element: Während des Kampfes hatte ich mich in die Gladiatoren hineinversetzt und mir meine eigenen Kampfstrategien erdacht, meine eigenen Lügengeschichten zusammenphantasiert. […] ich war tatsächlich der Auffassung, daß ich das, was ich an diesem Abend gesehen hatte, genauso gut konnte. Wenn nicht sogar besser. (KBB 517)
Als sich Blaubär dem Impresario der Lügengladiator-Kämpfe und Tycoon der Stadt Atlantis, Volzotan Smeik, vorstellt und ihm, wie in einem Bewerbungsgespräch durchaus üblich, seine Lebensgeschichte erzählt, nimmt dieser sie von Anfang an, das heißt: von der Vorstellung mit Namen und den Angaben zur Geburt an, als Arbeitsprobe eines geborenen Lügners: »Hm … Blaubär … schon mal ein guter Name! Wir sparen ein Pseudonym. Das ist gut, denn wirkungsvolle Pseudonyme sind schwer auszudenken. Woher stammst Du?« »Nirgendwoher. Ich bin nicht mal geboren worden. Ich wurde in einer Nußschale gefunden.« »Du bist nicht mal geboren worden … das ist auch gut! Sehr gut … eine der dreistesten Lügen, die ich je gehört habe! Und wer hat dich gefunden?« »Zwergpiraten! Niemand weiß, daß es Zwergpiraten gibt, weil sie so klein sind.« […] »Zwergpiraten!« röhrte der Dicke. »Das gefällt mir! Du hast Phantasie!« (KBB 530)
Der Erzähler kommentiert diese Reaktion: »Plötzlich wurde mir bewußt, daß die Schilderung meines Lebens in Kurzform den Eindruck von Geisteskrankheit vermitteln mußte.« (KBB 532) Blaubär schildert im weiteren Verlauf des Kapitels sein Training für die erfolgreiche Tätigkeit als Lügengladiator – mit längeren Hinweisen auf Literatur, Lüge und Phantasie: Solche Lektüre [d. h. etwa des Werks des fiktiven Hildegunst von Mythenmetz und anderer zamonischer Schriftsteller, auch von Bestsellerautoren wie dem Grafen Zamoniak Klanthu zu Kainomaz; E. K.] […] nährt die Phantasie, und eine wohlgenährte Phantasie ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Lügengladiatorberuf. (KBB 534 f.)
Bisher lässt sich also festhalten, dass dieser Roman einige zentrale Merkmale von Texten der Gattung ›Schelmenroman‹ erfüllt: Er ist eine Autobiographiefiktion, das heißt: eine fiktive Figur erzählt ihre Lebensgeschichte, und der Roman spielt mit den Konventionen und Aporien der nicht-fiktionalen Gattung ›Autobiographie‹ und mit dem double-bind aller AutobiographInnen aufgrund durchaus ambivalenter Publikumserwartungen. Denn auf der einen Seite schließen Autobiographien mit ihren Lesern eigentlich einen pacte de verit¤19, also einen ›Wahrheitspakt‹
19 Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Bd. 2: Signes de vie. Paris 2005.
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oder »Referenzpakt«.20 Das heißt: Wer eine Autobiographie liest, lässt sich nicht auf den fiktionalen suspension of disbelief ein und ist über Lügen des Autors oder der Autorin verstimmt, was die feuilletonistische Debatte über Autobiographien oder Autobiographie-Fälschungen immer wieder gezeigt hat:21 Allzu dreiste Spiele mit den Wahrheitserwartungen des Publikums verzeiht der Literaturmarkt nicht, und die entsprechenden Werke mussten von ihren Verlagen zurückgezogen werden.22 Auf der anderen Seite fordern aber, siehe den Anfang dieses Beitrags, Leser und Leserinnen von Erinnerungsliteratur gerade das Interessante, das Herausragende, das Bedeutende, das Wichtige und legen autobiographische Texte, die allzu viel Alltägliches und nur Persönlich-Privates enthalten, gelangweilt beiseite: Wer für seine Lebensgeschichte ein Publikum will, muss daher Spektakuläres zu vermelden haben, sollte folglich entweder als Staatenlenker, Heerführer, Entdecker, Abenteurer oder Sektengründer eine wichtige Rolle gespielt und/oder Außergewöhnliches erlebt haben. Auch darauf weist der blaue, Seemannsgarn spinnende Buntbär in seinem Vorwort hin: Man fragt mich oft, wie es früher war. Dann antworte ich: Früher gab es von allem viel mehr. Ja, es gab Inseln, geheimnisvolle Königreiche und ganze Kontinente, die heute verschunden sind – überspült von den Wellen, versunken im ewigen Ozean. […] Von diesen Inseln und Ländern will ich erzählen, und von den Wesen und Wundern, die mit ihnen versunken sind. 20 Ders.: Der autobiographische Pakt. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1994, S. 40. 21 Siehe u. a. die Debatte über Stephan Hermlins geschönten Lebenslauf in Abendlicht (1979) und vor allem über Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke (1995), vgl. Eva Kormann: Gespiegelte Norm – gespeicherte Erfahrung. Autobiographik, Autonomie und Genus an der Schwelle zur Neuzeit. In: Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay. Hg. v. Renate Hof u. Susanne Rohr. Tübingen 2008, S. 97 – 110, hier S. 100 f. und dies.: Bruchstücke großer und kleiner Konfessionen. Vom gelegentlichen Widerspruch zwischen individuellem, familiärem und kulturellem Gedächtnis: Grass, Timm und Wilkomirski. In: Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen. Hg. v. Judith Klinger u. Gerhard Wolf. Tübingen 2009, S. 53 – 66, hier S. 64. 22 So nahm der Suhrkamp-Verlag nach Daniel Ganzfrieds 1998 in der Weltwoche Nr. 35 veröffentlichten Recherchen über den Autor Doesseker den Band Bruchstücke im Herbst 1999 aus seinem Programm, vgl. Viktor Otto: Rezension zu Irene Dieckmann u. Julius H. Schoeps (Hg): Das Wilkomirski-Syndrom. In: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ 2003-1-048 (Zugriff am 7. September 2010); Daniel Ganzfried: Die geliehene HolocaustBiographie. Kommt einer und behauptet, er sei im Innern der Hölle gewesen, fühlen wir gedankenlos mit. Er nimmt uns die Aufgabe ab, Auschwitz zu verstehen. In: Die Weltwoche. 27. August 1998. Auch die Literaturgeschichte neigt im Übrigen zur farcenhaften Wiederholung: 2003 erschien bei Hoffmann & Campe die sensationsgespickte, aber sprachlich magere ›Lebens‹geschichte Mitten in Afrika Ulla Ackermanns, einer im Landkreis Cloppenburg lebenden Autorin, die sich als »Tochter eines Zigeuners« und einer Großbürgerin in Köln, als Mannequin, Gattin eines römischen Adligen und als Reporterin über afrikanische Kriegsschauplätze modelliert hat – der Verlag zog den Band nach der Entdeckung zahlreicher Ungereimtheiten noch im selben Jahr zurück.
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Ich müsste lügen […], wenn ich behaupten würde, meine ersten dreizehneinhalb Leben wären ereignislos verlaufen. Ich sage nur : Zwergpiraten. Klabautergeister. Waldspinnenhexen. Tratschwellen. Stubentrolle […]. Rettungen in allerletzter Sekunde … Aber ich will nicht vorgreifen! (KBB 6 f.)
Der Erzähler leistet damit – auf lügenhafte Weise, siehe das Signal, dass die geheimnisvollen Inseln, Königreiche und Kontinente nicht mehr gefunden werden können, da sie im ewigen Ozean versunken sind23 – etwas, was Autobiographen auch erzielen müssen: Er widmet sich der ›Relevanzproduktion‹, das heißt: Autobiographen müssen an öffentliches Interesse, an das kulturelle Gedächtnis anschließen und öffentliche Redeanlässe aufgreifen24 – und geraten damit auch an die Grenze des Wahrhaftigen: Denn diese Relevanz müssen sie gestalten. Zwangsläufig formulieren sie daher ihre – sowieso unhintergehbar konstruierte und diskursgeprägte – ›Erfahrung‹ mit Hilfe gesellschaftlicher Muster und üblicher Traditionsbildungspraktiken und überformen sie somit. Doch im Unterschied zum Erzähler eines als Autobiographie vom Leser anerkannten Textes erweist sich der Erzähler eines Schelmenromans für die Lesenden eben als hochgradig unglaubwürdig. Und das Lesepublikum empört sich über diese schillernde Art der Narration keineswegs, sondern goutiert sie, zieht gerade daraus sein Vergnügen – ganz anders als die Lesenden von Autobiographien. Diese spezifische Wiedereinsetzung des Misstrauens, also das Gegenteil eines suspension of disbelief, geschieht in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär schon dadurch, dass der Erzähler zwar ein Leserinteresse am Spektakulären überreich bedient, aber von Welten erzählt, die nicht überprüft werden können und vom kulturhistorischen Gedächtnis der Leser und Leserinnen um Dimensionen entfernt liegen: Die bizarren Phantasiewelten Zamoniens verleiten keineswegs zum Zweifeln am Realitätssinn der Lesenden, sie beunruhigen nicht im mindesten dadurch, dass Ereignisse in Blaubärs Leben sich mit unserem Weltbild weder geographisch noch physikalisch oder psychologisch decken. Und da die für Phantastik typische Beunruhigung durch das ›Weltbild-Verrücken‹, das heißt: das wechselseitige Infragestellen von Weltbildern, fehlt, kann Die 1312
23 Die Hyperbel ›ewiger Ozean‹ weist auf das fiktionale Erzählen und seine Verzeitlichung von Raum hin, ansonsten müsste die Übertreibung der Größe eines Meers der ›unendliche Ozean‹ sein. 24 Den Begriff ›Relevanzproduktion‹ hat Sloterdijk 1978 in die Autobiographietheorie eingeführt, vgl. Peter Sloterdijk: Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographik der Weimarer Republik 1918 – 1933. München/Wien 1978. Vgl. zum Verhältnis Autobiographie – kulturelles Gedächtnis Kormann 2009, S. 58 f.
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Leben des Käpt’n Blaubär nicht als phantastischer Roman im engeren Sinn gelten.25 Das Weltenpanorama eines prototypischen Schelmenromans, etwa von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1668), wird bei Walter Moers erweitert auf ein Panorama erfundener Kontinente und Dimensionen, deren lexikalisch-deskriptive Beschreibung als Exkurs in die narrative Geschichte (im Sinne von Todorovs histoire) eingebunden wird.26 Dies wird etwa bei der oben zitierten Einführung der Klabautergeister deutlich: Dieser Ausschnitt ist nicht nur Beispiel für die textuelle Markierung des Unzuverlässigen, sondern auch für einen para-enzyklopädischen Stil.27 Der Erzähler gibt sich als Lehrmeister – und Sensationsberichterstatter – und informiert sein Publikum über allerhand Merkwürdigkeiten des Hauptschauplatzes der Geschichte. Und neben dem pikaresken Erzählen aus dreizehneinhalb Leben in mehr als einer Dimension sorgt Prof. Dr. Abdul Nachtigallers »Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« entschieden für ein para-enzyklopädisches Panorama zamonischer Welten, auch hier erweist sich das Atlantis-Kapitel im übrigen als dichtestes, zumindest als beschreibungsreichstes. Denn wenn alle Schelmenromane durch das Episodische, Nicht-Tektonische ihres Aufbaus einen Hang zu parataktischer Aufzählung besitzen, treibt Moers’ Erstling der Zamonien-Romane das Additive auf die – fast schon enervierende, da nicht mehr funktional einer evidentia, also der Veranschaulichung, oder auch einer sustentatio, einem Hinhalten des Publikums, dienende – Spitze, wenn er etwa im Atlantis-Kapitel die verschiedensten Gattungen von Stadtbewohnern zwischen Nattifftoffen und Unsichtbaren Leuten oder die Vielfalt der Architektur dieser Stadt seitenlang in eigener Erzählrede und vorgeblichen Lexikoneinträgen aufzählt (KBB 450 – 465). Der Stil dieser Lexikoneinträge erweist aber wiederum die Unzuverlässigkeit des Erzählens und die Scheinbarkeit des enzyklopädischen Gehalts des Werks: Denn was der Blaubär als Erzähler, ist Nachtigaller als Enzyklopädist: zutiefst unglaubwürdig. Damit ist, versteht sich, nicht gemeint, dass Nachtigallers Phänomene und Daseinsformen sich nicht im Brockhaus – und bei Wikipedia nur in den einschlägigen Zamonien- und MoersKapiteln – wiederfinden. Nachtigaller weicht vielmehr schon im Stil von seriöser Lexikonautorschaft ab. Oder auch, aber das läuft bei diesem Schelmenroman auf das Gleiche hinaus: Blaubär zitiert das Lexikon höchst eigenwillig, das ihm sein 25 Vgl. zu den Merkmalen der phantastischen Literatur Birgit Grein: Phantastik. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v. Ansgar Nünning. 4. Aufl. Stuttgart/Weimar 2008, S. 570 f. 26 Vgl. Martinez/Scheffel 1999, S. 23 und zur Unterscheidung von ›Geschichte‹ und ›Deskript‹ Manfred Pfister : Das Drama. Theorie und Analyse. 10. Aufl. München 2000, S. 265. 27 Vgl. hierzu den Beitrag von Magdalena Drywa im vorliegenden Band.
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ehemaliger Lehrer der Nachtschule »sozusagen telepathisch auf die Festplatte« (KBB 172) des Bärenhirns gebrannt hat – durch Umarmen, da Wissen bekanntlich eine Krankheit und ansteckend ist. Die eingeschobenen Lexikonbeiträge beginnen zwar oft in einem Stil, der sachlich-pedantisches enzyklopädisches Schreiben geradezu parodiert – bis hin zu den Verweispfeilen auf andere Lemmata: Fatamorganisch: Einzige spiegelbildliche Sprache Zamoniens. Fatamorganisch ist exakt spiegelbildlich und akzentfrei gesprochenes Hochzamonisch und wird ausschließlich in Fatamorganas praktiziert. Diese Sprache ist relativ leicht zu übersetzen: In schriftlicher Form hält man sie einfach vor einen Spiegel; wird sie gesprochen, muß man währenddessen einfach spiegelbildlich denken. (KBB 326)
Oft aber übernehmen auch die vorgeblichen Lexikoneinschübe epische Funktion und erzählen spannende oder witzige Geschichten mit Autorkommentar und -wertung: »Sandmänner, die: Von den unangenehmen Daseinsformen der !Süßen Wüste sind die sogenannten Unterirdischen Sandmänner wahrscheinlich die unangenehmsten.« (KBB 290) Oder : Fatom, das [Forts.]: Fatome dürfen zu den bedauernswertesten der zamonischen Geistformen gezählt werden. Sie verfolgen keinen direkten Zweck wie etwa das Verängstigen oder Begruseln von lebendigen Daseinsformen. Sie gewinnen auch kein Vergnügen aus ihrer Existenz wie Polter- oder !Klabautergeister. Sie sind lediglich dazu verdammt, die Tätigkeit, die sie im Entstehen der halbstabilen !Fata Morgana verrichtet haben, auf alle Zeiten zu wiederholen. (KBB 327)
Prototypische Schelmenromane entfalten die genannten Merkmale Pseudoautobiogaphik, unzuverlässiges Erzählen, Episodenreihe, para-enzyklopädisches Weltpanorama, verknüpfen damit aber gezielte Gesellschaftskritik und halten der Welt auf diese Weise den Spiegel vor Augen: Der Erzähler der meisten Schelmenromane wählt nicht freiwillig die Rolle des Schelmen, sondern wird dazu im Laufe des Romans gemacht: Die Haltung des unglaubwürdigen Außenseiters entspricht seiner Erfahrung in der erzählten Welt: Bauer schreibt von der »zwischenmenschliche[n] Vertrauenskrise«, die den Schelmenroman inhaltlich, etwa in dem häufig beschriebenen desengaÇo-Erlebnis, das dem Helden die Scheinhaftigkeit und das Trügerische alles Irdischen schlagartig vor Augen führt, wie auch erzählstrukturell präge.28 Das Panorama an Schauplätzen und Figuren, das diese Romanart üblicherweise ausbreitet, entspricht nicht einer vom Alltag zeitgenössischer Leser gänzlich abgekoppelten Phantasiedimension, sondern leistet Kritik und Satire im karnevalesken Gewand.29 An dieser Stelle bricht Moers’ Roman aus dem Gattungsmuster aus: Die 28 Bauer 1994, S. 1 et passim. 29 Ebd., S. 2 u. 16 – 19 et passim.
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abenteuerliche Reise des seltsamen Buntbären erscheint dem Lesepublikum nicht deshalb so reich an Gefahren, weil auch die Welt der Lesenden so gefährlich wäre und die Menschen, die sich in ihr bewegen, als so unglaubwürdig gelten müssten. Wenn der barocke Pikaroroman die Differenz von Sein und Schein und die Wechselhaftigkeit Fortunas ausstellte und noch die Schelmenromane aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954) und Günter Grass’ Die Blechtrommel (1959), als ›Anti-Bildungsromane‹ ein satirisches Porträt der zeitgenössischen oder gerade vergangenen Gesellschaft zeichneten, so scheint Moers die Gattung für eine postmoderne Mediengesellschaft mit kommunikativen Endlosschleifen verwandelt zu haben: Denn eine desillusionierende Vertrauenskrise kann es nur in einer Welt geben, die noch an Wahrheit und Abbildbarkeit glaubt – für alle anderen hält der Lügenbär ein tröstliches »kühnes, kräftezehrendes Unterfangen von epischem Ausmaß« bereit (KBB 7).
Literaturverzeichnis Primärliteratur Ackermann, Ulla: Mitten in Afrika. Zu Hause zwischen Paradies und Hölle. Hamburg 2003. Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. München 1977. Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit [ED 1811 – 1833]. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 9: Autobiographische Schriften I. Hg. v. Erich Trunz. 12. Aufl. München 1994; Bd. 10: Autobiographische Schriften II. Hg. v. Erich Trunz. 10. Aufl. 1994, S. 7 – 187. Grass, Günter : Die Blechtrommel. Roman. Damstadt 1959. Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch. Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vaganten / genant Melchior Sternfels von Fuchshaim / wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen / was er darinn gesehen / gelernet / erfahren und außgestanden / auch warumb er solche wieder freywillig quittiert. Überauß lustig / und männiglich nutzlich zu lesen. An Tag geben Von German Schleifheim von Sulsfort. Monpelgart / Gedruckt bey Johann Fillion / Im Jahr MDCLXIX [ED 1668]. In: ders.: Werke. Hg. v. Dieter Breuer. Bd. 1,1. Frankfurt a. M. 1989. Hermlin, Stephan: Abendlicht. Berlin/Leipzig 1979. Lukian von Samosata: Wahre Geschichten [ED um 180 n. Chr.]. Zürich 2000. Mann, Thomas: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil. Frankfurt a. M. 1954. Moers, Walter: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des »Lexikons der er-
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klärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 1999. Moers, Walter: Rumo & Die Wunder im Dunkeln. Ein Roman in zwei Büchern. München 2003. Rousseau: Jean-Jacques: Les Confessions. Genf 1782. Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London 1997. Tolkien, John R. R.: The Lord of the Rings. London 1954 – 55. Wilkomirski, Binjamin: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 – 1948. Frankfurt a. M. 1995. Wolf, Christa: Kindheitsmuster. Berlin/Weimar 1976.
Sekundärliteratur Bauer, Matthias: Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans. Stuttgart/ Weimar 1993. Bauer, Matthias: Der Schelmenroman. Stuttgart/Weimar 1994. Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. 2. Aufl. Chicago/London 1983. Coleridge, Samuel T.: Biographia Literaria or Biographical Sketches of My Literary Life and Opinions [ED 1817]. Hg. v. James Engell u. W. Jackson Bate. Bd. 2. Princeton 1983. Friedrich, Hans-Edwin: Erzählen als Lügen: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär von Walter Moers. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57 (2010), H. 2, S. 148 – 161. Ganzfried, Daniel: Die geliehene Holocaust-Biographie. Kommt einer und behauptet, er sei im Innern der Hölle gewesen, fühlen wir gedankenlos mit. Er nimmt uns die Aufgabe ab, Auschwitz zu verstehen. In: Die Weltwoche. 27. August 1998. Grein, Birgit: Phantastik. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v. Ansgar Nünning. 4. Aufl. Stuttgart/Weimar 2008, S. 570 f. Gusdorf, Georges: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie (1956). In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. v. Günter Niggl. Übers. v. Ursula Christmann. 2. Aufl. Darmstadt 1998, S. 121 – 147. Hof, Renate: Einleitung. Genre und Gender als Ordnungsmuster und Wahrnehmungsmodelle. In: Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay. Hg. v. Renate Hof u. Susanne Rohr. Tübingen 2008 (Stauffenburg Colloqium 64), S. 7 – 24. Kormann, Eva: Gespiegelte Norm – gespeicherte Erfahrung. Autobiographik, Autonomie und Genus an der Schwelle zur Neuzeit. In: Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay. Hg. v. Renate Hof u. Susanne Rohr. Tübingen 2008, S. 97 – 110. Kormann, Eva: Bruchstücke großer und kleiner Konfessionen. Vom gelegentlichen Widerspruch zwischen individuellem, familiärem und kulturellem Gedächtnis: Grass, Timm und Wilkomirski. In: Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen. Hg. v. Judith Klinger u. Gerhard Wolf. Tübingen 2009, S. 53 – 66.
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Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1994. Lejeune, Philippe: Le pacte autobiographique. Bd. 2: Signes de vie. Paris 2005. Martinez, Matias u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl. München 2005. Nünning, Ansgar : Unreliable, compared to what? Towards a Cognitive Theory of Unreliable Narration. Prolegomena and Hypotheses. In: Grenzüberschreitungen. Narratologie im Kontext. Hg. v. Walter Grünzweig u. Andreas Solbach. Tübingen 1999, S. 53 – 73. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 10. Aufl. München 2000. Rötzer, Hans Gerd: Picaro – Landstörtzer – Simplicius. Studien zum niederen Roman in Spanien und Deutschland. Darmstadt 1972 (Impulse der Forschung 4). Sloterdijk, Peter : Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographik der Weimarer Republik 1918 – 1933. München/Wien 1978. Spivey, Nigel u. Michael Squire: Die Welt der Antike. Stuttgart 2004.
Andere Medien Die Seite mit Käpt’n Blaubär. In: http://www.wdrmaus.de/kaeptnblaubaerseite (Zugriff am 7. September 2010). Otto, Viktor : Rezension zu Irene Dieckmann u. Julius H. Schoeps (Hg): Das WilkomirskiSyndrom. In: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-1-048 (Zugriff am 7. September 2010). Zamonien. In: http://de.wikipedia.org/wiki/Zamonien (Zugriff am 7. September 2010).
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Wissen ist Nacht. Konzeptionen von Bildung und Wissen in Walter Moers’ Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär
Mit Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär ist Moers nicht nur ein fulminanter Eröffnungsband für seine Zamonien-Reihe gelungen, er hat gleichzeitig auch seine Figur des blauen Bären der fest geschlossenen Kinderhand entwunden und ihr ein Leben jenseits der Sendung mit der Maus1 geschenkt: Die »halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter der Benutzung des ›Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung‹ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller« (KBB 3) fungieren zugleich als Autobiographie des Bären und Einführung in den untergegangenen Kontinent Zamonien. Im Vorwort emanzipiert sich der alte Bär von der Figur des Kinderfernsehens und gibt das Programm des Romans vor: »Ein Blaubär hat siebenundzwanzig Leben. Dreizehneinhalb davon werde ich in diesem Buch preisgeben, über die anderen werde ich schweigen. Ein Bär muß seine dunklen Seiten haben, das macht ihn attraktiv und mysteriös.« (KBB 6) Die ›halbe‹ Autobiographie erhält somit den Status einer ›Enthüllung‹, die in ihrer Authentizität nicht nur durch die – natürlich unzweifelhafte – Integrität des Erzählers, sondern sogar durch ein scheinbar wissenschaftliches Sachbuch gestützt wird. Während gewöhnliche Autobiographien ihren Reiz oft daraus beziehen, dass »sie ein Mehr an Wissen in Aussicht stellen, weil sie etwas zu offenbaren versprechen, was man (so) noch nicht wusste«2, stellt die Moerssche Variante eine raffinierte Erweiterung dieses Genres dar. Mithilfe der programmatischen Vermittlung von Informationen über Zamonien wird scheinbar die literarische Funktion des Textes gegenüber der Wissensvermitt1 Walter Moers hat 1990 die Figur des alten Bären Käpt’n Blaubär erfunden, der seinen drei Enkeln Lügengeschichten erzählt, und für den WDR und die Sendung mit der Maus 104 Folgen zusammen mit Rolf Silber und Bernhard Lassahn gezeichnet. Mittlerweile hat der WDR die vollständigen Rechte an der Figur erworben und eigene Episoden sowie weitere Figuren entwickelt. Vgl. www.wdrmaus.de/kaeptnblaubaerseite (Zugriff am 16. September 2010) sowie: Instandbesetzung eines Bären. In: Der Spiegel 9/1999, S. 192 f. http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-9507482.html (Zugriff am 16. September 2010). 2 Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 2005, S. 2.
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lung zurückgesetzt. Dieser Anspruch wird auch durch die sich anschließende Aufzählung von zunächst rätselhaften Begriffen gestützt: »Ich sage nur : Zwergpiraten. Klaubautergeister. Waldspinnenhexen. Tratschwellen. Stollentrolle. Finsterbergmaden. Eine Berghutze. Ein Riese ohne Kopf. Ein Kopf ohne Riese.« (KBB 6) Die schlagwortartige Aufzählung endet mit einem lapidaren »Aber ich will nicht vorgreifen!« (KBB 7) des Erzählers, der damit zugleich einen Sinnzusammenhang des Genannten suggeriert, der jedoch erst seiner Erläuterung bedarf. In dieser Reduktion entpuppt sich die Liste als eine Stichwortliste der wichtigsten Abenteuer, die im Folgenden beschrieben werden. Dies erfordert aber ein Maß an Wissen und Information, das zu diesem Zeitpunkt lediglich der Erzähler besitzt. Somit fungiert die Aufzählung bereits als Teil des literarischen Textes, der zwischen Informationsvermittlung und sprachlichem Spiel changiert,3 und wird erst im späteren Verlauf als nicht-chronologische Vorwegnahme der Abenteuer selbst erkannt. Damit widerspricht Blaubärs Aufzählung natürlich dem zitierten Schlusssatz, denn es handelt sich durchaus um ein ›Vorgreifen‹. Insofern ist hier für den Wissenszuwachs, auf den der Erzähler in seiner Rechtfertigung rekurriert, eine Rekontextualisierung4 des Genannten notwendig, mittels derer es erst möglich wird, nicht nur seine spannenden Abenteuer zu verstehen, sondern die zugleich Informationen liefert, die laut Vorwort so nicht mehr zugänglich sind. Denn Blaubär besitzt offenbar einzigartiges Wissen, von »Inseln und Ländern« und von »Wesen und Wundern, die […] versunken sind« (KBB 6). Folglich ist es nur plausibel, dass diese Lebenserinnerungen nicht einfach Autobiographisches berichten, sondern durch die schon im Untertitel vorausgenommene Verflechtung mit einem als Referenztext dienenden ›tatsächlichen‹ Lexikon von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller geradezu wissenschaftlich geadelt werden als einziges zugängliches und somit nicht hinterfragbares Handbuch Zamoniens. Diese Lesart unterstützt der Text durch seine graphische Struktur, die von anschaulichen Illustrationen geprägt ist, sowie durch Marginalglossen, welche die als größere Sinneinheiten konzipierten Kapitel (›Mein Leben …‹) mithilfe von Stichworten strukturieren und so auf den ersten Blick den schnellen Zugriff auf Lemmata suggerieren. Bei genauerer Betrachtung stellen sich jedoch die Stichworte als höchst irreführend oder nur aus dem Inhalt verständlich heraus, denn neben tatsächlich den Charakter einer Enzyklopädie5 3 Vgl. hierzu: Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. Berlin/New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 22), S. 11 f. 4 Vgl. ebd., S. 19 f. 5 Zum Aspekt des Enzyklopädischen in den Romanen Walter Moers vgl. auch Dennis Janzen: Enzyklopädische Schreibweise in den Zamonien-Romanen von Walter Moers. In: http:// cyberpunkcrisis.wordpress.com/2008/09/01/enzyklopadische-schreibweise-in-den-zamonien-romanen-von-walter-moers/#_ftn1#_ftn1 (Zugriff am 16. September 2010).
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imitierenden Begriffen wie »Zwergpiraten« (KBB 14) oder »In der Nachtschule« (KBB 127) finden sich solche wie »Guten Morgen!« (KBB 274), »Eine Erkenntnis« (KBB 364) oder »Eine Überraschung« (KBB 520), sodass ein tatsächlicher enzyklopädischer Charakter nur sehr rudimentär gegeben ist. Der Text postuliert folglich, mehr als nur unterhaltende Literatur zu sein, und schützt einen informativen Zweck vor. Indem der Erzähler sich der Ich-Perspektive und des erwähnten autobiographischen Status’ bedient, nutzt er tradierte Rechtfertigungsschemata, die einen Wahrheitsanspruch des Textes stützen. Nun ist der Erzähler aber durch seine Vorgeschichte als nicht vertrauenswürdig qualifiziert, zugleich ist der Text deutlich durch die Gattungsangabe ›Roman‹ als literarisch gekennzeichnet und braucht somit keiner Wahrheitsprüfung standzuhalten. Offensichtlich handelt es sich hier also um ein Spiel mit einer innerfiktionalen Wahrheitsbehauptung, das sich gängiger Erzählmethoden bedient. So werden über die Anklänge an Textformen wie Enzyklopädie, Autobiographie, den barocken Schelmenroman, Abenteuerroman oder Bildungsroman deren bekannte Gattungsmerkmale abgerufen, die variiert und neu kombiniert werden.6 In dieser neuen Kombination entsteht ein Text, der die Themen des Wissenserwerbs sowie der Wissensverwaltung offenkundig zum Schwerpunkt macht, sodass es notwendig erscheint, die Merkmale der erwähnten Romanformen auf ihre Relevanz hinsichtlich dieser Themen zu untersuchen. Dass hier ganz deutlich die Satire als Grundkonzept im Vordergrund steht, wird schon an der Titelgebung evident, indem mit der Zahl ›13‹ zunächst der Aberglaube an die Unglückszahl abgerufen wird, der zugleich durch das angefügte ›12‹ ironisch aufgehoben wird, das auch gleichzeitig eine mathematische Referenz eröffnet. In der Verbindung dieser konträren Sinnkreise, dem des unsicheren Wissens und dem der exakten Wissenschaft, spiegelt sich die Bedeutung der Themen ›Wissen‹ und ›Bildung‹ für Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär, daher sollen ihre verschiedenen Formen sowie ihre Verflechtungen nachfolgend genauer betrachtet werden.
6 Vgl. beispielsweise Dirk Engelhardt: Walter Moers: Die Zamonien-Reihe. In: Kindlers Literatur Lexikon. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Bd. 11. Stuttgart/Weimar 2009, S. 373 – 375; zur Gattungstradition des Schelmenromans vgl. den Beitrag von Eva Kormann im vorliegenden Band.
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Das Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung Wie im Untertitel deutlich wird, bedient sich der Roman scheinbar eines weiteren Textes, der die berichteten Ereignisse erklärend stützt. Dieser an so prominenter Stelle vorgestellte Text, bei dem es sich um das Lexikon Zamoniens von Professor Nachtigaller handelt, ist auffällig in den Vordergrund geschoben. Zudem gilt es per Gattungsdefinition als eine Wissensquelle, die geradezu konträr zur Gattung des Romans steht. Das daraus entstehende Spannungsverhältnis soll zunächst anhand der Gestaltung des Lexikons betrachten werden, um dann dessen ›Benutzung‹ im Roman zu untersuchen. Da Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär neben den erwähnten Anklängen an das Genre der Autobiographie und des Heldenromans ebenfalls signifikante Übereinstimmungen mit der Struktur von barocken Romanformen aufweist, wie beispielsweise dem barocken enzyklopädischen Roman, dem der Text auch im Umfang ähnelt,7 ergeben sich hier einige Parallelen. Dies ist insofern bedeutsam, da insbesondere ›niedere‹ barocke Romane beispielsweise in Form einer »Narren- und Reiserevue […] einen Rahmen für belehrende Abhandlungen zu den unterschiedlichsten Themengebieten«8 benutzen, auf deren Folie häufig eine Gesellschaftssatire gestaltet wird. In Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär lassen sich wesentliche Genremerkmale dieser Romanformen belegen, die jedoch in entscheidender Weise variiert und neu kombiniert werden. Zu den Gemeinsamkeiten mit hervorstechenden Merkmalen barocker Romane gehören beispielsweise die Legitimation des Erzählten über den ›Nutzen‹ mittels einer Fülle von Informationen und Wissen, das im Barock dem »religiös motivierten ›carpe diem‹-Postulat[]«9 untergeordnet ist, sowie die Inszenierung des Erzählers als poeta doctus im Sinne eines »enzyklopädischen Weltweisen«10. Dieser Erzählgestus entspricht ebenfalls Blaubärs Ziel, das er im Vorwort umreißt: Ja, es gab Inseln, geheimnisvolle Königreiche und ganze Kontinente, die heute verschwunden sind – überspült von den Wellen, versunken im ewigen Ozean. Denn die Meere steigen immer höher, sehr langsam, aber unerbittlich, bis eines Tages der ganze Planet von Wasser bedeckt sein wird – nicht umsonst steht mein Haus auf einer hohen Klippe, und nicht umsonst ist es ein immer noch seetüchtiges Schiff. Von diesen Inseln 7 Zur Begriffsgeschichte vgl. beispielsweise Andreas Kilcher : mathesis und poesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000. München 2003, S. 63 – 69. 8 Ingo Breuer: Formen des Romans. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Albert Meier. München/Wien 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 575 – 593, hier S. 587 f. 9 Ebd., S. 576. 10 Ebd., S. 589.
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und Ländern will ich erzählen, und von den Wesen und Wundern, die mit ihnen versunken sind. (KBB 6)
Relativ zurückhaltend wird hier der Anspruch formuliert, aus der barocken Rechtfertigungsstrategie als poeta doctus heraus einen würdigen Beitrag zur Welt zu leisten und zugleich das eigene Wissen zur Schau zu stellen. In Abwandlung der barocken Merkmale jedoch bekennt sich Blaubär offen zu einer unterstützenden Wissensquelle, die auch im Untertitel genannt wird. Nicht also der Erzähler ist der Universalgelehrte, sondern der Verfasser des Lexikons, der Eydeet mit den sieben Gehirnen, Professor Dr. Abdul Nachtigaller. Da die Eydeete bekanntlich die »intelligentesten Wesen Zamoniens (und vermutlich der ganzen Welt, wenn nicht sogar des Universums)« (KBB 127) sind, und Nachtigaller deutlich aus dieser Masse herausragt, hat Blaubär einen überaus kompetenten Co-Autor an seiner Seite. Denn wenn auch Blaubär aufgrund seiner bekannten Vorgeschichte im Kinderfernsehen11 als Erzähler ein wenig unglaubwürdig wirkt, so hat Nachtigaller keinerlei Referenzschwierigkeiten: Werkübergreifend wird er als die zamonische Wissensinstanz schlechthin inszeniert, wenn beispielsweise Hildegunst von Mythenmetz, der »bekannteste und meistgelesene Schriftsteller Zamoniens« (EK 229) sein »Standardwerk« (KBB 172)12 beim Schreiben zu Rate zieht. Scheinbar bedient sich der Erzähler Blaubär also des unzweifelhaften Forschers, um seine eigene ramponierte Glaubwürdigkeit aufzupolieren. So erweist sich das Lexikon zunächst als umfassendes Werk, das mit zuverlässigen Fakten über die dem Erzähler begegnenden Dinge informiert, indem es sich aufs Stichwort automatisch einschaltet. Diese interaktive Besonderheit wird jedoch erst im sechsten Leben Blaubärs deutlich, in dem beschrieben wird, wie Blaubär zu dem Nachschlagewerk gekommen ist: Während er mich kurz an sich preßte, schoß eine Flutwelle von Wissen durch mein Gehirn. Millionen von Buchstaben torkelten zuerst vor meinem inneren Auge, formierten sich dann zu Worten, wissenschaftlichen Fakten, ganzen Abhandlungen und schließlich zu einem Buch, dessen Titel noch einen Augenblick lang deutlich lesbar aufleuchtete und dann verschwand. Nachtigaller hatte mir sein Standardwerk über Zamonien, das sein gesammeltes Wissen über diesen Kontinent und seine Umgebung enthielt, sozusagen telepathisch auf die Festplatte meines Hirns gebrannt. (KBB 170 f.)
11 Vgl. beispielsweise den Menüpunkt »Zur Lügenwelt in den Salon« auf www.wdrmaus.de/ kaeptnblaubaerseite (Zugriff am 16. September 2010). 12 Vgl. beispielsweise die Mythenmetzsche Abschweifung über die für einen zamonischen Meisterdichter relevanten Texte: »Mir gegenüber, auf der langen Fensterbank aneinandergereiht, steht meine Referenzbibliothek. […] So finden sich meine mir liebsten Lexika und sonstige Nachschlagewerke nur auf Armeslänge von mir entfernt: […] Als nächstes eine der gedruckten Ausgaben des Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Doktor Abdul Nachtigaller« (EK 38 – 40).
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Die Informationen liegen folglich entgegen der Konvention nicht in Druckform vor, sondern befinden sich im Kopf des Erzählers und erläutern die Stichworte automatisch und mit der Stimme des Verfassers: »›Ölsardinen‹, sagte da eine Stimme in meinem Kopf. Was? ›Ölsardinen‹. Das klang nach Professor Nachtigaller« (KBB 205). Daraus ergibt sich eine ungewöhnliche Interaktion des Erzählers, bzw. des Erzähltextes, mit dem Lexikon, die an zeitgenössische Nachschlagewerke erinnert und entsprechende Probleme mit sich bringt.13 Zudem ist dadurch immer die Erzählebene unklar, denn die Einschübe können zur innerfiktionalen Konstruktion der Verschriftlichung gehören, im Zuge derer Blaubär seine Memoiren mit den Lexikoneinträgen ergänzt. Ebenso ist es möglich, dass die Informationen ›tatsächlich‹ figurintern vorhanden sind, die Verschriftlichung folglich eine Nacherzählung des innerfiktional Erlebten – inklusive der Lexikonartikel – darstellt. Die bis zum sechsten Kapitel verwendete unkommentierte Einflechtung der Lexikoneinträge, die durch eine vom übrigen Erzähltext abweichende Schriftart sowie die stets gleichlautende Einleitung »Aus dem ›Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung‹ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller« hervorgehoben werden, legen zunächst erstere Variante (eines autonomen und nachträglich in die Memoiren integrierten Lexikons) als Lesart nahe. Diese wird allerdings, analog zu der berichteten Handlung des sechsten Lebens, um eine im sechsten Kapitel einsetzende Reflexion erweitert. Ab diesem Kapitel ändert sich dies, was ebenfalls dadurch betont wird, dass der Leser erst dort erfährt, wie Blaubär sich mit dem Lexikon ›angesteckt‹ hat: »Je näher eine Person mit einem Eydeeten zusammen ist, mit desto mehr Wissen wird sie infiziert.« (KBB 167), und folglich wird in dem Kapitel kein einziges Mal das Lexikon bemüht. Nach und nach verändert sich der Status der Einschübe des »Standardwerk[s] über Zamonien« (KBB 172), indem die Versorgung mit Informationen nicht gänzlich unterbrochen wird, ihre Qualität und der Zeitpunkt der Vermittlung jedoch zunehmend problematisiert werden. Beispielsweise kann sich Blaubär mehrmals aufgrund der Informationen des Lexikons aus der Not retten, da diese jedoch in solchen Situationen stets zu spät eintreffen, ist er gezwungen, sich auf seine eigenen Fähigkeiten zu besinnen: »Kaum war Nachtigallers Information in meinem Kopf verklungen, setzte der Tornado sich auch schon wieder in Bewegung. Wieder eine von Nachtigallers kostbaren Informationen. Hätte er mir ein paar Minuten vorher Bescheid gegeben, hätte ich aus dem Tornado fliehen können!« (KBB 382) 13 Dies gilt beispielsweise für das internetbasierte und durch Nutzer gestaltete interaktive Wissensnetz Wikipedia, das Schlagworte durch Links miteinander verbindet. Damit sind einzelne Informationstexte stark miteinander verzahnt, jedoch ohne unbedingt inhaltlich verbunden zu sein. Zudem steht die Bearbeitung der Artikel jedem Nutzer offen, was problematisch für die Verifizierbarkeit der Informationen ist.
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Solcherlei Pannen erschüttern Blaubärs Vertrauen in das Nachschlagewerk, und folglich beginnt er, sich davon zunächst zu emanzipieren, indem er das Lexikon im zwölften Kapitel, das sein Leben in Atlantis beschreibt, unterbricht und dessen Aufgaben übernimmt: »›Atlantis: Haupt- und Regierungsstadt des Kontinents Zamonien, Kategorie Megastadt (über 100 Millionen Einwohner). Atlantis ist in fünf Regierungsbezirke aufgeteilt, die eigentlich eigene Königreiche repräsentieren: Naltatis, Sitnalta, Titalans, Tatilans und …‹ Danke, aber das wissen wir bereits.« (KBB 449) So werden die verschiedenen Einwohner Atlantis’ von Blaubär in einer enzyklopädisch inspirierten Aufzählung vorgestellt, die keine erkennbare Sortierung aufweist (KBB 449 – 466), sich jedoch Stichwörter am Seitenrand bedient.14 Neben dem Fließtext stehen, als eine Art Absatztitel, Namen verschiedener Lebewesen aus Atlantis. Im Gegensatz zum bisherigen Berichtstil werden die Erklärungen nicht mehr durch das Lexikon, sondern durch den Erzähler Blaubär gegeben.15 Dabei scheinen die marginalen Stichwörter die Ordnungsinstanz für die erklärten Wesen zu sein, die Blaubärs Aufzählung halbwegs autonom und scheinbar spontan gliedert. Die einzelnen Beschreibungen sind nicht alphabetisch oder nach möglichen Gruppen geordnet, aber graphisch durch einen Absatz abgeschlossen. Aufgrund seiner exponierten Position wird zuerst das Stichwort am Rand gelesen, das den neuen inhaltlichen Block einleitet, und dann der Fließtext. Entscheidend ist jedoch, dass Blaubär dieses im mündlichen Stil aufnimmt, so dass der Eindruck entsteht, die Marginalie sei in einer gewissen Weise autonom: Neben dem Stichwort »Fänggen« erläutert der Erzähler : »Die Fänggen, oha, das waren wirklich unangenehme Typen!« (KBB 461) Zum einen wird durch das offensichtliche ›Stichwortgeben‹ die tatsächliche Autorität der Erzählinstanz über den Text abermals in Frage gestellt und zum anderen die schlagwortartige Informationsvermittlung des Lexikons von Nachtigaller simuliert und gleichzeitig übertrumpft. Analog zu der Emanzipation von der automatischen Stichwortgenerierung reduzieren sich die durch das Lexikon vermittelten Informationen im zwölften Kapitel, da Blaubär hier seine eigenen umfassenden Kenntnisse über Atlantis zur Schau stellen kann und nur selten die lexikalische Hilfe benötigt. Seine nun erlangte Souveränität über den Text wird ebenfalls durch die Episode des Lügenduells demonstriert, wo Blaubär für seine Lügengeschichten frei aus dem Lexikon zitiert: »Bei der Erwähnung des Wortes ›Unbiskant‹ erschien in meinem Gehirn eine Meldung 14 Vgl. Janzen: »Es fällt auf, dass Die 1312 Leben nicht nur durch die Kapitelüberschriften paratextuell organisiert sind, sondern sinnfällig durch ein Seitenregister ergänzt werden. Das gibt dem Text einen Handbuchcharakter«. In: http://cyberpunkcrisis.wordpress.com/ 2008/09/01/enzyklopadische-schreibweise-in-den-zamonien-romanen-von-walter-moers/ #_ftn1#_ftn1 (Zugriff am 16. September 2010). 15 Dieses wird auch im Textbild sichtbar, das unverändert die Schrifttypen beibehält, die dem Erzähler zugeordnet sind.
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des Lexikons. Ich ließ mich davon nicht irritieren, sondern beschloß spontan, daraus wörtlich zu zitieren« (KBB 560). Auf diese Weise wird das Lexikon zweckentfremdet und sein Status als verlässliche Informationsquelle problematisiert, da es nun offenkundig von Blaubär umfunktionalisiert werden kann, und es wird suspekt, weil es seine Lügengeschichten autorisiert. Die Gewalt des Benutzers über den Text erstreckt sich auch auf die Vollständigkeit der Informationswiedergabe, was das Lexikon endgültig in seiner bisherigen Autorität als sachliche Wissensquelle erschüttert. Diese deutliche Abwandlung des barocken Konzeptes des enzyklopädischen Romans16 wird noch dadurch gesteigert, dass das Lexikon sich im entscheidenden 13. Kapitel, in dem Blaubär von Nachtigaller von der Moloch gerettet wird und damit erst seine spätere Buntbärenkolonie und Lexikonaufzeichnung möglich werden, auch als telepathische Verbindung zu Nachtigaller herausstellt, die nur im Notfall tatsächlich funktioniert, wie Nachtigaller erklärt: Das Lexikon in deinem Kopf dient auch als direkter Empfänger für meine Gedanken. Und als Sender für Gedanken an mich. Drahtlose Telepathie, das Geschäft der Zukunft! Ich wollte davon nur im äußersten Notfall Gebrauch machen. Ich meine, es ist ja ein enormer Eingriff in die Privatsphäre, nicht wahr? Aber den Notfall haben wir jetzt wohl! (KBB 644)
In dieser erweiterten Funktion zeigt sich eine Lesart einer Kritik oder Satire der interaktiven Informationsmedien, die das ›tote‹ Buchwissen ablösen und dynamisch von den Nutzern verwaltet werden. Folglich ist es auch plausibel, dass Blaubär schnell irritiert ist von den »ewigen unsinnigen oder zu spät kommenden Informationen« (KBB 382) und das Lexikon so lange als »störrische[s] Nachschlagewerk« (KBB 698) beurteilt, bis er die Gebrauchsanweisung entdeckt, mit der er die Kontrolle über den Text erlangt: »Es gab also eine Gebrauchsanweisung, ich hatte nur versäumt, danach zu fragen!« (KBB 699) Indem also die Genremerkmale des barocken Romans spielerisch adaptiert werden, insbesondere der Variante des enzyklopädischen Barockromans, zu dessen vielfältigen Funktionen die Abbildung der Welt sowie die Wissensvermittlung zählen,17 entsteht ein wesentlich stärkerer Glaubwürdigkeitseffekt als der, den die üblichen Erzählungen der Abenteuer Blaubärs im Rahmen der Kindersendung entfalten. Dies verstärkt die Glaubwürdigkeit der Autobiographie Blaubärs als Enzyklopädie Zamoniens. Der Roman wird so zum hervorragenden enzyklopädischen Beschreibungssystem der »Welt«. Die Möglichkeitsbedingung dieser epistemologischen Spiegelung von Kunstwerk und Welt liegt eben im zweiten aristotelischen Theorem, dem der Naturnach16 Ebenfalls entbehrt Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär eines Registers oder Fußnoten, die zu weiteren Kennzeichen barocker enzyklopädischer Romane gehören. Kilcher 2003, S. 65. 17 Ebd., S. 89.
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ahmung. Es begründet mit der Poetik auch die Didaxe des Romans: Als Reflex des Kosmos unterweist der Roman, wird er Wissen vom Ganzen der Welt.18
Aus dieser Abwandlung entsteht aber zugleich eine satirische Lesart auf den unreflektierten Wissenserwerb aus Büchern oder Nachschlagewerken, wie Blaubär mehrfach am eigenen Fell erfahren muss. Beispielsweise erweist sich im entscheidenden 13. Kapitel die scheinbare Bestätigung des Lexikons durch eine Rettungsaktion mithilfe Nachtigallers eigentlich als die Tilgung eines großen Fehlers, den der Superforscher begangen hat: Nachtigaller stellt sich als alles andere als unanfechtbar heraus, wie seine zahlreichen misslungenen Experimente beweisen, insbesondere dasjenige vom »legendäre[n] Element« (KBB 638) Zamomin, das sich zu guter Letzt als Auslöser für Blaubärs Schicksal entpuppt. Wie zum Schluss enträtselt wird, sind die Blaubären vom Zamomin, das Nachtigaller ökologisch unkorrekterweise im Meer entsorgt hat, um es endgültig loszuwerden, gefangengenommen und auf der Moloch versklavt worden, was wiederum die Eltern Blaubärs gezwungen hat, ihn in einer Nussschale auszusetzten, womit sein »Erstes Leben bei den Zwergpiraten« (Kap. 1, KBB 11) beginnt: Einige Blaubären erinnerten sich an ein junges Bärenpaar, ein ultramarinblaues Männchen und ein indigofarbenes Weibchen, das sich mit ihrem frischgeborenen Jungen ins Meer gestürzt hatte, um das Kind vor dem Schicksal auf der Moloch zu bewahren. Es ist natürlich nicht verbürgt, aber das könnten meine Eltern gewesen sein, die vielleicht in den Tod gegangen waren, um mir die Freiheit zu geben. (KBB 692)
Nicht nur, dass Nachtigallers Problemlösungsstrategie deutliche Mängel aufweist und damit ebenfalls den Status seines umfassenden Nachschlagewerkes in Frage stellt, sondern auch Blaubärs Erzählverfahren zeigt sich abermals als die spielerische Variation der Genremerkmale des Barockromans, hier des barocken Heldenromans, der im Gegensatz zum Schelmenroman in medias res beginnt und nach und nach die Herkunft des Helden enträtselt.19 Das Zamomin wird schließlich von Blaubär mit Hilfe Nachtigallers besiegt, die Buntbären werden befreit und besiedeln den Großen Wald, was die spätere Aufzeichnung der Lebenserinnerungen Blaubärs erst ermöglicht. Zugleich wird das Lexikon in der Blaubär-Kolonie zum einzigen und absoluten Bildungswerk erhoben, das die kleinen Buntbären in der Schule als Pflichtlektüre haben: »Die nächsten Monate verbrachte ich fast ausschließlich damit, das Lexikon aus meinem Kopf abzuschreiben. Dann ließ ich es wiederum von meinen Schülern abschreiben, so wurde es zur Pflichtlektüre der Buntbärenschule« (KBB 699). 18 Ebd. 19 Vgl. Albert Meier : Der Heroische Roman. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Albert Meier. München/Wien 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 300 – 315.
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Obwohl Blaubär nun im Laufe seines Lebens mehrfach gelernt hat, dass das Buchwissen nicht ausreicht, postuliert er dennoch diese uneffektive Methode des Repetierens und Abschreibens, die stark an mittelalterliche Studierverfahren erinnert, wodurch abermals der Vorgang der Wissensaneignung sowie von Bildung überhaupt ironisiert wird. Die oben erwähnte Nähe zur Autobiographie, gekennzeichnet durch die Einheit der »behaupteten Identität von Erzähler und Hauptfigur«20, rückt das entscheidende Moment der Erinnerung ins Zentrum: »Der Vorgang der Erinnerung ist der jeder autobiographischen Reflexion zugrunde liegende Akt. In der Erinnerung wird […] das zurückliegende Leben eingeholt, er-innert.«21 Der Erzähler konstruiert folglich eine geschlossene Erinnerung, die lückenlos und verlässlich zur Verfügung steht. Was in dem Genre der Autobiographie als ein Akt der Konstruktion begriffen wird, gestaltet sich bei Blaubär jedoch anders. Sein Gedächtnis scheint keinerlei Beschränkungen zu unterliegen, was insbesondere für das Abschreiben des Lexikons relevant ist, und ebenfalls für die – natürlich ironische – Wahrheitsbehauptung seiner Erzählung: »Ich müßte lügen (und es ist ja hinlänglich bekannt, daß das nicht meiner Natur entspricht« (KBB 6). Denn indem er die Behauptung aufstellt, das Lexikon aus seinem Gedächtnis lediglich reproduziert zu haben, ohne die Autorschaft daran zu beanspruchen, beraubt er es seiner Unabhängigkeit. Schließlich ist nicht zu entscheiden, wie vollständig Blaubär es abgeschrieben hat, geschweige denn, wie textgetreu er dabei vorging. Überhaupt ist es aus dem Text nicht zu entscheiden, wie es um die Herausgeberschaft des Lexikons tatsächlich steht, da es ja auch in anderen zamonischen Werken als Referenztext und Verbindungselement zitiert wird, seine Niederschrift jedoch nur – und auch nur indirekt – in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär thematisiert wird. Diese Lücke könnte die Erklärung schließen, Blaubärs Abschrift habe sich über Zamonien verbreitet, was zugleich den Blaubär endgültig über alle Zweifel erhaben macht, denn ein lügender Bär wäre ein Desaster für die Lexikonrezeption. Andererseits kann diese Lücke als weitere hanebüchene Lüge Blaubärs gelesen werden, dass das Lexikon je in seinem Kopf war, geschweige denn er es abgeschrieben hätte. Je nach Lesart verändern sich Blaubärs Glaubwürdigkeit und sein Erzählerstatus maßgeblich, und in dieser vieldeutigen Konstruktion des Textes wird abermals das Spiel mit dem Konzept des ›Wissens‹ sichtbar. Da Blaubär sich nun kunstvoll der ihn eigentlich stützenden Wissensquelle entledigt hat, bleibt zu prüfen, wie es um sein eigenes Wissen steht.
20 Wagner-Egelhaaf 2005, S. 8. 21 Ebd., S. 12.
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Bildung und Wissen: die Stützpfeiler der Blaubärschen Autobiographie Wie oben bereits erklärt lassen sich deutliche Parallelen zu vielen Romangenres in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär belegen, deren Variationen und Vermischungen entscheidend das Erzählverfahren beeinflussen. Deutlich sind auch die Anleihen zu der verbreiteten Form des Schelmen- oder Pikaro-Romans, beispielsweise in der episodenhaften Bauart des Textes, die in einer »lockere[n] Aneinanderreihung relativ selbständiger, hauptsächlich durch die Person des Helden verbundener Szenen«22 besteht und in der »autobiographische[n] Fiktion, die den Pikaro aus der Distanz sein früheres Treiben erzählen läßt«.23 Blaubär erzählt nämlich aus einer nachzeitigen Position lediglich die erste Hälfte seiner 27 Leben und erwähnt explizit die autobiographisch motivierte Rückblick-Situation: Denke ich an diese Zeiten zurück, übermannt mich die Wehmut. Aber die Uhr des Lebens läßt sich nicht zurückdrehen. Das ist bedauerlich, aber gerecht. So folgt jetzt, wie es sich gehört, der Winter auf den Herbst. […] Früher bin ich diesem Geruch immer gefolgt, aber heute habe ich Wichtigeres zu tun: Meine Lebenserinnerungen müssen der Nachwelt erhalten werden. […] Nicht gerade meine bevorzugte Jahreszeit, aber genau der richtige Anlaß, eine Kanne heißen Kakao zu kochen (mit einem winzigen Schuß Rum), dreizehneinhalb gestopfte Pfeifen, dreizehneinhalb Marmeladenbrote und dreizehneinhalb gespitzte Bleistifte bereitzulegen und zu beginnen, meine ersten dreizehneinhalb Leben niederzuschreiben. Ein kühnes, kräftezehrendes Unterfangen von epischem Ausmaß, wie ich befürchte. Denn, wie schon gesagt: Damals gab es von allem viel mehr – natürlich auch mehr Abenteuer. (KBB 7)
Auch wenn einige typische Ausprägungen dieser Romanform sich nicht belegen lassen, wie das obligatorische desenganˇo-Erlebnis, das den »naiven jugendlichen Helden schlagartig die Verlogenheit der Welt erkennen läßt«, woraus im PikaroRoman die »pikareske Verschlagenheit«24 resultiert, ist auch hier ein Spiel mit den Genremerkmalen evident. Weiterhin fehlt die kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gesellschaftsschichten, denn wenn Blaubär auch mehrere Gruppen der zamonischen Bewohner kennenlernt, so ist es schwierig, diese in eine hierarchische Struktur zu ordnen, geschweige denn die offenkundigen ›Fehler‹ dieser als didaktische Moralisierung zu lesen. Darüber hinaus lässt sich die Nähe zum Typ des Bildungsromans beobachten, denn Blaubärs Reise entpuppt sich vor allem als eine Ausbildung zum Lügner – oder auch Schriftsteller. 22 Guillaume von Gemert: Pikaro-Roman. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Albert Meier. München/Wien 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 453 – 469, hier S. 454. 23 Ebd., S. 453. 24 Ebd., S. 454.
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Damit wird zugleich der Zusammenhang mit dem Topos der ›Lügendichtung‹ etabliert, die »auf der Darstellung unglaubwürdiger, in der empirischen Wirklichkeit ausgeschlossener Sachverhalte« beruht, und die häufig eine »Sammlung von um eine aufschneiderische Erzählerfigur gruppierten Abenteuerlügen umfaßt, unter denen neben offen phantastischen Reiseberichten besonders das ›Jägerlatein‹ und das ›Seemannsgarn‹ dominieren«.25 Ohne die Genreproblematik erschöpfend besprechen zu können, soll dies als Grundlage für die folgenden Überlegungen genügen. Blaubärs Gedächtnis wird im Text ähnlich wie ein Computer vorgestellt (»die Festplatte meines Gehirns«, KBB 172) und erhält damit den Nimbus technischer Objektivität. Passend dazu ist seine größte Angst die vor dem Versagen des Gedächtnisses: »Und das war nun das unangenehmste Ende, das ich mir nur vorstellen konnte: Tod durch Vergessen. Für immer zu verschwinden, ohne die geringste Erinnerung zurückzulassen, sich einfach aufzulösen, ohne sich in das Bewußtsein seiner Zeitgenossen eingebrannt zu haben.« (KBB 416) Da Blaubär im Text permanent größere Wissenszusammenhänge beschreibt, die zum einen das Bild Zamoniens entstehen lassen und zum anderen seinen enormen Erfahrungsschatz belegen, ist es abermals relevant zu betrachten, wie es um sein Gedächtnis steht und wie der damit verknüpfte Wahrheitsgehalt des Erzählten beschaffen ist. Durch diese Voraussetzungen wird der Anspruch, einzigartiges Wissen zu vermitteln, das nur dem Erzähler zugänglich ist, gestützt und bekräftigt, denn er ist zugleich die Grundlage für die vom Erzähler im Text vermittelte Lesart Blaubärs als poeta doctus. Diese Weisheit, als die sich seine Lebenserfahrung herausstellt, hat Blaubär nach und nach in seinen vielen Leben erworben. Analog zu dem Modell eines Bildungsromans26 bildet der Held seine Persönlichkeit im Zuge seiner Reisen aus, jedoch wird diese Reise als Wissenserwerb inszeniert, der in der außerordentlichen Erzählfähigkeit des Erzählers kulminiert. So beschreibt auch hier der Erzähler sein Leben als eine Abfolge von Lernstationen, an denen er unmittelbar lebensrelevantes Wissen erwirbt: In seinem ersten Leben bei den Zwergpiraten lernt Blaubär alles über das Leben eines Seemanns: Eines der wichtigsten Dinge im Leben eines Seemanns ist der Knoten. Damit ist nicht die Geschwindigkeit eines Schiffes gemeint, die man auch in Knoten mißt, nein, ich meine die mannigfachen Möglichkeiten der Verknüpfung eines Hanfseils. Ich lernte 723 verschiedene Versionen, einen Knoten zu schürzen, und die kann ich heute noch auswendig. Ich kann (natürlich) den einfachen Seemannsknoten, aber auch den
25 Peter Köhler: Lügendichtung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Harald Fricke [u. a.]. Bd. 2. Berlin/New York 2000, S. 496 – 498, hier S. 496. 26 Vgl. beispielsweise Jutta Heinz: Bildungsroman. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Dieter Burdorf [u. a.]. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar 2007, S. 88 f.
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doppelten Zwergpiratenschürzling, die Sturmkrawatte und den Gänsegalgen, die Klabauterfessel und sogar den doppelten Gordischen Knoten. (KBB 21)
Die Aufzählung demonstriert nicht nur seine überragenden Fähigkeiten, sondern betont zugleich die erwähnte Gedächtniskunst. Zugleich ist sie jedoch sehr anfällig für den Vorwurf der Lüge, da Blaubär selbst zugibt, dass er sein Wissen über Knoten bei den Zwergpiraten erworben habe, dass aber »[n]iemand weiß, daß es Zwergpiraten gibt, da sie so klein sind« (KBB 530). In dieser offenkundig ironischen Konstruktion bleibt wieder nur ein schwebender Status des Erzählten als tatsächliche Informationsquelle über Zamonien. Nach diesem Muster erlernt Blaubär in jedem der folgenden Lebenskapitel eine ähnlich herausragende Fähigkeit, die er später meisterhaft beherrscht. So lernt er bei den Klabautergeistern sein Publikum mit seinen Tränen zu unterhalten (KBB 40 – 43), bei dem »Pterodaktylus Salvatus« (KBB 94) Deus X. Machina erwirbt er Kenntnisse über die exakte Geographie Zamoniens sowie über Navigation (KBB 99 – 108), und bei den Tratschwellen lernt er zu sprechen: In den folgenden Wochen umkreisten die Tratschwellen unermüdlich mein Floß und brachten mir das Sprechen bei. […] Ich lernte große und kleine Wörter, Tätigkeitswörter, Wiewörter, Umstandswörter, Nebenwörter, Bindewörter, Hauptwörter und Widerworte; schöne Wörter und auch solche, die man gar nicht erst sagen sollte. Ich lernte, wie man diese Wörter buchstabiert, artikuliert, dekliniert und konjugiert, substantiviert, genitiviert, akkusativiert und dativiert. Dann kamen wir zu den Sätzen. (KBB 58)
Die gefährlichen Tratschwellen, die sonst Schiffbrüchige in den Wahnsinn getrieben haben (KBB 55), bringen Blaubär nicht nur das Sprechen bei, sondern statten ihn mit außerordentlichen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Rhetorik aus, so dass er bald »ein Meister des gesprochenen Worts« (KBB 60) wird. Erst nach dieser elementaren Bildung erweitert Blaubär seinen Horizont in der »Nachtschule des Professor Nachtigaller« (KBB 122), auf dem »höchsten Bildungsweg […], den es gibt« (KBB 122), den nur die Nachtschule vermittelt. Dort kommt Blaubär mit dem Lexikon wie oben beschrieben in Kontakt und mit dem »Lehrsatz der Eydeetischen Philophysik« (KBB 127): »Wissen ist Nacht«. Das Wissenskonzept der höchsten Bildungseinrichtung Zamoniens, der Nachtigallerschen Nachtschule, kontrastiert im höchsten Maße das Bildungsideal des aufklärerischen Konzepts vom Licht der Erkenntnis. Nicht nur, dass Wissen hier ›Nacht‹ ist, denn in der zamonischen Dunkelheit nimmt der Intelligenzquotient bekanntlich zu: »Bei normaler Beleuchtung haben sie [die Eydeete; M. D.] einen Intelligenzquotienten von 4000, aber wenn es dunkel wird, steigert er sich ins Unvorstellbare.« (KBB 127) Zugleich handelt es sich dabei um die Abwandlung der gängigen Redewendung, ›Wissen ist Macht‹, die auf Francis Bacon zurückgeht. Spielerisch werden zwei fundamentale Konnotationen des europäischen
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Kulturraums ironisiert und, während sie zugleich zum höchsten Prinzip erhoben werden, gleich wieder relativiert: Professor Nachtigaller sagte öfter solche Sachen, wahrscheinlich um uns aus der Fassung zu bringen. Es steckte Methode in diesen scheinbar sinnlosen Behauptungen: Bevor man dahinterkam, daß sie völlig blöde waren, hatte man in alle möglichen Richtungen gedacht. (KBB 127)
Was Wissen ist, bleibt folglich in der zamonischen Welt stets fragil und fluide. Wie am Beispiel von 16 U, der personifizierten schlechten Idee aus dem Bollogghirn im elften Kapitel, sichtbar wird: Was in einem Moment noch als schlechte Idee (KBB 411) präsentiert wird, ermöglicht Blaubär schließlich, durch den Bolloggkopf hindurch sein Ziel zu erreichen, als die Idee vorschlägt, für die Träume Eintritt zu verlangen (KBB 427). In dieser Ambivalenz zeigt sich die permanent schwebende und variable Konstruktion von vermeintlich unverrückbaren Tatsachen in der zamonischen Welt. Dies spiegelt sich auch in Blaubärs Lernprozess wider, da er, wie erläutert, in jedem Kapitel etwas Entscheidendes und Außergewöhnliches dazulernt, das ihn dazu befähigt, nicht nur die Lügenduelle zu bestehen, sondern sie schließlich obsolet zu machen, und später seine Erzählung überhaupt niederzuschreiben. Blaubärs Lernprozess, der stets mit einer umfassenden Wissensansammlung und restlosen Speicherung einhergeht – wie die lückenlose Berichterstattung in den Lebenserinnerungen belegt – ist zugleich dem Lexikon des genialen Professors um Längen überlegen. Das Wissen des Eydeeten ist zwar nach zamonischen Maßstäben unanfechtbar – schließlich hat ein Wissenschaftler höchstpersönlich diese Erkenntnisse gesammelt, meist mit tatsächlich persönlichem Einsatz – Blaubär jedoch wird immer wieder von der sinnlosen Enzyklopädie im Stich gelassen und ist gezwungen, über das Buchwissen hinaus erfinderisch zu sein. So ist zwar Professor Nachtigaller in der Lage, durch bloßes Nachdenken eine Sardinenbüchse zu öffnen (KBB 130) oder zamonische Elemente pantomimisch darzustellen (KBB 142), Blaubär jedoch kann sich lediglich aufgrund von Stichworten aus dem Lexikon mehrmals aus lebensbedrohlichen Situationen retten. Beispielsweise verwandelt er sich während eines Sturzes in einem Wasserfall in einen Fisch: Ich sollte mich in eine Sardine verwandeln! Ein Fisch, der in einen Wasserfall geraten war. Das machte schon mehr Sinn. Als Sardine würde ich den Sturz sicher überleben. Aber wie hatte Nachtigaller das gemacht? Er hatte sieben Gehirne. Ich nur eins. »Wissen ist Nacht!« Dunkelheit. Natürlich. Bei Dunkelheit erhöht sich die Intelligenz. Ich schloß die Augen. (KBB 206 f.)
Dies harmoniert natürlich mit dem Bildungsideal der Nachtschule, durch Blödsinn zum Nachdenken anzuregen. Die Blaubärschen Lebenserinnerungen stehen nicht nur ganz im Zeichen der Bildung, die als Lebensrechtfertigung und als Erklärung für die Notwendigkeit
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der Autobiographie dient, sondern sie persiflieren zugleich den Anspruch auf Wissen, Bildung und vor allem die Authentizität von Texten. In der permanenten Wiederholung seines Wahrheitspostulats der erinnerten Geschichte sowie der dem entgegenstehenden detaillierten sowie überkonstruierten Narration zeigt sich zugleich eine Kritik an der modernen Medienwelt, dessen ähnliche Problematik Juli Zeh in der Zeit beschreibt: Authentizität läuft auf allen Kanälen. Im Fernsehen bringen Reality-Shows (echt!), Doku-Soaps (echter!) und Big Brother-Formate (am echtesten!) gigantische Einschaltquoten. Das Kino verkündet in jedem zweiten Vor- oder Abspann, dass das Gezeigte auf einer »wahren Geschichte« beruhe. Die Musikbranche wirbt mit den mehr oder weniger interessanten, dafür aber unverfälschten Lebensgeschichten ihrer Galionsfiguren. An allen Ecken werden dem Publikum die Lockstoffe der »Echtheit« unter die Nase gerieben, auf dass es sich an der Illusion von empathischem Miterleben und direktem Dabeisein berauschen möge. Es scheint, als würde das Kommunikationszeitalter mit seinen unzähligen Formen der Vermittlung und Übermittlung, der Kopie und des Zitats einen starken Hunger nach Unmittelbarkeit erzeugen, der nun ausgerechnet von der künstlichsten aller Ausdrucksformen gestillt werden soll – von der Kunst.27
Ebenso bedient sich Blaubär dieses Postulats, wie an seiner im Vorwort geäußerten Rechtfertigung sichtbar wird. Als offenkundige Persiflage auf heute übliche Realitätsformate dient die Beschreibung von Blaubärs Leben als Lügenstar in Atlantis. Zum einen ist er als Lügengladiator berühmt, somit steht prinzipiell alles, was er sagt, unter dem Verdacht der Unwahrheit, zugleich jedoch wird jeden Morgen ein ausführliches Diktat jeglicher seiner Äußerungen als ultimativ authentisch und wahre Aussage in der atlantischen Presse gedruckt (KBB 544 f.). Und auch diese Beschreibung des Paradoxons von einem authentischen Lügengladiator steht im Kontrast dazu, dass Blaubär natürlich der einzige Augenzeuge und einzige Berichterstatter ist. Blaubär vermittelt also scheinbar einen Überblick über das Leben in und auf Zamonien, bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass häufig Wesen vorgestellt werden, die lediglich Blaubär getroffen hat, und somit selbst Zamonier die größten Schwierigkeiten mit der Authentizitätsbehauptung haben: Smeik kollerten Lachtränen die Backen herunter. Machte er sich über mich lustig? Ich sollte vielleicht etwas Ernsthaftes sagen, etwas, das auf meine Seriosität und Intelligenz verwies. »Ich verfüge über einen großen Wortschatz! Ich wurde von Tratschwellen ausgebildet!« »Tratschwellen! Das ist zu gut! Sonst noch irgendwelche Referenzen?« »Ich habe ein sprechendes Lexikon im Kopf, das…« »Ein sprechendes Lexikon im Kopf! Der Junge ist ein Naturtalent [für den Beruf des Lügengladiators; M. D.]! Weiter! Weiter!« (KBB 531) 27 Juli Zeh: Zur Hölle mit der Authentizität! In: Die Zeit. 21. Juni 2006. http://www.zeit.de/2006/ 39/L-Literatur (Zugriff am 21. März 2010).
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Während Blaubär seine Lebensgeschichte erzählt, glaubt sein Zuhörer Smeik, bereits mit Lügengeschichten unterhalten zu werden. Schließlich erkennt Blaubär seinen Fehler: »Plötzlich wurde mir bewußt, daß die Schilderung meines Lebens in Kurzform den Eindruck von Geisteskrankheit vermitteln mußte.« (KBB 532) In dieser Spiegelung zum Erzählkonzept des Romans, der schließlich auch fragmentarisch nur 1312 Leben beleuchtet, zeigt sich abermals die Problematik: Gilt innertextuell Blaubärs Behauptung, die Wahrheit zu erzählen? Die erwähnten Tratschwellen werden schließlich im Lexikon verzeichnet, und obwohl Nachtigaller zwar teilweise demontiert wird, so unterliegt sein Lexikon nicht dem Pauschalverdacht der Lüge. Zu beachten ist bei den »Lebenserinnerungen« zudem, dass die größte Episode in Atlantis spielt, einer Stadt, die nach Blaubärs Bericht später davonfliegt, also aus Zamonien verschwindet, jedoch interessanterweise nicht von den Landkarten getilgt wird, wie ein Vergleich mit den anderen Zamonien-Romanen verdeutlicht.28 Somit sind die Bildung und das Wissen, das Blaubär vermittelt, höchst selektiv und speziell, zudem äußerst fragwürdig, denn auch hier inszeniert er sich als einziger Augenzeuge und entzieht sich somit jeglicher Überprüfbarkeit. Das Wissen und die Sammlung dessen im Lexikon entpuppen sich also als Sammlung von einzigartigen Merkwürdigkeiten, deren Glaubwürdigkeit zudem höchst fragil ist. Gerade in der kompletten Negation des Glaubwürdigkeits- und Wahrheitspostulats zeigt sich die ursprüngliche Konzeption des Textes als amüsante Satire auf Buchwissen, Lehrhaftigkeit und das Dogma des Wissens. Indem immer wieder das Lexikon sowie das von ihm zur Verfügung gestellte Wissen als nutzlos, nicht situationsangemessen oder schlicht redundant parodiert wird, entsteht zugleich eine scheinbare Bestärkung des praktischen Lebenswissens, das Blaubär auf seinem Weg erwirbt. Diese wird jedoch gleichzeitig dadurch unterlaufen, dass der Plausibilitätsstatus sowie der tatsächliche Informationsgehalt dieses Wissens, das in Form der halben Autobiographie präsentiert wird, von Beginn an höchst suspekt sind. Zwar hat der Erzähler Blaubär im Roman einen anderen Glaubwürdigkeitsstatus als der durch seine Situierung in der bekannten Kindersendung bekannte Opa Blaubär, jedoch sind auch seine Berichte, wie oben beschrieben, mit allen Mitteln der Kunst als ›nicht glaubhaft‹ gekennzeichnet und damit als Fiktion in der Fiktion markiert. Damit wird auch zugleich die reziproke Evokation zum paratextuell situierten Bär der Kindersendung verfestigt und auf das Glaubwürdigkeitsproblem des Erzählers der Kindersendung verwiesen. Dies führt dazu, dass gleichzeitig das Wissenskonzept, das im Text vorgestellt wird, ad absurdum geführt und als das markiert
28 Zu den Karten vgl. den Beitrag von Gerrit Lembke »›Der Große Ompel‹. Topographie und Kartographie in den Romanen Walter Moers’« im vorliegenden Band.
Konzeptionen von Bildung und Wissen in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär
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wird, was schon immer gute Literatur ausgezeichnet hat: raffinierte, geistreiche Satire auf das Erzählen selbst.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Moers, Walter: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des »Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 1999. Moers, Walter : Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 2000.
Sekundärliteratur Breuer, Ingo: Formen des Romans. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Albert Meier. München/Wien 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 575 – 593. Engelhardt, Dirk: Walter Moers: Die Zamonien-Reihe. In: Kindlers Literatur Lexikon. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Bd. 11. Stuttgart/Weimar 2009, S. 373 – 375. Gemert, Guillaume von: Pikaro-Roman. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Albert Meier. München/Wien 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 453 – 469. Heinz, Jutta: Bildungsroman. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Dieter Burdorf [u. a.]. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar 2007, S. 88 f. Kilcher, Andreas: mathesis und poesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000. München 2003. Köhler, Peter : Lügendichtung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Harald Fricke [u. a.]. Bd. 2. Berlin/New York 2007, S. 496. Mainberger, Sabine: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. Berlin/New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 22). Meier, Albert: Der Heroische Roman. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. v. dems. München/Wien 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 300 – 315. Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 2005.
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Andere Medien [anonym:] Instandbesetzung eines Bären. In: Der Spiegel 9/1999, S. 192 f. http:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-9507482.html (Zugriff am 16. September 2010). [anonym:] Käpt’n Blaubär. In: http://www.wdrmaus.de/kaeptnblaubaerseite (Zugriff am 16. September 2010). Janzen, Dennis: Enzyklopädische Schreibweise in den Zamonien-Romanen von Walter Moers. In: http://cyberpunkcrisis.wordpress.com/2008/09/01/enzyklopadischeschreibweise-in-den-zamonien-romanen-von-walter-moers/#_ftn1#_ftn1 (Zugriff am 16. September 2010). Zeh, Juli: Zur Hölle mit der Authentizität! In: Die Zeit. 21. September 2006. In: http:// www.zeit.de/2006/39/L-Literatur (Zugriff am 16. September 2010).
Ensel und Krete (2000)
Hans-Edwin Friedrich
Was ist ein Märchen aus Zamonien? Zu Ensel und Krete von Walter Moers
Seinem erzählerischen Debüt Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär ließ Walter Moers als zweiten Zamonien-Roman eine »Märchenparodie«1 folgen, dessen Titel Ensel und Krete leicht verfremdet, aber doch gut erkennbar den verarbeiteten Stoff zu erkennen gibt. Hänsel und Gretel (1812), die Nr. 15 der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, ist eines der populärsten der Sammlung überhaupt.2 Der vollständige Titel des Buches lautet: Ensel und Krete Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller (EK 3)
Der Titel schließt mit der Nennung des Autors (Hildegunst von Mythenmetz), der Provenienz des Märchens sowie des Nachschlagewerks Nachtigallers an den Vorgängerroman (Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär) an, ordnet den Text einer 1 Klaus Nüchtern: Mein Zielpublikum bin ich. Interview mit Walter Moers. In: Falter. 24. März 2003. 2 Vgl. Walter Scherf: Hänsel und Gretel. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Rolf Wilhelm Brednich [u. a.]. Bd. 6. Berlin/New York 1990, S. 498 – 509; zur Stoffgeschichte: Regina Böhm-Korff: Bedeutung und Deutung von »Hänsel und Gretel«. Eine Fallstudie. Frankfurt a. M. [u. a] 1991 (Studia Ethnographica et Folkloristica 21), S. 121 ff.; zur Deutungsgeschichte: Hans-Jörg Uther : Handbuch zu den »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. Berlin/New York 2008, S. 35 – 37.
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Gattung zu (Märchen) und benennt drei verschiedene Autoren (Mythenmetz, Moers, Nachtigaller) sowie deren Verhältnis zueinander : Autor des Märchentextes ist Mythenmetz, sein Übersetzer, Illustrator und Kommentator Walter Moers,3 der als Biograph einen beigefügten Text (die »halbe[] Biographie des Dichters«) beigesteuert hat; Quelle der Informationen zu zamonischen Besonderheiten ist Abdul Nachtigaller. Moers steht also zu Mythenmetz in dem gleichen Verhältnis wie Adelbert von Chamisso zu Peter Schlemihl (1814) und Edgar Allan Poe zu Arthur Gordon Pym (1838), wo der Autor, bzw. ein Namensäquivalent dessen, ebenfalls als Figur innerhalb der Fiktion auftritt.4 Was das Titelblatt nicht zu erkennen gibt, erweist die Lektüre: Zwischen den drei Genannten bestehen Spannungen: Moers hält Mythenmetz für einen eitlen, moralisch zwielichtigen, aber gleichwohl genialen Dichter ; Mythenmetz wiederum hält sein Werk für kaum übersetzbar,5 konkurriert zudem mit Nachtigaller, dessen wissenschaftliche Kompetenz er anzweifelt, hat aber in einer direkten Konfrontation den Kürzeren gezogen (vgl. EK 250 – 252). Der eifrige Gebrauch, den Moers von Nachtigallers Lexikon macht, ist also immer auch ein Seitenhieb gegen den Dichter Mythenmetz. Das Buch besteht aus zwei Texten, dem Märchen und der halben Biographie des Dichters; es bietet sich als kommentierte, einen fremden Klassiker dem einheimischen Lesepublikum vorstellende Ausgabe dar. Das Märchen selbst hat einen visuellen Rahmen, der durch zwei jeweils doppelseitige Illustrationen, nach dem Titel (EK 4 f.) sowie zwischen der eigentlichen Märchenhandlung und der Mythenmetzbiographie (EK 224 f.), gebildet wird (Abb. 12 u. 13). Im Bildhintergrund steht in der Bildmitte ein Baum, zu dessen Wurzeln links sechs Hut-, rechts drei Trichterpilze wachsen. Den Bildvordergrund bildet ein 3 Das Kommunikationssystem des Textes ist kompliziert: Zu unterscheiden ist zwischen dem realen Autor Walter Moers und dem fiktionalen Übersetzer und Autor Walter Moers. Diese Unterscheidung ist innerhalb der Fiktion wiederum gegeben: Einerseits gibt es den fiktiven zamonischen Autor Mythenmetz und den fiktiven fiktionalen Mythenmetz, der als Erzähler und Abschweifer auftritt. 4 Vgl. Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Übers. v. Burkhart Kroeber. München 1996, S. 29 ff. 5 Anlässlich der Publikation des Schrecksenmeisters (2007) kommentiert Mythenmetz die Übersetzung: »Wie soll er das [d. i. eine angemessene Übersetzung; H.-E. F.] denn anständig machen, mit so einem armseligen Vehikel wie der deutschen Sprache? Ihr Alphabet hat sechsundzwanzig Buchstaben, das zamonische 888. Herr Moers gibt sich sicher alle Mühe, und in Anbetracht der ihm zur Verfügung stehenden Mittel macht er seine Sache sehr ordentlich. Ich habe nichts dagegen, wenn er auch in Zukunft meine Werke übersetzt. Auch wenn es in meinen Ohren so klingt, als würde jemand eine Sinfonie auf einer Kindertrompete blasen.« (Andreas Platthaus: Moers trifft Mythenmetz. Natürlich bleibt Ihr Buch ein Schmarrn. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 4. Oktober 2007). Vgl. auch seinen Hinweis auf seine »schriftstellerische Raffinesse« und das zähneknirschende Eingeständnis des Übersetzers: »Ich habe mehrere Wochen damit verbracht, diesen erzählerischen Zaubertrick mit den Mitteln unserer Sprache nachzuahmen. Es ist unmöglich« (EK 167).
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Abb. 12 u. 13: Visuelle Rahmung in Ensel und Krete (EK 4 f. u. 224 f.)
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halb geöffneter Theatervorhang, hinter dem links und rechts je eine Figur des Märchens hervorlugt. Die erste Abbildung (Abb. 12) zeigt die beiden Fhernhachen-Kinder Ensel und Krete, die zweite (Abb. 13) an derer Statt links den Stollentroll, rechts die Orchidee. Die Bühne visualisiert mit ihrem Verweis auf das Theater den Fiktionscharakter des Erzählten. Die Erzählung des Hildegunst von Mythenmetz hat zwei deutlich unterschiedene Ebenen: Die Handlungsebene, die zunächst über mehrere Seiten entwickelt wird, vermittelt die Erlebnisse von Ensel und Krete. An dramaturgisch entscheidender Stelle, als sich die beiden im Großen Wald verlaufen haben, setzt eine Diskursebene ein, die den Schreibprozess und die Erzählung kommentiert, zahlreiche Digressionen sowie autobiographische Ausführungen des Autors6 Hildegunst von Mythenmetz enthält und schließlich als Bühne zur Selbstbeweihräucherung genutzt wird. Die Handlungsebene verarbeitet den Stoff von Hänsel und Gretel; die Diskursebene enthält poetologische und – natürlich auf die zamonische Tradition bezogene – literarhistorische Reflexionen zum Gattungsmodell und zum Verfahren. Motive und Figuren der Vorlage sind den Verhältnissen Zamoniens angepasst. Ensel und Krete sind Fhernhachenkinder ; so wie Hänsel und Gretel Brotkrumen als Spur legen, die von Vögeln aufgepickt werden, so benutzen die Fhernhachen Waldbeeren, die ein Erdgnömchen als Futtervorrat sammelt. Das Lebkuchenhaus erscheint als butzenscheibenidyllisches Bauernhäuschen, es wirkt in der zamonischen Umgebung des Großen Waldes ebenso befremdlich wie ein Lebkuchenhaus im deutschen Wald. Es gibt auch einen Schatz, über den zwar nicht die Hexe, wohl aber der Laubwolf verfügt (EK 76 – 89). Die Erzählung von Mythenmetz ist entmoralisiert. In der Fassung der Brüder Grimm spielen moralisch problematische Verhaltensweisen für die Motivierung der Handlung eine wichtige Rolle: Wie er sich nun Abends vor Sorge im Bett herumwälzte, sprach seine Frau zu ihm »hör, Mann, morgen früh nimm die beiden Kinder, gib jedem noch ein Stückchen Brot, dann führe sie hinaus in den Wald, mitten inne, wo er am dicksten ist, da mach ihnen ein Feuer an, und dann geh weg, und laß sie dort allein: wir können sie nicht länger ernähren.« »Nein, Frau«, sagte der Mann, »wie soll ich übers Herz bringen, meine eigenen lieben Kinder den wilden Tieren im Wald zu überliefern, die würden sie bald zerrissen haben.« »Wenn du das nicht tust«, sprach die Frau, »so müssen wir alle miteinander Hungers sterben«, und ließ ihm keine Ruhe, bis er einwilligte.7
6 Siehe Anm. 3, vgl. hierzu auch den Beitrag von Ingo Irsigler im vorliegenden Band. 7 Jacob u. Wilhelm Grimm: Hänsel und Grethel [ED 1812]. In: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hg. v. Heinz Rölleke. Frankfurt a. M. 1999, S. 86 – 92, hier S. 86 f. Am Ende: »Der Vater freute sich herzlich als er sie wieder sah, denn er hatte keinen vergnügten Tag gehabt, seit seine Kinder fort waren. Die Mutter aber war gestorben« (ebd., S. 92).
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In Ensel und Krete hingegen langweilen sich die Kinder, solange sie der »vorbildlichen Touristenkinderbeschäftigung« (EK 24) des Beerensammelns nachgehen, und dem Weg aus dem touristisch kultivierten in den wilden Teil des Großen Waldes folgen sie aus kindlicher Abenteuerlust. Die Hexe ist keine vermenschlichte jenseitige Kannibalin,8 sondern eine zamonische Daseinsform (KBB 225 f.). Die Helferfiguren9 – der Stollentroll, die Orchidee, der Buntbär Boris Boris – sind keine moralisch guten, sondern je individuell problematische Figuren. Der märchentypische Gut-Böse-Schematismus ist aufgelöst, das Märchen wird entschematisiert: Die Figuren werden psychologisiert, die Handlungen motiviert, die Handlungsabfolge plausibilisiert.10 Gattungsreflexive Momente werden in der Diskursebene verhandelt. Der Gattungscharakter wird im ersten Erzählerkommentar angesprochen. Nun, bis zu dieser Stelle wird Ihnen dieses zamonische Märchen bekannt vorgekommen sein, nicht wahr? Oder zumindest das gleichnamige Kinderlied: Ensel und Krete, die gingen in den Wald … Nur die leicht modernisierte Fassung, die Sache mit dem Buntbärwald, hat Sie bei der Stange gehalten, stimmt’s? (EK 34)
Die Erzählung ist ein in Zamonien bekannter Märchenstoff, wie Hänsel und Gretel in unserer Welt; es gibt auch eine zamonische Version des seit der Wende zum 20. Jahrhundert verbreiteten anonymen Kinderliedes Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald.11 Im Text finden sich weitere Märchenmotive, die allerdings zum literarischen Wissen insbesondere Kretes zählen. Der Große Wald kommt ihr nicht märchenhaft vor. »Es gab keine Einhörner, die an Flußbiegungen zur Tränke gingen, keine verwunschenen Schlösser aus Glas, nicht mal eine Riesenbohnenranke, die in die Wolken ragte. Ja, da waren kleine fliegende Elfenwespen, aber die schwirrten im Hochsommer auch in Fhernhachingen herum.« (EK 28) Später halluziniert sie von »Einhörnern, einem fünf Meter großen Dreiäugigen Schuhu, einer Schwanenprinzessin und einer Wolke aus Diamanten, die über ihr abregnete« (EK 110). Mythenmetz bearbeitet einen volkstümlichen Stoff, dessen Bekanntheit er voraussetzen kann. Er weist auf seine Modernisierung des Stoffes hin und die »vollkommen neuartige[] schriftstellerische[] Technik, die […] Mythenmetzsche 8 Vgl. Max Lüthi: Das europäische Kunstmärchen. Form und Wesen. 8. Aufl. Tübingen 1985, S. 9. 9 Vgl. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Übers. v. Christel Wendt. München 1972, S. 184 f. 10 Vgl. dagegen Bernhard Paukstadt: Paradigmen der Erzähltheorie. Ein methodengeschichtlicher Forschungsbericht mit einer Einführung in Schemakonstitution und Moral des Märchenerzählens. Freiburg i. Br. 1980 (Hochschulsammlung Philosophie. Literaturwissenschaft 6), S. 316 ff. 11 [anonym:] Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. In: Deutsche Volkslieder. 280 ausgewählte Liedtexte. Hg. v. Bernd Pachnicke. 9. Aufl. Leipzig 1981, S. 74.
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Abschweifung« (EK 34), er reklamiert Originalität für seine Schreibweise und gibt sich als Kunstmärchenautor zu erkennen.12 Zamonien kennt eine volkstümliche Erzähltradition. Vielleicht ist die Hexe »nur ein Zustand. Eine Idee. Ein Mythos. Ein altes Kinderschreckmärchen.« (EK 113) Als Ensel und Krete das Hexenhaus erreichen (vgl. EK 180), nutzt Mythenmetz die Gelegenheit, Gattungserwartungen zamonischer Leser zu antizipieren. Das Hexenhaus ist ein Topos der »rikschadämonischen Gruselliteratur«: »Hexenhäuser sind die Garanten für eine Wendung ins Gänsehauterzeugende.« (EK 182) Folgerichtig steht es um das Ansehen dieses Klischees in der zamonischen Gegenwartsliteratur nicht gerade zum Besten: Und Laptantidel Latuda wird sagen: Ach herrje, ein Hexenhaus. Jetzt zieht er wirklich auch noch das betagteste Kaninchen der zamonischen Literaturgeschichte aus seinem alten Hut. Warum läßt er nicht gleich sein ganzes Personal von einem Meteor erschlagen? Dann hätte die Qual wenigstens ein schnelles Ende. Ich aber sage: Gemach! Vielleicht ist es nichts von alledem. Vielleicht ist dieses Haus weder leer noch voll. Vielleicht solltet ihr einfach weiterlesen und den Augenblick genießen. (EK 183)
Mythenmetz kündigt eine Innovation an, als die Kinder in der Falle sitzen, und eröffnet damit die hyperbolische, demonstrative Vorführung des Werkschlusses, der mehrfach als solcher gesetzt und wieder aufgehoben wird, und mit der er die Macht des Erzählers eindrucksvoll in Szene setzt. Tja, Das war’s. So endet das zamonische Märchen von Ensel und Krete: Der Raum fing an, sich mit Magensäften zu füllen. Sie wissen doch, daß alle zamonischen Märchen traditionell tragisch enden, nicht wahr? Halt, Moment! Es gibt noch einen Satz: Das Märchen ist aus, da läuft eine Maus, und wer sie fängt, darf sich eine große Pelzkappe daraus machen. So endet die frühzamonische Urversion von Ensel und Krete – unsere Vorfahren müssen eine ziemlich unsensible Haltung Kleintieren gegenüber gehabt haben. Nun – das war’s aber dann wirklich. Und wenn sie nicht gestorben sind – was unter den geschilderten Umständen ausgesprochen unwahrscheinlich ist –, dann leben sie noch heute. Ende (EK 198)
Mythenmetz lässt das Märchen enden, wie es zamonischer Konvention entspricht; Charles Perrault hatte so Le Petit Chaperon rouge (1697), mit dem Verschlungenwerden Rotkäppchens, enden lassen. Der folgende Satz (»Das Märchen ist aus, da läuft eine Maus, und wer sie fängt, darf sich eine große Pelzkappe daraus machen« EK 198) ist das einzige nachweisbare direkte Zitat aus 12 »Alles in allem also setzen die Kunstmärchenautoren als individuelle Verfasser literarischer Märchen das anonyme, mündlich erzählte Volksmärchen voraus […], als populäre Gattung und allvertrautes Vorstellungsbild.« (Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. München 1987, S. 9); vgl. dazu Mathias Mayer u. Jens Tismar : Kunstmärchen. 4. Aufl. Stuttgart/Weimar 2003, S. 2 f.
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Hänsel und Gretel; es stammt aus der letzten Fassung.13 Mythenmetz schließt eine weitere konventionalisierte Schlussformel an (»wenn sie nicht gestorben sind«) und lässt das paratextuelle Schlusssignal (»Ende«) folgen. In der daran anknüpfenden Passage reflektiert er über das negative Ende als Gattungsregel, das er als »größte[s] Tabu der zamonischen Literaturgeschichte« (EK 200) vorstellt. Die Beispiele »bestialische[r]« (EK 201), grausamer Märchenschlüsse lassen erkennen, dass zamonische Märchen »nichts für zarte Gemüter« (EK 201) sind. Allerdings finden sich solche Grausamkeiten sehr zum Ärger besorgter Pädagogen auch in der hiesigen, nichtzamonischen Märchentradition:14 Die Textgeschichte der Kinder- und Hausmärchen ist von Milderungen solcher Gewaltexzesse gekennzeichnet.15 Mythenmetz führt seine Innovation nicht einfach ein, vielmehr kündigt er sie an, zelebriert sie eitel und beginnt nach einer Invektive gegen seinen Intimfeind Laptantidel Latuda,16 seiner Geschichte einen anderen, den Gattungsregeln zuwiderlaufenden Schluss zu geben. Mal gesetzt den Fall, ich würde der Geschichte einen glücklichen Ausgang geben – würde deswegen gleich das heilige Haus der zamonischen Literaturgeschichte einstürzen? Würde sich mein Arbeitszimmer mit Magensäften füllen? Ein Riß durch den Kontinent gehen? Zamonien versinken? Es wäre, das ist sicher, eine unerhörte, eine revolutionäre Tat, neben der sogar die Mythenmetzsche Abschweifung verblassen würde. Und sie könnte mit zahlreichen Literaturpreisen, Ehrendoktorwürden und nicht zuletzt hohen Auflagen entlohnt werden. Soll ich es wagen? Soll ich? Vielleicht konnten sie sich ja doch noch befreien? Na, das wollen wir doch mal sehen. Ziehen wir die Schublade mit den Rosinen ganz weit heraus … (EK 202)17
13 »Mein Märchen ist aus, dort läuft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große große Pelzkappe daraus machen«; Jacob u. Wilhelm Grimm: Hänsel und Gretel. In: dies.: Kinderund Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Hg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart 2009, S. 96 – 104, hier S. 104. 14 Vgl. Lutz Röhrich: Märchen und Wirklichkeit. 4. Aufl. Wiesbaden 1979, S. 124 ff.; Paukstadt 1980, S. 124 ff. 15 Vgl. Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart 2004, S. 98 ff.; Max Lüthi: Märchen. 10. Aufl. Stuttgart/Weimar 2004, S. 54 f. 16 Die Polemik gegen den zamonischen Literaturkritikerpapst ist inkonsequent: Auf der einen Seite wurde Latuda als zu erwartender Einwand in die Schuhe geschoben, das Hexenhaus sei der älteste Hut – obwohl es zum Stoff gehört, wo nun einmal ein Hexenhaus so zentral vorkommt, dass man es nicht gut aus der Handlung herausnehmen kann. In jenem Fall wäre er also ein Anhänger genialer Innovationen. Hier soll nun Latuda im Gegenteil Hüter der Gattungsregeln, eine Art zamonischer Gottsched, sein. 17 In einer früheren Mythenmetzschen Abschweifung ist zu erfahren, dass der Duft von Rosinen Mythenmetz’ »Sinn für Avantgardistisches« befördere (EK 43).
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Folgerichtig greift Mythenmetz am tatsächlichen Ende seines Textes die Märchenschlussformel noch einmal auf. Mit der Nennung des Vorhangs, der in der rahmenschließenden Schlussillustration noch einmal erscheint, verweist er auf den Fiktionsvertrag, auf das poetische ›Gemachtsein‹ seines Textes. Und damit schließt sich der Vorhang über Ensel und Krete, über Boris Boris und den Buntbären von Bauming, über Zamonien und dem Großen Wald. Mein Märchen ist aus, dort läuft eine Maus, und wer sie fängt, darf sich auf keinen Fall eine Pelzkappe daraus machen oder Suppe daraus kochen, denn das Pelzkappenmachen und Suppekochen aus kleinen Waldtieren ist von heute an verboten auf immerdar. (EK 223)
Zamonische Märchen teilen zahlreiche Merkmale mit ihren hiesigen Verwandten, sie weichen von ihnen aber auch in wichtigen Momenten ab. Sie enden negativ ; Märchen der Menschen haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ein glückliches Ende, das durch konventionalisierte Formeln – ›und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‹ – angezeigt wird. Besonders auffällig ist, dass zamonische Märchen gerade nicht durch Wunderbares (im Sinne Todorovs)18 gekennzeichnet sind. Das für Märchen typische Wunderbare zeigt sich in Hänsel und Gretel an der Hexe und ihrem Lebkuchenhaus; sie ist eine »Kindsfresserin«, eine »Freßdämonin«,19 personalisiert als »steinalte Frau«,20 ein Typus, der in der populären Tradition zum festen Bild geworden ist. In Ensel und Krete ist die Hexe eine zwar rätselhafte, aber herkömmliche Spezies. Ein zamonisches Märchen ist offenbar eine realistische Gattung, und in diesem Sinn weist Mythenmetz darauf hin, dass »nicht ich es bin, der sich diese phantasielosen Fhernhachennamen ausdenkt. Ich kann mir Namen ausdenken, daß ihnen die Haare zu Berge stehen, aber so heißen Fhernhachen nun mal« (EK 114). Das zamonische Märchen ist eine Kontrafaktur menschlicher Märchen.21 Der Große Wald teilt sich topographisch in den von den Buntbären kultivierten und touristisch erschlossenen sowie den wilden, gefährlichen Teil. Dieser wird gemieden, weil in ihm »die große Waldspinnenhexe verbrannt worden« ist und es »immer noch nach ihrem giftigen Sekret« riecht, »das einen (angeblich) in den Wahnsinn treiben konnte« (EK 18 f.). Die Ereignisse, auf die hier angespielt wird, sind von Käpt’n Blaubär in seinem 7. und 1312. Leben erzählt worden.22 Dort kommt er auf eine Lichtung im Großen Wald. »Wirklich bedenklich 18 Tzvetan Todorov : Einführung in die fantastische Literatur. Übers. v. Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur. Frankfurt a. M. 1992, S. 40 – 54. 19 Walter Scherf: Hänsel und Gretel. In: ders.: Das Märchenlexikon. Bd. 1. München 1995, S. 548 – 554, hier S. 550. 20 Grimm 1999, S. 90. 21 In Ensel und Krete findet sich noch ein weiterer Märchenverweis im Hinweis auf den »Prinzenfrosch« (EK 18), den man sicher auf KHM 1 (Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich) beziehen kann, der aber nur erwähnt und nicht weiter ausgeführt wird. 22 Inwieweit diese Erzählungen innerhalb der Fiktion gelogen sind, lässt sich nicht entscheiden.
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war nur die absolute Stille.« (KBB 212) Aber dann »roch [er] das Gefühl, zu Hause zu sein«, hörte »die schönste Klangfolge meines bisherigen Lebens« (KBB 214), findet ein »Blaubärmädchen« (KBB 216), ein kleines Häuschen mit Garten, ein rechtes Schrebergartenidyll (KBB 218), betritt es und findet sich im Netz der Waldspinnenhexe gefangen. Daraus kann er sich, so erzählt er, befreien und entkommt nach einem stundenlangen Marathonrennen in letzter Sekunde durch den Sturz in ein Dimensionsloch. In Atlantis (im zwölften Leben) erfährt er von Groot und Zille, seinen alten Bekannten aus der Nachtschule, das Tier sei »zum Glück tot. Wahrscheinlich verhungert, sah ganz ausgemergelt aus« (KBB 527). Im 1312. Leben wird der Große Wald von den befreiten Buntbären besiedelt: »Unter meiner Anleitung und mit dem Gebrauch von viel Wasser wurden die Spinnennetze entfernt. Man fand sogar die tote Waldspinnenhexe. Wir verbrannten sie zusammen mit den Netzen. Noch tagelang hatten wir Halluzinationen von dem Rauch.« (KBB 697) Was eine Waldspinnenhexe ist, erfahren wir aus Nachtigallers Lexikon. Dort wird sie taxonomisch nach heterogenen Ordnungsprinzipien23 der »Familie der vierlungigen Großspinnen« und den »zamonischen Daseinsformen mit unfairen Lockmethoden« (EK 18) zugeordnet. Sie trägt im oberen Kopfbereich eine trichterförmig spitz zulaufende Hornschicht, die entfernt an einen Hexenhut erinnert und ihr den Namen gegeben hat. Vermutlich dient das Horn dazu, ihre Opfer aufzuspießen, um sie zu ihrem Vorratsnetz zu transportieren. Die Waldspinnenhexe kann ein klebriges Sekret absondern, welches Wahnvorstellungen wunschtraumhafter Art erweckt, d. h., die Halluzinationen, die es hervorruft, gaukeln dem Opfer vor, was es sich am sehnlichsten wünscht. […] Da sich die Waldspinnenhexe in keinerlei Evolutionsschema einordnen läßt, nimmt man an, daß sie entweder durch Kometeneinfall oder ein Dimensionsloch nach Zamonien gelangt ist. (EK 19 f.)24
Die beiden Kinder erreichen drei verschiedene Lichtungen. Die eine ist der Ort, wo die Waldspinnenhexe verbrannt worden ist (EK 106). Dort befinden sich halluzinogene Pilze, die aus den Verbrennungsrückständen entstanden sind, und ein ausgehöhlter Baumstamm (Abbildung EK 32 f.). Die zweite Lichtung »war größer als die, die sie immer wieder gesehen hatten, und auf ihr lag auch Vgl. dazu – im Blick auf diese Frage aber nicht resultativ : Hans-Edwin Friedrich: Erzählen als Lügen. Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär von Walter Moers. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57 (2010), H. 2, S. 148 – 161. 23 Vgl. den Verweis von Michel Foucault auf Jorge Luis Borges im Vorwort zu: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1971, S. 17 – 28, hier S. 17. 24 Der gesamte Artikel ist als Fußnote (EK 18 – 20) abgedruckt, er ist wörtlich übernommen aus Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär (KBB 223 – 226), bis auf den letzten Satz: »Sie nistet ausschließlich im Großen Wald, für den wir daher an dieser Stelle eine nachdrückliche Umgehungsempfehlung aussprechen möchten.« (KBB 226).
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kein ausgehöhlter Baumstamm. Auf ihr wuchsen Pflanzen, Hunderte von verkrümmten, halbmeterhohen Gewächsen, die schon vom Waldsaum aus einen so fremdartigen Eindruck machten, daß Ensel und Krete augenblicklich stehenblieben.« (EK 165) Als sich die Pflanzen nach ihnen umdrehen und sie mit »Augen«, die »mit Tränen gefüllt waren« (EK 166), anschauen, fliehen sie. »›Das ist der Garten der Hexe‹, flüsterte Krete.« (EK 166) Schließlich wird jemand auf die Kinder aufmerksam: Weder Ensel noch Krete, noch die Orchidee hörten, wie etwas im Wald erwachte, um auf die Jagd zu gehen. Sie hörten nicht, wie es knisternd und schmatzend aus dem Boden wuchs. Zuerst gab es ein tiefes Schlürfen, ein atemholendes Geräusch, langanhaltend und unwirklich. Dann ging ein heller, feiner Ton durch den Wald, wie auf Glas erzeugt. (EK 178)
Dass sie der Falle dieses Jägers immer näher kommen, ergibt sich aus einem unmissverständlichen Indikator : »Dann fanden sie immer mehr tote Waldtiere, alle kleinerer Art, Vögel, Frösche, Schlangen, Backenhörnchen, aber auch Ameisen und Tausendfüßler lagen verendet auf den Tannennadeln.« (EK 180). Auf der dritten Lichtung »stand ein Haus« (EK 180), »ein kleines drolliges Haus mit einem Garten davor« (EK 184). Die »optimistischen Fhernhachen zum Beispiel werden rufen: Oh, ein Haus, der Inbegriff zamonischer Zivilisation! […] Die Pessimisten aber werden rufen: […] Das ist das Haus der verdammten Hexe!« (EK 182) Mythenmetz schürt die Spannung: »Gemach! Vielleicht ist es nichts von alledem. Vielleicht ist dieses Haus weder leer noch voll.« (EK 183) »Ensel steckte den Kopf hinein und sah sich um. ›Meine Güte!‹ sagte er. ›Ist das … richtig!‹ Das war das einzige Wort, das ihm dazu einfiel.« (EK 189) Die Hervorhebung des im Grunde blassen, aber exakten Ausdrucks ›richtig‹ ist Hommage und Kontrafaktur zugleich. Giorgo Manganelli hat darauf hingewiesen, dass Howard Philips Lovecraft in der Beschreibung der Stadt Cthulhu wie anderer fremder Artefakte und Wesen darauf hinweist, sie sei »nach den inhumanen Gesetzen einer ›wrong geometrie‹ [sic!] erbaut«.25 Lovecraft nutzt dieses »wrong« immer wieder, um radikale Fremdheit anzuzeigen, da er sie aufgrund seiner notgedrungen anthropozentrischen Schreibweise nicht positiv beschreiben kann, ohne sie anthropometrisch zu verfälschen. Gerade in der Verneinung einer Beschreibung kommt der Schrecken zum Ausdruck. Moers variiert dieses Mittel. Der Kursivdruck zeigt an, dass an diesem Eindruck des ›Richtigen‹ etwas nicht stimmt. Das Haus ist zu richtig, um wirklich richtig zu sein.26 Zugleich nutzt Moers ein Bilderverbot: Weder Hexe noch Waldspinnenhexe sind in den Illustrationen dargestellt.27 25 Giorgio Manganelli: Vorwort. In: Howard Philips Lovecraft: Cthulhu. Geistergeschichten. Übers. v. H. C. Artmann. Frankfurt a. M. 1982, S. 5 – 13, hier S. 12. 26 Vgl. auch EK 79: »Tief im Innern der Baumkreise gibt es eine Stelle … eine Stelle, wo die
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Das fhernhachozentrische Haus identifiziert Krete zwar als »Haus der Hexe« (EK 184), empfindet es aber innen als »Raum […], der ihr gehört[]« (EK 189). Nachdem sie die Knödel gegessen haben und der Topf sich wie von selbst erneut mit Knödeln gefüllt hat, erscheint die Hexe. In Hänsel und Gretel meldet sich die Hexe, da die Kinder vom Zuckerwerk des Hauses naschen – exakt zum vergleichbaren Zeitpunkt geschieht dies auch hier. Ensel machte langsam die Tür auf und sah nach, ob die Hexe schon auf der Lichtung war. Nein, sie war nicht auf der Lichtung. Sie stand direkt vor ihm. Ensel wich zurück, und die Hexe folgte ihm mit schlurfenden Schritten in den Raum. Sie sah genauso aus, wie sich die Geschwister, ja, eigentlich jedermann eine Hexe vorstellt: groß, dürr, bucklig, in schwarzes Gewand gekleidet, mit einem spitzen schwarzen Hut auf dem Kopf. Eine lange gekrümmte Nase ragte aus dem faltigen Gesicht, bösartige kleine Augen funkelten Ensel an, rote Iris, violette Pupillen. Grünlich die echsenhafte Haut, durchsetzt mit Warzen und dicken Adern, grünbraun die Hände, gelbe lange Fingernägel an langgliedrigen Fingern. Die Hexe zeigte grinsend ihre fauligen Zahnstumpen und fuhr mit ihrer Zunge darüber, die aussah wie Rattenpelz. Ein kompostartiger Gestank ging von ihr aus, der Ensel und Krete noch weiter zurückweichen ließ. »Ah, Besuch, Besuch, Besuch!« krächzte das alte Weib mit einer Stimme, die an eine sprachbegabte Ziege erinnerte. »Besuch habe ich schon ewig keinen mehr gehabt.« Die Hexe drehte sich um und verschloß die Tür mit einem Holzriegel, dann wandte sie sich den Geschwistern zu. (EK 193 f.)
Allerdings ist diese Hexe nicht das, was auf die Kinder lauerte, sondern eine auf ihre Erwartungen zugeschnittene Illusion. Sie wird »immer schmaler und kleiner, bis sie nur noch ein schwarzgrüner Pflanzententakel war, der durch den Raum peitschte. Schließlich verschwand sie mit einem schlürfenden Geräusch in einer Bodenritze.« (EK 195) Was zuvor totes Holz gewesen war, war nun lebendige Masse aus wogendem Pflanzenfleisch. »Die Hexe!« rief Ensel, der plötzlich alles begriff. »Aber wo ist sie? Ist sie hier drin?« Krete blickte voller Schrecken um sich. »Nein. Wir sind in ihr.« »Was?« »Das Haus ist die Hexe. Die Hexe ist das Haus. Und sie hat gerade angefangen, uns zu fressen.« (EK 197)
In Zamonien sind volkstümliche Vorstellungen, Gerichte, wissenschaftliche Diskurse über Hexen umläufig. Nahezu alle Figuren des Märchens haben je unterschiedliche Vorstellungen von ihnen. Ensel beschwert sich abenteuerlustig über die Langeweile im kultivierten Wald: »Ich möchte mal richtig in den Wald, nicht nur auf den doofen Wegen rumschleichen.« (EK 25) Krete warnt »mit Bäume schmelzen und die Pflanzen weinen. Das ist nicht richtig. Das ist verdammt nochmal nicht richtig.«
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erhobenem Zeigefinger«: »Dann holt dich die böse Hexe!« (EK 25) Dem entgegnet Ensel mit einer rational-aufklärerischen Auflösung: »Ach was Hexe! Die Hexe ist tot. Außerdem war es keine Hexe, sondern eine Riesenspinne, die wegen ihrer Kopfform Waldspinnenhexe genannt wurde.« (EK 25) Eine Funktion der Hexe in der zamonischen Pädagogik, wie in der hiesigen ethnologischen Märchenforschung, ist die Warnung; für Hänsel und Gretel lautete sie, nicht in fremde Häuser zu gehen. Die Bedrohung durch das Spinnentier im Großen Wald ist der rationale Kern der Warnungen vor der Hexe, an den sich dann eine Vielfalt von Geschichten und Bedeutungen anlagert. Je ängstlicher die Kinder sind, desto mehr erinnern sie sich an die bedrohlichen Geschichten. Als sie sich vor den Geräuschen des Waldes in der Nacht fürchten, wird die Hexe ›wirklicher‹: »Ist das die Hexe?« fragte Krete. »Ich weiß es nicht.« »Du weißt es nicht? Also gibt es eine Hexe?« Das war eindeutig eine Fangfrage. Ensel dachte angestrengt über seine Antwort nach. (EK 53)
Krete hat nun »genügend Anlaß zu glauben« (EK 57), dass sie von einer Hexe bedroht sind. Sobald aber die Nacht vorbei ist und Sonnenschein den Wald friedlich erscheinen lässt, ist klar : »Es gab keine Hexe.« (EK 58) Die Hexe fungiert als Kodierung für ihre Angst (EK 67 u. 111). Sie identifizieren den Schattenriss einer »große[n], aufrecht gehende[n] Gestalt mit langen Krallen an den Händen« und einem »spitzen Hexenhut« (EK 119) auf dem Kopf – den Helfer Boris Boris – als Hexe. Je größer die Angst, desto mehr sehen sie eine Hexe in allen unbekannten Dingen. Da die Waldspinnenhexe aus der Gedankenwelt ihrer Opfer das Material für die Vorspiegelungen ihrer Fallen bezieht, ist es natürlich nicht verwunderlich, dass die Kinder letzten Endes die bildliche Gestalt der Hexe selbst generieren (EK 193 f.). Schon vorher war es zweifelhaft, ob es wirklich eine Hexe im Großen Wald gebe. Der Stollentroll ist von der Behauptung der Kinder, eine Hexe gesehen zu haben, überrascht. Auch der denkende See (EK 129 f.) und die Sternenstauner (EK 159 f.) bezweifeln die Existenz einer Hexe im Wald. Der Stollentroll forciert als advocatus diaboli die Hexenfurcht. Er lässt es sich nicht nehmen, sein Angebot, den Kindern den Weg zu zeigen, mit dem Hinweis auf das »Innere des Waldes, wo, wie man munkelt, eine bösartige Hexe ihr Unwesen treiben und es auch aus anderen Gründen nicht ganz geheuer sein soll« (EK 62), zu würzen. Der Troll weist darauf hin, dass er nicht Tatsachen, sondern Gerüchte und Mutmaßungen referiere: »Ich weiß nichts von einer Hexe. Ich weiß nur von Gerüchten über eine Hexe. Ich weiß auch von Gerüchten über Hexen, die dazu geführt haben, daß unschuldige Damen, die gar keine Hexen waren, als solche verbrannt wurden. Ein dunkles Kapitel der zamonischen Geschichte.«
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(EK 186) Der Stollentroll ist aber eine übel beleumundete Spezies, der gegenüber man grundsätzlich (KBB 179) – in diesem Fall aber fälschlicherweise – Misstrauen an den Tag legt. »Vorsicht!« schrie der Stollentroll in diesem Augenblick und zeigte mit weit aufgerissenen Augen auf etwas hinter ihnen. »Die Hexe! Hinter euch!« Ensel und Krete fuhren herum. Auf der Veranda war niemand. Die Tür war verschlossen wie zuvor. Auch am Fenster war nichts zu sehen. »Komisch«, sagte der Stollentroll, »aber ich hätte schwören können, daß die Hexe ihre lange Nase durch die Tür gesteckt hat. Kähähä.« Ensel und Krete drehten sich wieder nach ihm um. Aber da war kein Stollentroll mehr. (EK 189)
Das Lachen des Trolls zeigt, dass er die Kinder zum Besten hält, und sein plötzliches Verschwinden deutet darauf hin, dass die Kinder zu halluzinieren beginnen. Der Erzähler Mythenmetz erwähnt Hexen erstmals in der ersten Mythenmetzschen Abschweifung, in der Mythenmetz von seiner Bibliothek erzählt. Das »Blutige Buch« (EK 40) sei ein lebensgefährliches Buch, von dem kaum mehr als ein Satz ohne gravierende psychische Folgeschäden gelesen werden könne. Seine blindlings nach Art des ›Bibelstechens‹ vorgenommene Suche fördert zufällig folgenden Satz, ein bekanntes zamonisches Sprichwort, zutage: »Hexen stehen immer zwischen Birken.« (EK 41) Nun, sehen wir der Sache ins Gesicht: Auch ich habe nicht die geringste Ahnung, was Hexen tatsächlich sind. Aber ich kann mich mit einem Mal Wort für Wort an das erinnern, was mir meine Mutter über Hexen gesagt hat, als ich ein kleiner Junge von fünfundvierzig Jahren war. Sie sagte folgendes: »Ich sage dir etwas über Hexen, mein Junge: Hexen stehen immer zwischen Birken. Frag mich nicht warum, aber es ist nun mal so. Ich hoffe, du wirst nie eine sehen, denn der Augenblick, in dem man eine Hexe sieht, ist der Augenblick des Todes – so sagt man. Man sagt auch, daß sie schwarz und groß sind und spitze Hüte tragen. Und solltest du tatsächlich einmal eine sehen, draußen im Wald, zwischen den Birken – was das Schicksal verhindern möge –, dann denk daran: Glaube nie, sie sei noch weit von dir entfernt – Hexen sind einem immer näher, als man denkt.« (EK 113)
Dieses Sprichwort führen auch die Kinder im Mund. Erzähler und Figuren, Erzählrahmen und Binnenhandlung sind dadurch verknüpft: »›Hexen stehen immer zwischen Birken‹, flüsterte Ensel. Das war eine dieser Weisheiten, die einem in der Kindheit von gleichaltrigen Freunden vermittelt wurden.« (EK 113). Als die Kinder auf Nachfrage angeben, die Hexe sei aus einem hohlen Baumstamm gekrochen, wendet der Stollentroll ein: »›Dann war es keine Hexe‹, winkte er ab. ›Hexen stehen immer zwischen Birken.‹« (EK 139) Am Ende der Binnenerzählung bestätigt sie sich: »Erst jetzt nahm er wahr, daß der Hexenpilz zwischen zwei Birken stand.« (EK 221) In Ensel und Krete spielen Mythen eine wichtige Rolle. Weltdeutung, Orien-
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tierung, Normen werden über sie vermittelt. Sie haben einen empirischen Kern, der mit Interpretationen und Erzählungen angereichert wird, die zu einem Narrativ verdichtet werden. Die Herkunft der Waldspinnenhexe und das Problem, sich ihrer zu entledigen, stehen im Zentrum dieses Mythos. Schon der Große Wald ist als mythenumwobener Ort eingeführt: Manche behaupten, der Wald sei von Pflanzengeistern und Blatthexen bewohnt, andere mutmaßen, daß er ein einziges zusammenhängendes bösartiges Wesen ist, dessen Wurzeln in die Hölle reichen und vom Gehörnten persönlich begossen werden. Woher diese Legenden stammen und auf welchem tatsächlichen Umstand sie beruhen, ist unbekannt. (KBB 211)
Der Mythos von der Waldspinnenhexe, der bereits in Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär (KBB 223 – 229) entworfen worden ist, wird in mehreren Teilen erzählt. Ensel erlebt eine pilzgiftinduzierte Vision, in der er sich als Meteor imaginiert, der in den Großen Wald stürzt (EK 129) und damit die Entstehung der Waldspinnenhexe herbeiführt. Ein großes, langbeiniges und bösartiges Wesen bewegte sich in Ensel und streckte die Glieder. Er spürte, wie es sich auf dem Grunde des Sees erhob und seine Beine (es waren acht) erprobte. Das Monstrum (es fühlte sich an wie ein Monstrum) wankte ein wenig hin und her, trat dann fest auf und stieg aus Ensel hinaus. Mit mächtigen Schritten erschütterte es den Boden, als es im Wald verschwand. (EK 128)
Der denkende Tümpel bestätigt und variiert diese Erzählung. »Ich weiß nur, daß etwas in mir drin war, viele Millionen Jahre lang. Gefroren. Tot, wie ich dachte. Aber als ich schmolz, wachte es wieder auf. Und ging in den Wald. Das ist alles, was ich weiß« (EK 130). Eine weitere Variante steuern die Sternenstauner bei: Ein Meteor. Er brachte das Monstrum in den Wald. Wir haben es nie gesehen, aber oft gehört: »Bromm! Bromm! Bromm!« Das waren seine Schritte, die den Waldboden erzittern ließen. So ging das lange, lange Zeit: »Bromm! Bromm! Bromm!« Keine Ahnung, was es da machte, aber vermutlich jagte es die Geschöpfe des Waldes. Nach und nach verließen sämtliche Tiere den Wald. Sogar die Insekten. Es wurde sehr still, abgesehen von den Schritten des Ungeheuers. Dann, eines Tages, hörte man auch die Schritte nicht mehr. Woraus wir schlossen, daß das Monstrum tot oder verschwunden war. Und siehe da: Die Tiere kamen zurück. Der Wald war wieder in Ordnung, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Und dann kamen die schwarzen Pilze. (EK 158 f.)
Auf diese Weise setzt sich der ätiologische Mythos zusammen. Er wird von mehreren Erzählern unabhängig voneinander weitergetragen. Allerdings spielt das halluzinogene Pilzgift hier eine nicht klar kalkulierbare Rolle.28 In der Er27 Ebenso bleiben die monströsen Gegenspieler in Die Stadt der Träumenden Bücher und Der Schrecksenmeister überwiegend ohne (vollständige) bildliche Darstellung (STB 348 u. 353 et passim, SM 22). 28 Vgl. dazu den Kommentar : »›Du warst mal ein Meteor?‹ Boris grinste breit. ›Und ich dachte,
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zählung der Sternenstauner kommt eine wichtige weitere Komponente ins Spiel, nämlich die Frage, wie man sich der Waldspinnenhexe entledigen könne. Ihre Entstehung ist eine Störung der Ordnung des Waldes, die wieder behoben werden muss. »Herrje«, seufzte der Sternenstauner, »muß ich wirklich so deutlich werden? Ihr seid das Opfer. Kindliche Unschuld oder sowas. Ich könnte mir vorstellen, daß irgend etwas hier im Wald ganz scharf darauf ist. Nennt es von mir aus ›die Hexe‹. Jugendliche Unschuld ist ein Geschenk, das selbst Hexen nicht herbeizaubern können.« »Die Hexe kann zaubern?« »Ich habe nicht gesagt, daß es eine Hexe ist. Und niemand kann zaubern. Für alles gibt es eine wissenschaftliche Erklärung. Aber hier ist etwas im Wald, das über mächtige, ungewöhnliche Kräfte verfügt. Kräfte, die noch nicht empirisch erfaßt wurden. Das macht sie rätselhaft, aber nicht zu Zauberei. Nun ja, dieses Etwas ist ganz versessen darauf, euch kennenzulernen. Soviel kann man wohl behaupten. Das sagen mir meine Träume.« Die beiden anderen Sternenstauner brummten zustimmend. »Ihr meint, wir sollen uns der Hexe opfern?« »Ich habe nicht gesagt, daß es eine Hexe ist.« »Egal, was es ist – wir sollen uns ihm ausliefern?« »Naja … wir könnten uns vorstellen, daß dann wieder Ruhe im Wald wäre. Daß dann wieder Champignons wachsen und so …« »Wir sollen uns opfern, damit ihr wieder Champignons essen könnt?« Der Sternenstauner überlegte zum ersten Mal in diesem Gespräch, was er als nächstes sagen sollte. »Komm, wir gehen!« rief Krete. »Die Geschöpfe dieses Teils des Waldes scheinen alle nicht richtig im Kopf zu sein.« (EK 160 f.)
Der Kommentar der Kinder entlarvt den Mythos als interessegeleitetes, ideologisches Konstrukt.29 Was im Wald wirklich vor sich geht, zeigt eine Episode: Ensel fand den sorgfältig getarnten Eingang einer Falltürspinnenhöhle und klopfte mit dem Stock daran. Die Tür flog auf, die Spinne platzte heraus und war offensichtlich enttäuscht, kein Insekt vorzufinden, das sie in ihre Höhle verschleppen konnte. Empört verschwand sie in ihrem Bau und knallte die Tür hinter sich zu. »Ja, dieser Wald ist voller Geheimnisse«, krächzte da eine Stimme, die nicht Krete gehörte. »Man kratzt ein bißchen an der Oberfläche, und die erstaunlichsten Dinge kommen zum Vorschein.« (EK 61)
ich wäre hier derjenige mit dem Dachschaden. Wenn wir hier heil rauskommen, mein Junge, müssen wir mal gemeinsam den Kopfdoktor aufsuchen‹« (EK 207). 29 Entsprechend fällt auch der Kommentar von Mythenmetz aus: »Es wird wahrscheinlich niemanden überraschen, daß ich meine eigene Meinung über die sittliche Reife von Sternenstaunern habe. Sie hatten Ukzilliarden Jahre Zeit zum Nachdenken – und alles, was ihnen einfällt, ist, zwei kleine Kinder ins Verderben zu schicken, damit sie sich an Champignons verlustieren können« (EK 162).
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Die kleine Episode mit der Spinnenfalle verdichtet die Märchenhandlung in einem emblematischen Bild. Nichts ist, so der Stollentroll, was es scheint; unter der Oberfläche lauert die Gefahr, gefressen zu werden und aus der Evolution auszuscheiden. Boris Boris bestätigt: »Ich vermute, daß sich unterhalb von Zamonien Dinge abspielen, die noch der Klärung bedürfen.« (EK 222) Permanent interpretierten Ensel und Krete ihre Wahrnehmungen falsch. Das gilt es umso mehr hier, weil die aus den Überresten der Waldspinnenhexe entstandenen Pilze die beiden in einen permanenten Drogenrausch versetzen. Sie halluzinieren einen Laubwolf, der ihnen offenbart, der Wald sei »im streng biologischen Sinne jedenfalls« »eigentlich gar kein Wald« (EK 79): »Der Wald hat Ohren, verstehst Du? Und nicht nur das. Er hat Augen. Er hat eine Seele. Und die ist schwarz. Noch schwärzer als meine.« (EK 80). Nahezu alle Wahrnehmungen der Fhernhachenkinder sind drogenbeeinflusst und der genaue Grad der Verzerrung lässt sich nicht bestimmen. Das Spektrum reicht von Halluzinationen – Laubwolf, Geheimförster, Prinz Kaltbluth (EK 104) – bis zu Fehldeutungen – die »Gestalt mit dem Hexenhut« (EK 121) ist Boris Boris. Dem Drogenrausch kommt aber eine wichtige konstruktive Seite zu. Er ist die Bedingung für die Offenbarungen, die ihnen den Mythos von der Entstehung der Waldspinnenhexe vermitteln. Zu Beginn der Binnenhandlung wird die Touristenattraktion Bauming als perfektes Idyll beschrieben. Der Erzähler weist aber darauf hin, dass zwar ein »Buntbär mit einer schmucken Waldhüterkappe auf dem Kopf« »den Besucher mit einem vielzähnigen Lächeln« (EK 11) begrüße, dessen Zähne aber sagten: Sieh nur, ich bin dir freundlich gesinnt, denn ich lächle! Aber beachte bitte auch, wie viele gesunde, lange und scharfe Zähne ich habe, denn trotz meines freundlichen Lächelns: Ich bin immer noch ein Bär. Und ich bin ein Bär, der einiges mitgemacht hat in seinem Leben, denn unser Volk wurde vor langer Zeit verschleppt und versklavt, und wir Buntbären sind seitdem etwas empfindlich, wenn uns jemand zu nahe tritt. Also: Wenn du gekommen bist, um hier Ärger zu machen, dann wirf bitte noch einmal einen aufmerksamen Blick auf mein Gebiß und beachte bei dieser Gelegenheit auch meine wohlgeschärften Krallen. Ansonsten: Wenn du gekommen bist, um Ruhe, Zerstreuung und Eintracht zu finden – dann nur hereinspaziert! (EK 11 f.)
Hinter dem friedlichen Idyll lauert Gefahr, die immer mitzudenken ist, wenn Bauming als »lebendiges Sinnbild der Harmonie vor dem beruhigenden Hintergrund des grünen Waldes« (EK 22) gepriesen wird. Die Kultivierung des Großen Waldes täuscht darüber nur hinweg. Mythenmetz beginnt seine Erzählung mit Charakterisierungen der Buntbären von Bauming, die das Ferienidyll verdächtig machen, seine Unterminiertheit behaupten. Dass sich tatsächlich unter der schönen Oberfläche Schlimmes verbirgt, erläutert er in einer Digression:
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Lassen Sie mich lieber noch etwas über die gesellschaftliche Situation in Bauming sagen: Ich bin der Meinung, daß es sich da um ein zunehmend totalitärer werdendes System handelt. […] Hinter einer derart hysterisch polierten Idylle lungert gewöhnlich das Grauen. Bitte denken Sie in Zukunft mal ein bißchen über die gesellschaftliche Situation nach, bevor Sie sich wieder von weltfremden Märchen einlullen lassen. (EK 46)
Diese ideologiekritische Verdächtigung wird erhoben, ohne dass sie sachlich begründet würde. Ein konkreter Anlass zu solcher Annahme ist nicht zu erkennen. Es handelt sich um einen vom Autor selbst behaupteten »gesellschaftlichen Subtext« (EK 65) seines Märchens, den die Anwesenheit eines Stollentrolls im Wald belegen soll. »Wenn ein Stollentroll in den Wald schlüpfen konnte, warum nicht auch andere, wesentlich gefährlichere Subjekte?« (EK 65) Was soll das aufgeblasene Getue mit den Wachhäuschen an der östlichen Grenze des Waldes, wenn sich an der westlichen die Stollentrolle tummeln? Hören Sie das? Dieses dünne unheilverkündende Knacken? Nein, das ist kein morsches Geäst, das von Borkenkäfern bearbeitet wird. Das sind die ersten feinen Haarrisse, die durch das Bauminger Sicherheitssystem gehen. (EK 65 f.)
Das stärkste Argument liefert das Auftauchen des Laubwolfs: »Was war das für eine Geschichte mit dieser angeblichen Harmonie und Naturidylle im Buntbärwald, wenn sich da Laubwölfe herumtreiben konnten?« (EK 72) Den Kulminationspunkt stellt schließlich die Entdeckung der Geheimförsterei dar : Die Geheimförster waren also so etwas wie die politische Polizei des Buntbärwaldes. […] So sehr ich die Rettung von Ensel und Krete begrüße, ich bin weit davon entfernt, die Existenz einer Geheimpolizei im Buntbärwald gutzuheißen. Man kann ja keinen Spaziergang im Wald mehr machen, ohne sich bespitzelt zu fühlen! Ist das da ein Gebüsch, oder ist es ein Geheimpolizist? Ist es ein Baum oder ein Scherge der Forstverwaltung? Kriege ich einen Pfeil zwischen die Augen, wenn ich aus Versehen neben den Weg trete oder eine unter Schutz stehende Blume pflücke? Werde ich verhaftet, wenn ich auf einen Bären trete, der sich als Waldboden tarnt? Und schließlich: Was sind das für Typen, deren Existenz darin besteht, durch den Wald zu schleichen oder zu tun, als wären sie ein Ameisenhaufen? Würden Sie so jemanden mit Pfeil und Bogen und der Lizenz zum Töten ausstatten? Und wenn das, was sie tun, angeblich so moralisch unzweifelhaft ist, warum sind sie so ängstlich bemüht, den Mantel der Verschwiegenheit darüber auszubreiten? Nur ein paar Fragen am Rande. (EK 94)
In der Binnenhandlung verabschiedet sich der Geheimförster von den geretteten Kindern mit den passenden Wörtern: »Unsere Mission ist beendet. Und denkt immer daran: Mich gibt es nicht. Zwei und Drei hat es nie gegeben. So etwas wie Geheimförster sind Ausgeburten einer kranken Phantasie.« (EK 94) Damit scheint der faschistoide Charakter Baumings erwiesen, das Buntbä-
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renidyll ideologiekritisch entlarvt.30 Allerdings erweisen sich alle Erzählungen seit dem Abschied vom Stollentroll in der Binnenhandlung als Halluzinationen: Es gibt weder Laubwolf noch Geheimförster. Damit wird aber auch der gesellschaftliche Subtext in der Binnenhandlung fragwürdig; er verliert seine kausale Verknüpfung mit der Handlung. Mit dem Erwachen der Kinder aus dem ersten Pilzrausch ist denn auch davon keine Rede mehr. Mythenmetz denunziert den Freizeitpark der Buntbären als totalitäres System. Die Überzeugung von der grundsätzlichen Unterminiertheit Zamoniens ist eine fixe Idee. Der Hut der Waldspinnenhexe, der den betreffenden Teil des Großen Waldes verpestet hat, sei der Grund, »der die Buntbären veranlaßte, Bauming vom übrigen Wald so ängstlich abzugrenzen und ihr paranoides Sicherheitssystem zu errichten« (EK 107). Die Erlebnisse der Kinder im ungesicherten Teil des Waldes zeigen aber gerade, dass die Sicherheitsvorkehrungen sinnvoll und berechtigt sind. Mythos gegen Mythos: Mythenmetz hat den Mythos von der Entstehung der Waldspinnenhexe und seine problematischen Folgen aufgeklärt und entmystifiziert, dafür aber im Gegenzug seinerseits einen aufklärerisch gemeinten paranoiden Mythos von einer doppelten Welt, deren schöne Oberfläche das Grauen verschleiert, in die Welt gesetzt. Der Mythenmetz ist ein Metzler, aber auch analog zum Steinmetz ein Bearbeiter von Mythen. »Schriftsteller sind, abgesehen von Politikern, die besten Lügner.« (KBB 534) Käpt’n Blaubär weiß, wovon er spricht. Im Nachwort von Ensel und Krete hebt der Übersetzer die Unzuverlässigkeit seines Autors hervor : Mythenmetz war ein Meister darin, seine Lebensumstände zu verschleiern, zu glorifizieren, zu fälschen oder gar zu leugnen. Es ist schwierig, den Weizen der verbürgten Informationen von der Spreu der Gerüchte, gefälschten Tagebücher und Urkunden, der Legenden und üblen Nachreden zu trennen. (EK 229)
Moers ist ein Bewunderer des Genies von Mythenmetz, andererseits aber sieht er ihn kritisch (vgl. EK 167). Insbesondere in den Fußnoten des Nachworts wird das deutlich, wo mit Vorliebe Schriften zitiert werden, die Mythenmetz kritisch gegenüberstehen: »Der Brief als Spiegel – Primärer Narzißmus und archaische Grandiosität in den Selbstbriefen des jungen Hildegunst von Mythenmetz« (EK 230), »Der verheerende Einfluß des Erfolgs von Hildegunst von Mythenmetz auf das Gesamtwerk von Horken Smö« (EK 234), »Der wohlgenährte Hungerkünstler – Der Widerspruch zwischen Dichtung und Realität in der Selbstdarstellung des Hildegunst von Mythenmetz« (EK 238), »Arroganz als Stilmittel in Leben und Werk des Hildegunst von Mythenmetz« (EK 240), »Der Lügner von Yhúll« (EK 253). 30 Vgl. hierzu den Beitrag von Gerrit Lembke »›Der Große Ompel‹. Kartographie und Topographie in den Romanen Walter Moers’« im vorliegenden Band.
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Mythenmetz ist als Erzähler zweifelhaft;31 er zeigt einen Hang zum Größenwahn, beansprucht als genialer Schöpfer die vollständige Verfügungsgewalt über seinen Text, die er später vor allem am Ende zur Schau stellt: jetzt möchten Sie sicher wissen, warum ich nur noch »Brummli« schreibe, statt mit der Handlung fortzufahren, stimmt’s? Ich sage Ihnen warum: Darum! Künstlerische Freiheit! Schiere Willkür! Avantgarde! […] Ich kann soviel »Brummli« schreiben, wie es mir paßt, und Sie müssen es lesen, wenn Sie wissen wollen, wie es weitergeht (EK 55).
Entsprechend inszeniert er auch das glückliche Ende des Märchens. Mythenmetz nimmt in Kauf, dass seine Autorschaft dem Leser die Erfahrung vermittelt, »wie so ein totalitäres System funktioniert. Obwohl die Mehrheit der Leser dem Fluß der Geschichte zu folgen wünscht, schaltet sich eine übergeordnete, nicht durch freie Wahlen legitimierte Macht ein« (EK 56). Sein »Machtmißbrauch« (EK 57) soll aufklärerischen Zwecken dienen, bleibt aber Machtmissbrauch, auch wenn er ihn als solchen offen legt, ja wird gerade dadurch noch gesteigert. »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.«32 Der Autor stellt seine Souveränität gerade durch den Hinweis auf ihre Beschädigung her. Die Apotheose seines Größenwahns ist die so genannte Mythenmetzsche Phantasmik (vgl. EK 250 – 252), die – ironisch bezogen auf den realen Autor Moers – allerdings sehr genau die Entstehungsbedingungen Zamoniens beschreibt: »Die Welt, so schlußfolgerte Mythenmetz, sei nicht den Gesetzen der Nachtigallerschen Philophysik unterworfen, sondern denen der Poesie und Imagination: Ich werde gedacht, also bin ich! war der trotzige Kernsatz seiner Theorie.« (EK 251)
Literaturverzeichnis Primärliteratur [anonym:] Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. In: Deutsche Volkslieder. 280 ausgewählte Liedtexte. Hg. v. Bernd Pachnicke. 9. Aufl. Leipzig 1981, S. 74. Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. Nürnberg 1814. Grimm, Jacob u. Wilhelm: Hänsel und Grethel [ED 1812]. In: Kinder- und Hausmärchen 31 Vgl. Lars Korten: In 1312 Leben um die Welt. Walter Moers’ Zamonien global und regional betrachtet. In: Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Hg. v. Martin Hellström u. Edgar Platen. München 2008 (Perspektiven. Nordeuropäische Studien zur deutschsprachigen Literatur und Kultur 4), S. 53 – 62, hier S. 55 ff. 32 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel von der Souveränität. 5. Aufl. Berlin 1990, S. 11.
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Hans-Edwin Friedrich
gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hg. v. Heinz Rölleke. Frankfurt a. M. 1999, S. 86 – 92. Grimm, Jacob u. Wilhelm: Hänsel und Gretel. In: dies.: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Hg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart 2009, S. 96 – 104, hier S. 104. Moers, Walter: Ensel und Kretel. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 2000. Moers, Walter: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des »Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 1999. Moers, Walter: Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers. München 2007. Perrault, Charles: Le Petit Chaperon rouge [ED 1697]. In: ders.: Contes. Paris 2007, S. 141 – 145. Poe, Edgar Allan: Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket. New York 1838.
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Zu Ensel und Krete von Walter Moers
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Nüchtern, Klaus: Mein Zielpublikum bin ich. Interview mit Walter Moers. In: Falter. 24. März 2003. Paukstadt, Bernhard: Paradigmen der Erzähltheorie. Ein methodengeschichtlicher Forschungsbericht mit einer Einführung in Schemakonstitution und Moral des Märchenerzählens. Freiburg i. Br. 1980 (Hochschulsammlung Philosophie. Literaturwissenschaft 6). Platthaus, Andreas: Moers trifft Mythenmetz. Natürlich bleibt Ihr Buch ein Schmarrn. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 4. Oktober 2007. Propp, Vladimir : Morphologie des Märchens. Übers. v. Christel Wendt. München 1972. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit. 4. Aufl. Wiesbaden 1979. Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart 2004. Scherf, Walter : Hänsel und Gretel. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Rolf Wilhelm Brednich [u. a.]. Bd. 6. Berlin/New York 1990, S. 498 – 509. Scherf, Walter : Hänsel und Gretel. In: ders.: Das Märchenlexikon. Bd. 1. München 1995, S. 548 – 554. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel von der Souveränität. 5. Aufl. Berlin 1990. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Übers. v. Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur. Frankfurt a. M. 1992. Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. Berlin/New York 2008.
Ninon Franziska Thiem
Auf Abwegen. Von (para-)textuellen Abschweifungen in Walter Moers’ Ensel und Krete
Die Erzählung Ensel und Krete ist auf vielfache Weise ein Paradebeispiel für verschiedenste Abwege, die eine Versuchung der Erzählinstanz für den Leser darstellen, um ihm vom geraden Weg der Lektüre abzubringen. Durch sichtbare Hinweise und versteckte Finten meint man, ein heimtückisches ›Kähähä‹ des Strollentrolls zu hören, der den Leser, statt ihn auf den richtigen Weg zurückzuführen, noch tiefer in das textuelle Dickicht des Großen (Buchstaben-)Waldes schickt. Im vorliegenden Aufsatz soll es um diese Abschweifungen gehen, die analysiert und zum Wohl des Lesers mit Warnschildern versehen werden, je nach Grad ihrer potentiellen Gefahr. Auf diese Weise wird hier dem Rezipienten quasi eine Liste mit den Gefahren einer zamonischen Lektüre, mit möglichen Abwegen, an die Hand gegeben – ganz im Stile der Buntbären, die ihr ausgeklügeltes Wegenetz ebenso ausgeschildert haben, damit ihre Besucher auf dem rechten Pfad bleiben. Sollte er sich dennoch verirren und hat seine Notorchidee nicht dabei, trägt die Verfasserin keinerlei Verantwortung für sein Schicksal. Schließlich wurden auch Ensel und Krete gewarnt: Es ist vollkommen gleichgültig, in welche Richtung ihr geht. Der Wald wird mit euch wachsen und euch immer wieder im Kreis führen, bis ihr wieder dahin kommt, wo ihr hergekommen seid. Ihr befindet euch in einem lebendigen Labyrinth. Es gibt keinen Weg hinaus. Es geht nur immer tiefer hinein. Tut mir leid, euch nichts Besseres mitteilen zu können. (EK 157 f.)
Also, auf in den Großen Wald!
(Para-)Textuelle Abwege Bevor diese Abwege im Einzelnen aufgedeckt werden können, soll zunächst eine Erläuterung des Begriffs ›Paratext‹ erfolgen. Als ›Paratext‹ bezeichnet man textuelle Einheiten, die außerhalb des Textkörpers, beziehungsweise an der
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Schwelle zu ihm stehen. Diese Vor(r)an(g)stellung im Falle von Überschriften und Motti oder auch Nachstellung in Form von Fußnoten setzt die Relation zwischen Haupt- und Paratext unter Spannung. G¤rard Genette weist in Paratexte darauf hin, dass – wie Joseph Hillis Miller in seinem Aufsatz The Critic as Host feststellt – die griechische Vorsilbe ›para‹ antithetisch ist und in sich schon das Spannungsfeld von Nähe und Entfernung, Innerlichkeit und Äußerlichkeit trägt.1 »A thing in ›para‹, moreover, is not only simultaneously on both sides of the boundary line between inside and out. It is also the boundary itself, the screen which is a permeable membrane connecting inside and outside.«2 Sie vereint nicht nur die Gegensätze, sondern betont auch die Grenze, die zwischen ›innen‹ und ›außen‹ steht. Genette verwendet als Titel der französischen Originalausgabe die Bezeichnung ›seuil‹ (frz. ›Schwelle‹), wodurch der Raum zwischen Paratext und eigentlichem Textgefüge als Übergang interpretiert wird. Denn die Grenze zwischen beiden ist nicht so deutlich abgesteckt, wie es sich auf den ersten Blick annehmen lässt: »Diese Anhängsel, die ja immer einen auktorialen oder vom Autor mehr oder weniger legitimierten Kommentar enthalten, bilden zwischen Text und Nicht-Text nicht bloß eine Zone des Übergangs, sondern der Transaktion«3. Es findet ein gegenseitiger Austausch statt, so dass beide Entitäten ineinander eindringen, aufeinander einwirken und sie nur durch das Bestehen der Grenze zwischen ihnen eine Einheit bilden und auf diese Weise – im Sinne eines Paradigmas – ihr Bestehen schützen. Genau dieses Oszillieren zwischen verschiedenen Zuordnungen zeichnet Paratexte aus. Genette verweist auf den funktionalen Charakter der Paratexte, der diese vor dem sie umfassenden textuellen Körper zurücktreten und – vermeintlich – an Bedeutung verlieren lässt. Da ihre Funktionen nur oberflächlich eindeutig sind, spielen sie in Ensel und Krete eine ganz besondere Rolle, so dass nun eine Analyse des Titels, der Karten, Prof. Dr. Abdul Nachtigallers »Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder«, der Anmerkungen des Übersetzers und abschließend der Mythenmetzschen Abschweifungen erfolgt. Die griechische Vorsilbe ›para‹ sowie deren Einklammerung im Titel des vorliegenden Aufsatzes soll darauf hinweisen, dass bei den hier im Vordergrund stehenden Textelementen nicht immer eindeutig zuschreibbar ist, ob sie nun zum Text gehören oder außerhalb dessen stehen. Zwar sind die Mythenmetzschen Abschweifungen Bestandteil des Textkörpers, gehören aber (meist) nicht zur Handlung des Märchens; sie grenzen sich durch die Wahl einer anderen 1 Vgl. G¤rard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2001, S. 9. 2 Joseph Hillis Miller : The Critic as Host. In: Harold Bloom [u. a.]: Deconstruction and Criticism. New York 1979, S. 217 – 253, hier S. 219. 3 Genette 2001, S. 10.
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Schriftart ab und funktionieren ähnlich einer Parekbase4, indem sie eine weitere Stimme einführen, die sich an den Leser wendet. Die Auszüge aus dem Lexikon Nachtigallers stehen ebenso außerhalb des Textes wie auch die Anmerkungen des Übersetzers. Eine Analyse dieser Elemente ist wichtig, da sie sich zwar formal und strukturell eindeutig vom Haupttext abgrenzen, aber dennoch auf unterschiedliche Weise auf ihn rekurrieren und auf ihn einwirken.
Titel Der Titel steht an exponierter Stelle, aber außerhalb des Textes: Er geht ihm voran, denn der Leser findet ihn auf Buchumschlag, Buchrücken und Titelblatt. Er steht synekdochisch als dessen pars pro toto für den Roman. Der Titel führt von Beginn an zum Werk hin, wird zum Prüfstein des Lesers auf dem Weg zu ihm und ist die Schwelle (›seuil‹), die überwunden werden muss, um zum eigentlichen Text zu gelangen. In Ensel und Krete findet sich eine ganze Reihe von Verweisen auf verschiedene Autorinstanzen. Nicht nur, dass der Leser durch den Titel unwillkürlich an das Märchen Hänsel und Gretel (1812) der Brüder Grimm bzw. Ludwig Bechsteins erinnert wird,5 so wird dessen Rezeptions- und Bearbeitungsgeschichte in den folgenden Angaben gespiegelt. Unter der Titelangabe des Romans von Moers nennt das Titelblatt Textgattung und Verfasser : »Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz« (EK 3). Da hier mit dem fiktiven Mythenmetz ein anderer Autor genannt wird als auf dem Buchrücken – wo als realer Autor Walter Moers erscheint – nimmt das Verwirrspiel der fiktiven Autor- und Herausgeberschaft hier seinen Anfang, denn (ein fiktiver) Walter Moers ist es hier, der den Text aus »dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen« hat (EK 3).6 Hinzu kommt der Verweis auf eine dritte Instanz, die an der Entstehung mitgewirkt hat: »Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller« (EK 3). Nicht nur, dass an dieser Stelle (noch) nicht deutlich wird, was mit der ›Übertragung‹ des Märchens gemeint ist, schließlich ist das Wort ›Übersetzung‹ 4 ›Parekbase‹, ›Parekbasis‹ oder ›Parabase‹ bedeutet ›Abschweifung‹ und stammt ursprünglich aus dem Theater, in dem der Chor oder später ein Schauspieler ›aus der Rolle fällt‹ und sich direkt an das Publikum wendet, um es in die Handlung mit einzubeziehen. Vgl. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8. Aufl. Stuttgart 2001, S. 654 f. bzw. 659. 5 Vgl. hierzu den Beitrag von Hans-Edwin Friedrich im vorliegenden Band. 6 Zu den Erzähler-, Autor- und Herausgeberfiktionen vgl. den Beitrag von Ingo Irsigler im vorliegenden Band.
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gebräuchlicher, wird auch nicht erläutert, welche Instanz denn nun die Auszüge aus Nachtigallers Lexikon hinzugefügt hat: Geht die Implementierung der zum Teil längeren Passagen auf den fiktiven Verfasser Hildegunst von Mythenmetz, den fiktiven Übersetzer Walter Moers oder aber gar Abdul Nachtigaller selbst zurück? Weiterhin steht die Wahl des Titels im Vordergrund, der – wie oben bereits erläutert – Erwartungen durch seine Nähe zu dem bekannten Märchen der Brüder Grimm schürt. Der intertextuelle Bezug auf Hänsel und Gretel fordert zunächst einen bestimmten Handlungsverlauf ein, in dem zwei junge Protagonisten unterschiedlichen Geschlechts von ihren Eltern ausgesetzt werden, sich im (großen) Wald verlaufen, von einer hungrigen Hexe mit kannibalischen Gelüsten, die in einer – wie auch immer – essbaren Unterkunft lebt, bedroht werden, woraus sie sich mit einer List befreien müssen, um schließlich glücklich heimkehren zu dürfen. Dieser Vorerwartung folgt ein erstes unheimliches Gefühl auf dem Fuß, schließlich variiert der Titel die Namen des Protagonistenpärchens in Ensel und Krete. Dem Namen des Jungen kann ein französischer Einfluss im Weglassen des ›h‹ und der Ersetzung des Umlauts ›ä‹ durch ein ›e‹ nachgesagt werden. Das ›e‹ ist der wichtigste Vokal in der französischen Sprache, was George Perec in seinem Roman La Disparition (1969) dazu veranlasste, eben diesen konsequent auszusparen, um auf einen Mangel hinzuweisen. Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm schreibt hierzu folgendes: »E, ein unursprünglicher, darum auch schwankender, unbestimmter vocal, der in unsrer sprache allzusehr um sich gegriffen hat […]. solche eintönigkeit ist kaum in andern zungen möglich, war auch der deutschen ehmals fremd.«7 Das ›e‹ als Hexenhutpilz des (großen) Text(wald)es? Schließlich sind diese eukaryotischen Lebewesen genauso fremd und weisen eine ähnliche Verbreitung auf (EK 107). Im Gegensatz zu Perec wird hier kein Mangel offenbart, sondern eine Art Invasion offengelegt. Die schriftliche und lautliche Variation des zamonischen Titels gegenüber dem Original der Brüder Grimm ist nicht die einzige Modifikation, sondern weist nur synekdochisch auf die tiefgreifenderen Veränderungen des Märchenstoffes hin. In der ersten Mythenmetzschen Abschweifung wird genau mit dieser Art der Intertextualität gespielt, just in dem Moment, als konstatiert wird, dass die beiden Protagonisten sich im Wald verlaufen haben: Nun, bis zu dieser Stelle wird Ihnen dieses zamonische Märchen bekannt vorgekommen sein, nicht wahr? Oder zumindest das gleichnamige Kinderlied: Ensel und Krete, die gingen in den Wald … Nur die leicht modernisierte Fassung, die Sache mit dem 7 Jacob u. Wilhelm Grimm: e. In: dies.: Deutsches Wörterbuch. Hg. v. Ludwig Erich Schmitt. Bd. 3. Hildesheim 2003, S. 1 f., hier S. 1.
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Buntbärwald, hat Sie bei der Stange gehalten, stimmt’s? Tja, das war ein kleiner professioneller Trick, um Sie dazu zu veranlassen, bis hierhin durchzuhalten – wenn Sie diesen Satz lesen, sind Sie darauf reingefallen. (EK 34)
Somit öffnen sich hier bereits mehrere Abwege: zunächst der des intertextuellen Verweises, der ebenso Nähe suggeriert wie Distanz herstellt. Diese Distanz besteht zum einen zum fiktiv-zamonischen Original Hildegunsts, das nicht mehr verfügbar ist, sondern nur in der Übertragung eines fiktiven Walter Moers vorliegt. Zum anderen markiert der Titel seine Distanz zum realen Prätext der Brüder Grimm und Ludwig Bechsteins in der schriftlich-lautlichen Variation der Protagonistennamen. Da der werte Leser bereits dem ersten Abweg – in Form des irreführenden Titels – erlegen ist, bleibt ihm nun nichts anderes übrig, als neugierig bis zur nächsten Abzweigung mitzukommen. Der nächste Halt ist das Motto, das aus Hildegunsts Dichtung Der Große Wald stammt (EK 7).
Motto G¤rard Genette betitelt dieses Kapitel seines Buches Seuils im Original mit »Ãpigraphes«.8 Er rekurriert mit dem Begriff auf deren ursprüngliche Bezeichnung einer antiken Inschrift, die sich im Laufe der Zeit auch als Begriff für das Motto eines Textes etabliert hat, das seinen Platz in der Regel zwischen Titel bzw. Kapitelbenennung und eigentlichem Text hat. Das Motto stellt also neben dem Titel eine weitere Schwelle auf dem Weg zum Text dar. Es handelt sich um ein Zitat aus einem externen Kontext und wird durch seine Position mit dem Text in Verbindung gebracht: »›en exergue‹ signifie litt¤ralement hors d’œuvre, ce qui est un peu trop dire: l’exergue est ici plutút un bord d’œuvre, g¤n¤ralement au plus prºs du texte«.9 Aus erzähltechnischer Perspektive stellen diese Textteile ein Problem dar, da sie als allographe Zitate einerseits auf eine fremde Stimme verweisen, aber andererseits in ihrer Position – auf der Schwelle zum Text – uneindeutig sind. Es bleibt immer offen, welche Instanz die Motti integriert, denn die Erzählerstimme existiert (meist) nur innerhalb des deutlich abgegrenzten Schriftkorpus und übertritt die Schwelle in den externen Raum jenseits der Erzählung nicht. Genette bezeichnet das Motto als stumme Geste, deren Interpretation dem 8 Genette 2001, S. 141 – 156. 9 Ders.: Seuils. Paris 1987, S. 134. Da dieser Teil in der deutschen Übersetzung von Dieter Hornig ausgespart wurde, folgt hier eine eigene Übersetzung: »›Herausgestellt‹ bedeutet sprichwörtlich außerhalb des Werkes, was ein wenig zuviel gesagt ist: Die Inschrift (das Herausgestellte) ist hier vielmehr am Rand des Werkes, überwiegend in großer Nähe zum Text.«
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Leser obliegt, da ihm keine Erläuterung vorausgeht oder auch keine folgt.10 Das fehlende Sprachvermögen bezieht sich folglich auf den leeren Raum, der um ihn durch die graphische Abgrenzung beziehungsweise innerhalb des weißen Raums bis zum Beginn des Textkörpers herrscht. Ensel und Krete beginnt mit einem Auszug aus einem Gedichtzyklus namens »Der Große Wald« aus der Feder Hildegunsts, dessen Erster Gesang wiedergegeben wird: Kaum hatt’ mein Leben ich begonnen, Befand ich mich in einem finstren Wald, Da ich vom rechten Wege abgekommen. Wie quälend, zu beschreiben die Gestalt Der hohen, wilden, bösen Waldeshallen, Die, denk ich dran, erneu’n der Furcht Gewalt. Zu nah war’n mir des Todes Krallen, Des Guten wegen, das er mir erwies, Bericht ich, was im Walde vorgefallen. (EK 7)
Der Gesang besteht aus drei Strophen zu je drei Versen, die aus neun bis elf Silben bestehen, und hat einen regelmäßigen vier- bzw. fünfhebigen Jambus als Metrum. Das Reimschema der drei Terzette (aba bcb cdc) ist ein für die strophische Gestaltung typischer Kettenreim. Die strukturellen Regelmäßigkeiten interagieren mit dem thematischen Leitmotiv des Abweges. So entsteht zwischen einer stark durchkomponierten Form und einem konträren Inhalt eine Spannung, die nicht ohne weiteres aufzulösen ist. Jedoch offeriert das Gedicht eine Lösung, denn obwohl das lyrische Ich »vom rechten Wege abgekommen« ist und Qualen beim Beschreiben von des »Todes Krallen« aussteht, kann es vom »Guten, das er mir erwies«, berichten, »was im Walde vorgefallen«. So furchterregend der Wald auch ist, und so quälend das Erzählen davon, so wird das Abkommen vom »rechten Wege« als positive Bedingung für das erfahrene ›Gute‹ interpretiert.11 Anders formuliert: Furchterregende Irrwege ermöglichen gute Erzählungen (»Bericht’ ich«) und stellen sie somit als Vorbedingung für literarisches Schaffen dar. Der Wald wird somit zum Lehrmeister des Schriftstellers, der die Grundtugenden des Dichters (Furcht, Mut, Vorstellungskraft, Orm, Verzweiflung, Verlogenheit und Gesetzlosigkeit, EK 36 f.) vermittelt. Da es jedoch fraglich ist, dass angehende Poeten aktiv eigene 10 Vgl. ders. 2001, S. 152. 11 Vgl. zur Semantisierung der Wege und Räume den Beitrag von Gerrit Lembke »›Der Große Ompel‹. Kartographie und Topographie in den Romanen Walter Moers’« im vorliegenden Band.
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Erfahrungen im Wald sammeln, steht der hier angesprochene Wald als Allegorie für das Verfassen eines Romans, der selbst als Prüfstein auf dem Weg zum professionellen Schreiber gilt. Dass hierbei gerade Abwege kreatives Potential bieten, wird im folgenden Roman bewiesen. Das Motto führt folglich bereits synekdochisch in eine der möglichen Erkenntnisse des Textes ein. Es bereitet den Leser auf das zu Erwartende vor. Spannend ist der strikte strukturelle Rahmen, aus dem es trotz einer inhaltlich abweichenden Thematik kein Entkommen zu geben scheint.
Karten Ensel und Krete beinhaltet drei physische Karten. Die erste (EKvorderer Vorsatz) zeigt den Großen Wald sowie dessen Umgebung und verortet Bauming als Region des Waldes, der von den Finsterbergen, Ornien, der Bärenbucht, Blutschinkien und dem Quelltal eingegrenzt wird. Die zweite Karte zeigt eine Übersicht Zamoniens und der näheren Umgebung (EK hinterer Vorsatz), die dritte ist eine in Erläuterungen der einzelnen Orte eingebundene Ansicht der Region Bauming und seiner Ortschaften (EK 14 f.). Die ersten beiden werden im Märchen nicht explizit kommentiert, formen aber visuell die Vorstellung des Lesers von Zamonien und wirken so als Paratext auf die Lektüre ein. Innerhalb der Handlung wird die regionale Karte thematisiert, als Ensel mit einem Stock in einem schwarzen Tümpel herumstochert, der sich als Überbleibsel eines Meteors herausstellt und mit dem er eine mentale Verbindung eingeht. Dabei wird er in seiner Imagination in das Weltall hinausgeworfen und nimmt die Sicht des Meteors ein, der auf den Planeten stürzt: Das war Zamonien, so wie er es im Erdkundeunterricht gelernt hatte. Links die Tatzeninsel, rechts die nördlichen und östlichen Nattifftoffen, in der Mitte ein großes Wüstengebiet – unverkennbar. Und Ensel stürzte immer schneller, wie ihm schien. Jetzt konnte er die Umrisse eines riesigen Forstes erkennen. Es war der Große Wald, ganz deutlich zu identifizieren, genau so wie er auf den Karten der Buntbären abgebildet war. (EK 126 f.)
An dieser Stelle wird nicht nur imaginär die Grenze des Planeten überschritten und die Trennung zwischen Körper und Geist aufgehoben, sondern auch die Abgrenzung zwischen Paratext und Märchen. Indem sich hier auf die einzelnen Landkarten bezogen wird, entsteht ein Zwischenraum, in dem die beiden Medien miteinander verschmelzen, um die Visualisierung einer Imagination zu schaffen. Dass die Vorstellung von Zamonien nicht dem Zufall überlassen wird, sondern die Karten den Text begleiten, ist als Strategie der Leserlenkung zu betrachten. Obwohl Ensel in diesem Moment etwas erlebt, das seinen Horizont
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bemerkenswert erweitert, auch wenn ihm das von seiner Schwester und dem Stollentroll nicht geglaubt wird, verdeutlicht sich im selben Augenblick seine Abhängigkeit in jeder der beiden Welten, zwischen denen er sich gerade bewegt. Die Erfahrung im Weltraum gehört nicht zu ihm, vielmehr durchlebt er dies in der Erinnerung des Meteors, dessen Stimme ihn gern weiterhin durch ein »Bleib doch!« (EK 128) zum Verweilen hätte einladen und mit dem Versprechen von Raumschiffen hatte ködern wollen. Durch Krete wird er aber wieder zurückgeholt, denn sie verbildlicht seine Verbindung zu Zamonien und letztlich auch zu seinem Körper, indem sie Ensel mithilfe des Strollentrolls mit beidem wieder vereint und vor dem Beschreiten eines weiteren Abweges bewahrt. Dies gilt jedoch für beide Seiten, denn als zu einem späteren Zeitpunkt »Krete einen energischen Schritt nach vorn ins hohe Gras« (EK 168) tut, landet sie im Treibgras. Ensel rettet sie mithilfe einer Orchidee zunächst vor dem Ertrinken und dann dem Tod durch eine Halmmuräne. »›Siehst du wohl!‹ tadelte Ensel mit erhobenem Zeigefinger. ›Nicht jeder Schritt ist ein Schritt in die richtige Richtung.‹« (EK 176) So wird deutlich, dass Abwege prinzipiell vorher gut überlegt und geprüft werden müssen. Jedoch bringt gerade dieser Abweg Kretes die beiden wieder auf den richtigen Weg. Der von mir eingangs zitierte Kommentar der Sternenstauner, dass der Wald mit Ensel und Krete wachse und es aus dem lebendigen Labyrinth keinen Ausweg gebe, wird insofern hilfreich, als dass sich die Orchidee als Dank für ihre Rettung Kretes einen neuen Standort aussuchen darf. Nicht nur, dass sie auf diese Weise den Zauber der Fortbewegung kennenlernt, sie führt die Geschwister auch »immer weiter in Gefilde, in denen vertraute Waldflora wuchs« (EK 177). Auf diese Weise beschleunigt die Orchidee die Handlung, da sie sich direkt im Garten der Hexe eingraben lässt. Dennoch sorgt sie auch dort für eine Rettung, indem sie den Buntbären Boris Boris aus dem Hexenhutpilz befreit. Spannend ist, dass die zamonische Makrokarte nicht nur einen Titel – »Zamonien und seine nähere Umgebung« – trägt, sondern auch den parenthetischen Zusatz »in leicht vereinfachter Darstellung« (EK hinterer Vorsatz). Diese Vereinfachung wird ausgespielt. Die Aussage des Soziologen Michel de Certeau »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht«12 wird hier umgesetzt, denn durch die Reise Ensels in das All, das beinah erfolgreiche Untergehen Kretes und die Bewegung der Orchidee wird der zweidimensionale Raum der Karte gesprengt. Durch das Fliegen, Schwimmen und Gehen, deren Bewegungen immer in Verbindung mit Lebewesen des Waldes stehen, wird der Raum dreidimensional erfahrbar. Das Aufweichen von Grenzen, das hier auf auch auf mediale Weise erfolgt, indem Text und Karte ineinander aufgehen und eine gemeinsame Illusion her12 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Übers. v. Ronald Voulli¤. Berlin 1988, S. 218.
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stellen, ist folglich ebenso ein Aspekt der Abwege. Die Begrenztheit und Eindeutigkeit einer Karte, sollte man sich auf sie verlassen, ist ein Irrweg. Die Ausdehnung des Großen Waldes, der kartographisch erfasst ist, wird für die Figuren zu einem unfassbaren Ort ohne Ausgang, er nimmt labyrinthische Ausmaße an und wächst mit den beiden Fhernhachenkindern mit, wie die Sternenstauner prophezeien. Zwar führt die Orchidee die beiden an ihren Bestimmungsort, jedoch wird auch am Ende des Märchens nicht gesagt, ob die beiden jemals wieder zu ihren Eltern zurückkehren werden. Die Wahnvorstellungen, die von dem Waldspinnenhexensekret ausgelöst werden und den beiden Fhernhachen vorgaukeln, sie seien gefunden worden, könnten das Ende in ähnlicher Weise inszeniert und den Leser erneut auf den Holzweg geführt haben. Abschließend klärbar ist dies leider nicht. Die Rückkehr aus dem Großen Wald bleibt angesichts der erzählerischen Unzuverlässigkeit fraglich. Vielleicht offeriert ja die Wissenschaft einen Ausweg.
Prof. Dr. Abdul Nachtigallers »Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder« Erläuterungen aus dem »Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Professor Dr. Abdul Nachtigaller, deren es lediglich sechs in Ensel und Krete gibt, werden in Form von Fußnoten eingebunden (EK 11 – 13, 18 – 20, 25, 30, 59 u. 69). Das bedeutet, dass sie durch ihre Verortung zwar außerhalb des Textes stehen und einen anderen Textstatus haben, aber durch den beide Textebenen gewissermaßen verbindenden Asterisk auf sie verwiesen wird. Folglich hat der Rezipient die Wahl, ob er dem Hinweis nachgehen möchte oder ob er den Lesefluss nicht unterbricht und das Zeichen ignoriert. Fußnoten gehören zur wissenschaftlichen Praxis, deren diskursive Gewohnheiten hier ironisch adaptiert werden. Das Einhalten der akademischen Gepflogenheiten wirkt im Rahmen eines Märchens zwar deplatziert, jedoch finden diese in einem als außerhalb der Geschichte markierten Raum statt und verweisen auf den wissenschaftlichen Kontext, in dem der akademisch gebildete Nachtigaller sich bewegt. Michael Cahn schreibt hierzu: »Die Fußnote ist eine typographische Äußerungsform. Sie bietet ein Formenrepertoire für eine sekundäre diskursive Ebene.«13 Zwar scheint die Bedeutung der Erläuterungen nachgeordneter Natur zu sein, 13 Michael Cahn: Fußnoten auf der Bühne, Maden im Text: Henry Fieldings Tom Thumb. In: Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Hg. v. Bernhard Metz u. Sabine Zubarik. Berlin 2008 (Kaleidogramme 33), S. 101 – 114, hier S. 102.
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jedoch bieten sie nicht immer ganz neutrale Zusatzinformationen, die von der Handlung des Märchens ablenken. Insofern ist der Leser auch hier wieder gefährdet, auf Abwege zu geraten (ähnliches gilt für die Anmerkungen des Übersetzers, aber dazu mehr im nächsten Abschnitt). Der erste Lexikoneintrag befindet sich bereits zu Beginn von Ensel und Krete und erläutert die Gattung, Herkunft und den Fellfarbton der Buntbären. Wie der Name schon sagt, ist letzteres neben der Sprachbegabung ihre Besonderheit: Das Einzigartige an den Buntbären ist ihre farbliche Individualität. Jeder Buntbär trägt ein farbiges Fell, aber keines ist von gleicher Färbung. Es gibt zum Beispiel zahlreiche rote Buntbären, aber jeder trägt eine eigene Variation der Farbe Rot: Ziegelrot, Kupferfarben, Zinnober-, Scharlach-, Mahagoni- oder Klatschmohnrot, Purpur, Karmesin, Bronzefarben, Rosa, Rubin oder Flamingorot. (EK 11)
Diese Ausführlichkeit in der Aufzählung setzt sich auf den folgenden Seiten fort und endet mit der Aussage »es gibt keine Farbe, die ein Buntbär nicht haben kann« (EK 13). Diese akribische Aufzählung der einzelnen Farbtöne ist Ausdruck von Pedanterie, ist aber auch, was Roland Barthes »Plappern« (›babiller‹) nennt.14 Seiner Theorie der ›Lust am Text‹ zufolge kann diese Lust in zwei Situationen entstehen: entweder durch die stetige Abwechslung oder durch einen plappernden Text, der in seiner Detailtreue ausufert.15 Letzteres scheint in den Anmerkungen Nachtigallers zu geschehen, die durch ihre Genauigkeit eben genau dieses tun. Indem alle möglichen Abstufungen der Farben rot, gelb, grün und blau aufgeführt werden, lenkt die Anmerkung vom Haupttext ab, indem sie durch ihre überbordenden Details einen eigenen Raum füllt, der sich immer weiter von der eigentlichen Geschichte entfernt. Die Beschäftigung mit den Nuancen der Fellfarbe führt nicht unbedingt zu Ensel und Krete zurück. Erst am Ende der weitschweifigen, dreiseitigen Fußnote ist eine Rückkehr möglich, erfordert aber vom Leser ein Rückblättern. So offenbart sich eine andere Art des Abweges für den Leser, da ein Überschreiten der Grenze von Text und Paratext eben auch die Möglichkeit enthält, nicht sofort zurückzukehren. Dies zeigt sich auch in der Fußnote zur Waldspinnenhexe (EK 18 – 20), in der deren Herkunft sowie Aussehen erläutert wird und mit einer wenig wissenschaftlichen Charakterstudie versehen ist: Die Hexenspinne ist gewöhnlich schwarz, dichtzottig rotbraun oder fuchsrot behaart, an den erweiterten, flachgedrückten Endgliedern der Beine und Palpen kupferrot befilzt und ist wegen ihrer schlechten Umgangsformen und ihrer hinterhältigen Natur bei anderen Lebewesen wenig geschätzt, außer bei der Tarantelzecke, einem Parasiten, der in ihrer Befellung haust. (EK 18 f.) 14 Roland Barthes: Die Lust am Text. Übers. v. Traugott König. Frankfurt a. M. 1974, S. 10. 15 Vgl. ebd., S. 40.
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Wiederum erstreckt sich die Anmerkung über drei Seiten. Diesmal endet sie mit der Schlussfolgerung: »Da sich die Waldspinnenhexe in keinerlei Evolutionsschema einordnen läßt, nimmt man an, daß sie entweder durch Kometeneinfall oder ein Dimensionsloch nach Zamonien gelangt ist.« (EK 20) Die These des Kometeneinfalls bestätigt sich, als Ensel eben diesen nacherlebt (EK 126 – 128). Interessant ist, dass der Verweis auf das Dimensionsloch am Ende der Anmerkung steht, bevor eine Rückkehr zum Haupttext angestrebt wird. An dieser Stelle findet eine Rekurrenz auf die Funktion der Fußnote statt, die zwar einen eigenen Ort hat, aber dennoch eine Verbindung zum Haupttext (und umgekehrt) unterhält und somit ein textuelles ›Dimensionsloch‹ darstellt. Die Selbstreflexivität dieser Anmerkung eröffnet eine zusätzliche Dimension des Weges – nämlich des Hinweges bzw. der Abkürzung und sorgt so erneut für eine Verräumlichung der Lektüre. Die nächsten vier und damit letzten Einträge zu den Fhernhachen (EK 25), zu Prinz-Kaltbluth-Romanen (EK 30), zum Stinktierchen (EK 59) und zum Laubwolf (EK 69) sind hingegen eher kürzerer Natur und überschreiten den Fußnotentext einer Seite nicht. Die Anmerkung zu den Prinz-Kaltbluth-Romanen ist eine niederschmetternde Kritik der zamonischen Trivialliteratur, die »nur die niedrigsten Bedürfnisse« anspreche, so zum Beispiel: »Romantik, Spannungssucht und wirklichkeitsfremde[n] Eskapismus« (EK 30). Zwar führt diese Anmerkung sofort wieder in das Märchen zurück, jedoch prallen hier zwei Meinungen aufeinander, denn Ensel ist ein großer Fan der Bücher. Da ihm diese aber in fast allen Fällen nicht weiterhelfen, wird das Urteil Nachtigallers auf diese Weise wiederum bestätigt. Die zweite Anmerkung zum Stinktierchen enthält eine Warnung für den Leser, denn das Treten auf diesen »Schwefelpilz, der in fast allen zamonischen Wäldern wächst« (EK 59), entfaltet eine olfaktorische Wirkung: »Die [austretende; N. T.] Lösung ist harmlos, aber von impertinentem Geruch.« (EK 59) Zwar riecht Literatur nicht, dennoch fungiert dieser Hinweis geradezu als Fluchtbeschleuniger, da diese Bemerkung zwar wissenschaftlich exakt ist, aber dennoch eine entsprechende körperliche Reaktion des Ekels hervorrufen kann. Somit wird eine schnelle Rückkehr zum Märchen gewährleistet und auch ein Mitleiden mit Krete, die eben gerade diese Erfahrung gemacht hat, wodurch eine Wechselwirkung entsteht, in dem die Information des einen in die Erzählung des anderen einwirkt und im Lektürevorgang zu einer Auflösung der Grenzen und einer Verschmelzung der beiden Ebenen führt. Interessant ist, dass diese Anmerkungen Nachtigallers lediglich im ersten Kapitel (»Bauming«) vorkommen, nicht also in den Folgekapiteln »Der Große Wald« und »Das Haus«. Sobald die Protagonisten im Anschluss daran den Großen Wald betreten, verbleibt der Leser ohne die wissenschaftlichen Zu-
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satzinformationen. Dabei wäre doch gerade in den beiden anderen Teilen der Geschichte oftmals eine Erläuterung hilfreich, beispielsweise über die Sternenstauner. Hier findet eine Kompensation der fehlenden Anmerkungen Nachtigallers durch die Anmerkungen des Übersetzers statt, doch wird klar, dass die Wissenschaft Nachtigallers auf die erforschten Gebiete von Bauming begrenzt ist. Mit dem Übergang der Protagonisten vom wissenschaftlich und touristisch erschlossenen Teil des Großen Waldes ändert sich auch der Status der Fußnoten. Die (mehr oder weniger) wissenschaftlichen Anmerkungen Nachtigallers treten zurück und werden durch die Anmerkungen des Übersetzers ersetzt.
Anmerkungen des Übersetzers Die fünf Anmerkungen des Übersetzers (EK 85, 86, 137, 167 u. 201) ziehen sich durch alle drei Kapitel des Märchens. Auch sie erfüllen die oben erläuterten Funktionen der Fußnote und führen – wie auch Nachtigallers Lexikon – einen weiteren Mitwirkenden, nämlich den Übersetzer Walter Moers, der zu Beginn genannt wird, ein. Seine Fußnoten dienen zunächst der Erläuterung, wie sich bereits an der ersten zeigt, in der eine der schlimmsten Beschimpfungen erläutert wird: »Du kannst mir die Schere spülen« ist einer der gebräuchlichsten und zugleich drastischsten Kraftausdrücke von Zamonien. Die in den atlantischen Fellkämmereien beschäftigten Scherenspüler (sie waren damit beschäftigt, die läuseverseuchten Yetihaare aus Kämmen und Scheren zu spülen) galten lange Zeit als der niedrigste Berufsstand Zamoniens. Jemanden als »Scherenspüler« zu bezeichnen oder ihn aufzufordern, einem die Schere zu spülen, war eine grobe Beleidigung. (EK 85)
Diese Art der Erläuterung erinnert nicht nur inhaltlich an die Lexikonzitate Nachtigallers, sondern erfolgt auch im ersten Kapitel des Märchens, wo bislang Nachtigaller den Fußnotenraum für sich beansprucht hat. Der Übersetzer erläutert eine Äußerung Hildegunsts im Rahmen einer Mythenmetzschen Abschweifung (dazu im nächsten Punkt mehr), in der er sich der zamonischen Redewendung bedient, ohne dass der unzamonische Leser diese verstehen könnte. So wird über den Umweg der Fußnote der kulturelle Kontext erklärt und Wissen weitergegeben, das als zusätzliche Information die weitere Lektüre des Haupttextes beeinflusst. Die nächste Anmerkung findet sich direkt im Anschluss (EK 86), wo der Übersetzer dem Leser erläutert, wer Laptantidel Latuda ist: »Laptantidel Latuda: – Seinerzeit populärster Literaturkritiker Zamoniens, Chefredakteur des Gralsunder Kulturkuriers und langjähriger Erzfeind von Hildegunst von Mythen-
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metz.« (EK 86) Der Erzfeind Mythenmetz’, den dieser in seinen Abschweifungen immer wieder angreift (EK 108, 118, 183 u. 201), wird zum Anlass der Mythenmetzschen Abschweifung, denn das vorhergehende Schmähwort richtet sich an ihn. Auf diese Weise entsteht nicht nur eine Verbindung zwischen Text und Paratext, sondern auch ein Bezug zwischen den beiden Anmerkungen, die ohne den Umweg über den Haupttext miteinander agieren. Auf diese Weise führt sowohl ein Weg von der Anmerkungen zum Haupttext als auch zur Fußnote zuvor. Retour und Rückkehr kreieren folglich eine textuelle Kreuzung, an der der Leser eine Entscheidung treffen muss. Insofern ist der Irrweg Ensel und Kretes hier im Weggeflecht des Lektürevorgangs nachvollzogen. In der nächsten Fußnote wird ein Neologismus erläutert, dessen Notwendigkeit dem Übersetzer angebracht scheint und seine Tätigkeit des Übertragens verdeutlicht: Smirken (Ich smirke, du smirkst, er/sie/es smirkt): Ich habe diese Wortschöpfung als Ersatz für ein zamonisches Verb gewählt, das eine Tätigkeit umschreibt, die zwischen Lächeln und Grinsen liegt und ausschließlich von Stollentrollen beherrscht wird. In der deutschen Sprache gibt es dafür keine entsprechende Bezeichnung. (EK 137)
Die Verwendung des Pronomens ›Ich‹ lässt zum ersten Mal die Figur des Übersetzers im Text hervortreten – ein Privileg, das üblicherweise dem Autor oder Erzähler obliegt. Hier scheinen Autor und Übersetzer auf denselben Wegen zu wandeln, zu denen sie vom gemeinsam bewohnten Titelblatt aufgebrochen sind. Die in der Anmerkung thematisierte Begrenztheit der nichtzamonischen Sprache wird hier durch einen Akt der Wortschöpfung kompensiert. Solche Ersatzleistungen sind aber nicht immer möglich, wie das nächste Beispiel zeigt. Es handelt sich dabei um eine Bemerkung in einer Mythenmetzschen Abschweifung, in der der Erzähler von seiner literarischen Kunst prahlt: »Es wird Ihnen in der Aufregung wahrscheinlich entgangen sein, daß ich auf der letzten Seite die Buchstaben der Sorte E derart raffiniert angeordnet habe, daß sie, wenn sie mit Linien verbunden werden, ein exaktes Hexagramm ergeben.« (EK 167) Es folgen weitere Anweisungen, Buchstaben zu zählen und miteinander zu multiplizieren, um schlussendlich die Zahl der Teufelselfen, die auf eine Nadelspitze passen, zu erhalten. Dieser Ausflug in die Wissenschaft der Textkonstruktion in Verbindung mit Mathematik, wird auch vom Übersetzer in einer Anmerkung reflektiert: Das gilt natürlich nur für den zamonischen Urtext, nicht für die vorliegende Übersetzung. So peinlich auch Mythenmetz’ prahlerischer Verweis auf seine artistischen Vorzüge sein mag (und sein geradezu taktloser, an solcher Stelle völlig unpassender und fast schon selbstzerstörerischer Eingriff in seinen eigenen Text), das erzählerische Kunststück im Original ist wirklich verblüffend (und, das muß zu seiner Verteidigung gesagt werden, ohne diesen Hinweis gar nicht zu bemerken.) Ich habe mehrere Wochen
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damit verbracht, diesen erzählerischen Zaubertrick mit den Mitteln unserer Sprache nachzuahmen. Es ist unmöglich. (EK 167)
Die Unmöglichkeit der adäquaten Übersetzung offenbart ein Scheitern. Gleichzeitig liegt in diesem Scheitern auch eine Absage an den Leser, der eben – durch das Fehlen des Originaltextes – nicht in der Lage sein wird, dies nachzuvollziehen. Die Abweichung vom Gang der Handlung im Märchen zur Abschweifung von Mythenmetz bis hin zur Fußnote wird folglich zum Irrweg des Lesers. Nicht nur, dass Ensel und Krete vermeintlich Stimmen hören, die sie hoffen lassen, einen Ausweg gefunden haben, was sich als Irrtum herausstellt; auch der Leser erlebt kein happy end, weder durch das Begleiten der Figuren, noch in der Möglichkeit, die schriftstellerische Raffinesse Mythenmetz’ nachzuvollziehen. Dieses Motiv des Herumirrens wird auch im Handlungsstrang des Märchens durchexerziert, so dass auch an dieser Stelle mit dem Leser agiert wird wie mit den Protagonisten. Die Kombination verschiedener Textebenen verschleiert folglich die Instrumentalisierung des Rezipienten. Er wird mit Ensel und Krete auf eine Ebene gestellt, indem er durch die Aufbrechung des linearen Lektürevorgangs ähnliche Irrwege gehen muss. Diese Erziehungsmaßnahme ist nicht offensichtlich. Perfiderweise wird sie durch das Märchen überlagert, das den Leser einlullt. Die letzte Anmerkung offenbart das Schicksal Latudas, der nach der Veröffentlichung von Ensel und Krete und den Pöbeleien von Mythenmetz nun ebenso zum Ziel des Spottes wird. »Er verfiel der Trunksucht und endete als Scherenspüler in einer Buchtinger Fellkämmerei, wo er bei einem Arbeitsunfall in einem Bottich aus Yetihaaren erstickte.« (EK 201) Dieses drastische Ende rekurriert auf die erste Fußnote des Übersetzers, in der die Scherenspüler-Beschimpfung erläutert wurde. Auf diese Weise wird der Fluch zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung und fungiert als Rahmung dieser Art des Paratextes. Hierbei ereilt nicht nur den Kritiker der Tod, sondern auch dieser Form der Abschweifung.
Die Mythenmetzsche Abschweifung Die Mythenmetzsche Abschweifung ist eine Spielart der Parekbase, denn ein Erzähler bricht in seinen Text ein, schweift ab und emanzipiert sich auf diese Weise als eigene Figur : Diese Technik ermöglicht es dem Autor, an beliebigen Stellen seines Werkes einzugreifen, um, je nach Laune, zu kommentieren, zu belehren, zu lamentieren, kurzum: abzuschweifen. Ich weiß, daß Ihnen das jetzt nicht gefällt, aber es geht nicht darum, was Ihnen gefällt. Es geht darum, was mir gefällt. (EK 34)
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Diese Erläuterung hat programmatischen Charakter. Mit offensichtlicher Willkür unterbricht der Erzähler – nicht selten an besonders spannenden Stellen – die Handlung des Märchens, um den Leser über Details zu informieren, die größtenteils nichts mit dem ›Haupttext‹ zu tun haben. In der ersten Abschweifung wird vom Arbeitsplatz des Dichters berichtet, der von einem Leuchter erhellt wird, in dessen Arme die dichterischen Grundtugenden (Furcht, Mut, Vorstellungskraft, Orm, Verzweiflung, Verlogenheit und Gesetzlosigkeit) eingeprägt sind, woraufhin eine detaillierte Beschreibung des Büros folgt (EK 34 – 46). Dieser pedantische Exzess des ›Plapperns‹ (›babiller‹), der sich über zwölf Seiten hinzieht, lässt die ›Lust am Text‹ erwachen, denn als Leser erlebt man – nach der ersten Überraschung – die teils sehr humorigen, teils sehr kritischen Anmerkungen als eine Art Parallelerzählung, deren Länge dem Leser die Rückkehr zur eigentlichen Geschichte bisweilen erschwert: Herrje – jetzt bin ich aber wirklich abgeschweift! Wo waren wir eigentlich stehengeblieben? Ach ja – Ensel und Krete. Nun vergessen Sie erst mal die Geschichte von Ensel und Krete. Lassen Sie mich lieber noch etwas über die gesellschaftliche Situation in Bauming sagen: […] Hinter einer derart hysterisch polierten Idylle lungert gewöhnlich das Grauen. Bitte denken Sie in Zukunft mal ein bißchen über die gesellschaftliche Situation nach, bevor Sie sich von einem weltfremden Märchen einlullen lassen. Ende der ersten Mythenmetzschen Abschweifung. (EK 46)
An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass der Einbruch in den Text immer wieder einen Irrweg des Lesers darstellt, der zu jedem Zeitpunkt möglich ist. Auf diese Weise entsteht wieder eine Parallelisierung von Handlung und Lektürevorgang: Während Ensel und Krete dem plötzlichen Erscheinen anderer Lebewesen im Wald hilflos ausgesetzt sind, ist auch der Leser mit derselben Machtlosigkeit dem Eingreifen des Erzählers ausgeliefert. Hier nun ein Trugschluss Ensels: »Morgen gehen wir einfach den ganzen Tag in die entgegengesetzte Richtung. Dann kommen wir automatisch wieder dahin, wo wir losgegangen sind.« (EK 47) Daraufhin schreitet Mythenmetz wieder ein, der diesen Optimismus als »Schafsmentalität« (EK 48) bezeichnet, bevor er nach der Fhernhachenverunglimpfung auch den Leser, den eigentlich nur der Fortgang interessiert, anspricht: Sie möchten lieber wissen, wie die Geschichte weitergeht? Es interessiert mich ehrlich gesagt einen Dreck, was Sie wollen! […] Das ist hier keine kommerzielle Veranstaltung zur flüchtigen Befriedigung niedriger Masseninstinkte, hier handelt es sich um Hochliteratur mit Ewigkeitsanspruch. (EK 48)
Diese Überheblichkeit verfolgt das Ziel, den Machtmissbrauch der Buntbären, die in Bauming ein striktes Regelsystem eingeführt haben, deren Einhaltung streng überwacht wird, nicht nur zu kritisieren, sondern auch am Leser zu exerzieren. Um seine grenzenlose Macht zu demonstrieren, schreibt er mehrere
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Seiten lang »Brummli« und unterbricht damit die Geschichte Ensels und Kretes nach dem Spannung erzeugenden Satz »Dann griff etwas nach Kretes Haaren.« (EK 53). Auf diese Weise fesselt er den Leser an die Geschichte, denn dieser will ja den Fortgang erfahren. Gleichzeitig bringt Mythenmetz seine pädagogische Aufgabe, der er sich verpflichtet fühlt, ein: »Obwohl die Mehrheit der Leser dem Fluß der Geschichte zu folgen wünscht, schaltet sich eine übergeordnete, nicht durch freie Wahlen legitimierte Macht ein und verordnet, daß es nur noch ›Brummli‹ zu lesen gibt.« (EK 56) In einer weiteren Abschweifung macht er auf seine Erfindung der »Mythenmetzschen Ungewißheitsschürung« (EK 65) aufmerksam, nachdem er vorher Ensel und Krete auf einen Waldgnom hat treffen lassen, der den beiden den natürlich falschen Weg weist und sich schließlich durch ein ›Kähähä‹ dem zamonienkundigen Leser als Stollentroll zu erkennen gibt.16 Die Belehrung über literarische Raffinessen (z. B. auch die »Mythenmetzsche[n] Ereignisandrohung«, EK 204) führt er auch an anderen Stellen fort, indem er den Raum der Abschweifung für Werbung in eigener Sache (EK 65, 162, 167 u. 200), Kritik am zamonischen Schul- (EK 84 f.) und am Bauminger politischen System (EK 94), seine Fehde mit Laptantidel Latuda (EK 85 – 88 u. 108) und Belehrungen allgemeiner Art nutzt. Allen ist gemeinsam, dass sie an den spannendsten Stellen des Märchens den Fortgang unterbrechen und vom Inhalt abschweifen. Graphisch sind diese durch eine Leerzeile und eine andere Schriftart vom ›Haupttext‹ abgesetzt, so dass der Status als Text einer anderen Instanz von vornherein deutlich ist. Jedoch ist die Grenzziehung und damit das Überspringen dieser nicht so einfach, denn sie enthalten (nicht nur, aber) auch Zusatzinformationen im Sinne Nachtigallers. Mythenmetz trimmt seine Leser auf Linie, indem er genau darauf aufmerksam macht, als er über das zamonische Zahlensystem plaudern möchte: »Und versuchen Sie nicht, diese Mythenmetzsche Abschweifung zu überlesen – denn ohne sie ist ein Verständnis der kommenden Handlung völlig unmöglich.« (EK 82) Das Ineinanderschmelzen von verschiedenen Textebenen wird auf diese Weise fortgesetzt und so eine lineare Lektüre erzwungen, auch wenn sie inhaltlich eine Abschweifung mit sich bringt. Diese Assimilation findet auch an Nachtigallers Lexikon statt, indem Mythenmetz in einer Abschweifung seine Theorie der Sternenstauner für den Leser erklärt: »Ich möchte einmal versuchen, sie aus seinem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung in allgemein begreifliche Sprache zu übersetzen« (EK 152). Die Angleichung der beiden bisher getrennten Textteile erzeugt eine Ver16 Der Stollentroll ist eine aus Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär bekannte Lebensform, die durch ihr notorisches Lügen meist wenig hilfreich ist.
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flechtung von Wissenschaft und Dichtung, die gerade im Raum des Großen (Text-)Waldes möglich zu sein scheint, denn beide bedienen sich des Mediums der Sprache. Das Verschwimmen bzw. die Aufhebung der Grenzen führt zu einer Reflexion derselben, denn die bisher deutlich sichtbaren Wege des Lesers wachsen allmählich zu und machen den bisherigen Durchgang undurchdringlich. Auf diese Weise – und darin liegt das angesprochene ›Gute‹, das der Wald erweist – wird Herkömmliches und Altbewährtes auf den Prüfstand gesetzt, um eventuell Platz für Neues zu schaffen. Die Aufbrechung der Linearität des Textes durch die Mythenmetzsche Abschweifung ermöglicht eine kritischere und aufmerksamere Lektüre, da sie bisher verborgene Dimensionen offenlegt.
Schluss Das Märchen Ensel und Krete ist – wie in der Einleitung beschrieben – ein Paradebeispiel der Abwege, die sich nicht nur in der Handlung zeigen, sondern ganz explizit am Leser durchgeführt werden. Da (para-)textuelle Elemente wie Titel, Karten, Nachtigallers »Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder«, die Anmerkungen des Übersetzers und die Mythenmetzschen Abschweifungen den Lektürevorgang fragmentieren und dem Leser die Wahl der Richtung überlassen, wird eine neue Art der ›Lust am Text‹ ermöglicht. Das Miterleben der Irr-, Ab- und Umwege Ensel und Kretes, indem der Leser eben genau dieselbe Erfahrung macht wie jene, führt bei jeder erneuten Lektüre zu einem völlig anderen Leseerlebnis, da durch den Großen Blätterwald des Buches viele Wege führen, ähnlich einem Labyrinth. Insofern trifft die Aussage der Sternenstauner nicht nur auf die Wege der Protagonisten zu, sondern auch auf die des Lektürevorgangs: »Es gibt keinen Weg hinaus. Es geht nur immer tiefer hinein.« (EK 157 f.) Das mehrfach und jeweils anders erzählte Ende des Märchens ist auf diese Weise folgerichtig, indem es eben keines gibt – oder viele. Ensel und Krete gelangen nicht wieder nach Bauming, und es bleibt offen, ob sie jemals wieder zu ihren Eltern zurückkehren. Der Ausgangs- kann nicht der Endpunkt sein, denn das Lektüreerlebnis, das nicht nur in der passiven Aufnahme, im ›Einlullen‹ besteht, sondern in aktiven Entscheidungen an den Weggabelungen des Textes, verändert die Lesegewohnheiten und lässt die Lust auf das Verfolgen von Abwegen die Oberhand gewinnen. Darin besteht die Gefahr des Großen (Text-)Waldes. Ein Ausweg ist ab diesem Punkt – auch mit Notorchidee – unmöglich.
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Grimm, Jacob u. Wilhelm: Hänsel und Grethel [ED 1812]. In: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hg. v. Heinz Rölleke. Frankfurt a. M. 1999, S. 86 – 92. Moers, Walter: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des »Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 1999. Moers, Walter : Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 2000. Perec, Georges: La Disparition. Paris 1969.
Sekundärliteratur Barthes, Roland: Die Lust am Text. Übers. v. Traugott König. Frankfurt a. M. 1974. Cahn, Michael: Fußnoten auf der Bühne, Maden im Text: Henry Fieldings Tom Thumb. In: Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Hg. v. Bernhard Metz u. Sabine Zubarik. Berlin 2008 (Kaleidogramme 33), S. 101 – 114. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Übers. v. Ronald Voulli¤. Berlin 1988. Genette, G¤rard: Seuils. Paris 1987. Genette, G¤rard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2001. Grimm, Jacob u. Wilhelm: e. In: dies.: Deutsches Wörterbuch. Hg. v. Ludwig Erich Schmitt. Bd. 3. Hildesheim 2003, S. 1 f. Miller, Joseph Hillis: The Critic as Host. In: Harold Bloom [u. a.]: Deconstruction and Criticism. New York 1979, S. 217 – 253. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. 8. Aufl. Stuttgart 2001.
Rumo und Die Wunder im Dunkeln (2003)
Maren J. Conrad
»Blut! Blut! Blut!« Die Artusepik als heroisches Erbgut wortkarger Wolpertinger
Was für ein Held ist das eigentlich, dieser Rumo? Glaubt man dem Klappentext und den daran anschließenden vollmundigen Versprechungen des Erzählers in den ersten Sätzen des Romans, so wird aus dem harmlosen Hundewelpen unter den Augen des willigen Lesers auf nicht ganz 700 Seiten am Ende »der größte Held von Zamonien« (R 14) werden. Die Abenteuer Rumos sind nicht nur spannend, sondern auch mehr als blutrünstig, und die zahlreichen begeisterten Rezensionen vieler Moersverehrer zeugen von einer umfangreichen Fangemeinde.1 Rumo & Die Wunder im Dunkeln ist, wie im Folgenden zu belegen sein wird, eine im klassischen Stil der Artusepik gehaltene Abenteuergeschichte, bietet seinen Lesern einen stringenten Handlungsverlauf, zahlreiche Nahkämpfe sowie abenteuerliche Ausflüge, garniert mit der für das Heldenepos konstitutiven dramatischen Liebesgeschichte und Kämpfen um Leben und Tod. Verlagert man allerdings den Blick von der eigentlichen Handlung auf seinen Protagonisten, erscheint die Popularität von Rumo & Die Wunder im Dunkeln seltsam entkoppelt von seinem eigentlichen Helden mit Namen ›Rumo‹. Denn obgleich der wütende Wolpertingerkrieger auf seinem Weg zu den Artgenossen und anschließend zu deren Rettung hinab in die zamonische Untenwelt eine fulminante Spur der Verwüstung durch die Diegese zieht, bleibt der Held im Halbhund doch erstaunlich farblos und verbal zumeist absent.2 Dieses ungewöhnliche Spannungsverhältnis zwischen Titel und Titelheld, Handlung und 1 Einen eindringlichen Beweis dieser Popularität bieten die 142 von insgesamt 192 Kundenbewertungen bzw. Leserrezensionen beim Onlinebuchhandel Amazon, die Rumo mit fünf von fünf Sternen bewerten (Stand: August 2010). 2 Eine – nach Ansicht des zamonischen Dichtergottes Mythenmetz höchstwahrscheinlich unverzeihliche – Textselektion kann diese Behauptung rasch evident machen: Würden die einzelnen Nebenerzählungen, in denen die Figur Rumo keine Rolle spielt bzw. nicht involviert ist, ausgelassen, so blieben von den rund 700 Seiten des Romans ›nur‹ rund 400 übrig. Damit bestehen etwa 300 Seiten aus den Geschichten anderer Figuren. Einen großen Teil nehmen hier die Ausflüge Smeiks, Kolibris und Nachtigallers in die Welten der Erinnerung und der wissenschaftlichen Unmöglichkeiten ein. Und auch in diesen Abschweifungen ist Rumo dem Parzival Wolframs von Eschenbach mit seinen zahlreichen Nebenhandlungen ähnlich.
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Handelndem, Abenteuer und Abenteurer soll hier nun näher betrachtet werden. Dabei werden Formen und Funktionen eines einerseits altertümlich anmutenden, andererseits im Sujet der Zamonienwelt neu kontextualisierten Heroismuskonzeptes analysiert, um eben diesen scheinbar genetisch bedingten Heroismus des Protagonisten in seiner Funktion innerhalb des Genres des Heldenund Abenteuerromans näher zu beleuchten. Eng hiermit verknüpft ist die Frage, inwiefern Initiations- und Transgressionsvorgänge in Rumo spielerisch verknüpft werden mit Komplexen wie Liebe, Selbstfindung, Heroismus, Rasse und Männlichkeit. Für die folgenden Betrachtungen wird dabei besonders der enzyklopädische Aufriss Hans Jürgen Wulffs zur Betrachtung des Begriffsfeldes von Held und Anti-Held als Basis dienen.3 Als weitere Grundlage soll die Annahme dienen, dass die archaisch anmutenden Heldenkonzepte, die im Roman vorgeführt werden, vor allem auf Heroismuskonzepten fußen, wie sie in der Artusepik der mittelhochdeutschen höfischen Literatur postuliert werden.4
Heldenwege. Aventiure und Doppelter Kursus Auf den ersten Blick mag dieser Vergleich zwischen Rumo und Werken der Artusepik befremdlich sein, doch schon in der optischen Aufmachung des Textbeginns lassen sich Parallelen zur Heldenepik entdecken: Bemerkenswert ist hier, dass der Beginn des Textes optisch im Stil der Incipis gehalten ist. Das erste Wort (»Rumo«, R 14) bildet dabei das Incipit und zeigt eine – im Schrifttyp zugegebenermaßen moderne – dreidimensionale Reliefschrift zusammen mit der Abbildung eines hockenden Wolpertingerwelpen mit einem übergroßen Schwert im Arm.5 3 Hans Jürgen Wulff: Held Antiheld, Prot- und Antagonist. In: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten. Realistische Imaginationen. Hg. v. Hans Krah u. ClausMichael Ort. Kiel 2002, S. 431 – 448. 4 Die vorliegende Analyse beschäftigt sich bewusst nicht mit der so naheliegenden wie in den populären Medien umfangreich behandelten Frage nach den eher modernen prätextuellen Helden- und Abenteuerromanvorbildern, die bei der Welt Rumos Pate gestanden haben mögen. Umfangreiche Gedanken zu solchen möglichen Intertexten aus der Welt der Abenteuerromane von E. T. A. Hoffmann über Jules Verne bis Karl May macht sich Matthias Heine in seiner Rezension: Hier wird schön gefoltert. Warum der bedeutende und belesene Romancier Walter Moers sich den Hadschi Halef Omar-Pokal redlich verdient hat, den sie Musen ausschließlich für die wahrhaftigsten Lügen verleihen. In: Die Welt. 12. April 2003. 5 Bei ›Incipis‹ handelt es sich um ab der Spätantike in der Buchkunst verwendete künstlerisch besonders umfangreich gestaltete Initialen die unter Umständen auch von Figuren ›bewohnt‹ sein können. Dass das Incipit ›bewohnt‹ ist, ist prinzipiell typisch, hier aber wieder ungewöhnlich, weil der Welpe Rumo vor, nicht in der Schrift sitzt. Vgl. hierzu Christine JakobiMirwald: Buchmalerei. Ihre Terminologie in der Kunstgeschichte, 3. Aufl. Berlin 2008, S. 61 –
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Auch die Betitelung des Romans mit dem Namen des Helden lässt sich als Reminiszenz auf typische Vertreter der höfischen Artusromane lesen, wobei zum direkten Vergleich für die folgenden Betrachtungen als genretypische Vertreter der mittelhochdeutschen Artusepik hier vor allem Erec und Iwein Hartmanns von Aue sowie der Parzival Wolframs von Eschenbach herangezogen werden.6 Rumo teilt sich im Übrigen mit Iwein und Erec auch das traurige Los, den Hof und die Gemeinschaft der Ritter und Helden als Unbekannter ohne Ausbildung und Familiennamen zu erreichen. Diese ersten Analogien auf der Figurenebene setzen sich besonders in textstrukturellen Gemeinsamkeiten fort. Hugo Kuhn konstatiert in seiner Analyse von Erec, dass dieser Text Hartmanns stellvertretend für den Erzähltyp der Artusepik keinem willkürlichen, sondern vielmehr einem wohlkalkulierten strukturellen Konzept folgt.7 Auch Christoph Huber bestätigt diese Beobachtung für das vormoderne typus- und rollenbetonte Erzählen. Dieses orientiert seine Erzählsyntax an formelhaften Zusammenhängen, die in einfachen oder komplexeren Strukturschemata, in präformierten Handlungsabläufen, vorgegeben sind und im Hinblick auf diese variiert werden. Das struktur- und rollenfixierte Erzählen hat aber auch die Möglichkeit, durch Brechung und Kombination von Rastern Abläufe neu zu gestalten; es kann mit Motivationen in der Figurenperspektive arbeiten und punktuell oder streckenweise in die Darstellung der Innenwelt der Gestalten eintauchen.8
Dieses struktur- und zum Teil auch das rollenfixierte Erzählen als zentrale Gemeinsamkeit zahlreicher Texte der Artusepik innerhalb der höfischen Literatur des Hochmittelalters wird auch im Abenteuerroman um den Wolpertingerkrieger bereits in den ersten Sätzen des Textes als bestimmendes Erzählprinzip explizit: Rumo konnte gut kämpfen. Aber zu dem Zeitpunkt, an dem seine Geschichte beginnt, hatte er davon noch keine Ahnung, und er wußte auch nicht, daß er ein Wolpertinger 63. Im Übrigen sind zwar die Handschriften Hartmanns von Aue und Wolframs von Eschenbach ohne Figuren, eine Verbindung kann jedoch zu den französischen Vorbildern der Artusepik erkannt werden, denn die Werke Chr¤tiens de Troyes sind reich (und im Gegensatz zu Rumo sogar farbig) illustriert. Vgl. zum Beispiel die Illustrationen zum Iwein im Garrett MS 125, S. 81 – 83. 6 Dies zumindest gilt für die mittelhochdeutschen Artusromane, so etwa für Hartmanns Erec und Iwein oder den Parzival Wolframs. 7 Hugo Kuhn: Erec. In: ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart 1958, S. 133 – 150. Vgl. auch Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1992, S. 97 ff. 8 Christoph Huber : Brüchige Figur. Zur literarischen Konstruktion der Partonopier-Gestalt bei Konrad von Würzburg. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Hg. v. Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 283 – 308, hier S. 288 f.
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war und einmal der größte Held von Zamonien werden sollte. Er hatte weder einen Namen noch die kleinste Erinnerung an seine Eltern. Er wußte nicht, woher er kam und wohin er gehen würde (R 14).
So erscheint die Raumbewegung der Protagonisten in der Artusepik nicht als Ursache tiefer psychologischer Vorgänge oder vermeintlicher Zufälle, sondern vielmehr als eine einer schicksalhaft-intuitiven Stringenz folgenden Notwendigkeit, wodurch sowohl der Handlungsverlauf als auch das Entwicklungsziel des Helden bereits zu Beginn des Textes implizit gesetzt werden. Für die Figuren erscheinen diese Setzungen wiederum als aventiuren, also als unvorhersehbare Abenteuer und Ereignisse. Damit gilt für den Helden: »Was, strukturell gesehen, sinnkonstituierende Planung ist, erscheint handlungsintern als Zufall.«9 In Rumo wie in Erec folgt der Protagonist damit einer fest vorgezeichneten narrativen Struktur, die einen Großteil der Heldenepik in der Literatur des Mittelalters dominiert, speziell die hier zum Vergleich hinzugezogenen Werke der Artusepik aus der Blütezeit der höfischen Literatur.10 Ganz konkret manifestiert sich diese Strukturierung in der Form des ›doppelten Kursus‹, den Hugo Kuhn am Beispiel des Erec entwickelt hat und der sich bei diesem wie bei Iwein und Parzival vor allem an der doppelten Rückkehr des Helden zum Artushof festmachen lässt.11 Diese doppelte Rückkehr trennt nach Kuhn als Zäsur zwei große Entwicklungsstadien des Helden und wird dabei untergliedert in die Zwischeneinkehr, auch ›erster Kursus‹, und die Rückeinkehr, auch ›zweiter Kursus‹. Der erste Kursus zeigt, wie der Held aus der Namenlosigkeit durch ritterliche Taten auf den Gipfel des Ruhmes gelangt und zugleich die Hand einer schönen Dame erwirbt; dann vergeht er sich und gerät in Konflikt mit seiner Umgebung. In einem auf die Krise folgenden zweiten »Kursus« kann er sich durch zahlreiche erfolgreich bestandene Abenteuer rehabilitieren und zum allgemeinen Ansehen zurückgelangen.12
Die jeweiligen Abläufe des doppelten Kursus bei Erec, Iwein und Parzival sollen hier zum besseren Verständnis stark vereinfacht skizziert werden:
9 Walter Haug: Der Zufall: Theodizee und Fiktion. In: ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen 2003, S. 75. 10 Vgl. zu den wichtigsten Werken der Blütezeit der höfischen Literatur und der historischen Einordnung dieser Periode auch: Horst Brunner : Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick. Stuttgart 2003, S. 169 – 230. 11 Kuhn 1958, S. 133 f. Freilich gibt es in der neueren Germanistik auch eher kritische Bewertungen dieser Lesart der Artusepik, vgl. etwa Elisabeth Schmid: Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hg. v. Friedrich Wolfzettel. Tübingen 1999, S. 69 – 85. 12 Brunner 2003, S. 195.
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Erec erlangt in einer ersten Kette von Abenteuern und Listen die Hand von Enide, die Hochzeit der beiden schließt den ersten Kursus ab, und die Krise Erecs wird durch die folgende Zeit mit Enide ausgelöst. Denn im Rahmen der Liebe zu Enide ›verligt‹ Erec sich, wird also träge und damit gesellschaftlich untragbar. Im zweiten Kursus zieht Erec aus, um seine Ritterlichkeit durch das Bestehen zahlreicher Abenteuer wieder herzustellen und damit auch seine Ehe mit Enide zu retten. Auch Iwein erkämpft sich im ersten Kursus die Hand seiner Frau Laudine, verlässt diese allerdings, um nicht wie Erec zu enden und seine Ritterlichkeit zu verlieren, direkt nach der Hochzeit. Er vergisst allerdings – und dies löst dann seine Krise aus – fristgerecht zu Laudine zurückzukehren. Seine Frau klagt diese Untreue ihres Mannes bei Hofe an, woraufhin Iwein dem Wahnsinn anheimfällt, diesen aber im zweiten Kursus überwindet und sich wie auch Erec über zahlreiche Abenteuer gesellschaftlich und damit auch in den Augen seiner Frau rehabilitiert. Bei Parzival schließlich wird die Krise vor allem von seiner Unfähigkeit, Mitleid zu zeigen, bestimmt. Am Ende des ersten Kursus wird er als fertig ausgebildeter Ritter am Artushof aufgenommen, aber wie schon Iwein wird er angeklagt, kein idealer Held zu sein, weshalb er abermals ausziehen und Abenteuer bestehen muss, um schließlich diesen zweiten Kursus erfolgreich zu beenden und sogar Gralshüter werden zu dürfen. Der hier dargestellte und für die Artusepik konstitutive doppelte Kursus ist auch in Rumo als Strukturkonzept deutlich zu erkennen und soll nun im Folgenden in seinen Analogien und Abweichungen zu den historischen Stoffen näher beleuchtet werden.
Der Silberne Faden als implizites Strukturkonzept Als offensichtliche Metapher für die bereits fest vorgegebene Handlungs- und Wegstruktur des Helden wird in Rumo der ›Silberne Faden‹ wie schon die Bestimmung Rumos als ›größter Held Zamoniens‹ auf den ersten Seiten eingeführt: Aber was Rumo wirklich erstaunte, war eine Farbe, die er vorher noch nie gerochen hatte: Hoch oben über all diesen ländlichen Gerüchen wehte ein silbernes Band. Es war dünn und zart, ein Faden eigentlich nur, aber er sah es deutlich mit seinem inneren Auge. […] Tief in seinem kindlichen Herzen spürte Rumo: Wenn er diesen Faden zur Richtschnur seines Weges machen und der Witterung bis zu ihrem Ursprung folgen würde, dann erwartete ihn dort das Glück. (R 18)
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Der Silberne Faden gilt damit als innerhalb der Diegese fest etabliertes und für die Figuren wie den Rezipienten nicht hinterfragbares Handlungselement. Er steht dabei fiktionsintern analog zur Doppelstruktur und konkretisiert so das für die Artusepik typische Strukturkonzept auf der metaliterarischen Ebene. Dieser Silberfaden ist also schon vor einem denkenden oder sprechenden Bewusstsein des Helden existent und übernimmt von Anfang an die Funktion als ebenso unhinterfragbarer wie unreflektierter Leitfaden für die Raumbewegung Rumos.13 Und auch als Rumo den unmündigen Welpenstatus bereits überwunden und die Fähigkeit zu sprechen und frei zu entscheiden erlernt hat, bleibt der Silberne Faden für ihn mentaler wie räumlicher Fixpunkt. So kann auf die Frage Smeiks, ob er zum Ort seiner idyllischen Kindheit zurückkehren möchte, die einzige Antwort »Nein« sein: »›Ich gehe da lang.‹ Er wies in die Richtung, aus der der Silberne Faden wehte.« (R 105) Hier liegt die These nahe, dass in Rumo die etablierte Metapher eines ›Roten Fadens‹ als gemeinsames Konstituens einer Handlung abgelöst wird durch den Silbernen Faden, der im Übrigen Figur wie Leser gleichermaßen durch den Roman führt: Die Originalausgabe von Rumo & die Wunder im Dunkeln kommt mit einem silbernen Faden als Lesezeichen daher und suggeriert so auch dem fiktionsexternen Rezipienten ein Teilhaben an der Reise Rumos auf dem »Pfad des Silberfadens«.14 Tatsächlich aber erscheint neben diesem silbernen Wegweiser ein ›roter Faden‹ als viel präsenteres Element der Erzählung, denn Rumo hinterlässt einen mit Leichen gepflasterten Weg und generiert so eine derart markante Blutspur, dass seine gewaltigen wie gewalttätigen Heldentaten retrospektiv zum unübersehbaren ›roten Faden‹ seines Handlungsstrangs transformiert werden. Die überpräsente Farbe ›Rot‹ markiert damit immer auch einen anhaltenden Durchgang des Helden durch die Geschichte, wie ihn Wulff als für den Helden konstitutiv konstatiert: Der Durchgang durch die Geschichte ist zugleich eine Probe der heldischen Tugenden wie eine Bewährung der heldischen Figur. Heldengeschichten sind fast immer durchgängerische Geschichten, die Transitionalität gehört zum Heldischen. […] Die
13 Im Übrigen handelt es sich bei diesem Phänomen nicht nur um ein exklusiv auf den Wolpertinger, sondern auch auf das männliche Geschlecht beschränktes Phänomen, das nur bei den männlichen Exemplaren in Rumos Rasse auftritt (explizit genannt wird es bei Urs, Rumo und Rolv). 14 Diese Beobachtung macht bereits Markwart Herzog in seiner Untersuchung der Moersschen Untenwelten, der in Rumo ebenfalls das »in den Buchrücken integrierte« silberne Textilbändchen als Lesezeichen und »klaren Bezug zur Romanhandlung« erkennt. Markwart Herzog: Von Narnia über Hogwarts und Zamonien nach Fowl Manor Unterweltfahrten in der zeitgenössischen fantastischen Kinder- und Jugendliteratur. In: Höllenfahrten. Geschichte und Aktualität eines Mythos. Hg. v. dems. Stuttgart 2006, S. 213 – 246, hier S. 221.
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heldische Biographie konzipiert personalen Wandel nicht als Lerngeschichte, sondern als Folge von Initiationen und Transitionen.15
Die enge Korrelation von Transitionalität und der Farbe ›Rot‹ wird, wie schon der Silberne Faden, bereits zu Beginn der Erzählung explizit eingeführt: »Als er vor dem großen roten Vorhang stand, […] hielt er inne. […] Das Blut schoß ihm in den Kopf […]. Rumo wußte nicht, daß der Vorhang einen neuen Abschnitt in seinem Leben markierte, daß er dabei war, sich von seinem tierischen Erbe zu lösen.« (R 19) Später wird die für die heroische Transition zentrale Funktion der Farbe ›Rot‹, die hier noch in der vergleichsweise harmlosen Manifestation eines roten Vorhangs daherkommt, dann von dem entschieden dominanteren Element ›Blut‹ übernommen. Diese Verbindung von Handlungsstringenz, Blut und rotem Faden wird auch ganz deutlich im Text gezogen: »Rumo kehrte zurück in die Welt der Gerüche. Ein grünes Leuchten lag über allem, das war der Geruch der salzigen See, die unter ihnen schwankte. Dünne rote Fäden durchwehten die Gänge, das war der Duft des vergossenen Blutes.« (R 99) Ganz im Sinne Wulffs ist es daher auch das Blut des Helden, das eine erste Initiation in die neue Gesellschaft der Wolpertinger markiert und damit auch den Hauptteil des ersten Kursus bis hin zur Krise einleitet. Die bis zu diesem Punkt vom Protagonisten instinktiv gelebte und realisierte Relevanz von blutiger Spur und Silbernem Faden wird schließlich im Rahmen der Initiation Rumos in die Wolpertingergemeinschaft erneut auch explizit verbalisiert. Denn Yodler vom Berg, der Bürgermeister Wolpertings, nennt zwei Gründe, um Rumo von der unabdingbaren Notwendigkeit zu überzeugen, ein Bürger Wolpertings zu werden: »Erstens: das Kämpfen. […] Wir bringen es dir bei. An unserer Schule. Das richtige Kämpfen.« (R 185) Damit wird erneut zum einen die zentrale Bedeutung der aventiure, also von Kampf und Abenteuer, für die Rasse der Wolpertinger betont. Zugleich wird aber auch ein weiteres Element der in der Literatur des Mittelalters vermittelten Heldenkonzepte eingeführt: Die Minne erscheint nun als wesentliches Element der neuen Heimat, denn: »Der zweite Grund ist: Nur in Wolperting findest du deinen Silbernen Faden.« (R 186) Die Reaktion des Helden auf dieses doppelte Versprechen folgt unverzüglich: »Rumo piekste sich entschlossen in den Finger und ließ ein paar Tropfen seines Blutes auf das Papier fallen.« (R 186) Hier findet in deflorativ anmutender Metaphorik ein wichtiger Neubeginn innerhalb des ersten Kursus statt, indem der Held aus dem Kindstatus und der Namenlosigkeit heraustritt und sich erstmals in der Stadt und damit – analog zu Erec und Parzival – ›am Hofe‹ gesellschaftlich eingliedert. Dieser friedliche Akt wird dabei, stringent der bisherigen Textlogik folgend, mit
15 Wulff 2003, S. 433.
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Blut besiegelt, um als zentrales Ereignis und nachhaltiges Handeln des Helden zu erscheinen.
Helden oder Hunde? – Problemrasse Wolpertinger Der Analyse des ersten Kursus soll zuvor noch die Klärung der Frage vorgelagert werden, inwiefern das Ankommen in Wolperting als strukturäquivalent zum Erreichen des Artushofes in der Artusepik betrachtet werden kann. Diese These liegt insofern nah, als dass Wolperting insgesamt drei Mal den Zielpunkt für Rumos Reisen darstellt, nämlich erstens von den Teufelsfelsinseln, zweitens vom Nurnenwald und drittens aus Hel zurück nach Wolperting. Mit Rumos erster Ankunft in Wolperting beginnt zudem – wie auch bei Parzival und Erec beim Erreichen des Artushof – seine (Helden-)Ausbildung und eine tatsächliche ›Selbstfindung‹ durch die soziale Einbindung in die Gesellschaftsstrukturen der Wolpertinger. Die Analogie zwischen Artushof und Wolperting lässt sich mit der Feststellung untermauern, dass beide einen Zusammenschluss von Helden darstellen, die das Merkmal des Heroismus zwar zur Gemeinschaft zusammengeschweißt hat, die aber zugleich als Individuen geprägt sind von krisenhaften Adoleszenzphasen. Im Falle der Wolpertinger wird die Darstellung dieser krisenhaften Adoleszenz sogar noch zugespitzt: Denn ein scheinbar zwanghafter Heroismus wird bei dieser Hybridart aus Hund, Wolf, Mensch und Reh zum genetischen Programm figuriert. Im Erbgut der Rasse sind dabei nicht nur wesentliche körperliche und mentale Eigenschaften eines Helden eingebrannt, sondern ist auch der individuelle Silberne Faden als Wegfindung jedes einzelnen Wolpertingers vorprogrammiert. Dieses Konzept einer Prädestination des Einzelnen durch seine Rassenzugehörigkeit deckt sich sowohl mit den von Wulff benannten Heroismus- als auch mit zentralen Konzepten zur Funktion von sozialer Gemeinschaft als schicksalhafte Vorherbestimmung des Einzelnen nach Pierre Bourdieu: Diese übergeordnete Macht, die veranlassen kann, Handlung als unvermeidlich oder selbstverständlich, d. h. ohne Überlegung oder Prüfung zu akzeptieren, die anderen als unmöglich oder undenkbar erschienen, ist die Transzendenz des Sozialen, die Leib geworden ist und die als amor fati, als Schicksalsliebe wirkt, als körperliche Neigung, eine Identität zu verwirklichen, die als soziale Wesenheit konstituiert und damit in Schicksal verwandelt wurde.16 16 Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Übers. v. Jürgen Bolder. Frankfurt a. M. 2002, S. 91.
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Die Ausprägung wolpertingertypischer Fähigkeiten, die ein Scheitern des Helden in der Rumo-Erzählung unmöglich machen, erscheint in der Logik der dargestellten Welt damit als genetische Notwendigkeit. Diese steht wiederum parallel zu den sozialen wie strukturellen Notwendigkeiten, an denen sich in der Artusepik die Entwicklungen von Erec, Iwein, Parzival und ihren Kollegen am Artushof ausrichten. Die »Transzendenz des Sozialen« wird hier also im Sinne Bourdieus in Rumo zum genetischen »Leib«, die Rassenzugehörigkeit ist damit zugleich Teil des vermeintlichen Heldenschicksals. Heroismus wird hier also als Merkmal der ›Rasse Wolpertinger‹ eingeführt und codiert damit im FantasySujet die soziale ›Ritterlichkeit‹ der Helden der Artusepik zu einer vererbten körperlichen Eigenschaft um. Eng verknüpft mit dem Heroismus ist natürlich auch das Konzept von Männlichkeit, sind doch die wesentlichen Begabungen Rumos kriegerischer Natur und verweisen damit auf »Männlichkeit verstanden als Bereitschaft zum Kampf und zur Ausübung von Gewalt«.17 Ganz ähnlich der Figur des Parzival erscheinen dabei die bereits negativ vorgeprägten jungen Wolpertinger – und für diese hier stellvertretend der junge Rumo – als ausbildungswillige Wilde am Tor der Stadt Wolperting. Ihnen stellt sich damit, wie auch dem Parzival, ein nach Walter Haug ganz grundsätzliches Problem für die prinzipielle Strukturgebundenheit der Erzählung: Dabei ist zu bedenken, daß Parzival, anders als Erec oder Iwein, nicht als idealtypisch leere Figur ins arthurische Schema eintritt, sondern daß er zu dem betreffenden Zeitpunkt, bei der ersten Begegnung mit dem Artushof, schon Erfahrungen hinter sich hat, die ihm gewissermaßen schemafrei zugefallen sind und die ihm eine bestimmte Prädisposition verschaffen, so daß zu fragen ist, was geschieht, wenn er, in derart spezifischer Weise vorgeprägt, durch den traditionellen doppelten Kursus und seine Krise hindurchgeführt wird. Wie also verhalten sich die Vorgeschichte und die Vorprägung zum traditionellen Schema? Ist der Bezug so angelegt, daß die subjektiven Vorgaben beim Helden zu Spannungen mit der narrativen Konstruktion führen, ja diese herausfordern? Oder vermögen sie sie umzuformulieren und mit einem neuen Sinn zu erfüllen?18
Das Aufeinandertreffen von habituellem Fehler – bei Parzival wie auch den jungen Wolpertingern durch deren krisenhafte Kindheit bedingt – bedarf also einer individuellen Lösung, die die weitere Handlungsfähigkeit des Helden gewährleistet. Solche problematischen Vorerfahrungen und damit verknüpften spezifischen Lösungsansätze sind in Wolperting vielfach vorhanden und werden an seinen Einwohnern gleich mehrfach exemplarisch vorgeführt. Denn die Adoleszenz der Heldenspezies ist fast immer auch mit Einsamkeit, Verlust und 17 Ebd., S. 92. 18 Walter Haug: Warum versteht Parzival nicht, was er sieht und hört? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram. In: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Hg. v. John Greenfield. Porto 2004, S. 55.
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Trauma korreliert. Alle im Roman näher beleuchteten Wolpertingerbiographien sind dementsprechend geformt von einer traumatischen Kindheit voller Misshandlungen durch fremde Rassen, Isolation, ›unmenschliche‹ Behandlung durch vermeintliche Ersatzeltern und gerade bei den männlichen Artgenossen auch von schwerem Alkoholismus. Als paradigmatisch für den Wolpertinger als Held und Traumapatient zugleich ist hier sicherlich der Fechtmeister Uschan DeLucca zu nennen, dessen Namensgebung wesentlich auf seinem Trauma basiert, ist ›Uschan‹ doch eine typisch zamonische Alkoholmarke.19 Uschans Fechtgarten stellt zum einen natürlich eine intertextuelle Persiflage auf die durchkomponierte Architektur klassischer ›Mantel und Degen‹-Filme (The Three Musketeers, USA 1921; La Venganza del Zorro, E 1962) dar, der zum anderen aber vor allem intradiegetisch die zwanghafte und von einer neurotischen Wetterfühligkeit geprägten Persönlichkeit Uschans räumlich präzise zu visualisieren vermag. DeLucca löst also das Problem seiner heroischen Fechtkünste bei gleichzeitiger Wetterüberempfindlichkeit durch seine zwanghaften Gärtnertätigkeiten.20 Aus dieser Perspektive heraus erscheint Wolperting weniger als Stadt der Helden als vielmehr wie ein klinisches Zentrum für Wolpertinger mit posttraumatischen Belastungsstörungen und ausgeprägtem Zwangsverhalten. Erst innerhalb dieser Stadtgemeinschaft ist es den meisten Wolpertingern möglich, ihre Zwangshandlungen als – neben der innerhalb der Stadt nur bedingt besonderen Eigenschaft des Heroismus – positive ›Fähigkeiten‹ anerkannt zu bekommen. Eben diese habituellen Schwächen der Helden drücken also nichts anderes als die Transformation der traumatischen Kindheit in einen Zwang aus; dieser wiederum ermöglicht den Neuankömmlingen erst eine sinnvolle Integration in die Gesellschaft. Das Schicksal der traumatischen Kindheit teilt Rumo dabei als gattungstypischer Vertreter der Wolpertinger ganz offenkundig mit seinen Artgenossen. Der zu Beginn seines Lebens so niedliche wie glückliche Wolpertingerwelpe erfährt seine Adoleszenzkrise auf den wandernden Teufelsfelsen, die im Text als Extrempunkt eines negativen Schicksals eingeführt werden: »Wenn man einen durchschnittlichen Zamonier fragte, welchem Schicksal er auf keinen Fall anheim fallen möchte, dann war die häufigste Antwort: Gefangener der Teufelsfelszyklopen zu werden.« (R 21) An diesem ungastlichen Ort erlernt Rumo das Sprechen. Diese Fähigkeit ist in ihm wie das Kämpfen scheinbar genetisch 19 »›Weißt du eigentlich, was für ein edler Tropfen das ist?‹ fragte der Wirt. ›Das ist feinster 58prozentiger Uschan aus der Gegend von DeLucca. He, da fällt mir ein – hast du eigentlich schon einen Namen?‹« (R 232). 20 Zu nennen sind hier als weitere beispielhafte Biographien die Lebenswege von Rala, Rolf und Urs. Letzterer kompensiert seine blutrünstige Kindheit durch Esszwänge, Rolf und Rala hingegen lösen das Ausbrechen traumatischer Zustände durch Bewusstseinsverlust bzw. Zustände der Ablösung vom eigenen Körper auf.
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vorprogrammiert und wird so im Rahmen der reißerischen Erzählungen seines haifischmadigen Ersatzvaters Smeik Stück für Stück aktiviert: »Es schien, als habe ein riesenhaftes Vermögen, eine uralte Erfahrung in ihm geschlummert und sei nun kraftvoll zum Leben erwacht. Nein, Smeik brachte ihm nicht das Sprechen bei – er rüttelte in Rumo nur die Wörter aus ihrem Schlaf.« (R 38) Unter diesen Umständen ist es wenig verwunderlich, dass Rumo nach seiner unter ständiger Lebensgefahr stehenden Adoleszenz bei den Teufelsfelszyklopen die Sprache als negativen Aspekt seiner Persönlichkeit zwanghaft zu vermeiden versucht und so beim Verlassen der Insel bereits zum traumatisiert schweigsamen Einzelgänger herangewachsen ist.
Erster Kursus: Habituelle Schwäche. Der schweigsame Held Neben den seiner heroischen Rasse inhärenten Talenten hebt sich Rumo also von seinen Artgenossen vor allem durch seine ganz eigene Zwanghaftigkeit ab, die in seiner fast schon pathologischen Sprachlosigkeit zum Vorschein kommt. Der Wolpertingerkrieger leidet unter einer so akuten Einsilbigkeit, dass er sich strikt weigert, in der von den Geschichten der anderen angefüllten Welt seine eigenen Gedanken oder Erfahrungen zum Besten zu geben. So fragt ihn Wolpertings Bürgermeister bei der oben bereits erwähnten Schlüsselszene zur Initiation in die Stadt nach seinen Fähigkeiten – und die Reaktion auf die Frage »Kannst du gut reden?« ist symptomatischerweise ein sprachloses »Kopfschütteln« (R 183). Ganz ähnlich der Diagnose Joachim Bumkes für die Figur des Parzival, der emotionale Situationen nicht oder falsch beurteilt, lässt sich auch Rumo hier zusammen mit der Sprachlosigkeit eine »habituelle Wahrnehmungsschwäche« unterstellen.21 Der schweigsame Held wird in seiner kommunikationsfreudigen Umgebung für diese habituelle Schwäche auch immer wieder entsprechend gerügt. Dies zeigt sich sehr schön im Gespräch Rumos mit der Nurnenwaldeiche Yggdra Sil22, einem – im Verhältnis zum Helden durchaus beredten – Baum: 21 Vgl. Joachim Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001, S. 49. 22 Motiv- und Namenswahl weisen hier erneut in das frühe Mittelalter zurück, im vorliegenden Fall konkret auf die altnordische Skaldendichtung. In dieser ist die Weltenesche Yggdrasill fester Bestandteil der nordischen Götterwelt. Sie wird hier einerseits im Namen des Waldes, andererseits in den Figuren der drei Schrecksen aufgegriffen. Die Schrecksen zitieren dabei die mythologischen Figuren der – auch aus Wagners Nibelungenbearbeitung ausreichend bekannten – Nornen (Urd, Verdandi und Skuld, Personifikationen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), den drei Seherinnen und Weberinnen der menschlicher Lebens- und Schicksalsfäden. Zu Überlieferungsstufen, Form und Inhalt der Völusp im Codex Regius vgl. Heiko Uecker : Geschichte der altnordischen Literatur. Stuttgart 2004, S. 191 f.
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»Du willst wohl auch nicht darüber nachdenken, was?« »Ja. Ich meine: nein.« »Du magst Wörter mit einer Silbe, stimmt’s?« »Stimmt.« (R 501)
Seine permanente Sprachinkompetenz wird von zahlreichen Gesprächspartnern zudem mit der Annahme einer prinzipiellen Denkfaulheit und mangelnden Intellekts verknüpft. Ganz explizit registriert und auch interpretiert wird dieses Dilemma von Storr dem Schnitter, einem Ex-Yetisöldner und nun Yetiskelett mit denkendem Treibsand im Schädel: »Er will sich nicht davon abbringen lassen, Leute!« rief Storr. »Das nenne ich Mumm. Die Sorte Mumm, die wir nicht mehr haben.« »Der Kleine ist einfach nur dämlich!« rief Okko zurück. »Seitdem ich den denkenden Treibsand in der Birne habe, denke ich eben zweimal darüber nach, was ich mache.« […] »Das ist es eben«, sagte Storr. »Wir denken zuviel. Wir sind eine Bande von Memmen geworden.« (R 409 f.)
Storr verbalisiert in dieser Opposition von Mumm und Memme ein nach Wulff zentrales Heldenstereotyp: Der Held ist nicht reflexiv, er ist nicht nachdenklich und er räsoniert nicht (oder nur am Rande). Das Zentrum des Heldischen ist die heldische Tat, der Held ist eine aktionale Größe. Der Held ist kein Kopf-, sondern ein Körpertäter. Intellektualität und Heldsein behindern einander, schließen einander meist sogar aus.23
Dieser Definition folgend wäre Rumo von seiner Umgebung damit als ›wahrer Held‹ ausgezeichnet, immerhin kombiniert er Mut mit völliger sprachlicher wie psychischer Unreflektiertheit. Eine weitere Gemeinsamkeit lässt sich dabei zwischen Rumo und der höfischen Artusepik entdecken: »Das Epos ist ohne Psychologie, die Gestalten und der Dichter reflektieren nicht […] Das Geschehen läuft ab, wie es ablaufen muß und wie es bei diesem traditionellen Stoff seit jeher abgelaufen ist.«24 Diese Feststellung Horst Brunners bezieht sich vor allem auf die Reflektion der dargestellten Welt. Weder vom heterodiegetischen Erzähler noch vom Protagonisten wird die vorgegebene Weltstruktur problematisiert, das vor Leser und Hauptfigur liegende Abenteuer bildet diesen Prämissen entsprechend weniger eine vermeintliche Entwicklung eines Individuums ab als vielmehr – den ersten Sätzen des Romans entsprechend – eine programmatische und von Anfang an klar determinierte Bewegung des Helden auf einen unvermeidlichen Zielpunkt hin. Dass es sich bei dieser Ethik vor allem um die Prinzipien des Heroismus handelt, die in Rumos Fall nicht nur sozial vorgegebenes, sondern schon inkarniertes Heldentum sind, wird im Text deutlich vorgeführt. Auch die klaren 23 Wulff 2003, S. 432. 24 Brunner 2003, S. 208.
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strukturellen Vorgaben des doppelten Kursus spielen hier eine zentrale Rolle. Bei den zum Vergleich mit der Artusepik herangezogenen Helden entstehen dabei am Ende der ersten Ausbildung und damit des ersten Kursus ganz ähnliche Konflikte, die die Krise des Helden und den daran anschließenden zweiten Kursus initiieren und nun näher beleuchtet werden sollen.
Die Krise Der Auslöser der Krise ist bei Erec wie bei Iwein primär ein Liebeskonflikt. Erec mutiert in seiner Liebe zu Enide zum phlegmatischen Nichthelden und ›verliget‹ sich, Iwein übertreibt es in die andere Richtung und vergisst vor lauter Heldeneifer, in der richtigen Frist zu seiner Geliebten zurückzukehren. Der Liebeskonflikt basiert also primär auf dem Topos des unvollständigen Ritters, der erst über das Erlernen sozialer Fähigkeiten einerseits und idealer Heldenhaftigkeit andererseits zum ›wahren Helden‹ werden kann. Eines der bereits genannten konkreten sozialen Probleme für Rumo ist dabei sicherlich auch die Tatsache, dass er eingangs über keinerlei Wissenskonzepte zu Paarbeziehungen verfügt. So muss Rumo bei seiner Ankunft in Wolperting erst einmal erklärt bekommen, was es mit Mädchen und dem ›Wunder der Liebe‹ auf sich hat. Intuitiv hingegen besteht bereits vor seiner Ankunft in der Stadt ein Konzept von ›Liebe‹. So folgt Rumo, wie bereits erwähnt, einer ihm unwiderstehlich erscheinenden Spur nach Wolperting. Diese anfangs in Form des Silbernen Fadens manifestierte nebulöse Prädestination wird von Rumo als eine Art instinktiv erfassbarer Liebesduft wahrgenommen, auf dessen konkrete Verkörperung er schließlich am ersten Schultag in der Figur der Wolpertingerdame Rala trifft: trotz seines beschämend niedrigen Erkenntnisstandes wußte er instinktiv, daß sie der Grund für seinen Marsch nach Wolperting war. Er schloß die Augen, ganz kurz, und dann sah er ihn, den Silbernen Faden, stark und gleißend wie nie zuvor, der zwischen seiner und Ralas Brust hin und her floß. (R 190)
Damit ist der Faden physisch explizit einer exklusiven Partnerin zugeordnet und drückt ein konventionell anmutendes Konzept der ›wahren Liebe‹ aus. Dieses kommt allerdings nicht nur in Kombination mit dem Anspruch einer lebenslang monogamen Paarkonstellation daher, sondern impliziert darüber hinaus auch, der Partner sei – wie schon Sprache und Kampftalent – bereits ab der frühesten Adoleszenz ein latenter Teil des eigenen Körpers. Kurzum: Hier wird, wie schon das Konzept des Heroismus, auch die Idee von romantischer Liebe und ritter-
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lichem Minnedienst in eine scheinbar genetisch programmierte und dementsprechend unhinterfragbare Notwendigkeit transformiert.25 Die Unhinterfragbarkeit ist besonders hervorzuheben, denn der Liebeskonflikt selbst wird im Text zwar von Rumo und seiner Umgebung problematisiert, die Partnerwahl Rumos aber ist ein gesetzter und zu keinem Zeitpunkt im Text kritisch reflektierter Fakt. Damit gilt für die Figur Rumo wie auch für die Helden der Artusepik eine nach Walter Haug typische Dominanz der narrativen Struktur über die Heldenfiguren: Es sind also in den Iwein immer wieder Reflexionen der handelnden Personen eingeschoben, die zwar subjektive Spielräume eröffnen, die aber in ihrer prononcierten Spannung zur Struktur gerade das Gegenteil von dem demonstrieren, was man erwarten würde, sie machen verstärkt deutlich, daß die Handlung letztlich allein dem narrativen Muster verpflichtet ist, und sie signalisieren dem Hörer/Leser, daß er sein Augenmerk darauf zu richten hat. Es ließe sich eine Vielzahl weiterer Situationen aus den höfischen Romanen des 12./13. Jahrhunderts heranziehen, in denen Entscheidungen in dem beschriebenen Sinne verlangt und damit Reflexionsspielräume eröffnet werden.26
Im Gegensatz zu dem heroischen Erbgut, das Rumo relativ konfliktfrei in seinem Handeln zu realisieren vermag, ist Rumo jenseits der Selbstvernarbung nicht in der Lage, die Partnerin in sein eigenes Personenkonzept zu integrieren. Trotz der auf physischer Ebene so offensichtlichen Bindung der Liebenden scheitern daher vorerst alle Versuche einer Annäherung Rumos an Rala. Der im Kampf sonst so versierte Held wird im gesellschaftlichen Gefüge den Regeln der Artusepik entsprechend als regelrecht sozial und emotional zurückgeblieben vorgeführt. Als in sich abgeschlossener und solider Held wird Rumo durch seine Konfrontation mit sozialen Strukturen um die Merkmale einer fehlenden Sozialisierung und mangelnden Selbstreflektion ergänzt. Sein Heroismus und seine Minne stehen damit im internen Konflikt miteinander und zugleich im externen Konflikt mit der Gesellschaft. Beide von Rumo bisher vertretenen Konzepte, das zur Liebe einerseits und das zum Heldentum andererseits, müssen also nun im Rahmen der Entwicklung des Protagonisten aktualisiert werden, damit der Held sich weiter als handlungsfähig zu behaupten vermag. Eben diese 25 Eine interessante Visualisierung der füreinander prädestinierten Partner – und auch in diesem Fall verzichtet die Erzählung erneut nicht auf ihr Quentchen Blut – stellen die eingeritzten Namensnarben dar : In Wolperting ist es Brauch, den Namen des vom silbernen Schicksalsfaden vorausgedeuteten Partners als Narbe eingeschnitten auf dem Arm (aber unter seinem Fell verborgen) zu tragen. In Rumos Fall ist dies der Name Ralas, und am Ende des discours wird zudem aufgedeckt, dass auch Rala den Namen Rumos auf ihrem Arm trägt. Auch dieses Einschreiben der/des Geliebten in den (Helden-)Körper folgt dieser Annahme einer so romantischen wie genetischen Prädestination. 26 Haug 2004, S. 47.
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Rekonzeptualisierung bildet den zweiten Kursus aus: Denn sowohl für den Fall Rumo als auch in den beiden Biographien Erecs und Iweins ist ein für diesen Konflikt im Sinne der narratologischen Strukturvorgaben eindeutiger Lösungsweg vorgesehen: Der Roman ist der Weg Erecs durch ein Scheitern zur Selbstverwirklichung. Der Maßstab, an dem dies gemessen wird, ist ein höfischer Verhaltensentwurf. Ausgefüllt ist er nur, wenn Minne in der Partnerbeziehung sich ganz verwirklicht und die Aktivität des Ritters gewahrt wird, ohne daß eines das andere verkürzt, und beide Werte in ihrer Einfügung in die Gesellschaft gelebt werden – als Partnerschaft inmitten höfischer Geselligkeit und als Kampf und Herrschaft im sozialen Auftrag.27
Für ein legitimes Zusammenspiel ist also die gesellschaftliche Akzeptanz von Heldentum und Liebe von zentraler Bedeutung. Für den idealen Helden wäre die erfolgreiche Minne damit eine gesellschaftlich akzeptierte Partnerschaft und der erfolgreiche Heroismus eine gesellschaftsfähige Form kriegerischer Tätigkeiten. In Rumos Fall ist dieser Konflikt gegenüber der Artusepik, wie erwähnt, insofern literarisch übersteigert, als dass nicht nur seine Rolle als Held, sondern auch die Wahl seiner Partnerin offenbar an genetische Vorgaben gebunden ist. Dementsprechend drastisch muss hier auch die Krise ausfallen, um eine Lösung der verfahrenen Situation herbeizuführen. Folgerichtig ist diese schwerwiegende Krise auch nur durch den Zustand eines metaphorischen Todes möglich: »Die heldische Biographie konzipiert […] eine Folge von Übergängen, in denen – nach dem Verständnis der Ritual-Kulturen – das Individuum jeweils stirbt und als neue soziale Identität geboren wird.«28 Bei Erec erscheint dieser metaphorische Tod als ›Liebeskrankheit‹, die ihn im Rahmen des ›verligen‹ dauerhaft ans Bett fesselt, deutlicher aber wird der metaphorische Selbstverlust bei Iwein, der, nachdem er von seiner Frau bei Hofe angeklagt wird, dem Wahnsinn anheim fällt. In Rumo werden diese optionalen Selbstverluste erneut übersteigert und zu einem mehrstufigen Prozess kombiniert. Das den zweiten Kursus einleitende konkrete Ereignis wird daher auch konsequenterweise nicht vom Helden selbst, sondern – wie auch schon bei Erec und Iwein – durch die Partnerin ausgelöst, hier in Form des gescheiterten Rettungsversuchs Ralas: Rala kann schwimmen, und Rumo ist ein blöder Trottel, der von einer Brücke in die Wolper fällt und sich von einem Mädchen aus dem Wasser fischen läßt. Davon, daß er sich in die Wolper geworfen hatte, um Rala zu retten, sprach niemand, auch nicht davon, wie sie wirklich in die Wolper geraten war. Nein, die Geschichte wurde so lange und so oft in der falschen Reihenfolge erzählt, bis jeder daran glaubte. (R 346)
27 Christoph Cormeau u. Wilhelm Störmer : Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. München 1985, S. 191 f. 28 Wulff 2003, S. 433.
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Der Sprung von der Brücke und das Fast-Ertrinken Rumos lassen sich deutlich als erster metaphorischer Tod lesen, dem ein zweiter, gesellschaftlicher, Tod folgt. Denn dass der vermeintliche Held von der bisher unerreichten Rala gerettet werden musste, macht ihn in seiner eigenen und der allgemeinen Wahrnehmung ›unheldisch‹ und damit auch gesellschaftlich unmöglich. Das Hauptproblem Rumos liegt dabei ganz offensichtlich in der gesellschaftlich nicht akzeptierten Vertauschung der Geschlechterrollen, denn er produziert wie schon mit seinem Namen und seiner Schweigsamkeit durch seine Unfähigkeit ein weiteres, dieses Mal genderrelevantes Skandalon in Wolperting: »Rala war schließlich die erste Heldin, die Wolperting hervorgebracht hatte.« (R 348) Die Geliebte bringt durch ihr Handeln – ganz ähnlich der Laudine im Iwein – heimlich Rumos Liebe zu ihr auf den Prüfstand. Zugleich stellt sie aber auch seine Heldenhaftigkeit und Männlichkeit vor der gesamten Gesellschaft des Hofes öffentlich in Frage. Durch diese multikausalen Diskriminierungen transgressiert Rumo nun ganz ähnlich seinen Vorgängern Iwein und Erec in einen Zustand völliger mentaler und gesellschaftlicher Isolation: »Als Rumo wieder auf den Beinen war, wagte er es kaum, sein Zimmer zu verlassen. Er ging nicht mehr zu Schule, drückte sich vor seinen Pflichten, betrat die Schreinerei tagelang nicht. Nur noch nachts schlich er durch die Gassen von Wolperting, um frische Luft zu schnappen.« (R 347) Am Höhepunkt dieses als todesähnlich semantisierten Zustands ist es das vermeintliche Orakel Ornt La Okro, das Rumo aus der Lethargie herausreißt und den Beginn des zweiten Kursus initiiert, indem er ihm rät, seine Schuld einzulösen und Ralas Liebe durch einen »dreifachen Fetisch« (R 351) zu erlangen. Konkret bedeutet dies: »Ein Ring, von dir selbst aus einem Stück Gold geschmiedet, das du, sagen wir mal, den Klauen einer siebenköpfigen Hydra entwunden hast. Das wäre ein dreifacher Liebesfetisch: kostbar, persönlich und unter Einsatz des Lebens errungen.« (R 351)29 Ornt La Onkro stellt damit das Ende einer langen Reihe von Figuren im ersten Kursus dar, die als Adjuvanten und Wegweiser für den Helden agieren. Rumos habituelle Schwäche der Rede-, Denk- und Entscheidungsfaulheit wird bis zu diesem Zeitpunkt der Erzählung stets durch seine entscheidungsstarke Umgebung kompensiert. Zugleich lassen sich die Figuren, die seine Wegfindung so zentral mitbestimmen, als Variante des Silbernen Fadens lesen, d. h. auch diese Adjuvanten markieren vor allem die Geradlinigkeit des Heldenweges und sichern ihre Stringenz durch seine Präsenz ab. Der Name unseres Helden, der (neben Rumos Schweigsamkeit) für alle Figuren der Diegese beim ersten Kontakt stets eine bemerkenswerte Eigentüm29 Überdeutlich lassen sich hier zudem neben dem Konzept ›Minne‹ hier auch Anklänge an die u. a. in der Großepik des 12. Jahrhunderts fest etablierte Brautwerbungsmotivik erkennen; vgl. Brunner 2003, S. 256.
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lichkeit darstellt und auch als solche verbalisiert wird, spielt in dieser Konstellation eine zentrale Rolle. Denn nicht zufällig scheint der Wolpertinger in seinen Entscheidungsfindungen stets von den Vorgaben seiner Umgebung determiniert zu sein. Wie schon der Silberne Faden wird auch Rumos explizite Abhängigkeit von seiner Umgebung zusammen mit seinem Namen bereits zu Beginn als schicksalbestimmend angelegt, denn bei ›Rumo‹ handelt es sich eigentlich um ein zamonisches Kartenspiel, nach dem Ziehvater Smeik seinen Schützling benennt: Es gab ein zamonisches Kartenspiel, das er besonders schätzte. Die wichtigste Karte darin, die dem Spiel seinen Namen verlieh, wird Rumo genannt. Einen Rumo zu spielen, bedeutete einerseits, das Schicksal herauszufordern und alles – wirklich alles – zu riskieren. Andererseits versprach es die Möglichkeit eines haushohen Sieges. So kam Rumo zu seinem Namen. (R 37)
In der ersten und einzigen Konfrontation des konkreten Kartenspiels mit seinem Namensvetter kommt es erneut zur Festigung von Rumos zwanghaftem Kommunikations(fehl)verhalten: »Rumo hätte gerne etwas gesagt, aber er hielt sich an die Spielregeln. Also knurrte er nur leise.« (R 116) Unabhängig von der Frage nach möglichen weiteren Regularien dieses Spiels scheint so zumindest eine zentrale Feststellung legitim: Um ›Rumo‹ spielen zu können, bedarf es mindestens zweier Spieler und – in diesem speziellen Fall – des aggressiven Schweigens des Hauptaktanten. Zugleich gilt hier aber eine für den Text noch viel grundlegendere Prämisse: Da in der historischen Kartenspieltradition das Kartenmaterial zumeist immer das gleiche ist, d. h. das französische Blatt und seine klassische Anordnung als Grundlage vieler Spielvariationen dient,30 bedarf es prinzipiell ganz dezidierter Regularien, um überhaupt erst eine bestimmte ›Art‹ von Kartenspiel zu generieren. Damit greift erneut die bis hierhin mitgeführte Überlegung, dass Rumo – nun: der Roman, nicht das gleichnamige Kartenspiel – vor allem auf den Regeln der narrativen Strukturkonzepte mittelalterlicher Artusepik basiert, und diese narrativen Strukturen nur im Rahmen des Fantasy-Sujets variiert werden. Figureninventar, Kernkonflikte und wesentliche Konzepte wären damit als ›Spielregel‹ übernommen, und der Roman spielt mit neuem Blatt, aber den klassischen Regularien und Konzepten der Artusepik. Zugleich finden diese ›Spielregeln‹ ihre Verkörperung in der Gattung der Wolpertinger, denen die artusepischen Strukturkonzepte als natürliche Regularie ihrer Rasse fiktionsintern regelrecht in den Körper eingeschrieben sind. Die Metapher des Kartenspiels lässt sich so pars pro toto auf den gesamten Roman anwenden, dessen ›Deckblatt‹ ja ebenfalls 30 Zwei Indizien weisen darauf hin, dass dies auch beim Kartenspiel Rumo der Fall ist, nämlich erstens die Illustrationen (R 39), die klassische Ass-Karten zeigen, und zweitens Smeiks Frage, »was für eine Art Kartenspiel das ist« (R 118).
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den Namen des zamonischen Kartenspiels trägt; und auch fiktionsextern gilt die Regel, dass es zweier Spieler und eines traditionellen Blattes bedarf: Leser und Autor sind damit ebenso in das Rumospiel involviert wie der Held selbst. Unabhängig von dieser poststrukturalistischen Lesart markiert die extreme Heteronomie Rumos vor allem die psychische Unabgeschlossenheit und damit die Unvollständigkeit des Helden innerhalb des ersten Kursus, d. h. auf der fiktionsinternen Ebene im ersten Buch des Romans. Dementsprechend wird der Übergang von der Ober- zur Unterwelt optisch wie strukturell markiert durch die Aufspaltung des Romans in zwei Bücher. Diese zwei Bücher wiederum sind vollständig deckungsgleich zum doppelten Kursus: Mit Ende des ersten Buches und Verlassen der Oberwelt schließt Rumo den ersten Kursus ab und der Beginn des zweiten Buches läutet dementsprechend auch den Beginn des zweiten Kursus ein.
Beginn des zweiten Kursus. Das schizophrene Schwert als Selbsttherapie Bis zum Ende des ersten Kursus erscheint der schweigsame Rumo als in Momenten der Einsamkeit zumeist führungsloser Held, der zum zielgerichteten Handeln der Fremdbestimmung seiner Umwelt bedarf. Bliebe diese Heteronomie weiterhin ein wesentliches Merkmal Rumos, wäre ein Übertritt in die Unterwelt nicht möglich, immerhin befindet sich der Wolpertingerkrieger hier zum ersten Mal in seinem Leben in einer Situation völliger Isolation von der Außenwelt. Die Lösung dieses Dilemmas wird im Text prozessual durch das Aufeinandertreffen des Helden mit seinem Schwert Löwenzahn gelöst. Diese Waffe wählt Rumo zum Abschluss seiner rudimentären Ritter- und Kampfausbildung, zu der auch das Erlernen von Lesen, Schreiben und Allgemeinbildung zählt, und die den ersten Kursus abschließt. Bei dem – ein ebenfalls aus der Heldenepik bekannter Topos31 – mit einem Namen versehenen Schwert handelt es sich aber nicht um eine gewöhnliche Waffe, sondern um eine zweischneidige Klinge, in die erstens das Bewusstsein des humorvollen wie hasenfüßigen Stollentrolls Löwenzahn und zweitens das Bewusstsein des humorlosen wie barbarischen Dämons Grinzold eingeschmiedet worden sind. Diese beiden Wesen verkörpern damit die oben bereits von Storr zitierte Diskrepanz zwischen Mumm und Memme. Sie können telepathisch mit dem Waffenbesitzer Rumo kommunizieren und sind dabei typographisch durch divergierende Schrifttypen32 gekenn31 Vgl. etwa im Nibelungenlied das zum Protagonisten Siegfried gehörende Schwert ›Balmung‹. 32 Grinzold ›spricht‹ als archaischer Teil des Schwertes standesgemäß in einer sehr breiten und
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zeichnet. Ihre Zwiespältigkeit, ja ihre gespaltene Persönlichkeit wird dadurch sowohl im Schriftbild und in ihrer Charakterisierung als auch im Rahmen der Schwertbeschreibung evident: »ein kleines Schwert mit einer auffällig geschmiedeten Klinge. Sie war in der Mitte der Länge nach gespalten, wie die Zunge einer Schlange.« (R 307) Zum Zeitpunkt des Aufeinandertreffens von Schwert und Held ist Grinzold, also die ›zweite Hälfte‹ des Schwertes, noch nicht erwacht. Wie wichtig dieses Erwachen Grinzolds für eine konsistente Diegese ist, zeigt aber bereits seine Erweckung, denn der Dämon wird nicht etwa durch den Kampf an sich, sondern erst durch wirklich vergossenes Blut aktiviert, der ›rote Faden‹ ist damit also erst in der Einheit von Rumo, Grinzold und Löwenzahn wieder aufgenommen. Als Vertreter einer archaisch-gewalttätigen Stringenz kommt ihm in der Kommunikation zwischen Rumo und seinem Schwert eine zentrale Rolle zu, denn er stellt – um die Metapher des Kartenspiels erneut aufzugreifen – den ›zweiten Mitspieler‹ dar und gewährleistet durch sein Erscheinen erst die Konsistenz der dargestellten Welt. Dass Rumo ohne zweiten Mitspieler ernsthaft gefährdet war, wird durch zwei Episoden der ersten Kennenlernphase zwischen Schwert und Schwertführer deutlich, denn in dieser Phase ist Rumos Leben gleich zwei Mal (und zum einzigen Mal im Roman!) nicht durch externe Feinde, sondern durch sein eigenes Handeln und innerhalb des eigentlich sicheren Raumes Wolperting ernsthaft bedroht. Dies geschieht zum einen im Rahmen des Duells mit Uschan DeLucca und direkt im Anschluss daran durch den Selbstmord- bzw. Rettungsversuch Ralas, bei dem Rumo fast ertrinkt.33 Paradoxerweise wird also erst mit dem Auftauchen beider in der Klinge verschmolzenen Kreaturen und durch ihre grundsätzliche Wesensverschiedenheit die Handlungsfähigkeit Rumos gewährleistet. Während die festen Spielregeln der Artusepik und ihre Struktur im ersten Kursus noch durch die außenstehenden Hilfsfiguren verkörpert werden, wird dieses Gestaltungsmerkmal nun im zweiten Kursus zur internalisierten Stimme übersteigert und verkörpert damit zugleich einen so ungewöhnlichen wie parodistischen Grad an heldischer Schizophrenie. Bei näherer Betrachtung lässt sich zudem feststellen, dass in der paradoxen Opposition zwischen Grinzold und Löwenzahn auch die Divergenz zwischen männlichem Heroismus und weiblicher Minne erneut aufgegriffen wird, mit der Rumo schon im Kontext der schnörkeligen Frakturschrift (›San Marco‹) und Löwenzahn in einer optisch eher spielerisch-dünn und damit harmlos wirkenden Schrift (›Apple Chancery‹). 33 Symptomatisch für das Problem eines fehlenden Mitspielers ist dabei auch der Versuch Rumos, sein Schwert nach dem verlorenen Duell (der bis dato einzigen Niederlage seines Lebens) ins Wasser zu werfen. Denn dieser Versuch endet damit, dass der Held sich zusammen mit Schwert und Geliebter in den Fluss stürzt. Rala, Löwenzahn und Rumo werden hier also als kommunikationsgestörte Einheit dargestellt.
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Wolpertingergesellschaft in Konflikt geraten ist. Diese internalisierte Schizophrenie löst nun als finale Instanz sukzessive die bis hierhin skizzierten Probleme Rumos: Sie katalysiert seine Unfähigkeit zur Introspektion und überbrückt zugleich die anfangs scheinbar unüberwindbare Grenze zwischen ›innen‹ und ›außen‹. Indem im Inneren des Helden nun ein ständiger Dialog über das außen Erlebte stattfindet, hat Rumo die Notwendigkeit einer wechselhaften Welt- und Selbst-Reflexion akzeptiert. Zugleich überträgt er diese ›lästige Pflicht‹ aber auch als Funktion auf sein telepathisch begabtes Schwert und damit zugleich auf einen psychisch internen, aber physisch externen Teil seines Heroismus. Die partielle Integration der paradox angelegten Elemente in seine Heldenrolle ermöglichen Rumo es auch erst, als nach außen ›gefestigter Held‹ die Grenze in die Unterwelt zu überschreiten. Diese Transgression leitet dann den zweiten Kursus ein, der aus einzelnen nunmehr weitestgehend unzusammenhängenden Abenteuerepisoden besteht, die den Weg Rumos in die Stadt Hel und damit zum Extrempunkt der Gegenwelt markieren. Hier lässt sich neben den eher unmotivierten Abenteuerstationen eine weitere Strukturanalogie zu Erec erkennen, denn beide Helden gewinnen mit Beginn des zweiten Kursus an Selbstbewusstsein und damit an Selbstständigkeit innerhalb der Erzählung: Bei Hartmann vermittelt sich der Sinnbezug der aneinandergereihten Stationen insgesamt nicht mehr über die Struktursymbolik als solche, sondern über Erecs Bewußtseinsstatus, der als Interpretament zum Bestandteil der Handlung selbst geworden ist und so auch thematisch die Bewährung des Helden im Zusammenspiel von Minne und Kampf entscheidend überformt.34
Wie bei Erec ist es also der Fakt, dass Rumo erstmals explizit und öffentlich das Ziel der Errettung Ralas und ihrer Artgenossen verbalisiert, das ihm nun ermöglicht, die bisherigen Oppositionen zwischen Minne und Heroismus, Innen und Außen, weiblich und männlich, Schicksal und Struktur nun zum sinnhaften Ganzen zu amalgamieren. Bildhaft wird dies erneut im Motiv des Blutes verdeutlicht: Während bis zu diesem Zeitpunkt alle wichtigen Ereignisse im Leben des Wolpertingers von aktivem Blutvergießen geprägt waren, wird der rote Faden nun erstmals durch Rumos Gesang35 nicht handelnd, sondern verbalisierend realisiert und so erstmals selbst Orientierung und damit Sinn innerhalb des von ihm gefüllten Raumes produziert:
34 Edith Feistner : Bewußtlosigkeit und Bewußtsein. Zur Identitätskonstitution des Helden bei Chr¤tien und Hartmann. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 236 (1999), H. 2, S. 241 – 264, hier S. 248. 35 Zugleich lässt sich der Gesang freilich auch als Reminiszenz auf die Tradition einer ursprünglich im Rahmen von Erzählung und Gesang tradierten Heldenepik lesen.
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»Gewöhnlich kann ich mit geschlossenen Augen sehen«, sagte Rumo. »Aber nur, wenn es Geräusche gibt. Hier ist alles so still.« »Dann mußt du die Geräusche eben selber machen« empfahl Löwenzahn. […] »Blut! Blut! Blut, das muß spritzen, äh, meterweit! Blut! Blut! Blut in alle Ewigkeit!« Rumo hatte die Augen fest geschlossen. Der Schacht füllte sich mit dezentem grünem Licht, und er konnte jede Einzelheit erkennen […] So stieg Rumo singend immer tiefer hinab in den schier endlosen Schacht (R 395 – 398)
Mit diesem Akt der Selbstständigkeit wird auch die Heldenrealität transformiert und Rumo erstmals »zum Bestandteil der Handlung selbst«, also zum aktiven und bewussten Helden der Erzählung.36
Der zweite Kursus Während die Grundlagen und wesentlichen Elemente des ersten Teils des doppelten Kursus bis hierhin intensiv beleuchtet wurden, soll der zweite Kursus dabei insofern nur kurz zur Sprache kommen, als dass es sich, wie erwähnt, um eine Aneinanderreihung einzelner Stationen handelt, die nach Überwinden der Krise ›nur noch‹ einer Entwicklungslinie folgen, »die die schwächeren Selbstentwürfe der Person als Übergänge und Voraussetzungen zur Vollendung in der Figur des Helden konzipiert«.37 Der zweite Kursus dient also der Vollendung der Lösung der Krise. Inhaltlich vorbereitet wird dieser zweite Teil des doppelten Kursus durch den räumlichen Wechsel von der Zivilisation in den Nurnenwald, der analog zum Verlassen des Schutzraumes ›Bauernhof‹ in Rumos Kindheit steht. Seinen Anfang markiert schließlich das konkrete Betreten der Unterwelt. Die hier erlebten Episoden haben den Charakter einer Aventiurekette und markieren vor allem eine sukzessive räumliche Annäherung an den Extrempunkt der Unterwelt, der abgebildet wird vom Turm des Generals Ticktack innerhalb der Stadt Hel. Dabei lässt sich besonders auf der Ebene des discours eine zunehmende Zersplitterung der Erzählung in die Einzelabenteuer verschiedener Figuren erkennen, wobei die interne Fokalisierung nicht nur auf den bisherigen Sympathieträgern des Romans liegt, sondern auch Einblicke in die Antagonisten, etwa den Blutschink Kromek Tuma, Königsberater Friftar, König Gaunab und General Ticktack bietet. Auch diese zunehmende Variabilität der Erzählperspektive lässt sich als Indiz für die abgeschlossene Charakterfestigung 36 Feistner 1999, S. 248. 37 Wulff 2003, S. 433.
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des Protagonisten verstehen, der nun seine Heldeninitiation soweit erfolgreich abgeschlossen und den strukturell richtigen Weg eingeschlagen hat, so dass er nicht nur von den anderen Figuren, sondern nun auch vom Erzähler ›ohne Gefahr‹ gelegentlich aus den Augen gelassen werden kann. Erfolgreich abgeschlossen wird der Kursus schließlich zuerst formal durch das Besiegen General Ticktacks und seiner subkutanen Todesschwadron im Körper Ralas durch Rumo.38 Ihren räumlichen Abschluss findet die Erzählung dann in der finalen gemeinsamen Rückkehr der Liebenden und ihrer Artgenossen nach Wolperting.
Warum Rumo ein echter Held ist Bis hierhin sollte deutlich geworden sein, inwiefern Rumo & Die Wunder im Dunkeln Elemente der Artusepik aufgreift und im Fantasy-Sujet neu variiert. Wie gezeigt werden konnte, werden im Roman vormoderne und für die Artusepik konstitutive Konzepte wie doppelter Kursus, aventuire und Minne sowie die damit verbundene notwendige narrative Stringenz und Strukturiertheit als ein der biologischen Gattung Rumos notwendigerweise inhärentes Programm angenommen und dem Wolpertingerwesen eingeschrieben. Der problematische Held Rumo verkörpert dabei in Form seiner genetisch vorprogrammierten, aber anfangs mit seinem zwanghaft-traumatischen Wesen unzuvereinbarenden Fähigkeit zu Heroismus und Minne zugleich das Spannungsfeld, in dem sich die Helden der Artusepik bewegen, wenn sie der narrativen Überstrukturierung in Form des doppelten Kursus folgen, aber zugleich individualisierte Erzählungen hervorbringen. Höfische Heroismuskonzepte werden hier also in der Innovation der Wolpertingerrasse im allgemeinen und der Gestalt Rumos im speziellen einerseits durch Überspitzung parodiert, andererseits aber auch durch die zusätzliche Begründung einer genetischen Prädestination erstmals für die moderne Lesersicht wieder akzeptabel. Entgegen 38 Interessant in diesen zwei auch narrativ parallel gesetzten Endkämpfen ist das Spiel zwischen den bereits früher problematisierten Oppositionen zwischen ›innen‹ und ›außen‹. So findet der Kampf Rumos gegen General Ticktack nicht etwa ›Mann gegen Mann‹ statt, vielmehr überschreitet Rumo die Körpergrenzen seines Antagonisten und tritt in diesen ein. Damit spiegelt Rumo seine Situation zu der Ralas: Er ist im Endkampf in der Maschine Ticktack gefangen, wie Rala zuvor in der Eisernen Jungfrau. Und so wie Smeik im parallelen Erzählstrang ist auch Rumo nun im Inneren eines anderen auf der Suche nach dessen Herz – freilich aus sehr unterschiedlichen Motivationen heraus, denn Rumo wird Ticktack sein vermeintliches Herz herausreißen, während die Haifischmade Ralas wieder zum Schlagen bringen soll. In diesen narrativen Verschränkungen lässt sich zumindest eine Verschmelzung der Liebenden als gemeinsam gegen äußere und innere Feinde sowie den Tod kämpfender Heldenkörper annehmen. Eine Korrelation, die freilich anderen Ortes noch vertiefend analysiert und belegt werden müsste.
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seinen krisenhaften postmodernen Heldenkollegen leistet sich der Wolpertingerheld damit den Luxus, einfach seiner Art entsprechend ebenso geradlinig wie tapfer sein zu dürfen, ohne dass eine fehlende zusätzliche psychologische Dimension für seine Handlungsmotivation vonnöten ist. Auch metatextuell dient das Wesen der Wolpertinger damit als Apologie für den Autor, dem hier ob der Simplizität seines postmodernen Helden keine erzählerische Schwäche unterstellt werden muss. Die Metapher des Kartenspiels, die sowohl für den Roman als auch für den Romanheld titelgebend ist, greift dabei, wie gezeigt werden konnte, das eigene Spiel mit den Regeln der Artusepik auf, und der Roman spielt mit neuem Blatt und in neuer Besetzung, folgt aber stringent klassischen Regularien und Konzepten der Artusepik.
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Die Stadt der Träumenden Bücher (2004)
Tim-Florian Goslar
Zurück nach Arkadien. Die Kulturlandschaften Zamoniens in Die Stadt der Träumenden Bücher Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.1
Paradiese und Idyllen sowie die Sehnsucht nach ihnen lassen sich in der Literaturgeschichte vielerorts ausmachen – von der Antike bis zur Gegenwart. Im Motiv ›Arkadien‹ hat sich die Vorstellung eines realitätsfernen Idylls manifestiert und ist bis heute aktuell geblieben. Arkadien existiert als eigenständiger Topos bereits in der griechischen Dichtung, »die sich aus dem Gegensatz Stadt–Land motiviert und das Ideal eines einfachen, naturnahen Lebens weit weg von der zivilisierten Welt zum Inhalt hat«.2 Das Idyll gilt als »sichere Zuflucht für den an der Wirklichkeit verzweifelnden Menschen. Es ist ein Land der Poesie, in dem der Traum idealen Daseins, der sich in der Erinnerung an eine goldene Zeit verklärt, Wirklichkeit werden kann«.3 Der Künstler erschafft Arkadien als Gegenwelt zur eigenen Realität, die er als defizitär empfindet, als »eine Gegenwelt zur Umtriebigkeit der eigenen Gesellschaft, zum Krieg und zur Unterdrückung und den Zwängen der Kultur«.4 Die künstlerisch gestaltete Wunschlandschaft ist »eine noch nicht kultivierte Ideallandschaft, das Zusammenleben von Menschen und Tieren ohne zivilisatorische Arbeit, ohne das trennende Mein und Dein«5. Die Darstellung Arkadiens evoziert vorkulturelle Zustände und gedenkt damit der verlorengegangenen Natur und dem eigenen Ursprung: »Erinnerungen an den schwerelosen Anfang des menschlichen Lebens«6. 1 Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater [ED 1810]. In: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Bd. II/7: Berliner Abendblätter. Hg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Basel/Frankfurt a. M. 1997, S. 321 – 331, hier S. 322 f. 2 Rüdiger Stephan: Goldenes Zeitalter und Arkadien. Studien zur französischen Lyrik des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1971 (Studia Romanica 22), S. 10. 3 Ebd., S. 11. 4 Reinhardt Brandt: Arkadien in Kunst, Philosophie und Dichtung. 3. Aufl. Freiburg i. Br./ Berlin 2006 (Rombach Wissenschaften. Reihe Quellen zur Kunst 25), S. 11. 5 Ebd. 6 Ebd.
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In Die Stadt der Träumenden Bücher findet Arkadien seine metaphorische Darstellung im Orm. Aus der Spannung zwischen Ursprungsgedenken, der Vorstellung einer unberührten, ursprünglichen Natur und defizitärer Realität lassen sich Merkmale aufzeigen, die das Orm im Gegensatz zur dargestellten Wirklichkeit als poetisches Ideal entwerfen. »Arkadien wird aus einer Konfliktsituation heraus gestaltet, die durch die Gegenüberstellung von verlorengegangener idealer Zeit und realer Gegenwart entsteht.«7 Die ›reale Gegenwart‹ der Stadt der Träumenden Bücher wird durch die verschiedenen Kulturräume, die Hildegunst durchwandert, dargestellt. Das Orm hingegen weist Strukturen und Merkmale auf, die in Kontrast zu diesen Kulturräumen stehen und mit verschiedenen Attributen des Arkadien-Motivs kongruieren. Zunächst scheint das Orm nicht erreichbar zu sein, das ›Paradies ist verriegelt‹. Doch Hildegunst von Mythenmetz tritt ›die Reise um die Welt‹ an, um schließlich festzustellen, dass es kein bloßer Mythos ist. Eingebettet in ein zyklisches Weltbild wird der Weg zum Orm geebnet und Arkadien in die Realität verlegt; analog zur Reise Hildegunsts, die ebenso zyklischen Charakter hat und von der Lindwurmfeste ausgehend zurück zur Lindwurmfeste führt. Gerahmt von den Motiven des Ursprungsgedenkens und der Sehnsucht nach einer unberührten Natur, führt ihn sein Weg zurück nach Arkadien, zunächst jedoch durch die defizitären Kulturräume Zamoniens. Der Begriff der ›Natur‹ wird auf der Ebene der Diegese auf zwei verschiedene Weisen verwendet: erstens im Sinne einer unberührten Natur, die in Zamonien nicht mehr existiert, sondern allenfalls in Form des Gedenkens an einen unbekannten Ursprung zu Tage tritt. Die Natur als ein archaisches, vorzivilisatorisches und -kulturelles Konzept wird in Erzählungen und Mythen lebendig gehalten (STB 56 f.); verortet in der Vergangenheit ist sie jedoch von der Gegenwart ›abgeschnitten‹. Zweitens meint ›Natur‹ eine natürliche Veranlagung zur Kultur ; die Natur ist dadurch immer schon Kultur. Während die unberührte und ursprüngliche Natur nur retrospektiv und imaginativ rekonstruiert werden kann, ist die domestizierbare Natur progressiv auf die Entwicklung der Kultur aus. Die unberührte Natur symbolisiert den unbegehbaren Weg zurück zur Natur, die domestizierbare Natur den unausweichlichen Weg nach vorn, in die Kultur. Dem ersten Teil des Romans ist als Motto ein Gedicht vorangestellt. Es schildert den Raum, in den Hildegunst erst im zweiten Teil eintreten wird: die Katakomben, bzw. ›Schloß Schattenhall‹. Zwei Zeilen des Gedichts sprechen von Büchern, die sich in ihren Träumen nach vergangenen Zeiten sehnen: »Wo alte Bücher Träume träumen / Von Zeiten, als sie Bäume waren« (STB 7). Der Schritt von einer vorzivilisatorischen Natur zur Kultur ist zum Zeitpunkt des Erzählens 7 Stephan 1971, S. 11.
Die Kulturlandschaften Zamoniens in Die Stadt der Träumenden Bücher
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bereits erfolgt; Bücher sind ver- und bearbeitete Natur. Was bleibt, ist ein träumerisches Gedenken an die vergangene und verlorene Zeit, als die Bücher sich noch in ihrem natürlichen Zustand befanden. Der Topos einer ursprünglichen Natur wird im Fortgang der histoire wieder aufgenommen: in den zitierten Passagen aus Danzelots Werk und in Gedichten, die von Goethe und Keller modifiziert übernommen werden. Diese Textstellen führen auf ein Konzept hin, das als Arkadien bekannt ist: Arkadien wird im Orm vergegenwärtigt, der Weg zurück zur Natur eröffnet. Doch im Fortgang der histoire entsteht zunächst ein anderes, weitaus weniger ideales Bild. Im Folgenden werden zunächst die verschiedenen Kulturräume – die Lindwurmfeste, Buchhaim und der Raum der Buchlinge – dargestellt und ihre Defizite aufgezeigt. Ausgehend von dem Konzept einer Hochkultur auf der Oberfläche Zamoniens (Lindwurmfeste – Buchhaim) führt der Weg in die Katakomben zu den Buchlingen, die im Gegensatz zur Oberfläche ein idealistischeres Literaturkonzept verkörpern. Im Anschluss daran wird aufgezeigt, inwiefern das Orm als Ideal in Kontrast zum Kulturverständnis Zamoniens steht und welche Merkmale es aufweist; ›Schloß Schattenhall‹ ist der Raum, in dem Hildegunst mit dem Orm in Kontakt kommt. Der Weg Hildegunsts führt so durch die – semantischen wie topographischen – Räume Zamoniens zum Orm, das weder räumlich noch zeitlich fixiert werden kann: Utopia – kein Ort nirgends.
Raum der Produktion: Hochkultur der Lindwurmfeste Hildegunsts Ausgangspunkt ist die Lindwurmfeste. »Die Lindwurmfeste hat einige der besten Romane der zamonischen Literatur hervorgebracht«, weshalb die erfolgreichen Schriftsteller der Lindwurmfeste als ›Idole‹ gehandelt werden, denen »junge zamonische Dichter« ihre Arbeiten zusenden, »wenn sie glauben, etwas Vorzeigbares geschaffen zu haben« (STB 341). Sobald ein Bewohner der Lindwurmfeste ins »lesereife Alter eintritt«, bekommt er einen Dichtpaten zugewiesen, der »für die künstlerische Entwicklung seines Patenkindes« (STB 12) zuständig ist. Der Dichtpate Hildegunsts, Danzelot von Silbendrechsler, hat zu Lebzeiten nur ein einziges Buch verfasst: »Vom Gartengenuß« (STB 12). Und er wurde nicht müde, […] die Parallelen zwischen gezähmter Natur und Dichtkunst aufzuzeigen. Ein selbstgepflanzter Erdbeerstrauch war für ihn gleichrangig mit einem selbstverfaßten Gedicht, die abgezählten Spargelreihen verglich er mit Reimschemata, ein Komposthaufen kam einem philosophischen Essay gleich. (STB 12)
Nur die domestizierte Natur, der Garten, gilt Danzelot als bewunderungswürdig: Vor der Blüte ist der Blumenkohl eine »in ihrem eigenen Fett verunglückte Blume« und befindet sich in einem Zustand der »Unnatur« (STB 14). In diesem
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Zustand ist der Blumenkohl bloße Nahrung. Der Gärtner »erntet den Kohl auf dem Gipfel seiner Verirrung« – der »Samenzüchter dagegen läßt die blaue Masse unbehelligt in ihrem Gartenwinkel sich zu ihrem besseren Selbst bekehren« (STB 14). Der Blumenkohl weist statt der »Verfettung« nunmehr einen »Blütenbusch« auf und »kehrt nach einem Abstecher in die Unnatur wieder zur Natur zurück«, denn nur die Blüten »setzen Samen an« (STB 14). Der Blumenkohl als bloßes Nahrungsmittel gilt Danzelot als Entfremdung von der Natur. Die Samenzucht hingegen ist zwar ebenso Zucht, doch ist sie, so Danzelot, der Natur des Blumenkohls gemäß und besitzt einen ästhetischen Eigenwert. Der Dichtpate ist in Bezug auf sein Patenkind das, was der Samenzüchter für die Zucht des Blumenkohls darstellt: Er sorgt dafür, dass seine Natur sich zu voller Blüte entfaltet, so dass diese weitere Samen hervorbringt. Natur ist ihrer Anlage nach immer schon domestizierbare Natur und somit potentielle Kultur. Der Weg in die Kultur ist unausweichlich, der Weg zurück zur Natur hingegen versperrt. Ganz im Sinne Jean-Jacques Rousseaus haben »alle Fortschritte der menschlichen Gattung sie unaufhörlich von ihrem ersten Zustand entfern[t]«8. Ein Naturzustand ist bloße Konstruktion, »denn es ist kein einfaches Unternehmen zu entwirren, was an der jetzigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist, sowie einen Zustand richtig zu erkennen, den es nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat und wahrscheinlich nie geben wird«9. Die Lindwurmfeste legt damit den Grundstein für ein Konzept, das auf der Ebene der Diegese vorherrschend ist: Alles ist Kultur, orientiert am ubiquitären Paradigma der Literatur.
Raum der Distribution: Buchhaim und die Gesetze des Marktes Die Kulturlandschaft Buchhaims ähnelt derjenigen der Lindwurmfeste: Nur die emphatische Begeisterung für Literatur ist in Buchhaim potenziert, verkörpert durch über fünftausend amtlich registrierte Antiquariate und schätzungsweise tausend halblegale Bücherstuben […], eine kaum meßbare Zahl von fliegenden Händlern, die […] Druckwerk in jeder denkbaren Form feilboten [und] über sechshundert Verlage, fünfundfünfzig Druckereien, ein Dutzend Papiermühlen und eine ständig wachsende Anzahl von Werkstätten, die sich mit der Herstellung von bleiernen Druckbuchstaben und Druckerschwärze beschäftigten. (STB 30 f.) 8 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). In: ders.: Schriften zur Kulturkritik. Hg. u. übers. v. Kurt Weigand. 5. Aufl. Hamburg 1995, S. 61 – 269, hier S. 65. 9 Ebd., S. 67.
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Die übersteigerte Faszination für Literatur lässt Buchhaim in Hildegunsts Augen zunächst als »Schriftstellerelysium« (STB 44) erscheinen. Doch der Markt platzt aufgrund des Überangebots aus allen Nähten und ist zu einem Großteil auf Tourismus und »Massenpublikum« (STB 82) ausgerichtet. Die Stadt weist Seiten auf, die der romantisch verklärten Vorstellung der bibliophilen Hochburg Buchhaim abträglich sind. Die markantesten Beispiele sind der ›Friedhof der Vergessenen Dichter‹, die ›Giftige Gasse‹ und der Literaturagent Claudio Harfenstock. Nach Aussage Colophonius Regenscheins ist »[n]iemand, der ein gutes Buch geschrieben hat […] wirklich tot« (STB 372) und doch scheinen auf dem Friedhof der Vergessenen Dichter selbst bedeutende Schriftsteller lebendig begraben zu sein. Wer Geld hat, kann in der Giftigen Gasse den einen oder anderen »mißliebigen Schriftstellerkollegen« (STB 85) denunzieren, und Claudio Harfenstock kann »ein gutes Manuskript nicht von einem Stück Torte unterscheiden« (STB 75). Das zunächst idyllische Bild der Stadt der Träumenden Bücher entpuppt sich als trügerisch: Vom Markt regiert und auf Tourismus ausgerichtet kehrt Buchhaim die kommerziellen Schattenseiten des Schriftstellerdaseins hervor. Das Geständnis Phistomefel Smeiks lässt die harmonische Vorstellung einer Hochburg der Bibliophilie und Schriftstellerei gänzlich kippen und damit den Glauben an seine Integrität.10 Bevor Smeik in Buchhaim einzog, »war die Stadt von einer Art […] kreativem Chaos regiert worden. Nichts funktionierte richtig, aber es funktionierte trotzdem alles irgendwie« (STB 429). Er hingegen hat Ordnung in dieses Chaos gebracht, sich bescheiden und zugleich als Wohltäter gegeben und für die Sanierung alter Gebäude gespendet. »Besonders aber förderte er die Künste.« (STB 430) Der Mäzen gründete den »Zirkel für die Freunde der Nebelheimer Trompaunenmusik« (STB 430). Doch statt selbstloser Wohltäterschaft entpuppt sich dieses Vorhaben als Mittel zur Ausweitung seiner Macht. Die Trompaunenmusik dient ihm einzig dazu, die »geistige[] und antiquarische[] Elite Buchhaims« (STB 430) zu hypnotisieren und im Zuge dessen zu instrumentalisieren. Smeik »dirigierte die Geschicke von Buchhaim wie ein Dirigent sein Orchester« (STB 431): Ich kaufe keine Bücher, ich kaufe ganze Antiquariate. Ich verschiebe riesige Kontingente von Büchern. Ich überschwemme den Markt mit Billigangeboten, ruiniere die ganze Konkurrenz im Umkreis, und wenn sie dann pleite sind, kaufe ich ihre Läden zu 10 Vgl. Lars Korten: In 1312 Leben um die Welt. Walter Moers’ Zamonien global und regional betrachtet. In: Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Hg. v. Martin Hellström u. Edgar Platen. München 2008 (Perspektiven. Nordeuropäische Studien zur deutschsprachigen Literatur und Kultur 4), S. 53 – 62, hier S. 60: »Es ist recht ersichtlich, dass diese Stadt als Allegorie auf Buch und Bücherlesen verstanden werden kann – mit allen Facetten der modernen Marketingstrategien bis hin zur Monopolisierung durch eine einzige böse Kraft.«
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Spottpreisen. Ich bestimme die Mietpreise von ganz Buchhaim. Mir gehören die meisten Verlage der Stadt. Fast alle Papiermühlen und Druckereien. Sämtliche Vorleser von Buchhaim stehen auf meiner Gehaltsliste und auch alle Bewohner der Giftigen Gasse. Ich lege den Papierpreis fest. Die Auflagen. Ich bestimme, welche Bücher Erfolg haben und welche nicht. Ich mache die erfolgreichen Schriftsteller, und ich vernichte sie wieder, wenn es mir gefällt. Ich bin der Herrscher von Buchhaim. Ich bin die Zamonische Literatur. (STB 143)
Zwar möchte Smeik »ganz Zamonien mit [s]einem antiquarischen Netzwerk überziehen« (STB 143), doch sein eigentliches Ziel ist die »politische[] Alleinherrschaft« (STB 144). Um dies zu erreichen, ist ihm der Buchmarkt in einer auf Literatur ausgerichteten Welt Mittel zum Zweck. Der großzügige Mäzen entpuppt sich als unbarmherziger Tyrann; der »Plutokrat regiert hier als das personifizierte Böse aus dem Hintergrund«11. Auch die Beweggründe für die Verbannung des Schattenkönigs spiegeln dies wider. Smeik verbannt ihn, um seinen Einflussbereich auch auf die Unterwelt auszudehnen. Hätte der Schattenkönig zudem »in Buchhaim nur ein einziges Buch veröffentlich[]t, dann [wäre] der Zamonische Buchmarkt im Eimer« (STB 352) gewesen. Die auf dem Markt etablierte Literatur wäre damit ihrer Mittelmäßigkeit überführt worden und der Schattenkönig hätte »[a]ndere Schriftsteller inspirieren [können], bessere Bücher zu produzieren« (STB 352). Dies hat Smeik schlecht hinnehmen können: »Was wir brauchen, ist Mittelmaß. Ramsch, Schrott, Massenware. Mehr und immer mehr. Immer dickere, nichtssagendere Bücher. Was zählt, ist das verkaufte Papier.« (STB 352) Der Schattenkönig ist, ebenso wie die anderen Bewohner Buchhaims, nur »ein Handlanger Phistomefel Smeiks« (STB 357). Auf der Oberfläche erstreckt sich zwischen der Lindwurmfeste und Buchhaim eine literarische Hochkultur mit ihren positiven wie negativen Seiten. Während auf der Lindwurmfeste ein unbescholtenes, fast naives Verständnis der schriftstellerischen Praxis vorherrscht, wird in Buchhaim Realität, was der Lindwurmfeste unbekannt ist: ein Markt und mit ihm machtpolitische Strukturen. Die Lindwurmfestler sind jedoch nicht autark, sondern auf den Buchmarkt angewiesen. Einerseits sind sie aufgrund ihrer Herkunft dazu bestimmt, Schriftsteller zu werden; andererseits ist Buchhaim die Metropole, die angehende Schriftsteller aufzusuchen haben, wollen sie es ›zu etwas bringen‹: »Es ist beschämend, aber leider eine Tatsache: Auch die Zamonische Literatur hatte sich den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen.« (STB 109) Die Bewohner der Lindwurmfeste huldigen »sämtlich der Schriftstellerei« (STB 12), die Teil einer Hochkultur ist, deren Qualität wie Quantität sie maßgeblich mitbestimmen, sie sind Rezipienten wie Produzenten. Doch das aus11 Ebd.
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geglichene Verhältnis von Rezeption und Produktion gerät in Buchhaim durch den zunehmenden Bedeutungsgewinn der Distribution in ein Ungleichgewicht und schlägt in zum Teil wahllosen Konsum um (STB 130 – 134). Auf der Oberfläche Zamoniens ist ein sich ausschließlich auf der Grundlage von Qualitätsmerkmalen eigenständig entwickelnder Markt nicht möglich. Einzig Strukturen, die den Zuwachs von Macht und Geld sichern, regulieren den Markt, geschuldet der manipulativen Instrumentalisierung Phistomefel Smeiks.
Raum der Rezeption: Idealismus der Buchlinge Bereits beim ersten Zusammentreffen Hildegunsts mit den Buchlingen wird ihm offenbart: »Jeder Buchling lernt das Gesamtwerk eines großen Schriftstellers auswendig. Das ist unser Lebenszweck.« (STB 208) Doch im Folgenden entpuppt sich die Vielleserei der Buchlinge als weniger selbst- und zwecklos, als es zunächst den Anschein hat. Lesen ist in den organischen Prozess der Buchlinge eingebunden. Sie »ernähren [sich] vom Lesen« (STB 257) und können je nach Appetit lesen, worauf sie Hunger haben: Man fängt zum Beispiel mit ein paar leichten Aphorismen an, vielleicht von Orca de Wils, und danach nimmt man ein Sonett zu sich, sagen wir mal: eins von Wimpershlaak, die sind alle lecker. Und anschließend eine magere Novelle oder ein paar Kurzgeschichten. Schließlich kommt man zum Hauptgang: Ein Roman von, naja, zum Beispiel Balono de Zacher, du weißt schon, so eine richtig fette Dünndruckschwarte von dreitausend Seiten, mit all diesen delikaten Fußnoten! Und dann als Nachtisch … (STB 258 f.)
Die wirtschaftlichen Strukturen der Oberfläche sind den Buchlingen nicht unbekannt. Ihr Diamantgarten beherbergt Edelsteinvorkommen immensen Ausmaßes. Die Buchlinge sorgen für deren Abbau und weitere Verarbeitung: »Wir schleifen sie bis zur Perfektion, und dann verstecken wir sie in den Labyrinthen […]. Wir haben Hunderte von geheimen Schatzkammern eingerichtet. Jede einzelne würde den mächtigsten König neidisch machen.« (STB 253) Und dennoch nutzen sie die Diamanten nicht zu weiteren Zwecken: »Wir haben keinerlei praktischen Nutzen von den Diamanten. Wir sind die reichsten Lebewesen in den Katakomben, aber wir haben nichts davon.« (STB 253) Obgleich die »Klunker« nur Arbeit bereiten – und »Kohle von erheblich größerem Wert« für die Buchlinge ist »als die Diamanten« (STB 253) –, bauen sie die Diamanten kontinuierlich ab; aus einen einzigen Grund: »[W]ir haben uns in die Diamanten verliebt. Sie haben so etwas … Unwiderstehliches. Es macht Spaß, sie zu bearbeiten. Sie bringen Licht in unsere dunkle Welt. Es ist ein kaltes, nutzloses
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Licht, und man braucht Kerzen, um es aus ihnen herauszuholen – aber es ist schön.« (STB 253) Der Diamantenabbau folgt ungewöhnlichen Prinzipien: »Das war keine Diamantmine, sondern eher ein Bildhauer-Atelier. Überall standen die Skulpturen herum, die sie aus Edelsteinen gefertigt hatten.« (STB 253) Es geht ihnen nicht um den materiellen Wert der Diamanten, sondern um ihren bearbeiteten, ästhetisch schönen Zustand. An dieser Stelle spiegelt sich das Verständnis Danzelots in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Gärtner und Züchter wider : Der Gärtner Danzelots ist auf den Nutzen aus, der Züchter auf den ästhetischen Eigenwert. Mit der ›Diamantenen Liste‹ orientieren sich die Buchlinge an Maßstäben, die einerseits nichts mit ihrer Nahrungsaufnahme zu tun haben und andererseits Strukturen aufweisen, die ebenso an der Oberfläche ihre Gültigkeit beanspruchen könnten. Die Bücher, die die Buchlinge sammeln, zeichnen sich durch ihre Einzigartigkeit aus, es sind »die wirklich seltenen Bücher« (STB 219). Die Bücher der ›Goldenen Liste‹ verblassen gegen die der ›Diamantenen‹. Die Buchlinge wissen um die profitorientierten Marktstrukturen und besitzen »Verbindungen, die bis an die Oberfläche von Buchhaim reichen« (STB 241), die ihnen dienlich sind, um ihr Archiv zu erweitern. In ihm bewahren sie »sämtliche Dinge von […] Dichtern« auf, derer sie »habhaft werden können. Briefe, Dokumente von Zeitgenossen, Devotionalien«, aber auch »Haare oder Fußnägel, Glasaugen und Holzbeine« (STB 240). Nicht zuletzt zeigt der Inhalt des Archivs den Umgang der Buchlinge mit der Hochkultur : Die Buchlinge sind Bewahrer und Verehrer von Literatur und jeglichen Residuen ihrer ›Idole‹. Sie sammeln und verwahren Bücher, die von höchstem Wert wären, gelangten sie an die Oberfläche. Doch die Buchlinge »handeln nicht mit Büchern. [Sie] haben andere Einkommensquellen.« (STB 241) Das Buch ist den Strukturen des Marktes entzogen: Die Buchlinge »sind das einzige Volk in den Katakomben, das sich nicht an der Geschäftemacherei mit den Büchern beteiligt.« (STB 364) Ebenso wie sie die einzigen Lebewesen sind, die sich aufgrund ihrer Beschaffenheit »nicht in diesen gnadenlosen Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden, von Jagen und Gejagtwerden einzureihen brauchen« (STB 258). Und ebenso wie die Schönheit der bearbeiteten Diamanten den Buchlingen ausreicht, um die Mühen des Diamantabbaus auf sich zu nehmen, ist es ihr Idealismus, der sie antreibt, ein Archiv anzulegen, ein Bücherkrankenhaus zu betreiben und die Gesamtwerke von Schriftstellern zu memorieren: ›In gewisser Weise sind auch wir Bücherjäger‹, sagte Gofid. ›Obwohl wir uns natürlich nicht der barbarischen Methoden dieser professionellen Mörder bedienen. Wir suchen aus Liebe, nicht aus Gier. Wir suchen mit Herz und Verstand, nicht mit Axt und Schwert. Wir suchen, um zu lernen, und nicht, um uns zu bereichern.‹ (STB 218)
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Die Buchlinge sind Rezipienten, sie lesen und lernen – eigens produktiv sind sie hingegen nicht, sie sind von »Natur aus […] leere Blätter, die beschrieben werden wollen, ohne eigene Persönlichkeit« (STB 235). Einerseits ernähren sie sich von Literatur : Die Materialität des Buches ist essentiell für das Überleben der Buchlinge; andererseits lernen sie das Gesamtwerk eines Schriftstellers ohne ersichtlichen Grund auswendig und sammeln nur aus liebe und Faszination Reichtümer, die an der Oberfläche Ihresgleichen suchen. Die Materialität und Idealität des hier vorliegenden Literaturkonzepts stellt eine potenzierte Form des Literaturkonzepts der Oberfläche dar : Die Materialität ist lebensnotwendig, die Idealität gründet zum einen in dem Desinteresse der Buchlinge an den wirtschaftlichen Strukturen, zum anderen in ihrer grenzenlosen Faszination für Literatur, die darin gipfelt, dass »[j]eder Buchling […] irgendwann den Charakter des Dichters an[nimmt], den er auswendig lernt« (STB 235). Während des Aufenthalts bei ihnen sieht sich Hildegunst »von einer lebenden Bibliothek« umgeben, von den Buchlingen, »die ständig um mich herum waren und pausenlos aus den von ihnen auswendig gelernten Werken rezitierten« (STB 263 f.). Er »suchte besonders die Nähe von denen, deren Werk [ihn] nachhaltig interessierte« (STB 264). Hildegunst lernt von den Buchlingen und erweitert sein literarisches Wissen. Damit nehmen sie neben dem Dichtpaten eine bedeutende Rolle in Bezug auf die Domestikation des später »bekannteste[n] und meistgelesene[n] Schriftsteller[s] Zamoniens« (EK 229) ein. Die Buchlinge besitzen keine Einsicht in das Orm, doch die Werke der Dichter, die sie auswendig lernen, sind zum Teil unter Einfluss des Orms geschrieben worden. In den von den Buchlingen wiedergegebenen Textstellen ihrer Vorbilder verweisen sie dadurch über ihren eigenen Idealismus hinaus auf wesentliche Merkmale des Orms: ›Natur‹ und ›Ursprung‹. Sie leiten damit bereits ein, was erst in ›Schloß Schattenhall‹ Realität werden wird: die Rückkehr zu Natur und Ursprung durch den Kontakt mit dem Orm. Das dem ersten Teil der Stadt der Träumenden Bücher vorangestellte Gedicht wurde in seinen relevanten Zeilen bereits zu Beginn angeführt – es wird während des Ormens von dem Buchling Colophonius Regenschein noch einmal vorgetragen: »Wo alte Bücher Träume träumen / Von Zeiten, als sie Bäume waren« (STB 230). Das kulturelle Produkt des Buches träumt von seinem eigenen Ursprung, der in einem vergangenen Naturzustand begründet ist. Ebenso verweisen die Buchlinge bereits bei ihrem ersten Auftreten auf ›Ursprünglichkeit‹ und ›Natürlichkeit‹. Golgo, Gofid und Danzelot stellen sich Hildegunst vor, indem sie Verse aus dem Werk des Schriftstellers vortragen, das sie auswendig lernen, Golgo unter anderem mit den Versen: »Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war, / Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar.« (STB 206) Diese, Goethes Faust (1808) entstammenden, Verse verweisen auf die Erschaffung der Welt. Von Mephisto geäußert entsprechen sie einer mythisch-
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christlichen Sichtweise. Gofid Letterkerl gibt, leicht verändert, die erste Strophe des Abendlieds an die Natur (1846) von Gottfried Keller zum Besten: Hüll mich in deine grünen Decken Und lulle mich mit Liedern ein! Bei guter Zeit magst du mich wecken Mit eines jungen Tages Schein! (STB 206)
Schlussendlich kommt auch der dritte Buchling zu Wort und rezitiert eine Textpassage aus Danzelots Werk: »Alle sind wir unmittelbare Ausgeburten der Erde […], gewesener Staub, zukünftiger Moder. In ewigem Rhythmus ziehen wir ohne Unterlaß vorbei, ein Festzug des Lebens, ein Trauerzug der Vergänglichkeit.« (STB 207) Während der erste Buchling den Ursprung thematisiert, besingt der zweite die Natur. Der dritte Buchling hingegen schließt den Kreis und führt, zusätzlich zu den Motiven des Entstehens und der Natur, das des Vergehens an. Gemeinsam stehen sie für ein zyklisch organisiertes Weltbild, ausgehend von der Natur zurück zur Natur. Der Buchhaimer Antiquar Hachmed Ben Kibitzer rezitiert als erster folgende Stelle aus Danzelots Werk, die wiederholt gekürzt aufgegriffen wird: So bleibt uns zur Beruhigung nur die Natur. Fast instinktiv treten wir hinaus ins Freie, draußen im Garten, beim Rauschen der Bäume und unter den Sternen atmen wir freier – dort wird’s uns leichter ums Herz. Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir. Das Leben ist nur eine Reise in die Fremde. (STB 49)
Das Leben wird als »eine Reise in die Fremde« (STB 49) verstanden. Der Ort des Ursprungs, des Entstehens, wird benannt: die Sterne, die zugleich der Ort des Vergehens sind. Als Golgo von dem Werk des Dichters schwärmt, das er auswendig lernt, zitiert er mit verklärtem Blick Ein gleiches (1815) von Goethe12 :
12 Die einzige semantische Veränderung gegenüber der Vorlage findet sich in der sechsten Zeile, die im Original »Die Vögelein schweigen im Walde.« lautet. (Johann Wolfgang von Goethe: Ein gleiches [ED 1815]. In: ders.: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 1: Gedichte und Epen I. Hg. v. Erich Trunz. 12. Aufl. München 1981, S. 142.). Dass sich infolge dessen eine Silbe weniger in dieser Gedichtzeile wiederfindet, ist nicht bedeutungstragend, bzw. -unterscheidend, denn insgesamt weist das Gedicht eine freie Metrik auf (nicht jedoch eine freie Rhythmik, worauf Andreas Heusler entschieden verweist), die dadurch nicht entscheidend beeinträchtigt wird. Das Anliegen Moers‘ scheint mir eine ›Zamonisierung‹ realer Kulturbestände zu sein, die dadurch erzeugt wird, dass er die »Vögelein« durch die »Nurnen« ersetzt; vgl. Andreas Heusler: Goethes Verskunst. Ein Basler Aulavortrag. In: ders.: Kleine Schriften. Hg. v. Helga Reuschel. Bd. 1. Berlin 1943, S. 462 – 482, hier S. 481.
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Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch Die Nurnen schweigen im Walde Warte nur, balde Ruhest du auch. (STB 239)
Thematisch zentral ist in diesem Gedicht die Ruhe in der Natur, und Natur heißt hier : die alles umfassende unberührte, ursprüngliche Natur, »vom Großen zum Kleinen; vom Unbelebten zum Belebten«13. Unbelebte wie belebte Natur, und damit Rezipient und Adressat, werden durch ein Merkmal geeint: die Ruhe. »Das gleiche gilt von dem Substantiv, das am weitesten in der Mitte des Gedichts steht: ›Hauch‹. Hauch ist Windhauch der außermenschlichen Natur und Atemhauch des Menschen.«14 Der entsprechende Reim findet sich in der letzten Zeile des Gedichts. »Gäbe es ein Echo des Hauches, es lautete: ›auch‹. Der Mensch ist das Echo der Natur, die Echo des Menschen ist.«15 Kaiser zufolge wird in diesem Gedicht die Grenze zwischen Mensch und Natur aufs Engste aneinander geführt. Noch besteht sie, doch ist der Mensch nicht so sehr Kultur als vielmehr Spiegel der Natur. Ähnlich den zitierten Versen Danzelots glimmt auch hier das Motiv der Endlichkeit auf. In ihrer Funktion verwehrt die Endlichkeit den Lebewesen die Sonderstellung vor der unbelebten Natur – kein Zeichen verweist auf Kultur, außer dem Zeichen selbst.16 Bevor Hildegunst die Lederne Grotte Hals über Kopf verlassen muss, wird erneut ein Zitat Goethes leicht verändert wiedergegeben: Flieh! Auf! Hinaus ins weite Land! Und die geheimnisvolle Schrift, Von eines Unbekannten Hand, 13 Gerhard Kaiser : Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in Interpretationen. Bd. 1: Von Goethe bis Heine. Frankfurt a. M./Leipzig 1996, S. 265 f. 14 Ebd., S. 267. 15 Ebd. 16 Dass in diesem Gedicht Goethes das Motiv der Endlichkeit emphatisch gesteigert, als ›Todeserwartung‹ im Mittelpunkt stehe, weist auch Terence James Reed von der Hand: »Höchstens das halb feierliche ›Warte nur, balde‹ (V. 7) könnte auf Todeserwartung oder gar -wunsch deuten, ebensogut freilich auf das normale menschliche Schlafbedürfnis. Anders nämlich als im ersten Nachtlied weist hier nichts auf Lebensüberdruß«. Terence James Reed: Wandrers Nachtlied / Ein gleiches. In: Goethe Handbuch. Bd. 1. Hg. v. Regine Otto u. Bernd Witte. Stuttgart 1996, S. 187 – 194, hier S. 192. Wird die Interpretation einer emphatischen Todeserwartung nicht zugelassen, ist einer Sichtweise Platz geschaffen, die Brandt als Einklang des Dichters »mit der geschichtlichen und der natürlichen Ordnung« (Brandt 2006, S. 39) charakterisiert.
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Ist sie Dir nicht Geleit genug? Erkennest dann der Sterne Lauf Und wenn Natur dich unterweist Dann geht des Ormes Kraft Dir auf, Wie spricht ein Geist zum andern Geist. (STB 289)
Diese Verse entstammen wiederum Goethes Faust. In den letzten vier Zeilen wird die Verbindung von einer unberührten Natur zum Orm gezogen: Die Natur ist es, die den Dichter unterweisen muss, damit das Orm diesem überhaupt zugänglich ist. Auch andere Zitate thematisieren ›Ursprünglichkeit‹ und ›Natürlichkeit‹ immer wieder : Der Buchling Danzelot rezitiert eine Stelle Danzelots, die zuvor bereits Kibitzer verlauten ließ: »Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir. Das Leben ist nur eine Reise in die Fremde« (STB 210). Nicht dass sich durch die Wiederholung der verschiedenen Zitate andere Konnotationen ergäben, doch das redundante Rezitieren der Buchlinge in zusehends kürzeren Abständen verweist darauf, dass sich Hildegunst einem Raum nähert, der ›Natur‹ und ›Ursprung‹ verspricht. Die bisher geschilderten Räume eint ein wesentliches Merkmal, so differenziert ihre Strukturprinzipien oberflächlich auch aussehen mögen: Die reglementierenden Ordnungsprinzipien sind in allen Räumen gleichermaßen gegeben. In der Lindwurmfeste ist es der Kanon einer elitären Hochliteratur ; das Leben der jungen Lindwurmfestler wird durch ihre künstlerische Ausbildung bestimmt, und die Dichtpaten geben weiter, was sich über Generationen hinweg etabliert hat. Die Literatur, die sich an der Oberfläche behauptet hat, hat auch ihren Weg zu den Buchlingen gefunden. Die Merkmale und Strukturen der Katakomben sind wiederum nicht unabhängig von denen der Oberfläche: »Ohne Oberfläche keine Tiefe« (STB 45). Beide Räume sind von kulturellen Kanonisierungsprozessen geprägt, die sich in ›Goldenen‹ und ›Diamantenen‹ Listen manifestieren: von »Lehrplänen verordnete[r] Klassikerschrott« (STB 407). Ein Weg außerhalb der Strukturprinzipien dieses Kanons ist nicht vorgesehen; der Weg ›zurück zur Natur‹ ist versperrt. Buchhaim unterliegt aufgrund der manipulativen Machenschaften Phistomefel Smeiks anderen Ordnungsprinzipien: politischen Markt- und Machtmechanismen, deren Einfluss auch die anderen Räume bedroht. Smeiks Haus steht im Zentrum Buchhaims und versinnbildlicht so die Zentralisierung vorherrschender Strukturen: Alle Fäden laufen in einem Punkt zusammen.
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Utopia: jenseits aller Strukturen In ›Schloß Schattenhall‹ unterliegt das Literaturverständnis idealistischen und höheren Prinzipien als bei den Buchlingen. ›Ursprünglichkeit‹ und ›Natürlichkeit‹, Entstehen und Vergehen sind die zentralen Merkmale des Orms, das die höchste schriftstellerische Leistung generiert. Hildegunst hat das Orm bisher als einen »alten Glauben«, »eine Art mysteriöse Kraft« abgetan, »die manche Dichter in Augenblicken höchster Inspiration durchströmen soll« (STB 20). Doch die Begegnung mit dem Orm ist in ›Schloß Schattenhall‹ unausweichlich, und Hildegunst wird eines Besseren belehrt. Die Bücher der Privatbibliothek des Schattenkönigs unterliegen anderen Auswahlkriterien als die der ›Goldenen‹ und ›Diamantenen Liste‹. In ihr sind »Bücher für Dichter« enthalten, die ausschließlich »nach dem Kriterium gesammelt und geordnet [wurden], wie stark das Orm durch ihre Dichter geströmt ist, während sie es verfaßt haben« (STB 403 f.). Hildegunst erfährt die Kraft des Orms am eigenen Leib: Er kann nicht aufhören zu lesen, vergisst darüber die Zeit und muss währenddessen vom Schattenkönig ernährt und letztlich unter Widerstand aus der Bibliothek entfernt werden. Was das Orm genau ist, hat er bisher jedoch nicht begriffen: Du wirst es in dem Augenblick verstehen, in dem du es spürst. […] Das sind die Augenblicke, in denen die Ideen für ganze Romane in wenigen Sekunden auf dich niederstürzen. Man kann es spüren, wenn man einen Dialog schreibt, der so brillant ist, daß ihn die Schauspieler in tausend Jahren noch Wort für Wort auf den Bühnen nachbeten werden. (STB 406)
Doch auf die Aussage Hildegunsts, es gäbe Literatur, die ewig sei, antwortet der Schattenkönig verhöhnend: Dichtung ist nicht für die Ewigkeit. […] Sie ist für den Augenblick. Und sollte man Bücher aus Stahl fertigen, mit Buchstaben aus Diamanten, sie würden dereinst zusammen mit diesem Planeten in die Sonne stürzen und schmelzen – etwas Ewiges gibt es nicht. Schon gar nicht in der Kunst. Es kommt nicht darauf an, wie lange eines Dichters Werk noch dahinfunzelt, nachdem er schon gestorben ist – es kommt darauf an, wie hell es brennt, während er noch lebt. (STB 368)
Der Schattenkönig reduziert das Medium ›Buch‹ auf seine Materialität und Vergänglichkeit und damit auf seine bloße Gegenwärtigkeit: Wenn der Planet sich seinem Ende neigt, wird auch jede Form der Kunst mit untergehen. Die von Kibitzer zitierte Passage Danzelots spielt ebenso auf die Endlichkeit und Vergänglichkeit allen Lebens an, doch das eigentliche Anliegen des Schattenkönigs versteckt sich im letzten Satz seiner Äußerung, den er noch einmal ähnlich wiederholt: »Es kommt darauf an, wie hell das Orm in dir brennt, während du schreibst.« (STB 368)
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Der Schriftsteller ist in seiner Praxis auf den Moment angewiesen, in dem das Orm ihn durchdringt – vice versa ist dieser Moment nur dem ›wahren Schriftsteller‹ vorbehalten. Die Impulse schriftstellerischer Praxis werden auf eine Metaebene verlagert, die ›Normalsterblichen‹ nicht zugänglich ist – nicht ohne Grund ranken sich allerorts Mythen um das Orm, denn nur wenige können in direkten Kontakt mit dem Orm treten. Doch der Aufenthalt in der ›Bibliothek des Orms‹ ist nur eine der »Lektionen« (STB 384), die Hildegunst in ›Schloß Schattenhall‹ durchzustehen hat. So bekommt er bei dem Tanz mit den ›Weinenden Schatten‹ das »Wissen einer längst vergangenen Epoche« (STB 382) übermittelt oder lernt, mit der linken Hand, das heißt: auf für ihn »natürliche Art zu schreiben« (STB 484). Die Lektionen des Schattenkönigs hatten wenig mit den üblichen Dingen zu tun, die man in einer normalen künstlerischen Ausbildung zu tun lernt – die ich ja auch von Danzelot erhalten hatte –, sondern hatten einen äußerst unkonventionellen, ja, ich möchte fast sagen: unseriösen, Lehrstoff zum Inhalt, den vielleicht nur er allein beherrschte und vermitteln konnte. (STB 384)
Die Ausbildung Hildegunsts ist hier explizit gemacht und strukturiert, zwischen »Therio und Praxis« (STB 384). Sie erscheint Hildegunst als Grund dafür, weshalb der Schattenkönig ihn überhaupt »in sein Schloß gelockt hatte: Weil er die Geheimnisse seiner Kunst an [ihn] weiterreichen wollte.« (STB 376) ›Schloß Schattenhall‹ ist der Ort, an dem Rezeption und Produktion, Theorie und Praxis einem Ziel dienen: der Ausbildung Hildegunsts, um ihn auf den Weg zu bringen, Einsicht in das Orm zu gewinnen. »Die kreative Dichte des Orms ist unermeßlich. Es ist ein Quell der Inspiration, der nie versiegt – wenn man weiß, wie man dorthin gelangt« (STB 377), es ist Instrument und Vehikel künstlerischer Kreativität. Es führt denjenigen, der mit ihm in Kontakt tritt, »weit hinauf an einen Ort des Universums, an dem sich alle künstlerischen Ideen kreuzten und vereinigten« (STB 340 f.). Es stößt die »Vorstellungskraft« an und lässt den Dichter »eintauchen in schiere Phantasie und eine Kraft tanken, die den meisten zeitlebens vorenthalten war. Eine einzige Sekunde in diesem Kraftfeld genügte, um einen Roman zu gebären.« (STB 341) Als der Schattenkönig von diesem Ort zurückkehrte, war er zum Bersten gefüllt mit Worten, Sätzen, Ideen, alle vorgefügt, poliert, geschliffen, er brauchte alles nur noch niederzuschreiben. Und er war beglückt und bestürzt zugleich darüber, wie gut das war, was aus seiner Feder floß, und wie wenig er selbst eigentlich dazu beigetragen hatte. (STB 341)
Der Dichter erscheint als schreibendes Medium, dem von einer höheren Macht diktiert wird, was in Zamonien »den Eindruck eines makellosen Kunstwerkes« (STB 25) erweckt. Erst nachdem der Schattenkönig »diese Geschichte unter dem Einfluß des Orms geschrieben und wieder und wieder gelesen hatte, fühlte er
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sich wirklich wie ein Dichter« (STB 355). Der ›wirkliche Dichter‹ muss unter dem Einfluss des Orms schreiben. In dem Konzept des Orms als Privileg des Dichters spricht sich das Geniekonzept aus, wie es im 18. Jahrhundert Konjunktur hatte. Der Begriff des Genies wird dort auf den Künstler beschränkt, der in der Lage ist, »Einmalig-Unverwechselbares«17 zu schaffen. Seine Begabung hat er allem Anschein nach der Natur zu verdanken. Immanuel Kant bindet den Genie-Begriff »zurück an den alten Natur-Kunst- bzw. ingenium-studium-Gegensatz«18, indem er das Genie als »angeborne Gemüthsanlage (ingenium) [bestimmt], durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt«19. Damit ist »die herkömmliche Rangordnung umgekehrt und die Natur statt der Kunst zur regelgebenden Instanz gemacht.«20 Unter Natur versteht Kant das übersinnliche Substrat aller Vermögen des Genies.21 Das dichterische Genie Zamoniens tritt als Instanz auf den Plan, das die künstlerischen Kräfte des Orms zu bändigen vermag, unterwiesen von der Natur. Indem es dort Aufgenommenes regelhaft, das heißt lesbar gestaltet, gewährt es den Zamoniern, denen der Zugang zum Orm nicht möglich ist, einen Einblick in die höhere Sphäre künstlerischen Schaffens. Ähnlich dem Naturverständnis Kants ist auch im Lessingschen Sinne die Natur des Genies nur eine scheinbare: »Die ›Natur‹ ist bloßer Schein: eine besonders gut verborgene Kunstfertigkeit – Kunst, die sich den Anschein des Natürlichen zu geben versteht.«22 Der Ausspruch des Schattenkönigs »Wenn man Papier fest genug schichtet, wird es wieder zu Holz.« (STB 355) meint nichts anderes als: Das dichterische Genie, das Einblick in das Orm zu gewinnen vermag, geht den Weg über die Kultur zurück zu Natur. Die Natur tritt vermittelt durch den Dichter im Kulturellen wieder hervor. Ist schon die der Geschichte vorausliegende arkadische Idylle eine Idee des sentimentalischen Menschen, dessen Bewußtsein sich durch Geschichte von Natur geschieden weiß, so kann noch das Ziel des unendlichen geschichtlichen Weges, eine auf
17 Klaus Weimar : Genie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Klaus Weimar [u. a.]. Berlin/New York 1997, S. 701 – 703, hier S. 702. 18 Ebd. 19 Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft [ED 1790]. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abtheilung: Werke. Bd. 5. Berlin 1913, S. 165 – 485, hier S. 307. 20 Ebd., S. 702. 21 Vgl. Eberhard Ortland: Genie. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 2. Hg. v. Karlheinz Barck [u. a.]. Stuttgart 2001, S. 661 – 709, hier S. 693. 22 Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Darmstadt 1985, S. 73.
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der Stufe der voll ausgebildeten Kultur herzustellende erneute Harmonie des Menschen mit sich und seiner Welt, Natur genannt werden.23
Im Orm kreuzen und vereinigen sich »alle künstlerischen Ideen« (STB 340 f.). Doch mehr als das ist gegeben, wenn Gofid verlauten lässt: »Wir müssen alle eines Tages in das große Mysterium eintreten […]. Vor dem Orm sind wir alle gleich« (STB 208), ganz im Sinne des Ausspruchs »Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir.« (STB 210) Mit dem Tod treten alle Lebensformen in das Orm ein, in dem es keinen Unterschied zwischen ihnen mehr gibt. Die Nivellierung allen Lebens und, damit einhergehend, das Aufbrechen von Hierarchien führt zu Dezentralisierung und Gleichberechtigung: »Es war ein verrückter Ort, an dem alle Naturgesetze aufgehoben schienen, wo die Dimensionen aufeinandergestapelt lagen wie ungeordnete Manuskripte, wo der Tod nur ein blöder Witz war und die Ewigkeit ein Wimpernschlag.« (STB 341) Das Orm verabschiedet die herkömmlichen Ordnungsmuster : Arkadien ist ein »Zustand außer der Zeit«24. Es führt den Dichter zwar an einen Ort des Universums, aber dieser Ort kann nur metaphorisch verstanden werden: Arkadien ist ebenso wenig räumlich wie zeitlich. Im Orm begegnet dem Dichter, was ihm in seiner kulturellen Welt verschlossen bleibt: Natur und Ursprung. »Er fühlt sich am glücklichsten, wenn er die Stadt, den Raum der Zivilisation, hinter sich lassen und in einsame Gegenden entweichen darf, um die Natur zu genießen«25. ›Natur‹ meint an dieser Stelle die schöne Natur. Das Konzept der domestizierten und somit ästhetisch schönen Natur erinnert an Danzelots Naturverständnis, unserer Analyse nach zunächst nichts weiter als Kultur in ihrer Naturanlage. Doch Garbers Analyse bezüglich Gessners Idyllen wirft ein anderes Licht auf Danzelots Sichtweise: Diese ländliche Wunschlandschaft des Dichters […] ist als reich beschattete durch und durch nicht nur auf Harmonie, sondern mehr noch auf Frieden hin angelegt. Sanfte Ruhe breitet sich um den friedlichen Eingang aus und waltet im Innern des sorgfältig nach außen hin abgeschirmten Raumes – Symbol für den in jedem Zug bekräftigten Umstand, daß die Uhren hier anders schlagen als in der Welt da draußen. Die Tierwelt ist, wie seit altersher in der Gattung, nicht in Aufruhr, sondern der Mensch neigt sich ihr spielend und fördernd gerne zu. Der Garten trägt die Spuren menschlicher Kultur, aber er ist ein Spiegel einfältiger Kunst, nicht des herrischen Zugriffs wie im höfischen Park. Anschmiegen statt Herrschen lautet auch hier die Devise, und die Natur dankt gleichsam, indem sie sich dem Menschen bereitwillig […] zuneigt. Noch das die Szene belebende Genrebild des an der Gartenarbeit sich versuchenden Dichters ist wohl-
23 Gerhard Kaiser : Von Arkadien nach Elysium. Schiller-Studien. Göttingen 1978, S. 9. 24 Klaus Garber : Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. Paderborn 2009, S. 12. 25 Ebd., S. 84.
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komponiert. In dieser friedlichen Landschaft haben Unterschiede des Rangs und Namens keinen Platz, weil Natur sie dispensiert hat.26
Danzelot zufolge »bleibt uns zur Beruhigung nur die Natur. Fast instinktiv treten wir hinaus ins Freie, draußen im Garten, beim Rauschen der Bäume und unter den Sternen atmen wir freier – dort wird’s uns leichter ums Herz.« (STB 49) Der Garten spiegelt die menschliche Kultur wider, ohne jedoch die hierarchischen Strukturen dieser zu übernehmen. Er ist als Idylle eine ›Wunschlandschaft des Dichters‹, denn in der Zeitlosigkeit, außerhalb dieser Strukturen, existiert künstlerische Freiheit. Das Bild von Danzelots Naturverständnis muss somit korrigiert werden. Arkadien ist retrospektiv betrachtet bereits zu Anfang der histoire angelegt. Danzelot, der das Orm am eigenen Leib erfahren und daraufhin Vom Gartengenuß verfasst hat – denn auch dieses Buch befindet sich in der ›Bibliothek des Orms‹ –, weiß um das Orm, um Arkadien.
Schluss Die kulturellen Räume Zamoniens erweisen sich als defizitär. Sie sind bestimmt von marktorientierten Strukturen und Kanonisierungsprozessen, die keine Gleichberechtigung und künstlerische Freiheit zulassen, in dem Maße, in dem das Orm dies ermöglicht. Aus der Kultur scheint zunächst kein Weg herauszuführen, der Weg zurück zu einem natürlichen Zustand ist versperrt. Doch die Kultur geht im Orm auf, ohne dass das Orm die defizitären zamonischen Strukturen übernimmt. Es ist weder räumlich noch zeitlich und beinhaltet sowohl alle natürlichen Lebensformen als auch kulturellen Gedanken des gesamten Universums. Ordnende und strukturierende Prinzipien besitzen im Orm keine Gültigkeit. Die Nivellierung allen Lebens, aller Kultur und das Aufbrechen hierarchischer Strukturen lassen es in Kontrast zu den anderen dargestellten Kulturräumen als Ideal erscheinen. Das einzige ordnende Prinzip ist der Dichter, der in den von Strukturen entlasteten Raum einzudringen vermag: »Arkadien […] läßt sich nur […] in Versen und Prosa, in der Musik oder in Bildern gestalten und durch Kunst vermittelt erleben.«27 Was er dort vorfindet, hat nichts 26 Ebd., S. 89 f. Brigitte Peucker schreibt über Gessners Idyllen: »The land of Gessner‘s Idyllen […] is a region where poesy ist the ›Muttersprache der Menschheit.‹ But it is a land without conflict, without the element of historical change which creates tension, and without the element of religious commitment which promotes divisive passion.« Brigitte Peucker : Arcadia to Elysium. Preromantic Modes in 18th Century Germany. Bonn 1980 (Studien zur Germanistik, Anglisitk und Komparatistik 81), S. 57. Die Übereinstimmungen zu bisher aufgeführten Aspekten sind offensichtlich: Die Idylle ist ursprünglich, steht außerhalb der Zeit und ist frei von regulierenden Instanzen. 27 Brandt 2006, S. 12.
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mit der üblichen Kenntnis von Literatur und Kultur gemeinsam. Archaische Formen und künstlerische Kräfte des gesamten Universums generieren ein kreatives Potential, das auf der Welt selbst nicht möglich ist und dort als vollkommen erscheint. Arkadien scheint zunächst nicht erreichbar zu sein, doch »[w]enn man Papier fest genug schichtet, wird es wieder zu Holz« (STB 355): Der Weg zur höchsten Kulturform, zum Eindringen in das Orm, ist der Weg des kulturell Gebildeten selbst, des Genies, und einzig diesem vorbehalten. Das Eindringen in die Form konzentrierter Kultur ist in diesem Falle gleichbedeutend mit dem Vordringen zurück zu Natur und Ursprung: Der Kontakt mit dem Orm ist die Vergegenwärtigung Arkadiens. Der Weg Hildegunsts führt von der Lindwurmfeste zurück zur Lindwurmfeste, durch die Kultur zurück nach Arkadien.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragödie [ED 1808]. In: ders.: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 3: Dramatische Dichtungen I. Hg. v. Erich Trunz. 10. Aufl. München 1981, S. 142. Goethe, Johann Wolfgang von: Ein gleiches [ED 1815]. In: ders.: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 1: Gedichte und Epen I. Hg. v. Erich Trunz. 12. Aufl. München 1981, S. 142. Kant, Immanuel: Kritik der Urtheilskraft [ED 1790]. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abtheilung: Werke. Bd. 5. Berlin 1913, S. 165 – 485. Keller, Gottfried: Abendlied an die Natur [ED 1846]. In. ders.: Sämtliche Werke. Bd. 9: Gesammelte Gedichte. Erster Band. Hg. v. Walter Morgenthaler [u. a.]. Basel/Frankfurt a. M./Zürich 2009, S. 40 f. Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater [ED 1810]. In: ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Bd. II/7: Berliner Abendblätter. Hg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Basel/Frankfurt a. M. 1997, S. 321 – 331. Moers, Walter: Die Stadt der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. München 2004. Moers, Walter : Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 2000. Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den
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Menschen (1755). In: ders.: Schriften zur Kulturkritik. Hg. u. übers. v. Kurt Weigand. 5. Aufl. Hamburg 1995, S. 61 – 269.
Sekundärliteratur Brandt, Reinhard: Arkadien in Kunst, Philosophie und Dichtung. 3. Aufl. Freiburg i. Br./ Berlin 2006 (Rombach Wissenschaften. Reihe Quellen zur Kunst 25). Garber, Klaus: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. Paderborn 2009. Heusler, Andreas: Goethes Verskunst. Ein Basler Aulavortrag. In: ders.: Kleine Schriften. Hg. v. Helga Reuschel. Bd. 1. Berlin 1943, S. 462 – 482. Kaiser, Gerhard: Von Arkadien nach Elysium. Schiller-Studien. Göttingen 1978. Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in Interpretationen. Bd. 1: Von Goethe bis Heine. Frankfurt a. M./Leipzig 1996. Korten, Lars: In 1312 Leben um die Welt. Walter Moers’ Zamonien global und regional betrachtet. In: Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Hg. v. Martin Hellström u. Edgar Platen. München 2008 (Perspektiven. Nordeuropäische Studien zur deutschsprachigen Literatur und Kultur 4), S. 53 – 62. Ortland, Eberhard: Genie. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 2. Hg. v. Karlheinz Barck [u. a.]. Stuttgart 2001, S. 661 – 709. Peucker, Brigitte: Arcadia to Elysium. Preromantic Modes in 18th Century Germany. Bonn 1980 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 81). Reed, Terence James: Wandrers Nachtlied / Ein gleiches. In: Goethe-Handbuch. Hg. v. Regine Otto u. Bernd Witte. Bd. 1: Gedichte. Stuttgart [u. a.] 1996, S. 187 – 194. Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Darmstadt 1985. Stephan, Rüdiger : Goldenes Zeitalter und Arkadien. Studien zur französischen Lyrik des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1971 (Studia Romanica 22). Weimar, Klaus: Genie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Klaus Weimar [u. a.]. Berlin/New York 1997, S. 701 – 703.
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Von toten Autoren und Lebenden Büchern. Allegorien und Parodien poststrukturalistischer Literaturtheorie in den Katakomben der Stadt der Träumenden Bücher
Willkommen in den Katakomben von Buchhaim – einem »Ort, wo einen das Lesen in den Wahnsinn treiben kann. Wo Bücher verletzen, vergiften, ja, sogar töten können.« (STB 9) – einem Ort, in dem sich Literatur von der eigenen Funktion als reiner Lesestoff emanzipiert und zu den seltsamsten Daseinsformen mutiert. In dieser antiquarischen Unterwelt treffen die waghalsigen Moersleser gemeinsam mit dem autodiegetischen Erzähler Hildegunst von Mythenmetz auf bibliophile, einäugige Minimonster, aus alchimistischen Papierfetzen bestehende Höhlenherrscher und allerlei vielbeiniges Buchungeziefer. Bevor wir aber den Spuren des Ich-Erzählers Mythenmetz zu den vielfältigen Daseinsformen der Katakomben folgen, wird zuerst ein kurzer Überblick über die dargestellte Welt nötig: die Stadt der Träumenden Bücher. Diese literarische Stadt teilt sich in ihre zwei Dimensionen der Ober- und Unterwelt, deren erstere noch relativ ›normal‹ zu sein scheint, während letztere mehr als eigenartige Erscheinungsformen annimmt. Die auf der Erdoberfläche verortete Stadt Buchhaim stellt in ihrer ganzen Vielfältigkeit die klassische Kulturindustrie mit allen kommerziellen Aspekten des Medien-, Werbe-, Verlags- und Literaturbetriebes dar : »Über viele Jahrhunderte, ja, Jahrtausende war diese Stadt der Knotenpunkt des Buchhandels in Zamonien: von der Zeit an, in der die ersten handgeschriebenen Bücher auftauchten, bis hin zu den heutigen Tagen der Massenproduktion.« (STB 55) Was hier zählt, ist »das verkaufte Papier. Und nicht die Worte, die drauf stehen.« (SB 352) Ganz anders verhält es sich mit der Unterwelt Buchhaims: In diesem mit Büchern überfrachteten, von »Gefahren ganz eigener Art« (STB 55) und den unmöglichsten Daseinsformen bevölkerten unterirdischen Labyrinth gibt es keine Gesetze, keine Ordnung, keine Orientierung (STB 56). Während die relativ realistisch gehaltene Oberwelt also ein traditionelles Konzept von Literatur im Raum von Kultur und Kommerz vertritt, existiert die Literatur im phantastischen Gegenraum der Unterwelt nur als Selbstzweck, mehr noch: Literatur emanzipiert sich hier so weit von ihrer ursprünglichen Funktion, dass sie eine eigenständige Dynamik entwickelt. Was aber verbirgt sich hinter dem auf den ersten Blick zugegebenermaßen
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absonderlichen Bestiarium der Unterwelt Buchhaims? Leitthese soll im Folgenden sein, dass dieser Mikrokosmos der absurden Daseinsformen in den Katakomben von Buchhaim nicht etwa willkürliche Fantasyformen generiert hat, sondern sich in seinen Elementen ein nachweislich parodistisches FantasyVexierbild moderner literaturtheoretischer Konzepte nachweisen lässt. Neue Konzepte der poststrukturalistischen Literaturtheorie für die drei wesentlichen Elemente im literarischen Kommunikationsprozess von Literatur, namentlich Autor, Leser und Text, erfahren hier auf der Folie einer phantastischen Welt eine transformierende Verstofflichung und werden so zu parodistisch angelegten Allegorien.1 Im Mittelpunkt dieser These steht das so viel zitierte wie vieldiskutierte Diktum Roland Barthes, das zum Verständnis einer ›neuen Literatur‹ sicherlich den zentralen Beitrag lieferte: »Wir wissen, dass der Mythos umgekehrt werden muss, um der Schrift eine Zukunft zu geben. Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.«2 Der vorliegende Text begibt sich nun auf Spurensuche: Welche Konzepte von Literatur und Intertextualität lassen sich in dem vielschichtigen Labyrinth der Katakomben von Buchhaim nachweisen? Welche Leserkonzepte können wir im skurrilen Wesen der Buchlinge entdecken? Was für eine Literatur verkörpern die insektenhaften ›Lebenden Bücher‹? Und schließlich: Welche Formen und Funktionen von Autorschaft vertreten die intra- und autodiegetischen Erzähler, der Schattenkönig und Hildegunst von Mythenmetz? Der Roman Die Stadt der Träumenden Bücher wird dabei nach G¤rard Genette nicht nur als postmoderner Meta-, sondern auch als spielerischer wie satirischer Hypertext zur Literaturtheorie gelesen.3 Der Analysefokus liegt demgemäß im Folgenden auf dem zweiten Teil des Romans, in dem der Ich-Erzähler Hildegunst von Mythenmetz 1 Die Problematik der genauen Abgrenzung und Definition der Allegorie soll hier undiskutiert bleiben. Gewählt wurde dieser Term im Folgenden, um den Zusammenhang der Materialisation von Literaturtheorien zu verdeutlichen. Die Allegorie drückt hier also im Sinne der klassischen Definition eine Personifikation von abstrakten theoretischen Konstruktionen aus. 2 Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis [u. a.]. Übers. v. Fotis Jannidis Stuttgart 2000, S. 185 – 193, hier S. 193. 3 Vgl. G¤rard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1993; zumal im Roman selbst bereits eine Vielzahl anderer literarischer Werke einbezogen sind, die dabei die unterschiedlichsten Varianten eines intertextuellen Gewebes darstellen – sei es als Paratext via Vorwort und den Kapiteln vorangestellten Gedichten oder Motti, als Binnengeschichte (etwa des Schattenkönigs), als Metatext in Form von gerafften Wiedergaben ganzer Romaninhalte oder Zitationen von Lyrik (beides z. B. aus »Die Katakomben von Buchhaim« von Colophonius Regenschein, STB 7 und 160). Auch auf Hyper- wie Architextualität muss hier kaum umfangreich verwiesen werden, greift der Roman doch auf zahlreiche Genrekonventionen der Gothic Novel zurück und transformiert diese zugleich zum spielerischen wie parodierenden Hypertext (für einen Überblick über zentrale Elemente der Gothic Novel vgl. Maggie Kilgour: The Rise of the Gothic Novel. London 1995).
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sich durch die labyrinthische Unterwelt bewegt und dabei seine eigene Ausbildung als Autor und ›Literaturgott‹ Zamoniens begründet. Daher wird zunächst genauer auf die Raumstruktur der Katakomben von Buchhaim und die Raumbewegungen des darin verorteten Autors eingegangen. Auch das von ihm verkörperte Konzept von Autorschaft und die damit verknüpfte Literaturproduktion soll hier näher beleuchtet werden, um dann anschließend die seltsamen Erscheinungsformen, die ihm dort unten an verschiedenen Stationen seines Weges begegnen, näher betrachten zu können.
Der Intertext als Labyrinth: Buchhaims Katakomben Während es jedem jungen Autor in Zamonien problemlos möglich ist, der Stadt Buchhaim einen Besuch abzustatten, ist der Eintritt in die Katakomben ungleich schwieriger und kann nur »auf düsteren, labyrinthischen und gefährlichen Pfaden tief hinab, hinab in die Eingeweide der Erde« (STB 9) erreicht werden. Die eigentliche Stadt ist damit als der ›harmlose Teil‹ der Diegese semantisiert, ihre leicht zugängliche Oberfläche bildet dementsprechend die Oberflächenstruktur (Handlung/narrative Struktur) literarischer Werke ab. Schwerer zugänglich hingegen ist die literarische Tiefenstruktur des Textes, die in Form der Katakomben daherkommt. Denn diese kann erst durch intensives Interesse an einem Text und aktive Interpretationstätigkeiten erreicht werden, wie Mythenmetz dies an der (Text- und Stadt-)Oberfläche durch seine mehrfache Lektüre und die eindringlichen Fragen und Gespräche über Literatur leistet. Die Katakomben von Buchhaim verweisen dementsprechend auch auf die textuelle Tiefenstruktur literarischer Werke, versammeln sich hier doch alle Prä- und Intertexte der zamonischen Literaturgeschichte zu einer unüberschaubaren unterirdischen Bibliothek. Bereits beim Überschreiten der Grenze hinein in die Katakomben wird diese enge Korrelation der beiden Räume ganz explizit von Smeik verbalisiert, wenn er sein Attentat auf Mythenmetz und dessen Aussetzen in die Katakomben mit den Worten begründet: »Tja, mein Guter, Sie haben ein bißchen zu stark an der Oberfläche von Buchhaim gekratzt. […] Wir haben Sie ganz tief in die Katakomben unter der Stadt gebracht […]. Betrachten Sie es als Verbannung.« (STB 160) Der Protagonist wird im Rahmen dieser Bestrafung durch den Kontakt mit einem sogenannten Toxinbuch betäubt und im Zustand der Orientierungslosigkeit und körperlichen Lähmung im Labyrinth ausgesetzt. Während der Lindwurm sich an der Oberfläche der Stadt noch beständig als angehender Autor vorstellt, bleiben dem vermeintlichen Schriftsteller zum Überleben in der Unterwelt nun nur noch die Rollen als gebildeter Leser und unfreiwilliger Abenteurer, wenig zu nützen aber scheint ihm seine Funktion als Literaturproduzent. Dem Diktum Barthes’ entsprechend ist es also gerade dieser
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›Tod des Autors‹ und die ›Geburt des Lesers‹, die den Übergang in die Katakomben in der Figur des Mythenmetz markieren.4 Dementsprechend lautet die erste Zwischenüberschrift des zweiten Kapitels auch »Die lebende Leiche« (STB 159). Für den lesenden Autor Mythenmetz erweisen sich die Katakomben dabei passenderweise in ihrer architektonischen Manifestation als eine überdimensionale unterirdische Bibliothek. In ihrer Darstellung lassen sich im Übrigen eindeutige Referenzen auf die postmodernen literarischen Schlüsselwerke Umberto Ecos und Jorge Luis Borges’ sowie die Radierungen Giovanni Battista Piranesis nachweisen. Schon Eco und Borges wählen als Hauptschauplatz ihrer Erzähltexte eine labyrinthische Bibliothekskonstruktion, die immer auch als Verweis auf die als infinit markierte Intertextualität postmoderner Werke lesbar ist.5 Mythenmetz beschreibt die labyrinthischen Katakomben zusätzlich als eine unendliche Aneinanderreihung von Bibliotheken und zugleich als von unten nach oben chronologisch sedimentierte Literatur : In erster Linie war es die Reihenfolge, in der die verschiedenen Bibliotheken und Sammlungen im Labyrinth untergebracht waren […]. Es war eigentlich ganz simpel: Je älter die mich umgebenden Bücher waren, desto tiefer mußte ich mich in den Katakomben befinden. Wurden sie jünger, bewegte ich mich den Ausgängen entgegen. (STB 168)
Die literarische Unterwelt Buchhaims lässt sich hier als Manifestation poststrukturalistischer Literaturkonzepte entdecken: So werden Merkmale der räumlichen Modellierung von Intertextualität bei Julia Kristeva aufgegriffen. Bei ihr stehen die drei wesentlichen Elemente im literarischen Kommunikationsprozess (Text/Wort, Leser/Adressat, Autor/Subjekt der Schreibweise) miteinander im Dialog und bilden so eine räumliche Struktur : »a) horizontal: das Wort im Text gehört zugleich dem Subjekt der Schreibweise und dem Adressaten, und b) vertikal: das Wort im Text orientiert sich an dem vorangegangenen oder synchron literarischen Korpus«.6 In seiner Sedimentstruktur verweist das Buchlabyrinth dabei auf dieses Modell: Die Bücher im Labyrinth stehen in 4 Von seiner primären Funktion als Leser zeugen ohnehin zahlreiche Passagen, in denen der Ich-Erzähler seine Leser mit so umfangreichen wie enthusiastischen Widergaben der Werke Dritter regelrecht belästigt, so etwa mit seinen Rezensionen der Kurzgeschichte des unbekannten Autorgenies im Kapitel »Der Brief« (STB 22 – 30) oder von Colophonius Regenscheins »Die Katakomben von Buchhaim« im Kapitel »Colophonius Regenschein« (STB 52 – 69). 5 Vgl. Giovanni Battista Piranesi: Invenzione Capric Di Carcer (1750, Radierungen), Jorge Luis Borges: La biblioteca de Babel (1941), Umberto Eco: Il nome della rosa (1980). 6 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Hg. v. Jens Ihwe. Übers. v. Jochen u. Irmela Rehbein. Frankfurt a. M. 1972, S. 345 – 375, hier S. 361.
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synchroner wie diachroner Relation zueinander und bilden, indem die Autorfigur Mythenmetz sie sowohl rezipiert als auch schreibend kommentiert, eine Interaktion zwischen Text, Autor und Leser. Zugleich verweist dieses Modell einer sedimentierten Literatur auch auf das Modell des Palimpsests nach der Definition Genettes.7 In der Bewegung des Protagonisten durch die Katakomben wird also die Interaktion des lesenden Autors mit dem ihn umgebenden Intertext evident. Indem Hildegunst von Mythenmetz den mit Literatur gefüllten textuellen Raum durchwandert, nimmt er neben der Rolle des schreibenden Subjekts auch die eines aktiven Literaturrezipienten ein. In seiner von Literaturlektüren begleiteten Vorwärtsbewegung durch das Labyrinth lässt sich im Übrigen auch eine räumliche Verwirklichung des von Wolfgang Iser konstatierten abstrakten Rezeptionsvorgangs erkennen: Statt einer Subjekt-Objekt-Relation bewegt sich der Leser als perspektivischer Punkt durch seinen Gegenstandsbereich hindurch. Als wandernder Blickpunkt innerhalb dessen zu sein, was es aufzufassen gilt, bedingt die Eigenart der Erfassung ästhetischer Gegenständlichkeit fiktionaler Texte.8
Der Lindwurm leistet dabei eine permanente dialogische Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Literatur : »Hunger und Durst waren vergessen, ich riß die Bücher aus den Regalen, las, kombinierte, eilte weiter, hielt wieder an und nahm ein neues Buch« (STB 171). Nach Michail M. Bachtin entsteht durch die Aufnahme anderer Texte innerhalb eines Werks eine dialogische Wechselwirkung zwischen Roman und Zitatkontext.9 In den Katakomben von Buchhaim stehen die einen unüberschaubaren Zitatkontext generierenden Büchermassen also als konkrete Realisation für das, was Bachtin mit ›Zitatkontext‹ umschreibt. So werden für den Protagonisten einzelne zamonische Werke als Bücher im Intertextlabyrinth zu konkreten Orientierungspunkten im literarischen Raum. Diese scheinbar abstrakten literaturtheoretischen Überlegungen über das Schreiben vor dem Hintergrund eines unendlich großen Intertextes kulminieren dabei zu der ganz konkreten Metapher einer nautisch-navigatorischen Leistung des Autors innerhalb der Katakomben: Es war, als würde ich über ein dunkles Meer segeln, in dem auf kleinen Inseln zahllose Leuchttürme standen. Die Leuchttürme, das waren die Dichter, die sich über die Jahrhunderte ihre einsamen Botschaften zufunkten, und ich segelte dem Leuchtfeuer der Poesie hinterher, von Insel zu Insel – das war mein Leitfaden aus dem Labyrinth. (STB 171) 7 Zum Begriff des Palimpsests vgl. Genette 1993. 8 Wolfgang Iser : Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976, S. 178. 9 Vgl. Michail M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Übers. v. Adelheid Schramm. München 1971.
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In dieser Metapher der Literatur als ein aus Dichterdialogen, Lichtpunkten und (Leit-)Fäden bestehendes, also überzeitliches und mehrdimensional-textuell strukturiertes, Koordinatensystem werden sowohl das intertextuelle und damit verbundene räumliche Konzept Kristevas als auch ihr Autorkonzept, in dem sie diesen zum zentralen Schnittpunkt der Diskurse erklärt, erneut aufgegriffen.10 Der durch das Labyrinth streifende Mythenmetz wird als von Sprache, Zeichen und Raum getriebener Autor selbst zum diskursiven Knotenpunkt der ihn umgebenden Textstränge.11 Das fiktionsinterne Spiel zwischen Autor, Leser und Text führt hier, ganz im Sinne Foucaults, Schreiben als ein »Zeichenspiel« vor.12 Abenteuer und literarisches Werk stehen synonym füreinander – dies sichert nicht zuletzt der Erzählgestus des autodiegetischen Erzählers ab. Erst das Spiel mit den textuellen Zeichen13 im Raum der Literatur ermöglicht ihm später eine erfolgreiche literarische Diskursivierung. Diese wird im Roman anhand seiner produktiven Raumbewegung visualisiert und mündet in ihrer literarischen Verschriftlichung. Auf welche Manifestationen von Literaturtheorie Mythenmetz nach seinen ersten Orientierungsbewegungen im intertextuellen Raum des Labyrinths trifft, soll nun genauer betrachtet werden. Die drei eingangs genannten Daseinsformen (Buchlinge, Schattenkönig und Lebende Bücher) werden daher im Folgenden als an theoretische Konzepte angelehnte Allegorien betrachtet. Interessanterweise haben alle drei Daseinsformen der Unterwelt auf der Oberfläche der Stadt Buchhaim bereits literarische Spuren in Form von Erwähnungen in Gedichten und Romanen hinterlassen. Diese literarischen ›Zeichen‹, über die die Unterwelt in der Stadt und der zamonischen Literatur bereits präsent ist, werden dem jeweiligen Abschnitt einleitend vorangestellt, um anschließend die Legendenbildung der Oberfläche mit den ›tatsächlichen‹ tiefenstrukturellen Formen abzugleichen.
10 Vgl. Kristeva 1972. 11 Zur räumlichen Struktur der Katakomben und zur Gestaltung in Bild und Text vgl. auch die Beiträge von Tim-Florian Goslar und Gerrit Lembke (»›Der Große Ompel‹. Kartographie und Topographie in den Romanen Walter Moers’«) im vorliegenden Band. 12 Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis [u. a.]. Übers. v. Fotis Jannidis. Stuttgart 2000, S. 198 – 229, hier S. 203. 13 Diese literarischen Spuren und Zeichen tauchen später auch erneut ganz konkret als das Verfolgen der blutigen ›Schnipselspur‹ des Schattenkönigs oder in Form der verhängnisvollen Lektüren der ›gefährlichen Bücher‹ auf.
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Der neue Leser: Buchlinge Steck ein die Axt und auch dein Schwert, Steck ein den Pfeil und auch die Schlinge! Denn deine Waffen sind nichts wert Im Reich der Schrecklichen Buchlinge. (STB 207)
Schon die gestörte Metrik in der letzten Zeile dieses Schlachtliedes der Buchlinge lässt an der Richtigkeit ihrer Drohung zweifeln, aber dessen ungeachtet: Dank ihres – über die zamonische Literatur erfolgreich zur Stadtoberfläche hinauftransportierten – schlechten Rufes sind die ›Schrecklichen Buchlinge‹ den Zamoniern und damit auch dem Ich-Erzähler bekannt als »die allesfressenden Zyklopen der Labyrinthe! Die neben dem Schattenkönig meistgefürchtete Daseinsform der Katakomben von Buchhaim.« (STB 207) Tatsächlich handelt es sich bei den Buchlingen jedoch um eine friedliche, kleinwüchsige und plumpe Zyklopenart, die ausschließlich in der Unterwelt Zamoniens existieren kann und in großer Zahl in der ›Ledernen Grotte‹ – einem Teil der Katakomben von Buchhaim – haust. Dass das Erscheinungsbild dieser Wesen von ihrer Einäugigkeit geprägt wird, ist bereits ein klarer physischer Indikator für ihre Lieblingsbeschäftigung: das Lesen. Hier treffen auch von der Legende geschürtes Gerücht und Buchlingalltag aufeinander, denn ›Allesfresser‹ sind die bibliophilen Einäugigen tatsächlich: Die eigentliche Literaturrezeption ist für den gemeinen Buchlinge bezeichnenderweise äquivalent zur menschlichen Nahrungsaufnahme: »Leben, lesen – lesen, leben – was ist der Unterschied?« antwortete Golgo mysteriös […]. »[A]n den Gerüchten der Bücherjäger über unser Eßverhalten ist in der Tat etwas dran.« […] »Ihr … eßt Bücher?« […] »Es ist uns ein bißchen peinlich«, sagte Golgo, »daß etwas so Hochgeistiges wie Lesen bei uns mit etwas so Profanem wie Verdauung einhergeht. Aber so ist das nun mal. Wir ernähren uns vom Lesen! « (STB 257)14
Der Rezeptionsvorgang bzw. die Interaktion zwischen Leser und Text wird hier also in der Verkörperung des Buchlings pointiert in einem geschlossenen Rezeptionsmetabolismus umgesetzt. Dem in der neueren Literaturtheorie so wichtigen rezeptionsästhetischen Fokus auf den Leser als eine dem Autor nicht neben-, sondern übergeordnete Schlüsselfigur in der Interaktion mit dem Text wird damit in der Gestalt des Buchlings Rechnung getragen.15 14 Vgl. zur Verwendung alimentärer Begriffe als poetologische Metapher den Beitrag »›Leichenfledderer sind wir alle‹. Die Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister« von Gerrit Lembke im vorliegenden Band. 15 Zur Rezeptionsästhetik vgl. Iser 1976 u. Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen 1993.
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Auch das zweitwichtigste Merkmal der literarischen Minizyklopen thematisiert implizit literaturtheoretische Fragestellungen: Jeder Buchling trägt den Namen eines berühmten Autors, und der Sinn ihrer Existenz begründet sich im Auswendiglernen des Gesamtwerks seines jeweiligen Dichter- und damit auch Namenspatrons: »›Die Sache ist die…‹, hub Gofid an. ›Jeder Buchling lernt das Gesamtwerk eines großen Schriftstellers auswendig. Das ist unser Lebenszweck. Ich bin dabei, das Gesamtwerk von Gofid Letterkerl zu memorieren. Er schreibt noch, daher bin ich sozusagen unvollendet.‹« (STB 208) Jeder einzelne Buchling personifiziert damit das Gesamtwerk eines Autors, also eines »Dichter[s], der in dem Buchling weiterlebt[]« (STB 455). Die bibliophilen Zyklopenwinzlinge begreifen sich dabei nicht als Konsumenten, sondern als dynamischer Teil des dichterischen Werkes ihres Namenspatrons und bleiben dementsprechend ebenso wie das Werk des Dichters bis zu dessen Tod unvollendet. In diesem buchlingisch-fremdidentifikatorischen Selbstverständnis wird das literaturtheoretische Konzept von Autorschaft in einer literarischen Metapher konkretisiert und zugleich überspitzt-satirisch dargestellt: Die Kategorie ›Autor‹ fungiert hier scheinbar ganz klassisch als »Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhaltes«16. Es handelt sich aber beim Buchling zusätzlich noch um einen dynamischen Textkörper und zugleich ein selbstbestimmt handelndes Individuum. So sind die Zwergzyklopen auch in der Lage, andere Literaturen jenseits des Œuvres des jeweiligen Dichters zu rezipieren. Mehr noch: Sie können fremde ebenso wie die auswendig gelernte eigene Literatur lesen, vergleichen und metaliterarisch kommentieren. Buchlinge sind damit nicht nur dynamische Bibliothek, Biographie und Archiv, sondern stellen zugleich auch einen an das Gesamtwerk des Autors gekoppelten, beständig expandierenden und kommentierenden Metatext, im Prinzip sogar einen lebendigen Hypertext dar. Die Gemeinschaft der Buchlinge lässt sich damit auch als ›lesende und lebende Bibliothek‹ begreifen und folgt in ihrer Daseinsform sogar der Radikalisierung des Leserkonzepts nach Roland Barthes: Es gibt aber einen Ort, an dem diese Vielfalt zusammentrifft, und dieser Ort ist nicht der Autor (wie man bislang gesagt hat), sondern der Leser. Der Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben, ohne dass ein einziges verloren ginge. Die Einheit eines Textes liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt – wobei dieser Zielpunkt nicht mehr länger als eine Person verstanden werden kann.17
16 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1974, S. 21. 17 Barthes 2000, S. 192.
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Eben diesen »Zielpunkt« verkörpert hier die Figur des Buchlings in einer ungewöhnlich vielfältigen und komplexen literarischen Form als Leser-, Autorund Textkollektiv in einem.
Exkurs Zeichenspiele: Zamonische Dichter und ihre ›Ursprünge‹ Als ebenfalls parodistisch angelegtes und hochkomplexes Zeichenspiel muss im Falle der Buchlinge zudem die Namensgebung einzelner zamonischer Autoren näher beleuchtet werden. Denn bei genauerer Betrachtung lassen sich in den Namen der jeweiligen Buchlinge und den damit zitierten ›großen Autoren Zamoniens‹ Anagramme und, damit korreliert, wesentliche Merkmale der Werke von Autoren der (zumeist deutschen) Literaturgeschichte erkennen. So verbirgt sich etwa hinter T. T. Kreischwurst mit seinem »Stottergedicht« der Dada-Dichter Kurt Schwitters, und in dem Namen sowie der Werkbeschreibung des Dölerich Hirnfidler – einem zamonischen Dichter, »bekannt dafür, jedes zweite seiner Gedichte mit einem ›O!‹ zu beginnen« (STB 227) – lässt sich relativ leicht die Referenz auf Friedrich Hölderlin erkennen.18 Literatur aus der (realen) deutschen Literaturgeschichte ist damit durch eine regelrecht ›zamonisierende‹ Instanz in ein diegesetaugliches Element der fiktionsinternen Fantasywelt umgewandelt worden und wird in den Figuren der Buchlinge und den teilweise sehr offensichtlichen Anagrammen und Werkzitaten sichtbar. Der vorgeführte Brauch des ›Ormens‹ (STB 228 f.) ist dabei eine fiktionsintern parodistische Umsetzung der Transferleistung der Leser beim Aufeinandertreffen mit – in den Primärtext eingebetteten und nicht klar markierten – Intertexten: Während der Lektüre muss hier idealerweise beständig anhand der Werkzitate der gerade zitierte Autor erkannt werden. Diese ohnehin schwierige Transferleistung des gebildeten Lesers, die Mythenmetz im Rahmen des Ratespiels vorführt, wird durch die anagrammatische Zamonisierung der Autornamen für den fiktionsexternen Leser gleich doppelt erschwert. In diesem Spiel mit dem Pseudodiskurs einer zamonischen Literatur kommt nun aber eine zentrale Problematik postmoderner Intertextualität zum Ausdruck: Die Menge der (hier : literarischen) Diskurse ist für den individuellen Leser nicht mehr erschließbar und eröffnet damit eine unendliche Menge von nie vollständig dechiffrierbaren Bedeutungsdimensionen. Indem der fiktionale Diskurs der zamonischen Literatur als einerseits potentiell dechiffrierbar, aber andererseits unverfügbar codiert wird, stellt dieser sich als für den Leser nicht mehr re18 Allein im Kapitel »Das Ormen« (STB 222 – 231) lassen sich über ein Dutzend solcher Anagramme entdecken.
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konstruierbares Simulakrum zwischen Produktion und Simulation dar.19 Der Roman erweitert in Gestalt der Buchlinge erneut seine ohnehin nicht mehr auf ihre Ursprünge hin rekonstruierbare, zeichenhafte Verweiskette, die postmoderne Literatur prinzipiell ausmacht.
Der neue Text: Lebende Bücher Befallen von Getier Aus Leder und Papier Waren die Lebenden Bücher so etwas wie die Ratten, das Ungeziefer von Schloß Schattenhall? […] Bücher, die sich fortpflanzen konnten und sich selbständig zu einer Bibliothek zusammenrotteten. (STB 330 f.)
Die zweite genuin literarische Spezies, auf die Mythenmetz während seiner Streifzüge durch die Katakomben von Buchhaim stößt, sind die Lebenden Bücher. Grundsätzlich lässt sich zu dieser sehr vielfältigen Daseinsform der literarischen Unterwelt vor allem eines feststellen: Es handelt sich dabei um Bücher, die sich von ihrer primären Funktion, nämlich dem ›Gelesenwerden‹ vollständig emanzipiert haben. Ja, sie sind sogar in der Lage, die Text-Leser-Interaktion parodistisch umzukehren: »Das Buch glotzte mich an. […] Ich reagierte genauso entsetzt wie damals – und ließ das Buch fallen. Es plumpste zu Boden, raschelte lautstark, vier, sechs, acht kleine Beinchen reckten sich ringsum aus dem Beschnitt, und dann lief es davon« (STB 329). Die verschiedenen, im Roman teilweise sehr umfangreich beschriebenen ›Literaturspezies‹, wie etwa die Lebenden, die Gefährlichen und die Träumenden Bücher sowie die Fallen- und die Haarsträuberbücher stehen in starkem Kontrast zu ihren lesbaren, passiven Artgenossen auf der Stadtoberfläche. Während die dort verorteten Träumenden Bücher entsprechend ihrer Funktion in der Buchhaimer Kulturindustrie lediglich darauf warten, rezipiert zu werden, mutieren ihre Buchkollegen im Untergrund zur revolutionären Anti-Literatur. In dieser Umkehrung ihrer Funktion lassen sie sich als personifizierte Vertreter einer ›neuen Literatur‹ im Sinne Michel Foucaults ausmachen. In dieser wird »die Autorfunktion verschwinden […], und zwar in einer solchen Weise, daß Fiktion und ihre polysemen Texte wiederum nach einem anderen Modus funktionieren werden«.20 Während die Lebenden Bücher dabei als gefährliche, animalische Buchhorde auftreten und in ihrer Gleichsetzung mit Ratten auch als ›Ungeziefer‹ der Lite19 Zum Begriff des ›Simulakrums‹ vgl. Jean Baudrillard: Simulacra and Simulation. Michigan 1995. 20 Foucault 2000, S. 229.
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ratur semantisiert sind, erscheinen die Gefährlichen Bücher als autonome, handlungsbestimmende Elemente der Erzählung, die immer wieder die Realität und damit auch das Leben des Protagonisten ernsthaft bedrohen: Nie wieder würde ich mit Unvoreingenommenheit ein Buch aufschlagen. Gebundenes Papier hatte für mich seine Unschuld verloren. Die Gefährlichen Bücher! Wie eindringlich war ich durch die Lektüre von Regenscheins Memoiren davor gewarnt worden. […] In diesem historischen Augenblick hatte man erkannt, daß Bücher töten können (STB 162 f.).
In eben dieser neuen Buchform der Gefährlichen Bücher wird die ›neue Literatur‹ also in der Form einer destruktiven, geradezu metaliterarisch-terroristischen Buchspezies manifestiert. Die Bücher dieser Untergrundbewegung übernehmen dabei in ihrer Interaktion mit Mythenmetz die Funktion als Vollstrecker der Forderungen Barthes’ nach dem Tod des Autors, indem sie immer wieder aufs Neue den metaphorischen Tod des Erzählers herbeiführen. So löst Mythenmetz beim Aufschlagen eines Gefährlichen Buches, genauer gesagt: eines ›Fallenbuches‹, einen – das Gangsystem des Labyrinths vollständig transformierenden – Zusammenbruch mehrerer Katakombenetagen aus und endet im Zustand des metaphorischen Todes: »Schließlich völlige Stille und Dunkelheit. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte kaum atmen. Ich war lebendig unter Büchern begraben. […] Ein Buch hatte mich in diese Situation gebracht. Ein Gefährliches Buch.« (STB 175) Besonders deutlich manifestiert sich die Idee einer ›neuen Literatur‹ in Form der ›Toxinbücher‹. Denn das Toxinbuch, mit dem der Autorheld in Berührung kommt und dessen einziger Inhalt »Sie wurden soeben vergiftet« (STB 148 f.) lautet, hat die simple wie ungewöhnliche Funktion, seinen Leser über Hautkontakt zu vergiften.21 Es handelt sich hier also um die – sicherlich satirisch überspitzte – Idee einer neuen, Überlegungen der Linguistik nach Searle und Austin entlehnten, »performativen Literatur«22. Im Text gibt es demgemäß »nur die Zeit der Äußerung, und jeder Text ist immer hier und jetzt geschrieben.«23 Im 21 Die Referenz auf das Element der vergifteten Buchseiten in Il nome della rosa (1980) von Umberto Eco wird hier als weiterer Intertext evident. Das Abenteuer von Mythenmetz lässt sich also auch als Fantasy-Fortführung dieses postmodernen Werks von Eco lesen. Im Übrigen sind ironischerweise Seitenzahl und Hausnummer des Phistomefel Smeiks identisch (333) – was Antagonist, Haus und Buch metaphorisch zu einem scheinbar kombiniertem Portal zur Unterwelt macht. 22 Barthes freilich beschränkt diese »seltene Verbalform […] auf die erste Person und das Präsens«, was hier im Toxinbuch durch die Verwendung der 2. Person und einer Passivformulierung unterlaufen wird. Barthes 2000, S. 190; vgl. außerdem John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Übers. v. Eike von Savigny. 2. Aufl. Stuttgart 1979 u. John Rogers Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Übers. v. R. u. R. Wiggershaus. Frankfurt a. M. 1983. 23 Barthes 2000, S. 190.
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Moment der Ohnmacht des Lindwurms heißt es daher konsequenterweise – in weißer Schrift auf einer schwarzen Buchseite (!): »Dann wurde mir schwarz vor Augen.« (STB 150) Durch die fingierte Gleichzeitigkeit von Rezeption und Produktion kann das Schreiben hier im Sinne Barthes’ »nicht mehr länger eine Tätigkeit des Registrierens, des Konstatierens, des Repräsentierens, des ›Malens‹ […] bezeichnen […], sondern vielmehr das, was die Linguisten im Anschluss an die Oxford-Philosophie ein Performativ nennen«.24 Tatsächlich verweist der Text hier auf seinen eigenen performativen Status im Sinne Barthes’. Autor, Protagonist und Leser treten als vermeintliche Entität auf, für die die Wirkung des Textes bzw. des Gefährlichen Buches gleichermaßen gilt. Folgerichtig ist der Satz »Sie wurden soeben vergiftet« auch in allen Editionen des Romans als visueller Einschub über zwei Seiten abgedruckt und imitiert damit vermeintlich unmittelbar die Wahrnehmung von Mythenmetz, die der Leser nachempfinden kann (STB 148 f.). Wie am Beispiel von Toxin- und Fallenbuch gezeigt werden konnte, wird damit bestimmten Teilen der zamonischen Literatur das Potential zugesprochen, die Leserrealität, ja die Vitalität von Autor und Leser aktiv beeinflussen zu können. Damit manifestiert sich in der zamonischen Literatur eine Dichtung, in der die Autorfunktion scheinbar überwunden und eine neue und ›höhere‹ literarische Funktion zweiter Ordnung erreicht worden ist.
Der tote Autor: Homunkoloss Getürmt aus Buch auf Buch Verlassen und verflucht Gesäumt von toten Fenstern Bewohnt nur von Gespenstern Befallen von Getier Aus Leder und Papier Ein Ort aus Wahn und Schall Genannt Schloß Schattenhall (STB 157)
Auf den Schattenkönig, als die dritte und wohl auch ungewöhnlichste Daseinsform der Katakomben stößt Mythenmetz schließlich am Wendepunkt seiner Reise durch die Unterwelt Buchhaims. Das Reich des Schattenkönigs markiert dementsprechend in Buchhaims Unterwelt in Form seines Schlosses ›Schattenhall‹ nicht nur erzählerisch, sondern auch architektonisch den Extrempunkt des textuellen Raumes. Es stellt – wie schon die Katakomben – seinerseits eine weitere intertextuelle Manifestation von Literatur dar : »Schloß 24 Ebd.
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Schattenhall war also ein Labyrinth. Ein Labyrinth im Labyrinth. […] Es war ein Labyrinth, das sich bewegen konnte, […] das Gemäuer war mehr als lebendig.« (STB 315 f.)25 Im Extrempunkt Schattenhall vereinen sich zudem maximale Oppositionen: Bücher haben entweder den Zustand der ›Lebendigkeit‹ oder der ›Versteinerung‹. Auch der Körper des Schattenkönigs – gewaltsam transformiert durch den Bösewicht Smeik – besteht primär aus Büchern. Es liegt also eine dritte Form von umfunktionalisierter und damit ›neuer Literatur‹ vor: Während die Buchlinge Form und Funktion des Lesers als Teil des Werkes in ihrer Daseinsform neu konstruieren und die Lebenden Bücher den transformierten Text darstellen, verkörpert der Schattenkönig nun den ›neuen Autor‹. Allerdings setzt der Schattenkönig die Forderung Roland Barthes’ nach dem Tod des Autors denkbar extrem um, wird Homunkoloss durch seine Transformation doch »das am meisten gejagte Buch der Katakomben« (STB 351). Als wandelndes Buch ist der Ex-Autor damit scheinbar vollständig zur Literatur mortifiziert und wandelt daher als Schattenkönig auch seine Tätigkeit des Schreibens in die des Tötens um: »Ich investierte all die geistige Energie, die ich vorher in meine schriftstellerische Arbeit gesteckt hatte, in die Kunst des Tötens.« (STB 356) Der Schattenkönig erweist sich in seinem Reich zudem vor allem als Sammler von besonders exzellenter, aber auch besonders ›gefährlicher‹ Literatur, ist also auch in den Status des Lesers ›zurückgefallen‹. Dies gilt etwa für die von ihm angelegte »Bibliothek des Orms« (STB 403) und die »Bibliothek der Haarsträuberbücher« (STB 329). Eine noch bedeutendere dritte Rolle nimmt der Schattenkönig schließlich als literarischer Ausbilder von Mythenmetz ein.26 Erneut dem Diktum Barthes’ entsprechend hat der Tod des menschlichen Autors vorausgehen müssen, bevor er die Position des Unterweltherrschers und Dichtpaten für Mythenmetz übernehmen kann. Im Übrigen ist der Tod des Homunkoloss wie schon der Tod Danzelots auch zentraler Erzählanlass, ja er ist auf gleich drei Ebenen Initialzündung für die Entstehung des Romans: Sein Werk veranlasst erstens den Aufbruch Hildegunsts von Mythenmetz, das Aufeinandertreffen dieses werklosen Jungautors wiederum führt zweitens zur Produktion der Stadt der Träumenden Bücher, für das er nicht nur Ursache, sondern auch drittens Hauptinspiration und Hauptfigur darstellt. Der Homunkoloss tritt damit als Autor einer Binnengeschichte, Objekt einer weiteren Binnengeschichte sowie autobiographischer Erzähler, aber auch das Erzählen Lehrender, als Dichtpate, auf. Das Aufgeben des eigenen Schriftstellertums geht in der dargestellten Welt also immer einher mit der 25 Außerdem: »Als ich Schloß Schattenhall näherkam, bemerkte ich zu meiner größten Verblüffung, daß es aus Literatur erbaut war« (STB 312). 26 »Das war der Grund, warum er mich in sein Schloß gelockt hatte: Weil er die Geheimnisse seiner Kunst an mich weiterreichen wollte. […] Ich mußte leiden. Ich mußte darum flehen und betteln, sein Schüler zu werden« (STB 376).
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Transformation des Autors zum Dichtpaten einerseits und zum literarischen Stoff andererseits. Diese Regel lässt sich dementsprechend auch bei Danzelot von Silbendrechsler verifizieren.
›Neue Autoren‹: Schattenkönig und Mythenmetz In tiefen, kalten, hohlen Räumen Wo Schatten sich mit Schatten paaren Wo alte Bücher Träume träumen Von Zeiten, als sie Bäume waren Wo Kohle Diamant gebiert Man weder Licht noch Gnade kennt Dort ist’s, wo jener Geist regiert Den man den Schattenkönig nennt (STB 7)
Nach den Gefährlichen Büchern als experimentelle Spielart einer ›neuen Literatur‹ und den Buchlingen als Parodie einer ›neuen Literaturrezeption‹ stellt die Figur des Schattenkönigs (alias Homunkoloss) also als Ex-Autor, Ex-Mensch und in den Raum der Katakomben verdammte ›textuelle Monströsität‹27 ein neues tiefenstrukturell im Text verborgenes Autorschaftskonzept dar, denn er »ist kein Mensch mehr. Ich bin nicht mehr der Dichter, den du die ganze Zeit gesucht hast. Das war ich einst, vor langer Zeit. Jetzt bin ich etwas Neues, etwas Anderes. Etwas viel Größeres.« (STB 347) Wie schon die Buchlinge ist auch der von Smeik zum Leben in der Unterwelt verdammte Schattenkönig auf der Stadtoberfläche über literarische Werke als Legende bekannt und wird zu Beginn als der ultimative Antagonist etabliert. So erscheint der Schattenkönig anfangs als ein körperlich absenter, dafür narrativ umso präsenterer und zugleich ultimativer, phantastisch-literarischer Antagonist. In ihm kulminieren dementsprechend die Erscheinungsformen zahlreicher Bösewichte und Monster der Literaturgeschichte.28 Bevor Mythenmetz den Ex27 Zu den intertextuellen Bezügen der Figur des Schattenkönigs als ›textuelles Monster‹ speziell im Vergleich zu Mary Shelleys Frankenstein (1818) vgl. auch den Aufsatz von Daniel Schäbler im vorliegenden Band. 28 Ein genauer Nachweis aller literarischen Vorbilder würde hier den Rahmen sprengen. Als wichtige Intertexte (und den entnommenen Funktionen für die Figur des Schattenkönigs) seien hier aber genannt: Die Bibel und die Figur des Engels Lucifer (Herrscher über die Unterwelt); die Gothic Novel mit Frankensteins Monster (Mary Shelleys Frankenstein, 1818), Mr. Hyde (der Schattenkönig als Produkt der Wissenschaft; vgl. Robert Louis Stevensons Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde, 1886) und Dracula (Nichtkompatibilität mit Sonnenlicht; Bram Stokers Dracula, 1897). Die phantastische Literatur der Frühen Moderne, etwa Gustav Meyrinks Der Golem (1915), oder das Motiv des ›wiedergeborenen‹ Antagonisten; und natürlich das Fantasy-Genre, etwa in Anklängen an den omnipotenten wie metaphysischen Antagonisten bei Bestsellern wie John R. R. Tolkiens The Lord of the Rings
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trempunkt der dargestellten Welt, Schloss Schattenhall, erreicht, verharrt der Schattenkönig daher folgerichtig im Zustand einer körperlos-metaphysischen Instanz. Erst die Raumbewegung des Ich-Erzählers immer tiefer hinab in das Buchlabyrinth und damit immer tiefer in die literarische Tiefenstruktur hinein kann den schlechten Ruf des Schattenkönigs prozessual aufheben. Das Erzählen ›in die Tiefe hinein‹ hat somit für den Schattenkönig als Erzählgegenstand die Funktion einer regelrechten Rehabilitation. So wird auch erst mit Erreichen des Schlosses eine körperliche Konkretisierung des monströsen Wesens möglich. Schließlich sind es dann die eingebetteten Erzählungen des Monsters selbst, die dem anfangs unsichtbaren Antagonisten auch seine ursprünglich menschliche Gestalt teilweise zurückgeben. Nur durch die Interaktion mit einem schreibenden Kollegen, der seine Geschichte neu rezipiert und ihn so als intradiegetischen Erzähler in sein Werk aufnimmt, kann eine teilweise Wiederbelebung dieses toten Autors geleistet werden, die es ihm erlaubt, sprachlich und erzählerisch wieder präsent zu werden: Indem Mythenmetz die Geschichte des Schattenkönigs als Intertext in sein Werk integriert, leistet er eine Reanimierung desselben. Im Fall von Danzelot und Schattenkönig ist diese Aufnahme von Intertexten in den eigenen Text als Teil der Literaturproduktion besonders deutlich nachweisbar, tatsächlich aber besteht ein großer Anteil der Abenteuer des Helden aus Passagen, in denen der Ich-Erzähler seine Leser mit einer so umfangreichen wie enthusiastischen Wiedergabe der Werke Dritter belästigt. Eben diese ambivalente Koinzidenz von extradiegetischer Erzählebene und intradiegetisch eingebetteten Intertexten wird im vieldimensionalen und mit Literatur ge- und überfüllten Raum der Katakomben evident. Mythenmetz erfüllt hier also als Protagonist eine viel komplexere Funktion, als dies auf den ersten Blick ersichtlich ist: Er ist Abenteurer, Erzähler, Autor und Rezipient und damit zugleich Subjekt, Objekt sowie Aktant des Textes. Der Autor Mythenmetz weist damit die von Michel Foucault geforderte »Ego-Pluralität« auf, die allen Diskursen »mit der Funktion Autor« zugrunde liegt.29 Er interagiert als erlebendes und schreibendes Subjekt mit den ihn umgebenden Intertexten und leistet so im scheinbaren Chaos des palimpsestartigen Labyrinths als Schnittpunkt der Diskurse für seine Leser die Rekonstruktion von Ordnung und Sinn. Die in Form des Romans rekonstruierte Sinnstruktur der Mythenmetzschen Abenteuer kann dabei ganz im Sinne Barthes’
(1954 f.), Joanne K. Rowlings Harry Potter-Serie (1997 – 2007) oder Philip Pullmans His Dark Materials (1995 – 2000). 29 Foucault 2000, S. 217.
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in allen ihren Wiederholungen und auf allen ihren Ebenen nachvollzogen werden (so wie man eine Laufmasche ›verfolgen‹ kann), aber ohne Anfang und ohne Ende. Der Raum der Schrift kann durchwandert, aber nicht durchstoßen werden. Die Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen.30
Der Autor-Held und seine Ausführungen bieten hier also nur scheinbar Orientierung im unendlichen Raum des Intertextlabyrinthes, von dem wir nur einen schlaglichtartigen Ausschnitt zu Gesicht bekommen. Nicht nur der Schattenkönig, sondern auch Mythenmetz verkörpert damit postmoderne Autorschaftskonzepte. Mythenmetz selektiert Intertexte, kombiniert diese mit Elementen eigener Projektion und formt so postmoderne Literatur, in welcher der Autor als intentionale Instanz verschwindet und primär zum Projektionsraum eines intertextuellen Spiels wird. So wie der Schattenkönig für den Lindwurm als Inspiration und Beschützer zugleich auftritt und in dem von Bedeutung überfüllten Labyrinth für seinen Schützling Wege selektiert, so fungiert auch Mythenmetz als Konstrukteur einer Sinnstruktur für seine Leser als Schutzschild nach Foucault: »Die Frage lautet dann: Wie kann man die große Bedrohung, die große Gefahr verringern, die Fiktion für unsere Welt darstellt. Die Antwort lautet: Man kann sie mit dem Autor verringern. Der Autor erlaubt eine Limitierung der krebsartigen und gefährlichen Vermehrung der Bedeutungen«.31
›Das Orm‹ und ›Das Alphabet der Sterne‹ Eine weitere zentrale Forderung an den ›neuen Autor‹ erfüllt Mythenmetz zudem in seiner finalen Anerkennung des ›Orms‹, einer »Art mysteriöse[n] Kraft, die manche Dichter in Augenblicken höchster Inspiration durchströmen soll« (STB 20). Dieses genieästhetische Literaturkonzept setzt offenkundig die Forderungen Roland Barthes’ an die Entsubjektivierung des Autors um. So wird der moderne Schreiber im selben Moment wie sein Text geboren. Er hat überhaupt keine Existenz, die seinem Schreiben vorausginge oder es überstiege; er ist in keiner Hinsicht das Subjekt, dessen Prädikat sein Buch wäre. Es gibt nur die Zeit der Äußerung, und jeder Text ist immer hier und jetzt geschrieben.32
30 Barthes 2000, S. 191. 31 Foucault 2000, S. 228. 32 Barthes 2000, S. 189.
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In der Romanhandlung findet sich eine wunderbare Konkretisierung des Orms als Lösung für den zentralen Konflikt der dargestellten Welt, nämlich die Inkompatibilität zwischen Ober- und Unterwelt.33 Im Finale des Romans überschreitet der verbannte Autor zusammen mit dem Schattenkönig die Grenzen zwischen Unter- und Oberwelt und löst so eine vollständige Transformation des Raumes, das heißt die Zerstörung der Stadt Buchhaim aus, da der Schattenkönig an der Oberwelt sofort in Flammen aufgeht und die gesamte Stadt entzündet.34 Der Versuch, Elemente aus dem Raum des Intertextes auf die Textoberfläche zu transferieren, wird hier also als eigentlich unmöglicher und daher zerstörerischer Akt visualisiert. Der Moment der Zerstörung der Oberfläche ist dabei als metaphysisch beschrieben: Dies war der Augenblick, in dem ich zum ersten Mal das Orm verspürte. Es fuhr mich an wie ein heißer Wind, aber der kam nicht aus den Feuern von Buchhaim, sondern aus der Tiefe des Weltalls. Er blies durch meinen Kopf und füllte ihn mit einem Wirbelsturm von Wörtern, die sich binnen weniger erregter Herzschläge zu Sätzen, Seiten, Kapiteln und schließlich zu jener Geschichte ordneten, die ihr nun gelesen habt, oh meine treuen Freunde! (STB 455)
Mythenmetz behauptet hier, Die Stadt der Träumenden Bücher in genieästhetischer Manier in nur wenigen Sekunden in seinem Kopf geformt zu haben. Er geht sogar ganz im Sinne Barthes’ noch weit darüber hinaus, indem er der poetischen Sprache die Fähigkeit zuspricht, sich selbst zur Geschichte zu formieren: »Schreiben bedeutet, mit Hilfe einer unverzichtbaren Unpersönlichkeit […] an den Punkt zu gelangen, wo nicht ›ich‹, sondern nur die Sprache ›handelt‹«.35 Damit unterstreicht er erneut die für den Text zentrale Entmachtung des Autors und Funktionalisierung der Literatur als performativ. Entsprechend dem obigen Zitat wird das Ende der Abenteuer des Protagonisten auch mit dem Abschließen der (mentalen) Verschriftung des Romans gleichgesetzt und der Text als im »hier und jetzt geschrieben« postuliert.36 Der Autor attestiert damit 33 Zur Funktionalisierung und historischen Kontextualisierung des Orms vgl. auch den Beitrag von Tim-Florian Goslar im vorliegenden Band. 34 Buchlinge und Schattenkönig weisen dieser Regel entsprechend als Wesen der Unterwelt eine zentrale Strukturanalogie auf: Beide Daseinsformen sind per se nicht in der Lage, an der Oberfläche Buchhaims und damit jenseits des intertextuellen Raums zu (über-)leben. Die Buchlinge können dort nicht atmen, und der Schattenkönig geht bei Kontakt mit Sonnenoder Mondlicht sofort in Flammen auf. In dieser äquivalenten Struktureigenschaftsbeziehung manifestiert sich bereits der zentrale Schnittpunkt beider Spezies als a) aus Literatur gemachte und b) auch an den Raum der Literatur fest gebundene Wesen. Kurz: Es handelt sich hier um Elemente, die nur in der fiktionsinternen Tiefenstruktur des Literaturraums existieren können und damit zur fiktionsexternen Ebene bzw. zum Raum des Literaturbetriebs inkompatibel sind. 35 Barthes 2000, S. 187. 36 Ebd., S. 189.
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auch das Verschwinden der eigenen intentionalen Stellung als Subjekt des Schreibaktes und wird zum Projektionsraum für die metaphysische Instanzen des ›Orms‹ bzw. des ›Alphabets der Sterne‹. Diese lassen sich bei näherer Betrachtung erneut als Referenzen auf den Intertext erschließen, verweisen aber zugleich auf ihre der dargestellten Welt und ihrer Zweiteilung in ›oben‹ und ›unten‹ übergeordnete Position. Denn die beiden das ›Orm‹ bedingenden metaphysischen Instanzen, der ›heiße Wind‹ ebenso wie das ›Alphabet der Sterne‹ (STB 455) lassen sich auch als Symptome des brennenden Buchhaim erkennen und sind damit eng mit der Auflösung aller Kommerzialität und Funktionalität von Literatur verbunden. So heißt es vor dem oben zitierten Absatz: Die Träumenden Bücher waren erwacht. Kilometerhoch ragten die schwarzen Rauchsäulen, schwerelos gewordenes Papier, verbrannte Gedanken. Myriaden von Funken stoben darin, jeder einzelne ein glühendes Wort, sie stiegen höher und höher, um mit den Sternen zu tanzen. Und dort oben sah ich es, das Alphabet der Sterne, klar und deutlich funkelte es am Himmel […]. Auch er [d. i. der Schattenkönig; M. C.] stieg funkelnd empor […]. Er, der Brandstifter und Zündfunke, flog hinauf, um dort oben ein Stern zu werden (STB 454 f.).
Erst das Verbrennen von Schattenkönig und Träumenden Büchern (letztere im Buch mehrfach beschrieben als eine Masse ungelesener, das heißt: auf ihren Leser noch wartender Bücherr) ermöglicht also eine unmittelbare Schöpfung des Werks. Damit führt der Roman erneut pointiert den für die Entstehung von ›neuer Literatur‹ notwendigen ›Tod des Autors‹ (Schattenkönigs) sowie die Entgrenzung von Texten und Intertexten im Rahmen eines Schreibprozesses vor. Der in der Literaturtheorie zu einer für den Schreiber omnipräsenten und zugleich nicht mehr fassbaren Instanz anvancierte Intertext wird damit im ›Alphabet der Sterne‹ sprachlich wie optisch materialisiert und für den Leser erst begreiflich gemacht. Wie gezeigt werden konnte, wird der Versuch einer (Re-)Integration dieser vom Schattenkönig im Extrem personifizierten und in die Tiefenstruktur von Literatur verbannten ›neuen Literatur‹ im Verlauf der Handlung auf mehreren Ebenen geleistet und schließt handlungslogisch mit dessen Rückkehr an die Oberfläche Buchhaims ab. Erst die Grenzüberschreitung der beiden Figuren von der Unterwelt an die Stadtoberfläche, vor allem aber die fast zeitgleich zu diesem Ereignis stattfindende literarische Genese der Abenteuer zum Roman ermöglichen es, diese maximalen Abweichungen zwischen den Textelementen der Oberfläche und denen der Tiefenstruktur wieder in konsumierbare Literatur zu transformieren. Durch die Entstehung des Werks Die Stadt der Träumenden Bücher wird dem – auf der Stadtoberfläche nur als Mythos bekannten – Schattenkönig über die ›Autorinstanz Mythenmetz‹ nun eine Ent- und zugleich Remythisierung er-
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möglicht. Mythenmetz (spätestens hier wird auch die Funktion seines sprechenden Namens überdeutlich) integriert sich damit zugleich selbst als von den literarischen Diskursen der Tiefenstruktur ›ausgebildeter‹ bzw. transformierter ›neuer Autor‹ und sein Werk als ›neue Literatur‹ in die zamonische Literaturwelt.
Abenteuer ›neue Literatur‹ Die Zamonien-Romane von Walter Moers werden auf dem Literaturmarkt zumeist dem Genre der Jugend-, Unterhaltungs- und Fantasyliteratur zugeordnet.37 Bei näherer Betrachtung jedoch erweisen sich seine Werke – und im Speziellen der analysierte Text Die Stadt der Träumenden Bücher – als vielschichtige Erzählkonstruktionen und Spiel mit Metaliteratur sowie Literaturtheorie. Das Aufgreifen und literarische Umwandeln postmoderner Literaturtheorien und literaturtheoretischer Konzepte von ›neuer‹ Literatur, Autorschaft und Intertextualität wird darin rasch evident, wobei sich das innovative und metaliterarische Potential der Romane erst über das Sujet der Fantasyliteratur vollständig entfalten kann. In Die Stadt der Träumenden Bücher konkretisieren sich literaturtheoretische Aspekte und Strukturen von Intertextualität zum architektonisch-geographischen Labyrinth, und Literaturtheorie materialisiert sich in den verschiedenen Daseinsformen der Diegese. Der Intertext manifestiert sich in Die Stadt der Träumenden Bücher in dem topographischen Ort der Katakomben Buchhaims im Allgemeinen und im Speziellen anhand der in den Katakomben lebenden und von Mythenmetz konkret oder über die literarische Diskursivierung an die Oberfläche geholten Daseinsformen. Ihre Zerstörung im Moment der Kopräsenz von Elementen der Ober- und Unterwelt zeigt zugleich die zentrale Problematik der literarischen Diskursivierung von Theorie und Intertext auf, die nicht ohne Verlust vonstatten gehen kann. Alle hier aufgezeigten Textelemente verweisen so in ihren zum Teil ganz unterschiedlichen Merkmalen auf die Unverfügbarkeit der Intertextualität, die von Leser wie Schreiber immer nur partiell dechiffriert, nie aber vollkommen erfasst werden kann. Indem der Roman fiktionsinternes Wissen thematisiert, das fiktionsextern nicht ohne Bedeutungsverlust abgerufen werden kann, verweist er auf das Scheitern des mit Intertexten angefüllten modernen und postmodernen Textes an der Instanz des Lesers. In diesem Kontext erschließt sich 37 Nicht zufällig wurde Die Stadt der Träumenden Bücher mit dem Phantastik-Preis 2005 der Stadt Wetzlar ausgezeichnet, vgl. Mario Fesler : Die Zamonien-Romane von Walter Moers als zeitgenössische Vertreter der Gattung Fantasy. Norderstedt 2007.
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auch die – an Stelle der captatio benevolentiae im Mythenmetzschen Vorwort eingefügte – Warnung des Autors ganz neu: Nur wer wirklich bereit ist, für die Lektüre dieses Buches derartige Risiken in Kauf zu nehmen, wer bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um an meiner Geschichte teilzuhaben, der sollte mir zum nächsten Absatz folgen. […] Ich kann nicht vorhersehen, wie viele von uns zurückkehren werden. Ich kann euch nur empfehlen, den Mut nie sinken zu lassen – was immer auch uns widerfährt. Und sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt! (STB 9)
Weder der Erzähler noch das Erzählte bedingen die postulierte Brisanz der Erzählung und die Gefährdung des Lesers. Vielmehr ist es die – im Angesicht der expliziten Überpräsenz von Intertextualität – unvermeidbare Überforderung des Lesers, die hier im Nachhinein als wohl größte Gefahr für den Rezipienten deutlich wird. Wirklich abenteuerlich ist also vor allem die potentielle Überforderung durch die ›neue Literatur‹ im Sinne Barthes’, die im Roman in der Gestalt des Schattenkönigs, der Buchlinge und der Lebenden Bücher als parodierte Literaturtheorie und performative, den Leser gefährdende Literatur zum Ausdruck kommt. Das vielgestaltige individualisierte Bestiarium der Katakomben von Buchhaim thematisiert damit sowohl die Problematik als auch das Potential postmoderner Text- und Autorkonzeptionen. Und es stellt eine ganz neue tiefenstrukturelle Monstrosität im Text dar : die Intertextualität. In Die Stadt der Träumenden Bücher erscheint diese intertextuelle Monstrosität als Manifestation einer für Autor wie Leser unkontrollierbaren und damit autonom gewordenen Tiefenstruktur. Dementsprechend ist die explizite Leserüberforderung durch den (Inter-)Text aber eben auch Indiz für die ›Geburt des Lesers‹ im Sinne der Leseremanzipation. Erst durch sie wird der Lesevorgang zur Produktion und Reproduktion von Sinn im Raum der Intertextualität und damit zu dem von Barthes ausgerufenen ›semiologischen Abenteuer‹.38
38 Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1988, S. 7 – 12, hier S. 8. »Was bedeutet mir also die Semiologie? Sie ist ein Abenteuer, das heißt, etwas, was mir zustößt (was mir vom Signifikanten widerfährt).«
Allegorien und Parodien in den Katakomben der Stadt der Träumenden Bücher
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Borges, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel [ED 1941]. In: ders.: Die Bibliothek von Babel. Erzählungen. Übers. v. Curt Meyer-Clason. Stuttgart 1974, S. 47 – 57. Eco, Umberto: Der Name der Rose [ED 1980]. Übers. v. Burkhart Kroeber. München/Wien 1982. Meyrink, Gustav : Der Golem. Leipzig/München 1915. Moers, Walter: Die Stadt der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. München 2004. Pullman, Philip: Northern Lights. London 1995 (His Dark Materials 1). Pullman, Philip The Subtle Knife. London 1997 (His Dark Materials 2). Pullman, Philip: The Amber Spyglass. London 2000 (His Dark Materials 3). Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London 1997. Shelley, Mary : Frankenstein [ED 1818/1831]. Second Edition. Hg. v. Johanna M. Smith. Boston 2000. Stevenson, Richard Louis: Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde. London 1886. Stoker, Bram: Dracula. London 1897. Tolkien, John Ronald Reuel: The Lord of the Rings. London 1954 f.
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Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Hg. v. Jens Ihwe. Übers. v. Jochen u. Irmela Rehbein. Frankfurt a. M. 1972, S. 345 – 375. Searle, John Rogers: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Übers. v. R. u. R. Wiggershaus. Frankfurt a. M. 1983. Wolf, Werner : Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen 1993.
Der Schrecksenmeister (2007)
Gerrit Lembke
»Leichenfledderer sind wir alle.« Die Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus.1 Words disappear. Words once so clear Only echoes passing through the night.2
Einleitung: Literatur als Echo Hinter dem gebräuchlichen Kurztitel Schrecksenmeister verbirgt sich ein in barocker Umständlichkeit schwelgender Langtitel: Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers. Damit folgt der Verfasser seinen Inszenierungsgewohnheiten aus Ensel und Krete (2000) und Die Stadt der Träumenden Bücher (2004), wo Walter Moers nicht als Verfasser, sondern als Übersetzer eines zamonischen Textes hervortritt, wobei die Medialität literarischer Autorschaft in Der Schrecksenmeister (2007) um eine Stufe erhöht wird, indem eben nicht – wie in den genannten Romanen – Mythenmetz als ursprünglicher Autor fungiert, sondern wiederum nur als Mediator eines älteren Märchens von Gofid Letterkerl (ein Anagramm von Gottfried Keller).3 Dieser wurde bereits in Die Stadt der Träumenden Bücher von Mythenmetz erwähnt: »Gofid Letterkerl war einer meiner Lieblingsschriftsteller. Er hatte Zanilla und der Murch geschrieben, das allein machte ihn in meinen Augen unsterblich« (STB 206).4 Vom realen Autor Walter
1 Umberto Eco: Der Name der Rose [ED 1980]. Übers. v. Burkhart Kroeber. 44. Aufl. München/ Wien 1986, S. 635; dt. »Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen« (ebd., S. 645). 2 The Greenhornes: There is an End. In: dies.: Dual Mono (2002). 3 Zur Inszenierung von Autorschaft vgl. den Beitrag von Ingo Irsigler im vorliegenden Band. 4 In Die Stadt der Träumenden Bücher findet man zahlreiche Anagramme (z. B. H. P. Lovecraft als »PHT Farcevol«, STB 33), darunter auch Gofid Letterkerl (STB 38) und Werma Tosler
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Moers muss die fiktive Figur des gleichnamigen Übersetzers unterschieden werden, wobei reale und fiktionale Ebene literarischer Kommunikation durch die Namensidentität spielerisch miteinander verwoben werden: Der Übersetzer Walter Moers ist nicht identisch mit dem realen, gleichnamigen Verfasser.5 Der Text ist also innerfiktional nur ein literarisches Echo dritter Stufe, das auch realiter auf anderen Texten basiert, indem es sich im Rahmen einer ›literarischen Evolution‹6 in verschiedenen Reihen positioniert: »Ein Kunstwerk wird wahrgenommen auf dem Hintergrund und auf dem Wege der Assoziierung mit anderen Kunstwerken. Die Form des Kunstwerks bestimmt sich nach ihrem Verhältnis zu anderen, bereits vorhandenen Formen.«7 Der Schrecksenmeister steht innerhalb verschiedener literarischer Reihen und evoziert somit verschiedene Erwartungshorizonte, vor denen er sich postiert.8 Dabei handelt es sich zunächst um die Reihe der Texte, die unter dem personalen label ›Walter Moers‹ laufen,9 und dabei vor allem um diejenigen, die auf dem fiktiven Kontinent Zamonien spielen, sowie schließlich um einen einzelnen Text, der eine kurze Reihe mit Der Schrecksenmeister bildet: Gottfried Kellers Märchen von Spiegel, dem Kätzchen, das in den Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla (1856) integriert ist.10 Beide Reihenzugehörigkeiten werden explizit im Roman genannt: Querverweise in Fußnoten deuten auf die anderen ZamonienRomane hin (SM 117 u. 136), und die Anspielung auf Gottfried Keller ist im leicht zu enkodierenden Anagramm des fingierten Verfassers ›Gofid Letterkerl‹ unübersehbar. Um diese Reihen soll es im vorliegenden Beitrag gehen. Dabei soll
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(Walter Moers, STB 107), der als Illustrator von Graf Klanthu zu Kainomaz’ »Das Schweigen der Sirenen« erwähnt wird. Die vereinzelten Fußnoten des Übersetzers (SM 9, 18, 26, 117 u. 136) heben die Existenz verschiedener Erzähl- und Bearbeitungsebenen der Urheberschaft hervor, deren oberste (Moers) als maximal manipuliert im Kontrast zum Ursprung (Letterkerl) erscheint (vgl. SM 379 f.). Vgl. Jurij Tynjanov : Über die literarische Evolution. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. u. übers. v. Jurij Striedter. München 1971, S. 433 – 461. Viktor Sklovskij: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. u. übers. v. Jurij Striedter. München 1971, S. 37 – 121, hier S. 51. Hans Robert Jauss hat den Begriff der ›Reihe‹ in seiner rezeptionsästhetischen Antrittsvorlesung aufgegriffen und im Hinblick auf einen Erwartungshorizont (Hans-Georg Gadamer) modifiziert; vgl. Hans Robert Jauss: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz 1967 (Konstanzer Universitätsreden 3). Vgl. Dirk Niefanger : Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer). In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart/Weimar 2001, S. 521 – 539. Man könnte den Roman außerdem in die Tradition literarischer Texte mit tierischen Protagonisten einordnen: E. T. A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr (1820 – 22), Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater (1797).
Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister
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der Palimpsestcharakter von Der Schrecksenmeister im Hinblick auf drei literarische Reihen bzw. Epitexte untersucht werden: Als reales Palimpsest überschreibt der Text sowohl Kellers Novelle als auch Moers’ Zamonien-Romane, als fiktives Palimpsest im Kontext der Herausgeberfiktion überschreibt er Gofid Letterkerls zamonisches Original. Real ist das Palimpsest insofern, als der Überschreibungsakt ein Effekt einer realen Kommunikationsinstanz (Walter Moers) ist, während die fiktiven Palimpseste von fiktiven Figuren (Hildegunst von Mythenmetz, Walter Moers als Übersetzer) stammen.
Zum Konzept des Palimpsests Der Begriff ›Palimpsest‹ stammt ursprünglich aus der Kodikologie (Handschriftenkunde) und bezeichnet das Phänomen der »Wiederbeschreibung bzw. Überschreibung eines Papyrus, wobei mit Hilfe verschiedener technischer Verfahren ein vorangehender, urspr. Text weitgehend getilgt und nur noch in Fragmenten ›zwischen‹ dem neuen Überschreibungstext sichtbar ist«11. Der Ursprung dieser Beschreibungstechnik ist der Ökonomie geschuldet, denn das Wiederbeschreiben geschah »aus Sparsamkeit mit dem teuren Material«.12 Bereits Platon verwendete den Begriff Plutarch zufolge metaphorisch, wenn er den antiken Tyrannen Dionysios von Syrakus als Palimpsest bezeichnete, um das Durchscheinen seiner tyrannischen Natur bildhaft zu beschreiben. Für den Bereich der Literaturwissenschaft adaptierte Claus Uhlig den Terminus 1982, er versteht »die zeitliche Struktur literarischer Texte oder auch die verschiedenen historischen Textschichten eines ganzen Werkes, das sich in einem chronologischen Folgeverhältnis zu anderen befindet, als Palimpsest«.13 Erst der französische Narratologe G¤rard Genette hat dem Begriff jedoch innerhalb der Literaturwissenschaften zu großer Popularität verholfen, um bestimmte Verfahren von Intertextualität zu beschreiben.14 Moers hat seinem Romanhelden nun einen Namen gegeben, der durchaus äquivalent zu Kellers Original ist: Anstatt auf eine visuelle Verdoppelung (»Spiegel«) verweist das Moerssche Krätzchen auf eine akustische Vervielfälti11 Meinhard Winkgens: Palimpsest. In: Metzlers Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar 1998, S. 411. 12 W. Schubart: Palimpsestus. In: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung. Hg. v. Konrat Ziegler. Bd. 36,2. Stuttgart 1949, S. 123 – 124, hier S. 123. 13 Claus Uhlig: Theorie der Literarhistorie. Prinzipien und Paradigmen. Heidelberg 1982, S. 87 – 99, hier S. 187. 14 Vgl. G¤rard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1993.
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gung und damit verbundene Verzerrung (»Echo«), die sowohl die zeitliche Folge von Keller und Moers berücksichtigt, als auch den Palimpsestcharakter des Romans hervorhebt, da Echos sich vom Ursprungslaut zusehends unterscheiden. Neben der quantitativen (Verdoppelung/Vervielfachung), der qualitativen (Konstanz/Wandel) und medialen (Schall/Licht) herrscht zwischen Echo und Spiegel auch eine das zeitliche Verhältnis von Ursprung und Effekt betreffende Differenz: Während im Fall des Spiegels Objekt und Spiegelbild nur gleichzeitig existieren, stehen im Fall des Echos beide Teile in einem konsekutiven Verhältnis. In der Metapher vom Echo, als das sich nicht nur der (sprechende) Protagonist der Geschichte, sondern vor allem die Geschichte selbst erweist, ist der Charakter dieser Erzählung denkbar gut eingefangen: Der Schrecksenmeister ist kein Spiegel, denn Spiegel sagen die ›Wahrheit‹15, er ist vielmehr ein literarisches ›Echo‹ auf Kellers Märchen. Es gibt aber genau genommen nicht etwa nur ein Palimpsest, sondern eine Vielzahl von Überschreibungsprozessen auf verschiedenen ontologischen Ebenen.
Fiktive Palimpseste Neben dem Roman aus der Feder Walter Moers’, der ein reales Palimpsest von Kellers Novelle Spiegel, das Kätzchen darstellt, ist derselbe Text zugleich ein fiktives Palimpsest von Letterkerls Roman aus der Hand von Mythenmetz, der im Nachwort selbst betont, wie der vorliegende Text verändert worden ist: Mich hat [Letterkerls] Stil immer in höchste Verzückung versetzt, weil in ihm das pure Orm greifbar ist. Aber bei unserem modernen Lesepublikum, und vor allem bei jungen Lesern, könnte ich mir vorstellen, dass Letterkerls sprachliche Exzentrik eher dazu angetan ist, es in die Arme von gewissen Trivialautoren zu treiben, deren Namen ich hier nicht nennen will – ich sage nur: »Prinz Kaltbluth«-Romane. Ich habe mir deshalb erlaubt, Echo, das Krätzchen in ein etwas zeitgemäßeres Neuzamonisch zu übertragen, um die Novelle wieder ins kollektive Bewusstsein zu rufen und ihr hoffentlich zu frischer Popularität zu verhelfen. […] Ich habe mir außerdem erlaubt, das Märchen geringfügig zu bearbeiten und mit einem neuen Titel zu versehen. (SM 379 f.)
Mit dieser ersten Bearbeitungsstufe, für die der dichtende Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz verantwortlich zeichnet, gesteht dieser seine editorischen Eingriffe auf sprachlich-stilistischer, inhaltlicher und – durch die Änderung des Titels – distributioneller Art, wobei die Reichweite der Modifikationen im Detail völlig unklar bleibt. 15 Umberto Eco: Über Spiegel. In: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene. Übers. v. Burkhart Kroeber. München 1988, S. 26 – 61, hier S. 34.
Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister
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Darüber hinaus inszeniert Moers einen weiteren Akt des Überschreibens, wodurch der imaginierte Ursprungstext Letterkerls immer ungreifbarer wird. Denn der fiktive Übersetzer Moers hat die Mythenmetzvorlage wiederum manipuliert, wie sich der »Anmerkung des Übersetzers« entnehmen lässt: Der Schrecksenmeister ist Mythenmetz’ Werk mit den meisten »Mythenmetzschen Abschweifungen«, und aus der Leserpost ist mir bekannt, dass diese stilistische Eigenheit des Meisters nicht jedermanns Sache ist. […] Das war nun wirklich niemandem zuzumuten, und ich entschied mich, der üblichen Werktreue abzuschwören, sämtliche Abschweifungen herauszunehmen und das Buch um 700 Seiten zu kürzen. (SM 382 f.)
Hier macht der Übersetzer Mehreres deutlich: Zum einen erfahren wir, dass Mythenmetz das Letterkerlsche Ursprungsmärchen durch seine dem unzamonischen Leser aus Ensel und Krete bekannte Technik der ›Mythenmetzschen Abschweifung‹ wesentlich erweitert hat, was aus dem Nachwort Mythenmetz’ keineswegs hervorgeht. Zum anderen hat der Übersetzer diese Abschweifungen wiederum getilgt, wobei die Konjunktion »und« im obigen Zitat offen lässt, ob die erhebliche Kürzung um 700 Seiten nur auf die Streichungen der Abschweifungen zurückgeht oder etwa die 700 Seiten umfassenden Kürzungen zusätzlich zu der Tilgung der Abschweifungen vorgenommen worden sind. Mit jeder neuen Information, die Bearbeiter und Übersetzer geben, nehmen die Unklarheiten also eher zu, als dass sie reduziert würden. Wie jenes sprichwörtlich gewordene und zum Symbol der Postmoderne avancierte ›verschobene signifi¤‹ Jacques Derridas wird hier der Ursprung der Narration Stufe um Stufe in die Ferne der Fiktion verschoben, der Text wird offensichtlich »ein Gewebe von Zeichen, eine verlorene, unendlich entfernte Nachahmung«.16 »Letterkerl« ist der prototypische Name eines Autors, der sich im Text erst bildet und nur ein ›Kerl aus Lettern‹ ist. Autorschaft erscheint immer nur als bereits Vermitteltes und damit als Effekt, niemals als Ursprung des Textes. Die Überschreibungsprozesse bleiben unklar und betonen den dynamischen Charakter des Erzählens, das immer nur Echo eines verlorenen Ursprungs ist. Es handelt sich auf der Ebene der Fiktion also um ein zweifaches Palimpsest – sowohl des Bearbeiters Mythenmetz als auch des Übersetzers Moers. Für diese Inszenierung eines mehrfachen fiktiven Überschreibungsprozesses mag Umberto Ecos Il nome della rosa (1980) Pate gestanden haben, in dessen Vorwort »Natürlich, eine alte Handschrift« Eco ein kompliziertes Verwirrspiel um den Ursprung des fiktiven Manuskripts entwirft:
16 Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis [u. a.]. Übers. v. Fotis Jannidis. Stuttgart 2000, S. 185 – 193, hier S. 191.
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Der geneigte Leser möge bedenken: was er vor sich hat, ist die deutsche Übersetzung meiner italienischen Fassung einer obskuren neugotisch-französischen Version einer im 17. Jahrhundert gedruckten Ausgabe eines im 14. Jahrhundert von einem deutschen Mönch auf Lateinisch verfaßten Textes.17
Dem ist nicht hinzuzufügen.
Die realen Palimpseste Wo der (fiktive) Übersetzer Moers ein fiktionales Spiel über das Schreiben, Umschreiben und Überschreiben von Literatur praktiziert, inszeniert der (reale) Autor Moers ein reales Palimpsest, dessen Einbettung in verschiedene literarische Reihen einer Untersuchung bedarf. Zunächst soll hierzu Gottfried Kellers Erzählung als expliziter Prätext herangezogen werden, um im Anschluss daran die Referenzen auf die anderen Zamonien-Romane Moers’ als werkinternen Überschreibungsprozess zu interpretieren. Der Roman soll auf den Ebenen der Lexik, der Komposition und der Figuration mit den vorigen Zamonien-Romanen verglichen werden.
I. Von Gottfried Keller zu Gofid Letterkerl Gottfried Keller (1819 – 1890) arbeitete seit 1851 an dem zweibändigen Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla (1856), dessen ersten Teil die Novelle Spiegel, das Kätzchen abschließt. In der mit Ein Märchen untertitelten Novelle berichtet ein heterodiegetischer Erzähler von vergangenen (»vor mehreren hundert Jahren«18) und auf anonymer Überlieferung (»heißt es«19) basierenden Ereignissen: In der Obhut einer älteren Dame lebt in Seldwyla ein Kater namens Spiegel, der bis zum Tode seiner Herrin ein Leben als »Don Juan« in »anständiger Wohlhabenheit« führt.20 Nach diesem Schicksalsschlag wird der nun obdachlose Spiegel von Hunger und niederen Instinkten geplagt, bis der Stadthexenmeister Pineiß ihm mit einem faustischen Pakt verlockende Leckereien verspricht, dafür aber zum nächsten Vollmond den Schmer (also sein Fett) fordert. Um seiner vertraglichen Verpflichtung zu entgehen, erzählt Spiegel dem Hexenmeister die erfundene Geschichte des verfluchten Goldschatzes seiner Herrin auf dem 17 Eco 1982, S. 10. 18 Gottfried Keller : Spiegel das Kätzchen [ED 1856]. In: ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Hg. v. Thomas Böning. Frankfurt a. M. 1989, S. 240 – 279, hier S. 240. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 241.
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Grund eines Brunnens, den Pineiß nur heben könne, wenn er eine »bildschöne, aber unbemittelte Frauensperson«21 heirate.22 Spiegel gesteht selbst: Jene Erzählung war eine reine Erfindung von mir, meine in Gott ruhende Meisterin war eine simple Person, welche in ihrem Leben nie verliebt, noch von Anbetern umringt war, und jener Schatz ist ein ungerechtes Gut, das sie einst ererbt und in den Brunnen geworfen hat, damit sie kein Unglück daran erlebe.23
Spiegel kann mit dieser von ihm fingierten Geschichte einen neuen Vertrag aushandeln, der ihm die Freiheit verspricht, wenn er Eißpin hilft, den Schatz zu erlangen.24 Als zukünftige Gattin hat Spiegel eine fromme Begine ausgewählt, die er nachts als besenreitende Hexe erkannt hat. Zusammen mit einer Eule fängt er die Hexe ein und zwingt sie zur Heirat mit Pineiß, der nach der Hochzeit unter ihrem Joch lebt: »Herr Pineiß aber führte von nun an ein erbärmliches Leben; seine Gattin hatte sich sogleich in den Besitz aller seiner Geheimnisse gesetzt und beherrschte ihn vollständig.«25 So erfüllt sich der fingierte Fluch des Goldschatzes, der seinem unrechtmäßigen Besitzer nur Unglück bringen soll, letztlich doch. Diese kurze Wiedergabe des plots hebt die Analogien zu Moers’ Roman hervor, dessen Protagonist dieselben Ereignisse widerfahren wie dem Kellerschen Kater. Auf der lexikalischen Ebene nutzt (der reale) Moers dieselben Verfahren wie schon in den anderen Zamonien-Romanen: Mit permutativen Modifikationen werden Elemente des Originals verfremdet.26 Das Prinzip der anagrammatischen Umstellung wird mit dem Autornamen ›Gofid Letterkerl‹ (für ›Gottfried Keller‹) auf dem Titelblatt bereits angewendet und zieht sich durch den gesamten Text: Der Antagonist ›Pineiß‹ entspricht Kellers ›Eißpin‹, der Ort der Handlung ist ›Sledwaya‹, ein inkorrektes Anagramm von ›Seldwyla‹. Bei den Neuschöpfungen ›Gofid Letterkerl‹ und ›Sledwaya‹ handelt es sich um Buchstabenpermutationen, bei ›Pineiß‹ um eine Silbenpermutation, eine ›Spiegelung‹ des Namens, wenn man so will. Die gegenüber der Vorlage leicht zu entschlüsselnden Anagramme, die zum Teil bereits aus Die Stadt der Träumenden Bücher bekannt sind,27 lassen die Schlussfolgerung zu, dass es sich weniger um einen Akt arkaner Codierung mit dem Ziel eines vollständigen Überschreibens des Originals handelt, sondern vielmehr um eine spielerische, ›zamonisierende‹ Übertragung der ursprünglichen Inhalte in die zamonische Welt, in der Original 21 22 23 24 25 26
Ebd., S. 267. Ebd., S. 254 – 267. Ebd., S. 274. Ebd., S. 271. Ebd., S. 279. Vgl. auch die sechs Riesen (Themaktima, Ologibie, Sophoheilip, Esomitrona, Kisyhp, Peihogrega) in Walter Moers: Wilde Reise durch die Nacht. Frankfurt a. M. 2001, S. 108. 27 »Gofid Letterkerl war ein Genie« (STB 38).
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und Neuschöpfung gleichermaßen sichtbar bleiben. Aber die anagrammatischen Spiele sind nicht nur ein Verfremdungsverfahren des realen Autors, dessen Effekt in der Differenz zu den Namen der real-unzamonischen Dichter besteht, sondern auch der Figuren innerhalb der Diegese: Der einäugige Schuhu, der sich selbst Fjodor F. Fjodor nennt,28 hat ein sprachliches Problem (bzw. ein »Broplem«, SM 373), das darin besteht, dass er sämtliche Fremdwörter nicht richtig aussprechen kann, sondern einzelne Laute vertauscht: »›Ah – die hohe Kunst der Diplotamie!‹, rief Fjodor. ›Ich verstehe. Du hast sie mit Armugenten mapinuliert, stimmt’s?‹ Und endlich begriff Echo: Fjodor benutzte gerne Fremdwörter, obwohl er offensichtlich ein Problem damit hatte. Oder ein Broplem, wie er es ausgedrückt hätte.« (SM 64) Auf der kompositorischen Ebene der plot-Gestaltung werden die grundlegenden Segmente der Handlung im Wesentlichen beibehalten: Der Schilderung der Ausgangssituation (A) folgen der Vertragsabschluss (a), eine längere Mastzeit (B), schließlich eine List zur Überwindung des Antagonisten (b) und ein stabiler Endzustand (C). Problemlos lässt sich darin die triadische Struktur von instabilem Ausgangszustand (A), Transitionsphase (B) und stabilem Endzustand (C) sowie zwei transformierende Ereignisse (a, b) erkennen. Die formalisierte Segmentierung des plots in verschiedene Phasen bzw. Ereignisse zeigt zugleich die vergleichbare Tektonik beider Texte, aber auch die Abweichungen im Detail. Die Ausgangssituation (A), in der das Glück und Unglück der herrenlos werdenden Katze geschildert werden, wird in beiden Texten kurz gehalten, wobei Keller den Wandel vom glücklichen und unbeschwerten Leben hin zum sorgenvollen Dasein wesentlich stärker hervorhebt.29 Moers’ Erzähler schildert hingegen die räumlichen Umstände in Sledwaya ausführlicher. Der Vertragsabschluss (a) ähnelt weitgehend der Vorlage. Sogar mikrostrukturelle Elemente werden übernommen, wie zum Beispiel Echos bzw. Spiegels Misstrauen gegenüber dem Angebot und der Vorwurf mangelnder Ernsthaftigkeit: »Ach, der Herr Pineiß belieben zu scherzen!«30 – »Macht ruhig eure Scherze über einen, der mit einer Pfote im Grab steht, denn ich habe etwas übrig für schwarzen Humor.« (SM 12) Die Versuchungen durch Pineiß’ mittels kulinarischer Verlockungen entsprechen einander zwar, werden aber im Rahmen einer Überbietungsästhetik bei Moers gesteigert. So heißt es bei Keller : »Begib Dich in meinen Dienst; ich füttere Dich herrlich heraus, mache Dich fett und kugelrund mit Würstchen und gebratenen Wachteln.«31 – Moers hingegen steigert die 28 »›Mein Name ist Fjodor F. Fjodor, aber du kannst mich Fjodor nennen.‹ Echo wagte nicht, nach der Bedeutung des Fs zwischen den beiden Fjodors zu fragen. Vielleicht stand es für Fjodor« (SM 64). 29 Vgl. Keller 1989, S. 240 – 243; SM 9 – 10. 30 Keller 1989, S. 244. 31 Ebd.
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Verlockung durch neologistische Superlativbildung: »Feinschmeckerküche. Ach was: Feinstschmeckerküche! Ein See aus Milch, mit gebratenen Fischen darin. Menüs mit so vielen Gängen, dass du das Zählen vergisst.« (SM 14) Die Absicht hinter dem Kontrakt ist jeweils das Bedürfnis des Antagonisten, das Fett der Katze bzw. Kratze als alchimistisches Ingredienz zu gewinnen, allerdings mit unterschiedlichem Hintergrund: Während Kellers Pineiß kein darüber hinausgehendes Ziel verfolgt, benötigt Eißpin das Fett zur magischen Wiederbelebung einer Frau. Die Transitionsphase des Mästens (B) wird in beiden Texten unterteilt in ein totales Aufgehen im Schwelgen (SM 34 – 111)32 und Phasen des Widerstands (SM 111 – 114 u. 141 – 145)33. Schließlich nehmen die Binnenerzählungen der Protagonisten über ihre verstorbenen Besitzerinnen eine zentrale Rolle ein (SM 207 – 213), wobei die Binnenerzählung bei Keller ausgesprochen viel Raum einnimmt.34 Die Unterschiede sind in diesem Detail allerdings frappierend: Während in beiden Texten die Geschichte zunächst als ›wahr‹ erzählt wird, stellt sie sich bei Keller schließlich als fingiert heraus,35 bei Moers hingegen als authentisch, denn Eißpin kann sie aus seiner Perspektive vervollständigen (SM 222 – 225). Ist bei Keller also gerade die Inauthentizität Garant für das Gelingen der List, ist es bei Moers die durch Eißpin versicherte Authentizität. Bei der Vorbereitung der List (b) konzentriert Keller die Handlung auf die Beschaffung des Hexennetzes, mit dem die Hexe gefangen und zur Kooperation gezwungen werden soll.36 In Der Schrecksenmeister wird ein ähnliches Abenteuer (»Im Unkenwald«, SM 265 – 274) geschildert, wobei die zu gewinnende Zutat nicht der Überzeugung der Schreckse dienen soll, sondern für Eißpins Liebestrank bestimmt ist. Der stabile Endzustand (C) wird daher auch nicht – wie bei Keller – durch eine doppelte List (Lüge gegenüber Pineiß; Erpressung der Hexe), sondern durch eine einfache List in einvernehmlicher Kooperation mit der Schreckse (Liebestrank) erreicht. Auf der figuralen Ebene sind die Übereinstimmungen des Personals, nicht nur im Hinblick auf ihre Gestaltung, sondern auch auf ihre Aktantenrollen, erheblich, wenn auch die Rollen nicht identisch sind. Für eine Analyse der Figurenbeziehungen in der semantischen Tiefenstruktur ist es hilfreich, strukturalistische Aktantenmodelle in der Tradition Greimas’ oder Propps heranzuziehen.37 Der französische Semiotiker Algirdas Julien Greimas unterscheidet 32 33 34 35 36 37
Vgl. ebd., S. 246 f. Vgl. ebd., S. 247 – 250. Vgl. ebd., S. 256 – 266. Vgl. ebd., S. 274. Vgl. ebd., S. 274 – 276 u. 276 f. Vgl. Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Übers. v. Jens Ihwe. Braunschweig 1971 (Wissenschaftstheorie. Wissenschaft und Philosophie 4), S. 157 – 172; Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Übers. v. Christel Wendt.
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zwischen sechs verschiedenen Funktionsträgern (Aktanten), die für eine Handlung konstitutiv werden können: Subjekt, Objekt, Adressant, Adressat, Adjuvant und Opponent.38 Das auf die Tiefenstruktur literarischer Texte abzielende Modell Greimas’ richtet sich an dem Objekt des Begehrens aus, das die Handlungen und Rollen der Aktanten determiniert. Wie Claude Bremond vorgeschlagen hat, indem er in seinem generativen Modell der plot-Analyse eine eindimensionale Fokussierung auf den Helden der Geschichte ablehnt,39 ist es auch hier sinnvoll, die Aktantenrollen im Schrecksenmeister im Hinblick auf zwei Perspektiven zu bestimmen: Aus Spiegels Perspektive ist ›Leben‹ das Objekt seines Begehrens und Eißpin der Helfer (Adjuvant), der ihm vorerst zu seinem leiblichen Wohl verhilft.40 Nachdem das reine Überleben gesichert ist, werden ›neue‹ und bis dahin nur latente (sekundäre) Aktantenrollen realisiert: In den Fokus der Erzählung rückt nun das Begehren Eißpins (Subjekt), das Fell des Krätzchens (Objekt) zu erlangen und – vice versa – das Begehren des Krätzchens (Subjekt), am Leben zu bleiben (Objekt). In letzterer Figuration nimmt Eißpin die Funktion des Opponenten ein, dessen gegenläufige Interessen ihn zum Antagonisten Echos machen. Die Rolle des Adjuvanten nimmt die Schreckse Izanuela ein, die wiederum eigene Interessen hegt. Aus ihrer Perspektive nimmt Echo die Funktion des Adjuvanten ein, der ihr behilflich sein soll, ihre Liebe zu Eißpin zu realisieren. Moers hat die Aktantenrollen im Wesentlichen unverändert übernommen, allerdings die Situation durch die neue Funktionsbestimmung von Eule und Hexe geringfügig komplexer gestaltet. Bei Moers erfüllt die Eule nicht länger die Rolle des Adjuvanten, sondern die Hexe. Die Uminterpretation von Eule und Hexe sowie die daraus entstehenden zusätzlichen Partikularinteressen sind Ursache dafür, dass der Protagonist nun nicht mehr bloß zwei Aktantenrollen, sondern derer drei einnimmt (Objekt, Subjekt, Adjuvant), woraus sich allerdings keine nennenswerten Unterschiede für den plot ergeben: Das Märchen ist in struktureller Hinsicht dem Original äußerst nah.
München 1972. Das Modell von Bremond stellt eine perspektivengebundene Erweiterung dieses Versuchs dar. Claude Bremond: The Logic of Narrative Possibilities. In: New Literary History 11 (1980), H. 3, S. 387 – 411. 38 Vgl. Greimas 1971. 39 Vgl. Bremond 1980. 40 Die Positionen von ›Adressat‹ und ›Adressant‹ im literarischen Kommunikationsprozess sind hier von untergeordneter Relevanz.
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II. Von Moers zu Moers Mythenmetz überschreibt Letterkerl, Moers überschreibt Mythenmetz, Moers überschreibt Keller – und: Moers überschreibt letztlich auch Moers. Im Folgenden möchte ich das Verhältnis von Der Schrecksenmeister zur Zamonienserie in ausgewählten Aspekten darstellen, um zu zeigen, dass es sich auch um eine Überschreibung der anderen Zamonien-Romane handelt. Dabei ist es sinnvoll, zwischen punktuellen und strukturellen Überschreibungsprozessen zu unterscheiden. Als punktuell verstehe ich Überschreibungen, deren Referenzcharakter sich auf spezifische Textelemente beschränkt. Als solche fungiert zum Beispiel der Name der Schreckse, die sich als »Izanuela Anazazi« (SM 201) vorstellt. Der Name wird dem Zamonienkundigen bekannt vorkommen: In Die Stadt der Träumenden Bücher gibt es zwar keine gleichnamige Schreckse, aber bei »Inazea Anazazi« (STB 88) liegt doch eine erhebliche Namensähnlichkeit zu der Schreckse Izanuela vor, die in Der Schrecksenmeister als letzte Schreckse des Kontinents vorgestellt wird. Da die Ähnlichkeit nicht innerhalb der Fiktion thematisiert wird und weder Verwandtschaftsbeziehungen noch Zufall als Begründung für Ähnlichkeit oder Abweichung genannt werden, muss die Funktion der Referenz als in erster Linie außerfiktional gelten: Der spätere Roman signalisiert seine Referenz auf den früheren. Die Überschreibung wird hier außerdem tatsächlich als Phänomen der Schriftlichkeit inszeniert, denn in Die Stadt der Träumenden Bücher wird der Name ikonisch als Inschrift eines Ladenschilds eingeführt (STB 88).41 Ebenso wie die Schreckse somit ein ›verwandelter‹ literarischer ›Wiedergänger‹ aus der zamonischen Romantradition ist, so ist auch der einäugige Schuhu Fjodor F. Fjodor dem Zamonienreisenden nicht ganz unbekannt. In Ensel und Krete wird ein naher (oder ferner) Verwandter in Bild und Text vorgestellt, der allerdings nicht ein-, sondern dreiäugig daherkommt (EK 20 f.). Zudem erinnert Fjodor an einen einäugigen Eulenvogel in Rumo, der aber gerade nicht als Schuhu, sondern als Uhu eingeführt wird (R 372). Beide Figuren, Schreckse und Schuhu, erweisen sich gleichzeitig in faszinierender Nähe und dennoch deutlicher Distanz zu ihren zamonischen Vorfahren. Die Ähnlichkeiten gehen dabei auf verschiedene Quellen zurück: Während die Namensähnlichkeit der Schreckse entweder auf Hildegunst von Mythenmetz zurückzuführen ist, der sich mancher Elemente seiner eigenen Autobiographie Die Stadt der Träumenden Bücher bedient, oder den Übersetzer, der sich damit als höchst unzuverlässig erwiese, ist die ikonische Verwandtschaft 41 Eine Verwandtschaft wäre auch logisch nicht möglich, denn bei Der Schrecksenmeister handelt es sich um eine Fiktion innerhalb der Fiktion: Die Erzählung ist sogar in Zamonien ein Märchen.
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der Eulenvögel ein Palimpsesteffekt des Illustrators, der seine alten Illustrationen überschreibt bzw. ›überzeichnet‹. Im Hinblick auf strukturelle Affinitäten sind die dichotome Strukturierung der zamonischen Welten sowie die Funktion der Binnengeschichte hervorzuheben. Die zamonische Welt ist – personell ebenso wie topographisch – in dichotome Räume segmentiert: Bereits in den Vorgängerromanen wird die Handlung vom Antagonismus ›Spieler – Gegenspieler‹ determiniert: In Rumo wird die Rolle des Gegenspielers von General Ticktack, in Ensel und Krete von der Waldspinnenhexe, in Die Stadt der Träumenden Bücher vom Schattenkönig (bzw. Smeik) eingenommen. Diese Figuren sind charakterisiert durch manische Besessenheit und automatenhafte Künstlichkeit. Diese Merkmale werden in der Figur Eißpins konzentriert, der von seinem Machtstreben besessen ist und – wie Smeik in Die Stadt der Träumenden Bücher – als despotischer Patriarch seiner Stadt fungiert und sich schließlich als ein aus Leichenteilen reanimierter Android herausstellt (wie schon General Ticktack oder der Schattenkönig). Wie in Die Stadt der Träumenden Bücher wird die dichotom strukturierte Welt, die dort in ›oben‹ und ›unten‹, hier aber in ›innen‹ (Seldwyla) und ›außen‹ (die blauen Berge) geteilt ist, schließlich durch ein Metaereignis neu strukturiert: Die Antagonisten werden in beiden Texten mitsamt ihrer räumlichen Manifestationen (Smeiks Haus bzw. Eißpins Schloss) schließlich in einem Akt totaler Vernichtung getilgt. In der Charakterisierung Eißpins werden zugleich die Eigenschaften Smeiks und des Schattenkönigs sichtbar, so dass seine Figur weitaus ambivalenter ist als in der Kellerschen Vorlage. In der Binnengeschichte, die Echo erzählt, wird nicht nur das Kellersche Original kenntlich, sondern auch die Geschichte des Schattenkönigs. Wie schon in Die Stadt der Träumenden Bücher liegt ein intradiegetischer Erzähler vor, der eine metadiegetische Geschichte erzählt. Im Roman um die Antiquariatsstadt Buchhaim und die unterirdischen Labyrinthe ist dies der Schattenkönig, der von einem Freund erzählt, der sich schließlich als er selbst herausstellt. In Der Schrecksenmeister wird dieses Verfahren überboten, indem eine Figur A (Echo) von einer anderen Figur B (Floria von Eisenstadt) erzählt; als Figur C derselben Geschichte entpuppt sich schließlich der Schrecksenmeister, der damit zugleich Adressant sowie Figur der Geschichte ist und die Erzählung aus seiner Perspektive komplettieren kann. Ebenso wie die Schachtelung der Erzähl- und Bearbeitungsinstanzen gegenüber den Vorgängerromanen gesteigert ist, ist auch hier die Gesprächssituation komplexer.
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Alchimie und (Koch)Kunst ›Alchimie‹ ist sowohl Kern- und Leitmetapher des kulinarischen Märchens als auch die wesentliche Erweiterung des Originals Kellers. Der Grundgedanke der Alchimie, dass alles umgewandelt werden könnte, ist nicht nur inhaltliches Ingrediens, sondern auch Grundsatz der impliziten Poetik Walter Moers’, nicht nur des aktuellen Romans: Im intertextuellen Spiel der Zamonienserie wird Dantes La Divina Commedia (entst. 1307 – 1321) ebenso anverwandelt wie William Shakespeares Macbeth (uraufg. 1611) oder Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979).42 In Der Schrecksenmeister wird dieses Prinzip vielleicht am konsequentesten und konzentriertesten umgesetzt. Die Metapher der Alchimie hat bereits James Joyce in ähnlicher Weise in Finnegans Wake (1939) verwendet, wo er die »Umgestaltung des ›Müllhaufens‹ des Daseins durch den Künstler«43 als Alchimie umschreibt: »The Wake transforms the elements of life into art, but never renounces ist origins […]. Joyce consciously and deliberately chose alchemy as a central metaphor for Finnegans Wake.«44 Bereits in Die Stadt der Träumenden Bücher verwendet die korrupte Haifischmade Phistomefel Smeik die Metapher der Alchimie, um das Wesen der Kunst (hier : der Trompaunenkonzerte) zu verbildlichen: Die einzige Form von Kunst, die ich noch zulassen werde, werden Trompaunenkonzerte sein – weil es in Wirklichkeit gar keine Kunst ist […]. Sie glauben wahrscheinlich, daß das, was Sie da gestern gehört haben, Musik gewesen sei. Da muß ich Sie eines Besseren belehren – das war akustische Alchimie. (STB 145)
Smeik ist ebenso wie der Schrecksenmeister von seinen Herrschaftsplänen besessen und fungiert als Patron der Stadt, in der er lebt. Er überführt die Musik in den Umkreis des Pseudowissenschaftlichen, indem er sie als »Alchimie« bezeichnet, die – so weiß der Leser den Kommentar im Nachhinein einzuschätzen – höchst manipulativ und korrumpierend wirkt. Auch in Rumo wird die Metapher, diesmal vom Erzähler selbst, verwendet: »Alchimisten! Das ist eine Berufsgattung, die, äh … sagen wir mal, es waren Wissenschaftler mit künstlerischen Neigungen – oder Künstler mit wissenschaftlichen Ambitionen – wie man will.« (R 52) In beiden Fällen wird der Status von Kunst in den Bereich des Wunder42 Das Motto von Ensel und Krete (EK 7) stellt eine Umdichtung des ersten Gesanges von Dantes Divina comedia dar, Elemente der beiden Motti (»Schall und Wahn«) in Die Stadt der Träumenden Bücher (STB 7 u. 157) beruhen auf William Shakespeares Macbeth (»sound and fury«). Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) wird im gesamten Werk in vielen Motiven adaptiert, so z. B. ironisch mit dem ambivalenten Schwert in Rumo (R 307). Kurz: Die Reihe literarischer Anleihen ist lang. 43 Horst S. Daemmrich u. Ingrid G. Daemmrich: Alchimie. In: dies.: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. Aufl. Tübingen/Basel 1995, S. 26 – 28, hier S. 28. 44 Barbara DiBernard: Alchemy and Finnegans Wake. Albany, NY 1980, S. 8.
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baren (im Sinne Todorovs) zwischen ars und scientia transponiert.45 Moers greift den alchimistischen Zentralgedanken vom Werden und Vergehen bereits im lyrischen Motto des Schrecksenmeisters auf, das dem Roman vorangestellt ist: Was gewesen und gegangen Soll jetzt wieder neu anfangen Was gegangen und gewesen Soll im Wundersud genesen Soll im Topfe wiederkehren Um die Alchimie zu ehren. (SM 7)
So wie der alchimistische Glaube die Menschen dazu antrieb, Blei in Gold zu verwandeln, so erklärt das Motto die Funktion des Schrecksenmeister-Märchens, in dessen »Wundersud« Genesung versprochen wird. Die Vorsatzblätter des Romans präsentieren nicht mehr gefüllte Bücherwände wie in Die Stadt der Träumenden Bücher, sondern – und damit abstrakter – alchimistische Apparaturen, mit denen die literarische Metamorphose bewerkstelligt werden soll. Während Die Stadt der Träumenden Bücher von Literatur regelrecht konkret bevölkert ist (man denke an die Buchlinge), spielt sie in Der Schrecksenmeister auf der expliziten Handlungsebene eine geringere Rolle. Hier wird stattdessen – wie im ikonischen Laboratorium des vorderen Vorsatzblattes – der Prozess literarischer Gestaltung offengelegt. Der Garten des hinteren Vorsatzblattes lässt sich dagegen als Allegorie auf das Produkt des Gestaltungsprozesses interpretieren, wie schon Mythenmetz dies in Die Stadt der Träumenden Bücher getan hat, wenn er über seinen Dichtpaten Danzelot von Silbendrechsler und dessen Buch »Vom Gartengenuß« schreibt: »Danzelot liebte seinen Garten fast so sehr wie die Literatur und wurde nicht müde, mir die Parallelen zwischen gezähmter Natur und Dichtkunst aufuzeigen.« (STB 12)46 Indem der Erzähler Goethe, Keller, Süßkind etc. mittels literarischer Alchimie ›im Topfe wiederkehren‹ lässt,47 führt er dem Leser vor, was dieser im lustvollen Akt der kulinarisch-literarischen Lektüre erleben kann:
45 Zum ambigen Status der Alchimie zwischen ars und scientia vgl. Hans-Werner Schütt: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchimie. München 2000, S. 378 – 382; Vgl. zum Begriff des Wunderbaren Tzvetan Todorov : Einführung in die fantastische Literatur. Übers. v. Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur. Frankfurt a. M. 1992, S. 40 – 54. 46 Vgl. Zu dieser Passage auch den Beitrag von Tim-Florian Goslar im vorliegenden Band. 47 Die Schreckse Izanuela zitiert eine zamonische Variante von Goethes Der Zauberlehrling (1798; SM 275); auf Patrick Süßkinds Das Parfüm (1976) spielt Eißpins Erklärung seiner Tätigkeit an: »Um das essentielle Fett einer Kreatur zu erlangen, muss ich sie in der Minute ihres Todes auskochen. Schon kurz danach taugen ihre Körper gar nichts mehr« (SM 221).
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Ich werde dich füttern, wie du noch nie gefüttert worden bist. Ich werde die Speisen höchstpersönlich für dich zubereiten, denn ich bin nicht nur ein Virtuose der Alchimie, sondern auch ein Meister des Kochlöffels. Ich rede von den raffiniertesten Leckereien – nicht von ordinärem Kratzenfutter. Ich rede von Parfaits und Souffl¤s. (SM 13)
Ebenso wie Echo es genießen soll, schöne Speisen vorgesetzt zu bekommen, so soll auch der Leser seine Lektüre genießen.48 Im Falle des Krätzchens gehen kulinarische und literarische Rezeption sogar miteinander einher : »Eißpin kredenzte eine abenteuerliche Köstlichkeit nach der anderen und mit ihnen jedes Mal eine erhellende Information, eine spannende Geschichte oder irgendeine verrückte Legende. Echo hatte sich noch nie derart gut unterhalten und gleichzeitig hervorragend verköstigt gefühlt.« (SM 41) Eißpin hat mit seinen alchimistisch-kulinarischen Bemühungen »die Kocherei in den Bereich der Hochkunst« (SM 35) überführt und erweist sich damit als düsteres Spiegelbild Gofid Letterkerls, dem Mythenmetz zufolge eine »engmaschige Verflechtung von Kulinarik und Literatur« (SM 379) gelungen sei. Wie Eißpin das Kochen zur Kunst erhebt, wird bei Letterkerl (und Mythenmetz) vice versa die Kunst zum körperlich erfahrbaren Erlebnis, denn »noch heute raten manche Ärzte ihren übergewichtigen Patienten ab, Sledwaya-Geschichten zu lesen, weil sie glauben, die Lektüre derselben mache dick« (SM 379). Geradezu ein alchimistisches Schelmenstück gelingt Moers in der »Anmerkung des Übersetzers« mit einem Zitat Letterkerls, das aus einem Brief stamme, »den er [d. i. Letterkerl; G. L.] an eine Brieffreundin schrieb, die ihn benachrichtigt hatte, dass sie demnächst ein Kind gebären werde« (SM 383): Auf ihr Kindchen freue ich mich, das wird gewiss ein allerliebstes Tierchen! Wenn es ordentlich genährt ist, so wollen wir’s braten und essen, wenn ich nach Gralsund komme, mit einem schönen Kartoffelsalat und kleinen Zwiebeln und Gewürznelkelein. Auch eine halbe Zitrone tut man dran! (SM 383)
Es handelt sich dabei keineswegs, wie der groteske Inhalt denken lässt, um ein fingiertes Zitat, sondern tatsächlich um eine fast wörtliche Wiedergabe aus einem Brief Gottfried Kellers an Marie Frisch vom 18. Juli 187549 – allerdings hat Moers sich erlaubt, »Wien« durch die zamonische Universitätsstadt »Gralsund« zu ersetzen, oder besser : es in dieses zu verwandeln, denn dieses alchimistische Verwandeln von Leben (und Literatur) in Literatur ist es, was der Text als implizite Poetik ausgibt: ›Kunst ist Zauberei‹ und Literatur ist Alchimie, auch und besonders dann, wenn sie Literatur in Literatur verwandelt, ohne sie im Kern zu verändern. Wie der Vergleich ausgewählter Elemente gezeigt hat, sind wesent48 Das Essverhalten der Buchlinge in Die Stadt der Träumenden Bücher, die ihren Hunger durch die Lektüre von Literatur stillen, ist eine naheliegende Assoziation (STB 257 – 259). 49 Gottfried Keller : An Marie Frisch. In: ders.: Gesammelte Briefe in vier Bänden. Hg. v. Carl Helbling. Bd. 2. Bern 1951, S. 241 f., hier S. 241.
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liche Strukturmerkmale des Keller-Textes kaum oder nur geringfügig verändert worden. Die dahinter stehende poetologische Motivation wird umso ersichtlicher, wenn man eine Selbstaussage Kellers zu seinem Märchen berücksichtigt, der an F. T. Vischer schrieb, Spiegel, das Kätzchen sei »stofflich ganz erfunden«.50 Moers bietet in poetologischer Hinsicht geradezu eine Inversion dessen, indem er seine Quellen nicht nur offenlegt, sondern den Gestaltungsprozess als »geistigen Diebstahl« (SM 380) bezeichnet. Die Kernmetaphern des ›Kochens‹ und ›Essens‹ sind eine Zutat, die in der Geschichte poetologischer Bildlichkeit keineswegs neu sind: Von Otfrid von Weißenburg51 über Joseph von Eichendorff (›ästhetische Kochkunst‹)52 bis zu Friederike Mayröcker53 wird Literatur immer wieder als Objekt kulinarischen Genusses beschrieben; so auch bei Gottfried Keller, der in seinem Briefverkehr des Öfteren alimentäre Metaphern benutzt, um den Umgang mit Literatur zu beschreiben.54 So bedankt sich Keller in einem Brief an Ludmilla Assing für die Zusendung von Karl August Varnhagen von Enses Denkwürdigkeiten (1859): »Ich habe auch schon stark in den ›Denkwürdigkeiten‹ genascht und mich aufs neue an der unfehlbaren und reinen Sprache des toten Meisters gestärkt und erfreut.«55 In einem späteren Brief an dieselbe Briefpartnerin greift Keller diese Metapher erneut auf: Das köstliche Geschenk, welches Sie mir abermals mit dem neusten Briefbuche aus Varnhagens Nachlaß zu machen die Güte hatten, treibt mich, Ihnen meine alten Briefschulden endlich abzuzahlen. Mein Dank ist umso aufrichtiger, als hier stofflich
50 Zit. nach Therese Müller-Nussmüller : Spiegel das Kätzchen. Interpretation. Basel 1974, S. 69; diese Aussage hat Rölleke in einem kurzen Beitrag stark relativiert und die Übernahmen Kellers aus Grimms Hänsel und Gretel dargestellt; Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. Quellen und Studien. Gesammelte Aufsätze. Trier 2000 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 50), S. 177 – 180. 51 »Ist iz prûsun slihti: thaz dr¤nkit thih in rhti; odo m¤tres kl¤ini: theist gûuma filu r¤ini« – »Handelt es sich um das Ebenmaß der Prosa: das ist wahrlich ein Trank für dich; oder aber um die Feinheit des Metrums: das ist eine sehr reine Speise.« Otfried von Weißenburg: Evangelienbuch. Auswahl. Übers. v. Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart 1987, S. 34 f., V. 19 f. 52 Joseph von Eichendorff: Die deutsche Salon-Poesie der Frauen [ED 1847]. In: ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. 6: Geschichte der Poesie. Schriften zur Literaturgeschichte. Hg. v. Hartwig Schultz. Frankfurt a. M. 1990, S. 291 – 308, hier S. 296. 53 Vgl. Katrin Kohl: Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur. Berlin/New York 2007, S. 313. 54 Zu den christlichen und antiken Wurzeln dieser Metapher unter anderem bei Pindar, Aischylos oder Plautus vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 4. Aufl. Bern/München 1963, S. 144 – 146. 55 Gottfried Keller : An Ludmilla Assing. In: ders.: Gesammelte Briefe in vier Bänden. Hg. v. Carl Helbling. Bd. 2. Bern 1951, S. 82 – 84., hier S. 83 (Hervorhebung von mir ; G. L.); gemeint sind die Denkwürdigkeiten von Karl August Varnhagen von Ense.
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wieder einmal recht was für unsere Küche geliefert ist, menschlich Intressantes [!] und Pikantes und manch seltenes Forellchen darunter.56
Der Adaptions- bzw. Überschreibungsprozess beschränkt sich also nicht nur auf Kellers Märchen Spiegel, das Kätzchen, sondern geht wesentlich weiter, indem der Briefwechsel Kellers als Steinbruch für die implizite Poetik des Romans dient. Während die Metaphern der Alchimie auf die literarische Reihe der Zamonienserie verweisen, wo diese bereits mehrfach verwendet wurden, verbindet die alimentäre Bildlichkeit das Palimpsest nicht nur, aber auch mit dem Briefwechsel Kellers.
Schluss So verschlossen also der Weg zum (ur)zamonischen Original Letterkerls durch die mehrstufige und zum Teil intransparente Palimpseststruktur ist, so offen steht dem realen Leser der Weg zum Keller-Original: Die strukturellen Änderungen sind insgesamt relativ gering, die Anagramme simpel, der Originaltitel des zamonischen Märchens Echo, das Krätzchen dem Keller-Text Spiegel, das Kätzchen sehr nahe. Diese erhebliche Diskrepanz zwischen fiktivem und realem Palimpsest im Hinblick auf die Sichtbarkeit des jeweiligen Originals mag die Schlussfolgerung nahelegen, dass die Aufforderung des Übersetzers Moers mit derjenigen des realen Autors zusammenfällt: »Aber ich denke, es hat sich gelohnt, und wenn es nur aus dem Grunde ist, Gofid Letterkerl wieder einmal zu Aufmerksamkeit verholfen zu haben. Er ist einer der ganz Großen, nur ihm ist es zu verdanken, dass die kulinarische Dichtung ein Stilmittel der zamonischen Literatur wurde« (SM 383). Die literarische Reihe der Zamonien-Romane scheint den Schrecksenmeister mindestens ebenso geprägt zu haben wie die motivisch-genetische Verbindung zu Keller. Im Rahmen einer Überbietungsästhetik werden verschiedene Merkmale beider Reihen variiert und gesteigert, wie anhand der Binnenerzählung gezeigt wurde, die einerseits auf das Original Gottfried Kellers, andererseits aber auch auf die Binnenerzählung des Schattenkönigs in Die Stadt der Träumenden Bücher verweist. Der Text erweist sich also als vielfaches Palimpsest: Als reales Palimpsest stellt es eine parallele Kontamination (mindestens) zweier realer Quellen (Keller u. Moers) dar, deren Struktur- und Motiveigenschaften adaptiert werden. Als fiktives Palimpsest sind weniger die parallelen Überschreibungsakte als vielmehr die logisch-sukzessiven Prozesse in den Fokus zu stellen. Hier erscheint das Palimpsest als zweifach (Mythenmetz’ Bearbeitung, Moers’ 56 Gottfried Keller : An Ludmilla Assing. In: ders.: Gesammelte Briefe in vier Bänden. Hg. v. Carl Helbling. Bd. 2. Bern 1951, S. 104 – 106, hier S. 104 (Hervorhebung von mir ; G. L.).
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Übertragung) und das zamonische Original als völlig unzugänglich. Während die realen Palimpseste solche erster Stufe sind, befindet sich das fiktive Palimpsest auf der zweiten Stufe. Die mehrstufige und komplexe Palimpseststruktur, die in diesem Aufsatz dargestellt wurde, hängt mit der dem Text eingeschriebenen Poetik zusammen. In den Metaphern der Alchemie und der Kochkunst, die beide wiederum auf Metaphern der Zamonien-Romane (Alchimie) und Kellers Original (Kochkunst) hinweisen, wird die Individualität des Romans sichtbar, dessen Programmatik in einer postmodernen Amalgamierung von Traditionsbeständen besteht. Der Schrecksenmeister stellt gleichsam das literarische Laboratorium dar, das innerhalb des Romans als kulinarisches beschrieben wird. Oder mit den Worten Mythenmetz’, der als siebte Grundtugend des Dichters in Ensel und Krete die Gesetzlosigkeit – man könnte auch Joyces »stolentelling«57 zitieren – nennt: »Und auch moralischen Gesetzen darf sich der Dichter nicht unterwerfen, damit er gewissenlos das Werk seiner Vorgänger plündern kann – Leichenfledderer sind wir alle.« (EK 37) Im literarischen »Wundersud« (SM 7) erwachen die Leichen der Literaturgeschichte zu neuem Leben und erst im playgiarism des postmodernen Pastiche erweisen Künstler und Kunst sich als frei und autonom.58 Und noch etwas, denn ich kann sie schon hören, die Kritiker, die mir angesichts meiner kühnen Bearbeitung Leichenfledderei und geistigen Diebstahl vorwerfen werden. Dazu nur so viel: Das Werk von Gofid Letterkerl ist rechtefrei! Und: Wie kann man etwas stehlen, das allen gehört? Verklagt mich doch! (SM 379)
Auch dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Alighieri, Dante: Die göttliche Komödie. Italienisch und deutsch. 3 Bde. Übers. v. Hermann Gmelin. Stuttgart 1949. Eco, Umberto: Der Name der Rose [ED 1980]. Übers. v. Burkhart Kroeber. 44. Aufl. München/Wien 1986. Eichendorff, Joseph von: Die deutsche Salon-Poesie der Frauen [ED 1847]. In: ders.: 57 James Joyce: Finnegans Wake. London 1939, S. 424. 58 Raymond Federman: Kritifiktion: Einbildungskraft als Plagiarismus. In: ders.: Surfiction: Der Weg der Literatur. Hamburger Poetik-Lektionen. Übers. v. Peter Torberg. Frankfurt a. M. 1992, S. 77 – 100; zu einer Poetik des Plagiats s. auch Kathy Acker : Mythen schaffen. Ein Gespräch zwischen Sylvºre Lotringer und Kathy Acker. In: Ultra light-last minute-ex+popliteratur. Übers. v. Almuth Carstens. Berlin 1990, S. VII–XXVII, hier S. XVI–XXII.
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Werke in sechs Bänden. Bd. 6: Geschichte der Poesie. Schriften zur Literaturgeschichte. Hg. v. Hartwig Schultz. Frankfurt a. M. 1990, S. 291 – 308. Ende, Michael: Die unendliche Geschichte. Stuttgart 1979. Ense, Karl August Varnhagen von: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 8. Leipzig 1859. Goethe, Johann Wolfgang von: Der Zauberlehrling [ED 1798]. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Bd. 1: Gedichte und Epen I. München 1998, S. 276 – 279. Grimm, Jacob u. Wilhelm: Hänsel und Grethel [ED 1812]. In: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hg. v. Heinz Rölleke. Frankfurt a. M. 1999, S. 86 – 92. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Berlin 1820 – 1822. Joyce, James: Finnegans Wake. London 1939. Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen. Braunschweig 1856. Keller, Gottfried: Spiegel das Kätzchen [ED 1856]. In: ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Hg. v. Thomas Böning. Frankfurt a. M. 1989, S. 240 – 279. Keller, Gottfried: An Marie Frisch. In: ders.: Gesammelte Briefe in vier Bänden. Hg. v. Carl Helbling. Bd. 2. Bern 1951, S. 241 f. Keller, Gottfried: An Ludmilla Assing. In: ders.: Gesammelte Briefe in vier Bänden. Hg. v. Carl Helbling. Bd. 2. Bern 1951, S. 82 – 84. Keller, Gottfried: An Ludmilla Assing. In: ders.: Gesammelte Briefe in vier Bänden. Hg. v. Carl Helbling. Bd. 2. Bern 1951, S. 104 – 106. Moers, Walter: Die 1312 Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des »Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung« von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 1999. Moers, Walter : Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt a. M. 2000. Moers, Walter: Wilde Reise durch die Nacht. Frankfurt a. M. 2001. Moers, Walter: Rumo & Die Wunder im Dunkeln. Ein Roman in zwei Büchern. München 2003. Moers, Walter: Die Stadt der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. München 2004. Moers, Walter: Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers. München 2007. Shakespeare, William: Macbeth. Cambridge 1960. Tieck, Ludwig: Der gestiefelte Kater [ED 1797]. In: ders.: Werke in vier Bänden. Hg. v.
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Gerrit Lembke
Marianne Thalmann. Bd. 2: Die Märchen aus dem Phantasus. Dramen. München 1964, S. 205 – 269. Weißenburg, Otfried von: Evangelienbuch. Auswahl. Übers. v. Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart 1987.
Sekundärliteratur Acker, Kathy : Mythen schaffen. Ein Gespräch zwischen Sylvºre Lotringer und Kathy Acker. In: Ultra light-last minute-ex+pop-literatur. Übers. v. Almuth Carstens. Berlin 1990, S. VII–XXVII. Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft.. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis [u. a.]. Übers. v. Fotis Jannidis Stuttgart 2000, S. 185 – 193. Bremond, Claude: The Logic of Narrative Possibilities. In: New Literary History 11 (1980), H. 3, S. 387 – 411. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 4. Aufl. Bern/ München 1963. Daemmrich, Horst S. u. Ingrid G. Daemmrich: Alchimie. In: dies.: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. Aufl. Tübingen/Basel 1995, S. 26 – 28. DiBernard, Barbara: Alchemy and Finnegans Wake. Albany, NY 1980. Eco, Umberto: Über Spiegel. In: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene. Übers. v. Burkhart Kroeber. München 1988, S. 26 – 61. Federman, Raymond: Kritifiktion: Einbildungskraft als Plagiarismus. In: ders.: Surfiction: Der Weg der Literatur. Hamburger Poetik-Lektionen. Übers. v. Peter Torberg. Frankfurt a. M. 1992, S. 77 – 100. Genette, G¤rard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1993. Greimas, Algirdas Julien: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Übers. v. Jens Ihwe. Braunschweig 1971 (Wissenschaftstheorie. Wissenschaft und Philosophie 4). Jauss, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz 1967 (Konstanzer Universitätsreden 3). Kohl, Katrin: Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur. Berlin/New York 2007. Müller-Nussmüller, Therese: Spiegel das Kätzchen. Interpretation. Basel 1974 Niefanger, Dirk: Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer). In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart/Weimar 2001, S. 521 – 539. Propp, Vladimir : Morphologie des Märchens. Übers. v. Christel Wendt. München 1972. Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Quellen und Studien. Gesammelte Aufsätze. Trier 2000 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 50). Schubart, W.: Palimpsestus. In: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung. Hg. v. Konrat Ziegler. Bd. 36,2. Stuttgart 1949, S. 123 – 124.
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Schütt, Hans-Werner : Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchimie. München 2000. Sklovskij, Viktor : Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. u. übers. v. Jurij Striedter. München 1971, S. 37 – 121. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Übers. v. Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur. Frankfurt a. M. 1992. Tynjanov, Jurij: Über die literarische Evolution. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. u. übers. v. Jurij Striedter. München 1971, S. 433 – 461. Uhlig, Claus: Theorie der Literarhistorie. Prinzipien und Paradigmen. Heidelberg 1982. Winkgens, Meinhard: Palimpsest. In: Metzlers Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar 1998, S. 411.
Andere Medien The Greenhornes: There is an End. In: dies.: Dual Mono (2002).
Die Mitarbeiter dieses Bandes
Maren J. Conrad (*1983) studierte von 2004 bis 2008 Neuere deutsche Literatur und Medien, Psychologie und Nordistik in Kiel. Während ihres Studiums war sie als Redakteurssekretärin der philologischen Zeitschrift skandinavistik tätig (2006 bis 2008). Seit 2008 arbeitet sie an ihrer Dissertation Fantastik in der deutschen Kunstballade in Kiel, wo sie als Lehrbeauftragte und zeitweise als wissenschaftliche Mitarbeiterin (2010) beschäftigt ist. Ihr Promotionsvorhaben wird durch ein Stipendium des Landes Schleswig-Holstein gefördert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gattungstheorie und Theorie der Fantastik, narratologische Lyrikanalyse, Werbesemiotik, Selbstreflexivität sowie Metafiktionalität in Literatur und Film. Magdalena Drywa (*1978) studierte von 2002 bis 2008 Neuere deutsche Literatur und Medien, Geographie und Anglistik in Kiel. Seit 2008 bzw. 2009 ist sie dort Lehrbeauftragte am Lektorat Deutsch als Fremdsprache und am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien. Ihr Promotionsvorhaben Konstruktionen von Authentizität in zeitgenössischer Reiseliteratur wird durch ein Stipendium des Landes Schleswig-Holstein gefördert. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Reiseliteratur, Literatur der Gegenwart und nichtkanonisierte Literatur. Hans-Edwin Friedrich (*1959) studierte von 1979 bis 1985 Germanistik und Geschichte in Trier. 1989 wurde er mit einer Arbeit über Goethe promoviert (»Der Enthusiast und die Materie. Von den Leiden des jungen Werthers zur Harzreise im Winter«). 1998 wurde er in München mit einer Arbeit über »Deformierte Lebensbilder. Erzählmodelle der Nachkriegsautobiographie (1945 – 1960)« habilitiert, wo er von 1990 bis 2007 als Wissenschaftlicher Assistent, Oberassistent und Akademischer Rat angestellt war. Seit 2007 hat er eine Professur für Neuere deutsche Literatur und Medien in Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Literaturtheorie, nichtkanonisierte Literatur und Medienwissenschaft. Jüngste Publikationen sind: »Rhetorik und Film« (Hg. 2007), »Literaturskandale« (Hg. 2009), »Die
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Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann« (Hg. mit Michael Ansel u. Gerhard Lauer 2009). Tim-Florian Goslar (*1983) studiert seit 2005 Philosophie, Neuere deutsche Literatur und Medien sowie Allgemeine Sprachwissenschaften in Kiel. An der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel war er 2008 als studentische Hilfskraft im Rahmen des Forschungs- und Editionsprojekts Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft angestellt. Seine Interessenschwerpunkte sind die Philosophie des 20. Jahrhunderts, Kulturphilosophie, Ästhetik, Literatur der Romantik, Moderne und Postmoderne. Sven Hanuschek (*1964) studierte von 1983 bis 1989 Germanistik, Psycholinguistik und Philosophie in München, wo er 1993 mit einer Arbeit über Heinar Kipphardt (»›Ich nenne das Wahrheitsfindung‹. Heinar Kipphardts Dramen und ein Konzept des Dokumentartheaters als Historiographie«) promoviert wurde. 2003 wurde er habilitiert. Seit seiner Promotion ist er unter anderem als freier Publizist und Verlagslektor (1993 bis 1995) tätig gewesen. 2009 wurde er apl. Prof. an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er als Geschäftsführer des Departments für Germanistik, Komparatistik, Nordistik und Deutsch als Fremdsprache in München beschäftigt ist. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Literatursoziologie, Institutionengeschichte, das Verhältnis von Literatur und Populärkultur, Biographie und Theorie der Biographie in den Literaturwissenschaften, Neoavantgarden seit den 1960er Jahren, Editionsphilologie, Verhältnis von Literatur und Ethnologie, Sozialpsychologie und der neueren Kognitionsforschung. Anne Hillenbach (*1982) studierte von 2002 bis 2007 Komparatistik, Kunstgeschichte und Islamwissenschaft in Gießen. Während ihres Studiums ist sie als studentische Hilfskraft am Sonderforschungsbereich 434 Erinnerungskulturen tätig gewesen. Seit 2007 ist Anne Hillenbach Doktorandin am Gießener Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) und seit 2008 Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes. In ihrer Dissertation widmet sie sich dem Thema Literatur und Fotografie. Mediale Selbstreflexion und kulturelle Sinnstiftung. Ingo Irsigler (*1976) studierte von 1998 bis 2003 Neuere deutsche Literatur und Medien, Ältere deutsche Literaturwissenschaft/Deutsche Sprachwissenschaft und Pädagogik in Kiel. 2007 wurde er mit einer Arbeit über den westdeutschen Roman der 1950er Jahre promoviert. Seit 2008 ist er am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien in Kiel als Lehrkraft für besondere Aufgaben tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Gegenwartsliteratur, Literatursoziologie,
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Literatur und Zeitgeschichte. Jüngste Publikationen: »Sturm und Drang« (2010 mit Christoph Jürgensen), »Überformte Realität: Konstruktionen von Geschichte und Person im westdeutschen Roman der 1950er Jahre« (2009). Eva Kormann (*1958) studierte Germanistik, Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft in Mannheim, Heidelberg und Passau, wo sie 1989 mit einer Arbeit über das Volksstück promoviert wurde (»Der täppische Prankenschlag eines einzelgängerischen Urviechs …«). 2002 habilitierte sie sich mit einer Monographie über die Autobiographik im 17. Jh. (»Ich, Welt und Gott«). Eva Kormann nahm Lehraufträge an den Universitäten Karlsruhe, Mannheim und Salzburg, an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und der Deutschen Sommeruniversität in Taos (New Mexico) wahr. Momentan ist sie Privatdozentin an der Universität Karlsruhe und wissenschaftliche Lehrerin an der JosefDurler-Schule Rastatt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Autobiographik, Drama nach 1945, Androide in der Literatur sowie ›Literatur und Gedächtnis‹. Gerrit Lembke (*1979) studierte von 2000 bis 2006 Neuere deutsche Literatur und Medien, Ältere deutsche Literatur/Deutsche Sprachwissenschaft, Mittlere und Neuere Geschichte sowie Kunstgeschichte in Kiel. 2004 und 2006 erhielt er Studienpreise für seine Studienleistungen und sein gesellschaftliches Engagement. Er lehrt seit 2006 am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien in Kiel, 2007 bis 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seit April 2008 ist er Promotionsstipendiat des Landes Schleswig-Holstein. In seiner Dissertation widmet er sich der Poetik und Poetologie des Weltkriegsromans im Dritten Reich. Arbeitsschwerpunkte sind die deutschsprachige Literatur der Moderne und des 21. Jahrhunderts, postapokalyptische last-man-Szenarien in Literatur und Film sowie ›Literatur und Geschichte‹. Eva Oppermann (*1972) studierte von 1992 bis 1998 Anglistik und ev. Theologie in Kassel und von 1996 bis 1997 an der University of Central Lancashire (Preston, England). 2005 promovierte sie über die englische Kinderliteratur des sog. First Golden Age (1861 bis 1914). Sie lehrte als Wissenschaftliche Mitarbeiterin Englische/Britische Literaturwissenschaft an den Universitäten Kassel und Rostock und arbeitet zur Zeit an ihrer Habilitationsschrift zu John Miltons Paradise Lost. Darüber hinaus liegen ihre Forschungsschwerpunkte auf phantastischer Literatur, Historischen Romanen, Aldous Huxley, auf theoretischer Ebene gilt ihr Hauptinteresse der Intertextualität.
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Daniel Schäbler (*1978) studierte von 2000 bis 2006 Neuere deutsche Literatur und Medien sowie Anglistik in Kiel. 2005 erhielt er für seine Studienleistungen und gesellschaftliches Engagement einen Studienpreis. Sein Promotionsvorhaben über Rahmungsstrategien im englischen Roman von Romantik bis zur Gegenwart wurde von 2007 bis 2008 durch ein Stipendium des Landes SchleswigHolstein gefördert. Seit 2008 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Englischen Seminar in Kiel. Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind: Kulturwissenschaftliche Narratologie, Genre des Horrorfilms, Postapokalypse, Technikdiskurse in der Literatur und online-Medien, gothic novel und Metafiktion. Ninon Franziska Thiem (*1982) studierte von 2002 bis 2007 Literatur- und Wirtschaftswissenschaften in Erfurt und Amiens. Seit 2007 arbeitet sie in Erfurt und Paris an ihrer Dissertation zum Thema »Vom Imaginieren eines Raumes. Das postkoloniale Indochina als literarisches Konstrukt«. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Indochina, französische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Intertextualität, Raumtheorie und Kartographie.
Literatur nach der Wende
Gerhard Jens Lüdeker / Dominik Orth (Hg.) Nach-Wende-Narrationen Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien, Band 7 217 Seiten, gebunden, € 37,90 ISBN 978-3-89971-655-9
Literarische und filmische Reflexion: Nach-Wende-Narrationen zwischen Archiv, Erinnerung, Identitätsstiftung Was sind die Themen der Nach-Wende-Zeit? Wie werden sie literarisch und filmisch inszeniert? Dieser Band trägt zur Analyse und Interpretation der narrativen Verarbeitung historischer Prozesse am Beispiel Deutschlands nach der Wende bei. Nach-Wende-Narrationen sind als Dokumente der Erinnerung und der Gegenwartswahrnehmung zu verstehen. Sie dokumentieren gleichzeitig den Bruch von Identitäten, sowohl personal wie kollektiv, die durch die Wende aus einem klar definierten Gestern in ein schwer bestimmbares Heute gewechselt sind. Wenngleich in den Erzählungen versucht wird, Mauerfall und Wiedervereinigung mit einer positiven Symbolik zu versehen, zeigen sie mehrheitlich eine Verlusterfahrung, die noch längst nicht überwunden ist.
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