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German Pages 291 [292] Year 1984
Margot Fleischer · Wahrheit und Wahrheitsgrund
Margot Fleischer
Wahrheit und Wahrheitsgrund Zum Wahrheitsproblem und zu seiner Geschichte
w DE
G 1984
Walter de Gruyter · Berlin · New York
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Fleischer, Margot: Wahrheit und Wahrheitsgrund : zum Wahrheitsproblem u. zu seiner Geschichte / Margot Fleischer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1984. ISBN 3-11-010044-4
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei - p H 7, neutral) © 1984 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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1. Kapitel: Piaton Wahrheit als Erkennbarkeit des Seienden und ihr Grund 4. Das Denken des Wahrheitsgrundes 7. Wahrheit und Falschheit von Rede und Denken 8. Wahrheit des Seienden und Wahrheit der Rede. Sonnengleichnis und Sophistes 13.
4
2. Kapitel: Aristoteles Wahrheit und Falschheit des Urteils 14. Ist das Seiende wahr? 17. Wahrheit der Wesenserfassung 25. Aristoteles im Bezug zu Piaton
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26.
3. Kapitel: Thomas von Aquin Der formale Begriff der Wahrheit 29. Die Auseinanderfaltung des Wahrheitsbegriffs 31. Wahrheit im menschlichen Verstand: Wahrheit des Urteils 33; Wahrheit der Wesenserfassung 35. Wahrheit in den Sinnen; die Probleme der Selbstreflexion des Verstandes und der Erkenntnis des Singulären durch den Verstand 39. Wahrheit der Dinge 41. Gott als Wahrheitsgrund 45. Die Erkenntnis des Wahrheitsgrundes 50. Geschichtliche Bezüge 57.
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4. Kapitel: Descartes Das erste Wahre und die Regel der Wahrheit 61. Gott als Wahrheitsgrund menschlicher Erkenntnis 67. Das Ich als Wahrheitsgrund 72. Die erkennbaren Dinge 74. Das Erfassen einfacher Naturen 78. Das Urteilen 80. Die Erkenntnis des Ichs als Wahrheitsgrundes und des göttlichen Wahrheitsgrundes 80. Geschichtliche Bezüge 82.
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5. Kapitel: Kant Der Horizont der Wahrheitsfrage 86. Der Begriff der Wahrheit 88. Die Gesetzgebung des Verstandes 92. Die Erkenntnis des Wahrheitsgrundes 104. Die Gegenstände der Erkenntnis und das Pro-
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VI
Inhaltsverzeichnis
blem des Scheins 108. Zweckmäßigkeit der Natur - die Annahme der Urteilskraft 117. Geschichtliche Bezüge 129. 6. Kapitel: Nietzsche 133 Nietzsches Kritik an der ,Kritik des Erkenntnisvermögens' und überhaupt an der Wahrheitsfundierung der Tradition 134. Denken und Erkenntnis 142. Die Aufhebung des Wertgegensatzes und des Wesensgegensatzes von ,wahr' und ,falsch' 151. Exkurs: Analyse des Schemas Ursache-Wirkung 157. Der Mensch als Grund der scheinbaren Welt' 161. Die Grundlage der Destruktion des traditionellen Wahrheitsbegriffes und der Wahrheitsthese Nietzsches: Nietzsches Seinsthese über das Ansich 163. Das Problem der Wahrheit der Seinsthese: Nietzsches Aporie 171. Nietzsches dichterische Gestaltung seiner Aporie 178. Geschichtliche Bezüge 189. Schlußkapitel: Nietzsche
Zum
Problem
der
Wahrheitsermöglichung
nach 191
Anmerkungen
199
Literaturverzeichnis
269
Namenregister
279
Sachregister
283
Verzeichnis der Abkürzungen von Werktiteln
285
Einleitung Wahrheit und Wahrheitsgrund werden in dieser Untersuchung thematisiert in der Beschränkung auf das Gebiet der Erkenntnis 1 . Das geschieht durchaus in dem Bewußtsein, daß für Philosophen heute mehr denn je auch andere Weisen der Wahrheit bedenkenswert sind, zumal praktische Wahrheit (im weitesten Sinn) und die Wahrheit der Kunst — ja, daß es darauf ankommen wird, zu einem Wahrheitsverständnis vorzudringen, das es ermöglicht, die Weisen der Wahrheit zu verbinden, ohne ihre Unterschiede zu verwischen. Dies freilich muß gegenwärtig als ein sehr weit gestecktes Ziel erscheinen, dem man sich mit kleinen Schritten vielleicht am ehesten nähert 2 . — Die Frage nach der Wahrheit war von Anbeginn eine wesentliche Frage unserer philosophischen Tradition, und sie gehört im 20. Jahrhundert zu den lebendigsten philosophischen Fragen. Klarer, als es in der älteren Tradition herausgetreten ist, zeigt sich seit Nietzsche, wie eng diese Frage mit dem philosophischen Selbstverständnis des Menschen verknüpft ist. Schwer wiegt deshalb die noch immer zunehmende Uneinigkeit in der Beantwortung der Frage durch Philosophen unseres Jahrhunderts. Die heutige Situation auf dem Gebiet der Wahrheitstheorie hat das Besondere, daß gerade auch bezüglich eines formalen Begriffs der Wahrheit das Einverständnis fehlt. Bei den Denkern der Tradition bestand überwiegend Einmütigkeit darüber, daß die Frage, was Wahrheit ist, zunächst einmal zu beantworten sei mit der formalen Bestimmung, die in der durch Thomas von Aquin klassisch gewordenen Formulierung lautet: „Wahrheit ist Angleichung von Sache und Verstand" (vgl. S. 31). Und das Problem lag darin, wie die so begriffene Wahrheit näherhin zu verstehen sei und wie sie überhaupt möglich sei. D i e s e Fragen hielten die Problemgeschichte in der Tradition in Gang. Heute, wie gesagt, ist auch jene formale Bestimmung der Wahrheit umstritten. Das dürfte zum Teil eine Wirkung Nietzsches sein, der versucht hat, den traditionellen Wahrheitheitsbegriff zu destruieren. Es ist aber auch eine Folge der neueren Entwicklung der Wissenschaften und der philosophischen Reflexion auf sie, durch die jedenfalls Grenzen des traditionellen Wahrheitsbegriffs offenkundig geworden sind.
2
Einleitung
So ist die moderne Physik in Bezirke vorgestoßen, bei deren Erforschung auf Wahrheit als Angleichung im strikten Sinn nicht gerechnet werden kann, und die hermeneutischen Denkvollzüge in den Wissenschaften, die sich auf den Gebieten der Geschichte und bestimmter Werke menschlichen Geistes (Texte, Kunstwerke) betätigen, können vom Begriff der Wahrheit als Angleichung her nicht zureichend erfaßt werden. Vor allem aber: Die Vielfalt der Antworten, die unser Jahrhundert bis zur Gegenwart auf die Wahrheitsfrage gegeben hat und gibt, spiegelt die Vielfalt der philosophischen Positionen, ja die Zerrissenheit der Philosophie im 20. Jahrhundert 3 . Es könnte manchen wie eine Flucht in eine heilere Vergangenheit anmuten, wenn in dieser Lage die philosophische Tradition der Wahrheitsfrage zur Sprache gebracht werden soll. Aber abgesehen davon, daß die ,Vergangenheit' der Wahrheitsfrage so ,heil' und beruhigend gar nicht ist, kann sie gerade für die gegenwärtige Diskussion fruchtbar gemacht werden. Der hier vorgelegte Versuch hat eine auf die Gegenwart zielende .systematische' Absicht, die im Schlußkapitel voll hervortreten wird. Er versteht sich aber nicht nur in diesem Sinn als Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion der Wahrheitsfrage. Er möchte auch dazu beitragen, daß in dieser Diskussion die Korrespondenztheorie der Wahrheit4 mit dem Reichtum ihrer Bezüge und den ihr eigenen Problemdimensionen zur Geltung gebracht und weder als bloßes Schattengebilde und Leerformel bekämpft, noch naiv in einer Gestalt propagiert wird, die sich seit Kant verbietet. Damit gebe ich zu erkennen, daß ich die Korrespondenztheorie (unter Berücksichtigung ihrer Grenzen, die hier zuvor keineswegs vollständig angedeutet wurden und die ihr gerade auch innerhalb philosophischen Denkens bzw. für dieses zu ziehen sind) noch immer für brauchbar, ja unentbehrlich und für ihren neueren Konkurrentinnen überlegen halte. Allerdings liegt es gerade in der »systematischen' Absicht dieser Schrift, die Korrespondenztheorie mit der Frage nach der Wahrheitsermöglichung zu überschreiten, damit zugleich sie einzuschränken und ihr ein Vorzeichen zu geben, das sie für ein philosophisch reflektiertes Bewußtsein verwandelt. (Uberschreitungen und faktische Einschränkungen ihres Wahrheitsbegriffs werden auch in der Tradition der Korrespondenztheorie sichtbar werden.) — Übrigens halte ich es nicht für abwegig, an Stationen der Geschichte der Wahrheitsfrage auch ein historisches Interesse zu nehmen, das die kritische Auseinandersetzung einschließt. Weit entfernt davon, d i e Geschichte der Wahrheitsfrage darstellen zu wollen, greift die folgende Untersuchung aus dieser Geschichte sechs Stationen heraus und zeigt im Durchgang durch sie eine geschichtliche
Einleitung
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Bewegung auf. Daß diese und keine anderen Stationen ausgewählt wurden, hat sicher etwas .Subjektives' in dem Sinne, daß hier eine leitende Grundfrage mit bestimmend gewesen ist. Von anderen Frageansätzen aus könnten vielleicht andere Positionen, in der Neuzeit etwa die von Leibniz, Fichte oder Hegel, als wichtiger erscheinen. Dies zugestanden und damit im Zusammenhang, muß noch dem Eindruck vorgebeugt werden, als sei nach Meinung der Verfasserin die Geschichte der Wahrheitsfrage gleichsam geradlinig über die ausgewählten Stationen verlaufen. Um wieder Beispiele aus der Neuzeit zu nennen: Die Bewegung der .kritischen' Philosophie von Descartes zu Kant hat keineswegs das Denken Spinozas in sich hineingezogen, die von Kant zu Nietzsche keineswegs das Denken Hegels. — Was nun die Darstellung der einzelnen Stationen betrifft, so konzentriert sie sich auf den Schwerpunkt der Wahrheitsproblematik, erstrebt also nicht, diese zu erschöpfen und sie bis in etwaige logische, erkenntnistheoretische oder ontologische Verästelungen zu verfolgen. — Ich möchte erwähnen, daß der hier vorgelegte Denkversuch nicht unternommen worden wäre, gäbe es nicht Heideggers Philosophie (Sein und Zeit und die Spätphilosophie) und wäre sie nicht von anderen Denkern ,tradiert' und fortgebildet worden. (Zu dieser Erwähnung veranlaßt mich auch die Kritik, die ich mir gelegentlich erlauben werde.) Das Eigene meines Versuchs dürfte dem Kenner deutlich werden. — Der Text meiner Schrift ist von der Absicht bestimmt, die Hauptlinie der Untersuchung möglichst scharf und verständlich heraustreten zu lassen. Das hat dazu geführt, daß ein verhältnismäßig starker Anmerkungsteil entstanden ist, den der mit der Materie weniger vertraute Leser bei der ersten Lektüre vielleicht noch zurückstellen sollte. In das Literaturverzeichnis sind außer den zitierten Schriften weitere Forschungsarbeiten aufgenommen, die geeignet sind, den Leser weiterzuführen oder ihn mit anderen Standpunkten zu konfrontieren. Die genannte Literatur verweist ihrerseits noch einmal weiter. Ich danke Herrn Dr. Friedhelm Decher für viele entsagungsvolle Hilfeleistungen bis zur Fertigstellung des Druckmanuskripts. Frau Beate Klausnitzer gilt mein Dank für die Mitarbeit an den Registern, ihr und Herrn Karl-Heinz Schramm für das Korrekturlesen.
1. K a p i t e l : P i a t o n Mit Piaton tritt die europäische Philosophie in ihre Gestalt der Metaphysik ein. Piatons Werk, in sich vollendet, ist zugleich der fruchtbare und grundlegende Anfang einer langen Geschichte unseres Denkens. Auch die Wahrheitsfrage findet nach ihren wesentlichen Seiten bei ihm ihre Exposition. Wer bei Piaton Auskunft über die Wahrheit sucht, wird sie vor allem in zwei Texten finden, im S o n n e n g l e i c h n i s (Politeia, VI. Buch, 506a—509d) und in einer Erörterung über die Rede im Sophistes (261c—264b). Auf zwei sehr verschiedenen Wegen gelangt Piaton zu verschiedenen, einander ergänzenden Antworten auf die Frage nach der Wahrheit. Das S o n n e n g l e i c h n i s der Politeia wird herausgefordert durch den Gedanken, daß es für die Herrscher in einem guten Staat unerläßlich ist, zu wissen, inwiefern das Gerechte gut ist (Pol. 506a4—6). In Rede steht also das Gute, und das S o n n e n g l e i c h n i s führt vor das höchste Gute: vor die „Idee des Guten", vor das Göttliche. Dies höchste Gute zeigt sich im Gleichnis aber gerade als der ermöglichende Grund von Wahrheit und Erkennen (damit zugleich der Wahrheit des ,Gerechten selbst' und des Erkennens des Gerechten in seinem Gutsein) — und es zeigt sich als Seinsgrund. Das S o n n e n g l e i c h n i s wird hier im Fortgang nur für die Wahrheitsfrage in Anspruch genommen'. Das S o n n e n g l e i c h n i s setzt voraus, daß es zwei Seinsbereiche gibt, den Bereich des vielerlei einzelnen, Werdenden und Vergehenden einerseits, und den Bereich der unvergänglichen Ideen andererseits 2 . Ein Beispiel: In jenem Bereich haben etwa schöne Dinge, schöne Blumen, schöne Menschen die Stätte vorübergehenden Daseins. Im Bereich des Unvergänglichen hingegen ist das Schöne selbst (oder die Idee des Schönen) in Beständigkeit anwesend. Durch Teilhabe an diesem Einen, dem Schönen selbst, ist jedes einzelne vergängliche Schöne schön. — Das Werdende und Vergehende ist das Wahrnehmbare. Und weil das Seiende dieses Seinsbereichs entsteht, sich verändert, vergeht, zeigt es sich dem Wahrnehmen
1. Kapitel: Piaton
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immer wieder anders. Die Ideen sind das Denkbare — sie sind n u r dem Denken vernehmbar. Und weil sie immer-seiend und unveränderlich sind, bieten sie immer den einen, selben Anblick. Sie sind daher das eigentlich Wißbare. Das S o n n e n g l e i c h n i s rückt ein Verhältnis im Bereich des Wahrnehmbaren (oder näher: des durch den Gesichtssinn Wahrnehmbaren — des Sichtbaren also) ins Blickfeld, um mit seiner Hilfe ein Verhältnis im Bereich des Denkbaren zu verstehen zu geben. Das Verhältnis im Bereich des Sichtbaren ist das Verhältnis der sichtbaren Dinge selbst, unseres Sehens solcher Dinge und des Lichtes bzw. der Sonne, die das Licht spendet. Die sichtbaren Dinge zeigen sich unserem Sehen — und wir sehen die sichtbaren Dinge mit dem Gesichtssinn, mittels der Sehkraft. Aber weder bringen die sichtbaren Dinge ihre Sichtbarkeit von sich selbst her auf, noch verdankt das Sehen seine Kraft sich selbst. Vielmehr bedürfen die sichtbaren Dinge, um sich einem Sehen zu zeigen, des Lichtes. Ohne daß das Licht diese Dinge bescheint, sind ihre Farben unsichtbar (Pol. 507e2) und sind damit die Dinge selbst für unser Sehen verborgen. Und entsprechend vermag unser Sehen nichts ohne Licht. Bei totaler Finsternis ist unser Sehvermögen untauglich. Die Sichtbarkeit der Dinge und die Tauglichkeit unseres Sehvermögens werden einem Dritten verdankt, dem Licht der Sonne. Piaton nennt das Licht das „Joch" (Pol. 508al), das die Sichtbarkeit der Dinge und unser Sehen zusammenspannt. Das bedeutet: Das Licht der Sonne stiftet in eins mit der Sichtbarkeit der Dinge und der tauglichen Sehkraft die Gemeinsamkeit beider, so daß die Dinge sichtbar sind f ü r unser Sehen und unser Sehen auf die sichtbaren Dinge g e r i c h t e t ist. Dies Verhältnis im Bereich des Sichtbaren schließt das Verständnis auf für ein entsprechendes Verhältnis im Bereich des Denkbaren. Hier handelt es sich um das Verhältnis der Ideen, unseres Erkennens der Ideen und ebenfalls eines Dritten, der Idee des Guten. Die Ideen zeigen sich unserem Erkennen — und wir erkennen die Ideen mit unserer Vernunft. Aber die Ideen bringen ihre Erkennbarkeit für uns nicht selbst auf. Und auch unsere Vernunft verdankt ihre Erkenntniskraft, durch die sie zum Erkennen der Ideen tauglich ist, nicht sich selbst. (Das beweist sie hinreichend dadurch, daß sie ebensowohl auch haltloser Meinungen fähig ist.) Die Ideen bedürfen, um für unsere Vernunft erkennbar zu sein, der Wirksamkeit der Idee des Guten. Und andererseits empfängt unsere Vernunft von der Idee des Guten Kraft. Ja, wie das Licht als ein Joch die Sichtbarkeit der Dinge und unser Sehen zusammenbindet, so vereinigt die Idee des Guten die Erkennbarkeit der Ideen und unser Erkennen. Die Idee des Guten (das Göttliche)
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1. Kapitel: Piaton
ist die Ursache für eine Gemeinschaft von Ideen und Vernunft, derart, daß die Ideen erkennbar sind für unser Denken und daß unser Denken auf die Ideen gerichtet ist. Die Erkennbarkeit der Ideen für unsere Vernunft ist ihre Wahrheit (siehe Pol. 508el—4). Und Wahrheit meint hier Unverborgenheit 3 . So, wie die Farben der wahrnehmbaren Dinge für unser Sehen verborgen sind, wenn kein Licht auf sie fällt, so wären die Ideen für unser Denken verborgen, würden sie nicht von der Idee des Guten .beschienen' (siehe Pol. 508d4f.). Die Idee des Guten macht die Ideen unverborgen, wahr, erkennbar 4 . Wahrheit eignet den Ideen. Sie findet sich auf Seiten des S e i e n d e n . Wäre das Seiende nicht wahr, gäbe es für die Vernunft nichts, das sie erkennen könnte. Als Seiendes, dem Wahrheit zukommt, sind im S o n n e n g l e i c h n i s die Ideen bestimmt. D a alles übrige Seiende ist durch Teilhabe an Ideen, kommt auch ihm eine — abgestufte — Wahrheit zu. Das zeigt das auf das S o n n e n g l e i c h n i s folgende L i n i e n g l e i c h n i s . Es ,versinnlicht* im Bild einer nach einem bestimmten Verhältnis in vier Abschnitte geteilten Linie vier Teilbereiche des Seienden, auf das menschliches Erfassen gerichtet sein kann. Bestimmend für die Teilung ist das Teilhaben des jeweiligen Seienden an der Wahrheit (siehe Pol. 51 le2 f.). A m wahrsten sind die Ideen. Deshalb ist die auf sie gerichtete Erkenntnis (die von der Vernunft vollzogene Dialektik) die deutlichste. Den Ideen stehen in Hinsicht auf Wahrsein am nächsten die Gegenstände der Mathematik 5 . Die Erkenntnis dieser Gegenstände (vom Verstand in den mathematischen Disziplinen vollzogen) kommt daher hinsichtlich ihrer Deutlichkeit der Erkenntnis der Ideen am nächsten. Im Bereich des Werdenden und Vergehenden schließlich gibt es noch zwei niedrigere Stufen des Wahren, denen entsprechende Stufen deutlichen bzw. undeutlichen Erfassens zugeordnet sind 6 . Das S o n n e n g l e i c h n i s schreibt den Ideen Wahrheit zu und führt diese Wahrheit zurück auf einen Wahrheitsgrund. Es findet den Wahrheitsgrund nicht etwa in der menschlichen Vernunft, sondern in einem Dritten, das nicht nur den Ideen Wahrheit, sondern auch der menschlichen Vernunft taugliche Erkenntniskraft erwirkt und das in eins damit Ideen und Vernunft sozusagen zusammenspannt. Dies Dritte ist die Idee des Guten. Sie wird im Schlußteil des S o n n e n g l e i c h n i s s e s als Seinsgrund der Ideen vor Augen geführt 7 . Wahrheitsgrund und Seinsgrund der Ideen sind also eins.
1. Kapitel: Piaton
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Um das Verhältnis von Ideen, Vernunft und Wahrheitsgrund zu verstehen zu geben, spricht Piaton in einem Gleichnis. Das wirft die Frage auf nach der Art des Denkens, das jenes Verhältnis denkt. Diese Frage kann freilich sinnvoll nur gestellt werden, wenn man nicht annimmt, Piaton hätte hier auf die Form des Gleichnisses ebensogut auch verzichten können, die gedachte ,Sache' fordere keineswegs einen Denkvollzug besonderer Art. An dieser Stelle bedarf es eines Hinweises: Man begegnet in Piatons Schriften zwei Grundvollzügen menschlichen Denkens8. Der eine Grundvollzug ist das Rechenschaft-geben (Logos). Dies Denken weist sich als wahr aus, indem es Gründe vorbringt. Es ist genau und sicher. Eine seiner strengsten Gestalten ist der Beweis. Den anderen Grundzug des Denkens kann man mit einem Ausdruck aus Piatons Symposion als richtige Meinung bezeichnen. Die richtige Meinung vermag nicht, Gründe aufzuweisen und dadurch Rechenschaft abzulegen für das Gedachte. Sie ist nicht genau und sicher. Dennoch faßt sie Wahres. Sie ist ein Mittleres zwischen Wissen und Nichtwissen. Als dieses Mittlere ist sie ein A u s l e g e n . Gestalten der richtigen Meinung sind bei Piaton vor allem der philosophische Mythos und das Gleichnis. — Die beiden Denkvollzüge des Rechenschaft-gebens und der richtigen Meinung können nicht jeweils nach Belieben gewählt werden. Vielmehr verlangt die Sache, die zu denken man sich vorgenommen hat, den einen oder den anderen Denkvollzug. Es steht für Piaton fest, daß der Denkende so lange und soweit wie möglich Rechenschaft über seine Gedanken geben soll. Erst wenn er im Rechenschaft-geben an eine Grenze stößt, derart, daß er von der Sache ablassen müßte, wollte er weiterhin auf einem Vorweisen von Gründen, auf Genauigkeit und Sicherheit bestehen, darf er zum Denken im Sinne der richtigen Meinung, d. h. des Auslegens, übergehen. Das hieße also: Piaton denkt das Verhältnis von Ideen (Erkennbarem, Wahrem, wahrhaft Seiendem), menschlicher Vernunft (Erkenntnis) und Idee des Guten (Wahrheitsgrund, Seinsgrund, Erkenntnisgrund) in einem Gleichnis, weil dies Verhältnis vom Rechenschaft gebenden Denken nicht erreicht werden kann. Tatsächlich wird im Gleichnis selbst ausgesprochen, warum das Rechenschaft gebende Denken zur Idee des Guten nicht vorzudringen vermag. Das Rechenschaft gebende Denken (Logos) ist Erkenntnis der Ideen; es ist auf die Wahrheit der Ideen gerichtet und vermag sie zu fassen. Nun kann zwar auch in bezug auf die Idee des Guten von Wahrheit gesprochen werden (siehe Pol. 508d5). Piaton schärft im S o n n e n g l e i c h n i s aber gerade ein, daß Wahrheit und Sein der Idee des Guten und Wahrheit und Sein der Ideen nicht dasselbe sind, daß vielmehr die Idee des
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1. Kapitel: Piaton
Guten die Ideen, deren Wahrheits- und Seinsgrund sie ist, an Wahrheit und Sein in unvorstellbarem Maße übertrifft und daß sie von anderer Art ist. Wahrheit und Sein der Idee des Guten sind verschieden von Wahrheit und Sein der Ideen. Deshalb ist die Idee des Guten für uns nicht auf die Weise erkennbar, wie die Ideen es sind'. Der Wahrheitsgrund des Seienden, der zugleich der menschlichen Vernunft Erkenntnis ermöglicht, wird in einem Gleichnis gedacht. Er wird gedacht von einem Denken, das sich als ein Mittleres zwischen Wissen und Nichtwissen begreifen muß. Er zeigt sich einem auslegenden Verstehen, das Wahres faßt und damit wahr ist, ohne doch im Sinne des Rechenschaftgebens Gründe beibringen zu können. Im S o n n e n g l e i c h n i s legt die menschliche Vernunft sich auf ihre eigene Möglichkeit hin aus. Sie gibt sich ihr selbst in ihrer Möglichkeit des Erkennens aus ihrem Grund her zu verstehen. Dabei geht sie von einem Vorverständnis aus. Ihr Selbstverständnis, erkennende Vernunft zu sein und Erkenntnis zu vermögen, bringt sie von vornherein in die Überlegung ein. Ebenso setzt sie voraus die Erkennbarkeit der Ideen. Ferner hat sie undeutlich das Verhältnis von Ideen, Erkenntnis und Idee des Guten schon im Vorblick; nur dadurch kann sie das Bild aus dem Bereich des Sichtbaren als Bild für dieses Verhältnis ergreifen. Mittels eines Bildes und seiner genauen Übertragung vermag die Vernunft das Verhältnis zwischen ihr selbst, den Ideen und der Idee des Guten so auseinanderzulegen, daß sie es nun ausdrücklich versteht. Ein Auslegen bringt die Wahrheit der Ideen und die Erkenntniskraft der Vernunft sowie ihr wechselseitiges Aufeinander-hingeordnet-sein auf ihren Grund. Anders gewendet: Der Grund, der die Wahrheit der Ideen und die Erkenntnis der Ideen durch die Rechenschaft gebende Vernunft ermöglicht, zeigt sich einem auslegenden Verstehen und nur ihm10. Im Sophistes thematisiert Piaton unter einer anderen Fragestellung noch einmal die Wahrheit. Jetzt (Soph. 261c—264b) geht es um die Wahrheit der Rede — und (für Piaton mehr noch) um ihr Gegenteil, die Falschheit der Rede. Die Gesprächspartner in diesem Dialog haben es sich zur Aufgabe gemacht, zu bestimmen, was der Sophist ist. Langehin entzieht sich der Sophist dem Zugriff des Denkens. Er verschanzt sich gleichsam hinter immer neuen Schwierigkeiten (vgl. Soph. 261a4—b4). So auch hinter der Schwierigkeit, was denn das Falsche sei und ob Falsches überhaupt sein könne. Ist diese Frage nicht zu lösen, so darf vom Sophisten nicht behauptet werden, er rede Falsches und dies auf eine Weise, daß seine Zuhörer Wahres zu vernehmen meinen. Das Falsche ist als seiendes Nichtseiendes
1. Kapitel: Piaton
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zum Problem geworden (siehe Soph. 237a3 f.). Unter großen Anstrengungen gelingt es den Gesprächsteilnehmern, zu begreifen, daß und in welchem Sinn Nichtseiendes ist. Dem ,Nichtsein' wird der Sinn ,Verschiedensein' gewonnen. Und in diesem Sinn kann auch das Falsche sein. Damit wird es möglich, Falschheit (und Wahrheit) der Rede zu bedenken 11 . — Thema ist die Rede (logos). In der Rede sprechen wir etwas aus, teilen wir anderen etwas mit (mündlich oder — was bei Piaton hier zurücktritt — schriftlich). Mit der Rede mitthematisch in dem Sinne, daß das für die Rede Aufgezeigte auch für sie gilt, sind diejenigen Phänomene, die sich von der Rede nur dadurch unterscheiden, daß bei ihnen das Aussprechen, die Mitteilung, fehlt. Hier handelt es sich darum, daß jemand etwas still bei sich selbst denkt; Piaton spricht (Soph. 263e3 f.) von dem Gespräch, das die Seele mit sich selbst führt, und zwar in ihr selbst, ohne Verlautbarung. Die innerliche Denkbewegung kann in einer Bejahung oder Verneinung zum Abschluß kommen, und zu einem solchen ,Beschluß' kann das Denken ganz selbständig oder aufgrund einer Wahrnehmung gelangen. Auf diese Phänomene 12 , wie gesagt, trifft zu, was für die Rede herausgearbeitet wird. Die Untersuchung über die Rede, die hier zunächst referiert wird, setzt an bei den Wörtern, also bei den Elementen der Rede, und zwar mit der Frage, ob alle Wörter sich miteinander vereinigen oder gar keine, oder einige wohl, andere nicht (Soph. 261d5f.). Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es eines Kriteriums. Was heißt es denn: Wörter vereinigen sich miteinander? Wann kann von einer Vereinigung von Wörtern sinnvoll gesprochen werden? N u r dann, wenn die Wörter, nacheinander ausgesprochen, etwas kundmachen (deloün), etwas zu verstehen geben, anzeigen (semainein). Dies Kriterium führt dazu, daß die anfangs vorgelegte Frage so entschieden werden muß: Einige Wörter vereinigen sich miteinander (und bilden so eine Rede), andere vereinigen sich nicht miteinander. Das wird erläutert im Rückgang auf zwei Grundarten von Wörtern. Die eine ist das Hauptwort (oder der Name — onoma), die andere das Zeitwort (oder das Sagewort — rhema)15. Das Zeitwort macht Handlungen kund; das Hauptwort bezeichnet das, was die Handlungen vollzieht (Soph. 262a). Wenn nun jemand nur Zeitwörter nacheinander ausspricht, also z.B. sagt: „geht, läuft, schläft", dann vereinigen sich diese Wörter nicht zu einer Rede; sie machen in dieser Zusammenstellung nichts kund. Entsprechendes gilt, wenn der Sprechende nur Hauptwörter aneinanderreiht, ζ. B. „Löwe, Hirsch, Pferd". Dagegen wird etwas zu verstehen gegeben und liegt eine Rede vor, wenn einem Hauptwort, das den Handelnden benennt, ein Zeitwort, das eine Handlung kundmacht, verbunden wird (z.B. „der
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1. Kapitel: Piaton
Mensch lernt")14. Wichtige ergänzende Hinweise werden in diesem Zusammenhang gegeben: Die Verbindung nur eines Hauptwortes und nur eines Zeitwortes ist die elementarste (erste — protos) und kürzeste Rede. Damit ist darauf verwiesen, daß es selbstverständlich viel komplexere und längere Reden gibt. Ferner: Die Rede braucht nicht eine Handlung mitzuteilen, sie kann ebensowohl ein Nichthandeln (apraxia) ausdrücken. Das heißt also: Die Rede kann eine Bejahung (phäsis) oder eine Verneinung (apophasis) sein (vgl. Soph. 263el2). Und: Wenn auch die Beispiele Handeln im engeren Sinn in den Vordergrund bringen, so gilt doch ebensosehr, daß die Rede das Sein bzw. Wesen (ousia) eines Seienden oder Nichtseienden (Verschiedenen) zu verstehen geben kann (siehe Soph. 262c3)15. Schließlich: Indem das Zeitwort in verschiedenen Tempora und Formen gebraucht werden kann, ist die Rede fähig, Seiendes, Werdendes, Gewordenes (und Gewesenes) sowie Zukünftiges zu verstehen zu geben. Piaton setzt die Erörterung über die Rede mit zwei grundlegenden Bestimmungen fort. Die eine folgt unmittelbar aus dem schon Ausgeführten. Sie besagt: Eine Rede ist notwendig eine Rede von etwas (tinos). Andernfalls würde sie gar nichts kundmachen. Die zweite Bestimmung lautet: Jede Rede hat eine gewisse Beschaffenheit, und ihre Beschaffenheit ist ihre Wahrheit oder Falschheit. Damit ist die Untersuchung über die Rede bei dem Punkt angekommen, auf den sie von vornherein vor allem abzielte. Wahrheit und Falschheit der Rede gilt es nun zu denken. Dabei wird jene erste Bestimmung, daß jede Rede von etwas redet, in Anspruch genommen16. Der Gesprächspartner des Dialogs wählt als Beispiel zwei Reden, die etwas über seinen Mitunterredner, Theaitetos, sagen: „Theaitetos sitzt" (Soph. 263a2) und „Theaitetos, mit dem ich mich jetzt unterrede, fliegt" (Soph. 263a8). Die erste der beiden Reden wird für wahr erklärt, während die zweite ganz offensichtlich falsch ist. Einen fliegenden Theaitetos könnte es (in einer Epoche, die von Flugzeugen nichts wußte) allenfalls im Traum oder als sonstwie fiktive Vorstellung geben. Daß sich die Rede ,Theaitetos fliegt' auf eine Fiktion bezieht, ist aber durch den Zusatz „mit dem ich mich jetzt unterrede" ausgeschlossen. ,Theaitetos fliegt' wird über den wirklichen, dasitzenden, am Gespräch beteiligten Theaitetos gesagt17. Worin besteht die Wahrheit der wahren, die Falschheit der falschen Rede? Die wahre Rede sagt über Theaitetos „das Seiende, daß es ist" (tä onta hos estin — Soph. 263b4). Sie sagt die Verbindung von ,Theaitetos' und ,sitzen', die ist, als seiend. Die falsche Rede sagt „von dem Seienden Verschiedenes" (hetera tön onton — Soph. 263b7), also Nichtseiendes (me
1. Kapitel: Piaton
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onta — 263b9) — u n d das sagt sie „als seiend" (hos onta — ebd.). Sie sagt über Theaitetos Nichtseiendes (die Verbindung von ,Theaitetos' und ,fliegen', die nicht ist) als seiend. Zwar spricht sie, wenn sie ,fliegen' sagt, durchaus von Seiendem (ohne Zweifel gibt es das Fliegen, z.B. bei den Vögeln)18. Aber dies Seiende gehört nicht zu dem, was Theaitetos zukommt19. Behauptet eine Rede dennoch die Verbindung von Theaitetos und dem Fliegen als seiend, so ist sie falsch. Nichtseiendes sagt sie als Seiendes, Verschiedenes (Theaitetos, fliegen) als Selbes (fliegender Theaitetos; siehe Soph. 263dl f.)20. Die wahre Rede ist demgemäß dadurch wahr, daß sie von einer Verbindung, die ist, sagt, sie sei — und daß sie von einer Verbindung, die nicht ist, sagt, sie sei nicht (bzw. daß sie von Verschiedenem sagt, es sei verschieden). Piaton denkt im Sophistes die Wahrheit als eine Eigenschaft der Rede (und des nicht-verlautbarten Denkens). Diese Wahrheit hat Falschheit zum Gegensatz, und die Bestimmung beider greift ineinander. Wahrheit bedeutet Übereinstimmung der Rede (des Denkens) mit der Sache. Falschheit ist entsprechend Nichtübereinstimmung von Rede (Denken) und Sache. Wahrheit ist in diesem Sinne Richtigkeit, Falschheit Unrichtigkeit. Zwar fallen solche Ausdrücke hier nicht bei Piaton. Daß Wahrheit so von Piaton verstanden wird, ist gleichwohl eindeutig. Von der wahren Rede hieß es ja, sie sage über Theaitetos „das Seiende, daß es ist", von der falschen Rede, sie sage Nichtseiendes als seiend. — Wahrheit als eine Eigenschaft der Rede (des Denkens) — Wahrheit mit dem Gegensatz der Falschheit — Wahrheit als Übereinstimmung, Richtigkeit: damit hat Piaton einen Wahrheitsbegriff aufgestellt, der, auf das Urteil bezogen, bis zu Nietzsche in Kraft bleiben sollte. In bezug auf Piaton muß allerdings noch gefragt werden, welcher Bedeutungsumfang der „Rede" (und ihren der Mitteilung entbehrenden Entsprechungen) zukommt und worauf sich also Wahrheit und Falschheit als Eigenschaften der Rede erstrecken. Die zitierten Beispiele, an denen Piaton klarmacht, was Wahrheit und Falschheit der Rede sind, sind singuläre Urteile. Man wird nicht annehmen wollen, Wahrheit und Falschheit fänden sich nur bei solchen Urteilen. Das erste Eigentümliche der Rede wurde darin gefaßt, daß sie Hauptwörter und Zeitwörter miteinander verbindet21 und so etwas zu verstehen gibt22. Dabei ist die Verbindung nur eines Hauptwortes und nur eines Zeitwortes die kürzeste. Eine Häufung von Hauptwörtern zur Bezeichnung der ,Handelnden' und von Zeitwörtern, ferner eine Erweiterung des Satzgefüges durch andere Satzteile sind möglich. Auch schien sich bei
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1. Kapitel: Piaton
Platon der Hinweis zu finden, die Rede könne etwas über das Sein bzw. Wesen eines Seienden oder Nichtseienden (Verschiedenen) kundtun (vgl. S. 10). Das führt auf die Frage, ob die Rede die Ideen erreicht und ob gar die Dihairesis, das von Platon ausgebildete Verfahren der Wesenserfassung durch Einteilung25, Rede ist und wahr oder falsch sein kann. Die Rede ist für Platon wesentlich synthetisch24. Sie ist eine Verflechtung, Verbindung, Verknüpfung (symploke — Soph. 262c6). Sie verbindet Wörter (Hauptwort und Zeitwort), und indem sie das tut, verbindet sie gerade eine Sache und eine Handlung25. Wörter verbindend, macht sie eine Verknüpfung auf seiten des Seienden kund26. Nun zeigte der ontologische Hauptteil des Sophistes, der der Bestimmung der Rede voraufgeht, daß Verknüpfung auf seiten des Seienden primär bedeutet: Verflechtung der Ideen; und die Frage, wie solche Verflechtung der Ideen möglich sein soll, machte es erforderlich, fünf oberste Gattungen alles Seienden zu denken (die Bewegung, die Ruhe, das Seiende, das Selbe, das Verschiedene). Da für Platon bestehenbleibt, daß einzelnes ist aufgrund seiner Teilhabe an Ideen, sind alle Verbindungen, die einzelnes eingeht, durch Verbindungen unter den Ideen ermöglicht. Die Frage, ob die Rede die Ideen erreicht, wird dadurch überholt, daß die Rede ohne die Ideen und deren Verflechtung nicht einmal möglich wäre27. In jeder (bejahenden) Rede über einzelnes wird implicite etwas über (mindestens) eine Verbindung von Ideen mitgesagt, und nur wenn d i e s Mitgesagte wahr ist, kann die Rede wahr sein (ohne daß sie deshalb in jedem Fall schon wahr sein müßte)28. Dasjenige Reden und Denken, das den Ideen selbst und i h r e n Verflechtungen nachgeht, obliegt der Philosophie und vollzieht sich vorzüglich in Dihairesen. Die Dihairesis ist von Piatons Bestimmung der Rede mit umfaßt, sie ist Rede. Auch sie hat also die Eigenschaft, wahr oder falsch zu sein, und zwar in dem herausgearbeiteten Sinn von Wahrheit als Ubereinstimmung (Richtigkeit), Falschheit als Nichtübereinstimmung (Unrichtigkeit). Wahr ist eine Dihairesis, die übereinstimmt mit den Verhältnissen der Gemeinschaft und Trennung unter den Ideen. Falsch ist eine Dihairesis, die diese Ubereinstimmung nicht erreicht2'. Eine falsche Dihairesis kommt zustande durch fehlerhafte Durchführung, durch Verstöße gegen die strengen Gesetzmäßigkeiten dieses Verfahrens30. Die Formen der Rede sind mannigfaltig. Reden unterscheiden sich nicht nur nach Kürze und Länge, Einfachheit und Komplexität. Sie können einzelnes kundmachen, aber auch das Wesen einer Sache. Sie können ausdrücken, was der Wahrnehmung zugänglich ist; ebensosehr geben sie zu verstehen, was sich nur dem Denken, und hier nicht zuletzt dem philoso-
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phisch-dialektischen Denken zeigt31. Immer aber haben sie die Eigenschaft, wahr oder falsch zu sein, und zwar in dem e i n e n Sinn von Wahrheit als Ubereinstimmung, Falschheit als Nichtübereinstimmung. Das S o n n e n g l e i c h n i s läßt Wahrheit als die Unverborgenheit der Ideen sehen. Diese wird einem Wahrheitsgrund verdankt, der zugleich der menschlichen Vernunft Erkenntniskraft zukommen läßt. An den Ideen teilhabend, ist auch das übrige Seiende wahr. Der S o p h i s t e s denkt Wahrheit als eine Eigenschaft der Rede. Lassen sich beide Bestimmungen der Wahrheit zusammenbringen? Dem steht nichts im Wege, wenn man beachtet, daß Piaton die Ideenlehre im S o p h i s t e s auf eine neue Stufe gestellt hat. Aufgrund ihrer Teilhabe an obersten Gattungen gehen die Ideen mit anderen Ideen mannigfache Verhältnisse der Gemeinschaft und Trennung ein, ohne daß ihre Beständigkeit und Selbigkeit dadurch beeinträchtigt wäre. In diesen Verhältnissen und durch diese Verhältnisse sind sie wahr, erkennbar, ermöglichen sie die Rede. Wahrheit, Unverborgenheit, Erkennbarkeit der Ideen (und des an ihnen teilhabenden Seienden) einerseits, Wahrheit der Rede andererseits gehören zusammen. Durch die Wahrheit des Seienden und ihren höchsten Grund ist Wahrheit der Rede möglich. S o n n e n g l e i c h n i s und S o p h i s t e s zusammengenommen ergeben eine geschlossene Konzeption. Dabei bleibt festzuhalten, daß die dem S o n n e n g l e i c h n i s als Gleichnis eignende Wahrheit nicht die vom S o p h i s t e s herausgearbeitete Wahrheit der Rede ist. Das bedeutet zugleich: Wenn in der Frage nach der Wahrheit S o n n e n g l e i c h n i s und S o p h i s t e s zu Recht verbunden werden, dann gründet die Wahrheit der Rede als Ubereinstimmung ihrer Möglichkeit nach in einem Wahrheitsgrund, der nur in einem Denken von andersartiger Wahrheit verstanden werden kann32.
2. Kapitel: Aristoteles Aristoteles, Schüler Piatons und doch alsbald auch schon sein Widerpart, ist Piaton in den wesentlichen Fragen seiner Philosophie einerseits nah, andererseits — und gerade in der Grundposition — fern. Das gilt auch für die Wahrheitsfrage. Dem menschlichen Denken, sofern es auf Wahrheit aus ist, eine sichere Leitung zu geben, das ist der Impetus, der Aristoteles' logische Schriften durchherrscht und der ihn zum ersten großen Logiker unserer Geschichte werden ließ. Wer an Aristoteles die Frage richtet, was Wahrheit ist und wie sie möglich ist, kann sich gleichwohl auf wenige Kapitel einer einzigen logischen Schrift beschränken: auf die Kapitel 1—4 und 9 aus Peri hermeneias („Lehre vom Satz", De interpretatione). Unerläßlich sind für ihn aber vier Kapitel aus der Metaphysik, vor allem Kapitel 10 des 9. Buches, ferner Kapitel 4 des 6. Buches, Kapitel 29 des 5. Buches und Kapitel 1 des 2. Buches1. Die Ausführungen, die Aristoteles in den ersten vier Kapiteln von Peri hermeneias macht, stehen im Umkreis der von Piaton im Sophistes gegebenen Bestimmung der Rede2. Wie Piaton geht Aristoteles aus von den beiden Grundarten der Wörter, dem Hauptwort (onoma) und dem Zeitwort (rhema), und wie Piaton macht er darauf aufmerksam, daß das, was er darlegt, ebensosehr von dem nicht verlautbarten Gedanken (noema) wie von Ausgesprochenem gilt3. Vom nicht verlautbarten Gedachten und vom Ausgesprochenen ist zu sagen: Es ist e n t w e d e r weder wahr noch falsch, o d e r notwendig eins von beiden. Damit der zweite Fall statthaben kann, ist Verbindung (synthesis) oder Trennung (dihairesis) von Hauptwort und Zeitwort erforderlich. Weder wahr noch falsch ist hingegen das einzeln für sich gedachte oder ausgesprochene Hauptwort oder Zeitwort 4 , wiewohl es etwas anzeigt (semainei)5, z.B. „Mensch". Das gilt sogar für ein Hauptwort wie „Bockhirsch". Auch dieses ein Fabeltier nennende Hauptwort zeigt etwas an (eben dieses bestimmte Fabeltier), und es ist weder wahr noch falsch, weil es nicht sagt, ob ein solches Fabeltier ist oder nicht ist. Erst wenn man das
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„sein" oder „nicht sein" hinzusetzt, einfachhin oder zu einer bestimmten Zeit, entsteht Wahres oder Falsches (16al7f.). Soweit das 1. Kapitel. Im 2. Kapitel bestimmt Aristoteles das Hauptwort näher, im 3. Kapitel das Zeitwort. Das 4. Kapitel thematisiert dann die Rede. Am Hauptwort werden zwei Bestimmungen hervorgehoben: Das Hauptwort zeigt etwas an, ohne dabei einen Zeitbezug herzustellen. Und es zeigt etwas an, ohne daß ein Teil von ihm imstande wäre, für sich etwas anzuzeigen 6 . Die erste Bestimmung unterscheidet das Hauptwort vom Zeitwort, die zweite unterscheidet es von der Rede 7 . Das Eigentümliche des Zeitwortes wird in drei Bestimmungen gefaßt. 1. Das Zeitwort zeigt die Zeit mit an (16b6)8. Dadurch unterscheidet es sich vom Hauptwort. 2. Wie das Hauptwort, zeigt auch das Zeitwort etwas an, ohne daß ein Teil von ihm für sich etwas anzeigen könnte. Hierin unterscheidet sich auch das Zeitwort von der Rede. 3. Das Zeitwort zeigt immer etwas an, das ü b e r a n d e r e s gesagt wird — über ein Zugrundeliegendes (hypokeimenon). Mit dieser Bestimmung wird ebensosehr das Hauptwort fortbestimmt: Es zeigt Zugrundeliegendes an. Das Zeitwort ist so sehr dadurch bestimmt, etwas kundzutun, das über ein Zugrundeliegendes gesagt wird, daß es noch gar nicht wahrhaft Zeitwort ist, solange kein Zugrundeliegendes hinzugefügt ist9. Die Rede (logos) zeigt etwas an. Da sie eine Verbindung oder Trennung von Hauptwort und Zeitwort ist, zeigen, gemäß dem früher Ausgeführten, auch diese ihre Teile je für sich etwas an. Jedoch zeigen die Teile je für sich etwas an in einem bloßen Sagen (phäsis), das weder wahr noch falsch ist. Die Rede aber zeigt etwas an als ein Zusprechen, eine Bejahung (katäphasis), oder als ein Absprechen, eine Verneinung (apophasis). Hauptwort und Zeitwort verbindend, spricht die Rede dem, was das Hauptwort anzeigt, als einem Zugrundeliegenden zu, was das Zeitwort anzeigt; sie bejaht von dem Zugrundeliegenden, was das Zeitwort kundgibt. Hauptwort und Zeitwort trennend, spricht die Rede dem, was das Hauptwort anzeigt, als einem Zugrundeliegenden ab, was das Zeitwort anzeigt; sie verneint von dem Zugrundeliegenden, was das Zeitwort kundgibt 10 . Solches Zusprechen und Absprechen, Bejahen und Verneinen, ist notwendig entweder wahr oder falsch (mit Ausnahme der Rede über zukünftiges singuläres Kontingentes, von der noch zu sprechen ist)". Aristoteles präzisiert das Gesagte, indem er Rede (logos) und Urteil (Aussage — logos apophantikos, apophansis) unterscheidet. Jedes Urteil ist eine Rede, aber nicht jede Rede ist ein Urteil. Was soeben über die Rede
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ausgeführt wurde, hatte die Rede im Sinne des Urteils im Blick. Das Urteil ist entweder ein Zusprechen oder ein Absprechen, und ihm kommt zu, notwendig entweder Wahres oder Falsches zu sagen (außer wenn es zukünftiges singuläres Kontingentes zum Inhalt hat). Es gibt aber andere Arten der Rede. Auch in ihnen wird etwas zu verstehen gegeben, aber nicht durch ein Zusprechen oder Absprechen, weshalb eine solche Rede weder wahr noch falsch ist. Aristoteles nennt als Beispiel die Bitte. Aristoteles denkt in Peri hermeneias Wahrheit und Falschheit als Wesenseigenschaften des Urteils. Wahr oder falsch zu sein, das definiert das Urteil, bzw. es ist die spezifische Differenz, durch die das Urteil von anderen Arten der Rede unterschieden ist (17al ff. sagt Aristoteles, jede Rede zeige etwas an, aber nicht jede sage etwas aus, sondern nur die, die Wahres oder Falsches sage)12. Zur Abhebung der Wesenserfassung vom Urteil dringt Aristoteles in diesem Zusammenhang nicht vor. Wahrheit des Urteils bedeutet: Ubereinstimmung mit der Sache, Richtigkeit, und Falschheit des Urteils ist entsprechend Nichtübereinstimmung mit der Sache, Unrichtigkeit13. Im 9. Kapitel von Peri hermeneias (19a32 f.) spricht Aristoteles davon, daß die Urteile auf die gleiche Weise wahr sind wie die Dinge (prägmata), also von einer Wahrheit der Dinge und einer Entsprechung zwischen ihr und der Wahrheit der Urteile. Dieses Thema wird in der Metaphysik ausführlicher behandelt. Ehe es hier vorgenommen werden kann, ist noch ein kurzes Eingehen auf Kapitel 9 von Peri hermeneias erforderlich, und zwar hinsichtlich der Frage, wie es mit der Wahrheit und Falschheit von Urteilen steht, die etwas aussagen über einzelnes Zukünftiges14. Auch ein Urteil über einzelnes Zukünftiges ist eine Verbindung oder Trennung von Hauptwort und Zeitwort, auch es spricht einem Zugrundeliegenden etwas zu oder ab. Insofern erfüllt es die Bedingung, unter der eine Rede steht, die notwendig entweder wahr oder falsch ist. Indessen ist Wahrheit des Urteils Ubereinstimmung mit der Sache, und Falschheit des Urteils ist Nichtübereinstimmung mit der Sache. Das heißt für Aristoteles bezüglich der Urteile über Zukünftiges, die etwas Bestimmtes zusprechen oder absprechen: Sie können wahr oder falsch nur sein, wenn und soweit die Zukunft schon feststeht. Allen Urteilen über Zukünftiges die Eigenschaft, wahr oder falsch zu sein, zuzuerkennen, hieße annehmen, daß die Zukunft völlig festgelegt wäre, daß also auch nichts durch Zufall oder aufgrund einer wohlüberlegten Entscheidung des Menschen geschehen könnte. Und das ist für Aristoteles ein Widersinn. (Er gibt zu verstehen, daß hier im Kontext der Frage nach der Wahrheit bestimmter Urteile die
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Möglichkeit menschlicher Freiheit auf dem Spiel steht. Die Freiheit steht für ihn nicht zur Disposition.) Er vermerkt, daß einiges Zukünftige mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann. D o c h auch dann ist ein in der Gegenwart vollzogenes Urteil in der Gegenwart weder wahr noch falsch. Bei vielem Zukünftigen gibt es aber keineswegs eine starke Wahrscheinlichkeit für sein Eintreten oder Nichteintreten; sein Eintreten ist nur um weniges wahrscheinlicher als sein Nichteintreten (oder umgekehrt), oder gar um nichts wahrscheinlicher. Das alles besagt: Es gibt Urteile über zukünftiges singuläres Kontingentes, und ein solches Urteil hat immer einen Gegensatz (eine Bejahung die Verneinung bzw. eine Verneinung die Bejahung) v o n d e r A r t , daß hinsichtlich Wahrheit und Falschheit zwischen beiden nichts entschieden ist15. Wahr sind nur Bejahung und Verneinung zusammen, wenn sie durch ,oder' verbunden werden", aber dann ist freilich nicht mehr allzuviel ausgesagt. Aristoteles' berühmtes Beispiel von der Seeschlacht (19a29ff.) in Anspruch nehmend, kann man sagen: Wahr ist es, wenn jemand äußert: „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden oder nicht stattfinden" (denn es ist notwendig, daß die Seeschlacht entweder stattfinden wird oder nicht stattfinden wird) — aber was sagt das schon? Weder wahr noch falsch dagegen sind die Urteile: „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden" und „Morgen wird keine Seeschlacht stattfinden". Am zukünftigen singulären Kontingenten hat für Aristoteles die menschliche Möglichkeit, Wahres zu sagen, eine unüberwindliche Schranke (und die Gültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten eine Grenze 17 ). Urteile über zukünftiges singuläres Kontingentes, die etwas Bestimmtes zu- oder absprechen, sind nicht wahr — freilich auch nicht falsch 18 . Das 5. Buch der Metaphysik, der sogenannte Begriffskatalog oder, wie Düring es nennt, das „Lexikon der philosophischen Terminologie" (vgl. Anm. 1 zu diesem Kapitel), enthält als Kap. 29 eine Erläuterung der Bedeutungen von „falsch" (pseudos); „wahr" kommt unter den in diesem Buch erörterten Begriffen nicht vor, ist aber wenigstens zeitweise in Kap. 29 indirekt mitthematisch. Hier interessieren jetzt die Bedeutungen von „falsch", die in bezug auf die D i n g e gegeben sind19. Aristoteles behandelt sie an erster Stelle. Es sind zwei. 1. Von einem falschen Ding (pragma pseudos) spricht man, wenn etwas nicht zusammen besteht (synkeisthai) oder nicht zusammen bestehen kann. Nicht zusammen bestehen „du" und „sitzen", wenn jemand sagt „du sitzt"
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von einem, der zu dem Zeitpunkt nicht sitzt, sondern etwa spazierengeht. Nicht zusammen bestehen können „Diagonale" und „kommensurabel", wenn jemand sagt, die Diagonale sei kommensurabel. Das Zusammenbestehen von „du" und „sitzen" ist ein falsches Ding, wann immer der in dem „du" Angesprochene nicht sitzt; sitzt er aber, so liegt kein Falschsein des Dinges vor. Das Ding ist hier also nicht immer falsch, sondern nur bisweilen (pote). Die kommensurable Diagonale dagegen ist immer (aei) ein falsches Ding. Falschsein der Dinge bedeutet N i c h t s e i n im Sinne von Nicht-zusammen-bestehen zu einer bestimmten Zeit oder Niemals-zusammen-bestehen. Bei dieser Bestimmung des Falschseins der D i n g e hat Aristoteles sich auf das U r t e i l e n bezogen. — Obwohl Aristoteles selbst es hier nicht tut, könnte man durch Umkehrung eine Bedeutung des Wahrseins der Dinge formulieren: Wahrsein der Dinge bedeutet Sein im Sinne von Zusammen-bestehen zu einer bestimmten Zeit oder Immerzusammen-bestehen 20 . 2. Ein falsches Ding ist ferner ein Ding, das zwar ist, das sich aber nicht so zeigt (phainesthai), wie es ist, oder das sich zeigt als etwas, das es nicht ist. Aristoteles nennt als Beispiele den Schattenriß und Traumerscheinungen21. Falsche Dinge in diesem Sinn bringen uns eine Vorstellung (phantasia) von sich bei, die mit dem, wie oder was sie sind, nicht übereinstimmt. Selbst seiend, rufen sie in uns eine Vorstellung von Nichtseiendem hervor. — Darf in Aristoteles' Sinne auch diese Bedeutung des Falschseins umgekehrt werden, so daß sich eine zweite Bedeutung des Wahrseins der Dinge ergäbe? Zunächst: Was wäre dann dies Wahrsein der Dinge? Es wäre ein Sich-zeigen (phainesthai) der Dinge so, wie sie sind, und als das, was sie sind. Und dieses Sich-zeigen fände statt (jedenfalls auch) für unser,Vorstellen'. Denkt Aristoteles anderwärts ein derartiges Wahrsein der Dinge? Das ist der Fall in Kapitel 1 des 2. Buches der Metaphysik. Der Redaktor hat den Text dieses Buches (Alpha elatton) sehr sinnvoll hinter Buch 1 geordnet. Es erleichtert das Verständnis von Metaphysik 2, Kap. 1, wenn man einige Gedanken aus Buch 1 schon mitbringt: Die höchste Wissenschaft ist die Weisheit (sophia), die Philosophie. Sie ist im höchsten Grade Wissenschaft des Allgemeinen (kathölou), und da sie sich also am weitesten von den Wahrnehmungen entfernt, ist sie von besonderer Schwierigkeit (vgl. 982a21—25). Im höchsten Grade Wissenschaft des Allgemeinen sein, das bedeutet, Wissenschaft von den ersten Ursachen (prota aitia) und Anfangsgründen (archai) sein (vgl. 981b27—29, ferner auch 982b9f.). Die Wissenschaft von den ersten Ursachen und Anfangsgründen ist Wissenschaft von dem im höchsten Grade Wißbaren (982bl f.).
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Sie ist Wissenschaft zuletzt auch vom Göttlichen (tön theion — 983a7), denn der Gott gilt als Ursache und Anfangsgrund (983a8 f.)· Als Ursachenforschung, die die ersten Ursachen des Seienden betrachtet, hat sie es mit vier Arten der Ursache zu tun, darunter dem Wesen (ousia — vgl. 983a24—32). Das Seiende betrachten meint: über die Wahrheit philosophieren (983al—3). Nun zu Metaphysik 2, Kap. 1. Thema ist die Betrachtung der Wahrheit (he peri tes aletheias theoria — 993a30), die Philosophie als Wissenschaft der Wahrheit (episteme tes aletheias — 993b20). Wahr ist hier freilich auch die Betrachtung selbst, die Wissenschaft selbst. Aber wahr ist gerade auch das, was da betrachtet wird. Und das ist das Seiende. Das Seiende, so wie es Gegenstand der Philosophie ist, nämlich hinsichtlich seiner ersten Ursachen und Anfangsgründe, ist seiner Natur nach das Leuchtendste, Offenbarste (phanerötaton) von allem (993bII) 22 . Es ist so leuchtend, daß unser Geist (noüs) ihm ebensowenig gewachsen ist wie die Augen der Fledermäuse dem Tageslicht (993b9—11). Nicht von der Verborgenheit des Seienden rührt es her, daß die Philosophie eine so schwierige Wissenschaft ist. Der Grund der Schwierigkeit liegt vielmehr in uns — die Offenbarkeit des Seienden ist für unseren Geist übergroß. Die Wahrheit des Seienden ist gestuft. Das Wahrste (alethestaton) ist das, was für das übrige die Ursache seines Wahrseins ist (so ist ja auch das Feuer als die Ursache, dem alles übrige Warme sein Warmsein verdankt, selbst das Wärmste); die Anfangsgründe des Immerseienden sind immer wahr und immer das Wahrste; sowenig wie es für sie eine Ursache des Seins gibt, sowenig gibt es ein Wahreres, dem sie ihr Wahrsein zu verdanken hätten; das übrige aber verdankt ihnen in gleichem Grade sein Sein wie seine Wahrheit (993b24—31). Eine Nähe zu Piaton ist hier allenthalben unverkennbar (insbesondere auch zum gedanklichen Gehalt des H ö h l e n g l e i c h n i s s e s , Pol. 514aff.). Es fragt sich jedoch, wie weit sie wirklich reicht. — Indem Aristoteles die Wahrheit des Seienden mit der Ursachenproblematik verknüpft, scheint er auch auf die Frage nach dem Wahrheitsgrund des Seienden eine Antwort zu geben. Und das um so mehr, wenn man aus Buch 1 nochmals die Stelle beizieht, an der es heißt, daß auch der Gott als Ursache und Anfangsgrund gilt (983a8f.). Indessen wird man einräumen müssen, daß Metaphysik 2, Kap. 1 hinsichtlich des Wahrheitsgrundes des Seienden bestenfalls ein Programm enthielte. Von Gott als Ursache und Anfangsgrund der Wahrheit und des Seins des Seienden ist hier nicht die Rede. Dafür von S e i e n d e m (den — an dieser Stelle unbestimmt bleiben-
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den — Anfangsgründen des Immerseienden), das in höchstem Grade w a h r i s t , ohne sein Wahrsein noch anderem zu verdanken. Es bringt also seine Wahrheit (und die alles übrigen, für das es Ursache des Wahrseins ist) selbst auf. Aber wie? Man wird also sagen dürfen, daß Aristoteles in Metaphysik 2, Kap. 1 das Seiende als wahr, als offenbar versteht und eine Stufüng dieses Wahren annimmt, daß aber, wiewohl von Ursachen des Wahrseins gesprochen wird, die Frage nach einem Wahrheitsgrund des Seienden unbeantwortet bleibt23. — Kapitel 10 des 9. Buches der Metaphysik ist in seiner Bedeutung für die Wahrheitsfrage bei Aristoteles vergleichbar der Bedeutung, die dem S o n n e n g l e i c h n i s bei Piaton zukommt24. Es schließt die Abhandlung ab, die uns in den Büchern 7—9 der Metaphysik vorliegt und die aristotelische Ontologie auf ihrem Höhepunkt zeigt. Ihr Hauptthema ist das Wesen (ousia). Schon sehr früh hatte Aristoteles sich gegen Piatons Ideen als für sich seiende Wesenheiten gewendet. Das Wesen i s t für Aristoteles nur in dem Einzelnen. Bloß im Denken kann es vom Einzelnen abgetrennt werden. Das Wesen, insofern es ist im Einzelnen, ist Zugrundeliegendes (hypokeimenon) für Seiendes anderer Seinsart, für die Akzidenzien. Diese sind nie an sich, sie sind stets nur an einem Wesen, haben sich an einem Wesen mit eingestellt. (Piaton hingegen hatte für alles Seiende Ideen angenommen und diese sich verflechten lassen.) Das Verhältnis des Wesens zu der Gattung, der es angehört (ζ. B. Mensch — Lebewesen) denkt Aristoteles mit Hilfe einer anderen Grundunterscheidung seiner Ontologie, der zwischen Wirklichsein und Möglichsein. Das Wesen, seiend in dem Einzelnen und als Zugrundeliegendes, ist das Wirklichsein der Gattung in Seiendem einer bestimmten Art. Zu Beginn von Metaphysik 9, Kap. 10 stellt Aristoteles die bevorstehende Erörterung über das Wahre und Falsche in den ontologischen Horizont, indem er schreibt, vom Seienden und Nichtseienden spreche man gemäß den Gestalten der Kategorien (Wesen, verschiedene Gestalten der Akzidenzien), gemäß Möglichkeit und Wirklichkeit derselben und ihrem Gegenteil — und in Hinsicht auf Wahr und Falsch (vgl. 1051a34—b2). Thema soll sein das Seiende als Wahres, das Nichtseiende als Falsches. Die Dinge (prägmata) sind wahr, insofern sie durch ein Zusammenbestehen, ein Verbundensein (synkeisthai) bestimmt sind; sie sind falsch, insofern ein Getrenntsein bei ihnen vorliegt. Sofort blickt Aristoteles auch auf Denken und Urteilen und deren Wahr- oder Falschsein: Wahres sagt (aletheüei), wer Getrenntes für getrennt und Zusammenbestehendes für zu-
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sammen bestehend hält; wer sich aber anders verhält als die Dinge, der befindet sich im Irrtum (1051b3—5). Wahres sagen meint: sich im Verbinden und Trennen so verhalten, wie die Dinge sind, sich nach den Dingen richten. Wahrheit des Urteils ist — es bestätigt sich — Ubereinstimmung mit der Sache, Richtigkeit. Falschheit des Urteils ist das entsprechende Gegenteil. Wahrheit und Falschheit finden sich auf Seiten des Seienden einerseits, auf seiten des Urteilens andererseits. Aristoteles äußert sich nun zum FundierungsVerhältnis. Es ist klar, daß Wahrheit und Falschheit des Seienden, Zusammenbestehen und Getrenntsein der Dinge, nicht von der Wahrheit unseres Sagens abhängen, sondern daß vielmehr umgekehrt unser Wahres-sagen begründet ist durch das Zusammenbestehen oder Getrenntsein auf seiten der Dinge. (Aristoteles' Beispiel: Nicht ist jemand blaß dadurch, daß wir die wahre Annahme machen, er sei blaß, sondern umgekehrt — dadurch, daß jemand blaß ist, sagen wir, indem wir dies aussprechen,. Wahres.) Begründet aber das Seiende in seinem Zusammenbestehen und Getrenntsein die Wahrheit des Urteils, dann müssen Seinsunterschiede beim ZusaÄmenbestehen und beim Getrenntsein auch Unterschiede bei der Wahrheit des Urteils konstituieren 25 . Solche Unterschiede stellt Aristoteles heraus. D a wird zunächst auf Seiendes geblickt, das i m m e r zusammen besteht und niemals getrennt werden kann — oder entsprechend: auf solches, das immer getrennt ist und niemals zusammen bestehen kann (und das — insofern immer getrennt — immer ,nicht ist'). In bezug auf solches beständige Zusammenbestehen oder Getrenntsein sind auch das Wahrsein des wahren Urteils und das Falschsein des falschen Urteils beständig. Die Wahrheit des Urteils ist hier von hohem Rang, weil sehr verläßlich. N u n gibt es aber im Bereich der Dinge solches, das ebensowohl zusammen bestehen als auch getrennt sein kann, nämlich zu verschiedenen Zeiten. Einem Urteil, das hier über Zusammenbestehendes oder Getrenntes Wahres sagt, kommt keine Wahrheit von sicherer Beständigkeit zu. Das wahre Urteil hat hier ständig die Möglichkeit bei sich, falsch zu werden. U n d es wird falsch in dem Augenblick, in dem das Zusammenbestehende zum Getrennten bzw. das Getrennte zum Zusammenbestehenden wird. Wo auf seiten der Dinge Wandel statthat, da unterliegt auch die Wahrheit (und Falschheit) des Urteils dem Werden. — Gegen Ende des Kapitels (1052a4ff.) macht Aristoteles noch Ergänzungen zu diesem Gedankenkomplex. Von solchem, das immer zusammen besteht oder immer getrennt ist, war die Rede gewesen. Jetzt hebt Aristoteles nochmals hervor, daß, wenn es sich auf seiten des Seienden um Unveränderliches handelt, es auf seiten
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des Sagens und Denkens nicht die Möglichkeit der Täuschung bezüglich des Wann gibt. Ein Urteil hat hier nicht die Möglichkeit, bald wahr, bald falsch zu sein. Es kann aber auf eine andere Weise wahr oder falsch sein — solange nämlich das Zusammenbestehen oder Getrenntsein von Dingen gesagt wird, die als viele vorliegen. So sind ζ. B. die Zahlen und alle anderen Gegenstände der reinen Mathematik freilich unveränderlich, aber es gibt viele und verschiedenartige Zahlen oder viele und verschiedenartige Dreiecke. Und so kann es Urteile geben, die ein Zusammenbestehen oder ein Getrenntsein behaupten, das bei einigem Seienden der Gattung durchaus vorliegt, aber nicht bei dem, von dem die Rede ist. Es gibt Zahlen, die Primzahlen sind, und andere, bei denen das nicht der Fall ist. Hier ist Täuschung möglich, obwohl es sich um unveränderliche Seinsverhältnisse handelt. Falsch wäre ein Urteil, das allen geraden Zahlen abspräche, Primzahl zu sein. Steht also ein Urteil über unveränderlich Zusammenbestehendes oder unveränderlich Getrenntes nicht in der Gefahr, falsch zu werden infolge einer Veränderung auf Seiten des Seienden, so ist es doch durch das Seiende gefährdet, falsch zu sein, solange es über Dinge aussagt, die, wiewohl derselben Gattung zugehörig, doch Unterschiede gegeneinander enthalten. Eine solche Gefährdung für das Wahressagen besteht dann nicht, wenn das Seiende der Zahl nach eins ist. Hier gibt es nicht mehr die Möglichkeit, daß eine ausgesagte Verbindung oder eine ausgesagte Trennung von einigem wahr ist, von anderem derselben Gattung aber falsch. Hier liegt bezüglich des Wahrseins oder Falschseins des Urteils von vornherein ein eindeutiges Entweder-oder vor — weil es eben auf Seiten des Seienden keine unterschiedliche Vielheit gibt. — Aristoteles hat sich in Metaphysik 9, Kap. 10 zur Aufgabe gestellt, das Seiende als Wahres, das Nichtseiende als Falsches zu denken. Als Wahrheit der Dinge bestimmt er das Zusammenbestehen, als Falschheit der Dinge das Getrenntsein. Sein bedeutet zusammen bestehen und (in diesem Sinn) ein Eines sein; Nichtsein bedeutet Nicht-zusammenbestehen und Mehreres-sein (1051bll—13). Aus diesen Bestimmungen des Seins und Nichtseins, des Wahrseins und Falschseins fällt nun aber das schlechterdings Unzusammengesetzte heraus, das Seiende also, das in hervorragender Weise ist, weil es in allem das Zugrundeliegende ist: das Wesen (ousia). Entsprechend sagt die herausgearbeitete Bestimmung der Wahrheit und Falschheit des Urteils als Ubereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung mit dem Zusammenbestehen oder Getrenntsein auf Seiten der Dinge nichts über die Wahrheit und Falschheit einer Erfassung des Wesens. So äußert denn Aristoteles selbst, daß die Frage nach Sein und Nichtsein, Wahr und Falsch, für das Unzusammengesetzte (asyn-
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theton) neu zu stellen ist (1051bl7ff.). Was folgt, ist eine eindringliche Bestimmung der Wesenserfassung hinsichtlich i h r e r Wahrheit. (Die Wahrheit der Wesenserfassung wird hier an späterer Stelle erörtert werden.) Die Wahrheit des Wesens selbst dagegen wird von Aristoteles nicht bestimmt. Zwar sagt Aristoteles etwas über das Wirklichsein und Immersein des Wesens (1051b28—30) und über die Untrennbarkeit seines Seins und seines ,Soseins' (1051b35f.), das Wahre stellt er aber gerade ganz auf die Seite des Denkens (1051b23ff. und 1052al). Das Sein des Wesens als W a h r s e i η bleibt ungedacht26. Noch etwas anderes bleibt in diesem wichtigsten aristotelischen Text zur Wahrheitsfrage ungedacht (und das nicht etwa deshalb, weil anderwärts in den Lehrschriften von Aristoteles darüber gehandelt worden wäre27): der Grund für die Wahrheit des Seienden. Daß nach dem Grund für ein Wahrsein des Wesens nicht gefragt wird, ist folgerichtig, wenn solches Wahrsein nicht vor das Denken gebracht wird. Aber Aristoteles stellt die Frage nach einem Wahrheitsgrund, dem das Seiende sein Wahrsein verdankt, auch nicht für das Zusammenbestehende (für das Seiende, das als Zusammengesetztes — syntheton — ein Eines ist), dessen Wahrsein er thematisiert. Es ist kaum vorstellbar, daß Aristoteles sich seiner Gegenstellung zu Piaton in diesem wichtigen Punkt nicht bewußt gewesen sein sollte. So, wie er in der Ethik die Frage nach dem für den Menschen Guten abtrennt von einem göttlichen Grund des Guten (und dies ausdrücklich und mit eindeutiger Bezugnahme auf Piaton)28, so übersteigt er auch nicht das Wahrsein der Dinge für unser Erkennen mit der Frage, wodurch es ermöglicht sein könnte. Sowenig ein Göttlich-Gutes nach Aristoteles für die Bestimmung des für den Menschen Guten etwas auszutragen vermöchte, sowenig scheint für ihn das Göttliche zur Bestimmung des für den Menschen Wahren in Anspruch genommen werden zu können. In der Tat hätte bei einem solchen Versuch für Aristoteles aus dem im 12. Buch der Metaphysik entwickelten Gottesbegriff eine Aporie entspringen müssen29. Außerdem hätte die Frage nach einem Wahrheitsgrund des Zusammenbestehenden das Problem verschärft, warum denn nach einer Wahrheit des Wesens und ihrem Grund nicht gefragt wird30. Wodurch die Dinge wahr sind (soweit sie überhaupt hinsichtlich ihres Wahrseins bestimmt werden), hat Aristoteles in Metaphysik 9, Kap. 10 nicht gefragt. Das mag den Anstoß geben, das Wahrsein als Zusammenbestehen und das Falschsein als Getrenntsein noch einmal in den Blick zu fassen. Was ist eigentlich hier das Wahrsein, was das Falschsein?
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Das Falschsein der Dinge wurde von Aristoteles als Getrenntsein bestimmt. Nun hieß es aber auch: Wahres sagt, wer sich so verhält, wie die Dinge sind. Wer also das Getrennte als Getrenntes sagt (d. h. das Zusammenbestehen verneint), sagt Wahres. Ist aber das Getrennte das Falsche, dann kann man auch formulieren: Wer sich nach dem Falschen richtet, sagt Wahres. Diese zugespitzte, ans Widersinnige streifende Formulierung hat ihren Zweck erfüllt, wenn sie die Frage provoziert hat: Ist der Begriff des Falschen in Metaphysik 9, Kap. 10 in bezug auf das Seiende nicht entleert? Daß das so ist, erscheint mir als unzweifelhaft. ,Falschsein', sofern es die Dinge bezeichnet, ist hier bloßes Synonym für .Getrenntsein' und .Nichtsein' (im Sinne von Getrenntsein). Warum aber das Seinsverhältnis des Getrenntseins (z.B. von Diagonale und Kommensurabilität) ein Falschsein sein soll, ist schwer begreiflich. Und das gilt um so mehr, als das Getrenntsein eine wahre Verneinung zu begründen vermag31. Das Wahrsein der Dinge wird in Metaphysik 9, Kap. 10 als Zusammenbestehen gefaßt. Wahrsein meint dieses Seinsverhältnis bei Seiendem von der Seinsart des Zusammengesetzten. Anders als beim Falschsein kann man dem Wahrsein noch einen weiteren Sinn abgewinnen. Das Wahre als Zusammenbestehendes entspricht in seiner Struktur dem bejahenden Urteil. Bestünde nicht diese Entsprechung von Seinsstruktur und Urteilsstruktur, so wäre uns kein Bejahen und damit keine positive Erkenntnis bezüglich des Zusammengesetzten möglich. Seiendes von der Seinsart des Zusammengesetzten liegt so vor, daß wir es in der Struktur des bejahenden Urteils sagen und denken können. Auf diese Strukturentsprechung zum bejahenden Urteil, die Aristoteles als gegeben nimmt und für die er nicht nach einem ermöglichenden Grund fragt, läßt sich der Sinn von Wahrsein, sofern dieses den Dingen eignet, für Metaphysik 9, Kap. 10 festlegen. Indessen hat bei Aristoteles in diesem Text das Wahrsein als Zusammenbestehen ständig seinen Gegensatz, das Falschsein als Getrenntsein, bei sich. Sie gehören für Aristoteles zusammen. Und da das ,Falschsein' hier problematisch ist und bleibt, wird davon auch das Wahrsein überschattet: »Wahrsein' könnte auch als bloßes Synonym für ,Zusammenbestehen' und ,Sein' (im Sinne von Zusammenbestehen) aufgefaßt werden. Es verwundert daher nicht mehr sehr, daß Aristoteles in einem anderen Teil der Metaphysik (in Buch 6, Kap. 4) erklärt, das Falsche und das Wahre seien nicht in den Dingen, sondern im Denken (1027b25—27). Das Kapitel handelt von dem Seienden als Wahrem, dem Nichtseienden als Falschem (1027bl8 f.). Aber sogleich stellt sich heraus, daß das Seiende als Wahres die v o m D e n k e n v o l l z o g e n e wahre Zusammensetzung (synthesis) und
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wahre Trennung (dihairesis) ist32, und das Nichtseiende als Falsches entsprechend die falsche Zusammensetzung und falsche Trennung. Anders gesprochen: Das Seiende als Wahres ist eine wahre (mit der Sache in ihrem Zusammenbestehen oder Getrenntsein übereinstimmende) Bejahung bzw. Verneinung; das Seiende als Falsches ist eine falsche (mit der Sache nicht übereinstimmende) Bejahung bzw. Verneinung. Den Dingen selbst dagegen, mit denen wahre Bejahung und wahre Verneinung übereinstimmen, falsche Bejahung und falsche Verneinung nicht übereinstimmen, wird ein Wahrsein und Falschsein von Aristoteles hier abgesprochen. Wahrsein und Falschsein gehören zur Zusammensetzung und Trennung, und ausdrücklich wird noch einmal betont, daß Verbindung (symploke) und Trennung (dihairesis) im Denken (dianoia) ihren Ort haben, nicht aber in den Dingen (1027b29—31; vgl. auch 1027b34f.). Die Widersprüchlichkeit dieser Ausführungen zu denen in Metaphysik 9, Kap. 10 wird erheblich gemildert, wenn man einräumt, daß auch dort im Grunde genommen ein Falschsein des Seienden nicht, ein Wahrsein des Seienden nicht eindeutig und entschieden gedacht wird. Die Untersuchung muß noch einmal zu Metaphysik 9, Kap. 10 zurückkehren, um sich der dort gegebenen Bestimmung der Wahrheit der Wesenserfassung zuzuwenden. In Peri hermeneias hatte Aristoteles Wahrheit und Falschheit als Wesenseigenschaften des Urteils bestimmt und die Wesenserfassung vom Urteil nicht abgehoben. In Metaphysik 9, Kap. 10, dem Abschluß der großen Abhandlung, die das Wesen (ousia) zu ihrem Hauptthema hat, wird der Unterschied der Wesenserfassung vom Urteil betont. Das Wesen ist unzusammengesetzt, ein einfaches Eines. Seine Bestimmung vollzieht sich nicht in einem Sagen, das ein Zusammenbestehen oder Getrenntsein auf seiten der Dinge darlegt. Auf seine Erfassung trifft daher auch nicht zu, daß Wahrheit Ubereinstimmung mit einem Zusammenbestehen oder Getrenntsein des Seienden, Falschheit die entsprechende Nichtübereinstimmung ist. Die Frage nach Wahrheit und Falschheit muß für die Wesenserfassung eigens gestellt werden. Aristoteles beantwortet sie so: Wahr ist hier das Fassen, Berühren, Treffen (thigein) des Wesens und das Ans-Licht-bringen, Sehen-lassen, Erscheinen-lassen (phänai). Wahr ist hier das Denken (noein) in diesem Sinn. Es spricht sich aus in einem sehen-lassenden Sagen (phasis), das von dem Zusprechen, der Bejahung (katäphasis), und damit vom Urteil verschieden ist. Zum Eigentümlichen dieses Wahren gehört es, daß es nicht das Falsche zum Gegensatz hat. Falsches und Täuschung gibt es hier nicht".
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Der Gegensatz zum Wahren ist vielmehr das Nichtwissen (agnoein) als das Nicht-fassen, Nicht-berühren, Nicht-treffen — das Nicht-denken (me noein) in diesem Sinn. Aristoteles sagt, dies Nichtwissen sei nicht der Blindheit vergleichbar. Das würde nämlich bedeuten, das Nichtwissen komme dem gänzlichen Fehlen des Denkvermögens gleich. Das Nichtwissen, Nicht-fassen, Nicht-denken als Gegensatz zum Wahren stellt sich ein bei einem Menschen, der ,Denkfähigkeit' besitzt. So wenig macht sich die Wesenserfassung von selbst. Das Wesen ans Licht bringen zu wollen verbürgt nicht schon das Gelingen. Wahrheit der Wesenserfassung und Wahrheit des Urteils sind deutlich unterschieden worden. Ob man trotzdem auch die Wahrheit der Wesenserfassung als Ubereinstimmung mit der Sache (das hieße hier mit dem Wesen, der ousia, als einem Einfachen) und in d i e s e m Sinn als Richtigkeit auffassen kann, ist abhängig von einer Entscheidung im Veständnis der Wahrheit als Ubereinstimmung und Richtigkeit. Gehört zu dieser Wahrheit unlöslich der Gegensatz der Falschheit und die Möglichkeit, sich auch »anders zu verhalten als die Dinge', dann darf bei der aristotelisch verstandenen Wesenserfassung nicht von Übereinstimmung und Richtigkeit gesprochen werden. Begreift man unter Ubereinstimmung und Richtigkeit aber lediglich, daß die Sache so gesagt wird, wie sie selbst ist, dann kann man von der Wesenserfassung sagen, sie stimme überein mit dem, was das Wesen selbst ist, und ihre Wahrheit sei Ubereinstimmung34. Es bleibt zu fragen, inwieweit eine Äußerung in Metaphysik 6, Kap. 4 die Wahrheit der Wesenserfassung in Frage stellt. Wie dargestellt, behauptet Aristoteles dort, das Falsche und das Wahre seien nicht in den Dingen, sondern im Denken. Er fährt an jener Stelle fort mit der Erklärung, bei den einfachen Dingen und dem Wassein seien das Falsche und das Wahre nicht einmal im Denken (1027b27f.). Man wird sagen können, daß Aristoteles hier der Wesenserfassung Wahrheit in dem Sinn abspricht, der in diesem Kapitel allein im Blick steht: Wahrheit der vom Denken vollzogenen Z u s a m m e n s e t z u n g und T r e n n u n g . Merkwürdig bleibt die Äußerung gleichwohl35. Aristoteles knüpft in seinen Bemühungen um die Wahrheitsfrage zunächst an Piaton an. Das gilt für seine Ausführungen in Peri hermeneias und in Metaphysik 2, Kap. 1. In Peri hermeneias greift er Piatons Überlegungen über die Rede aus dem Sophistes auf und führt sie fort (wobei er zu einer deutlichen Abgrenzung des Urteils von anderen Arten der Rede gelangt und ferner in Neuland vorstößt, indem er Urteilen über zukünftiges
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singuläres Kontingentes die den übrigen Urteilen wesentliche Eigenschaft abspricht, notwendig entweder wahr oder falsch zu sein). In Metaphysik 2, Kap. 1 bleibt er in der Nähe von Piatons S o n n e n g l e i c h n i s und H ö h l e n g l e i c h n i s , indem er das Seiende selbst als wahr im Sinne von leuchtend, offenbar (unverborgen) und in seiner Wahrheit gestuft begreift. (Freilich dürften die ,ersten Ursachen und Anfangsgründe' sicher keine Ideen umfassen.) Während er dann am Gedanken solcher Stufung festhält, verwandelt sich ihm der Sinn der ,Wahrheit' des Seienden. In Metaphysik 9, Kap. 10 besagt Wahrheit der Dinge Zusammenbestehen, Falschheit entsprechend Getrenntsein. Diese Bestimmung kann eine Wahrheit des Wesens (des Einfachen) nicht mit umfassen; bezüglich des Wesens rückt die Wahrheit ganz auf die Seite des Denkens, der Wesenserfassung. Bei dieser einschneidenden Einschränkung bezüglich der Wahrheit des Seienden hat es aber noch nicht sein Bewenden. Die Frage ist berechtigt, wieso eigentlich das (beständige oder zeitweilige) Getrenntsein ein Falschsein ist. ,Falschsein' erscheint als bloßes Synonym für .Getrenntsein'. Davon wird auch der Gegensatz, das Wahrsein, in Mitleidenschaft gezogen. Doch läßt sich soviel noch sagen: Das Zusammenbestehen auf seiten der Dinge entspricht als Seinsstruktur der Struktur des bejahenden Urteils und macht so positive Erkenntnis möglich (während das Getrenntsein auf seiten der Dinge nur verneinende Urteile möglich macht). Das Zusammenbestehen auf seiten der Dinge kann, als der Struktur der Bejahung entsprechende und so positive Erkenntnis ermöglichende Seinsstruktur, verstanden werden als Wahrsein. — In einem anderen Textstück der Metaphysik (Buch 6, Kap. 4) erklärt Aristoteles jedoch, das Falsche und das Wahre fänden sich nicht in den Dingen, sondern im Denken. Hier ist auch das Wahrsein preisgegeben, das man für das Zusammenbestehende in Metaphysik 9, Kap. 10 noch annehmen kann. Das Zurücktreten des Wahrseins der Dinge ist begleitet von der Tatsache, daß Aristoteles keinen Wahrheitsgrund für die Wahrheit des Seienden denkt. Klar fundiert er die Wahrheit des Urteils im Zusammenbestehen und Getrenntsein der Dinge, und das ist im Hinblick auf jede Diskussion über die Wahrheit des Urteils von erheblichem Gewicht. Aber ein ermöglichender Grund für die Wahrheit, Erkennbarkeit, Aussagbarkeit des Seienden (und damit mittelbar auch noch für die Wahrheit des Urteils) wird nicht gedacht. (Wollte man hiergegen Metaphysik 2, Kap. 1 anführen, so wäre dem entgegenzuhalten, daß dort günstigstenfalls ein Programm ausgesprochen ist.) Ein dem S o n n e n g l e i c h n i s Piatons vergleichbarer Schritt auf einen Wahrheitsgrund zu wird von Aristoteles nicht vollzogen. In den
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Fragebereichen der Wahrheit des Seienden und des Wahrheitsgrundes hinterläßt Aristoteles die Wahrheit als Problem. Hingegen befestigt und durchleuchtet er die Bestimmung der Wahrheit des Urteils derart, daß die auf ihn folgende Tradition auf diesem Feld die Arbeit für getan halten konnte. Von der Wahrheit des Urteils hebt er (in Met. 9, Kap. 10) entschieden die Wahrheit der Wesenserfassung ab. Das bringt ihn wieder in Gegensatz zu Piaton. Für Piaton ist auch und gerade auch die Rede synthetisch, die das Wesen einer Sache bestimmt. Wesensbestimmung vollzieht sich bei Piaton durch dihairesis, welches Verfahren bei ihm in einem Trennen und Verbinden 36 besteht und in einem synthetischen Satz ins Ziel kommt. Damit entspricht die Rede der Trennung und Verflechtung unter den Ideen selbst. Für Piaton gibt es keine Veranlassung, für die Wesensbestimmung eine andersartige Wahrheit anzunehmen als die, die er als Wahrheit der Rede gedacht hat. Die Ablehnung der Ideenlehre und die Betonung der Einfachheit des Wesens mußten Aristoteles früher oder später zu einer anderen Auffassung bezüglich der Wesenserfassung führen. Während das Urteil dann wahr ist, wenn es das Zusammenbestehende verbindet und das Getrennte trennt, und dann falsch ist, wenn es sich entgegengesetzt zum Seienden verhält, ist die Wesenserfassung wahr als Fassen und Sehen-lassen des Wesens (in seiner Einfachheit), als Denken in diesem Sinn, das sich in einem sehen-lassenden Sagen ausspricht, nicht jedoch in einem Zusprechen, einer Bejahung. Der Gegensatz zu diesem Wahren ist nicht das Falsche, das es bei der Wesenserfassung nach Aristoteles gar nicht gibt, sondern das Nichtwissen, das Nicht-denken. Piatons Ausführungen über Wahrheit des Seienden, göttlichen Wahrheitsgrund und Wahrheit der Rede waren in eine geschlossene Konzeption zu vereinigen. Eine Konzeption von entsprechender Geschlossenheit findet sich nicht bei Aristoteles. Vieles bleibt problematisch. Thomas von Aquin wird, Aristoteles nahe bleibend, Verlorenes zurückholen, freilich es verwandelnd auf dem Boden des christlichen Gottesbegriffs und der Auffassung, daß das Seiende ein von Gott geschaffenes ist.
3. Kapitel: Thomas von Aquin Man sieht in Thomas den Vollender der Entwicklung, in der das christliche Denken des Mittelalters die aristotelische Philosophie in sich aufnimmt und für sich fruchtbar macht. Längst ist aber ebenso mit Recht hervorgehoben worden, daß Thomas auch platonischem Denken nahesteht1 und gegensätzliche metaphysische Grundstellungen Piatons und Aristoteles' in einem verwandelten Denkhorizont zu versöhnen vermag. (So ist er sich mit Aristoteles darin einig, daß das Wesen i s t im Einzelnen2. Gleichwohl nimmt er Ideen an, nämlich in Gottes Verstand und als exemplarische Formen. Damit ist die Teilhabe als Seinsverhältnis gegeben, ein Grundthema der platonischen Philosophie, gegen das Aristoteles das ganze Gewicht seiner Ontologie gestellt hatte). Das wirkt sich auch bei der Bestimmung der Wahrheit aus. — Für Thomas war die Wahrheitsfrage so wichtig, daß er ein umfangreiches Werk nach ihr benannt hat, die Quaestiones disputatae de veritate (Untersuchungen über die Wahrheit)3, entstanden 1256—1259. Er hat in späteren Werken, so in der Summa contra gentiles (Summe gegen die Heiden, 1258—1264) und vor allem in der Summa theologiae (Summe der Theologie, 1266 ff.4) das Thema Wahrheit erneut aufgegriffen. Dieses Kapitel macht die Wahrheit nicht in dem ganzen Umfang, in dem sie bei Thomas erörtert wird, zum Gegenstand. Insbesondere ist zu vermerken, daß die Wahrheit der Offenbarung bzw. des Glaubens und der darauf sich gründenden theologischen Wissenschaft ausgeklammert bleibt. Das Interesse konzentriert sich vor allem auf die ersten drei Quaestionen von De veritate5 und ferner auf einige diesen korrespondierende oder sie ergänzende Textabschnitte der Summen6. Thomas stellt an den Anfang seiner Untersuchung eine Bestimmung des Begriffs Wahrheit (q. 1, a. 1). Ganz offensichtlich stehen das Wahre (verum) und das Seiende (ens) in engstem Bezug zueinander, so daß die Auffassung möglich scheint, sie seien gänzlich dasselbe (omnino idem). Thomas ist nicht dieser Auffassung. Er zeigt, daß freilich jedes Seiende ein Wahres ist, daß aber sehr wohl der Begriff des Wahren etwas bezeichnet, das im Begriff des Seienden nicht schon enthalten ist7.
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Was das Wahre ist, soll bestimmt werden. Wie beim Beweisen, sagt Thomas, bedarf es auch bei der Bestimmung des Wasseins der Wissensanfänge, die durch sich selbst dem Verstand bekannt sind (principia per se intellectui nota). Ohne sie müßte das Bestimmen ins Endlose zurücklaufen, käme auf keinen Grund und höbe sich an seiner Vergeblichkeit auf. Das Bestimmen dessen, was etwas ist, hat seinen ersten, schlechthin gründenden Anfang in dem, was das Allerbekannteste (notissimum) ist, und das ist das Seiende. Was immer wir denken und sagen, wir denken und sagen es aufgrund unserer Bekanntschaft mit dem Seienden als einem solchen. Alle unsere anderen Begriffe fügen dem Seienden etwas hinzu, dies jedoch nicht als etwas, das von außen kommt, denn außerhalb des Seienden kann es nichts geben. So ist das Seiende keine Gattung, der etwas als spezifische Differenz hinzugefügt werden könnte; und es ist kein Zugrundeliegendes (subiectum), zu dem sich Akzidenzien hinzufügen ließen. Was dem Seienden hinzugefügt werden kann, das kann nur eine Seinsweise des Seienden selbst sein, die mit dem Namen ,das Seiende' nicht schon ausgedrückt ist (secundum hoc aliqua dicuntur addere supra ens, in quantum exprimunt ipsius modum, qui nomine ipsius entis non exprimitur). Indem Thomas die Grundmöglichkeiten der so verstandenen Hinzufügung zum Seienden auseinanderlegt, ergibt sich die Bestimmung des Begriffs Wahrheit. Die erste Unterscheidung, die bezüglich der Seinsweisen gemacht werden muß, ist die in eine besondere Seinsweise (aliquis specialis modus entis) einerseits, in eine allgemein allem Seienden mitfolgende Seinsweise (modus generaliter consequens omne ens) andererseits. Die besondere Seinsweise meint: seiend sein in einer der Kategorien 8 . Hierher gehört das Wahre nicht. U m es in seinem Was zu fassen, muß die allgemein allem Seienden mitfolgende Seinsweise zergliedert werden. (Hier handelt es sich um die ,Transzendentalien'.) Es ergibt sich als erster der Unterschied: allem Seienden in sich (in se) mitfolgend 9 — allem Seienden mitfolgend in der Hinordnung auf ein anderes (in ordine ad aliud). Das Wahre ist auf Seiten des zuletzt Genannten zu suchen. Da gibt es wieder einen Unterschied: Hinordnung eines Seienden auf ein anderes als allem Seienden zukommende Seinsweise ist einerseits Trennung (divisio) eines Seienden vom anderen 10 , andererseits aber Übereinstimmung (convenientia) eines Seienden mit einem anderen. Das Wahre gehört auf die Seite der Ubereinstimmung. Seine Bestimmung kommt nun rasch ans Ziel. Ubereinstimmung eines Seienden mit einem anderen als Seinsweise, die allem Seienden zukommt, besagt nicht: Ubereinstimmung eines jeden Seienden mit beliebigem anderem Seienden. Wäre die Ubereinstimmung so
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zu verstehen, könnte sie als allem Seienden zukommend schwerlich von unserer erkennenden Vernunft behauptet werden. Es gilt vielmehr, eine Ubereinstimmung zu denken mit e i n e m anderen, das seinerseits geeignet ist, mit allem Seienden übereinzustimmen. Und das ist die Seele. In ihr nun sind zu unterscheiden das Strebevermögen einerseits und das Erkenntnisvermögen andererseits. Diesem Unterschied entsprechend gibt es zweierlei Ubereinstimmung des Seienden mit der Seele: 1. Ubereinstimmung des Seienden mit dem Streben — sie wird mit dem Namen das Gute (bonum) bezeichnet". 2. Ubereinstimmung des Seienden mit dem Verstand — sie ist das, was das Wahre ist12. So wäre denn das Wahre bestimmt als etwas, das zum Seienden hinzukommt, und zwar nicht von außerhalb, sondern als eine Seinsweise des Seienden selbst — als eine Seinsweise, die allgemein allem Seienden zukommt, und dies als Hinordnung auf ein anderes, und näher als Ubereinstimmung, nämlich mit dem Verstand, der seinerseits dadurch bestimmt ist, mit allem übereinstimmen zu können. Thomas faßt und verdeutlicht die Ubereinstimmung des Seienden mit dem Verstand in weiteren Ausdrücken: Wahrheit des Seienden ist Entsprechung (correspondentia — das Seiende als Wahres entspricht dem Verstand); sie ist Gleichförmigkeit (conformitas) mit dem Verstand; sie ist Angleichung von Sache und Verstand (adaequatio rei et intellectus)13; sie ist Richtigkeit (rectitudo). Ein formaler Begriff der Wahrheit ist gewonnen (in hoc formaliter ratio veri perficitur) — nicht mehr und nicht weniger. Jetzt kann die Frage nach der Wahrheit entfaltet werden, und sie muß entfaltet werden, wenn das Denken sich den Rätseln stellt, die der Begriff der Wahrheit aufgibt. Im Anfang der Untersuchung über die Wahrheit, der einen formalen Begriff der Wahrheit bereitstellen sollte, stand Wahrheit als Wahrheit des S e i e n d e n im Vordergrund. Diese zeigte sich freilich als eine Beziehung — eben auf den Verstand, der seinerseits aufzufassen war als bezogen auf das Seiende, derart, daß er, das Erkenntnisvermögen, mit dem Seienden übereinstimmen kann. Die Entfaltung des Wahrheitsproblems, die nun erfolgt, stellt sich unter die Frage, ob die Wahrheit eher (principalius) im Verstand oder in den Dingen angetroffen wird. Thomas wird die Frage zugunsten des Verstandes entscheiden14. Wahrheit des Seienden ist eine Beziehung zum Verstand, die als Ubereinstimmung, Entsprechung, Gleichförmigkeit, Angleichung, Richtigkeit zu denken aufgegeben ist. Was ist diese Beziehung, näher bedacht? Da gilt
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es zunächst, den Umfang der Frage deutlich zu bestimmen. Im menschlichen Verstand findet sich der Unterschied von praktischem Verstand (intellectus practicus) und theoretischem Verstand (intellectus speculativus). Gemäß diesem Unterschied gibt es zweierlei Beziehung zwischen Dingen und dem menschlichen Verstand. Unser praktischer Verstand verursacht (causat) Dinge, indem er sie nämlich hervorbringt. Und das bedeutet: Er ist diesen Dingen das Maß (est mensuratio rerum quae per ipsum fiunt). Unser theoretischer Verstand hingegen empfängt (accipit) von den Dingen und wird gewissermaßen von ihnen bewegt (est quodammodo motus ab ipsis rebus). Hier handelt es sich um die Dinge der Natur (res naturales). Von ihnen empfangend und bewegt, hat der Verstand in ihnen das Maß. Anders gewendet: Die Dinge geben dem Verstand das Maß (mensurant ipsum). N u r um diese Naturdinge und den theoretischen Verstand, nicht aber um die vom Menschen hervorgebrachten Dinge und seinen praktischen Verstand geht es in der Untersuchung über die Wahrheit. Die Angleichung der Naturdinge an unseren theoretischen Verstand ist ein Maß-geben. Mit dem Maß-geben (und -empfangen) ist der Schlüsselbegriff eingeführt, der geeignet ist, das in der Formel der Wahrheit Vorgelegte sachlich noch weiter aufzuschließen is . Die Dinge, die unserem Verstand das Maß geben, haben selbst ihr Maß vom göttlichen Verstand empfangen (sunt mensuratae ab intellectu divino). Sie sind von Gott geschaffen, und alles Geschaffene ist im göttlichen Verstand, so wie alles Hergestellte im Herstellenden, im ,Künstler' (artifex) ist. Die Wahrheit der Naturdinge ist also gedoppelt, denn sie ist Beziehung auf den göttlichen Verstand einerseits, den menschlichen Verstand andererseits. Angleichung des Naturdinges an den göttlichen Verstand bedeutet: Das Ding erfüllt (implet) die ihm von Gott gegebene Bestimmung, es i s t gemäß dem Maß, das der göttliche Verstand ihm zugeteilt hat. Angleichung des Naturdinges an den menschlichen Verstand besagt: Das Ding ist seiner Natur nach geeignet, zu einer wahren Beurteilung über sich zu führen (nata est de se formare veram aestimationem) 16 . Die Auseinanderfaltung des Wahrheitsbegriffs unter der Hinsicht von Maß-geben und -empfangen hat für Thomas' Untersuchung erbracht: Die Frage nach der Wahrheit führt auf den göttlichen Verstand. Dieser ist Maß gebend, nicht Maß empfangend (mensurans non mensuratus). Als Maß gebend ist er Wahrheits- und Seinsgrund der geschaffenen Dinge17. — Naturdinge sind geschaffen. Das Naturding ist Maß gebend und hat ein Maß empfangen (mensurans et mensurata). Es gibt dem menschlichen
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Verstand das Maß und ermöglicht damit Erkenntnis. Es empfängt selbst sein Maß vom göttlichen Verstand — als seine Seinsbestimmtheit. — Unser (theoretischer) Verstand empfängt das Maß, ohne selbst ein Maß zu geben (mensuratus, non mensurans). Das Maß für sich bestimmend sein lassen, meint: der Verstand gleicht sich im Erkenntnisvollzug der Sache an18. Thomas bejaht die Leitfrage des Artikels, ob sich die Wahrheit eher im Verstand als in den Dingen findet. „Eher" (principalius) meint: der Seinsordnung und dem Rang nach früher, ursprünglicher. In demselben Sinn ist auch das „früher" (prius) zu nehmen, das im Artikel verwendet wird. Es geht nicht um ein zeitliches Verhältnis. Thomas nimmt also eine Gewichtung vor zugunsten des Verstandes. Dabei steht der menschliche, nicht der göttliche Verstand im Blickpunkt. Dem menschlichen Verstand und den Dingen wird Wahrheit zugesprochen. Könnte man in Fällen solcher gemeinsamen Prädikation von früher in der bezeichneten Bedeutung nur sprechen mit Bezug auf die Ursache, so müßte die Leitfrage zugunsten der Dinge entschieden werden 19 . Früher kann aber auch das genannt werden, in dem sich der gemeinsame Begriff erfüllt, vollendet. Und das ist bei der Wahrheit der Fall im Verstand, nicht in den Dingen. Man hat sich hier zu vergegenwärtigen, daß die Wahrheit der Dinge im Verhältnis zum menschlichen Verstand darin besteht, dem Verstand das Maß zu geben und ihn gewissermaßen zu bewegen. Dies Maßgeben und Bewegen kommt im Erkanntsein der Dinge ans Ziel. W o ist dies Erkanntsein angesiedelt, in den Dingen oder im Verstand? U m diese Frage zu entscheiden, ist auf die Bewegung unseres erkennenden Verstandes zu blicken. W o hat sie ihr Ziel? Sie beschließt sich (im Gegensatz zur Bewegung des Strebevermögens) in der Seele. Das Erkannte ist im Erkennenden (oportet enim ut cognitum sit in cognoscente). So ist denn die Wahrheit im Verstand früher als die in den Dingen. Dieses Ergebnis ist zugleich Thomas' Stellungnahme zu der von Aristoteles in Met. 6, Kap. 4 vertretenen Auffassung, das Wahre und Falsche seien nicht in den Dingen, sondern im Denken. (Thomas führt diese Auffassung hier zweimal an, als ersten Gegeneinwand und im Hauptteil des Artikels.) Thomas erweckt den Anschein, als habe Aristoteles mit seiner Äußerung gemeint, daß eben die Wahrheit im Verstand früher ist als in den Dingen. Als wörtlich genommene wäre die Metaphysik-Stelle für Thomas jedenfalls falsch. Wahrheit ist eher im menschlichen Verstand als in den Dingen. Was ist die Wahrheit im menschlichen Verstand? Gemäß dem formalen Begriff der
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Wahrheit ist sie Angleichung von Sache und Verstand. Die Auseinanderfaltung des formalen Begriffs der Wahrheit in die Vielfalt sachlicher Bezüge ergab für den (theoretischen) Verstand, daß er von den Dingen das Maß empfängt, nicht aber selbst ein Maß gibt. Es konnte schon gesagt werden: Indem der Verstand das Maß, das die Dinge ihm geben, für sich bestimmend sein läßt, gleicht er sich im Erkenntnisvollzug der Sache an. Diese schon erarbeiteten Ergebnisse enthalten die Vorzeichnung für die weitere Bestimmung der Wahrheit, soweit sie dem menschlichen Verstand zukommt. In der Summa contra gentiles (I 59, Ziffer 495) formuliert Thomas, die Wahrheit des Verstandes sei Angleichung von Verstand und Sache (adaequatio intellectus et rei), und zitiert zur Erläuterung, daß der Verstand „von dem, was ist, sagt, daß es ist, oder von dem, was nicht ist, daß es nicht ist"20. — Der Verstand gleicht sich der Sache an in den beiden Grundoperationen des Zusammensetzens (Bejahens) und Trennens (Verneinens). Demgemäß erfüllt sich die Wahrheit des Verstandes im u r t e i l e n d e n Verstand. Der urteilende Verstand, der ja sagt, daß etwas ist oder nicht ist, ist im eigentlichen Sinn zusammensetzend (componens) und trennend (dividens; vgl. q. 1, a. 3, corp.). Wahrheit auf seiten des Verstandes ist primär Wahrheit des Urteils. Thomas handelt nicht ausführlich über die Wahrheit des Urteils. Offensichtlich hält er alles Wichtige hierüber für längst gesagt, und vor allem wohl mit Blick auf Aristoteles. Auch für Thomas hat die Wahrheit des Urteils Falschheit zum Gegensatz (vgl. etwa q. 1, a. 10, corp.). Auch er sieht die Wahrheit des Urteils im Seienden fundiert (vgl. S.43). Die Wahrheit der Urteile über Veränderliches ist selbst auch veränderlich (q. 1, a. 6, corp.): Angleichung von Verstand und Sache meint, daß der Verstand sich einer Veränderung auf seiten der Sache angleicht durch ein neues Urteil über sie. Wenn Verstand und Sache sich in Entsprechung zueinander verändern, bleibt Wahrheit, ist jedoch eine andere als zuvor (wenn Sokrates sitzt, ist es wahr zu sagen, daß er sitzt; wenn Sokrates sodann nicht mehr sitzt, ist es wahr zu sagen, daß er nicht sitzt). Wird ein Urteil festgehalten, obwohl die Sache, mit der es übereinstimmte, sich verwandelt hat, so wird das wahre Urteil zu einem falschen21. — Das Interesse, das Aristoteles der Frage entgegenbrachte, ob alle unsere Urteile über Zukünftiges entweder wahr oder falsch sind, verlagert sich für Thomas auf die Frage, ob Gott das zukünftige singuläre Kontingente weiß (q. 2, a. 12). Thomas bejaht diese Frage. Er besteht darauf, daß dadurch keine Determination alles Zukünftigen gegeben sei und daß der Spielraum für menschliches Uberlegen und
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verantwortungsvolles Entscheiden erhalten bleibe. Darin bleibt er Aristoteles nah. Ändert aber für Thomas Gottes Wissen des zukünftigen singulären Kontingenten nichts an dessen Kontingenz, so muß Thomas Aristoteles auch in der Auffassung folgen, daß unsere Urteile über zukünftiges singuläres Kontingentes weder wahr noch falsch sind. Denn solche zukünftigen Dinge, über deren Sein oder Nichtsein noch nicht entschieden ist, können dem Verstand auf keine Weise ein Maß geben, und er kann sich ihnen im Erkenntnisvollzug nicht angleichen. Wahrheit oder Falschheit im menschlichen Verstand gibt es bezüglich des zukünftigen singulären Kontingenten nicht22. Wahrheit auf seiten des Verstandes ist auch Wahrheit der Wesenserfassung. Das erscheint als so wenig selbstverständlich, daß Thomas einen Artikel der Frage widmet, ob es Wahrheit nur im zusammensetzenden und trennenden Verstand gibt (utrum Veritas sit tantum in intellectu componente et dividente — q. 1, a. 3; das folgende bezieht sich zunächst nur auf diesen Artikel in De veritate). Er gibt der Frage Stoßkraft, indem er Aristoteles anführt, und zwar jene Äußerung in Met.6, Kap.4 (1027b27f. — vgl. S. 26), bei den einfachen Dingen und dem Wassein seien das Falsche und das Wahre nicht einmal im Denken (q. 1, a. 3, contra l 23 ; dazu zur Unterstützung der Verweis auf Buch 3 von Aristoteles' Schrift Peri psyches / Über die Seele — contra 2). Die Ausarbeitung der Antwort bringt Thomas, mag auch der Anschein dagegen sprechen, sehr in die Nähe dieser aristotelischen Feststellung — oder genauer gesagt des Sinnes, in dem diese hier verwendet wird, und sie entfernt ihn von jenen gewichtigen Ausführungen, die Aristoteles in Met. 9, Kap. 10 zur Wahrheit der Wesenserfassung macht. Die Wahrheit der Wesenserfassung im eigentlichen Sinn, die Aristoteles in Met. 9, Kap. 10 herausstellt, wird bei Thomas hier von dem Begriff der Wahrheit als Angleichung von Sache und Verstand verdrängt. Es bleibt als Rest eine Wahrheit der Wesenserfassung, die als sekundär verstanden wird und der Wahrheit des Urteils an Rang nachsteht. Thomas argumentiert folgendermaßen (q. 1, a. 3, corp.): Vom Wahren war gezeigt worden, daß es eher im menschlichen Verstand als in den Dingen ist (womit eine Seinsordnung und ein Rangverhältnis gemeint waren). Ein entsprechendes Verhältnis soll bestehen zwischen dem Wahren, das im zusammensetzenden und trennenden Verstand einerseits, im die Washeiten der Dinge bildenden Verstand (intellectus quidditates rerum formans) andererseits angetroffen wird. Wieso kann gesagt werden, das Wahre sei eher im Vollzug des Zusammensetzens und Trennens, also des
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Urteilens, als im Vollzug der Wesenserfassung? Das Maß, woran hier gemessen wird, ist der Begriff der Wahrheit. Dazu wird der Gedanke eingeführt, daß von Angleichung nur gesprochen werden kann, wo eine Differenz vorliegt — ein Selbes wird nicht sich selbst angeglichen (idem autem non adaequatur sibi ipsi), Angleichung ist Gleichförmigkeit von Verschiedenem (aequalitas diversorum). Die Differenz, die der Begriff der Wahrheit fordert, ist die der Sache, wie sie außerhalb des menschlichen Verstandes existiert, einerseits, und des menschlichen Verstandes, wenn er sich erkennend auf sie gerichtet hat, andererseits; der Verstand muß gegenüber der Sache etwas Eigenes haben, das sich so nicht in ihr findet, ihr jedoch entspricht. Eine solche Differenz gibt es aber nicht zwischen dem Wassein der Dinge und dem das Wassein schlicht fassenden Verstand. Das Wassein eines Dinges bildend, hat der Verstand in sich ein Gleichförmiges, ein Bild (similitudo) des Dinges außerhalb der Seele. Wenn er dagegen über ein Ding urteilt, dann ist das Urteil etwas ihm Eigenes gegenüber dem Ding außerhalb der Seele. Dies Eigene besteht darin, zu sagen, daß etwas ist oder nicht ist; es besteht in der Zusammensetzung und Trennung (compositio et divisio), von der Thomas mit Bezug auf Aristoteles (Met. 6, Kap. 424) sagt, sie sei im Verstand und nicht in den Dingen. Zur Erläuterung kann Thomas' Kommentar zu jener Aristoteles-Stelle dienen (Metaphysik-Kommentar Ziffer 1241). Dort führt Thomas aus: Es gibt zwar auch in den Dingen eine Zusammensetzung, diese läßt aber gerade das Ding e i η Ding sein, so daß der Verstand es als eines in einer einfachen Vorstellung auffassen kann. Sobald der Verstand aber urteilt, hat er es mit z w e i Begriffen zu tun, die er verbindet oder trennt. Und diese Zusammensetzung und Trennung ist nur ihm eigen25. — Aufgrund dieser Differenz zu den Dingen kann sinnvoll von einer Angleichung des Verstandes an die Sache gesprochen werden. In der Wahrheit des urteilenden Verstandes erfüllt sich die Wahrheit, wie hier schon einmal angedeutet wurde. Das schlichte Fassen des Wasseins der Dinge ermangelt der Differenz zu den Dingen. In welchem Sinn kann die Wesenserfassung dann überhaupt wahr genannt werden? Die Wesenserfassung artikuliert sich in der Definition. Wiewohl nun die Definition das Wesen eines Dinges in seiner Einfachheit sehen läßt, gibt es doch auch bei ihr eine gewisse Zusammensetzung, und aufgrund wahrer oder falscher Zusammensetzung wird sie wahr oder falsch genannt. Thomas führt zwei Möglichkeiten falscher Zusammensetzung vor: 1. Eine Definition wird als die Definition einer Sache ausgegeben, deren Definition sie nicht ist. Beispiel: Die Definition des Kreises wird dem Dreieck zugesprochen. 2. In einer Definition sind Teile enthalten, die
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miteinander nicht verbunden werden können. Beispiel: Etwas wird als empfindungsloses Lebewesen definiert; ,Lebewesen' und ,empfindungslos' können nicht verbunden werden. — Wahrheit der Wesenserfassung wird von Thomas gefaßt als der Gegensatz zu jenen Möglichkeiten falscher Zusammensetzung beim Definieren. Zusammensetzung im eigentlichen Sinn findet aber statt im urteilenden Verstand, der in Subjekt und Prädikat z w e i v e r s c h i e d e n e Begriffe miteinander verknüpft. Und da nur in der Hinordnung auf Zusammensetzung (non . . . nisi per ordinem ad compositionem) von Wahrheit der Wesenserfassung gesprochen werden kann, ist hier von Wahrem nur sekundär und später (secundario . . . et per posterius) die Rede. Der Vorrang kommt der Wahrheit im urteilenden Verstand zu. Die Frage des Artikels ist damit beantwortet. Wahrheit im menschlichen Verstand ist nicht nur Urteilswahrheit, sondern auch Wahrheit der Definition, aber primär ist sie Urteilswahrheit. Darin liegt zugleich eine Stellungnahme zu der ins Feld geführten Äußerung des Aristoteles (Met. 6, Kap. 4): Es gibt bei den einfachen Dingen ein Falsches und Wahres im Denken, jedoch nur sekundär. Diese Abweichung von der beim Wort genommenen Aristoteles-Stelle zugunsten der Wahrheit der Wesenserfassung darf jedoch darüber nicht hinwegtäuschen, daß die Wahrheit der Wesenserfassung im eigentlichen, von Aristoteles in Met. 9, Kap. 10 herausgearbeiteten Sinn bei Thomas in Quaestio 1, Artikel 3 verlorengegangen ist. Was hier bei Thomas als Wahrheit der Wesenserfassung übrigbleibt, ist das Korrelat jener Täuschung, die nach Aristoteles beim Wassein und bei den nicht zusammengesetzten Wesen nur a k z i d e n t e l l möglich ist26. Sie ist akzidentelle Wahrheit. Eine wesentliche Wahrheit der Wesenserfassung (in Entsprechung zum Fassen und Ans-Licht-bringen des Wesens bei Aristoteles) kann Thomas, so scheint es, nicht mehr denken, nachdem er Wahrheit ihrem Begriff und das heißt ihrem vollen Umfang nach als Angleichung verstanden und für die Angleichung des Verstandes an die Sache eine Differenz zwischen Verstand und Sache zur Bedingung gemacht hat. So stellt sich die Sachlage gemäß dem für die Wesenserfassung zugrunde zu legenden Artikel in De veritate dar (q. 1, a. 3). Anderes liest man nun allerdings noch in derselben Quaestio an späterer Stelle (q. 1, a. 12, corp.): Wie unsere Sinne, wenn sie ihnen entsprechende Sinnesdaten aufnehmen, immer wahr sind27, so auch der Verstand, der das ihm eigentümliche Objekt, das Wassein erfaßt; nur akzidentell (per accidens) findet sich bei ihm Falschheit, nämlich durch falsches Zusammensetzen (das hier von Thomas noch einmal in den beiden aus Quaestio 1, Artikel 3 bekannten
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Grundmöglichkeiten vor Augen geführt wird). Also: Die Wesenserkenntnis ist immer und wesentlich wahr (und Thomas versäumt nicht, hier auf Aristoteles zu verweisen); nur akzidentell kann sie falsch sein. Die Wahrheit der Wesenserfassung ist jetzt nicht auf den Rang des Akzidentellen verwiesen, sie ist nicht bloß Korrelat der akzidentell möglichen Falschheit. Der Widerspruch zu den früheren Ausführungen ist unübersehbar. Während gemäß Quaestio 1, Artikel 3 das einfache Fassen des Wesens für sich auf Wahrheit keinen Anspruch erheben kann (weil zur Angleichung des Verstandes an die Sache eine Differenz beider gefordert ist, die hier fehlt) und von Wahrheit der Wesenserfassung nur in der Hinordnung auf ein Zusammensetzen (und sekundär) gesprochen werden kann, erscheint ebendies einfache Fassen des Wesens in Quaestio 1, Artikel 12 als immer wahr und mit seiner Wahrheit dem Verstand wesentlich eigen. Es scheint, daß in Quaestio 1, Artikel 3 die Wahrheit der Wesenserfassung unterbestimmt war und daß die frühere Bestimmung nach einem Gegengewicht verlangte. Artikel 3 und 12 zusammengenommen bieten aber gerade ein Problem, nicht eine Lösung. In dieser Situation ist es unerläßlich, jenen Artikel der Summa theologiae zu Rate zu ziehen, in dem Thomas nochmals die Frage vorlegt, ob die Wahrheit nur im zusammensetzenden und trennenden Verstand ist (I q. 16, a. 228). Hier ist das von jenen beiden Artikeln aus De veritate aufgegebene Problem überwunden. Dabei ist eine Verschiebung gegenüber dem Grundgedanken von De ver. q. 1, a. 3 eingetreten, die jedoch keineswegs dazu führt, daß das Eigene der Wesenserfassung und ihrer Wahrheit stärker zum Vorschein kommt. Thomas führt aus (S. th. I q. 16, a. 2, corp.): Die Dinge sind wahr. Wenn nun der erkennende Verstand ein Gleichförmiges, ein Bild (similitudo) des Dinges bzw. seiner Form hat, ist er selbst notwendigerweise wahr. Deshalb werde die Wahrheit als Gleichförmigkeit (conformitas) von Verstand und Sache definiert. Aber ein Bild des Wasseins des Dinges haben (das Wassein erkennen) und darin gleichförmig mit ihm und also wahr sein, das ist noch nicht das, worauf es bei der Wesenserkenntnis ankommt. Es muß vielmehr darum gehen, d i e s e G l e i c h f ö r m i g k e i t (Wahrheit) ζu e r k e n n e n . Und das geschieht erst dann, wenn der Verstand u r t e i l t (iudicat), daß sich die Sache so verhält wie die Form, die er aufgefaßt hat. „Dann zuerst erkennt und sagt er das Wahre" (tunc primo cognoscit et dicit verum). Urteilen bedeutet aber zusammensetzen oder trennen. Jedes Urteil ist dadurch charakterisiert, daß es eine durch das Prädikat bezeichnete Form einer durch das Subjekt bezeichneten Sache zuspricht oder abspricht. —
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Es ergibt sich: Der Verstand, der das Wassein einer Sache erkennt, ist wahr; aber er erkennt noch nicht das Wahre und spricht es noch nicht aus. Erst im Urteil, das einer Sache ihr Wassein zuspricht oder ihr ein ihr nicht zukommendes Wassein abspricht, ist Erkenntnis des Wahren gegeben. Da nun aber, so argumentiert Thomas, die Vollkommenheit (perfectio) des Verstandes das Wahre als erkanntes ist, ist eigentlich gesprochen (proprie loquendo) die Wahrheit im zusammensetzenden und trennenden Verstand, nicht jedoch im Verstand, der das, was ist, erkennt 29 . Thomas hat hier dem einfachen Fassen des Wesens Wahrheit zugebilligt, aber eine uneigentliche. Damit ist der Widerspruch aus De veritate aufgehoben. — Die Wahrheit der Wesenserfassung im Zusammensetzen wird jetzt nicht mehr als sekundär oder gar akzidentell begriffen; sie ist der Wahrheit des Urteils nicht mehr nachgesetzt, und sie ist der Wesenserkenntnis wesentlich. Bringt diese Verschiebung gegenüber De veritate die Wahrheit der Wesenserfassung eher zu ihrem Recht? Die Frage wird man verneinen müssen. Denn was ist geschehen? Das Eigentümliche der Wesenserfassung im Unterschied zu der in Urteilen sich vollziehenden Erkenntnis ist verlorengegangen. Die für Thomas eigentliche Wahrheit der Wesenserfassung steht deshalb nicht mehr hinter der Wahrheit des Urteils zurück, weil sie sich von ihr nicht mehr deutlich unterscheidet. Die Definition der Wahrheit als Angleichung von Sache und Verstand erforderte zufolge der für Thomas darin implizierten Bedingung der Differenz von Verstand und Sache, entweder die Wahrheit der Wesenserfassung gegen die Wahrheit des Urteils herabzusetzen oder beide möglichst ineinander aufgehen zu lassen. Die erste Möglichkeit hat Thomas in De veritate (q. 1, a. 3) ergriffen, die zweite in der Summa theologiae. Im Namen der Wahrheit als Angleichung von Sache und Verstand hat er der Wahrheit des Urteils zur Vorherrschaft verholfen 30 . Im vorigen wurde von Wahrheit im V e r s t a n d gehandelt, und zwar als Wahrheit des Urteils und der Wesenserfassung. Auf seiten des Erkennenden gibt es nach Thomas auch Wahrheit i n d e n S i n n e n . Sie ist Thema in q. 1, a. 9 und ist anderwärts mehrfach mitthematisch; Falschheit als ihr Gegensatz wird in q. 1, a. 11 und S. Th. I q. 17, a. 2 verhandelt. — Eine Andeutung zur Wahrheit in den Sinnen mag hier genügen. Sie stützt sich auf Darlegungen in den genannten Quaestionen sowie in q. 1, a. 12, S. Th. I q. 16, a. 2 und S. Th. I q. 17, a. 3. Thomas unterscheidet in den Sinnen Wahrheit und Falschheit in eigentlicher Bedeutung und in uneigentlicher Bedeutung. Wahrheit und Falsch-
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heit in eigentlicher Bedeutung sind dort gegeben, wo die Sinne über Wahrnehmbares u r t e i l e n ; ihrem E r f a s s e n des Wahrnehmbaren kommen Wahrheit und Falschheit in uneigentlicher Bedeutung zu, nämlich nur in der Hinordnung auf ein mögliches Urteil, in dem der Sinn das Erfaßte durch Zusammensetzen oder Trennen artikuliert. Das Erfassen des Wahrnehmbaren durch die Sinne ist wahr, wenn es die Sache so erfaßt, wie sie ist. Es ist (nahezu) immer wahr, wenn es ein dem einzelnen Sinn entsprechendes (eigenes) Gegebenes erfaßt, ζ. B. Farben beim Gesichtssinn, Töne beim Gehör 31 . Der Sinn hat dann in sich ein Gleichförmiges, ein Bild (similitudo) der Sache, und zwar ursprünglich und an sich (primo et per se — S. Th. I q. 17, a. 2, corp.). N u r die Untauglichkeit eines Sinnesorgans, die selten ist, oder ein Hindernis im Medium können hier zu Täuschung führen. Wahrheit beim Erfassen des Wahrnehmbaren hat aber ohne Hemmnisse jener Art Falschheit als Gegenmöglichkeit bei sich, 1. wenn das Wahrnehmbare ein gemeinsames für mehrere Sinne ist (z.B. Größe, Figur), 2. wenn etwas mit-wahrgenommen wird (z.B. wenn vom Gesichtssinn ein Farbiges und dazu dieses Farbige als Mensch wahrgenommen wird). Beim wahren Erfassen ist im ersten dieser beiden Fälle im Sinn ein Gleichförmiges zwar an sich, aber nicht ursprünglich; im zweiten Fall weder ursprünglich noch an sich, sondern akzidentell. Die Sinne erfassen nicht nur Wahrnehmbares, sie urteilen auch aufgrund des Erfaßten 32 . Die Möglichkeiten von Wahrheit und Falschheit folgen hier denen des Erfassens. Die Wahrheit, die in den Sinnen ist, sofern sie urteilen, muß aber von der Wahrheit im Verstand abgehoben werden, hinter der sie zurückbleibt. Der entscheidende Unterschied ist hier, daß der Sinn, wenn er wahr über eine Sache urteilt, d i e W a h r h e i t , durch die er wahr urteilt, n i c h t z u e r k e n n e n v e r m a g , während die Wahrheit im Verstand als erkannte ist. Die Wahrheit wird vom Verstand erkannt, indem er auf seine Tätigkeit reflektiert und dabei nicht nur diese Tätigkeit selbst, sondern gerade auch deren Verhältnis zur Sache erkennt. Dies aber hat zur Voraussetzung, daß der Verstand seine eigene Natur erkennt, in der es liegt, den Sachen gleichförmig zu werden. Der Sinn hat solche Möglichkeit der Selbsterkenntnis nicht. Zwar hat er ein Bewußtsein davon, daß er wahrnimmt, aber er erkennt nicht sein Wesen, seine Natur. Und deshalb erkennt er auch nicht die Natur seines Vollzugs, dessen Verhältnis zur Sache und damit die Wahrheit. Die Selbstreflexion des Verstandes, die nicht nur den Unterschied zwischen den Urteilen des Sinnes und denen des Verstandes (sowie ihrer
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Wahrheit) konstituiert, sondern auch die Wesenserfassung erst zu ihrer eigentlichen Wahrheit gelangen läßt, gibt schwere und vielleicht unlösbare Probleme auf. Jedenfalls konnten in der Forschung je mit einem gewissen Recht sehr verschiedene Standpunkte zu ihr eingenommen werden 33 . — Ein anderes Problem, dessen Verfolgung ebenfalls ein Eindringen in Thomas' Erkenntnistheorie verlangen würde, soll hier wenigstens benannt werden. Bald wird davon zu sprechen sein, daß in Gott Ideen der E i n z e l d i n g e sind (vgl. S.42). Das geschaffene Einzelding entspricht also einer göttlichen Idee von ihm als diesem Einzelding. Zu der so verstandenen Individualität der Dinge vermag unser erkennender Verstand nicht vorzudringen, hier stößt er an eine Schranke. Diese Frage erörtert Thomas mit schwierigen Überlegungen in De veritate q. 2, a. 6, nachdem sie im voraufgegangenen Artikel schon mitthematisch war. Der Grund für die genannte Beschränkung unseres Verstandes wird von Thomas darin gesehen, daß ein Ding nur durch seine Form auf unsere Erkenntnisfähigkeit wirkt, nicht jedoch durch die es individuierende Materie. Thomas schränkt das Gesagte allerdings dadurch ein, daß unser Verstand akzidentell (per accidens) das Singuläre doch auf gewisse Weise erkennen kann, wenn er sich nämlich ,reflektierend* dem Phantasma zuwendet und sich gewissermaßen auf seine Verbindung mit der Einbildungskraft besinnt. Für diese Einschränkung bedarf es Unterscheidungen hinsichtlich der Materie34. Wahrheit, so hieß es, findet sich eher im menschlichen Verstand als in den Dingen. Aber sie findet sich eben auch in den Dingen, und von der Wahrheit in den Dingen ist nun ausführlicher zu handeln als an früheren Stellen dieses Kapitels geschehen. Dabei ist schon Gesagtes aufzugreifen. Wenn Wahrheit in den Dingen oder Wahrheit des Seienden das Thema ist, sind die Dinge als existierende, von Gott geschaffene gemeint, und zwar soweit sie auf den theoretischen Verstand des Menschen hingeordnet sind, also die Naturdinge. Es wurde schon gesagt: Das Wahre kommt zum Seienden hinzu als eine Seinsweise des Seienden selbst, und das allgemein (d. h. unangesehen der besonderen Seinsweisen, der Kategorien, also gleichermaßen bei Substanzen wie jederlei Akzidenzien); Wahrheit bedeutet hier Übereinstimmung des Seienden mit dem Verstand; statt von Übereinstimmung kann auch von Entsprechung, Gleichförmigkeit, Angleichung, Richtigkeit, Gleichmaß gesprochen werden. Den Naturdingen eignet eine gedoppelte Wahrheit: Sie sind einerseits bezogen auf den göttlichen Verstand, erfüllen die ihnen von Gott gegebene Bestimmung, sind dem Maß gemäß, das sie von Gott empfangen haben. Sie sind andererseits auf den
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theoretischen Verstand des Menschen bezogen, insofern sie geeignet sind, ihn zu einer wahren Beurteilung über sie zu führen; sie geben ihm das Maß. Den beiden Beziehungen soll im folgenden nacheinander nachgegangen werden. Die Naturdinge sind wahr, indem sie den göttlichen Verstand nachbilden (imitantur); dieser ist ihr Maß, so wie die ,Kunst' (ars) das Maß aller hergestellten Dinge ist; und zwar bilden die Dinge den göttlichen Verstand (oder die ,Kunst' des göttlichen Verstandes) durch ihre Form (forma) nach (q. 1, a. 8, corp.). Die Formen, die die Dinge das sein lassen, was die Dinge sind, fließen aus Gottes Verstand in die Dinge über (effluunt); sie sind „ein gewisser Abdruck des göttlichen Wissens in den Dingen" (quaedam sigillatio divinae scientiae in rebus — q. 2, a. 2, ad 6). Eine nähere Entfaltung dieses Verhältnisses führt auf die Ideen, denen Thomas in De veritate (q. 3) wie dann nochmals in der Summa tbeologiae (I q. 15) eine eigene Quaestio widmet35. Idee bedeutet: exemplarische (urbildliche) Form (forma exemplaris — q. 3, a. 1, corp.) — und näher: „Form, die von etwas nachgebildet wird aus der Absicht eines Wirkenden heraus, der sich das Ziel setzt" (forma quam aliquid imitatur ex intentione agentis, qui determinat sibi finem — ebd.). Die Ideen, soweit sie hier interessieren, sind Gewußtes des göttlichen Wissens. Sie haben ihren Ort im göttlichen Verstand36, der die Ursache der außerhalb seiner existierenden Dinge ist. Sie sind Formen im Sinne des Prinzips der Formung (principium formationis) der Dinge (q. 3, a. 4, corp.). Nach ihnen sind alle geschaffenen Dinge gestaltet (vgl. q. 3, a. 1, ad 5). Die geschaffenen Dinge bilden sie nach. Es gibt in Gott nicht nur Ideen von Substanzen, sondern auch von Akzidenzien; und zwar gibt es jeweils e i n e Idee für die Substanz und diejenigen Akzidenzien, die dem Sein nach nicht von ihr getrennt werden können, während zufällige Akzidenzien eigene Ideen im göttlichen Verstand haben (q. 3, a. 7, corp.). Und: In Gott sind Ideen der Einzeldinge (denn Gott verursacht das Einzelding der Form und der Materie nach und bestimmt es in seiner Vorsehung — q. 3, a. 8, corp.)37. Die Ideen sind das Maß, dem gemäß Gott den Dingen ihre Seinsbestimmtheit zumißt; in der Entsprechung zu Ideen und damit zum göttlichen Verstand haben die Dinge ihr Maß38. Dieses empfangene Maß ist es nun aber, womit sie — Maß gebend — den menschlichen Verstand bestimmen. Ihre von Gott empfangene Seinsbestimmtheit ist das Maß für das menschliche Erkennen. Durch d i e s e l b e F o r m , durch die das Ding dem Verstand seines Schöpfers entspricht und durch die es sein Sein hat, ist es geeignet, im menschlichen Verstand eine wahre Auffassung seiner herbei-
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zuführen (q. 1, a. 8, corp.) — d.h. ist es wahr in Beziehung auf den menschlichen Verstand, ermöglicht es menschliche Erkenntnis. (Wahrheit der Dinge im Bezug zum menschlichen Verstand bedeutet nicht, daß unser Verstand die Dinge alle wirklich erkennt, wohl aber, daß er sie erkennen kann — vgl. q. 1, a. 2, ad 4.) Daran, daß die Dinge die Wahrheit des Urteils fundieren, sei hier erinnert. Das meint eben das Maß-geben der Dinge. Thomas spricht den Zusammenhang deutlich aus in der Summa contra gentiles (I 61, Ziffer 512): Die Dinge verursachen gewissermaßen das Wissen des menschlichen Verstandes — das Wißbare ist das Maß menschlichen Wissens; wahr ist ein von unserem Verstand gefälltes Urteil nämlich deshalb, weil die Sache sich so verhält, und nicht umgekehrt. Die Wahrheit der veränderlichen Dinge ist veränderlich; anders gesprochen, verändert sich ein Ding, dann auch seine Wahrheit, und zwar in eine andere Wahrheit, nicht in Falschheit (q. 1, a. 6, corp.)39. Das bedeutet: Das Maß-geben für den menschlichen Verstand geschieht beim Veränderlichen nicht ein für allemal. — Freilich verändert sich, solange das Ding existiert, das nicht, was zu seinem Wesen gehört (essentialia); Veränderung hat statt bezüglich seiner (von ihm trennbaren) Akzidenzien (q. 1, a. 6, ad 4). — D i e Wahrheit der Dinge ist gestuft (vgl. q. 1, a. 1, ad 5 und S. th. I q. 2, a. 3, quarta via). Es wurde gesagt: Die Dinge bilden durch ihre Form den göttlichen Verstand nach, und durch eben diese Form (d.h. durch ihre positive Seinsbestimmtheit) geben sie dem menschlichen Verstand das Maß, so daß dieser Wahres faßt, wenn er das Maß für sich bestimmend sein läßt. N u n gibt es aber wahre Urteile, die Verneinungen sind, und wahre Urteile, die Privationen zum Inhalt haben. .Existiert* dementsprechend ,Nichtseiendes', das mit Gottes Verstand als seinem Maß übereinstimmt, und wäre etwa Gott Urheber von Beraubungen (ζ. B. der Blindheit oder gar des Bösen)? Das kann nach Thomas nicht sein, und was über die Wahrheit der Dinge ausgeführt wurde, gilt nicht auch für das Nichtseiende und die Privationen. Hier ist vor allem De ver. q. 1, a. 8, corp. erhellend40: Im Gegensatz zu den Dingen haben die außerhalb der Seele existierenden Negationen und Privationen keine Form, durch die sie eine Idee im göttlichen Verstand nachbilden und im menschlichen Verstand eine Kenntnis ihrer selbst verursachen. Dennoch können sie mit dem Verstand übereinstimmen. Gottes Verstand erkennt sie41, und der menschliche Verstand vermag sie zu erkennen. Die Übereinstimmung mit dem menschlichen Verstand gründet aber nicht in ihnen, sondern im Verstand. Thomas
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verdeutlicht das durch den Vergleich von wahrem Stein und wahrer Blindheit. Die Wahrheit des Steines schließt in ihren Begriff den Seinsbestand (entitas) des Steines ein und fügt zu diesem das Verhältnis zum Verstand hinzu, das auch von Seiten des Steines (seines Seinsbestandes) verursacht wird. Dagegen schließt die Wahrheit der Blindheit nicht die Privation, als die die Blindheit ist, in sich, sondern nur das Verhältnis zum Verstand, das von seiten der Blindheit durch nichts gestützt wird; Angleichung von Blindheit und Verstand gründet ganz im Verstand 42 . Anderwärts nennt Thomas die Negationen und Privationen Gedankendinge (entia rationis — q. 3, a. 4, ad 3). Erkennbar sind sie als Gegensätze zu dem erkannten Positiven, als Gegensätze wahrer Dinge, die der Verstand erfaßt hat (vgl. q. 2, a. 15, corp.). — Also: Auch die Wahrheit der Negationen und Privationen ist gedoppelt. D o c h sind sie wahr in bezug auf den göttlichen Verstand nur als Erkanntes, nicht als von ihm Verursachbares. Und im Bezug auf den menschlichen Verstand sind sie wahr durch eine im Verstand, nicht in ihnen selbst gründende Ubereinstimmung mit dem Verstand. Daß die Dinge durch ihre Form den göttlichen Verstand nachbilden, läßt auch die Frage aufkommen, ob es falsche Dinge geben kann. Schon in Quaestio 1, Artikel 2 (corp.), wo die Wahrheit des Dinges in bezug auf den menschlichen Verstand in der Formulierung gefaßt wird, daß das Ding geeignet ist, zu einer wahren Beurteilung über sich zu führen, sagt Thomas, diese Wahrheit habe Falschheit zum Gegensatz, insofern es falsche Dinge gibt, die scheinen, was sie nicht sind oder wie sie nicht sind, und so zu falschen Beurteilungen verleiten. Quaestio 1, Artikel 10 erörtert dann eigens die Frage, ob es ein falsches Ding gibt43. Ist Wahrheit Angleichung (adaequatio) von Sache und Verstand, so Falschheit entsprechend Ungleichförmigkeit (inaequalitas). Wie bei Bestimmung der Wahrheit der Dinge das Verhältnis der Dinge zum göttlichen Verstand einerseits, zum menschlichen Verstand andererseits in Betracht zu ziehen war, so auch hier. Im Verhältnis zum göttlichen Verstand gibt es kein falsches Ding. Denn die Dinge stimmen mit allem, was positiv in ihnen ist, mit Gottes Verstand überein wie das Gemessene mit dem Maß und ferner wie das Erkannte mit ι dem Erkennenden; und dies letztere gilt sogar für die Negationen und Privationen. Im Verhältnis zum menschlichen Verstand gibt es indessen falsche Dinge 44 . Ein falsches Ding bietet unseren Sinnen Eigenschaften dar, die auf eine Natur des Dinges weisen, die ihm gar nicht eignet (ζ. B. falsches Gold). Da aber, sagt Thomas, unsere Erkenntnis von den Sinnen ihren Ausgang nimmt 45 , kann ein solches Ding über sich falsche Urteile des Verstandes veranlassen. Es verursacht sie nach Thomas aber nicht notwen-
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digerweise, denn urteilend handelt der Verstand gewissermaßen, und diesem Handeln eignet ein Moment der Unabhängigkeit von dem in den Sinnen Gegebenen 46 . — Es wurde gesagt, daß die Dinge durch d i e s e l b e F o r m , durch die sie den göttlichen Verstand nachbilden, dem menschlichen Verstand das Maß geben. Das deutet schon darauf hin, daß die beiden Beziehungen der Dinge zum göttlichen Verstand einerseits, zum menschlichen Verstand andererseits nicht gleichgewichtig sind. Die Naturdinge wären auch dann wahr, wenn es keinen menschlichen Verstand gäbe. Dagegen steht und fällt ihre Wahrheit mit der Existenz des göttlichen Verstandes. Der Vergleich des Dinges mit dem göttlichen Verstand ist wesentlich (essentialis), und ihm gemäß ist das Ding an sich (per se) wahr, der Vergleich des Dinges mit dem menschlichen Verstand ist zufällig (accidentalis), und ihm gemäß wird das Ding nicht absolut wahr genannt (non dicitur absolute vera — q. 1, a. 10, corp.) 47 . Schon die Auseinanderfaltung des Wahrheitsbegriffes hatte auf Gott als Wahrheits- und Seinsgrund der geschaffenen Dinge geführt und Gottes Verstand als Maß gebend, nicht Maß empfangend (mensurans non mensuratus) zur Untersuchung gestellt. Und von der Wahrheit der Dinge konnte nicht gehandelt werden, ohne daß Gott als ihr Wahrheitsgrund mitthematisch war. Sie haben ja von Gott ihr Maß empfangen und bilden den Verstand Gottes, ihres Schöpfers, nach. Gott als Wahrheitsgrund ist nun eingehender zu bedenken. Das Verhältnis Gottes zu den geschaffenen Dingen ist — unter der Hinsicht auf Wahrheit — Angleichung von Sache und Verstand. Gottes Verstand gibt den Dingen, sie schaffend, das Maß, bedeutet: Gottes Verstand gleicht sich die Dinge an (was, wie sich zeigen wird, gleichbedeutend damit ist, daß Gott die Dinge seinem Wesen als erkanntem angleicht) 48 . Es bedeutet ebensosehr: Gott gibt den Dingen Formen, die übereinstimmen mit den Ideen als Prinzipien der Formung (oder exemplarischen Formen) in Gottes Verstand selbst. Das Verhältnis solcher Ideen zu Gottes Verstand und Wesen ist jetzt näher zu bestimmen. An früherer Stelle wurde hier schon gesagt, die Dinge seien im göttlichen Verstand wie das Hergestellte (Herzustellende) im Verstand des Herstellenden (d. h. im praktischen Verstand' des Menschen). Der Vergleich Gottes, des Schöpfers, mit dem Herstellenden oder ,Künstler' (artifex) findet sich häufig bei Thomas 4 '. Die Dinge sind a l s I d e e n in Gottes Verstand wie das Hergestellte im Herstellenden. Die Ideen sind selbst nicht erzeugt (non sunt
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generatae — q. 3, a. 1, ad 5). Sie stehen in engstem Bezug zu Gottes Wesen. Dafür ist Quaestio 3, Artikel 2 (corp. und ad 6) aufschlußreich: Gott bringt alles nach einem Bild seines Wesens hervor (omnia ad similitudinem essentiae suae producit). Sein Wesen ist die Idee der Dinge, und zwar sein Wesen als von ihm erkanntes. Indem der göttliche Verstand das göttliche Wesen betrachtet, gewinnt er auch (adinvenit) die verschiedenen Weisen, wie es nachgebildet werden kann 50 , und das eben ist die Vielheit der Ideen. Die Ideen sind die vielfältigen möglichen Verhältnisse der Nachbildung und des Zurückbleibens, die Gottes Verstand zu Gottes Wesen hinzudenkt, das deshalb (als von Gott erkanntes) d i e Idee der Dinge ist51. — In diesem Sinne ist Gott die erste urbildliche Ursache aller Dinge (prima causa exemplaris omnium rerum — S. th. I q. 44, a. 3, corp. 52 ), das erste Maß (prima mensura — S. c. g. II 12, Ziffer 914). Damit ist die volle Dimension in der Frage nach Gott als Wahrheitsgrund der Dinge erreicht. Gott gibt den Dingen das Maß — gemäß dem ersten Maß, das er selbst ist53. — Gott ist der Wahrheitsgrund der Dinge. Damit ist er zugleich Wahrheitsgrund unserer Erkenntnis. Denn durch dieselbe Form, durch die die Dinge den göttlichen Verstand nachbilden, sind sie ja geeignet, den menschlichen Verstand zu einer wahren Erkenntnis über sie zu führen, und diese Form haben sie von Gott, ihrem Schöpfer, empfangen. Gott ist aber noch auf andere Weise Wahrheitsgrund der menschlichen Erkenntnis: Nicht nur, daß der menschliche Verstand von Gott geschaffen ist. Durch Gottes Einfluß wird jede Erkenntnis in uns verursacht (per eius influentiam omnis causatur in nobis cognitio — S. c. g. I 11, Ziffer 71 )54. Unsere Erkenntniskraft ist ein gewisses geistiges Licht (lumen quoddam intelligibile), das von dem ersten Licht (a prima luce) herstammt, und das gilt schon für die natürliche Erkenntniskraft, nicht erst für einen Zuwachs an Erkenntniskraft dank göttlicher Gnade (S. th. I q. 12, a. 2, corp.). Oder mit anderen Worten: All unser Erkennen verdanken wir der Teilhabe unserer Erkenntniskraft am göttlichen Licht; auch das natürliche Licht (lumen naturale) unserer Vernunft ist solche Teilhabe (S. th. I q. 12, a. 11, ad 3 — der Vergleich mit dem Sonnenlicht fehlt hier nicht, und Augustinus wird zitiert). Als Ursprung unserer Erkenntniskraft ist Gott nun aber auch Wahrheitsgrund der außer uns bestehenden Negationen und Privationen. Deren Wahrheit in bezug auf den göttlichen Verstand unterscheidet sich, wie dargestellt, von der der Dinge dadurch, daß sie mit Gottes Verstand zwar als Erkanntes übereinstimmen, nicht aber von ihm verursacht werden können; und ihre Wahrheit in bezug auf den menschlichen Verstand ist eine
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im menschlichen Verstand, nicht in ihnen selbst gründende Übereinstimmung. Nun zeigt sich: Gott ist Wahrheitsgrund auch der Negationen und Privationen in ihrem Verhältnis zum menschlichen Verstand, weil ihm die Erkenntniskraft verdankt wird, durch die der menschliche Verstand hier Ubereinstimmung von ,Sache' und Verstand herstellen kann (vgl. hierzu S. th. I q. 16, a. 5, ad 3). Daß Gott Wahrheitsgrund der menschlichen Erkenntnis ist, heißt schließlich: Gott hat den menschlichen Verstand mit den ersten Prinzipien ausgerüstet. Die Wahrheit der ersten Prinzipien, die allen unseren Urteilen zugrunde liegt, geht aus der Wahrheit des göttlichen Verstandes in den menschlichen Verstand über (q. 1, a. 4, ad 5)55. Die Erkenntnis der ersten Prinzipien ist uns eingeboren (innata — q. 10 a. 6, ad 6)56. Gott ist Wahrheitsgrund der Dinge. Er ist der Ursprung unserer Erkenntniskraft (und damit auch der Wahrheit der Negationen und Privationen) sowie der Wahrheit der ersten Prinzipien im menschlichen Verstand. Er ist der Anfangsgrund aller geistigen Erkenntnis (totius intellectualis cognitionis principium — S. c. g. III 54, Ziffer 2312). A l l e Wahrheit gründet in ihm, und zwar insofern er selbst wahr, d. h. die erste Wahrheit ist (vgl. q. 1, a. 8)57. In welchem Sinne sich von Wahrheit in bezug auf Gott selbst sprechen läßt, ergibt sich zunächst aus schon Ausgeführtem. Wahrheit ist in G o t t als Angleichen der Dinge an die Ideen und das heißt an Gottes Wesen als erkanntes, an Gott selbst als das erste Maß. Gott ist die erste Wahrheit, deren Abbild (similitudo) die Wahrheit der ersten Prinzipien in unserem Verstand ist (q. 1, a. 4, ad 5)58. In Gott ist die Wahrheit seines Wissens der geschaffenen Dinge, ihrer Ideen sowie der Ideen von solchem, das weder ist noch war noch sein wird, seines Wissens der Negationen und Privationen, seines Wissens des zukünftigen singulären Kontingenten, vor allem aber des Wissens seines eigenen Wesens. Über die Wahrheit in Gott erfährt man Näheres in Quaestio 1, Artikel 7 (corp.). Wird hier Wahrheit im eigentlichen Sinn (proprie) genommen, so bedeutet sie Gleichförmigkeit des göttlichen Verstandes und der Sache (aequalitas divini intellectus et rei). Sache meint jetzt einerseits Gottes Wesen, andererseits die geschaffenen Dinge. Die Gleichförmigkeit des göttlichen Verstandes und der Sache, die sein Wesen ist (quae est essentia eius), ist die ursprünglichere Bedeutung der Wahrheit gegenüber der Gleichförmigkeit des göttlichen Verstandes mit den geschaffenen Dingen, denn durch sein Wesen erkennt Gott alles andere. In jener ursprünglicheren Bedeutung ist nicht das Verhältnis von Maß-gebendem und Maß-empfan-
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gendem zu denken — weder gibt Gottes Verstand Gottes Wesen das Maß noch umgekehrt (keins ist hier Prinzip des anderen), vielmehr sind sie völlig dasselbe (omnino idem). Erkennender und erkannte Sache sind hier dasselbe, und so auch die Wahrheit der Erkenntnis und der Sache. — Gott i s t die in sich einige Wahrheit seines Wesens (und das heißt zugleich seines Seins) 59 und seiner Selbsterkenntnis, und als solche ist er die erste Wahrheit, von der alle andere Wahrheit abhängt 60 . — Da Gott nicht nur wahr, sondern die Wahrheit selbst ist, ist er die reinste Wahrheit (purissima Veritas), sind Irrtum, Täuschung, Falschheit schlechterdings von ihm ausgeschlossen; das heißt zugleich, daß er wahrhaftig (verax) ist (S. c. g. I 61). Wenn Thomas die Wahrheit in Gott versteht als Gleichförmigkeit des göttlichen Verstandes und der Sache, denkt er die Wahrheit in Gott in Einklang mit dem früher erarbeiteten formalen Begriff der Wahrheit. Nun hatte Thomas aber bei Behandlung der Wahrheit im menschlichen Verstand herausgestellt, daß zur Wahrheit als Angleichung eine Differenz gehört, daß Angleichung eine Gleichförmigkeit von Verschiedenem (aequalitas diversorum) ist — ein Selbes wird nicht sich selbst angeglichen, hieß es (vgl. S. 36). Das hatte bezüglich der Wahrheit im menschlichen Verstand zur Konsequenz, daß der Wahrheit im zusammensetzenden und trennenden Verstand der Vorrang zukommt gegenüber der Wahrheit der Wesenserfassung (so daß schließlich bei der Wesenserfassung eigentliche und uneigentliche Wahrheit unterschieden werden und die eigentliche Wahrheit der Wesenserfassung auf einem Zusammensetzen beruht und damit von der Wahrheit des Urteils nicht mehr wirklich verschieden ist — vgl. S. 38 f.). Jetzt ergibt sich die Frage: Kann nicht in Gott nur von einer Wahrheit gesprochen werden, die vergleichbar ist der uneigentlichen Wahrheit der vom menschlichen Verstand vollzogenen W e s e n s e r f a s s u n g (wenn sie sie auch übertrifft), nicht jedoch von einer Wahrheit, die der Wahrheit im u r t e i l e n d e n Verstand des Menschen vergleichbar wäre? Gott ist im höchsten Grade einfach (summe simplex — q. 2, a. 1, corp.). Also sind in Gott Erkennen und Sein dasselbe, und also ist sein Erkennen notwendigerweise einfach, keinesfalls zusammensetzend (vgl. S. C. g. I 45, Ziffer 388). Das gilt für seine Erkenntnis seines Wesens, bei der ja Erkennender und erkannte Sache völlig dasselbe sind, wie auch für seine Erkenntnis der geschaffenen Dinge, da er sie durch sein Wesen erkennt 61 . So führt Thomas denn aus (S. c. g. I 58, Ziffer 486 und 489): Gott erkennt alles, indem er sein Wesen erkennt (cognoscendo essentiam suam) — sein Wesen erkennt er nicht durch Zusammensetzen und Trennen, denn er erkennt sich so, wie er ist, und er ist einfach — er „erkennt also nicht auf die
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Weise des zusammensetzenden und trennenden Verstandes" (Non igitur intelligit per modum intellectus componentis et dividends); in seinem Verstand gibt es „allein die einfache Erfassung der Sache" (solum simplex rei acceptio). Gottes Erkenntnis läßt sich, so scheint es, der vom Urteilen noch verschiedenen Stufe der menschlichen Wesenserfassung und nur ihr vergleichen. Andererseits kann es für Thomas nicht angehen, Gottes Erkenntnis nicht als zuhöchst vollkommen zu verstehen (vgl. S. c. g. I 47). Wie begegnet er dieser Schwierigkeit? Da wäre zunächst folgender Gedanke anzuführen (S. c. g. I 59, Ziffer 497): Gott ist einfach u n d vollkommen; er hat alle Vollkommenheiten, die sich in anderem Seienden durch eine gewisse Anhäufung (per quandam aggregationem) vorfinden, als einfacher; so hat er in seiner Einfachheit auch die Vollkommenheiten der Erkenntnis in sich, die uns, deren Erkenntnis an die Vollkommenheit der göttlichen nicht heranreicht, als zwei Erkenntnisweisen zukommen, als Erkenntnis des Unzusammengesetzten (Wesenserfassung) und als sie übertreffende Erkenntnis des Zusammengesetzten (Zusammensetzen und Trennen). — Hierzu ist zu sagen, daß die Diskrepanz zwischen der Auffassung, zur Wahrheit als Angleichung gehöre eine Differenz, und der Bestimmung der Wahrheit der göttlichen Erkenntnis als schlechthin einfach bestehenbleibt. Aber Thomas gibt noch anderes zu bedenken: Zwar erkennt Gott nicht durch Zusammensetzen und Trennen, aber er erkennt doch auch das Zusammengesetzte, dessen Urbild er ja selbst ist, und so kennt er Urteile (S. c. g. I 58, Ziffer 491 f.); „was der göttliche Verstand im Erkennen sagt, ist Zusammensetzung und Trennung" (illud quod intellectus divinus intelligendo dicit est compositio et diviso — S. c. g. I 59, Ziffer 495). Gott „urteilt" (iudicat) über alles (S. th. I q. 16, a. 5, ad 1)! Hier wird Gottes Erkennen soweit wie möglich an das Zusammensetzen und Trennen unseres urteilenden Verstandes herangerückt. Doch ist offensichtlich, daß damit zunächst für die Wahrheit als Gleichförmigkeit des göttlichen Verstandes mit der ,Sache, die Gottes Wesen ist', noch nichts gewonnen ist, sondern allenfalls für die dieser Wahrheit folgende Wahrheit als Gleichförmigkeit des göttlichen Verstandes mit den geschaffenen Dingen. Thomas müßte noch einen Schritt weiter gehen und annehmen, daß Gott ü b e r s e i n W e s e n ,urteilt'. Vom menschlichen Vollzug der Wesenserfassung war schließlich zu sagen (vgl. S. 38): Der Verstand urteilt, daß sich die Sache so verhält wie die Form, die er aufgefaßt hat. Kann ähnliches von Gott behauptet werden bezüglich der ,Sache, die sein Wesen ist'? In S. c. g. I 59,
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Ziffer 496 heißt es, daß Gott sein Wesen als seines (suam quidditatem ut suam) erkennt. Das soll gemäß dem Kontext im Sinne einer Zusammensetzung verstanden werden, wie sie beim Definieren vorkommt. Es ist aber klar, daß auch dieses ,Urteilen' Gottes, wie das über geschaffene Dinge, ohne eine Tätigkeit des Zusammensetzens stattfinden müßte, und ein solches ,Urteilen' übersteigt jedenfalls unser Vorstellungsvermögen62. So zitiert Thomas denn auch im Umkreis dieser Überlegungen Jesaja 55, 8: „meine Gedanken sind nicht eure Gedanken" (S. c. g. I 58, Ziffer 493). Das führt auf die Frage nach der Wahrheit des philosophischen Denkens, das Gott als erste Wahrheit und Wahrheitsgrund denkt". Kann sie Angleichung von Verstand und Sache sein? Es ist bei Thomas klar, daß die (oben dargestellten) Gedanken über Gott als Seinsgrund aller Dinge, als Wahrheitsgrund alles Wahren und erste Wahrheit ihre volle Dimension erst erhalten in Verbindung mit den Wahrheiten, zu deren Erfassung die natürliche Vernunft des Menschen schlechterdings nicht zureicht, die ihm einzig als von Gott geoffenbarte zugänglich sind und die er nur im Glauben ergreifen, dann freilich auch theologischwissenschaftlich entfalten kann. Dennoch ist nach Thomas' Verständnis Glaubenswahrheit nicht erfordert, um die Verbindlichkeit jener Gedanken zu begründen oder zu stützen. Die natürliche, von Offenbarung und Glauben unabhängige Vernunft eines jeden Menschen muß sie anerkennen, wenn sie nur fähig ist, auf diesem Niveau zu denken. Dazu gehört jedoch zugleich, daß die Vernunft der hier eingeschlagenen Denkwege und der auf ihnen erreichbaren Wahrheit inne ist. Es wurde schon einmal erwähnt (S. 44), daß Thomas wie Aristoteles der Auffassung ist, unsere Erkenntnis nehme von den Sinnen ihren Ausgang. Das gilt auch für die menschliche Gotteserkenntnis und bedeutet hier, daß Gott durch die natürliche Vernunft erkannt wird aus seinen Wirkungen in der geschaffenen Welt. Aus Gottes Wirkungen sind Beweise seines Daseins möglich — Thomas hat in der Summa tbeologiae (I q. 2, a. 3, corp.) fünf Beweise für Gottes Dasein vorgelegt. Diese fünf Wege (quinque viae) führen zugleich zu dem Ergebnis, daß Gott von der natürlichen Vernunft des Menschen angesprochen werden kann als erstes Bewegendes (primum movens), erste Wirkursache (prima causa efficiens), durch sich notwendig (per se necessarium), im höchsten Grade seiend (maxime ens) und Ursache des Seins, Gutseins und jeglicher anderen Vollkommenheit alles übrigen Seienden, schließlich als „geistiges Wesen, von dem alle Naturdinge auf ihr Ziel hingeordnet werden" (aliquid intelligens, a quo omnes res naturales
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ordinantur ad finem). Gleichwohl erklärt Thomas immer wieder mit größter Bestimmtheit, daß die menschliche Vernunft nicht fähig ist, durch ihre natürlichen Kräfte Gottes Wesen zu schauen (vgl. etwa S. th. I q. 12, a. 4, corp.). Er argumentiert: Erkenntnis findet statt, indem das Erkannte im Erkennenden ist, und das kann es nur sein gemäß der Seinsweise (modus) des Erkennenden; geht die Seinsweise einer zu erkennenden Sache über die Natur des Erkennenden hinaus, dann auch die Erkenntnis dieser Sache (vgl. ebd.). Das ist aber bei Gottes Wesen und also der Erkenntnis seines Wesens in bezug auf den menschlichen Verstand der Fall. Hier ist auf folgendes zu verweisen: Die Natur des Menschen ist, solange er lebt, dadurch bestimmt, daß die Seele an den Körper gebunden ist (ihr Sein in körperlichem Stoff hat); dementsprechend erkennt der Mensch durch seine natürlichen Erkenntniskräfte nur solche Dinge, die ihre Form (ihre Wesensgestalt) im Stoff haben, und das, was durch solche Dinge erkannt werden kann; Gottes Wesen kann aber nicht durch die Natur stofflicher Dinge erkannt werden (S. th. I. q. 12, a. 11, corp.). Oder, anders gewendet: Unsere natürliche Erkenntnis hebt von den Sinnen an; sie kommt nicht weiter, als die Sinnendinge sie leiten, und deshalb kommt sie nicht zur Schau des Wesens Gottes; denn die Sinnendinge sind Wirkungen Gottes, die der Kraft ihrer Ursache nicht gleichkommen (virtutem causae non adaequantes), diese Kraft und damit Gottes Wesen also nicht erkennen lassen (S. th. I q. 12, a. 12, corp.). Im Ausgang von den Sinnendingen, auf den unsere natürliche Vernunft angewiesen bleibt, gelangen wir nach Thomas zur Erkenntnis des Daseins Gottes, nicht jedoch seines Wesens. Das heißt zugleich: Jene Namen oder Begriffe, die im Zusammenhang mit den Beweisen für Gottes Dasein Gott beigelegt werden können, fassen zwar Wahres, können aber nicht beanspruchen, Gottes Wesen zu fassen. Das läßt sich auch positiver ausdrücken: Jene Namen oder Begriffe fassen zwar Gottes Wesen nicht, dennoch sind sie von Gott wahr. Es ergäbe keinen Sinn, ζ. B. Gottes Dasein aus der Bewegung in der sichtbaren Welt zu beweisen und doch, wenn sich zeigt, daß ein erstes Bewegendes existieren muß, nur die Existenz, nicht auch den Begriff „erstes Bewegendes" als wahr anzusehen. Thomas steht sogar nicht an, Notwendigkeit zu beanspruchen für alles, was wir von Gott erkennen im Zusammenhang damit, daß er die erste Ursache von allem ist, die alles von ihr Verursachte überragt (siehe S. th. I q. 12, a. 12, corp.: . . . u t cognoscamus de ipso ea quae necesse est ei convenire secundum quod est prima omnium causa, excedens omnia sua causata). Es gibt also eine verbindliche Gotteserkenntnis der natürlichen Vernunft, die über das Dasein Gottes hinausreicht, wenngleich sie keinesfalls Gottes Wesen erfaßt64.
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Die Gotteserkenntnis braucht nicht bei den Namen oder Begriffen stehenzubleiben, so wie sie unmittelbar mit den Gottesbeweisen als wahr aufgefaßt werden. Andere Erkenntniswege stehen ihr offen. Für die Absicht, die dieses Kapitel noch verfolgt, genügt es, im folgenden die Artikel 1 und 11 der Quaestio 2 von De veritate sowie ein Kapitel der Summa contra gentiles (I 34) heranzuziehen. Zunächst die in diesem Zusammenhang wichtigen Gedanken in De ver. q. 2, a. 1 (corp., ad 3 und ad 9): Unsere Gotteserkenntnis vollzieht sich in vielen Begriffen (und entsprechend geben wir Gott viele Namen — Namen sind „Zeichen für die Begriffe", signa intellectuum). Ein solcher Begriff ist ,Wissen' — wir schreiben Gott Wissen zu, wir nennen ihn einen Wissenden. Nun ist aber Gott einfach. In ihm muß alles, was wir in getrennten Begriffen von ihm sagen, e i n e s sein. Sind dann nicht unsere Begriffe von Gott falsch? Das wären sie, wenn ihnen in der Sache nichts zugrunde läge (si nihil subesset in re). Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr erfüllen sie, was von einem wahren Begriff erfordert ist, nämlich daß er durch eine gewisse Verähnlichung (per quamdam assimilationem) die erkannte Sache darstellt (repraesentat). A b e r : Die Wahrheit unserer Begriffe von Gott unterscheidet sich doch erheblich von der Wahrheit unserer Begriffe von geschaffenen Dingen. Ein Begriff, der durch eine gewisse Verähnlichung ein geschaffenes Ding darstellt, ist ein Abbild (similitudo) des Dinges nach dessen ganzer Vollkommenheit (secundum totam perfectionem ipsius). Das ist unmöglich, wenn wir Gott in einem Begriff zu fassen versuchen. Hier erreichen wir nur eine mäßige Nachbildung (aliquam modicam imitationem). Das ist schon dadurch offensichtlich, daß wir eben vieler Begriffe bedürfen, um die in Gott einige, einfache Vollkommenheit zu denken. Adäquat könnte Gottes Vollkommenheit nur in e i n e m Begriff gedacht werden, und das ist uns gerade unmöglich. So gelangen wir zu Begriffen von Gott, die wahr sind, weil sie etwas von Gottes Vollkommenheit fassen, und deren Wahrheit notwendig unvollkommen ist — Gottes Wesen entspricht jedem von ihnen wie eine Sache einem unvollkommenen Bild von ihr (sicut res suae imagini imperfectae). Was es bedeutet, daß ein Begriff von Gott wahr, aber doch nur ein unvollkommenes Bild von Gott ist, wird von Thomas noch näher bestimmt. Da Gott einfach ist, muß jeder wahre Begriff von ihm ihn ganz, und nicht nur einen Teil von ihm fassen. Aber ein Begriff unseres Verstandes, der Gott ganz faßt, faßt den ganzen Gott nicht gänzlich (non totaliter). Was das heißt, erläutert Thomas an einem Beispiel. Jemand, der daraufhin, daß alle es sagen, sich die Erkenntnis zu eigen macht, die Diagonale sei mit
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der Seite nicht kommensurabel, faßt den Sachverhalt ganz; er erkennt ihn aber nicht gänzlich, weil er den Beweis für die Inkommensurabilität von Diagonale und Seite nicht erkennt — seine Erkenntnis bleibt auf der unvollkommenen Ebene der W a h r s c h e i n l i c h k e i t (cognoscit probabiliter). Auf dieser Ebene vollzieht sich die Erkenntnis unserer natürlichen Vernunft, die zu fassen versucht, was Gott ist. Was immer unser Verstand von Gott begrifflich erfaßt, stellt Gott nur mangelhaft dar (est deficiens a repraesentatione eius). Was Gott ist, „bleibt uns immer verborgen" (semper nobis occultum remanet). Unsere höchste irdische Erkenntnis von Gott ist die, „daß Gott über alles hinaus ist, was wir von ihm denken" (Deum esse supra omne id quod cogitamus de eo). — Unsere natürliche Vernunft erkennt Gott als Wahrheitsgrund. Die Begriffe, in denen diese Erkenntnis sich vollzieht, sind von Gott wahr, ihnen liegt in Gott etwas zugrunde, sie sind verbindlich, sind zwingend. Dennoch erreichen sie Gottes Wesen nicht. Sie sind mäßige Nachbildungen seines Wesens, unvollkommene Bilder, mangelhafte Darstellungen. Ihre Wahrheit ist unvollkommen. Gott bleibt dieser Erkenntnis in seinem Wesen verborgen, so daß sie, so zwingend sie für die natürliche Vernunft auch ist, doch — von dem verborgenen Wesen Gottes her beurteilt — auf der Ebene der Wahrscheinlichkeit bleibt. Das ist das Paradoxe dieser Erkenntnis. Zu dem Zwingenden unserer Begriffe, in denen wir Gott als Wahrheitsgrund zu fassen versuchen, gehört die ebenso zwingende Einsicht, daß sie alle unvollkommen sind, Gott nicht gänzlich fassen. Die Wahrheit unserer Erkenntnis des göttlichen Wahrheitsgrundes i s t n i c h t Angleichung von Verstand und Sache. Das Denken, mit dem wir die Wahrheit unserer Erkenntnis der Dinge und die Wahrheit der Dinge aus ihrem Wahrheitsgrund zu verstehen suchen, ist nicht in demselben Sinne wahr, wie unsere Erkenntnis der Dinge es ist65. Angleichung von Verstand und Sache ist ihm versagt. Läßt sich mehr über dies Denken sagen66? Thomas h a t mehr darüber gesagt. Hier ist nun zunächst auf De veritate, Quaestio 2, Artikel 11 (corp.) einzugehen. Der Artikel fragt danach, ob wir, wenn wir Gott und uns selbst Wissen zusprechen, den Ausdruck ,Wissen' rein äquivok gebrauchen. (Daß die Frage für den Ausdruck ,Wissen' gestellt wird, ist innerhalb eines Werkes über die Wahrheit natürlich kein Zufall und kommt der Absicht, die das Ende dieses Kapitels leitet, entgegen. Thomas hätte aber ebensogut andere Ausdrücke in den Mittelpunkt stellen können, in denen wir positiv auszusprechen versuchen, was Gott ist. Der Denkweg der Analogie, den der Artikel bestimmen wird, ist neben dem Beweisen d e r
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positive Weg, auf dem unsere natürliche Vernunft Gott erkennen kann 67 .) — Nach allem, was über die Begriffe, in denen wir positiv etwas in Gott fassen, schon ausgeführt wurde, leuchtet es rasch ein, daß wir von Gott und den Geschöpfen nichts univok sagen können. Wenn ein Name univok von Verschiedenem gebraucht wird (ζ. B. ,Tier' von Hund und Katze), kommt diesem gemeinsam der Begriff des Namens zu, und das heißt, es ist in einer Hinsicht gleich (in aliquo aequalia sunt), in der Hinsicht nämlich auf sein Wassein. Das ist bei Gott und den geschaffenen Dingen nicht möglich. Bedeutet das nun, daß wir Ausdrücke wie ,Wissen' nur rein äquivok 68 von Gott und von Geschöpfen gebrauchen können, daß wir Gott und Geschöpfen also zwar einen gemeinsamen Namen beilegen, darüber hinaus aber nicht die geringste sachliche Gemeinsamkeit (wie das etwa der Fall ist, wenn wir ein Blumenarrangement und einen Vogel bestimmter Art,Strauß' nennen)? Auch das ist ausgeschlossen. Die geschaffenen Dinge bilden ja Gottes Wesen als ihr Urbild nach, und Gott erkennt sie, indem er sein Wesen erkennt. Thomas fügt noch hinzu: Bei äquivoker Redeweise könnte unter den Namen, die den geschaffenen Dingen beigelegt werden, nicht einer geeigneter sein als der andere, auch von Gott gesagt zu werden, was doch der Fall ist; der eine hätte ja so wenig sachliche Ubereinstimmung mit Gott wie der andere. Es bleibt nur übrig, daß wir Ausdrücke, die wir von Gott und den geschaffenen Dingen gemeinsam aussagen, analog gebrauchen 69 . W i r sagen den Namen ,Wissen' von Gottes Wissen und unserem Wissen nach einer Analogie (secundum analogiam) aus, und das bedeutet: nach einem Verhältnis (secundum proportionem). Hier wird nun von Thomas differenziert. Es gibt zweierlei Übereinstimmung (convenientia) nach einem Verhältnis. 1. Ubereinstimmung zwischen solchem, das in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander steht von der Art, daß es einen bestimmten Abstand oder eine andere bestimmte Beziehung (determinatam distantiam vel aliam habitudinem) zueinander hat. Beispiel: Die Zwei und die Eins, deren Doppeltes die Zwei ist. 2. Ubereinstimmung von zweien, zwischen denen kein Verhältnis (proportio) besteht, sondern bei denen Ähnlichkeit (similitudo) zweier Verhältnisse vorliegt. Beispiel: Die Sechs kommt überein mit der Vier, weil so, wie die Sechs das Doppelte der Drei ist, die Vier das Doppelte der Zwei ist. Die erste Art der Ubereinstimmung nennt Thomas Ubereinstimmung der Proportion, die zweite dagegen Ubereinstimmung der Proportionalität. Thomas bringt weitere Beispiele, mit denen der Bereich des Mathematischen verlassen wird. Analog im Sinne der Ubereinstimmung der Proportion sprechen wir der Substanz und dem Akzidens das ,seiend' zu, und dem Urin und dem Lebewesen das Gesund-
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sein (der gesunde Urin zeigt die Gesundheit des Lebewesens an). Analog im Sinne der Ubereinstimmung der Proportionalität gebrauchen wir den Ausdruck Sehen (visus) vom körperlichen Sehen und von der Einsicht (intellectus), weil so, wie das Sehen im Auge ist, die Einsicht im Geist ist. — Die Analogie der ersten Art ist untauglich, um etwas von Gott und den Geschöpfen gemeinsam auszusagen. Sie erfordert ja eine bestimmte Beziehung (determinatam habitudinem), kein Geschöpf hat aber zu Gott eine solche Beziehung, daß durch sie Gottes Vollkommenheit bestimmt werden (determinari) könnte. Nach der Analogie der zweiten Art jedoch können Namen von Gott und den Geschöpfen analog gesagt werden, kann Gott und den Geschöpfen etwas gemeinsam sein. Bei diesen Namen ist aber etwas Wichtiges zu beachten, das zugleich zur Abgrenzung der in bezug auf Gott möglichen Analogie von der symbolischen Rede über Gott führt. Namen, die von Gott und den Geschöpfen analog gesagt werden sollen, dürfen in ihrer Grundbedeutung nichts enthalten, worin Gott und die Geschöpfe nicht übereinstimmen können; in ihrer Definition darf kein Mangel mit eingeschlossen sein, und das, was sie bezeichnen, darf seinem Sein nach nicht von der Materie abhängig sein. Diese Bedingungen werden erfüllt von Namen wie: ,seiend', ,gut' und anderen dieser Art (et alia huiusmodi) — also auch ,wahr'. Sie werden nicht erfüllt von Namen wie ,Löwe', ,Sonne'. Wenn wir also Gott ,Löwe' nennen oder ,Sonne', sagen wir etwas symbolisch (symbolice) von ihm. Wir weisen auf etwas in Gott (ζ. B. auf seine Kraft) mit einem Namen, der von den Geschöpfen genommen ist, Gott und den Geschöpfen aber nicht gemeinsam sein kann. — Wir können analog bei uns und bei Gott von Wissen sprechen. Versucht man, in Entsprechung zu dem zweiten Beispiel, das Thomas für die Analogie der Proportionalität gegeben hat, die Analogie für das Wissen zu formulieren, gerät man in eine gewisse Schwierigkeit. Im Beispiel wurde das Sehen analog vom körperlichen Sehen und von der Einsicht gesagt. Jetzt soll das Wissen analog gesagt werden vom menschlichen Wissen und — wovon in Gott? Was gehört an die Stelle, die im Beispiel die Einsicht einnahm? Das göttliche Erkennen? Aber wäre das nicht nur ein anderer Name für ,Wissen'? Soll man also formulieren: Wissen sagen wir analog vom menschlichen Wissen und von Gottes Wissen, weil so, wie das (menschliche) Wissen im menschlichen Verstand ist, das (göttliche) Wissen im göttlichen Verstand ist? Das bleibt unbefriedigend, und die Klammerzusätze verdeutlichen noch die Verlegenheit. Thomas hat denn auch schon in der Summa contra gentiles (I 34) die Frage nach unserer analogen Gotteserkenntnis anders, einfacher und unter Verzicht auf die Analogie der Propor-
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tionalität beantwortet70. Das sieht so aus: Etwas analog aussagen bedeutet, etwas aussagen „gemäß einer Hinordnung oder Beziehung auf ein Eines" (secundum ordinem vel respectum ad aliquid unum). Hier müssen nun zwei Möglichkeiten unterschieden werden. Entweder vieles hat Beziehung auf eines. (S. c. g. und S. th. I q. 13, a. 5, corp. verwenden hier dasselbe Beispiel, S. th. jedoch mit größerer Deutlichkeit: Die Medizin und der Urin — ferner auch die Speise, S. c. g. — werden gesund genannt, insofern sie Beziehung haben auf die Gesundheit des Lebewesens.) Oder es handelt sich um eine Beziehung von zweien, und zwar nicht auf ein anderes, sondern auf eines von ihnen selbst. (In diesem Sinn wird das ,seiend' von Substanz und Akzidens gesagt; beide haben nicht eine Beziehung auf ein Drittes, sondern das Akzidens hat eine Beziehung auf die Substanz.) Was von Gott und den Geschöpfen analog gesagt wird, gehört zur zweiten der genannten Arten. Diese ist noch einmal einzuteilen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder es besteht zwischen den beiden Beziehungsgliedern dieselbe Ordnung von ,früher' und ,später' sowohl hinsichtlich des Namens bzw. der Erkenntnis als auch hinsichtlich der Sache. (Das ist der Fall ζ. B. bei Substanz und Akzidens: Die Substanz ist der Erkenntnis nach früher als das Akzidens, insofern sie in der Definition des Akzidens vorkommt, und sie ist der Sache oder der Natur nach früher, insofern sie Ursache des Akzidens — causa accidentis — ist.) Oder die Ordnung hinsichtlich des Namens und der Erkenntnis einerseits, hinsichtlich der Sache andererseits ist verschieden. So ist es auch bei dem, was von Gott und den Geschöpfen analog ausgesagt wird. Die Sache, die wir in den von Gott und den übrigen Dingen analog gesagten Namen ausdrücken, ist in Gott früher. (Er ist ja Ursache alles übrigen.) Der Name oder die Erkenntnis aber ist früher als Name oder Erkenntnis von den geschaffenen Dingen. Die geschaffenen Dinge, also das von Gott Verursachte, benennen und erkennen wir früher, und Gott benennen wir von dem von ihm Verursachten her. — Dieses Ergebnis der Summa contra gentiles ist zu verknüpfen mit dem Gedanken, der Thomas in De veritate bestimmt haben dürfte, die analoge Gotteserkenntnis als Analogie der Proportionalität im Unterschied zu der der Proportion zu fassen: Daß zwischen den Geschöpfen und Gott ein schlechterdings nicht bestimmbarer, ein „unendlicher Abstand" (infinita distantia — q. 2, a. 11, ad 4) besteht. Entsprechend schärft die Summa theologiae bei der Behandlung unserer analogen Gotteserkenntnis ein, daß in Gott als Ursprung und Ursache alle Vollkommenheiten der Dinge in herausragender Weise vorausexistieren (excellenter praeexistunt — I q. 13, a. 5, corp.). — Weil Gottes Vollkommenheit die Vollkommenheiten der Geschöpfe unendlich über-
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trifft, können wir ja keinen N a m e n von uns und ihm in univoker Rede aussagen. Weil aber andererseits die Vollkommenheiten der Geschöpfe in Gottes Vollkommenheit ihre Ursache haben — ein Gedanke, der durch einen Gottesbeweis (S. th. I q. 2, a. 3, corp., 4. Beweis) gestützt ist —, ist analoge Gotteserkenntnis möglich. Unsere Erkenntnis Gottes als des Wahrheitsgrundes kann sich, was die Existenz Gottes betrifft, auf Beweise beziehen (auch wenn das in De veritate nicht ausdrücklich geschieht). Was sie darüber hinaus erfaßt, erlangt sie in analogischem Denken. Das ist durch Thomas' eigene Ausführungen ohne weiteres klar für Gottes Wissen und dafür, daß Gott selbst wahr genannt wird. Es leuchtet aber ebensosehr ein bezüglich des Maßgebens, das gemeinsam gesagt wird vom praktischen Verstand des Menschen (des ,Künstlers') und von Gottes schöpferischem Verstand — oder von der ,Kunst' (ars) des Menschen und der Gottes. Bei allen drei G r u n d bestimmungen, in denen wir Gott als Wahrheitsgrund denken, ist auch der ,unendliche Abstand' gegenwärtig zwischen Gott und dem, wovonher wir zuerst den Namen nehmen. Gottes Maß-geben übertrifft das Maß-geben, das der Mensch als ,Künstler' (artifex) vollzieht, unendlich, insofern der Mensch bei allem, was er hervorbringt, Stoff verwenden muß, der schon existiert, während Gott auch den Stoff hervorbringt und darum wahrhaft Schöpfer ist71. Gottes Wissen überragt das menschliche, und dies auch deshalb, weil in ihm die Vollkommenheiten getrennter Erkenntnisvollzüge des Menschen schlechthin eins sind (vgl. S. 49 sowie ferner q. 2, a. 1, ad 4). Gottes Wahrheit wird von der Wahrheit alles übrigen bei weitem nicht erreicht, denn er allein ist die Wahrheit selbst, ist die völlige Identität seines Verstandes und seines Wesens, der Wahrheit im Erkennenden und der der erkannten Sache (vgl. S. 47 f.). Der Denkweg der Analogie ermöglicht uns eine wahre Erkenntnis von Gott als Wahrheitsgrund, eine Erkenntnis aber eben, deren Wahrheit nicht die Angleichung unseres Verstandes an die Sache sein kann und die, indem sie des göttlichen Ubertreffens inne ist, auf Gottes Verborgenheit für uns (jedenfalls in diesem Leben) hinausweist 72 . Davon wird auch unser Denken der gedoppelten Wahrheit der Dinge, ja Thomas' ganze Wahrheitstheorie betroffen. Thomas geht von der Grundüberzeugung aus, daß jedes Seiende ein Wahres ist, und es kommt für ihn darauf an, zu bestimmen, was das heißt und wie das möglich ist. Auf der anderen Seite untersucht er die Wahrheit der menschlichen Erkenntnis, und auch hier fragt es sich, was sie ist und wie sie möglich ist. Die seit Piaton und Aristoteles lebendigen Fragestellun-
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gen aufgreifend, gelangt er zu einer Antwort auf die Wahrheitsfrage, die im Horizont christlicher Metaphysik die platonische Grundposition verwandelt wiederholt und zugleich an aristotelischen Einsichten festhält. ,Wahrheit ist Angleichung von Sache und Verstand' — diese Formel der Wahrheit ist durch Thomas klassisch geworden. Das in ihr sich ausdrükkende Wahrheitsverständnis war schon bei Piaton und Aristoteles anzutreffen. Thomas hat diese Formel nach allen in ihr beschlossenen Hinsichten systematisch entfaltet. Dabei steht das Verhältnis der Hinordnung im Vordergrund, das sich im Anblick des Maß-gebens und Maß-empfangens zeigt. Gewichtungen unter dem mannigfaltigen Wahren (wahres Ding, wahres Urteil, Wesenserfassung) werden von Thomas vorgenommen, die aristotelische Tendenzen fortzusetzen scheinen und jedenfalls die Wahrheit des Urteils auch für die Folgezeit weiter zur Vorherrschaft bringen. Die Formel der Wahrheit bewährt sich bei Thomas an den Dingen. Aristoteles' Antwort auf die Frage nach der Wahrheit des Seienden (ontologische Wahrheit 73 ) war nicht eindeutig. Thomas' Antwort ist es, wie diejenige Piatons es war. Der Hinordnung des Seienden auf den menschlichen Verstand bei Thomas verwandt ist Piatons Gedanke, daß die Ideen und die erkennende Vernunft des Menschen in ein Joch zusammengespannt sind. Thomas verdoppelt die Hinordnung: Die Dinge sind auch und primär wahr in der Hinordnung auf Gottes Verstand, von dem sie das Maß empfangen. Doppelte Hinordnung, Maß-empfangen und Maß-geben, lassen das platonische Wahrheitsverständnis, daß Wahrheit Unverborgenheit sei, zurücktreten. Bei Piaton ,bescheint' die Idee des Guten die Ideen und läßt sie (und mittelbar das übrige Seiende) unverborgen sein. Die Erkennbarkeit der geschaffenen Dinge für unseren Verstand, wie Thomas sie in den zentralen Texten zur Wahrheitsfrage darlegt, als Unverborgenheit auffassen zu wollen, gäbe wenig Sinn74. (Daß das lateinische Wort für Wahrheit die Bedeutung ,Unverborgenheit' nicht anklingen läßt, sei am Rande vermerkt, kann aber nicht als ausschlaggebend angesehen werden.) — Ubereinstimmend mit Piaton und Aristoteles sieht Thomas die Wahrheit der Urteile in den Dingen fundiert. Thomas stellt ein Rangverhältnis her zwischen der Wahrheit der Dinge in ihrem Verhältnis zum menschlichen Verstand und der Wahrheit im menschlichen Verstand, und zwar zugunsten der letzteren. Damit setzt er geschichtlich die Tendenz fort, die bei Aristoteles dazu führte, daß er sogar sagen konnte, das Falsche und das Wahre seien nicht in den Dingen, sondern nur im Denken. — Die Formel der Wahrheit bewährt sich bei Thomas auch an den Urteilen. Was die Wahrheit der Urteile betrifft, kann er sich kurz fassen
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und in Anspruch nehmen, was seit Piaton und Aristoteles darüber schon zutage liegt. Auch die Folgezeit wird so verfahren. Wahrheit als Angleichung des Verstandes an die Sache sieht Thomas da im strikten Sinne gegeben, wo der Verstand gegenüber der Sache etwas Eigenes hat. Zur Angleichung im vollen Sinn gehört nach Thomas eine Differenz. Das Moment dieser Differenz im Wahrheitsbegriff führt zu Schwierigkeiten bezüglich der Wahrheit der Wesenserfassung (und ferner in bezug auf das Wissen Gottes). Aristoteles hatte eine Wahrheit des Wesens nicht mehr gedacht, Wahrheit kam für ihn hier gänzlich auf der Seite des Denkens zu stehen. Aber die Wahrheit der Wesenserfassung bestimmte er, und zwar in deutlicher Abhebung von der des Urteils. Thomas hingegen sieht sich — aufgrund jener Bedingung der Differenz in der Angleichung — veranlaßt, die Wahrheit der Wesenserfassung derjenigen des Urteils als sekundär, ja akzidentell nachzusetzen oder — in späteren Ausführungen — die eigentliche' Wahrheit der Wesenserfassung in die des Urteils weitgehend aufgehen zu lassen. Auch hier, wie schon gegenüber der Wahrheit der Dinge, gelangt die Wahrheit des Urteils zur Vorherrschaft, und es wird der Weg dafür bereitet, daß das Urteil die Wahrheitsfrage ganz usurpiert. Wie Piaton, und anders als Aristoteles, denkt Thomas einen Wahrheitsgrund alles Wahren. Die Grundkonstellationen bei Thomas und bei Piaton sind hier verwandt: Gott ist Urheber der Wahrheit der Dinge und damit ihrer Hinordnung auch auf den menschlichen Verstand; er wirkt in der menschlichen Erkenntniskraft und macht sie tauglich, ist selbst wahr, jedoch alles übrige Wahre unvergleichlich übertreffend — die Idee des Guten ist Ursache der Unverborgenheit der Ideen (und alles an ihnen Teilhabenden), stiftet zwischen Ideen und menschlicher Vernunft eine Gemeinsamkeit (Bild des Joches), spendet der menschlichen Vernunft Kraft des Erkennens, ist selbst wahr, jedoch nicht in der Weise, wie die Ideen wahr sind, deren Wahrheit sie in unvorstellbarem Maße übertrifft. Beiseite bleiben können an dieser Stelle die Unterschiede zwischen Thomas und Piaton, die sich schon daraus ergeben müssen, daß Thomas' Denken durch die aristotelische Ontologie hindurchgegangen ist und sich die christliche Grundüberzeugung zu eigen gemacht hat, daß Gott Schöpfer der Welt ist und alle Dinge geschaffen sind. Sowenig wie Piaton vermag Thomas den göttlichen Wahrheitsgrund in einem Denken zu fassen, das auf Wahrheit im Sinne der Angleichung von Verstand und Sache Anspruch erheben könnte. Auch bei Thomas muß Wahrheit im Sinne der Angleichung überschritten werden, um als möglich begründet werden zu können 75 . Auch bei Thomas bedarf es hier eines
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Denkens, das in der Mitte ist zwischen Unkenntnis und adäquater Erkenntnis. Hiermit endet in diesem Punkt aber auch schon die Gemeinsamkeit. N u r Voreiligkeit könnte das (Sonnen-) Gleichnis Piatons und Thomas' Erkenntnisweg der Analogie für dasselbe halten. Nicht einmal die Analogie der Proportionalität, die am ehesten noch zu solcher Ineinssetzung verleiten mag, gibt bei näherem Zusehen dafür etwas her. Zwar schließt bei Piaton ein Verhältnis in einem Bereich etwas auf bezüglich eines entsprechenden Verhältnisses in einem anderen Bereich, aber darauf, Namen und Begriffe aus dem einen Bereich in dem anderen, und zwar inadäquat, zu prädizieren, kommt es dabei überhaupt nicht an. Ganz abgesehen davon, daß nach Thomas der analogen Gotteserkenntnis vorweg Beweise des Daseins Gottes liegen. Dergleichen fehlt bei Piaton. Fruchtbarer ist es hier schon, die Verschiedenheit der Denkwege Piatons und Thomas' festzuhalten und darin z w e i geschichtliche Möglichkeiten zu sehen, den Wahrheitsgrund alles Wahren zum Verständnis zu bringen. Bei allen Differenzen in den Antworten, die Piaton, Aristoteles und Thomas auf die Frage nach der Wahrheit gegeben haben, können ihre Konzeptionen zusammen doch, und zumal von Thomas her, als (in sich bewegte) geschichtliche Einheit angesehen werden. Zwischen Thomas und Descartes dagegen liegt ein Einschnitt in der Geschichte der Wahrheitsfrage, der tiefer ist als alle früheren Einschnitte. Mit Descartes beginnt unwiderruflich die Epoche, die bei Kant und Nietzsche zu Positionen in der Wahrheitsfrage führen wird, wie sie entfernter von Thomas und seinen Vorgängern gar nicht sein könnten. Es ist ein neues Selbstverständnis der menschlichen Vernunft und ein gesteigerter Anspruch dieser erkennenden Vernunft an sich, wodurch bei Descartes die Wende eingeleitet wird.
4. Kapitel: Descartes Wer den Aufbruch neuzeitlichen Denkens auf philosophischem Feld studieren will, wird mit Recht an Descartes verwiesen. Gewichtige Stimmen haben seit längerem mit gleichem Recht auf die Traditionselemente in Descartes' Philosophie hingewiesen. Descartes ist ein Denker des Ubergangs. Das gilt auch und gerade für die Wahrheitsthematik, die in Descartes' Werk einen zentralen Platz hat. Entscheidend für die Folgezeit ist, daß bei Descartes die menschliche Vernunft die Funktion des Wahrheitsgrundes mit übernimmt. Ebenso charakteristisch für Descartes' Position ist aber, daß es ohne Gott als Garanten der Wahrheit für den Menschen keine Erkenntnis von Gegenständen geben kann. Der wichtigste Descartes-Text für das Thema Wahrheit ist Descartes' philosophisches Hauptwerk Meditationes de prima philosophia (Meditationen über die Erste Philosophie, 1641 )1 mit Descartes' Erwiderungen auf die Einwände einiger Gelehrter. Vorweggenommen oder aufgegriffen hat Descartes Grundgedanken dieses Werkes in anderen Schriften, so im Discours de la methode (Abhandlung über die Methode, 1637), in den Principia philosophiae (Prinzipien der Philosophie, 1644)2, dem unvollendeten Dialog La recherche de la virite par la lumiere naturelle (Die Erforschung der Wahrheit durch das natürliche Licht, Datierung ungewiß). Daneben ist zu beachten die ebenfalls nicht vollendete Schrift Regulae ad directionem ingenii (Regeln zur Leitung des Geistes, letzte Redaktion wohl 1628)3. In dieser frühen Arbeit artikuliert Descartes die Aufgabe einer Vernunftkritik: „Damit wir nun nicht immer im Ungewissen sind, was der Geist vermag, . . . müssen wir einmal im Leben sorgfältig untersucht haben, welcher Erkenntnisse denn die menschliche Vernunft fähig ist" (Atqui ne semper incerti simus, quid possit animus, . . . oportet semel in vita diligenter quaesivisse, quarumnam cogitationum humana ratio sit capax — Reg. 50 / X,396f.; siehe auch den Fortgang des Textes)4. Der bedeutendste Text für die Wahrheitsfrage liegt, wie gesagt, in den Meditationen vor. Die erste Meditation handelt, wie ihr Titel schon mitteilt, von dem, was in Zweifel gezogen werden kann (De iis quae in dubium
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revocari possunt). Das Ich, das diese Betrachtung durchführt, kommt zu dem Ergebnis, daß nichts von dem, was es früher aufgrund seiner alltäglichen Lebenserfahrung oder seiner Beschäftigung mit den etablierten Wissenschaften für wahr hielt, den Zweifelsargumenten standzuhalten vermag. Da aber für den, der auf Erkenntnis aus ist, das Zweifelhafte vor dem als falsch Erwiesenen keinen Vorzug hat, scheint das Ich von allem Wahren abgeschnitten. Die Erschütterung der bisherigen Fundamente des Wissens ist vor allem durch zwei Argumente erfolgt, durch das Traumargument und durch das Argument des Betrügergottes. Das Traumargument, das zu bedenken gibt, daß alles, was ich wachend wahrzunehmen meine, geträumt sein könnte, untergräbt die Verläßlichkeit der Sinne als Erkenntnisquelle und richtet sich damit zugleich gegen die aristotelisch-thomistische Grundüberzeugung, menschliche Erkenntnis habe von den Sinnen ihren Ausgang zu nehmen5. Das Argument des Betrügergottes ist das umfassendere und den Fortgang der Meditationen in ihrer jetzigen Gestalt primär bestimmende6. Es besagt: Es könnte ein höchst mächtiger Gott existieren, der bewirkt, daß, wiewohl es keine Erde und keinen Himmel, keine Körper und keine körperlichen Bestimmungen (also keine Gestalt, keine Größe, keinen Ort usw.) gibt, mir dennoch dies alles zu existieren scheint, ja der es fertigbringt, daß ich scheinbar so einfacher Sachverhalte wie ,das Quadrat hat vier Seiten', ,2 + 3 = 5' ganz gewiß bin und daß das so Vorgestellte dennoch falsch ist ( 1 9 / VII,21). Descartes hat die Zweifelsbetrachtung der ersten Meditation für radikal gehalten. An ihrem Ende darf nichts ehemals als wahr Vermeintes noch als wahr genommen werden, soll jemals gewisse Erkenntnis möglich werden. Es muß versucht werden, einen neuen Anfang zu finden. Das denkende Ich selbst erweist sich als neuer Anfang, als erstes Wahres. Das geschieht in der zweiten Meditation. Das Zweifelsargument des Betrügergottes setzt als möglich einen höchst mächtigen und höchst verschlagenen Betrüger (deceptor summe potens, summe callidus — II 3 / VII,25), „der mich geflissentlich immer täuscht" (qui de industria me semper fallit — ebd.). Täuscht er m i c h aber, so muß i c h jedenfalls existieren. Er kann mir nicht meine eigene Existenz vortäuschen. Denke ich, daß ich bin, so denke ich etwas, das wahr ist, sooft und solange ich es denke7. Ich könnte das „Ich bin" ja nicht d e n k e n , wenn ich nicht w a r e. Der Satz „Ich bin, ich existiere" (ego sum, ego existo — ebd.) ist notwendig wahr (necessario . . . verum — ebd.), sooft ich ihn ausspreche oder mir schweigend vorstelle. Bringt das denkende Ich im Gedanken „Ich
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bin" seine eigene Existenz vor sein Denken, so faßt es ein Wahres, ja ein notwendig Wahres, an dem jeder Zweifelsversuch abprallt8. Die Selbstgewißheit gilt dem Ich als denkendem Ding (res cogitans), gilt dem Ich mit allen seinen Vorstellungen, sofern sie Weisen des Vorstellens (modi cogitandi) sind, Zustände oder Vollzüge des Ich. Ungewiß dagegen ist weiterhin, ob über das Ich hinaus irgendetwas von dem, was es in seinen Vorstellungen vorstellt, existiert oder existieren kann. Die Existenz des denkenden Ich ist das erste Wahre, das dem Zweifel entgegengehalten werden kann. Dies Wahre ist Erstes nicht nur im Sinne einer Reihenfolge, sondern nach Descartes' wiederholtem Zeugnis9 als g r u n d g e b e n d e r A n f a n g für eine Untersuchung, die die Wahrheit angesichts eines umfassenden Zweifels in ihr volles und gesichertes Recht einzusetzen unternimmt. Das Ich bewährt sich als Anfang, wenn es im Ausgang von seiner Selbstgewißheit zu anderem Wahrem gelangt. Die dritte Meditation begibt sich auf diesen Weg, und Descartes läßt deutlich erkennen, daß der erste Schritt des Ich nun darin besteht, in eine Regel zu fassen, was überhaupt Wahrheit ist. Im Vorgriff auf erst noch Auszuführendes läßt sich sagen: Diese Regel ist der Angelpunkt, um den sich Descartes' Bemühungen um Bestimmung und Begründung von Wahrheit drehen. S i e legt den Sinn von ,wahr' fest. Um i h r e Begründung und Entfaltung geht es bei der Frage nach dem Wahrheitsgrund. S i e umgrenzt den Bereich der für den Menschen erkennbaren Dinge. S i e gibt den Maßstab ab dafür, was der erkennenden Vernunft als Erkenntnis gelten darf und was nicht. (Nur wenn keiner dieser problemreichen Bezüge abgeschnitten wird, mag sie als Ausdruck eines allgemeinen Wahrheitskriteriums aufgefaßt werden10.) Das Ich formuliert eine allgemeine Regel (regula generalis), nämlich „daß alles das wahr ist, was ich sehr klar und deutlich erfasse" (illud omne esse verum quod valde clare et distincte percipio — III 2 / VII,35). An späterer Stelle der Meditationen (V 15 / VII,70) wird diese Regel Regel der Wahrheit (regula veritatis) genannt. Wie kommt das Ich zu dieser Regel? Das Ich ist gewiß, als ein denkendes Ding (res cogitans) zu sein; die Behauptung „Ich bin" begreift es als notwendig wahr (notwendig wahr, sooft und solange es den Gedanken „Ich bin" vollzieht). Wodurch hat das Ich diese Gewißheit, begreift es diese Behauptung als notwendig wahr? Einzig dadurch, daß es sein Sein klar und deutlich erfaßt. Sein klares und deutliches Erfassen macht das Ich hier des Seins der ,Sache' gewiß, läßt es sein Urteil über die ,Sache' mit Recht als wahr behaupten. Als Einzelfall wäre das aber unmöglich. Allgemein und
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ohne Ausnahme muß gelten, „daß alles das wahr ist, was ich sehr klar und deutlich erfasse". Der Zusammenhang von ,wahr', ,gewiß' und ,klar und deutlich erfassen' ist unlöslich! Wahr ist das Gewisse, und gewiß ist das klar und deutlich Erfaßte. Gewisses meint hier: das, woran zu zweifeln unmöglich ist". Uber die Bedeutung von ,klar' und von .deutlich' läßt Descartes sich in den Principia vernehmen (I 45 f. / VIII—1,22): Klar ist eine Vorstellung (perceptio), „die dem aufmerksamen Geist gegenwärtig und offenkundig ist" (quae menti attendenti praesens et aperta est). Descartes verweist zum Vergleich auf das Sehen: Etwas wird dann klar von uns gesehen, wenn es dem Auge gegenwärtig ist und es genügend stark und offenkundig erregt. Nur klare Vorstellungen können deutlich sein. Deutlich ist eine klare Vorstellung, „die . . . von allen übrigen so unterschieden und abgetrennt ist, daß sie gar nichts anderes als Klares in sich enthält" (quae . . . ab omnibus aliis ita sejuncta est et praecisa, ut nihil plane aliud, quam quod darum est, in se contineat). Als Beispiel für eine klare, aber nicht deutliche Vorstellung führt Descartes an: Jemand empfindet einen starken Schmerz; diese klare Vorstellung vermengt er mit einer dunklen Vorstellung über die Natur des Schmerzes, indem er nämlich meint, daß in dem schmerzenden Körperteil etwas der Schmerzempfindung Ahnliches sei. — Mit diesen Begriffserläuterungen ist aber das Problem noch nicht beseitigt, wann ich denn sicher sein darf, etwas ,sehr klar und deutlich erfaßt' zu haben, denn in diesem Punkt ist offensichtlich Täuschung möglich. So hatte ja das Ich der Meditationen vor der Zweifelsbetrachtung der ersten- Meditation vieles für gewiß gehalten (ζ. B. die Addition ,2 + 3 = 5'), an dessen Wahrheit es dann zweifeln mußte. Auf dies Problem ist später zurückzukommen. Wie steht Descartes' Regel der Wahrheit zu der überlieferten Auffassung der Wahrheit, für die durch Thomas von Aquin die Formel klassisch geworden ist, Wahrheit sei Angleichung von Sache und Verstand? Sie enthält sie. Descartes' Regel der Wahrheit sagt, wann ich dessen gewiß sein kann, daß meine Vorstellung mit der Sache übereinstimmt, anders gesagt: daß das von mir Vorgestellte i s t und s ο ist, wie ich es vorstelle12. Der Satz „Ich bin, ich existiere" ist wahr, indem er übereinstimmt damit, daß ich bin; und diese Wahrheit ist Wahrheit für mich aufgrund dessen, daß ich meine Existenz klar und deutlich erfasse. Der Satz ,Ich bin ein denkendes Ding (res cogitans)' ist wahr, indem er übereinstimmt mit dem, was ich bin (mit dem, was unlösbar zu mir gehört, solange ich existiere); und diese Wahrheit ist Wahrheit für mich aufgrund dessen, daß ich klar und deutlich erfasse, ein denkendes Ding zu sein. Entsprechendes gilt für alles Wahre, zu
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dem das Ich, wenn erst einmal die Zweifelsargumente überwunden sind, gelangen mag. Die Regel der Wahrheit wurde hier bis jetzt behandelt gemäß der Art, wie sie — und der Stelle, an der sie von Descartes eingeführt wird. Descartes läßt das Ich die Regel gewinnen aus seiner Selbstgewißheit und offensichtlich für den weiteren Gedankengang, durch den das Ich über sie selbst als erstes und bisher einziges Wahres hinausgelangen soll zu anderem Seiendem. Daß es einer solchen Regel nun bedarf, scheint leicht begreiflich. Geht es doch darum, auf dem Weg zum Wahren fortzuschreiten, obwohl und während das Argument des Betrügergottes noch in Kraft ist! Dies Argument ist dadurch ja keineswegs erledigt, daß ein möglicher Betrügergott am ,Ich bin' und ,ich bin ein denkendes Ding' an seine Grenze stieße. (Es fordert vielmehr nichts Geringeres als einen Gottesbeweis zu seiner Widerlegung.) U m so seltsamer erscheinen Descartes' Äußerungen in der „Ubersicht" (Synopsis) zu den Meditationen, in der vierten Meditation werde bewiesen (probari), daß alles, was wir klar und deutlich erfassen, wahr ist (S.27 / VII,15), ja vor der vierten Meditation habe das nicht bewiesen werden können (S. 25 / V I I , 13). Sieht man einmal davon ab, daß die vierte Meditation dies gar nicht zum Thema hat, so wird von Descartes hier jedenfalls zu verstehen gegeben, daß die Regel der Wahrheit den Gedankengang der dritten Meditation und also insbesondere den Gottesbeweis dieser Meditation voraussetzt. Descartes entging daher nicht dem Vorwurf des Zirkels: Eine Regel, die nach dem Gottesbeweis erst in Kraft sein soll, wird für ihn schon in Anspruch genommen. Ohne Zweifel zieht Descartes selbst diesen Vorwurf auf sich. Dennoch kann man ihn dagegen in Schutz nehmen, allerdings nicht, ohne daß sich dabei ein neues Problem ergibt 13 . Alles das soll wahr sein, was ich sehr klar und deutlich erfasse. Sehr klar und deutlich erfasse ich, daß ich bin, und zwar als ein denkendes Ding (res cogitans). Hier faßt das Denken Seiendes, Existierendes, und ist darin wahr. Man muß aber sehen, daß i n d i e s e m S i n n nichts anderes wahr sein kann, solange das Argument des Betrügergottes nicht widerlegt ist. Dies Argument hat darin ja gerade seine Spitze, daß ein höchst mächtiger Betrüger bewirken könnte, daß ich etwas sehr klar und deutlich erfasse und dennoch nichts Seiendes fasse. Das Ich ist dem Täuschungsbereich des möglichen Betrügergottes deshalb entzogen, weil bei dem Gedanken „Ich bin" das Denken dieses Gedankens für das Sein des Gedachten einsteht (ich könnte den Gedanken nicht denken, wenn ich nicht wäre). Dieser Fall ist aber einmalig. Und so kann die „allgemeine Regel", ehe das Argument des
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Betrügergottes widerlegt ist, nicht in Kraft sein für wahres Erfassen von Seiendem, von Existierendem 14 . Was sonst (abgesehen vom Ich) könnte aber klar und deutlich erfaßt sein? Kann die Regel der Wahrheit auch solches meinen, für das, wenn es klar und deutlich erfaßt ist, das Problem der Existenz nicht aufzuwerfen ist? Sie muß dergleichen meinen und für es in Kraft sein, damit der Gedankengang der dritten Meditation durchgeführt werden kann. Es sind erste Prinzipien der Erkenntnis (wie der Satz vom Widerspruch oder das für den Gottesbeweis der dritten Meditation entscheidende Prinzip, daß aus Nichts nichts wird) 15 , ferner die Gesetze der formalen Logik sowie eine geringe Wahrheit von Ideen (die noch näher zu bestimmen sein wird), in bezug auf die die Regel der Wahrheit vor der Widerlegung des Arguments des Betrügergotts und für sie in Kraft ist16. Der Betrügergott, sollte es ihn geben, vermöchte nichts gegen die Wahrheit erster Erkenntnisprinzipien und der Logik sowie eine geringe Wahrheit von Ideen, sofern ich sie klar und deutlich erfasse. Das führt nun allerdings vor die Frage: Hat das Zweifelsargument des Betrügergottes jemals diesen Bereich erreicht 17 ? Wird es durch die von der Selbstgewißheit des Ich her formulierte „allgemeine Regel" aus ihm zurückgedrängt, oder bedurfte es dessen gar nicht? Sieht man sich die Durchführung dieses Zweifelsargumentes ( 1 9 / VII,21) und die beiden Wiederholungen (I 12 / VII,22 f. und II 2 / VII,24) daraufhin noch einmal an, so stellt man fest, daß in Zweifel gezogen werden die Existenz körperlicher Dinge einschließlich des menschlichen Leibes und die Mathematik (die als reine Mathematik von Existenz zwar absehen kann, ohne Dinge, auf die sie sich beziehen könnte, nach Descartes aber allen Sinn verliert — vgl. Anm. 16 zu diesem Kap.). Von ersten Prinzipien der Erkenntnis und von der formalen Logik ist nicht die Rede 18 . — Es ist ferner klar, daß mindestens ein Erkenntnisprinzip in Kraft sein muß, soll der Gedanke „Ich bin", sooft und solange ich ihn vollziehe, notwendig wahr sein, nämlich der Satz vom Widerspruch. Nur wenn unzweifelhaft ist, daß ,dasselbe demselben in derselben Beziehung nicht zugleich zukommen und nicht zukommen kann' (siehe Aristoteles, Met. 4, Kap. 3, 1005bl9f. 1 5 ), kann das sich denkende Ich seiner Existenz schlechthin gewiß sein20. Mindestens also der Satz vom Widerspruch (nach Aristoteles das sicherste und für jegliche Erkenntnis von Seiendem schlechthin unentbehrliche Prinzip 21 ) darf vom Argument des Betrügergottes niemals erreicht worden sein, wenn auch nur der Satz „Ich bin" als wahr soll beansprucht werden können 22 . (Ja, mindestens dieses Prinzip muß in Kraft sein, wenn überhaupt stringent gezweifelt werden soll, und daß das in der ersten Meditation geschehen ist, beansprucht
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Descartes ausdrücklich: Ich bin „gezwungen" — cogor —, dem Ergebnis der Zweifelsbetrachtung zuzustimmen, und ich zweifle „nicht aus Unbesonnenheit oder Leichtfertigkeit, sondern aus starken und überlegten Gründen" — non per inconsiderantiam vel levitatem, sed propter validas et meditatas rationes, I 10 / VII,21 23 .) Hier stößt die Radikalität des cartesischen Zweifels („daß es nichts gibt unter dem, was ich einst für wahr hielt, woran nicht gezweifelt werden könnte" — nihil esse ex iis quae olim vera putabam, de quo non liceat dubitare, ebd.) an eine erste Grenze. Die Ausdehnung des Zweifels auf sämtliche Erkenntnisprinzipien käme einer Selbstaufgabe der erkennenden Vernunft gleich. Einen Betrügergott als möglich annehmen, der mir den Satz vom Widerspruch als wahr vorspiegeln und damit mich täuschen könnte, das wäre das Ende meiner erkennenden Vernunft. Glücklicherweise könnte d i e s e Annahme den Verdacht der Leichtfertigkeit und Unbesonnenheit nicht von sich weisen, denn wie vermöchte sie noch, durch Gründe für sich einzunehmen? Mindestens der Satz vom Widerspruch wird für das Ich der Meditationen nicht erst durch die im Blick auf die Selbstgewißheit des Ich gewonnene „allgemeine Regel" in Kraft gesetzt. Ferner war festzustellen, daß expressis verbis jedenfalls kein Erkenntnisprinzip und kein Gesetz der formalen Logik von Descartes in den Täuschungsbereich des möglichen Betrügergottes hineingezogen wird. Welche Bedeutung kommt also der Regel der Wahrheit zu, solange das Argument des Betrügergottes nicht durch einen Gottesbeweis widerlegt ist? Außer daß sie für eine verhältnismäßig geringe, noch zu bestimmende Wahrheit von Ideen in Anspruch genommen werden könnte, wird man ihre vorläufige und begrenzte Bedeutung entweder darin erblicken müssen, daß sie das Ich seine Erkenntnisprinzipien und die Gesetze der formalen Logik sicherer als zuvor sich zueignen läßt, oder daß sie über ein zunächst allein fragloses Erkenntnisprinzip, eben den Satz vom Widerspruch, hinaus weitere allgemeine Erkenntnisprinzipien und die formale Logik in Kraft setzt24. Zwischen der ersten und der zweiten Möglichkeit, die sich hinsichtlich der Gewichtigkeit der Regel der Wahrheit für den unmittelbaren Fortgang der Meditationen erheblich unterscheiden, kann meines Erachtens keine aus dem Text hergeleitete Entscheidung gefällt werden. Das Ziel der weiteren Untersuchung in den Meditationen muß es sein, die Regel der Wahrheit in vollem Umfang in Kraft zu setzen. Es muß die Gewißheit erlangt werden, daß a l l e s , was ich klar und deutlich erfasse, wahr ist, auch und gerade, wenn es sich dabei um S e i e n d e s , Existieren-
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des, außer meinem denkenden Ich handelt. Dazu bedarf es der Widerlegung des Arguments des Betrügergottes. Descartes vollzieht sie in den Meditationen durch den Gottesbeweis der dritten Meditation. Gesichert ist an Existierendem bisher das Ich, und zwar als denkendes Ding (res cogitans) samt seinen Vorstellungen als solchen. Ungesichert ist die Existenz oder mögliche Existenz des Vorgestellten, sofern es sich bei ihm um Dinge „außer mir" (extra me — III 6 / VII,37), um eine Welt körperlicher Dinge einschließlich meines Leibes und um Gott, handelt. Gesichert ist also die Existenz einer Idee Gottes in mir, sobald ich sie nur vorstelle25. Stelle ich sie vor, so stelle ich sie nach Descartes notwendig (s. u.) mit folgendem Inhalt vor: Gott ist ,ewig, unendlich, allwissend, allmächtig und Schöpfer aller Dinge, die außer ihm sind' (ilia — sc. idea — per quam summum aliquem Deum, aeternum, infinitum, omniscium, omnipotentem, rerumque omnium, quae praeter ipsum sunt, creatorem intelligo — III 13 / VII,40). Bei der Wiederaufnahme der Bestimmung dessen, was in der Idee Gottes vorgestellt wird, ist Gott vorgestellt als S u b s t a n z mit jenen Attributen und fehlt die Bestimmung ,ewig', statt dessen wird von Gott als ,unabhängiger' Substanz gesprochen (III 22 / VII,45). Von dieser Idee „kann ich schlechthin nichts wegnehmen, und schlechthin nichts kann ich ihr noch hinzufügen" (nihil ab illa detrahere, nihil illi superaddere plane possum — III 37 / VII,51; vgl. dazu Med. 340 f. / VII,371). Das meint eben, daß ich sie notwendig mit diesem und keinem anderen Inhalt vorstelle. So darf man es denn wohl als eine gewisse Nachlässigkeit Descartes' ansehen, daß an den beiden beigezogenen Stellen über den Inhalt der Idee Gottes die Güte Gottes nicht erwähnt wird (obwohl gerade auch sie in Anspruch genommen werden muß, um die menschliche Erkenntnis in Gott als Wahrheitsgrund zu gründen — vgl. IV 2 / VII,53) 26 . In mir existiert die Idee Gottes mit dem bezeichneten Inhalt. Ungesichert und zu beweisen ist, daß Gott existiert. In einem geringen und jetzt näher zu bestimmenden Sinn ist die Idee Gottes bei Descartes schon vor dem Beweis und für ihn ,wahr'. Da ist zunächst auf die Abhebung der Ideen von den Urteilen zu verweisen (III 5 f. / VII,36 f.). Mit dem Namen Idee (idea) bezeichnet Descartes alle Vorstellungen, die „gleichsam Bilder der Dinge" (tanquam rerum imagines — III 5 / VII,37) sind. Als Beispiele nennt er: Mensch, Chimäre, Himmel, Engel, Gott. Von den Ideen zu unterscheiden sind andere Gattungen von Vorstellungen, die darin übereinkommen, daß sie den Ideen etwas hinzufügen. Eine dieser Gattungen sind die Urteile. Sie fügen einer Idee das ,ist' oder ,ist nicht' hinzu. Und darin
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liegt die Möglichkeit des Irrtums. Hingegen können die Ideen nicht im eigentlichen Sinn (proprie) falsch sein. In ihnen wird ja das Sein des Vorgestellten noch nicht bejaht oder verneint. ,Wahr' bedeutet hier freilich nur so wenig wie ,nicht im eigentlichen Sinn falsch', und die Idee Gottes hat vor der einer Chimäre unter dieser Hinsicht nicht den geringsten Vorzug. — Wichtiger ist die folgende Abhebung. Zwar können Ideen nicht im eigentlich Sinn falsch sein. Dennoch gibt es bei einigen Ideen eine gewisse materiale Falschheit (quaedam . . . falsitas materialis — III 19 / VII,43), d. h. solche Ideen ,liefern dem Urteil Stoff zum Irrtum' ( . . . tales sint, ut judicio materiam praebeant erroris — Med. 210 / VII,231). Das tun sie, weil sie, was keine Sache (res), kein sachhaltiges Etwas, ist, darstellen, als wäre es eine Sache (III 19 / VII,43). Als Beispiel bringt Descartes die Ideen der Wärme und Kälte. Sie sind so wenig klar und deutlich, daß ich nicht entscheiden kann, ob nun Kälte Privation der Wärme oder Wärme Privation der Kälte ist oder ob beide reale Qualitäten sind oder keine von beiden (III 19 / VII,43 f.). Beide Ideen geben sich aber, als stellten sie einen positiven Sachgehalt dar. (Wenn ich friere, ist die Kälte für mich sehr ,real', mag sie nun Privation der Wärme oder was auch immer sein; Entsprechendes gilt für die Wärme, wenn ich schwitze.) Die Idee Gottes ist von jedem Verdacht materialer Falschheit frei (siehe III 25 / VII,46). Im Unterschied zu Ideen von der Art der Ideen der Kälte und der Wärme stellt die Idee Gottes etwas Sachhaltiges und Positives dar (vgl. III 19 / VII,44: reale quid et positivum). In diesem Sinn ist sie vor dem Gottesbeweis und für ihn ,wahr'. Entscheidend für den Beweis ist, daß Ideen, die sachhaltig und positiv sind, eben damit einen Seinsgehalt haben (realitas bedeutet hier bei Descartes Sachgehalt und Seinsgehalt in eins27), und ferner daß in den Ideen Stufen des Sachgehaltes bzw. Seinsgehaltes festzustellen sind. Der Gottesbeweis (III 14 ff. / VII,40 ff.) fragt angesichts des Seinsgehaltes von Ideen nach deren Ursache. Er wendet auf den Seinsgehalt von Ideen das Erkenntnisprinzip an, daß aus Nichts nichts wird, daß also auch nichts Vollkommeneres aus einem weniger Vollkommenen wird, vielmehr jede Ursache entweder den gleichen Seinsgehalt (realitas) haben muß wie ihre Wirkung, oder einen vollkommeneren. Es wird gezeigt, daß es im Ich eine einzige Idee gibt, für die es selbst gemäß jenem Prinzip schlechterdings nicht Ursache sein kann, nämlich die Idee Gottes. Ursache dieser Idee kann nur Gott selbst sein. Gott existiert also. Ein erstes und bis jetzt einziges Existierendes außer dem Ich ist gesichert. Aus demselben Grund, aus dem das Ich nicht Urheber der Idee Gottes im Ich sein kann, kann auch der mögliche Betrügergott es nicht sein. Die
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Argumentation hätte auch an ihm durchgeführt werden können (denn es ist klar, daß er — falls es ihn gibt — hinter der Vollkommenheit, die in der Idee Gottes vorgestellt ist, erheblich zurückbleibt 28 ). Descartes hat das nicht getan. Ja, es fällt auf, daß der mögliche Betrügergott mit keinem Wort erwähnt wird29. — Nachdem der Beweis zu Ende geführt und gegen etwa mögliche Bedenken abgesichert ist, stellt Descartes noch einmal die Frage nach Gottes Existenz, nun in der Gestalt der Frage, ob ich selbst, der ich die Idee Gottes in mir habe, sein könnte, wenn Gott nicht existierte (III 28 / VII,48). In ausführlicher Argumentation werden andere, zunächst als möglich erscheinende Ursachen meines Seins (ich selbst, meine Eltern oder irgendeine andere weniger vollkommene Ursache als Gott, Teilursachen in ihrem Zusammenwirken) ausgeschlossen und wird bewiesen, daß nur Gott Urheber meines Seins sein kann, der also existiert30. Was soll dieser Fortgang der Meditation? Descartes' Worten nach geht es wieder um Gottes Existenz (so äußert er sich nochmals III 36 / VII,51 bei der Formulierung des Ergebnisses sowie III 38 / VII,51 f.)31. Wäre das wirklich so, dann liefe das auf eine Einschränkung der Beweiskraft des unmittelbar zuvor durchgeführten Beweises hinaus. Dergleichen kann sicher nicht Descartes' Absicht gewesen sein. Auch ist er ein erklärter Gegner der Häufung von Beweisgründen (vgl. das Widmungsschreiben zu den Meditationen, S. 7 / VII,4). Wenn man das Ergebnis des fraglichen Beweisstücks einmal so formuliert: ,Gott muß mein Schöpfer sein, und also existiert er' — so wird man sachlich mit vollem Recht den ersten Teil der Formulierung als das Entscheidende dieses Beweisstücks herausheben dürfen. Denn das zuvor schon Gesicherte, daß Gott existiert, weil nur er Ursache der Idee Gottes in mir sein kann, macht die Existenz eines Betrügergottes, der mich täuscht, zwar sehr unwahrscheinlich. Indessen bleibt ein Rest an Zweifel möglich. Wohl ist nun e i η Existierendes außer mir zweifelsfrei. Und wohl hat Gott zu mir eine Beziehung hergestellt, indem er eine Idee von sich in mir verursacht hat. Dennoch könnte mich ein Betrügergott bezüglich des übrigen Seienden außer mir immer noch täuschen. Ist Gott aber mein Schöpfer, so kann er das nicht zulassen. Argumentiert man aber, mit dem Beweis, daß ein Wesen mit den von uns in der Idee Gottes vorgestellten Attributen (wobei das Attribut ,Schöpfer aller Dinge außer ihm' als unsicher beiseite gelassen werden müßte) existiert, sei die Existenz eines mächtigen Betrügers unvereinbar und dessen Nichtexistenz also schon erwiesen, bleibt immer noch eine, wenn auch geringe, Unsicherheit, ob nicht auch dann Täuschung
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möglich ist, wenn ich etwas klar und deutlich erfasse32. Über die Behebung eines solchen Rests von Zweifel hinaus wird, und das ist entscheidend, durch den Aufweis, daß Gott Schöpfer des Ich ist, Gott positiv und entschlossen als Wahrheitsgrund menschlicher Erkenntnis gedacht. Habe ich meine Erkenntnisfähigkeit von ihm, dann m u ß alles das wahr sein, was ich klar und deutlich erfasse. Denn Gott hat mir keine Fähigkeit gegeben, bei klar und deutlich Erfaßtem und deshalb als seiend Vermeintem noch einmal zwischen wahr und falsch zu unterscheiden (vgl. S. 72). Wenn Gott mein Schöpfer ist, dann muß die Regel der Wahrheit im vollsten Umfang gelten. Gegen diese Interpretation der Bedeutung des in Rede stehenden Beweisstücks mag man sich nicht nur auf Descartes' Worte in der dritten Meditation berufen, es gehe abermals um Gottes Existenz. Man mag auch einwenden, es brauche keineswegs argumentativ erwiesen zu werden, daß Gott Schöpfer des Ich sei, da diese Bestimmung in der Idee Gottes schon enthalten ist, von der ja nichts weggenommen und der nichts hinzugefügt werden kann. Das ist natürlich völlig richtig und erklärt hinreichend, warum Descartes in der dritten Meditation das Beweisstück als weiteren Beweis des Daseins Gottes und nur als das ausgibt. Die Sachlage ist nämlich etwas fatal für die Idee Gottes — und damit wohl auch für alles, dem sie zugrunde gelegt wird. Davon wird später zu sprechen sein. Immerhin bezeichnet Descartes schon zu Beginn der vierten Meditation als Resultat des Beweises, daß Gott existiert u n d „daß meine ganze Existenz in jedem einzelnen Augenblick von ihm abhängt" (ab illo singulis momentis totam existantiam meam dependere — IV 1 / VII,53), und in seiner Antwort auf die zweiten Einwände findet sich mit Bezug auf unsere Erkenntnisfähigkeit die aufschlußreiche Mitteilung: Daß nichts Reales in uns sein könne, das nicht von Gott gegeben worden ist, das sei z u g l e i c h m i t s e i n e r E x i s t e n z b e w i e s e n w o r d e n (cum nihil reale in nobis esse possit, quod non ab ipso sit datum (ut simul cum ejus existentia demonstratum est) . . . — Med. 130 / VII,144)! In den Principia (I 20 / VIII—1,12) schließlich führt Descartes das Beweisstück gar nicht mehr mit der Frage nach Gottes Existenz ein33. Gott ist Wahrheitsgrund menschlicher Erkenntnis. Er und nur er garantiert — als Schöpfer des Menschen, in seiner Güte und Wahrhaftigkeit34 und durch seine Allmacht und Allwissenheit — die uneingeschränkte Gültigkeit der Regel der Wahrheit für menschliches Erkennen35. Das heißt, anders gewendet: Gott ist bei Descartes der Garant dafür, daß das Ich über sich hinaus zu G e g e n s t ä n d e n gelangt, daß das i s t , was das Ich in
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klarem und deutlichem Erfassen als seiend vermeint. Es gibt das, was das Ich klar und deutlich vorstellt, nicht nur in der ,Welt' seiner Vorstellungen, nicht nur als rätselhaft stimmige Täuschung oder Fiktion. Gegenstände sind, und Ubereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand ist, wann immer klares und deutliches Erfassen vorliegt. — Gott will nicht, daß ich mich täusche, wenn ich nur meine Erkenntniskräfte richtig gebrauche (vgl. IV 3 / VII,53 f.), und er hat mich so eingerichtet, daß ich über das Zusammenwirken meiner Erkenntniskräfte Klarheit haben, das Entstehen von Irrtümern durchschauen und vermeiden kann (hierüber gibt der Fortgang der vierten Meditation Aufschluß). Entschieden erklärt sich Descartes auch in der Antwort auf die zweiten Einwände (Med. 130 f. / VII,143 f.): In unseren höchst klaren und genauen Urteilen (in maxime claris et accuratis nostris judiciis) kann es keine Täuschung geben. Denn in uns ist keine Fähigkeit, solche Urteile noch zu verbessern. Dafür wäre aber Gott, unser Schöpfer, verantwortlich zu machen. Er wäre ein Betrüger, während er doch das höchste Gute und Wahre (summum bonum et verum) ist. Gott ist Wahrheitsgrund menschlicher Erkenntnis nicht nur, indem er ihr die uneingeschränkte Gültigkeit der Regel der Wahrheit und damit Gegenständlichkeit garantiert. Er ist Grund der menschlichen Erkenntniskraft. Das „natürliche Licht" unserer Vernunft haben wir von ihm empfangen (Princ. I 28 / VIII—1,16: lumen naturale, quod nobis indidit), er ist der „Geber allen Lichtes" (dator omnis luminis — Princ. I 29 / VIII—1, 16)36. Wahrheitsgrund menschlicher Erkenntnis ist Gott schließlich auch, indem er Seinsgrund (nicht Wahrheitsgrund) der Dinge ist (siehe S. 76 ff.). Descartes hat in der Existenz des denkenden Ich das erste Wahre (das erste ,wahre Ding') gefunden, und damit den grundgebenden Anfang für eine Grundlegung der Wahrheit angesichts eines umfassenden Zweifels. Er hat sodann den Schritt zu Gott, der „Quelle aller Wahrheit" (vgl. Anm. 34 zu diesem Kap.) und dem Garanten für die Wahrheit alles vom menschlichen Geist sehr klar und deutlich Erfaßten, getan. Das Ich ist nun aber bei Descartes Wahrheitsgrund in weit stärkerem Maße, als es zunächst (und zumal für einen Leser, der sich nur an die Meditationen hielte) scheinen mag. Seine Bedeutung als Wahrheitsgrund erschöpft sich nicht darin, durch seine Selbstgewißheit und die aus ihr gewonnene, vorerst beschränkt gültige Regel der Wahrheit den Weg zu Gott als Wahrheitsgrund möglich zu machen. Gott steht dafür ein, daß die Regel der Wahrheit in vollem Umfang gültig ist. Das weitere liegt nun wieder beim Ich, bei der erkennenden Vernunft des Menschen. ,Alles das
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ist wahr, was ich sehr klar und deutlich erfasse.' Aber wann erfasse ich etwas sehr klar und deutlich? Daß der Erkennende etwas sehr klar und deutlich erfaßt zu haben glaubt und es dennoch nicht klar und deutlich genug erfaßt hat, ist möglich37. Andererseits kann die Klarheit und Deutlichkeit, die dem Gedanken „Ich bin" zukommt, auch nachdem das Argument des Betrügergottes widerlegt ist, nicht ohne weiteres als Maßstab dienen. Dieser Gedanke ist von unübertrefflicher Einfachheit. Es fragt sich aber gerade, wann ich auch bei verwickelten Sachverhalten sicher sein darf, daß mein Erfassen klar und deutlich ist. Und hier nun fällt der erkennenden Vernunft die Aufgabe zu, klares und deutliches Erfassen möglich zu machen, zu sichern und bewußt zu halten: Indem das Ich — auf der Grundlage einer gesicherten Regel der Wahrheit und gleichsam als ihre Entfaltung — aus sich selbst die M e t h o d e entwickelt, ist es Wahrheitsgrund seiner Erkenntnis der Dinge. Regel IV der Regulae lautet: „Zur Erforschung der Wahrheit der Dinge ist Methode notwendig" (Necessaria est methodus ad rerum veritatem investigandam. 22 / X,371 — „rerum" fehlt bei Gäbe). Im Text zu dieser Regel sagt Descartes, unter Methode seien gewisse und einfache Regeln zu verstehen von der Art, daß, wer sie genau beachte, niemals etwas Falsches an die Stelle des Wahren setze (Per methodum autem intelligo regulas certas et faciles, quas quicumque exacte servaverit, nihil unquam falsum pro verum supponet — 22 / X,371 f.). Regel V in demselben Werk beginnt: „Die ganze Methode besteht in der Ordnung und Disposition dessen, worauf man den Blick des Geistes richten muß, um irgendeine Wahrheit zu entdecken" (Tota methodus consistit in ordine et dispositione eorum ad quae mentis acies est convertenda, ut aliquam veritatem inveniamus. 28 / X,379). Im Text zu dieser Regel (28 / X,379 f.) vergleicht Descartes die Regel und damit die Methode mit dem Faden, der es Theseus ermöglicht, sich im Labyrinth zurechtzufinden. Der menschlichen Vernunft, die auf Wahrheit aus ist, begegnen die Dinge in ihrer anscheinend zusammenhanglosen Vielfalt wie ein Labyrinth. Ohne Methode käme sie kaum an ein Ziel38. Den ,Faden' hat sie nun allerdings nicht wie Theseus von einer Ariadne. Sie muß ihn sich selbst beschaffen — indem sie sich ihr selbst durchsichtig macht in ihren wenigen Grundoperationen (vor allem Intuition und Deduktion) und den Möglichkeiten ihres geordneten Vollzugs. In diesem Sinn sagt Descartes im Text zur Regel VIII (bei Gäbe im Anhang zu Regel VIII abgedruckt; 178 / X,395), „daß nichts früher erkannt werden kann als der Verstand, weil von ihm die Erkenntnis alles übrigen abhängt, und nicht umgekehrt" (nihil prius cognosci posse quam intellectum, cum ab hoc caeterorum omnium cognitio
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dependeat, et non contra). Die Durchsichtigkeit des menschlichen Geistes für sich selbst betont Descartes auch in den Meditationen; er führt in der zweiten Meditation einen längeren Gedankengang (Wachsbeispiel) zu dem Ergebnis, „daß nichts leichter und einleuchtender von mir erfaßt werden kann als mein Geist" (nihil facilius aut evidentius mea mente posse a me percipi — II 16 / VII,34)39. Descartes hebt im Schreiben an Picot die Regeln, die die Methode festlegen, ab von den Regeln der traditionellen Logik, der Schullogik (celle de l'Ecole): Diese Logik sei im Grunde nur eine Dialektik, die die Mittel bereitstellt, andere die Dinge zu lehren, die man schon weiß, oder auch (und dann ist ihre Wirkung korrumpierend) sich über Dinge auszulassen, die man selbst nicht einmal weiß40; dagegen handele es sich bei der Darlegung der Methode um eine „Logik", die „lehrt, seine Vernunft gut zu leiten, um die Wahrheiten zu entdecken, die man nicht weiß" (qui apprend ä bien conduire sa raison pour decouvrir les verites qu'on ignore — Princ. S. X L I / IX—2,13 f.). Das Ich ist Wahrheitsgrund, indem es für die Methode aufkommt, durch die es zur Erkenntnis der Dinge zu gelangen vermag. Am Ich als Wahrheitsgrund in diesem Sinn ist zweierlei noch hervorzuheben. Zunächst: Dies Ich muß das Methodenbewußtsein zu seinem Habitus machen. Anders gesprochen, das Ich entschließt sich dazu und hält diesen Entschluß beständig in Kraft, die Erkenntnisfähigkeit richtig zu gebrauchen41. Zum andern zeichnet sich dies Ich, seiner durch die Regel der Wahrheit abgesteckten Grenzen inne, durch ein ausgeprägtes Selbstvertrauen aus, zu dem das Bewußtsein der Selbständigkeit und Mündigkeit gehört42. Das Schwergewicht der Wahrheitsproblematik liegt bei Descartes auf der Grundlegung der Wahrheit. Themen, die der Tradition außerdem oder allein (Aristoteles) wichtig waren, treten weit dahinter zurück. Die Frage nach der Wahrheit der Dinge verwandelt sich bei Descartes zu der Frage, w a s wir denn erkennen in unserem klaren und deutlichen Erfassen von Gegenständen. Es konnte früher (S. 71 f.) schon gesagt werden: Dank der Wahrheitsgarantie des wahrhaftigen und gütigen Gottes kommt das Ich zu Vorstellungen, deren Ubereinstimmung mit Gegenständen ihm gewiß ist. Was sind seine Gegenstände? Auf diese Frage antwortet zunächst die fünfte Meditation: Das Ich erkennt das „Wesen der materiellen Dinge" (essentia rerum materialium — Titel der 5. Meditation / VII,63). Descartes stellt die Frage nach der Existenz materieller Dinge zurück
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bis zur sechsten Meditation. Vorerst geht es darum, die Ideen solcher Dinge, insofern sie im Ich sind, daraufhin zu prüfen, welche von ihnen deutlich, welche verworren sind (V 2 / VII,63). N u r deutlich Erfaßtes kann ja mit Recht für wahr gehalten werden. Deutlich erfasse ich im Vorstellen materieller Dinge die Ausdehnung im Raum und die auf sie bezüglichen Bestimmungen Zahl, Größe, Gestalt, Lage, Ortsbewegung, Dauer (V 3 / VII,63). Es sind dies die Grundbestimmungen der Körper. Sie machen das Wesen (essentia) der körperlichen Dinge aus43. Sie sind der Gegenstand des Erkennens materieller Dinge. Dazu ergänzt Descartes, daß das Erkennen nicht bei der Betrachtung jener Grundbestimmungen im allgemeinen stehenbleibt, sondern darüber hinaus auch zahlloses Besonderes (particularia innumera) über Gestalten, Zahl, Bewegung usw. deutlich erfaßt (V 4 / VII,63). Der Begriff des Wesens (essentia), hier immer zugleich Gegenbegriff zu Dasein (existentia), ist von Descartes auf dieses Besondere ausgedehnt. Anderes, das wir an den materiellen Dingen durch Vermittlung der Sinne zu erfassen meinen, z.B. Farben, ist nicht deutlich vorgestellt und daher kein Erkenntnisgegenstand (vgl. S. 76). Die Erkenntnis der materiellen Dinge ist ,Wesenserkenntnis' und vollzieht sich nach dem Zeugnis dieser Meditation a priori. Descartes frischt geradezu die Anamnesislehre Piatons auf. Er sagt: Wenn ich jenes Besondere über die Gestalten, Zahlen usw. „zuerst entdecke" (primum detego), dann kommt es mir so vor, daß ich nicht irgendetwas Neues hinzulerne, sondern „mich dessen, was ich schon vorher wußte, erinnere" (eorum quae jam ante sciebam reminisci — V 4 / VII,64)44. Die Wissenschaft, die diese ,Wesenserkenntnis' vollzieht, heißt in der fünften Meditation reine Mathematik (pura Mathesis — V 16 / VII,71). Ihr Gegenstand (objectum) ist die ganze körperliche Natur (ebd.), und das kann gesagt werden, obwohl noch offen ist, ob überhaupt ein Körper existiert45. ,Wesenserkenntnis' erfaßt die „wahren und unveränderlichen Naturen" (veras et immutabiles naturas) der Dinge, mögen diese nun existieren oder nicht (V 5 / VII,64)46. Damit dies einen Sinn ergibt, muß man beachten, daß nach Descartes alles, was unser Geist klar und deutlich zu erfassen vermag, von Gott geschaffen werden kann (VI 1 / VII,71). Im Wesen (essentia) eines Dinges ist sein Existierenkönnen (posse existere — ebd.) gedacht. Die Wesen der materiellen Dinge, die a priori von uns erfaßten wahren und unveränderlichen Naturen der Körper, sind Möglichkeiten des göttlichen Schöpferwillens. So hätte unser Erkennen ,Seiendes' zum Gegenstand, auch wenn die Welt der körperlichen Dinge nicht existierte. Indessen macht Descartes es sich in der sechsten Meditation zur Auf-
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gäbe, zu zeigen, daß materielle Dinge existieren. Die Einbildungskraft in mir macht die Existenz mindestens eines Körpers, nämlich meines eigenen, wahrscheinlich, aber auch nur wahrscheinlich. Im Ausgang vom Vermögen der Wahrnehmung als einem Vermögen, Vorstellungen zu empfangen, läßt sich beweisen, daß körperliche Dinge die Ursachen dieser Vorstellungen in mir sind und also existieren. Der Beweis greift ein Hauptargument des Gottesbeweises der dritten Meditation auf und rekurriert auf Gott, den Schöpfer des Ich, und seine Wahrhaftigkeit (VI 10 / VII,79 f.). Es existieren materielle Dinge. Die ,Wesenserkenntnis' von ihnen darf daher nun als Erkenntnis nicht nur von Möglichem, sondern von Wirklichem aufgefaßt werden. Die „reine Mathematik" erkennt die „wahren und unveränderlichen Naturen" von Existierendem. Jedoch bleibt es dabei, daß anderes als ,Wesenserkenntnis' von den materiellen Dingen nicht möglich ist. Zwar habe ich Wahrnehmungen, die von Dingen außer mir herrühren. Diese Wahrnehmungen stehen aber nur für die Existenz solcher Dinge ein. O b sie den Dingen, von denen sie jeweils herrühren, ähnlich sind, ob also die wahrgenommenen Dinge so existieren, wie ich sie wahrnehme, bleibt ungesichert. Hier kann Ubereinstimmung von Vorstellung und Sache nicht gegründet behauptet werden. Der Inhalt der Wahrnehmungen, so wie ich ihn durch die Sinne auffasse, ist nicht sehr klar und deutlich erfaßt (vgl. VI 10 / VII,80; VI 15 Ende / VII,83; III 19 / VII,43). Er wird daher durch die Regel der Wahrheit aus dem Bereich des Wahren ausgeschlossen47. — Erkenntnis materieller Dinge ist Erkenntnis ihres Wesens (essentia) in dem von Descartes näher bestimmten Sinn. Diese Erkenntnis faßt solches, das Gott schaffen kann, also Mögliches; ja, sie darf sicher sein, daß eine Welt körperlicher Dinge existiert (geschaffen worden ist und von Gott erhalten wird), in der die Wesen (essentiae) oder die „wahren und unveränderlichen Naturen" das Bestimmende sind. Descartes spricht von Gesetzen, „die Gott . . . in der Natur festgesetzt hat" (que Dieu a . . . etablies en la nature) und die „genau befolgt" werden „in allem, was ist oder geschieht in der Welt" (exactement observees, en tout ce qui est ou qui se fait dans le monde — Disc. V I / VI,41). Es sind, ganz im vorliegenden Sinn von Wesen (essentia), Gesetze, die, wenn Gott mehrere Welten geschaffen hätte, in jeder dieser Welten befolgt werden müßten (Disc. V I / VI,43), die also Gesetze jeder möglichen Welt sind. Gott hat diese Gesetze festgesetzt (vgl. oben und Disc. V I / VI,45: ayant etabli les lois de la nature). Sie, und d. h. die Wesen (essentiae) der Dinge sowie die mathematischen Wahrheiten, die über sie erkannt werden können, gründen mit ihrer Unabänderlich-
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keit und Ewigkeit in Gottes Willen; nachdem Gott sie festgesetzt hat, hat er sie auch für sich selbst verbindlich gemacht (siehe Med. 348 / VII,380)48. Gott ist Urheber der Gesetze der Natur, des Wesens der materiellen Dinge, der mathematischen Wahrheiten, die über sie erkannt werden können. Das ist alles dasselbe. Von den Gesetzen, „die Gott . . . in der Natur festgesetzt hat" (vgl. oben), hat er unseren Seelen Begriffe eingeprägt (Disc. V I / VI,41). Dort, wo Descartes in den Meditationen das Entdecken des Wesens materieller Dinge als Wiedererinnerung beschreibt (vgl. S. 75), sagt er mit Bezug gerade auch auf das zahllose Besondere, das ich über die Gestalten usw. erkenne, seine Wahrheit sei „offenbar" (aperta) und „mit meiner Natur übereinstimmend" (naturae meae consentanea — V 4 / VII,63 f.; vgl. aber S. 77f.). Ferner hält Descartes dafür, daß die Dinge die Wahrheit unserer Urteile fundieren (siehe Med. 148 / VII,163). Trotz dieser Hinweise auf Entsprechung, Ubereinstimmung, Fundierung und trotz der Begründung des Wesens der materiellen Dinge in Gott, dem Schöpfer, denkt Descartes die Dinge nicht im eigentlichen Sinn als wahr 49 , und folgerichtig versteht er auch Gott in dieser Beziehung wohl als Seinsgrund, nicht aber als Wahrheitsgrund. Läßt sich das erklären? Die Wahrheit der Dinge war bei Thomas eine doppelte: Angleichung der Dinge an den göttlichen Verstand einerseits, an den menschlichen Verstand andererseits. Angleichung der Dinge an den göttlichen Verstand bedeutete bei Thomas: Gottes Verstand gleicht sich die Dinge an, und das hieß, Gott gleicht die Dinge seinem Wesen als erkanntem an. Sein Wesen als von ihm erkanntes konnte als Idee der Dinge verstanden werden. Gott wurde urbildliche Ursache (causa exemplaris) genannt. Descartes hingegen betont den Primat des göttlichen Willens vor Gottes Verstand und läßt in Gott die Wirkursache (causa efficiens) die urbildliche Ursache verdrängen (vgl. Anm.48 zu diesem Kap.). Gottes Wille, frei im Sinne der Indifferenz, s e t z t das Wesen der Dinge. Die Dinge als wahr zu denken im Sinne der Angleichung an Gottes Verstand, ergäbe kaum noch einen Sinn. — Wichtiger noch ist die Frage, warum Descartes nicht dennoch die Dinge als wahr begreift im Sinne der Angleichung an den menschlichen Verstand, zumal Hinweise in diese Richtung zu deuten scheinen. Die Antwort auf diese Frage ist hier an früherer Stelle schon enthalten. Das Ich muß sich selbst durch die Methode die Möglichkeit schaffen, sich in der zunächst labyrinthisch erscheinenden Vielfalt der Dinge zurechtzufinden. Das Wesen der Dinge, die Gesetze der Natur sind weitgehend dem erkennenden Ich zunächst einmal verborgen. Es selbst hat einen entscheidenden Anteil daran, daß die Welt der körperli-
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chen Dinge für es erkennbar ist. Die gesetzmäßige Ordnung der Dinge muß von ihm — dank der von ihm selbst im Ausgang von seinen eigenen Grundoperationen entwickelten Methode — allererst aufgespürt werden. Für das Ich sind die Dinge, indem sie sind und weil sie von Gott geschaffen sind, nicht schon ,wahr'. Ohne Methode sind die Dinge nicht schon geeignet, im menschlichen Verstand eine wahre Auffassung von ihnen herbeizuführen (vgl. S.42f.). Die Wahrheit der Dinge und mit ihr Gott als Wahrheitsgrund der Dinge sind bei Descartes aus dem Gesichtsfeld herausgetreten, weil die Erkennbarkeit der Dinge für den menschlichen Verstand nun auch von diesem selbst abhängt (wenngleich immer noch auch von Gott als dem S e i n sgrund der Dinge). Von ,Wesenserkenntnis' war im vorigen mehrfach die Rede. Darunter wurde verstanden die Erkenntnis der materiellen Dinge, d. h. der Ausdehnung und der auf sie bezüglichen anderen Grundbestimmungen der Körper im allgemeinen und auch als Besonderes. Erkenntnis des Wesens (essentia) der materiellen Dinge (und auch des denkenden Dings, der res cogitans) faßt bei Descartes nichts, was als wesentliches Wassein einer Substanz gelten könnte; was die Substanzen selbst sind, ist uns verborgen, und das Erkennen hat sich an das wesentlichste Attribut der Substanz und an dessen Modi zu halten (vgl. Anm. 43 zu diesem Kap.). Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Probleme, die in vorangegangenen Kapiteln unter dem Titel ,Wesenserfassung' zu thematisieren waren, bei Descartes keine bedeutsame Rolle mehr spielen. Descartes hält nicht allzuviel vom Definieren. Die Definition etwa, die den Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen (animal rationale) bestimmt, trägt für das Erkennen gar nichts aus; die beiden in ihr verwendeten Termini sind nicht weniger dunkel als der, den sie bestimmen sollen, fordern also weitere Bestimmung durch andere Termini, für die dann wieder dasselbe gilt, und man gerät in ein Labyrinth, aus dem nicht mehr herauszufinden ist (Rech. 130f. / X,515f.; vgl. III 5 / VII,25). Ein solches Verfahren bedeutet, Worte aussprechen, und das in einer gewissen Ordnung, dennoch aber nichts sagen (Rech. 132 / X,517). Wie steht es aber bei einem so gewissen Satz wie dem: „Ich denke, also bin ich" (cogito, ergo sum)? Ist es nicht gerade nötig, schon vorher (ante) zu wissen, was Denken, was Existenz ist (quid cogitatio, quid existentia sit)? Descartes bejaht diese Frage und besteht gleichwohl darauf, daß Definitionen von ,Denken' und ,Existenz' hier nur schaden könnten, weil sie verdunkeln würden, was in höchstem Maße einfach und klar ist.
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Jedenfalls im Bereich solcher Dinge, die höchst einfach und klar sind, haben Definitionen nichts zu suchen. Hier handelt es sich nämlich um solches, „das aufs beste durch sich selbst erkannt werden kann" (quod optime per se ipsum cognosci potest). (Rech. 141 f. / X , 5 2 3 f . ) Höchst einfache und klare Dinge durch sich selbst erkennen, ist Sache der Intuition (intuitus), die Descartes in den Regulae (16 f. / X,368) thematisiert. Die Intuition, vom reinen Geist (pura mens) vollzogen, ist leicht und ihr Erfaßtes völlig zweifelsfrei (a. a. O.). Die Intuition ist ein sehr klares und deutliches Erfassen. Descartes gibt in den Regulae zahlreiche Beispiele für Dinge, die (in bezug auf unseren Verstand betrachtet) höchst einfach sind und aus denen die übrigen sich gewissermaßen (quodammodo) zusammensetzen (Reg. 86 / X,418): Erkenntnis, Zweifel, Nichtwissen, Willenshandlung; Gestalt, Ausdehnung, Bewegung; Existenz, Einheit, Dauer (Reg. 86 f. / X,419). (Diesen einfachen Naturen — naturae simplices — werden gleichgestellt Prinzipien, die Verknüpfung unter ihnen möglich machen, ζ. B. „was einem Dritten gleich ist, ist untereinander gleich" — quae sunt eadem uni tertio, sunt eadem inter se, Reg. 88 / X,419). Die einfachen Naturen, durch sich und zweifelsfrei erkannt, enthalten keinerlei Falschheit. Einfach, wie sie sind, werden sie von uns, wenn wir nur das mindeste von ihnen erfassen, auch schon ganz erfaßt. Irrtum ist ausgeschlossen. Falsch könnte hier nur ein Urteil sein, in dem wir behaupten, solche Naturen würden nicht ganz von uns erfaßt, es bleibe uns etwas von ihnen verborgen (ein Urteil, das nur entstehen kann, wenn die erkennende Vernunft sich die Einfachheit jener Gegenstände und ihr Verfahren, sie zu erfassen, die Intuition, nicht klargemacht hat). (Reg. 88 f. / X , 4 2 0 f . ) Auch in den Regulae lehnt Descartes Definitionen der einfachen Naturen ab. Sie definieren, das wäre: Zusammengesetztes an die Stelle des Einfachen, Unverständliches an die Stelle von solchem setzen, das jedem bekannt ist (Reg. 98 / X,426). Descartes faßt das Definieren als ein Zusammensetzen auf und hält eben deshalb die Definition für unfähig, Einfaches klar und deutlich zu fassen. Die Definition ist bei höchst einfachen und klaren Dingen verdunkelnd. Aus dem Bereich dieser Dinge sind damit Gattung und spezifische Differenz, ist die Art ausgeschlossen. Das bekundet Descartes' Entfernung vom Wesen im Sinne der Tradition. Dennoch hält er das Erfassen dessen, ,was' Denken, Ausdehnung, Existenz usw. ist, für unerläßlich. Die Intuition, soweit sie solche höchst einfachen und klaren Dinge erfaßt, ist verwandt dem Fassen des Wesens (als eines einfachen Einen) bei Aristoteles und kann wie dieses nicht falsch sein.
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Während das Fassen des Wesens bei Aristoteles jedoch Nichtwissen zum Gegensatz hat, ist das Erfassen der höchst einfachen und klaren Dinge wie Denken, Ausdehnung, Existenz nach Descartes so leicht, daß jeder es vermag. (Daher braucht Descartes sich nicht darüber zu beunruhigen, daß die Intuition, soweit sie derartige Dinge von höchster Einfachheit und Klarheit faßt, offensichtlich keine Möglichkeit hat, sich angemessen zu artikulieren.) — Descartes hat sich vom Wesen im Sinne der Tradition entfernt (was die Substanzen selbst sind, bleibt menschlichem Erkennen verborgen). Wesentliche Attribute (Denken, Ausdehnung) rücken an seine Stelle. Sie und ihre Modi werden in ihrem ,Was' erfaßt durch einen Denkvollzug, der dem Fassen des Wesens bei Aristoteles ähnlich ist. Ein Wahrheitsproblem gibt es bei diesem höchst klaren und deutlichen Erfassen für Descartes hier nicht (vgl. Anm. 24 zu diesem Kap.). Wohl aber gilt es, die Bedeutung der Intuition durchsichtig zu machen, die Intuition gegenüber fruchtlosen Bemühungen auf ihrem Feld (wie das Definieren) abzugrenzen und dies alles im Methodenbewußtsein ständig gegenwärtig zu halten 50 . Weniges muß noch über das Urteil gesagt werden. Die Abhebung des Urteils von der Idee wurde schon gestreift (S. 68 f.): Urteile fügen den Ideen (die „gleichsam Bilder der Dinge" sind), das ,ist* oder ,ist nicht' hinzu. Sie bejahen oder verneinen das Sein des Vorgestellten. In diesem Beziehen einer Vorstellung auf etwas außer ihr51 liegt die Möglichkeit des Irrtums 52 . Der Erkennende hat aber die Möglichkeit, Irrtum zu vermeiden, wenn er nämlich nur das bejaht oder verneint, was er klar und deutlich erfaßt hat, und sich in allen anderen Fällen des Urteils enthält 53 . Daß auch nach Descartes die Dinge die Wahrheit der Urteile fundieren, wurde schon erwähnt (S. 77). Descartes gründet die Wahrheit menschlicher Erkenntnis auf das Ich und auf Gott. In welchen Denkvollzügen geschieht das ? Was zunächst das Ich als erstes Wahres betrifft, so war schon zu sagen: Das Ich bringt im Gedanken „Ich bin" seine eigene Existenz vor sein Denken und faßt darin ein notwendig Wahres. Die denkende Substanz denkt ihr Denken als seiend und damit sich selbst als seiend. Diesen Akt als Grundakt des Selbstbewußtseins zu bezeichnen, dürfte von der Tradition des Deutschen Idealismus her betrachtet als übertrieben erscheinen. Aber ein Schritt in diese Richtung ist getan. — Das Ich hat klares und deutliches Erfassen möglich zu machen, zu sichern und bewußt zu halten (vgl. S. 73). Es hat die
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Methode zu entwickeln. Das geschieht in einem Denkvollzug, den man als Reflexion bezeichnen mag: Das erkennende Ich richtet seine Aufmerksamkeit auf sich selbst, es bringt sich seine wenigen Grundoperationen und seine Möglichkeiten ihres geordneten Vollzugs zu deutlichem Bewußtsein. Es ist dabei geleitet von dem Selbstverständnis, daß die erkennende Vernunft sich selbst völlig durchsichtig ist. Ausführlicher ist zu handeln von der Erkenntnis des göttlichen Wahrheitsgrundes. Des Daseins Gottes als des Schöpfers des Ich und des Garanten der Wahrheit ist das Ich gewiß durch Beweis. Ein anderer Weg zu G o t t als Wahrheitsgrund steht nicht offen, wenn, jedenfalls nach Descartes' Auffassung, radikal gezweifelt worden ist und wenn das Ich im Blick auf sich selbst als erstes Wahres sich klargemacht hat, daß das Wahre das Gewisse ist, d. h. das, woran zu zweifeln unmöglich ist. Nun hat Descartes keine Möglichkeit, im Ausgang von der Welt Gottes Dasein zu beweisen. Dinge außerhalb des Ich sind ja in ihrem Sein so lange zweifelhaft, als Gott nicht als Wahrheitsgrund in Anspruch genommen werden kann. Descartes kann nur ausgehen vom Ich und seinen Vorstellungen. Und er hat, wenn er es selbst auch nicht eindeutig sagt, eine Regel der Wahrheit zur Verfügung, die für Erkenntnisprinzipien in Kraft ist und die eine ,Wahrheit' von Ideen im Sinne der Sachhaltigkeit trägt. Ausgangspunkt für den Gottesbeweis der dritten Meditation ist eine als sachhaltig anzusehende, weil klar und deutlich erfaßte Idee Gottes in einem Ich, dessen Existenz gewiß ist. Der Inhalt dieser Idee (vgl. S . 6 8 ) wird als notwendig angesehen (vgl. ebd.). Er wird als fraglos vorausgesetzt. Zu ihm wird kein Weg gebahnt und kann von Descartes kein Weg gebahnt werden. Denn ausgehend vom Ich als denkendem Ding (res cogitans), und nur als das ist es erstes Wahres und gesichert, können die Attribute Gottes nicht gewonnen werden. Und erst wenn bewiesen ist, daß das Wesen mit all den Attributen, die in der Idee Gottes vorgestellt sind, existiert, kann anderes Seiendes gegründet angenommen werden. Daß Gott, wenn er existiert, eine ewige, unabhängige, unendliche, allwissende, allmächtige Substanz und der Schöpfer aller Dinge außer ihm ist, wird als gewiß und notwendig vorausgesetzt 54 . Dieser Inhalt der Gottesidee ist als faktischer und fertiger im Ich anzutreffen 55 . E r ist nicht Resultat zuvor zu vollziehender Erkenntnisschritte. (Auch darf er als Fundament des Gottesbeweises keinen Bezug zur Offenbarung und keine geschichtliche Dimension haben.) Hier ist man nun abermals Zeuge, daß die Radikalität von Descartes' Zweifel ihre Grenzen hat. Für die Bestimmung, daß Gott Schöpfer ist, hat Descartes selbst in der
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dritten Meditation, freilich ohne es dort zuzugeben, einen Beweis für nötig erachtet56. Daß die Vorstellung, Gott sei Schöpfer aller Dinge außer ihm, als metaphysische christlichen Ursprungs ist und in der ,Idee Gottes', die etwa Piaton oder Aristoteles in ihrem Ich ,antrafen', nicht enthalten war, mußte Descartes wohl auch bei seinen Lesern als bekannt voraussetzen57. Bedarf aber e i n e Bestimmung in der Idee Gottes (einer Idee, von der sich nach Descartes nichts wegnehmen und der sich nichts hinzufügen läßt) einer Begründung, warum dann nicht auch andere? Etwa die Allmacht? Immerhin treffe ich nach Descartes in mir eine gewisse negative Idee des Nichts an und muß mich, sofern mir vieles mangelt, als teilhabend an diesem Nichts begreifen — konnte Gott das nicht verhindern, oder wollte er es nicht? (Siehe IV 4 ff. / VII,54 ff.) Descartes hat Gott als Wahrheitsgrund menschlicher Erkenntnis gedacht. Gemäß dem Anspruch, unter den er das Erkennen stellte, konnte er das nur auf dem Weg des Beweises. Als Beweisanfang konnte ihm einzig die Idee Gottes dienen. Um als Beweisanfang zu gelten, mußte diese Idee einen schlechthin notwendigen Inhalt haben. Ihr Inhalt, selbst unbeweisbar58, mußte von allen Denkwegen, die zwar zu wahren, nicht aber zu notwendig wahren Ergebnissen führen, abgetrennt oder ferngehalten werden. Daß so verfahren werden kann, ist alles andere als unzweifelhaft. Das Ich der Meditationen bekundet ein verkürztes Selbstverständnis der menschlichen Vernunft, wenn es sich zutraut und beansprucht, durch einen Beweis Gott als Wahrheitsgrund menschlicher Erkenntnis zu fassen. Der universale Anspruch auf Erkenntnisgewißheit (in Descartes' Sinn), ausgedehnt auch auf das Erfassen eines letzten Wahrheitsgrundes außerhalb der menschlichen Vernunft, birgt in sich ein Moment der Selbstverkennung dieser Vernunft, der Verkennung ihrer Grenze. Nun kann man natürlich darauf verweisen, daß Descartes für die Faktizität der Idee Gottes im Ich und für die Notwendigkeit ihres Inhalts einen Grund angegeben hat: Gott selbst ist ja Urheber dieser Idee im Ich; er, der Schöpfer, hat sie der menschlichen Vernunft, seinem Geschöpf, eingeprägt (vgl. Anm. 25 zu diesem Kap.). Aber das für die Idee Gottes, insofern sie Beweisanfang ist, in Anspruch nehmen, ließe den Beweis an einem Zirkel scheitern. Es bleibt dabei, daß die Idee Gottes für den Beweis als ein Faktum und nur als das vorausgesetzt ist59. Bei Descartes wird die Frage nach Wahrheit und Wahrheitsgrund von einem Ich aufgeworfen, das sich einen umfassenden Zweifel zumutet, damit zugleich für sein Erkennen den Anspruch der stets zu sichernden Gewiß-
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heit aufstellt, das in unerschütterlichem Selbstvertrauen seinem Anspruch glaubt genügen zu können, das sich selbst als Geist für ganz durchsichtig hält, sich Selbständigkeit und Mündigkeit zuschreibt. Das ist in dieser Bedeutsamkeit neu und geschichtsträchtig. Andererseits ist Descartes, zumal indem er neben dem seiner Existenz gewissen denkenden Ich gerade auch Gott als Wahrheitsgrund denkt (ohne den das Ich keine Gegenstände hätte, sondern nur Vorstellungen mannigfaltigsten Inhalts als seine eigenen Zustände), der Tradition eng verbunden. Hier bewahrt er, sie verwandelnd, Geschichte. — Thomas hatte ein bis auf Piaton und Aristoteles zurückgehendes Wahrheitsverständnis in der Formel artikuliert: ,Wahrheit ist Angleichung von Sache und Verstand.' Und er hatte von dieser Formel aus die Wahrheitsfrage nach allen denkbaren Hinsichten erörtert. Bei Descartes nimmt eine „Regel der Wahrheit" eine ähnliche Schlüsselstellung ein. In dieser Regel ist die Uberzeugung, daß Wahrheit Angleichung von Sache und Verstand sei, aufbewahrt, ohne daß sie noch auf die Fülle der Bezüge führt, zu der Thomas gelangte. Die Dinge als wahr zu verstehen, gibt bei Descartes weder für das Verhältnis der Dinge zu Gott noch für das Verhältnis der Dinge zum menschlichen Verstand einen rechten Sinn. Und wenngleich auch Descartes Gott als „Quelle aller Wahrheit" und „höchst wahrhaftig" begreift, folgt er doch Thomas nicht darin, i η Gott Wahrheit als Angleichung von Sache und Verstand zu denken. Descartes' Regel der Wahrheit handelt von der Angleichung von Sache und Verstand im menschlichen Erkennen. Und hier nun tut sie einen charakteristischen und geschichtlich bedeutsamen Schritt über die von Thomas zur Bedeutung gebrachte Formel hinaus: Sie nimmt die Forderung der Gewißheit in die Bestimmung der Wahrheit selbst auf60. Wahrheit im menschlichen Verstand war bei Thomas primär Wahrheit des Urteils. Uber diese brauchte Thomas nur wenig zu sagen, war doch das Wesentliche hier längst dargelegt. Entsprechendes gilt für Descartes. Die Frage nach der Wahrheit im menschlichen Verstand ließ Thomas das Thema der Wesenserfassung aufgreifen, das ihn in Schwierigkeiten brachte. Seine Lösungen verhalfen dem Urteil im menschlichen Erkennen zur Vorherrschaft. Descartes geht hier einen Schritt weiter: Definitionen verdunkeln eher, als daß sie klären. Jedenfalls im Bereich einfacher und klarer Dinge schaden sie nur61. Gleichwohl ist bei Descartes ein Erfassen einfacher Naturen in ihrem Was von großer Bedeutung, und diese Erfassungsart erinnert an das Fassen des Wesens bei Aristoteles. Wahrheit der Dinge als deren Seinsweise, als Wahr s e i n (ontologische
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Wahrheit) ist für Descartes kein Thema mehr62. Damit hat sich eine Tendenz durchgesetzt, die bei Aristoteles zu beobachten war und der Thomas insoweit folgte, als er der Wahrheit im menschlichen Verstand eindeutig den Vorrang gab vor der Wahrheit der Dinge in ihrem Verhältnis zum menschlichen Verstand. Es bleiben die Fragen nach den erkennbaren Dingen und nach dem Grund ihrer Erkennbarkeit. Erkennbar ist nur das ,Wesen' der materiellen Dinge, deren Existenz aber zur Gewißheit gebracht werden kann. Die Frage nach dem Grund der Erkennbarkeit der Dinge für uns führt einerseits, und das verbindet Descartes mit der Tradition, auf Gott als den Seinsgrund der Dinge. Sie führt andererseits, und das ist die neuzeitliche Wendung im Denken Descartes', auf das erkennende Subjekt. Dieses hat bei Descartes an der Erkennbarkeit der Dinge entscheidenden Anteil, indem es sich durch die von ihm selbst aufzubringende Methode den Weg bahnt zu den ihm zunächst verschlossenen Seinsverhältnissen, die Gott für die Dinge festgesetzt hat und die — darin berührt sich Descartes mit Piaton, Aristoteles und Thomas — die Wahrheit der Erkenntnis fundieren. Kant wird versuchen, die Erkennbarkeit der Dinge für uns ganz aufs erkennende Subjekt zu gründen, wozu es nicht mehr genügen wird, das Ich als Ursprung der Methode zu denken. Im Unterschied zur Tradition liegt bei Descartes das ganze Gewicht der Wahrheitsthematik auf der Frage nach dem Wahrheitsgrund. Und anders als bei Piaton und Thomas ist die Rückgründung der Wahrheit menschlichen Erkennens ins Göttliche jetzt nur möglich auf dem Grund des seiner Existenz schlechthin gewissen denkenden Ich. Ohne zuvor das Ich als Fundament zu denken, kann Descartes zum göttlichen Wahrheitsgrund nicht mehr vordringen. N e u ist auch, daß Gott Wahrheitsgrund menschlichen Erkennens primär als Wahrheits g a r a η t ist. Daß Gott als Schöpfer der Welt ihre Gesetze festlegt, die den Gegenstand menschlichen Erkennens ausmachen, und daß er Ursache der menschlichen Erkenntniskraft ist, bleibt an Bedeutung weit dahinter zurück, daß Gott die Gültigkeit der Regel der Wahrheit garantiert. Durch Gott ist garantiert, daß das Ich in seinem klaren und deutlichen Erfassen von Dingen über sich hinauskommt, daß es Seiendes, Gegenstände erfaßt und nicht in einer wenn auch noch so stimmigen ,Welt' bloßer Vorstellungen gefangen ist. Bei Kant wird Gott nicht mehr als Wahrheitsgarant in Anspruch genommen werden können. Kant wird die Frage neu stellen: Was sichert dem erkennenden Subjekt eine Beziehung zu Gegenständen, die wahr genannt werden kann? Weder Piaton noch Thomas hatten den göttlichen Wahrheitsgrund in
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einem Denkvollzug zu fassen vermocht, dessen Wahrheit Angleichung von Sache und Verstand wäre. Für Descartes hingegen geht es gerade auch bei diesem Schritt der Grundlegung um Wahrheit im Sinne der Regel der Wahrheit, um Gewißheit der Angleichung, und für ihn kommt daher hier nur ein Beweis in Frage. E r beansprucht, den Wahrheitsgrund (ohne den das menschliche Erkennen nicht über die Selbstgewißheit des denkenden Ich hinaus zu Gegenständen käme) d u r c h B e w e i s als a u ß e r h a l b des Ich gedacht zu haben. Er übersieht dabei, daß er von einem problematischen Beweisanfang ausgeht. Er fragt nämlich nicht, auf welchen Denkwegen der menschliche Verstand zu dem Inhalt der Gottesidee gelangt ist (falls er Thomas befragt hätte, wäre er auf die Analogie gestoßen, ferner auf Gottesbeweise, die er wegen ihres Ausgangs von der sichtbaren Welt nicht aufgreifen kann). Descartes nimmt vielmehr diesen Inhalt als faktisch und schlechthin notwendig. Schon um dieses (an Descartes' Wahrheitsregel gemessen) ungesicherten Beweisanfanges willen darf der Beweischarakter der Darlegung bestritten werden. Hier verhebt sich die endliche menschliche Vernunft in ihrem Bestreben, Wahrheit in einem notwendig wahren Denkvollzug transzendent zu begründen. Kant wird eine vernunftkritische Position einnehmen, die einen solchen Versuch verbietet. Descartes, von der Radikalität seines Zweifels überzeugt, hat doch an zwei entscheidenden Punkten nicht gezweifelt — bezüglich des Inhalts bzw. der Herkunft der Gottesidee und bezüglich der ersten Erkenntnisprinzipien, mindestens jedenfalls des Satzes vom Widerspruch. In diesen Punkten zu zweifeln, hätte die Selbstaufgabe der erkennenden Vernunft bedeutet. Kant und Nietzsche werden radikaler sein als Descartes — Kant, indem er die reine Vernunft einer eingehenden K r i t i k unterzieht und damit der schon von Descartes erhobenen Forderung einer Vernunftkritik viel entschiedener nachkommt als dieser selbst, Nietzsche, indem er .Wahrheit' einzig durch Irrtümer ermöglicht sieht.
5. Kapitel: Kant Kants theoretische Philosophie ist radikale Vernunftkritik. Sie vollzieht eine Wende, die Kant selbst als kopernikanisch begriffen hat (vgl. S. 103) und die ihn, was seine Grundposition betrifft, in Gegensatz bringt zur gesamten philosophischen Tradition, auch zu Descartes, dessen Weg er doch fortsetzt. Für Kants theoretische Philosophie ist die Wahrheitsfrage zentral. Dabei geht es Kant nicht um eine neue Bestimmung des Begriffs der Wahrheit. Hingegen ist jene kopernikanische Wende bestimmend für seine Antwort auf die Frage, wodurch dem Menschen wahre Erkenntnis von Gegenständen möglich ist. Gemäß der zu Beginn der Einleitung mitgeteilten Beschränkung dieser Untersuchung wird im folgenden die Wahrheitsfrage bei Kant erörtert, soweit sie sich für die theoretische Erkenntnis stellt. Fragen wie die, ob und in welchem Sinne ein Denken der praktischen Vernunft oder ein Vernunftglaube wahr sein können, bleiben unberücksichtigt. Die für die Untersuchung relevantesten Texte finden sich in den folgenden drei Werken Kants: in der Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage = A: 1781; 2. Auflage = B: 1787), in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können1 (1783) und in der Kritik der Urteilskraft (1. Auflage 1790; 2. Auflage = B: 1793; 3. Auflage 1799). Äußerungen in anderen Schriften werden gelegentlich beigezogen2. Die Frage, was menschliche Erkenntnis ist und vermag, und damit die Frage nach ihrer Wahrheit, führt in Kants kritischer Philosophie auf „zwei Grundquellen des Gemüts", aus denen unsere Erkenntnis „entspringt" (KrV A 50 = Β 74). Die eine dieser Grundquellen ist das Vermögen, „Vorstellungen zu empfangen" oder „die Rezeptivität der Eindrücke"; durch sie „wird uns ein Gegenstand g e g e b e n " (ebd.). Das Gemüt empfängt Vorstellungen, wenn es „auf irgend eine Weise affiziert wird" (KrV A 51 = Β 75). Ein anderer Name für die Rezeptivität unseres Gemüts ist: Sinnlichkeit (ebd.). — Die andere Grundquelle ist der Verstand. Er ist „das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die S p o n t a -
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n e i t ä t des Erkenntnisses" (ebd.). Seine Aufgabe ist es, den Gegenstand, der durch die Rezeptivität gegeben ist, zu denken 3 . — Den zwei Grundquellen der Erkenntnis in unserem Gemüt entsprechen zwei Grundarten von Vorstellungen: Anschauung und Begriff. Entscheidend für Kants Vernunftkritik und für die Wahrheitsfrage ist hier nun zunächst zweierlei: 1. Anschauung u n d Begriff werden zu j e d e r Erkenntnis erfordert. Sie sind „die Elemente aller unsrer Erkenntnis" (KrV A 50 = Β 74). Weder durch Anschauungen allein noch durch Begriffe allein wird ein Gegenstand erkannt. „Anschauungen ohne Begriffe sind blind" (KrV A 51 = Β 75), sie ,sehen' in Wahrheit gar keinen Gegenstand. Ebensosehr gilt aber: „Gedanken ohne Inhalt sind leer" (ebd.). Der Verstand mag immerhin Begriffe hervorbringen und verknüpfen. Bezieht er sie nicht auf Anschauungen, so treibt er ein leeres Gedankenspiel. „Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen)" (ebd.) 4 . 2. Wenn Anschauung zur Erkenntnis erfordert ist, so beinhaltet das für Kant, daß menschliche Erkenntnis jederzeit auf Sinnlichkeit angewiesen ist. Denn: „Der Verstand vermag nichts anzuschauen" (KrV A 51 = Β 75). Und es gilt mit aller Entschiedenheit: „Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die A n s c h a u u n g niemals anders als s i n n l i c h sein kann, d.i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden" (ebd.). Ohne Anschauung gibt es keine Erkenntnis, und menschliche Anschauung ist stets sinnlich. Das bedeutet nun freilich nichts Geringeres, als daß dem Menschen Erkenntnis des Ubersinnlichen versagt ist. Menschliche theoretische Vernunft reicht zur Erkenntnis des Ubersinnlichen nicht zu. Das heißt nicht, daß ihr keine andere Erkenntnis als Erfahrung möglich sei, also keine Erkenntnis a priori. Wohl aber heißt es, daß von (theoretischer) E r k e n n t n i s a priori (sofern sie mehr sein soll als eine bloße Erläuterung von Begriffen) rechtmäßig nur gesprochen werden kann, wenn das Erkennen, wiewohl nicht aus Erfahrung entsprungen, doch auf Erfahrung bezogen ist. Das gilt für die Mathematik 5 , und es gilt für die Philosophie, soweit sie beansprucht, Wissenschaft zu sein6 (sowie selbstverständlich für eine reine Naturwissenschaft 7 ). Der Verstand kann „die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb denen uns allein Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten" (KrV A 246 = Β 303). „In dem Ganzen aller möglichen Erfahrung liegen . . . alle unsere Erkenntnisse" (KrV A 1 4 6 = Β 185). Das Ganze aller möglichen Erfahrung ist die Natur, und so gilt es, „niemals . . . ihre Grenze zu
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überfliegen, außerhalb welcher f ü r u n s nichts als leerer Raum ist" (KrV A 702 = Β 730). Was „außerhalb dem Felde möglicher Erfahrung" liegt, liegt „darum auch außer den Grenzen aller menschlichen Einsicht" (KrV A 753 = Β 781). Die Metaphysik der Tradition hat nach Kants Urteil diese „Grenzen aller menschlichen Einsicht" ständig überschritten und also ihren Anspruch, Wissenschaft zu sein, zu Unrecht erhoben. „Der M e t a p h y s i k . . . ist das Schicksal bisher noch so günstig nicht gewesen, daß sie den sichern Gang einer Wissenschaft einzuschlagen vermocht h ä t t e . . . In ihr muß man unzählige mal den Weg zurück tun, weil man findet, daß er dahin nicht führt, wo man hin will, und was die Einhelligkeit ihrer Anhänger in Behauptungen betrifft, so ist sie noch so weit davon entfernt, daß sie vielmehr ein Kampfplatz ist, der ganz eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können. Es ist also kein Zweifel, daß ihr Verfahren bisher ein bloßes Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen, gewesen sei" (KrV Β X I V f.). Es ist klar, daß diesem negativen Urteil über die metaphysische Tradition auch alles zum Opfer fällt, was sie über Wahrheit und Wahrheitsgrund auszumachen meinte, sofern sie dabei die Schranken der Sinnlichkeit überschritt. Gerade auch die Fragen nach der Wahrheit und ihrem ermöglichenden Grund dürfen ,die Grenze der Natur niemals überfliegen', wenn sie eine wissenschaftlich verantwortete Antwort finden sollen. Kant hat sich daran gehalten 8 , und es wird sich im späteren Verlauf dieses Kapitels zeigen, daß seine Antworten auf jene Fragen ebenso revolutionär sind, wie seine Verurteilung einer zweitausendjährigen Geschichte der Metaphysik aufreizend bleibt. Wahrheit hat für Kant ihren Ort im Urteil und nur dort. „Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, so fern er gedacht wird" (KrV A 293 = Β 350). Wahrheit hat Irrtum zum Gegensatz. Auch der Irrtum hat seinen Ort im Urteil. N u n ist das Vermögen zu urteilen der Verstand. Die Sinne urteilen nicht. „Man kann also zwar richtig sagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen. Daher sind Wahrheit sowohl als Irrtum, mithin auch der Schein, als die Verleitung zum letzteren, nur im Urteile, d. i. nur in dem Verhältnisse des Gegenstandes zu unserm Verstände anzutreffen" (ebd.) 9 . Das Urteil ist ein Verhältnis des Gegenstandes zu unserem Verstand. Der
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Verstand stellt dies Verhältnis her, und dabei können wahre, aber auch falsche Urteile entstehen10. Der ,wahre Gebrauch' des Verstandes ist sein ,objektiv gültiger Gebrauch' (vgl. KrV A131 = Β170). Wahrheit des Urteils ist objektive Gültigkeit des Urteils, Gültigkeit in bezug auf den Gegenstand und durch diesen Bezug. Die Aufgabe der transzendentalen Analytik als einer „Logik der Wahrheit" besteht darin, die so verstandene Wahrheit zu denken, indem sie ihre Möglichkeit aufweist11. Wahrheit 12 besteht „in der Ubereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstande" (KrV A 58 = Β 83)13. Auf dem Boden dieser gültigen Bestimmung der Wahrheit hat man die Frage, was Wahrheit sei, gestellt als die Frage danach, „welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei" (KrV A 58 = Β 82). Kant begegnet denen, die so fragen, mit vorwurfsvollem Spott14. Es kann „ein hinreichendes, und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden" (KrV A 59 = Β 83). Und das ist gerade deshalb unmöglich, weil Wahrheit die Ubereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand ist. Die Gegenstände sind verschieden. Und ist ein Urteil mit diesem Gegenstand übereinstimmend und also wahr, so wäre es von einem andern davon verschiedenen Gegenstand falsch. Ein hinreichendes Kriterium der Wahrheit von Erkenntnissen könnte von den Gegenständen der Erkenntnis nicht absehen. Das wäre aber zu einem allgemeinen Kriterium der Wahrheit erfordert 15 . Also kann es kein Kriterium der Wahrheit geben, das ebensowohl hinreichend als auch allgemein wäre16. Indessen gibt es wohl nicht hinreichende allgemeine Kriterien der Wahrheit. Es sind dies „die allgemeinen und notwendigen Regeln des Verstandes", von denen die formale Logik handelt (KrV A 59 = Β 83 f.). Was ihnen widerstreitet, ist falsch. Der Verstand kann gegen sie nicht verstoßen, ohne sich selbst als Vermögen des Denkens aufzuheben. Sie sind notwendige und damit allgemeine Kriterien der Wahrheit. Aber sie reichen nicht hin, um die Wahrheit einer Erkenntnis zu verbürgen, weil sie nur auf deren logische Form, nicht auch auf den Inhalt gehen: „Diese Kriterien aber betreffen nur die Form der Wahrheit, d. i. des Denkens überhaupt, und sind so fern ganz richtig, aber nicht hinreichend. Denn obgleich eine Erkenntnis der logischen Form völlig gemäß sein möchte, d. i. sich selbst nicht widerspräche, so kann sie doch noch immer dem Gegenstande widersprechen. Also ist das bloß logische Kriterium der Wahrheit, nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zwar die conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit: weiter aber kann die Logik
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nicht gehen, und den Irrtum, der nicht die Form, sondern den Inhalt trifft, kann die Logik durch keinen Probierstein entdecken" (KrV A 59 f. = Β 84). Immerhin, es gibt das logische Kriterium der Wahrheit — als eine conditio sine qua non. Doch darf es eben nicht überschätzt werden. Es bleibt, als Bedingung, gegen die nicht verstoßen werden darf, eine negative Bedingung der Wahrheit, mit der über die positive, den Inhalt der Erkenntnis betreffende Wahrheit, also die Ubereinstimmung mit dem Gegenstand, nichts entschieden ist. „Weil aber die bloße Form des Erkenntnisses, so sehr sie auch mit logischen Gesetzen übereinstimmen mag, noch lange nicht hinreicht, materielle (objektive) Wahrheit dem Erkenntnisse darum auszumachen, so kann sich niemand bloß mit der Logik wagen, über Gegenstände zu urteilen, und irgend etwas zu behaupten, ohne von ihnen vorher gegründete Erkundigung außer der Logik eingezogen zu haben, um hernach bloß die Benutzung und die Verknüpfung derselben in einem zusammenhangenden Ganzen nach logischen Gesetzen zu versuchen, noch besser aber, sie lediglich darnach zu prüfen" (KrV A 60 = B85)' 7 . Gerade darin aber, wie es möglich ist, über die Gegenstände „gegründete Erkundigung außer der Logik" einzuziehen, liegt das Problem der Wahrheit. Was Kant allgemein über die logischen Verstandesregeln als negative Bedingung der Wahrheit ausgeführt hat, gilt auch vom Satz vom Widerspruch, der von Kant als „ein bloß logischer Grundsatz" (KrV A 152 = Β 192) aufgefaßt wird. „Der Satz nun: Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht, heißt der Satz des Widerspruchs, und ist ein allgemeines, obzwar bloß negatives, Kriterium aller Wahrheit, gehört aber auch darum bloß in die Logik, weil er von Erkenntnissen, bloß als Erkenntnissen überhaupt, unangesehen ihres Inhalts gilt, und sagt: daß der Widerspruch sie gänzlich vernichte und aufhebe" (KrV A 151 = Β 190)18. Ein Urteil, das die bloß negative Bedingung erfüllt, keinen Widerspruch zu enthalten, kann sehr wohl dennoch falsch sein. Denn es kann immer noch „Begriffe so verbinden, wie es der Gegenstand nicht mit sich bringt" (KrV A 150 = Β 190). Für Urteile, die Begriffe v e r b i n d e n (Synthesis), ist der Satz vom Widerspruch ein allgemeines, aber nicht hinreichendes und nur negatives Kriterium ihrer Wahrheit. Hier unterscheidet er sich in dem, was er als Wahrheitskriterium zu leisten vermag, nicht von den übrigen logischen Verstandesregeln. Dagegen kommt ihm die Bedeutung eines hinreichenden und positiven Kriteriums der Wahrheit zu für analytische Urteile, für Urteile also, in denen der Urteilende mit dem Prädikatsbegriff über den Subjektsbegriff nicht hinausgeht, sondern aus diesem nur einen Teilbegriff
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heraushebt, der schon in ihm enthalten ist, wodurch er sich den Subjektsbegriff klarer macht bzw. ihn erläutert19. In bezug auf analytische Urteile kann man von dem Satz vom Widerspruch „auch einen positiven Gebrauch machen", nämlich um „Wahrheit zu erkennen. Denn, w e n n d a s U r t e i l a n a l y t i s c h ist, es mag nun verneinend oder bejahend sein, so muß dessen Wahrheit jederzeit nach dem Satze des Widerspruchs hinreichend können erkannt werden. Denn von dem, was in der Erkenntnis des Objekts schon als Begriff liegt und gedacht wird, wird das Widerspiel jederzeit richtig verneinet, der Begriff selber aber notwendig von ihm bejahet werden müssen, darum, weil das Gegenteil desselben dem Objekte widersprechen würde" (KrV A151 = Β190 f.). Der Satz vom Widerspruch ist „das allgemeine und völlig hinreichende P r i n c i p i u m a l l e r a n a l y t i s c h e n E r k e n n t n i s " (KrV A151 - B191)20. Nun ist aber klar, daß es auf analytische Erkenntnis um ihrer selbst willen kaum ankommt. So wichtig sie ist zur Klärung unserer Begriffe — worum es uns eigentlich geht im Erkennen, das ist doch die Erweiterung der Erkenntnis, und die vollzieht sich in synthetischen Urteilen. Für diese aber reicht der Satz vom Widerspruch und reichen alle übrigen logischen Verstandesregeln als Kriterien der Wahrheit nicht hin, wie unnachläßlich sie auch ihre negativen Bedingungen sind. Hier fragt es sich gerade über alle Widerspruchsfreiheit und logische Richtigkeit hinaus, was dafür einsteht, daß wir ,die Begriffe so verbinden, wie es der Gegenstand mit sich bringt'. — Wahrheit i s t Übereinstimmung der Erkenntnis mit den formalen, logischen Gesetzen des Verstandes. Aber dieser Begriff der Wahrheit ist unzureichend. Uber ihn muß mit dem Begriff hinausgegangen werden, daß „Ubereinstimmung der Erkenntnis mit dem Objekt Wahrheit ist" (KrV A191 = Β 236)21. In diesem Sinne ist Wahrheit „objektive Gültigkeit" (KrV A125 und A 788 = Β 816). Objektive Gültigkeit eines Urteils als Übereinstimmung des Urteils mit dem Gegenstand bedeutet nun aber zugleich die Gültigkeit des Urteils für jedermann; „denn wenn ein Urteil mit einem Gegenstande übereinstimmt, so müssen alle Urteile über denselben Gegenstand auch unter einander übereinstimmen..." (Proleg. A 78 / IV,298). „Es sind daher objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeingültigkeit (vor jedermann) Wechselbegriffe" (Proleg. A 79 / IV,298). D i e s e r Wahrheitsbegriff (Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand) führt bei Kant für synthetische Urteile auf das Wahrheitsproblem, wenn er nämlich zusammengedacht wird damit, daß Gegenstände uns gegeben werden müssen, und zwar in einer sinnlichen Anschauung.
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Übereinstimmung der E r f a h r u n g mit dem Gegenstand erscheint als unproblematisch. Anders gesprochen: Synthetische Urteile a posteriori enthalten, so scheint es wenigstens, kein Problem, insofern ihnen ja ein Gegenstand vorweg gegeben ist, nach dem sie sich richten können. Können aber synthetische Urteile a priori wahr sein? Kann es denn eine Ubereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand geben, ehe noch der Gegenstand in einer Anschauung gegeben ist? Kants revolutionäre Wahrheitsthese antwortet auf diese Frage. Die Antwort lautet: Ja, eine solche Ubereinstimmung kann und muß es geben, jedoch nicht so, daß die Erkenntnis sich nach den Gegenständen richtet, sondern vielmehr umgekehrt so, daß die Gegenstände sich nach der Erkenntnis richten. Demnach gibt es wahre Erkenntnisse a priori, die eben dadurch wahr sind, daß die Gegenstände der Erfahrung sich nach ihnen richten. Es sind dies (andere als formal-logische) „Verstandesregeln", die „nicht allein a priori wahr sind, sondern sogar der Quell aller Wahrheit, d. i. der Ubereinstimmung unserer Erkenntnis mit Objekten, dadurch, daß sie den Grund der Möglichkeit der Erfahrung, als des Inbegriffes aller Erkenntnis, darin uns Objekte gegeben werden mögen, in sich enthalten" (KrV A 237 = Β 296). Das gilt es, zu entfalten. Im folgenden werden zunächst die für Kants Wahrheitsthese relevanten Hauptgedanken der Paragraphen 14 bis 23 und 36 der Prolegomena dargestellt22. Kant gibt in kurzem Abstand zwei einander ergänzende Bestimmungen der Natur. Mit der ersten beginnt der Paragraph 14: „ N a t u r ist das D a s e i n der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist" (Proleg. A 71 / IV,294). Das Dasein der Dinge meint die Wirklichkeit der Dinge außerhalb unserer Begriffe von ihnen. Und von einer Natur kann nur deshalb gesprochen werden, weil die außerhalb unserer Begriffe wirklichen Dinge ihrem Dasein nach unter allgemeinen Gesetzen stehen. Wären nun unter den Dingen, die als in ihrem Dasein gesetzmäßig bestimmte eine Natur ausmachen, die Dinge an sich selbst zu verstehen, so wäre uns Menschen überhaupt keine Naturerkenntnis möglich, weder a priori noch a posteriori. Für den Fortgang wichtig ist Kants Begründung dafür, daß uns eine Naturerkenntnis a priori dann nicht möglich wäre23. Von Erkenntnis der Dinge in eigentlichem Sinn kann nicht die Rede sein, solange Begriffe nur zergliedert werden, was in analytischen Urteilen und stets a priori geschieht. Es geht also um eine Naturerkenntnis in synthetischen Urteilen, „weil ich nicht wissen will, was in meinem Begriffe von einem Dinge enthalten sei . . . , sondern was in d e r W i r k l i c h k e i t des Dinges zu diesem Begriff h i n z u k o m m e , und wodurch das Ding selbst in s e i -
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n e m D a s e i n a u ß e r m e i n e m B e g r i f f e bestimmt s e i . . . " (Proleg. A 72 / IV,294 — hier gesperrt). U m zu erkennen, wodurch das Dasein eines Dinges an sich selbst außer meinem Begriff bestimmt ist, müßte ich mich in meinem Erkennen nach dem Ding richten. Dazu jedoch müßte es mir in einer empirischen Anschauung gegeben sein, und also läge Erkenntnis a priori gerade nicht vor. Uber die Gesetze des Daseins der Dinge an sich selbst a priori etwas zu erkennen, ist unmöglich, weil unsere Erkenntnis a priori sich nicht nach den Dingen richten kann und weil die Dinge an sich selbst sich nicht nach Gesetzen richten, die wir ihnen a priori vorschreiben. Mehrerlei ist festzuhalten: Von den Dingen an sich selbst, den Dingen also, wie sie außerhalb unserer Erfahrung und unabhängig von unseren Möglichkeiten der Erkenntnis sind, sind strikt zu unterscheiden die Dinge als Gegenstände unserer Erfahrung. Ferner: Natur, wenn damit ein Bereich für uns erkennbarer Dinge gemeint sein soll, kann nur aus den Dingen als Gegenständen unserer Erfahrung bestehen. Und schließlich: Eine Naturerkenntnis könnte Gesetze des Daseins der Dinge nur dann a priori erkennen, wenn sie den Dingen (und das heißt jetzt: den Gegenständen der Erfahrung) diese Gesetze vorschriebe, nach denen die Dinge sich also richten müßten. Nun gibt es, sagt Kant, eine reine Naturwissenschaft (§ 15). Wie weit diese als reine und allgemeine Naturwissenschaft (oder, wie man auch sagen könnte, als apriorische Wissenschaft von den Prinzipien der gesamten, äußeren wie inneren Natur) wirklich reicht, ist für den Gedankengang unerheblich. Wichtig ist, daß sie überhaupt „a priori und mit aller derjenigen Notwendigkeit, welche zu apodiktischen Sätzen erforderlich ist, Gesetze vorträgt, unter denen die Natur steht" (Proleg. A 73 / IV,294 f.), und daß sie wirklich allgemeine Grundsätze enthält. Kant nennt dafür zwei Beispiele, nämlich die Sätze „ d a ß d i e S u b s t a n z b l e i b t und beharrt" und „daß a l l e s , w a s g e s c h i e h t , jederzeit d u r c h e i n e U r s a c h e nach beständigen Gesetzen vorher b e s t i m m t s e i " (Proleg. A 7 3 f . / IV,295). „Diese sind wirklich allgemeine Naturgesetze, die völlig a priori bestehen" (Proleg. A 74 / IV,295) und die von der reinen Naturwissenschaft a priori erkannt werden. Mit der Feststellung, daß es diese Erkenntnisse gibt, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger erreicht, als daß die Wahrheitsfrage präzise gestellt werden kann. Zu fragen ist, wie diese Erkenntnisse möglich sind. Wonach genau fragt diese Frage? Kant gibt jetzt ( § 1 6 ) seine zweite Bestimmung der Natur, die, wie schon erwähnt, die erste ergänzt und auf die man schon vorbereitet wird im
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Durchdenken von Kants Begründung dafür, daß uns eine Naturerkenntnis gänzlich versagt wäre, wäre Natur das gesetzmäßig bestimmte Dasein der Dinge an sich selbst. Natur ist „der I n b e g r i f f a l l e r G e g e n s t ä n d e d e r E r f a h r u n g " (ebd.). „Mit dieser haben wir es hier nur zu tun" (ebd.). Wollten wir mit unseren Begriffen über die so bestimmte Natur hinausgehen zu Dingen, die nicht Gegenstände der Erfahrung sein können, so hätten wir keine Möglichkeit zu entscheiden, ob diesen Begriffen Realität zukommt, „d. i. ob sie wirklich sich auf Gegenstände beziehen, oder bloße Gedankendinge sind" (Proleg. A 74 / IV,295 f.). — Natur ist „der I n b e g r i f f a l l e r G e g e n s t ä n d e d e r E r f a h r u n g " , und die Frage ist, wie es möglich ist, daß wir a priori Gesetze erkennen, unter denen diese Natur steht. Kant expliziert diese Fragestellung noch weiter (§17). Es ist klar, daß Gesetze der Natur, die wir a priori erkennen, nur das Formale der Natur betreffen können. Uber die Gegenstände der Erfahrung ihrem Inhalt nach vermögen wir nichts zu erkennen, ehe die Gegenstände uns nicht in Wahrnehmungen gegeben sind (vgl. S. 104). Das Formale der Natur, die der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung ist, ist „die Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände der Erfahrung" (Proleg. A 75 / IV,296). Und Kant fügt hinzu: Da es um das Formale der Natur geht, insofern es a priori erkannt wird, muß das Formale „die n o t w e n d i g e Gesetzmäßigkeit" (ebd.) aller Gegenstände der Erfahrung sein24. Anders gesagt: Das Formale der Natur a priori erkennen bedeutet: a priori die Gesetzmäßigkeit erkennen, ohne die die Natur nicht wäre, d. h. die die Natur möglich macht. Und gefragt ist, wie diese Erkenntnis möglich ist. Die Frage, wie diese Erkenntnis möglich ist, läßt sich nicht beantworten, ohne daß der Inhalt der Erkenntnis, eben die notwendige Gesetzmäßigkeit der Natur als des Inbegriffs aller Gegenstände der Erfahrung, selbst bedacht wird, und zwar in Hinsicht darauf, was sie eigentlich ist und worin sie gründet. Ist d a s gezeigt, dann beantwortet sich die Frage, wie reine Naturwissenschaft möglich ist, fast von selbst. Kant gibt der Fragestellung nun noch eine letzte Wendung, die den Inhalt der Frage nicht verändert, wohl aber über das Vorgehen zu ihrer Beantwortung entscheidet. Die nächste Aufgabe ist gemäß dem vorigen: „die Möglichkeit der Dinge, als Gegenstände der Erfahrung bestimmen" (Proleg. A 76 / IV,297). Inhaltlich ist das gleichbedeutend damit, „daß wir die Bedingungen und allgemeine (obgleich subjektive) Gesetze erforschen, unter denen allein ein solches Erkenntnis, als Erfahrung, (der bloßen Form nach) möglich ist" (ebd.)25. Dieser zweiten Formulierung der Aufgabe ist
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aber der Vorzug zu geben. Sie bewahrt vor fruchtlosen Bemühungen und Mißverständnissen. Gefragt wird nun also nach den formalen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung als einer menschlichen Erkenntnisart, und diese Bedingungen werden allgemeine und subjektive Gesetze zugleich sein — allgemeine, insofern jede Erfahrung ermöglichend; subjektive, insofern nur die menschliche Erkenntnis (qua Erfahrung) bestimmend. Die vorgeführte Ausarbeitung der Fragestellung läßt Kants Wahrheitsthese deutlicher als zuvor heraustreten. Es gibt eine Naturerkenntnis a priori. Sie erkennt a priori Gesetze des Daseins der Dinge (der Gegenstände der Erfahrung). Das ist aber nur möglich, wenn es sich dabei um Gesetze handelt, die wir, die Erkennenden, den Dingen vorschreiben, nach denen sich also die Dinge (als Gegenstände der Erfahrung) richten. Diese Gesetze machen die notwendige Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände der Erfahrung aus, also die Gesetzmäßigkeit, ohne die Gegenstände der Erfahrung und Natur als ihr Inbegriff nicht möglich wären. Die Gesetze, die wir Erkennenden den Gegenständen der Erfahrung als formale Bedingungen ihrer Möglichkeit vorschreiben, sind aber nichts anderes, als die Bedingungen, unter denen allein Erkenntnis im Sinne der Erfahrung für uns möglich ist. Die allgemeinen und s u b j e k t i v e n Gesetze, unter denen uns Erfahrung möglich ist, schreiben wir a priori den Dingen als Gegenständen der Erfahrung vor; nur indem die Gegenstände der Erfahrung sich nach den allgemeinen und subjektiven Gesetzen unserer Erfahrung richten, sind sie als Gegenstände der Erfahrung möglich. Kant schließt die Ausarbeitung der Fragestellung ab mit den Sätzen: „Wir werden es also hier bloß mit der Erfahrung und den allgemeinen und a priori gegebenen Bedingungen ihrer Möglichkeit zu tun haben, und daraus die Natur, als den ganzen Gegenstand aller möglichen Erfahrung, bestimmen. Ich denke, man werde mich verstehen: daß ich hier nicht die Regeln der B e o b a c h t u n g einer Natur, die schon gegeben ist, verstehe, die setzen schon Erfahrung voraus, also nicht, wie wir (durch Erfahrung) der Natur die Gesetze ablernen können, denn diese wären alsdenn nicht Gesetze a priori, und gäben keine reine Naturwissenschaft, sondern wie die Bedingungen a priori von der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Quellen sind, aus denen allgemeine Naturgesetze hergeleitet werden müssen" (Proleg. A 77 / IV,297). Welches sind die allgemeinen und a priori gegebenen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung? Kant setzt an bei dem Unterschied von Erfahrungsurteilen und Wahrnehmungsurteilen (§ 18—20) 26 . Es sind dies zwei Arten des empirischen Urteils. Empirische Urteile haben „ihren Grund in
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der unmittelbaren Wahrnehmung der Sinne" (Proleg. A 77 / IV,297). Sind sie „ n u r s u b j e k t i v g ü l t i g " (Proleg. A78 / IV,298), so sind sie Wahrnehmungsurteile. N u r für den Urteilenden selbst (und für diesen möglicherweise nicht einmal jederzeit) gültig, bedürfen sie über den Grund in der unmittelbaren Wahrnehmung der Sinne hinaus „nur der logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subjekt" (ebd.). Sind empirische Urteile objektiv gültig, so sind sie Erfahrungsurteile. „Alle unsere Urteile sind zuerst bloße Wahrnehmungsurteile" (ebd.). Erfahrungsurteile entstehen aus Wahrnehmungsurteilen, indem wir den Urteilen eine „neue Beziehung, nämlich auf ein Objekt" geben; wir wollen dann, daß das Urteil „auch vor uns jederzeit und eben so vor jedermann gültig sein solle" (ebd.; vgl. S.91). Wie geben wir aber einem Urteil die neue Beziehung auf ein Objekt? Wie geht es zu, daß wir einem Urteil, das zunächst nur subjektiv gültig ist, objektive Gültigkeit (Gültigkeit in bezug aufs Objekt und damit für uns jederzeit und für jedermann) verschaffen? Der ,Grund in der unmittelbaren Wahrnehmung der Sinne' im Verein mit der ,logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subjekt' kann da nicht ausreichen. Kants entscheidende, ins Zentrum seiner kritischen Philosophie weisende Antwort auf jene Frage lautet, daß „noch besondere Begriffe hinzukommen müssen, die ihren Ursprung gänzlich a priori im reinen Verstände haben, unter die jede Wahrnehmung allererst subsumiert, und dann vermittelst derselben in Erfahrung kann verwandelt werden" (Proleg. A 78 / IV,297). Ohne Begriffe, die gänzlich a priori im reinen Verstand entspringen (Kategorien), gibt es keine Erfahrung, gibt es keine Urteile, die das, was unmittelbar in der Wahrnehmung der Sinne gegeben ist, auf Objekte beziehen können derart, daß sie vom Objekt und damit für uns jederzeit und für jedermann gültig sind! (Das heißt zugleich: Die G e g e n s t ä n d e der Erfahrung haben — als solche — die a priori vom reinen Verstand hervorgebrachten Kategorien zu ihrer Bedingung.) Vom Gegenstand ist nicht mehr g e g e b e n , als was die Wahrnehmung enthält (die Grund schon des Wahrnehmungsurteils ist). Der G e g e n s t a n d a l s g e g e b e n e r kann daher die objektive Gültigkeit des Erfahrungsurteils nicht herbeiführen 27 . Diese muß durch den Verstand aufgebracht werden, und zwar indem er ihre Bedingung apriori aus sich schöpft. Es sind „ i m V e r s t ä n d e u r s p r ü n g l i c h e r z e u g t e B e g r i f f e , welche es eben machen, daß das Erfahrungsurteil o b j e k t i v g ü l t i g ist" (Proleg. A78 / IV,298). Soll aus einem Wahrnehmungsurteil ein Erfahrungsurteil werden, so muß (gemäß der zitierten Stelle) die Wahrnehmung unter reine Verstandes-
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begriffe subsumiert werden und kann dann mittels dieser Verstandesbegriffe in Erfahrung verwandelt werden. Kant versucht das durch Beispiele zu erläutern, so in der ersten Anmerkung zu §20 (Proleg. A 83 / IV,301) durch das folgende. Ein bloßes Wahrnehmungsurteil ist das Urteil: „Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm." Zwei Wahrnehmungen, nämlich daß die Sonne den Stein bescheint und daß der Stein warm wird, werden in diesem Urteil verknüpft. Aber der Grund der Verknüpfung ist hier kein anderer, als daß die beiden Wahrnehmungen in mir, dem Subjekt, einmal oder öfter (und etwa auch in anderen Subjekten, die mir davon Kenntnis gegeben haben) zusammen aufgetreten sind. Das Urteil drückt nur aus, daß ich — subjektiv — zwei Zustände meines Gemüts miteinander verbinde (wobei ich mich möglicherweise in Ubereinstimmung weiß mit anderen Subjekten, die ebenso verfahren) 28 . Ein objektiv gültiges Urteil, ein Erfahrungsurteil also, kommt so nicht zustande. Ein Erfahrungsurteil ist das Urteil „die Sonne e r w ä r m t den Stein". Es hat zur Voraussetzung, daß die Wahrnehmungen unter die Kategorie der Ursache (und Wirkung) subsumiert worden sind. Aufgrund dieser Subsumtion behauptet es die Verknüpfung von Sonne bzw. Sonnenschein (Ursache) und Warmwerden des Steins (Wirkung) als notwendig. Es spricht damit diese Verknüpfung von den Gegenständen aus und ist gültig für mich jederzeit und für jedermann 29 . Die objektive Gültigkeit der Erfahrungsurteile, und das heißt zugleich ihre notwendige Allgemeingültigkeit (vgl. nochmals S. 91), wird reinen Verstandesbegriffen verdankt. Damit ist schon gesagt, daß es sich bei den Kategorien nicht um Begriffe handelt, die, wenngleich a priori, in dem einen Verstand so, im andern anders entspringen könnten. Die Kategorien müssen dieselben sein für jeden Verstand30. Wahrnehmungen unter Kategorien subsumieren und dementsprechend urteilen, bedeutet, sie „in einem Bewußtsein überhaupt" verbinden (Proleg. A 81 / IV,300). Die Frage nach den allgemeinen und a priori gegebenen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung' stellt jetzt vor die Aufgabe, die Kategorien als diese Bedingungen zu denken, und das heißt eben zugleich, sie als notwendig erzeugte Begriffe d e s reinen Verstandes (nicht dieses oder jenes besonderen Verstandes) zu erfassen. Wie soll das aber möglich sein? Und was ermöglicht auch nur, daß das Auffinden der Kategorien nicht dem Zufall überlassen bleibt? Der Weg zu den Kategorien führt über die Urteilsformen (§21—22). In Paragraph 22 erläutert Kant den Zusammenhang von Urteilsformen und Kategorien. Er erinnert an die Grundquellen unserer Erkenntnis und ihre
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Funktionen. „Die Sache der Sinne ist, anzuschauen; die des Verstandes, zu denken" (Proleg. A 88 / IV,304). „Denken aber ist Vorstellungen in einem Bewußtsein vereinigen" (ebd.). Und diese Vereinigung wird im Urteil vollzogen. Urteilend, vereinigen wir Vorstellungen in einem Bewußtsein. Nun haben aber die vorangegangenen Erörterungen gezeigt, daß das auf zwei sehr verschiedene Weisen geschehen kann. Denken, Urteilen liegt auch dann vor, wenn „Vorstellungen auf ein Bewußtsein in einem Subjekt allein bezogen und in ihm vereinigt werden" (ebd.). Das Urteil ist dann bloß subjektiv gültig, es ist relativ auf dies bestimmte urteilende Subjekt und zufällig (Wahrnehmungsurteil). Ein objektiv gültiges Urteil vereinigt Vorstellungen in einem Bewußtsein überhaupt, und diese Vereinigung wird schlechthin vollzogen und ist notwendig (Erfahrungsurteil). In beiden Fällen wird geurteilt, werden „Vorstellungen auf Urteile überhaupt", d.h. auf die logischen Urteilsformen, bezogen (ebd.). Die denkende Vereinigung von Vorstellungen in einem Bewußtsein ist stets durch die logischen Urteilsformen bestimmt. Sie hat, ob bloß subjektiv oder objektiv gültig, so viele Arten, wie es „logische Momente aller Urteile" gibt (Proleg. A 88 / IV,305). Auch für objektiv gültige Urteile sind die ,logischen Momente aller Urteile' bestimmend, aber sie reichen nicht hin, deren objektive Gültigkeit zu ermöglichen. Es müssen andere Bedingungen hinzukommen, die jedoch Bezug haben auf die ,logischen Momente aller Urteile' als auf die Bedingungen aller denkenden Verbindung von Vorstellungen in einem Bewußtsein. Kants Lösung des Problems ist ausgesprochen in dem Satz: „Dienen aber eben dieselben (sc. die logischen Momente aller Urteile) als Begriffe, so sind sie Begriffe von der n o t w e n d i g e n Vereinigung derselben (sc. der Vorstellungen) in einem Bewußtsein, mithin Prinzipien objektiv gültiger Urteile" (ebd.). ,Dienen aber e b e n d i e s e l b e n als Begriffe' — das ist der entscheidende Punkt in dieser Aussage. Kant vertritt die These: Die reinen Verstandesbegriffe s i n d die logischen Momente der Urteile a l s B e g r i f f e von der (notwendigen) Vereinigung von Vorstellungen in einem Bewußtsein 31 . Deshalb können sie auf dem Weg über die Urteilsformen gefunden werden, und deshalb dürfen sie als notwendig erzeugte Begriffe des reinen Verstandes behauptet werden. — Kant sagt an späterer Stelle, daß die reinen Verstandesbegriffe (die „die Bedingungen a priori zu allen synthetischen und notwendigen Urteilen" enthalten) auf die formalen Bedingungen aller Urteile überhaupt , g e g r ü n d e t ' sind (Proleg. A 90 / IV,306) 3 2 . Früher wurde gesagt: Damit aus einem Wahrnehmungsurteil ein Erfahrungsurteil wird, muß die Wahrnehmung unter reine Verstandesbegriffe
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subsumiert und mittels dieser Begriffe in Erfahrung verwandelt werden. Die reinen Verstandesbegriffe machen etwas möglich bezüglich der A n s c h a u u n g e n (nämlich deren Verbindung in einem Bewußtsein überhaupt). Inzwischen hat sich ihr Zusammenhang mit den l o g i s c h e n M o m e n t e n a l l e r U r t e i l e gezeigt. So wird Kants Bestimmung verständlich, daß die reinen Verstandesbegriffe „nichts weiter sind, als Begriffe von Anschauungen überhaupt, so fern diese in Ansehung eines oder des andern dieser Momente zu Urteilen an sich selbst, mithin notwendig und allgemeingültig bestimmt sind" (Proleg. A 85 / IV,302). Reine Verstandesbegriffe sind Begriffe von Anschauungen überhaupt; sie beziehen sich nicht unmittelbar auf diese oder jene einzelne Anschauung, sondern in ihnen wird allgemein etwas bezüglich der Anschauungen gedacht. Was aber? Gemäß welchem logischen Moment über die Anschauungen zu urteilen ist, soll das Urteil notwendig und allgemeingültig sein und also vom Gegenstand gelten. Weil nun aber die reinen Verstandesbegriffe „nichts weiter sind, als Begriffe von Anschauungen überhaupt, so fern diese in Ansehung eines oder des andern dieser Momente zu Urteilen an sich selbst . . . bestimmt sind", ist es möglich, in Entsprechung zu einer vollständigen „Tafel" der Urteile eine ebenso vollständige „Tafel" der Verstandesbegriffe aufzustellen. Die reinen Verstandesbegriffe werden den logischen Momenten der Urteile „ganz genau parallel ausfallen" (ebd.). Kant behauptet die Vollständigkeit der Tafel der Urteile (siehe ebd.), die notwendige Parallelität dieser Tafel und der Tafel der Kategorien", und damit die Vollständigkeit der Tafel der Kategorien. Die Beantwortung der Frage nach den ,allgemeinen und a priori gegebenen Bedingungen' der Möglichkeit der Erfahrung hat auf B e g r i f f e geführt, die ,gänzlich a priori' im reinen Verstand entspringen und die sich in einer Tafel vollstsändig und geordnet vorstellen lassen. Nun war aber zugleich zur Aufgabe gemacht, die Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung als die „Quellen" zu denken, „aus denen alle allgemeine Naturgesetze hergeleitet werden müssen" (siehe S. 95). Und es sollte gezeigt werden, wie reine Naturwissenschaft möglich ist. Der Gedankengang ist also noch nicht ganz am Ziel. Um ihn ans Ziel gelangen zu lassen, tut Kant in §21 der Prolegomena kurz entschlossen den Schritt von den Kategorien zu den .Grundsätzen a priori der Möglichkeit aller Erfahrung'34. Die Kategorien waren bestimmt worden als „Begriffe von Anschauungen überhaupt, so fern diese in Ansehung eines oder des andern dieser Momente zu Urteilen an sich selbst, mithin notwendig und allgemeingültig bestimmt
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sind" (Proleg. A 85 / IV,302 — oben schon einmal zitiert). Die „Grundsätze a priori der Möglichkeit aller Erfahrung" nun „sind nichts anders, als Sätze, welche alle Wahrnehmung (gemäß gewissen allgemeinen Bedingungen der Anschauung 35 ) unter jene reine Verstandesbegriffe subsumieren" (ebd.) 36 . Beispiele für solche Grundsätze hatte Kant schon an früherer Stelle gegeben (vgl. S.93), darunter den Satz, „daß a l l e s , w a s g e s c h i e h t , jederzeit d u r c h e i n e U r s a c h e nach beständigen Gesetzen vorher b e s t i m m t s e i " 3 7 . Auch die Grundsätze lassen sich in einer „Tafel" aufführen 38 , auf die die Tafel der Kategorien führt. Auch für sie kann damit Vollständigkeit behauptet und ein Systemanspruch erhoben werden (vgl. Proleg. A 93 f. / IV,308 sowie die Anmerkungen 55 und 59 zu diesem Kap.). Wie nun die a priori vom reinen Verstand hervorgebrachten Kategorien die Bedingungen der Gegenstände der Erfahrung sind, so sind die Grundsätze a priori die allgemeinen Gesetze der Natur als des Inbegriffs aller Gegenstände der Erfahrung. „Die Grundsätze möglicher Erfahrung sind nun zugleich allgemeine Gesetze der N a t u r " (Proleg. A 90 / IV,306). Der Schritt von den Kategorien zu den Grundsätzen läßt die Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung als die „Quellen" begreifen, „aus denen alle allgemeine Naturgesetze hergeleitet werden müssen". Und ferner: Nachdem der Weg zu den Grundsätzen möglicher Erfahrung zurückgelegt ist, ist auch gezeigt, wie reine Naturwissenschaft möglich ist. Es sind ja diese Grundsätze allgemeine Gesetze der Natur, und die Grundsätze konnten und mußten als Erfahrung ermöglichend gedacht werden. Das Denken, das sie so denkt, ist selbst (auf die Stufe der Philosophie gehobene) reine Naturwissenschaft. N u n hatte Kant schon zu Beginn des Gedankengangs (§ 14) klargestellt und durch die Ausarbeitung seiner Fragestellung noch deutlicher hervortreten lassen (vgl. S. 95), daß allgemeine Gesetze der Natur, die wir a priori zu erkennen vermögen, Gesetze sein müssen, die wir der Natur v o r s c h r e i b e n und nach denen die Natur s i c h r i c h t e t , was freilich zugleich bedeutet, daß die Dinge, die als in ihrem Dasein gesetzmäßig bestimmte die Natur ausmachen, nicht Dinge an sich selbst, sondern Dinge als Gegenstände unserer Erfahrung sind. Jetzt läßt sich sagen: Durch die Kategorien und die Grundsätze, die den Gebrauch der Kategorien bestimmen, ist unser Erkenntnisvermögen a priori gesetzgebend für die Natur als das Ganze der Gegenstände möglicher Erfahrung. Die Gesetzgebung unseres Erkenntnisvermögens durch die a priori in ihm erzeugten Kategorien und die ihnen entsprechenden Grundsätze a priori macht die Gegenstände der Erfahrung
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als solche (ihrer Form nach) und Natur als ihren gesetzmäßigen Zusammenhang möglich 39 . Die Natur richtet sich nach dieser Gesetzgebung und ist dadurch für uns erkennbar. Weil aber die Gesetzgebung unseres Erkenntnisvermögens die Gegenstände unserer Erkenntnis (ihrer Form nach) erst möglich macht, sind die Dinge an sich selbst für uns unerkennbar. Dingen an sich selbst können wir nichts vorschreiben; sie können wir nicht den Bedingungen unserer Erkenntnis unterwerfen; sie richten sich nicht nach uns40. Kant widmet der Akzentuierung seines Ergebnisses, daß unser Erkenntnisvermögen für die Natur a priori gesetzgebend ist, in den Prolegomena einen eigenen Paragraphen (§36), der überschrieben ist: „Wie ist Natur selbst möglich?" (Proleg. A109 / IV,318.) In diesem Paragraphen holt er auch ein wichtiges Resultat des ersten Teils dieser Schrift, das er im zweiten Teil zunächst auf sich beruhen ließ, in die Betrachtung ein. Die Frage, wie Natur selbst möglich sei, „enthält eigentlich zwei Fragen" (Proleg. A110 / IV,318). Die erste Frage lautet: „Wie ist Natur in m a t e r i e l l e r Bedeutung, nämlich der Anschauung nach, als der Inbegriff der Erscheinungen, wie ist Raum, Zeit, und das, was beide erfüllt, der Gegenstand der Empfindung, überhaupt möglich?" (ebd.) Hier ist daran zu erinnern, daß Kant in unserem Erkenntnisvermögen zwei Grundquellen unterscheidet, die Sinnlichkeit als das Vermögen, Vorstellungen zu empfangen, und den Verstand als das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen und das durch die Sinnlichkeit Gegebene zu denken (vgl. S. 86 f.). diesem Unterschied korrespondieren die zwei Fragen nach der Möglichkeit der Natur. Die eben zitierte erste fragt nach der Möglichkeit der Natur im Hinblick auf unsere Sinnlichkeit. Wir werden von Dingen affiziert, und die Vorstellung, die wir so empfangen, ist Empfindung. Unser Empfangen von Vorstellungen, und damit die Empfindungen, und damit die Gegenstände der Empfindungen stehen aber unter subjektiven Bedingungen unserer Sinnlichkeit: unter Formen, die a priori in uns selbst liegen, nämlich den reinen Anschauungen Raum und Zeit. Den Gegenstand der Empfindung nennt Kant Erscheinung. Und Natur, wenn sie der Anschauung nach bestimmt wird, ist der Inbegriff der Erscheinungen. Erscheinungen und Natur als ihr Inbegriff stehen unter den Bedingungen, unter denen allein es uns möglich ist, Gegenstände anzuschauen. Dinge an sich selbst stehen aber keineswegs unter diesen Bedingungen. Sie können uns daher niemals gegeben sein, wir können sie nicht anschauen und also auch nicht erkennen. Erscheinungen ,gibt es' nur in unseren Vorstellungen. Ihr Stoff begegnet uns je schon in den von uns selbst a priori aufgebrachten Formen des Raumes (bei äußeren Erscheinungen) und der Zeit (bei allen Erscheinun-
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gen). Erscheinungen, Gegenstände unserer Anschauung, sind nur dank dieser reinen Formen möglich. Kant sagt dazu in der Kritik der reinen Vernunft: „da nur vermittelst solcher reinen Formen der Sinnlichkeit uns ein Gegenstand erscheinen, d.i. ein Objekt der empirischen Anschauung sein kann, so sind Raum und Zeit reine Anschauungen, welche die Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände als Erscheinungen a priori enthalten" (A 89 = Β 121 f.)41. Natur in materieller Bedeutung ist der Inbegriff der Erscheinungen. Sie ist möglich durch die reinen Anschauungen Raum und Zeit, die subjektive Bedingungen unserer Sinnlichkeit sind42. Die zweite Frage, die in der Frage nach der Möglichkeit der Natur enthalten ist, geht auf die Möglichkeit der Natur im Hinblick auf unseren Verstand. Sie lautet: „Wie ist Natur in formeller Bedeutung, als der Inbegriff der Regeln, unter denen alle Erscheinungen stehen müssen, wenn sie in einer Erfahrung als verknüpft gedacht werden sollen, möglich?" (Proleg. A110 / IV,318) Hier ist, nachdem soeben ein wesentliches Ergebnis des ersten Teils der Prolegomena in den zweiten Teil herübergeholt worden ist, nun auch von Erscheinungen die Rede. Es ist klar, daß nur Erscheinungen (Gegenstände unserer Anschauung, bedingt und ermöglicht durch die reinen Formen unserer Sinnlichkeit) Gegenstände der Erfahrung, Erkenntnisgegenstände für uns sein können. Denn was wir nicht anschauen können, können wir nicht erkennen. Die Antwort auf die zweite Frage belehrt darüber, wie Erscheinungen zu Gegenständen der Erfahrung werden, wie die Natur als Inbegriff der Erscheinungen sich verhält zur Natur als Inbegriff der Gegenstände der Erfahrung bzw. zu ihrem Formalen, der Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände der Erfahrung. Die Antwort auf jene zweite Frage, nämlich nach der Natur in formeller Bedeutung, wurde im zweiten Teil der Schrift erarbeitet und wird, wie schon erwähnt, von Kant nun akzentuiert. Einige der Formulierungen, in denen das geschieht, müssen hier zitiert werden, damit Kants revolutionäre Position durch seine eigenen Worte belegt wird und mit der von Kant gewünschten Eindringlichkeit zur Sprache kommt. Natur in formeller Bedeutung „ist nur möglich vermittelst der Beschaffenheit unseres Verstandes, nach welcher alle jene Vorstellungen der Sinnlichkeit auf ein Bewußtsein notwendig bezogen werden, und wodurch allererst die eigentümliche Art unseres Denkens, nämlich durch Regeln, und vermittelst dieser die Erfahrung, welche von der Einsicht der Objekte an sich selbst ganz zu unterscheiden ist, möglich ist" (ebd.). „Die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt ist also zugleich das allgemeine Gesetz der Natur, und die Grundsätze der erstem sind selbst die Gesetze der letztern. Denn wir
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kennen Natur nicht anders, als den Inbegriff der Erscheinungen, d. i. der Vorstellungen in uns, und können daher das Gesetz ihrer Verknüpfung nirgend anders, als von den Grundsätzen der Verknüpfung derselben in uns, d. i. den Bedingungen der notwendigen Vereinigung in einem Bewußtsein, welche die Möglichkeit der Erfahrung ausmacht, hernehmen" (Proleg. A 111 / IV,319). Es gilt zu begreifen, „daß die oberste Gesetzgebung der Natur in uns selbst, d.i. in unserem Verstände liegen müsse" (Proleg. A112 / IV,319) — „ d e r V e r s t a n d s c h ö p f t s e i n e G e s e t z e (a priori) n i c h t a u s d e r N a t u r , s o n d e r n s c h r e i b t s i e d i e s e r v o r " (Proleg. A 113 / IV,320)". Kant selbst ist sich des revolutionären Charakters seines Ansatzes bewußt und stellt ihn in die Nähe von Kopernikus 44 . Wahre Erkenntnis liegt nur dann vor, wenn Ubereinstimmung mit den Gesetzen der formalen Logik gegeben ist. Aber zur Wahrheit jeder Erkenntnis in eigentlichem Sinn (d. h. jeder Erkenntnis, die anderes sein will als eine bloße Zergliederung gegebener Begriffe) gehört mehr als logische Richtigkeit, ist die Ubereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand in seiner Wirklichkeit außerhalb unserer Begriffe erfordert. N u n ist der ,Inbegriff aller Erkenntnis, darin uns Objekte gegeben werden mögen', die Erfahrung (siehe S. 92). Ohne Zweifel wird Ubereinstimmung der Erfahrung mit ihrem Gegenstand dadurch erreicht, daß der Erkennende sich nach dem Gegenstand richtet. Darin besteht die e m p i r i s c h e W a h r h e i t . Solange der Erkennende den Standpunkt der Erfahrung beibehält, was durchaus legitim ist, erscheint ihm die empirische Wahrheit überhaupt als unproblematisch (mag sie auch im einzelnen Fall schwer zu erreichen sein). Erst im Gefolge des philosophischen Problems, wie synthetische Urteile a priori wahr sein können, wird das unproblematische Wahrheitsverständnis jenes Standpunktes als naiv aufgedeckt. Dabei wird nicht problematisch das Daß der empirischen Erkenntnis, sondern das Wie ihrer Möglichkeit. Und die Antworten auf die Fragen nach den formalen Bedingungen der empirischen Wahrheit und nach der möglichen Wahrheit synthetischer Erkenntnisse a priori fallen zusammen. Die Wahrheit der Erfahrung ist ermöglicht durch die Gesetzgebung a priori des Verstandes für die Gegenstände der Erfahrung ihrer Form und ihres gesetzmäßigen Zusammenhangs in einer Natur nach. Erfahrung kann sich nur deshalb nach den Gegenständen der Erfahrung richten, weil diese Gegenstände sich nach den Kategorien und den Grundsätzen a priori des Verstandes richten. Der Verstand schreibt den Gegenständen der Erfahrung die Gesetze vor, und die Gegenstände richten sich nach diesen Gesetzen. Dies ist die
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t r a n s z e n d e n t a l e W a h r h e i t , durch die die empirische Wahrheit möglich ist — „in der allgemeinen Beziehung auf dieselbe (sc. alle mögliche Erfahrung) besteht die transzendentale Wahrheit, die vor aller empirischen vorhergeht, und sie möglich macht" (KrV A 146 = Β 185)45. Transzendentale Wahrheit ist sehr wohl auch Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand', so aber, daß der Gegenstand (die Erscheinung) der Form nach a priori in Ubereinstimmung gebracht wird mit den Erkenntnisbedingungen des Verstandes, die ihn als Gegenstand menschlicher Erkenntnis erst möglich machen. Quell der transzendentalen Wahrheit ist der reine Verstand. Der Verstand des Menschen ist, als reiner Verstand, der W a h r h e i t s g r u n d für die Wahrheit der dem Menschen möglichen Erkenntnis46. Beim Verhältnis von transzendentaler und empirischer Wahrheit, von Gesetzgebung durch den Verstand und empirischen Gesetzen, ist zu beachten: Zwar kann es empirische Wahrheit nur geben dank der transzendentalen Wahrheit und sind „alle empirische Gesetze . . . nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes, unter welchen und nach deren Norm jene allererst möglich sind", gleichwohl „können empirische Gesetze, als solche, ihren Ursprung keinesweges vom reinen Verstände herleiten" (KrV A 127 f.). „Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine N a t u r ü b e r h a u p t , als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon n i c h t v o l l s t ä n d i g a b g e l e i t e t werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letztere überhaupt kennen zu lernen" (KrV Β 165). Die empirischen Gesetze „können nur vermittelst der Erfahrung, und zwar zufolge jener ursprünglichen Gesetze, nach welchen selbst Erfahrung allererst möglich wird, stattfinden, und gefunden werden" (KrV A 216 = B262) 47 . Bei einer wahren Erkenntnis eines Gegenstandes der Erfahrung richtet sich der Verstand nach diesem Gegenstand. Dabei richtet er sich ebensosehr nach den Gesetzen, die er selbst a priori dem Gegenstand vorgeschrieben hat, wie nach demjenigen im Gegenstand, das ihm niemals aus ihm selbst, sondern einzig dank empirischer Anschauung bekannt werden kann. Die Grundsätze des reinen Verstandes sind „Verstandesregeln", die „nicht allein a priori wahr sind, sondern sogar der Quell aller Wahrheit"
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sind (vgl. S. 92). Der Verstand selbst, indem er die transzendentale Wahrheit entspringen läßt, ist der Quell aller Wahrheit. Ohne Zweifel ist der Verstand das nicht erst dann, wenn die Überlegungen vollzogen worden sind, die Kant zur Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori anstellt. Die transzendentale Wahrheit ,geht a l l e r empirischen Wahrheit vorher und macht sie möglich' (vgl. S. 104). Wer den Standpunkt der Erfahrung nie verläßt, kann dennoch in den Erfahrungswissenschaften sehr erfolgreich sein. Kant sagt selbst, „daß der bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschäftigte Verstand, der über die Quelle seiner eigenen Erkenntnis nicht nachsinnt, . . . sehr gut fortkommen" kann (KrV A 238 = Β 297)48. Das Nachsinnen über die Quelle der Erfahrung ist demnach von der Wirksamkeit dieser Quelle zur Ermöglichung der Erfahrung sehr wohl zu unterscheiden; diese findet auch ohne jenes statt. Deshalb kann Kant in der schon einmal (in Anm. 43 zu diesem Kap.) zitierten Stelle sagen, Ordnung und Regelmäßigkeit könnten wir in der Natur nicht finden, „hätten wir sie nicht, oder d i e N a t u r u n s e r e s G e m ü t s ursprünglich hineingelegt" (hier gesperrt). Die Natur unseres Gemüts gibt den Erscheinungen Gesetze, auch ohne daß wir das erkennen. Das E r k e n n e n der transzendentalen Wahrheit, der Gesetzgebung des reinen Verstandes für die Gegenstände der Erfahrung, ist ein eigener Vollzug. Es ist Wissenschaft, und zwar Wissenschaft a priori. Es ist Philosophie, philosophische Selbsterkenntnis der Vernunft49. Solche Selbsterkenntnis ist möglich, weil die menschliche Vernunft sich selbst durchsichtig ist, „weil, was Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbringt, sich nicht verstecken kann, sondern selbst durch Vernunft ans Licht gebracht wird, sobald man nur das gemeinschaftliche Prinzip desselben entdeckt hat" (KrV A XX). Daß diese Erkenntnis gleichwohl schwierig ist, hat Kant selbst eingeräumt. Daß sie von scharfsinnigen Denkern verfehlt werden kann, ist Kant vor Augen am Beispiel Humes, von dem er trotzdem mit großer Hochachtung spricht. Auch stößt die philosophische Selbsterkenntnis der Vernunft an Grenzen. Sie erkennt wirklich nur, ,was Vernunft gänzlich aus sich selbst h e r v o r b r i n g t ' , eben die Gesetzgebung des reinen Verstandes für die Erfahrung. Dahinter kann sie nicht zurück. „Wie aber diese eigentümliche Eigenschaft unsrer Sinnlichkeit selbst, oder die unseres Verstandes und der ihm und allem Denken zum Grunde liegenden notwendigen Apperzeption, möglich sei, läßt sich nicht weiter auflösen und beantworten, weil wir ihrer zu aller Beantwortung und zu allem Denken der Gegenstände immer wieder nötig haben" (Proleg. A 111 / IV,318)50. In philosophischer Selbsterkenntnis erkennt die Vernunft die Gesetzge-
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bung des reinen Verstandes für die Erfahrung und deren Gegenstände. Dies Erkannte bürgt für ihre Wahrheit. Anders gesprochen: Die Erkenntnis der Erkenntnisbedingungen (die Erkenntnis der transzendentalen Wahrheit) ist dadurch wahr, daß sie die Erkenntnisbedingungen (die transzendentale Wahrheit) erkennt. In ihr geschieht nichts anderes, als daß die transzendentale Wahrheit zu deutlichem Bewußtsein gebracht, d. h. als solche erkannt wird. Erkenntnis ist hier das deutliche Erfassen der Regeln, die jeder Verstand bei der Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung schon anwendet und anwenden muß, soll Erfahrung möglich sein. Es sind aber „die Bedingungen der M ö g l i c h k e i t d e r E r f a h r u n g überhaupt . . . zugleich Bedingungen der M ö g l i c h k e i t d e r G e g e n s t ä n d e d e r E r f a h r u n g , und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori" (KrV A158 = Β 197). D.h., synthetische Urteile a priori, die die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung aufweisen, beziehen sich auf Gegenstände, haben objektive Gültigkeit, sind wahr. Es kann nach dem Erkenntnisvollzug gefragt werden, in dem sich diese Wahrheit eröffnet. Kant versteht ihn als Beweis51. Die Kategorien und die ihnen entsprechenden Grundsätze des reinen Verstandes werden als die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und damit als die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung bewiesen. Es wird bewiesen, daß die Dinge der Natur sich (ihrer Form nach) richten nach den Gesetzen, die unser Verstand ihnen a priori vorschreibt, daß sie nur so möglich sind. Das Beweisen nimmt in den Prolegomena zum Ausgang das Daß empirischer Erkenntnis (und nicht nur die Wirklichkeit der reinen Naturwissenschaft — entscheidend war ja im Gedankengang der Prolegomena der Unterschied von Erfahrungsurteilen und Wahrnehmungsurteilen). In der Kritik der reinen Vernunft führt Kant für den Grundsatz „alles, was geschieht, hat seine Ursache" — ohne den die Gesetzgebung des reinen Verstandes für die Natur zusammenbräche — aus: „Er heißt aber G r u n d s a t z und nicht L e h r s a t z , ob er gleich bewiesen werden muß, darum, weil er die besondere Eigenschaft hat, daß er seinen Beweisgrund, nämlich Erfahrung, selbst zuerst möglich macht, und bei dieser immer vorausgesetzt werden muß" (A737 = Β 765). Diese Stelle belegt zweierlei: daß Erfahrung der Beweisgrund jedenfalls eines schlechthin unverzichtbaren Grundsatzes des reinen Verstandes ist (und zwar noch gemäß der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft)52, und daß es sich hier um eine eigentümliche Beweisart handelt, die dadurch charakterisiert ist, daß das Bewiesene den Beweisgrund selbst möglich macht. Ein solcher Beweis ist ein ,tran-
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szendentaler Beweis' (vgl. KrV A173 = Β 215) und hat seinen wissenschaftlichen Ort in der Transzendentalphilosophie, die von Kant bestimmt wird als „die Lehre von der Möglichkeit aller Erkenntnis a priori überhaupt, welche die Kritik der reinen Vernunft ist" (Fortschr. d. Met. A 43 / XX,272) und deren „höchste Aufgabe" ist: „wie ist Erfahrung möglich?" (Fortschr. d. Met. A 49 / XX,275) — Insoweit Erfahrung der Beweisgrund ist für die Erkenntnis der transzendentalen Wahrheit und deren Ursprung im reinen Verstand, kann man sagen, daß hier von der ,Wirkung', vom Produkt", auf die ,Ursache', den ermöglichenden Grund des Produktes, geschlossen wird. Nun wird die transzendentale Wahrheit nur dann völlig verläßlich als Quell der Wahrheit erkannt, wenn das transzendentale Beweisen die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung vollständig erfaßt. Deshalb wird es von Kant verbunden mit systematischer Einheit. Transzendentalphilosophie hat ein System zu sein54. Von Kants Anspruch auf Vollständigkeit der Urteilstafel, der Kategorientafel und der Tafel der Grundsätze war schon die Rede. Außer der Vollständigkeit der Teile ist zum System auch die Ordnung derselben, eine innere Einteilung des Ganzen mit dem Charakter der Notwendigkeit, erfordert. Dadurch, daß die Tafeln der Urteilsformen, der Kategorien und der Grundsätze als Systeme aufgefaßt werden können, die überdies einander entsprechen und aufeinander aufbauen55, wird die Wahrheit der transzendentalen Beweise bestätigt. Kant sagt in der Kritik der reinen Vernunft mit Bezug auf die transzendentale Analytik, also den Teil dieser Kritik, der „die Zergliederung unseres gesamten Erkenntnisses a priori in die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis" vollzieht (KrV A 64 = Β 89): „Nun kann diese Vollständigkeit einer Wissenschaft nicht auf den Uberschlag, eines bloß durch Versuche zu Stande gebrachten Aggregats, mit Zuverlässigkeit angenommen werden; daher ist sie nur vermittelst einer I d e e des G a n z e n der Verstandeserkenntnis a priori und durch die daraus bestimmte Abteilung der Begriffe, welche sie ausmachen, mithin nur durch ihren Z u s a m m e n h a n g in e i n e m S y s t e m möglich" (KrV Β 89). Die Idee des Ganzen oder das gemeinschaftliche Prinzip' ist das „Vermögen zu urteilen (welches eben so viel ist, als das Vermögen zu denken)" (KrV A 80 f. = Β 106). Die transzendentale Analytik baut auf diesem Prinzip auf. Sie wird „ein unter einer Idee zu befassendes und zu bestimmendes System ausmachen, dessen Vollständigkeit und Artikulation zugleich e i n e n P r o b i e r s t e i n d e r R i c h t i g k e i t u n d E c h t h e i t aller hineinpassenden E r k e n n t n i s s t ü c k e abgeben kann" (KrV A 65 = Β 90, hier gesperrt)56. —
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Transzendentaler Beweis und Vereinigung der Erkenntnisse in einem System führen zur Wahrheit der Erkenntnis, die den reinen Verstand als Wahrheitsgrund menschlicher Erkenntnis denkt. Kant macht dabei zwei Voraussetzungen, eine beim transzendentalen Beweisen und eine für das System. Für das transzendentale Beweisen ist (auf der Argumentationsebene der Prolegomena und noch in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft jedenfalls für den Grundsatz der Kausalität) vorausgesetzt, daß es Erfahrung als „ein ganz gewisses Erkenntnis a posteriori" (vgl. Anm. 45 zu diesem Kap.) gibt, daß es empirische Urteile gibt, die nicht nur subjektiv gültig sind, sondern deren objektiver Gültigkeit und damit notwendiger Allgemeingültigkeit wir gewiß sein dürfen. Daß das durch transzendentalen Beweis Bewiesene „seinen Beweisgrund, nämlich Erfahrung selbst zuerst möglich macht" (vgl. S. 106), darf gerade nicht heißen, daß Erfahrung vor dem Beweis als dem Menschen mögliche Erkenntnisart nicht gewiß ist. Diese Gewißheit kann nicht philosophischen Ursprungs sein, sondern muß dem Verstand aus seinem Erfahrungsgebrauch zuwachsen, genauer aus dem Gelingen mathematischer Naturwissenschaft. Der Erfahrungsgewißheit korrespondiert ein Verständnis von Natur, das mit ihr vorausgesetzt ist, daß nämlich Natur zu begreifen ist als ein notwendiger Zusammenhang57, daß Natur bedeutet „das D a s e i n der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist" (vgl. S. 92). Hume hatte gegen dieses Verständnis von Erfahrung und von Natur seine skeptischen Bedenken58. Kants Voraussetzung für das System der Transzendentalphilosophie liegt in der Auffassung, daß die Tafel der Urteilsformen die Möglichkeiten zu urteilen vollständig erfaßt, daß unser Denken sich in diesen und keinen anderen Urteilsformen vollzieht, daß also nichts gedacht werden kann, was sich ihnen (und den auf sie .gegründeten' Kategorien) nicht fügt. Kant hat aber die Urteilsformen selbst nicht aus einem Prinzip hergeleitet (hervorgehen lassen)59. Die Untersuchung muß sich noch einmal den Gegenständen menschlicher Erkenntnis zuwenden. Bei Kant ist der menschliche Verstand als reiner Verstand zum Quell der dem Menschen möglichen Wahrheit der Erkenntnis geworden. Die formalen Bedingungen der Erkenntnis von Gegenständen, und das heißt die Form der Gegenstände, bringt er aus sich selbst auf. Er gibt a priori der Natur Gesetze und macht dadurch Natur erst möglich. Dingen an sich selbst kann unser Verstand aber keine Form geben; einer Natur als notwendigem Zusammenhang der Dinge an sich selbst könnte er kein einziges Gesetz vorschreiben. Der Verstand als Wahrheitsgrund
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menschlicher Erkenntnis ist form- und gesetzgebend nur für Erscheinungen. Auf sie ist seine Erkenntnis von Gegenständen daher eingeschränkt 60 . Die Dinge an sich selbst sind unerkennbar für den Menschen. Sie sind für uns keine Erkenntnisgegenstände. Daß der menschliche Verstand der Wahrheitsgrund seiner Erkenntnis von Gegenständen ist und daß seine Gegenstände niemals Dinge an sich selbst, sondern nur Erscheinungen sind, das gehört unlöslich zusammen. Was bedeutet es aber, daß unsere Gegenstände nur Erscheinungen sind und wir einräumen müssen: „Das Objekt bleibt an sich selbst immer unbekannt" (Proleg. A 80 / IV,299)? Setzt sich unsere Erkenntnis nicht dem Verdacht aus, ein bloßer Schein zu sein, mag dieser in sich auch noch so stimmig sein? Hat sie es überhaupt mit Seiendem zu tun? Was sind denn die Erscheinungen? Einiges wurde über sie schon gesagt. Es ist nun aufzugreifen und zu ergänzen. Erscheinungen sind Gegenstände empirischer Anschauungen, deren Stoff wir empfangen und deren Form wir in den reinen Anschauungen Raum und Zeit a priori selbst aufbringen und auf den Gegenstand ,übertragen'. Der Inhalt der Erscheinungen stammt nicht aus uns, er wird uns gegeben, indem wir affiziert werden. Aber wir empfangen ihn niemals anders als unter den Bedingungen, unter denen allein wir affiziert werden können, und das sind Raum und Zeit als Formen unserer Sinnlichkeit. Der Inbegriff der Erscheinungen ist Natur, der Anschauung nach bestimmt. — Erscheinungen sind „Gegenstände einer möglichen E r f a h r u n g " (KrV A 2 3 8 f . = Β298). Das sind sie unter der Gesetzgebung unseres Verstandes. Unter der Gesetzgebung unseres Verstandes machen sie die Natur als Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung aus. N u n wurde Natur von Kant auch bestimmt als „das D a s e i n der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist" (vgl. S. 92). Die Gegenstände, die in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang eine Natur ausmachen, als Erscheinungen auffassen, bedeutet demnach keineswegs, das Dasein außer meinem Begriffe bestimmt sei" (vgl. S. 92 f.). So spricht Kant denn von „der Existenz der Dinge als Erscheinungen" (KrV Β X X V ) und kenntnis zielt darauf ab, zu erfassen, „wodurch das Ding selbst in seinem Dasein außer meinem Begriffe bestimmt sei" (vgl. S. 92 f.). So spricht Kant denn von „der Existenz der Dinge als Erscheinungen" ( K r V B X X V ) und versteht unter einer Begebenheit, daß „etwas wirklich geschieht" (KrV A 201 = Β 246). Dabei könnte man sich recht wohl beruhigen, fänden sich bei Kant nicht auch ganz andere Äußerungen über die Erscheinungen, die zunächst
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jedenfalls etwas fatal zu sein scheinen. Sie sind zum Teil schon in früheren Zitaten enthalten. Kant setzt Erscheinungen gleich mit „Vorstellungen in uns" (vgl. S. 103). „Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen", sie sind „bloße Vorstellungen" (vgl. Anm.43 zu diesem Kap.). Es gilt zu sehen, „daß Erscheinungen überhaupt außer unseren Vorstellungen nichts sind" (KrV A 507 = Β 535). In diesem Sinne wurde hier an früherer Stelle (S. 101) schon gesagt, Erscheinungen ,gebe es' nur in unseren Vorstellungen. Das kann ergänzt werden durch ein Zitat aus Kants allgemeinen Anmerkungen zur transzendentalen Ästhetik': „Wir haben also sagen wollen: daß alle unsre Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei . . . und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern n u r in u n s e x i s t i e r e n k ö n n e n " (KrV A 4 2 = Β 5 9 , hier gesperrt). N i m m t man diese Bestimmungen der Erscheinungen zusammen mit jenen Äußerungen über die Natur als das nach allgemeinen Gesetzen bestimmte Dasein der Dinge, über die Wirklichkeit der Dinge außerhalb unserer Begriffe und über das wirkliche Geschehen, das eine Begebenheit ausmacht, so muß man sagen: Der Unterschied der Wirklichkeit (unserer Erkenntnisgegenstände) und ihres Gegenteils (bloßer Begriff oder bloß subjektive Eindrücke) f ä l l t in u n s e r e V o r s t e l l u n g . Die „Existenz der Dinge als Erscheinungen" ist eine Existenz „nur in uns" und kann nichts anderes sein. Bleibt also der Verdacht, unsere Erkenntnis sei bloßer Schein und habe es gar nicht mit Seiendem zu tun? Falsch wäre es nach Kant, zu fragen, ob die Erscheinungen Schein seien. „Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, so fern er gedacht wird" (vgl. S. 88). Kant sagt, daß „aller Schein darin besteht, daß der subjektive Grund des Urteils vor objektiv gehalten wird" (Proleg. A 1 2 7 / IV,328). Wenn „wir im Urteilen bloß s u b j e k t i v e Gründe für o b j e k t i v e halten", dann geschieht es, daß wir „den b l o ß e n S c h e i n d e r W a h r h e i t mit d e r W a h r h e i t s e l b s t verwechseln. Denn darin besteht eben das Wesen des Scheins, der um deswillen als ein Grund anzusehen ist, eine falsche Erkenntnis für wahr zu halten" (Logik A 77 / IX,54). Angewendet auf das Problem, ob unsere Erkenntnis nicht vielleicht Schein sei und es gar nicht mit Seiendem zu tun habe, besagt das: Unsere Erkenntnis der Erscheinungen wäre Schein, wenn wir aus bloß subjektiven Gründen den Erscheinungen Wirklichkeit zusprächen und diese subjekti-
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ven Gründe für objektive hielten. Wir nähmen dann eine falsche E r k e n n t nis', eben die der ,Existenz der Dinge als Erscheinungen' (vgl. S. 109), für wahr. Dieser Schein besteht nach Kant nicht. Wie begründet Kant das? Worin liegt der objektive Grund für die Uberzeugung, daß Erscheinungen eine Wirklichkeit zukommt, die nicht b l o ß (aufgrund der Gesetzgebung unseres Verstandes für die Natur) g e d a c h t ist, wiewohl die Erscheinungen — als Gegenstände unserer Erkenntnis — „nur in uns" existieren? Dieser objektive Grund liegt in den Dingen an sich selbst. In einer schon einmal zitierten Stelle hieß es: „Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen, die, nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt d a s i n d " (KrV Β 164, hier gesperrt). Die Dinge an sich selbst, wiewohl sie unerkannt sind, sind doch da. Was heißt das aber? Erkenntnis ist auf Gegenstände der Erfahrung eingeschränkt. „Gleichwohl wird, welches wohl gemerkt werden muß, doch dabei immer vorbehalten, daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht e r k e n n e n , doch wenigstens müssen d e n k e n können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint" (KrV Β X X V I f.). Daß wir die Dinge an sich selbst nicht erkennen können, heißt in diesem Zusammenhang, daß wir ihre Möglichkeit nicht zu beweisen vermögen; sie dennoch denken können, meint, keinen Widerspruch begehen bei ihrer Annahme (vgl. Kants Anmerkung zu der zitierten Stelle). Wir m ü s s e n die Dinge an sich selbst denken können 61 , weil sonst „Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint", und das wäre ein Widersinn. Von Erscheinung mußte bei Bestimmung der Gegenstände unserer Erkenntnis gesprochen werden; es wäre aber sinnlos, von Erscheinungen zu sprechen und gleichzeitig zu glauben, es gebe nichts, das da erscheint. Und so denken wir , e b e n d i e s e l b e n Gegens t ä n d e ' , die wir als Erscheinungen vorstellen, auch als Dinge an sich selbst. Als was denken wir aber die Dinge an sich selbst in diesem Zusammenhang? Wir denken einen „Gegenstand an sich selbst", der „die U r s a c h e der Erscheinung (mithin selbst nicht Erscheinung) ist" (KrV A 288 = Β 344, hier gesperrt). Unsere Sinnlichkeit wird „von Gegenständen, die ihr an sich selbst unbekannt, und von jenen Erscheinungen ganz unterschieden sind, g e r ü h r t " (Proleg. A 1 1 0 / IV,318 — hier gesperrt). (Indem sie ,gerührt', affiziert wird, empfängt unsere Sinnlichkeit den Stoff der Erscheinungen. E r ist der Inhalt der Empfindung, also der Vorstellung, die wir dank Affektion empfangen 62 und die, wenn man sich ihrer bewußt ist, Wahrnehmung heißt — siehe K r V A 225 = Β 272. Die „Wahrnehmung aber, die den Stoff zum Begriff hergibt, ist der einzige Charakter der
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Wirklichkeit" — KrV A 225 = Β 273.) „In der Tat, wenn wir die Gegenstände der Sinne, wie billig, als bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hiedurch doch zugleich, daß ihnen e i n D i n g a n s i c h s e l b s t z u m G r u n d e l i e g e , ob wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine Erscheinung, d.i. die Art, wie unsre Sinnen v o n d i e s e m u n b e k a n n t e n E t w a s a f f i z i e r t w e r d e n , kennen. Der Verstand also, eben dadurch, daß er Erscheinungen annimmt, g e s t e h t a u c h d a s D a s e i n v o n D i n g e n a n s i c h s e l b s t z u , und so fern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswesen nicht allein zulässig, sondern auch u n v e r m e i d l i c h sei" (Proleg. A 104f. / IV,314f. — hier gesperrt). Indem der Verstand das Dasein von Dingen an sich selbst und ihr Zugrundeliegen für die Erscheinungen zugesteht und gar nicht anders kann, befreit er sich nach Kant vom Verdacht, Erkenntnis der Erscheinungen möchte vielleicht auf bloßem Schein beruhen. Damit ist für Kant auch der Vorwurf des Idealismus, dem er sich ausgesetzt sieht, erledigt. Was hat es mit diesem Vorwurf auf sich? „Der Idealismus besteht in der Behauptung, daß es keine andere als denkende Wesen gebe, die übrige Dinge, die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der Tat kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand korrespondierete" (Proleg. A 62 / IV,288 f.). Kant verwahrt sich dagegen, daß seine Philosophie in diesem Sinne Idealismus sei. Jene Behauptung ist gerade nicht seine Behauptung: „Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Demnach gestehe ich allerdings, daß es außer uns Körper gebe, d. i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellung kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben, welches Wort also bloß die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichts desto weniger wirklichen Gegenstandes bedeutet. Kann man dieses wohl Idealismus nennen? Es ist ja gerade das Gegenteil davon" (Proleg. A 62 f. / IV,289). Dadurch, daß „ a l l e E i g e n s c h a f t e n , d i e d i e Anschauung e i n e s K ö r p e r s a u s m a c h e n , bloß zu seiner Erscheinung gehören", wird „die Existenz des Dinges, was erscheint, . . . nicht wie beim wirklichen Idealism aufgehoben" (Proleg. A 64 / IV,289) 63 .
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Gefragt wurde nach dem objektiven Grund für die Überzeugung, daß Dinge als Erscheinungen wirklich sind, wiewohl Erscheinungen nur in uns existieren. Inzwischen hat sich gezeigt, daß Kant sich mit aller nur möglichen Deutlichkeit gegen den Verdacht des Scheins und des Idealismus zur Wehr setzt. Erscheinungen wären ein Widersinn ohne etwas, was da erscheint. Das, was da erscheint, sind die Dinge an sich selbst, die freilich selbst unerkannt bleiben, als unerkannte aber eben doch da sind. Den Erscheinungen liegen die Dinge an sich selbst zugrunde. Dinge an sich selbst sind die Ursachen der Erscheinungen. Unsere Sinnlichkeit wird von ihnen ,gerührt', wir werden von ihnen affiziert; sie wirken in uns Vorstellungen; sie üben einen Einfluß auf unsere Sinnlichkeit aus. Das wäre ohne ihr Dasein nicht möglich. Es handelt sich bei den Erscheinungen und den ihnen zugrunde liegenden Dingen an sich selbst um ebendieselben Gegenstände. Und Dinge an sich selbst sind zwar unbekannte, aber eben doch wirkliche Gegenstände. Das Ding, das erscheint, existiert. Der objektive Grund für die Uberzeugung, daß unsere Erkenntnis der Erscheinungen es mit Wirklichem zu tun hat, liegt in den Dingen an sich selbst, in ihrer Wirklichkeit, die uns bewußt ist. Dies Ergebnis ist allerdings noch weiter zu bedenken. Zu fragen ist, auf welche Weise wir das Dasein der Dinge an sich selbst annehmen 64 . Der Verstand, so hieß es, gestehe das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und daß er das tut, sei nicht nur zulässig, sondern unvermeidlich. Und: Wenn uns auch die Dinge außer uns gänzlich unbekannt sind hinsichtlich dessen, was und wie sie an sich selbst sind, so kennen wir sie doch durch die Vorstellung, die wir ihrem Einfluß auf unsere Sinnlichkeit zu verdanken haben. Wie ist dieses Kennen, dieses unvermeidliche Zugestehen zu verstehen? Es ist, wie an früherer Stelle (S. 111) schon ersichtlich wurde, kein Erkennen, sondern nur ein Denken. Erkennen hieße hier: die Möglichkeit der Dinge an sich selbst beweisen, und das, sagt Kant, können wir nicht. Denken ist weniger. Die Dinge an sich selbst als wirklich denken, meint: keinen Widerspruch begehen, wenn man ihr Dasein annimmt, ja diese widerspruchsfreie Annahme machen müssen. Ist dieses Denken dadurch hinreichend charakterisiert, daß man es in Kants Sinn als Denken eines problematischen Begriffs auffaßt? Der Begriff eines Dinges an sich selbst (Noumenon) ist ja nach Kant ein problematischer Begriff. Was ist ein problematischer Begriff, und was bedeutet es, wenn Kant den Begriff eines Dinges an sich selbst als problematischen Begriff bestimmt? „Ich nenne einen Begriff problematisch, der keinen Widerspruch enthält, der auch als eine Begrenzung gegebener Begriffe mit
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andern Erkenntnissen zusammenhängt, dessen objektive Realität aber auf keine Weise erkannt werden kann. Der Begriff eines N o u m e n o n , d.i. eines Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll, ist gar nicht widersprechend; denn man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, daß sie die einzige mögliche Art der Anschauung sei. Ferner ist dieser Begriff notwendig, um die sinnliche Anschauung nicht bis über die Dinge an sich selbst auszudehnen, und also, um die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis einzuschränken... A m Ende aber ist doch die Möglichkeit solcher Noumenorum gar nicht einzusehen... Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein G r e n z b e g r i f f , um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl nicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne doch etwas Positives außer dem Umfange derselben setzen zu können" (KrV A 254 f. = Β 310 f.). Wird der Begriff eines Dinges an sich selbst als problematischer Begriff aufgefaßt, so meint das nach dieser Stelle: Wir können die objektive Realität dieses Begriffes nicht behaupten. Dennoch ist er nicht erdichtet. Denn er enthält nicht nur keinen Widerspruch, sondern hängt auch, a l s Grenzbegriff, mit anderen Erkenntnissen zusammen, und das sogar notwendig. Aber von ihm als einem Grenzbegriff können wir nur einen negativen Gebrauch machen, eben den, unsere Sinnlichkeit vor der Anmaßung zu bewahren, sich Anschauung der Dinge an sich selbst zuzuschreiben. In diesem Sinne werden die Dinge an sich selbst nun allerdings gedacht, sobald überhaupt von Erscheinungen und der Einschränkung unserer Erkenntnis auf sie gesprochen wird. Also sind die Dinge an sich selbst durch einen problematischen Begriff schon gedacht, wenn das Problem des Scheins und des Idealismus auftritt. Zur Lösung dieses Problems schreitet das Denken über den bloßen Grenzbegriff hinaus, kann es sich nicht damit begnügen, die Dinge an sich selbst bloß negativ als unsere Erkenntnis einschränkend vorzustellen. Die Dinge an sich selbst werden nun vielmehr gedacht als ein Etwas, was erscheint, als den Erscheinungen zugrunde liegend, als wirkend auf unsere Sinnlichkeit (und d. h. als Ursache). Diese positiven Bestimmungen' bleiben für unser Erkennen leer und unerreichbar. Wir denken sie eben nur. Wir nehmen sie berechtigterweise — widerspruchsfrei und „unvermeidlich" (vgl. S. 112) — an65. Es ergibt sich bezüglich Kants Grundlegung der Wahrheit das Fazit: Angesichts des Problems des Scheins und des Idealismus reicht der reine
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Verstand als Quell aller Wahrheit nicht aus, bedarf es vielmehr als Garanten wahrer Erkenntnis von Seiendem der Dinge an sich selbst — deren Möglichkeit unbeweisbar ist und die in ihrem Was sowie im Wie ihres Wirkens auf uns unerkennbar und unbekannt bleiben. Das heißt zugleich: Neben das transzendentale Beweisen des Wahrheitsgrundes tritt ein Denken, das sich als berechtigte Annahme verstehen darf, aber gerade kein Erkennen ist. — Behält man den bezeichneten Unterschied von Erkennen und Denken fest im Blick, so verliert ein Umstand, den ich bis jetzt nicht eigens akzentuiert habe, einiges von seiner Brisanz — daß nämlich Kant im Zusammenhang mit den eben erörterten Fragen mit Bezug auf die Dinge an sich selbst von der Kategorie der Ursache Gebrauch macht. Er tut dies, obwohl er doch den Kategorien eben für einen Bezug auf Dinge an sich selbst jegliche Bedeutung abspricht66. Seit im Jahr 1787, noch vor dem Erscheinen der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Jacobi seine Stimme gegen Kant erhob67, ist die Kritik an diesem Punkt der Kantischen Philosophie nicht verstummt 68 . Auch Nietzsche wird in sie einstimmen (vgl. S. 137). Freilich wurde ihr auch immer wieder widersprochen. Mir selbst kommt es nur auf das oben gezogene Fazit an. Dieses allerdings ist mir unverzichtbar, und deshalb gehe ich hier kurz auf drei — eng miteinander und mit der eben gestreiften Kant-Kritik zusammenhängende — Sachkomplexe ein, von denen aus es in Frage gestellt werden könnte. 1. Den Stoff der Erscheinungen verdanken wir dem Umstand, daß Dinge unsere Sinnlichkeit affizieren. Daß das Kants Auffassung ist, darüber scheint allgemein Einigkeit zu bestehen. Strittig ist in der Kant-Literatur, ob oder ob nicht bei Kant hier Dinge an sich selbst eine Rolle spielen, das heißt näherhin: ob sie allein uns affizieren, ob Affektion durch Dinge an sich selbst und empirische Affektion nebeneinander hergehen, ob etwa empirische Affektion die einzig anzunehmende sei, oder schließlich: ob die Unterscheidung von zweierlei Affektion schon im Ansatz verfehlt sei, weil sie trennt, was so gar nicht zu trennen ist69. Ich möchte in dieser Frage soviel behaupten: Wie immer es im übrigen stehen mag, eine Affektion durch Dinge an sich selbst läßt sich aus der Kritik der reinen Vernunft und den Prolegomena nicht wegdenken. Sie ist durch Äußerungen Kants bestens belegt70. 2. Jedenfalls solange man das Themenfeld der transzendentalen Ästhetik und transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft nicht überschreitet, tut man gut daran, sich an Kants Versicherung zu halten, daß
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es sich bei den Dingen an sich selbst und den Erscheinungen um dieselben Gegenstände handelt (vgl. S. 111). Die „Kritik" hat die „Unterscheidung der Dinge, als Gegenstände der Erfahrung, von eben denselben, als Dingen an sich selbst" notwendig gemacht; sie lehrt, „das Objekt in z w e i e r l e i B e d e u t u n g n e h m e n . . . , nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst" (KrV Β XXVII). Dieser Festsetzung wird nun aber dadurch nicht widersprochen, sondern sie erfüllt sich vielmehr darin, daß Erscheinungen „nur Vorstellungen von Dingen" sind (vgl. S. 110), denen die Dinge, wie sie an sich selbst (unabhängig von den Bedingungen unseres Erkenntnisvermögens, unangesehen ihres Verhältnisses zu unserer Erkenntnisfähigkeit) s i n d , zugrunde liegen. Es gilt eben, daß „Erscheinungen nur in uns existieren können" (vgl. ebd.) und daß wir (bei äußeren Erscheinungen) ihre Wirklichkeit gründen auf die Annahme von außerhalb unseres Vorstellens »wirklichen' Dingen, die uns — „an sich selbst unbekannt, und von jenen Erscheinungen ganz unterschieden" (vgl. S. 111) — affizieren71. 3. Kant hat in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft (B 274 ff., dazu Β XXXIX ff., Anm.) eine „Widerlegung des Idealismus" vorgetragen, die die Frage aufkommen lassen könnte, ob damit die Ausräumung des Verdachts des Scheins und des Idealismus im Rückgriff auf die uns affizierenden Dinge an sich selbst entbehrlich wird. Ich bin der Auffassung, daß das nicht der Fall ist, daß vielmehr diese Problemdimension von jener Widerlegung nicht erreicht wird. Kant wendet sich in der „Widerlegung" vor allem gegen eine Position des Idealismus, die er Descartes glaubt zuschreiben zu können und die das ,Ich bin' für empirisch gesichert und unzweifelhaft hält, das „Dasein der Gegenstände im Raum außer uns" aber „für zweifelhaft und unerweislich . . . erklärt" (KrV Β 274). Kant versucht, diese Position zu schlagen, indem er das empirische Selbstbewußtsein für nur dank des empirischen Bewußtseins des „Daseins der Gegenstände im Raum außer mir" (KrV Β 275) möglich erklärt72. Er hat sich aber durch diese Widerlegung (die sich eben auf dem Feld der Erfahrung bewegt und deren Gegenstände bloß eingebildeten Vorstellungen entgegenstellt) nicht veranlaßt gesehen, in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft jene schon einmal (S. 110) zitierte Stelle zu streichen: „Wir haben also sagen wollen: daß alle unsre Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei . . . und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können" 73 . Hier aber gerade sieht Kant selbst den
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Punkt, an dem der Idealismus-Vorwurf g e g e n i h n ansetzen könnte und an dem die Dinge an sich selbst ins Feld zu führen sind. Jene „Widerlegung des Idealismus" macht diesen Feldzug nicht überflüssig. Eher könnte man behaupten, daß sie nötig war, um seine Möglichkeit zu bewahren. Denn sie soll gegen einen empirischen Idealismus sicherstellen, daß es äußere Erfahrung, den äußeren Sinn, äußere Affektion gibt 7 4 . Kants Wahrheitsgründung im reinen Verstand stößt auf eine weitere Grenze, die in der Kritik der Urteilskraft am deutlichsten heraustritt. Kant ist zu bedeutsamen Ergänzungen veranlaßt, wenn einerseits die Möglichkeit, Natur als einen Zusammenhang nach empirischen Gesetzen zu erkennen, andererseits die Möglichkeit, eine bestimmte Art von Erscheinungen (Dinge als Naturzwecke) hinreichend zu erfassen, zu klarem Verständnis gebracht werden sollen75. Hier ist zunächst von der ersten Möglichkeit zu handeln. Früher wurde gesagt: Unser Erkenntnisvermögen ist — durch die im Verstand entsprungenen Kategorien und die Grundsätze ihres Gebrauchs — a priori gesetzgebend für die Natur, für das Ganze der Gegenstände möglicher Erfahrung. Die Natur richtet sich nach den Gesetzen, die unser Erkenntnisvermögen ihr vorschreibt. N u r dadurch sind Gegenstände der Natur für uns erkennbar. Empirische Wahrheit ist durch die transzendentale Wahrheit ermöglicht. Nun war aber schon deutlich, daß die Gesetzgebung unseres Erkenntnisvermögens nur die Form der Gegenstände der Erfahrung betrifft und daß empirische Gesetze, wiewohl sie Besonderungen der reinen Verstandesgesetze sind, doch von diesen nicht abgeleitet, sondern nur durch Erfahrung entdeckt werden können. Und da stellt sich die Frage, wie Erkenntnis der Natur als eines gesetzmäßigen Zusammenhangs der Erscheinungen möglich ist, noch einmal, und zwar dann, wenn man sich dem Gedanken aussetzt, daß die Natur in dem, was sie uns als Stoff zur Erfahrung darbietet, so unendlich reich und so ungeordnet sein könnte, daß unser Versuch zusammenstimmender und geordneter Erkenntnis daran scheitern müßte. Kant spricht von der „Größe der Aufgabe: aus gegebenen Wahrnehmungen einer allenfalls unendliche Mannigfaltigkeit empirischer Gesetze enthaltenden Natur eine zusammenhängende Erfahrung zu machen" (KU Β XXXIVf. / V,184). Und er sagt weiter: „Denn es läßt sich wohl denken: daß, ungeachtet aller der Gleichförmigkeit der Naturdinge nach den allgemeinen Gesetzen, ohne welche die Form eines Erfahrungserkenntnisses überhaupt gar nicht Statt finden würde, die spezifische Verschiedenheit der
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empirischen Gesetze der Natur, samt ihren Wirkungen, dennoch so groß sein könnte, daß es für unseren Verstand unmöglich wäre, in ihr eine faßliche Ordnung zu entdecken . . . und aus einem für uns so verworrenen (eigentlich nur unendlich mannigfaltigen, unserer Fassungskraft nicht angemessenen) Stoffe eine zusammenhängende Erfahrung zu machen" ( K U Β X X X V I f. / V.185). Jene Aufgabe, „aus gegebenen Wahrnehmungen . . . eine zusammenhängende Erfahrung zu machen", liegt nun aber „a priori in unserm Verstände" ( K U Β X X X V / V,184). Die Gesetzgebung unseres Verstandes für die Natur (ihrer Form nach) durch ein S y s t e m von reinen Verstandesbegriffen und ein S y s t e m zugehöriger Grundsätze wäre sinnlos, wenn uns bestenfalls besondere Gesetze empirisch erkennbar wären und sich an deren Zusammenhanglosigkeit der Begriff einer Natur aufhöbe. Aus der Gesetzgebung des Verstandes für die Natur folgt für die Transzendentalphilosophie die Anweisung, nach einem Prinzip Ausschau zu halten, das systematische empirische Naturerkenntnis möglich macht. Und doch ist klar, daß der Verstand dies Prinzip nicht aufbringen kann. Der Verstand ermöglicht Naturerkenntnis durch eine Gesetzgebung, die auf die Form der Gegenstände der Erfahrung eingeschränkt ist. Ein gesetzmäßiger Zusammenhang der Gegenstände der Erfahrung auch ihrem Inhalt nach bleibt für ihn schlechterdings zufällig 76 . Das Prinzip für die systematische empirische Naturerkenntnis ist ein Prinzip nicht des Verstandes, sondern der Urteilskraft, genauer: der reflektierenden Urteilskraft. Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft ist es, zu einem gegebenen Besonderen das Allgemeine zu finden 77 . Das heißt bezüglich der Naturbetrachtung: „von dem Besondern in der Natur zum Allgemeinen aufzusteigen" ( K U Β X X V I f. / V,180), zu besonderen empirischen Gesetzen allgemeine, ebenfalls empirische Gesetze zu entdecken, unter denen die besonderen sich vereinigen lassen, und zu solchen allgemeinen empirischen Gesetzen noch allgemeinere empirische Gesetze, unter denen wiederum diese als vereinigt gedacht werden können, bis hin zur Einheit unter wenigen empirischen Prinzipien. An die Erfüllung dieser ihrer Aufgabe herangehen zu können, ermöglicht die reflektierende Urteilskraft sich selbst durch ein ihr eigentümliches Prinzip. Dies Prinzip ist ein Prinzip a priori, ein transzendentales Prinzip. Aus der Erfahrung könnte es nicht gewonnen werden, „weil es eben die Einheit a l l e r empirischen Prinzipien unter gleichfalls empirischen aber höheren Prinzipien, und also die Möglichkeit der systematischen Unterordnung derselben unter einander, b e g r ü n d e n s o l l " ( K U Β X X V I I /V,l80 — hier gesperrt). Es sagt „nicht
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was geschieht, d. i. nach welcher Regel unsere Erkenntniskräfte ihr Spiel wirklich treiben, und wie geurteilt wird, sondern wie geurteilt werden soll; und da kommt diese logische objektive Notwendigkeit nicht heraus", wenn das Prinzip „bloß empirisch" ist ( K U Β X X X I / V,182). Was hat das transzendentale Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, durch das sie systematische Verbindung empirischer Erkenntnisse ermöglicht, zum Inhalt? Unser Verstand schreibt der Natur Gesetze vor. Aber diese bestimmen nur allgemein die Form der Naturgegenstände und lassen deren Inhalt unbestimmt. Anders gesprochen: Hinsichtlich der Besonderung der von ihm gegebenen allgemeinen Naturgesetze kann unser Verstand der Natur nichts vorschreiben, richtet die Natur sich also auch nicht nach Vorschriften unseres Verstandes. Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft nun besagt, daß „die besondern empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene (sc. die allgemeinen Naturgesetze) unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte" ( K U Β X X V I I / V,180). Wir müssen uns im Vollzug der reflektierenden Urteilskraft nach der Natur richten, und das müßte uns als aussichtslos erscheinen, wollten wir die Natur nicht so betrachten, als hätte ein anderer Verstand als der unsrige ihre empirischen Gesetze gemäß einer Einheit gegeben, die es unserem Erkenntnisvermögen möglich machen soll, systematische Erfahrung zustande zu bringen. Die Natur so vorstellen, „als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte" ( K U Β X X V I I I / V,181), und zwar eben einer solchen Einheit, durch die uns ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich sein soll, das bedeutet: die Natur in dieser Rücksicht als zweckmäßig zu betrachten. Das „Prinzip der Urteilskraft, in Ansehung der Form der Dinge der Natur unter empirischen Gesetzen überhaupt", ist „die Z w e c k m ä ß i g k e i t d e r N a t u r in ihrer Mannigfaltigkeit" ( K U Β X X V I I I / V,180), die „ Z w e c k m ä ß i g k e i t für unser Erkenntnisvermögen" ( K U Β X X X I V / V,184). Etwas ausführlicher formuliert, sagt das Prinzip: „daß es in ihr (sc. der Natur) eine für uns faßliche Unterordnung von Gattungen und Arten gebe; daß jene sich einander wiederum nach einem 78 gemeinschaftlichen Prinzip nähern, damit ein Ubergang von einer zu der anderen, und dadurch zu einer höheren Gattung möglich sei; daß, da für die spezifische Verschiedenheit der Naturwirkungen eben so viel verschiedene Arten der Kausalität annehmen zu müssen unserem Verstände
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anfänglich unvermeidlich scheint, sie dennoch unter einer geringen Zahl von Prinzipien stehen mögen, mit deren Aufsuchung wir uns zu beschäftigen haben usw." ( K U Β X X X V f. / V,185). Die ,faßliche Unterordnung von Gattungen und Arten' bei den Produkten der Natur erlaubt es, „die Prinzipien der Erklärung und des Verständnisses des einen auch zur Erklärung und Begreifung des andern zu gebrauchen" ( K U Β X X X V I f. / V,185) 7 9 . Kant gebraucht zur Bezeichnung der Zweckmäßigkeit der Natur (in der Mannigfaltigkeit ihrer Produkte) für unser Erkenntnisvermögen auch die Ausdrücke „Übereinstimmung" ( K U Β X X X V I I I / V,186), „Angemessenheit" ( K U Β X X X V I I / V,186) und „Zusammenstimmung" ( K U Β X X X V I / V,185), Ausdrücke also, die, treten sie im Zusammenhang mit Fragen nach der Möglichkeit der Erkenntnis auf, für Wahrheit stehen. Diese Feststellung darf freilich nicht dazu verleiten, das Eigentümliche der Wahrheitsproblematik in diesem Zusammenhang, das von Kant mit großer Entschiedenheit herausgearbeitet wird, zu übersehen oder einzuebnen. Zwar bringt die reflektierende Urteilskraft mit ihrem Prinzip einen Verstand, der nicht der unsrige ist, als Grund jener Zweckmäßigkeit, jener Ubereinstimmung, ins Spiel, aber doch gerade mit dem Vorzeichen eines unüberhörbaren „als o b " . Das ist nun zu entfalten, und das heißt: Der eigentümliche Prinzipiencharakter des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft ist gemäß Kants Ausführungen darüber zu bestimmen. Daß das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen (was die Mannigfaltigkeit ihrer Produkte angeht) ein Prinzip a priori und transzendental ist, wurde schon gesagt. Das Prinzip kann nicht aus der Erfahrung gewonnen werden. Wohl aber kann es durch Erfahrung (Beobachtung) bestätigt werden (vgl. K U Β X X X V I I / V,186). Es ist transzendental, d. h. es geht „auf nichts, als die Möglichkeit der Erfahrung, mithin der Erkenntnis der Natur, aber nicht bloß als Natur überhaupt, sondern als durch eine Mannigfaltigkeit besonderer Gesetze bestimmten Natur" ( K U Β X X X / V,182). Seine Rechtfertigung liegt in der Leistung, Erkenntnis der Natur, sofern die Natur durch eine Mannigfaltigkeit besonderer Gesetze bestimmt ist, zu ermöglichen. Durch diese Leistung ergänzt es die Gesetzgebung des Verstandes für die Natur überhaupt, und diese Ergänzung ist vom Verstand her notwendig gefordert. Es wurde schon erwähnt, daß a priori in unserem Verstand die Aufgabe gegeben ist, „aus gegebenen Wahrnehmungen . . . eine zusammenhängende Erfahrung zu machen" (vgl. S. 118), wozu es eben der reflektierenden Urteilskraft und eines ihr eigentümlichen Prinzips a priori bedarf. (Wie unentbehrlich die
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reflektierende Urteilskraft und ihr Prinzip für die Naturerkenntnis sind, tritt in aller Schärfe heraus, wo Kant darauf aufmerksam macht, daß ohne sie nicht nur die Unterordnung von Arten unter Gattungen und von besonderen empirischen Gesetzen unter allgemeinere empirische Gesetze unmöglich wäre, sondern schon die „gemeinste Erfahrung" und der geringste empirische Begriff 80 .) Die reflektierende Urteilskraft verfährt „einer notwendigen Absicht (einem Bedürfnis) des Verstandes gemäß" ( K U Β X X X I I I / V,184) und steht insofern in notwendigem Zusammenhang mit dem Verstand, den Kant als Quell aller Wahrheit bezeichnet hat. Das alles darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft eine Annahme, eine Voraussetzung ist, und nicht mehr. Zwar wird es „a priori vorausgesetzt" ( K U Β X X X V I / V,185) — eben von der a priori in unserem Verstand gelegenen Erkenntnisaufgabe aus; zwar müssen wir es „notwendig annehmen" ( K U Β X X X I V / V,184), aber über Voraussetzung und Annahme kommen wir hier nicht hinaus. Nichts wird durch das Prinzip der Urteilskraft daran geändert, daß unser Verstand die Zusammenstimmung der Natur mit unserem Erkenntnisvermögen „objektiv als zufällig anerkennt" ( K U Β X X X V I / V,185). Nichts wird bezüglich einer Ordnung der Produkte der Natur über die formalen Gesetze hinaus bestimmt. Der Natur kann eine solche Ordnung nach Arten und Gattungen, nach empirischen Gesetzen verschiedener Allgemeinheitsstufen nicht zugesprochen werden 81 . Daß ein anderer Verstand als der unsrige existiert und die Natur so geordnet hat, daß wir systematische Erfahrung zustande bringen können, darf keinesfalls behauptet werden. Das transzendentale Prinzip der Zweckmäßigkeit gibt die Urteilskraft „sich nur selbst als Gesetz" ( K U Β X X V I I / V,180), nicht jedoch der Natur (vgl. auch K U Β X X V I I I / V,180). Sie gibt es sich „für ihren eigenen Gebrauch" ( K U Β X X X I I I / V,183). Es ist „ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft" ( K U Β X X X I V / V,184). Als solches dient es zum „Leitfaden für eine mit diesen (sc. den empirischen Gesetzen) nach aller ihrer Mannigfaltigkeit anzustellende Erfahrung und Nachforschung" ( K U Β X X X V I / V,185). Die Subjektivität des transzendentalen Prinzips der Urteilskraft und damit zugleich die von uns einzuräumende objektive Zufälligkeit der Zusammenstimmung der Natur mit unserem Erkenntnisvermögen (über das Formale einer Natur überhaupt hinaus) werden von Kant zweifach unterstrichen. Er sagt, daß wir „gleich als ob es ein glücklicher unsre Absicht begünstigender Zufall wäre, erfreuet (eigentlich eines Bedürfnisses entledigt) werden, wenn wir eine solche systematische Einheit unter bloß
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empirischen Gesetzen antreffen" (KU Β XXXIV / V,184). Und ferner macht er darauf aufmerksam, daß wir nicht wissen, ob wir nicht im Fortschreiten der Naturerkenntnis faktisch an Grenzen unseres Prinzips stoßen82. Dieser Möglichkeit können wir uns bewußt sein, obwohl das Prinzip der Urteilskraft gerade umfassend auf „die Einheit aller empirischen Prinzipien unter gleichfalls empirischen aber höheren Prinzipien" geht (vgl. S. 118). Der Charakter des Prinzips als Annahme einerseits, sein Inhalt („System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen" — vgl. S. 119) andererseits stehen zueinander in Spannung. Kant hatte den Verstand gedacht als a priori gesetzgebend für die Natur ihrer Form nach und als Quell aller Wahrheit. Nach der jetzt durchgeführten Überlegung muß man sagen: Der reine Verstand mit seiner Gesetzgebung ist und bleibt die oberste Bedingung aller unserer Erkenntnis von Gegenständen, aber er reicht nicht aus, um Erfahrung möglich zu machen. Die reflektierende Urteilskraft muß ihm zur Seite treten und durch ein in ihr entsprungenes, eigentümliches Prinzip systematische empirische Erkenntnis, ja sogar überhaupt empirische Begriffe und besondere empirische Gesetze möglich machen. Auch sie ist gesetzgebend. Aber anders als der Verstand gibt sie nicht der Natur, sondern nur sich selbst ein Gesetz. Durch diese Selbstgesetzgebung („Heautonomie" — KU Β XXXVII / V,185) ermöglicht sie sich i h r e i g e n e s V e r f a h r e n , im konkreten Erfahrungsvollzug vom Besonderen zum Allgemeinen aufzusteigen und dadurch systematische Zusammenhänge in der Naturerkenntnis herzustellen. Ihr Prinzip kann nicht transzendental bewiesen werden, sondern muß als subjektiv notwendige A n n a h m e e i n e s A l s - ο b aufgefaßt werden. Was da unter dem Vorzeichen des Als-ob angenommen wird, das ist eine Ordnung der Natur in ihren besonderen empirischen Gesetzen zu dem Zweck, daß wir sie erkennen können, und ein nicht-menschlicher Verstand, der die Natur in ihren besonderen Gesetzen diesem Zweck gemäß eingerichtet hat. Es muß klar gesehen werden, daß mit dem Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit das menschliche Erkenntnisvermögen s e l b s t sich Erkenntnis ermöglicht, das aber dadurch, daß es mit einer Als-ob-Annahme über sich selbst hinausgeht zu einer Zweckmäßigkeit (Übereinstimmung, Angemessenheit, Zusammenstimmung) d e r G e g e n s t ä n d e in bezug auf unsere Urteilskraft und zu einem n i c h t - m e n s c h l i c h e n V e r s t a n d als Grund dieser Zweckmäßigkeit (Erkennbarkeit) der Gegenstände für unser Erkenntnisvermögen. 83 — Die Gesetzgebung des Verstandes für die Natur ihrer Form nach und das von der reflektierenden Urteilskraft aufgestellte Prinzip der Zweckmä-
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ßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit reichen nun aber noch immer nicht aus, um die empirische Erkenntnis bestimmter Erscheinungen, nämlich organisierter Wesen, in ihrer Möglichkeit zu begründen. Dazu bedarf es eines weiteren Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur, das ebenfalls von der Urteilskraft aufgebracht wird. Daran soll hier vor allem das eigentümliche Verhältnis von Erfahrung und apriorischer Prinzipiengebung interessieren. Es geht um „objektive Zwecke der Natur, d. i. Dinge, die nur als Naturzwecke möglich sind" (KU Β LI / V,193)84. Darunter sind organisierte Wesen, Lebewesen also, zu verstehen. Was ist das Eigentümliche dieser Art von Dingen (Erscheinungen), die uns in der Natur begegnen? Kant definiert: „ E i n o r g a n i s i e r t e s P r o d u k t d e r N a t u r i s t d a s , in w e l c h e m a l l e s Z w e c k u n d w e c h s e l s e i t i g a u c h M i t t e l i s t . Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben" (KU Β 295 f. / V,376). In einem organisierten Naturprodukt liegt ein eigentümliches Verhältnis der Teile zueinander vor: Wechselseitig sind alle Teile einander Zweck sowohl als auch Mittel. Das heißt zugleich: Jeder Teil ist Wirkung der anderen Teile, für die er seinerseits Ursache ist. Für ein solches Wirkverhältnis kann die mechanische Naturkausalität (der unser Verstand a priori das Gesetz gibt mit dem Grundsatz, „daß a l l e s , w a s g e s c h i e h t , jederzeit d u r c h e i n e U r s a c h e nach beständigen Gesetzen vorher b e s t i m m t s e i " — vgl. S. 100) nicht aufkommen. Von ihr aus gesehen muß es vielmehr als gänzlich zufällig erscheinen. „Denn wenn man z.B. den Bau eines Vogels, die Höhlung in seinen Knochen, die Lage seiner Flügel zur Bewegung, und des Schwanzes zum Steuern u . s . w . anführt: so sagt man, daß dieses alles nach dem bloßen nexus effectivus in der Natur, ohne noch eine besondere Art der Kausalität, nämlich die der Zwecke (nexus finalis), zu Hülfe zu nehmen, im höchsten Grade zufällig sei: d. i. daß sich die Natur, als bloßer Mechanism betrachtet, auf tausendfache Art habe anders bilden können" (KU Β 268 f. / V,360)85. Wenn in einem Ding alle Teile wechselseitig einander Zweck und zugleich Mittel sind, dann bedeutet das, „daß die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind" (KU Β 290 / V,373). Ein solches Verhältnis von Teilen und Ganzem, daß ihre Beziehung auf das Ganze die Teile erst möglich macht, kennen wir an den Produkten, die wir selbst herstellen. Und hier ist es so, daß das Produkt nur möglich ist dadurch, daß wir die Idee des Ganzen vorweg vorstellen und aus ihr Form und Lage, Funktion und Zusammenwirken der
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Teile festlegen. Man begreift aber nach Kant von den Dingen als Naturzwecken zuwenig, wenn man sie bloß in Analogie zu den Produkten unseres Herstellens sieht. Denn diese sind nur möglich durch eine von ihnen verschiedene vernünftige Ursache, die eben der Produktion die Idee des Ganzen zugrunde legt. Dagegen ist ein Naturzweck ein „ s i c h s e l b s t o r g a n i s i e r e n d e s W e s e n " ( K U Β 292 / V,374). Seine Teile b r i n g e n „einander insgesamt, ihrer Form sowohl als Verbindung nach, wechselseitig, und so ein Ganzes a u s e i g e n e r K a u s a l i t ä t " h e r v o r ( K U Β 291 / V,373 — hier gesperrt). Mit den Produkten unseres Herstellens hat ein Ding als Naturzweck zwar gemeinsam, daß jeder Teil „als u m d e r a n d e r n und des Ganzen w i l l e n existierend, d.i. als Werkzeug (Organ) gedacht" wird (ebd.). Aber von den Organen eines Naturzwecks gilt gerade darüber hinaus, daß jedes Organ als jedes andere hervorbringend vorgestellt wird 86 . Daß D i n g e (Naturzwecke) zu denken sind als sich selbst organisierende Wesen, wird von Kant unterstrichen, indem er sagt, daß hier „Zwecke, die nicht die unsrigen sind, . . . auch der Natur (welche wir nicht als intelligentes Wesen annehmen) nicht zukommen" ( K U Β 268 / V,359). Wie ist es möglich, daß wir Erscheinungen vorstellen als Naturzwecke? D e r Begriff des Zwecks gehört nicht zu den Kategorien, und so kann unser Verstand für Dinge, sofern sie als Naturzwecke vorzustellen sind, nicht a priori gesetzgebend sein. — Kant sagt, daß „wir ihr (sc. der Natur) unseren Begriff vom Zweck zur Beurteilung ihres Produkts unterlegen" ( K U Β X L I X / V,193). Obwohl wir (wie das dem letzten vorangegangene Zitat einschärft) dessen eingedenk zu sein haben, daß der Natur Zwecke „nicht zukommen", unterlegen wir ihr dennoch den Begriff des Zwecks, um eine bestimmte Art ihrer Produkte beurteilen zu können. Wie kommen wir dazu? D a muß zunächst gesehen werden, daß es für dieses unser Vorgehen a p r i o r i keinen Grund gibt. Kant erklärt nachdrücklich, „daß gar kein Grund a priori angegeben werden kann, ja nicht einmal die Möglichkeit davon aus dem Begriffe einer Natur, als Gegenstande 87 der Erfahrung im allgemeinen sowohl, als im besonderen, erhellet, daß es objektive Zwecke der Natur, d.i. Dinge, die nur als Naturzwecke möglich sind, geben müsse" ( K U Β LI / V,193 — z . T . schon einmal zitiert). Weder aus den allgemeinen Naturgesetzen, die unser Verstand der Natur vorschreibt, noch aus dem transzendentalen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, das die Zweckmäßgkeit der Natur in ihren mannigfaltigen besonderen Gesetzen für unser Erkenntnisvermögen zum Inhalt hat, kann a priori abgeleitet werden, daß es Dinge als Naturzwecke geben muß oder daß sie jedenfalls
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möglich sein müssen. Dergleichen „läßt sich a priori gar nicht mit einigem Grunde präsumieren" (KU Β 268 / V,359). Vielmehr müssen uns erst in der Erfahrung ,Fälle' solcher Produkte ,vorkommen' 88 , damit uns ihre Möglichkeit bekannt werde. „Die Erfahrung leitet unsere Urteilskraft auf den Begriff einer objektiven und materialen Zweckmäßigkeit, d.i. auf den Begriff eines Zwecks der Natur" (KU Β 279 / V,366). Das Prinzip einer objektiven, materialen Zweckmäßigkeit der Natur (oder das „Prinzip der Beurteilung der innern Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen" — KU Β 295 / V,376) ist „seiner Veranlassung nach, von Erfahrung abzuleiten, nämlich derjenigen, die methodisch angestellt wird und Beobachtung heißt" (KU Β 296 / V,376). Zwei Fragen ergeben sich hier: Was eigentlich ist es an der methodisch durchgeführten Erfahrung, das uns bei bestimmten Naturprodukten veranlaßt, jenes Prinzip ins Spiel zu bringen und also der Natur zum Zweck der Beurteilung dieser Produkte den Begriff des Zwecks zu unterlegen? U n d : Ist jenes Prinzip, weil von der Erfahrung veranlaßt, ein ,empirisches Prinzip', oder ist es gleichwohl ein Prinzip a priori? Zunächst zur ersten Frage. Wir werden im Vollzug methodischer Erfahrung an bestimmten Naturprodukten der „Unzulänglichkeit" der mechanischen Gesetze „selbst zur empirischen Aufsuchung aller besondern Gesetze der Natur" (KU Β 308 / V,383) inne, und das leitet uns auf „eine andere Art der Nachforschung, als die nach mechanischen Gesetzen ist" (ebd.). Worin besteht die Unzulänglichkeit der mechanischen Gesetze für die Erforschung bestimmter Naturprodukte? Am Beispiel des Baus eines Vogels hatte Kant schon klargemacht, daß Gestalt und Lage der Teile nach mechanischen Gesetzen zuhöchst zufällig sind (vgl. S. 123). Die mechanischen Gesetze sind also nicht in der Lage, hier über die Zufälligkeit hinauszuführen, und d.h. Gestalt und Lage der Teile erkennbar zu machen. Und dennoch werden wir, je eingehender wir die Beobachtung eines derartigen Naturprodukts fortsetzen, um so mehr zu der Auffassung geführt, daß das, was da nach mechanischen Gesetzen für uns zufällig bleibt, doch von uns als gesetzmäßig zu beurteilen sein müßte. So gilt denn: „Diese Z u f ä l l i g k e i t seiner Form . . . ist selbst ein Grund, die Kausalität desselben so anzunehmen, als ob sie eben darum nur durch Vernunft möglich sei" (KU Β 285 / V,370). Es steht nach Kant auch nicht zu erwarten, daß künftig einmal eine etwa fortgeschrittenere Naturwissenschaft die Unzulänglichkeit mechanischer Gesetze für die empirische Erkenntnis der in Rede stehenden Naturprodukte beseitigen und damit die Zufälligkeit nach mechanischen Gesetzen, die an diesen Dingen sinnenfällig
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wird, als Irrtum enthüllen könnte. „Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde: sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen" (KU Β 337f. / V,400)89. Das „Prinzip der Beurteilung der innern Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen" bringen wir ins Spiel, weil uns im Vollzug methodisch an solchen Wesen durchgeführter Erfahrung unausweichlich und mit Gewißheit bewußt wird, daß mechanische Gesetze hier unzulänglich sind und das Eigentümliche dieser Produkte gerade der Zufälligkeit und Unerkennbarkeit überlassen. Ohne Erfahrung kämen wir gar nicht zur Vorstellung organisierter Wesen als innerlich zweckmäßiger und zum Prinzip ihrer Beurteilung. Ist dies Prinzip deshalb kein Prinzip a priori? Schon die Entschiedenheit, mit der Kant dem Menschen das zureichende Erfassen solcher Naturprodukte durch mechanische Gesetze für alle Zeit schlechterdings abspricht', läßt erwarten, daß er das Prinzip als Prinzip a priori auffaßt. Und in der Tat sagt er von dem Prinzip: „der Allgemeinheit und Notwendigkeit wegen . . . , die es von einer solchen Zweckmäßigkeit aussagt, kann es nicht bloß auf Erfahrungsgründen beruhen, sondern muß irgend ein Prinzip a priori, wenn es gleich bloß regulativ wäre, und jene Zwecke allein in der Idee des Beurteilenden und nirgend in einer wirkenden Ursache lägen, zum Grunde haben" (KU Β 296 / V,376). Das Prinzip beruht zwar auch auf Erfahrungsgründen — Erfahrung ,veranlaßt' es ja. Aber seinen Grund als Prinzip kann es nicht in der Erfahrung haben, weil es die Zweckmäßigkeit der Teile eines organisierten Wesens füreinander als allgemein und notwendig vorstellt. ( A l l e s , sagt das Prinzip, ist in einem solchen Wesen ,Zweck und wechselseitig auch Mittel', n i c h t s „in ihm ist umsonst" — vgl. S. 123). Freilich ist die Einschränkung von Kant sofort schon mit ausgesprochen. Mit diesem Prinzip a priori schreiben wir der Natur nichts vor, bestimmen wir sie und die innere Form ihrer Produkte nicht, sprechen wir ihr kein vernünftiges Wirken nach der Vorstellung von Zwecken zu. Unsere Urteilskraft gibt sich mit ihm nur eine Regel ihres eigenen Verfahrens. Es ist für sie „eine M a x i m e der Beurteilung der innern Zweckmäßigkeit organisierter Wesen" (KU Β 296 / V,376) und als solche subjektiv, wenngleich sie die Maxime als „unumgänglich notwendig
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annehmen" muß (ebd.). An ihr allein hat sie einen „Leitfaden für die Beobachtung einer Art von Naturdingen" (KU Β 297 / V,376). Das Recht der Urteilskraft, sich das „Prinzip der Beurteilung der innern Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen" zur Maxime zu machen, liegt eben in seiner Unerläßlichkeit, liegt in der nicht zu überwindenden Unzulänglichkeit der mechanischen Gesetze bei der Erforschung organisierter Wesen. Da, wo diese Gesetze nicht hinreichen, wird dank jenes Prinzips eine andersartige Gesetzlichkeit in Naturprodukten verständlich. Dinge als Naturzwecke sind eben „nach Naturgesetzen, die wir uns nur unter der Idee der Zwecke als Prinzip denken können, einzig und allein e r k l ä r b a r e , und bloß auf diese Weise, ihrer innern Form nach, sogar auch nur innerlich e r k e n n b a r e Gegenstände" (KU Β 307 / V,383). Das „Prinzip der Beurteilung der innern Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen" leistet etwas, das nur es leisten kann: Es macht Dinge als Naturzwecke erkennbar. — Während nun aber das früher erörterte Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur (in der Mannigfaltigkeit ihrer Produkte) für unser Erkenntnisvermögen insofern mit der Gesetzgebung des Verstandes für die Natur und damit mit dem Verstand als Quell der Wahrheit notwendigen Zusammenhang hat, als es die Erfüllung einer Aufgabe ermöglicht, die a priori in unserem Verstand und seiner Gesetzgebung liegt, kann dieser Bezug auf den Verstand für das „Prinzip der Beurteilung der innern Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen" nicht hergestellt werden. Wohl aber steht es zu jenem früheren Prinzip der Zweckmäßigkeit in Verbindung, derart nämlich, daß „jenes transzendentale Prinzip schon den Begriff eines Zwecks (wenigstens der Form nach) auf die Natur anzuwenden den Verstand vorbereitet hat" (KU Β LI/V,193 f.). Daß das „Prinzip der Beurteilung der innern Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen" nicht mehr als eine Maxime und eine Annahme ist, wird von Kant noch akzentuiert, wenn er an der besonderen Kausalität, wie sie in diesem Prinzip gedacht ist, hervorhebt, daß „uns selbst die Erfahrung die Wirklichkeit derselben nicht beweisen" kann (KU Β 268 / V,359). Das bedeutet nun zugleich, daß an der Erkenntnis, die wir diesem Prinzip verdanken, Abstriche zu machen sind, legt man die Erkenntnis der Natur nach mechanischen Gesetzen als Maßstab an. Obwohl Kant selbst die Naturzwecke als dank des Prinzips der Zweckmäßigkeit ,erklärbare' und ,erkennbare* Gegenstände bezeichnet hat (vgl. oben), schränkt er doch anderwärts ein. So etwa, wenn er sagt, die teleologische Beurteilung werde „mit Recht zur Naturforschung gezogen; aber nur, um sie nach der A n a l o g i e mit der Kausalität nach Zwecken unter Prinzipien der Beob-
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achtung und Nachforschung zu bringen, ohne sich anzumaßen, sie darnach zu e r k l ä r e n " ( K U Β 269 / V,360) 9 °. — Kants Ansatz, Wahrheit unserer Erkenntnis aus dem reinen Verstand als Quell aller Wahrheit zu begründen, bedurfte zweier Ergänzungen, die beide der Urteilskraft zugemutet werden konnten. Die Urteilskraft macht einerseits — durch das in ihr selbst entsprungene Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur (in ihrer Mannigfaltigkeit) für unser Erkenntnisvermögen — systematische Naturerkenntnis nach empirischen Gesetzen möglich. Sie macht andererseits — durch das ebenfalls in ihr selbst entsprungene „Prinzip der Beurteilung der innern Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen" — eine nicht-mechanische, teleologische Gesetzmäßigkeit in solchen Wesen verständlich und damit diese Naturgegenstände als Systeme begreiflich. In beiden Fällen ermöglicht sie sich ihr eigenes Verfahren. In beiden Fällen geht sie dabei mit einer Annahme über sich hinaus, und zwar im ersten Fall zur Angemessenheit der Gegenstände an ihr Vermögen und zu einem nichtmenschlichen Verstand, im zweiten Fall zu bestimmten Gegenständen, nämlich sich selbst organisierenden Wesen". Die Urteilskraft, die sich selbst das Erfassen einer bestimmten Art von Naturprodukten ermöglicht, interessierte hier vor allem, weil ihr Prinzip aus einem eigentümlichen Zusammenspiel von Erfahrung und apriorischem Denken hervorgeht. Dinge als Naturzwecke stehen (als solche) nicht unter der Gesetzgebung unseres Verstandes. Auch in der Urteilskraft gibt es a priori keinen Grund für die Annahme, daß Dinge als Naturzwecke möglich sein müssen. Es bedarf einer Veranlassung und Leitung durch Erfahrung, damit die Urteilskraft zum Prinzip ihrer Beurteilung solcher Dinge gelangen kann. Diese Veranlassung besteht, näher bestimmt, darin, daß uns Erscheinungen gegeben sind, an denen die Erklärungsart nach mechanischen Gesetzen ihre Unzulänglichkeit bekundet. Darauf antwortet die Urteilskraft spontan mit der Annahme der inneren Zweckmäßigkeit derartiger Erscheinungen, und zwar in einem Denkakt a priori. Durch ein von der Erfahrung veranlaßtes Prinzip a priori ermöglicht sie Erfahrung. Diese ist jedoch, weil durch eine bloße Annahme der Urteilskraft ermöglicht, keine empirische Erkenntnis im strengen Sinn, die Gegenstände aus ihren objektiven Gründen erklärt. Sie bringt es nicht zur „theoretischen Naturwissenschaft", sondern nur zur „Naturbeschreibung" (vgl. K U Β 365 f. / V,417). Die Wirklichkeit ihrer Gegenstände, eben der Dinge als Naturzwecke, kann sie nicht beweisen 92 .
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Kants Wahrheitstheorie bleibt in der Tradition des Wahrheitsverständnisses, das sich in der Formel ausdrückt, Wahrheit sei Angleichung von Sache und Verstand. Die Fülle der Bezüge, die Thomas von dieser Formel aus entwickelte, war schon von Descartes zurückgelassen worden. Wie bei Descartes, interessiert auch bei Kant die Wahrheit nur noch als Wahrheit menschlichen Erkennens' 3 . Nachdem Descartes in diesem Bereich die Vorherrschaft der Urteilswahrheit noch gestärkt hatte, erscheint bei Kant Wahrheit einzig als eine Eigenschaft des Urteils. (Real d e f i n i t i o n e n gegebener Begriffe sind für Kant analytische U r t e i l e , die Vollständigkeit der Teilbegriffe anstreben.) Descartes hatte durch seine Regel der Wahrheit den Anspruch auf Wahrheit einer Erkenntnis an die Forderung der Gewißheit des Erfaßten gebunden. Aus dieser Verknüpfung ergab sich schon für ihn die Aufgabe einer Vernunftkritik. Kant übernimmt die Aufgabe einer Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens und führt sie konsequenter durch. Übereinstimmung besteht zwischen Kant und Descartes hinsichtlich der Einschätzung des Satzes vom Widerspruch: Descartes' ,universaler' Zweifel hatte die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch nicht berührt. Auch Kants Vernunftkritik hält dies Prinzip für schlechterdings fraglos, und zwar als hinreichendes Prinzip der Wahrheit analytischer Urteile und als negative Bedingung der Wahrheit synthetischer Erkenntnis. Im Gegensatz zu Descartes vollzieht Kants Vernunftkritik keinen ,universalen' Zweifel. Das Daß der Erfahrung ist bei Kant gewiß, und darauf kann er zurückgreifen. Kant kommt bei seiner Vernunftkritik zu einer ganz anderen Auffassung über die erkennende Vernunft als Descartes. Descartes hatte von seiner radikal rationalistischen Grundposition aus der Erfahrung keine Bedeutung beigemessen (vgl. Anm. 45 zu Kap. 4). Kant setzt die Sinnlichkeit wieder in ihr Recht ein, und dabei geht er so weit, sinnliche Anschauung für unerläßlich zu erklären, soll Erkenntnis von Gegenständen stattfinden. Wo die menschliche Vernunft den Bezug zur Erfahrung verliert, kann sie Erkenntnis nicht beanspruchen. Während Kant in diesem Punkt Descartes' Ansatz umdreht, geht er andererseits einen Weg weiter, den Descartes schon beschritt, nämlich die Wahrheit menschlicher Erkenntnis im erkennenden Subjekt zu fundieren. Beides zusammengenommen ergibt die revolutionäre Umwendung, die Kant in der Wahrheitsfrage von der gesamten Tradition trennt. Descartes hatte im Ausgang von dem seiner Existenz schlechthin gewissen denkenden Ich als erstem Wahrem und grundgebendem Anfang den
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Schritt zu Gott als Wahrheitsgrund getan, wobei Gott primär als Wahrheitsgarant gedacht wurde. Dieser Schritt, wie jeder andere metaphysische Uberschritt zur Wahrheitsgründung, ist für Kant nicht mehr möglich. Damit entfällt auch die Funktion, die Descartes' Regel der Wahrheit hatte, denn diese Regel bedurfte des göttlichen Wahrheitsgaranten, um in vollem Umfang in Kraft zu sein. Kant könnte dieser Regel aber auch deshalb keine Funktion im Zusammenhang der Wahrheitsgründung belassen, weil er der Auffassung ist, daß es ein allgemeines und hinreichendes Kriterium der Wahrheit jeder Erkenntnis nicht gibt. Ohne ein solches Kriterium und eine allgemeine Regel der Wahrheit, die es ausdrückt, sowie ohne Rekurs auf Gott gründet Kant die Wahrheit der Erkenntnis im denkenden Ich, im reinen Verstand des Menschen. Die Ferne, die hier zugleich zu Thomas gegeben ist, wird um so deutlicher, wenn man formale Entsprechungen bei Kant und Thomas entdeckt. Thomas verstand Wahrheit als ein Verhältnis der Hinordnung, das sich als Maß-geben und Maß-empfangen entfalten ließ. Den Dingen der Natur schrieb er eine doppelte Hinordnung zu: die primäre auf Gottes Verstand, von dem sie das Maß empfangen, und die weitere auf den menschlichen Verstand, dem sie das Maß geben. In diesen Ausdrücken könnte man auch Kants Ansatz zu Wort bringen, nur darf dabei freilich vom göttlichen Verstand nicht die Rede sein. Die Dinge der Natur (Erscheinungen) sind bei Kant in einer doppelten Hinordnung auf den menschlichen Verstand zu sehen. Sie empfangen vom reinen Verstand das Maß, nämlich ihre Form als Gegenstände der Erfahrung — das ist die transzendentale Wahrheit. Sie geben dem menschlichen Verstand das Maß, wenn er Erfahrung vollzieht (empirische Wahrheit). Dabei ,geben' sie freilich mehr, als sie vom reinen Verstand empfangen haben — weshalb denn auch Kants Fundierung der Wahrheit im reinen Verstand nicht ausreicht. Die Fundierung der Wahrheit im reinen Verstand muß überschritten werden einerseits in Richtung auf die Dinge an sich selbst. Diese müssen als den Erscheinungen zugrunde liegend gedacht werden, wenn der Verdacht entkräftet werden soll, daß wir — bei größter t Stimmigkeit unserer .Erkenntnis' der Erscheinungen — es doch überhaupt nicht mit Seiendem zu tun haben. Bei Descartes stellte sich ebenfalls das Problem eines in sich völlig stimmigen Scheins, das Problem, daß wir als Erkennende nicht über das Subjekt hinauskommen zu wahrhaften Gegenständen. Bei ihm trat dies Problem nicht als das der Gegenstände als Erscheinungen auf, sondern als das eines möglichen Betrügergottes, und Descartes löste das Problem durch Gott als Wahrheitsgaranten 94 .
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Kant muß die Wahrheitsgründung im reinen Verstand andererseits überschreiten mit zwei Prinzipien, die die Urteilskraft aufbringt. Das eine dieser beiden Prinzipien nimmt einen nicht-menschlichen Verstand an, der die Natur ihren mannigfaltigen Inhalten nach so eingerichtet hat, daß wir sie erkennen können. Tradition, vor allem Thomas, klingt hier an, aber unüberhörbar ist gerade der neue Ton: Es handelt sich bei Kant um eine Als-ob-Annahme unserer Urteilskraft zu ihrem eigenen Gebrauch95. Ebenfalls mit einer Als-ob-Annahme geht unser Erkenntnisvermögen mit dem zweiten Prinzip über sich hinaus — zu Gegenständen, deren innere Organisation von der Art ist, daß sie für uns verständlich sind, wiewohl die Erklärung nach mechanischen Gesetzen nicht an sie heranreicht. Mag das ein Nachklang davon sein, daß früher einmal die Dinge als wahr gedacht wurden, so ist wieder zu betonen, daß sich hier die Urteilskraft durch eine Annahme nur ihr eigenes Verfahren ermöglicht. Kant versteht den Denkvollzug der Wahrheitsgründung im reinen Verstand als transzendentalen Beweis. Die Auffassung, daß Wahrheitsgründung als Beweis zu vollziehen ist, verbindet ihn mit Descartes, der zu diesem Zweck einen Gottesbeweis durchführte. Auf Gewißheit kommt es jetzt eben auch beim Denken des Wahrheitsgrundes an. Piaton und Thomas hielten hier Erkenntnisgewißheit und Wahrheit als Angleichung von Sache und Verstand nicht für möglich. Dort, wo Kant in die eben erinnerten Richtungen über die Wahrheitsgründung im reinen Verstand hinausgeht, muß er freilich selbst in Annahmen denken, kann er Wahrheit als Angleichung von Sache und Verstand nicht für erreichbar halten. Nach dem Gesetz der Vernunftkritik angetreten, betont er das Subjektive der Annahmen. Bei Kant ermöglicht sich das menschliche Erkenntnisvermögen selbst als reiner Verstand und als reflektierende Urteilskraft die Erkenntnis von Gegenständen. Kant hat nicht den geringsten Zweifel gelassen über den Preis, den die in diesem Sinne selbstmächtige Vernunft, erkennt sie erst wahrhaft sich selbst (wozu ihre schon von Descartes hervorgehobene Durchsichtigkeit für sich selbst sie befähigt), zu zahlen hat: Niemals erkennt sie die Dinge an sich selbst; Erkenntnis ist auf Erscheinungen eingeschränkt. Das ist gegenüber Descartes eine radikale Umwendung. Zwar ist uns nach Descartes nichts erkennbar, was als wesentliches Wassein einer Substanz ausgegeben werden dürfte; das Wesen endlicher Dinge qua Substanzen ist uns verborgen, und wir haben uns statt dessen an das wesentlichste Attribut der Substanz (bei den Körpern die Ausdehnung) zu halten. Das hindert Descartes aber nicht, die Erkenntnis der materiellen
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Dinge als Erkenntnis ihres Wesens zu begreifen. Und wenn er unsere Erkenntnis von Gegenständen auf das Wesen der materiellen Dinge einschränkt und offenlassen muß, ob Dinge so existieren, wie wir sie wahrnehmen, so faßt die Erkenntnis eben doch die wahre Natur der Dinge; was die materiellen Dinge ,an sich selbst' sind, bleibt methodischem Erkennen gerade nicht verborgen, und nur als was die Dinge sich außerdem auch noch unseren Sinnen darbieten, darf nach Descartes nicht von ihnen behauptet werden. Menschliche Erkenntnis von Gegenständen ist nach Kant Erkenntnis von Erscheinungen, aber sie ist deshalb kein Schein, denn die Dinge an sich selbst sind ,Ursache' der Erscheinungen. Dieser Rückgriff Kants auf die Dinge an sich selbst ist eine Annahme, kein Beweis und überhaupt keine Erkenntnis, ,die mit ihrem Gegenstand übereinstimmt'. Wer den Wahrheitsbegriff der Ubereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand als einzigen gelten lassen und zum Maß machen wollte, müßte Kants Problem des Scheins für ungelöst, ja unlösbar halten. Nietzsche hält es dafür. Ein Satz wie der: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir N a t u r nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt" (vgl. Anm. 43 zu diesem Kap.) könnte, mit kleinen Änderungen, von Nietzsche stammen und würde bei ihm besagen, daß uns Erkenntnis von Wirklichem nicht möglich ist. Entsprechendes würde Nietzsche daraus folgern, daß wir, wie Kant sagt, der Natur Zwecke unterlegen, die ihr nicht zukommen. ,Vernunftkritik' und Wahrheitsproblematik treten bei Nietzsche in ein neues Stadium.
6. Kapitel: Nietzsche Die Leidenschaft von Nietzsches Denken gilt der Aufgabe, mit dem ganzen Menschen eine ,kopernikanische Wende' zu vollziehen, einen Menschentypus vorzubereiten, der die irdisch-sinnliche Welt als die einzige begreift, sie unbedingt bejaht und aus dieser Bejahung neue Werte setzt. Die Destruktion überlieferten menschlichen Selbst- und Weltverständnisses ist notwendiger Bestandteil eines solchen Vorhabens. Der Wahrheitsfrage kommt in diesem Gesamtunternehmen eine wesentliche Bedeutung zu. Auch Nietzsche tritt auf dem Feld der Wahrheitstheorie als Kritiker an. Er überbietet seine neuzeitlichen Vorgänger durch eine Umwendung (und Umwertung), der der Wahrheitsbegriff der Tradition zum Opfer fällt. Er macht seine ontologischen Grundgedanken zum Fundament dafür. Gerade durch die Sicherung des Fundamentes aber gerät seine eigene Philosophie in eine Krise1. Die im folgenden am häufigsten, jedoch keineswegs ausschließlich beigezogenen Texte sind: Die fröhliche Wissenschaft (1882; erweiterte Ausgabe 1887), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Nachgelassene Fragmente vom Herbst 1885 bis Januar 18 892. Einige Gedichte (entstanden 1884 und 1888, von Nietzsche 1888/89 in die Dionysos-Dithyramben aufgenommen) werden schließlich von Bedeutung sein. Die kleine nachgelassene Schrift Ueher Wahrheit und, Lüge im aussermoralischen Sinne3 (1873) kommt gelegentlich zu Wort; diese frühe, flüssig geschriebene Abhandlung wäre für denjenigen von besonderem Interesse, der die E n t w i c k l u n g der Wahrheitsthematik bei Nietzsche verfolgen wollte4. Nietzsches vorwiegend in Aphorismen sich aussprechendes Denken kommt von sich aus der streng entwickelnden Darstellung eines Themas kaum entgegen. Stärker als bei anderen Philosophen muß hier Textmaterial ausgebreitet und muß mit Vor- und Rückverweisungen gearbeitet werden; anfangs müssen noch nicht erläuterte Grundthesen gelegentlich schon in Anspruch genommen werden, und später sind Wiederholungen nicht ganz zu vermeiden5.
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Zu Nietzsches kritischen Untersuchungen über die Wahrheit gehört seine Kritik an der vor ihm schon geleisteten Kritik des Erkenntnisvermögens, zumal derjenigen Kants. Zielpunkt seiner Kritik ist hier die erkennende Vernunft als sich selbst kritisierendes Werkzeug der Erkenntnis. Im „Nachlaß" heißt es: „Es ist beinahe komisch, daß unsere Philosophen verlangen, die Philosophie müsse mit einer Kritik des Erkenntnißvermögens beginnen: ist es nicht sehr unwahrscheinlich, daß das Organ der Erkenntniß sich selber ,kritisiren' kann, wenn man mißtrauisch geworden ist über die bisherigen Ergebnisse der Erkenntniß?" ( N F V I I I 1, 22) Ist das Mißtrauen gegenüber dem, was das Organ der Erkenntnis bisher geleistet hat, Anstoß dafür, das Organ kritisch zu prüfen, so müßte nach Nietzsche, konsequent gedacht, das Mißtrauen sich auch auf die Möglichkeit dieser Prüfung des Organs durch sich selbst erstrecken 6 . Die „Harmlosigkeit unserer kritischen Philosophen" besteht darin, zu meinen, daß „man erst das Werkzeug" (das Erkenntnisvermögen) prüfen könne, „bevor man es anwendet... Dies ist schlimmer noch als ein Streichholz prüfen wollen, bevor man es brauchen will. Es ist das Streichholz, das sich selber prüfen will, ob es brennen wird" ( N F V I I I 1, 33) 7 . Das Erkenntnisvermögen, das vor der Erkenntnis und zu ihrer Sicherung sich auf sich selbst zurückwendet und seine Tauglichkeit zur Erkenntnis prüft, ,erkennt' bereits, glaubt schon an seine Tauglichkeit, setzt voraus, daß es mindestens die Erkenntnis seiner eigenen Fähigkeiten und Grenzen vermag. Nietzsche erscheint dies Unterfangen als allzu harmlos. Eine vor aller Erkenntnis vorhergehende Prüfung des Erkenntnisvermögens kann nach Nietzsche aber auch keinen anderen Weg einschlagen. Ihr steht kein anderer Maßstab der Prüfung zur Verfügung — weder in dem vom Werkzeug zu erbringenden ,Werk', nämlich der Erkenntnis und Gewißheit, noch in anderen Intellekten, mit denen es sich vergleichen könnte, noch auch in einer wahren Wirklichkeit. „Man müßte w i s s e n , [ . . . ] was G e w i ß h e i t ist, was E r k e n n t n i ß ist und dergleichen. — Da wir aber das n i c h t wissen, so ist eine Kritik des Erkenntnißvermögens unsinnig: wie sollte das Werkzeug sich selber kritisiren können, wenn es eben nur s i c h zur Kritik gebrauchen kann?" ( N F V I I I 1, 102f.) Was Gewißheit und Erkenntnis sind, kann nur an erreichter Gewißheit und vollbrachter Erkenntnis abgenommen werden; ob Gewißheit zu erreichen und Erkenntnis möglich ist, soll die Kritik des Erkenntnisvermögens aber erst dartun 8 . Nietzsches weitere Argumente finden sich in folgendem Aphorismus aus dem „Nachlaß": „Der Intellekt kann sich nicht selbst kritisiren, eben weil er nicht zu vergleichen ist mit andersgearteten Intellek-
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ten und weil sein Vermögen zu erkennen erst Angesichts der ,wahren Wirklichkeit' zu Tage treten würde d. h. weil, um den Intellekt zu kritisiren, wir ein höheres Wesen mit ,absoluter Erkenntniß' sein müßten. Dies setzte schon voraus, daß es, abseits von allen perspektivischen Arten der Betrachtung und sinnlich-geistiger Aneignung, e t w a s g ä b e , ein ,Ansich' — Aber die psychologische Ableitung des Glaubens an D i n g e verbietet uns von ,Dingen an sich' zu reden" ( N F VIII 1, 192). U m unseren Intellekt zwecks Prüfung seiner Erkenntnisfähigkeit mit anderen Intellekten zu vergleichen, müßten wir andere Intellekte kennen, ja schon erkannt haben. Diese Möglichkeit der Prüfung besteht also nicht. Ebensowenig kann eine ,wahre Wirklichkeit' der Prüfung zugrunde gelegt werden. Denn eine solche Wirklichkeit gibt es für uns gar nicht. Sie wäre Korrelat einer ,absoluten', d.h. nicht-perspektivischen Erkenntnis, über die wir nicht verfügen. Ja, von ihr in positivem Sinne überhaupt zu reden, besteht kein Recht, wenn unser Glaube an Dinge durch psychologische Ableitung' sich als fiktiv erweist. Fazit: „Ein Werkzeug kann nicht seine eigene Tauglichkeit k r i t i s i r e η : der Intellekt kann nicht selber seine Grenze, auch nicht sein Wohlgerathensein oder sein Mißrathensein bestimmen" ( N F V I I I 1, 131). Trotz dieser These hat Nietzsche selbst die Möglichkeit des Erkennens eingehend thematisiert. In bezug auf eine solche Untersuchung ist nach dem vorigen klar: Sie kann nicht — durch Selbstkritik des Werkzeugs — Erkenntnis in ihrer Wahrheit s i c h e r n . Auch kann das Werkzeug der Erkenntnis, die erkennende Vernunft, nicht isoliert werden. Vielmehr hat die Erörterung das Wesen, das ,Erkenntnis' vollzieht, als ganzes und nicht nur als denkendes in den Blick zu fassen, und das im Kontext einer ,Wirklichkeit', die nicht als ,wahr' zu bezeichnen ist. Nietzsche kritisiert über die von anderen Denkern vollzogene Kritik des Erkenntnisvermögens hinaus die überlieferte Erkenntnistheorie überhaupt. Er bestreitet ihr ihren Gegenstand, das Denken. „,Denken', wie es die Erkenntnißtheoretiker ansetzen, kommt gar nicht vor: das ist eine ganz willkürliche Fiktion, erreicht durch Heraushebung Eines Elementes aus dem Prozeß und Subtraktion aller übrigen" ( N F V I I I 2, 296; siehe auch den Fortgang des Aphorismus). Subtrahiert sind, wie dem Kontext zu entnehmen ist, vor allem die Affekte, denen Nietzsche für die Gedankenfolge in einem Individuum eine wichtige Funktion zuschreibt. Von hier aus wird verständlich, wenn er schreibt: „An Stelle der ,Erkenntnißtheorie' eine P e r s p e k t i v e n - L e h r e d e r A f f e k t e (wozu eine Hierarchie der Affekte gehört)" ( N F V I I I 2, 6) 9 .
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Wichtiger vielleicht noch als die bisher vorgeführten Kritikpunkte ist Nietzsches auch ins Detail gehende Kritik der Wahrheitsgründung im engeren Sinn durch Denker der Tradition. Kant steht hier im Vordergrund, nächst ihm Descartes; aber auch Thomas und Piaton werden von der Kritik erfaßt. An Kant vor allem dürfte gedacht sein, wenn es im Zarathustra heißt: „,Wille zur Wahrheit' heisst ihr's, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht? / Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heisse i c h euren Willen! / Alles Seiende wollt ihr erst denkbar m a c h e n : denn ihr zweifelt mit gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist. / Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will's euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und Widerbild. / Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht" (Za VI 1, 142). Bei Kant wird das Seiende dem Menschen denkbar durch die Gesetzgebung des reinen Verstandes für die Natur, wird empirische Wahrheit (der Erkenntnis der Erscheinungen) durch transzendentale Wahrheit ermöglicht; die Dinge (als Erscheinungen) richten sich nach unseren Erkenntnisbedingungen, sind — mit Nietzsches Worten — „dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und Widerbild". Nietzsche sieht hier einen Willen am Werk, aus dem die gesetzgebende Tätigkeit des Verstandes entspringt; diese ist also nicht letztbegründend. Dem Willen zum Denkbarmachen auf seiten des Subjekts korreliert als das, woran er tätig wird, Seiendes, bezüglich dessen nach Nietzsche füglich bezweifelt werden kann, ob ihm an sich, unabhängig vom menschlichen Willen, irgendeine Denkbarkeit zukommt. Die Gesetzgebung des Verstandes vollzieht sich bei Kant durch die im Verstand a priori entsprungenen Kategorien und die Grundsätze ihres Gebrauchs. Nietzsche bestreitet die Apriorität und mit ihr die empirische Wahrheit ermöglichende Funktion der Kategorien. Er sagt von den Kategorien: „dieselben könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit.. Es kam ein Punkt, wo man sie zusammenfaßte, sich als Ganzes zum Bewußtsein brachte, — und wo man sie b e f a h l . . . d.h. wo sie wirkten als b e f e h l e n d . . . / Von jetzt ab galten sie als a priori . . . , als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar . . . / U n d doch drücken sie vielleicht nichts aus als eine bestimmte Rassen- und Gattungs-Zweckmäßigkeit, — bloß ihre Nützlichkeit ist ihre ,Wahrheit' — " (NF VIII 3, 75). Nietzsche unterstreicht also durchaus, daß jetzt und seit längerem schon die Kategorien befehlend, gesetzgebend sind. Aber das waren sie nicht von Anfang an. Unter „vielem Tasten und Herumgreifen", d. h. empirisch, bildeten sie sich heraus, und sie erwiesen, ebenfalls empi-
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risch, ihre Nützlichkeit für die Gattung Mensch. Diese ihre Herkunft wurde inzwischen vergessen (vgl. die dem vorigen Zitat vorangehende Notiz Nietzsches, ebd.). Statt als empirisch gelten sie als a priori, statt bloß als nützlich werden sie als wahr (Wahrheit ermöglichend) angesehen. Innerhalb der Gesetzgebung des Verstandes für die Natur bei Kant sind von besonderer Bedeutung die Kategorie der Ursache (und Wirkung) und der zugehörige Grundsatz, „daß a l l e s , w a s g e s c h i e h t , jederzeit d u r c h e i n e U r s a c h e nach beständigen Gesetzen vorher b e s t i m m t s e i " (vgl. S. 115). Hier meldet Nietzsche ein spezielles Bedenken an: „Es liegt auf der Hand, daß w e d e r Dinge an sich mit einander im Verhältniß von Ursache und Wirkung stehen können, n o c h Erscheinung mit Erscheinung: womit sich ergiebt, daß der Begriff,Ursache und Wirkung' innerhalb einer Philosophie, die an Dinge an sich und an Erscheinungen glaubt, n i c h t a n w e n d b a r ist. Die Fehler Kants — .." (NF VIII 1, 133). Damit Nietzsches Einwand gegen die von Kant für Erscheinungen behauptete mechanische Kausalität sticht, muß Nietzsche ,Erscheinung' bei Kant schon als bloß gedachte Wirklichkeit und in diesem Sinn als bloße Vorstellung auffassen. D. h., er muß Kants Versuch, des Problems des Scheins Herr zu werden, indem er die Dinge an sich selbst als den Erscheinungen zugrundeliegend denkt, negativ beurteilen. Das tut er tatsächlich: „Der faule Fleck des Kantischen Kriticismus ist allmählich auch den gröberen Augen sichtbar geworden: Kant hatte kein Recht mehr zu seiner Unterscheidung ,Erscheinung' und ,Ding an sich' — er hatte sich selbst das Recht abgeschnitten, noch fernerhin in dieser alten üblichen Weise zu unterscheiden, insofern er den Schluß von der Erscheinung auf eine Ursache der Erscheinung als unerlaubt ablehnte — gemäß seiner Fassung des Causalitätsbegriffs und dessen rein-intraphänomenaler Gültigkeit: welche Fassung anderseits jene Unterscheidung schon vorwegnimmt, wie als ob ,das Ding an sich' nicht nur erschlossen sondern g e g e b e n sei" (NF VIII 1, 189f.)10. Nietzsches Kritik an Kants Wahrheitsgründung setzt an zentralen Stellen an. Das gilt auch für den letzten Kritikpunkt, der hier genannt werden soll. Nietzsche erklärt es für eine Naivität Kants, an die Tatsache der Erkenntnis (und damit an Wahrheit) immer schon zu glauben und die Rechtmäßigkeit dieses Glaubens nicht kritisch zu prüfen. Zum Sachverhalt bei Kant sei auf das vorige Kapitel (besonders S. 108) zurückverwiesen. Als das erste Falsche (pröton pseüdos) sieht Nietzsche die Frage an: „wie ist die Thatsache der Erkenntniß möglich?" Er fährt fort: „ist die Erkenntniß überhaupt eine Thatsache? / was ist Erkenntniß? Wenn wir nicht w i s s e n ,
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was Erkenntniß ist, können wir unmöglich die Frage beantworten, ob es Erkenntniß giebt. Sehr schön! Aber wenn ich nicht schon ,weiß', o b es Erkenntniß giebt, geben kann, kann ich die Frage ,was ist Erkenntniß' gar nicht vernünftigerweise stellen. Kant g l a u b t an die Thatsache der Erkenntniß: es ist eine Naivetät, was er will: die E r k e n n t n i ß d e r E r k e n n t n i ß ! [ . . . ] Die R e c h t m ä ß i g k e i t im Glauben an die Erkenntniß wird immer vorausgesetzt" (NF VIII 1, 272 f.)11. — Unzulässige Vorurteile in der Wahrheitsgründung und im Verständnis von Wahrheit diagnostiziert Nietzsche auch in der Tradition vor Kant. Descartes fand, wie früher dargestellt, in der Existenz des denkenden Ich das erste Wahre, und zwar im Sinne eines grundgebenden Anfangs. Die Selbstgewißheit des Ich bezog sich dabei auf das Ich und alle seine Vorstellungen, soweit diese Zustände oder Vollzüge des Ichs sind. Nietzsche bestreitet die absolute Gewißheit, die Descartes dem (von ihm in der Tat als Substanz aufgefaßten) Ich beilegt. Nietzsche schreibt: „,Es wird gedacht: folglich giebt es Denkendes': darauf läuft die argumentatio des Cartesius hinaus. Aber das heißt, unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als ,wahr a priori' ansetzen: — daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, ,das denkt', ist aber einfach eine Formulirung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Thun einen Thäter setzt. Kurz, es wird hier bereits ein logisch-metaphysisches Postulat gemacht — und n i c h t n u r c o n s t a t i r t . . . Auf dem Wege des Cartesius kommt man η i c h t zu etwas absolut Gewissem, sondern nur zu einem Faktum eines sehr starken Glaubens" (NF VIII 2, 215 — siehe auch den Fortgang). In dieselbe Richtung zielt ein Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse: „Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es ,unmittelbare Gewissheiten' gebe, zum Beispiel ,ich denke' [...]: gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als ,Ding an sich', und weder von Seiten des Subjekts, noch von Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände. Dass aber ,unmittelbare Gewissheit', ebenso wie ,absolute Erkenntniss' und ,Ding an sich', eine contradictio in adjecto in sich schliesst, werde ich hundertmal wiederholen [ . . . ] der Philosoph muss sich sagen: ,wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz ,ich denke' ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, — zum Beispiel, dass i c h es bin, der denkt, dass überhaupt ein Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es ein ,Ich' giebt [ . . . ] An Stelle jener »unmittelbaren Gewissheit', an welche das Volk im gegebenen Falle
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glauben mag, bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik in die Hand, recht eigentliche Gewissensfragen des Intellekts [ . . . ] Wer sich mit Berufung auf eine Art I n t u i t i o n der Erkenntniss getraut, jene metaphysischen Fragen sofort zu beantworten, wie es D e r thut, welcher sagt: ,ich denke, und weiss, dass dies wenigstens wahr, wirklich, gewiss ist' — der wird bei einem Philosophen heute ein Lächeln und zwei Fragezeichen bereit finden" ( J G B 1 6 / V I 2, 23f.). Nietzsche widerspricht der metaphysischen Auffassung, daß die Welt (von Gott) geschaffen ist. Davon wird die Fundierung der Wahrheit bei Descartes und bei Thomas betroffen. Im „Nachlaß" ist zu lesen: „Die Hypothese einer g e s c h a f f e n e n Welt soll uns nicht einen Augenblick bekümmern. Der Begriff ,schaffen' ist heute vollkommen undefinirbar, unvollziehbar" ( N F V I I I 3, 166) 12 . ,Logisch-metaphysische' und rein metaphysische Vorurteile sind nicht die einzigen, die Nietzsche in der Wahrheitsproblematik der Tradition aufspürt. Sie verbinden sich nach Nietzsche mit moralischen (und moralisch-religiösen) Vorurteilen. Moralisch-religiöse Vorurteile liegen unserem Bewußtsein zugrunde, daß „wir ein Recht auf Vertrauen gegen das Dasein haben" (siehe das folgende Zitat). Vertrauen gegen das Dasein haben, meint, darauf setzen, daß die Dinge uns nicht täuschen (daß sie wahr sind) bzw. daß unser auf Wahrheit ausgehendes Erfassen der Dinge wirkliche Dinge trifft. Solches Vertrauen sieht Nietzsche bei Piaton in der Dialektik am Werk, also in der Erkenntnis der Ideen, die der Idee des Guten Sein und Wahrheit verdanken und als seiende und wahre selbst gut sind. Und bei Descartes heftet sich nach Nietzsche ein solches Vertrauen an unsere Sinnesurteile. Das dem Vertrauen zugrunde liegende Vorurteil ist bei Piaton die Vorstellung einer „intelligibelen Welt des Guten", aus der der Mensch herstammt, und bei Descartes der Glaube an einen guten und wahrhaftigen Schöpfergott: „Inwiefern die Dialektik und der Glaube an die Vernunft noch auf moralischen Vorurtheilen ruht. Bei Plato sind wir als einstmalige Bewohner einer intelligibelen Welt des Guten noch im Besitz eines Vermächtnisses jener Zeit: die göttliche Dialektik, als aus dem Guten stammend, führt zu allem Guten ( — also gleichsam ,zurück' — ) Auch Descartes hatte einen Begriff davon, daß in einer christlich-moralischen Grunddenkweise, welche an einen g u t e n Gott als Schöpfer der Dinge glaubt, die Wahrhaftigkeit Gottes erst uns unsre Sinnesurtheile v e r b ü r g t . Abseits von einer religiösen Sanktion und Verbürgung unsrer Sinne und Vernünftigkeit — woher sollten wir ein Recht auf Vertrauen gegen das Dasein haben!" ( N F V I I I 1, 105) 13 . Daß Gott wahrhaftig, ja selbst
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Wahrheit sei, war auch die Überzeugung von Thomas. Für Nietzsche aber gehört „jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato's war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist" (FW 3 4 4 / V 2, 259) zu den unbrauchbaren moralisch-religiösen Vorurteilen. Nicht zuletzt die moralischen Vorurteile in der Wahrheitsgründung der Tradition weisen für Nietzsche darauf, daß die Wahrheitsproblematik immer schon bestimmt war durch die Grundüberzeugung vom Wert der Wahrheit, so aber, daß die Wertfrage je schon entschieden war und nie gestellt wurde. Nietzsche dringt darauf, die Wertfrage für die Wahrheit zu klären. Ihm ist der absolute Wert, der der Wahrheit bisher beigemessen wurde, nicht mehr fraglos. Er geht hinter die Wertschätzung, die allein der Wahrheit Wert zuspricht und dementsprechend Irrtum, Täuschung, Schein verwirft, zurück mit der Frage nach ihrer Herkunft. In einem Aphorismus in Jenseits von Gut und Böse führt Nietzsche die bisherige Wertschätzung der Wahrheit zurück auf das Vorurteil über die Gegensätze der Werte: „,Wie k ö n n t e Etwas aus seinem Gegensatz entstehn? Zum Beispiel die Wahrheit aus dem Irrthume? Oder der Wille zur Wahrheit aus dem Willen zur Täuschung? Oder die selbstlose Handlung aus dem Eigennutze? [ . . . ] Solcherlei Entstehung ist unmöglich [ . . . ] die Dinge höchsten Werthes müssen einen anderen, e i g e n e n Ursprung haben, — aus dieser vergänglichen verführerischen täuschenden geringen Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie unableitbar! Vielmehr im Schoosse des Sein's, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im ,Ding an sich' — da muss ihr Grund liegen, und sonst nirgendswo!' — Diese Art zu urtheilen macht das typische Vorurtheil aus, an dem sich die Metaphysiker aller Zeiten wieder erkennen lassen; diese Art von Werthschätzungen steht im Hintergrund aller ihrer logischen Prozeduren; aus diesem ihrem ,Glauben' heraus bemühn sie sich um ihr ,Wissen', um Etwas, das feierlich am Ende als ,die Wahrheit' getauft wird. Der Grundglaube der Metaphysiker ist d e r G l a u b e an d i e G e g e n s ä t z e d e r W e r t h e. Es ist auch den Vorsichtigsten unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu zweifeln, wo es doch am nöthigsten war: selbst wenn sie sich gelobt hatten ,de omnibus dubitandum'. Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, FroschPerspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern
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geläufig ist? Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag: es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar noch möglich, dass w a s den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht!" ( J G B 2 / V I 2, 10 f.) 14 . Nietzsche bestreitet hier nicht, daß dem Wahren ein Wert „zukommen mag", er faßt aber die Möglichkeit ins Auge, daß dem, was bisher dem Wahren als Unwert entgegengesetzt wurde, der höhere Wert beizumessen ist, von dem überdies der Wert des Wahren abhängen könnte. Dieser ,Zweifel' war selbst dem Zweifler par excellence, Descartes, nicht in den Sinn gekommen. Nietzsche dagegen entfaltet ihn, wie sich zeigen wird. — Sicher auch im Blick auf Descartes formuliert Nietzsche anderwärts: „Die Frage der Werthe ist f u n d a m e n t a l e r als die Frage der Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung, daß die Werthfrage beantwortet ist" ( N F V I I I 1, 319). Die erste Frage müßte demnach nicht sein, was Gewißheit ist und wie sie zu erlangen ist, sondern worin ihr Wert besteht und woran er zu bemessen ist. In diesen Zusammenhang gehört eine Stelle aus dem „Nachlaß", in der Nietzsche an Descartes' fundamentale Regel der Wahrheit ausdrücklich anknüpft: „Die logische Bestimmtheit Durchsichtigkeit als Kriterium der Wahrheit (,omne illud verum est, q u o d c l a r e e t d i s t i n c t e ρ e r c i p i t u r ' D e s c a r t e s ) : damit ist die mechanische Welthypothese erwünscht und glaublich. / Aber das ist eine grobe Verwechslung: wie simplex sigillum veri. Woher weiß man das, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge in d i e s e m Verhältniß zu unserem Intellekt steht? — Wäre es nicht anders? daß die ihm am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende Hypothese am meisten von ihm b e v o r z u g t , g e s c h ä t z t , u n d f o l g l i c h als w a h r 1 5 bezeichnet wird? — Der Intellekt setzt sein freiestes und s t ä r k s t e s V e r m ö g e n u n d K ö n n e n als Kriterium des Werthvollsten, folglich W a h r e n . . . " ( N F V I I I 2, 50 f.). Etwas klar und deutlich vorzustellen, das gibt unserem Intellekt das Bewußtsein seiner Kraft und seines Könnens, damit eines hochgeschätzten Wertes. Diesen belegt er als erkennende Vernunft mit dem Ausdruck ,wahr'. Indessen ist der Schritt vom ,klaren und deutlichen', sich sicher und stark fühlenden Erfassen zur Wahrheit des so Erfaßten nach Nietzsche bedenklich. Die „wahre Beschaffenheit der Dinge" könnte immer noch so sein, daß sie jenem Erfassen keineswegs gemäß sind16. Das
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Gefühl der Mächtigkeit unseres Intellekts beim klaren und deutlichen Vorstellen könnte dann sehr wohl noch zu Recht bestehen, nur wäre die Mächtigkeit dann die eines Ubermächtigens der Dinge, eines Verfälschens ihrer ,wahren Beschaffenheit' durch unseren Intellekt, das, einmal zu bedenken gegeben, die Fragen nach seiner Herkunft, seinem Zweck und seinem Wert aufwerfen müßte. Mit diesen Gedanken ist in das Zentrum von Nietzsches kritischen Erörterungen über Erkenntnis und Wahrheit vorgedeutet. Nietzsche selbst bezeichnet es als seine eigene Aufgabe, den Wert der Wahrheit „versuchsweise einmal in F r a g e zu s t e l l e n " 1 7 . Nietzsche stellt die Fragen, was Erkenntnis und was Denken ist, obwohl er eine Kritik des Erkenntnisvermögens, wie Kant sie durchführte, für sinnlos hält und obwohl er die Bedeutung von ,Denken', die in der Erkenntnistheorie herrschend ist, negiert. Sein Frageansatz muß ein ganz anderer sein, und seine Antworten dürften seine Kritik an Vernunftkritik und traditioneller Erkenntnistheorie noch durchsichtiger machen. In Jenseits von Gut und Böse beginnt Nietzsche eine Überlegung, die im übrigen an dieser Stelle nicht interessiert, mit den Worten: „Gesetzt, dass nichts Anderes als real .gegeben' ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen ,Realität' hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe — denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander—:" (JGB 36 / VI 2, 50). Was hier unter dem Vorzeichen eines .gesetzt, d a ß . . . ' ausgesprochen wird, i s t nach Nietzsche zu setzen und gibt den Rahmen ab für die provozierende These, Denken sei nichts anderes als ein Verhalten unserer Triebe zueinander. Klar wird an dieser verkürzten Formel jedenfalls die Auffassung, daß Denken und Triebe nicht auf zwei getrennte Vermögen im Menschen, ein theoretisches und ein praktisches, zu verteilen sind und daß Sinnlichkeit' in Gestalt der Triebe das Bestimmende im Denken ist. Ausführlicher äußert sich Nietzsche dazu in mehreren Fragmenten, die sich innerhalb eines und desselben Manuskripts des „Nachlasses" finden. Dort heißt es: „unser Denken und Werthschätzen ist nur ein Ausdruck für dahinter waltende Begehrungen" (NF VIII 1, 13). Festzuhalten ist daraus nicht nur, daß Begehrungen hinter unserem Denken walten, sondern auch, daß damit alles Denken ein (perspektivisches) Wertschätzen ist, und ferner daß das Denken A u s d r u c k von Begehrungen ist. Einer anderen Stelle ist zu entnehmen, daß die dem Denken zugrunde liegende innere Sphäre mit den Begehrungen zusammen die Affekte umfaßt. ,Sinnlichkeit' als das in sich verschlungene und bewegte Ganze mannigfacher Begehrungen und vielfältiger Affekte der
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Lust und Unlust ist das Anfängliche im menschlichen Denken. Alles, was wir denken, ist bestimmt durch Interesse (ebenso alles, was uns nach Kant gegeben ist, indem Dinge unsere äußeren Sinne affizieren). Jene Stelle lautet: „Unter jedem Gedanken steckt ein Affekt. J e d e r G e d a n k e , jedes Gefühl, jeder Wille ist n i c h t geboren aus Einem bestimmten Triebe, sondern er ist ein G e s a m t z u s t a n d , eine ganze Oberfläche des ganzen Bewußtseins und resultirt aus der augenblicklichen Macht-Feststellung a l l e r der uns constituirenden Triebe — also des eben herrschenden Triebes sowohl als der ihm gehorchenden oder widerstrebenden" (NF VIII 1, 22). Nietzsche selbst akzentuiert durch seine Hervorhebungen, was es zu beachten gilt. Nicht e i η Affekt, e i η Trieb liegt einem einzelnen Gedanken zugrunde, sondern das Insgesamt von Trieben eines Menschen. Bestimmend für einen Gedanken ist das Herrschaftsverhältnis unter den Trieben. Dieses ist als ,augenblickliches' charakterisiert, was auf Wechsel deutet. Eine andere „Macht-Feststellung" führt zu einem anderen Gedanken. In diesem Zusammenhang nimmt Nietzsche denn auch zur Gedanken f o l g e Stellung. „Daß ein Gedanke unmittelbar Ursache eines anderen Gedankens wäre, ist nur scheinbar" — und: „Der nächste Gedanke ist ein Zeichen davon, wie sich die gesammte Macht-Lage inzwischen verschoben hat" (ebd.). Ein rein ,logisches' Fortschreiten unseres Denkens von einem Gedanken zum andern stellt Nietzsche damit in Frage. Problematisch muß bei solcher Sachlage erscheinen, wie Verständigung zwischen Menschen auf der Ebene der Gedanken möglich sein soll. Es hieß schon, daß Denken A u s d r u c k von Begehrungen (und Affekten) sei. Näherhin meint das: „Das Denken ist [...] eine Zeichensprache für den Machtausgleich der Affekte" (NF VIII 1, 13)18. Dennoch bleibt das Problem, wie die Zeichensprache für den zunächst einmal ganz individuellen und außerdem augenblicklichen Machtausgleich (d. h. Abschluß des Kampfs oder Spiels der Affekte, Macht-Feststellung) von anderen verstanden werden kann. Muß diese Zeichensprache, deren Verlautbarung gesprochene Wörter und Sätze sind, nicht von unübersehbarer, Mitteilung gerade verhindernder Vielfalt sein? So wäre es wohl, wenn keine „ , A b k ü r z u n gen d e r Z e i c h e n ' " möglich wären; aber sie sind möglich, und: „Das Wesentliche ist: die Bildung von Formen, welche viele Bewegungen r e p r ä s e n t i r e n , die Erfindung von Zeichen für ganze Arten von Zeichen" (NF VIII 1, 13). Solche für ganze Arten von Zeichen erfundenen abkürzenden Zeichen sind die Begriffe verschiedener Allgemeinheitsstufen. In der nachgelassenen frühen Schrift Ueber Wahrheit und Lüge sagt Nietzsche in anderem Zusammenhang (Nervenreiz — Bild — Laut/Wort
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— Begriff): „Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen" (III 2, 373 f.). Und wenig später: „Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt" (III 2, 373). In den Kontext der zitierten Stellen aus dem „Nachlaß" darf man daraus übernehmen, daß die Begriffe („Zeichen für ganze Arten von Zeichen") das Wirkliche und Individuelle (hier den individuellen Kampf und Machtausgleich der Affekte) zugunsten des Ahnlichen ausblenden, daß sie Nicht-Gleiches gleichsetzen. Immerhin aber auch, daß es „mehr oder weniger ähnliche" Fälle geben muß, wenn Begriffe und in ihnen sich mitteilendes, für andere verstehbares Denken möglich sein sollen. Verständigung durch Gedanken reicht so weit, wie bei Individuen Ähnlichkeit im Kampf und Machtausgleich der Affekte besteht. Was in Jenseits von Gut und Böse im Zusammenhang auch mit äußeren Erfahrungen, z.B. der Menschen e i n e s Volkes, gesagt wird, ist auch hier sprechend: „Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen [...] die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses —; auf dies schnelle Verstehen hin verbindet man sich, enger und immer enger" QGB 268 / VI 2, 231; siehe den Kontext). In der Notiz im „Nachlaß", die von den Abkürzungen der Zeichen und von der „Erfindung von Zeichen für ganze Arten von Zeichen" spricht, erwähnt Nietzsche auch „,Dinge' .Substanzen' Eigenschaften, Thätig-,keiten'" (NF VIII 1, 12f.). Diese leeren Begriffe (Schemata), in denen uns nach Nietzsche seit langem schon die Sprache gebietet", scheinen für ihn demnach auch auf dem Weg der Abkürzung von Zeichen entstanden zu sein. Leer, wie sie sind, werfen sie in besonderem Maße die Frage auf: Warum diese und keine anderen Abkürzungen? Diese Frage stellt sich um so mehr, wenn wir mit ihnen, wie es Nietzsches Uberzeugung ist, das Seiende am allerwenigsten erreichen. Nietzsche beantwortet die Frage mit seiner These über die Nützlichkeit dieser (und ähnlicher) Schemata für uns, insofern wir begehrende, lebende Wesen inmitten von fremden Kräften sind — davon ist bald ausführlicher zu handeln. — Was bis jetzt über das
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Denken ausgeführt wurde, kann durch ein Zitat abgerundet werden, das zugleich eine Stoßrichtung Nietzsches akzentuiert: „Hüten wir uns nämlich, meine Herrn Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein ,reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss' angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher contradiktorischen Begriffe wie ,reine Vernunft', ,absolute Geistigkeit', ,Erkenntniss an sich': — hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann, ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretirenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird, hier wird also immer ein Widersinn und Unbegriff von Auge verlangt. Es giebt n u r ein perspektivisches Sehen, n u r ein perspektivisches ,Erkennen'; und j e m e h r Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, j e m e h r Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ,Begriff' dieser Sache, unsre .Objektivität' sein. Den Willen überhaupt eliminiren, die Affekte sammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hiesse das nicht den Intellekt castriren?..." (GM VI 2, 383). Dem Denken liegen Triebe (Affekte und Begehrungen) zugrunde, es ist — in diesem Sinne — vom Willen bestimmt. Worauf zuletzt geht dieser Wille, geht der Kampf oder das Spiel der Triebe? Auf Lebenserhaltung und Lebenssteigerung (und das heißt genauer gesagt: auf seine eigene Erhaltung und Steigerung). Damit ist man auf Nietzsches Bestimmung der Erkenntnis als eines Mittels geführt20. In dem soeben zitierten Aphorismus war vom perspektivischen Sehen und ,Erkennen' die Rede. Im „Nachlaß" heißt es vom perspektivischen Sehen, daß es „noth thut, damit gerade Wesen unsrer Art sich im Dasein erhalten können" (NF VIII 1, 247). Aus dem Kontext schon vorgetragener Gedanken spricht auch die folgende Stelle (das Problem des Irrtums darin wird später aufzugreifen sein): „Wie entsteht die perspektivische Sphäre und der Irrthum? Insofern, vermöge eines organischen Wesens, sich nicht ein Wesen, s o n d e r n d e r K a m p f s e l b e r e r h a l t e n w i l l , w a c h s e n w i l l u n d s i c h b e w u ß t s e i n w i l l . / Das, was wir ,Bewußtsein' und ,Geist' nennen, ist nur ein Mittel und Werkzeug, vermöge (dessen) nicht ein Subjekt, sondern e i n K a m p f s i c h e r h a l t e n w i l l " (NF VIII 1, 36)21. ,Bewußtsein', ,Geist', »Vernunft' sind Erhaltungs- und Steigerungsbedingungen des Menschen, der w e s e n t l i c h nicht Geist, Vernunft, sondern ein Kampf (oder Spiel) der Triebe ist. Entsprechend gilt für Nietzsche auch: „alle unsere E r k e n n t n i ß o r g a n e u n d - S i n n e sind
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nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs- und Wachsthums-Bedingungen" (NF VIII 2, 16). Das „nur" in dieser Stelle richtet sich gegen Auffassungen über die Erkenntnis, die Erkenntnis nicht als Mittel begreifen, weil sie die Frage nach der Entwicklung der Erkenntnisorgane entweder gar nicht stellen oder sie falsch beantworten, indem sie ein rein theoretisches Bedürfnis im Menschen als ursprünglich setzen22. Nietzsche versteht „ D e n k e n zuletzt als Ü b e r w ä l t i g u n g und Ausübung von Macht" (NF VIII 1, 263). Worin besteht die Überwältigung, und was wird durch sie erreicht zugunsten der Lebenserhaltung und -Steigerung? Die Überwältigung ist ein Gleichmachen von Ungleichem zum Zweck der Aneignung23. Nur durch Überwältigung Gleichgemachtes läßt sich vergleichen, ermöglicht „ein Zusammenfügen, als Einordnen des Neuen unter alte Reihen usw." (NF VIII 1, 263), aber auch ein Unterscheiden, wo dies nottut24. Vergleichend, zusammenfügend, unterscheidend wird der Mensch des Fremden um ihn her Herr, das ihm, solange es fremd ist, bedrohlich erscheint. Erkenntnis macht frei von der Furcht vor dem Unberechenbaren, und das tut sie am stärksten und sichersten, wo sie sich zur Wissenschaft entfaltet. „Was ist ,erkennen'? Zurückführen von etwas Fremdem auf etwas Bekanntes, Vertrautes. Erster Grundsatz: das, woran wir uns g e w ö h n t haben, gilt uns nicht mehr als Räthsel, als Problem [...] alles, was r e g e l m ä ß i g geschieht, scheint uns nicht mehr fragwürdig. Deshalb ist die R e g e l s u c h e n der erste Instinkt des Erkennenden [..'.] sie (sc. die Physiker) w o l l e n d i e R e g e l , weil sie die Welt der Furchtbarkeit entkleidet. D i e F u r c h t v o r dem U n b e r e c h e n b a r e n als H i n t e r - I n s t i n k t der Wissenschaft" (NF VIII 1, 191 f.). Das Berechenbare, der Regel Unterworfene ist verfügbar für die Daseinserhaltung und -Steigerung des Menschen. Erkennen hat in solchem Verfügbarmachen seinen Ursprung. Nietzsche bindet damit die Erkenntnis ihrer (sie ständig bestimmenden) Herkunft nach an die Nützlichkeit — und trennt sie, als Gleichmachen des Ungleichen durch Überwältigung, zugleich von der Wahrheit25. In diesem Sinne heißt es in Die fröhliche Wissenschaft, „dass die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt, — dass Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, HeerdenMerkzeichen w i r d , dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründliche Verderbniss, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist [ . . . ] Wir haben eben gar kein Organ für das E r k e n n e n , für die ,Wahrheit': wir .wissen' (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel
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als es im Interesse der Menschen-Heerde, der Gattung, n ü t z l i c h sein mag: und selbst, was hier ,Nützlichkeit' genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn" (FW 3 5 4 / V 2, 275). Erkennen als Verfügbarmachen des ursprünglich Fremden und bedrohlich Erscheinenden vollziehen die Menschen g e m e i n s a m , zu ihrem gemeinsamen Nutzen. D.h., das Gleichmachen des Ungleichen betreiben sie auch und gerade füreinander, zum Zweck der Verständigung. Der Verständigung bedürfen sie, weil ihnen Lebenserhaltung und -Steigerung nur gelingen, indem sie sich zu Gemeinschaften vereinigen26. Warum sie dabei zu diesen und keinen anderen Schemata gelangen, ist noch offen (vgl. S. 144), wie auch, wieso sie zu der ganzen Gattung gemeinsamen Schemata gelangen. Zur Beantwortung dieser Fragen ist nochmals Die fröhliche Wissenschaft heranzuziehen: „ U r s p r u n g d e r E r k e n n t n i s s . — D e r Intellect hat ungeheure Zeitstrecken hindurch Nichts als Irrthümer erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend: wer auf sie stiess, oder sie vererbt bekam, kämpfte seinen Kampf für sich und seinen Nachwuchs mit grösserem Glücke. Solche irrthümliche Glaubenssätze, die immer wieder vererbt und endlich fast zum menschlichen Art- und Grundbestand wurden, sind zum Beispiel diese: dass es dauernde Dinge gebe, dass es gleiche Dinge gebe, dass es Dinge, Stoffe, Körper gebe, dass ein Ding Das sei, als was es erscheine [...] Sehr spät erst traten die Leugner und Anzweifler solcher Sätze auf, — sehr spät erst trat die Wahrheit auf, als die unkräftigste Form der Erkenntniss. Es schien, dass man mit ihr nicht zu leben vermöge, unser Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet; alle seine höheren Functionen, die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Empfindung überhaupt, arbeiteten mit jenen uralt einverleibten Grundirrthümern. Mehr noch: jene Sätze wurden selbst innerhalb der Erkenntniss zu den Normen, nach denen man ,wahr' und ,unwahr' bemass — bis hinein in die entlegensten Gegenden der reinen Logik. Also: die K r a f t der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung" (FW 110/V 2, 147). Vorstellungen wie ,dauerndes Ding', ,gleiche Dinge', ,Stoff', ,Körper', vom menschlichen Intellekt als Irrtümer produziert, erwiesen sich als nützlicher für Individuum und Art als andere tastend und versuchsweise erzeugte Irrtümer. Sie setzten sich deshalb gegen die anderen Irrtümer durch, und zwar bei der ganzen Art Mensch, da sie sich ja als arterhaltend bewährten. Sie wurden vererbt, gelangten zum Rang von unbezweifelten Glaubenssätzen, ja von Normen für die Beurteilung von
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,wahr' und ,unwahr'. Irrtümer blieben sie nach Nietzsche nichtsdestoweniger. Irrtümer aber freilich, die Leben bedingen, denen Leben zu verdanken ist. — Die Stabilisierung von Leben dank derartiger Irrtümer erlaubte schließlich den Skeptiker und die Wahrheit über die Irrtümer. Sie erlaubte aber auch philosophische Gegenpositionen zur Skepsis und überhaupt ,Erkenntnis', die nicht mehr bloß Mittel zur Lebenserhaltung und -Steigerung war, sondern selbst als Ziel ergriffen und als Lebenssteigerung erlebt wurde. Davon spricht der zitierte Aphorismus an späterer Stelle: „Jene feinere Redlichkeit und Skepsis hatte überall dort ihre Entstehung, wo zwei entgegengesetzte Sätze auf das Leben a n w e n d b a r erschienen, weil sich beide mit den Grundirrthümern vertrugen, wo also über den höheren oder geringeren Grad des N u t z e n s für das Leben gestritten werden konnte; ebenfalls dort, wo neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich, aber wenigstens auch nicht schädlich zeigten, als Aeusserungen eines intellectuellen Spieltriebes, und unschuldig und glücklich gleich allem Spiele. Allmählich füllte sich das menschliche Gehirn mit solchen Urtheilen und Ueberzeugungen, so entstand in diesem Knäuel Gährung, Kampf und Machtgelüst. Nützlichkeit und Lust nicht nur, sondern jede Art von Trieben nahm Partei in dem Kampfe um die ,Wahrheiten'; der intellectuelle Kampf wurde Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pflicht, Würde — : das Erkennen und das Streben nach dem Wahren ordnete sich endlich als Bedürfniss in die anderen Bedürfnisse ein [ . . . ] Die Erkenntniss wurde also zu einem Stück Leben selber und als Leben zu einer immerfort wachsenden Macht" (FW 1 1 0 / V 2, 148 f.). Erkenntnis, zunächst nur und später immer auch Mittel zur Lebenserhaltung und -Steigerung, konnte doch zum Zweck selbst werden. Soweit sie selbst Zweck ist, entspringt sie dem intellektuellen Spieltrieb, bereitet sie Lust am Spiel, am Kampf, am Mächtigsein, ist sie Leben. Wahrheit faßt sie auch dann nicht, wenngleich das zum Bedürfnis gewordene Streben nach Wahrheit in ihr am Werk ist27. Erkenntnis, dem Leben dienend und selbst auch Leben, bleibt dem Seienden fern. Unter dem Titel „Wille zur Macht als E r k e n n t n i s s " notiert Nietzsche: „nicht,erkennen', sondern schematisiren, dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedürfniß genug thut" ( N F VIII 3,125). Regularität und Formen der Gegenstände haben ihren Ursprung im ,Erkennenden'. Sie sind dem schlechthin anderen, das von ihnen her gesehen als Chaos aufzufassen ist, ,auferlegt' durch Übermächtigung. Mittels ihrer gewinnt der Wille des ,Erkennenden' Macht über das Chaos, nicht jedoch Wahrheit. In demselben Nachlaßmanuskript, dem das vorige Zitat entnommen ist, heißt es: „Parmenides hat gesagt ,man
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denkt das nicht, was nicht ist' — wir sind am anderen Ende und sagen ,was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein'. Denken hat keinen Griff auf Reales" ( N F V I I I 3, 124) 28 . Regularität und Formen, im ,Erkennenden' entsprungen, sind Bleibendes. Das Chaos, dem sie aufgeprägt werden und das sich ihnen doch entzieht, ist Werden. Dem Bewußtsein dieser Unangemessenheit von Denken und Realität ist der .Erkennende' seit jeher zuvorgekommen durch seinen Glauben an Sein als den Gegensatz von Werden: „gesetzt alles ist Werden, so ist E r k e n n t n i ß n u r m ö g l i c h a u f G r u n d d e s G l a u b e n s a n S e i n " ( N F V I I I 1, 104). Dieser Glaube aber eben ist eine Täuschung, eine Täuschung über die Realität — und eine Täuschung des Erkennenden über sich selbst, darüber nämlich, daß sein Wille Werdendes zum Bleibenden verfälscht. Es gilt nach Nietzsche: „Erkenntniß an sich im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntniß möglich? Als Irrthum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung" ( N F V I I I 1, 321). In dieselbe Richtung geht eine andere deutliche Äußerung im „Nachlaß": „Der Charakter der werdenden Welt als u n f o r m u l i r b a r , als ,falsch', als ,sich-widersprechend' / E r k e n n t n i ß und W e r d e n schließt sich aus. / F o l g l i c h muß ,Erkenntniß' etwas anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbar-machen vorangehn, eine Art Werden selbst muß die T ä u s c h u n g d e s S e i e n d e n schaffen" ( N F V I I I 2, 46) 29 . Das Erkennbarmachen durch Täuschung kann keine Wahrheit im überlieferten Sinn ermöglichen. Die Erkennenden sind das, was sie gemäß dem Verständnis der philosophischen Tradition am wenigsten sein wollen: Träumende 30 . Nietzsche hat, wie soeben zitiert, den „Charakter der werdenden Welt" bezeichnet als „ u n f o r m u l i r b a r , als .falsch', als ,sich-widersprechend'", und er hat die so charakterisierte Welt für unerkennbar erklärt. Das hat Konsequenzen gerade auch für jene Grundsätze, die von der Tradition als die obersten Denkgesetze begriffen wurden: „Die Grundsätze der Logik, der Satz der Identität und des Widerspruchs, [ . . . ] sind gar keine Erkenntnisse! sondern r e g u l a t i v e G l a u b e n s a r t i k e l ! " ( N F V I I I 1, 274). Ihnen als ,Denkgesetzen' geht ein Dichten vorher, allem zuvor das „ Z u r e c h t b i l d e n z u identischen Fällen" (vgl. A n m . 2 9 zu diesem Kap.). Hierzu heißt es in einer vergleichsweise umfangreichen Notiz des „Nachlasses" ( N F V I I I 2, 53—55), die sich mit der Problematik der genannten Grundsätze und besonders des Satzes vom Widerspruch beschäftigt (und die hier im folgenden mit wenigen Auslassungen thematisiert wird): „Gesetzt, es gäbe ein solches Sich-selbst-identisches A gar nicht, wie es jeder Satz der Logik (auch der M(athematik)) voraussetzt, das Α wäre
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bereits eine S c h e i n b a r k e i t , so hätte die Logik eine bloß s c h e i n b a r e Welt zur Voraussetzung" (NF VIII 2, 53). Nietzsche führt die Vorstellung eines identischen Α auf unseren (irrigen) Glauben an Dinge zurück (der sich seinerseits noch weiter zurückführen läßt — vgl. Anm. 48 zu diesem Kap.): „Das ,Ding' — das ist das eigentliche Substrat z u A : u n s e r G l a u b e an D i n g e ist die Voraussetzung für den Glauben an die Logik" (NF VIII 2, 54). Wir „begreifen" das aber nicht — oder haben es bisher nicht begriffen; und weil das so ist, haben wir „aus der Logik ein Kriterium des w a h r e n S e i n s " gemacht (ebd.). — „Die ursprünglichsten Denkakte, das Bejahen und Verneinen" sind „bereits von einem Glauben beherrscht, d a ß es f ü r u n s E r k e n n t n i ß g i e b t , daß U r t h e i l e n w i r k l i c h d i e W a h r h e i t t r e f f e n k ö n n e : — kurz, die Logik zweifelt nicht, etwas vom Ansich-Wahren aussagen zu können (nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zukommen k ö n n e n ) " (ebd. — „könne" fettgedruckt). Es ist der S a t z v o m W i d e r s p r u c h , der vom „An-sich-Wahren" sagt, „daß ihm nicht entgegengesetze Prädikate zukommen k ö n n e n " 3 1 . Dieser Satz setzt also den Glauben voraus, daß wir ,Αη-sich-Wahres' erkennen können, daß er ,An-sich-Wahres' erkennen kann. ,Αη-sich-Wahres' wäre Seiendes, an dem der Erkennende auf keine Weise schematisierend-dichtend-fälschend tätig geworden ist. Solches Seiende ist uns aber nach Nietzsche gerade schlechthin unzugänglich. Der Satz vom Widerspruch kann selbst keine wahre Erkenntnis von ,Αη-sich-Wahrem' sein. Er ist dem Wirklichen nicht adäquat, sondern dient dazu, .Wirkliches' allererst zu schaffen. Er ist kein Wahrheitskriterium; gleichwohl fungiert er als N o r m — als N o r m eben für ein Zurechtmachen der Welt. „Wenn, nach Aristoteles der S a t z v o m W i d e r s p r u c h der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführung (en) zurückgehn, wenn in ihm das Princip aller anderen Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an Behauptungen v o r a u s s e t z t . Entweder wird mit ihm etwas in Betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob er dasselbe anderswoher bereits kennte: nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden k ö n n e n . Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden s o l l e n ? Dann wäre Logik ein Imperativ, n i c h t zur Erkenntniß des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, d i e u n s w a h r h e i ß e n s o l l . / Kurz, die Frage steht offen, sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maaßstäbe und Mittel, um Wirkliches den Begriff ,Wirklichkeit' für uns erst zu s c h a f f e n ? . . . Um das Erste bejahen zu können, müßte man aber,
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wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz enthält also kein K r i t e r i u m d e r W a h r h e i t , sondern einen I m p e r a t i v über das, w a s a l s w a h r g e l t e n s o l l " ( N F VIII 2, 53 — das letzte „soll" fettgedruckt). Der Mensch selbst setzt diesen Imperativ für sich in Kraft. Bisher geschah das aber so, daß dieser Vorgang und sein Motiv verborgen blieben — über sie träumte der ,Erkennende' hinweg 32 . Es zeigte sich: Nietzsche versteht menschliches Denken als Ausdruck von Macht-Feststellungen der Triebe. Begriffe sind ihm abkürzende Zeichen. Erkenntnis von Gegenständen ist seiner Auffassung nach ursprünglich und wesentlich Mittel zur Lebenserhaltung und -Steigerung des Menschen; sie überwältigt und verfälscht, was sie ergreift. Diese Gedanken ließen sich nicht darstellen ohne Vorgriffe auf die Wahrheitsthematik, die jetzt zu entfalten ist. An das, was vorgreifend schon sichtbar wurde, kann angeknüpft werden. Was ist, das ist Werden. Werden ist unerkennbar, denn Erkennen besteht darin, Bleibendes zu fassen. Realität und Erkennen sind einander unangemessen. Ein Wille zum Erkennbarmachen muß erst die Täuschung des Seienden (Beständigen) schaffen, damit ,Erkenntnis' vollzogen werden kann. Die Realität ist Chaos, die erkannte Realität ist Fiktion. Ein Organ für Wahrheit fehlt uns. Der Mensch hat seit unvordenklichen Zeiten Irrtümer produziert. Die nützlichsten von ihnen wurden zu Glaubenssätzen und zu Normen, an denen Gedachtes hinsichtlich Wahrheit und Unwahrheit gemessen werden soll. Damit ist der Horizont der Wahrheitsfrage bei Nietzsche gegeben. Wiewohl wahre Erkenntnis von Realem streng genommen bei Nietzsche nicht möglich ist, stellt er sich doch, wie sich ebenfalls schon zeigte, die Aufgabe, die Frage nach dem Wert der Wahrheit zu thematisieren. Damit scheint Wahrheit nun doch gesetzt, und die Position gerät in den Verdacht, widersprüchlich zu sein. Daß sie es — an diesem Punkt jedenfalls — nicht ist, läßt sich aber erweisen, wenn die Wertfrage in Nietzsches Sinn zu Ende gedacht wird. Es ist daran zu erinnern: Wahrheit galt der philosophischen Tradition schlechthin als Wert, ihr Gegenteil — Irrtum, Täuschung, Schein, Unwahrheit — als Unwert. Der „ G l a u b e an d i e G e g e n s ä t z e d e r W e r t h e " ist hier nach Nietzsche am Werk — als ein „Grundglaube der Metaphysiker" (vgl. S. 140). Diesen Glauben gilt es in Frage zu stellen. Es wurde schon einmal zitiert (vgl. S. 141): „Bei allem Werthe, der dem Wahren [ . . . ] zukommen mag: es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur
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Täuschung [ . . . ] ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar noch möglich, dass, w a s den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht!" Was hier von Nietzsche als Möglichkeit formuliert und mit einem „vielleicht" versehen wird, weist ins Zentrum seiner Wahrheitsthese. Das Wertverhältnis von Wahrem und Schein ist nicht ein Gegensatz der Werte. Wer das Wahre als gut, wertvoll, den Schein dagegen als schlecht, wertlos auffaßt, täuscht sich über den Wert des Scheins für das Leben, ja über den Wert des Scheins für das Wahre selbst. Der Aphorismus deutet schon an, daß das Durchdenken der Wertfrage am Ende auf eine Verwandtschaft, ja Wesensgleichheit der Wahrheit mit Irrtum, Täuschung, Schein führen könnte. Ehe Nietzsches .Umwertung der Werte'33 im Bereich des Wahren und Unwahren ausführlicher dargestellt wird, soll kurz akzentuiert werden, worin Nietzsche die Gründe dafür erblickt, daß die Tradition die Wahrheit einerseits und die Gestalten der Unwahrheit andererseits durch einen unüberbrückbaren Wertgegensatz auseinanderriß. Auch diese Gründe wurden schon erwähnt. Sie sind überwiegend metaphysisch(-moralisch), und soweit sie das sind, muß über sie noch hinausgegangen werden bis zu dem Grund der metaphysischen Weltauslegung selbst. In ihr hat sich der Mensch eine Welt des Bleibenden fingiert. Warum tat er das? Wer war er, daß er das tat? Im „Nachlaß" ist darüber zu lesen: „Der Mensch sucht die ,Wahrheit': eine Welt, die nicht sich widerspricht, nicht täuscht, nicht wechselt, eine w a h r e Welt — eine Welt, in der man nicht leidet: Widerspruch, Täuschung, Wechsel — Ursachen des Leidens! Er zweifelt nicht, daß ( e s ) eine Welt, wie sie sein soll, giebt; er möchte zu ihr sich den Weg suchen [ . . . ] Warum leitet er gerade das L e i d e n von Wechsel, Täuschung, Widerspruch ab? und warum nicht vielmehr sein G l ü c k ? . . . — / D i e Verachtung, der Haß gegen Alles, was vergeht, wechselt, wandelt: — woher diese Werthung des Bleibenden? / Ersichtlich ist hier der Wille zur Wahrheit bloß das Verlangen in eine W e l t d e s B l e i b e n d e n [ . . . ] Das G l ü c k kann nur im Seienden verbürgt sein: Wechsel und Glück schließen sich aus [ . . . ] In summa: die Welt, wie sie sein s o l l t e , existirt; diese Welt, in der wir leben, ist nur Irrthum, — diese unsere Welt sollte n i c h t existiren [ . . . ] Was für eine Art Menschen reflektirt so? Eine unproduktive l e i d e n d e A r t ; eine lebensmüde Art. Dächten wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte sie den Glauben an das Seiende nicht nöthig:
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mehr noch, sie würde es verachten, als todt, langweilig, indifferent... / Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, i s t , wirklich existirt, ist ein Glaube der Unproduktiven, d i e n i c h t e i n e W e l t s c h a f f e n w o l l e n , wie sie sein soll. Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu gelangen. — ,Wille zur Wahrheit' — a l s O h n m a c h t d e s W i l l e n s z u m S c h a f f e n " (NF VIII 2, 28 f.). Der Mensch schuf sich eine Welt des ,Wahren', Seienden, Bleibenden, weil er leidet an dem Charakter der Welt, in der er lebt, an Täuschung, Wechsel, Vergänglichkeit. Daß er hieran leidet, ist aber in ihm selbst begründet. Er ist zu schwach zum Schaffen, zum schöpferischen Verändern, das im Wechsel der Dinge gerade seine Möglichkeit und die Chance des Glücks ergreift. Am Wechsel leidend, sucht er Wege in eine fiktive Welt des Bleibenden. ,Zur Wahrheit zu wollen', ist einer von ihnen. Der Wert der Welt des Bleibenden hat den Unwert der Welt des Wechselnden zum Gegensatz. Der schlechthinnige Wert der Wahrheit ist am Wert der bleibenden Welt festgemacht, und das zugleich so, daß Wahrheit ihren Ursprung in der bleibenden Welt hat. Hier ist ein weiteres Mal an einen früher zitierten Aphorismus zu erinnern (siehe S. 140): „aus dieser vergänglichen verführerischen täuschenden geringen Welt" kann Wahrheit nicht entstanden sein; „im Schoosse des Sein's, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im ,Ding an sich' — da muss ihr Grund liegen, und sonst nirgendswo!" — so lautet das „Vorurtheil" der „Metaphysiker aller Zeiten". Daß dies metaphysische Vorurteil, selbst in einem weiteren Sinne moralischer Natur, sich nach Nietzsche mit moralischen (und moralisch-religiösen) Vorurteilen verbindet, ist aus früherem ersichtlich (vgl. S. 139 f.). — Ein weiterer Grund für den Wertgegensatz von Wahrheit und Unwahrheit begegnete schon in früheren Zusammenhängen. Nietzsche hält Descartes' Regel der Wahrheit entgegen: „Wäre es nicht anders? daß die ihm (sc. unserem Intellekt) am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende Hypothese am meisten von ihm b e v o r z u g t , g e s c h ä t z t , u n d f o l g l i c h als w a h r bezeichnet wird? — Der Intellekt setzt sein freiestes und s t ä r k s t e s V e r m ö g e n u n d K ö n n e n als Kriterium des Werthvollsten, folglich W a h r e n . . . " (schon einmal zitiert S. 141). Es wurde auch schon gesagt, daß der Mensch durch Erkenntnis sich befreit von der elementaren Furcht des ihn umgebenden Fremden und Unberechenbaren (vgl. S. 146). Der hohe Wert, den der Mensch von jeher der Wahrheit zugesprochen hat, gründet auch in der Lust, die das Befreitsein von bedrückendem Unbekanntem und das Herr-geworden-sein über dieses bereiten. Dazu heißt es in der GötzenDämmerung: „Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen,
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erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe, die Sorge gegeben, — der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen Zustände w e g z u s c h a f f e n . . . Beweis der L u s t (,der Kraft') als Criterium der Wahrheit" (GD VI 3, 87). Nietzsche nimmt für die Wahrheit und für das, was bisher als ihr Wertgegensatz und Wesensgegensatz galt, eine Umwertung vor. Der Weg dahin führt über die Bestimmung der Funktion von Falschheit und Irrtum. Ein Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse lautet: „Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urtheile (zu denen die synthetischen Urtheile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, — dass Verzichtleisten auf falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse" (JGB 4 / VI 2,12). In jedem Fall falsche Urtheile als schlecht abwerten und vermeiden wollen, kommt der Lebensverneinung gleich. Denn sie können lebenbedingend sein. Nietzsche denkt hier, wie der Aphorismus zeigt, vor allem an Urteile a priori, die als solche mit dem Anspruch von Notwendigkeit auftreten müssen: synthetische Urteile a priori als Erfahrung ermöglichend im Sinne Kants, Urteile (Gesetze) der formalen Logik, Urteile der Mathematik. Ihnen spricht Nietzsche Wahrheit und notwendige Gültigkeit ab. Notwendig sind sie auf andere Weise, als unentbehrlich für das menschliche Leben. Falsch und doch als falsch gerade „lebenfördernd, lebenerhaltend", haben sie hohen Wert. Nietzsche denkt die „Unwahrheit als Lebensbedingung". Das bedeutet zugleich, daß lebenbedingend zu sein kein K r i t e r i u m der Wahrheit von Vorstellungen ist. Unter dem Titel „Das Leben kein Argument" schreibt Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft: „Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können — mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt Keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument;
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unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein" (FW 121 / V 2, 155 f.). Irrtümliche Vorstellungen an die Realität herantragend, haben wir Menschen uns zu leben ermöglicht. Solche Vorstellungen sind notwendig für uns geworden, sie nötigen uns; aber es ist ein Irrtum über die Irrtümer, die Nötigung als Beweis von Wahrheit zu nehmen34. Wenn Nietzsche Irrtum als eine Bedingung des Lebens versteht, darf man erwarten, daß er — über sein Feststellen von faktischen Täuschungen hinaus — eine Begründung des Irrtums im Leben selbst sucht. Es „hat den Anschein", schreibt er in Die fröhliche Wissenschaft, „als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt wäre" (FW 3 4 4 / V 2, 258). Wieso könnte das Leben so angelegt sein? Auf diese Frage läßt sich mit Nietzsches Abhebung organischer Wesen von Unorganischem antworten 35 . Die „ u n o r g a n i s c h e W e l t " , heißt es im „Nachlaß", „ist die g r ö ß t e S y n t h e s i s v o n K r ä f t e n [ . . . ] Der Irrthum, die perspektivische Beschränktheit fehlt da" ( N F VIII 1, 32). Der Gegenbegriff zur Synthesis von Kräften, die die unorganische Welt charakterisiert, ist in demselben Aphorismus die Spezialisierung. Im Lebendigen besondern sich die Kräfte, und zwar zur Vielfalt unterschiedlichster Organismen, aber auch zur Vielfalt unterschiedlicher Kräfte in einem einzelnen Lebendigen. Die besonderten Kräfte bringen ihre je eigene, beschränkte Perspektive auf die übrige Realität mit und setzen sie durch36. Dadurch allein zerreiben sie sich nicht. Die „inneren Prozesse sind essentiell I r r t h u m - e r z e u g e n d , weil Leben nur möglich ist unter der Führung solcher verengender perspektive-schaffender Kräfte" ( N F VIII 1, 302) 37 . Das gilt auch und gerade für die innersten Prozesse im Menschen, für den Kampf der Triebe, der im Denken zum Ausdruck kommt und mittels der ,Erkenntnis* sich erhalten will. Die Begriffe, mit denen wir uns eine Welt zurechtgemacht haben, sind verengende Perspektiven auf die Realität, selbstbezügliche Vereinfachungen, und als solche Irrtümer. Mit diesen Irrtümern halten wir uns auf für uns lebenerhaltende und lebenfördernde Weise unwissend. „ O sancta simplicitas! In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung lebt der Mensch! [ . . . ] Wie haben wir Alles um uns hell und frei und leicht und einfach gemacht! wie wussten wir unsern Sinnen einen Freipass für alles Oberflächliche, unserm Denken eine göttliche Begierde nach muthwilligen Sprüngen und Fehlschlüssen zu geben! — wie haben wir es von Anfang an verstanden, uns unsre Unwissenheit zu erhalten [ . . . ] Und erst auf diesem nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit durfte sich bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des
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Willens zum Nicht-wissen, zum Ungewissen, zum Unwahren! Nicht als sein Gegensatz, sondern — als seine Verfeinerung!" ( J G B 2 4 / V I 2, 37). Es zeigte sich: Nietzsche begreift Falsches als lebenbedingend. Unter der Voraussetzung, daß Leben bejaht wird (diese Voraussetzung ist für Nietzsches Philosophie konstitutiv 38 ), ist damit eine positive Wertung des Falschen vollzogen. Das bedeutet: Schon hier ist der Wertgegensatz, der Wahrheit und Unwahrheit als wertvoll und wertlos einander schlechthin entgegenstellt, aufgehoben. Der weitere Schritt, der Falsches (Irrtum) als Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit setzt, führt sogar dahin, der Unwahrheit einen ,höheren und grundsätzlicheren Wert' beizumessen als der Wahrheit, ja den Wert des Wahren von der Verknüpfung des Wahren mit dem Falschen, mit dem täuschenden Schein, abzuleiten (vgl. S. 141). In Jenseits von Gut und Böse sagt Nietzsche: „Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr werth ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt giebt. Man gestehe sich doch so viel ein: es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten" ( J G B 34 / V I 2, 49). Nietzsche wertet die Werte ,wahr' und ,unwahr' um. Das geschieht aufgrund des Gedankens, daß Irrtum, Täuschung, Schein in hohem Maße lebenbedingend sind. Ihr Wert liegt in ihrer lebenerhaltenden und lebenfördernden Funktion. Der Wert des Wahren andererseits kann für Nietzsche ebenfalls in gar nichts anderem bestehen als in d i e s e r Funktion 39 . Wert und Funktion für das Leben sind nun aber dem Unwahren und dem Wahren bei Nietzsche nicht äußerlich. Es läßt sich gar nicht angeben, was Unwahrheit (Schein, Irrtum) und Wahrheit sind, ohne gerade ihren Wert und ihre Funktion für das Leben zu bestimmen. Das aber heißt: Haben Unwahrheit und Wahrheit die gleiche Funktion und den wesentlich gleichen, nur dem Grad nach verschiedenen Wert für das Leben, dann sind sie verwandt, ja wesensgleich (vgl. S. 152), Mit dem traditionellen Wertgegensatz ist auch der Gegensatz ihres Wesens aufgehoben. In Jenseits von Gut und Böse heißt es: „Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von ,wahr' und ,falsch' giebt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins, — verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu reden?" ( J G B 3 4 / V I 2, 4 9 f . ) ,Wahr* und ,falsch' können aufgefaßt werden — ähnlich helleren und dunkleren Farbtönen der e i n e n Farbskala — als Abstufungen des e i n e n Scheins. Die Grenze zwischen ihnen ist fließend. Oder, anders gesprochen, sie verflie-
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ßen ineinander. Eindeutigkeit der Begriffe scheint es hier nicht mehr zu geben. Die jeweilige Denkperspektive kann dasselbe einmal als ,wahr', einmal als ,unwahr' erscheinen lassen, kann das ,Wahre' einmal als von geringerem, einmal als von höherem Wert als das ,Unwahre' beurteilen lassen. An der eben zitierten Stelle aus Jenseits von Gut und Böse fährt Nietzsche fort mit der Frage: „Warum dürfte die Welt, d i e u n s e t w a s a n g e h t — , nicht eine Fiktion sein?" (JGB 34 / VI 2, 50) Die Welt, die uns etwas angeht, ist für uns von positivem Wert, und sie d a r f , wie der Kontext ergibt, nach Nietzsche eine Fiktion, eine Täuschung sein. Dieselbe Welt kann aber auch als wahr, die geschaffene Fiktion als ,hineingelegte Wahrheit' und als Erzeugnis des ,Willens zur Wahrheit' aufgefaßt werden (vgl. die S. 161 f. beizuziehende Stelle N F VIII 2, 48 f.). Wahrheit steht dann für einen positiven Wert. Die Bedeutung des Begriffs Wahrheit ist dann »nützliche Fälschung'40. Bei solcher Sachlage fragt es sich, ob überhaupt noch sinnvoll von Wahrheit im U n t e r s c h i e d v o n Falschheit und Schein gesprochen werden kann. Darauf ist zu antworten: I m H o r i z o n t der dank Logik und Vernunftkategorien zurechtgemachten, falschen und auch ,wahren' Welt — und insofern immer relativiert — hat der Unterschied von Wahrem und Falschem ein Heimatrecht. Im „Nachlaß" heißt es: „ , s c h ö n und h ä ß l i c h ' , , w a h r und f a l s c h ' , , g u t und b ö s e ' — diese S c h e i d u n g e n und A n t a g o n i s m e n verrathen Daseins- und SteigerungsBedingungen" (NF VIII 2, 239). Hier ist also sehr wohl vom Antagonismus des Wahren und Falschen die Rede. Die Scheidung selbst dient der Erhaltung und Steigerung des Daseins; und das Wahre ist das, was als begünstigend zu ergreifen, das Falsche hingegen das, was als beeinträchtigend zu meiden ist (siehe auch den Fortgang des Textes)41. Das Wahre ist das Nützliche — das Nützliche ist das Wahre42. — Sucht man bei Nietzsche nach Bedeutungen von ,wahr', die die (relative) Gleichsetzung von ,wahr' mit ,nicht falsch' implizieren, so wird man weiterhin auf solches geführt, das intersubjektiv a l s w a h r g e l t e n s o l l (ohne doch wahr zu sein). Dazu gehört das, was sich beweisen läßt43. Dazu dürfte Unwiderlegbares gehören44. Ferner wird man dazu alles das rechnen müssen, was den (zum Nutzen der Art Mensch) als W a h r h e i t s n o r m e n gesetzten Irrtümern g e m ä ß gedacht ist, d.h. was diesen Normen standhält (vgl. S. 147f.) 45 . Exkurs. — Menschliches Weltvorstellen ist nach Nietzsche, wie sich gezeigt hat, ein Uberwältigen und Verfälschen dessen, was ist, durch vom
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Menschen selbst aufgebrachte Denk- und Anschauungsformen (die er Schemata nennt). Absicht dieses Exkurses ist es, an einem Beispiel (dem der mechanischen Kausalität) vorzuführen, wie Nietzsche diese These in Einzelanalysen der Schemata entfaltet. Dabei wird Nietzsches Bemühen sichtbar werden, die Entstehung eines Schemas begreiflich zu machen, und es wird sich zeigen, daß bei ihm ein einzelnes Schema auf ein ganzes Geflecht von Schemata führt. An zwei schon einmal zitierte Äußerungen Nietzsches zum Schematisieren allgemein sei zuvor erinnert: Die „Vernunftkategorien" sind „Mittel [ . . . ] zum Zurechtmachen der Welt zu Nützlichkeits-Zwecken" (vgl. A n m . 40 zu diesem Kap.). U n d es gilt nach Nietzsche: „nicht ,erkennen', sondern schematisiren, dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedürfniß genug thut" (vgl. S. 148). Als Formen (Schemata), in denen das geschieht, wurden in früheren Zitaten schon genannt: Ding (dauerndes Ding, gleiches Ding, Dinglichkeit); Substanz; Eigenschaft; Stoff; Form; Gestalt (und Inhalt); Gattung; Linie; Fläche; Körper; Bewegung (und Ruhe); Ursache und Wirkung; Einheit; Identität; Dauer; Sein (vgl. S. 144; 147; 154; Anm. 34 zu diesem Kap.). Im nächsten Zitat sind zusätzlich (u. a.) erwähnt: Nacheinander; Zahl; Gesetz; G r u n d ; Zweck. Später werden ferner begegnen: Tun — Täter; Tun — Leiden 46 . Es handelt sich also bei Nietzsches Schemata um alte Bekannte aus langer ontologischer, logischer und mathematischer Tradition. Sehr lange schon, meint Nietzsche ja auch, haben sie sich als nützlich bewährt. ,Ursache und Wirkung' sollen im folgenden im Mittelpunkt stehen. In Jenseits von Gut und Böse sagt Nietzsche: „Man soll nicht ,Ursache' und ,Wirkung' fehlerhaft v e r d i n g l i c h e n , wie es die Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt —) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die Ursache drücken und stossen lässt, bis sie ,wirkt'; man soll sich der ,Ursache', der ,Wirkung' eben nur als reiner B e g r i f f e bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen z u m Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, n i c h t der Erklärung. [ . . . ] W i r sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Füreinander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den G r u n d , den Zweck erdichtet haben" QGB 21 / V I 2, 29f.). Die Begriffe Ursache und Wirkung haben keine Entsprechung auf Seiten des Realen und erklären deshalb nichts. Sie sind bloße Begriffe im Sinne konventioneller Fiktionen, und als solche dienen sie der Verständigung. Wie andere Denker vor ihm, denkt Nietzsche mechanische Kausalität u n d Zeit zusammen. Dabei ergibt sich für ihn: Sosehr unsere menschliche
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Zeitvorstellung als nur menschliche betrachtet werden muß, sosehr auch der ihr entsprechende Begriff der Kausalität. In Die fröhliche Wissenschaft heißt es: „Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspective geben k ö n n t e : zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre)" (FW 3 7 4 / V 2, 308 f.). Der enge Bezug von menschlichem Zeitbewußtsein und Ursachenbegriff reicht für Nietzsche aber keineswegs aus, die Vorstellung der mechanischen Kausalität in ihrer Entstehung aufzuhellen. Anderes ist hier entscheidender. Im „Nachlaß" liest man: „Die Trennung des ,Thuns' vom ,Thuenden', des Geschehens von einem (Etwas), das geschehen m a c h t , des Prozesses von einem Etwas, das nicht Prozeß, sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist, — der Versuch das Geschehen zu begreifen als eine Art Verschiebung und Stellungs-Wechsel von ,Seiendem', von Bleibendem: diese alte Mythologie hat den Glauben an »Ursache und Wirkung' festgestellt, nachdem er in den sprachl(ichen) grammatikalischen) Funktionen eine feste Form gefunden hatte" ( N F VIII 1, 134). Der Vorstellung der Kausalität liegt zugrunde eine Trennung, die menschliches Denken in das Geschehen hineininterpretiert hat: die Trennung von Tun und Täter. In ihr wirkt sich die Tendenz aus, Bleibendes zu fassen — eben jene Tendenz, die nach Nietzsche unsere Existenzbindung ist und — überflüssigerweise — zur Ausbildung der Metaphysik geführt hat47. Den Wechsel hat man als Tun, Wirken, Wirkung aufgefaßt, um ihm einen Täter, eine Ursache, als Bleibendes zugrunde legen zu können. Für dies Bleibende fand man dann einzig ihm angemessene Begriffe wie Substanz, Ding, Körper, Seele. Dieser Trennung von Tun und Täter im Geschehen entsprechen verfestigte Formen in der Sprache und ihrer Grammatik (Substantive — Verben; Subjekt — Prädikat). — Die Trennung von Tun und Täter verdeutlicht die folgende Stelle: „Ein Quantum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille, Wirken — vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein ,Subjekt' versteht und missversteht, kann es anders erscheinen. Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Τ h u η , als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst [ . . . ] es giebt kein ,Sein' hinter dem Thun, Wirken, Werden; ,der Thäter' ist zum Thun bloss
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hinzugedichtet, — das Thun ist Alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen ,die Kraft bewegt, die Kraft verursacht' und dergleichen" (GM VI 2, 293). Mit der Trennung von Tun und Täter geht die Trennung von Tun und Leiden einher, und wie die erstere auf ein Bleibendes als Täter abzielt, so führt die letztere — über den Begriff der Veränderung — auf ein Bleibendes, das an ihm einen Wechsel erleidet. Ist die Ursache als Täter aufgefaßt, so erscheint die Wirkung als Tun dieses Täters u n d als diesem Tun korrelierendes Leiden eines anderen Bleibenden. Im „Nachlaß" findet sich dazu die Äußerung: „,Es verändert sich', keine Veränderung ohne Grund — setzt immer schon ein Etwas voraus, das hinter der Veränderung steht und bleibt. / ,Ursache' und ,Wirkung': psychologisch nachgerechnet ist es der Glaube, der sich im V e r b u m ausdrückt, Activum und Passivum, Thun und Leiden. Das heißt: die Trennung des Geschehens in ein Thun und Leiden, die Supposition eines Thuenden ist vorausgegangen. Der Glaube an den T h ä t e r steckt dahinter: w i e a l s o b , w e n n a l l e s T h u n v o m , T h ä t e r ' a b g e r e c h n e t w ü r d e , er s e l b s t n o c h ü b r i g b l i e b e . Hier soufflirt immer die ,Ich-Vorstellung'" (NF VIII 1, 257f.) 48 . Das M o t i v für die Entstehung des Schemas Ursache — Wirkung sieht Nietzsche gegeben mit dem Bestreben der menschlichen Vernunft, dem Geschehen (Werden) konfrontiert, sich Bleibendes zu schaffen. Der W e g dahin führt über die Trennung von Tun und Täter und Tun und Leiden. Der A u s g a η g des Weges liegt im Ich, in der Seele, im wollenden Subjekt: „NB. Der Glaube an Causalität geht zurück auf den Glauben, daß ich es bin, der wirkt, auf die Scheidung der ,Seele' von ihrer T h ä t i g k e i t . Also ein uralter Aberglaube!" (NF VIII 1, 15). „: wir unterscheiden uns, die Thäter, vom Thun und von diesem Schema machen wir überall Gebrauch" ( N F VIII 3, 66). Das bedeutet u.a. und vor allem: „Wir haben unser Willens-Gefühl, unser ,Freiheits-Gefühl', unser VerantwortlichkeitsGefühl und unsere Absicht von einem Thun in den Begriff ,Ursache' zusammengefaßt: [...] Das Ding, das Subjekt, der Wille, die Absicht — alles inhärirt der Conception ,Ursache"* (NF VIII 3, 67)49. Diese Auffassung führt Nietzsche zu der These: „causa efficiens und finalis ist in der Grundconception Eins" (NF VIII 3, 67). Damit geht Nietzsche interpretierend zurück hinter die Tradition, die Wirkursache und Zweckursache säuberlich geschieden hatte. Nietzsches These impliziert,
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daß letztlich, wenn auch uneingestanden, alles, an das der Begriff der Ursache herangebracht wurde, immer schon als lebendig, beseelt vorverstanden war50. — Den Schemata Ursache — Wirkung und Täter — Tun entsprechen nicht nur Fixierungen in sprachlichen und grammatischen Formen (vgl. S. 159), sondern auch die Struktur des Urteils und damit alles in Urteilen sich vollziehende Denken. „In jedem Urtheile steckt der ganze volle tiefe Glauben an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und Wirkung" (NF VIII 1, 100). Und: „Der Mensch glaubt sich als Ursache, als Thäter — / alles, was geschieht, verhält sich prädikativ zu irgend welchem Subjekte" (NF VIII 1, 99)51. Die ,Welt, die uns etwas angeht' (vgl. S. 157), ist nach Nietzsche eine scheinbare Welt. Als scheinbare ist sie ,erkennbar' und zugleich die einzige Welt, die es für uns gibt52. „,Scheinbarkeit' ist eine zurechtgemachte und vereinfachte Welt", eine „gewisse berechenbare Welt i d e n t i s c h e r Fälle" (siehe Anm. 40 zu diesem Kap.). Zurechtgemacht und vereinfacht haben wir die Realität durch mannigfaltige, von uns selbst herausgebildete Schemata. Das heißt nun aber: Der Mensch ist Grund der scheinbaren Welt (die, perspektivisch, wie sie ist, von Nietzsche ebensowohl als Lüge wie als Wahrheit charakterisiert werden kann53). Im „Nachlaß" heißt es: „Die extremste Form des Nihilism wäre: daß j e d e r Glaube, jedes Für-wahrhalten nothwendig falsch ist: w e i l es e i n e w a h r e W e l t g a r n i c h t g i e b t . Also: ein p e r s p e k t i v i s c h e r S c h e i n , dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt fortwährend n ö t h i g h a b e n ) / — daß es das M a a ß d e r K r a f t ist, wie sehr wir uns die S c h e i n b a r k e i t , die Nothwendigkeit der Lüge eingestehn können, ohne zu Grunde zu gehn" (NF VIII 2, 18 — „wahre Welt" und „Maaß der Kraft" fettgedruckt). Die scheinbare Welt hat in uns ihre Herkunft. Wir schaffen sie, indem wir die schlechthin komplexe Realität mit Verengungen, Verkürzungen, Vereinfachungen übermächtigen, indem wir durch Überwältigung das schlechthin Fließende und Werdende für uns fest, dauerhaft, seiend machen. „Moralisch ausgedrückt: i s t d i e W e l t f a l s c h . Aber, insofern die Moral selbst ein Stück dieser Welt ist, so ist die Moral falsch / Der Wille zur Wahrheit ist ein F e s t - m a c h e n , ein Wahrhaft-DauerhaftM a c h e n , ein Aus-dem-Auge-schaffen jenes f a l s c h e n Charakters, eine Umdeutung desselben ins S e i e η d e. / Wahrheit ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, — sondern etwas, d a s z u s c h a f f e n i s t und das den Namen für einen Ρ r ο ζ e ß abgiebt, mehr
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noch für einen Willen zur Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein a k t i v e s B e s t i m m e n , n i c h t ein Bewußtwerden von etwas, (das) ,an sich' fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den ,Willen zur Macht"' (NF VIII 2, 48 f.). Es findet sich hier bei Nietzsche, freilich in gänzlich verwandeltem Kontext und mit anderen Vorzeichen, eine Entsprechung zu entscheidenden Gedanken in Kants Wahrheitstheorie, nämlich zur transzendentalen Wahrheit und dem reinen Verstand als ihrem Grund. Kant könnte die folgende Bemerkung Nietzsches unterschreiben, wenn sie in bezug auf die Welt der Erscheinungen in seinem Sinne gemacht wäre: „Wir gehören zum Charakter der Welt, das ist kein Zweifel! Wir haben keinen Zugang zu ihr als durch uns" (NF VIII 1, 29). Das Schaffen der scheinbaren Welt ist bei Nietzsche zunächst zu verstehen als das Überwältigen der Realität durch Formen unseres Denkens und Anschauens. Hier ist der Mensch nicht als Individuum, sondern als Art schaffend. Er ist tätig als eine Art des L e b e n d i g e n (und nicht etwa als reiner Verstand). Sein spezifisches Leben i s t das so aufgefaßte Schaffen der scheinbaren Welt54. Das Schaffen der scheinbaren Welt setzt sich nun aber fort bis i n s e m p i r i s c h e E r g r e i f e n a l l e r I n h a l t e im Horizont der gleichsam transzendental55 zurechtgemachten Welt. ,Immerfort' schaffen wir an der Welt, die daher, mögen unsere F o r m e n der Aneignung auch seit langem unverändert bewährt und in Kraft sein, ständig ,wächst'. In Die fröhliche Wissenschaft sagt Nietzsche: „Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas m a c h e n , das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen [...] Wir erst haben die Welt, die den M e n s c h e n E t w a s a n g e h t , geschaffen!" (FW 301 / V 2, 220) Und hier sind wir keineswegs mehr nur als Art am Werk, sondern hier ist zugleich und vor allem das Betätigungsfeld einer Perspektiven-Vielfalt innerhalb der menschlichen Art, avch eines K a m p f e s der Perspektive schaffenden Triebe der einzelnen Individuen, ja der Triebe innerhalb eines Individuums selbst56. Dem Subjekt der scheinbaren Welt kommt für Nietzsche solches Gewicht zu, daß der Begriff des Objekts sich auflöst. In einem Textstück aus dem „Nachlaß", aus dem soeben schon zitiert wurde (Anm. 54 zu diesem Kap.), heißt es: „die anderen ,Wesen' agiren auf uns; unsere z u r e c h t g e m a c h t e Scheinwelt ist eine Zurechtmachung und Ü b e r w ä l t i g u n g von deren Aktionen; eine Art D e f e n s i v -Maaßregel. / Das S u b j e k t a l l e i n i s t b e w e i s b a r : H y p o t h e s e , d a ß es n u r S u b -
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j e k t e g i e b t — daß ,Objekt' nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt i s t . . . e i n m o d u s d e s S u b j e k t s " (NF VIII 2, 60 — „Hypothese" fettgedruckt). Das Objekt als bloßer Modus des Subjekts — dieser Gedanke führt auf den Begriff der Phänomenalität, der im Fortgang des Kapitels zu thematisieren sein wird 57 . Nietzsche destruiert den Wahrheitsbegriff der Tradition 58 : Wahrheit ist nicht Angleichung des Verstandes an die Sache, Ubereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand. Wahrheit, verstanden als Angleichung, hatte Falschheit zum Gegensatz. Und die Falschheit galt dem um Erkenntnis Bemühten als Unwert, als etwas, das man vermeiden will. Auf Wahrheit kam alles an. Nietzsches Destruktion dieses Wahrheitsverständnisses vollzieht sich, wie sich zeigte, als Aufhebung nicht nur des Wertgegensatzes, sondern auch des Wesensgegensatzes von ,wahr' und ,falsch'. Für ihn besteht eine nicht zu beseitigende Inadäquatheit von Erkennen und Realität. Im „Nachlaß" liest man: „Die Forderung einer a d ä q u a t e n A u s d r u c k s w e i s e ist u n s i n n i g : es liegt im Wesen einer Sprache, eines Ausdrucksmittels, eine bloße Relation auszudrücken... Der Begriff ,Wahrheit* ist w i d e r s i n n i g . . . das ganze Reich von ,wahr' ,falsch' bezieht sich nur auf Relationen zwischen Wesen, nicht auf das ,An sich' . . U n s i n n : es giebt kein ,Wesen an sich', die Relationen constituiren erst Wesen, so wenig es eine ,Erkenntnis an sich' geben k a n n . . . " (NF VIII 3, 95). Wahrheit als Angleichung an ein Ansich ist ein Widersinn, weil alles Ansprechen und Erkennen essentiell R e l a t i o n eines Wesens zu anderem ist, für die die Perspektive dieses Wesens bestimmend ist59. Es muß klar gesehen werden: Wo Nietzsche Wahrheit und Erkennen negiert, hat er Wahrheit als Angleichung, Ubereinstimmung, Entsprechung und ein auf solche Wahrheit ausgehendes Erkennen im Blick. Er meint, damit alle Wahrheit im bisherigen Verständnis und alle bisher beschrittenen Denkwege erfaßt zu haben. An die Stelle des Wahrheitsbegriffs, der Wahrheit faßt als Angleichung von Verstand und Sache, als Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand, setzt er seine Wahrheitsthese. Diese impliziert, wie erinnerlich, eine Umwertung der bisherigen Werte ,wahr' und ,unwahr'. Es gibt falsche Urteile, die zu verwerfen einer Lebensverneinung gleichkäme. Denken ist Leben, und Leben ist Durchsetzen von Perspektiven. Denken produziert deshalb wesentlich und allem zuvor Schein. Ob dieser selbst als Wahrheit zu verstehen ist und ob etwa von ihm ermöglichte ,Erkenntnisse' wahr genannt werden können, entscheidet sich positiv dadurch, daß der durch die Destruktion leer gewordene Wahrheits-
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begriff sich mit der Bedeutung ,lebenerhaltend und lebenfördernd' füllt. Schein ermöglicht Leben, und insofern er das tut, kann er auch als (vom Erkennenden geschaffene) Wahrheit aufgefaßt werden60. Die Frage ist jetzt akzentuiert zu stellen: Was trägt Nietzsches Destruktion des traditionellen Wahrheitsbegriffes und seine eigene Wahrheitsthese? Warum ist Erkenntnis unlöslich an Schein gebunden? Die Antwort, implicite längst gegeben, wird lauten müssen: Nietzsche legt seinen Ausführungen über Erkennen, Wahrheit und Schein eine ontologische These über ein Ansich zugrunde61. Diese Antwort wird eine neue Frage unausweichlich machen. Kant hatte sich dem Problem gestellt, Erkenntnis der Erscheinungen möchte vielleicht bloßer Schein sein. Er hatte diesen Verdacht ausgeräumt, indem er den Erscheinungen die Dinge an sich selbst als ,Ursache' zugrunde legte. Nietzsche wendet sich, wie schon gezeigt wurde, ausdrücklich gegen diesen Lösungsversuch Kants (vgl. S. 137) wie überhaupt gegen Kants Unterscheidung von Ding an sich selbst und Erscheinung62. Weder von Ding an sich noch von Erscheinung kann nach Nietzsche mit Recht gesprochen werden: „Es fällt endlich auch das , D i n g an s i c h ' : weil dies im Grunde die Conception eines ,Subjekts an sich' ist. Aber wir begriffen, daß das Subjekt fingirt ist. Der Gegensatz ,Ding an sich' und .Erscheinung' ist unhaltbar; damit aber fällt auch der Begriff ,Erscheinung' dahin" (NF VIII 2, 48 — „,Ding an sich'" fettgedruckt). In Die fröhliche Wissenschaft sagt Nietzsche zum Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung: „wir ,erkennen' bei weitem nicht genug, um auch nur so s c h e i d e n zu dürfen" (FW 3 5 4 / V 2, 275). Schein, nicht empirische Erkenntnis von Erscheinungen und nicht eine formale Gesetzgebung für eine Natur als Ganzes aller Erscheinungen bringen wir Menschen nach Nietzsche zustande. Von Erscheinung zu sprechen, bedeutete für Kant, an der Wirklichkeit der Dinge außerhalb unserer Begriffe von ihnen festzuhalten. Damit ist es bei Nietzsche nichts mehr. Von unserer ,Liebe zur Wirklichkeit' müssen wir lassen. In einem Aphorismus, der überschrieben ist „An die Realisten", sagt er: „Eure Liebe zur ,Wirklichkeit' zum Beispiel — oh das ist eine alte uralte ,Liebe'! In jeder Empfindung, in jedem Sinneseindruck ist ein Stück dieser alten Liebe: und ebenso hat irgend eine Phantasterei, ein Vorurtheil, eine Unvernunft, eine Unwissenheit, eine Furcht und was sonst noch Alles! daran gearbeitet und gewebt. Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran ,wirklich'? Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zu t h a t davon ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr das könntet! Wenn ihr eure Herkunft,
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Vergangenheit, Vorschule vergessen könntet, — eure gesammte Menschheit und Thierheit! Es giebt für uns keine »Wirklichkeit' — und auch für euch nicht, ihr Nüchternen" (FW 5 7 / V 2, 97f.). Nicht Erscheinung und Wirklichkeit, sondern Schein und Phänomenalität machen den Inhalt unserer ,Erkenntnis' aus. Mit dem Rückblick auf Kant und Nietzsches Kant-Kritik ist die Frage, um die es jetzt geht, natürlich nicht beantwortet. Denn Nietzsches Stellungnahme gegen Ding an sich und Erscheinung ist (soweit sie Kants Philosophie nicht immanent kritisiert) in die Frage, was das Fundament für seine Destruktion des traditionellen Wahrheitsbegriffs und seine eigene Wahrheitsthese abgibt, gerade einzubeziehen. Deutlich werden sollte nur, daß Phänomenalität bei Nietzsche etwas anderes besagt als Erscheinung bei Kant, und daß, wenn hier in bezug auf Nietzsche von einem Ansich als Gegensatz zur Phänomenalität gesprochen wird", damit nicht Kants Ding an sich selbst gemeint sein kann. Phänomenalität bei Nietzsche bedeutet: Das .Objekt' ist nur ein Modus des Subjekts; die „Hypothese" ist aufzustellen, daß es nur Subjekte gibt (vgl. S. 162 f.). Die für ihn einigermaßen prekären Ausdrücke Subjekt und Objekt vermeidend, drückt Nietzsche den gemeinten Sachverhalt auch so aus: „Die Welt ist n i c h t so und so: und die lebenden Wesen sehen sie, wie sie ihnen erscheint. Sondern: die Welt besteht aus solchen lebenden Wesen, und für jedes derselben giebt es einen kleinen Winkel, von dem aus es mißt, gewahr wird, sieht und nicht sieht. Das ,Wesen' f e h l t : Das ,Werdende', ,Phänomenale' ist die einzige Art Sein" ( N F VIII 1, 257 — nach „Sein" folgen ein Punkt, ein Längsstrich und ein Fragezeichen). Das Phänomenale ist das, was ein lebendes Wesen aus seiner Perspektive sieht, und zwar s ο , w i e es das zufolge der Perspektive tut. Zu diesem Phänomenalen gibt es kein Wesen, gibt es nichts, dem ein unabhängiges Sein und Sosein zukäme. U n d d o c h bezeugen schon diese Textstellen, daß Nietzsche in einem anderen Sinne gerade selbst ein Ansich ansetzt und bestimmt: die beweisbaren' (und das heißt hier wirklichen) Subjekte als die agierenden und reagierenden, aufeinander wirkenden und die erfahrene Wirkung überwältigenden ,„Wesen'" (vgl. nochmals das Zitat S. 162 f.); die „lebenden Wesen" a l s perspektivisch messende, gewahrende, sehende und nicht sehende (d.h. vieles übersehende, auslassende). Die Position Nietzsches ist noch klarer ausgesprochen in einem anderen Aphorismus aus dem „Nachlaß": „jedes Kraftcentrum hat für den ganzen R e s t seine P e r s p e k t i v e d.h. seine ganz bestimmte W e r t h u n g , seine Aktions-Art, seine Widerstandsart [ . . . ] Die R e a l i t ä t besteht exakt in dieser Partikulär-Aktion und
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Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze . . . [ . . . ] Aber es giebt kein ,anderes', kein ,wahres', kein wesentliches Sein — damit würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion ausgedrückt s e i n . . . " ( N F VIII 3, 163). Es gibt kein ,wahres', wesentliches Sein — i n s o f e r n bleibt es dabei, daß das Phänomenale „die einzige Art Sein" ist. Es gibt nichts, das da erscheint (keine unerkennbaren Dinge an sich selbst im Sinne Kants, kein als Wille gedachtes Ding an sich Schopenhauers). Aber dennoch gibt es Realität (als ein Ansich im Gegensatz zu Phänomenalität), und von ihr kann gesagt werden, was sie ist: Sie ist Aktion und Reaktion, und zwar von Kraftzentren; diese agieren und reagieren als einzelne «gegen das Ganze" gemäß ihrer je eigenen Perspektive. D i e s e Realität nimmt der Phänomenalität gerade nichts von ihrem Scheincharakter. Die Phänomenalität ist produzierter Schein. Die Realität, ontologisch bestimmbar, besteht aus Phänomenalität produzierenden ,Wesen', deren ,Sein' wesentlich der Vollzug dieses Produzierens ist. Die Seinsthese impliziert gerade, daß alles, was ist, wesentlich Produzieren von Schein ist, so daß die Phänomenalität auf diese Realität zurückgeführt ist. Damit fundiert die Seinsthese Nietzsches seine Destruktion des traditionellen Wahrheitsbegriffs (einschließlich der KantKritik) und seine eigene Wahrheitsthese. Das bedeutet nun aber: Eine Auseinandersetzung mit Nietzsche auf dem Feld der philosophischen Wahrheitsfrage muß die Frage stellen nach der Wahrheit der Seinsthese Nietzsches. Das wird im weiteren geschehen. Zuvor jedoch soll die Seinsthese noch etwas genauer beim Namen genannt werden. Auf ihre ontologische Entfaltung kann und muß im Rahmen dieser Untersuchung allerdings verzichtet werden. Das soeben über Realität Gesagte bleibt festzuhalten. Was früher schon zu diesem Thema anklang, kann nun in die Betrachtung ausdrücklich eingeholt werden: Die Realität — betrachtet im Gegenzug zum Seienden, Erkennbaren, zur gegenständlichen Welt im Sinne der Tradition — wird von Nietzsche als Chaos bezeichnet. Sie ist Werden, als solches schlechthin fließend und unformulierbar, ,falsch', widersprüchlich 64 . Die Realität — betrachtet im Gegenzug zum Erkennenden, zum Subjekt im Sinne der Tradition — zeigt sich ihm als Zurechtmachen und Uberwältigen des Werdens, ja als W i l l e zum Erkennbarmachen, als Wille zur Überwältigung, zur Täuschung. Diese zwei Betrachtungshinsichten sind aber im Sinne Nietzsches als solche zu durchschauen und aufzuheben. Die Realität ist e i n e , sie ist ganz perspektivische Aktion und Reaktion von Kraftzentren, „Partikulär-Aktion und Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze" (vgl. S. 165f.). Der Name für diese e i n e Realität ist Wille zur Macht.
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Einer der von Nietzsche konzipierten Titel für sein geplantes Werk, das „Nachlaß" geblieben ist, lautet: „ D e r W i l l e z u r M a c h t . Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens" ( N F VIII 1, 15). Alles Geschehen soll demnach als Wille zur Macht verstanden werden; und da alles, was ist, Geschehen (Werden) ist, heißt das: Alles, was ist, soll als Wille zur Macht gedacht werden. Einer der Wege, auf denen Nietzsche an diese neue Auslegung heranführt, ist das Gegen-Denken gegen die mechanistische Weltauslegung nach dem Schema von Ursache und Wirkung und seinen Implikationen (vgl. Exkurs, S. 157ff.). Im „Nachlaß" heißt es: „alles Geschehen ist ein Kampf [ . . . ] Was wir,Ursache* und, Wirkung' nennen, läßtden Kampf aus und entspricht folglich nicht dem Geschehen" ( N F VIII 1, 29)65. Entscheidend ist: „Daß man den T h ä t e r wieder in das Thun hineinnimmt, nachdem man ihn begrifflich aus ihm herausgezogen und damit das Thun entleert hat; / daß man das E t w a s -thun, ,das Ziel', die ,Absicht', den ,Zweck' wieder in das Thun zurücknimmt, nachdem man ihn künstlich aus ihm herausgezogen und damit das Thun entleert hat; / daß alle ,Zwecke', ,Ziele', ,Sinne' nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens sind, der allem Geschehen inhärirt, der Wille zur Macht" ( N F VIII 2, 286). Den Willen zur Macht denken wollen, das setzt voraus, den Täter einerseits, den Zweck andererseits an das Tun zurückzugeben und also die Trennungen Tun — Täter und Tun — Zweck hinter sich zu lassen. „Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist" ( N F VIII 3, 52), dann wird die Frage nach einem Wollenden absurd — : „Aber w e r will Macht? . . . Absurde Frage: wenn das Wesen selbst Machtwille [ . . . ] ist" (ebd.). Und dieser Wille kann keinen außer ihm liegenden Zweck wollen, er muß sich selbst wollen. Was will und ist er aber dann? Er ist „Wille zur Accumulation von Kraft", „Herr-werden-, Mehr-werden-, Stärker-werden-wollen", welches „ S t ä r k e r - w e r d e n - w o l l e n von j e d e m K r a f t c e n t r u m aus die einzige Realität ist" ( N F VIII 3, 53). Er ist „Streben nach Mehr von Macht" ( N F VIII 3, 54); er will „wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Ubergewicht gewinnen" ( J G B 2 5 9 / V I 2, 218), „fremde Kräfte in sich hineinnehmen" ( N F VIII 3, 170). Dabei geht es um ein „ M a x i m a l - G e f ü h l v o n M a c h t " ( N F VIII 3, 54). Dieses muß, soll hier streng ein Werden gedacht sein, dem Vollzug des Herr-werdens eignen, nicht dem Herr-geworden-sein — dem Kampf, nicht dem Sieg. Im „Nachlaß" findet sich die N o t i z : „ n i c h t die Befriedigung des Willens ist Ursache der Lust: gegen diese oberflächlichste Theorie will ich besonders kämpfen. [ . . . ] sondern daß der Wille vorwärts will und immer wieder Herr über das wird, was ihm im Wege steht: das Lustgefühl liegt gerade in der
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Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne die Grenzen und Widerstände noch nicht satt genug i s t . . . " ( N F V I I I 2, 279f.) 6 6 . Nietzsches Seinsthese lautet: Das Sein ist Wille zur Macht. Es kommt viel darauf an, zu sehen, daß Nietzsche diese Seinsthese als a b s o l u t verstanden wissen will. Das kommt bei ihm zum Ausdruck einerseits an Stellen, an denen er aufführt, was alles als Wille zur Macht zu denken ist, andererseits und vor allem aber in Äußerungen und Gedanken, die direkt dieser Absolutheit und ihrer Sicherung gelten. Eben wurde schon einmal gesagt, daß nach Nietzsche a l l e s , was ist, Wille zur Macht sei. Im „Nachlaß" werden diesem einen Prinzip, dem Willen zur Macht, Seinsbereiche zugeordnet, die nach geläufigem Verständnis sehr verschieden sind. Unter den Titel „ W i l l e z u r M a c h t . M o r p h o l o g i e . " ordnet Nietzsche: „ W i l l e z u r M a c h t als ,Natur' / als Leben / als Gesellschaft / als Wille zur Wahrheit / als Religion / als Kunst / als Moral / als Menschheit" ( N F VIII 3, 46) 67 . Und eine weitere Stelle (aus der bereits zitiert wurde) lautet: „Der Wille zur Accumulation von Kraft als spezifisch für das Phänomen des Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung, / für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität / sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache auch in der Chemie annehmen dürfen? / und in der kosmischen Ordnung?" ( N F V I I I 3, 53) Deutlicher noch als diese letzte Stelle läßt eine im „Nachlaß" bald auf sie folgende erkennen, daß das Leben der Ausgangspunkt für eine den Willen zur Macht ins Ganze des Seins entfaltende Betrachtung ist (in der Tat stand ja auch hier im vorigen Lebendiges im Vordergrund 68 ): „das Leben als die uns bekannteste Form des Seins ist spezifisch ein Wille zur Accumulation der Kraft / : alle Prozesse des Lebens haben hier ihren Hebel / : nichts will sich erhalten, alles soll summirt und accumulirt werden / Das Leben, als ein Einzelfall: Hypothese von da aus auf den Gesammtcharakter des Daseins" ( N F V I I I 3, 54). Der „Hypothese" vom Leben aus „auf den Gesammtcharakter des Daseins" stellt sich aber eine Schwierigkeit entgegen, die das Anorganische bietet 69 . Der Wille zur Macht, vom Leben aus gedacht, ist essentiell perspektivisch. Perspektivität setzt besonderte Kräfte voraus. Nietzsche hat in einer früher zitierten Stelle die Welt des Anorganischen von der des Lebendigen aber gerade dadurch abgehoben, daß in jener nicht Besonderung der Kräfte, sondern „ S y n t h e s i s v o n K r ä f t e n " statthat und „die perspektivische Beschränktheit fehlt" (vgl. S. 155). U m der Absolutheit der Seinsthese willen darf Nietzsche es dabei nicht belassen. Er muß die Perspektivität auch auf das Anorganische ausdehnen. Zwei Aspekte, unter denen das geschieht, seien hier vorgeführt. Zunächst: „Auch im Reiche des
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Unorganischen kommt für ein Kraftatom nur seine Nachbarschaft in Betracht: die Kräfte in die Ferne gleichen sich aus. Hier steckt der Kern des Perspectivischen, und warum ein lebendiges Wesen durch und durch .egoistisch' ist" (NF VII 3, 284). Wichtiger noch als die auf Nachbarschaft beschränkte Wirksamkeit von Aktion und Reaktion der Kraftatome dürfte sein, daß Nietzsche auch für den Bereich des Anorganischen Kraft als Trieb oder Affekt zu denken versucht. Das klang hier anderwärts schon einmal an70. Ausführlich äußert Nietzsche sich darüber in einem Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse (dessen Anfang bereits früher herangezogen wurde): „Gesetzt, dass nichts Anderes als real ,gegeben' ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen ,Realität' hinab und hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe — denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander — : ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies Gegeben nicht a u s r e i c h t , um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder ,materielle') Welt zu verstehen? Ich meine [ . . . ] als eine primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger Einheit beschlossen liegt, was sich dann im organischen Prozesse abzweigt und ausgestaltet (auch, wie billig, verzärtelt und abschwächt —), als eine Art von Triebleben, in dem noch sämmtliche organische Funktionen, mit Selbst-Regulirung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden in einander sind, — als eine V o r f o r m des Lebens? — Zuletzt ist es nicht nur erlaubt, diesen Versuch zu machen: es ist, vom Gewissen der M e t h o d e aus, geboten. Nicht mehrere Arten von Causalität annehmen, so lange nicht der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine äusserste Grenze getrieben ist (— bis zum Unsinn, mit Verlaub zu sagen): das ist eine Moral der Methode, der man sich heute nicht entziehen darf [ . . . ] Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als w i r k e n d anerkennen, ob wir an die Causalität des Willens glauben: thun wir das — und im Grunde ist der Glaube d a r a n eben unser Glaube an Causalität selbst —, so m ü s s e n wir den Versuch machen, die WillensCausalität hypothetisch als die einzige zu setzen. ,Wille' kann natürlich nur auf ,Wille' wirken — und nicht auf ,Stoffe' (nicht auf ,Nerven' zum Beispiel —): genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo »Wirkungen' anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt — und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist. — Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären — nämlich des Willens zur Macht, wie
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es m e i n Satz ist — ; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung — es ist Ein Problem — fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, a l l e wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: W i l l e z u r M a c h t . Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ,intelligiblen Charakter' hin bestimmt und bezeichnet — sie wäre eben ,Wille zur Macht' und nichts ausserdem" (JGB 3 6 / V I 2, 50 f.)71· Der Seinsthese, daß alles, was ist, Wille zur Macht ist, schien der Bereich des Anorganischen entgegenzustehen. Wie sich gezeigt hat, hält Nietzsche aber das Problem für lösbar. Damit ist der Weg frei dafür, die Seinsthese absolut zu behaupten. Für Nietzsche i s t „das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht" (vgl. S. 167). Er spricht von der „Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem ,Willen zur Macht'" (JGB 2 2 / V I 2, 31). U n d vor allem: „ D i e s e W e l t i s t d e r W i l l e z u r M a c h t — u n d n i c h t s a u ß e r d e m ! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht — und nichts außerdem!" ( N F VII 3, 339) Diese bekannte Äußerung beschließt einen Aphorismus, der die Welt unter dem Aspekt der ewigen Wiederkehr des Gleichen thematisiert. In der Tat hat Nietzsche die Absolutheit seiner Seinsthese durch seine „Lehre von der ,ewigen Wiederkunft', das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge" (Ecce homo VI 3, 311) abzusichern gesucht. Niemals war anderes als der Wille zur Macht bzw. war der Wille zur Macht nicht; und niemals wird anderes sein als der Wille zur Macht bzw. wird der Wille zur Macht nicht sein. Mit dieser Lehre wird dem Willen zur Macht Beständigkeit schlechthin (und in diesem Sinne ,Sein') zugesprochen. „Daß A l l e s w i e d e r k e h r t , ist die extremste A n n ä h e r u n g e i n e r W e l t d e s W e r d e n s an d i e d e s S e i n s : G i p f e l d e r B e t r a c h t u n g " (NF VIII 1, 320). — Nietzsche stellt eine These über das Ansich auf. Sie lautet: Das Sein ist Wille zur Macht. Und die These tritt als absolute auf. Diese absolute Seinsthese über das Ansich liegt bei Nietzsche der Destruktion des traditionellen Wahrheitsbegriffs und seiner eigenen Wahrheitsthese zugrunde 72 . Wenn hier früher (S. 166) gesagt wurde, die gesamte Realität bestehe aus Phänomenalität (Schein) produzierenden ,Wesen', deren ,Sein' wesentlich der Vollzug dieses Produzierens sei, und wenn dann später (S. 167) zu zitieren war, das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftzentrum aus sei die einzige Realität, so handelt es sich um zwei untrennbare Seiten desselben, eben des Willens zur Macht. Und daß Nietzsche den Denkenden
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einschärft: auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht — und nichts außerdem!" (vgl. S. 170) — das bestätigt noch zusätzlich, was an vielen Stellen schon sichtbar wurde: Nietzsche begreift das menschliche Denken und ,Erkennen' als Wille zur Macht. Er sieht es als Teil der e i n e n Realität, die Wille zur Macht und nichts außerdem ist. Die Frage muß gestellt werden: Ist Nietzsches Seinsthese wahr? Man sollte nicht argumentieren, diese Frage könne an Nietzsche nicht gerichtet werden, da er den Wesensgegensatz von ,wahr' und ,falsch' aufgehoben habe. Es geht mit der Frage ja gerade um das Fundament jener Aufhebung. Von der Tragfähigkeit des Fundamentes darf der Philosophierende sich überzeugen wollen73. Sie wäre dann nicht gegeben, wenn Nietzsches Seinsthese dem Anschein nicht entzogen werden könnte, selbst eine Ubermächtigung des Seins durch das Denken und in diesem durchaus Nietzscheschen Sinn fälschend zu sein. Auf die Klärung, wie es hiermit steht, zielt die Frage nach der Wahrheit von Nietzsches Seinsthese. Es gibt Stellen, an denen Nietzsche selbst mit Bezug auf seine Seinsthese von Gewißheit und von Bewiesenem spricht. Im „Nachlaß" finden sich im Kontext des Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen die Äußerungen: „Wenn die Welt überhaupt erstarren, vertrocknen, absterben, N i c h t s werden könnte, oder wenn sie einen Gleichgewichtszustand erreichen könnte, oder wenn sie überhaupt irgend ein Ziel hätte, das die Dauer, die Unveränderlichkeit, das Ein-für-alle-Mal in sich schlösse (kurz, metaphysisch geredet: wenn das Werden in das Sein oder ins Nichts münden k ö n n t e ) so müßte dieser Zustand erreicht sein. Aber er ist nicht erreicht: woraus f o l g t . . . Das ist unsere einzige Gewißheit, die wir in den Händen halten, um als Correktiv gegen eine große Menge an sich möglicher Welt-Hypothesen zu dienen" (NF VIII 3, 167)74. Und: „daß die Welt n i c h t auf einen Dauerzustand hinauswill, ist das Einzige, w a s b e w i e s e n i s t " (NF VIII 2, 201). Andererseits jedoch begreift Nietzsche gerade auch den Gedanken der ewigen Wiederkehr als einen Vollzug des Willens zur Macht. Im Kontext der früher (S. 170) zitierten Stelle „Daß A l l e s w i e d e r k e h r t , ist die extremste A n n ä h e r u n g e i n e r W e l t d e s W e r d e n s a n d i e d e s S e i n s : G i p f e l d e r B e t r a c h t u n g " heißt es: „Dem Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n — das ist der höchste W i l l e z u r M a c h t " (NF VIII 1, 320). Sicherlich auf seine eigenen philosophischen Grundgedanken beziehen sich ferner die nachgelassenen Verse vom Sommer 1888: „Die Wahrheit — / ein Weib, nichts Besseres: / [ . . . ] Wem giebt
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sie nach? Der Gewalt allein! — / So braucht Gewalt, / seid hart, ihr Weisesten! / ihr müßt sie zwingen / die verschämte W a h r h e i t . . . / zu ihrer Seligkeit / braucht's des Zwanges —" (NF VIII 3, 361 f.). Erinnert man sich an Nietzsches Aufhebung des Wertgegensatzes von ,wahr' und ,falsch', so ist — von Nietzsche selbst her betrachtet — ein ,Gewalt brauchendes', Übermächtigendes philosophisches Denken keineswegs als schlecht abzuschätzen (— es könnte sehr wohl einen positiven, sogar einen eminenten Wert haben"). Höchst fraglich aber muß sein, ob es „das innerste Wesen des Seins" (vgl. S. 167) auch nur annäherungsweise trifft. Die Frage nach der Wahrheit der Seinsthese Nietzsches wurde im vorigen aufgeworfen und näher umrissen. Zu ihrer Beantwortung sei behauptet: Gerade das, was die Seinsthese in ihrer Wahrheit sichern soll und was ihr Spezifikum ausmacht, ihre Absolutheit, führt in die Aporie. Als absolute kann die Seinsthese nicht wahr sein, kann sie dem Verdacht nicht entgehen, selbst Übermächtigend und damit Schein zu sein. Mit Absolutheit ist hier gemeint, daß alles Wille zur Macht ist, die Welt und das Denken, und zwar alles Denken. Ob man diese Absolutheit als gewiß behauptete oder hypothetisch gesetzte 76 ansieht, ist für das anstehende Problem unerheblich. Auch als bloß angenommene bringt sie die Aporie mit sich. Wenn alles Wille zur Macht ist und nichts außerdem, dann gilt das nicht nur für das Sein und das Denken, sondern auch für ihr ,Verhältnis'. Dann müssen die Gedanken, in denen das Sein als Wille zur Macht in der Gestalt der ewigen Wiederkehr des Gleichen gedacht ist, Kraftfeststellungen als Resultate eines Kampfes von Wille und Gegenwille sein77. Zwei Möglichkeiten wären hier zu bedenken: 1. Mit dem Gedanken, daß das Sein Wille zur Macht ist, übermächtigt das Denken (Wille) das Sein (Gegenwille). Das hieße: Das Sein, das Wille zur Macht ist, setzt dem Denken, das es als Willen zur Macht denken will, Widerstand entgegen (,will' sich nicht denken lassen als das, was es doch ist, ,will' also entweder gar nicht oder anders gedacht werden), jedoch unterliegt es dem stärkeren Willen des Denkens. Es wird vom Denken übermächtigt, aber gerade mit dem Resultat, daß ein wahrer Gedanke zustande kommt. Diese Möglichkeit griffe bezüglich des Seins zu einem Konstrukt, dessen Sinn nicht eingesehen werden kann, ganz abgesehen noch von der unzulässigen Anthropomorphisierung darin. 2. Mit dem Gedanken, daß das Sein Wille zur Macht ist, wird das Denken (Gegenwille) vom Sein (Wille) übermächtigt. Das würde bedeuten: Das Denken, das Wille zur Macht ist, will das Sein nicht als Willen zur
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Macht denken; es will das Sein mit einer anderen Seinsthese überwältigen, unterliegt aber dem stärkeren. Willen des Seins. Vom Sein übermächtigt, denkt es den wahren Gedanken, daß das Sein Wille zur Macht ist. Nun macht es innerhalb von Nietzsches Philosophie durchaus einen Sinn, von einem Denken zu sprechen, das, selbst Wille zur Macht, das Sein gerade nicht als Willen zur Macht denken will — als Metaphysik war solches Denken nach Nietzsche langehin wirklich. Das Denken jedoch, das die Gedanken der Seinsthese Nietzsches denkt, ist keineswegs mehr von dieser Art. Und Nietzsches ganze Existenz als Denker (mindestens seit er zu seiner eigenen Philosophie gefunden hat) sowie sein in seinen Schriften hinterlegtes Selbstverständnis verbieten gerade auch Nietzsche selbst eine andere Annahme 78 . Beide erwogenen Möglichkeiten führen zu keiner Lösung. Es bleibt dabei: Das von Nietzsche für seine Ontologie erstrebte Maximum an innerer Konsistenz schlägt in Aporie um. Das aber heißt: Nietzsches Seinsthese steht als absolute in dem Anschein, in dem von ihm bezeichneten Sinn fälschend zu sein. Sie übermächtigt das Sein, dessen ,innerstes Wesen' n i c h t Wille zur Macht ist. Könnte Nietzsche dem entgehen, indem er das Denken der Seinsthese (sowie der Destruktion des traditionellen Wahrheitsbegriffs und einer neuen Wahrheitsthese) als ein andersartiges Denken zuließe 79 ? Das hieße freilich: Die Absolutheit der Seinsthese wäre preisgegeben. Die Frage führt nicht zu einer Lösung, sondern zu neuen Schwierigkeiten: 1. Vieles spricht gegen die Möglichkeit der Unterscheidung von zweierlei Denken innerhalb von Nietzsches Philosophie. a) Die Unterscheidung könnte nicht durch die Behauptung gestützt werden, das Denken, das das Sein als Willen zur Macht denkt, sei (im Gegensatz zum schematisierenden Denken) nicht Übermächtigend, weil es zur Seinsthese gerade dadurch gelange, daß es die fälschenden Schemata als fälschende, als Fiktionen von Bleibendem, durchschaut, sie aus der Realität wieder herauszieht und das Werden übrigbehält. Diese Argumentation enthielte nämlich einen fehlerhaften Zirkel: Die Schemata als fälschend aufzufassen, das setzt die Seinsthese, daß die Realität Werden ist und nichts sonst, schon voraus. b) Viele Äußerungen Nietzsches über das Denken müßten preisgegeben werden, soll zweierlei Denken unterschieden werden. Zwar ließen sich einige Äußerungen Nietzsches über den fälschenden Charakter des Denkens auf das Schematisieren des ,Chaos' und das dadurch ermöglichte ,Erkennen' einschränken 80 . Bei anderen Ausführungen Nietzsches über das
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Denken, die sich gerade auch in der Spätzeit finden, ist das aber nicht möglich. So etwa bei den früher beigezogenen: „Gesetzt, dass nichts Anderes als real,gegeben' ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen ,Realität' hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe — denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander —:" (vgl. S. 142). „Unter jedem Gedanken steckt ein Affekt. J e d e r G e d a n k e , jedes Gefühl, jeder Wille ist n i c h t geboren aus Einem bestimmten Triebe, sondern er ist ein G e s a m t z u s t a n d , eine ganze Oberfläche des ganzen Bewußtseins und resultirt aus der augenblicklichen Macht-Feststellung a l l e r der uns constituirenden Triebe — also des eben herrschenden Triebes sowohl als der ihm gehorchenden oder widerstrebenden" (vgl. S. 143). Von hier aus, so zeigte sich schon, hat Nietzsche auch die ,logische' Entwicklung der Gedanken, ihre innere, von der Sache her geforderte Konsequenz zur Disposition gestellt (vgl. ebd.). In diesem Sinne heißt es im „Nachlaß" auch: „In summa: alles, was bewußt wird, ist eine Enderscheinung, ein Schluß — und verursacht nichts — alles Nacheinander im Bewußtsein ist vollkommen atomistisch" (NF VIII 3, 127). Diese Äußerungen vertrügen sich nicht mit der Ausklammerung des Denkens, das den Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr denkt, aus der Seinsthese 81 . c) Wäre ein echter Gegensatz zwischen dem schematisierenden Denken und dem Denken der Seinsthese anzunehmen, dann dürfte dieses sich nicht derselben Schemata bedienen wie jenes. Nietzsche selbst hat aber bei der Entfaltung seiner philosophischen Grundgedanken auf einige dieser Schemata nicht verzichten können 82 . Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß er dabei solche Begriffe gelegentlich in Anführungszeichen setzt. Eine von dem kritisierten Sinn der Begriffe abweichende, ,uneigentliche' Bedeutung hält Nietzsche selbst nicht durch, was zahlreiche Zitate der vorigen Anmerkung belegen. Wollte man dem entgegenhalten, Nietzsche mache eben von den Schemata für die Entfaltung seiner Grundgedanken nach Art der Analogie Gebrauch, so wäre zu erwidern, daß man sich auf den Denkweg der Analogie (vgl. S. 52 ff.) nicht mit Begriffen begeben kann, deren fälschenden Charakter man behauptet hat. Freilich muß gesehen werden, daß Nietzsche sich des Problems der S p r a c h e gerade auch in bezug auf seine eigene Philosophie sehr wohl bewußt gewesen sein dürfte. Wie erinnerlich sein wird, hat Nietzsche gefordert, man solle sich der Begriffe Ursache, Wirkung, Zahl, Zweck usw. nur „als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, n i c h t der Erklärung" bedienen (vgl. S. 158). Ebenso nach-
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drücklich hat er aber darauf verwiesen, daß uns in eben diesen Begriffen die Sprache gebietet. Es wurde schon einmal zitiert: „ w i r h ö r e n a u f z u d e n k e n , w e n n w i r es n i c h t i n d e m s p r a c h l i c h e n Z w a n g e t h u n w o l l e n , wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn" (vgl. Anm. 19 zu diesem Kap.). Im „Nachlaß" findet sich die wichtige Äußerung: „die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das Werden auszudrücken" ( N F V I I I 2, 278). Unbrauchbar, so wird man Nietzsche verstehen dürfen, sind die Ausdrucksmittel der Sprache auch für ihn selbst, zur Artikulation seiner eigenen Grundgedanken. Wie er denn ebenfalls die folgende Stelle auch auf seine eigene Philosophie bezogen haben dürfte: „Es steht nicht in unserem Belieben, unser Ausdrucksmittel zu verändern: es ist möglich, zu begreifen, in wiefern es bloße Semiotik ist" ( N F V I I I 3, 94) 83 . Es fragt sich aber, ob man sich dabei beruhigen sollte. Wenn wirklich jene Schemata nur (lebensdienliche) sprachliche Konventionen und Fiktionen wären und wenn eine Unterscheidung zwischen dem schematisierenden Denken und dem Denken der Seinsthese gemacht werden könnte, dann müßte d i e s e s Denken sich neue Ausdrucksmittel (und Begriffe) schaffen können. d) Man könnte, die soeben erörterten Probleme zurückstellend, die Unterscheidung von zweierlei Denken in bezug auf das jeweils G e d a c h t e zu machen versuchen, und zwar in folgendem Sinn: Man könnte versuchen, dem schematisierenden Denken als dem Denken des Seienden (Werdenden) das Denken der Seinsthese als Denken des Seins (Werdens) entgegenzustellen. Dabei stieße man aber nur auf eine neue Schwierigkeit: D e r Wille zur Macht (das ,Sein') kann nicht gedacht werden ohne Widerstand, ohne Zuübermächtigendes — das aber führt auch schon auf ,Seiendes', auf einander bekämpfende Willen (,Machtquanten' oder wie immer). Und: Wenn die metaphysische Tradition das ,Sein des Seienden' dachte, so bestand eine Differenz zwischen diesem und dem Seienden (mindestens als gedankliche Scheidung) 84 ; eine solche Differenz entfällt aber bei Nietzsche in eins mit der Differenz von Bleibendem und Werdendem. Einige Stellen mögen belegen, wie bei Nietzsche das Sein (bzw. W e r den) und das Seiende (bzw. Werdende) nicht mehr wirklich zu trennen sind. Nietzsche sagt vom Willen zur Macht, er sei der „Eine" Wille, „der allem Geschehen inhärirt" (vgl. S. 167) 85 . D e r Wille zur Macht ist „der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille" (Za VI 1, 143). Andererseits erklärt sich Nietzsche gegen jeden Monismus: „ G e g e n das Versöhnen-Wollen und die Friedfertigkeit. Dazu gehört auch jeder Versuch von Monismus" ( N F V I I I 1, 131). In diese Richtung tendiert auch die folgende Äußerung:
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„wie? ist vielleicht das Ganze aus lauter unzufriedenen Theilen zusammengesetzt, die allesammt Wünschbarkeiten im Kopf haben? [ . . . ] Es scheint mir wichtig, daß man d a s All, die Einheit los wird, irgend eine Kraft, ein Unbedingtes; man würde nicht umhin können, es als höchste Instanz zu nehmen und G o t t zu taufen. Man m u ( ß ) das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; das, was wir dem Unbekannten (und) Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste, Unsre" ( N F VIII 1, 325). Das konsequent zersplitterte All sind die Willens-Punktationen: „ e s g i e b t k e i n e n W i l l e n : es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren" ( N F VIII 2, 278 f.) 8 '. Es gibt d i e Willen zur Macht im Plural 87 . So gesehen, ist d e r Wille zur Macht die Summe der (miteinander kämpfenden) W i l l e n zur Macht, ist das Sein die Summe des Seienden 88 . Daß Sein und Seiendes bei Nietzsche zusammenfallen, bekundet sich auch darin, wie Nietzsche nahtlos naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit seinen philosophischen Grundgedanken verbindet, z . B . in der Äußerung: „Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die e w i g e W i e d e r k e h r " ( N F V I I I 1, 209). Nietzsche hat ja, wie durch die Nietzsche-Forschung seit längerem erwiesen ist, naturwissenschaftliche Studien betrieben und sie für seine Philosophie fruchtbar gemacht 89 . (Dieses Faktum bleibt angesichts dessen, was Nietzsche über Wahrheit, Erkenntnis und Wissenschaft gesagt hat, merkwürdig genug.) 2. Gesetzt einmal, es schiene möglich, innerhalb von Nietzsches Philosophie zweierlei Denken zu unterscheiden, so müßte Rechenschaft darüber abgelegt werden, wieviel von der Absolutheit der Seinsthese damit aufgegeben wäre. Und da würde sich zeigen, daß nicht nur auf Seiten des Denkens anderes als Wille zur Macht zugelassen wäre, sondern auch auf Seiten des Seins als des Zu-denkenden. Im Verhältnis zu einem Seinsdenken, das nicht Wille zur Macht ist, kann auch das Sein nicht Wille zur Macht sein, denn der Wille zur Macht braucht den Gegenwillen. Jedenfalls im Bezug zum philosophischen Denken wäre das Sein nicht Wille zur Macht. Wille zur Macht zu sein, wäre nur ein Aspekt des Denkens, das auch einen anderen Aspekt zeigt, und nur ein Aspekt des Seins, das auch einen anderen Aspekt hat. Nietzsches Seinsthese i n d e r v o n i h m e r a r b e i t e t e n F o r m ist im Sinne p h i l o s o p h i s c h - t h e o r e t i s c h e r E r k e n n t n i s nicht wahr (vgl. S. 188). Das bedeutet für seine Destruktion des traditionellen Wahrheitsbegriffs und für seine neue Wahrheitsthese: Ihnen fehlt das theoretisch gesicherte Fundament. Ich betone aber hier schon, daß Nietzsches Position
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die geschichtliche Bedeutung für die Wahrheitsfrage deshalb gerade nicht abzusprechen ist. Ehe Nietzsches dichterische Gestaltung seiner Aporie thematisiert wird, sei noch eine Zwischenbemerkung gemacht. Bei der durchgeführten Prüfung, ob innerhalb der Philosophie Nietzsches zweierlei Denken zu unterscheiden möglich wäre, wurden das schematisierende Denken als Wille zur Macht und s e i n Zu-denkendes als Wille zur Macht nicht problematisiert. Jedoch gibt es auch hier ein Problem. Ist das schematisierende Denken einem Werden ausgesetzt, das das Insgesamt aller gegeneinander agierenden und aufeinander reagierenden Willens-Punktationen ist und sonst nichts, dann ist nur schwer begreiflich, wie das schematisierende und überhaupt das vereinfachende Denken zu seinen großen, nicht zuletzt auch in den Wissenschaften sich dokumentierenden Erfolgen gelangen kann. Daß dies Denken nach Nietzsche Wille zur Macht ist, erklärt noch nicht das triumphale Herr-werden über das Werdende in seinem Fließen und seiner Mannigfaltigkeit, die „erhabene Consequenz und Verbundenheit aller Erkenntnisse" (vgl. Anm. 30 zu diesem Kap.) und das Gedeihen der „Thierart" Mensch dank „einer gewissen relativen R i c h t i g k e i t , vor allem R e g e l m ä ß i g k e i t ihrer Wahrnehmungen (so daß sie Erfahrung capitalisiren kann)" (vgl. Anm. 9 zu diesem Kap.). Vom schematisierenden Denken aus gesehen, zeigt sich Nietzsche die Realität als Chaos (vgl. S. 148). Dementsprechend sagt er: „Man findet in den Dingen nichts wieder als was man nicht selbst hineingesteckt hat: dies Kinderspiel, von dem ich nicht gering denken möchte, heißt sich Wissenschaft?" ( N F V I I I 1, 151 f.). Nur von uns Hineingestecktes finden wir in der Realität wieder. „Der Charakter der werdenden Welt" selbst ist „ u n f o r m u l i r b a r " (vgl. S. 149). Daß diese Äußerungen auch innerhalb von Nietzsches Denken zu kurz tragen oder jedenfalls bei Nietzsche selbst nicht unwidersprochen blieben, sei hier noch einmal akzentuiert. Nietzsche spricht positiv von der „ F o r m u l i r b a r k e i t des Geschehens" ( N F VIII 2, 47) und sagt mit Bezug auf die Physiker, daß „die Regelmäßigkeit der Erscheinungen die Anwendung von abkürzenden Formeln erlaubt" ( N F V I I I 1, 192). Er räumt ein „eine Fülle ähnlicher Wesen", die „zu gleicher Zeit hervortreten" ( N F V I I I 2, 81), ja meint, daß „die sämmtlichen Glieder der Fauna eines Erdtheils" „einem Systeme angehören" ( J G B 2 0 / V I 2, 28). Nun bleibt man nicht gänzlich ohne Antwort, wenn man an Nietzsche die Frage richtet, wie man sich denn wohl die M ö g l i c h k e i t regelmäßiger Erscheinungen, identischer Fälle, ähnlicher Wesen begreiflich machen soll.
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Wille zur Macht ist Streben nach Mehrung der Macht. Gesteigerte Macht aber ist (oder kann zumindest sein) organisierte Macht (vgl. N F VIII 2, 282). Nietzsche vermerkt, „daß das S t ä r k e r w e r d e n Ordnungen mit sich bringt, die einem Zweckmäßigkeits-Entwurfe ähnlich sehen" (NF VIII 2, 50)! Unter diesem Aspekt betrachtet, ist die Realität nicht Chaos, kann die Welt von Nietzsche „ein sich selbst gebärendes Kunstwerk" genannt werden (NF VIII 1, 117). Man möchte aber zu bedenken geben: Mag immerhin der Kampf der Willen zur Macht zu Organisation, zu Ordnungen führen, daß es sich dabei um solche Ordnungen handelt, die dem menschlichen Denken das Schematisieren, Vereinfachen, Formulieren des Geschehens möglich machen, bleibt ganz und gar zufällig. Für Nietzsche selbst braucht solche Zufälligkeit freilich kein Problem zu sein. Er könnte darauf verweisen, daß er von den Kategorien behauptet habe, sie „könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit" (vgl. S. 136). Daß Nietzsche an dieser Stelle den Kategorien ,Wahrheit' gerade abspricht, müßte man dann allerdings beiseite lassen. Nietzsche war sich seiner Aporie in der Wahrheitsfrage bewußt und hat sie dichterisch gestaltet. Dies ist in drei Gedichten geschehen. Zwei von ihnen entstanden 1884, eins 1888. Aus diesen Daten geht hervor, daß das Bewußtsein der Aporie Nietzsche begleitet hat gerade in der Schaffensperiode, in der die Aphorismen des „Nachlasses" (NF VIII 1—3) entstanden, daß es ihn also von der Arbeit an ihnen nicht abgehalten hat. (Ob es mitbestimmend gewesen sein könnte dafür, daß aus diesen Aphorismen dann doch kein ,Werk' wurde, vermag ich nicht zu entscheiden.) Die drei Gedichte werden hier zunächst unter den Titeln, in der Reihenfolge und in der Textgestalt behandelt, die sie in der von Nietzsche 1888/89 vorgenommenen und unter dem Titel Dionysos-Dithyramben zum Druck vorbereiteten Gedichtsammlung (neun Gedichte) haben'0. Es sind demnach: Nur Narr! Nur Dichter! (VI 3, 375 ff.), Zwischen Raubvögeln (VI 3, 387 ff.), Klage der Ariadne (VI 3, 396 ff. — im folgenden beziehen sich einfache Seitenangaben bei Gedichtzitaten auf VI 3). Probleme dieses Vorgehens werden nicht übergangen, sondern nur vorerst zurückgestellt. Die Interpretation beschränkt sich auf die für die Wahrheitsfrage interessante Bedeutungsschicht der Gedichte und hebt auch hier nur einiges heraus; sie schöpft also den Gehalt der Gedichte keineswegs aus; das gilt insbesondere für die Klage der Ariadne. Die Lektüre der Gedichte darf für das folgende vorausgesetzt werden.. Nur Narr! Nur Dichter! (1884; vgl. Za VI 1, 367 ff. bzw. 365 ff.) — Das
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Gedicht handelt von jemandem, der sich für der „ W a h r h e i t Freier" (375) hielt und halten möchte und der mit dem Gedanken konfrontiert ist: „ d a s s i c h v e r b a n n t s e i / v o n a l l e r W a h r h e i t ! / N u r Narr! N u r Dichter! . . . " (378). Der Wahrheit Freier läßt sich bestimmen von der Liebe zur Wahrheit; er sucht die Wahrheit, will sie gewinnen. Er erscheint nun aber als ein Narr, der nicht ernst zu nehmen ist, als ein Dichter, der Fiktionen schafft. Mehr noch: Es scheint, daß er n u r ein solcher Narr und Dichter ist, und das heißt eben, daß er »verbannt sei von aller Wahrheit'. Leidvolleres kann es für ihn nicht geben. Es muß freilich gesehen werden, daß d i e s e s Gedicht die Verbannung des Freiers der Wahrheit von aller Wahrheit und sein Leid darüber doch auch relativiert: Am Abend, „wenn schon des Thau's Tröstung / zur Erde niederquillt" (375), e r i n n e r t sich das Ich dieses Gedichtes, wie es „einst" (ebd.) durstete nach Tröstung. Worin die Tröstung bestehen könnte, wird nicht gesagt. Einst jedoch, als sie ersehnt wurde, war das Herz „müde" (ebd.). Im Zustand der Erschöpfung war es wehrlos, als „boshaft abendliche Sonnenblicke" „blendende Sonnen-Gluthblicke, schadenfrohe", es „höhnten" (ebd.). Diese Sonnenblicke sind Gedanken des Ich selbst, gegen die es bei erschöpftem Willen nicht aufzukommen vermag. Warum sie schadenfroh genannt werden können, wird sich zeigen. Zunächst (375 f.) sprechen sie den Freier der Wahrheit auf das schematisierende Denken hin an. Sie halten ihm die ,Enthüllungen' entgegen, die Nietzsches Destruktion des traditionellen Wahrheitsbegriffs ausmachen. Der Wahrheit Freier erscheint als „ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichendes, / das lügen muss, / das wissentlich, willentlich lügen muss" (375) und das dabei auch „sich selbst zur Larve, / sich selbst zur Beute" wird (376). Schadenfreude ist hier möglich, weil das hochgesteckte Ziel der Wahrheitsliebe als Selbstbetrug erscheint. Sie trifft allgemein das menschliche Denken, soweit es das Werdende schematisiert. Und sie könnte Schadenfreude N i e t z s c h e s sein, eine Schadenfreude, gegen die er selbst immun ist. Denn zwar muß auch er, und das „wissentlich", die fälschenden Schemata als lebenfördernde gebrauchen. Das ist für ihn aber nicht schmerzlich, da er den Wertgegensatz von ,wahr' und ,falsch' für sich beseitigt hat. N u r wenn in einem Zustand der Willensermüdung die Umwertung des Wahren nicht voll in Kraft gehalten würde, könnte Nietzsche hier selbst von schadenfrohen ,Sonnenblicken' gequält sein. Anders steht es freilich bezüglich des Fortgangs des Gedichtes (376 f.). Hier gerät ein Freier der Wahrheit in den Verdacht, nur Narr und Dichter zu sein, der die überlieferte Moral als absolute Moral, die Metaphysik als
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Philosophie des Bleibenden und mit ihnen den Bezug des Menschen zum Göttlichen zu destruieren trachtete: „Nicht still, starr, glatt, kalt, / zum Bilde worden, / zur Gottes-Säule, / nicht aufgestellt vor Tempeln, / eines Gottes Thürwart: / nein! feindselig solchen Tugend-Standbildern, [...] dass du in Urwäldern / unter buntzottigen Raubthieren / sündlich gesund und schön und bunt liefest, / mit lüsternen Lefzen, / selig-höhnisch, selighöllisch, selig-blutgierig, / raubend, schleichend, l ü g e n d liefest..." (376). Dieser Freier der Wahrheit wird auch einem Adler verglichen, der sich auf Wesen stürzt, in denen der Wille zur Macht schwach ist (Lämmer, Schafe). „Der du den Menschen schautest / so G o t t als S c h a f —, / den Gott z e r r e i s s e n im Menschen / wie das Schaf im Menschen [...]" (377). Hier beschreibt Nietzsche sein eigenes Denken und nur das. Und gerade auch hinter dieses Denken setzen die »abendlichen Sonnenblicke' ein Fragezeichen mit ihrem „Nur Narr! N u r Dichter!" Aber warum sollte es Lüge sein? Genügt die Antwort, daß es eines Wesens ist mit dem schematisierenden Denken, raubtierhaft wie dieses, Wille zur Macht eben, und deshalb lügend? Sie genügt wohl nicht. Mindestens stünde jenes „ d a s s i c h v e r b a n n t s e i / v o n a l l e r W a h r h e i t ! / N u r Narr! N u r Dicht e r ! . . . " , mit dem das Gedicht schließt, dann ganz unverbunden da. Die Möglichkeit bedenken, von a l l e r Wahrheit verbannt zu sein, heißt, die Wahrheit auch dessen in Frage ziehen, was Nietzsche .konstruktiv' als seine philosophischen Grundgedanken ausgearbeitet hat. Die ,boshaft abendlichen Sonnenblicke' dürften eben auch auf die Wahrheit der Seinsthese zielen, und ihre Schadenfreude bezöge sich dann vor allem darauf, daß a 1 s F o l g e der absoluten Seinsthese, die die Destruktion des traditionellen Wahrheitsbegriffs, der absoluten Moral und der Metaphysik erst voll zu begründen schien, a l l e s von Nietzsche Gedachte dem Anschein anheimfällt, Fiktion, Schein, Täuschung zu sein. — Das Gedicht, wie gesagt, nimmt von der Radikalität dieses Gedankens viel zurück, indem es Erinnerung ist an einen früheren Schwächezustand („so sank ich selber einstmals, / aus meinem Wahrheits-Wahnsinne, / aus meinen Tages-Sehnsüchten, / des Tages müde, krank vom Lichte" — 378). Zwischen Raubvögeln (1888). — Dies vier Jahre später entstandene Gedicht spricht nicht mehr von einem Einst, dessen Schmerz durch Tröstung überwunden oder gemildert ist; es spricht von einem verzweiflungsvollen „Jetzt" (388; 390), das einer stolzeren Vergangenheit entgegengesetzt wird. Von Tröstung weiß nur das im gleichen Zeitraum entstandene und ebenfalls in die Dionysos-Dithyramben aufgenommene Gedicht Die Sonne sinkt (VI 3, 393 ff.), das Entspannung und Gelöstheit nach getanem Lebens-
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werk besingt". Dieses Gedicht ist nicht geeignet, den G e h a l t des Gedichtes Zwischen Raubvögeln zu relativieren. Auf eine andere Weise hat Nietzsche aber auch die Radikalität dieses Gedichtes gemildert: Ein Raubvogel schleudert Zarathustra die bittere Wahrheit entgegen, und unter Raubvögeln sind gemäß dem Schluß des Gedichtes die Kritiker Zarathustras bzw. Nietzsches zu verstehen, die das Rätsel Zarathustra-Nietzsche zu lösen u n d zu e r l e d i g e n begierig sind92. Das gefährlichste ihrer Argumente nimmt Nietzsche in diesem Gedicht vorweg, als i h r Argument, aber doch auch ohne Gegenargument. Das Gedicht darf als ein Selbstgespräch Zarathustras aufgefaßt werden; er selbst läßt auch den Raubvogel zu ihm reden. Dieser spricht Zarathustra primär als Erkennenden und auf eine Selbsterkenntnis hin an". Wie schon angedeutet, werden ein „Jüngst" und ein „Jetzt" einander entgegengestellt. Jüngst zerstörte Zarathustra das metaphysisch-theologisch-moralische Denken der Tradition: „Oh Zarathustra, / grausamster Nimrod! / Jüngst Jäger noch Gottes, / das Fangnetz aller Tugend, / der Pfeil des Bösen!" (388)94. Hingegen: „Jetzt — / von dir selber erjagt" (388), „Jetzt — / einsam mit dir, / zwiesam im eignen Wissen, / zwischen hundert Spiegeln / vor dir selber falsch [ . . . ] S e l b s t k e n n e r ! / S e l b s t h e n k e r ! " (ebd.). Zarathustra hat auch anderes gedacht als die Destruktion jenes überlieferten Denkens — er hat den Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr des Gleichen gedacht. Diese Erkenntnisse, die Zarathustra an die Stelle des Zerstörten setzte, zersetzen sich, so scheint es, in der Selbsterkenntnis Zarathustras. Zwiesam, in sich gespalten, ist er in seinem Wissen. Die Perspektivität, von ihm zum Wesen alles Werdenden erklärt (absolute Seinsthese), spiegelt den Verdacht der Falschheit in sein eigenes Denken hinein. In „eignen Stricken gewürgt" (ebd.) erscheint Zarathustra, und das macht den Raubvogel „schadenfroh" (ebd.). Den radikalsten Ausdruck findet diese Situation Zarathustras in den Worten: „Jetzt — / zwischen zwei Nichtse / eingekrümmt, / ein Fragezeichen, / ein müdes Räthsel — / ein Räthsel für R a u b v ö g e l . . . " (390). Zu dem Nichts, als das sich nach Zarathustra-Nietzsche die übersinnliche Welt enthüllt hat, ist, soll man dem Raubvogel in Zarathustras Selbstgespräch glauben, durch Zarathustras Selbsterkenntnis ein zweites Nichts hinzugekommen, in das sich das von Zarathustra Gedachte aufgelöst hat. Zarathustra erscheint als Fragezeichen zwischen diesen Nichtsen und als Rätsel. Als Fragezeichen könnte er durchaus ein Anfang des Fragens sein; ihm, dem Rätsel, braucht nicht die „Lösung" der Raubvögel (die Liquidation) die gemäßeste Lösung zu sein. Nimmt man dieses Gedicht mit dem zuvor thematisierten zusammen,
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so darf man sagen, daß der Freier der Wahrheit, der im Verdacht steht, nur Narr und Dichter zu sein, ebenderselbe Denker ist, der als Selbsterkenner und Selbsthenker, als Fragezeichen zwischen zwei Nichtsen und Rätsel erscheint. (Übrigens kehren Bilder und Phänomene aus Nur Narr! Nur Dichter! in Zwischen Raubvögeln wieder, so das Bild des Abgrunds — dort der Abgrund, in den sich der Adler hinabstürzt, hier der Abgrund, an dem Zarathustra wie eine Tanne Wurzeln schlug — und die Phänomene Schadenfreude und Müdigkeit.) Klage der Ariadne (erste Gedichtfassung 1884 — zu dem spät hinzugefügten Schluß und anderen Änderungen siehe S. 187; vgl. Za VI 1,309 ff.). — Das Gedicht ist durch zahlreiche dichterische Einzelheiten mit Nur Narr! Nur Dichter! und Zwischen Raubvögeln verbunden: Hohn und Schadenfreude in allen drei Gedichten95; Stolz, der gebrochen wird, sowie Einsamkeit96 in Zwischen Raubvögeln und der Klage der Ariadne; in der Klage der Ariadne Entsprechungen zu den Wunden, dem Frost, der Krankheit, dem Kauern sowie Ähnlichkeit mit der leichenhaften Steifheit Zarathustras in Zwischen Raubvögeln97; Gefangenschaft hier wie dort. Aber: während Zarathustra in Zwischen Raubvögeln sein eigener Gefangener98, von sich „selber erjagt" (388) und Selbsthenker ist und sich in sich selber einschleicht99, findet Ariadne sich als Gefangene eines anderen, gejagt von einem „Jäger hinter Wolken" (396) und gemartert von einem „HenkerGott" (397), der in ihr Herz einzusteigen versucht — wenn auch dies alles sich in ihrem Denken abspielt. So scheint ein enger Zusammenhang zwischen den Gedichten zu bestehen, ohne däß eins die Aussage des anderen bloß wiederholte. Das Gedicht Klage der Ariadne ist ein szenisches Spiel. Die erste Strophe ist eine Art Exposition. Sie führt die Personen der Handlung ein (Ariadne und ihren Gegenspieler), charakterisiert Ariadnes Lage und bezeichnet den Ort, an dem bis auf weiteres die Handlung stattfindet (Ariadnes Denken). Ariadne wähnt sich von niemandem mehr geliebt, verlangt aber nach Liebe („Wer wärmt mich, wer liebt mich noch? / Gebt heisse Hände! / gebt Herzens-Kohlenbecken!" — 396). Gesetzt, sie wäre eins mit dem Freier der Wahrheit aus Nur Narr! Nur Dichter!, dann hieße das: Der Freier der Wahrheit fühlt sich ungeliebt, nicht erhört. Ariadne, statt Liebe zu empfangen, wird von „spitzen eisigen Frostpfeilen" (ebd.) getroffen, die sicher aus derselben Richtung kommen, aus der sie die Liebe ersehnt. Ihr Zustand ist bejammernswert: „Hingestreckt, schaudernd, / Halbtodtem gleich, dem man die Füsse wärmt, / geschüttelt ach! von unbekannten Fiebern" (ebd.);
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„So liege ich, / biege mich, winde mich, gequält / von allen ewigen Martern" (ebd.). Unbekanntes widerfährt ihr; unabsehbar erscheint ihr die Dauer dieser nie zuvor erfahrenen Leiden. Was die Qualen verursacht, wird zuerst als Gedanke angesprochen („von dir gejagt, Gedanke!" — ebd.), sogleich aber weiterhin als: „Unnennbarer! Verhüllter! Entsetzlicher! / Du Jäger hinter Wolken! / Darnieder geblitzt von dir, / du höhnisch Auge, das mich aus Dunklem anblickt! [ . . . ] getroffen / von dir, grausamster Jäger, / du unbekannter — G o t t . . . " (ebd.). Schwierig ist die Deutung dieser Sequenz von Namen, mit denen der Gegenspieler belegt wird. Das Problem wird durch den Anfang und das Ende der Folge aufgeworfen. Handelt es sich nun um einen Gedanken, der unnennbar, verhüllt usw. ist und grausam agiert, oder um einen Gott, oder ist beides eins? Zunächst wird mit dem ,Gedanken' jedenfalls der Ort für die folgende Handlung genannt — Ariadnes Denken eben. Aber der Gedanke ist ja gerade auch die Ursache der Leiden; und diese Ursache heißt schließlich ,unbekannter Gott'. Der Gedanke, der Ariadne jagt, dürfte der Gedanke aller Gedanken sein: das als Wille zur Macht gedachte Sein. Dieser höchste Gedanke kehrt jetzt i m V e r h ä l t n i s z u m D e n k e n eine Seite hervor, die dem Denken neu ist (die es bisher nicht bedachte) und die ihm entsetzlich ist. Indem das Denken, das das Sein als Willen zur Macht gedacht hat, von dem so gedachten Sein (höhnisch und schadenfroh) gemartert wird, wird ihm das Sein unnennbar, verhüllt, unbekannt (liebende Nähe findet nicht statt). Das Ausmaß der Martern läßt deren Ursache als Ubermacht erfahren. Daß jedoch die Ubermacht zuletzt als ein Gott angesprochen wird, ist nur möglich, weil sie etwas übermächtigt, das sich selbst höchste Macht zuschreibt: das Denken, das durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen die Seinsprägung des Werdens und damit den ,höchsten Willen zur Macht' vollzogen hat (vgl. S. 171). In der folgenden Strophe beginnt das Spiel, das hier knapp skizziert werden muß. Ariadne fordert den Gott auf, anstatt „mit zähnestumpfen Pfeilen" (397) bloß zu martern, ihr den Todesstoß zu geben. Das aber gerade will der Gott nicht („Nicht tödten willst du, / nur martern, martern?" — ebd.). Mit seltsamem Gebaren wird er aktiv: Er schleicht heran, drückt Ariadne, lauscht auf ihren Atem und ihr Herz, versucht, mit einer Leiter in ihr Herz und in ihre ,heimlichsten Gedanken einzusteigen' (vgl. 397). Ariadne nennt ihn einen Eifersüchtigen. Offenbar will der Gott sich Liebe „erstehlen" (ebd.), aber Ariadne weist ihn zurück: „Oder soll ich, dem Hunde gleich, / vor dir mich wälzen? / Hingebend, begeistert ausser mir / dir Liebe — zuwedeln? / Umsonst! / Stich weiter! / Grausam-
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ster Stachel! / Kein Hund — dein Wild nur bin ich [ . . . ] deine stolzeste Gefangne" (397 f.). Ariadne verlangt vom Gott, er solle sein (doch schon deutliches) Begehren in Worten artikulieren. Was er sagt, hat man ihren Antworten zu entnehmen. Er will Lösegeld, und zwar kein geringeres als Ariadne selbst und ganz. Für diese Forderung hat sie nur ein Lachen. Sie geht zur Gegenforderung über: Der Gott soll ihr, der „Einsamsten" (398), Liebe geben, er soll sich ihr e r g e b e n („gieb, ja ergieb / grausamster Feind, / mir — d i c h ! . . . " — 398f.). D a zieht sich der Gott zurück („Davon! / D a floh er selber" — 399). Ariadne aber wünscht ihn zurück und ruft ihm ihre Bereitschaft zur Hingabe nach: „komm zurück! / M i t allen deinen Martern! / All meine Thränen laufen / zu dir den Lauf / und meine letzte Herzensflamme / dir glüht sie auf. / O h komm zurück, / mein unbekannter Gott! mein S c h m e r z ! mein letztes G l ü c k ! . . . " (399). Was nun noch folgt, hat Nietzsche später hinzugedichtet; es bleibt noch kurz zurückgestellt. Bis zu einem bestimmten Punkt ist die skizzierte Handlung Kampf von Wille und Gegenwille, Vollzug des Willens zur Macht also. Der Gott versucht, Ariadne zu übermächtigen, und sie setzt ihm ihren Stolz und ihre Gegenforderung entgegen. Jeder der Kämpfenden verlangt vom anderen ,Liebe' als Unterwerfung. Dann aber geschieht, was v o m W i l l e n z u r M a c h t h e r n i c h t m e h r z u b e g r e i f e n ist: Der Gott zieht sich zurück, läßt ab vom Kampf, und d a r a u f h i n bringt Ariadne die Bereitschaft zur Hingabe auf. Nicht vom wirkenden Gegenwillen gezwungen, vielmehr ,frei' läßt sie von ihrem Stolz 100 . Ariadnes Stolz ist (unter der auf die Wahrheitsfrage eingeschränkten Hinsicht der Deutung) eben jenes Sich-mächtig-dünken des Denkens, das im Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen dem Werden den Charakter des Seins aufprägte. Indem Ariadne den Schritt vom Stolz zur Hingabe vollzieht, läßt Nietzsches Seinsthese die Absolutheit hinter sich zurück. Der Denkende versteht sich jetzt so, daß er, wenn sein Denken Wille zur Macht wäre und nichts außerdem, vom Sein verlassen, von der Wahrheit abgeschnitten wäre — u η d er tut von sich aus einen Schritt, der die Seinsthese bezüglich des Denkens einschränkt. Klar ist, daß schon damit das als Wille zur Macht gedachte Sein eine unbekannte, verborgene Dimension hat. Indem Nietzsche diesem Schritt das Sichzurückziehen des ,unbekannten Gottes', sein Ablassen vom Kampf, voraufgehen läßt, akzentuiert er das noch. Wenn die versuchte Interpretation stichhaltig ist, dann hat Nietzsche (auf dem Grund des Bewußtseins seiner Wahrheitsaporie, das in den zuvor
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behandelten Gedichten greifbar wurde) in diesem Gedicht sein Denken bis an eine Grenze vorgetrieben, die er — wenn überhaupt — nur um den Preis einer tiefgreifenden Verwandlung seiner philosophischen Grundgedanken hätte überschreiten können 101 . Ich lege großen Wert auf die Feststellung, daß bis jetzt weder der später hinzugedichtete Schluß des Gedichts noch der Name Ariadne für die Interpretation beansprucht wurde, daß also das bisherige Ergebnis von der in den IV. Teil des Zarathustra eingegangenen Fassung von 1884 getragen wird. Es muß deutlich gesehen werden, daß in dieser Fassung die Bereitschaft des Denkens zur Hingabe den Schluß bildet und der .unbekannte G o t t ' aus seiner Ferne nicht zurückkehrt. Bevor der Schluß, der in der Fassung der Dionysos-Dithyramben hinzugekommen ist, thematisiert wird, sind drei Ergänzungen zum vorigen zu machen. 1. Der Gott erscheint Ariadne als Eifersüchtiger, und sie fragt: „ — worauf doch eifersüchtig?" (397) Eifersüchtig ist der Gott auf Ariadnes übergroße Liebe zu ihrem Wissen (die den nach Ariadnes Liebe verlangenden Gott zum Dieb werden läßt) 102 : Die a b s o l u t e Seinsthese läßt das Sein zu kurz kommen; in ihr geht es dem Erkennenden zu sehr um das Wissen selbst und zu wenig um das Sein. — 2. Der Gott möchte in Ariadnes Herz und ihre ,heimlichsten Gedanken einsteigen' — das heißt sicher zweierlei: D e r Gott will bis ins Innerste des Denkens vordringen, bis an den O r t , wo das Denken das Seinsprinzip gedacht hat. U n d : Er will, daß Ariadne sich etwas zu deutlichem Bewußtsein bringt und eingesteht, was sie schon ahnt, aber vor sich noch geheimhält — hier ist daran zu erinnern, daß das Spiel, soweit es bisher betrachtet wurde, in Ariadnes Denken abläuft und insofern der Vollzug eines Eingeständnisses ist. — 3. Ariadnes Bereitschaft zur Hingabe ist dionysische Bejahung: Der unbekannte Gott, den sie ,mit allen seinen Martern' zurückruft, ist in eins ihr Schmerz und ihr letztes Glück (vgl. S. 184). Daß er ohne Martern zurückkehren könnte, ist ihr offensichtlich unvorstellbar — die Preisgabe des ,Stolzes' dürfte ihr immer schmerzlich bleiben. Und doch wäre seine Rückkehr Glück. Die Interpretation des nur in den Dionysos-Dithyramben vorhandenen Schlusses des Gedichtes steht unter dem Vorbehalt, daß die Forschung für dies Textstück unabweisbare Probleme aufgezeigt hat (die zu nennen sein werden). Niemand soll überredet werden, sich der folgenden Interpretation anzuschließen. Ich glaube allerdings, daß der neue Schluß des Gedichtes mit diesem selbst in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht und als eine dichterische Aussage Nietzsches verstanden werden k a n n . Das Geschehen, das bisher in Ariadnes Denken vorging, tritt nun aus
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diesem heraus. Ariadne hat jetzt einen Gegenspieler außerhalb ihrer. Denken und Sein treten auseinander. Der unbekannte Gott erscheint auf der Szene — als Dionysos103. Nietzsche gibt gleichsam eine Regieanweisung: „Ein Blitz. Dionysos wird in smaragdener Schönheit sichtbar" (399). Der Blitz, hier zur Epiphanie des Dionysos gehörig, verhüllt den Gott zugleich104. Dasselbe tut wohl auch seine Schönheit105. Dionysos ist jetzt selbst gegenwärtig, zugleich aber in der Uberhelle des Blitzes ,nicht zu erkennen'. Er spricht zu Ariadne: „Sei klug, Ariadne! . . . / Du hast kleine Ohren, du hast meine Ohren: / steck ein kluges Wort hinein! — / Muss man sich nicht erst hassen, wenn man sich lieben soll? . . . / I c h b i n d e i n L a b y r i n t h . . . " (399). Mit den Worten „Muss man sich nicht erst hassen" knüpft Dionysos an den vorangegangenen Kampf an106. Der Kampf ist zwar vorüber, aber er gehört zu Dionysos und Ariadne u η d zu ihrem neuen Verhältnis. Das dürfte bedeuten: Der Wille zur Macht i s t e i n A s p e k t des Seins wie auch des Denkens. Und: Die a b s o l u t e Seinsthese und das Durchspielen ihrer Konsequenz sind ein geschichtlicher Durchgang, ein Ende und ein (höchst unbestimmter) Anfang zugleich. Das neue Verhältnis zwischen Dionysos und Ariadne ist ,Liebe'. Ariadne hat die Bereitschaft zur Hingabe aufgebracht und ,frei' sich selbst (ihren Stolz) überwunden. Dionysos antwortet darauf, indem er erscheint, indem er Ariadne seine Nähe gewährt, wenn auch als Verhüllter. Dionysos nennt sich Ariadnes Labyrinth. Mit diesem Ausdruck wird auch an Ariadnes Vorgeschichte erinnert: Ariadne hatte Theseus ein Garnknäuel mit ins Labyrinth gegeben und ihm so ermöglicht, mit Hilfe des abgewickelten Garns aus dem Labyrinth wieder herauszufinden. In dieser Bedeutung steht Ariadne für das schematisierende Denken, das dem Menschen ermöglicht, sich im Chaos der Realität zurechtzufinden und zu überleben. Um d i e s e s Denken ging es hier, im Geschehen zwischen Ariadne und Dionysos, nicht oder höchstens am Rande (Dionysos gehört nicht zu dieser Phase der Vorgeschichte Ariadnes). Indem Dionysos s i c h gegenüber Ariadne zu ihrem Labyrinth erklärt, sagt er ihr etwas Neues. Das Sein ist für das Denken, das eine absolute Seinsthese versucht und als absolute hinter sich gelassen hat, rätselhaft und gefährlich. Ariadne, nun selbst dem Labyrinth ausgesetzt, ist aber zugleich ein Wesen, dem zugetraut werden kann, darin nicht umzukommen. Daß Dionysos sie für ihm selbst gemäß hält, drückt er aus mit den schon zitierten Worten „Sei klug, Ariadne! . . . / Du hast kleine Ohren, du hast meine Ohren:". (Lange Ohren sind bekanntlich ein Merkmal der Esel.) Immer unter dem angedeuteten Vorbehalt läßt sich sagen: Nietzsche
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könnte in dem späten Schluß der Klage der Ariadne jenem Schritt an die Grenze seiner Philosophie, der in dem Gedicht lange schon vollzogen war (vgl. S. 184 f.), einen dazugehörigen weiteren und letzten Schritt hinzugefügt haben. Die vom Gott frei gewährte Gegenwärtigkeit als Verhüllter könnte bedeuten: Das Sein ist nicht nur Wille zur Macht; seine verborgene Dimension (auf die der voraufgegangene Teil des Gedichtes schon geführt hatte) kehrt sich dem Denken zu. Das wäre ermöglicht durch ein gewandeltes Selbstverständnis des Denkenden, der sein Denken nicht mehr als ,Wille zur Macht und nichts außerdem' begreift. — Unbestreitbar ist, daß der hinzugedichtete Schluß der Klage der Ariadne und die gleichzeitige Einführung Ariadnes107 Probleme mit sich bringen. Die Nietzsche-Biographie hat herausgestellt: Der Name Ariadne wird von Nietzsche öfters für Cosima Wagner verwendet108. Der Schluß der Klage der Ariadne ist in den allerletzten Tagen vor Nietzsches geistigem Zusammenbruch geschrieben109. Nietzsche hat an Cosima Wagner einen ,Wahnsinnszettel' gesendet mit dem Inhalt: „Ariadne, ich liebe Dich! Dionysos"110. Nietzsche war stolz auf seine kleinen Ohren; auch Cosima Wagner hatte kleine Ohren und war dafür bekannt111. Für Biographen ergibt sich aus alledem leicht: Der Schluß der Klage der Ariadne ist ohne jede philosophische Relevanz. Dazu ist zu sagen: Ein Gegenbeweis ist wohl nicht zu liefern. Daß immerhin ein Zusammenhang des späten Schlusses mit dem früher verfaßten Gedicht hergestellt und dem Schluß sowie der Einführung Ariadnes ein philosophischer Sinn abgewonnen werden kann, habe ich zu zeigen versucht. Und ich versteige mich jetzt zu der Feststellung, ein Beweis könne auch gegen folgende Erwägungen nicht angetreten werden, nämlich: daß kurz vor dem Ausbruch seiner Geisteskrankheit (die sich schon einige Zeit in ihm vorbereitete, wie längst anerkannt ist) Nietzsche zeitweise zumindest noch klarer Gedanken fähig und auch seiner alten Gabe mächtig gewesen sein könnte, Bedeutungen verschiedenster Ebenen ineinanderspielen zu lassen, und daß vielleicht gerade eine Ahnung des bevorstehenden Endes seiner philosophischen Existenz ihn bestimmt haben könnte, einen äußersten und ,heimlichsten' Gedanken in gedichteter Gestalt zu äußern. — Wie aus früheren Hinweisen schon ersichtlich war, sind zwei der im vorigen behandelten Gedichte im IV. Teil des Zarathustra anzutreffen, die spätere Klage der Ariadne im Kapitel „Der Zauberer" (Za VI 1, 309 ff.), Nur Narr! Nur Dichter! im Kapitel „Das Lied der Schwermuth" (Za VI 1, 365 ff.). Nietzsche stellt im Zarathustra einen engen Zusammenhang zwischen diesen Gedichten her, indem er sie beide vom Zauberer singen läßt.
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Die Lieder handeln in diesem Werk (wie das später verfaßte Gedicht Zwischen Raubvögeln, das Zarathustras Namen nennt) von Zarathustra, der hier zugleich für Nietzsche steht. Aber sie tun es in schillerndem, das Gesungene auch wieder bis zu einem gewissen Grade zurücknehmendem Kontext, so daß das Werk durch sie nicht gesprengt wird und es begreiflich bleibt, daß Nietzsche Zarathustra an seiner Aufgabe unbeirrt festhalten läßt (hierauf komme ich zurück): Der Zauberer ist einer der ,höheren Menschen', die dieses und jenes aus Zarathustras Reden aufgegriffen, alte Bindungen gelöst und sich aufgemacht haben, Zarathustra in seiner Einsamkeit zu besuchen, die ihm aber eben doch nicht gemäß sind112. Der Zauberer überdies ist ein Schauspieler — sein erstes Lied (Wer wärmt mich, wer liebt mich noch?) spielt er Zarathustra vor mit übelsten Übertreibungen der Darstellung — jammernd, nachdem er sich wie ein Tobsüchtiger aufgeführt hat. Zarathustra schlägt schließlich mit einem Stock auf ihn ein, „erregt und finsterblickend" (Za VI 1, 313) — das Lied, eine Versuchung Zarathustras113, hat ihn also sehr wohl getroffen; zugleich aber auch nennt er den Zauberer „Schauspieler", „Falschmünzer", „Lügner aus dem Grunde" (ebd.) und geht dann nach einem längeren Gespräch, während dem der Zauberer immer mehr zur Karikatur Richard Wagners gerät114, „getrösteten Herzens" (Za VI 1, 316) fort. Sein zweites Lied (Bei abgeheilter Luft) trägt der Zauberer in Zarathustras Abwesenheit vor. Daß es ein Lied s e i n e r ,Schwermut' ist115, schafft Distanz zu Zarathustra. Solcher Zurücknahmen ungeachtet h a b e n jedoch die beiden Gedichte im Zarathustra denselben Gehalt wie außerhalb dieses Werks (ausgenommen natürlich den möglichen Sinn des späteren Schlusses der Klage der Ariadne und der Einführung Ariadnes)116. „Ich trachte nach meinem W e r k e " , läßt Nietzsche Zarathustra am Ende des IV. Teils des Zarathustra sagen (Za VI 1, 404). Auch Nietzsche ,trachtete nach seinem Werk' t r o t z des Bewußtseins der Aporie. Darin liegt im Horizont seiner Philosophie kein Widersinn: Nietzsche will und setzt auf die den Menschen verwandelnde Kraft seiner Seinsthese. Mag die Seinsthese als absolute auf dem Feld philosophisch-theoretischer Erkenntnis nicht zu halten sein, so kann sie dennoch als „ A u s d e u t u n g d e r T h a t " 1 1 7 von höchstem Wert sein. Der Mensch, der diese Seinsthese mit ihren Konsequenzen als eine Auslegung des Seins übernähme, nach der es zu l e b e n gilt, wäre auf den Weg gebracht zu einer neuen Wertsetzung, wie Nietzsche sie dem Ubermenschen zutraut. Dies weiter zu bedenken, ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht angezeigt118.
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Zu Nietzsches Wahrheitstheorie als einer Umwendung und Umwertung gehört, daß Nietzsche selbst sich ausdrücklich mit überlieferten Positionen auseinandersetzt (wovon im ersten Abschnitt des Kapitels zu handeln war). Alle in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten Positionen werden von Nietzsches Destruktionsversuch erfaßt. Nietzsche scheint radikaler als Descartes zu zweifeln, kritischer als Kant die Wahrheitsfähigkeit menschlicher Vernunft zu prüfen. Der Satz vom Widerspruch, von Descartes' Zweifel nicht betroffen, von Kant ohne weiteres als hinreichendes Prinzip der Wahrheit analytischer und als negative Bedingung der Wahrheit synthetischer Urteile anerkannt, ist bei Nietzsche nicht wahr und kein Wahrheitskriterium, sondern ein Prinzip, nach dem wir uns die Welt zurechtmachen. Der Durchsichtigkeit der Vernunft für sich selbst, fraglos für Descartes und Kant, setzt Nietzsche die Auffassung entgegen, menschliches Denken werde jederzeit bestimmt von einer undurchschaubaren, bewegten Vielfalt von Begehrungen und Affekten. Damit bringt er auf ganz andere Weise als Kant die Sinnlichkeit ins Spiel — nicht wie Kant als objektive Erkenntnis mit ermöglichend, sondern als Objektivität nicht zulassend. Die Endlichkeit menschlicher Vernunft, der Kant die Grenzen ausmaß, wird von Nietzsche zur Perspektivität radikalisiert. An die Stelle der Gesetzgebung des Verstandes für die Natur bei Kant tritt bei Nietzsche ein Schematisieren, das eine als Chaos anzusprechende Realität mit Fiktionen überzieht; gab es bei Kant transzendentale Wahrheit, so stehen dafür jetzt bei Nietzsche lebenerhaltende und lebenfördernde Irrtümer, denen als lebenerhaltenden und lebenfördernden ein positiver Wert zukommt. Entkräftete Descartes den Zweifel, ein Betrügergott könnte uns mit einer Schein-Welt täuschen, und verwahrte Kant sich gegen den Verdacht, Erkenntnis der Erscheinungen möchte bloßer Schein sein, so mißt Nietzsche dem Schein einen höheren Wert zu als dem ,Wahren', das er möglich macht. Nietzsche bewahrt bei der Entfaltung seiner Wahrheitsthese wesentliche Momente traditioneller Wahrheitstheorien, die jedoch umgedacht sein müssen: 1. Einige Denker der Tradition begriffen das Seiende als wahr. Für Nietzsche ,ist die Welt falsch', hat d a s , w a s i s t , einen falschen Charakter' — als Nicht-festes, Nicht-dauerhaftes, Werdendes (vgl. S. 161)"'. 2. Hier muß ich soeben Erinnertes noch einmal aufgreifen: Kant dachte eine transzendentale Wahrheit. Bei Nietzsche heißt es: Der Erkenntnis „muß ein Wille zum Erkennbar-machen vorangehn, eine Art Werden selbst muß die T ä u s c h u n g d e s S e i e n d e n schaffen" (siehe S. 149; vgl. auch
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6. Kapitel: Nietzsche
S. 162 und S. 136). Die Welt erkennbar machen, bedeutet, dem Menschen in ihr zu leben ermöglichen. (In der Tradition konnten die hier unter Punkt 1 und 2 aufgeführten Momente nicht bei einem Denker nebeneinander auftreten; solange das Seiende als wahr gedacht wurde, erübrigte sich eine transzendentale Wahrheit im Sinne Kants. Nietzsches Umdenken dieser Momente macht es möglich, daß beide zusammen bestehen.) 3. Empirische Wahrheit wird bei Nietzsche zu einer ständig fortschreitenden Ausdichtung der Welt innerhalb des transzendental' vorgegebenen Horizonts (vgl. S. 162). 4. Piaton, Thomas, Descartes und Kant stellten sich die Frage nach dem ermöglichenden Grund von Wahrheit. Kant fand ihn im menschlichen Subjekt, im reinen Verstand. Nietzsche denkt einen Grund der ,scheinbaren Welt'. E r setzt den Menschen als diesen Grund. 5. Kant unterschied Erscheinungen und Dinge an sich selbst; die Dinge an sich selbst erklärte er für unerkennbar, ließ sie aber gleichwohl dafür einstehen, daß Erkenntnis der Erscheinungen nicht Schein ist. Nietzsche unterscheidet Phänomenalität (produzierten Schein) und Realität, bestimmbar als Schein produzierende Wesen, als Aktion und Reaktion von Kraftzentren gemäß ihrer je eigenen Perspektive. Was Nietzsche betrifft, kehrt hier das unter Punkt 4 Gesagte erweitert wieder. — Nietzsche hat seine Destruktion des Wahrheitsbegriffs und der Wahrheitsgründungen der Tradition sowie seine eigene Wahrheitsthese fundiert durch eine absolute Seinsthese (die, sei sie nun als bewiesen oder als Hypothese aufzufassen, in ihrer Absolutheit eine Funktion übernimmt, die den Wahrheitsgründungen durch Beweis bei Descartes und Kant entspricht). Das Durchdenken dieser Zusammenhänge führt in eine Aporie. Hier wird das Schlußkapitel ansetzen.
Schlußkapitel: Zum Problem der Wahrheitsermöglichung nach Nietzsche Nietzsches Wahrheitstheorie war — als Hypothese — geschichtlich möglich, ja geschichtlich konsequent. Zumal Kants Position ließ die Möglichkeit, in der von Nietzsche eingeschlagenen Richtung fortzuschreiten, offen, ja bereitete sie recht eigentlich. Deshalb ist Nietzsche ernst zu nehmen. Das geschah im vorigen Kapitel auch dadurch, daß versucht wurde, seine Aporie, soweit sie in diesen Themenbereich gehört, auszuloten. Nietzsches Aporie macht es möglich, in der Wahrheitsfrage über ihn hinaus oder hinter ihn zurück zu gehen. Erwägt man die Möglichkeit, hinter Nietzsche zurück zu gehen, so ergibt sich die Frage: wohin? Das gerade noch über Kant Gesagte ließe eine Empfehlung, sich ohne weiteres auf Kants Boden zu stellen, wenig sinnvoll erscheinen. Gegen Descartes spricht hier nicht zuletzt, daß die mit ihm einsetzende Entwicklungslinie neuzeitlichen Denkens, für die die Forderungen nach Gewißheit und Vernunftkritik bestimmend waren, schließlich Nietzsches Radikalität gezeitigt hat. Also hieße es, hinter Descartes zurück zu gehen, etwa zu Thomas oder zu Piaton, deren Positionen vor dem Hintergrund neuzeitlicher Schwierigkeiten und Aporien sehr wohl an Faszinationskraft noch gewinnen mögen? Und gälte es, sich vor allem der ontologischen Wahrheit und einem transzendenten Wahrheitsgrund für sie und alle Wahrheit ungebrochen wieder zuzuwenden? Diese Möglichkeit verbietet sich nach meiner Auffasung besonders durch — Kant. Kant hat unübersehbar gemacht, daß die Frage nach der Möglichkeit von Wahrheit auf keinen Grund gebracht werden kann, wenn dabei nicht dem Erkennenden selbst eine wesentliche Funktion zugeschrieben wird. Ich halte die neuzeitliche Wendung ins Subjekt insofern für geschichtlich unumkehrbar, als sie nicht ungeschehen gemacht und als folgenlos ausgegeben werden kann. Andererseits fordern die Grenzen, die diese Wendung ins Subjekt bei Descartes, Kant und Nietzsche hat sichtbar werden lassen, eine Überschreitung des Subjekts. Nietzsches Aporie, so gesehen, macht nur eins möglich: über sie hinaus zu gehen; hinter sie in die Geschichte zurück zu gehen, ist in Wahrheit
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keine Möglichkeit. Meines Erachtens muß — nach Nietzsche — die Frage nach der Wahrheit und ihrer Ermöglichung auf eine .Vermittlung' vorcartesischer und nachcartesischer Ansätze abzielen. Das müßte, da es sich bei den Grundstellungen dieser beiden Traditionsblöcke um Entgegengesetztes handelt, einer völligen Verwandlung gleichkommen. Mit anderen Worten, es ist eine neue, dritte Grundposition anzustreben, die sich insofern der Tradition verdankt, als sie ihren Anstoß aus einer geschichtlichen Entwicklung empfängt und mit der Geschichte, sie verwandelnd, in Verbindung bleibt. Ich mache im folgenden einen kleinen Gehversuch in diese Richtung, der sich übrigens bewußt im Rahmen des in den vorangehenden Kapiteln Erörterten hält, d. h. nur so weit geht, als dieses ein Weiterdenken trägt. Dazu ist zunächst noch einmal an Nietzsche, dann an Kant anzuknüpfen. Es wurde früher (S. 176) gesagt, daß Nietzsches Seinsthese so, wie er sie ausgearbeitet hat, als theoretische Erkenntnis nicht wahr ist, so daß seine Destruktion des traditionellen Wahrheitsbegriffs und seine eigene Wahrheitsthese des theoretisch gesicherten Fundamentes ermangeln. Wenn es demnach Nietzsche nicht gelungen ist, seine Wahrheitsthese mit unumstößlichen Argumenten zu begründen, so ist sie doch ebensowenig d u r c h B e w e i s e zu widerlegen. Das bedeutet nun aber für ein Denken nach Nietzsche, das die Frage nach der Ermöglichung der Wahrheit stellt: Der Weg des Beweisens ist ihm verschlossen. (Dessen inne, mag man sich vergegenwärtigen, daß es auf den hier früher dargestellten geschichtlichen Stationen entweder gar nicht erst versucht wurde oder nicht wirklich gelang, einen Wahrheitsgrund durch Beweis zu denken.) Ist Nietzsches Wahrheitsthese durch Beweis nicht zu widerlegen und kann ein auf Nietzsche folgendes Denken nicht versuchen, einen Wahrheitsgrund mittels Beweis auszumachen, so wird es sich entschieden eine Voraussetzung eingestehen und zueignen müssen: die Voraussetzung, daß die menschliche Vernunft sich Erkenntnis zutrauen muß, um über Wahrheit sinnvoll nachdenken zu können. Diese Voraussetzung teilt es mit der Tradition. Sie liegt schon Piatons S o n n e n g l e i c h n i s zugrunde. Descartes hat sie noch im Zweifeln an den Fundamenten der Erkenntnis aufrechterhalten, und bei ihm zeigte sich, was dann durch Nietzsches Denken bestätigt wurde: Ein schlechthin radikaler Zweifel müßte zur Selbstaufgabe der erkennenden Vernunft führen. Selbst Nietzsche war von der Voraussetzung bestimmt. Nicht einmal seine ,Destruktion' des überlieferten Wahrheitsbegriffes hätte er durchführen können ohne Zutrauen in die menschliche Erkenntnisfähigkeit und ohne daß er seinen Angriff auf den Satz vom
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Widerspruch und auf ,logisches Denken' durch die Tat widerlegte oder jedenfalls einschränkte 1 . (Die Voraussetzung machen müssen, sie sich als solche eingestehen und zueignen, ist freilich etwas anderes, als Erfahrung zum Β e w e i sgrund eines transzendentalen Beweises nehmen, wie Kant es tat.) Die Voraussetzung machen, daß dem Menschen Erkenntnis möglich ist, daß ihm Wahrheit möglich ist, die nicht darin aufgeht bzw. sich nicht darin auflöst, lebensdienlicher Irrtum zu sein, kann nicht heißen: leugnen, daß es ,lebensdienliche' Irrtümer geben mag, und behaupten, daß menschliches Denken und Wille zur Macht überhaupt nicht zusammenzubringen sind. Die Voraussetzung stellt sich wohl Nietzsches Behauptung entgegen, Denken sei fälschender Wille zur Macht und ,nichts außerdem'. Aus Nietzsches Philosophie ist aber nichtsdestoweniger zu lernen, wie dringlich die Aufgabe der Ideologiekritik ist. Daß menschliches Denken oft genug von undurchschauten Begehrungen und Affekten bestimmt wird, die selbstbezüglich Falsches als wahr erscheinen oder ausgeben lassen, ist unbestreitbar. N u r : ein totaler Ideologieverdacht gegen alles schon Gedachte und seine Formen müßte sich selbst aufheben. Nietzsche hat die Perspektivität menschlichen Denkens bis zur schlechthinnigen Relativität (,Unwahrheit') aller Erkenntnisbedingungen radikalisiert. Diese Radikalisierung muß sich in der Durchführung selbst widerlegen. Das bedeutet nicht, daß nicht spezifisch menschliche Perspektiven auf die Realität anzusetzen wären, wie bei Kant geschehen. Und sicher ist Nietzsche Recht zu geben, wenn er sagt: „ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben d ü r f e " (vgl. Anm. 54 zu Kap. 6). Worum es geht, ist die Frage, inwiefern trotzdem Wahrheit menschlicher Erkenntnis beansprucht werden kann. Nietzsche hatte im Zarathustra den „Weisesten" — und vor allem wohl auch Kant — ihren Willen zur Wahrheit als „Wille zur Denkbarkeit alles Seienden" zu verstehen gegeben und gesagt: „Alles Seiende wollt ihr erst denkbar m a c h e n : denn ihr zweifelt mit gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist" (vgl. S. 136). Nimmt man zurück, daß für Nietzsche dieser Wille das Seiende überwältigt („dem Geiste unterthan" macht „als sein Spiegel und Widerbild" — vgl. ebd.), so kann man zweierlei festhalten: 1. Ohne daß wir im Sinne eines Denkbarmachens am Seienden tätig werden, dürfte es für uns wohl nicht denkbar sein, so daß, recht verstanden, durchaus Nietzsches Wort gilt: „Wir gehören zum Charakter der Welt
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[...]! Wir haben keinen Zugang zu ihr als durch uns" (vgl. S. 162). 2. Wir wollen, daß das Seiende denkbar sei, wir haben daran ein Interesse — Erkennen und Erkennbarmachen gehören zu unserem Leben. Das Erkennbarmachenwollen könnte unser elementarster Seinsvollzug sein. Aber nun ist — gegen Nietzsche — die ,andere Seite' ins Spiel zu bringen. Erkennbarmachen des Seienden hieß für Nietzsche, eine ,chaotische', unformulierbare Realität mit lebenerhaltenden und lebenfördernden Irrtümern übermächtigen. Unbegreiflich bleibt dabei der Erfolg, mit dem das geschieht, unbegreiflich bleiben die „erhabene Consequenz und Verbundenheit aller Erkenntnisse", die ,relative Richtigkeit, vor allem Regelmäßigkeit' unserer Wahrnehmungen, „die Regelmäßigkeit der Erscheinungen", die .Wiederkehr identischer Fälle' (vgl. S. 177 und Anm. 82 zu Kap.6, Stichwort Identität). Es scheint, daß eine f o r m u l i e r b a r e Realität angenommen werden muß (Nietzsche selbst tat Schritte in diese Richtung — vgl. S.177f.), daß ohne ,Formulierbarkeit' der Realität kein ,Erkennbarmachen' der Realität durch uns möglich ist. — In diesem Zusammenhang bleibt auch bemerkenswert, daß Nietzsche selbst auf der ontologischen Ebene eine Reihe von Schemata nicht entbehren konnte, denen er hinsichtlich ihrer Funktion, das Seiende denkbar zu machen, einen fälschenden Charakter zuschrieb (vgl. S. 174 f.). Daß solche Schemata sich auf diese Weise gegen Nietzsches radikalen Angriff behaupteten, mag für einen ,Seinsbezug' sprechen, den es zu bedenken gilt. Wir machen die Realität für uns erkennbar durch Schemata (Nietzsche) bzw. durch Kategorien und Grundsätze (Kant), und dann auch durch Methoden (Descartes). Sie alle bringen wir selbst auf. Dabei vollziehen wir keine Angleichung an eine Realität, die ,an sich' schon in diesen Formen vorläge. Und dennoch ist zu sagen: Die Realität selbst muß es mit ermöglichen, daß wir sie in diesen Formen denkbar machen. Sie muß in diesen Formen begegnen können, erscheinen können, sich zeigen können. Sie selbst ermöglicht den Erfolg der von uns an sie herangetragenen Formen. Wenn damit nicht doch wieder eine ,Hinordnung' auf den menschlichen Verstand im Sinne einer Angleichung gemeint sein soll, dann muß auf seiten des Seienden ein Spielraum von Möglichkeiten, von ,Denkbarkeiten' angenommen werden. Weder wird der menschlichen Vernunft ein Denkbarmachen des Seienden in — vom Seienden her gesehen — beliebigen Formen gelingen (und wäre auch der stärkste Wille zur Macht in ihr am Werk), noch können die Formen, mit denen sie erfolgreich ist, als ausschließlich beansprucht werden. Die menschliche Vernunft macht sich die Realität erkennbar, indem sie sie auslegt. Die Formen, in denen das geschieht, sind
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wahr, weil die Realität sich durch sie auslegen läßt. Durch welche anderen Formen sie anderem (andersartigem) Denken auslegbar wäre, bleibt der menschlichen Vernunft verschlossen. Die menschliche Vernunft kann den Spielraum der Auslegungsmöglichkeiten der Realität auf keine Weise in den Griff bekommen. So stellt sich jetzt, nach Nietzsche, ihre Endlichkeit dar. Das Gesagte läßt sich in der Auseinandersetzung mit Kant befestigen. Dazu ist zunächst bei Kants Bestimmung der transzendentalen Wahrheit anzusetzen. Sie bleibt sprechend, wenn ihre ,Einseitigkeit' bedacht und ihre Radikalität gestutzt wird. Es wurde früher zitiert: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir N a t u r nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt" (vgl. Anm. 43 zu Kap. 5). Dem ist noch immer weitgehend zuzustimmen. Für Kant hieß das aber, daß wir der Natur formale „Gesetze a priori vorschreiben" und daß „die Natur sich nach ihnen richten" muß (vgl. ebd.), wodurch zugleich die Kluft zwischen Erscheinungen und Dingen an sich selbst für den Erkennenden unüberbrückbar wurde. Die so verstandene G e s e t z g e b u n g des Verstandes für die Natur ist zurückzunehmen. D i e D i n g e g e b e n d i e M ö g l i c h k e i t , daß wir zur Ermöglichung empirischer Erkenntnis „Ordnung und Regelmäßigkeit" in sie ,hineinlegen', daß wir durch Formen, die wir aus uns selbst schöpfen, Natur für uns konstitutieren. Von der formalen Gesetzgebung des Verstandes für die Natur (konstitutive Prinzipien) hatte Kant mit größter Entschiedenheit die Subjektivität der Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft abgehoben (bloß regulative Prinzipien) 2 . Diese Entgegensetzung war von seiner Position aus unabdingbar. Wenn aber an der Gesetzgebung des Verstandes im strikten kantischen Sinn nicht festgehalten wird, läßt sich auch das Subjektive der Prinzipien der Urteilskraft einschränken und jene Entgegensetzung der Prinzipien aufheben. Die beiden in Rede stehenden Prinzipien der Urteilskraft sind nicht,subjektiver' als jene Formen, die Kant als gesetzgebend für die Natur auffaßte. Auch sie gehören zu den Formen, die wir, Natur für uns konstituierend, zwar in die Dinge hineinlegen, die aber gerade von den Dingen mit ermöglicht sind3. Verschwindet so der Grundunterschied im Prinzipiencharakter der Prinzipien, so bleibt doch freilich der verschiedene Charakter der durch sie ermöglichten empirischen Erkenntnisse festzuhalten: Die Erforschung mechanischer Kausalität kann sich »strengerer' Verfahren bedienen als eine Erforschung der Natur, die die Zweckmäßigkeit zur Leitvorstellung hat.
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Die Annäherung dessen, was Kant als Gesetzgebung des Verstandes einerseits, subjektive Prinzipien der Urteilskraft andererseits scharf getrennt hatte, macht es möglich, aus Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft eine Anleitung zu gewinnen dafür, das Erkennbarmachen des Seienden zu durchleuchten, nämlich aus Kants Einführung des Prinzips der inneren Zweckmäßigkeit. Den Begriff des Zwecks an bestimmte Naturprodukte heranzutragen, dazu haben wir nach Kant a priori keinen Grund und keine Möglichkeit. W i r müssen durch in der Erfahrung gegebene Gegenstände dazu veranlaßt werden. Und wir werden durch sie dazu veranlaßt, indem sie unserer Beobachtung anderes und mehr darbieten, als was nach Gesetzen der mechanischen Kausalität erkennbar ist. Sie stellen uns gewissermaßen vor ein Rätsel, ohne selbst Lösungsmöglichkeiten sehen zu lassen. Darauf antwortet nach Kant unsere Urteilskraft, indem sie a priori das Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit für die Erforschung solcher Naturprodukte aufstellt. Indem die Urteilskraft diesem Prinzip gemäß verfährt, findet sie es durch Erfahrung bestätigt. Es gelingt ihr nämlich nun, sich organisierte Wesen als solche und ihre spezifischen Gesetzmäßigkeiten zum Verständnis zu bringen, was ihr ohne dies Prinzip eben nicht möglich war. Wenn versucht werden soll, diese Beschreibung über Kant hinaus fruchtbar zu machen, muß, damit die Grenzen nicht verwischt werden, zuvor zweierlei herausgehoben werden: 1. Kant hält auch hier strikt an seiner erkenntnistheoretischen Dichotomie von a priori und a posteriori fest. Es scheint aber heute, daß diese Dichotomie nicht mehr ausreicht, um alle Erkenntnisse und den Vollzug ihrer Ermöglichung durchs Subjekt zu erfassen. 2. Kant führt das Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit für Naturprodukte ein in bezug auf einen (dank der transzendentalen Wahrheit) schon etablierten Bereich der Natur, und das heißt, er setzt hier — völlig zu Recht — Gegenstände der Erfahrung schon voraus. In dieser glücklichen Lage ist ein Versuch nicht, der das Denkbarmachen des Seienden überhaupt von Kants Einführung des Prinzips der inneren Zweckmäßigkeit her angeht. Wir wollen das Seiende erkennbar machen; das Erkennbarmachen des Seienden ist ein elementarer Seinsvollzug der menschlichen Gattung, wenn nicht der elementarste (vgl. S. 194). Dieser Seinsvollzug ist durch die anfängliche Rätselhaftigkeit des Seienden mit veranlaßt. Er antwortet auf sie, indem er Erkenntnis ermöglichende Formen sucht und findet. Deren Erfolg ist vom Seienden ermöglicht. Und er bestätigt sie4. Man könnte vielleicht das Ganze dieser Verhältnisse mit dem paradoxen Ausdruck onto-transzendentale Wahrheit bezeichnen, womit angezeigt
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wäre, daß die menschliche Erkenntnis ermöglichende Wahrheit weder ontologisch im Sinne einer vorcartesischen Tradition noch transzendental im Sinne Kants, sondern ein Drittes ist, das beide Seiten, Seiendes und Vernunft, in einer verwandelten Grundstellung zusammenbringt. Aber es liegt nichts an einem neuen Ausdruck. Wichtiger ist es, die Verwandlung deutlicher zu fassen. Sie besagt in der Abhebung von Kant und Nietzsche: Das Seiende ermöglicht mit, daß menschliches Denken es für sich denkbar macht. Sie besagt in der Abhebung von Thomas und Piaton: Die menschliche Vernunft ermöglicht sich die Erkenntnis des Seienden durch ein Denkbarmachen als ein ,Maß-geben', das das ,Empfangen' seiner Möglichkeit ist 5 . Was so konstituiert ist, ist — hält man an den Beschränkungen fest, die in den früheren Kapiteln vorherrschend waren — Natur als das Feld empirischer Erkenntnis. (Ließe man die Beschränkungen beiseite, könnte von Welt gesprochen werden.) Piaton hatte die Wahrheit der Ideen auf die Idee des Guten als ihren Grund hin überschritten und dieser zugeschrieben, daß sie die Ideen und die menschliche Vernunft in ein Joch zusammenspannt. Thomas hatte die Wahrheit des Seienden in den Schöpfergott gegründet und von ihm her die Hinordnung des Seienden auf den menschlichen Verstand gedacht. Für Kants Transzendentalphilosophie konnte es einen transzendenten Wahrheitsgrund nicht mehr geben. (Auch das Fortschreiten der Kritik der teleologischen Urteilskraft zu einer verwandelten Metaphysik setzt ihn nicht wieder ein.) Die von mir versuchsweise onto-transzendental genannte Wahrheit macht eine Rückkehr zu Piaton oder Thomas nicht möglich, und sollte sie die Frage anregen nach einem ,Grund' der Auslegbarkeit des Seienden (d. h. des Spielraums seiner Möglichkeiten, denkbar gemacht zu werden), so wäre diese Frage nicht zwingend gefordert und jedenfalls in dem Rahmen, der dieser Untersuchung gezogen worden ist, nicht zu beantworten. Bei Kant ermöglichte die transzendentale Wahrheit die empirische Wahrheit, und diese war aufzufassen als Ubereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand — oder, mit der älteren Formel ausgedrückt: als Angleichung von Verstand und Sache. Das Denkbarmachen des Seienden, wie es im vorigen umrissen wurde, macht (auch) Wahrheit in diesem Sinn möglich. Hier ist der O r t für die bleibenden Einsichten der Tradition über Wahrheit und Falschheit als Eigenschaften der Rede bzw. des Urteils, wie sie vor allem von Piaton (S. 8 ff.) und Aristoteles (S. 14 ff. u. 20 f. 6 ), aber auch von Thomas (S. 33 ff.) entwickelt wurden. Jedoch hat die Angleichung
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des Verstandes an die Sache nun für eine philosophische Reflexion ein Vorzeichen — das Vorzeichen, selbst nicht durch Angleichung, sondern durch eine Auslegung des Seienden ermöglicht zu sein. Als Angleichung verstandene Wahrheit ist Angleichung des Verstandes an die Sache so, wie die Sache sich aufgrund des vorgängigen Denkbarmachens der Realität zeigt. Von hier aus erscheint es nicht als ganz hoffnungslos, daß sich die Gräben zwischen Erkenntnisvollzügen, die auf empirische Wahrheit im • .Sinne von Angleichung ausgehen, und anders gearteten, z.B. hermeneutischen, möchten überbrücken lassen. Der in diesen Schlußüberlegungen zur Diskussion gestellte Versuch, die Frage nach der Ermöglichung von Wahrheit nach Nietzsche neu (und anders, als seit Nietzsche geschehen) anzugehen, gab von vornherein zu erkennen: er bleibt auf eine bestimmte Weise mit der Tradition verbunden (vgl. S. 192); der Denkvollzug des Beweisens ist ihm versagt; er bedarf der Voraussetzung des Zutrauens zur Möglichkeit menschlicher Erkenntnis. N u n wäre noch hinzuzufügen: Sowenig das Erkennbarmachen des Seienden Wahrheit im Sinne der Angleichung ist, sowenig kann der Versuch, das Erkennbarmachen zu denken, wahr sein im Sinne des traditionellen Begriffs der Wahrheit als Angleichung. Die Denkart dieses Versuchs ist vielmehr verwandt jenem Erkennbarmachen, das eben als ein Auslegen aufzufassen war. Seine Denkstruktur ähnelt — paradoxerweise oder auch nicht — der des transzendentalen Beweises bei Kant (vgl. S. 105 ff. mit Anm. 58 zu Kap. 5).
Anmerkungen Zur 1
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Einleitung
Das gilt mit einer Einschränkung auch für das Nietzsche-Kapitel; die Einschränkung liegt darin, daß Nietzsche das .Erkennen' an unser .praktisches Bedürfnis' bindet (vgl. S. 148) bzw. als Vollzug des Lebens, des Willens zur Macht begreift. Habermas (Wahrheitstheorien) hat im Rahmen einer Konsensustheorie der Wahrheit praktische und theoretische Wahrheit in Parallele zueinander zu bestimmen versucht. Mir scheint, daß dieser Versuch der theoretischen Wahrheit nicht allzu gut bekommen ist. Es ist im Zuge einer Einleitung unmöglich, über die Wahrheitstheorien des 20. Jahrhunderts auch nur halbwegs umfassend zu informieren und in eine verantwortbare Kritik der verschiedenen Positionen einzutreten — das ergäbe ein weiteres Buch. Ich verweise auf Puntels Schrift Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, auf die von Skirbekk herausgegebene Textauswahl Wahrheitstheorien sowie auf die Literaturverzeichnisse in diesen beiden Publikationen. Vollständigkeit konnte auch in diesen Dokumentationen nicht erreicht oder beabsichtigt werden. Leider ist in ihnen, wie in der modernen Diskussion überhaupt, Hans Lipps mit seinen Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik unbeachtet geblieben. Schwierigkeiten für jede derartige Dokumentation muß Heideggers Philosophie nach Sein und Zeit bereiten, die von der Frage nach der Wahrheit (Unverborgenheit) in Bewegung gesetzt und bestimmt ist; hier wird man mit Gewinn beiziehen: Biemel, Martin Heidegger — ferner auch: Tugendhat, Der Wahrheitshegriff bei Husserl und Heidegger, 363 ff. Ich werde im Literaturverzeichnis zur Einleitung außer den in der Einleitung genannten nur solche Autoren und Schriften aufführen, die mir zur Beleuchtung der Problemsituation im 20. Jahrhundert wichtig erscheinen, die aber in den Publikationen von Puntel, Skirbekk, Biemel und Tugendhat nicht verzeichnet sind. Unter diesem Namen werden Wahrheitstheorien, die den in der Tradition vorherrschenden formalen Wahrheitsbegriff zugrunde legen, abgehoben von ihren inzwischen erstarkten Konkurrentinnen, z . B . der Kohärenztheorie und der modernen Konsensustheorie.
Zu K a p i t e l 1 1
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Das folgende bis S. 8 steht unter einem Handikap: Ebenso unentbehrlich wie in der hier vorliegenden Untersuchung war die Behandlung des S o n n e n g l e i c h n i s s e s im PiatonTeil meines Buches Hermeneutische Anthropologie, wo es Gegenstand der Kapitel 5 und 6 ist. Ich kann nicht umhin, dort Gesagtes, dem ich kaum etwas hinzuzufügen habe, hier zu wiederholen. Meiner Hemmung, dies bis in jedes Detail hinein zu tun, überlasse ich mich in der Hoffnung, daß ein Leser, dem das folgende zu knapp geraten scheint, jene Kapitel beizuziehen bereit ist. Das S o n n e n g l e i c h n i s hebt bei dem Bereich des Unvergänglichen auf die Ideen ab (siehe Pol. 507b9f.). Das auf das S o n n e n g l e i c h n i s folgende L i n i e n g l e i c h n i s teilt
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Anmerkungen zu Kapitel 1
diesen Bereich in den Bezirk der Ideen einerseits, der mathematischen Gegenstände andererseits. Das sich anschließende H ö h l e n g l e i c h n i s folgt ihm darin. Heidegger hat diese Bedeutung und Dimension des griechischen Wortes für Wahrheit — aletheia — unübersehbar gemacht. Dabei hätte er sich auf das S o n n e n g l e i c h n i s besonders gut stützen können (vgl. aber Anm. 10 zu diesem Kap.). Was die ,Etymologie' betrifft, war freilich schon seit 1897 in Burys Kommentar zu Piatons Philebos (The Philebus of Plato, 204) zu lesen: "The Platonic use of the term αλήθεια may be illustrated by a reference to its etymological value, άληθήζ is compounded of ά privative + *λήθος ... *λήθος (Doric λάθος, cp. Theocr. 23. 24) means 'oblivion,' 'forgetting,' 'concealing'; the weak stem λαθ appears in λάθρη, 'in concealment,' λανθάνω, etc. It implies also intention or design in the act of concealment: cp. Horn. IL II. 515 . . . So άληθής γυνή, II. XII. 433, means an 'honest woman,' one who hides nothing: and άληθέα μνθήσασθαι and similar formulae (II. VI. 382; XIV. 125, etc.) mean 'frank and candid speech,' in which there is no arriere-pensee, nothing kept back or concealed. Thus the notion of Truth among the Greeks was originally a negative notion: instead of regarding the false as the 'untrue,' they spoke of the true as the 'unfalse', the 'unhidden.' According to the Greek view, the True is that which is not put or kept out of sight, but is always present to view for the mind's eye. It is the 'unforgotten,' the permanent content of memory." (Daß Piatons Auffassung von der Wahrheit von diesen etymologischen Bemerkungen Burys nicht hinreichend umrissen ist, ist klar; das lag an jener Stelle aber auch gar nicht in der Absicht Burys.) In seinem Aufsatz Wahrheit (Platonische Aufsätze, 1912, S. 47) spricht Apelt von der „Etymologie des Wortes α λ ή θ ε ι α . . . , die sich in unseren Wörterbüchern findet, nämlich λήΦειν, λαθείν .verborgen sein' mit dem privativen Alpha. Das Wort bedeutet also subjektiv die Aufrichtigkeit, objektiv genommen das ,Nichtverborgensein', also die Erkenntnis dessen, was ist." (Mit dem letzten Zusatz verkürzt Apelt die Bedeutung des Nichtverborgenseins.) Für „die Etymologie a-letheia = to me lethon" in der Antike verweist Borman (Piaton, 54) auf Sextus Empiricus, Adversus mathematicos, VIII 8, wo Sextus Empiricus über Ainesidemos' Wahrheitsauffassung berichtet, nach der das Wahre das ist, was allen gemeinsam erscheint, so daß es, wie Sextus Empiricus meint, bezeichnet werden kann als das, was allgemeinem Verständnis (koine gnome) nicht verborgen ist; Rankin ( Ά - Λ Η Θ Ε 1 Α in Plato, 51) bringt, sich auf eine Arbeit Greenes beziehend, die Etymologie mit des Sophisten Antiphon Schrift περί Άληΰείας in Zusammenhang. Angesichts der Textstelle Pol. 508el—4 muß die z.B. von Adam (The Republic of Plato 11,58ff.) oder Cross und Woozley (Plato's Republic, 202) vertretene Auffassung, daß Wahrheit einzig dem Licht zuzuordnen ist, als falsch bezeichnet werden. Klar ist allerdings, daß Pol. 508d4 f. eine zweite Bedeutung von Wahrheit ins Spiel bringt. Strittig kann sein, ob d i e s e Bedeutung durch eine Analogie von Wahrheit und Licht zu bedenken gegeben ist, so daß die W i r k s a m k e i t der Idee des Guten Wahrheit genannt wäre, oder ob an der Stelle ein u n m i t t e l b a r e r Bezug von Wahrheit und Idee des Guten hergestellt werden darf. Ich ziehe die zweite Möglichkeit vor (vgl. auch S. 7 f.). Ich stütze mich dabei erstens auf die Parallelität von Pol. 508dl und 4 f.: Die S o n n e bescheint die sichtbaren Dinge (und läßt sie sichtbar sein) — Wahrheit und Sein (on) bescheinen die Ideen (und lassen sie wahr sein und sein). Zweitens nehme ich in Anspruch den Fortgang des Textes (Pol. 508el—4): Die I d e e d e s G u t e n gewährt dem Erkennbaren die Wahrheit, s i e ist die Ursache der Wahrheit, soweit sie erkannt wird. Mit dieser Auffassung entgeht man zwei Schwierigkeiten, die eine Analogie zwischen Licht und Wahrheit / Sein mit sich brächte: 1. Das Licht ist Medium und kann als solches und für sich nicht gesehen werden. Für Wahrheit als Analogon des Lichtes gälte Entsprechendes, so daß hier etwas Wahrheit genannt würde, das nicht gedacht werden kann — eine unplatonische Vorstellung, wie ich meine. Die Sonne indessen kann gesehen werden (vgl. Pol. 508b9 f.), auch wenn längeres Hinsehen uns blendet — und die Idee des Guten kann gedacht werden, wenngleich durch ein andersartiges Denken als das, das die Ideen denkt (vgl. den Fortgang dieses Kapitels). 2. Eine Analogie von Licht und Sein würde
Anmerkungen zu Kapitel 1
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dazu nötigen, ein zusätzliches Sein .zwischen' Ideen und Idee des Guten anzusetzen, wozu die Ontologie der Politeia meines Erachtens nicht berechtigt. Die Schwierigkeit zeigt sich deutlich bei Luther (Wahrheit, Lichta Sehen und Erkennen im Sonnengleichnis von Piatons Politeia, 486): „Die von der Idee des Guten ausgestrahlte übersinnliche Helligkeit nennt P i a t o n αλήθεια, weil sie die Welt der Ideen im Lichte der U n v e r b o r g e n h e i t aufleuchten läßt. Die zusätzliche Bezeichnung τό öv will besagen, daß diese S e i e n d e s in einem ausgezeichneten Sinne darstellt, nämlich erhellendes metaphysisches Sein. Davon wird aber offenbar die eigentliche Lichtquelle und Spenderin des Mediums, die Idee des Guten, unterschieden." Und (a.a.O., 487): „ähnlich verbindet die Idee des Guten durch das Medium eines entbergenden und erhellenden metaphysischen Seienden (Αλήθεια τε και τ ό öv: 508D5) die Ideenwelt mit dem Nous zu einer zusammenwirkenden Einheit und Ganzheit..." Wer Wahrheit in Pol. 508d5 nicht als Analogon von Licht versteht, muß Stellung nehmen zu Pol. 508e6 ff., wo in der Tat das griechische Wort für Licht gebraucht wird und w o Licht und Wahrheit als Entsprechungen aufzutreten scheinen. Daß es sich hier aber um die Wahrheit der Ideen handelt, ergibt sich aus dem Kontext ab 508el. Daher stellt sich eher die Frage, was an dieser Stelle Licht bedeuten kann. Man wird es entweder als ,Licht auf den Dingen' (Leuchten der Farben) verstehen oder annehmen müssen, daß Piaton an dieser Stelle keine strenge Entsprechung von Licht und Wahrheit hergestellt hat. — Jäger („NUS" in Piatons Dialogen, 55 f., Anm.243) macht einen anderen, bedenkenswerten Lösungsvorschlag für Pol. 508d, nämlich das katalämpei an der ersten Stelle, von der Sonne gesagt, als „herableuchten auf, beleuchten" zu verstehen, an der zweiten Stelle aber als „aufleuchten", so daß sich ergibt: „wovon die άλήθεια aufscheint" — oder, von Jäger bevorzugt: „wo άλήθεια und öv aufleuchten". Davon wird aber die Parallelität von dl f. und 4 ff. beeinträchtigt, die von Piaton beabsichtigt zu sein scheint. Deshalb argumentiert Jäger wohl auch, „daß Piaton selber den Unterschied zwischen den beiden Auffassungen des καταλάμπειν nicht ebensosehr empfunden hat wie wir". Sie sind immer-seiend und unveränderlich, setzen aber Ideen voraus, an denen sie teilhaben, ζ. B. die Idee des Dreiecks oder die Idee der Fünf. Diese Stufen können hier unbestimmt bleiben. Insbesondere sie, aber auch das L i n i e n g l e i c h n i s als ganzes sowie sein Bezug zum S o n n e n g l e i c h n i s und vor allem zum H ö h l e n g l e i c h n i s sind in der Forschung ausgiebig diskutiert worden (vgl. Cross u. Woozley, Plato's Republic, 196ff. sowie die in Fleischer, Die zweifache Periagoge in Piatons Höhlengleichnis genannte Literatur). Mittelbar ist sie Seinsgrund auch für alles übrige Seiende. Vgl. Pol. 508bl2f., 509b2—4, ferner im Kontext des H ö h l e n g l e i c h n i s s e s 516b9—c2. Das ist ein Hauptthema in Hirsch, Piatons Weg zum Mythos, und Fleischer, Hermeneutische Anthropologie. Die gegenteilige Behauptung wird immer wieder einmal erhoben, so auch von de Strycker, L'idee du bien dans la „Republique" de Piaton. Hierzu gibt es die überzeugende Entgegnung von de Vogel, Encore une fois: le bien dans la Republique de Piaton. Heidegger zielt in Piatons Lehre von der Wahrheit (PL) „auf das in Piatons Denken Ungesagte" und erblickt es in einer „Wendung in der Bestimmung des Wesens der Wahrheit" (PL 203). Warum Heidegger solch Ungesagtes, in dem „Piatons Lehre von der Wahrheit" bestehen soll (vgl. ebd.), im H ö h l e n g l e i c h n i s sucht und dabei das S o n n e n g l e i c h n i s nur streift, wird begreiflicher, wenn man annimmt, daß das Gesagte des S o n n e n g l e i c h n i s s e s jenem ,Ungesagten' eher widerstreitet. Man könnte sogar eine gewisse strukturelle N ä h e zwischen dem Gehalt des S o n n e n g l e i c h n i s s e s und Heideggers eigenem Denken gegeben sehen, wenn man für das S o n n e n g l e i c h n i s diese Akzente setzt: Die Wahrheit der Ideen ist Unverborgenheit, aletheia; diese Unverborgenheit der Ideen wird erbracht durch eine Wirksamkeit (der Idee des Guten), die ein Analogon des Lichtes ist (ein Geschehen der Lichtung zu denken, ist davon gar nicht so fern); die Idee
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des Guten übertrifft aletheia, Erkennen und Sein, ist selbst eben nicht auf die Weise unverborgen wie die Ideen, also insofern zugleich auch verborgen (und hätte man den Schritt zum Geschehen der Lichtung getan, wäre es nun zum Geschehen von Lichtung und Verbergung nicht mehr weit). Diesen Bemerkungen hätte Heidegger wohl nicht zugestimmt, noch weniger aber der Behauptung, daß bei Piaton Wahrheit als Unverborgenheit und Wahrheit als Aufeinandergerichtetsein von Seiendem und Erkennen (Joch im S o n n e n g l e i c h n i s ) , ja als Richtigkeit problemlos zusammengehören (vgl. auch S. 13). Heidegger versucht am H ö h l e n g l e i c h n i s die (für seine Auffassung vom Anfang der Metaphysik bedeutsame) These festzumachen: „statt der Unverborgenheit drängt ein anderes Wesen der Wahrheit in den Vorrang" (PL 224). Es handelt sich um „den ungesagten Vorgang des Herrwerdens der ιδέα [Idee] über die άλήθεια" (PL 230). Das besagt: „Wahrheit wird zur όρθότης, zur Richtigkeit des Vernehmens und Aussagens" (PL 231). Aber: „In gewisser Weise muß Piaton jedoch die .Wahrheit' noch als Charakter des Seienden festhalten, weil das Seiende als das Anwesende im Erscheinen das Sein hat und dieses die Unverborgenheit mit sich bringt" (ebd.). So kommt Heidegger zu der Diagnose: „Deshalb liegt in Piatons Lehre eine notwendige Zweideutigkeit" (ebd.). „Die Zweideutigkeit offenbart sich in aller Schärfe dadurch, daß von der άλήθεια gehandelt und gesagt und gleichwohl die όρθότης gemeint und als maßgebend gesetzt wird, und dies alles in demselben Gedankengang" (ebd.; vgl. auch PL 232). Man hat eine Passage aus Zur Sache des Denkens (SD) so verstanden, als habe Heidegger dort Unverborgenheit als Bedeutung von aletheia zurückgenommen, und dann könnte man auch meinen, er habe zugleich seine hier soeben vorgeführte These aus Piatons Lehre von der Wahrheit kritisiert bzw. modifiziert (dies dann übrigens so, daß Piaton noch weniger getroffen wäre). Dem eigentümlichen Hin und Her des Textes scheint mir aber eher zu entnehmen zu sein, daß beides nicht der Fall ist. Zwar heißt es: „Der natürliche Begriff von Wahrheit meint nicht Unverborgenheit, auch nicht in der Philosophie der Griechen. Man weist öfter und mit Recht darauf hin, daß schon bei Homer das Wort άληθές immer nur von den verba dicendi, vom Aussagen und deshalb im Sinne der Richtigkeit und Verläßlichkeit gebraucht werde, nicht im Sinne von Unverborgenheit. [Vgl. dagegen Bury, zitiert in Anm. 3 zu diesem Kap.] Allein dieser Hinweis bedeutet zunächst nur, daß weder die Dichter noch der alltägliche Sprachgebrauch, daß nicht einmal die Philosophie sich vor die Aufgabe gestellt sehen zu fragen, inwiefern die Wahrheit, d. h. die Richtigkeit der Aussage nur im Element der Lichtung von Anwesenheit gewährt bleibt. „Im Gesichtskreis dieser Frage muß anerkannt werden, daß die 'Αλήθεια, die Unverborgenheit im Sinne der Lichtung von Anwesenheit sogleich und nur als όρθότης, als die Richtigkeit des Vorstellens und Aussagens erfahren wurde. Dann ist aber auch die Behauptung von einem Wesenswandel der Wahrheit, d. h. von der Unverborgenheit zur Richtigkeit, nicht haltbar. Statt dessen ist zu sagen: Die 'Αλήθεια, als Lichtung von Anwesenheit und Gegenwärtigung im Denken und Sagen, gelangt sogleich in den Hinblick auf όμοίωσις und adaequatio, d. h. in den Hinblick auf Angleichung im Sinne der Übereinstimmung von Vorstellen und Anwesendem" (SD 77f.). Nachher und vorher aber liest man: „Was heißt Grund und Prinzip und gar Prinzip aller Prinzipien? Läßt sich dies jemals zureichend bestimmen, ohne daß wir die 'Αλήθεια griechisch als Unverborgenheit erfahren und sie dann, über das Griechische hinaus, als Lichtung des Sichverbergens denken?" (SD 79) Und: „Wir können diese seltsamerweise in der Philosophie stets unterlassenen Fragen nicht einmal fragen, solange wir nicht erfahren haben, was Parmenides erfahren mußte: die 'Αλήθεια, die Unverborgenheit . . . Wenn ich den Namen 'Αλήθεια hartnäckig durch Unverborgenheit übersetze, dann geschieht dies nicht der Etymologie zuliebe..." (SD 75 f . ) Von einer Auffassung der griechischen aletheia her, die sich auf die Unverborgenheit der Ideen aus dem S o n n e n g l e i c h n i s berufen könnte und mit Burys etymologischer Bestimmung (vgl. Anm. 3 zu diesem Kap.) in Einklang ist, kritisiert Tugendhat (Ti κατά
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τινός, 9) Heideggers These vom „Wandel des Wesens der Wahrheit" folgendermaßen: „Heideggers Bestimmung der αλήθεια als ,Unverborgenheit' trifft also genau, jedoch nur, wenn damit ein schlechthinniges Enthülltsein verstanden wird, das alle Verborgenheit aus sich ausschließt. Wenn Heidegger von seinem eigenen Wahrheitsbegriff der ,Un-Verborgenheit' sagt, zu ihm gehöre ,das Verweigern in der Weise des Verbergens' und die Wahrheit sei nicht,eitel Unverborgenheit, die sich alles Verborgenen entledigt hat' (Holzwege, S. 43), so ist zu beachten, daß genau dieser aus dem zeitlichen Wesen des Seins gedachte Charakter der Wahrheit in der griechischen Ontologie fehlt und fehlen muß. Während Heideggers ,Wahrheit' eine Un-Verborgenheit ist, die die Verborgenheit in sich umgreift, ist die griechische αλήθεια ,eitel Unverborgenheit', die die Verborgenheit aus sich ausschließt ebenso wie das Anwesen die Zeitlichkeit. Alle Bestimmungen, die Piaton und schon Parmenides von der Wahrheit geben, zeugen dafür. Dann läßt sich auch bei Piaton nicht, wie Heidegger in ,Piatons Lehre von der Wahrheit' dartun will, ein ,Wandel des Wesens der Wahrheit' von der αλήθεια zur ιδέα feststellen, sondern die ιδέα ist, wie sich zeigen wird, nichts anderes als der schlechthin adäquate Ausdruck der αλήθεια, ist das öv [Seiende], sofern es nur und einzig von der άλήθεια her bestimmt ist." Heidegger dagegen sagte in seiner Interpretation des H ö h l e n g l e i c h n i s s e s : „Allein für das Unverborgene bleibt nicht nur dieses wesentlich, daß es in irgendeiner Weise das Scheinende zugänglich macht und es in seinem Erscheinen offenhält, sondern daß das Unverborgene stets eine Verborgenheit des Verborgenen überwindet. Das Unverborgene muß einer Verborgenheit entrissen, dieser im gewissen Sinne geraubt werden. Weil für die Griechen anfänglich die Verborgenheit als ein Sichverbergen das Wesen des Seins durchwaltet und somit auch das Seiende in seiner Anwesenheit und Zugänglichkeit (.Wahrheit') bestimmt, deshalb ist das Wort der Griechen für das, was die Römer ,Veritas' und wir ,Wahrheit' nennen, durch das α privativum (ά-λήθεια) ausgezeichnet. Wahrheit bedeutet anfänglich das einer Verborgenheit Abgerungene" (PL 223). Bedenkt man nun weiterhin, daß Heidegger selbst oft genug die aletheia der platonischen Ideen im Sinne von ,eitel Unverborgenheit' umschrieben hat (ζ. B. Nietzsche I, 236), so ergibt sich die Pointe, daß sich der ,Wandel des Wesens der Wahrheit' darstellt als Wandel z u r aletheia in d i e s e m Sinn. Tatsächlich findet sich in einem von Heidegger auf 1941 datierten ,Entwurf' unter dem Titel „Aus der Geschichte des Seins" die Äußerung: „1. Die άλήθεια — kaum wesend und nicht zurückgehend in den Anfang, sondern fortgehend in die bloße Unverborgenheit — kommt unter das Joch der ιδέα" {Nietzsche II, 458). So scheint es denn, daß man weniger einer notwendigen Zweideutigkeit' in „Piatons Lehre von der Wahrheit" als vielmehr einer Doppeldeutigkeit in Heideggers Auffassung der griechischen aletheia gewärtig zu sein hat. — Vgl. zu diesem Komplex auch Jäger, „Nus" in Piatons Dialogen, 90 ff. So stellt sich, grob skizziert, die Einbindung der Untersuchung über die Rede in den Gedankengang des Dialogs dar. (Piaton selbst äußert sich zu ihr Soph. 260b—261a und 264c—d.) Tatsächlich ist sie, wie eine genauere Untersuchung zeigen würde, nicht ganz so nahtlos. Insbesondere dürften sich das Nichtseiende (Verschiedene) aus dem ontologischen Hauptstück und das Nichtseiende (Verschiedene) in der Untersuchung über die Rede nicht zu völliger Ubereinstimmung bringen lassen. Diese Fragen können hier gemäß der beschränkten Absicht, die ich mit der Behandlung der Sophistes-Passage verbinde, vernachlässigt werden. Es muß aber vermerkt werden, daß über das Problem, ob und wenn ja wie die Ontologie des Sophistes in die Untersuchung über die Rede hineinwirkt, eine umfangreiche kontroverse Literatur entstanden ist, in der sich vielfach zugleich das Bedürfnis ausgewirkt hat, Piatons sehr knappe Darlegungen über die Rede nach verschiedenen Richtungen durch (überwiegend logisch motivierte) Fragestellungen zu überschreiten. Die Auseinandersetzungen finden sich unter anderen in Arbeiten von Cornford, Hackforth, Ackrill, Hamlyn, Bluck, Xenakis, Moravcsik, Gulley, Runciman, Kamiah, Lorenz und Mittelstraß, Philip, Detel. Ich verweise auf die kritischen Literaturberichte in Lorenz u. Mittelstraß, Theaitetos fliegt, 114 ff. und in Detel, Piatons Beschreibung des falschen Satzes
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im Theätet und Sophistes, 19 ff. Von neueren Aufsätzen wären die von Keyt, Kostmän, Bondeson und Sayre zu nennen. Der Platon-Interpret wird diese Arbeiten mit unterschiedlichem Gewinn lesen. — Die folgende Darstellung muß vor dem Hintergrund jener vielfältigen Anstrengungen sehr schlicht erscheinen, nimmt sie die Thematik doch weitgehend auf den Stand des in dem zugrunde gelegten Textstück von Piaton Behandelten zurück. Daß sie Entscheidungen impliziert, dürfte gleichwohl klar sein. Piaton verwendet in diesem Zusammenhang die Ausdrücke diänoia, doxa und phantasia. Diänoia und doxa wurden kurz zuvor nicht unterschieden, konnten vielmehr füreinander eintreten (siehe Soph. 260bl0—c4); beider Bedeutung kann dann mit „Gedanke" wiedergegeben werden. In der ausführlicheren Abhebung des Selbstgesprächs der Seele von der Rede (Soph. 263d7—264b3 — vgl. Piaton, Theait. 187a und 189e4—190a7) wird hingegen doxa als Abschluß der Denkbewegung von der diänoia abgesetzt; doxa bedeutet jetzt „Meinung", „Urteil" — diänoia „Denken". Als phantasia („Vorstellung") ist die Vereinigung (symmeixis) von Wahrnehmung und doxa (Meinung, Urteil) zu verstehen (Soph. 264bl f. — vgl. Cornford, Plato's theory of knowledge, 319 f.). Taylor (The Sophist and the Statesman, 66 f.) schreibt dazu: „Plato is the first writer in whom this elementary distinction of 'parts of speech' occurs." (Entsprechend schon Campbell, The Sophistes and Politicus of Plato, LXXXIII.) Schon Uphues (Die Definition des Satzes, 49) bemerkte dazu: „Offenbar nämlich hat PI a t o n übersehen, dass im Griechischen wie im Lateinischen jede finite Verbalform einen vollständigen ganzen Satz bildet, und so sind denn die aus persönlichen Pronomen und Verben gebildeten Sätze von seiner Betrachtung ausgeschlossen." Daß Piaton jenen grammatischen Tatbestand übersehen haben sollte, kommt mir wenig wahrscheinlich vor. Wenn er dennoch eine gänzlich auf sich gestellte finite Verbalform offensichtlich nicht als R e d e gelten läßt, so wohl aus dem Grund, weil sie die Bedingung nicht voll erfüllen würde, Rede v o n e t w a s zu sein (siehe S. 10). Eine finite Verbalform, die sich nicht auf eine vorangegangene Rede im platonischen Sinn zurückbezieht und zu der auch nicht ,in Gedanken' ein ,Handelnder' hinzugefügt wird, ist allzu unbestimmt, um Piatons Anforderungen an eine Rede zu genügen. Daran zeigt sich, daß mit der Rede als Zusammenfügung eine höhere Ebene des Kundmachens betreten wird als die, auf der ihre Elemente (Hauptwort, Zeitwort) etwas kundmachen, und daß Zusammenfügung hier anderes ist als bloße Addition. Vgl. S. 15. Ich beziehe diese Stelle auf die Dihairesis (das platonische Verfahren der Wesenserfassung — vgl. Anm. 23 zu diesem Kap.), bei der auf jeder Einteilungsstufe die Glieder gegeneinander Nichtseiende sind. Wenn diese Auffassung der Stelle richtig ist, ist hier ausgesprochen, daß die Dihairesis von der Bestimmung der Rede umfaßt ist (auf den Sachverhalt komme ich zurück). Wer den Bezug der Stelle zur Dihairesis nicht gegeben sähe und sie dahin verstände, daß sie nur ganz allgemein das Sein (ousia) eines Seienden oder Nichtseienden gegen Handeln und Nichthandeln im engeren Sinn abhöbe, müßte meines Erachtens im ,Sein des Nichtseienden' einen Vorgriff Piatons auf die falsche Rede erblicken, der mir der Gedankenführung des Textzusammenhangs zu widerstreben scheint. In der Ausführung werden ,über etwas' (peri mit Genitiv) und ,νοή etwas' (sowie Entsprechungen zu ihnen) gebraucht; sie treten zeitweise zusammen auf, zeitweise im Wechsel. Die beiden im folgenden zitierten Beispiele reden ebensowohl über Theaitetos wie von Theaitetos. Fragt man nach der Differenz, so legt sich nahe, das Worüber der Rede als das grammatische Subjekt bzw. den vom onoma genannten ,Handelnden' zu verstehen (in den Beispielen:,Theaitetos'), das Wovon der Rede als Sachverhalt (in den Beispielen: ,sitzender Theaitetos', .fliegender Theaitetos'). Andere Auffassungen wurden vertreten, u.a.: Lorenz u. Mittelstraß, Theaitetos fliegt, 146: „Von einer Sache reden und über eine Sache reden unterscheiden sich in Piatons Beispiel darin, daß zunächst von Theaitetos gesagt wird, er sei Mensch (d. i. Theaitetos wird als Mensch vorgestellt), während anschließend über den Menschen Theaitetos gesagt wird, er sitze oder fliege." — Detel, Piatons Beschreibung des
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falschen Satzes im Theätet und Sophistes, 100: „Was mit,τίνος', also dem, worauf sich jeder Satz bezieht, gemeint ist, läßt sich der Reaktion Theätets auf den Beispielsatz ,Theätet sitzt' entnehmen (263a2 ff.). Dieser Satz bezieht sich auf Theätet (263a5) und nicht etwa auf den Sachverhalt, daß Theätet sitzt.. Zu Reden über Fiktives siehe Anm. 28 zu diesem Kap. Diese von mir hinzugefügte Erläuterung könnte man durchaus ersetzen durch die andere: Ohne Zweifel ist die Idee des Fliegens. Theaitetos hat an der Idee des Fliegens nicht teil. Vgl. Anm. 28 zu diesem Kap. Eine falsche v e r n e i n e n d e Rede (etwa ,Theaitetos sitzt nicht', gesagt, während Theaitetos sitzt) sagt Seiendes (die Verbindung von ,Theaitetos' und .sitzen', die ist) als nichtseiend, Selbes als Verschiedenes. Diese Bestimmung würde es erlauben, auch sprachliche Ausdrucksformen wie die Bitte oder den Befehl als Rede im platonischen Sinn aufzufassen, wenn sie nur ein Hauptwort und ein Zeitwort verbinden. Da Piaton jedoch Wahrheit oder Falschheit als notwendige Beschaffenheit jeder Rede ansieht und Wahrheit als Übereinstimmung von Rede und Sache versteht, könnte er Äußerungen wie Bitte oder Befehl nicht als Arten der Rede bestimmen. Anders steht es bei Aristoteles, vgl. S. 15 f. Auch die falsche Rede gibt etwas zu verstehen, macht etwas kund. Nur dadurch kann sie falsch sein. Eine Aneinanderreihung von Wörtern wie „geht, läuft, schläft" oder „Löwe, Hirsch, Pferd" ist nicht einmal falsch. Vgl. auch Soph. 263c9—11. Uber das Verfahren der Dihairesis habe ich Hermeneutische Anthropologie, Kap. 9 sowie S. 183 f. gehandelt. Ich beschränke mich daher hier auf wenige Hinweise. — „Dihairesis" bedeutet Trennung, Einteilung. Soll das Wesen einer Sache bestimmt werden, so ist zunächst die Gattung zu fassen, die dieser Sache mit allem ihr Verwandten gemeinsam ist. Schrittweise und kontinuierlich wird dann diese Gattung in Arten zergliedert. Genauer gesagt: Bei jedem Einteilungsschritt ist zu fragen, in welche der gewonnenen Arten das Zubestimmende zu setzen ist. Diese Art wird dann weiter eingeteilt, die andere (oder die anderen) läßt man beiseite. Schließlich kommt das Einteilen bei einer unteilbaren Art an. Dann gilt es noch, alle Arten, in die die zu bestimmende Sache im Laufe der Einteilung zu setzen war, in ihrer geordneten Reihenfolge in eins zusammenzusehen. Das so Zusammengefaßte ist das gesuchte Wesen. — Der Dihairesis kann auch eine andere Aufgabe als die der Wesensbestimmung zukommen, die Aufgabe, eine Gattung v o l l s t ä n d i g in ihre Arten zu zergliedern; dann zeigt sich, welche und wieviele Arten diese Gattung umschließt. Vgl. etwa Soph. 262d6, 262el2f., 263d3. Wo in der Rede keine Synthesis statthat, ergeht sich der Redende in sinnlosen Tautologien — siehe Soph. 251 a8—c6. Auch ein Urteil, in dem wir gemäß geläufigem Verständnis ,das Besondere unter das Allgemeine subsumieren' (nach Kant das Geschäft der bestimmenden Urteilskraft), muß bei Piaton als synthetisch aufgefaßt werden, weil es Teilhabe aussagt, zu der gerade auch Verschiedensein gehört. Siehe nochmals die in der vorigen Anm. angegebene Stelle Soph. 262el2f. Für die verneinende Rede sind die Bestimmungen entsprechend abzuwandeln. Auch sie ist synthetisch' — sie trennt, sagt Verschiedensein von Seiendem. Siehe auch Soph. 259e5f. Die Rede „Theaitetos sitzt" kann, von der ontologischen Ebene des Sophistes aus gesehen, nur wahr sein, wenn Theaitetos teilhat an einer Idee, die sich mit der Idee des Sitzens verbindet. Es dürfte dieselbe Idee sein, die sich auch mit den Ideen des Gehens, Stehens, Liegens, keinesfalls aber mit der Idee des Fliegens verbindet. Interpreten, die Piaton in diesem Punkt so oder ähnlich verstehen, gehen hier mit großer Sicherheit auf die Idee des M e n s c h e n zu, die dann als das Wesen des Menschen aufgefaßt werden müßte. Sie übersehen, daß es für Piaton gerade diese Idee nicht gibt, und begeben sich in bedenkliche Nähe zur fehlschlagenden ersten Dihairesis in Piatons Politikos, da ja immerhin auch andere Lebewesen sitzen können, z.B. Affen, Hunde, Katzen. Für die schlichte Rede ,Theaitetos sitzt' braucht bei Piaton das Wesen des Menschen nicht bemüht zu werdendes genügt die
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Idee eines Lebewesens von bestimmtem Körperbau. Schwieriger wäre es mit Piatons Beispiel „Der Mensch lernt" (vgl. S. 9 f.), aber auch hier ließe sich eine Lösung denken. — Daß die im Sophistes gedachte Wahrheit der Rede nicht hinreicht für Piatons Anthropologie, ist hoffentlich deutlich durch den Platon-Teil meiner Hermeneutischen Anthropologie. Auch (bejahende) Existentialurteile müßten und könnten von Piaton auf der Denkebene des Sophistes als durch Ideenverbindung ermöglicht gedacht werden, da das Seiende ja eine der obersten Gattungen (genos, eidos) ist. Ich sehe daher nicht die von Runciman, Plato's later epistemology, 113, vermerkte Schwierigkeit: "The only difficult case is such a sentence as οδε ό 'ίππος εστίν [dieses Pferd ist]. Plato does not anywhere discuss such a case, and it may never have occurred to him. But it may perhaps be cited as a further argument against his having distinguished the existential sense of είναι [sein]. Such a use of είναι he might have argued to be incomplete . . . and therefore not yet to assert a relation between Forms." Schließlich: Nennt das Hauptwort etwas Fiktives (z.B. ein Fabelwesen oder den erdichteten Helden eines Epos), so kann eine (bejahende) Rede über dieses Genannte im Sinne des im Sophistes gedachten Wahrheitsbegriffs nicht wahr sein, da sie keine seiende Verbindung von Ideen sagt oder mitsagt. Darüber, ob hiervon die Frage nach der möglichen Wahrheit der Dichtung betroffen sein könnte, wird man sich nicht beunruhigen müssen, denn solche Wahrheit könnte von der Wahrheit der Rede (des Urteils) her ohnehin nicht verstanden werden. (Daß sie in Piaton nicht jederzeit einen engagierten Sachwalter gehabt hätte, ist freilich auch wahr.) (Vgl. dazu Anm. 32 zu diesem Kap.). Anders sieht es Volkmann-Schluck (Wahrheit und Schönheit, 23), wenn er im Zusammenhang einer Überlegung zu Piatons Sophistes mit Bezug auf die Wesensbestimmung schreibt: „Es ist aber klar, dass dieses Vereinigen und Trennen sich nicht nach solchem richten kann, das als schon Offenkundiges vorliegt; denn durch das Vereinigen und Trennen gelangt ja erst das in die Sicht, was ein Seiendes in seinem Wesen ist. Genauer gesagt: in der Bewegung des Einigens und Trennens werden die Ideen aus ihren Herkünften erst gebildet, dergestalt, dass die Ideenbildung zugleich den Blick der Seele für das Wesen des Seienden öffnet. Die der Ideenbildung zugehörige Wahrheit kann daher selbst nicht die Richtigkeit als Angleichung des Logos an die Sache sein." Das bedeutet für Volkmann-Schluck aber nicht, daß Richtigkeit und Wesensbestimmung gar nichts miteinander zu tun haben. Er fährt nämlich fort: „Da die Ideen-bildende Wesenserkenntnis aber das zu Erkennende immer nur aus dem Mitsehen mit anderem erfassen kann, kommt es auf das Innehalten der Richtung auf das jeweils zu Erkennende entscheidend mit an. Insofern gehört die Richtigkeit zur Wahrheit der Wesenserkenntnis selbst, aber sie macht diese selbst nicht aus" (ebd.). — Volkmann-Schluck lenkt unmittelbar anschließend die Aufmerksamkeit auf die für die Wahrheitsproblematik interessante Stelle Soph. 228cl ff. Piaton denkt dort das Erkennenwollen als eine Bewegung auf ein Ziel hin bzw. als Aufbruch hin zur Wahrheit, das Irren aber als (unfreiwilliges) Vorbeiirren am Ziel und deshalb als Schlechtigkeit der Seele in der Gestalt der Maß-losigkeit (ametria), der Häßlichkeit. Volkmann-Schluck bestimmt von hier aus die „Wesensart des Zusammenseins von Seele und Sein" als „die massbestimmte Zusammenstimmung von Seele und Sein, welche in eins und zumal das Seiende in seinem Wesen erscheinen und die Seele das Wesen des Seienden sehen lässt. Die Schönheit, das aus sich selbst Hervorscheinende, lässt das Unterschiedene aus seiner massbestimmten Zusammenstimmung in sein Eigenes gelangen: das Seiende in die Offenbarkeit seines Wesens, die Seele in das Sehen des Wesens" (a.a.O., 25). (Hier wird man sehr an das erinnert, was Piaton im S o n n e n g l e i c h n i s unter dem Namen des Guten dachte.) Die „Schönheit, aus welcher die Wahrheit ihre Herkunft hat" (ebd.), wird von Volkmann-Schluck dann durchaus im Sinne von aletheia weiterbedacht, wobei Heideggers eigener aletheia-Begriff leitend ist und seine Beurteilung der platonischen ,Lehre von der Wahrheit' übernommen wird (vgl. a.a.O., 27f.). Eine Ausnahme hiervon liegt bei der in der vorvorigen Anm. erwähnten Dihairesis des
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Politikos vor: Die Dihairesis wird ,richtig' durchgeführt und entfernt sich doch von einem bestimmten Einteilungsschritt ab immer weiter von dem zu bestimmenden Wesen. Sie endet grotesk und führt in die Aporie, wodurch sich bekundet, daß angesichts der zu denkenden Sache das Verfahren als solches an eine Grenze gestoßen ist. Vgl. Fleischer, Hermeneutische Anthropologie, 148 ff. Vgl. auch Soph. 260a6f. — der Rede beraubt werden, hieße, der Philosophie beraubt werden. Dieses Kapitel wurde, insbesondere im Blick auf seine Funktion für die ganze vorliegende Untersuchung, auf die Darbietung weniger, wenngleich entscheidender Grundgedanken Piatons zur Wahrheitsfrage beschränkt. Dabei mußte anderes, das Piaton wichtig war und für seine Philosophie eigentümlich ist, zurücktreten. Dazu wenige Hinweise: Daß die Wahrheit (Unverborgenheit) der Ideen den Irrtum menschlicher Erkenntnis nicht ausschließt, ließ sich der Erörterung des Sophistes entnehmen. Die Wahrheit der Ideen ist die Erkennbarkeit der Ideen für unsere Vernunft, hat ihr Erkanntsein aber nicht gleichsam von selbst zur Folge, wenn nur unsere Vernunft überhaupt tätig wird, um die Ideen zu erkennen. Piaton hat darüber hinaus (vor allem im Phaidros) zu verstehen gegeben, daß die menschliche Vernunft im Erkennen hinter der göttlichen Schau der Ideen immer zurückbleibt. Mit größter Anstrengung erinnert sie sich im Leben an das vorgeburtlich von ihr Geschaute und nähert sich ihm an, so weit sie vermag. Von hier aus darf die Wahrheit (Übereinstimmung, Richtigkeit) der Rede nicht als schlechthinnige Adäquation verstanden werden. Und wenn das S o n n e n g l e i c h n i s der menschlichen Vernunft von der Idee des Guten Kraft zufließen sieht, so ist damit nicht nur nicht gesagt, daß die menschliche Vernunft eigener Anstrengung überhoben sei. Vielmehr macht das alsbald auf dies Gleichnis folgende H ö h l e n g l e i c h n i s klar, daß jeder Mensch zunächst im Zustand haltlosen Meinens ist und daß ohne eine von der Paideia (.Bildung') vollzogene Umwendung der Seele die Idee des Guten in der menschlichen Vernunft kaum wirksam werden kann, weder als Kraft spendend noch als die Vernunft auf die Ideen richtend (Joch). Vgl. zu diesen Gedankenkomplexen: Fleischer, Hermeneutische Anthropologie, 37f. und 111—114 sowie Zum Wesen der Paideia in Piatons Staat, 77 f.
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Die Schrift Peri hermeneias ist eine frühe Schrift des Aristoteles (vgl. Düring, Aristoteles, 49, aber auch Anm. 12 zu diesem Kap.). Buch 9, Kap. 10 der Metaphysik ist Teil der geschlossenen Abhandlung, die von den Büchern 7—9 gebildet und, wie auch Buch 6, von der Forschung verhältnismäßig spät datiert wird (vgl. Düring, a. a. O., 52). Zur Datierung von Buch 5, jenes sogenannten Begriffskatalogs, den Düring ein „Lexikon der philosophischen Terminologie" nennt (a. a. O., 593), schreibt Düring: „Dieses Lexikon wurde immerfort revidiert, so daß es Stücke sowohl aus der Frühzeit als aus der Spätzeit des Aristoteles enthält" (ebd.). Buch 2, ein Fragment, gilt als Vorlesungsnachschrift des Pasikles von Rhodos, eines Schülers des Aristoteles und Neffen des Eudemos von Rhodos (vgl. Jaeger, Aristoteles, 174; Ross, Kommentar zu diesem Buch, 213). „Alpha elatton ist nach Sprache und Inhalt gut aristotelisch" (Düring, a.a.O., 592). Das Buch dürfte früh zu datieren sein. — Zum Problem der relativen Chronologie der in der Metaphysik zusammengefaßten Schriften äußert Düring sich so: „Über die relative Chronologie dieser Schriften gibt es so viele Ansichten, wie es Kenner der aristotelischen Metaphysik g i b t . . . Niemand gibt sich heute der Illusion hin, daß es möglich wäre, eine endgültig richtige relative Chronologie festzustellen. Es gibt nur mögliche und unmögliche Lösungen" (a. a. O., 593). Die in den Kapiteln 1, 2 und 4 enthaltenen sprachphilosophischen Thesen bleiben hier unberücksichtigt. Zu ihnen, ihrem Bezug zur damaligen Sprachphilosophie und der in ihnen
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enthaltenen Stellungnahme zu Piaton vgl. Düring, Aristoteles, 64 ff. Anders als Piaton bezieht Aristoteles auch das einzelne Wort (Hauptwort oder Zeitwort) bei dieser Unterscheidung mit ein. 4 Das ist durchaus auch im Sinne Piatons gesprochen, der statt dessen die A n e i n a n d e r r e i h u n g nur von Hauptwörtern oder nur von Zeitwörtern in den Blick rückte. 5 Auch das ist im Einklang mit Piaton; erst die Aneinanderreihung bloß von Hauptwörtern oder bloß von Zeitwörtern zeigt nichts mehr an, gibt nichts mehr zu verstehen. 6 Aristoteles erörtert an Beispielen zwei Fälle, die gegen das Gesagte zu sprechen scheinen. 1. Ist nicht der Eigenname Kallippos zusammengesetzt aus kalos (schön) und hippos (Pferd), und bedeuten nicht diese Teile jeder für sich etwas? Darauf ist zu antworten: In dem Eigennamen Kallippos bedeuten diese Teile gerade nicht mehr, was sie sonst je für sich bedeuten. 2. Wie steht es aber mit einem zusammengesetzten Hauptwort, das kein Eigenname ist, ζ. B. mit „Piratenschiff"? Hier kann man nicht sagen, daß die Bedeutung der Teile verschwindet. Dennoch will hier kein Teil getrennt und für sich selbst etwas anzeigen. 7 Das Ausgeführte ergänzend, bezeichnet Aristoteles, was er nicht als Hauptwort verstanden wissen will: 1. betrifft das mit „nicht" verbundene Hauptwörter, z.B. Nichtmensch (ouk änthropos). Aristoteles nennt sie unbestimmte Hauptwörter. Das einzig ,Bestimmte' an ihnen ist, e i η Bestimmtes als Gemeintes auszuschließen. 2. Als Hauptwort haben nicht zu gelten die in einem anderen Kasus als dem Nominativ auftretenden Wörter, und das deshalb nicht, weil sie, mit einer Form von „sein" verbunden, weder Wahres noch Falsches sagen (ζ. B. „Philons ist"). 8 Das hatte Piaton schon ausgesprochen. 9 Vgl. Anm. 14 zu Kap. 1. — Entsprechende Ergänzungen wie beim Hauptwort macht Aristoteles für das Zeitwort: 1. Mit „nicht" verbundene Zeitwörter (ich wähle, da Aristoteles' Beispiele durch die Übersetzung an Deutlichkeit verlieren, das Beispiel „nichtsitzt") haben nicht für Zeitwörter zu gelten; Aristoteles nennt sie unbestimmte Zeitwörter. 2. Ein Zeitwort in einem anderen Tempus als dem Präsens ist kein Zeitwort, sondern eine Konjugationsform des Zeitwortes (ptosis rhematos). Im 5. Kapitel heißt es dann, daß jedes Urteil mit einem Zeitwort oder einer Konjugationsform des Zeitwortes gebildet wird (17a9—11). 10 Von dem Unterschied von phasis und katäphasis bzw. apöphasis her fällt Licht auf die voraufgegangene Stelle 16bl9—25 (die problematisiert wurde von Wagner, Aristoteles, De interpretatione 3. 16bl9—25, worauf Ax, 7.um isolierten ρήμα in Aristoteles' de interpretatione 16bl9—25 geantwortet hat). Weder das für sich selbst ausgesprochene Hauptwort (z.B. Mensch) zeigt an, d a ß das Genannte ist oder nicht ist (siehe 16b28f.), noch zeigt ein für sich selbst ausgesprochenes Zeitwort Daß-sein oder Nichtsein an (denn es spricht nicht zu oder ab, weil es mit nichts verbunden ist). Das gilt sogar für das Zeitwort „sein" oder „nicht sein". (Ich sehe übrigens keine Veranlassung, mit Ax, a. a. O., 277 und 278 anzunehmen, daß Aristoteles in diesem Zusammenhang „είναι den Status eines vollen ρήμα abspricht" und ,nur auf die Kopula zielt'.) " Zum im vorigen erörterten Themenkomplex kann ergänzend herangezogen werden: Aristoteles, Kategorien, Kap. 4. 12 Wenn soeben in enger Anlehnung an Aristoteles' Ausführungen im 4. Kapitel von Pert hermeneias gesagt wurde, die Eigenschaft, wahr oder falsch zu sein, gehöre in die D e f i n i t i o n des Urteils hinein, so will dazu wenig passen, daß Aristoteles im 9. Kapitel derselben Schrift die Urteile über zukünftiges singuläres Kontingentes davon ausnimmt (siehe unten). Frede (Aristoteles und die ,Seeschlacht', 81 und 83) folgt anderen Forschern in der Auffassung, daß Kapitel 9 erheblich später abgefaßt wurde als die übrige Schrift; sie vermutet, Aristoteles habe es dann in die Schrift eingefügt und den Widerspruch zur Definition des Urteils vielleicht selbst nicht bemerkt. " Vgl. Met. 4, Kap. 7, 101 lb25—27: „Nämlich zu sagen, das Seiende sei nicht oder das Nichtseiende sei, ist falsch; aber zu sagen, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist 3
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wahr." — Auch bei Aristoteles finden sich in den wichtigen Texten zur Wahrheitsfrage keine griechischen Entsprechungen für die Wörter „Ubereinstimmung" und „Richtigkeit"; dennoch bezeichnen diese sehr genau, was Aristoteles unter Wahrheit des Urteils versteht. Zur Forschungslage schreibt Frede 1970: „Es gibt wohl kein Kapitel im Organon des Aristoteles, das so viel diskutiert worden ist, wie das 9. Kapitel von de interpretatione. Vor allem in den letzten Jahren sind zahlreiche Aufsätze erschienen, die immer neue Vorschläge zur Interpretation des Textes bringen oder die Vorschläge anderer kritisieren. Doch trotz oder vielleicht auch wegen dieser Vielzahl von Diskussionsbeiträgen besteht weder Einhelligkeit über das Textverständnis noch über das, was man als Ergebnis der Argumentation des Aristoteles ansehen soll" (a. a. O., 5). Frede hat diese Literatur in ihre Arbeit einbezogen. Ich verweise auch auf ihr einschlägiges Literaturverzeichnis. Zur Gegenposition (mit ihren Konsequenzen) in der alten Stoa vgl. Pohlenz, Die Stoa I, 102 f. Ob für Aristoteles „die Alternation kontingenter Zukunftsaussagen als Ganzes wahr" ist, ist strittig (siehe Frede, a. a. O., 75 ff.). Solange man Aristoteles nicht fälschlich eine grobe Abbildtheorie unterstellt, gibt es meines Erachtens von s e i n e m W a h r h e i t s b e g r i f f her hier kein Problem. Siehe 19a39ff. Es ist zuzugeben, daß die vorangegangenen Zeilen 19a36ff. diesen Sachverhalt nicht gerade verdeutlichen; vielleicht sprechen sie dafür, daß Aristoteles ihn nur zögernd einräumen mochte. Frede hingegen meint: „Das Prinzip der Bivalenz bleibt ,im Prinzip' . . . bestehen . . . , nur eine Entscheidung über . . . Wahrheit und Falschheit ist nicht möglich . . . Während 19a37 zunächst die Gültigkeit der Regel ,im Prinzip' betont wird, wird dann die Anwendbarkeit der Regel eingeschränkt" (a. a. O., 71 f.). Es mag nicht uninteressant sein, vor diesen Hintergrund den im 20. Jahrhundert vollzogenen Schritt zur mehrwertigen Logik zu stellen. Lukasiewicz schreibt 1929: „Man könnte jedoch den mit dem Prinzip der Zweiwertigkeit der Logik unverträglichen Standpunkt einnehmen. Gemäß diesem Standpunkt könnte die logische Aussage Werte haben, die von der Falschheit und Wahrheit unterschieden sind. Eine Aussage, von welcher wir nicht wissen, ob sie wahr oder falsch ist, könnte überhaupt keinen bestimmten Wert haben in Hinblick auf Wahrheit oder Falschheit, sondern könnte einen dritten, unbestimmten Wert haben. Man könnte z . B . meinen, daß die Aussage ,Ich werde in einem Jahre in Warschau sein' weder wahr noch falsch ist und den dritten unbestimmten Wert hat, den wir mit dem Symbol ,-j bezeichnen können. Man könnte aber noch weiter gehen und den Aussagen unendlich viele Werte zuschreiben, die zwischen der Falschheit und der Wahrheit liegen. In diesem Fall hätten wir eine Analogie mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung, in welcher wir unendlich viele Wahrscheinlichkeitsstufen verschiedenen Ereignissen zuschreiben" (zitiert nach Bochenski, Formale Logik, 469 f.). Aristoteles erörtert in Met.5, Kap.29 noch zwei weitere Bedeutungen von „falsch": den falschen logos (1024b26ff.) und den falschen Menschen (1025a2ff.). Wie logos an dieser Stelle zu übersetzen sei, darüber sind sich die Ubersetzer nicht einig. Man findet „Begriff" (Bassenge, Schwarz) und „Aussage" (Bonitz). Ross, der mit „account" übersetzt, handelt in seinem Kommentar (zur Stelle) ausführlich über den Doppelsinn von „logos" an dieser Stelle. — Hier genügt es zu sehen, daß Aristoteles vom Begriff handelt, insofern von ihm Gebrauch gemacht wird, und das geschieht eben im Urteil. Der falsche logos ist logos von Nichtseiendem; er ist der logos, der auf etwas anderes bezogen wird, als wovon er wahr ist. So ist der Begriff „Kreis" falsch, wenn er von einem Dreieck gesagt wird. Und das bedeutet zugleich: Das Urteil ,Das Dreieck ist ein Kreis (alle Punkte der es begrenzenden Linie sind von einem Mittelpunkt gleich weit entfernt)' ist falsch. Ein kreisförmiges Dreieck ist ein Nichtseiendes. Ein logos, der es als Seiendes denkt oder sagt, ist falsch. Falsch ist ein Mensch, der absichtlich mit dem falschen logos umgeht, und zwar um des Falschen willen, und der in anderen falsche Begriffe bzw. falsche Urteile hervorbringt. Auch Aristoteles scheint it) solchem Zusammenhang die Sophisten vor Augen zu haben.
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Man vergleiche den Fortgang des Textes, in dem Aristoteles auf Piatons Dialog Hippias II (Hippias minor) eingeht. 20 Met. 9, Kap. 10 wird davon handeln. 21 Man vergleiche Piatons Ausführungen über das Bild, Soph. 239d ff. 22 Es ist unverborgen — vgl. S. 6. 23 Anders steht es bei Thomas von Aquin, der im vierten Gottesbeweis der Summa theologiae (I q. 2, a. 3, corp., quarta via) auf dies Kapitel der Metaphysik des Aristoteles verweist. Vgl. S.50 und Anm. 64 zu Kap. 3. 24 Es kann daher hier nicht außer acht gelassen werden, obwohl bereits eingehende Interpretationen von Wilpert (Zum aristotelischen Wahrheitsbegriff, 9 ff.), Volkmann-Schluck (Die Metaphysik des Aristoteles, 262 ff.) und Heidegger (Logik, 170 ff.) vorliegen. Dies um so weniger, als ich in einigen wichtigen Punkten zu anderen Ergebnissen komme. 25 Schon in Peri herm. 9 hieß es, die Urteile seien auf die gleiche Weise wahr wie die Dinge, vgl. S. 16. 26 Der soeben erfolgten Berufung auf 1052al als zweite Belegstelle sollte der Kontext der Stelle (1051b33—52a3) beigegeben werden, weil aus ihm ein Bedenken hergeleitet werden könnte. Ich zitiere ihn in der meines Erachtens besonders angemessenen Ubersetzung von Schwarz: „Das Sein aber im Sinne des Wahren und das Nichtsein im Sinne des Falschen gibt es einerseits in der Bedeutung, daß etwas wahr ist, wenn es zusammengesetzt ist, und falsch, wenn es nicht zusammengesetzt ist; andererseits in der Bedeutung, daß etwas, wenn es ist, ,so ist', und wenn es nicht so ist, nicht ,ist'. Wahrheit [to alethes — das Wahre] aber ist hier, die Dinge [taüta] zu denken. Falsches aber oder Täuschung gibt es da nicht, sondern nur Unwissenheit — aber nicht eine Unwissenheit, die der Blindheit entspräche..." Die Stelle spricht einerseits vom Wahrsein a l s Zusammenbestehen und Falschsein a l s Getrenntsein. Sie spricht andererseits vom Sein des Wesens i m U n t e r s c h i e d zum Wahren als seiner Erfassung durch das Denken. Dieser Auffassung könnte entgegengehalten werden, die g a n z e Stelle handele, gemäß ihrem Beginn, vom Sein als Wahrem und vom Nichtsein als Falschem, und also handele sie vom Denken als dem Wahrsein des Wesens. Einer solchen Interpretation leistet Aristoteles' Formulierung tatsächlich einen gewissen Vorschub. Mir scheint indessen der Beginn der Stelle das Thema des Kapitels (1051bl f.) zu wiederholen und der Fortgang der Stelle die bis dahin erarbeiteten Ergebnisse zusammenzufassen, die sich eben nicht ganz glatt unter das Thema bringen lassen. Es sollte auch nicht übersehen werden, daß Aristoteles bei der ersten Bezeichnung des Themas (eben 105lbl f.) unmittelbar anschließend als Wahrsein auf Seiten der Dinge ausschließlich das Zusammenbestehen, als Falschsein auf Seiten der Dinge das Getrenntsein nennt (b2 f.). — Auch dies läßt übrigens die Zweifel berechtigt erscheinen, die Ross (Textausgabe mit Fußnote und Kommentar zur Stelle) bezüglich des kyriotata on (1051bl), mindestens aber daran, ob es sich an der rechten Stelle befindet, angemeldet hat. (Vgl. auch Wilpert, Zum aristotelischen Wahrheitsbegriff, 9; er bezieht sich auf W. Jaeger, gegen dessen Deutung sich allerdings schon Ross im Kommentar zur Stelle mit Recht gewendet hatte. Ferner ist zu vergleichen die Übersetzung von Bassenge, in der kyriotata όη übergangen ist.) Es macht meiner Meinung nach wenig Sinn, Aristoteles die Auffassung zuzuschreiben, das Wahre und das Falsche, das Zusammenbestehen und Getrenntsein, seien das Seiende „im eigentlichsten Sinn". 27 Das gilt gemäß oben (S. 19 f.) Ausgeführtem auch unter Berücksichtigung von Met. 2, Kap. 1. 28 N E 1, Kap. 4; vgl. Fleischer, Hermeneutische Anthropologie, 243 f. 29 Vgl. die folgende Anm. 50 Mit der Behauptung, Aristoteles stelle nicht die Frage nach einem Wahrheitsgrund für die Wahrheit des Seienden, bringt sich diese Untersuchung in Gegensatz zu den Ausführungen, mit denen Gadamer seine Abhandlung Amicus Plato magis arnica Veritas abschließt. Gadamer schreibt: „Insofern gipfelt die aristotelische Metaphysik in der Anerkennung, daß das Innesein des Wesens (νοϋς) einen Sinn von Wahrheit und Unverborgenheit erfüllt, der aller synthetischen' Aussage und ihrer möglichen Wahrheit oder Falschheit vorausliegt.
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Solches Offenbarsein des Wesens geschieht im νοεϊν [Denken], Indem das Denken dessen inne ist, was es denkt, ist es seiner selbst inne. Daß dergestalt das Offenbarsein des Wesens auf ein höchstes seiner selbst Inneseiendes hinausweist, das es ebenso möglich macht, wie das Licht die Sichtbarkeit der Dinge möglich macht; daß alles Offenbarsein des Wesens nur möglich ist, wenn das ist, was so seiner selbst inne ist, das ist der oberste Satz der aristotelischen Metaphysik, durch den er den überlieferten Begriff des Göttlichen philosophisch aufschließt. Dem Problem dieses Überschrittes in die philosophische Theologie nachgehen, hieße aber das Thema dieser Studie überschreiten, indem es sich zu der Formel verkürzte: Amicus Plato" (Piatos dialektische Ethik ..., 268). Hierin sind zwei Hauptthesen ausgesprochen. Die erste Hauptthese besagt: Mit Bezug auf das Wesen kann von Wahrheit, Unverborgenheit, Offenbarsein gesprochen werden; Wahrheit des Wesens bedeutet, daß das Denken des Wesens inne ist — das „Offenbarsein des Wesens geschieht" im Denken. Diese These (zu deren Begründung Gadamer in Kleine Schriften III, 78 auf Met. 9, Kap. 10 zurückgreift) und meine im Zusammenhang mit demselben Kapitel aufgestellte Behauptung, das Sein des Wesens als Wahrsein werde von Aristoteles nicht gedacht, scheinen einander zu widersprechen. Ich glaube aber, daß hier in der Sache durchaus noch Ubereinstimmung besteht. Ich habe gesagt, das Wahre werde in Met. 9, Kap. 10 im Blick auf das Wesen ganz auf die Seite des Denkens gestellt. Auch für Gadamer liegt das „Offenbarsein des Wesens" im Gedacht-werden oder Gedacht-sein. Denken ist hier allemal in dem Sinn zu nehmen, den Aristoteles als Wahrheit der Wesenserfassung festlegt; es meint: das Wesen fassen, berühren, treffen (thigein) und das Wesen ans Licht bringen, es sehen lassen, es erscheinen lassen (phanai — vgl. S. 25). Das in diesem Sinn von Denken ,gedachte' Wesen kann selbst auch wahr, unverborgen, offenbar genannt werden. Wenn ich jedoch davon spreche, Aristoteles mache das Sein des Wesens als Wahrsein nicht zum Thema, meine ich das Wesen als seiendes, nämlich insofern es, in einem Seienden zugrundeliegend, dieses das sein läßt, was es ist. (Piaton hatte den — für sich seienden, vom Sinnlichen abgetrennten — Ideen primär nicht ihr Gedachtsein, ihr Erkanntsein, sondern ihre Denkbarkeit, ihre Erkennbarkeit für die menschliche Vernunft als Wahrheit zugeschrieben und für d i e s e dem Seienden eignende Wahrheit einen göttlichen Grund in Anspruch genommen.) Gadamers zweite Hauptthese ist: Das Offenbarsein des Wesens ist ermöglicht durch das Göttliche, durch „ein höchstes seiner selbst Inneseiendes"; dieses ermöglicht das Offenbarsein des Wesens, wie das Licht die Sichtbarkeit der Dinge möglich macht; an diesem Punkt seines Philosophierens ist Aristoteles Piaton ganz nahe, muß er nicht mehr die ,Freundin Wahrheit' (arnica Veritas) über den .Freund Piaton' (amicus Plato) stellen. Diese These, die Gadamer meines Wissens auch anderwärts nicht ausgeführt hat, und meine Darlegungen widersprechen einander. Gadamer müßte bei der Ausführung jedenfalls Buch 12 der Metaphysik heranziehen. Wie er selbst in seinem Kommentar zu der von ihm besorgten Ubersetzung dieses Buches die für das Thema entscheidende Textstelle erläutert, spricht aber eher gegen als für seine These. Aus Amicus Plato . . . wurde schon zitiert: „Indem das Denken dessen inne ist, was es denkt, ist es seiner selbst inne." Dieser Satz kann sich u. a. stützen auf Met. 12, Kap. 7, 1072b20f. (Die Stelle lautet in Gadamers Übersetzung: „Nun kann sich der Geist selber denken [noei], insofern er am Gedachten teilbekommt. Er wird nämlich selbst Gedachter, wenn er an die Sache rührt und denkt, so daß denkender Geist und Gedachtes dasselbe sind." S. 35) Dort bei Gadamer wie hier bei Aristoteles steht der menschliche Geist im Blick, dessen Gedachtes das Wesen ist. Der im Innesein des Wesens seiner selbst inne seiende menschliche Geist und sein Gedachtes sind dasselbe. Gadamer vollzieht in der aus Amicus Plato ... zitierten Stelle von hier aus unmittelbar den Übergang zum göttlichen Geist als Wahrheitsgrund: „Daß dergestalt das Offenbarsein des Wesens auf ein höchstes seiner selbst Inneseiendes hinausweist, das es ebenso möglich macht, wie das Licht die Sichtbarkeit der Dinge möglich m a c h t . . . " . Das Innesein des ,höchsten seiner selbst
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Inneseienden' ist aber nach Met. 12, Kap. 9 von der Art, daß es gerade gar nicht begreiflich zu machen vermag, wieso dem menschlichen Geist ein Innesein des Wesens möglich ist. Der göttliche Geist ist „Denken des Denkens" (1074b34f.); er denkt sich selbst — sich selbst als Denken, das kein anderes (das Wesen) als Gedachtes hat. In seinem Kommentar zu diesem Kapitel schreibt Gadamer: „der nicht immer denkende Geist, der etwas von ihm selbst Verschiedenes denkende, der nicht das Göttlichste denkende Geist — all das ist ausgeschlossen . . . er muß also Denken des Denkens sein . . . Die Grundaporie ist die, daß .Denken' immer .etwas denken' ist und ein Denken, das nicht etwas anderes, sondern sich selbst denken soll, leer erscheint. Um dieser Folgerung zu entgehen, hat man in der Tradition diesem denkenden Geiste den Besitz aller ,Ideen' und damit den gesamten Weltinhalt zugeschrieben. Das aber entspricht ganz und gar nicht der aristotelischen Gedankenführung aus dem Bewegungszusammenhang des All . . . Man wird gut tun, davon auszugehen, daß Aristoteles selber keine Lösung dieser Grundaporie entwickelt hat, sondern einfach der immanenten Konsequenz seiner Theologie mit seiner Lehre vom sich denkenden Denken folgte" (58 f.). In der Frage des göttlichen Wahrheitsgrundes (wie auch der der Wahrheit des Wesens) ist es nach meiner Auffassung nicht so, daß sich die Formel „Amicus Plato magis arnica Veritas" zu „Amicus Plato" zusammenzieht. — Gadamer fährt übrigens nach der zuletzt zitierten Stelle fort: „Dafür spricht De anima III cap. 4 [irrtümlich für: cap. 5], die Lehre vom tätigen Geist, der wie das Licht ist (430al5)" (ebd.) Der .tätige Geist, der wie das Licht ist', ist dort bei Aristoteles eindeutig menschlicher Geist (bzw. ein ,Teil' desselben, der, solange wir leben, auf den anderen .Teil', den .leidenden Geist', bezogen bleibt). Gadamers These am Schluß von Amicus Plato . . . („Daß dergestalt das Offenbarsein des Wesens auf ein höchstes seiner selbst Inneseiendes hinausweist, das es ebenso möglich macht, wie das Licht die Sichtbarkeit der Dinge möglich m a c h t . . . " ) könnte von hier aus nicht gestützt werden. Daß Aristoteles den tätigen Geist als Teil der menschlichen Seele mit dem Licht vergleicht, bringt ihn Piaton nicht näher, sondern entfernt ihn von ihm — wiewohl freilich für Aristoteles der tätige Geist das Göttlichste in uns und derjenige Teil der Seele ist, für den allein wir auf Unsterblichkeit hoffen dürfen. — In Buch 3, Kap. 4 von Peri psyches (Uber die Seele) findet man Aristoteles' These, die Seele sei der Ort der Wesensanblicke (topos eidön — 429a27f.), oder, anders gewendet, der Geist (noüs) sei der Möglichkeit nach auf gewisse Weise das Denkbare (tä noetä), der Wirklichkeit nach sei er es aber erst dann, wenn er es denke (429b30 f.). Dazu merke ich noch kurz an: Aristoteles scheint hier so etwas wie eine Wahrheit des Wesens qua Denkbarkeit zu fassen und im menschlichen Geist anzusiedeln. Sieht man es so, so gälte doch wieder, daß für diese .Wahrheit' kein Wahrheitsgrund gedacht wird und daß es sich bei ihr nicht um die Wahrheit des seienden Wesens handelt, insofern dies ein Seiendes (als in ihm Zugrundeliegendes) das sein läßt, was es ist. Überdies wäre ganz ungeklärt, wieso eigentlich jene Wesensanblicke, deren Ort der Geist immer schon ist, indem er der Möglichkeit nach das Denkbare ist, genau mit jenen Wesensanblicken übereinstimmen, die im Seienden sein zugrundeliegendes Wesen ausmachen. Das Gesagte trifft auch zu für die erste Bestimmung des falschen Dinges in Met. 5. Kap. 29. wiewohl die Sachlage dort nicht in gleicher Deutlichkeit heraustritt. Es hieß dort, man spreche von einem falschen Ding, wenn etwas nicht zusammen bestehe oder nicht zusammen bestehen könne. Das stimmt mit Met. 9. Kap. 10 überein. In Met. 5. Kap. 29 gab es aber bei den Beispielen einen Zusatz, für den sich in Met. 9. Kap. 10 keine Entsprechung findet: Falschsein eines Dinges als Nicht-zusammen-bestehen liegt vor, w e n n m a n etwa s a g t „du sitzt" von jemandem, der zu dem Zeitpunkt nicht sitzt; Falschsein eines Dinges als Nicht-zusammen-bestehen-können liegt vor, w e n n m a n etwa s a g t , die Diagonale sei kommensurabel (vgl. S. 17 f.)- Dieser Zusatz bezieht das Falschsein des Dinges auf das falsche Sagen, das Getrenntes als Zusammen-bestehendes behauptet. In Wahrheit ist damit
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jedoch nichts gewonnen. Denn nicht die fälschlich behauptete kommensurable Diagonale ist das falsche Ding, sondern die Diagonale, die nicht und niemals kommensurabel ist. Daß nicht von dem im eigentlichen Sinn Seienden die Rede ist, wird 1027b31—33 gesagt und kommt auch 1028a2—4 zum Ausdruck. Genauer heißt es (1051b25—27): Beim Wassein und bei den nicht zusammengesetzten Wesen gibt es Täuschung nur akzidentell (katä symbebekos). Das scheint mir im Sinne von Met. 5, Kap. 29 (1024b26 ff.) zu verstehen zu sein (vgl. hier, Anm. 19 zu diesem Kap.). In diese Richtung geht auch Thomas von Aquin in seinem Kommentar (zur Stelle). Uber die Schwierigkeit der Textstelle vgl. aber auch Ross (zur Stelle). — Daß es bei der Wesenserfassung keine Täuschung gibt, bringt Aristoteles auch damit in Zusammenhang, daß die unzusammengesetzten Wesen, als (je schon) der Wirklichkeit nach seiend, nicht entstehen und vergehen (1051b28—31). Das sehen-lassende Sagen (phäsis) wird niemals falsch, was ja einem wahren Urteil, sofern es etwas über Dinge sagt, die ebensowohl zusammen bestehen als auch getrennt sein können, jederzeit geschehen kann (vgl. S. 21). Volkmann-Schluck (Wahrheit und Schönheit, 17 ff.) lehnt diese Auffassungsmöglichkeit ab, wie er ja auch von der platonischen Wesenserkenntnis die Richtigkeit eher fernhält (vgl. Anm. 29 zu Kap. 1). Aristoteles denkt auch eine Wahrheit der Wahrnehmung, und zwar teils mit, teils ohne die Gegenmöglichkeit der Falschheit (vgl. Peri psyches / Über die Seele Buch 2, Kap. 6 sowie Buch 3, Kap. 3, 4 2 7 b l l f . und 428bl8ff.). Die Sachthematik konnte hier vernachlässigt werden, da sie für die Problemlage bei Aristoteles nicht sehr ergiebig ist und im nächsten Kapitel (S. 39 f.) berührt wird. Das Verbinden vollzieht die abschließende Synagoge.
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Auf welchem geschichtlichen Weg und in welchen Brechungen platonisches Gedankengut zu Thomas gelangte, wurde ebenfalls erforscht. Vgl. Henle, Saint Thomas and Platonism. Vgl. S.20. Kurztitel im folgenden: De veritate. Der Beginn der Arbeit an der Summa theologiae wird gelegentlich auch 1265 oder 1267 angesetzt. Hauptgedanken dieser Quaestionen finden sich schon in Thomas' erstem großen Werk, dem Sentenzen-Kommentar (Scriptum super lihros Sententiarum magistri Petri Lombardi), vor allem im Kommentar zum 1. Buch. Zur Zitierweise in diesem Kapitel: Zitatangaben ohne Werkangabe beziehen sich (wenn nicht unmittelbar ein anderer Werktitel vorangegangen ist) auf De veritate. „I" bei Zitatangaben aus der Summa theologiae bezeichnet den ersten Teil (prima pars) dieses Werkes. Bei Zitatangaben aus der Summa contra gentiles bezeichnet die römische Ziffer das Buch, die arabische das Kapitel; hinzugefügt sind die Ziffern der von Pera besorgten Ausgabe. Bedeutung der Abkürzungen: q. = Quaestio, a. = Artikel, corp. = corpus (,Antwort', Hauptteil des Artikels). Durch „ad" wird auf die Erwiderung auf einen Einwand verwiesen, durch „contra" auf einen Gegeneinwand. Zur literarischen Gattung von Quaestio und Quaestio disputata sowie zu deren Zusammenhang mit der akademischen Lehre jener Zeit und Thomas' eigener Lehrtätigkeit siehe Chenu, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, 90 ff. und 317 ff. Dem folgenden bis S. 31 liegt q. 1, a. 1, corp. zugrunde. Das primär Besondernde sind hier Unterschiede im Seinsgrad (diversi gradus entitatis). Die
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Substanz als durch sich selbst Seiendes (per se ens) ist in höherem Grade seiend als die Akzidenzien. Dieser allem Seienden in sich oder absolut (absolute) zukommende Seinsmodus drückt etwas im Seienden entweder affirmativ oder negativ aus. Entsprechend meint er einerseits die Washeit (quidditas) oder das Wesen (essentia) des Seienden, und das heißt er faßt das Seiende als Ding (res). Andererseits meint er die Ungeteiltheit (indivisio), und hier ist das Seiende als Eines (unum) gefaßt. Das bedeutet: Jedes Seiende ist ein Etwas (aliquid), wenn anders ein Etwas, wie Thomas vom lateinischen aliquid her erläutert, ein anderes Was (aliud quid) ist. Ein Etwas sein meint: als ein anderes Was von anderem Seienden getrennt und unterschieden sein. Thomas verweist auf den Anfang der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, wo Aristoteles, seinerseits sich zustimmend auf andere (wohl Piaton und Eudoxos) beziehend, seine Untersuchung über das für den Menschen Gute ansetzen läßt bei der Bestimmung, das Gute sei das, wonach alles strebt (1094a2f.). Die vollzogenen Unterscheidungen lassen sich in folgendem Schema darstellen: Hinzufügungen zum S e i e n d e n (ens) besondere Seinsweise (Kategorien)
allgemein allem Seienden mitfolgende Seinsweise (Transzendentalien)
allem Seienden in sich mitfolgend
affirmativ: D i n g (res)
negativ: E i n e s (unum)
allem Seienden mitfolgend in der Hinordnung auf ein anderes Trennung eines Seienden Übereinstimmung eines vom anderen: E t w a s Seienden mit einem an (aliquid) deren (= mit der Seele) mit dem Streben: G u t e s (bonum)
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mit dem Verstand: W a h r e s (verum)
Diese klassisch gewordene Formulierung, im philosophischen Bewußtsein eng mit Thomas verknüpft, wird von Thomas selbst Isaac Israeli zugeschrieben. Vgl. aber Wilpert, Das Problem der Wahrheitssicherung bei Thomas von Aquin, 18 f., Anm.50. 14 Dem folgenden bis S. 33 liegt q. 1, a. 2, corp. zugrunde. 15 Eher beiläufig finden sich die Begriffe Maß-geben und Maß-empfangen im Zusammenhang mit Wissen und Wahrnehmung schon bei Aristoteles, Met. 10, Kap. 1, 1053a31—33. " Vgl. auch q. 1, a. 2, ad 1: Jedes Seiende ist „imstande, sich den menschlichen Verstand anzugleichen" (potens sibi adaequare intellectum humanuni). 17 In Gott ist allerdings auch eine Gleichförmigkeit zu denken, die kein Maß-geben (oder gar Maß-empfangen) ist: die Gleichförmigkeit des göttlichen Verstandes und der Sache, die sein Wesen ist (quae est essentia eius) — vgl. S. 47 f. 18 Wahrheit als Angleichung von Sache und Verstand kann aufgrund des Ausgeführten treffend auch als Gleichmaß (commensuratio —· q. 1, a. 5, corp.) bezeichnet werden. " In q. 1, a. 1, corp. sagt Thomas, der Gleichförmigkeit der Sache mit dem Verstand folge die Erkenntnis der Sache, und die Erkenntnis sei „gleichsam eine Wirkung der Wahrheit" (quidam veritatis effectus — vgl. q. 1, a. 2, ad 3). Das heißt freilich nicht, daß das Erkennen kein Tätigsein ist. 20 „dicit esse quod est vel non esse quod non est" — die Stelle gilt als Zitat aus der Metaphysik des Aristoteles (1011b26f.; siehe Anm. 13 zu Kap.2). 21 In der Summa theologiae (I q. 16, a. 8, corp.) erwähnt Thomas auch die umgekehrte Möglichkeit der Veränderung vom Wahren ins Falsche (mutatio de vero in falsum), nämlich
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daß der Verstand zu einer neuen Ansicht über die Sache übergeht, obwohl diese sich nicht verändert hat. So klar sich dieser Sachverhalt bei Thomas auch ergibt — er steht doch mit in der Spannung des Versuchs, Gottes Allwissenheit einerseits, die Kontingenz von Zukünftigem (und damit auch die Freiheit des menschlichen Willens) andererseits zusammenzudenken. Dieses Problemfeld kann hier nicht ausgeleuchtet werden. Die Spannung bezüglich der Wahrheitsfrage besteht darin, daß unsere Urteile über zukünftiges singuläres Kontingentes weder wahr noch falsch sind, obwohl Gott auch dieses Kontingente je schon weiß (wenngleich nicht als Zukünftiges, sondern als für seinen Verstand Gegenwärtiges — q. 2, a. 12, corp. sowie ad 3 und ad 6) und obwohl dies Kontingente, das als Zukünftiges kein Sein hat, doch als für Gottes Verstand Gegenwärtiges Sein und Wahrheit hat (q. 2, a. 12, ad 9). Vgl. auch q. 2, a. 13, ad 7: Gott weiß von den Dingen in eins und zumal, wann sie sind und wann sie nicht sind, und er weiß entsprechend von den Urteilen, wann sie wahr und wann sie falsch sind, z.B. von dem Urteil „Peter wird laufen". — Zur Wahrheit im menschlichen Verstand gehört nach Thomas ein Moment der Reflexion des Verstandes auf sich — vgl. S. 40 f. Thomas' Formulierung weicht von der Aristoteles-Stelle ab: . . . in simplicibus autem, nec etiam quod quid est, est in mente. Vgl. S.24f. Kremer (La synthese thomiste de la verite, 323) hebt auf die Kopula als das Eigene des Verstandes ab: „A maintes reprises, saint Thomas distingue de l'etre reel, le verbe e t r e , la copule qui est creee par l'esprit, en se conformant d'ailleurs aux choses." Vgl. die Anmerkungen 33 und 19 zu Kap. 2. Man beachte auch, daß Thomas in seinem Metaphysik-Kommentar (Ziffer 1908) die Täuschung „per accidens" in Met. 9, Kap. 10 erläutert durch die aus De ver. q. 1, a. 3 bekannten zwei Möglichkeiten falscher Zusammensetzung bei der Definition. Vgl. auch hier S. 37 f. Vgl. S.40. Vgl. auch S. th. I q. 17, a. 3; dieser Artikel führt jedoch die Lösung des früheren Artikels nicht weiter, eher noch fällt er hinter sie zurück. Der Verstand, der das, was ist, erkennt, ohne noch zu urteilen, ermangelt der Reflexion, die zur Erkenntnis eines Wahren als solchen erfordert ist — ich verweise nochmals vor auf S. 40. Eine Variante des Problems der Wesenserfassung findet sich in S. c. g. I 59. Von diesem Text ausgehend, sieht Wilpert die Frage nach der Wahrheit der Wesenserfassung von Thomas zufriedenstellend beantwortet. Er schreibt: „Während also das begriffliche Denken r e i n s e i n e m I n h a l t n a c h gegen die Eigenschaft der Wahrheit und Falschheit indifferent ist, behauptet Thomas v o m b e g r i f f s b i l d e n d e n A k t gerade das Gegenteil. Dieser sei vielmehr immer richtig..." (Das Problem der Wahrheitssicherung hei Thomas von Aquin, 48f. — hier gesperrt; vgl. 36). U n d : „ . . . s o fehlt auch dem Begriff als solchem die ausdrückliche Hinbeziehung auf einen bestimmten Gegenstand. Gewiß mag ein erkennendes Vermögen den begrifflichen Inhalt mit Rücksicht auf einen Gegenstand gebildet haben, in der Intention durch seinen Inhalt das Wesen dieses Gegenstandes zu erfassen, da eine definitorische Bestimmung ja nur als Definition eines bestimmten Gegenstandes Sinn hat. Aber im Inhalt des Begriffs als solchem ist darum keine Beziehung auf einen Gegenstand ausgesprochen. Verbindet aber das erkennende Subjekt mit seinem Inhalt die intentionale Beziehung auf einen Gegenstand, so haben wir in diesem Inhalt nicht mehr einen Begriff, sondern ein Urteil. Dieses ist also charakterisiert durch seine Intentionalität. Während der Begriff rein seinem Inhalt nach zur Eigenschaft der Wahrheit und Falschheit irrelevant ist, ist das Urteil wesensmäßig durch diese Relation auf einen Gegenstand bestimmt" (a. a. O., 49 f.). Diese ,Lösung' erscheint mir eher als die Beschreibung eines Problemstandes. Denn die Trennung des Begriffs vom „begriffsbildenden Akt" dergestalt, daß diesem ein Gegenstandsbezug und damit Wahrheit zugesprochen, jenem aber abgesprochen wird, ist sehr künstlich. Bei der Wesenserfassung einerseits an Aristoteles festhalten, andererseits aber ein
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Verständnis von .Begriff' ins Spiel bringen, für den der .Gegenstandsbezug' erst noch hergestellt werden muß, geht schwer zusammen. Dem das Wesen eines Seienden erfassenden Verstand müßte, denkt er erst den .Begriff', der Seinsgehalt des Erfaßten verlorengegangen sein. Thomas verweist in diesem Zusammenhang öfters auf Aristoteles' Schrift Peri psyches / Über die Seele, Buch 3. Vgl. Anm. 35 zu Kap. 2. Vgl. Baumgartner, Zum thomistischen Wahrheitsbegriff, 252f.: „Die Sinneserkenntnis erstreckt sich aber lediglich auf die Außenseite der Dinge, auf ihre äußeren Erscheinungen oder Akzidentien, auf die Qualitäten und Quantitäten, auf das Einzelne und Singuläre." Roland-Gosselin akzentuiert 1921 die Schwierigkeit, die die Art der hier erforderten Selbsterkenntnis in bezug auf Thomas' Lehre der Selbsterkenntnis bereitet; Thomas' Ausführungen zunächst aufnehmend, schreibt er: «L'intelligence au contraire se reflechit parfaitement elle-meme et, par lä, se connait en conformite avec l ' o b j e t . . . En cette reflexion l'intelligence ne considere que soi. Mais comment y pergoit-elle sa conformite ä l'objet? . . . Est-ce en considerant son acte dans son rapport avec la chose? Non pas, mais en poursuivant sa reflexion jusqu'ä penetrer sa nature meme d'intelligence, faite pour etre conforme aux choses. II semble done . . . que l'intelligence pergoivc dans un cas donne sa conformite ä l'objet parce qu'elle a conscience d' etre faite pour se conformer aux choses... Si cet enseignement fait difficulte, e'est ä cause de la doctrine soutenue ailleurs par saint Thomas sur la maniere dont l'intelligence connait sa propre nature. II parait dire alors que e'est apres une longue έtude abstraite et par voie de conclusion; et il faudrait ici, semble-t-il, que l'intelligence eüt conscience d'emblee et intuitivement de ce qu'elle est. II y a la un probleme historique et un probleme philosophique dont il ne me semble pas qu'on ait trouve de solutions satisfaisantes" (Sur la theorie thomiste de la verite, 230 f.). Boyer glaubt 1924, das Problem zu lösen, indem er die Selbstreflexion des Verstandes sehr viel schlichter als den Urteilsvollzug selbst nimmt. Diese seine Position hebt er ab von der Gegenposition, die mit der Selbstreflexion — moderner gesprochen — eine Meta-ebene betreten sieht. Er führt aus: «II faut avant tout savoir de quelle sorte de reflexion parle saint Thomas. S'agit-il d'un second jugement qui prendrait pour objet un premier jugement, afin d'en declarer la valeur? L'intelligence aurait d'abord donne une adhesion complete; eile aurait affirme ou eile aurait nie. Voulant ensuite connaitre le bien fonde de ce premier acte, eile en considererait la nature, les conditions, le caractere. Au cas oü cet examen lui apporterait une entiere satisfaction, eile proclamerait la rectitude de son premier jugement, eile le dirait conforme ä ce qui est, et ainsi eile connaitrait la verite . . . Toutefois, il nous parait certain que cette interpretation s'egare. Saint Thomas, dans ce passage, ne songe aueunement ä une reflexion deliberee, philosophique, ä une operation de controle, ä un examen. Si nous ne nous trompons, il decrit simplement, mais avec une grande profondeur d'analyse, l'acte meme du jugement, la seconde operation de l'esprit. Ii s'agit du jugement comme tel, et par suite de tout jugement, qu'il soit direct ou reflexe, qu'il soit forme par un homme sans culture ou qu'il soit prononce par un philosophe, qu'il jaillisse spontanement de l'intelligence ou qu'il termine un long effort de pensee. Le jugement est par essence un acte de reflexion, un retour de l'intelligence sur elle-meme" (Le sens d'un texte de Saint Thomas: «De Veritate, q. 1, a.9», 426f.). Zur Bekräftigung heißt es: «...que, dans l'acte meme du jugement est connue la nature de l'intelligence. Recourir ä d'autres actes, ce serait avouer que, dans l'acte oü l'on pretendait montrer la verite, eile manque encore. Le raisonnement est necessaire pour construire la science de l'intelligence... Mais une teile science n'est pas requise pour qu'on se sache en possession de la verite. Au contraire, eile est bätie sur se premier savoir» (a. a. O., 437f.). Ich verweise auch auf Noel, La critique du jugement selon saint Thomas (1935), der Thomas jedem Urteil eine gewisse (unvollständige, nicht explizite) Reflexion zuschreiben sieht, in De veritate q. 1, a. 9 gleichwohl «^indication d'une reflexion critique» findet ( a . a . O . , 712).
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Zu diesem Themenkomplex vgl. Klubertanz, St. Thomas and the knowledge of the singular. Er kommt zu dem Ergebnis: "The limited unintelligibility of matter for the human intellect is due to the way in which we know, that is, by means of intelligible species which arise from sensible things. But God, Who has created these things, knows them inasmuch as even the lowest of them is a defective likeness of His infinitely intelligible being. Hence, in St. Thomas's universe, no thing is radically unintelligible, even if at the same time, no thing can be adequately grasped in a human concept" (a.a.O., 163). Und: " . . . O n the other hand, though we can define essences..., we can only describe individuals, and in the last resort, point them out in experience. We know them intellectually; we do not grasp their individuality. We know clearly that they are individuals, and even this and that individual. But material individuality remains a kind of transcended limit of understanding. It is known by intellect as a determination to the here and now of sense (or the there and then of imagination), and remains in a way external to intellect. It is touched, but not assimilated" (a. a. O., 166). Vgl. auch Phelan, Verum sequitur esse rerum, 17 f.: " N o thing at once reveals itself to the intelligence in the fulness of its intelligibility for, the intellect by abstracting the form of the thing does not reach to the singular. The abstracted forms (e. g. something, a living thing, a man, a white man, a tall white man, etc.) were separately abstracted and must be reintegrated to give to the understanding a fuller and fuller likeness to the thing." Ferner: "But, the things which exist in the world of physical reality do not reveal their whole being (all that they are) all at once to the intelligence. Human knowledge is abstractive and all knowledge, save that of God alone, is partial. To comprehend the whole being of even the meanest thing on earth requires an infinite intelligence" (a.a.O., 21, Anm.). — Hier bei Thomas findet sich ein Zurückbleiben unserer Erkenntnis hinter dem Seienden wie bei Piaton, aber gerade hinter dem Einzelnen, nicht hinter den Ideen (vgl. Anm. 32 zu Kap. 1). In diesem Punkt zeigt Thomas sich als Aristoteliker. Diese Quaestionen stehen naturgemäß in engem sachlichem Zusammenhang mit der jeweils vorangehenden Quaestio, die Gottes Wissen zum Thema hat. Da es nach Thomas nicht angeht, Gottes Wirken als durch von ihm verschiedene, außer ihm liegende Ziele bestimmt zu denken, können die von ihm gewußten Ideen nur in Gott selbst gesetzt werden (ebd. — vgl. auch q. 3, a. 1, ad 4). Von dem Verhältnis der Ideen zu Gottes Wesen wird noch zu sprechen sein. Siehe auch q. 2, a. 5. — Daß und in welchem Sinne in Gott Ideen sind von solchem, das weder ist noch war noch sein wird, thematisiert Thomas in q. 3, a. 6. Vgl. die Ergänzung in Anm. 51 zu diesem Kap. Welche Form das Ding nach der Veränderung auch hat, es bleibt doch gleichförmig mit Gottes Verstand (ebd.). — Die Unveränderlichkeit der Ideen im göttlichen Verstand verhindert nicht die Veränderlichkeit der geschaffenen Dinge. Dem bei Thomas wiederkehrenden Problem der Teilhabe der existierenden Einzeldinge an den Ideen kann hier nicht nachgegangen werden. (Vgl. zur Teilhabe als Nachbildung des göttlichen Wesens aber Anm. 51 zu diesem Kap.). Vgl. auch q. 1, a. 5, ad 2. Siehe q. 1, a. 10, corp. und q. 2, a. 15, corp. Vgl. auch S. th. I q. 16, a. 5, ad 3. Vgl. auch S. th. I q. 17, a. 1. Hier folgt Thomas Aristoteles, auf den er auch verweist. Zur Ergänzung des folgenden siehe auch S. th. I q. 17, a. 2, ad 2. Auch darin folgt er Aristoteles. — Eine Einschränkung für die Selbsterkenntnis des Verstandes bei Thomas erörtert Romeyer, La doctrine de saint Thomas sur la vente, 20 ff. Zur Frage, wie es mit den ersten Prinzipien steht, vgl. hier S.47. Ein Ding, das im Verhältnis zu unserem Verstand falsch ist (zu falschen Urteilen Anlaß gibt), ist doch — wie schon erwähnt — notwendigerweise wahr im Verhältnis zu Gottes Verstand, von dem es seine positiven Seinsbestimmtheiten empfangen hat. (Vgl. q. 1, a. 10,
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ad 5: Die in den Dingen existierende Falschheit ist auf Wahrheit gegründet.) Will also Gott, daß wir uns täuschen? Descartes wird auf diese Frage eine Antwort bereithalten. Wir täuschen uns nicht, solange wir unsere Erkenntniskräfte richtig gebrauchen. Thomas' Auskunft, daß falsche Dinge nicht notwendigerweise falsche Urteile unseres Verstandes hervorrufen, ist ein Schritt in diese Richtung. 47 Vgl. S. th. I q. 16, a. 1, corp. — Entsprechend gilt für das ,falsche Ding', daß es wesentlich und an sich wahr, jedoch zufällig und nicht absolut falsch ist. Vgl. S. th. I q. 17, a. 1, corp. und ad 3. 41 Zum Sinn von ,Angleichung' in diesem Zusammenhang siehe den Fortgang, insbesondere auch die Anmerkungen 50 und 51 zu diesem Kap. 49 Siehe etwa q. 1, a. 2, corp.; q. 2, a. 5, corp.; q. 2, a. 8, corp.; S. c. g. I 62, Ziffer 519; S. c. g. II 24, Ziffer 1006. Vgl. auch S. 57 und die zugehörige Anmerkung. 50 Die Verschiedenheit entspringt daraus, daß, wie Thomas in Quaestio 2, Artikel 4 (ad 2) ausführt, Gottes Wesen von keinem geschaffenen Ding in seiner Fülle, sondern von jedem nur unvollkommen nachgebildet wird. Vgl. S. th. I q. 13, a. 2, corp. 51 Thomas äußert sich zu demselben Sachverhalt sehr klar nochmals S. th. I q. 15, a.2, corp.: Die Erkenntnis Gottes von seinem Wesen ist vollkommen. Als vollkommene läßt sie nichts aus, was in bezug auf Gottes Wesen erkennbar ist. Daher erkennt sie Gottes Wesen nicht nur nach dem, was es in sich ist, sondern auch insofern, als mannigfaltige voneinander verschiedene geschaffene Dinge an ihm durch Ähnlichkeit teilhaben können. Erkennt also Gott sein Wesen als nachahmbar durch ein bestimmtes Ding, so erkennt er sein Wesen als Idee dieses Dinges. — Es soll die Spannung nicht verschwiegen werden, die sich für die Bestimmung der Wahrheit der D i n g e ergibt. Die Wahrheit der Dinge i s t , wie ausgeführt, A n g l e i c h u n g (adaequatio); die Dinge bilden durch ihre Form ihr Maß — die Ideen — nach; indem sie ihrem Maß gemäß sind, erfüllen sie ihre göttliche Bestimmung, ja bilden sie den göttlichen Verstand nach. Aber, so hat sich inzwischen gezeigt: In den Ideen denkt Gott sein Wesen, so wie es auf u n v o l l k o m m e n e Weise durch die Dinge nachgebildet werden kann; die Ideen und die geschaffenen Dinge, die ihnen als ihrem Maß entsprechen, bleiben weit hinter Gottes Wesen zurück; der Abstand ist der des Endlichen zum Unendlichen; er wird durch die von Gott verliehene T e i l h a b e überbrückt, aber gerade nicht beseitigt. — Dieses Seinsverhältnis bringt es auch mit sich, daß unserer Erkenntnis von Gottes Wesen, die auf den Ausgang von den geschaffenen Dingen angewiesen ist, als positiver Denkweg nur die Analogie offen ist (vgl. S. 50 ff.). Andererseits beeinträchtigt es nicht, sondern ermöglicht vielmehr Angleichung (adaequatio) unseres Verstandes an die Dinge. 52 Es lohnt sich, das Textstück als ganzes hier beizuziehen. " Es sollte vielleicht akzentuiert werden, daß Gottes W i s s e n Ursache der Dinge ist (q. 2, a. 14, corp.; vgl. q. 3, a. 3, corp.). Dazu ist zu beachten, daß in Gott Wille und Wissen dasselbe sind (ebd., vgl. S. c. g. I 72, Ziffer 618 sowie 75, Ziffer 645). — An dieser Stelle sei noch vermerkt, daß nach Thomas' Auffassung das Geschaffene keinen Augenblick Bestand hätte, würde es nicht von Gott im Sein erhalten, und daß die Erhaltung (conservatio) durch keine andere Tätigkeit als die Hervorbringung geschieht, sondern durch die Fortsetzung derselben Tätigkeit (S. th. I q. 104, a. 1, corp. und ad 4; vgl. S. c. g. III 65, Ziffer 2399 und 2403). 54 Vgl. auch S. th. I q. 105, a. 3, corp. 55 Das besagt nicht, daß die ersten Prinzipien ihre unumstößliche Wahrheit für den menschlichen Verstand (vgl. S. c. g. I 7, Ziffer 43) erst erhielten in dem Augenblick, in dem er die Herkunft ihrer Wahrheit aus der Wahrheit des göttlichen Verstandes denkt. (Ohne daß die ersten Prinzipien anerkannt sind, könnte kein einziger Beweis des Daseins Gottes durchgeführt werden.) Durch diesen Denkschritt macht sich der Verstand die Wahrheit der ersten Prinzipien aus ihrem Grunde her verständlich, nachdem sie schon in Kraft ist. (Vgl. S. c. g. I 11, Ziffer 71.) Ein ähnliches Verhältnis lag bei Piaton vor zwischen der Wahrheit der Ideen' und dem Überschritt zur Idee des Guten als dem Grund dieser Wahrheit.
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Wilpert (Das Problem der Wahrheitssicherung bei Thomas von Aquin, 158) möchte hier einschränken: „Wenn darum Thomas manchmal von einem Angeborensein der Prinzipien spricht, so berichtigt er diesen Sprachgebrauch des näheren dahin, daß uns der habitus principiorum angeboren sei. Ja im eigentlichen Sinn nicht einmal dieser, denn auch ihm geht der intellectus agens und die abstrahierende Kenntnis der Begriffe voraus, so daß wir nur eigentlich von einem Angeborensein der Erkenntnisfähigkeit selbst sprechen können." Mit dieser letzten Zuspitzung scheint mir nun allerdings der von mir aus De veritate belegten Position widersprochen zu sein. Wilperts Stellungnahme dürfte davon bestimmt sein, daß er das „Angeborensein der Prinzipien" für eine im Blick auf Thomas allzu platonische Vorstellung hält („Hier scheint es nun nicht selten, als bezeichne Thomas die Prinzipien ganz im Sinne Piatos als angeboren und von Natur aus uns mitgegeben", a. a. O., 157), für eine Thomas nicht zuzutrauende „aus dem aristotelischen Charakter der thomistischen Erkenntnistheorie herausfallende Annahme" (ebd.). Hier ist auf Vande Wiele (Le probleme de la verite ontologique dans la philosophie de saint Thomas, 555 f.) zu verweisen, der bei Thomas zwei Bedeutungen von intellectus, eine aristotelische und eine von Avicenna herkommende, unterscheidet. Während er den intellectus in der ersten Bedeutung bestimmt als «la faculte d'abstraire immediatement une quiddite», schreibt er über den intellectus in der zweiten Bedeutung: «A cet -\a. appartient la connaissance de concepts et de jugements premiers, oü il n'est plus question d'abstraction au sens strict, mais d'intelligibles premiers; il constituent l'objet de ce que saint Thomas appelle la . . . Le principe ontologique de cette n'a pas ä etre reju du dehors, mais il est compris dans la lumiere meme de l'intellect agent . . . C'est de cette seconde sorte d' que relevent les premiers principes de toute la science humaine, par exemple le principe de non-contradiction. C'est d'elle aussi que relevent une serie de concepts premiers, parmi lesquels la notion d'etre.» Es hat sich in vorangegangenen Überlegungen gezeigt: Wir gebrauchen den Ausdruck ,wahr' mit Bezug auf den menschlichen Verstand, auf die Dinge (und hier in doppeltem Sinn) und auf Gott. Thomas sieht hier Einheit der Analogie gegeben. Jedoch sind die vielfältigen Verhältnisse des Wahren schwer in einer einzigen Analogie zu fassen, jedenfalls wenn man die S. 54 f. und S. 55 ff. aufgeführten Typen der Analogie zur Anwendung bringt. Gott kann als Ursache alles Wahren gedacht werden gemäß eines Typs von Analogie, der bestimmt ist als: Beziehung von zweien auf eins von ihnen selbst, und zwar von der Art, daß die Ordnung von ,früher' und ,später' beim Namen und bei der Sache verschieden ist. Im Blick auf das Maß-geben ergibt sich in der Summa contra gentiles (I 61, Ziffer 512) die griffige Analogie: Gottes Verstand verhält sich zu den Dingen, wie die Dinge zum menschlichen Verstand. Diese Analogie (die weder dem Eigenen der Wahrheit des urteilenden Verstandes noch der vollen Bedeutung von Gott als Wahrheitsgrund Rechnung tragen kann) ist — nimmt man es mit der Viergliedrigkeit nicht allzu genau und beachtet man, daß die Dinge hier gemäß ihrer gedoppelten Wahrheit unter zwei Hinsichten im Blick stehen — dem Typ der Analogie der Proportionalität zuzurechnen, den Thomas in der Summa contra gentiles für die Gotteserkenntnis gerade durch eine vereinfachte Form der Analogie ersetzt. Beide genannten Typen der Analogie sind nicht diejenigen, denen Thomas das Beispiel „gesund" zuordnet; dies Beispiel zieht er aber heran, um die Analogie von ,wahr' verständlicher zu machen. Und: Wahr kann analog gesagt werden auch n u r von der Wahrheit der Dinge (Hinordnung der Dinge auf den menschlichen Verstand) und der Wahrheit im menschlichen Verstand (analogatum) — gemäß der Analogie der Proportion. Sehr differenziert äußert sich Thomas zur Analogie des Wahren De ver. q. 1, a. 4, und diese Ausführungen sollte man wohl nicht in ein Schema pressen. So wird man z.B. den Satz vom Widerspruch — als Prinzip in unserem Verstand — in Thomas' Sinn verstehen dürfen als Abbild dessen, daß Gott als erste Wahrheit nichts Widersprüchliches bewirken kann, wie etwa daß der Mensch ein unvernünftiges Lebewesen (animal irrationale) sei (q. 2, a. 10, corp.; vgl. auch S. c. g. II 22, Ziffer 983).
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Siehe q. 3, a. 1, ad 8: „sein Wesen ist sein Sein" (sua essentia est suum esse) — das kann von keinem anderen Seienden gesagt werden. 60 Vgl. vor allem die knappe Darstellung S. th. I q. 16, a. 5, corp., ferner die Argumente in S. c. g. I 60 und 62. 61 Vgl. S. c. g. I 49, Ziffer 411 f.: Das von ihm Verschiedene erkennt Gott in sich selbst (in seipso). 62 Dem wird durch q. 2, a. 7, corp. nicht widersprochen, im Gegenteil. 63 Selbst die .natürliche' menschliche Gotteserkenntnis und ihre Wahrheit bei Thomas kann im Rahmen dieser Untersuchung nur in der Reduktion auf diese Frage und höchst skizzenhaft zur Sprache kommen. 64 Es kann nicht früh genug betont werden, daß das, was unsere natürliche Vernunft in positiven Ausdrücken von Gottes Wesen denkt, analogisch gedacht wird (siehe den Fortgang des Kapitels) und daß das gerade auch für die Namen oder Begriffe gilt, auf die die Gottesbeweise führen, wenn sie auf verschiedenen Beweiswegen Gott als Ursache der wirklichen Dinge erweisen. B e w i e s e n wird Gottes E x i s t e n z ; was darüber hinaus durch die Beweise von Gottes Wesen sichtbar gemacht wird, wird eingeholt von der Rechenschaftslegung über die Möglichkeiten unserer natürlichen Vernunft, Gottes Wesen zu fassen. Für den Zusammenhang dieses Kapitels wichtig ist die Feststellung: Wenn Gott im Zuge des vierten Beweises (S. th. I, q. 2, a. 3, corp.) angesprochen wird als die Ursache aller Vollkommenheiten des übrigen Seienden und damit auch als U r s a c h e d e r W a h r h e i t alles übrigen und als das W a h r s t e (verissimum), dann ist das bereits analogisch gesagt. Im übrigen sind die durch die Beweise sich ergebenden Namen oder Begriffe von Gottes Wesen, so wichtig sie sind als Ausgangspunkte, eher Titel für Erkenntnisaufgaben als selbst schon Erkenntnisse. So fragt es sich gerade, was es denn bedeutet, wenn Gott als Ursache der Wahrheit alles übrigen und als das Wahrste angesprochen wird. Und hier führt der Denkweg des Beweisens nicht weiter. 65 Man wird dem nicht entgegenhalten wollen, daß ja auch bei unserer Erkenntnis der Dinge die Angleichung von Verstand und Sache an eine Grenze stoße, eben in bezug auf die Individualität eines Dinges (vgl. S.41), daß also durchaus dem menschlichen Verstand Angleichung an die Sache zugesprochen werde auf einem Feld, auf dem er hinter der Sache sehr wohl zurückbleibt. Hier wäre daran zu erinnern, daß wir nach Thomas die Formen der Dinge adäquat zu erkennen vermögen und daß von dieser Erkenntnis gesagt werden konnte, sie fasse das Ding in seiner ganzen Vollkommenheit, im Gegensatz zur Gotteserkenntnis, deren Begriffe nur unvollkommene Bilder von Gottes Wesen sind (vgl. S. 52). Wahre Erkenntnis im Sinne der Angleichung ist unserem Verstand bei den Dingen möglich, wenn sie auch nicht bis zur Individualität vordringt. Wahre Erkenntnis im Sinne der Angleichung an das Wesen des Unendlichen ist unserem Verstand wesenhaft unmöglich (vgl. auch S. 51 und 56 f.). " Zur folgenden Skizzierung der analogen Gotteserkenntnis möchte ich vorausschicken: 1. Wenn die Analogie als positiver Denkweg einer Gotteserkenntnis gelten soll, die auf Wahrheit als Angleichung keinen Anspruch erheben kann, so ist dabei sehr genau auf die Art der Analogie zu achten, die hier in Frage kommt. Analoge Prädizierung schließt nicht schon überhaupt und als solche die Angleichung von Verstand und Sache aus. 2. Analogie als Weg der Gotteserkenntnis ist nur ein — freilich sehr wesentlicher — Ausschnitt aus dem Problemfeld ,Analogie' bei Thomas. 3. Die Analogie ist ein Thema, das von jeher die besondere Aufmerksamkeit der Thomas-Interpreten auf sich gezogen und eine kaum überschaubare Fülle an Literatur gezeitigt hat. Mclnerny erklärt 1961 in seinem Buch The logic of analogy (S. V), daß "a complete bibliography in this area would doubtless assume depressing proportions." — Eine Grunddifferenz besteht in der Literatur bezüglich der Frage, ob Analogie bei Thomas eher logisch oder ontologisch zu verstehen sei. In der neueren Forschung vertritt Mclnerny die These: "the analogy of names is, for St Thomas, a logical intention and in
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speaking of it we must observe the general rule that the logical and real orders must not be confused" (a. a. O., 169). Fay (Analogy: the key to man's knowledge of God in the metaphysics of Thomas Aquinas, 352) kritisiert diese Position von der Gegenposition aus und nennt Mclnerny als Beispiel für sie (dabei bezieht er sich auf einen Aufsatz Mclnernys von 1957, der denselben Titel trägt wie später Mclnernys Buch): "It can be seen that the doctrine which should be placed at the very center of the metaphysics of analogy, i.e. the analogy of participation or analogy of causality, is simply passed over by Cajetan. His reductionist treatment of analogy tends really to be logical rather than ontological. If this tendency is pushed to its logical conclusion, as some have done [for example Mclnerny], the whole doctrine of analogy in St. Thomas is reduced to a logical treatment, and, unfortunately, its deepest meaning as analogy of participation or of causality is lost. What should be pointed out, it would seem, is that analogous predication reflects the ontological participation structure." Eine vermittelnde Stellung scheint mir Richard (Analogie et symholisme chez saint Thomas, 395) einzunehmen: «Le probleme de l'analogie se situe done tout d'abord au niveau de l'ordre logique . . . Le rapport entre les differentes significations d'un mot selon les differents sujets d'attribution suppose en effet un rapport entre les choses signifiees elles-memes . . . Notons cependant que ce fondement ontologique apparait plus explicitement encore dans la doctrine de l'analogie, de sorte que dans l'expose meme de s. Thomas on passe constamment du plan ontologique au plan logique... Quand on parle aujourd'hui de l'analogie entre Dieu et l'homme, e'est meme sur ce plan ontologique qu'on se situe le plus spontanement; on pense tout naturellement a la doctrine de l'homme cree a l'image de Dieu. Voilä pourquoi il est devenu necessaire aujourd'hui de rappeler que chez s. Thomas l'analogie est tout d'abord une doctrine d'ordre logique.» Richard empfiehlt: «On aura done tout avantage ä bien distinguer le fondement ontologique de la doctrine logique elle-meme, et ä ne jamais confondre participation et analogie» (a. a. O., 405). Der weitere wichtige „Weg der Verneinung" (via negationis oder via remotionis) braucht in dieser Untersuchung nicht ausführlich behandelt zu werden, wenn auch auf ihm gewonnene Begriffe (wie Gottes Einfachheit und Vollkommenheit) in Anspruch genommen wurden. Thomas beschreibt ihn S. c. g. I 14 (vgl. S. th. I q. 3, Einleitung). Auf ihm kommt man durch Ausschluß (oder Entfernung — remotio) von solchem, das mit Gottes Wesen unvereinbar ist, zur Gotteserkenntnis (ζ. B.: Gott ist nicht zusammengesetzt, also einfach). Thomas verwendet die Formulierungen pure aequivoce und omnino aequivoce. Mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß er damit reine Aquivokation und Analogie als zwei Arten von Aquivokation (als dem Gegensatz zur Univokation) zu verstehen gibt. Man wird sich deshalb nicht über den fundamentalen Unterschied von reiner Aquivokation und Analogie täuschen. Zu beachten ist jedoch die hier im Fortgang gemachte Unterscheidung von ,analog' und .symbolisch'. — Zur Möglichkeit der analogen Gotteserkenntnis vgl. auch S. 56f. In der Summa theologiae (I q. 13, a. 5, corp.) geht er in der Vereinfachung noch einen Schritt weiter, macht dann aber im darauffolgenden Artikel Ergänzungen. Auf die Darstellung dieser Gedanken kann hier verzichtet werden. Siehe q. 2, a. 5, corp.; q. 3, a. 5, corp.; vgl. ferner zur Erschaffung aus dem Nichts S. th. I q. 45, a. 1, corp. und ad 3 sowie S. c. g. II 16. Vgl. Söhngen, Sein und Gegenstand, 75: „was der philosophische Geist auch bei bestem Erfolge von Gott erfaßt, ist nicht der Unendliche in seiner Wesenheit, sondern wie er sich in der Ausweitung oder Ausdeutung des Endlichen auf Unendliches hin uns darstellt, bei welcher,analogen' Gotteserkenntnis ein unendliches MißVerhältnis zwischen menschlichem Denken und göttlichem Sein unaufhebbar bleibt." Diese Bezeichnung wurde erst in der Scholastik nach Thomas eingeführt — als Gegensatz zur ,logischen' Wahrheit der Erkenntnis (vgl. Kremer, La synthese thomiste de la verite, 331). Anders sieht es Pieper (Wahrheit der Dinge, 59 und 60): „Die Helligkeit, die aus der
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schöpferischen Erkenntnis des göttlichen Logos — zugleich mit ihrem Sein, ja ,als' ihr Sein selbst— in die Dinge einströmt: diese Helligkeit, und sie allein, macht die Dinge gewahrbar für menschliches Erkennen. ,Das Wirklichsein der Dinge selbst ist sozusagen ihr Licht' — so lautet ein ebenso klarer wie abgründiger Satz aus einem Spätwerk des Thomas von Aquin [Piepers Zitatnachweis: Kommentar zum Liber de causis I, 6]. Im Hinblick auf den Menschen also besagt die Wahrheit der Dinge nichts anderes als ihre Unverborgenheit, Offenbarkeit, Gewahrbarkeit — begründet durch das Ur-Licht des Logos, durch Gottes schöpferisches Sehen." Auf Anm. 64 zu diesem Kap. sei nochmals verwiesen.
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Kurztitel im folgenden: Meditationen. Kurztitel im folgenden: Principia. Kurztitel im folgenden: Regulae. — Simon hat in den Descartes thematisierenden Paragraphen seines Buchs Wahrheit als Freiheit die Regulae in den Vordergrund gestellt. Er meint: „Der hier zugrundeliegende Wahrheitsbegriff ist fundamentaler als der später in den ,Meditationes' entwickelte. Er bleibt auch dort grundlegend" (a.a.O., 121). Das Charakteristische für Descartes' Position in den Regulae sieht er in folgendem: „Der Zeichengebrauch konstituiert sich nach dieser Theorie geradezu in der Enthaltsamkeit des Verstandes gegenüber ontologischen Aussagen. Er konstituiert sich als kritischer Verzicht auf (Abbilder' ontischer Verhältnisse und unter Verzicht auf den kritisch nicht einzulösenden Wahrheitsbegriff der .Übereinstimmung'. Was auch immer über die Körperwelt gesagt wird, wird unter der Prämisse gesagt, daß man im Sinne objektiver Gültigkeit nichts über sie sagen könne, was allgemein verbindlich wäre" (a. a. O., 131; vgl. 134 oben und 163 f.). Nun ist es nach Simon nicht die so umrissene Position, die sich in den Meditationen durchhält: Descartes hat später „über die Gottesbeweise und die Idee eines deus benignus eine evidente Verbindung zur Erkenntnis der Außenwelt hergestellt" (a.a.O., 134). Vielmehr: „Der primitive und deshalb auch für den späteren Descartes grundlegende Wahrheitsbegriff ist die Intuition, das Erfassen einfachster notwendiger Verbindungen. Er bleibt grundlegend, auch wenn man sich komplexen Problemen zuwendet. Das klassische Wahrheitsproblem als Problem der Ubereinstimmung des Verstandes mit einem äußeren Sachverhalt ist ein komplexes Problem. Es setzt zu seiner Lösung den primitiven Wahrheitsbegriff voraus" (a.a.O., 140f.; vgl. 164f.). Diesen letzten Punkt werde ich im folgenden Abschnitt dieses Kapitels der Sache nach berühren und vom Ansatz der Meditationen aus problematisieren. Zur Zitierweise in diesem Kapitel: Ziffern hinter dem Schrägstrich verweisen auf Band und Seite der Werke Descartes' in der Ausgabe von Adam und Tannery. (Bei Briefstellen werden nur Band und Seite dieser Ausgabe angegeben.) Zahlenangaben vor dem Schrägstrich: Ohne Werkangabe beziehen sie sich, wenn nicht der Titel einer anderen Schrift vorhergegangen ist, auf die Meditationen im engeren Sinn; die römische Ziffer bezeichne: die Meditation, die arabische die Ziffer der Meditation gemäß der zweisprachigen Ausgabe von Gäbe (1959); bei Widmungsschreiben und Synopsis wird die Seitenzahl dieser Ausgabe angegeben. Die Angabe „Med." mit arabischer Ziffer bezieht sich auf die .Einwände und Erwiderungen' zu den Meditationen in der Ubersetzung von Buchenau (Nachdruck 1972). Bei den Regulae wird die Seite des lateinischen Textes in der zweisprachigen Ausgabe von Gäbe u. a. (1973) angegeben. Bei La recherche de la vente... wird die Seite der Ubersetzung Buchenaus (Nachdruck 1955) verzeichnet. Beim Discours de la methode bezeichnet die römische Ziffer den Teil, die arabische die Ziffer des Teils gemäß der zweisprachigen Ausgabe von Gäbe (1960). Bei den Principia wird entsprechend verfahren, und zwar mit Bezug auf die
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Übersetzung Buchenaus (Nachdruck 1965). Auf diese Ausgabe verweist auch die Zitatangabe beim Schreiben an Picot. — Die Schreibweise der Originaltexte folgt, wo vorhanden, den Ausgaben Gäbes und wurde sonst von mir der heute üblichen angeglichen. Die Übersetzung der Zitate ist meine eigene. Vgl. hierzu auch VI 6 / VII,75 im Kontext der Meditation. Auf das Verhältnis der Meditationen in ihrer jetzigen Gestalt zu einem zehn Jahre älteren Entwurf Descartes' bin ich eingegangen in meinem Aufsatz Die Krise der Metaphysik bei Descartes. Dieses zeitliche Moment tut der Grundlegung keinen Abbruch. Im Gegenteil stellt es sicher, daß in ihrem Vollzug nicht zuviel behauptet wird. Es zeigt aber auch an, daß das ,Ich' bei Descartes nicht zeitenthoben ist. Das bestätigt sich, wenn Descartes später darlegt, daß Gott mich von Augenblick zu Augenblick erhält (vgl. S. 71). Übrigens dürfte zu dem .sooft und solange' das Bewußtsein gehören, daß ich den Gedanken „Ich bin" jederzeit wiederholen könnte, solange ich überhaupt e t w a s denke. Es handelt sich eben, wie auch in der nächsten Anmerkung hervorzuheben sein wird, bei diesem ,Ich' um Selbstbewußtsein, das auch im Denken von anderem seiner selbst bewußt ist. Um diesen Gedankenkomplex rankt sich ein Evergreen der Descartes-Diskussion: Ist das ,Ich bin' wirklich das Erste? Ist das Erste nicht vielmehr das ,Ich denke'? Wird das ,Ich bin' aus dem ,Ich denke' durch einen Schluß gewonnen (immerhin formuliert Descartes doch selbst auch: „Ich denke, also bin ich" — vgl. Anm. 24 zu diesem Kap.)? Oder ist das Ich seines Seins in einem unmittelbaren evidenten Erfassen (im Sinne des von Descartes in den Regulae erläuterten intuitus) gewiß? Ist das Denken hier axiomatisch? Oder ist Erfahrung im Spiel? Bei diesen und dergleichen Fragen wurde vielfach übersehen, daß für Descartes' Grundlegung alles darauf ankommt, ein erstes gewisses E x i s t i e r e n d e s zu finden; wie der Gedanke strukturiert ist, der diese Gewißheit artikuliert, ist demgegenüber zweitrangig (vgl. S. 65 und vor allem Anm. 22 zu diesem Kap.). Alle Versuche, das ,Ich denke' isoliert als das erste Gewisse zu nehmen, aus dem die Gewißheit des ,Ich bin' dank eines weiteren Erkenntnisschrittes e r s t f o l g t , scheinen mir an folgendem zu kranken: Indem sie unterstellen, das ,Ich denke' könne, ohne die Seinsgewißheit des Ich einzuschließen, schlechthin gewiß sein, eliminieren sie in Wirklichkeit das Ich aus dem ,Ich denke' und verkennen, daß es sich um Selbstbewußtsein handelt; von hier aus wäre kein Weiterkommen zum ,Ich bin' im Sinne Descartes'. Das ist auch gegen den 1971 von Marc-Wogau unternommenen Versuch einzuwenden, die Diskussion um die Variante zu bereichern, es handle sich beim ,cogito, ergo sum' um "a nonsyllogistic inference, in which the passage from the premise [I think] to the conclusion is made possible by an intuition" (The Cartesian doubt and the ,Cogito, ergo sum', 176). Die meines Erachtens noch immer ergiebigste und klärendste Darstellung für diese Diskussion ist die von Rod (Zum Problem des Premier Principe in Descartes' Metaphysik, 1959/60). Rod stellt die für den Fragenkomplex relevanten, durchaus vieldeutigen Äußerungen Descartes' zusammen und geht auf einschlägige Arbeiten anderer Interpreten ein, vor allem auch auf „den so scharfsinnig angelegten Versuch von Scholz [Uber das Cogito, ergo sum]" (a. a. Ο., 182) und auf Gueroults Ausführungen in Descartes selon Vordre des raisons. Nach sorgfältigen Erwägungen ergibt sich ihm die Aufgabe, „den Anspruch durch formallogische Interpretation überhaupt den Sinn der metaphysischen Grundlegung im Premier Principe erschöpfen zu können, unter grundsätzlichem Aspekt zu überprüfen" (a. a. O., 187). Der Fortgang dieses Kapitels (S. 66 f.) wird zeigen, daß ich bezüglich der Logik zurückhaltender, bezüglich des Satzes vom Widerspruch anders urteile als Rod, wenn er im Rahmen seiner grundsätzlichen Überprüfung' jenes Anspruchs ausführt: „Welchen Sinn sollte der methodische Zweifel, radikalisiert durch die Hypothese des Deus malignus, denn haben, außer der Gewährleistung der absoluten Voraussetzungslosigkeit des Anfangs? Die logische Interpretation aber muß die Gültigkeit logischer Folgebeziehung, des Widerspruchssatzes, der Notwendigkeit der klar und deutlich erfaßten Beziehungen, kurz: die
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logische Form schon voraussetzen. Der Anfang der Philosophie wäre formal bedingt, stellte also keine Letztbegründung dar, wäre nicht absoluter Anfang, da das Problem des Anfangs zum Teil auf die Logik abgeschoben w ä r e . . . Da also zugegeben werden muß, daß die Logik selbst durch den methodischen Zweifel eingeklammert wird, kann die Logik auch nicht zur Erklärung des Anfangs herangezogen werden" (a.a.O., 188). Volle Zustimmung verdient die für Rods Interpretation entscheidende Feststellung: „in dieser Gewißheit des sich vollziehenden Zweifels, bzw. Denkens überhaupt, liegt die Gewißheit meiner denkenden Existenz: Ich denke (etwas) und denke zugleich dieses Denken, und im Denken des Denkens bin ich mir meiner selbst bewußt: Ego sum, ego existo" (a.a.O., 189). Hinzuzufügen wäre, daß „Ich denke (etwas)" in diesem Fall bedeutet: ,Ich denke (mich, den Zweifelnden)' — bzw.: ,Ich denke („Ich bin")'. Da nun Rod dem ,ergo' des ,Cogito ergo sum' eine Bedeutung durchaus belassen will, kommt er zu der — ebenfalls überzeugenden — Lösung: „Zwischen der ersten sich selbst tragenden Gewißheit und ihrer logischen Explikation ist scharf zu unterscheiden; bereits die Formel ,Cogito ergo sum' ist als Explikation zu verstehen" (a.a.O., 190, bei Rod gesperrt; siehe dazu den Fortgang bei Rod). ' Siehe Med. 386f. / VII,446; 470 / VII,537 und 484 / VII,551. Vgl. Disc. IV 3 / VI,32; Princ. S. XXXVIII / IX—2, 10; Rech. 122 / X,505. 10 Vgl. Anm. 14 zu Kap. 5 und S. 141. 11 Vgl. etwa 1 8 / VII,20: aliquid certi atque indubitati — „etwas Gewisses und Unzweifelhaftes". 12 Vgl. Med. 398 / VII,461: „...weil nichts klar und deutlich erfaßt werden kann . . . , das nicht so wäre, wie es erfaßt wird, d. h. das nicht wahr wäre" ( . . . quia nihil potest clare ac distincte percipi..., quod non sit tale quale percipitur, hoc est, quod non sit verum). (Vgl. ferner Med. 454 / VII,520.) Ziel des Erkennenden ist eine „richtige Vorstellung der Dinge" (recta rerum perceptio — I 11 / VII,22). Das bleibt bestehen, auch wenn Descartes auseinanderlegt, menschliches Erkennen könne Adäquatheit mit dem Gegenstand nicht in dem Sinne behaupten und beanspruchen, daß in der Erkenntnis einer Sache schlechterdings alle Eigenschaften enthalten sind, die in der erkannten Sache sind; s o l c h e Adäquatheit als zugleich selbst gewußte kommt nur dem göttlichen Erkennen zu (Med. 200 f. / VII,220). Vgl. aber S. 79. — Insbesondere im Hinblick auf den Fortgang dieser Anmerkung referiere ich noch Gedanken einer Passage aus Descartes' Brief an Mersenne vom 16.10.1639 (11,596f.): Descartes rechnet ,Wahrheit' dort zu den Dingen, die man durch eine Definition nur verdunkeln kann und deren Begriff besonders klar ist (vgl. hier S. 78 f.). Jeder weiß immer schon, was Wahrheit ist, kennt ihre Natur — und wäre das nicht so, so könnte ihm auf keine Weise geholfen werden. Sollte aber einer die Sprache nicht verstehen, dann könnte ihm der Name .Wahrheit' erklärt werden, und das hätte dann durch die Bestimmung zu geschehen, „daß dieses Wort W a h r h e i t in seiner eigentlichen Bedeutung die Gleichförmigkeit des Denkens mit dem Gegenstand bezeichnet" (que ce mot verite, en sa propre signification, denote la conformite de la pensee avec l'objet). (Von dieser eigentlichen Bedeutung des Wortes Wahrheit hebt Descartes sodann diejenige ab, die ihm zukommt, wenn es Dingen außerhalb des Denkens zugesprochen wird; Wahrheit besagt dann, „daß diese Dinge wahrhaften Gedanken als Gegenstand dienen können" — que ces choses peuvent servir d'objets ä des pensees veritables — seien dies nun menschliche Gedanken oder Gedanken Gottes.) Angesichts solcher Stellen wie dieser und der zu Beginn dieser Anmerkung zitierten muß auch Frankfurt einräumen, daß Descartes "sometimes conceives truth and falsity in terms of correspondence" (Demons, dreamers, and madmen, 25), was ihn aber nicht hindert zu behaupten: "Certainty is his fundamental epistemological concept, and he defines truth in terms of it. N o w certainty is for him essentially a matter of the coherence of evidence. It is a coherence theory of truth, accordingly, which most authentically expresses the
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standards and goals of his inquiry" (a. a. O., 26 — siehe auch 170). Diese These kann auch mit der Bedeutung des Arguments des Betrügergottes und der metaphysischen Grundlegung der Wahrheit, wie sie für die Meditationen in ihrer jetzigen Gestalt entscheidend sind, nicht in Ubereinstimmung gebracht werden. Es verwundert von Frankfurts These her gesehen nicht, daß er sich zu den Feststellungen veranlaßt sieht: "It is essential to understand that when Descartes discusses mathematical propositions in the First Meditation, he regards them as not being perceived clearly and distinctly. They are being considered there by someone who is still bound to the senses" (a. a. O., 63). Und: "Since there are no clear and distinct perceptions in the First Meditation, it is obvious that Descartes does not introduce the demon in order to raise doubts about what is clearly and distinctly perceived" (a.a.O., 68). Immerhin fügt er hinzu: " O n the other hand, the role the demon plays there need not be the role it plays later in the Meditations. And, as a matter of fact, Descartes does later invoke the possibility of the demon's existence as a basis for doubts concerning clear and distinct perceptions" (ebd.). — Eine der Funktionen, die Frankfurt dem Betrügergott in der Ersten Meditation zuschreibt, ist, den vom Traumargument nicht berührten "belief in a material world whose most general and simple characteristics can be known", zu unterminieren "by the hypothesis that an omnipotent deity may have stocked our imaginations with ideas to which nothing corresponds [!]" (a.a.O., 73). Auch an späterer Stelle interpretiert er Descartes von der ,Korrespondenztheorie' her: "The proposition that Paris is in France is materially true if it represents something actual, i. e., if Paris is actually in France. By the same token, the concept of a winged horse is materially true or false depending upon whether it represents something or nothing, i. e., whether or not there are any winged horses" (a.a.O., 129). Übrigens scheint es mir, daß Frankfurt (ebd.) Descartes überinterpretiert, wenn er von der materialen Falschheit von Ideen fortschreitet zur materialen Falschheit / Wahrheit von P r o p o s i t i o n e n i m U n t e r s c h i e d von der formalen Falschheit / Wahrheit von U r t e i l e n (vgl. hier S.68f.). Frankfurt führt (a. a. O., 25 und nochmals 179) für seine These von der Kohärenztheorie bei Descartes eine Stelle aus der Antwort auf die zweiten Einwände ins Feld (Med. 131 / VII,145), an der Descartes zu erklären scheint, auf ,absolute Wahrheit' komme es für unser Erkennen nicht an, unser Erkennen werde nicht davon berührt, ob das von uns Erkannte Gott oder einem Engel als falsch erscheinen mag. Dieser Stelle kann man das Gewicht, das sie für Frankfurt hat, nur geben, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang löst u n d wenn man die Bedeutung von Descartes' metaphysischer Grundlegung der Wahrheit verkennt. Die Stelle, in ihrem Kontext betrachtet, zeigt sich als Argument, das jemand sich ausdenken könnte (quis fingat), um die Wahrheit von klar Erfaßtem in Zweifel zu ziehen. An jene ,absolute Falschheit' glauben wir auf keine Weise, der Gedanke an sie kann in uns nicht den geringsten Verdacht erregen ( . . . cum illam nullo modo credamus, nec vel minimum suspicemur?). Descartes kommt kurz darauf auf dieses Argument noch einmal zurück und erklärt sich mit der wünschenswertesten Deutlichkeit: „Dem widerstreitet auch nicht, wenn jemand sich ausdächte, jenes erscheine Gott oder einem Engel als falsch, weil die Evidenz unserer Vorstellung nicht erlaubt, daß wir auf jemanden hören, der sich solches ausdenkt" (Nec obstat etiam, si quis fingat ilia Deo vel Angelo apparere esse falsa, quia evidentia nostrae perceptionis non permittet ut talia fingentem audiamus. — Med. 132 / VII,146). Schon Arnauld hat den Vorwurf des Zirkels erhoben (Med. 194 / VII,214). Descartes' Erwiderung darauf (Med. 222 / VII,245 f.), die in der fünften Meditation Ausgeführtes (V 13 / VII,69 f.) in Anspruch nimmt, ist schwach und weicht dem wirklichen Problem aus. — Der sog. cartesische Zirkel ist seitdem von ungebrochener Berühmtheit und wird mindestens ebenso intensiv und variantenreich diskutiert wie das ,cogito, ergo sum'. Gewirth (The Cartesian circle reconsidered, 684 f.) verzeichnet allein für den Zeitraum von 1941 bis 1970 21 Titel. Vor allem in der englischsprachigen Forschung sind inzwischen zahlreiche Untersuchungen zu diesem Thema hinzugekommen. Das anhaltende Interesse gilt einem Gedankenglied, das in der Tat für das Gefüge der cartesischen Philosophie entscheidend ist.
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Was ich zu diesem Komplex beizutragen habe, ist im Fortgang des Kapitels dargelegt. Ich gehe deshalb nur auf zwei Arbeiten kurz ein: auf die schon genannte von Gewirth, weil zu ihr Berührungspunkte bestehen, und auf eine Arbeit von Rod, die meiner Auffassung diametral entgegengesetzt ist. Die These von Gewirths Aufsatz (der auch wegen seiner eingehenden Information über verschiedene Standpunkte der Zirkeldiskussion zu empfehlen ist) lautet: "Since the metaphysical doubt concerns only the truth of clear and distinct perceptions, not their quality of being clear and distinct, Descartes can still advance reasons or deductions that use the clearness and distinctness of the component propositions as their criterion of validity... Clearness and distinctness are internal qualities, in that they characterize perceptive acts and ideas in relation to one another. To put it briefly, an idea and a perceptive act are clear and distinct when the mind in perceiving the idea is aware of the idea's contents and logical relations, and when it attributes to the idea that and only that which is justified by those contents and relations. Truth, on the other hand, is an external quality, since it consists in a relation of 'conformity' between an idea or thought and an extra-ideational thing or object. From this it follows not only that clearness and distinctness are not the same as truth but also that the mind can ascertain whether its perceptions are clear and distinct without ascertaining whether they are true" (a. a. O., 680). Ich werde darin von Gewirths Auffassung abweichen, daß ich der Regel der Wahrheit schon vor der Widerlegung des Arguments des Betrügergottes eine eingeschränkte Gültigkeit in Hinsicht auf W a h r h e i t zuschreibe, so daß damit die „internal qualities" schon überschritten sind. — Gewirth argumentiert dann im Fortgang (681 ff.), daß a l l e i n d i e K l a r h e i t u n d D e u t l i c h k e i t des Betrügergottarguments einen gültigen Grund für die Annahme abgeben kann, klare und deutliche Vorstellungen seien nicht wahr, daß also die Zurückweisung der Klarheit und Deutlichkeit jenes Arguments den metaphysischen Zweifel behebt und metaphysische Gewißheit herstellt. Hier möchte ich stärker als Gewirth akzentuieren, daß es des Beweises der E x i s t e n z Gottes (eines Existierenden außerhalb des denkenden Ich) bedurfte, daß der Beweisgang der 3. Meditation das Betrügergottargument als f a l s c h erweist und daß genau das gefordert war (denn angesichts dieses entscheidenden Zweifelsarguments verschlüge die zu Beginn der ersten Meditation ausgesprochene Absicht, das Zweifelhafte dem Falschen in Hinsicht auf Zustimmung gleichzustellen, nichts, bzw. dieses Argument könnte nicht als falsch genommen werden, nur weil es zweifelhaft ist — es muß widerlegt werden. — In Anm. 8 zu diesem Kap. habe ich Rods Auffassung über die Selbstgewißheit des Ichs als Anfang zugestimmt. Ich wiederhole noch einmal das abschließende Zitat jener Anmerkung, weil das darin Gesagte für Rod zum Denkmodell wird, mit dem er in seinem Aufsatz Zur Problematik der Gotteserkenntnis bei Descartes („Le cercle cartesien") das Zirkelproblem angeht: „Zwischen der ersten sich selbst tragenden Gewißheit und ihrer logischen Explikation ist scharf zu unterscheiden; bereits die Formel .Cogito ergo sum' ist als Explikation zu verstehen." Entsprechend begegnet er dem cartesischen Zirkel mit dem Versuch, eine ,sich selbst tragende' Seinsgewißheit vorauszusetzen, deren ,Explikation' die Gottesbeweise sind. Wenn dies der einzig mögliche Versuch der Problemlösung wäre, so müßte man meiner Meinung nach Descartes den Zirkel uneingeschränkt und mit allen Konsequenzen für die Grundlegung der Wahrheit zuschreiben. Rod schreibt: „Im Gegensatz zu manchen Historikern glauben wir, daß man Descartes im Hinblick auf seine Gottesbeweise nicht vom Vorwurf einer schlechten Logik freisprechen kann, solange man sie nämlich isoliert betrachtet und sich an den Wortlaut der Texte hält. Der Circulus in demonstrando läßt sich nicht wegleugnen! . . . Da es aber bei einem Denker wie Descartes schwerfällt anzunehmen, daß er einem derart trivialen Fehler zum Opfer gefallen sei, und da andererseits der Zirkel nach der üblichen Lesart nicht wegzuleugnen ist, scheint es nur eine Möglichkeit zu geben, die Gewißheit der Existenz Gottes und damit die Kohärenz des Systems aufrechtzuerhalten: Die Gottesgewißheit müßte — gegen die äußere Form der Descartesschen Darlegungen — ebenso wie die des Cogito als Daseinsgewißheit aufgefaßt
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werden, . . . also nicht als erschlossener, deduktiv ableitbarer bzw. begründbarer Satz. Der Satz ,Gott existiert' . . . stünde als Ausdruck einer Existenzgewißheit außerhalb jedes logisch-deduktiven Nexus" (a.a.O., 132). Die „Form der Gottesbeweise" ist „entfaltende Einkleidung einer einfachen Existenzgewißheit" (a.a.O., 133). Dieser Ansatz hat sich meines Erachtens von Descartes' Meditationen weit entfernt. — Rod stützt sich auf Descartes' Auffassung von der Endlichkeit des Ich mit ihrem Bezug zur Unendlichkeit. Ein Stück weit gibt Rod diese Auffassung adäquat wieder: „Nun ist es gewiß, daß ich ein endliches Wesen bin. Ich erfahre ja meine Endlichkeit jedesmal, wenn ich zweifle... Descartes glaubt aber nicht, die Idee des vollkommenen Seins, d. i. Gottes, aus der erfahrenen Endlichkeit gewinnen zu können, sondern umgekehrt: Das Endliche ist für ihn die Negation des Unendlichen. Ich kann mich also gar nicht als endliches existierendes Wesen erfassen (wie ich mich doch in allergewissester Weise erfasse), ohne zugleich um das Unendliche zu wissen" (ebd.). Rod übersieht aber, daß hierzu die I d e e des Unendlichen (als sachhaltige, ,reale', .positive' — vgl. hier S. 69) genügt und daß Descartes an der von Rod beigezogenen einschlägigen Stelle der dritten Meditation (III 24 f. / VII,45 f.) sowie in der von Rod (in seiner Anm. 12) zitierten Briefstelle gerade nur so viel behauptet. Rod nimmt daher zu Unrecht für schon erwiesen: „Ich kann nicht als endliches Wesen existieren (wie ich ohne Zweifel existiere), wenn nicht auch das Unendliche existiert" (ebd.). (Auf dieses Thema zurückkommend, stützt sich Rod in seinem Aufsatz Gewißbeit und Wahrheit bei Descartes, 356, auf eine spätere Stelle der dritten Meditation — III 38 / VII,51 —, deren nicht zitierter unmittelbarer Fortgang das Verhältnis von Idee des Unendlichen und Beweis der Existenz Gottes im Sinne des Gottesbeweises der dritten Meditation klar zum Ausdruck bringt und Rods Auffassung widerstreitet.) — Rod versteht dann die in ursprünglicher Seinsgewißheit' gewisse „Idee des Seins" als „Horizont jeder besonderen Wirklichkeitssetzung" (Zur Problematik..., 136) und meint: „nur innerhalb seiner läßt sich auch die Gewißheit von der Existenz des eigenen Ich gewinnen" (a. a. O., 137). Daß Rod sich von Descartes entfernt hat, scheint mir auch darin faßbar, daß er, wiewohl er an Descartes' Vorstellung vom Unendlichen angeknüpft hatte, schließlich zu der Feststellung gelangt: „Gott hat für Descartes notwendig die Prädikate der absoluten Vollkommenheit und Unendlichkeit; für das Sein als Wirklichkeitshorizont verlieren diese Prädikate ihren Sinn" (a.a.O., 145). Auf dieser Linie liegt dann auch die Äußerung: „erst wenn, wie es bei Descartes der Fall ist, das Sein im allgemeinen zum individuellen Gottesbegriff konkretisiert wird, wenn also Ich und Gott als zwei Seiende begriffen werden, wird der Zirkel unvermeidlich" (a.a.O., 151). Damit scheint man nun allerdings vor einem Paradox zu stehen: Als s c h l e c h t h i n a l l g e m e i n e wurde die Regel der Wahrheit aus dem Ich gewonnen (vgl. S. 63 f.); durch das Argument des Betrügergottes und bis zu dessen Widerlegung ist sie (wie im folgenden gezeigt werden soll) nur e i n g e s c h r ä n k t gültig. Man könnte aber diese Paradoxie entschärfen durch das Argument: Sehr klar und deutlich erfasse ich die Gewichtigkeit der unwiderlegten Hypothese, daß ein höchst mächtiger Betrüger mich täuschen mag, sehr klar und deutlich erfasse ich damit also, daß ich die Rechtmäßigkeit, die Existenz von Dingen außer mir zu behaupten, noch nicht sehr klar und deutlich erfasse. Siehe Princ. I 48 / VIII—1,22 und I 49 / VIII—1, 23 f. Die Mathematik gehört nicht mit hierher, wenn sie, wie es bei Descartes der Fall ist, als eine Wissenschaft von der existierenden oder mindestens möglichen Welt der körperlichen Dinge aufgefaßt wird. Siehe V 16 / VII,71, wo Descartes als Gegenstand der reinen Mathematik die ganze körperliche Natur nennt ( . . . de omni illa natura corporea, quae est purae Matheseos objectum). Vgl. dazu S. 75. Siehe ferner Med. 350f. / VII,383; Disc. IV5 / VI,36. Bis zu diesem Problem ist sogar Bourdin vorgedrungen (Med. 462 / VII,529), dessen Ausführungen über weite Strecken ein Wust von Unverschämtheiten und dümmlichen Spitzfindigkeiten sind.
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In diesem Zusammenhang ist auf den Anfang von Princ. I 5 hinzuweisen. Buchenau übersetzt hier nicht sehr glücklich, insbesondere wenn er „de iis principiis" mit „die Sätze" wiedergibt. Der lateinische Text lautet (VIII—1, 6): Dubitamus . . . etiam de Mathematicis demonstrationibus, etiam de iis principiis, qua hactenus putavimus esse per se nota („wir zweifeln auch an den mathematischen Beweisen, und auch an den Prinzipien, die wir bisher für durch sich selbst bekannt gehalten haben"). Läßt diese Stelle die Deutung zu, bei den Prinzipien könne es sich nicht nur um mathematische, sondern um erste Prinzipien aller Erkenntnis überhaupt handeln, so schafft die von Descartes durchgesehene französische Ubersetzung Klarheit, indem sie für „de iis principiis" setzt „de ses principes" (IX—2, 26): Es handelt sich um „ihre" Prinzipien, nämlich der Mathematik (bzw. der mathematischen Beweise). " Vgl. im Zusammenhang damit Aristoteles, Peri herm. 9, 19a23f.: „Daß nun das Seiende ist, solange es ist, und das Nichtseiende nicht ist, solange es nicht ist, ist notwendig". 20 Vgl. dazu III 4 / VII,36: „ . . . worin ich nämlich einen offenbaren Widerspruch erkenne" (.. .in quibus scilicet repugnantiam agnosco manifestam); die Ziffer würde sich allerdings bei detaillierter Interpretation als schillernd und einigermaßen fatal für den Zusammenhang erweisen. Völlig eindeutig heißt es jedoch Princ. 1 2 / VIII—1, 7: „es ist nämlich ein Widerspruch, zu meinen, daß das, was denkt, zu dem Zeitpunkt, zu dem es denkt, nicht existiert" (repugnat enim, ut putemus id quod cogitat, eo ipso tempore quo cogitat, non existere). 21 Siehe den Kontext der eben beigezogenen Metaphysik-Stelle; vgl. Descartes, Rech. 139 / X,522. 22 Das Ich ist grundgebender Anfang daher als erstes „wahres und wahrhaft existierendes Ding" (res vera, et vere existens — II 6 / VII,27), als erstes gewiß erfaßtes S e i e n d e s . Diesem Anfang geht ein wahres Erkenntnisprinzip vorher (an dem sich nach wie vor die Grundüberzeugung der Tradition bewährt, es gebe erste Erkenntnisprinzipien, die durch sich selbst bekannt und gewiß sind — vgl. Med. 147 / VII,162 f.). 23 Descartes hält es überdies für möglich, im ungünstigsten Falle wenigstens zu der einen Gewißheit fortzuschreiten, daß es nichts Gewisses gibt (pergamque porro d o n e c . . . saltem hoc ipsum, pro certo, nihil esse certi, cognoscam — II 1 / VII,24). 24 Hier ist eine Ergänzung erforderlich. Was über die Erkenntnisprinzipien im Sinne von Grund s ä t z e n und über ihr Verhältnis zur Regel der Wahrheit gesagt wurde, gilt parallel für G r u n d b e g r i f f e unseres Erkennens, d.h. für Begriffe, in denen wir höchst „einfache Naturen" (z.B. Erkenntnis, Zweifel, Ausdehnung, Existenz) in ihrem bloßen Was klar und deutlich vorstellen. Mindestens die Begriffe ,Denken' und ,Existenz' müssen in ihrem Was in einer wahren Vorstellung schon erfaßt sein, damit das denkende Ich von sich mit Gewißheit sagen kann: „Ich denke, also bin ich." (Vgl. S. 78 ff. und Princ. I 10 / VIII—1, 9.) Die Gewißheit dieser beiden Begriffe liegt damit zugleich der Regel der Wahrheit schon vorweg. Die vorläufige und begrenzte Bedeutung der Regel der Wahrheit in bezug auf die Grundbegriffe unserer Erkenntnis besteht entweder darin, daß sie das Ich sich diese Begriffe sicherer als zuvor zueignen läßt, oder daß sie über die zunächst allein fraglosen Begriffe .Denken' (wie auch ,Zweifeln') und ,Existenz' hinaus alle übrigen Grundbegriffe dieser Art in Kraft setzt. 25 Am Ende der dritten Meditation (III 37 f. / VII,51), nach dem durchgeführten Beweis des Daseins Gottes, macht Descartes verständlich, daß und warum diese Idee immer in mir ist, auch dann, wenn ich meine Aufmerksamkeit nicht auf sie richte. Sie ist als eingeborene, von Gott meinem Geist eingeprägte Idee so etwas wie ein ,Faktum der reinen Vernunft'. ,Faktisch' ist damit auch ihr Inhalt. Das wird aufzugreifen sein. 26 Vielleicht ist aber statt der Nachlässigkeit eine geheime Absicht im Spiel — vgl. Anm. 28 zu diesem Kap. im dortigen Zusammenhang einschließlich der auf sie folgenden Anm. 29. 27 Zur Gleichsetzung von Sachgehalt (realitas) und Seinsgehalt (entitas) siehe Med. 146 / VII,161.
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Dies betrifft vor allem die Güte. Vgl. nochmals IV 2 / VII,53: Erfolgreich zu täuschen, mag zwar Macht beweisen; aber täuschen wollen, bezeugt Schlechtigkeit oder Schwäche. Im Falle des Betrügergottes (genius malignus — 1 1 2 / VII,22) läge jedenfalls Schlechtigkeit vor. Descartes verschweigt ihn geradezu. Warum wohl? Würde die Argumentation ausdrücklich mit dem möglichen Betrügergott verknüpft oder gar an ihm oder auch an ihm durchgeführt, dann hätte Descartes selbst damit seinen ontologischen Gottesbeweis der fünften Meditation zum bloßen Annex des Gottesbeweises der dritten Meditation erklärt. Solange es eine Denkmöglichkeit ist, daß ein Betrügergott Urheber der Idee eines höchst vollkommenen Wesens (entis summe perfecti — V 7 / VII,65) in mir sein könnte, kann schwerlich aus dieser Idee Gottes Dasein bewiesen werden. — Das Problem im Verhältnis der beiden Gottesbeweise der dritten und fünften Meditation zueinander kann auch so gefaßt werden: Beide gehen von der Idee Gottes aus. Diese ist sachhaltig und positiv und in diesem Sinne ,wahr'; ihr Sachgehalt ist Seinsgehalt. Und nun gilt es zu sehen: E n t w e d e r ,Wahrheit' und Seinsgehalt der Idee Gottes sind vor beiden Beweisen und für beide Beweise dieselben. Dann ist der Gottesbeweis der dritten Meditation überflüssig. Denn mit Bezug auf eine Idee Gottes, die so wahr und deren Seinsgehalt von solcher Art ist, daß sie das Dasein Gottes schon einschließt, braucht nicht mit größter Ausführlichkeit dargelegt zu werden, daß ich nicht ihr Urheber sein, d . h . sie nicht ausgedacht haben kann. Wenn die Idee eines höchst vollkommenen Wesens das Dasein dieses Wesens so einschließt, daß dies Wesen notwendig existiert und ich dessen gewiß sein kann, dann ist die Frage sinnlos, ob ich mir diese Idee ausgedacht haben könnte. In diesem Fall kann der Gottesbeweis der dritten Meditation nur vorgetragen werden, wenn das ontologische Argument hintangehalten wird (tatsächlich folgt es erst in der übernächsten Meditation). O d e r .Wahrheit' und Seinsgehalt der Idee Gottes sind vor beiden Beweisen und für sie von verschiedenem Grad; die Idee Gottes hat angesichts des Zweifelsarguments des Betrügergottes nicht mehr den Wahrheits- und den Seinsgehalt, deren sie für das ontologische, auf Anselm zurückgehende Argument bedarf. Ich könnte mir diese Idee ausgedacht haben (wie ich mir andere Ideen ausdenken kann), und von dieser ausgedachten Idee könnte nicht auf Gottes Dasein geschlossen werden; man käme bloß zu einem ausgedachten Dasein. In diesem Fall setzt in der uns vorliegenden Fassung der Meditationen der ontologische Beweis der fünften Meditation den Beweis der dritten Meditation voraus. — Vermerkt sei, daß Descartes in den Principia (I 14 ff. / VIII—1, 10 ff.) den ontologischen Beweis dem früher in der dritten Meditation vorgetragenen und in der „Ubersicht" zu den Meditationen (Synopsis S. 27 / VII,14) als Hauptbeweis (meum praecipuum argumentum ad probandum [Gäbe: probandam] Dei existentiam) bezeichneten Gottesbeweis v o r a n s t e l l t und beide Beweise u n m i t t e l b a r aufeinander folgen läßt. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß Descartes in seiner Erwiderung auf die ersten Einwände auseinanderlegt, daß und warum die Idee Gottes nicht ausgedacht ist (Med. 105 f. / VII,117f. im Zusammenhang mit Med. 105 / VII,116). Es kann nicht verwundern, daß das Verhältnis der Gottesbeweise der dritten und der fünften Meditation zueinander in der Descartes-Literatur die verschiedensten Beurteilungen gefunden hat. Gueroult sieht den Gottesbeweis der dritten Meditation (preuve par les effets) geradezu als den einzigen an: « . . . il en resulte que la preuve ontologique, etant derivee de la preuve par les effets, ne peut subsister sans eile, tandis que celle-ci peut subsister sans cellelä. En consequence, la preuve par les effets doit etre consideree comme la preuve principale et meme unique de l'existence de D i e u . . . La preuve par la consideration de la cause efficiente est la seule, en effet, capable de demontrer la validite objective des idees claires et distinctes» (Descartes selon l'ordre des raisons 1,339 — siehe dort auch den Fortgang). In seiner Anm. 21 zu S. 339 verweist Gueroult auf die Gegenposition Hamelins, der die völlige Unabhängigkeit des ontologischen Beweises von dem der dritten Meditation behauptet. Beck (The metaphysics of Descartes, 231 mit Anmerkungen 1 und 2) knüpft an Gueroult an, verweist zur Unterstützung auf Blondel und nennt als Gegenspieler Gouhier. Nach Beck
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hängt die Gültigkeit des ontologischen Beweises von ,den früheren Beweisen' ab (a. a. O., 237); aber: "This does not mean that the ontological proof is useless, devoid of meaning, and without any value . . . i t . . . opens up a new vision on the nature of divine Being and it has thereby a psychological value" (ebd.). Magnus meint, "that the ontological argument, rather than being a distinctive species of proof, ought to be read as a prolongation or continuation of arguments found in the third Meditation" (The modalities of Descartes' proofs for the existence of God, 77); Magnus möchte das ermöglichen, indem er (a. a. Ο., 82 u. 83) — meines Erachtens zu Unrecht — Existenz als "a predicate of perfection" in den Beweisgang der dritten Meditation hineinprojiziert. (Wenn übrigens Magnus im Schlußteil seines Aufsatzes — 84 ff. — mit einer "reductio ad absurdum" verblüfft, so trifft er Descartes' Beweise damit nicht — mag auch immanent oder von außen sonst manches gegen sie eingewendet werden können.) — Rod vertritt in Zur Problematik der Gotteserkenntnis bei Descartes, 134 — durchaus auch hiermit seine dortige Grundthese verfolgend (vgl. Anm. 13 zu diesem Kap.) — die Uberzeugung: „Das Kausalprinzip führt nur zu einer notwendig zu denkenden Ersten Ursache, und daher bleibt die Frage offen, ob eine solche auch existiert — außer es wird angenommen, daß ein notwendig zu denkendes Wesen auch notwendig existiert, was eben die Annahme des ontologischen Arguments ist. Die kausalen Beweise der Med. III erweisen sich daher als abhängig vom Argument der Med. V." Rod vollzieht dann den weiteren Schritt zu der Behauptung, „daß sich beide von Descartes angewandten Beweisgänge wechselseitig bedingen. Damit sehen wir uns mit der Konsequenz konfrontiert, daß auch zwischen den beiden Formen von Gottesbeweisen ein Zirkel, ein hysteron — proteron, besteht" (a.a.O., 135). — Ein wechselweises Sichbedingen der Beweise sieht auch Hirsch gegeben. Das Beweisresultat des ersten Beweises „bringt ein Problem auf: Die Gewißheit der Existenz Gottes ist abhängig von der Selbstgewißheit der res cogitans, in welcher die Idee Gottes ihre Anwesenheit hat. Von der res cogitans aber gilt, daß sie ihres eigenen Daseins zwar unmittelbar und unbedingt gewiß ist — aber doch immer nur, sooft und solange sie den Denkakt vollzieht... Dagegen enthält aber die Idee Gottes den dieser Einschränkung widerstreitenden Sachgehalt des schlechthin uneingeschränkten Daseins. Das Beweisresultat überschreitet in einer bestimmten Hinsicht den Beweisgrund, von dem es doch getragen sein soll. So macht der erste Beweisgang einen zweiten notwendig" (Die Aporie des Willens, 185f.; vgl. Anm.7 zu diesem Kap.). Der zweite Beweis hat ebenfalls „einen Mangel an sich: Bewiesen ist die vom Denken unabhängige Notwendigkeit der Existenz Gottes, die ihre Dauer einschließt. Diese Unabhängigkeit vom Denken u. d. h. von der res cogitans ist jedoch lediglich eine Unabhängigkeit des als notwendig und dauernd erkannten Daseins Gottes, nicht aber eine Unabhängigkeit der Gewißheit dieser Notwendigkeit vom Denken . . . Auch der zweite Gottesbeweis unterliegt also einer Beschränkung" (a.a.O., 186f.). Gegen sie wird nach Hirsch der erste Beweis wirksam, denn er „gründet die Gewißheit vom Dasein Gottes in der Selbstgewißheit des ego cogito" (a. a. O., 187). Wieder — und nunmehr ganz konsequent — wird des möglichen Betrügergottes mit keinem Wort gedacht, obwohl er unter den .weniger vollkommenen Ursachen als Gott' in Betracht kommen könnte (solange jedenfalls, als nicht klargestellt ist, daß er S e i e n d e s nicht zu verursachen vermöchte). Erst nachdem auch noch untersucht worden ist, auf welche Weise ich die Idee Gottes empfangen habe ( III 37f. / VII,51), wird gesagt, daß G o t t kein Betrüger sein kann (III 38 / VII,52). Deshalb ist es verständlich, daß in der Descartes-Literatur des öfteren von zwei Gottesbeweisen der dritten Meditation die Rede ist. Vgl. aber hier den Fortgang, insbesondere auch S. 71. Damit ist gesagt: Die Widerlegung der Hypothese des Betrügergottes macht die Hypothese nicht ungeschehen; sie stellt nicht den .Zustand der Unschuld' vor diesem Zweifelsargument ohne weiteres wieder her. Zu dem Hin und Her der Äußerungen Descartes' zu diesem Punkt verweise ich noch auf
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folgende weitere Stellen: Med.: 95 / VII,106; 123 / VII,136; 152 / VII,168 und 153 / VII,169. Gott ist „ganz wahrhaftig" (tout veritable — Disc. I 12 / VI,40), „höchst wahrhaftig" (summe verax — Princ. I 29 / VIII—1,16). Vgl. auch im Rahmen der Zweifelsbetrachtung I 12 / VII,22 ( . . . o p t i m u m Deum, fontem veritatis...). „Quelle aller Wahrheit" (source de toute verite) wird Gott auch genannt an der schon einmal erwähnten Stelle Princ. S. XXXVIII / IX—2, 10. Vgl. V 15 / VII,70 und Disc. IV 7 / VI,38, wo freilich ebensowenig wie anderwärts zum Ausdruck kommt, daß die Regel der Wahrheit in einem eingeschränkten Sinn schon für den Gottesbeweis in Kraft sein muß. Vgl. S. 46. — Das lumen naturale bezeichnet bei Descartes die um theoretische Erkenntnis bemühte, Glauben und Offenbarung nicht in Anspruch nehmende, vorurteilsfreie (vermeintlich traditionsfreie), über erste Erkenntnisprinzipien verfügende Erkenntniskraft, die zu unzweifelhaften Erkenntnissen in der Philosophie (Descartes'scher Prägung) und in den auf dieses Fundament zu stellenden Wissenschaften gelangt. (Siehe etwa Med., Synopsis S. 29 / VII,15; III 9 / VII,38; ferner den vollen Titel des Dialogfragments La recherche de la verite, Rech. 113 / X,495.) Vgl. auch S. 77; dazu ist freilich das hier wie dort folgende über das Ich als Wahrheitsgrund zu beachten. Das gilt auch unabhängig von dem Argument des möglichen Betrügergottes und also auch nach seiner Widerlegung. Vgl. V 14 / VII,70: Descartes erinnert sich, „oft vieles für wahr und gewiß gehalten zu haben" (saepe multa pro veris et certis habuisse), das er dann später doch als falsch erkennen mußte. An diese Stelle knüpft Gassendi an, nachdem er zu bedenken gegeben hat, daß es entgegengesetzte Meinungen gibt, deren jede von ihrem Verteidiger für klar und deutlich gehalten wird; er fordert für die Lösung des Problems den Aufweis der Methode (Med. 254 f. / VII,278 f.; siehe auch Gassendi, Med. 292 / VII,318). Vgl. ferner Descartes, Med. 446 / VII,511; Disc. IV 3 / VI,33; Princ. I 5 / VIII—1, 6. Vgl. auch den Anfang des Textes zu Regel IV (Reg. 22 / X,371). Vgl. auch S. 72. Ähnlich äußert sich Descartes schon Disc. II 6 / VI,17. In seinen Anmerkungen zu den siebten Einwänden (Med. 455 f. / VII,522) stellt er ein Gegengewicht her, indem er erklärt, daß er selbstverständlich die Schlußformen anerkennt und anwendet. Vgl. IV 16 / VII,61 f.; Disc. II 6 (Ende der Ziffer) / VI,18. Vgl. Disc. I 3 / VI,3; Reg. 178 / X,396; Rech. 114 / X,496f. und 115 / X,497f. Nach einem Wesen als wesentliches Wassein einer Substanz sucht man bei Descartes im Bereich endlicher Dinge vergeblich. Das Wesen endlicher Dinge (res) qua Substanzen ist nach Descartes unfaßbar und wird vertreten durch das wesentlichste Attribut der Substanz, durch die Ausdehnung bei den Körpern, das Denken (cogitare) beim menschlichen Geist. Vgl. Med.: 159f. / VII,176; 202 / VII,222; 381 / VII,440; Princ. I 48 / VIII—1, 22f. und 51—53 / VIII—1, 24 f.; Princ. II 4 / IX—2, 65. Siehe ferner vor allem V 6 / VII,64f.; VI 3 / VII,73; VI 10 / VII,78; vgl. auch Med. 349f. / VII,382 und 353 f. / VII,387. Descartes vertritt den Standpunkt einer apriorischen, in jedem ihrer Erkenntnisschritte Notwendigkeit beanspruchenden, daher im Wissenscharakter von der Mathematik im engeren Sinn nicht verschiedenen Naturwissenschaft. O b Descartes diese radikal rationalistische Position mit ihrer gänzlichen Absage an die Erfahrung (eine aporetische Position, wie man behaupten darf) völlig widerspruchsfrei durchgehalten hat, ist eine Frage, die hier nicht entfaltet werden kann. — Ich verweise auf die eindringliche Auseinandersetzung mit dieser Seite der cartesischen Philosophie bei Barth, Philosophie der Erscheinung II, 162 ff. Auch Link führt in seinem Buch Subjektivität und Wahrheit vor diese Problematik. Vgl. ebd.: . . . natura, sive essentia, sive forma, immutabilis et aeterna . . . Vgl. Med. 323 / VII,350; Princ. I 66 / VIII—1, 32 und I 68 / VIII—1, 33. Siehe auch hierzu Anm. 45 zu diesem Kap.
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Eine positive Funktion haben die Sinnesempfindungen für unsere Sorge um das Wohlergehen unseres Leibes (III 12 / VII,80; III 14 / VII,81; III 15 Ende / VII,83). Irrtum ist hier möglich; seine Vereinbarkeit mit Gottes Güte muß von Descartes, zumal in Anbetracht der vierten Meditation, dargelegt werden (VI 17 ff. / VII,84 ff.). Durch den im Gang der Meditationen entfalteten Begriff des Wissens und die dabei zutage getretene Bedeutungslosigkeit der Wahrnehmungen für den Inhalt der Erkenntnis hat das Traumargument viel von dem Gewicht verloren, mit dem es in der ersten Meditation aufzutreten schien. Descartes entkräftet es in der sechsten Meditation (VI 24 / VII,89 f.) im Zusammenhang mit den eben erwähnten Ausführungen. Dieselbe Widerlegung wäre freilich schon in der ersten Meditation möglich gewesen. Descartes lenkt an der angeführten Stelle der sechsten Meditation von diesem Tatbestand ab, indem er eine Verbindung zum Argument des Betrügergottes herstellt. 48
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Es geht Descartes um die Freiheit Gottes, wobei Freiheit als Indifferenz verstanden wird, und um den Primat des Willens Gottes vor dem Verstand Gottes (Med. 374 / VII,431 f.). Descartes bringt in diesem Zusammenhang das Beispiel: Daß die Winkelsumme im Dreieck gleich zwei Rechten ist, hat Gott nicht deshalb gewollt, weil er die Unmöglichkeit einer anderen Winkelsumme erkannt hat; vielmehr weil er gewollt hat, daß die Winkelsumme im Dreieck notwendig gleich zwei Rechten ist, deshalb ist das jetzt wahr und unabänderlich (Med. 374 / VII,432). Die „höchste Indifferenz in Gott ist der höchste Beweis seiner Allmacht" (summa indifferentia in Deo summum est ejus omnipotentiae argumentum — Med. 375 / VII,432). Gottes Wille in seiner höchsten Indifferenz und von ihr her verstandenen Selbstbestimmung (se determinavit) wird hier von Descartes in radikalem Sinn als Wirkursache (causa efficiens) gedacht (Med. 377 f. / VII,435 f.). Daß Gottes Wille in höchster Indifferenz die Gesetze der Natur festgesetzt hat, besagt, wie ausgeführt, gerade nicht, daß er die Verbindlichkeit dieser Gesetze für sich selbst (als Schöpfer und Erhalter der Welt) wieder aufheben könnte. Rod bemerkt dazu richtig: „Da nun Gott unveränderlich und ewig ist, kann eine solche Änderung seines Willens nicht angenommen werden" (Gewißheit und Wahrheit bei Descartes, 349). Rod geht hinter diese Feststellung zurück, wenn er dann die meines Erachtens Descartes nicht angemessene Auffassung vertritt: „So bleibt denn alles beschränkte Erfassen im Grunde doch zufällig, zufällig wie alles Endliche, weil es von einem kontingenten Geschehnis abhängt: dem indifferenten Willensentschluß Gottes. Was vom Endlichen her gesehen Notwendigkeit ist, ist von Gott her gesehen Kontingenz" (a. a. O., 362).
' Zwar werden Dinge von Descartes wahr genannt, aber ,wahr' ist dann in der Regel ein Synonym für .seiend'. (Eine Ausnahme findet sich im Brief an Mersenne vom 16.10.1639 — siehe Anm. 12 zu diesem Kap.) So wird das Ich ein „wahres und wahrhaft existierendes Ding" genannt, nachdem seine Existenz mit Gewißheit erfaßt worden ist (vgl. Anm. 22 zu diesem Kap.). Die Wesen der materiellen Dinge sind ihre „wahren und unveränderlichen Naturen" — sie s i n d , mindestens im Sinne des Existieren-könnens (vgl. S. 75). Vgl. ferner I 6 / VII, 19 f. und II 9 / VII,28 f. Entsprechend ist Princ. I 75 / VIII—1, 38 die .Wahrheit der übrigen Dinge' zu verstehen. (Als Bestätigung des Gesagten darf eine Stelle aus dem Brief an Clerselier vom 23.4.1649 gelten, wo Descartes mit Bezug auf die Idee G ο 11 e s als „zuhöchst wahrer Idee" (idea summe vera) schreibt: „Die Wahrheit besteht im S e i η , und die Falschheit einzig im N i c h t s e i n , dergestalt, daß die Idee des Unendlichen, alles Sein umfassend, alles das umfaßt, was es an Wahrem in den Dingen gibt, und in sich nichts Falsches haben kann" (La verite consiste en l'etre, et la faussete au non-etre seulement, en sorte que l'idee de l'infini, comprenant tout l'etre, comprend tout ce qu'il y a de vrai dans les choses, et ne peut avoir en soi rien de faux. — V,356).
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Descartes hat sich des Definierens allerdings nicht gänzlich enthalten. Was freilich die Definitionen innerhalb der Antwort auf die zweiten Einwände zu den Meditationen betrifft (Med. 145 ff. / VII,160ff.), so waren sie vom mos geometricus gefordert, und Descartes
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macht dort im voraufgegangenen hinreichend deutlich, daß die geometrische Methode als Darstellungsform eine Konzession an seine Diskussionspartner ist. Vgl. III 6 / VII,37: Urteilend, behaupte (oder bestreite) ich, daß Ideen, die in mir sind, Dingen außer mir ähnlich (similes) oder mit ihnen gleichförmig (conformes) sind. Bei diesem Gedankenkomplex sei zum Vergleich mit Aristoteles verwiesen auf S. 14 f. Vgl. IV 12 / VII,59; IV 16 / VII,61 f.; Princ. I 33 / VIII—1, 17f. Davon ist sehr wohl zu unterscheiden, daß Descartes für die menschliche Erkenntnis keine auch nur annähernd adäquate Erkenntnis von Gottes Wesen beansprucht hat. Die menschliche Vernunft kann keines der Gott zugeschriebenen Attribute ausloten und schon gar nicht ihre „Einheit, Einfachheit oder Untrennbarkeit", die auch nach Descartes „eine der vorzüglichsten Vollkommenheiten" Gottes ist (unitas, simplicitas, sive inseparabilitas eorum omnium quae in Deo sunt, una est ex praecipuis perfectionibus quas in eo esse intelligo — III 35 / VII,50). Dies Zurückbleiben des menschlichen Erkennens hinter Gottes Wesen beeinträchtigt aber nach Descartes' Zeugnis keineswegs die Klarheit und Deutlichkeit der Idee Gottes in mir, von der aus der Gottesbeweis geführt wird. Vgl. zu diesem Gedankenkomplex: III 25 / VII,46; Med.: 97 / VII,107; 102f. / VII,113f.; 125 / VII,137f.; 338 / VII,368; 375 / VII,433; Princ. I 51 / VIII—1, 24 und I 54 / VIII—1, 26. Schon Mersenne und Gassendi fragten dagegen nach seiner Herkunft außerhalb des Ich (Med. 112 / VII,124 und 262 / VII,286). Vgl. auch seine Argumentation Med. 170 f. / VII,188. Vgl. Gassendis diesbezüglichen Hinweis auf Aristoteles Med. 278 / VII,303. Es ist klar, daß das ,Beweisen' einzelner Attribute Gottes über die Bestimmung ,Schöpfer' hinaus nicht beliebig fortgesetzt werden könnte. Auch der Beweis, daß Gott Schöpfer des Ich ist, setzt ja den Sachgehalt und Seinsgehalt der Idee Gottes in diesem Ich voraus. Andere Voraussetzungen, die von Descartes im Gottesbeweis wie unbezweifelbare Erkenntnisprinzipien in Anspruch genommen werden, ohne diesen Charakter zu haben, lassen sich aufspüren, ζ. B. die Zeitvorstellung und das Ineinssetzen von Schöpfung (creatio) und Erhaltung (conservatio), siehe III 31 / VII,48 f. Wieweit Descartes sich in der Sache mit Augustinus berührt, wird in der Descartes- und in der Augustinus-Forschung unterschiedlich beurteilt. Löwith behauptet: „Augustinisch ist nicht nur die Zweifelsbetrachtung der zweiten Meditation, worauf ihn schon seine Zeitgenossen aufmerksam m a c h t e n . . . " (Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche, 27). Und: „ J e pense done je suis.' Dieser erste grundlegende Satz weist zurück auf Augustin" (a. a. O., 30). Marc-Wogau meint: "When in the Meditations he (sc. Descartes) stresses the fact that the creator of the world, even if he deceived me in all my knowledge, could not possibly create the world in such a way that I did not exist so long as I exist, the similarity with St. Augustine's doctrine 'if I am deceived I exist' (si jailor, sum) is evident" (The Cartesian doubt and the 'Cogito, ergo sum', 174). In seiner Anmerkung dazu, in der er auch auf die ältere Literatur zu diesem Bezug verweist, schreibt er: "After the publication of Discours de la methode Mersenne pointed out to Descartes that St. Augustine in De dvitate Dei makes use of the proposition I think, thus I am in the same way as Descartes. Descartes replies in a letter that he has not had St. Augustine in mind in his introduction of the cogito, ergo sum, 'parce qu'il ne me semble pas s'en servir ä meme usage que je fais'" (ebd.). Daß Descartes' Bewußtsein des Abstandes zu Augustinus in der Sache wohl begründet ist, zeigt sich in der eingehenden Interpretation der hier in Frage kommenden Augustinus-Texte durch Berlinger, Augustins dialogische Metaphysik, 149 ff. und 157 f f . — Bei Thomas findet sich ein Schritt in die Richtung der cartesischen Selbstgewißheit, wenn es heißt: „ . . . und so kann niemand mit Zustimmung denken, daß er nicht ist; darin nämlich, daß er etwas denkt, nimmt er wahr, daß er ist" (et sic nullus potest cogitare se non esse cum assensu; in hoc enim quod cogitat aliquid, pereipit se esse — De ver. q. 10, a. 12, ad 7).
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" Damit ist keineswegs behauptet, daß vor Descartes Erkenntnis und Gewißheit noch nicht in Zusammenhang gebracht worden wären — eine Behauptung, die durch Textstellen sofort zu widerlegen wäre. Man vergleiche etwa, was Thomas dazu De ver. q. 2, a. 1, ad 4 sagt. Über das Thema Gewißheit bei Thomas vergleiche Wilpert, Das Problem der Wahrheitssicherung hei Thomas von Aquin, besonders 53 ff. Die Selbstgewißheit bei Thomas wurde in Anm. 60 zu diesem Kap. gestreift. 62 Diese Herabsetzung der Definition und damit der traditionellen Wesenserfassung, zu der es gehört, sich in Definitionen zu artikulieren, entspricht dem Schritt, mit dem Descartes sich in der Auffassung über das Wesen von Aristoteles und Thomas entfernt: Nach Descartes ist uns das wesentliche Wassein endlicher Substanzen verschlossen, und wir haben uns bei der ,Wesenserkenntnis' an die wesentlichsten Attribute — Ausdehnung einerseits, Denken andererseits — zu halten. 63 Entsprechend fehlt bei Descartes die Annahme falscher Dinge, die Thomas — für die Beziehung der Dinge auf den m e η s c h 1 i c h e η Verstand — von Aristoteles übernahm. Ein Anklang daran ist bei Descartes die materiale Falschheit von Ideen.
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Kurztitel im folgenden: Prolegomena. Kants Schriften werden zitiert in der Textgestalt der Ausgabe: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Weischedel. Die Zitatangaben vor dem Schrägstrich erfolgen in der Regel gemäß den in dieser Ausgabe mitgeführten Seitenzahlen der ersten Auflage (A) und/oder zweiten Auflage (B) des Werks. Bei der Ersten Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft werden Band und Seitenzahl dieser Ausgabe angegeben. Zitatangaben hinter dem Schrägstrich beziehen sich auf Band- und Seitenzahl der Akademie-Ausgabe. 3 Genauer gesagt: Durch den Verstand wird der Gegenstand „im Verhältnis auf jene Vorstellung", die gegeben und zunächst eine „bloße Bestimmung des Gemüts" ist, gedacht (ebd.).— Vgl. S. 97 f. 4 Vgl. Fortschr. d. Met. A 182 f. / XX,325. 5 Vgl. Anm. 46 zu diesem Kap. 6 Vgl. Fortschr. d. Met. A 45 f. / XX,273: „der Umfang der theoretischen Erkenntnis der reinen Vernunft erstreckt sich nicht weiter, als auf Gegenstände der Sinne. In diesem Satze, als einem exponibeln Urteile, sind zwei Sätze enthalten: 1) daß die Vernunft, als Vermögen der Erkenntnis der Dinge a priori, sich auf Gegenstände der Sinne erstrecke, 2) daß sie in ihrem theoretischen Gebrauch zwar wohl der Begriffe, aber nie einer theoretischen Erkenntnis desjenigen fähig, was kein Gegenstand der Sinne sein kann." 7 Diese ist freilich, zumindest wenn und soweit sie ihre obersten Grundsätze durchklärt, selbst Philosophie. Vgl. S. 93 ff. und besonders auch S. 100. 8 Vgl. aber die S. 108 ff. dargestellte Problematik. ' Vgl. S. 39 f. 10 Uber die Entstehung des Irrtums äußert Kant sich im Anschluß an die zitierte Stelle. Vgl. auch Proleg. A 66 / IV,291. 11 Siehe KrV A 62 f. = Β 87: „Der Teil der transzendentalen Logik also, der die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis vorträgt, und die Prinzipien, ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann, ist die transzendentale Analytik, und zugleich eine Logik der Wahrheit. Denn ihr kann keine Erkenntnis widersprechen, ohne daß sie zugleich allen Inhalt verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgend ein Objekt, mithin alle Wahrheit." — Prauss (Zum Wahrheitsproblem bei Kant, 84) meint, „alle Wahrheit" sei an dieser Stelle „ein verkürzter Ausdruck für ,alle Wahrheits m ö g 1 i c h k ei t ' , die als solche freilich ebensosehr 2
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,eine F a 1 s c h h e i t smöglichkeit' ist. ,Alle Wahrheit' heißt hier mithin soviel wie ,alle W a h r h e i t s d i f f e r e n z 1 " . Prauss bringt hier den Unterschied von empirischer und transzendentaler Wahrheit ins Spiel. Gerade dann läßt sich „alle Wahrheit" aber auch verstehen als: ,die transzendentale Wahrheit und damit zugleich die mögliche empirische Wahrheit'. Zu Recht freilich hebt Prauss hervor, daß eine „Erkenntnis", die der „Logik der Wahrheit" nicht widerspricht, empirisch wahr o d e r f a l s c h sein kann. Vgl. hier S. 103f. mit Anm.45. Zu den im folgenden herangezogenen Abschnitten der Kritik der reinen Vernunft ist Logik A 69 ff. / IX,49 ff. zu vergleichen. Entsprechend gilt: „eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt" (ebd.). Vgl. KrV A 58 = Β 82 f. — Daß er jedenfalls auch Crusius im Blick haben dürfte, ist Logik A 19 / IX,21 zu entnehmen. Hingegen lobt er Descartes wegen des von ihm aufgestellten Wahrheitskriteriums: „Ein nicht geringes Verdienst um dieselbe (sc. die spekulative Philosophie) erwarb sich D e s c a r t e s , indem er viel dazu beitrug, d e m D e n k e n D e u t l i c h k e i t z u g e b e n , durch sein aufgestelltes Kriterium der Wahrheit, das er in die K l a r h e i t u n d E v i d e n z d e r E r k e n n t n i s setzte" (Logik A 38 / IX,32). Descartes' Wahrheitskriterium hat nach Kant in der Geschichte der Philosophie eine heilsame Entwicklung befördert; deshalb wohl verschont er ihn mit seiner Kritik. Vgl. S. 130. „Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von allen Erkenntnissen, ohne Unterschied ihrer Gegenstände, gültig wäre" (KrV A 58 = Β 83). Vgl. aber S.90f. — Der Anfang des Abschnitts „III. Von der Einteilung der allgemeinen Logik in Analytik und Dialektik" (KrV A 57 f. = Β 82 f.) hat verschiedentlich Fehldeutungen ausgelöst, so bei Prauss (Zum Wahrheitsproblem bei Kant, 74 ff.), Esterhuyse (From Plato to Kant: the problem of truth, 284 f. und 286) und Hofmeister (The problem of truth in the 'Critique of pure reason', 316 f. und 320). Mir scheint der Text der beiden ersten Absätze, insbesondere wenn man sie nicht isoliert, einen eindeutigen Sinn zu haben: Tatsächlich ist die „alte und berühmte Frage", nämlich „ W a s i s t W a h r h e i t ? " , gerade auch die Frage Kants, tatsächlich bleibt die alte Namenerklärung (Nominaldefinition — vgl. Logik, §106) der Wahrheit, „daß sie nämlich die Ubereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei", für Kant in Kraft, aber sie ist vorderhand eben nicht mehr als eine Namenerklärung, und für die Beantwortung der Frage nach der Wahrheit bleibt alles noch zu tun. Wogegen Kant sich wendet, das ist die Auffassung, als könne die Frage — in positiver Absicht oder auch nur, um „die Logiker in die Enge zu treiben" — als Frage nach einem allgemeinen und sicheren (hinreichenden) Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis' gestellt werden. In d i e s e r Form wäre die Frage sinnlos, was Kant im Fortgang verdeutlicht. — Ähnlich ließe sich bezüglich des Anfangs der in Anm. 12 zu diesem Kap. genannten Passage aus Kants Logik argumentieren, der ebenfalls nicht isoliert werden darf und in dem Kant den Begriff „Objekt" in einer Bedeutung nimmt, die er selbst in seiner Transzendentalphilosophie gerade hinter sich zurückläßt. Vgl. Logik A 10 / IX,16. Kant tilgt im Satz vom Widerspruch bewußt das ,zugleich', und zwar mit der Begründung, daß Zeitverhältnisse in einem ,bloß logischen Grundsatz' nichts zu suchen haben, weil sie ihn unzulässig einschränken würden (siehe KrV A 152 f. = Β 191 ff.). Vgl. S.66. Zur Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile vgl. Proleg. A 25 / IV,266 f. Das ist er damit auch für Realdefinitionen gegebener Begriffe. Diese Definitionen unterscheiden sich von anderen analytischen Urteilen dadurch, daß sie Vollständigkeit der den Subjektsbegriff zergliedernden Teilbegriffe anstreben. Wahr sind sie, wenn sie widerspruchsfrei sind. Irrtum ist möglich, ihr Problem liegt darin, daß ihre Vollständigkeit, die Adäquatheit von Definition und Gegenstand wäre, prinzipiell unsicher bleibt, so daß sie als Definitionen im strengen Sinn unmöglich sind. (Gattung und spezifische Differenz spielen bei ihnen keine Rolle mehr.) Zur Problematik der Definition siehe Logik A 216 ff. / IX, 140 ff. und KrV A 727 ff. = Β 755 ff.
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Vgl. S. 89. Die Paragraphen 18 bis 22 der Prolegomena von 1783 vertreten in dieser Schrift die transzendentale Deduktion der Kategorien, die, in den beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft von 1781 und 1787 verschieden gefaßt, das Herzstück dieses Werks ausmacht und sehr zu Recht im Ruf besonderer Schwierigkeit steht. Kant hat schon in der ersten Auflage die „unvermeidliche Schwierigkeit" der Deduktion eingeräumt, die daher rührt, daß „die Sache selbst tief eingehüllt ist" (A 88 = Β 121). In den Prolegomena hat er von der ,Sache' so viel zurückgenommen (nämlich die Problematik der transzendentalen Einheit der Apperzeption, d. h. der ursprünglich-synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins als letzten Grundes aller Synthesis), daß eine leichtere Verständlichkeit des Textes erreicht wurde. Eine Darstellung und Interpretation der Deduktion nach einer der Fassungen der Kritik der reinen Vernunft (oder gar nach beiden) müßte dieses Kapitel sprengen. Die Prolegomena bieten willkommenen Ersatz, ohne die Wahrheitsproblematik so zu verkürzen, daß eine kritische Auseinandersetzung mit ihr nicht stattfinden könnte. — Kant selbst legitimiert übrigens gerade auch hinsichtlich der Deduktion (die zu dem Zeitpunkt allerdings nur erst in der ersten Fassung vorlag) dazu, die Prolegomena statt der Kritik der reinen Vernunft vorzunehmen. „Ich schlage aber darum diese Prolegomena zum Plane und Leitfaden der Untersuchung vor, und nicht das Werk (Weischedel: des Werks) selbst, weil ich . . . mit meinem Vortrage in einigen Abschnitten der Elementarlehre, ζ. B. der Deduktion der Verstandesbegriffe, . . . nicht völlig zufrieden bin, weil eine gewisse Weitläufigkeit in denselben die Deutlichkeit hindert, an deren statt man das, was hier die Prolegomenen in Ansehung dieser Abschnitte sagen, zum Grunde der Prüfung legen kann" (Proleg. A 218 f. / IV 381). — Zum Problem der Paragraphen 18 bis 20 der Prolegomena siehe Anm.26 zu diesem Kap. Die Unmöglichkeit einer empirischen Naturerkenntnis der Dinge an sich selbst begründet Kant so: „wenn mich Erfahrung G e s e t z e , unter denen das Dasein der Dinge steht, lehren soll, so müßten diese, so fern sie Dinge an sich selbst betreffen, auch außer meiner Erfahrung ihnen n o t w e n d i g zukommen. Nun lehrt mich die Erfahrung zwar, was dasei, und wie es sei, niemals aber, daß es notwendiger Weise so und nicht anders sein müsse. Also kann sie die Natur der Dinge an sich selbst niemals lehren" (Proleg. A 72 / IV,294). Sollte ich Gesetze erkennen, die die Dinge auch außer meiner Erfahrung bestimmen, die ich also in dieser ihrer Gültigkeit an keiner Erfahrung überprüfen könnte, so müßten das apodiktische Gesetze sein. Apodiktische Gesetze können aber gerade nicht durch Erfahrung erkannt werden. Alle unsere Erkenntnis a priori muß notwendig sein, eben weil sie für ihre Berechtigung keine Wahrnehmung beibringen kann. Urteile a priori, die nicht als notwendig erkannt werden können, würden zu Unrecht den Anspruch erheben, Erkenntnisse zu sein. Vgl. KrV A 111: „Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung." Die Dinge als Gegenstände der Erfahrung s i n d die Dinge, sofern sie unter den Bedingungen stehen, unter denen uns Erfahrung möglich ist — das definiert sie und unterscheidet sie von den Dingen an sich selbst. Das wird im Fortgang der Untersuchung noch deutlicher werden. Im Rahmen des Gedankengangs, der von der Wahrheit im Sinne objektiver Gültigkeit zur Gesetzgebung des Verstandes als ihrem ermöglichenden Grund führen soll, nehme ich die Paragraphen 18 bis 20 der Prolegomena in ihrem vordergründigen Duktus und gewissermaßen naiv in Anspruch. Ich gehe damit, was die Sachproblematik des Wahrnehmungsurteils in dieser Schrift Kants betrifft, hinter den Problemstand der Darlegungen von Prauss {Erscheinung bei Kant, §§9 und 10) zurück, die, wie sein ganzes Buch, unverzichtbar sind für jeden, dem es auf den Unterschied von Wahrnehmungsurteil und Erfahrungsurteil als solchen und die damit umschriebene Problemdimension ankommt. — Zur älteren Diskussion dieses Themas im angelsächsischen Sprachraum siehe auch Uehling, Wahrnehmung surteile and Erfahrungsurteile reconsidered. — Bröcker möchte, an die Prolegomena anknüp-
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fend, innerhalb der Erfahrungsurteile temporale und intersubjektive unterscheiden; dementsprechend hebt er eine partikuläre von einer universalen Gültigkeit der Kategorien ab (Kant über Wahrnehmung und Erfahrung, 309—312). Mir scheint weniger, daß Kant diese Unterscheidungen „verdunkelt" hat (a.a.O., 310), als vielmehr, daß sie mit seinem Grundansatz unvereinbar sind. Ebensowenig vermögen das „von der Anschauung abgezogene Begriffe" (Proleg. A 84 / IV,301), also empirische Begriffe, von denen wir sehr wohl auch schon in Wahrnehmungsurteilen Gebrauch machen. Vgl. Proleg. A 81 f. / IV,300 und A 83 / IV,301. Kant geht es innerhalb dieser Paragraphen der Prolegomena um die Erfahrungsurteile. Er weist aber darauf hin, daß a l l e synthetischen Urteile, „so fern sie objektiv gelten", Kategorien zur Bedingung ihrer objektiven Gültigkeit haben, also auch die der Mathematik: „Selbst die Urteile der reinen Mathematik in ihren einfachsten Axiomen sind von dieser Bedingung nicht ausgenommen. Der Grundsatz: die gerade Linie ist die kürzeste zwischen zweien Punkten, setzt voraus, daß die Linie unter den Begriff der Größe subsumiert werde, welcher gewiß keine bloße Anschauung ist, sondern lediglich im Verstände seinen Sitz hat . . . " (Proleg. A 84 / IV,301). Genauer gesagt: für jeden Verstand, der nicht selbst anzuschauen vermag. Ein göttlicher Verstand wäre ihrer unbedürftig. Das sieht bei Kant ζ. B. so aus: Im hypothetischen Urteil wird das Verhältnis zweier Sätze gedacht, und zwar das Verhältnis der Konsequenz (siehe dazu KrV A 73 = Β 98). Das logische Moment des hypothetischen Urteils ist also das Verhältnis des Grundes zur Folge. Dies logische Moment, sofern es als Begriff von der (notwendigen) Vereinigung von Vorstellungen in einem Bewußtsein dient, ist die Kategorie der Ursache (und Wirkung). Dieses Gründungsverhältnis wird nicht davon berührt, daß Kants Weg bis zur Aufstellung seiner Tafeln der Urteile und der Kategorien (siehe Proleg. A 86 / IV,302 f.) anders verlaufen sein dürfte. Tonelli schreibt 1966: „Die Entstehung der Kantischen Urteilstafel ist eine der traditionellen Hauptfragen der Kantforschung, besonders in Verbindung mit der anderen Hauptfrage der Entstehung der Kategorientafel" (Die Voraussetzungen zur Kantischen Urteilstafel in der Logik des 18. Jahrhunderts, 134). Tonelli vertritt in dieser Frage die Auffassung: „Man hat schließlich den Eindruck, daß die Bearbeitung der Kategorien der führende Prozeß ist, und daß die Urteilstafel nach 1777 fast plötzlich entsteht, durch einen erst damals entdeckten besonderen Parallelismus mit den Kategorien; es ist aber damit nicht gesagt, daß die damals angenommenen Urteilsformen keine Rückwirkung auf die Kategorien gehabt haben: so könnte KANT einen anfänglich unvollständigen Parallelismus durch einige Veränderungen in der Kategorientafel vervollkommnet haben" (a. a. O., 147). Damit ist schon gesagt, daß Kant die Urteilstafel nicht als fertige anderwärts her bezogen hat (so daß seine Äußerung Proleg. A119 / IV,323: „Hier lag nun schon fertige, obgleich noch nicht ganz von Mängeln freie Arbeit der Logiker vor mir" nicht zu wörtlich genommen werden darf). Tonelli kommt aufgrund eines Vergleichs mit den wichtigsten deutschen und ausländischen Logik-Lehrbüchern des 18.Jahrhunderts zu dem Ergebnis: „KANT hat also seine Urteilstafel relativ frei aufgestellt; bei der Qualität und der Quantität richtet er sich im wesentlichen nach der Majorität der Logiker; für die Relation und Modalität hat er die Lehren von MEIER und LAMBERT umgestaltet und mit eigenen Elementen kombiniert; die allgemeine Aufstellung entspricht am besten der von LAMB E R T (vier Hauptabteilungen, die als zur Form gehörig gelten). KANT hat also teilweise die Tradition berücksichtigt, teilweise sie in Anlehnung an MEIER und L A M B E R T und durch eigene Lehren verändert. Seine Urteilstafel darf deshalb als einigermaßen originell gelten" (a. a. O., 157). (Zur Kritik an einer Detailfrage Toneiiis vgl. Menne, Das unendliche Urteil Kants, 156 f.). Es wurde ja ausgeführt, daß die reinen Verstandesbegriffe auf eine bestimmte Weise die logischen Momente der Urteile sind.
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D . h . , Kant überspringt in dieser den Verständnisschwierigkeiten des Lesers Rechnung tragenden Schrift den Inhalt des Schematismus-Kapitels der Kritik der reinen Vernunft (A 137 ff. = Β 176ff.); er beschränkt sich auf eine Andeutung (s. u.) und auf einen Verweis auf jenes Kapitel (in der Anmerkung zu § 23, Proleg. A 90 / IV,305). Hier deutet Kant auf die transzendentalen Schemate. Vgl. KrV A 139 f. = Β 179. Was Kant hier unter einem Grundsatz versteht, erläutert er zu Beginn von § 23: „Urteile, so fern sie bloß als die Bedingung der Vereinigung gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein betrachtet werden, sind Regeln. Diese Regeln, so fern sie die Vereinigung als notwendig vorstellen, sind Regeln a priori, und so fern keine über sie sind, von denen sie abgeleitet werden, Grundsätze" (Proleg. A 89 / IV,305). Vgl. KrV A 189 ff., Β 232 ff. Siehe Proleg. A 86 / IV,303. Vgl. KrV Β 159: „...also der Natur gleichsam das Gesetz vorzuschreiben und sie so gar möglich zu machen". Proleg. A 94 / IV,308: „Man muß auf den Beweisgrund Acht geben, der die Möglichkeit dieser Erkenntnis a priori entdeckt, und alle solche Grundsätze zugleich auf eine Bedingung einschränkt, die niemals übersehen werden muß, wenn sie nicht mißverstanden und im Gebrauche weiter ausgedehnt werden soll, als der ursprüngliche Sinn, den der Verstand darin legt, es haben will: nämlich, daß sie nur die Bedingungen möglicher Erfahrung überhaupt enthalten, so fern sie Gesetzen a priori unterworfen ist. So sage ich nicht: daß Dinge a n s i c h s e l b s t eine Größe, ihre Realität einen Grad, ihre Existenz Verknüpfung der Akzidenzen in einer Substanz u . s . w . enthalte; denn das kann niemand beweisen, weil eine solche synthetische Verknüpfung aus bloßen Begriffen, wo alle Beziehung auf sinnliche Anschauung einer Seits, und alle Verknüpfung derselben in einer möglichen Erfahrung anderer Seits, mangelt, schlechterdings unmöglich ist. Die wesentliche Einschränkung der Begriffe also in diesen Grundsätzen ist: daß alle Dinge nur a l s G e g e n s t ä n d e d e r E r f a h r u n g unter den genannten Bedingungen notwendig a priori stehen." Vgl. auch Proleg. A 101 / IV,312 f. (Zum Begriff der Erscheinung siehe hier den Fortgang.) Das Thema Erscheinung wird hier an späterer Stelle aufgegriffen — S. 108 ff. In der Ersten Fassung der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft sagt Kant, daß „die Form der Sinnlichkeit (wie das Subjekt affiziert wird) . . . unvermeidlich auf das Objekt (aber nur als Phänomen) übertragen werde" (V,199 / XX,221). Entsprechende Formulierungen finden sich für das Resultat der Deduktion in beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft. Insbesondere auf die folgende kommt es mir noch an: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir N a t u r nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt" (A 125). Der Verstand „ist selbst die Gesetzgebung vor die Natur, d. i. ohne Verstand würde es überall nicht Natur, d. i. synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Erscheinungen nach Regeln geben" (A 126 f.). „So übertrieben, so widersinnisch es also auch lautet, zu sagen: der Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur, und mithin der formalen Einheit der Natur, so richtig, und dem Gegenstande, nämlich der Erfahrung angemessen ist gleichwohl eine solche Behauptung" (A 127). — „Kategorien sind Begriffe, welche den Erscheinungen, mithin der Natur, als dem Inbegriffe aller Erscheinungen (natura materialiter spectata), Gesetze a priori vorschreiben"; „die Natur (muß) sich nach ihnen richten" (B 156). „Dingen an sich selbst würde ihre Gesetzmäßigkeit notwendig, auch außer einem Verstände, der sie erkennt, zukommen. Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen, die, nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt da sind. Als bloße Vorstellungen aber stehen sie unter gar keinem Gesetze der Verknüpfung, als demjenigen, welches das verknüpfende Vermögen vorschreibt" (B 164). Vgl. KrV Β XVI: „Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich
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nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des K o p e r n i k u s bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was d i e A n s c h a u u n g der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen. Weil ich aber bei diesen Anschauungen, wenn sie Erkenntnisse werden sollen, nicht stehen bleiben kann, sondern sie als Vorstellungen auf irgend etwas als Gegenstand beziehen und diesen durch jene bestimmen muß, so kann ich entweder annehmen, die B e g r i f f e , wodurch ich diese Bestimmung zu Stande bringe, richten sich auch nach dem Gegenstande, und denn bin ich wiederum in derselben Verlegenheit, wegen der Art, wie ich a priori hievon etwas wissen könne; oder ich nehme an, die Gegenstände, oder, welches einerlei ist, die E r f a h r u n g , in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt werden, richte sich nach diesen Begriffen, so sehe ich sofort eine leichtere Auskunft, weil Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muß, welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird, nach denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung notwendig richten und mit ihnen übereinstimmen müssen." Es wurde zuvor gesagt, daß, um das Wie der Möglichkeit empirischer Erkenntnis zu denken, das Daß dieser Erkenntnis vorausgesetzt wird. Prauss hat den Kant-Interpreten vorgeworfen, sie verstünden Kant in diesem Zusammenhang fälschlich dahin, „als sei mit dem Faktum der Erfahrung die empirische Erkenntnis als w a h r e Erkenntnis gemeint" {Erscheinung bei Kant, 62 f.). Ich bekenne mich in diesem Punkt .schuldig'. Zwar kann kein Zweifel sein, daß die transzendentale Wahrheit auch empirische Falschheit möglich macht (so wenig ,folgt' empirische Wahrheit aus der transzendentalen — vgl. S. 104). Aber ebenso klar dürfte sein, daß eine bezüglich ,wahr' und ,falsch' noch in der Indifferenz gehaltene Erfahrung Kants transzendentale Begründung empirischer Erkenntnis nicht stützen könnte. N u r wenn es w a h r e empirische Erkenntnis g i b t (und wäre sie auch seltener als falsche empirische .Erkenntnis' — was sicher nicht Kants Ansatzpunkt ist), kann transzendentale W a h r h e i t vom Denken erfaßt werden (siehe auch das zum transzendentalen Beweis Auszuführende, S. 106 f. und 108). Prauss möchte seine Kritik untermauern durch ein Zitat aus Kants Opus postumum: „ E r f a h r u n g als Beweisgrund der Wahrheit empirischer Urteile ist niemals mehr als asymptotische A n n ä h e r u n g zur Vollständigkeit möglicher Wahrnehmungen, welche sie ausmachen. Ist nie G e w i ß h e i t " (Prauss, a . a . O . , 63, Anm.22). Mit gleichem Recht kann man freilich zitieren: „ E r f a h r u n g . . ., welche ein ganz gewisses Erkenntnis a posteriori ist" (Fortschr. d. Met. A 54 / XX,276). Nimmt man beide Stellen zusammen, so ergibt sich etwas Bekanntes: daß die Gewißheit der Erfahrung eine Gewißheit eigener Art und niemals apodiktisch ist. Der .Inbegriff aller Erkenntnis, darin uns Objekte gegeben werden mögen', ist, wie soeben noch erinnert, die Erfahrung. M a t h e m a t i s c h e Erkenntnis kann daher nur Wahrheit beanspruchen durch ihren Bezug zu Gegenständen der Erfahrung. U n d so ist auch ihre Wahrheit durch die transzendentale Wahrheit ermöglicht (vgl. auch Anm.29 zu diesem Kap.). Siehe KrV A 156 = Β 195: „Die M ö g l i c h k e i t d e r E r f a h r u n g ist also das, was allen unsern Erkenntnissen a priori objektive Realität gibt." Und: „Ob wir daher gleich vom Räume überhaupt, oder den Gestalten, welche die produktive Einbildungskraft in ihm verzeichnet, so vieles a priori in synthetischen Urteilen erkennen, so, daß wir wirklich hiezu gar keiner Erfahrung bedürfen: so würde doch dieses Erkenntnis gar nichts, sondern die
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Beschäftigung mit einem bloßen Hirngespinst sein, wäre der Raum nicht, als Bedingung der Erscheinungen, welche den Stoff zur äußeren Erfahrung ausmachen, anzusehen: daher sich jene reine synthetische Urteile, obzwar nur mittelbar, auf mögliche Erfahrung, oder vielmehr auf dieser ihre Möglichkeit selbst beziehen, und darauf allein die objektive Gültigkeit ihrer Synthesis gründen" (KrV A 157 = Β 196). Vgl. auch KrV A 223 f. = Β 271 und A 239 f. = Β 299 und Β 146 f. (Descartes' Auffassung der Mathematik ist, was den geforderten Gegenstandsbezug betrifft, derjenigen Kants verwandt; freilich faßt er die Gegenstände nicht wie Kant als Gegenstände der Erfahrung auf — vgl. S.66 und Anm. 16 zu Kap. 4.) Vgl. auch KrV Β XIII f. Allerdings kann er „eines aber gar nicht leisten..., nämlich, sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen" (ebd.). In der Logik unterscheidet Kant zweierlei Selbsterkenntnis der Vernunft: „Die Logik ist daher eine Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft, aber nicht nach den Vermögen derselben in Ansehung der Objekte, sondern lediglich der Form nach. Ich werde in der Logik nicht fragen: W a s erkennt der Verstand und w i e v i e l kann er erkennen oder w i e w e i t geht seine Erkenntnis? Denn das wäre Selbsterkenntnis in Ansehung seines m a t e r i e l l e n Gebrauchs und gehört also in die Metaphysik" (Logik A 7 / IX,14). Zum Problem der Selbsterkenntnis im Rahmen der tiefer angelegten Problematik in der Kritik der reinen Vernunft siehe KrV Β 157 ff. Proleg. A 94f. / IV,308f.: „Hieraus folgt denn . . . auch eine spezifisch eigentümliche Beweisart derselben: daß die gedachte Grundsätze auch nicht geradezu auf Erscheinungen und ihr Verhältnis, sondern auf die Möglichkeit der Erfahrung, wovon Erscheinungen nur die Materie, nicht aber die Form ausmachen, d.i. auf objektiv- und allgemeingültige synthetische Sätze, worin sich eben Erfahrungsurteile von bloßen Wahrnehmungsurteilen unterscheiden, bezogen werden." Vgl. auch die in Anm. 40 zu diesem Kap. zitierte Stelle, ferner KrV Β 144, Anm.; Β 162, Anm.; Β 202; Β 207; Β 218 u.ö. Die Ausweitung auf alle dynamischen Grundsätze ist durch KrV A 160 f. = Β 199 f. zu belegen: „In der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf mögliche Erfahrung ist der Gebrauch ihrer Synthesis entweder m a t h e m a t i s c h , oder d y n a m i s c h : denn sie geht teils bloß auf die A n s c h a u u n g , teils auf das D a s e i η einer Erscheinung überhaupt. Die Bedingungen a priori der Anschauung sind aber in Ansehung einer möglichen Erfahrung durchaus notwendig, die des Daseins der Objekte einer möglichen empirischen Anschauung an sich nur zufällig. Daher werden die Grundsätze des mathematischen Gebrauchs unbedingt notwendig, d.i. apodiktisch lauten, die aber des dynamischen Gebrauchs werden zwar auch den Charakter einer Notwendigkeit a priori, aber nur unter der Bedingung des empirischen Denkens in einer Erfahrung, mithin nur mittelbar und indirekt bei sich führen, folglich diejenige unmittelbare Evidenz nicht enthalten (obzwar ihrer auf Erfahrung allgemein bezogenen Gewißheit unbeschadet), die jenen eigen ist." Erfahrung ist das „Produkt der Sinne und des Verstandes" (Proleg. A 81 / IV,300). Dazu ist zunächst nicht erfordert, daß das System voll ausgearbeitet wird — eine Aufgabe, von der Kant sich in der Kritik der reinen Vernunft entlastet. Vgl. KrV A 82 = Β 108: „Da es mir hier nicht um die Vollständigkeit des Systems, sondern nur der Prinzipien zu einem System zu tun i s t . . . " Von der Tafel der Kategorien sagt Kant, daß sie „alle Elementarbegriffe des Verstandes vollständig, ja selbst die Form eines Systems derselben im menschlichen Verstände enthält" (KrV Β 109f.). Bezüglich der drei Systeme heißt es in den Prolegomena (A 90 / IV,306): „weil über die genannte formale Bedingungen aller Urteile überhaupt, mithin aller Regeln überhaupt, die die Logik darbietet, keine mehr möglich sind, und diese ein logisches System, die darauf gegründeten Begriffe aber, welche die Bedingungen a priori zu allen synthetischen und notwendigen Urteilen enthalten (Weischedel: erhalten), eben darum ein transzendentales, endlich die Grundsätze, vermittelst deren alle Erscheinungen unter diese
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Begriffe subsumiert werden, ein physiologisches, d. i. ein Natursystem ausmachen". Vgl. Anm. 59 zu diesem Kap. Das alles darf nicht dahin verstanden werden, als sei nach Kants Auffassung das gefundene System selbst in seinem So-und-nicht-anders b e g r ü n d b a r — siehe dazu den Anfang von Anm. 59 zu diesem Kap. Siehe KrV A 114: „ . . . d e n notwendigen Zusammenhang..., den man meint, wenn man Natur nennt." Es ist in der Kant-Literatur ausgiebig diskutiert worden, ob oder ob nicht Kant sich beim transzendentalen Beweisen des fehlerhaften Zirkels schuldig gemacht hat. Unter anderem ist zu seiner Verteidigung — für die Deduktion der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft — die aus dem Erfahrungsgebrauch des Verstandes erwachsene Erfahrungsgewißheit (s. o.) zugunsten einer nicht auf sie rekurrierenden Möglichkeit der Erfahrung zurückgedrängt worden. Was zunächst dies letztere betrifft, so wäre jedenfalls zu bedenken, daß Kant immerhin noch in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bezüglich des Begriffs der Substanz sagt: „wovon ich gar nicht weiß, ob es irgend ein Ding geben könne, das dieser Gedankenbestimmung korrespondierete, wenn nicht empirische Anschauung mir den Fall der Anwendung gäbe" (B 149). Das heißt, daß ohne einen „Fall der Anwendung" in empirischer Anschauung offenbleiben müßte, ob eine Kategorie einen seienden Gegenstand erreicht. Ich stimme der bündigen Formulierung des Sachverhalts zu, die Janke (Fichte, 111) gibt: „Das Principium der transzendentalen Deduktion, aus dem der Leitfaden für die Auflösung der Rechtsfrage entspringt, nimmt sich im Kontext der ,Kritik der reinen Vernunft* so aus: Reine Stammbegriffe des Verstandes sind in ihrer objektiven (allgemeinen) Gültigkeit bezeugt, wenn sie als Bedingungen nachgewiesen werden, die a priori Erfahrung, also gegenständliche Erkenntnis ermöglichen. Sie sind objektiv gültig, d. h. sie betreffen das Sein der Gegenstände unserer Erkenntnis, weil ohne sie Erfahrung nicht möglich wäre. Und sie sind es mit derselben Gewißheit, mit der es objektive (allgemeingültige) Erfahrung für die menschliche Erkenntnis gibt." — Henrich, der die Inanspruchnahme der Gewißheit mathematischer Naturwissenschaft in den Prolegomena kritisiert (Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion, 98), formuliert doch an wichtiger Stelle seiner Ausführungen zum Beweisziel der Deduktion der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: „Wahrnehmungen, die verstreut auftauchen und die nicht nach bestimmten Regeln wiederholt werden können, würden nicht den Zusammenhang einer systematischen Erfahrungserkenntnis zulassen. Wir können uns aber nicht vorstellen, daß eine eingeschränkte Fähigkeit, unsere Sinnesdaten zu ordnen, ein anderes Ergebnis als eine diffuse und diskontinuierliche Wahrnehmungsfolge hätte" (a. a. O., 94). Was nun den Vorwurf des fehlerhaften Zirkels betrifft, so müßte zunächst einmal dem Umstand Rechnung getragen werden, daß Kant hier ausdrücklich „eine spezifisch eigentümliche Beweisart" ansetzt (vgl. Anm. 51 zu diesem Kap.). Was Kant kaum sehen und noch weniger einräumen konnte, wäre, daß das Spezifische dieser ,Beweis'art darin liegen könnte, einen hermeneutischen Zirkel zu implizieren. — Ich verweise auf die für die Problemlage wichtige Arbeit von Baum: Transcendental proofs in the Critique of Pure Reason, sowie überhaupt auf Teil I des Sammelbandes, in dem sie erschienen ist. Die Systeme der Urteilsformen und der Kategorien sind für Kant als solche etwas Faktisches und Unbegründbares: „Von der Eigentümlichkeit unsers Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zu Stande zu bringen, läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine andere Funktionen zu Urteilen haben, oder warum Raum und Zeit die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind" (KrV Β 145 f.; vgl. S. 105). Diese im Zentrum der Kritik der reinen Vernunft von ihm selbst markierte Position Kants ist immer wieder kritisiert und gegen seinen Systemanspruch ins Feld geführt worden, begreiflicherweise auch von Fichte und Hegel. Hingegen hat Reich in seiner zu
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Recht viel beachteten Schrift Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel den Versuch gemacht, auf dem Boden von Kants Denken und im Rückgriff auf Äußerungen Kants zu leisten, was Kant selbst sich versagte. Mit größter Redlichkeit verweist er selbst auf die Schranken seiner Unternehmung. Die konkrete Durchführung seines Vorhabens hat 10 Urteilsformen umfaßt (a. a. O., 87). Es fehlen die Momente „unendlich" und „einzeln". Das erste müßte aus den zwei gesicherten entgegengesetzten Momenten der Qualität (bejahend, verneinend), das zweite aus den zwei gesicherten entgegengesetzten Momenten der Quantität (allgemein, besonders) gewonnen werden, und zwar jeweils durch deren Verbindung (vgl. a. a. Ο., 90 f.). Es wäre dies die „Frage... nach zwei eventuell zum Denken überhaupt gehörigen Gedanken als besonderen ursprünglichen Akten, die man, falls überhaupt, jedenfalls nur finden könnte, falls man das Denken in einer anderen Hinsicht erwägt, als es in der allgemeinen reinen Logik geschieht. Um eine solche Hinsicht zu finden..., müßten wir jedenfalls unsere Erörterung über die objektive Einheit der Apperzeption weiter treiben, als wir es getan haben" (a. a. O., 91; vgl. auch 92). Damit ist gesagt, daß Reich den Anspruch nicht erhebt und nicht erheben kann, für Kant und gegen seine Kritiker die Urteilstafel als S y s t e m h e r g e l e i t e t zu haben. — In dieser Situation verdienen die in Anm. 32 zu diesem Kap. verzeichneten Ergebnisse Toneiiis besondere Beachtung, zeigen sie doch, daß Kant, wenn er denn schon eine Herleitung des Systems der Urteilsformen nicht durchgeführt hat, dieses doch nicht lediglich von einem Logiker seines Jahrhunderts bzw. der Tradition übernahm. Vgl. auch Krüger, Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen f 60 Vgl. nochmals Proleg. A 101 / IV,312: „Daher haben auch die reine Verstandesbegriffe ganz und gar keine Bedeutung, wenn sie von Gegenständen der Erfahrung abgehen und auf Dinge an sich selbst (noumena) bezogen werden wollen. Sie dienen gleichsam nur, Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können". " Auf das ,müssen denken können' ist zurückzukommen. 62 Empfindung ist die „Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden" (KrV A 19 = Β 33). 63 Vgl. zu dieser Problematik noch Proleg. A 69 f. / IV,292 f.: „Da ich also den Sachen, die wir uns durch Sinne vorstellen, ihre Wirklichkeit lasse, und nur unsre sinnliche Anschauung von diesen Sachen dahin einschränke, daß sie in gar keinem Stücke, selbst nicht in den reinen Anschauungen von Raum und Zeit, etwas mehr als bloß Erscheinung jener Sachen, niemals aber die Beschaffenheit derselben an ihnen selbst vorstelle (Weischedel: vorstellen), so ist dies kein der Natur von mir angedichteter durchgängiger Schein, und meine Protestation wider alle Zumutung eines Idealism ist so bündig und einleuchtend..." 64 Die Fragestellung wird im folgenden auf die Dinge an sich selbst, die äußeren Erscheinungen zugrunde liegen, eingeschränkt. Zum Bewußtsein, das wir als Intelligenz von unserer Existenz haben, ist noch einmal KrV Β 157 ff. beizuziehen. 65 Kant hat KrV A 288 = Β 344 f. den Versuch gemacht, die positive Inanspruchnahme des Begriffs Ursache auf die Ebene problematischer Begriffe zurückzunehmen. Damit spielt er seinen Kritikern (siehe hier den Fortgang) aber eher in die Hände, als daß er sie fernhält. Zugleich gefährdet er dort durch fatale Formulierungen die dargestellte Lösung des Problems des Scheins und des Idealismus. 66 Siehe Anm.60 zu diesem Kap. Vgl. auch KrV Β 148f.: „Die reinen Verstandesbegriffe... erstrecken sich auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, sie mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinnlich und nicht intellektuell ist. Diese weitere Ausdehnung der Begriffe, über u n s e r e sinnliche Anschauung hinaus, hilft uns aber zu nichts. Denn es sind alsdenn leere Begriffe von Objekten, von denen, ob sie nur einmal möglich sind oder nicht, wir durch jene gar nicht urteilen können, bloße Gedankenformen ohne objektive Realität... U n s e r e sinnliche und empirische Anschauung kann ihnen allein Sinn und Bedeutung verschaffen." In den Kontext dieser Stelle gehört das erste Kant-Zitat in Anm. 58 zu diesem Kap.
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Anmerkungen zu Kapitel 5 Siehe die Beilage zu seiner Schrift David Hume über den Glauben, Realismus. Ein Gespräch — Jacobi, Werke, Bd. 2, S. 289 ff.
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Sie zeichnete sich freilich nicht jederzeit durch besonders klares Kant-Verständnis aus. Schelling formuliert sie mit folgenden Worten: „ . . . H i e r ist also ein offenbarer Widerspruch; denn einerseits soll jenes Unbekannte, x, der Anwendung der Kategorien vorausgehen (es muß dieß, weil es erst deren Anwendung auf den Sinneneindruck vermittelt oder veranlaßt), andererseits können wir doch nicht umhin, diesem Unbekannten ein Verhältniß zum Erkenntnißvermögen zu geben, es z.B. als Ursache des Sinneneindrucks zu bestimmen. Wir müssen die Kategorien des Seyenden, der Ursache u. s. w. auf das anwenden, was der Voraussetzung nach außer allen Kategorien ist, was Kant selbst das Ding an sich nennt, d. h. als das Ding vor und außer dem Erkenntnißvermögen bezeichnet" (Schelling, Werke, 6. Erg. bd., S.49). Ein Beispiel aus unserem Jahrhundert ist die Meinung von Franz: „Zunächst, wenn alle Erkenntnis auf Erscheinungen beschränkt wird, hinter denen ein prinzipiell und absolut unerkennbares Ding an sich liegend gedacht wird, so ist nicht einzusehen, welchen Wert die Annahme solch eines Dinges haben kann, bei dem weder über das Daß noch das Was, weder über das Dasein noch über seine Qualität das Allergeringste auszumachen ist. Es wäre eine sinnlose und völlig unberechtigte Annahme... Ein intelligibles Etwas aber als Ursache empirischer Wirkungen läßt sich gar nicht denken. Ursache und Wirkung müssen auf demselben Boden stehen; die phänomenale Wirkung macht auch die Ursache phänomenal. Die Intelligibilität wird ein leeres Wort" (Das Realitätsproblem in der Erfahrungslehre Kants, 9). Für dieses Thema ist zu verweisen auf die informative Arbeit von Herring: Das Problem der Affektion bei Kant. In ihr findet sich auf S. 65 eine Zusammenfassung der in der diesbezüglichen Kant-Deutung bis dahin bezogenen Positionen. Herring selbst will „nicht fragen: Wie läßt sich das Problem der Affektion einer eindeutigen Lösung zuführen? Vielmehr soll unsere Fragestellung lauten: Inwiefern ist dieser logische Widerspruch in der Sache selbst begründet? Inwiefern zeigt sich gerade darin, daß Kant selbst keine eindeutige Lösung des Problems gibt, es vielmehr in der Aporie beläßt, der kritische Charakter des Systems?" (a.a.O., 66) Das „Problem der Affektion" wurde aufgegriffen von Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, 192 ff. Prauss sieht vom Grundansatz seines Buches aus das Problem sich verflüchtigen: „ . . . Sobald man sich jedoch von diesem MißVerständnis befreit, löst sich auch dieses ganze Problem wie von selber, nämlich indem es selbst sich einfach auflöst. Denn macht man sich klar, daß der Ausdruck ,Dinge an sich' in seinem eigentlichen Sinne nicht jene transzendent-metaphysischen ,Dinge-an-sich' bezeichnet, sondern jene transzendental-philosophische Reflexion formuliert, für die es notwendig wird, die empirischen Dinge auch ,an sich selbst zu betrachten', so ist damit auch sofort klar, daß uns danach nichts anderes als eben diese Dinge affizieren. Da mit den ,Dingen an sich' im transzendental-philosophischen Sinne lediglich ,Dinge, — an sich selbst betrachtet' gemeint sind, ist mit der ,Affektion durch Dinge an sich' in diesem Sinne auch nichts anderes als eine Affektion durch eben diese empirischen Dinge gemeint, die transzendental-philosophische Reflexion auch ,an sich selbst' betrachten muß" (a. a. O., 197). Mit aller Deutlichkeit erklärt Prauss sich auch a. a. O., 203f.: „Die Affektion, auf die Kant eigentlich hinauswill und die er im Hinblick auf seine transzendental-philosophische Konzeption auch allein vertreten kann, ist die empirische Affektion durch die empirischen Dinge." Aussagen Kants, die dem widerstreiten, „unterlaufen" ihm nur, „weil seine Transzendentalphilosophie . . . ihm mangels Durchführung in ihrer Systematik nicht mehr hinreichend durchsichtig wird" (a.a.O., 199). Vgl. die Zitate S. l l l f . und 112, ferner Proleg. A 58 / IV,286: „Diese Gegenstände sind nicht etwa Vorstellungen der Dinge, wie sie an sich selbst sind, und wie sie der pure Verstand erkennen würde, sondern es sind sinnliche Anschauungen, d.i. Erscheinungen,
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deren Möglichkeit auf dem Verhältnisse gewisser an sich unbekannten Dinge zu etwas anderem, nämlich unserer Sinnlichkeit beruht." Ich kann daher der Behauptung von Franz nicht zustimmen: „die Scheidung ist eine begriffliche, keine reale" (Das Realitätsproblem in der Erfahrungslehre Kants, 19). Sie ist — in dem bezeichneten Sinn — eben auch eine ,reale'. Franz denkt das „Ding an sich innerhalb der Erfahrung" (a.a.O., 10). Dagegen ist nichts einzuwenden, solange damit gemeint ist: „Das Ding an sich ist in der Erfahrung gegenwärtig als deren Wirklichkeit; in anderer Bedeutung freilich ist es .transzendent', sofern es über das Bewußtsein des Erkennenden hinausliegt" (a. a. O., 18). Franz fügt aber eben sogleich hinzu: „Daß im übrigen auch Kant in den Fehler verfällt, an die Stelle der idealen Abhängigkeit der Erkenntnis von ihren Objekten eine reale zu setzen, bei welcher die Vorstellungen als Wirkungen einer äußeren Ursache erscheinen, ist bekannt genug" (ebd.; vgl. Anm. 68 zu diesem Kap.). Komplementär zu dieser Kritik und bezeichnend für die Position des Autors ist die Äußerung: „Oder der sinnliche Charakter unserer Erkenntnis wird hervorgehoben, woraus dann der nichtsinnliche Charakter der Dinge selber gefolgert wird, als sei die Wirklichkeit zeitlos und unräumlich und werde nur in der sinnlichen Erfahrung so gewissermaßen ausgedehnt und auseinandergezogen. Von dieser fehlerhaften Verdoppelung findet sich auch bei Kant noch ein R e s t . . . " (a.a.O., 21). Eine ähnliche Tendenz wie bei Franz findet sich in dem schon erwähnten Buch von Prauss: Kant und das Problem der Dinge an sich. Die in Anm. 69 zu diesem Kap. zitierte Stelle S. 197 enthält seinen Interpretationsansatz in nuce. Mit Behauptungen des Inhalts, daß Erscheinungen nur in uns existieren, die nach Prauss durchaus zahlreich sind (a.a.O., 184), „macht Kant selber seinen Erscheinungsbegriff, dessen transzendental-philosophischer Sinn hier zunächst eindeutig festzustehen scheint, in einem Maße zweideutig, daß er diesen seinen Sinn und damit letztlich auch seine Identität und Brauchbarkeit überhaupt einzubüßen droht" (a.a.O., 184f.). Ich selbst setze, wie sich auch im Fortgang meiner Untersuchung zeigen wird, die kritischen Akzente anders, halte aber die Fragestellung, die Prauss aus seiner Auseinandersetzung mit Kant hervortreibt, von der Sache her (und jenseits einer Kant-Interpretation) gerade für bedeutsam: „Daß ein jedes empirische Ding mithin nicht anders vorliegt denn als Entwurf, sofern er verwirklicht wird, als Versuch, sofern er Erfolg hat, als Wagnis, sofern es belohnt wird, dies bedeutet gleichsam, daß in jedem solchen Ding das Subjekt auf die Frage, welche es objektentwerfend immer wieder stellt, eine Antwort erhält, die ihm auch versagt bleiben könnte, weil es sie bei all seinem Entwurfsbemühen sich doch niemals selbst zu geben vermag" (a.a.O., 134). Prauss meint, daß das Fragen hier stehenbleiben muß. „Denn hier in irgendeiner Weise fortzufahren würde heißen, hier in irgendeiner Weise eine inhaltlich-positive Kennzeichnung vorzunehmen, die jedoch in Wahrheit prinzipiell unmöglich ist" (ebd.). Vgl. KrV Β 276: „Man wird in dem vorhergehenden Beweise gewahr, daß das Spiel, welches der Idealism trieb, ihm mit mehrerem Rechte umgekehrt vergolten wird." So bleibt es denn auch bei den Feststellungen der Prolegomena: „...Sie erkannten nicht, daß dieser Raum in Gedanken den physischen, d.i. die Ausdehnung der Materie selbst möglich mache; daß dieser gar keine Beschaffenheit der Dinge an sich selbst, sondern nur eine Form unserer sinnlichen Vorstellungskraft sei; daß alle Gegenstände im Räume bloße Erscheinungen, d.i. nicht Dinge an sich selbst, sondern Vorstellungen unsrer sinnlichen Anschauung sein" (A 61 / IV,288); und: „Daß ich aber . . . die übrigen Qualitäten der Körper, die man primarias nennt, die Ausdehnung, den Ort, und überhaupt den Raum, mit allem was ihm anhängig ist (Undurchdringlichkeit oder Materialität, Gestalt etc.), auch mit zu bloßen Erscheinungen zähle, dawider kann man nicht den mindesten Grund der Unzulässigkeit anführen" (A 64 / IV,289). Vgl. KrV Β XL f., Anm.: „und es ist also Erfahrung und nicht Erdichtung, Sinn und nicht Einbildungskraft, welches das Äußere mit meinem inneren Sinn unzertrennlich verknüpft";
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„so ist die Realität des äußeren Sinnes mit der des innern, zur Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt, notwendig verbunden"; „.. .wobei der Satz: daß es wirklich äußere Erfahrung gebe, immer zum Grunde liegt". Im folgenden werden „Einleitung" und „Analytik der teleologischen Urteilskraft" der Kritik der Urteilskraft zugrunde gelegt. Daß Kant die in diesen Teilen der Kritik der Urteilskraft entfalteten Themen auch in der ersten Fassung der Einleitung zu diesem Werk (Weischedel Bd. V, 171 ff. / Akad.-Ausg. XX, 193 ff.) behandelt hat, sei angemerkt. Ferner ist darauf zu verweisen, daß vor allem der Problemkreis der Natur als eines Zusammenhangs nach empirischen Gesetzen von Kant schon im „Anhang zur transzendentalen Dialektik" in der Kritik der reinen Vernunft (A 642 ff. = Β 670 ff.) betreten wurde. Vgl. hierzu Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 38 ff. Siehe KU Β XXXV / V,184: „Der Verstand ist zwar a priori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur, ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein könnte: aber er bedarf doch auch überdem noch einer gewissen Ordnung der Natur, in den besonderen Regeln derselben, die ihm nur empirisch bekannt werden können, und die in Ansehung seiner zufällig sind." Siehe die Bestimmung der Urteilskraft KU Β XXV f. / V,179. „nach einem" gemäß Akad.-Ausg. statt Weischedel: „einem". Auf das vorgeführte Prinzip der Urteilskraft gründen sich Maximen der Urteilskraft, von denen zumindest einige als „Sentenzen der metaphysischen Weisheit" von der Tradition formuliert wurden: „,Die Natur nimmt den kürzesten Weg (lex parsimoniae); sie tut gleichwohl keinen Sprung, weder in der Folge ihrer Veränderungen, noch der Zusammenstellung spezifisch verschiedener Formen (lex continui in natura); ihre große Mannigfaltigkeit in empirischen Gesetzen ist gleichwohl Einheit unter wenigen Prinzipien (principia praeter necessitatem non sunt multiplicanda)' u. d. g. m." (KU Β XXX f. / V,182). Siehe KU Β XL / V,187 (hier gesperrt): „Zwar spüren wir an der Faßlichkeit der Natur, und ihrer Einheit der Abteilung in Gattungen und Arten, w o d u r c h a l l e i n e m p i r i s c h e B e g r i f f e m ö g l i c h s i n d , d u r c h w e l c h e w i r sie n a c h i h r e n b e s o n d e r e n G e s e t z e n e r k e n n e n , keine merkliche Lust mehr: aber sie ist gewiß zu ihrer Zeit gewesen, und nur weil d i e g e m e i n s t e E r f a h r u n g o h n e sie n i c h t m ö g l i c h s e i n w ü r d e . . . " Vgl. KU Β XXVIII / V,181: „den Naturprodukten kann man so etwas, als Beziehung der Natur an ihnen auf Zwecke, nicht beilegen". Siehe KU Β XLI f. / V,188: „Diese Voraussetzung der Urteilskraft ist gleichwohl darüber so unbestimmt: wie weit jene idealische Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen ausgedehnt werden solle, daß, wenn man uns sagt, eine tiefere oder ausgebreitetere Kenntnis der Natur durch Beobachtung müsse zuletzt auf eine Mannigfaltigkeit von Gesetzen stoßen, die kein menschlicher Verstand auf ein Prinzip zurückführen kann, wir es auch zufrieden s i n d . . . Denn es ist ein Geheiß unserer Urteilskraft, nach dem Prinzip der Angemessenheit der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen zu verfahren, so weit es reicht, ohne (weil es keine bestimmende Urteilskraft ist, die uns diese Regel gibt) auszumachen, ob es irgendwo seine Grenzen habe, oder nicht; weil wir zwar in Ansehung des rationalen Gebrauchs unserer Erkenntnisvermögen Grenzen bestimmen können, im empirischen Felde aber keine Grenzbestimmung möglich ist." Wenn es sich bei dem Denken, das die Dinge an sich selbst als .Ursache' der Erscheinungen denkt, und bei dem Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen nicht um Annahmen handelte, wenn hier etwas erkannt und bestimmt würde, dann könnten beide Problemkreise nicht isoliert bleiben. Denn eben der Stoff der Erscheinungen, den wir nur dadurch empfangen, daß unsere Sinnlichkeit von Dingen an sich selbst .gerührt' wird, macht es ja, daß die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen unsere Fassungskraft übersteigen könnte. Ein nicht-menschlicher Verstand, der hier für Zweckmäßigkeit und Angemessenheit sorgt, könnte er erkannt werden, und Dinge an sich selbst, die uns affizieren, könnten sie erkannt werden, müßten in der Erkenntnis zusammengebracht werden.
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Objektiv heißen diese Zwecke der Natur, eben weil es sich hier um Dinge handelt und nicht mehr um jene auf uns, die erkennenden Subjekte bezogene, „subjektive Zweckmäßigkeit der Natur in ihren besondern Gesetzen, zu der Faßlichkeit für die menschliche Urteilsk r a f t . . . " (KU Β 267 / V,359).
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Siehe zur Unterscheidung von nexus effectivus und nexus finalis auch KU Β 289 / V,372. Siehe dazu noch den Vergleich mit einer Uhr KU Β 292 / V,374. 3. Auflage: Gegenstandes. Vgl. KU Β LI / V,193: „in vorkommenden Fällen (gewisser Produkte)".
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Die Unzulänglichkeit mechanischer Gesetze für die Erforschung der Dinge als Naturzwecke bedeutet allerdings nicht, daß an diesen Dingen überhaupt nichts nach mechanischen Gesetzen zu erkennen ist. Das hieße ja auch, daß solche Dinge aus dem Ganzen der Natur (das unter der Gesetzgebung unseres Verstandes steht) herausfielen. Die beiden folgenden Stellen mögen zeigen, wie hier die Gewichte zu verteilen sind: „Die B e f u g n i s , auf eine bloß mechanische Erklärungsart aller Naturprodukte a u s z u g e h e n , ist an sich ganz unbeschränkt; aber das V e r m ö g e n , damit allein a u s z u l a n g e n , ist, nach der Beschaffenheit unseres Verstandes, sofern er es mit Dingen als Naturzwecken zu tun hat, nicht allein sehr beschränkt, sondern auch deutlich begrenzt: nämlich so, daß, nach einem Prinzip der Urteilskraft, durch das erstere Verfahren allein zur Erklärung der letzteren gar nichts ausgerichtet werden könne, mithin die Beurteilung solcher Produkte jederzeit von uns zugleich einem teleologischen Prinzip untergeordnet werden müsse" (KU Β 366 f. / V,417). — das Prinzip: alles, was wir als zu dieser Natur (phaenomenon) gehörig und als Produkt derselben annehmen, auch nach mechanischen Gesetzen mit ihr verknüpft denken zu müssen, bleibt nichts desto weniger in seiner Kraft; weil, ohne diese Art von Kausalität, organisierte Wesen, als Zwecke der Natur, doch keine Naturprodukte sein würden" (KU Β 374 f. / V.422).
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Der Begriff des Naturzwecks, von der Urteilskraft im Ausgang von organisierten Wesen gefaßt und an diesen bewährt, kann auch noch auf eine andere Weise auf die Natur angewendet werden. Er begründet dann ein drittes Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur, in dem die ä u ß e r e Zweckmäßigkeit der Naturdinge und die ganze Natur als ein System der Zwecke angenommen wird. Dies Prinzip, auf dessen Erörterung im Zusammenhang der Wahrheitsproblematik verzichtet werden kann, ermöglicht eine Erweiterung der Naturkunde. Vgl. KU Β 300 f. / V,378 f.
" Zwar formuliert Kant die Annahme der inneren Zweckmäßigkeit auch in Hinsicht auf eine Kausalität d u r c h V e r n u n f t (vgl. S. 125) und eine ordnende Absicht (vgl. S. 126). Das nimmt er aber für die Grundlegung der Erkenntnis deutlich auch wieder zurück. Es wurde schon ausgeführt, daß er die Naturzwecke gerade als sich selbst organisierende Wesen versteht, die aus eigener Kausalität ein Ganzes hervorbringen, was Kant noch akzentuiert, indem er sagt, daß wir die Natur „nicht als intelligentes Wesen annehmen" (vgl. S. 124). Die folgende Stelle bekräftigt diese Einschränkung: „Um sich also auch nicht der mindesten Anmaßung, als wollte man etwas, was gar nicht in die Physik gehört, nämlich eine übernatürliche Ursache, unter unsere Erkenntnisgründe mischen, verdächtig zu machen: spricht man in der Teleologie zwar von der Natur, als ob die Zweckmäßigkeit in ihr absichtlich sei, aber doch zugleich so, daß man der Natur, d. i. der Materie, diese Absicht beilegt; wodurch man (weil hierüber kein Mißverstand Statt finden kann, indem von selbst schon keiner einem leblosen Stoffe Absicht in eigentlicher Bedeutung des Worts beilegen wird) anzeigen will, daß dieses Wort hier nur ein Prinzip der reflektierenden nicht der bestimmenden Urteilskraft bedeute... Daher spricht man in der Teleologie, so fern sie zur Physik gezogen wird, ganz recht von der Weisheit, der Sparsamkeit, der Vorsorge, der Wohltätigkeit der Natur, ohne dadurch aus ihr ein verständiges Wesen zu machen (weil das ungereimt wäre); aber auch ohne sich zu erkühnen, ein anderes verständiges Wesen über sie, als Werkmeister, setzen zu wollen, weil dieses vermessen sein würde" (KU Β 308 f. /
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V,383). Die Annahme der Urteilskraft geht zur Grundlegung von Erkenntnis also nicht auf einen göttlichen Seinsgrund organisierter Wesen. In ganz anderer Absicht ist allerdings sehr wohl über einen göttlichen Seinsgrund organisierter Wesen nachzudenken, in praktischer Absicht nämlich: „Der Begriff eines Dinges, als an sich Naturzwecks, ist also kein konstitutiver Begriff des Verstandes oder der Vernunft, kann aber doch ein regulativer Begriff für die reflektierende Urteilskraft sein, nach einer entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken überhaupt die Nachforschung über Gegenstände dieser Art zu leiten und über ihren obersten Grund nachzudenken; das letztere zwar nicht zum Behuf der Kenntnis der Natur, oder jenes Urgrundes derselben, sondern vielmehr eben desselben praktischen Vernunftvermögens in uns, mit welchem wir die Ursache jener Zweckmäßigkeit in Analogie betrachteten" (KU Β 294 f. / V,375). Kant selbst thematisiert ,zum Behuf des praktischen Vernunftvermögens in uns' den obersten Grund der Naturzwecke im Fortgang der Kritik der Urteilskraft. In einer anderen Schrift windet Kant sich angesichts dieser Frage in einer Weise, daß man vermuten möchte, er selbst sehe sich hier an die Grenze s e i n e s W a h r h e i t s b e g r i f f e s stoßen: „Allein wir finden, unter den zur Erkenntnis der Natur, auf welche Art es auch sei, gehörigen Begriffen, noch einen von der besondern Beschaffenheit, daß wir dadurch nicht, was in dem Objekt ist, sondern was wir, bloß dadurch, daß wir es in ihn legen, uns verständlich machen können, der also eigentlich zwar kein Bestandteil der Erkenntnis des Gegenstandes, aber doch ein von der Vernunft gegebenes Mittel oder Erkenntnisgrund ist, und zwar der theoretischen, aber in so fern doch nicht dogmatischen Erkenntnis, und dies ist der Begriff von einer Z w e c k m ä ß i g k e i t der Natur, welche auch ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, mithin ein immanenter, nicht transzendenter Begriff ist, wie der von der Struktur der Augen und Ohren, von der aber, was Erfahrung betrifft, es kein weiteres Erkenntnis gibt, als was Epikur ihm zustand (Akad.-Ausg. zugestand), nämlich daß, nachdem die Natur Augen und Ohren gebildet hat, wir sie zum Sehen und Hören brauchen, nicht aber beweiset, daß die sie hervorbringende Ursache selbst die Absicht gehabt habe, diese Struktur dem genannten Zwecke gemäß zu bilden, denn diesen kann man nicht wahrnehmen, sondern nur durch Vernünfteln hineintragen, um auch nur eine Zweckmäßigkeit an solchen Gegenständen zu erkennen" (Fortschr. d. Met. A 101 ff. / X X , 2 9 3 f.). Wie Kant sich zu dem in der „Transzendentalphilosophie der Alten" bedeutsamen Satz „quodlibet ens est u n u m , v e r u m , b o n u m " einstellt, ist KrV Β 113ff. nachzulesen. Die Lösung des Problems wäre für Descartes geglückt gewesen, auch wenn er nicht hätte zeigen können, daß körperliche Dinge existieren. Indessen legt er einen Beweis für die Existenz körperlicher Dinge vor, in dem er wiederum auf Gott als Wahrheitsgaranten rekurriert. Körperliche Dinge existieren, denn sie sind die Ursachen unserer Vorstellungen von ihnen, unserer Wahrnehmungen, die unser Wahrnehmungsvermögen empfängt und die den Dingen möglicherweise ganz unähnlich sind. Sehr verwandelt kehrt dieses Verhältnis von Dingen und Vorstellungen bei Kant wieder, wenn er die Dinge an sich selbst als .Ursachen' der Erscheinungen denkt. Dieses Prinzip der Zweckmäßigkeit läßt methodisches Forschen erst frei. Damit geht Kant noch einen Schritt über Descartes hinaus, bei dem das Ich auch insofern Wahrheitsgrund war, als es selbst die Methode aufbringt, dank deren es durch das Labyrinth der Dinge zu deren Seinsverhältnissen gelangen kann.
Zu K a p i t e l 6 Mit der Thematik dieses Kapitels habe ich mich vor längerer Zeit schon einmal kurz befaßt in meiner Dissertation Nietzsche und Rilkes Duineser Elegien.
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Kurztitel im folgenden: „Nachlaß". — Es handelt sich bei den nachgelassenen Fragmenten des angegebenen Zeitraums um die in den Bänden VIII 1 bis VIII 3 der Kritischen Gesamtausgabe (siehe die übernächste Anmerkung) edierten, die teilweise in den Kompilationen unter dem Titel Der Wille zur Macht enthalten waren und gewirkt haben. Die Herausgeber sagen mit Recht von den genannten Bänden, daß sie „die Grundlage für eine endgültige Lösung des vieldiskutierten Problems von Nietzsches angeblichem »theoretischphilosophischen Hauptprosawerk' mit dem Titel Der Wille zur Macht ausmachen" (Vorbemerkung in Band VIII 1, S. V). — Nietzsches letzter Entwurf eines Plans zu Der Wille zur Macht sah ein erstes Buch (mit drei Kapiteln) unter dem Titel „, was ist Wahrheitf" " vor (NF VIII 3, 337). 3 Kurztitel im folgenden: Ueher Wahrheit und Lüge. 4 Nietzsche wird zitiert nach: Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe (KGW). Alle Zitate sind auch aufzufinden in der textgleichen Ausgabe: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (Kurztitel im folgenden: Kritische Studienausgabe; Abkürzung: KSA); Konkordanz: KSA 15, 215 ff. Viele Zitate sind mit Hilfe der dem genauen Zitatnachweis vorangestellten Angaben auch in jeder anderen Ausgabe nachlesbar. Für Also sprach Zarathustra wird der Kurztitel Zarathustra benutzt. Da Nietzsche häufig eine Aneinanderreihung von Punkten zur Interpunktion verwendet, werden Auslassungen in Nietzsche-Zitaten von der Verfasserin durch Punkte in eckigen Klammern gekennzeichnet. Ein Schrägstrich innerhalb der Nietzsche-Zitate bedeutet, daß Nietzsche an dieser Stelle eine neue Zeile begonnen hat; zwei Schrägstriche zeigen den Beginn einer neuen Strophe an. 5 Aus der Fülle Nietzschescher Aphorismen zeichnen sich eine ganze Reihe als für Nietzsches Grundthemen besonders wichtig und ergiebig aus. Das hat dazu geführt, daß sich im Laufe der wissenschaftlichen Nietzsche-Deutung so etwas wie ein ,klassischer' Bestand an Aphorismen herausgebildet hat, dem man in einschlägigen Untersuchungen immer wieder begegnet. In diesem Kapitel wird nicht der Versuch gemacht, solche Aphorismen zu umgehen. 6 Freilich hat Kant keineswegs alle „bisherigen Ergebnisse der Erkenntnis" mit Mißtrauen betrachtet, und Nietzsche selbst hebt anderwärts hervor, Kant habe an die Tatsache der Erkenntnis geglaubt. Daß Kant das tat, ist aber nach Nietzsche gerade gegen ihn einzuwenden; es bekundet mangelnde Radikalität und Inkonsequenz (vgl. S. 137 f.). 7 Vgl. hierzu Hegel, Enzyklopädie, 43 (§ 10). 8 Zur unmittelbaren Gewißheit des denkenden Ich bei Descartes vgl. S. 138 f. ' In den größeren Zusammenhang seiner eigenen Analysen weist folgende Stelle, die zur Ergänzung des vorigen zitiert wird: „ Z u r E r k e n n t n i s s t h e o r i e : b l o ß e m p i r i s c h : / Es giebt weder ,Geist', noch Vernunft, noch Denken, noch Bewußtsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: alles Fiktionen, die unbrauchbar sind. Es handelt sich nicht um .Subjekt und Objekt' sondern um eine bestimmte Thierart, welche nur unter einer gewissen relativen R i c h t i g k e i t , vor allem R e g e l m ä ß i g k e i t ihrer Wahrnehmungen (so daß sie Erfahrung capitalisiren kann) gedeiht... / Die Erkenntniß arbeitet als W e r k z e u g der Macht" (NF VIII 3, 93 f.). 10 Vgl. Nietzsches Notiz: „Der dogmatische Geist bei Kant" (NF VIII 1, 211). II Man vergleiche die ganze umfangreiche Notiz zu Kant, der das Zitat entnommen ist: N F VIII 1, 272—274, daraus vor allem noch die Stelle: „Also der Schluß ist: 1) es giebt Behauptungen, die wir für allgemeingültig und nothwendig halten / 2) der Charakter der Nothwendigkeit und Allgültigkeit kann nicht aus der Erfahrung stammen / 3) folglich muß er ohne Erfahrung, a n d e r s w o h e r s i c h b e g r ü n d e n und eine andere Erkenntnißquelle haben! [...] Also: die Frage ist, w o h e r u n s e r G l a u b e an die Wahrheit solcher Behauptungen seine Gründe nimmt? Nein, woher er seine Urtheile hat! Aber die E n t s t e h u n g e i n e s G l a u b e n s , einer starken Überzeugung ist ein psycholo-
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gisches Problem: und eine s e h r begrenzte und enge Erfahrung bringt oft einen solchen Glauben zuwege!" (S.273) Zwischen Nietzsches Einwand gegen Kants Glauben an die Tatsache der Erkenntnis, wie sie sich im „Nachlaß" findet, und einer Äußerung in Die fröhliche Wissenschaft scheint ein Widerspruch zu bestehen. In dieser Schrift heißt es: „als Deutsche zweifeln wir mit Kant an der Letztgültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und überhaupt an Allem, was sich causaliter erkennen l ä s s t : das Erkenn b a r e scheint uns als solches schon g e r i n g e r e n Werthes" (FW 357 / V 2,281). Der Kontext macht aber klar, daß ein Widerspruch nicht vorliegt: „Letztgültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse" würde danach besagen, daß die Naturwissenschaften imstande wären, die Dinge an sich zu erkennen. Zu Nietzsches Kritik am Grundansatz von Kants Kritik der theoretischen Vernunft sei noch verwiesen auf JGB 11 / VI 2, 18 ff. Diese Äußerung Nietzsches geschieht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem seiner philosophischen Hauptgedanken, nämlich von der Anfangs- und Endlosigkeit der Welt, der wiederum in den Zusammenhang der Lehre von der ewigen Wiederkunft gehört (siehe ebd.). Aus diesem Kontext und von der Abwehr einer metaphysisch gedachten Weltschöpfung her muß verstanden werden, daß Nietzsche hier den „Begriff .schaffen'" als „heute [...] unvollziehbar" bezeichnet. Daß dieser Begriff im übrigen für Nietzsche sehr wohl vollziehbar und von großer Bedeutung ist, ist jedem Nietzsche-Kenner bewußt. Vgl. S. 155. Nietzsche läßt unbestimmt, was hier unter Sinnesurteilen zu verstehen sei. Die Uberzeugung, daß die materiellen Dinge existieren, wird bei Descartes in der Tat über das Faktum unserer Sinnesempfindungen und im Rekurs auf den wahrhaftigen Schöpfergott gewonnen. ,Sinnesurteile' leisten bei Descartes jedoch keine Erkenntnis dieser Dinge. Diese ist vielmehr Wesenserkenntnis und wird von der „reinen Mathematik" (pura Mathesis) in Urteilen a priori vollzogen (vgl. S. 74 ff.). Gerade auch für die Urteile der „reinen Mathematik" hätte Nietzsche nun aber Descartes' Rückgriff auf den wahrhaftigen Schöpfergott herausstellen können. — Vgl. auch GT III 1, 82: „wie Descartes die Realität der empirischen Welt nur durch die Appellation an die Wahrhaftigkeit Gottes und seine Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen vermochte." Auf diesen Aphorismus wird später mehrfach zurückzukommen sein. „wahr" ist in der Kritischen Gesamtausgabe fettgedruckt; das bedeutet, daß das Wort in Nietzsches Manuskript mehr als einmal unterstrichen ist. Vgl. auch N F VIII 3, 335: „Dico: daß die D e u t l i c h k e i t etwas für Wahrheit ausweisen soll, ist eine vollkommene Kinderei..." Siehe GM, „was bedeuten asketische Ideale?" 24 / VI 2, 419: „Die Wissenschaft selber b e d a r f nunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt sein soll, dass es eine solche für sie giebt). Man sehe sich auf diese Frage die ältesten und die jüngsten Philosophien an: in ihnen allen fehlt ein Bewusstsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie — woher kommt das? Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher H e r r war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein d u r f t e . Versteht man dies .durfte'? — Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, g i e b t es a u c h e i n n e u e s P r o b l e m : das vom W e r t h e der Wahrheit. — Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik — bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe —, der Werth der Wahrheit ist versuchsweise eimal in F r a g e z u s t e l l e n . . . " (Zum asketischen Ideal' vgl. denselben Aphorismus, S. 418.) Vgl. N F VIII 1, 25: „Die Gedanken sind Z e i c h e n von einem Spiel und Kampf der Affekte: sie hängen immer mit ihren verborgenen Wurzeln zusammen". Vgl. N F VIII 1, 197: „wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen B e g r i f f e , die Sprache ist auf die aller naivsten Vorurtheile hin gebaut [ . . . ] w i r h ö r e n a u f z u d e n k e n , w e n n w i r es n i c h t in d e m s p r a c h l i c h e n Z w a n g e t h u n
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w o l l e n , wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn." Von den hier gemeinten Vorurteilen ist später noch zu sprechen. Zum folgenden vgl. Jaspers, Nietzsche, 214 ff. (zu Jaspers' Nietzsche-Deutung siehe Anm. 101 zu diesem Kap.); Heidegger, Nietzsche I, 495 ff.; Volkmann-Schluck, Lehen und Denken, 64—114. Vgl. JGB 191 / VI 2, 115: „die Vernunft ist nur ein Werkzeug". Vgl. N F VIII 3, 94: D i e N ü t z l i c h k e i t d e r E r h a l t u n g , n i c h t irgend ein abstrakttheoretisches Bedürfniß, nicht betrogen zu werden, steht als Motiv hinter der Entwicklung der Erkenntnißorgane . . . sie entwickeln sich so, daß ihre Beobachtung genügt, uns zu erhalten. Anders: das M a ß des Erkennenwollens hängt ab von dem Maß des Wachsens d e s W i l l e n s z u r M a c h t der Art: eine Art ergreift so viel Realität, u m ü b e r s i e H e r r z u w e r d e n , u m s i e i n D i e n s t z u n e h m e n . " Vgl. ferner N F VIII 3, 118: „Der sogenannte E r k e n n t n i ß t r i e b ist zurückzuführen auf einen A n e i g n u n g s - und U b e r w ä l t i g u n g s t r i e b : diesem Triebe folgend haben sich die Sinne, das Gedächtniß, die Instinkte usw. entwickelt... / — die möglichst schnelle Reduktion der Phänomene, die Oekonomie, die Accumulation des erworbenen Schatzes an Erkenntniß (d. h. angeeigneter und handlich gemachter Welt". Siehe N F VIII 1, 213: „Alles Denken, Urtheilen, Wahrnehmen als V e r g l e i c h e n hat als Voraussetzung ein . G l e i c h s e t z e n ' , noch früher ein , G l e i c h m a c h e n ' . Das Gleichmachen ist dasselbe, was die Einverleibung der angeeigneten Materie in der Amoebe ist." (In „ , G l e i c h s e t z e n ' , noch früher ein . G l e i c h m a c h e n ' " sind -setzen und -machen fettgedruckt.) Vgl. ebd.: „ u n t e r s c h e i d e n d e s D e n k e n a l s F o l g e d e r F u r c h t u n d V o r s i c h t bei dem Willen zur A n e i g n u n g . " Wenn Nützlichkeit und Wahrheit der Erkenntnis derart auseinandertreten, gibt es auch keine wahre Erkenntnis der Nützlichkeit, auch nicht der Nützlichkeit der ,Erkenntnisse'. Daß Nietzsche das selber sieht, bezeugt das Ende des folgenden Zitats. — Zum Verhältnis von Wahrem und Nützlichem überhaupt siehe aber auch S. 157. Vgl. WL III 2, 371: „weil aber der Mensch zugleich aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren will, braucht er einen Friedensschluss und trachtet darnach dass wenigstens das allergröbste bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde. Dieser Friedensschluss bringt aber etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes räthselhaften Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird nämlich das fixiert, was von nun an ,Wahrheit' sein soll d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit". (Der Bezug zu Hobbes bedarf hier keiner Ausdifferenzierung.) Daß Nietzsche hier nicht auch sich selbst beschrieben haben möchte, läßt der nicht zitierte Schluß des Aphorismus erkennen. Diese Stelle widerspricht nicht der in Anm. 22 zu diesem Kap. zitierten: „eine Art ergreift so viel Realität, u m ü b e r s i e H e r r z u w e r d e n " . W a s das Denken denkt, ist nichts Reales; es greift nach Fiktionen. M i t t e l s der Fiktionen aber wird der Mensch Herr über Realität im Sinne des Chaos.
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Vgl. noch N F VIII 2, 216: „Die Optik aller organischen Funktionen, aller stärksten Lebensinstinkte: die i r r t h u m w o l l e n d e Kraft in allem Leben; der Irrthum als Voraussetzung selbst des Denkens. Bevor ,gedacht' wird, muß schon .gedichtet' worden sein; das Z u r e c h t b i l d e n z u identischen Fällen, zur S c h e i n b a r k e i t des Gleichen ist ursprünglicher als das E r k e n n e n des G l e i c h e n . "
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Vgl. FW 54 / V 2, 91: „dass unter allen diesen Träumenden auch ich, der ,Erkennende', meinen Tanz tanze, [...] dass die erhabene Consequenz und Verbundenheit aller Erkenntnisse vielleicht das höchste Mittel ist und sein wird, die Allgemeinheit der Träumerei und die Allverständlichkeit aller dieser Träumenden unter einander und eben damit d i e D a u e r
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d e s T r a u m e s a u f r e c h t z u e r h a l t e n . " — Die Stelle steht im Zusammenhang mit Ausführungen zum Schein (und einer Bejahung des Scheins). Vgl. zur aristotelischen Formulierung nochmals S.66. Anders als Kant (vgl. S. 90) nimmt Nietzsche den Satz vom Widerspruch in seiner ursprünglichen, logisch-ontologischen Doppelnatur auf. Dieses Hinwegträumen über die .Realität' gelingt um so besser, als nach Nietzsche der Satz vom Widerspruch als Kriterium der Wahrheit unterstützt wird durch Empirie und ein sensualistisches Vorurteil, in denen er selbst aber als ,uralt einverleibter Grundirrtum' wirksam sein dürfte (vgl. S. 147) —: „Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine , N o t w e n d i g keit" aus, s o n d e r n n u r e i n N i c h t - v e r m ö g e n " (NF VIII 2, 53). U n d : Im Anschluß an seine Äußerung, die Logik zweifle nicht an ihrer Fähigkeit, vom An-sich-Wahren aussagen zu können, daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zukommen können, fährt Nietzsche fort: „Hier r e g i e r t das sensualistische grobe Vorurtheil, daß die Empfindungen uns W a h r h e i t e n über die Dinge lehren, — daß ich nicht zu gleicher Zeit von ein ujjd demselben Ding sagen kann, es ist h a r t und es ist w e i c h (der instinktive Beweis ,ich kann nicht 2 entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben' — g a n z g r o b u n d f a l s c h ) " (NF VIII 2, 54). Zu diesem Ausdruck und seiner Verwendung in diesem Kontext vgl. etwa N F VIII 3, 337. Vgl. auch G D , Die „Vernunft" in der Philosophie, 5 / VI 3, 71: „— Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art w i r (— ich sage höflicher Weise w i r . . . ) das Problem des Irrthums und der Scheinbarkeit in's Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaßen verstrickt in den Irrthum, n e c e s s i t i r t zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, d a s s hier der Irrthum ist." Vgl. zum folgenden aber S. 168 f. Vgl. N F VIII 1, 37: „— das Wesentliche des organischen Wesens ist eine n e u e A u s l e g u n g d e s G e s c h e h e n s , die perspektivische innere Vielheit, welche selber ein Geschehen ist." Vgl. nochmals das Zitat von Anm. 29 zu diesem Kap. Sie macht ihn zum Antipoden Schopenhauers. Diese Gegenstellung bezieht Nietzsche bewußt und ausdrücklich. Ihre erste Ausprägung findet sie, aller Schopenhauer-Nähe zum Trotz, schon in der Schrift Die Geburt der Tragödie. Vgl. N F VIII 2,16: „die W e r t h s c h ä t z u n g ,ich glaube, daß das und das so ist' als Wesen der ,Wahrheit' / in den W e r t h s c h ä t z u n g e n drücken sich E r h a l t u n g s - und W a c h s t h u m s - B e d i n g u n g e n aus"; zu „ W e r t h s c h ä t z u n g " vgl. ebd.: „Wesen des Urtheils ( J a - setzend)." Siehe N F VIII 3, 128: „Die Verirrung der Philosophie ruht darauf, daß man, statt in der Logik und den Vernunftkategorien Mittel zu sehen, zum Zurechtmachen der Welt zu Nützlichkeits-Zwecken (also ,principiell', zu einer nützlichen F ä l s c h u n g ) man in ihnen das Criterium der Wahrheit resp. der R e a l i t ä t zu haben glaubte. Das .Kriterium der Wahrheit' war in der That bloß die b i o l o g i s c h e N ü t z l i c h k e i t e i n e s s o l c h e n S y s t e m s p r i n c i p i e l l e r F ä l s c h u n g : und da eine Gattung Thier nichts Wichtigeres kennt als sich zu erhalten, so dürfte man in der That hier von .Wahrheit' reden. Die Naivetät war nur die, die anthropocentrische Idiosynkrasie als M a ß d e r D i n g e , als Richtschnur über ,real' und .unreal' zu nehmen: kurz, eine Bedingtheit zu verabsolutiren." Vgl. ferner N F VIII 3, 63: „in einer Welt, wo es kein Sein giebt, muß durch den S c h e i n erst eine gewisse berechenbare Welt i d e n t i s c h e r Fälle geschaffen werden: ein tempo, in dem Beobachtung und Vergleichung möglich ist usw. / .Scheinbarkeit' ist eine zurechtge-
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machte und vereinfachte Welt, an der unsere ρ r a k t i s c h e η Instinkte gearbeitet haben: sie ist für u n s vollkommen recht: nämlich wir l e b e n , wir können in ihr leben: B e w e i s ihrer Wahrheit für u n s . . . " 41 Wahr und falsch erscheinen hier als Gegensätze, zwischen denen es Mittleres gibt. Das wird bestätigt durch die Zusammenstellung mit den Gegensätzen schön — häßlich und gut — böse. *2 Das Nützliche / Wahre kann beschränkt sein darauf, Nahrung und Sicherheit zu gewährleisten: „Die Aufstellung der Gegensätze entspricht der Trägheit (eine Unterscheidung, die zur Nahrung, Sicherheit usw. g e n ü g t , gilt als , w a h r ' ) " ( N F VIII 1, 95). 43 Siehe N F VIII 1, 195: „,Was sich beweisen läßt, ist wahr' Das ist eine willkürliche Festsetzung des Begriffs ,wahr', die sich n i c h t b e w e i s e n läßt! Es ist ein einfaches ,das s o l l als wahr gelten, soll ,wahr' heißen!' Im Hintergrunde steht der Nutzen einer solchen Geltung des Begriffs ,wahr': denn das Beweisbare appellirt an das Gemeinsamste in den Köpfen (an die Logik): weshalb es natürlich nicht mehr ist als ein Nützlichkeits-Maaßstab im Interesse der Meisten. ,Wahr' ,bewiesen' d. h. aus Schlüssen abgeleitet, vorausgesetzt, daß die Urtheile, welche zum Schlüsse gebracht werden, schon ,wahr' sind (d.h. a l l g e m e i n z u g e s t a n d e n ) Somit ist ,wahr' etwas, das nach einer allgemein zugestandenen Art des Schließens auf allgemein zugestandene Wahrheiten zurückgeführt wird. D a s b e d e u t e t a l s o : ,was sich beweisen läßt, ist wahr' setzt bereits W a h r h e i t e n als g e g e b e n voraus ". 44 Siehe F W 265 / V 2 , 1 9 6 : „ L e t z t e S k e p s i s . — Was sind denn zuletzt die Wahrheiten des Menschen? — Es sind die u n w i d e r l e g b a r e n Irrthümer des Menschen." 45 In den Kontext der A u f h e b u n g des Wert- und Wesensgegensatzes von ,wahr' und ,falsch' gehört die bekannte Äußerung Nietzsches: „ W a h r h e i t i s t d i e A r t v o n I r r t h u m , ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Werth für das Leben entscheidet zuletzt" ( N F VII 3, 226). Wenn man mit Simon den ersten Satz des Zitats als eine Wahrheitsdefinition Nietzsches ansehen will, so wäre diese, von Nietzsche her gesehen, n i c h t „gescheitert"; Wahrheit und Irrtum sind für Nietzsche eben nicht mehr einfachhin „Gegensätze" bzw. voneinander „Gegenteil", so daß durchaus im Begriff der Wahrheit der des Irrtums widerspruchsfrei „mitgemeint" sein kann. Dies als Anmerkung zu Simon, Grammatik und Wahrheit, 16: „ .Wahrheit' ist eine Spezies zu dem Genus .Irrtum', und die .spezifische Differenz' wird durch die Zuordnung zu den Lebensbedingungen einer ,Art von lebendigen Wesen' angegeben. ,Wahrheit' und .Irrtum', deren Begriffe zunächst Gegensätze sind, werden als Verhältnis von Art und Gattung ausgesagt, so daß nach Regeln der Semantik im Begriff .Wahrheit' immer der des .Irrtums' .mitgemeint' sein müßte. Da etwas hier als äquivalent der Unterart dessen angesehen wird, wovon es zugleich das Gegenteil ist, ist dieser Versuch einer logischen Definition von ,Wahrheit' gescheitert." 44 Auch der Raum gehört zu diesen Schemata. Siehe N F VIII 3, 126: „Die Kategorien sind ,Wahrheiten' nur in dem Sinne, als sie lebenbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine solche bedingte ,Wahrheit' ist. (An sich geredet, da Niemand die N o t w e n d i g keit, daß es gerade Menschen giebt, aufrecht erhalten wird, ist die Vernunft, so wie der Euklidische Raum eine bloße Idiosynkrasie bestimmter Thierarten und eine neben vielen anderen...)" " Vgl. N F VIII 2 , 1 7 : „wir haben u n s e r e Erhaltungs-Bedingungen projicirt als P r ä d i k a t e d e s S e i n s überhaupt / daß wir in unserem Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die ,wahre' Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine s e i e n d e ist." 4> Die Bedeutung der Ich-Vorstellung für die Entstehung des Schemas Ursache-Wirkung wird im folgenden nur in einer Linie noch etwas weiter verfolgt. Auf einen weiteren Aspekt sei hier verwiesen: Die Ich-Vorstellung läßt nach Nietzsche die Ding-Vorstellung entstehen, und auch das Ding „inhärirt der Conception ,Ursache'" (vgl. S. 160). In der Götzen-
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Dämmerung sagt Nietzsche: „ D a s sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an's ,Ich', an's Ich als Sein, an's Ich als Substanz und p r o j i c i r t den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge — es s c h a f f t erst damit den Begriff ,Ding'..." (Die „Vernunft" in der Philosophie, 5 / VI 3, 71). (Daß in der Transzendentalphilosophie vor Nietzsche, besonders durch Fichte, das Ich gerade nicht als Substanz gedacht wurde, trifft an dieser Stelle Nietzsche nicht als Einwand, wo es ihm um die Entstehung sehr alter ,Grundirrtümer' geht; anders stünde es allerdings bei Nietzsches Äußerung NF VIII 1, 325 f.) Nicht nur über den Substanzbegriff wird nach Nietzsche der Dingbegriff vom Ich aus konzipiert, sondern auch über den Begriff der Einheit: „Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserem .Ich'begriff, — unserem ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff ,Ding' gebildet" (NF VIII 3, 50). Vgl. NF VIII 3, 127: „Wir haben den Willen als Ursache geglaubt, bis zu dem Maße, daß wir nach unserer Personal-Erfahrung überhaupt eine Ursache in das Geschehen hineingelegt haben (d.h. Absicht als Ursache von Geschehen —)". Vgl. ferner GD, Die vier grossen Irrthümer, 3 / VI 3, 84 f. Siehe NF VIII 1, 133: „Thatsächlich stammt der Begriff ,Ursache und Wirkung', psychologisch nachgerechnet, nur aus einer Denkweise, die immer und überall Wille auf Wille wirkend glaubt, — die nur an Lebendiges glaubt und im Grunde nur an .Seelen' (und n i c h t an Dinge)". (,Ding' bedeutet in diesem Kontext totes, unbeseeltes Ding und steht nicht für Substantialität, so daß die Stelle nicht in Widerspruch steht zu Anm. 48 zu diesem Kap.) In diesem Zusammenhang ist ferner zu beachten NF VIII 1, 100: „Ich bemerke etwas und suche nach einem G r u n d dafür: das heißt ursprünglich: ich suche nach einer A b s i c h t darin und vor allem nach einem der Absicht hat, nach einem Subjekt, einem Thäter: — ehemals sah man in a l l e m Geschehen Absichten, alles Geschehen war Thun. Dies ist unsere älteste Gewohnheit. [...] Die Frage , w a r u m ?' ist immer die Frage nach der causa finalis, nach einem ,Wozu?' Von einem ,Sinn der causa efficiens' haben wir nichts: hier hat H u m e Recht [...] Was uns die außerordentliche Festigkeit des Glaubens an Causalität giebt, ist n i c h t die große Gewohnheit des Hintereinanders von Vorgängen, sondern unsere U n f ä h i g k e i t , ein Geschehen anders i n t e r p r e t i r e n zu können denn als ein Geschehen aus A b s i c h t e n . Es ist der G l a u b e an das Lebendige und Denkende als das einzig W i r k e n d e — an den Willen, die Absicht — daß alles Geschehn ein Thun sei, daß alles Thun einen Thäter voraussetze, es ist der Glaube an das .Subjekt'." Nietzsche ist konsequent genug, hinzu zu notieren: „ .Anziehen' und .Abstoßen' in rein mechanischem Sinne ist eine vollständige Fiktion: ein Wort. Wir können uns ohne eine Absicht ein Anziehen nicht denken" (ebd.) Vgl. im Platon-Kapitel S. 9 f. und im Aristoteles-Kapitel S. 15. Vgl. GD, Die „Vernunft" in der Philosophie, 2 / VI 3, 69: „Die .scheinbare' Welt ist die einzige: die .wahre Welt' ist nur h i n z u g e l o g e n . . . " (Damit spricht Nietzsche die Liquidation der Metaphysik aus.) Es muß noch vermerkt werden, daß Nietzsche den Ausdruck .scheinbare Welt' auch in anderer Bedeutung gebraucht als derjenigen, die hier in Anspruch genommen wird. Er kann nämlich sagen: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht?... Aber nein! m i t d e r w a h r e n W e l t h a b e n w i r a u c h die s c h e i n b a r e a b g e s c h a f f t ! " (GD, Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde / VI 3, 75) ,Scheinbare Welt' in der in dieser Äußerung vorliegenden Bedeutung meint: unsere einzige Welt, gemessen an einer fingierten wahren Welt und g e g e n s i e a b g e w e r t e t . Vgl. hierzu NF VIII 3, 72: „Das Schlimme ist — daß mit dem alten Gegensatz .scheinbar' und .wahr' sich das correlative Werthurteil fortgepflanzt : geringer an Werth und absolut .werthvoll'". Dieses W e r t u r t e i l hat Nietzsche für seine Philosophie „abgeschafft" (vgl. S.156). Vgl. auch S.157.
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Dementsprechend beantwortet Nietzsche sich die Frage, „ob es nicht noch viele Art geben könnte, eine solche s c h e i n b a r e Welt zu schaffen" (NF VIII 2, 60), positiv. Es kann sie geben, wenngleich wir keine Möglichkeit haben, sie uns vorzustellen. Siehe dazu FW 374 / V 2, 308 f. (teilweise schon einmal zitiert): „Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben k ö n n t e : zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre). Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben d ü r f e . Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ,unendlich' geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t . " — Mit Bezug auf Qualitäten und Perzeptionen spricht Nietzsche anderwärts noch entschiedener: „Es liegt auf der Hand, daß jedes von uns verschiedene Wesen andere Qualitäten empfindet und folglich in einer anderen Welt, als wir leben, lebt" (NF VIII 1, 244). U n d : „Schon dies kostet ihm (sc. dem Menschen) Mühe, sich einzugestehen, wie das Insekt oder der Vogel eine ganz andere Welt percipiren als der Mensch, und dass die Frage, welche von beiden Weltperceptionen richtiger ist, eine ganz sinnlose ist, da hierzu bereits mit dem Maassstabe der r i c h t i g e n P e r c e p t i o n d.h. mit einem n i c h t v o r h a n d e n e n Maassstabe gemessen werden müsste" (WL III 2, 378). Wenn man den Ausdruck transzendental' in bezug auf Gedanken Nietzsches verwendet, muß klargestellt werden, daß seine Bedeutung nun primär ,lebenbedingend', ,Leben ermöglichend* sein muß. Die Welt,erkennbar' machen, meint: dem Menschen Leben in ihr ermöglichen (vgl. S. 148 und 154 f.). Erkenntnis läßt sich bei Nietzsche ja gar nicht mehr anders bestimmen als im Blick auf ihre Leben erhaltende und steigernde Funktion. Vgl. N F VIII 1, 323: „Unsre Bedürfnisse sind es, d i e d i e W e l t a u s l e g e n : unsre Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als N o r m allen übrigen Trieben aufzwingen möchte." Die Verwendung des Ausdrucks Subjekt in der zitierten Stelle wie überhaupt die ganzen Überlegungen Nietzsches, die dem Menschen als Grund der scheinbaren Welt gelten, stehen in Spannung zu seinen zahlreichen kritischen Äußerungen zum Subjektbegriff. Diese Spannung ist nicht wegzuinterpretieren. Jedenfalls aber wird man einräumen müssen, daß Nietzsche nicht den Subjektbegriff traditioneller Subjektivitätstheorien nun doch für sich restituiert. Was früher über Denken und den Kampf oder das Spiel der Triebe gesagt wurde, bleibt festzuhalten, ebenso das, was Nietzsche in der S. 145 zitierten Stelle aus Zur Genealogie der Moral ausführt. Dies wird hier immanent, in bezug auf seine eigenen Ausführungen zu diesem Thema gesagt. Die Destruktion ist später selber kritisch zu bedenken. Vgl. N F VIII 2, 15f.: „Daß es keine Wahrheit giebt; daß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein ,Ding an sich' giebt / — d i e s i s t s e l b s t e i n N i h i l i s m , und z w a r d e r e x t r e m s t e . Er legt den W e r t h der Dinge gerade dahinein, daß diesem Werthe k e i n e Realität entspricht und entsprach, sondern nur ein Symptom von Kraft auf Seiten der W e r t h - A n s e t z e r , eine Simplification zum Z w e c k des L e b e n s " . Müller-Lauter bleibt im Wahrheits-Kapitel seines Buches Nietzsche auf der hier noch einmal skizzierten Ebene, treibt dabei aber die Wahrheitsproblematik einen Schritt weiter in die Richtung, die dann in seinen Kapiteln über den Übermenschen und die ewige Wiederkunft des Gleichen durchgehalten wird. (Seine Thesen über die .Gegensätze' in diesen Kernstükken der Philosophie Nietzsches können hier nicht erörtert werden.) Müller-Lauter schreibt: „Die neue Wahrheit steht in Widerspruch zu dem, was bisher als Wahrheit galt" (a. a. O., 108). Sie ist, wie er — eine Formulierung Heideggers übernehmend, sich aber von der Heideggerschen Bedeutung zugleich absetzend — sagt, „Einstimmigkeit mit dem Wirklichen" (a. a. Ο., 109), und das Wirkliche ist der „jeweilige Wille zur Macht in seiner
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Angewiesenheit auf ihm entgegenstehende Machtwillen" (ebd.). Der jeweilige (besondere) Wille zur Macht „konkretisiert seine Besonderheit im Kampf gegen andere besondere Machtwillen" (a. a. O., 110). In diesem Kampf „setzt sich" das Für-wahr-halten der eigenen Perspektive „selbst absolut" (ebd.). Damit aber ergibt sich ein Problem: Im Absolutsetzen der Perspektive „geht gerade die Einstimmigkeit dieser Wahrheit mit dem Willen zur Macht verloren. Dieser kann sich als Machtwille in einer sich unablässig wandelnden Wirklichkeit nur behaupten, wenn er sich selbst unablässig wandelt" (ebd.). „So findet jeder sich selbst durchschauende Wille zur Macht eine eigentümliche Widersprüchlichkeit in sich: er muß von der Wahrheit seiner jeweiligen Perspektive uneingeschränkt überzeugt sein, und er muß doch zugleich — in der Bereitschaft für die Notwendigkeit des Wandels — sich diese Überzeugung verbieten" (a.a.O., 115). Mir erscheint dies Problem, auf dieser Ebene und von Nietzsche aus betrachtet, nicht als unlöslich. Ein sich selbst durchschauender Wille zur Macht muß hier nur von der M a c h t s t e i g e r n d e n F u n k t i o n „seiner jeweiligen Perspektive uneingeschränkt überzeugt sein", und diese Uberzeugung kann sich durchaus von vornherein als Uberzeugung-bis-auf-weiteres, d.h. als dem Wandel offen verstehen, und zwar ohne damit den Durchsetzungswillen zu beeinträchtigen. Eine andere Problemlage ergäbe sich, hätte Müller-Lauter seine Argumentation auf Nietzsches Seinsthese selbst (daß die Welt „der ,Wille zur Macht' und nichts ausserdem" ist — vgl. hier S. 170) angewendet. (Es wäre übrigens nicht die Problemlage des Fortgangs dieses Kapitels, in dem versucht wird, Nietzsches Seinsthese a l s absolute von innen her aufzubrechen.) — MüllerLauter hat in seinem Aufsatz Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht die Wahrheitsfrage aufgegriffen und anders weitergeführt — vgl. Anm. 118 zu diesem Kap. " Eislers immer noch lesenswerte Schrift Nietzsche's Erkenntnistheorie und Metaphysik (in der Eisler sich von einem eigenen erkenntnistheoretischen Standpunkt aus kritisch mit Nietzsche und gelegentlich auch mit Kant auseinandersetzt), ist an diesem Punkt ambivalent. Einerseits sagt er mit Bezug auf Nietzsche: "Was an 'absoluter' Wahrheit existiert, ist rein negativer, absprechender Art, Erkenntnis, dass die Wirklichkeit nicht das und nicht so ist, als was wir und wie wir sie wahrnehmen und denken" (a. a. O., 15). Andererseits stellt er im 2. Teil Nietzsches „Metaphysik" dar und meint dort: „Auch Nietzsche kennt eine Art ,An sich' der W e l t . . . Die Welt ist eine Relations-Welt, sie besteht durch und durch aus lebendigen Beziehungen . . . es giebt in Wirklichkeit nur das ewige W e r d e n , den unendlichen P r o z e s s " (a.a.O., 77) — und: „So wird aus der .Erscheinung' die ,wahre', wirkliche Welt, das W e r d e n ist das Seiende, Bleibende, Ewige, Unaufhebbare. Das ,Absolute' ist der f o r t s c h r e i t e n d e P r o z e s s " (a.a. O., 78). Dann relativiert er wieder: „Von der dogmatischen Aufstellung von Theoremen ist Nietzsche weit entfernt, kennt er doch keine .absolute', ,reine' Wahrheit. Er weiss, dass alles Philosophieren schliesslich in der P e r s ö n l i c h k e i t des Philosophen wurzelt" (a.a.O., 108). 62
Schon die „psychologische Ableitung des Glaubens an D i η g e verbietet uns von .Dingen an sich' zu reden" (vgl. S. 135). Wenn der Dingbegriff zu unseren vereinfachenden, fälschenden Schemata gehört, ist ein Ding an sich eine „contradictio in adjecto" (vgl. S. 138). Siehe auch N F VIII 2, 60: „Fragen, wie die ,Dinge an sich' sein mögen, ganz abgesehn von unserer Sinnen-Receptivität und Verstandes-Aktivität, muß man mit der Frage zurückweisen: woher könnten wir wissen, d a ß es D i n g e g i e b t ? ,Dingheit' ist erst von uns geschaffen." (Daß derartige Äußerungen Nietzsches zugleich eine Kritik am Grundansatz der Philosophie Schopenhauers beinhalten, kann im Rahmen dieser Untersuchung unerörtert bleiben. Vgl. dazu Decher, Wille zum Leben — Wille zur Macht, 90 ff.)
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Das geschieht interpretierend und im Zuge einer Auseinandersetzung mit Nietzsche. Der Sprachgebrauch ist aber bei Nietzsche, obwohl er von Ansich vorwiegend dort redet, wo er die Rechtmäßigkeit der Vorstellungen von Dingen an sich u. ä. bestreitet, zu belegen: „Im ,Αη-sich' giebt es nichts von ,Causal-Verbänden', von ,Notwendigkeit', von .psychologischer Unfreiheit', da folgt n i c h t ,die Wirkung auf die Ursache', das [KGW sie] regiert kein
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.Gesetz'" (JGB 21 / VI 2, 30). Vgl. auch N F VIII 1, 95: „Giebt es denn einen S i n n im Ansich?? / Ist nicht nothwendig Sinn eben Beziehungs-sinn und Perspektive?" 64 Gegeben ist uns dies Werden als „formlos-unformulirbare Welt des Sensationen-Chaos" — siehe N F VIII 2, 59f.: „2) die Welt der .Phänomene' ist die zurechtgemachte Welt, die wir a l s r e a l e m p f i n d e n . Die .Realität' liegt in dem beständigen Wiederkommen gleicher, bekannter, verwandter Dinge, in ihrem l o g i s i r t e n C h a r a k t e r , im Glauben, daß wir hier rechnen, berechnen können. / 3) der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist η i c h t ,die wahre Welt', sondern die formlos-unformulirbare Welt des Sensationen-Chaos, — also e i n e a n d e r e A r t Phänomenal-Welt, eine für uns .unerkennbare'." 65 Vgl. N F VIII 2, 60: „.Ursache und Wirkung' falsche Auslegung eines K r i e g s und eines relativen S i e g s " . Siehe ferner N F VIII 3. 65: „Zwei aufeinander folgende Zustände: der eine Ursache, der andere Wirkung / : ist falsch. / der erste Zustand hat nichts zu bewirken / den zweiten hat nichts bewirkt. / : es handelt sich um einen Kampf zweier an Macht ungleichen Elemente: es wird ein Neuarrangement der Kräfte erreicht, je nach dem Maß von Macht eines jeden. / der zweite Zustand ist etwas Grundverschiedenes vom ersten ( n i c h t dessen .Wirkung'): das Wesentliche ist, daß die im Kampf befindlichen Faktoren mit anderen Machtquanten herauskommen." 66 Darüber, daß damit Unlust nicht ausgeschlossen ist, belehrt folgender Aphorismus: „Je nach den Widerständen, die eine Kraft aufsucht, um über sie Herr zu werden, muß das Maaß des hiermit herausgeforderten Mißlingens und Verhängnisses wachsen: und insofern jede Kraft sich nur an Widerstehendem auslassen kann, ist nothwendig in jeder Aktion eine I n g r e d i e n z v o n U n l u s t . N u r wirkt diese Unlust als Reiz des Lebens: und stärkt den W i l l e n z u r M a c h t ! " (NF VIII 2, 280). 67 Aus einer im „Nachlaß" unmittelbar vorhergehenden entsprechenden Aufzählung wären noch „Politik" und „Wissenschaft" hinzuzufügen (ebd.). 68 Vgl. etwa S. 165. " Vielleicht erscheinen .Chemie' und .kosmische Ordnung' deshalb im vorvorigen Zitat in Fragesätzen. Vgl. N F VIII 1, 13: „ — die Begehrungen spezialisiren sich immer mehr: ihre Einheit ist d e r W i l l e z u r M a c h t (um den Ausdruck vom stärksten aller Triebe herzunehmen, der alle organische Entwicklung bis jetzt dirigirt hat) / — Reduktion aller organischen Grundfunktionen auf den Willen zur Macht / — Frage, ob er nicht das mobile ebenfalls in der unorganischen Welt ist?" Siehe auch VIII 1, 151: „Das ,Sein' — wir haben keine andere Vorstellung davon als , l e b e n ' . — Wie kann also etwas Todtes ,sein'?" 70 Vgl. aus der S. 159f. zitierten Stelle: „Ein Quantum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille, Wirken — vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst". 71 Aus diesem Zusammenhang heraus wird verständlich, daß Nietzsche sich immer wieder gegen den Materiebegriff und gegen den Begriff des materiell verstandenen Atoms wendet. Dankbar denkt er an Boscovich, „der, mitsammt dem Polen Kopernicus, bisher der grösste und siegreichste Gegner des Augenscheins war. Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass die Erde n i c h t fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte, was von der Erde .feststand', abschwören, dem Glauben an den .Stoff', an die .Materie', an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom: es war der grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden ist" (JGB 12 / VI 2, 20). 72 1873 hatte Nietzsche geschrieben: „Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinirbares X. Denn auch unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen wagen, dass er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegentheil" (WL III 2, 374 — teilweise schon einmal zitiert). An die Stelle des unzugänglichen und undefinierbaren X ist durch die Seinsthese der
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Wille zur Macht gesetzt, und eben deshalb bestehen Wahrheitskritik und Wahrheitsthese nicht aus dogmatischen Behauptungen, die ebenso unerweislich wären wie ihr Gegenteil. Diese Auffassung wird keineswegs von allen Interpreten geteilt, vielmehr findet sich durchaus die hier abgelehnte Argumentation. Man vergleiche etwa Noll, Das Wesen von Friedrich Nietzsches Idealismus, 78 und 72 ff., vor allem aber auch den Grimm betreffenden Teil der Anm. 118 zu diesem Kap. Zur Frage, wie weit eine Position, die Nietzsches Seinsthese von einem theoretischen Wahrheitsanspruch fernhalten will, von ihren Vertretern durchgehalten werden kann, wären auch folgende Äußerungen Nolls zu prüfen: „Das Kriterium für die Wahrheit der Auslegung des Seins muß in einem Schein liegen, der sinnvoll ist und unserer sachlichen Einsicht in das Wesen des Seins entspricht. Wir dürfen uns in der Art und Weise der Seinsdeutung selbst nichts vormachen, den Seinscharakter des Seins nicht illusionär verfälschen" (a.a.O., 81). Und: Hieraus geht ganz klar hervor, daß die Wesensbestimmung des Scheins als der einzigen Realität durch den ,Willen zur Macht' v o n i n n e n h e r erfolgt; d.h. von der Eckensteherperspektive des Menschen. Die unfaßbare flüssige Proteusnatur ist im Gegensatz dazu die sich ewig verwandelnde Realität" (a.a.O., 83). Diese und ähnliche Argumentationen Nietzsches im Zusammenhang mit der Lehre von der ewigen Wiederkehr weisen eine Verwandtschaft auf mit einem Beweisgang in Piatons Phaidros (vgl. Fleischer, Hermeneutische Anthropologie, 105 f.), was sie als .Korrektiv' mindestens der platonischen ,Welt-Hypothese' unbrauchbar machen dürfte. (Nietzsche hat natürlich diesen Dialog Piatons gekannt — siehe etwa Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, Vortrag IV / III 2, 222.) Vgl. S. 188. Nietzsche gebraucht ja in diesem Zusammenhang durchaus auch Ausdrücke wie .Hypothese', .Versuch', .gesetzt, daß ..." — vergleiche etwa die S. 169 f. zitierte Stelle aus Jenseits von Gut und Böse und die S. 168 zitierte Stelle N F VIII 3, 54. Es verbietet sich für Nietzsche, statt dessen anzunehmen, daß in den Gedanken des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr d a s S e i n als Wille zur Macht s i c h s e l b s t zu seinem Selbstbewußtsein, zum Sichwissen, emporhebt. Damit soll nicht bestritten werden, daß bei Nietzsche auch diese Gedankenlinie anzutreffen sein mag. Es dürfte dann aber vermutet werden, daß er sie als inkonsequent durchschaut hat und daß ihm ihre idealistische Herkunft, durch die sie innerhalb seiner Philosophie als unbegründetes Vorurteil entlarvt wird, nicht auf Dauer entgangen ist. Tatsächlich hätte spätestens das hier im Fortgang (S. 182 ff.) zu thematisierende Gedicht Klage der Ariadne sie verabschiedet, in dem Ariadne dann auch von d i e s e m Stolz ihres Denkens ließe. Das Kapitel „Die stillste Stunde" im II. Teil des Zarathustra (Za VI 1, 183 ff.) widerspricht dem keineswegs, bestätigt es vielmehr, und das nicht nur deshalb, weil das Kapitel zum III. Teil des Werkes überleitet und mit dessen Hauptkapiteln zusammengenommen werden muß. In dieser Richtung sucht Fink eine Lösung des Problems, indem er die Intuition als einen Denkvollzug ins Spiel bringt, den er offensichtlich von vornherein auch von Nietzsche her für unverdächtig hält, fälschend und Übermächtigend sein zu können. — Mit Finks Ausgangspunkt stimme ich überein. Er schreibt: „Nietzsches Verdacht und Mißtrauen gegen die kategoriale Interpretation des Seienden als Ding, wie es vor allem die Metaphysik seit Piaton und Aristoteles denkt, hat nicht seinen Grund in einer extremen Skepsis überhaupt, sondern eher sogar in einer von ihm .dogmatisch' ergriffenen und behaupteten Grundauffassung, in seiner These über das Werden als das Letzt-Wirkliche" (Nietzsches Philosophie, 166). Diese Grundauffassung und These gründet nach Fink in einer „UrIntuition", die eben „das Werden als das allein Wirkliche nimmt" (a.a.O., 165). Und nun gilt es nach Fink, zu unterscheiden: Nietzsches „Kritik trifft nicht überhaupt alle Erkenntnis, sondern nur die Erkenntnis des Seienden, die empirische, vor allem aber die apriorische Erkenntnis, d.h. die kategoriale Auslegung der Dingheit als solcher. Seine Intuition, der
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philosophische Blick auf das Werden ist von dieser Kritik der Erkenntnis nicht betroffen; er ist vielmehr die Voraussetzung, die diese Kritik erst möglich und auch gültig macht" (ebd.). Fink stellt dazu fest: „Nietzsche selbst unterscheidet nicht scharf genug zwischen der Wahrheit vom Werden und der Wahrheit vom Seienden" (ebd.), und Fink meint: „Die Wahrheit vom Werden hat eine ganz andere Natur als die sonstige Wahrheit, die erst auf dem Boden von fälschenden, stilisteilenden Begriffen möglich wird" (ebd.). Die Wahrheit vom Werden ist eben „intuitiv", die vom Seienden „begrifflich"; die intuitive Wahrheit ist „eine Unverborgenheit der waltenden Welt", die begriffliche „ein Offenstehen für das Binnenweltliche, das das .Werden' vorstellt" (ebd.). Und: „nur in der weltoffenen Intuition des Werdens ist eigentliche Wahrheit möglich" (a.a.O., 166). — Mir erscheint, wie der unmittelbare Fortgang des Kapitels zeigen wird, als fraglich, ob man intuitives und begriffliches Denken, Welt und Binnenweltliches, Werden und Seiendes bei Nietzsche wirklich so scheiden kann. Vor allem aber halte ich es nicht für gerechtfertigt, durch Einführung der Intuition Nietzsches Denken seiner eigenen Seinsthese wie selbstverständlich aus dem Denken, das nach Nietzsche Vollzug des Willens zur Macht ist, herauszusetzen und als nicht-übermächtigend zu begreifen. Freilich: Gerade wenn man Fink in diesen Punkten nicht folgt, werden seine Ausführungen — gegen seine Absicht — sprechend in bezug auf Nietzsches Aporie. — Zweierlei Wahrheit und zweierlei Denken bei Nietzsche nimmt auch Granier an in seinem Buch Le probleme de la Verite dans la philosophie de Nietzsche: «Cette Verite, qui est celle du , nous l'appellerons la Verite originaire, et nous l'opposerons a la fois ä l'erreur-utile du pragmatisme vital» (a. a. O., 512). Das der „Verite originaire" zugehörige Denken ist Intuition, was nach Granier aber nicht zu neuen dogmatischen Behauptungen über das Sein führt, und zwar deshalb nicht, weil das Gedachte dieser Intuition das Etre-interprete ist: «La Verite originaire ne s'epuise nullement dans 1'affirmation dogmatique que l'Etre est devenir. La philosophie nietzscheenne du devenir n'est pas une nouvelle Metaphysique, eile doit se comprendre ä la lumiere de l'intuition de l'Etre-interprete. C'est pourquoi le devenir, chez Nietzsche, peut resumer, ä lui seul, tous les autres caracteres de l'Etre, il est le Symbole de l'Etre en tant que l'Etre se revele absolument inadequat ä toutes nos categories» (ebd., Anm. 3; zum Etre-interprete siehe das Zitat aus Graniers Schrift in Anm. 118 zu diesem Kap.). Das Gedachte von Nietzsches Intuition drückt Granier, für seine Position bezeichnend, auch so aus: «L'intuition ontologique de Nietzsche se resumerait done ainsi: l'Etre n'est ni raison absolue, ni deraison; l'Etre n'autorise qu'une affirmation, c'est qu 'ily ade la rationalite dans le monde» (a.a.O., 311). Granier stellt für Nietzsches Ontologie die Rechtsfrage: « . . . l a question de jure qui se formulerait en ces termes: que doit etre le rapport de la pensee et de l'Etre pour que la pensee puisse se risquer ä definir l'Etre comme Volenti de Puissance?» (a. a. Ο., 304) Nach dem zuvor Zitierten verwundert es nicht, daß Granier die Rechtsfrage auf eine Weise beantwortet, die von der Vorstellung, das Verhältnis von Denken und Sein könnte Wille zur Macht sein, sehr weit entfernt ist: «Un pacte tacite se noue entre la pensee humaine et le monde, ce pacte est le fondement de tout langage na'if comme de tout discours philosophique» (a.a.O., 312). Freilich hält Granier auch hier daran fest, daß der Geist nicht zum sicheren Besitz der Wahrheit gelangt: Das Sein «est ouvert ä la pensee, de sorte que la pensee se saisit comme engagee dans l'aventure de l'Etre, mais cet engagement ne conduit jamais ä une possession de l'Etre. La reflexion atteint l'Etre, mais eile ne coincide pas avec lui: l'Etre n'est done pas un logos translucide, il est seulement «dechiffrable aux divins dechiffreurs d'enigmes>» (ebd.). So z.B. die früher zitierten Stellen: »Alles Denken, Urtheilen, Wahrnehmen als V e r g l e i c h e η hat als Voraussetzung ein ,Gleichsetzen', noch früher ein ,Gleichmachen'" (vgl. Anm. 23 zu diesem Kap.). Und: „dass die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt, — dass Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Heer-
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den-Merkzeichen w i r d , dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründliche Verderbniss, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist" (vgl. S. 146). „Moralisch ausgedrückt: i s t d i e W e l t f a l s c h . [ . . . ] D e r Wille zur Wahrheit ist ein Festm a c h e n , ein W a h r h a f t - D a u e r h a f t - M a c h e n , ein Aus-dem-Auge-schaffen jenes f a l s c h e n Charakters, eine Umdeutung desselben ins S e i e n d e " (vgl. S.161). „Erkenntniß an sich im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntniß möglich? Als Irrthum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung" (vgl. S. 149). 81
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Freilich, daß das „Nacheinander" in s e i n e m philosophierenden Bewußtsein n i c h t „vollkommen atomistisch" ist, betont Nietzsche durchaus (was seine Aporie nur um so deutlicher macht): „Ich gebe meine Argumentation in allen wesentlichen Schritten, Punkt für Punkt. Mit etwas Logik in dem Leibe [ . . . ] hätte man diese Argumentation auch schon meinen früheren Schriften entnehmen können. Man hat das Umgekehrte gethan und sich darüber beschwert, daß es denselben an Consequenz fehle: dieses Mischmasch-Gesindel von heute wagt das W o r t Consequenz in den Mund zu nehmen!" ( N F V I I I 3, 162) An die frühere Zusammenstellung von Schemata (bei der Vollständigkeit nicht intendiert war) sei erinnert (siehe S. 158). H i e r kommen noch „Art", „Veränderung" und „Kraft" hinzu. Nietzsches positiver Gebrauch von Schemata wird im folgenden einzeln, jedoch nur exemplarisch, belegt. Dabei wird bevorzugt auf schon verwendete Textstellen verwiesen. Z w e c k m ä ß i g k e i t : Nietzsche sagt von den Kategorien: „Und doch drücken sie vielleicht nichts aus als eine bestimmte Rassen- und Gattungs-Zweckmäßigkeit" (vgl. S. 136). G a t t u n g , A r t : Siehe die vorige Stelle. In gleichem Sinne heißt es auch: „wir .wissen' (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel als es im Interesse der MenschenHeerde, der Gattung, n ü t z l i c h sein mag" (vgl. S. 146f.). Ferner: „und da eine Gattung Thier nichts Wichtigeres kennt als sich zu erhalten, so dürfte man in der That hier von .Wahrheit' reden" (vgl. Anm. 40 zu diesem Kap.). D e r Begriff „Art" wird von Nietzsche ganz entsprechend verwendet: Perspektivisches Sehen ist nötig, „damit gerade Wesen unsrer Art sich im Dasein erhalten k ö n n e n " (vgl. S. 145). Das „ M a ß des Erkennenwollens hängt ab von dem Maß des Wachsens d e s W i l l e n s z u r M a c h t der A r t : eine Art ergreift so viel Realität, u m ü b e r s i e H e r r z u w e r d e n " (vgl. A n m . 2 2 zu diesem Kap.). ( G e g e n den Begriff „Gattung" äußert Nietzsche sich auch N F V I I I 2, 81. Das dort Gesagte muß ebenfalls für den Begriff „Art" gelten.) K a u s a l i t ä t , W i r k u n g , U r s a c h e : Im Zusammenhang mit der Frage, o b auch das Anorganische als Wille zur Macht gedacht werden kann, sagt Nietzsche: „Nicht mehrere Arten von Causalität annehmen, so lange nicht der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine äusserste Grenze getrieben ist [ . . . ] D i e Frage ist zuletzt, o b wir den Willen wirklich als w i r k e n d anerkennen, o b wir an die Causalität des Willens glauben: thun wir das — und im Grunde ist der Glaube d a r a n eben unser Glaube an Causalität selbst — , so m ü s s e η wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen. [ . . . ] genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo .Wirkungen' anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt — und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, WillensWirkung ist" (vgl. S. 169). D o r t , w o Nietzsche das Subjekt der scheinbaren Welt denkt und das O b j e k t als bloßen Modus des Subjekts ansetzt, bemerkt er: „ H y p o t h e s e , d a ß e s n u r S u b j e k t e g i e b t — daß . O b j e k t ' nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist" (vgl. S. 162 f.). Zu beachten ist auch, daß Nietzsche in bezug auf den Willen zur Macht von einer „Welt von Wirkung" spricht ( N F V I I I 3, 50) und notiert: „Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet" (ebd.). In demselben Zusammenhang erwähnt er „dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem .Wirken' auf dieselben" ( N F V I I I 3, 51). Bezüglich des Willens „zur Accumulation von K r a f t " , des Willens zur Macht also, fragt er: „sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache auch in der Chemie annehmen dürfen?" (vgl. S. 168). D e r
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Wille zur Macht wird von Nietzsche als Ursache bezeichnet auch an einer Stelle, die von fundamentaler Wichtigkeit für seine Seinsthese und die Begründung der ewigen Wiederkehr ist: „Man kann das, was die Ursache dafür ist, d a ß es überhaupt Entwicklung giebt, nicht selbst wieder auf dem Wege der Forschung über Entwicklung finden; man soll es nicht als ,werdend' verstehn wollen, noch weniger als geworden... / der .Wille zur Macht' kann nicht geworden sein" (NF VIII 2, 259). Im Zarathustra heißt es: „Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin, — der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft" (Za III / VI 1, 272). V e r ä n d e r u n g : Den Begriff „Ursache" kritisierend, verwendet Nietzsche den Begriff „Veränderung" in positivem Sinn: „übersetzen wir den Begriff ,Ursache' wieder zurück in die uns einzig bekannte Sphäre, woraus wir ihn genommen haben: so ist uns keine V e r ä n d e r u n g vorstellbar, bei der es nicht einen Willen zur Macht giebt. Wir wissen eine Veränderung nicht abzuleiten, wenn nicht ein Ubergreifen von Macht über andere Macht statt hat" (NF VIII 3, 52). Negativ äußert Nietzsche sich zu diesem Begriff im Zusammenhang mit seiner Kritik an den Schemata Tun — Täter, Tun — Leiden und ähnlichen: „schon der Glaube an die Veränderungen setzt den Glauben an e t w a s voraus, d a s ,sich ändert' " ( N F VIII 1, 135). B e w e g u n g : „Ich brauche den A u s g a n g s p u n k t ,Wille zur Macht' als Ursprung der Bewegung. Folglich darf die Bewegung nicht von außen her bedingt sein — nicht v e r u r s a c h t . . . / Ich brauche Bewegungsansätze und -Centren, von wo aus der Wille um sich g r e i f t . . . " (NF VIII 3, 66). I d e n t i t ä t : Eine Notiz im „Nachlaß" lautet: „die .Regelmäßigkeit' der Aufeinanderfolge ist nur ein bildlicher Ausdruck, w i e a l s o b hier eine Regel befolgt werde: kein Thatbestand. Ebenso .Gesetzmäßigkeit'. Wir finden eine Formel, um eine immer wiederkehrende Art der Folge auszudrücken: damit haben wir k e i n . G e s e t z ' e n t d e c k t , noch weniger eine Kraft, welche die Ursache zur Wiederkehr von Folgen ist. Daß etwas i m m e r so und geschieht, wird hier interpretirt, als ob ein Wesen in Folge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom .Gesetz', Freiheit hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes So-undnicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen, das n i c h t in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen. Es heißt nur: etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes thun, ist weder frei, noch unfrei, sondern eben so und so. D e r F e h l e r s t e c k t in d e r H i n e i n d i c h t u n g e i n e s S u b j e k t s " (NF VIII1, 135). Was Nietzsche in dieser kritischen Äußerung gerade nicht kritisiert sondern positiv in Anspruch nimmt, das ist die Selbigkeit von etwas mit sich selbst, ist das So-und-nicht-anders, das „aus dem Wesen selbst [!] stammen" könnte, sind identische Beschaffenheiten und identisches ,Tun' bzw. Geschehen (etwas geschieht immer so und nicht anders; eine Art der Folge kehrt immer wieder). In diesem Sinne sagt Nietzsche auch: „Die unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen beweist kein ,Gesetz', sondern ein Machtverhältnis zwischen 2 oder mehreren Kräften. Zu sagen: ,aber gerade dies Verhältniß bleibt sich gleich!' heißt nichts Anderes als: ,ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere Kraft sein'" (NF VIII 1, 133f.). Ferner: „die Regel beweist nur, daß ein und dasselbe Geschehn nicht auch ein anderes Geschehn ist" (NF VIII 2, 47). Und schließlich: „Die B e r e c h e n b a r k e i t e i n e s G e s c h e h e η s liegt nicht darin, daß eine Regel befolgt wurde [...] sie liegt in der W i e d e r k e h r i d e n t i s c h e r F ä l l e " (NF VIII 3, 68). Übrigens ist ja auch die ewige Wiederkehr des Gleichen zu verstehen als „eine unendliche Wiederkehr identischer Fälle" (NF VIII 3, 168) in für den menschlichen Geist freilich unüberschaubaren Abständen. — D a g e g e n spricht Nietzsche an vielen Stellen. Es wurden u.a. schon herangezogen die Äußerungen: „Bevor ,gedacht' wird, muß schon .gedichtet' worden sein; das Z u r e c h t b i l d e n zu identischen Fällen, zur S c h e i n b a r k e i t des Gleichen ist ursprünglicher als das E r k e n n e n des G l e i c h e n " (vgl. Anm.29 zu diesem Kap.; siehe dazu auch N F VIII 2, 82). Und: „Die Grundsätze der Logik, der Satz
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der Identität und des Widerspruchs, [...] sind gar keine Erkenntnisse! sondern r e g u l a t i v e G l a u b e n s a r t i k e l ! " (vgl. S. 149). E i n h e i t : Einheit setzt Nietzsche selbst sowohl im Blick auf das Einzelne als auch im Blick auf das in allem Einzelnen .waltende' Selbe: „jedes Kraftcentrum hat für den ganzen R e s t seine P e r s p e k t i v e [...] Die R e a l i t ä t besteht exakt in dieser Partikulär-Aktion und Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze" (vgl. S. 165 f.). Und: „daß alle .Zwecke', ,Ziele', .Sinne' nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens sind, der allem Geschehen inhärirt, der Wille zur Macht" (vgl. S. 167; zur Problematik dieser Einheit vgl. S. 175 f.). Z a h l : Der Zahlbegriff ist in Nietzsches Begründung der ewigen Wiederkehr des Gleichen von zentraler Bedeutung. So etwa in der folgenden Stelle: „Wenn die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftcentren gedacht werden d a r f — und jede andere Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich u n b r a u c h b a r — so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Combinationen, im großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat" ( N F VIII 3, 168). Z e i t : Auch der Zeitbegriff ist in Nietzsches Begründung der ewigen Wiederkehr unentbehrlich. So fährt Nietzsche an der soeben zitierten Stelle fort: „In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Combination irgendwann einmal erreicht sein; mehr noch, sie würde unendliche Male erreicht sein" (ebd.). Schwieriger ist zu entscheiden, ob Nietzsche den Willen zur Macht (trennt man ihn einmal — nicht ganz zulässigerweise — vom Gedanken der ewigen Wiederkehr) ohne den Zeitbegriff denken könnte. Das hieße ein Werden ohne die Vorstellung der Zeit denken, und zwar als Wille. (Schopenhauer, der in der Nachfolge Kants die Zeit als subjektive Anschauungsform auf Erscheinungen einschränkt und der das Ding an sich als Wille denkt, könnte hier nur sehr bedingt als Vorbild genannt werden, denn Nietzsche lehnt den Unterschied von Ding an sich und Erscheinung ja gerade ab.) Immerhin hat Nietzsche geäußert: „Raum ist wie Materie eine subjektive Form. Zeit n i c h t " (NF VII 1, 5). Diese Stelle steht im Widerspruch zu der früher zitierten Äußerung über die Zeit (siehe Anm. 54 zu diesem Kap.; vgl. auch WL III 2, 379), und das könnte als Hinweis auf ein Dilemma angesehen werden. K r a f t : Daß der Begriff der Kraft ein Schlüsselbegriff für Nietzsches Seinsthese ist, braucht hier nicht noch einmal eigens belegt zu werden. (Belege für die positive Verwendung des Begriffs finden sich übrigens ja auch im vorigen unter den Stichworten Identität, Einheit und Zahl.) Eher bedarf es einer Rechtfertigung dafür, daß dieser Begriff hier überhaupt unter den Schemata aufgeführt wird. Nimmt man sich die zentralen Stellen vor, an denen Nietzsche sich zu den Schemata äußert, so stößt man nämlich nicht auf ihn. Und den Grund dafür mag man nicht nur in der Nietzsche wohl voll bewußten Unentbehrlichkeit dieses Begriffs für die Entfaltung seiner Seinsthese erblicken, sondern auch darin, daß der Inhalt des Begriffs (das,Dynamische') weniger dem Verdacht ausgesetzt ist, Werdendes in Bleibendes umzufälschen. Trotzdem läge eine gewisse Inkonsequenz darin, hätte Nietzsche den Kraftbegriff ausdrücklich und entschieden aus der Reihe der Schemata ausgeschieden. Immerhin handelt es sich um einen Begriff, mit dessen Hilfe die Physik Gesetze des Werdenden formuliert und in diesem Sinne Werdendes .beständigt'. Und so finden sich denn bei Nietzsche jedenfalls die Äußerungen: „Arbeitstheilung, Gedächtniß, Übung, Gewohnheit, Instinkt, Vererbung, Vermögen, Kraft — alles Worte, mit denen wir nichts erklären, aber wohl bezeichnen und andeuten" (NF VIII 1, 28). Und vor allem: „Wenn wir etwas thun, so entsteht ein K r a f t g e f ü h l , oft schon vor dem Thun [ . . . ] Wir meinen instinktiv, dies Kraftgefühl sei Ursache der Handlung, es sei ,die Kraft'. Unser Glaube an Kausalität ist der Glaube an Kraft und deren Wirkung; eine Übertragung unsres Erlebnisses; wobei wir Kraft und Kraftgefühl identifiziren. — Nirgends aber bewegt die Kraft die Dinge; die empfundene Kraft ,setzt nicht die Muskeln in Bewegung' " ( N F VII 1, 689 f.). Siehe auch N F VIII 3, 67: „ E s g i e b t w e d e r U r s a c h e n , n o c h W i r k u n g e n . / Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen." — Vgl. zu diesem Fragenkomplex
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Hennigfeld, Sprache als Weltansicht, 442ff.; Grimm, Nietzsche's theory of knowledge, 100 ff. und 106 ff. Zum Problem der .ontologischen Differenz' im Sinne Heideggers ist damit nichts gesagt. Vgl. auch aus dem Fortgang des Aphorismus: „Alle Werthschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven im D i e n s t e d i e s e s E i n e n W i l l e n s : das Werthschätzen selbst ist nur dieser Wille zur Macht" (NF VIII 2. 287). Diese Äußerung steht am Ende einer Aufzeichnung, in der es ferner u. a. heißt: „— ,Werth' ist wesentlich der Gesichtspunkt für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Centren (,Vielheiten' jedenfalls, aber die .Einheit' ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden) / — e i n Q u a n t u m M a c h t , ein Werden, insofern nichts darin den Charakter des ,Seins' hat" (NF VIII 2, 278). Siehe N F VIII 1, 194: „ . W e i s h e i t ' als Versuch über die perspektivischen Schätzungen (d.h. über die .Willen zur Macht') h i n w e g zu kommen". Es finden sich bei Nietzsche Äußerungen, die .zwischen' den soeben konfrontierten angesiedelt zu sein scheinen (siehe z.B. N F VIII 1, 20: „Verwandlungen des Willens zur Macht, seine Ausgestaltungen, seine Spezialisirungen"); sie beseitigen meines Erachtens aber nicht die Sachlage, um die es hier geht.
' Uber naturwissenschaftliche Werke in Nietzsches Bibliothek und über Entleihungen solcher Werke aus der Baseler Universitätsbibliothek, die Nietzsche ab 1873 vorgenommen hat, informiert: Oehler, Nietzsches Bibliothek. — Ich verweise ferner auf: Becker, Nietzsches Beweise für seine Lehre von der ewigen Wiederkunft (darin weist Becker auch „auf die bekannte biographische Tatsache" hin, daß Nietzsche „im Jahre 1881 den Plan faßte, zur wissenschaftlichen Begründung seiner Lehre zehn Jahre lang Mathematik und Physik zu studieren" — S. 368) Mittasch, Friedrich Nietzsches Verhältnis zu Robert Mayer Schlechta und Anders, Friedrich Nietzsche (darin II. Teil: „Nietzsches Verhältnis zu den Naturwissenschaften in den Jahren 1872—1875").
Colli überrascht in seinen in der Kritischen Studienausgabe abgedruckten .Nachworten' mit seltsamen Thesen. Er sagt bezüglich der Dionysos-Dithyramben, über deren Entstehungszeit er sich völlig klar ist: „Jetzt, da die Wahrheit verabschiedet wurde, bleibt der Weg — genau nach Nietzsches Perspektive — offen für die Lüge der Poesie" (KSA 6, 457). Für Probleme der (,jetzt' angeblich verabschiedeten) Wahrheit Nietzsches hat Colli eine Lösung gefunden: den Unterschied von exoterischem und esoterischem Nietzsche: „Eines der nachgelassenen Fragmente verdient die ganz besondere Aufmerksamkeit dessen, der am .Rätsel' Nietzsche interessiert ist: . E x o t e r i s c h — e s o t e r i s c h / 1. — alles ist Wille gegen Willen / 2 Es giebt gar keinen Willen / 1 Causalismus / 2 Es giebt nichts wie UrsacheWirkung.' (5 [9]) Wenn wir nicht fehlgehen, greift Nietzsche hier auf die antike Unterscheidung zwischen gemeinverständlicher Mitteilung und mystischer Ausdrucksweise zurück, und in den Beispielen, die er anführt, erniedrigt er seine These vom Willen — das heißt: vom Willen zur Macht — auf die Ebene populärer Darstellung. Dies entspricht Nietzsches höchstem spekulativen Niveau und bietet uns einen Ansatz, dem Anschein nach unerklärbare Widersprüchlichkeiten in seinem Denken zu entschlüsseln" (KSA 13, 651; man beachte auch den Fortgang). Colli in diese Richtung folgen, liefe letztlich auf den Verzicht hinaus, sich mit Nietzsche auf der Ebene von Sachproblemen auseinanderzusetzen. Mit einer neuen Nietzsche-Legende ist niemandem gedient. (Vielleicht ist an dieser Stelle die Bemerkung erlaubt, daß Nietzscheforscher allen Grund haben, für eine kritische Edition des NietzscheNachlasses von 1869 bis 1889 dankbar zu sein, daß indessen zu einer Nachlaß-Euphorie kein Anlaß besteht und daß hier wie immer ein kritischer Umgang mit Nachlaßaufzeichnungen gefordert ist.) " Vgl. 394: „Tag meines Lebens! / gen Abend gehts! [ . . . ] schon quillt deines Thaus / Thränengeträufel". Ebd.: „Heiterkeit, güldene, komm! / du des Todes / heimlichster 90
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süssester Vorgenuss!" Ebd.: „Was je schwer war, / sank in blaue Vergessenheit, / müssig steht nun mein Kahn." Vgl. 390: „ein Räthsel für R a u b v ö g e l . . . / / sie werden dich schon .lösen', / sie hungern schon nach deiner ,Lösung' Vgl. 389: „Was bandest du dich / mit dem Strick deiner Weisheit? / Was locktest du dich / ins Paradies der alten Schlange?" — und: „ein W i s s e n d e r ! / ein S e l b s t e r k e n n e r ! / der w e i s e Zarathustra!..." Vgl. 390: „Und jüngst noch so stolz, / auf allen Stelzen deines Stolzes! / Jüngst noch der Einsiedler ohne Gott, / der Zweisiedler mit dem Teufel, / der scharlachne Prinz jedes Ubermuths!..." Siehe 396: „du höhnisch Auge"; 397: „mit schadenfrohen Götter-Blitz-Augen" und „du schadenfroher unbekannter Gott". Vgl. 387. Vgl. 388: „an jeder Wunde müd, / an jedem Froste kalt"; 389: „Ein Kranker nun" und „kauernd, / Einer, der schon nicht mehr aufrecht steht!" und „steif, / ein Leichnam". Vgl. 389: „ein Gefangner nun, der das härteste Loos zog: / im eignen Schachte / gebückt arbeitend". Vgl. 389: „Was schlichst du dich ein / in d i c h — in d i c h ? . . . " Dagegen wäre nicht einzuwenden, der Rückzug des Gottes sei eine List und damit ein Kampfmittel. Denn ohne den später hinzugefügten Fortgang des Gedichts bleibt der Gott ja fern, d. h. nimmt er Ariadnes Hingabe nicht mehr an. Diese Deutung wie auch die später (S. 185 ff.) zu erwägende weitergehende Deutungsmöglichkeit wären gründlich mißverstanden, wollte man ihnen eine Verwandtschaft zu Jaspers' Nietzsche-Interpretation zuschreiben. Sie bewegen sich nicht auf seine Interpretation zu und möchten sie nicht ermöglichen. Jaspers' Nietzsche-Buch, das im einzelnen viel Aufschlußreiches bietet und, 1935 erschienen, sehr wohl zu den wissenschaftlichen Pionierarbeiten über Nietzsche gehört, vereinnahmt durch seinen Grundansatz Nietzsche bis zu einem gewissen Grade für die Existenzphilosophie Jaspers'scher Prägung und ihre Verdeutlichung. Jaspers dringt nicht bis zu der hier herausgearbeiteten Aporie Nietzsches vor und also auch nicht zu Nietzsches Bewußtsein dieser Aporie. Er sieht bei Nietzsche zwei Wahrheitsbegriffe gegeben: „Wahrheit ist erstens der lebenbedingende Irrtum, zweitens der lebensferne, gleichsam i n e i n e m V e r l a s s e n d e s L e b e n s zu gewinnende Maßstab, an dem dieser Irrtum als solcher erkannt wird" (Nietzsche, 186; hier gesperrt). Näherhin heißt das für Jaspers: Nietzsches „Gedanken über die Wahrheit mußten, indem sie das leugnen, was sie zu ihrer Formulierung brauchen, in unablässige Widersprüche geraten. Dieses Denken wäre nur eine sinnlose Konfusion, wenn nicht damit Grenzen erfahren würden, die sich nicht anders als indirekt kundgeben können. Diese Grenzen werden mit den durch die Theorie des Wahrseins gewonnenen Begriffen berührt und damit entsteht erst die Erfülltheit dieses dann auch die Widersprüche als indirekte Zeiger unausweichlich benützenden Denkens. Die Theorie ist nicht Theorie eines so bestehenden Sachverhalts, sondern philosophisches Ausdrucksmittel, und zwar erstens für den e x i s t e n t i e l l e n A p p e l l an wesentliche Wahrheit als getragen von wesentlichem Leben, zweitens für die Möglichkeit eines das Leben t r a n s z e n d i e r e n d e n I n n e w e r d e n s des Seins" (a. a. O., 190). Unter der Überschrift „Seinsinnewerden an der Grenze" (a.a.O., 196) sagt Jaspers mit Bezug auf Nietzsche: „Der Mensch schwingt sich einen Augenblick gleichsam hinaus über das Leben. Soweit dieses Hinausschwingen das transzendierende Innewerden der Erscheinungshaftigkeit allen Daseins ist, ist es das Kantische Seinsbewußtsein" (a.a.O., 197). In diese Richtung geht auch die spätere Bemerkung: „ . . . In Nietzsches Formulierungen ist dieses Leben der Wahrheit nicht mit der stillen Klarheit und bezwingenden Ruhe Kants gegenwärtig. Nietzsches letzter Sinn aber ist vielleicht kein anderer als der: Das Leben der Wahrheit ist das U m g r e i f e n d e , worin Vernunft und Existenz ihren Ursprung haben, ohne daß der Ursprung als solcher erkenn-
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bar wäre" (a. a. O., 220). Jaspers' eigene Abhängigkeit von Kants Unterscheidung der Erscheinungen und der Dinge an sich selbst schlägt hier voll auf seine Nietzsche-Interpretation durch. Andererseits — und damit bereitet Jaspers seine Kritik an Nietzsche vor — bleibt Nietzsche recht hiesig: „wir haben nichts anderes als die Scheinbarkeit, aber, indem wir sie a l s S c h e i n b a r k e i t erfahren, haben wir in ihr als Chiffre das Sein; dieses ist kein anderes als die Scheinbarkeit, aber die Weise des Seins als Scheinbarkeit verwandelt an der Grenze mein g e s a m t e s S e i n s b e w u ß t s e i n , und zwar so, daß dieses Philosophieren zur eigentlichen Seinsnähe im Dasein zwingt:,bleibt der Erde treu'" (a. a. O., 199). Und so kommt Jaspers für sich zu dem Schluß: „Das Entscheidende ist, daß diese Metaphysik einer radikalen Immanenz die Chiffre des Seins als Wille zur Macht lesen will o h n e T r a n s z e n d e n z . Was im Dasein sich v o r d e r T r a n s z e n d e n z weiß, kann sich in dieser Metaphysik nicht als verwandt wiedererkennen" (a. a. O., 317). Obwohl es sich an beiden Stellen nicht uneingeschränkt um dasselbe handelt, sei hier verwiesen auf Worte, die im III. Teil des Zarathustra das Leben zu Zarathustra spricht: „Und dass ich dir gut bin und oft zu gut, Das weisst du: und der Grund ist, dass ich auf deine Weisheit eifersüchtig bin" (Za VI 1, 280). Damit taucht zwar ein ,alter Bekannter' aus Nietzsches Schriften auf, aber eben die Unbekanntheit, die das voraufgegangene Gedicht dem Gott zusprach (und die als eine dem Denken unbekannte, als solche nun aber bewußte Dimension des Seins zu verstehen war), eignet dem erscheinenden Dionysos — siehe das folgende. (Übrigens hat der ,alte Bekannte' sich in Nietzsches Schriften schon lange durch Vieldeutigkeit ausgezeichnet.) Vgl. aus dem vorangegangenen Text (freilich ohne Bezug zur nun gestalteten Epiphanie): „Du Blitz-Verhüllter!" (398) Hier darf vielleicht Za VI 1, 203 beigezogen werden: „Den Gott verhüllt seine Schönheit". — Daß Nietzsche Dionysos' Schönheit smaragden nennt, weist auf die Verbindung seiner eigenen Dionysos-Vorstellung mit dem griechischen Gott, soweit dieser Vegetationsgott war. Ariadne hat ihn auch „grausamster Feind" geheißen (399). Die Einführung Ariadnes hat an wenigen Stellen des Gedichtes die Ersetzung des Maskulinums durch das Femininum nötig gemacht. Es finden sich außerdem in der Klage der Ariadne einige unbedeutende Veränderungen gegenüber der Fassung im IV. Teil des Zarathustra. Schon Jaspers hat auf den Tatbestand und dessen biographische Erörterungen hingewiesen, nicht ohne dazu zu bemerken: „aber diese Zusammenhänge bedeuten schlechthin nichts für ein Verstehen des philosophischen Sinns dieser Symbolik" (Nietzsche, 232, Anm.). — Siehe ferner: Podach, Nietzsches Ariadne. — C. von Westernhagen, Nietzsches DionysosMythos, 419, 422, 423 f. — Weigand, Nietzsche's Dionysus-Ariadne fixation. Weigand stellt übrigens die irrige (auch vom Nachlaß — vgl. VII 3, 84 — widerlegte) Vermutung an, Nietzsche habe u r s p r ü n g l i c h eine Klage der Ariadne konzipiert und sie dann mit den nötigen Veränderungen dem Zauberer im IV.Teil des Z a r a t h u s t r a in den Mund gelegt; gleichzeitig fragt er sich — und das also schon für eine Fassung aus dem Jahre 1884: "Must 'Ariadne's Lament' be booked as a symptom of a mind half deranged?" (a.a.O., 112)! Dazu zuletzt die Herausgeber der Kritischen Studienausgabe in Bd. 14, 514 ff. Vgl. Podach, Friedrich Nietzsches Werke des Zusammenhruchs, 351 ff. Daß Nietzsche beim Niederschreiben des neuen Schlusses der Klage der Ariadne „nicht mehr der Herr seiner Feder war", behauptet Podach a. a. O., 361; in Nietzsches Ariadne (168) wird er noch deutlicher: Nietzsche machte „sich als Dionysos in smaragdener Schönheit sichtbar und sprach unverhohlen in seinem Namen. Das letzte Gespräch mit Ariadne brachte Nietzsche auf dem Höhepunkt seines Wahns zu Papier". In der zu Beginn dieser Anmerkung angegebenen Stelle (514) zeigen die Herausgeber der Kritischen Studienausgabe an einem Beispiel, wie Podach aufgrund seines Vorurteils über Nietzsches „damalige, auch schriftstellerische Unzurechnungsfähigkeit" zu Absurditäten gelangen kann.
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Zitiert nach C. von Westernhagen, a.a.O., 424; vgl. dort auch 421 das Faksimile eines anderen an Ariadne-Cosima gerichteten ,Wahnsinnszettels'. Vgl. etwa Weigand, a.a.O., 108 und 110. — Im Zusammenhang mit den kleinen Ohren kommt Kerenyi in seiner Arbeit Nietzsche und Ariadne (410) zu seiner eigentümlichen Deutung des Schlusses der Klage der Ariadne: „So spricht Nietzsche, der bekanntlich auf seine kleinen Ohren stolz war, an wen —? Wer ist diese wie der Zauberer klagende unglückliche Person mit Nietzsches kleinen Ohren, wenn nicht seine eigene, verleugnete und mißhandelte, weichere und weiblichere Hälfte, eben jene Ariadne in ihm, die in der großen Mythologie wesentlich zu Dionysos gehört?" Vgl. hierzu vor allem das Kapitel „Das Zeichen" (Za VI 1, 401 ff.). Vgl. Za VI 1, 315: „,[...] Und wenn du m i r dich in den Weg legtest, welche Probe wolltest du von mir? — / — wess versuchtest du m i c h ?' — " Dieser Bezug ist schon häufig herausgestellt worden, vgl. ζ. B. Podach, Nietzsches Ariadne, 154; Weigand, a. a. O., 111. Für den Gehalt des G e d i c h t e s ist er meines Erachtens nicht von Bedeutung. — In seinen Schriften über Wagner hat Nietzsche ihn öfters Zauberer und Schauspieler genannt (vgl. IV 1, 39 f. und 41; VI 3, 10 und 20, 23 f., 25, 26, 31, 35, 37, 417f.). Vgl. Za VI 1, 366: „Aber schon fällt d e r mich an und zwingt mich, dieser Geist der Schwermuth, dieser Abend-Dämmerungs-Teufel" — ein Teufel, „welcher diesem Zarathustra ein Widersacher ist aus dem Grunde" (ebd.). Vorsorglich sei angemerkt, daß die Gedichte nicht etwa die Thematik des Kapitels „Vom Gesicht und Räthsel" im III. Teil des Zarathustra (Za VI 1, 193 ff.) wiederholen. Das Kapitel liegt v o r Zarathustras voll bewußter Erkenntnis und Bejahung der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die Gedichte haben ihre Stelle n a c h diesem Höhepunkt des Werks. Vgl. NF VIII 2, 23: „das F e s t s t e l l e n z w i s c h e n , w a h r ' und , u n w a h r ' , das F e s t s t e l l e n überhaupt von Thatbeständen ist grundverschieden von dem schöpferischen S e t z e n , vom Bilden, Gestalten, Uberwältigen, W o l l e n , wie es im Wesen der P h i l o s o p h i e liegt. E i n e n S i n n h i n e i n l e g e n — diese Aufgabe bleibt unbedingt immer noch üb r i g , gesetzt daß k e i n S i n n d a r i n l i e g t . So steht es mit Tönen, aber auch mit Volks-Schicksalen: sie sind der verschiedensten Ausdeutung und Richtung zu v e r s c h i e d e n e n Z i e l e n f ä h i g . Die noch höhere Stufe ist ein Ζ i e 1 s e t ζ e η und darauf hin das Thatsächliche einformen, also die A u s d e u t u n g d e r T h a t und nicht bloß die begriffliche U m d i c h t u n g " („Einen Sinn hineinlegen" fettgedruckt). Vgl. die folgende Anm. Ich beabsichtige, anderwärts an diesem Punkt anzuknüpfen und auf die Probleme einzugehen, vor die Nietzsches Philosophie als .Ausdeutung der Tat' stellt. Hier verweise ich noch darauf, daß die gesamte Wahrheitsproblematik bei Nietzsche sich spiegelt in der Art und Weise, wie er von Ausdeutung, Auslegung, Interpretation bzw. Interpretieren spricht (einige zitierte Stellen enthalten Hinweise darauf). — Granier hat den Begriff der Interpretation zum zentralen Begriff seiner Untersuchung Le probleme de la Verite dans la philosophie de Nietzsche gemacht. Dabei gibt er dem Leib besondere Bedeutung (vgl. a.a.O., 336ff.). Die ontologische Dimension seines Ansatzes wird in folgender Stelle faßbar: «C'est lä le sens de la these capitale de Nietzsche selon laquelle... l'Etre est toujours et necessairement Etre-interprete. Si done, pour Nietzsche, l'Etre est comme Volonte de Puissance, cette determination est une determination mediate, qui decoule de cette decouverte, absolument radicale, que l'Etre est interpretation. La maniere dont la reflexion humaine instaure la problematique de L'Etre devoile la structure de cet Etre et c'est seulement par une meditation sur le sens de cet evenement premier que Nietzsche construit la notion de la Volonte de Puissance» (a. a. Ο., 304). — Auch Müller-Lauter thematisiert in Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht (265 ff.) die Wahrheit — und die Wahrheit von Nietzsches Philosophie — unter dem Titel „Wille zur Macht als Interpretation". Er stellt fest: „Die Auslegungen in ihrer Mannigfaltigkeit
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sind Interpretationen von Machtwillen; daß sie dies sind, ist ebenfalls Interpretation" (267). Es ergibt sich: „Die Perspektivität jeder Interpretation wird nun zum Problem, das letztlich auf Nietzsches eigenes Philosophieren zurückschlägt... Wir haben kein Recht, ein .absolutes Erkennen' anzunehmen... Dann ist auch jede Weltdeutung nur eine perspektivischtäuschende Interpretation" (268 f.) — auch diejenige Nietzsches. Müller-Lauter bedient sich hier des häufig auf Nietzsche angewendeten Verfahrens, eine von Nietzsche gegebene Bestimmung von Erkenntnis oder Wahrheit auf Nietzsches philosophisches Denken zurückzuwenden. Er tut es aber in der Absicht, des auf diese Weise aufgeworfenen Problems Herr zu werden. Dazu hält er sich an Nietzsches „Kriterium" der Wahrheit, die „Machtsteigerung" (269); „das einzige Kriterium für die Wahrheit einer Auslegung der Wirklichkeit besteht darin, ob und in welchem Maße sie sich gegen andere Auslegungen durchzusetzen imstande ist" (271 f.). Dies freilich bedeutet: „Wir bewegen uns im Zirkel" (273): Nietzsche begründe „den Anspruch seiner Philosophie, die wahre Weltdeutung zu sein, mit dem aus dieser Philosophie selbst erst entspringenden Wahrheitskriterium" (ebd.). Müller-Lauter sieht darin keinen Einwand, sondern einen Fall der allem Verstehen eignenden „Zirkelhaftigkeit" (ebd.). Dem könnte zugestimmt werden, wenn das Wahrheitsproblem der Grundgedanken Nietzsches bereits auf eine .Auslegung der Tat' zurückgenommen worden ist. Einen Schritt in diese Richtung tut Müller-Lauter, wenn er sagt: „Seine (sc. Nietzsches) Philosophie des Willens zur Macht kann ja keinen bloß kontemplativen Charakter haben. Sie ist selber Ausdruck des Machtwollens... Auch Nietzsche kommt es darauf an, die Welt nicht nur zu .interpretieren', sondern sie zu verändern" (274). Müller-Lauter scheint mir aber an einem ,auch kontemplativen Charakter' der Philosophie des Willens zur Macht festzuhalten und einen theoretischen Wahrheitsanspruch für sie begründen zu wollen (siehe a.a.O., 278ff.). Letzteres erschien mir für Nietzsches Seinsthese als a b s o l u t e nicht möglich. — Hier sei noch vermerkt, daß Müller-Lauter die absolute Seinsthese Nietzsches, die aus ihr sich ergebende Aporie und Nietzsches Bewußtsein davon umgeht, wenn er nicht als deren Resultat, sondern unabhängig davon annimmt: „Nietzsches Interpretation der Interpretationen versteht sich selbst nicht als absolute Philosophie..."; sie „bezieht die Möglichkeit, ja Notwendigkeit ihrer eigenen Erweiterung und damit Modifizierung als einen ihr wesentlichen Aspekt in sich selbst ein" (a. a. O., 280). — Grimm, der in seinem Buch Nietzsche's theory of knowledge in manchem MüllerLauter folgt, eliminiert — darin radikaler als dieser — jeden theoretischen Wahrheitsanspruch der Nietzscheschen Philosophie: Weder hat Nietzsche einen solchen Anspruch erhoben, noch darf (dessen ungeachtet) der Anspruch an sein Denken herangetragen werden. Beides habe ich mit diesem Kapitel bestritten. Grimm verabsolutiert eine Seite von Nietzsches Philosophie, diejenige, die erst dann als einzige übrigbleibt, wenn die aufgezeigte Aporie gesehen worden ist (daß die Aporie auch von Nietzsche selbst gesehen worden ist, habe ich darzulegen versucht). (Grimms Verabsolutierung wird nicht aufgehoben durch die vereinzelte Bemerkung a.a.O., 197: „Nietzsche's cognitive paradigm is practical in its aims, rather than theoretical.") Grimm knüpft an an das Fragment: „Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls" (zitiert a. a. O., 18 nach der „Groß-Oktav-Ausgabe"; das Fragment wurde in die K G W nicht aufgenommen, da kein Manuskript dazu erhalten ist — vgl. die „Vorbemerkung" zur Konkordanz, in: Nietzsche-Studien 9 [1980] 447). Grimm schreibt: „Nietzsche's criterion for truth is not concerned at all with the logical content of the proposition. The content, in fact, is largely irrelevant. Its truth or falsity lies in the degree of efficacity, in the degree of power increase or decrease, with which the proposition functions when I employ it in my behavior" (a.a.O., 19). Grimm wendet nun aber dieses Kriterium in der erläuterten Bedeutung auf Nietzsches philosophische Grundgedanken und auf das Kriterium selbst an. Er glaubt, darin die volle Dimension von Nietzsches Selbstverständnis zu erreichen, u η d er entwikkelt von hier aus die These, daß Nietzsches Philosophie, was die Wahrheitsproblematik
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betrifft, in sich gänzlich konsistent sei — im Gegensatz zur Korrespondenztheorie der Wahrheit, die, in welcher Gestalt sie auch auftreten mag, selbstwidersprüchlich und Nietzsches Wahrheitsbegriff als dem einzig sinnvollen unterlegen sei. (Siehe dazu a. a. O., 26; 27f.; 31; 38; 50; 63; 113f.; 191—196.) Diese Position entzieht einer kritischen denkenden Auseinandersetzung mit den Inhalten von Nietzsches Philosophie den Boden. Wer sie einnimmt, dürfte entweder unkritisch abhängig von Nietzsche sein oder — und das scheint mir eher Grimms Fall zu sein — sich vorweg schon gegen die Korrespondenztheorie und für eine Wahrheitsauffassung entschieden haben, für die „Nietzsche's theory of knowledge" als Bestätigung und Entfaltung ergriffen werden kann. Die Aufgabe besteht dann in einer reinen Darstellung der .Gedanken' Nietzsches (die von Grimm gegebene ist sehr lesenswert). — Die Position erlaubt eine Offenheit des ,Weiterdenkens', aber einzig und strikt unter dem Maßstab des aufgestellten Wahrheitskriteriums (vgl. a.a.O., 116). Dieses selbst steht nicht zur Disposition. (Grimms Anwendung des Kriteriums auf es selbst immunisiert es gegen jede Gefahr, da sie selbst es als anzuwendendes ja gerade setzt. Diese Setzung hängt zusammen mit der eben erwähnten Entscheidung.) Den Verdacht, daß die Position in sich nicht ganz so konsistent ist, wie Grimm glaubt, läßt Grimm selbst aufkommen, wenn er schreibt: "No interpretation (and here we must include Nietzsche's own) is adequate to express the seething, turbulent chaos of power-quanta which for Nietzsche is the world" (a.a.O., 132) — hier s e t z t Grimm das Chaos der Machtquanta, statt es ebenfalls noch einmal als ,inadäquate Interpretation' zu betrachten. — Der, wie eben erwähnt, handschriftlich nicht erhaltene Aphorismus „Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls" wird von Ulmer in seinem Aufsatz Nietzsches Idee der Wahrheit und die Wahrheit der Philosophie ins Zentrum gerückt. Schon Ulmer schreitet zur Anwendung dieses Kriteriums auf es selbst fort: „Dieser Satz müßte aber zugleich das Kriterium für die Wahrheit seiner eigenen Setzung enthalten" (a. a. O., 298). Im Gegensatz zu Grimm und weniger konsequent versucht er aber, an einer Wahrheit des Sachgehalts von Nietzsches Grundgedanken gleichwohl festzuhalten. Zunächst: „Wenn das Wesen des Menschen aber Wille zur Macht ist, dann ist das sich steigernde Machtgefühl die ursprünglichste Selbsteröffnung des Menschen. Das bedeutet: was Nietzsche hier Macht-Gefühl nennt, tritt genau an die Stelle dessen, was bisher Selbst-Bewußtsein hieß. Damit ist das Wesen des Menschen nicht nur in seinem Sachgehalt, sondern zugleich in seiner Wesensstruktur neu gedacht" (a. a. O., 300). Ist hier bereits das genannte Kriterium der Wahrheit in seinem von Ulmer postulierten Charakter der Letztbegründung unterlaufen, so gilt dies noch mehr, wenn er schreibt: „Der Wille drängt von sich aus auf die Offenbarkeit seiner selbst, er will sich in seinem Wesen herausstellen. Dieses Wesen aber ist die Steigerung von Macht, das sich im Drängen von Macht zeigt" (a. a. O., 301). Mutatis mutandis gilt ferner auch hier das in Anm. 77 zu diesem Kap. Gesagte. Das wird zusätzlich deutlich, wenn man bei Ulmer liest: „In diesem Satz (sc. dem über das Kriterium der Wahrheit) gibt der Wille zur Macht sich selbst sein eigenes Gesetz. Darauf beruht die Wahrheit dieses Satzes selbst. Wahr ist, worin das Wesen des Willens zur Macht für sich selbst am stärksten hervortritt" (a. a. O., 306). Vgl. nochmals aus der auf S. 149 zitierten Stelle: „Der Charakter der werdenden Welt als u n f o r m u l i r b a r , als ,falsch', als ,sich-widersprechend'". Siehe ferner J G B 34 / VI 2, 48: „wir finden Gründe über Gründe dafür, die uns zu Muthmaassungen über ein betrügerisches Princip im ,Wesen der Dinge' verlocken möchten."
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Wahrheit in Anspruch genommen werden müssen. Das heißt nicht, daß sie uns nicht noch zu denken gäben. Das Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur (d.h. der Zweckmäßigkeit der Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer Produkte für unser Erkenntnisvermögen) ist bei Kant eine Annahme, die wir zwar notwendig machen, zu der aber gerade gehört, daß unser Verstand eben diese Zweckmäßigkeit der Natur „objektiv als zufällig anerkennt" (vgl. S. 121). Und mit dem Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit, das wir — angesichts bestimmter Naturprodukte— ebenfalls notwendig annehmen, bestimmen wir nach Kant nichts in diesen Produkten, sondern geben nur unserer Urteilskraft eine Verfahrensregel (vgl. S. 126 f.). Diese Auffassung bewahrt durchaus zwei Restriktionen Kants, indem sie keinen nichtmenschlichen Verstand als Ursache der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur behauptet und mit der Vorstellung der inneren Zweckmäßigkeit organisierter Wesen nicht die Behauptung verbindet, die Natur sei ein „intelligentes Wesen" oder habe „ein anderes verständiges W e s e n . . . als Werkmeister" (vgl. Anm. 91 zu Kap. 5). Hier ließe sich die Vorstellung des Prozesses, ja die Dimension der Geschichte einbringen. Damit wäre man gleich weit von Kant wie von Nietzsche entfernt. Kants transzendentale Wahrheitsgründung war ungeschichtlich. Nietzsche stritt die Apriorität der Kategorien ab und meinte von ihnen, sie „könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben", wobei Bewährung für Nietzsche aber hieß: „Nützlichkeit" im Sinne von „Rassenund Gattungs-Zweckmäßigkeit" (vgl. S. 136). So dachte er zwar das .Erkennbarmachen' als Prozeß, entzog ihm aber die Wahrheit. Von hier aus ließe sich ein Thema aufgreifen, das in der Tradition als Wahrheit der Wesenserfassung bei Aristoteles deutlich hervortrat, bei Thomas Probleme schuf und später der Bedeutungslosigkeit überantwortet wurde. Auch hier gilt: Aristoteles' Ausführungen können nicht schlicht übernommen werden. Mir scheint aber eine Wesensumgrenzung vom Urteil durchaus zu unterscheiden zu sein; die Wahrheit der ersteren wäre in der Nähe der ,onto-transzendentalen Wahrheit' anzusiedeln und also von der Wahrheit als Angleichung von Verstand und Sache zu unterscheiden. Bei dem S. 20 f. Gesagten wäre von einer W a h r h e i t der Dinge jetzt abzusehen; im Grunde war sie ja im dort behandelten Text schon für Aristoteles nicht mehr wirklich gegeben (vgl. S. 24).
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Zu Kapitel 1 1.01 Piatonis Opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Burnet, I—V, Oxonii 1900 sqq. 1.02 Piaton, Sämtliche Werke, nach d. Ubers, v. F. Schleiermacher (bzw. H.Müller) hrsg. v. W . F . O t t o , E.Grassi, G.Plamböck, Bd. 1—6, Rowohlts Klassiker, 1957ff. 1.03 Piaton, Der Staat. Über das Gerechte. Übers, u. erl. v. O.Apelt. Durchgesehen v. K. Bormann. Einl. v. P.Wilpert, Hamburg 1961. 1.04 The Republic of Plato, ed. with critical notes, commentary and appendices by J.Adam, second edition with an introduction by D.A.Rees, vol. II, Cambridge 1969.
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Zu Kapitel 5 5.01 Kant, I., Werke in sechs Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1963—1964. 5.02 Kant, I., Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Ab Bd. 23 hrsg. v. d. Akademie der Wissenschaften der DDR, 1900 ff. 5.03 Baum, M., Transcendental proofs in the Critique of Pure Reason, in: Transcendental arguments and science. Essays in epistemology, ed. by P. Bieri, R.-P. Horstmann, and L. Krüger, Dordrecht 1979, 3—26. 5.04 Bröcker, W., Kant über Wahrnehmung und Erfahrung, in: Kant-Studien 66 (1975) 309—312. 5.05 Dreyfus, G., La refutation kantienne de l'idealisme, in: Revue philosophique de la France et de l'etranger 93 (1968) 439—485. 5.06 Düsing, K., Die Teleologie in Kants Weltbegriff, Bonn 1968 (Kant-Studien Ergänzungsheft 96). 5.07 Ebbinghaus, J., Kantinterpretation und Kantkritik, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, 1—23. 5.08 Esterhuyse, W. P., From Plato to Kant: the problem of truth, in: Proceedings of the Third International Kant Congress, ed. by L.W.Beck, Dordrecht 1972, 281—287. 5.09 Franz, E., Das Realitätsproblem in der Erfahrungslehre Kants. Eine kritische Studie mit besonderer Rücksicht auf den Neukantianismus der Gegenwart, Vaduz 1978 (KantStudien Ergänzungsheft 45, 1919). 5.10 Gerhardt, V., u. F. Kaulbach, Kant, Darmstadt 1979 (Erträge der Forschung, 105). 5.11 Heidegger, M., Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, Gesamtausgabe II. Abt. Bd. 25, hrsg. v. I. Görland, Frankfurt/M. 1977. 5.12 Heimsoeth, H., Zur Herkunft und Entwicklung von Kants Kategorientafel, in: KantStudien 54 (1963) 376—403. 5.13 Henrich, D., Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion, in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, hrsg. v. G.Prauss, Köln 1973. 5.14 Herring, H., Das Problem der Affektion bei Kant. Die Frage nach der Gegebenheitsweise des Gegenstandes in der Kritik der reinen Vernunft und die Kant-Interpretation, Köln 1953 (Kantstudien Ergänzungsheft 67). 5.15 Hofmeister, H . E . M., The problem of truth in the .Critique of pure reason', in: Proceedings of the Third International Kant Congress, ed. by L. W. Beck, Dordrecht 1972, 316—321. 5.16 Jacobi, F.H., Werke, Bd. 2, Leipzig 1815. 5.17 Janke, W., Fichte. Sein und Reflexion — Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970. 5.18 Kroner, R., Von Kant bis Hegel, Tübingen 51977, Bd. 1. 5.19 Krüger, L., Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen? in: KantStudien 59 (1968) 333—356. 5.20 Lange, F. Α., Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, hrsg. u. eingeleitet v. A.Schmidt, Frankfurt/M. 1974, Bd.2 (l.Aufl. 1866; 2., erweiterte u. umgearbeitete Aufl. 1875). 5.21 Liebrucks, B., Sprache und Bewußtsein, Bd. 3, Frankfurt/M. 1966.
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Zu Kapitel 6 6.01 Nietzsche, F., Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M.Montinari, Berlin—New York 1967 ff. 6.02 Nietzsche, F., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. G.Colli u. M.Montinari, München—Berlin/New York 1980. 6.03 Becker, O., Nietzsches Beweise für seine Lehre von der ewigen Wiederkunft, in: Blätter für Deutsche Philosophie 9 (1935/36) 368—387. 6.04 Decher, F., Wille zum Leben — Wille zur Macht. Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche, Diss. Siegen 1982. Würzburg—Amsterdam 1984. 6.05 Del Negro, W., Die Rolle der Fiktionen in der Erkenntnistheorie Friedrich Nietzsches, München 1923. 6.06 Eisler, R., Nietzsche's Erkenntnistheorie und Metaphysik. Darstellung und Kritik, Leipzig 1902. 6.07 Fink, E., Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960. 6.08 Fleischer, M., Nietzsche und Rilkes Duineser Elegien, Diss. Köln 1957. 6.09 Fleischer, M., Hermeneutische Anthropologie — siehe 1.26. 6.10 Granier, J., Le probleme de la Verite dans la philosophie de Nietzsche, Paris 1966. 6.11 Grimm, R. H., Nietzsche's theory of knowledge, Berlin—New York 1977. 6.12 Grimm, R. H., Circularity and self-reference in Nietzsche, in: Metaphilosophy 10 (1979) 289—305. 6.13 Hegel, G . W . F . , Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hrsg. v. F.Nicolin u. O.Pöggeler, Hamburg 1969.
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Namenregister Ackrill, J. L. 203 Ainesidemos 200 Anders, A. 262 Anselm v. Canterbury 229 Antiphon 200 Apelt, O. 200 Aristoteles 14-28; 29; 33; 34f.; 35; 36; 37; 38; 50; 57ff.; 62; 66; 74; 79f.; 82; 83; 84; 150; 197;205;207-213;214;215;216;217; 219; 228; 233; 234; 251; 253; 257; 268 Arnauld, A. 225 Augustinus 46; 233 Avicenna 219 Ax, W.
Biemel, W. 199 Blondel, M. 229 Bluck, R. S. 203 Bondeson, W. 204 Bonitz, H. 209 Bormann, K. 200 Boscovich, R. 256 Bourdin, P. 227 Boyer, C. 216 Bröcker, W. 236 f. Buchenau, A. 228 Bury, R. G. 200; 202
208
Barth, H. 231 Bassenge, F. 209; 210 Baum, M. 241 Baumgartner, M. 216 Beck, L . J . 229 f. Becker, O. 262 Berlinger, R. 233
Cajetan (Thomas del Vio) 221 Campbell, L. 204 Chenu, M.-D. 213 Colli, G. 262 Cornford, F. M. 203; 204 Cross, R. C. 200; 201 Crusius, Ch. A. 235 Decher, F. 255
280
Namenregister
Descartes, R. 3; 60; 61-85; 86; 116; 129f.; 130; 131 f.; 136; 138; 139; 1 4 1 ; 1 5 3 ; 1 8 9 ; 1 9 0 ; 1 9 1 ; 192; 1 9 4 ; 2 1 8 ; 2 2 2 - 2 3 4 ; 2 3 5 ; 2 4 0 ; 2 4 7 ; 248; 249 de Strycker, E. 201 Detel, W. 203 f.; 204 f. de Vogel, C . J . 201 Düring, I. 17; 207; 208 Düsing, K. 245 Eisler, R. 255 Epikur 247 Esterhuyse, W. P. 235 Eudemos v. Rhodos 207 Eudoxos v. Knidos 214 Fay, Th. A. 221 Fichte, J . G. 3; 241; 253 Fink, E. 257 f. Fleischer, M. 199; 2 0 1 ; 2 0 5 ; 2 0 6 ; 2 0 7 ; 2 1 0 ; 2 2 3 ; 2 4 7 ; 257 Frankfurt, H. G. 224 f. Franz, E. 243; 244 Frede, D. 208; 209 Gadamer, H . - G . 21 Off. Gassendi, P. 231; 233 Gewirth, A. 225 f. Gouhier, M. 229
Granier, J . 258; 265 Greene, W. C. 200 Grimm, R. H. 257; 261 f.; 266f. Gueroult, M. 229 Gulley, N. 203 Habermas, J. 199 Hackforth, R. 203 Hamelin, O . 229 Hamlyn, W . D . 203 Hegel, G . W . F . 3; 241; 248 Heidegger, M. 3; 199; 200; 201 ff.; 206; 210; 250; 254; 262 Henle, R . J . 213 Hennigfeld, J. 261 f. Henrich, D. 241 Herring, H. 243 Hirsch, W. 201, 230 Hobbes, Th. 250 Hofmeister, Η. Ε. M. 235 Homer 200; 202 Hume, D. 105; 108; 253 Isaac Israeli 214 Jacobi, F. H. 115; 243 Jaeger, W. 207; 210 Jäger, G. 201; 203
Namenregister Janke, W. 241 Jaspers, K. 250; 263f.; 264 Jesaja 50 Kamiah, W. 203 Kant, I. 2; 3; 60; 84; 85; 86-132; 134; 136ff.; 142; 143; 154; 162; 164 f.; 166; 189f.; 191; 192; 193; 194; 195 f.; 197; 205; 234-247; 248 f.; 251; 255; 261; 263 f.; 268 Kerenyi, K. 265 Keyt, D. 204 Klubertanz, G. P. 217 Kopernikus, N. 103; 239; 256 Kostman, J . P. 204 Kremer, R. 215; 221 Krüger, L. 242 Lambert, J. H. 237 Leibniz, G . W . 3 Link, Ch. 231 Lipps, H. 199 Lorenz, K. 203; 204 Löwith, K. 233 Lukasiewicz, J. 209 Luther, W. 201 Magnus, B. 230 Marc-Wogau, K. 223; 233 Mclnerny, R. M. 220 f.
281
Meier, G . F. 237 Menne, A. 237 Mersenne, M. 233 Mittasch, A. 262 Mittelstraß, J . 203; 204 Moravcsik, J. Μ. E. 203 Müller-Lauter, W. 2 5 4 f . ; 265 f. Newton, I.
126 Nietzsche, F. 1; 3; 60; 85; 115; 132; 133-190; 191 ff.; 197; 198; 199; 247-267; 268 Noel, L. 216 Noll, B. 257 Oehler, M. 262 Parmenides 148f.; 202; 203 Pasikles v. Rhodos 207 Phelan, G . B . 217 Philip, J . A . 203 Pieper, J . 221 f. Piaton 4 - 1 3 ; 14; 19; 20; 2 3 ; 2 6 f f . ; 29; 57ff.; 75; 82; 83; 84f.; 131; 136; 139; 140; 190; 191; 1 9 2 ; 1 9 7 ; 1 9 9 - 2 0 7 ; 208; 2 1 0 ; 2 1 1 ; 2 1 2 ; 213; 214; 217; 218; 219; 253; 257 Podach, E . F . 264; 265 Pohlenz, M. 209 Prauss, G . 234f.; 235; 236; 239; 243; 244 Puntel, B. L. 199
282
Namenregister
Rankin, Η. D. 200
Reich, Κ. 241 f. Richard, J. 221 Rod, W. 223f.; 226f.; 230; 232 Roland-Gosselin, M.-D. 216 Romeyer, B. 217 Ross, W. D. 207; 209; 210; 213 Runciman, W. G. 203; 206 Sayre, K. 204 Schelling, F . W . J . 243 Schlechta, K.
Taylor, Α. E. 204 Thomas v. Aquin 1; 28; 29-60; 62; 64; 77; 83 ff.; 129; 130; 131; 136; 139; 140;190;191;197;210; 213; 213-222; 233; 234; 268 Tonelli, G. 237; 242 Tugendhat, E. 199; 202 f. Uehling, Th. E. Jr. 236 Ulmer, K. 267 Uphues, K. 204 Vande Wiele, J. 219 Volkmann-Schluck, K.-H. 206; 210; 213; 250
262
Scholz, H. 223 Schopenhauer, A. 166; 251; 255; 261 Schwarz, F. F. 209; 210 Sextus Empiricus 200 Simon, J. 222; 252 Skirbekk, G. 199 Söhngen, G. 221 Spinoza, B. de 3
Wagner, C. 187; 265 Wagner, H. 208 Wagner, R. 188; 265 Weigand, H . J . 264; 265 Westernhagen, C. v. 264; 265 Wilpert, P. 210; 214; 219; 234 Woozley, A.D. 200; 201 Xenakis, J. 203
Sachregister Analogie 53ff.; 60; 174; 218; 219; 220; 221 Auslegen, Auslegung 7 f . ; 167; 194ff.; 198; 251; 254; 265 f. Betrügergott 62; 65 ff.; 68; 69 f.; 70; 225; 226; 227; 230; 232 Beweis 7; 30; 50; 6 9 f f . ; 81 f.; 85; 106f.; 108; 131; 190; 192 f.; 198; 220; 229 f.; 233; 252 Definition 36; 37; 78; 79; 224; 232f.; 234; 235 s. auch Wesensbestimmung, Wesenserfassung D e n k e n 5; 7; 9; 11; 14; 25; 135; 142-151; 172; 173 f.; 177; 184; 186; 211; 249 f.; 250 Dihairesis 12; 204; 205; 206 f. Ding an sich selbst, D i n g an sich 92 f.; 101; 113ff.; 164f.; 166; 195; 238; 2 4 3 f . ; 255 Erfahrung 87 f.; 92; 94 f.; 99 f.; 102 ff.; 105; 108; 117 f.; 125 f.; 128; 1 2 9 ; 2 3 1 ; 2 3 6 ; 239f.; 240; 2 4 4 f . s. auch Gegenstand der Erfahrung Erscheinung 101 ff.; 109 ff.; 116; 137; 164 f.; 195; 238; 240; 243 f. Fiktion 10; 135; 149; 151; 157; 158; 248; 250 Gegenstand der E r f a h r u n g 93; 94 f.; 96; lOOf.; 102; 103; 236; 238; s. auch Erscheinung Geist 19; 83; 145; 211 f. Gleichnis 7 f. G o t t 19; 32; 43; 4 5 - 5 0 ; 50 ff.; 57; 61; 67-72; 75; 76; 76f.; 78; 81 f.; 83; 84; 139 f.; 215; 217; 218; 231; 232; 233; 249; 264 s. auch das Göttliche u. göttlicher Verstand Göttliche, das 4; 5 f . ; 23; 211 f. s. auch Idee des G u t e n Ich 62 ff.; 65; 66; 72-74; 77 f.; 82 f.; 84; 130; 138f.; 160; 223; 228; 252f.
Idee 4 f . ; 5 f.; 7 f . ; 12; 13; 20; 29; 42; 4 5 f . ; 68 f.; 199 f.; 200; 201 ff.; 205 f.; 207; 217; 218; 229 Idee des G u t e n 4; 5 f.; 7 f . ; 197; 200f.; 201 f.; 207 Kategorie 30; 96 ff.; 115; 136; 194; 214; 237; 240; 241 f.; 243 Körper 62; 75 f.; 112; 154; 244 Logik 66; 67; 74; 8 9 f . ; 147; 149 f.; 154; 209; 2 2 3 f . ; 240; 251; 252 Mathematik 6; 22; 66; 87; 237; 239f. reine M . (pura Mathesis) 75; 76; 227 Metaphysik, metaphysisch 4; 88; 139; 152 f.; 159; 173; 2 3 8 f . ; 253; 255; 264 Methode 73f.; 194; 231; 247 N a t u r 32; 76f.; 87f.; 92 ff.; 100ff.; 108; 117 f.; 119 f.; 121; 123 ff.; 195; 197;238; 241; 245; 246; 268 Perspektive, perspektivisch 145; 155 f.; 159; 162; 165f.; 168f.; 193; 254; 255; 262 P r i n z i p 3 0 ; 4 7 ; 6 6 f . ; 79; 118; 1 1 9 f . ; 2 1 8 ; 219; 228; 245 Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft 117-128; 196 Rede 4; 9 f f . ; 14; 15f.; 26; 197; 204 Satz v o m ausgeschlossenen Dritten 17 Satz v o m W i d e r s p r u c h 66 f.; 90 f.; 129; 149ff.; 189; 192f.; 219; 223f.; 235; 251 Schein 108-117; 130; 132; 137; 151 f.; 156; 161; 163 ff.; 166; 189; 242; 251 f. Schema, schematisieren 144; 147 f.; 148; 158; 160; 174f.; 194; 252; 259ff. Sinne, Sinnlichkeit 39 f.; 44 f.; 62; 75; 76; 86; 87; 101 f.; 105; 111 f.; 142 f.; 189; 234; 250 s. auch W a h r n e h m e n System 107f.; 118; 119; 240f.; 241 f.
284
Sachregister
Transzendentalien 30 f. Umwertung 133; 154 ff.; 163 Ursache 6; 18 f.; 42; 46; 76; 93; 97; 115; 123; 137; 154;157-161;200;246;247;253; 256; 259f.; 261 Urteil 15 ff.; 20 ff.; 24; 34 f.; 36; 38 f.; 58; 58f.; 68f.; 72; 77; 80; 83; 88f.; 98f.; 161; 197; 208; 215; 216; 237; 251 U. a priori 154; 236 analytisches U. 90f.; 235 empirisches U. 95 ff. synthetisches U. 91; 91 f.; 106; 154; 205; 235; 237 Existentialurteil 206 s. auch Rede Urteilskraft bestimmende U. 205 reflektierende U . 117-128 Vernunft 5 f.; 7; 50f.; 60; 61; 67; 73; 81; 82; 85; 87; 105; 131; 134; 145; 189; 194f.; 197; 207; 234; 249; 250 Vernunftkritik 61; 85; 86; 87f.; 129; 132; 191 Verstand, göttlicher 32 f.; 42; 43; 45 f.; 214; 237
Verstand, menschlicher 31; 31 ff.; 33 f.; 35 ff.; 41; 42 ff.; 46 f.; 86 f.; 89; 92-104; 105; 118; 120f.; 122; 130; 234; 238 Wahrnehmen, Wahrnehmung 4f.; 9; 76; 95f.; l l l f . ; 204; 213; 214 s. auch Sinne Wert 140 ff.; 151 f.; 153; 156; 172; 249; 254; 262 Wesen 10; 19; 20; 22 f.; 29; 74 f.; 77; 78, 79f.; 205; 210ff.; 213; 214; 231; 234 Wesensbestimmung, Wesenserfassung 16; 25 f.; 35-39; 58; 59; 78; 83; 206; 213; 215; 234; 268 s. auch Definition Wille zur Macht 136; 149; 162; 166 ff.; 171 ff.; 175 f.; 178; 184; 186; 187; 193; 250; 256; 257; 259; 261; 262; 265f.; 267 Wissenschaft 1; 146; 155f.; 177; 249 Zirkel 65; 225ff.; 230; 241; 266 Zweck 123ff.; 132; 158; 167; 246; 259 Zweckmäßigkeit 117-128; 136; 178; 245; 246; 247; 259 Zweifel 61 ff.; 67; 81; 85; 192; 223f.; 250
Verzeichnis der Abkürzungen von Werktiteln De ver.
Quaestiones disputatae de veritate („Untersuchungen über die Wahrheit")
Disc.
Discours de la methode (Abhandlung über die Methode)
Fortschr. d. Met.
Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und W o l f s Zeiten in Deutschland gemacht hat?
FW
Die fröhliche Wissenschaft
GD
Götzen-Dämmerung
GM
Zur Genealogie der Moral
JGB
Jenseits von Gut und Böse
KrV
Kritik der reinen Vernunft
KU
Kritik der Urteilskraft
Med.
Meditationes de prima philosophia (Meditationen über die Erste Philosophie)
Met.
Metaphysik
NE
Nikomachische Ethik
NF
Nachgelassene Fragmente
Peri herm.
Peri hermeneias („Lehre vom Satz")
Pol.
Politeia (Der Staat)
Princ.
Principia philosophiae (Prinzipien der Philosophie)
Proleg.
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können
Rech.
La recherche de la verite par la lumiere naturelle (Die Erforschung der Wahrheit durch das natürliche Licht)
Reg.
Regulae ad directionem ingenii (Regeln zur Leitung des Geistes)
S. c. g.
Summa contra gentiles (Summe gegen die Heiden)
Soph.
Sophistes (Der Sophist)
S. th.
Summa theologiae (Summe der Theologie)
Theait.
Theaitetos
WL
Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
Za
Also sprach Zarathustra
MARGOT FLEISCHER
Hermeneutische Anthropologie Platon - Aristoteles Groß-Oktav. VIII, 411 Seiten. 1976. Ganzleinen D M 1 4 3 - I S B N 3 11 006714 5 Die Untersuchung verfolgt zwei Hauptabsichten: der gegenwärtigen philosophischen Anthropologie aus der Tradition anthropologische Antworten und Fragestellungen zu gewinnen und philosophisch-anthropologisches Denken als wesentlich hermeneutisch zu erweisen. Dabei werden Gestalten und Strukturen hermeneutischen Denkens und Modelle der Vereinigung eines im engeren Sinne hermeneutischen Denkens mit anders gearteten philosophischen Denkvollzügen herausgearbeitet.
JOSEF SIMON
Wahrheit als Freiheit Zur Entwicklung der Wahrheit in der neueren Philosophie Groß-Oktav. X I I , 432 Seiten. 1978. Ganzleinen D M 108,- I S B N 3 11 007414 1 Systematisch orientierte Abhandlung zum philosophischen Wahrheitsbegriff. Von der gegenwärtigen Wendung zum Sprachproblem und daran anknüpfende „Wahrheitstheorien" ausgehend wird, in kritischer Abhebung vom „Korrespondenz"- und „Konsensusbegriff" der Wahrheit, an das in der Philosophie von Descartes bis Hegel gewonnene Problembewußtsein angeknüpft. Es wird ein Wahrheitsbegriff entwickelt, der sich von dem der Ubereinstimmung ablöst und Wahrheit als freies sprachliches Verhältnis von Individuen versteht.
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Walter
DE
Berlin · New