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German Pages 438 [440] Year 1996
Richard Schantz Wahrheit, Referenz und Realismus
Perspektiven der Analytischen Philosophie Perspectives in Analytical Philosophy Herausgegeben von Georg Meggle und Julian Nida-Rümelin
Band 12
w DE
G
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1996
Richard Schantz
Wahrheit, Referenz und Realismus Eine Studie zur Sprachphilosophie und Metaphysik
W DE _G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1996
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Schantz, Richard Wahrheit, Referenz und Realismus : eine Studie zur Sprachphilosophie und Metaphysik / Richard Schantz. - Berlin : New York : de Gruyter, 1996 (Perspektiven der analytischen Philosophie ; Bd. 12) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Habil.-Schr., 1995/6 ISBN 3-11-015252-5 NE: GT
© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: A. Colügnon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin Einbandentwurf: Rudolf Hübler, Berlin
Für meine Mutter
Inhaltsverzeichnis Einleitung
1
I. Der wahrheitstheoretische Deflationismus
5
1. Die Redundanztheorie der Wahrheit 2. Die Prosententiale Theorie der Wahrheit
5 14
3. Die Disquotationstheorie der Wahrheit
24
II. Wahrheit definiert: Tarskis Leistung
30
1. Inhaltliche Adäquatheit
31
2. 3. 4. 5. 6.
34 36 41 44 53
Formale Richtigkeit und die Wahrheitsantinomien Definition der Wahrheit Formale Darstellung der Wahrheitsdefinition Tarski und die Deflationisten Fields Kritik an Tarski
III. Wahrheit und Bedeutung: Davidsons Projekt
68
1. Vorbemerkung 2. Was ist eine Theorie der Bedeutung? 3. Von Wahrheit zu Bedeutung
68 69 76
IV. Radikale Interpretation: Quine und Davidson
98
1. Vorbemerkung 2. Orientierung an Quines Methode der "radikalen Übersetzung" 3. Das Prinzip der Nachsicht 4. Theorie der Interpretation und Epistemologie 5. Quines empiristischer Ansatz 6. Quine über die semantische Rolle der sinnlichen Evidenz 7. Quine über die epistemologische Rolle der sinnlichen Evidenz 8. Davidsons Kritik am Empirismus
98 99 109 115 119 126 131 133
V. Wahrheit als Korrespondenz
147
1. Davidsons Version der Schleuder
147
VIII
Inhaltsverzeichnis
2. Freges Konzeption des Wahrheitswerts als des Referenten des Satzes 3. Rehabilitation von Sachverhalten 4. Verteidigung der Korrespondenztheorie
156 163 171
VI. Wahrheit ohne Referenz?
178
VII. Ontologische Relativität?
186
1. Darstellung der Position 2. Fields Kritik 3. Leeds'Kritik 4. Davidsons Kritik 5. Ablehnung der These der Unbestimmtheit der Referenz
186 196 199 201 206
VIII. Antirealismus: Die Herausforderung
217
1. Vorbemerkung 2. Realismus und das Prinzip der Bivalenz 3. Was ist eine Theorie der Bedeutung? 4. Dummetts Ausgangspunkt: Die intuitionistische Philosophie der Mathematik 5. Anwendung auf den empirischen Diskurs 6. Dummetts zentrales Argument gegen den Realismus 7. Aussagen über die Vergangenheit 8. Das Prinzip der Manifestierbarkeit 9. Dummetts Behaviorismus 10. Dummetts Antiholismus 11. Das Problem des semantischen Inhalts
217 219 228
IX. Antirealismus: Das positive semantische Programm
273
1. Strawsons Einwand 2. Was ist die Form einer antirealistischen Theorie der Bedeutung? 3. Brandoms Einwand
273 276 280
X. Metaphysischer Realismus: Putnams Kritik
287
235 237 240 246 249 255 259 264
1. Vorbemerkung 287 2. Die modelltheoretischen Argumente 289 2.1 Das auf dem Löwenheim-Skolem-Theorem beruhende Argument 289 2.2 Das Permutationsargument 297 3. Die philosophische Relevanz der modelltheoretischen Argumente 299 4. Die modelltheoretischen Argumente und die Kausaltheorie der Referenz... 302
Inhaltsverzeichnis
IX
5. Das Gehirne-in-einem-Faß-Argument 6. Putnam über ontologische Relativität 7. Eine epistemologisch zentrale Prämisse
308 317 320
XI. Interner Realismus: Putnams Zwischenlösung
323
1. Vorbemerkung 2. Die intern-realistische Auffassung der Wahrheit 3. Der Interne Realismus und das Problem der Referenz 4. Begriffliche Relativität 5. Putnam und der Wissenschaftliche Realismus 6. Putnams Kritik an Seilars' Variante des Metaphysischen Realismus
323 325 331 340 347 352
XII. Vom Internen Realismus zum Natürlichen Realismus
358
1. Vorbemerkung 2. Die natürlich-realistische Auffassung der Wahrheit 3. Die natürlich-realistische Auffassung der Referenz 4. Wahrnehmung und Referenz
358 359 362 364
XIII. Externalismus versus Internalismus
376
1. Vorbemerkung 2. Die internalistische Replik 3. Fodors psychologischer Individualismus 4. Dretske über die explanatorische Rolle des semantischen Inhalts 5. Verteidigung eines externalistisch akzeptablen Begriffs engen Inhalts
376 377 381 393 405
Schlußbemerkung
413
Bibliographie
415
Personenregister
428
Einleitung In dieser Arbeit befasse ich mich mit einer der wichtigsten Fragen der Philosophie, der Frage der Beziehung von Sprache und Gedanken zur Welt. Diese Arbeit ist in einem gewissen Sinn eine Fortsetzung meiner früheren Studie Der sinnliche Gehalt der Wahrnehmung, in der ich mich mit der Beziehung zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und der Welt auseinandergesetzt habe. Ich habe dort eine realistische Position vertreten, einen Realismus hinsichtlich der physischen Außenwelt. Ich habe die Auffassung verteidigt, daß es eine objektive Welt gibt, eine Welt interagierender physischer Gegenstände in Raum und Zeit, die kontinuierlich und völlig unabhängig davon existieren, daß wir sie wahrnehmen, und die unabhängig von uns gewisse Eigenschaften haben und in gewissen Beziehungen zueinander stehen. Wir glauben gewöhnlich, daß wir inmitten einer objektiven Welt von Personen, Tieren, Pflanzen und anderen physischen Gegenständen leben und daß uns die Wahrnehmung mit wichtigen Informationen über die Natur dieser verschiedenen Gegenstände versorgt. Und wir nehmen gewöhnlich auch an, daß wir, wenn wir diese verschiedenen Dinge wahrnehmen, in einer direkten oder unmittelbaren Beziehung zu ihnen stehen. Wir glauben nicht, daß wir ihre Existenz und ihre Merkmale auf der Basis grundlegenderer Gegebenheiten irgendwie erschließen oder ableiten müßten. Die Form von Realismus, die ich verfochten habe, ist eine Form von Direktem Realismus. Ich habe, so kann man auch sagen, die Common-sense-Konzeption der Wahrnehmung und der Außenwelt verteidigt. An meinem Realismus hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert. Ich werde also auch in dieser umfassenderen Studie für den Realismus plädieren. Allerdings ist der primäre Gegenstand meiner Untersuchungen jetzt ein anderer. Es geht mir, wie ich eingangs sagte, nun hauptsächlich um die Beziehungen, in denen die Sprache und die Gedanken und Meinungen, die wir mittels ihrer ausdrücken, zur Realität stehen. Das heißt nicht, daß wir die Wahrnehmung ignorieren könnten. Ich werde vielmehr zeigen, daß die Philosophie der Wahrnehmung auch im Kontext einer angemessenen Behandlung der Fragen, denen ich jetzt nachgehe, eine wesentliche Rolle spielt und daß wir, wenn wir die Wahrnehmung vernachlässigen, keine plausible Lösung der Probleme der Referenz und der Intentionalität erreichen können. Ich verteidige nicht nur den Realismus, sondern auch einen substantiellen Begriff der Wahrheit, der von einer realistischen Metaphysik und Epistemologie allein noch nicht impliziert wird. In der modernen Debatte um den Wahrheitsbegriff können wir grob zwei Lager voneinander unterscheiden. Auf der einen Seite stehen diejenigen Philosophen, die geltend machen, daß der
2
Einleitung
Begriff der Wahrheit ein wichtiger, ein tiefer, ein unentbehrlicher oder, wie ich gesagt habe, ein substantieller Begriff ist, ein Begriff jedenfalls, um den es sich zu kämpfen lohnt. Innerhalb dieses Lagers können wir weiter diejenigen Philosophen, die eine epistemische Analyse der Wahrheit vorschlagen, von denjenigen unterscheiden, die für eine semantische Analyse eintreten. Auf der anderen Seite stehen Philosophen, die behaupten, daß die Vertreter des ersten Lagers sich schwer täuschen, daß sie im Grunde einer Schimäre nachjagen, wenn sie glauben, Wahrheit habe eine zugrundeliegende Natur, eine Natur, die epistemisch oder semantisch oder vielleicht auch metaphysisch analysiert werden könnte. Die Vertreter des zweiten Lagers stellen die radikale Behauptung auf, daß Wahrheit kein substantieller oder explanatorisch relevanter Begriff ist, kein Begriff, der eine interessante Eigenschaft oder eine interessante Relation ausdrückt. Wahrheit ist ihnen zufolge vielmehr ein rein formaler Begriff. Sie plädieren, wie man sagt, für eine deflationistische oder minimalistische Analyse der Wahrheit. Der wahrheitstheoretische Deflationismus darf keineswegs, wie es häufig geschieht, auf die leichte Schulter genommen werden. Man muß ihn vielmehr sehr ernst nehmen. Er stellt durchaus stimulierende und dringliche Fragen und hat eine angenehm entmystifizierende Grundtendenz. Nach einer gründlichen Untersuchung werde ich ihn schließlich dennoch zurückweisen. Ebenso lehne ich epistemische Analysen entschieden ab, die den Begriff der Wahrheit durch Verifizierbarkeit oder durch gerechtfertigte Behauptbarkeit oder durch Rechtfertigbarkeit unter epistemisch idealen Bedingungen definieren wollen. Wahrheit, so werde ich argumentieren, überschreitet Verifizierbarkeit. Eine Aussage kann wahr sein, obwohl wir nicht in der Lage sind, sie jemals zu verifizieren. Wahrheit und objektive Realität können nicht auf das zurückgeführt werden, was wir herausfinden können. Subjektivistische Auffassungen, die Wahrheit von unseren perzeptiven und kognitiven Fähigkeiten abhängig machen, sind unhaltbar. Der Begriff der Wahrheit ist meiner Auffassung zufolge deshalb ein substantieller Begriff, weil er durch semantische Begriffe, insbesondere durch den Begriff der Referenz expliziert werden kann. Eine solche semantische Analyse eröffnet mir die Möglichkeit, eine Korrespondenztheorie der Wahrheit zu verteidigen, denn eine Korrespondenztheorie ist just eine Theorie, die Wahrheit durch objektive referentielle Beziehungen zwischen sprachlichen Ausdrücken und außersprachlichen Entitäten erklärt. Die grundlegende intuitive Idee, auf der die Korrespondenztheorie beruht, ist die Idee, daß eine Aussage genau dann wahr ist, wenn es einen Sachverhalt gibt, dem sie korrespondiert oder mit dem sie übereinstimmt. Diese intuitive Idee werde ich retten. Traditionelle Versuche, diese Idee zu bewahren, scheiterten immer wieder daran, daß die benutzten Schlüsselbegriffe der Korrespondenz und des Sachverhalts entweder gar nicht oder allenfalls anhand von uneingelösten Metaphern erläutert wurden.
Einleitung
3
Hier versuche ich Abhilfe zu schaffen. Korrespondenz, so wie ich sie verstehe, ist einfach Referenz. Einzelne Wörter, dies ist unstrittig oder sollte es zumindest sein, stehen in referentiellen Beziehungen zu Entitäten in der Realität. Aber meiner Position zufolge stehen nicht nur einzelne Wörter, sondern auch ganze Sätze in interessanten referentiellen Beziehungen zu außersprachlichen Entitäten. Diese Kernthese meiner Position ist heftig umstritten. Deshalb muß diese These besonders sorgfältig entfaltet und begründet werden. Ich werde den ganz natürlichen Gedanken theoretisch ernst nehmen, daß Aussagen für Sachverhalte oder Situationen stehen, daß wir Sätze gebrauchen, um Sachverhalte zu beschreiben. Dieser alte und sehr vertraute Gedanke wurde durch ein überaus einflußreiches, letztlich auf Gottlob Frege zurückgehendes Argument aus der seriösen semantischen Theoriebildung verbannt. Ich werde dieses Argument im Detail untersuchen und zeigen, daß es eine petitio principii begeht. Aber damit ist die ontologische Kategorie des Sachverhalts, die in der Philosophie nicht zu Unrecht ins Gerede gekommen ist, noch nicht rehabilitiert. Wir brauchen eine neue Konzeption von Sachverhalten. Ich argumentiere für eine Auffassung von Sachverhalten, derzufolge sie Komplexe sind, die sich aus Einzeldingen, Eigenschaften und Relationen zusammensetzen. Sachverhalte bestehen darin, daß Einzeldinge gewisse Eigenschaften besitzen und in gewissen Relationen zueinander stehen. Die Welt, so behaupte ich, eine der Hauptthesen von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus aufgreifend, ist eine Welt von Sachverhalten. Diese sind epistemisch basal. In unserer alltäglichen Praxis sind wir ständig mit Sachverhalten konfrontiert, nicht mit eigenschaftslosen Individuen und auch nicht mit freischwebenden Eigenschaften. Wir nehmen wahr, daß die Dinge in unserer Umgebung die und die Eigenschaften haben und in den und den Relationen zueinander stehen. Wir müssen jedoch auch die Konstituenzien von Sachverhalten ontologisch ernst nehmen: Die Dinge, die Eigenschaften und die Relationen. Eigenschaften und Relationen fasse ich als Universalien auf. Ich bin also ein Universalienrealist. Das heißt, ich lehne alle Formen des Nominalismus und des Konzeptualismus nachdrücklich ab. Allerdings lehne ich den Platonischen oder Transzendenten Realismus ebenfalls ab. Freischwebende Universalien gibt es genausowenig wie nackte, eigenschaftslose Gegenstände. Die Form von Universalienrealismus, die ich vertrete, steht in der aristotelischen Tradition; sie ist eine Theorie der universalia in rebus. Sie berücksichtigt, daß Partikularität und Universalität komplementäre Aspekte allen Seins sind. Diese Bemerkungen zum ontologischen Status von Sachverhalten unterstreichen den engen Zusammenhang, in dem Wahrheit und Ontologie zueinander stehen. Denn es ist klar, wozu wir Sachverhalte brauchen: Sachverhalte im geschilderten Sinn sind die Wahrmacher von wahren Aussagen und von wahren Gedanken; sie sind die gesuchten Weltrelata der Korrespondenzrelation.
4
Einleitung
Dies ist also in den Grundzügen die Position, die ich in dieser Studie in einer intensiven Auseinandersetzung mit den, was diese Thematik anbelangt, besten Philosophen entwickeln und verteidigen werde. Ich schaue mir die Texte dieser Philosophen sehr genau an; ich arbeite also phasenweise immanent. Zu diesem Vorgehen gibt es meines Erachtens auch oder gerade in der Philosophie keine ernsthafte Alternative. Mangelnde Vertrautheit mit dem jeweiligen Forschungsstand, auch wenn sie sich mit den Federn der Originalität zu schmücken versucht, hat in aller Regel einen hohen Preis, den Preis nämlich einer weitgehenden Unkenntnis der einschlägigen Argumente und dialektischen Optionen. Die in dieser Einleitung knapp umrissenen Thesen zu Wahrheit, Referenz und Realismus wollen natürlich im einzelnen erarbeitet werden. Ich werde mich jetzt dieser anspruchsvollen und umfangreichen Arbeit zuwenden, die sich angesichts der Fundamentalität des Problemfeldes am Ende auszahlen wird. Diesem Buch liegt meine Habilitationsschrift zugrunde, die im Wintersemester 1995/6 vom Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Für Unterstützung, Anregung und konstruktive Kritik möchte ich mich bei meinen Gutachtern Ursula Wolf und Peter Bieri bedanken. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich auch Ernst Tugendhat, der während meiner Assistentenzeit durch zahlreiche Gespräche zur Klärung der Fragestellung beigetragen und mich immer wieder ermutigt hat, meinen eigenen theoretischen Standpunkt konsequent zu entwickeln. Carlos Ulises Moulines hat während meiner Zeit als Mitarbeiter im Bereich Wissenschaftstheorie durch viele nützliche Kommentare, Hinweise und Ratschläge die Arbeit an meiner Studie gefordert. Gespräche mit Hilary Putnam haben viel zur theoretischen Durchdringung der gesamten Thematik und zum besseren Verständnis von Einzelproblemen beigetragen. Oliver Scholz danke ich für die kritische Durchsicht des gesamten Manuskripts und für zahlreiche wertvolle Hinweise. Meine Studenten Yorck Rabenstein und Michael Zelzer haben ebenfalls das Manuskript gelesen, hilfreich kommentiert und mir mit Rat und Tat geholfen. Schließlich danke ich den Herausgebern Georg Meggle und Julian Nida-Rümelin herzlich dafür, daß sie mein Buch in diese Reihe aufgenommen haben.
I Der wahrheitstheoretische Deflationismus 1. Die Redundanztheorie der Wahrheit Die Verfechter der Redundanztheorie stellen die lapidare Behauptung auf, daß es ein Problem der Wahrheit gar nicht wirklich gibt. Der traditionelle Begriff der Wahrheit beruht ihrer Einschätzung zufolge lediglich auf einer mangelhaften logischen Analyse der Sätze, in denen der Ausdruck "wahr" vorkommt. Deshalb bestreiten sie, daß es sinnvoll oder auch nur möglich ist, eine Theorie der Wahrheit zu entwickeln. Daher sollte man strenggenommen vielleicht eher von der Redundanzauffassung der Wahrheit sprechen. Dennoch werde ich, weil es in der einschlägigen Literatur so üblich ist, meistens den Terminus "Redundanztheorie" benutzen. Die Redundanztheorie wird gewöhnlich Frank Ramsey zugeschrieben, obwohl sie ihren Ursprung in einigen Bemerkungen Gottlob Freges hat. In Über Sinn und Bedeutung sagt Frege: Man kann ja geradezu sagen: "Der Gedanke, daß 5 eine Primzahl ist, ist wahr." Wenn man aber genauer zusieht, so bemerkt man, daß damit eigentlich nicht mehr gesagt ist als in dem einfachen Satz "5 ist eine Primzahl". [...] Daraus ist zu entnehmen, daß das Verhältnis des Gedankens zum Wahren doch mit dem des Subjekts zum Prädikate nicht verglichen werden darf.1 Frege formuliert hier die zentrale Idee der Redundanztheorie, die Idee nämlich, daß der Ausdruck "wahr" im Grunde inhaltlich redundant ist, da er nichts zum Sinn der Sätze, in denen er vorkommt, beziehungsweise zu den Gedanken beiträgt, die diese Sätze ausdrücken.2 Deshalb, so scheint es, können wir einen Satz der Form "Der Gedanke, daß p, ist wahr" oder auch der Form "Es ist wahr, daß p" immer durch die einfache Behauptung eines Satzes der Form "p" ersetzen. Frege sagt nicht, daß das Wort "wahr" überhaupt keinen Sinn habe, denn sonst hätten auch die Sätze, in denen es vorkommt, keinen Sinn. Er sagt nur, daß "wahr" einen Sinn habe, der zum Sinn der ganzen Säze, in denen dieser Ausdruck vorkommt, nichts beitrage.3 Um eine wahre Aussage zu treffen, brauchen wir demnach nicht das Wort "wahr" zu verwenden. So nützlich dieses Prädikat für gewisse Zwecke sein mag, so ist es doch laut Frege für die Formulierung der Wahrheiten der Wissenschaften, einschließlich der Logik, zumindest prinzipiell entbehrlich. "Wahr" ist lediglich ein probater Behelf, den 1 2 3
Frege, 1980b, S.49 Vgl. auch Frege, 1969, S.251-2, 271-2 Vgl. ibid., S.272
6
I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
wir nur so lange benötigen, als wir noch keine logisch vollkommene Sprache besitzen, als der "Kampf mit den logischen Mängeln der Sprache" noch nicht beendet ist.4 In Wirklichkeit, so betont er, kommt es gar nicht auf das Wort "wahr" an, sondern auf den Behauptungscharakter, auf die "behauptende Kraft", mit der ein Satz ausgesprochen wird. Es ist die Form des Behauptungssatzes, durch deren Gebrauch wir Wahrheit behaupten.5 Ein besonderes Prädikat brauchen wir zu diesem Zweck nicht. Es ist daher nur konsequent, daß Freges formale Sprache keine Symbole für Wahrheit oder Falschheit enthält. In dem logischen System seiner Begriffsschrift ist ein spezieller Urteilsstrich das einzige Vehikel der behauptenden Rolle.6 Die Zuschreibung des Wahrheitsprädikats allein vermag einem Satz ohnehin keine behauptende oder assertorische Kraft zu verleihen. Frege weist gerne daraufhin, daß ein Schauspieler, der auf der Bühne einen Satz der Form "Der Gedanke, daß p, ist wahr" äußert, damit nichts behauptet.7 Die behauptende Kraft beinhaltet zwar eine Anerkennung der Wahrheit, aber nicht als einen zusätzlichen Bestandteil des Inhalts eines Gedankens. Es ist also Freges Auffassung, daß alles, was mit Hilfe des Ausdrucks "wahr" gesagt werden kann, auch ohne diesen Ausdruck gesagt werden kann, auch wenn eine solche Elimination gewisse grammatische Transformationen nach sich ziehen mag. Interessant ist insbesondere, daß Frege oben bestreitet, daß das Wort "wahr" ein Prädikat ist, das wir verwenden, um einem Gedanken eine Eigenschaft zuzuschreiben. Die Sprache, die uns prima facie eine SubjektPrädikat-Analyse suggeriert, so lautet seine Diagnose, führt uns in diesem Punkt in die Irre. Zumindest, so gibt er zu bedenken, ist "wahr" kein Prädikat, kein "Eigenschaftswort", im gewöhnlichen Sinn. Er hätte wohl auch sagen können, daß "wahr" zwar grammatisch, aber nicht logisch gesehen ein Prädikat ist. Logische Form und grammatische Form fallen nicht zusammen. Die genuinen logischen Strukturen der zeitlosen Gedanken werden nach Frege durch die Strukturen einer natürlichen Sprache nur unvollkommen widergespiegelt. Nicht immer äußert sich Frege so dezidiert über die Wahrheit und nicht alles, was er an verschiedenen Stellen über sie sagt, scheint ganz kohärent zu sein. So räumt er in Der Gedanke zunächst ein, daß Wahrheit doch eine Eigenschaft von Gedanken ist: Immerhin gibt es zu denken, daß wir an keinem Dinge eine Eigenschaft erkennen können, ohne damit zugleich den Gedanken, daß dieses Ding diese Eigenschaft habe, wahr zu finden. So ist mit jeder Eigenschaft eines Dinges eine Eigenschaft eines Gedankens verknüpft, nämlich die der Wahrheit.8
4 5 6 7 8
Vgl. ibid. Vgl. ibid., S.251-2, 271-2 Vgl. Frege, 1964, §2 Vgl. Frege, 1980b, S.49; 1969, S.140, 252 Frege, 1976a, S.34
1. Die Redundanztheorie der Wahrheit
7
Dann jedoch weist er wiederum darauf hin, daß die beiden Sätze "ich rieche Veilchenduft" und "es ist wahr, daß ich Veilchenduft rieche" denselben Inhalt haben, und folgert daraus, daß einem Gedanken dadurch, daß wir ihm die Eigenschaft der Wahrheit zuschreiben, nichts hinzugefugt wird. Und diese angebliche inhaltliche Leere des Wortes "wahr" bringt Frege dann wieder ins Schwanken, ob denn Wahrheit überhaupt eine Eigenschaft ist: Die Bedeutung des Wortes "wahr" scheint ganz einzigartig zu sein. Sollten wir es hier mit etwas zu tun haben, was in dem sonst üblichen Sinne gar nicht Eigenschaft genannt werden kann? Trotz diesem Zweifel will ich mich zunächst noch dem Sprachgebrauch folgend so ausdrücken, als ob die Wahrheit eine Eigenschaft wäre, bis etwas Zutreffenderes gefunden sein wird.9 Frege scheint zeitlebens mit der Funktionsweise des Wortes "wahr" gerungen zu haben. Der Inhalt des Wortes "wahr" ist ihm zufolge "ganz einzigartig und undefinierbar"10 oder, wie er anderenorts sagt, "etwas so Ursprüngliches und Einfaches, dass eine Zurückfuhrung auf noch Einfacheres nicht möglich ist."11 Es ist schon einigermaßen verwirrend, daß er manchmal behauptet oder impliziert, daß Wahrheit eine von dem Wort "wahr" bezeichnete Eigenschaft von Gedanken und derivativ der Sätze ist12, die sie ausdrücken, und daß er manchmal genau das Gegenteil behauptet.13 Ich glaube jedoch, daß wir diese auffällige Spannung zumindest ein Stück weit beheben können. Wenn Frege sich so ausdrückt, als sei Wahrheit eine Eigenschaft, dann scheint er einfach dem Sprachgebrauch zu folgen, wie er sich in den herkömmlichen grammatischen Kategorien niedergeschlagen hat. Wenn er die Sache hingegen vom Standpunkt des Logikers betrachtet, der die Gedanken von den Fesseln der gewöhnlichen sprachlichen Ausdrucksmittel befreien muß, dann gelangt er zum gegenteiligen Resultat. Wie wir später sehen werden, besteht der positive Aspekt dieses Resultats darin, daß Frege die beiden Wahrheitswerte "das Wahre" und "das Falsche" als Gegenstände behandelt, die einerseits von den wahren und andererseits von den falschen Sätzen bezeichnet werden. Als locus classicus der Redundanztheorie gilt eine kurze Passage in Ramseys Facts and Propositions.14 Der Kontext, in dem Ramsey seine Theorie formuliert, ist die Analyse von Meinungen und Urteilen. Dieser Kontext, den die meisten Darstellungen von Ramseys Theorie der Wahrheit leider völlig außer Betracht lassen, ist eminent wichtig. Denn Ramsey macht unmißverständlich klar, daß das eigentliche Ziel, das er sich gesteckt hat, ist, eine substantielle Theorie von Urteilen oder Überzeugungen zu liefern und daß seine Bemerkungen zum Ausdruck "wahr" diesem Ziel eindeutig untergeordnet sind. Er sagt: "[...] it is 9
Ibid. Frege, 1976a, S.32 11 Frege, 1969, S.140 12 Vgl. Frege, 1969, S.142 13 Vgl. ibid., S.251-2 14 Ramsey, 1978, S.40-57 10
8
I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
clear that the problem is not as to the nature of truth and falsehood, but as to the nature ofjudgment or assertion [...]". 15 Wird dieser Kontext seiner Analyse von "wahr" ignoriert, muß dies zwangsläufig dazu fuhren, daß auch darüber hinweggesehen wird, daß die Theorie der Meinungen, zu der Ramsey im Endeffekt gelangt, eine Form der Korrespondenztheorie ist.16 Die intuitive Idee einer Korrespondenztheorie wird im Verlaufe dieser Studie zunehmend an Profil gewinnen. Im Vorgriff auf spätere Klärungen können wir aber schon jetzt sagen, daß Ramseys Theorie der Meinungen eine Form der Korrespondenztheorie ist, weil die "mentalen Faktoren" - "words, spoken aloud or to oneself or merely imagined, connected together" 17 -, aus denen Ramsey zufolge eine Meinung oder ein Urteil besteht, in referentiellen, kausal zu erklärenden Beziehungen zu deijenigen Konstellation außersprachlicher Entitäten oder "objektiver Faktoren" stehen, die den Inhalt der Meinung bestimmt, die, wie wir auch sagen können, die Meinung wahr oder falsch macht, die die Wahrheitsbedingungen der Meinung bildet. Damit akzeptiert Ramsey, wie wir noch sehen werden, das Kernstück einer haltbaren Form der Korrespondenztheorie. Es ist bemerkenswert, daß er sowohl Propositionen als auch Tatsachen als Objekte von Meinungen zurückweist. Sein eigener, an Russell anknüpfender Vorschlag lautet, daß eine Meinung aus einer "multiplen Relation" zwischen den mentalen Faktoren und vielen Objekten besteht, wobei diese Objekte auch Eigenschaften und Relationen einschließen. 18 Ramsey war also ein Korrespondenztheoretiker, auch wenn er davon überzeugt war, daß die Frage nach der Verwendungsweise des Wortes "wahr" nicht viel mit der von ihm für philosophisch weitaus spannender gehaltenen Frage nach der Beziehung zwischen Sprache und Gedanken einerseits und der Welt andererseits zu tun hat. Sein ehrgeiziges Projekt war die logische Analyse von Meinungen, der Natur ihrer mentalen und objektiven Faktoren und der besonderen Beziehungen, in denen sie zueinander stehen. In erster Linie ging es ihm darum, zu verstehen, was es für eine Meinung heißt, den bestimmten mentalen oder kognitiven Inhalt zu haben, den sie hat. Aber Ramsey war auch, und in dieser Hinsicht irrt sich die Standardmeinung nicht, ein Verfechter der Redundanztheorie der Wahrheit. Diese beiden Positionen sind miteinander verträglich, gerade weil Ramsey nicht annimmt, daß es die Funktion des Ausdrucks "wahr" ist, die bestehenden interessanten Korrespondenzrelationen zwischen Überzeugungen und Entitäten in der Welt auszudrücken. Vielmehr macht Ramsey in der Tat geltend, daß "wahr" und "falsch" aus allen Kontexten, in denen sie vorkommen, ohne jeglichen semantischen Verlust eliminiert werden können. "Wahr" und "falsch" oder die Satzoperatoren "Es ist wahr, daß" und "Es ist falsch, daß" spielen, so räumt er 15 16 17 18
Ibid., S.45 Vgl. Loar, 1980; Field, 1986, S.60 Ramsey, 1978, S.46 Vgl. Ibid., S.40-4
1. Die Redundanztheorie der Wahrheit
9
ein, eine pragmatische Rolle; wir verwenden diese Ausdrücke manchmal der "Betonung" wegen oder aus "stilistischen Gründen". Ein "separates Wahrheitsproblem" gibt es für Ramsey nicht.19 Wenn die Natur von Meinungen geklärt ist, dann ist damit auch das Problem der Wahrheit gelöst.20 Wahrheit ist ihm zufolge weder eine Relation noch eine Eigenschaft. Durch diese radikale Annahme lehnt er im Grunde alle klassischen Theorien der Wahrheit entschieden ab. Der manifeste antimetaphysische Charakter von Ramseys Ansichten war der hauptsächliche Grund dafür, daß sie bei einigen Verfechtern des Logischen Positivismus alsbald auf Zustimmung stießen. Alfred Ayer beispielsweise, der sich explizit auf Ramsey beruft, macht in typisch logisch positivistischer Manier geltend, daß das traditionelle Wahrheitsproblem im Grunde ein Scheinproblem ist, das, wie die meisten metaphysischen Probleme, darauf zurückgeführt werden kann, daß die spekulativen Philosophen es versäumt haben, die Bedeutungen der entsprechenden Sätze richtig zu analysieren. Hätten sie die erforderliche Analyse durchgeführt, dann hätten sie gesehen, daß "wahr" und "falsch" nichts bezeichnen, daß diese Wörter keine Eigenschaft oder Relation ausdrücken, sondern in einem Satz lediglich als Zeichen der Behauptung und Verneinung füngieren. Die altehrwürdige Frage "Was ist Wahrheit?" schrumpft laut Ayer zusammen auf die Frage, wie Sätze der Form "p ist wahr" zu analysieren sind. Er sagt: We conclude, then, that there is no problem of truth as it is ordinarily conceived. The traditional conception of truth as a "real quality" or a "real relation" is due, like most philosophical mistakes, to a failure to analyze sentences correctly. [...] For our analysis has shown that the word "truth" does not stand for anything.21 Ayer war bekanntlich auch ein glühender Anhänger der Verifikationstheorie der Bedeutung. In Einklang damit behauptete er, daß vom traditionellen Problem der Wahrheit letzten Endes nur das Problem der Verifikation übrigbleibt: das Problem, wie verschiedene Typen von Aussagen zu rechtfertigen sind. Über die korrespondenztheoretischen Aspekte von Ramseys Analyse von Meinungen sah Ayer wie viele andere auch einfach hinweg. Statt dessen unternahm Ayer den aufschlußreichen Versuch, die Redundanztheorie mit der Verifikationstheorie der Bedeutung zu verbinden. Aber während über die Verifikationstheorie unter den Logischen Positivisten weitgehend Einigkeit herrschte, sind beileibe nicht alle von ihnen Ayers Beispiel gefolgt, sich ebenfalls Ramseys Redundanztheorie zu verschreiben. Die von Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus entwickelte Korrespondenztheorie der Wahrheit übte zu Beginn der dreißiger Jahre noch einen starken Einfluß auf das Denken der Logischen Positivisten aus. Ein Satz ist dieser Theorie zufolge ein Bild der Wirklichkeit, ein Bild von einer Tatsache 19 20 21
Vgl. ibid., S.44 Vgl. ibid., S.45 Ayer, 1936, S.119
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I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
oder von einem Sachverhalt, 22 und der Satz ist wahr, wenn der von ihm ausgedrückte Sachverhalt besteht. Zunächst übernahmen die Logischen Positivisten Wittgensteins Ideen über Wahrheit im großen und ganzen. Doch schon bald wurden in ihrem Lager erste Zweifel kundgetan, allen voran von Neurath. 23 Insbesondere nahm Neurath an Wittgensteins Vorstellung Anstoß, ein Satz könne irgendwie mit der Wirklichkeit oder mit der Welt verglichen werden. 24 Der Einfluß Wittgensteins begann allmählich zu schwinden. Carnap schlug sich rasch auf Neuraths Seite. Er machte geltend, daß viele traditionelle philosophische Probleme darauf beruhen, daß sie in der irreführenden "inhaltlichen" Sprechweise formuliert sind, und daß diese Probleme gelöst oder vielmehr aufgelöst werden können, wenn sie in die "formale" Sprechweise transponiert werden. 25 Im Zuge dieses Übergangs von der "inhaltlichen" zur "formalen" Sprechweise wurde nun auch Wittgensteins Unterscheidung zwischen Sprache und Welt durch die Unterscheidung zwischen der Sprache des wissenschaftlichen Systems und der Protokollsprache ersetzt. "Protokollsätze" wurden zu den formalen Gegenstücken derjenigen Entitäten, die in der inhaltlichen Sprechweise als "Tatsachen" und "Sachverhalte" bezeichnet worden waren. Carnap behauptete jetzt, daß die Entscheidung über die Wahrheit eines Satzes, der weder eine Kontradiktion noch eine Tautologie ist, in den Protokollsätzen liegt. 26 Wahrheit wurde nun gewissermaßen zu einer Übereinstimmung mit den getreuen Protokollen. Als dann der vermeintlich enge Zusammenhang zwischen Protokollen und Tatsachen zunehmend problematisiert wurde und als Carnap zudem die Form der Protokolle zu einer Frage der Konvention machte, 27 wurde Wahrheit vollends zur Übereinstimmung innerhalb der Klasse aller akzeptierten Sätze. Die Korrespondenztheorie hatte sich nach und nach in eine Kohärenztheorie der Wahrheit verwandelt. Denn der Grundgedanke von Kohärenztheorien ist just, daß, grob gesprochen, die Wahrheit einer Aussage nicht in ihrer Beziehung zur Welt, sondern in ihren Beziehungen zu anderen Aussagen besteht. Eine Aussage oder die Überzeugung, die sie ausdrückt, ist einer solchen Theorie zufolge wahr, wenn sie zu einem gesamten System von Aussagen gehört, das konsistent und harmonisch ist. 28 Neurath, Hempel und eine Zeitlang auch Carnap verteidigten in der Tat hartnäckig eine Version der Kohärenztheorie. 29 So verkündete Neurath programmatisch:
22 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Wittgenstein, 1984a, 4.01, 4.021 Neurath, 1931 Wittgenstein, 1984b, 2.223, 4.05 Carnap, 1934 Carnap, 1932a, S.236 Carnap, 1932b Bradley, 1914 Neurath, 1934; Hempel, 1935; Carnap, 1932b
1. Die Redundanztheorie der Wahrheit
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Die Wissenschaft als ein System von Aussagen steht jeweils zur Diskussion. Aussagen werden mit Aussagen verglichen, nicht mit "Erlebnissen", nicht mit einer Welt, noch mit sonst etwas. Alle diese sinnleeren Verdoppelungen gehören einer mehr oder minder verfeinerten Metaphysik an und sind deshalb abzulehnen. Jede neue Aussage wird mit der Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten, Aussagen konfrontiert. Richtig heißt eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann. Was man nicht eingliedern kann, wird als unrichtig abgelehnt.30 Aber nicht alle Logischen Positivisten zogen, was den Begriff der Wahrheit anbelangt, am selben Strang. Schlick, der Begründer des Wiener Kreises, hielt weiterhin unbeirrt an der Korrespondenztheorie der Wahrheit fest,31 und warf seinen Gegenspielern, den "Kohärenzphilosophen", vor, die Wissenschaft an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen und keine Tatsachen anzuerkennen, bevor sie nicht in Aussagen formuliert sind. Derweilen verfolgte Reichenbach bereits sein ehrgeiziges Ziel, das Verifikationskriterium der Bedeutung durch die Entwicklung einer ausfuhrlichen Theorie der Wahrscheinlichkeit zu untermauern. Er vertrat die Auffassung, daß der Begriff der Wahrheit nur mit Hilfe der Begriffe der Approximation und der Wahrscheinlichkeit expliziert werden kann.32 Wenn Wahrheit nicht zu einem leeren Begriff, zu einem bloßen Ideal, verkommen soll, dann, so insistierte Reichenbach, muß Wahrheit als ein Grenzfall der Wahrscheinlichkeit definiert werden. Doch nun zurück zu Ramsey. Wahrheit und Falschheit, so behauptet er gleich zu Beginn von Facts and Propositions, werden primär Propositionen zugeschrieben. Ramsey betrachtet zwei Arten von Kontexten, in denen "wahr" und "falsch" gewöhnlich vorkommen, zum einen Kontexte, in denen die Proposition "explizit gegeben" wird, und zum anderen Kontexte, in denen die Proposition lediglich "beschrieben" wird. Sein Beispiel für eine explizit gegebene Proposition ist "Es ist wahr, daß Cäsar ermordet wurde". Es ist laut Ramsey offenkundig, daß dies nicht mehr bedeutet, als daß Cäsar ermordet wurde. Und ebenso bedeutet "Es ist falsch, daß Cäsar ermordet wurde" einfach, daß Cäsar nicht ermordet wurde. Wir können sagen, daß Ramsey alle Instanzen des folgenden Schemas akzeptiert:
"Die Proposition, daß p, ist wahr" ist synonym mit "p". Ramsey sieht, daß Kontexte der zweiten Art, in denen die betreffende Proposition nicht explizit gegeben, sondern nur beschrieben wird, viel größere Probleme bereiten. Der Fall, den er erörtert, ist: "Er hat immer recht" oder "Alles, was er behauptet, ist wahr". Hier kann, gegeben die Ressourcen der deutschen Sprache, "wahr" augenscheinlich nicht einfach eliminiert werden. 30 31 32
Neurath, 1931, S.403 Vgl. Schlick, 1934; 1935 Vgl. Reichenbach, 1931
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I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
Ramsey versucht, diesem Problem mit Hilfe der Qualifikation Propositionen zu Leibe zu rücken und schlägt die folgende Analyse vor:
über
(p) (wenn er p behauptet, dann p). Ramsey gibt zu, daß, vom Standpunkt der Umgangssprache aus betrachtet, der Eindruck entstehen könnte, diese Analyse müsse noch durch ein abschließendes "ist wahr" ergänzt werden, um das letzte Vorkommnis von "p" in einen richtigen Satz zu verwandeln. Durch diese Ergänzung erhielten wir dann:
(p) (wenn er p behauptet, dann ist p wahr). Eine Analyse jedoch, in der das Wahrheitsprädikat wiederum auftaucht, kann natürlich nicht beanspruchen, zu zeigen, daß dieses Prädikat redundant ist. Ramsey gibt zu bedenken, daß dieser Einwand übersieht, daß "p" doch einen Satz vertritt und daß die Sätze, die "p" vertritt, selbst schon ein Verb enthalten. Um seinen Punkt zu verdeutlichen, fährt Ramsey folgendermaßen fort: This may perhaps be made clearer by supposing for a moment that only one form of proposition is in question, say the relational form aRb; then "He is always right" could be expressed by "For all a, R, b if he asserts aRb, then aRb", to which "is true" would be an obviously superfluous addition. When all forms of propositions are included the analysis is more complicated but not essentially different.33 "a" und "b" sind hier Individuenvariablen und "R" ist eine höherstufige Variable, die sich über zweistellige Relationen erstreckt. Ramsey scheint erstaunlicherweise gar nicht zu merken, daß die Formel "Für alle a, R, b, wenn er aRb behauptet, dann aRb", die als eine Explikation seiner ursprünglichen Formel intendiert ist, im Grunde in eine ganz andere Richtung weist. Denn in dieser Formel wird nicht über Propositionen oder Sätze quantifiziert, die Gegenstände und Relationen erwähnen, sondern über Gegenstände und Relationen selbst. Kann man mit diesem neuen Vorschlag etwas anfangen? Leider haben nicht alle Propositionen die Form "aRb". Ramsey scheint die Schwierigkeiten, seine Analyse zu generalisieren, "alle Formen von Propositionen" zu berücksichtigen, ganz gewaltig zu unterschätzen. 34 Der Haken ist, daß es potentiell unendlich viele Formen von Sätzen und somit potentiell unendlich viele Formen von Propositionen gibt, die durch solche Sätze ausgedrückt werden können. Eine endliche Disjunktion aller möglichen logischen Formen von Propositionen ist mithin ausgeschlossen. Um dieses Problem zu bewältigen, müßte die Analyse einen rekursiven Charakter
33 34
Ramsey, 1978, S.45 Vgl. Davidson, 1990a, S.40
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annehmen. Tarskis bahnbrechende rekursive Techniken standen Ramsey jedoch noch nicht zur Verfügung. Kehren wir zu Ramseys ursprünglicher Formel zurück: "(p) (wenn er p behauptet, dann p)". Nachdem Ramseys eigener Klärungsversuch fehlgeschlagen ist, wollen wir nun versuchen, Ramseys und unser eigenes Unbehagen mit dieser Formel dadurch zu präzisieren, daß wir der Frage nachgehen, ob es eine Interpretation der in ihr vorkommenden Variablen und ihrer Quantifikation gibt, die dem Ziel einer Redundanztheorie dienlich sein kann. 35 Beginnen wir mit der gängigen referentiellen oder ontischen oder objektualen Interpretation der Quantoren, die auf die Werte der Variablen, die Entitäten, über die sich die Variablen erstrecken, Bezug nimmt. Ihr zufolge wird "(x) Fx" gedeutet als: "Für alle Gegenstände x, in einem spezifizierten Bereich, Fx". Wenn wir den Quantor in Ramseys Formel "(p) (wenn er p behauptet, dann p)" referentiell interpretieren, dann gelangen wir zu:
(1) Für alle Gegenstände p, wenn er p behauptet, dann p. Ganz gleich, ob wir nun die Variable "p" über Propositionen laufen lassen, wie Ramsey es tut, oder über Sätze, das Problem mit dieser Interpretation ist, daß (1) kein grammatisch wohlgeformter Satz ist. Da die gebundene Variable "p" syntaktisch als ein singulärer Terminus fungiert, muß ihr letztes Vorkommnis durch ein Prädikat ergänzt werden, um auf der rechten Seite der Partikel "dann" einen vollständigen Satz zu erzeugen. Und das naheliegende Prädikat dafür ist natürlich das Prädikat "ist wahr":
(2) Für alle Gegenstände p, wenn er p behauptet, dann ist p wahr. "Wahr" ist jedoch das Wort, das eliminiert werden soll. Auf die referentielle Standardinterpretation der Quantoren im Rahmen der Quantorenlogik der ersten Stufe kann sich die Redundanztheorie der Wahrheit also nicht stützen. Es ist leicht zu sehen, daß auch die substitutioneile Interpretation der Quantoren der Redundanztheorie nicht weiterzuhelfen vermag. Die substitutionelle Interpretation befaßt sich nicht mit den Werten der Variablen, sondern mit den Substituenden für die Variablen, das heißt, mit den Ausdrücken, die für die Variablen eingesetzt werden können. Statt für die Variablen einen Bereich festzulegen, der gewöhnlich aus außersprachlichen Gegenständen besteht, ordnet ihnen die substitutioneile Interpretation der Quantifikation eine Substitutionsklasse von syntaktisch geeigneten sprachlichen Ausdrücken zu. Ihr zufolge wird "(x) Fx" interpretiert als: "Alle Einsetzungsinstanzen von "Fx" sind wahr". Wenn wir nun die Satzvariablen oder Propositionsvariablen in Ramseys 35
Vgl. Forbes, 1986
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I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
Formel als substitutionelle Variablen interpretieren, als Variablen, für die somit Sätze die geeignete Substitutionsklasse bilden, dann erhalten wir:
(3) Alle Einsetzungsinstanzen von "Wenn er p behauptet, dann p" sind wahr. Erneut tritt also das Wahrheitsprädikat im Analysans auf. Da die substitutionelle Interpretation im Rekurs auf das Wahrheitsprädikat definiert wird, vermag offensichtlich auch sie der Redundanztheorie nicht aus der Klemme zu helfen.
2. Die Prosententiale Theorie der Wahrheit Wenn die Redundanztheorie gerettet werden können soll, muß es eine Interpretation der quantifizierten Variablen in Ramseys Formel geben, die nicht erfordert, daß ihnen Prädikate beigefügt werden. Wir wollen uns jetzt ausführlicher einem weiteren wichtigen Versuch zuwenden, den Einwand zu entkräften, daß Ramseys Formel, wenn sie in richtiges Deutsch umgewandelt wird, ungrammatisch ist. Dorothy Grover hat eine "prosententiale" Interpretation der Satzvariablen vorgeschlagen 36 , die sie dann später, zusammen mit John Camp und Nuel Belnap, für die Entwicklung einer neuartigen Theorie der Wahrheit fruchtbar gemacht hat. 37 Diese Autoren versuchen, die Legitimität der Satzquantifikation gegen die üblichen, hauptsächlich auf Quine zurückgehenden Einwände zu verteidigen. Quine klassifiziert die Satzquantifikation als eine "simulierte Qualifikation". 3 8 Die Positionen von Sätzen sind nach Quine keine Positionen für quantifizierbare Variablen. Die Autoren machen jedoch geltend, daß die Standardeinwände gegen die Satzquantifikation von einer pronominalen Interpretation der Variablen abhängen. Sätze, darin stimmen sie mit Quine überein, sind keine Namen; sie sind weder Namen von Wahrheitswerten noch von Propositionen. Aber, so kontern sie, die Einführung von Satzquantoren erfordert auch gar nicht, daß Sätze als Namen aufgefaßt werden. Was wir vielmehr brauchen, sind Variablen, die die Positionen von Sätzen einnehmen können. Und was wir brauchen, das können wir den Autoren zufolge auch haben. Ihre zentrale Behauptung ist, daß eine substitutionell interpretierte Satzquantifikation, bei der die Satzvariablen die Positionen von Sätzen und nicht die Positionen von Namen einnehmen, sowohl syntaktisch als auch semantisch vollkommen in Ordnung ist. Diese Behauptung wollen sie durch die Entwicklung einer Theorie der Prosentenzen, die den eigentlichen Kern ihrer Wahrheitstheorie bildet, stützen. 36 37 38
Vgl. Grover, 1972 Vgl. Grover, Camp & Belnap, 1975 Vgl. Quine, 1970, S.74
2. Die Prosententiale Theorie der Wahrheit
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Die Autoren plädieren für eine grundlegende Neuorientierung unseres Denkens über Wahrheit. Sie verwerfen eine Prämisse, von der sich, wie sie glauben, die bisherigen Theorien der Wahrheit leiten ließen, die Prämisse nämlich, daß ein Satz der Form "X ist wahr" in ein Subjekt "X" und ein Prädikat "ist wahr" zu analysieren ist, wobei es die Rolle des Prädikats ist, die Eigenschaft der Wahrheit auszudrücken, die ein Sprecher, der einen Satz dieser Form äußert, dem Referenten von "X" zuschreibt. Ihr Hauptanliegen ist, eine "kohärente Alternative" zu dieser der orthodoxen Grammatik folgenden Subjekt-PrädikatAnalyse zu entwickeln. Prosentenzen funktionieren so ähnlich wie Pronomen, mit dem wichtigen Unterschied allerdings, daß Prosentenzen in Sätzen die Positionen von Aussagesätzen einnehmen, während Pronomen die Positionen von Namen einnehmen. Die maßgebliche sprachliche Beziehung ist in diesem Zusammenhang die Beziehung der Anapher. Es ist insbesondere die Rolle, die Pronomen spielen, wenn sie anaphorisch verwendet werden, die für die Autoren das Modell für Prosentenzen ist. Ein als eine Anapher verwendetes Pronomen hat ein "Antezedens", wie man in der Linguistik den Ausdruck nennt, auf den sich das Pronomen zurückbezieht und den es wiederaufnimmt. Und es ist dieses Antezedens, durch welches das Pronomen seinen semantischen Inhalt erhält oder erbt. Grover, Camp und Belnap unterscheiden zwei Arten von anaphorischen Pronomen, die eine ganz unterschiedliche semantische Funktionsweise haben, zum einen "Pronomen der Faulheit", wie sich die Autoren Peter Geach folgend ausdrücken39, und zum anderen quantifikatorische Pronomen. Betrachten wir als Beispiel den Satz:
(1) Maria wollte sich ein Auto kaufen, aber sie konnte sich nur ein Moped leisten. In diesem Satz ist "sie" ein Pronomen der Faulheit, das auf sein Antezedens, den Namen "Maria", zurückverweist. Die Anapher "sie" weist zwar auf "Maria" zurück, aber dennoch wird "sie" in diesem Satz nicht verwendet, um über "Maria" zu reden, sondern über Maria. Ein solches Pronomen der Faulheit erwirbt seinen Inhalt, seinen Referenten, von seinem Antezedens; es vertritt sein Antezedens. Darüber hinaus kann ein Pronomen der Faulheit häufig, wenn auch nicht immer, durch sein Antezedens ersetzt werden, ohne daß sich der Inhalt des ursprünglichen Satzes verändert. So kann zum Beispiel (1) paraphrasiert werden als:
(la) Maria wollte sich ein Auto kaufen, aber Maria konnte sich nur ein Moped leisten. 39
Vgl. Geach, 1968, S. 124-5
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I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
Schauen wir uns jetzt ein Beispiel fiir eine quantifikatorische Verwendung von anaphorischen Pronomen an.
(2) Wenn ein Auto heißläuft, dann kaufe es nicht. Das Antezedens des Pronomens ist hier der quantifikatorische Ausdruck "ein Auto". Die logische Form von (2) ist:
(2a) Für jedes Auto x, wenn x heißläuft, dann kaufe x nicht. Die Beziehung zwischen der Anapher und seinem Antezedens ist in diesen Fällen und in den Fällen der Faulheit sehr verschieden. Ein quantifikatorisches Pronomen kann, wie wir anhand von (2) sehen können, nicht durch sein Antezedens ersetzt werden, ohne den Inhalt des Satzes gravierend zu verändern. Ein quantifikatorisches Pronomen übernimmt von seinem Antezedens keinen Referenten, weil sein Antezedens kein referentieller Ausdruck ist. Was ein solches Pronomen übernimmt, ist vielmehr, wie die Autoren sich ausdrücken, eine "Familie anaphorischer Substituenden", die die Instanzen des betreffenden quantifizierten Satzes bestimmen. Grover, Camp und Belnap weisen darauf hin, daß Anaphern nicht immer nominale Positionen einnehmen. Außer anaphorischen Pronomen gibt es auch anaphorische Proverben, anaphorische Proadjektive, anaphorische Proadverbien und eben, worauf es ihnen besonders ankommt, anaphorische Prosentenzen. Alle diese Anaphern sind Arten der Gattung "Proform", wobei die Art einer Proform durch die Position, die sie in einem Satz einnimmt, bestimmt wird. Die naheliegende Frage ist natürlich, ob es denn in der deutschen oder der englischen Sprache anaphorische Prosentenzen, das heißt, Anaphern, die Satzpositionen einnehmen, überhaupt gibt, und wenn ja, welche Form sie haben. Oder muß die deutsche Sprache erst entsprechend erweitert werden? Diese letzte Frage verneinen die Verfechter der Prosententialen Theorie der Wahrheit nachdrücklich. Eine ihrer zentralen Behauptungen ist, daß es im Deutschen zwar keine atomaren, das heißt, aus einem einzigen Wort bestehenden Prosentenzen, wohl aber komplexe Prosentenzen gibt, nämlich die Ausdrücke "es ist wahr" und "das ist wahr". Analog den anaphorischen Pronomen unterscheiden die Autoren zwei Arten von anaphorischen Prosentenzen, Prosentenzen der Faulheit und quantifikatorische Prosentenzen. Beginnen wir mit den Prosentenzen der Faulheit. Ein Beispiel ist:
Maria: Schnee ist weiß. Anna: Das ist wahr.
2. Die Prosententiale Theorie der Wahrheit
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Die Idee ist, daß hier Marias Aussage das Antezedens von Annas Äußerung der anaphorischen Prosentenz "das ist wahr" ist und daß diese Prosentenz ihren semantischen Inhalt von ihrem Antezedens erwirbt oder erbt. Der Ausdruck "das" in Annas Äußerung ist somit kein referentieller Ausdruck, der sich auf das, was Maria sagte, bezieht, und der Ausdruck "ist wahr" wird von Anna nicht als ein Prädikat verwendet, um dem, was Maria sagte, die Eigenschaft der Wahrheit zuzuschreiben. Vielmehr ist das Wahrheitsprädikat in dem Ausdruck "das ist wahr" gar nicht isolierbar; es ist ein "unvollständiges Symbol", ein Symbol, das keine unabhängige Bedeutung besitzt. "Wahr" ist demnach als Bestandteil der unstrukturierten Ganzheit "das ist wahr", als Fragment einer Prosentenz, gar kein echtes Prädikat. Sojedenfalls behaupten die Autoren. Sie räumen ein, daß sie keinen Fall gefunden haben, in dem "das ist wahr" als eine quantifikatorische Prosentenz gebraucht wird. Aber sie insistieren darauf, daß "es ist wahr" oder "er ist wahr" offenkundig quantifikatorisch gebraucht werden können, wie zum Beispiel in:
Für jeden Satz, wenn Karl behauptet, daß er wahr ist, dann ist er wahr. Dieser Satz soll die Tiefenstruktur des Satzes "Alles, was Karl behauptet, ist wahr" wiedergeben, auf den Ramsey die Aufmerksamkeit lenkte und der eine so heftige Kontroverse über die Qualifikation über Satzvariablen entfacht hat. Für ihre Behauptung, daß "das ist wahr" und "es ist wahr" Prosentenzen sind, spricht den Autoren zufolge, daß diese Ausdrücke Satzpositionen einnehmen, daß sie anaphorisch gebraucht werden, daß sie allgemein sind, weil sie den Inhalt ihrer Antezedenzien übernehmen, was immer dieser Inhalt sein mag, und daß die Begriffe eines Antezedens und eines anaphorischen Substituenden zu ihnen passen. Die Autoren wollen sich natürlich nicht damit begnügen, zu zeigen, daß "das ist wahr" und "es ist wahr" manchmal als Prosentenzen benutzt werden. Sie wollen sich auch nicht damit begnügen, zu zeigen, daß diese Ausdrücke immer als Prosentenzen benutzt werden. Ihr eigentliches Ziel ist es vielmehr, zu zeigen, daß alle Verwendungen von "wahr" und seinen Derivativen im Rekurs auf "das ist wahr" oder "es ist wahr" analysiert werden können. Sie wollen uns davon überzeugen, daß alle sprachlichen Konstruktionen, in denen "wahr" außerhalb einer Prosentenz vorkommt, eine irreführende Oberflächengrammatik haben. Zu diesem Zweck entwickeln sie eine Sprache, Deutsch*, die angeblich ein Fragment des Deutschen ist.40 Deutsch* enthält das Wahrheitsprädikat nicht als einen abtrennbaren Teil, sondern statt dessen die genannten Prosentenzen. Um gewissen temporalen, modalen und anderen Modifikationen Rechnung zu tragen, enthält Deutsch* zusätzlich noch einige spezielle Satzverknüpfungen, wie "eswar-wahr,-daß", "es-könnte-wahr-sein,-daß", "es-ist-nicht-wahr,-daß", "es-ist40
Vgl. Grover, Camp & Belnap, 1975, S.92-7
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I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
falsch,-daß", etc. Die Bindestriche sollen dabei jeweils hervorheben, daß das Wahrheitsprädikat im Deutschen* nicht isolierbar ist. Beispielsweise wird die modale Modifikation in dem Satz Das könnte wahr sein von den Autoren wiedergeben durch:
mittels
der
entsprechenden
speziellen
Verknüpfung
Es-könnte-wahr-sein,-daß das wahr ist. Und die Tiefenstruktur eines Satzes, der Falschheit prädiziert, wie Das ist falsch wird von den Autoren wiedergegeben durch: Es-ist-falsch,-daß das wahr ist. Zugespitzt lautet die These der Autoren, daß Deutsch ohne wesentlichen Verlust in Deutsch* übersetzt werden kann. Alle Sätze, die "wahr" enthalten, haben angeblich eine Tiefenstruktur, in der eine Prosentenz innerhalb des Bereichs einer der genannten Satzverknüpfungen vorkommt. Wenn Deutsch* kein Fragment, sondern eine Erweiterung von Deutsch wäre, dann würde diese These offensichtlich in sich zusammenfallen. Wie plausibel ist jedoch die Annahme, daß Deutsch* in der Tat ein Fragment des Deutschen ist? Beginnen wir mit den speziellen Satzverknüpfungen des Deutschen*, die den Ausdruck "wahr" enthalten, obwohl sie eigentlich keine Prosentenzen sein sollen. Die Autoren machen geltend, daß diese Verknüpfungen nur eingeführt wurden, um die Tiefenstruktur von Deutsch* auf der Oberfläche erscheinen zu lassen.41 Statt Prosentenzen mit Verknüpfungen zu verbinden, hätte Deutsch* es auch erlauben können, die Prosentenzen selbst zu modifizieren, so wie es den Autoren zufolge im Deutschen geschieht. Statt "es-könnte-wahr-sein,-daß das wahr ist" hätte Deutsch* auch "das könnte wahr sein" enthalten können, wenn nur irgendwie klar gewesen wäre, daß es sich hierbei um eine modifizierte Prosentenz handelt. Damit aber legen sich die Autoren auf die Behauptung fest, daß solche Ausdrücke wie "das könnte wahr sein", "das ist wahrscheinlich wahr" und "es wird wahr sein" im Deutschen als modifizierte Prosentenzen fungieren. Es gibt also nicht nur die beiden Prosentenzen "das ist wahr" und "es ist wahr", wie sie zunächst behaupten, sondern, da diese Prosentenzen in verschiedenen Weisen modifiziert werden können, sehr viele. Plötzlich wimmelt es von Prosentenzen, die wir angeblich immer schon gebraucht, aber nicht als solche 41
Ibid., S.97-9
2. Die Prosententiale Theorie der Wahrheit
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erkannt haben. Ist es aber wirklich glaubwürdig, daß ein so komplexer Ausdruck wie etwa "das ist wahrscheinlich wahr" die Funktion einer einfachen Anapher erfüllt? Die modifizierten nicht minder als die unmodifizierten Prosentenzen sollen unstrukturierte Ganzheiten sein; der Bestandteil "wahr" soll in ihnen keine selbständige Bedeutung besitzen. Aber liegt es nicht auf der Hand, daß "es-warwahr,-daß", "es-wird-wahr-sein,-daß" und "es-könnte-wahr-sein,-daß" ein Bedeutungselement teilen? Die Prosententiale Theorie der Wahrheit bleibt uns eine Erklärung dieses gemeinsamen Bedeutungselements schuldig. Ein anderer Einwand gegen diese Theorie betrifft nicht erst die modifizierten Prosentenzen. Er macht geltend, daß diese Theorie die Parallelität von "wahr" mit anderen echten Prädikaten, wie beispielsweise "überraschend", "übertrieben" oder "tiefsinnig", die Propositionen oder Aussagen zugeschrieben werden, aufgeben muß. Betrachten wir den folgenden kurzen Dialog: Karl: Alles ist relativ. Anna: Das ist tiefsinnig und das ist wahr. In dem ersten Teilsatz von Annas Antwort, "das ist tiefsinnig", nimmt das Pronomen demonstrativ auf Karls Aussage Bezug, und das Prädikat charakterisiert diese Aussage als tiefsinnig. Warum, so fragt dieser Einwand, soll der zweite Teilsatz von Annas Antwort, "das ist wahr", nicht ganz analog verstanden werden, nämlich so, daß das Pronomen auf genau dieselbe Aussage Bezug nimmt und daß das Prädikat die Eigenschaft der Wahrheit ausdrückt, die Anna dieser Aussage zuschreibt. Warum soll der zweite Teilsatz ganz anders, nämlich als eine Prosentenz, interpretiert werden? Die Autoren antworten, daß "tiefsinnig" und "überraschend" sicherlich echte Prädikate sind, daß aber die Pronomen in "das ist tiefsinnig" oder in "das ist überraschend" gar nicht, wie der Einwand unterstellt, auf Aussagen, Behauptungen oder Propositionen Bezug nehmen. 42 Aussagen im Sinn dessen, was ausgesagt wird, im Sinn ihres Inhalts, sind also den Autoren zufolge nicht das, wovon wir sagen, daß es tiefsinnig oder überraschend ist. Worauf wir ihnen zufolge solche Prädikate wie "tiefsinnig" und "überraschend" vielmehr anwenden, sind Akte des Aussagens oder des Behauptens. Aber ist das richtig? Wenn eine Person mir mitteilt, daß es siebenbeinige Hunde gibt, dann scheint es doch der Inhalt ihrer Aussage zu sein, der überraschend ist, und nicht, daß sie das gesagt hat, was sie gesagt hat, nicht der Akt des Behauptens, den sie vollzogen hat. Und kann wirklich allen Ernstes bestritten werden, daß es Theorien selbst sind, die Aussagen, aus denen sie bestehen, die tiefsinnig sind, und nicht die Akte des Niederschreibens, die ihre Erfinder vollzogen haben? Manche Prädikate, wie etwa "inkonsistent", ergeben überhaupt keinen Sinn, wenn sie auf Akte anstatt auf Aussagen angewandt werden. 42
Ibid., S. 104-7
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I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
Ferner, und dies ist mein letzter Einwand gegen die Prosententiale Theorie, können wir den Autoren die Frage nicht ersparen, wie gut sie ihre zentrale Behauptung, daß es in der deutschen Sprache überhaupt Prosentenzen der Quantifikation gibt, begründen. Den Kern ihrer Wahrheitstheorie bildet eine formale Theorie der Satzquantifikation. Ich bezweifle natürlich nicht, daß ein respektables formales System aufgebaut werden kann, in dem es Satzquantoren gibt, die über Satzpositionen laufen. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob die Formeln eines solchen Systems in der deutschen Sprache in einer Weise interpretiert werden können, die es nicht erfordert, auf das Wahrheitsprädikat zurückzugreifen. Die Autoren versichern uns, daß dies möglich ist, weil Deutsch bereits die Prosentenzen "das ist wahr" und "es ist wahr" enthält, die uns mit den gesuchten Interpretationen von Formeln, die gebundene Satzvariablen enthalten, versehen. Aber wie rechtfertigen sie die für ihre gesamte Theorie so wichtige Behauptung, daß Deutsch diese Prosentenzen tatsächlich enthält? Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß sie kein einziges unabhängiges, ihre eigene Theorie nicht voraussetzendes Argument für die Existenz von Prosentenzen der Quantifikation geben. Sie argumentieren lediglich, daß gebundene Prosentenzen nötig sind, damit Formeln, die Satzquantoren enthalten, im Deutschen angemessen interpretiert werden können. Und, da sie "das ist wahr" und "es ist wahr" für die einzigen erwägenswerten Kandidaten halten, beschreiben sie nur, wie es wäre, wenn diese Ausdrücke im Deutschen als Prosentenzen fungieren würden. Ich halte die Auffassung, daß "das ist wahr" und "es ist wahr" Prosentenzen und "ist wahr" und "ist falsch" somit "unvollständige Symbole" sind, für intuitiv äußerst unplausibel. Warum sollten wir die traditionelle Subjekt-PrädikatAnalyse dieser Sätze aufgeben? Wenn Anna mit "Das ist wahr" auf Marias Äußerung von "Schnee ist weiß" antwortet, dann, so haben wir gesehen, liegt es nahe zu sagen, daß "das" ein singulärer Terminus ist, der sich auf den Inhalt von Marias Äußerung bezieht, und daß "ist wahr" ein Prädikat ist, das diesen Inhalt in einer bestimmten Weise charakterisiert. Es ist eine extrem kontraintuitive Konsequenz der Prosententialen Theorie der Wahrheit, daß wir Aussagen und Überzeugungen von Personen nicht zum Gegenstand unseres Diskurses machen und sie in der Dimension von wahr und falsch bewerten können. Wir könnten von Aussagen weder sagen, daß sie wahr sind, noch, daß sie falsch sind. Wenn jemand behauptet, daß Schnee schwarz ist, und ich darauf mit "Das ist falsch" antworte, dann rede ich dieser Theorie zufolge nicht über seine Behauptung, sondern äußere lediglich einen Satz, der die Negation seiner Behauptung ist. "Wahr" und "falsch" sind den Autoren zufolge eben keine metasprachlichen Prädikate. Grover, Camp und Belnap heben als einen besonderen Vorzug ihrer Theorie hervor, daß ihr zufolge das prosententiale Wahrheitsprädikat auf der Ebene der
2. Die Prosententiale Theorie der Wahrheit
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Objektsprache, nicht auf der Ebene der Metasprache fungiert. 43 Betrachten wir nochmals unser altes Beispiel:
Maria: Schnee ist weiß. Anna: Das ist wahr. Annas Äußerung von "Das ist wahr" sagt den Autoren zufolge nichts über ihr Antezedens, den Satz "Schnee ist weiß", sondern sie sagt etwas über eine außersprachliche natürliche Art, über Schnee. Ja, sie machen sogar geltend, daß allein die Prosententiale Theorie in der Lage ist, zu erklären, weshalb wir mittels des Gebrauchs von "wahr" gewöhnlich über außersprachliche Entitäten, über die Welt, reden. 44 Wir werden jedoch schon bald sehen, daß auch solche Theorien, die "wahr" syntaktisch als ein metasprachliches Prädikat behandeln, mit Fug und Recht beanspruchen, erklären zu können, daß wir, wenn wir dieses Prädikat benutzen, häufig auf die Welt gerichtet sind. Zur Welt gehören jedoch auch Äußerungen von Personen und ihre Meinungen oder Überzeugungen. Es ist ein schwerwiegendes Manko der Prosententialen Theorie, daß sie dem Umstand nicht Rechnung zu tragen vermag, daß das Prädikat "wahr" ein wichtiges Instrument für die Beschreibung und Erklärung dieses für unsere alltägliche Praxis so wesentlichen Teils der Welt ist. Wie wichtig die Rolle ist, die "wahr" in diesem Zusammenhang spielt, werden wir später, in unserer langen Auseinandersetzung mit Davidsons Theorie, noch sehen. Metasprachliche Verwendungen der Sprache lassen sich keineswegs als bloß "technische" Verwendungen von technischen Philosophen abtun. 45 Die Autoren halten sich zugute, daß ihre Theorie gewisse Einsichten Strawsons zu erklären vermag. 46 Strawson hat ebenfalls bestritten, daß wir durch den Gebrauch von Sätzen, die das Wahrheitsprädikat enthalten, Metaaussagen machen. 47 Wenn wir den Satz ""Schnee ist weiß" ist wahr" äußern, dann sagen wir Strawson zufolge überhaupt nichts über den Satz "Schnee ist weiß" oder über die Aussage, die wir durch seine Äußerung treffen. Im Gegenzug stellte Strawson die These auf, daß Äußerungen von Sätzen, die einem Wahrheitsträger die Eigenschaft der Wahrheit zu prädizieren scheinen, in Wirklichkeit performative Äußerungen sind. Deshalb lenkte er die Aufmerksamkeit auf die performativen Rollen, die diese Sätze in der sprachlichen Kommunikation spielen, auf die verschiedenen Arten von Sprechakten, die wir ausführen, wenn wir solche Sätze benutzen: bestätigen, billigen, einräumen, Übereinstimmung ausdrücken, etc. In allen diesen Fällen 43 44 45 46 47
Ibid., S. 114 Vgl. Grover, 1992, S.13-4 Vgl. Grover, Camp & Belnap, 1975, S. 121-22 Vgl. ibid., S. 108-9 Vgl. Strawson, 1949; 1971a
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I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
verweist "wahr" auf eine Aussage, die ein Sprecher schon getroffen hat oder die er noch treffen wird. Die Äußerung ""Schnee ist weiß" ist wahr" besagt im Grunde dasselbe wie die Äußerung "Ich stimme zu, daß Schnee weiß ist". Die beiden Ausdrücke "ist wahr" und "ich stimme zu, daß" erfüllen hier im wesentlichen dieselbe Funktion. Sie signalisieren beide die Ausführung einer Handlung, nämlich des Aktes der Zustimmung. Aber sie beschreiben diese Handlung nicht. Grover, Camp und Belnap betonen, daß die prosententiale Auffassung des Wahrheitsprädikats begreiflich macht, weshalb durch seinen Gebrauch alle diese verschiedenen Sprechakte vollzogen werden können. Denn Prosentenzen sind besonders nützlich, um die erforderlichen Zusammenhänge mit dem, was andere Personen gesagt haben, herzustellen. Wenn man eine anaphorische Prosentenz der Faulheit gebraucht, dann macht man klar, daß man nichts Neues behaupten will, denn man erkennt dadurch zwangsläufig an, daß sie ein Antezedens hat, dessen semantischen Inhalt sie übernimmt. Die Autoren beklagen sicherlich zu Recht, daß die Philosophen dem wichtigen Phänomen der anaphorischen Referenz bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Aber vermag denn nur die Prosententiale Theorie mit dem Phänomen der anaphorischen Referenz, die wir durch den Gebrauch des Ausdrucks "das ist wahr" vollziehen, zu Rande zu kommen? Die Autoren stellen sich selbst dem Einwand, daß auch der Ausdruck "das" allein in "das ist wahr" als die Anapher aufgefaßt werden könnte und daß diese Auffassung die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Teilen eines Diskurses genauso gut erklären könnte wie ihre eigene. 48 Diese Auffassung weisen die Autoren mit der Begründung zurück, daß ihr zufolge "das" als ein referentieller Terminus interpretiert wird. Den Ausdruck "das" referentiell zu interpretieren, so daß er sich auf eine Proposition oder einen Satz bezieht, erfordert aber, "ist wahr" als ein Prädikat zu betrachten, dessen Funktion es ist, der Entität, für die "das" steht, eine Eigenschaft zu attribuieren. Es ist jedoch eines der Hauptziele der Prosententialen Theorie zu zeigen, daß Wahrheit keine Eigenschaft ist. Und da, wenn Wahrheit keine Eigenschaft ist, auch nicht mehr gefragt werden kann, wovon denn Wahrheit eine Eigenschaft ist, erübrigt sich dann selbstverständlich auch die Frage nach den Wahrheitsträgern. Interessanterweise begann sich Grover einige Jahre später intensiver mit der Frage zu befassen, ob Wahrheit nicht doch als eine Eigenschaft angesehen werden kann. 49 Sie untersuchte die Möglichkeit, ein prosententiales Wahrheitsprädikat zu benutzen, um geeignete Extensionen für "wahr" und "falsch" zu definieren. Sinnvolle Satzvorkommnisse waren ihre Kandidaten für die Mitgliedschaft in den Extensionen von "wahr" und "falsch": Ein Satzvorkommnis gehört genau dann zur Extension von "wahr", wenn es wahr ist, und es gehört genau dann zur Extension von "falsch", wenn es falsch ist. Es 48 49
Vgl. Grover, Camp & Belnap, 1975, S.107-8 Vgl. Grover, 1980, S.225-252
2. Die Prosententiale Theorie der Wahrheit
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ist für einen Prosententialisten also ein leichtes, eine Extension für das Wahrheitsprädikat zu erzeugen. Und eine Extension, so fuhr sie kurzerhand fort, rechtfertigt die Behauptung, daß es eine Eigenschaft der Wahrheit gibt. Der prosententiale Gebrauch von "wahr" blieb für Grover weiterhin grundlegend, aber aus diesem Gebrauch kann, so glaubte sie nun, der die Eigenschaft der Wahrheit zuschreibende metasprachliche Gebrauch dieses Ausdrucks abgeleitet werden. Kurz danach änderte Grover ihre Meinung nochmals. 50 Eine Extension, zu dieser Überzeugung gelangte sie jetzt, ist für eine Eigenschaft doch nicht hinreichend. Wenn der Umstand, daß ein Prädikat eine Extension hat, allein schon dafür hinreichend wäre, daß es eine Eigenschaft ausdrückt, dann könnten wir beliebige Eigenschaften einfach dadurch erzeugen, daß wir Prädikate mit willkürlich bestimmten Extensionen einführen. Wir könnten festsetzen, daß der Buchstabe "a" genau dann zur Extension von "bläh" gehört, wenn Schnee weiß ist, daß der Buchstabe "b" genau dann zur Extension von "bläh" gehört, wenn es Leben auf dem Mars gibt, und daß der Buchstabe "c" genau dann zur Extension von "bläh" gehört, wenn sich Licht in geraden Linien fortpflanzt. Gewiß, "bläh" hat eine Extension. Aber ist Blahheit eine Eigenschaft? Grover neigt inzwischen dazu, diese Frage zu verneinen. Zumindest ist Blahheit, so macht sie jetzt geltend, keine "interessante" Eigenschaft. Ich stimme mit Grover darin überein, daß es nicht gerechtfertigt ist, automatisch von der Existenz eines Prädikats, das auf einige Dinge zutrifft, auf die Existenz einer Eigenschaft, die mit dem Prädikat semantisch korreliert ist, zu schließen. Ich lehne diesen Schluß ab, weil ich glaube, daß die Frage, welche Eigenschaften es in der Welt gibt, a posteriori, auf der Basis unserer gesamten Wissenschaften und nicht a priori, durch Reflexion auf unseren Gebrauch von Prädikaten, zu entscheiden ist. Darauf werden wir noch zurückkommen. Aber wie steht es in dieser Hinsicht mit Grover? Es fällt auf, daß eine systematische Diskussion der Beziehung zwischen Prädikaten und Eigenschaften bei ihr gänzlich fehlt. Insbesondere bleibt die grundlegende Frage, was denn eine Eigenschaft überhaupt ist, unbeantwortet. Welche Bedingungen für eine Eigenschaft auch notwendig und hinreichend sein mögen, die Behauptung, auf die Grover hinauswill, ist jedenfalls die Behauptung, daß Wahrheit keine oder zumindest keine interessante oder substantielle Eigenschaft ist. Eine interessante Eigenschaft, so erfahren wir von ihr, ist eine Eigenschaft, die eine explanatorische Rolle spielt. Sie argumentiert, daß wir eine interessante Eigenschaft der Wahrheit nicht brauchen, weil sie letztlich nichts erklären könnte, was nicht ebensogut auch durch prosententiale Wahrheitsprädikatkonstruktionen erklärt werden kann. Es gibt ihr zufolge keinen Bereich von Phänomenen, deren Erklärung die Einführung einer genuinen Eigenschaft der Wahrheit nötig macht. Insbesondere brauchen wir, so hält sie ihren antideflationistischen Opponenten entgegen, keine Eigenschaft der Wahrheit zu postulieren, um den Erfolg unserer Theorien und unserer 50
Vgl. Grover, 1981, S.69-103
24
I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
Meinungen zu erklären. Deshalb zieht Grover es jetzt vor, Wahrheit eine "QuasiEigenschaft" zu nennen.51 Wir haben gesehen, daß die Frage, ob Wahrheit eine Eigenschaft ist oder nicht, auch schon Frege viel Kopfzerbrechen bereitete. Es gab ihm zu denken, daß mit jeder Eigenschaft eines Dinges die einem Gedanken zukommende Eigenschaft der Wahrheit verknüpft sein soll und daß das Wahrheitsprädikat inhaltlich redundant zu sein scheint. Die Wahrheit schien ihm jedenfalls keine Eigenschaft im "sonst üblichen Sinne" zu sein.
3. Die Disquotationstheorie
der Wahrheit
Der Prosententialen Theorie zufolge ist das Wahrheitsprädikat zwar inhaltlich redundant, aber dennoch in einem wichtigen Sinn "absolut irredundant".52 Wir können, so machen ihre Verfechter geltend, mittels Prosentenzen Dinge sagen, die wir ohne sie nicht sagen könnten; sie können ohne Verlust von Ausdruckskraft aus der deutschen Sprache nicht eliminiert werden. Die Irredundanz von "wahr" ist jedoch eine logische Irredundanz; dieser Ausdruck versieht uns nicht mit den Ressourcen, um neue Themen zu diskutieren, um neue Kategorien zu benutzen oder um Dingen Eigenschaften oder Relationen zuzuschreiben.53 Die gegenwärtig sehr populäre, von so renommierten Philosophen wie W. V. Quine, Richard Rorty, Stephen Leeds, Scott Soames, Michael Williams und nicht zuletzt Paul Horwich vertretene Disquotationstheorie der Wahrheit stimmt mit der Prosententialen Theorie in einigen wesentlichen Punkten überein.54 Beide Theorien machen geltend, daß das Wahrheitsprädikat inhaltlich redundant, gleichwohl aber äußerst nützlich ist, weil es uns eine gewisse Ausdruckskraft verschafft, auf die wir in Kontexten, in denen wir generalisieren wollen, angewiesen sind. Aber es gibt auch wichtige Unterschiede zwischen beiden Theorien. Insbesondere, und dies halte ich aus den oben geschilderten Gründen für einen wesentlichen Vorzug, haben nach der Disquotationstheorie Sätze der Form "5 ist wahr" eine konventionelle Subjekt-Prädikat-Struktur. Wir müssen also nicht annehmen, daß wir einer grammatischen Täuschung unterliegen, wenn wir glauben, daß wir mittels eines Satzes dieser Form eine Aussage über den Satz s machen. "Wahr" ist kein unvollständiges Symbol. Die allgemeine Idee, die der Disquotationstheorie zugrunde liegt, kennen wir bereits: Ein Satz der Form "5 ist wahr" hat dieselbe Bedeutung oder denselben 51 52 53 54
Ibid., S.69 Vgl. Grover, Camp & Belnap, 1975, S.123 Vgl. ibid. Vgl. Quine, 1970, S. 10-13; 1990a, S.79-82; Rorty, 1986, S.333-355; Leeds, 1978; Soames, 1984; Williams, M., 1986; Horwich, 1982; 1990
3. Die Disquotationstheorie der Wahrheit
25
kognitiven Inhalt wie der Satz s. So sind dieser Theorie zufolge zum Beispiel die beiden Sätze ""Schnee ist weiß" ist wahr" und "Schnee ist weiß" semantisch äquivalent oder vermitteln, wie manchmal auch gesagt wird, dieselbe Information. Was aber bedeutet "Disquotation" eigentlich? Halten wir uns an Quine, auf dessen kanonische Formulierungen die meisten Anhänger dieser Theorie implizit oder explizit zurückgreifen. Quine sagt: The truth predicate is a reminder that, despite a technical ascent to talk of sentences, our eye is on the world. This cancellatoiy force of the truth predicate is explicit in Tarski's paradigm: "Snow is white" is true if and only if snow is white. Quotation marks make all the difference between talking about words and talking about snow. The quotation is a name of a sentence that contains a name, namely "snow", of snow. By calling the sentence true, we call snow white. The truth predicate is a device of disquotation.55 Das Wahrheitsprädikat ist ein Instrument des semantischen Aufstiegs und des semantischen Abstiegs. Wenn wir, so Quine, einen semantischen Aufstieg vollziehen und dem Satz "Schnee ist weiß" Wahrheit zuschreiben, dann schreiben wir dem Schnee Weiße zu. Das Wahrheitsprädikat versetzt uns in die Lage, von der Ebene der Rede über die Sprache auf die Ebene der Rede über die Welt zurückzukehren. Der Gebrauch von "wahr" signalisiert, daß, obwohl ein Satz erwähnt wird, unser Interesse dennoch nicht der Sprache, sondern der außersprachlichen Realität gilt. Das Zuschreiben der Wahrheit fegt sozusagen die Anführungszeichen hinweg und erzeugt einen Satz, mit dem wir, wenngleich wir auf einer sprachlichen Bezugsebene operieren, dennoch sagen können, daß Schnee weiß ist. Deshalb sagt Quine ganz lapidar: "Truth is disquotation", 56 Wahrheit ist Zitattilgung. Aber, diese Frage liegt nun sicherlich nahe, wozu brauchen wir dann überhaupt einen Begriff der Wahrheit? Wenn wir durch den Gebrauch des Satzes ""Schnee ist weiß" ist wahr" in Wirklichkeit über den Schnee reden, warum verwenden wir dann statt dessen nicht einfach den Satz "Schnee ist weiß"? Die typische Antwort der Disquotationalisten lautet, daß der semantische Aufstieg und der Gebrauch des Wahrheitsprädikats aus rein logischen Gründen erforderlich sind. Das Wahrheitsprädikat ist in solchen Situationen von unschätzbarem Wert, in denen Sätze nicht explizit gegeben sind. Manchmal möchten wir eine Einstellung zu einem geäußerten Satz ausdrücken, daß wir zum Beispiel glauben oder wünschen oder hoffen, daß das, was er aussagt, der Fall ist, ohne genau zu wissen, welcher Satz von dem betreffenden Sprecher verwendet wurde. In einer solchen Situation ermöglicht es uns "wahr", einen Satz zu formulieren, der in einer engen Beziehung zu dem Satz steht, den wir 55 56
Quine, 1970, S.12 Quine, 1990a, S.80
26
I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
aus irgendeinem Grund nicht rekonstruieren können und der unsere Einstellung angemessen zum Ausdruck bringt. Wir können beispielsweise sagen: "Das, was der Sprecher sagte, ist wahr". Insbesondere aber ist das Wahrheitsprädikat nach den Disquotationalisten in denjenigen Fällen erforderlich, in denen wir mit Bezug auf Satzpositionen verallgemeinern wollen. Beispielsweise benötigen wir das Wahrheitsprädikat in der deduktiven Logik, etwa um Schlußregeln rechtfertigen zu können, also um sagen zu können, daß sich in jedem Schluß einer bestimmten Art die Wahrheit von den Prämissen auf die Konklusion überträgt. Vornehmlich in dieser Funktion, Verallgemeinerung dieser Art zu ermöglichen, liegt die Nützlichkeit des Begriffs der Wahrheit. So sagt Soames: The importance of semantic ascent is illustrated by cases like (3), in which we want to generalize.
(3) a. Snow is white —• (Grass is blue —> Snow is white) b. The earth moves -> (The sun is cold —> The earth moves)
Each of these examples is something one could feel safe in asserting. However, if one wanted to get the effect of asserting all of them, one would have to quantify, replacing sentences with variables. In English such quantification is most naturally, though not inevitably, construed as first-order and objectual. Thus, if the variables are taken to range over sentences we need a metalinguistic truth predicate. Semantic ascent gives us
(4) For all sentences p, q (p is true -» (q is true
p is true))57
Da uns die Ressourcen fehlen, um unendliche Konjunktionen zu formulieren, sind wir nicht in der Lage, jedes einzelne Element von (3) zu behaupten. Der Begriff der Wahrheit löst das Problem, einen einzigen endlichen Satz zu finden, nämlich den Satz (4), der genau dann gerechtfertigt ist, wenn die unendliche Konjunktion aller Instanzen von (3) gerechtfertigt ist. Anders ausgedrückt, (4) und die unendliche Konjunktion aller Instanzen von (3) sind äquivalent. "Wahr" ist somit bloß ein Surrogat für unendliche Konjunktionen und, wie wir hinzufügen können, für unendliche Disjunktionen. Wenn unsere Sprache es uns erlaubte, unendliche Konjunktionen und unendliche Disjunktionen auszudrücken,
57
Soames, 1984. S.413
3. Die Disquotationstheorie der Wahrheit
27
dann würde nach den Disquotationalisten das Wahrheitsprädikat seine wohl wichtigste Funktion einbüßen.58 Die disquotationale und die prosententiale Konzeption der Wahrheit stimmen mithin darin überein, daß wir das Wahrheitsprädikat benötigen, um eine Verallgemeinerung mit Bezug auf Sätze zu bewerkstelligen.59 Aber die beiden Theorien unterscheiden sich in ihren formalen Repräsentationen dieser Generalisierungen. Quine macht, um die erstrebte Allgemeinheit zu erlangen, von schematischen Satzbuchstaben Gebrauch.60 Die zu diesem Zweck verwendeten Buchstaben "p", "q", "r", etc. sind bloße Platzhalter, die eine Position markieren, die ein beliebiger Satz einnehmen kann. Solche schematischen Buchstaben sind jedoch, so insistiert er, keine Variablen, denn sie können nicht durch einen Quantor gebunden werden. Deshalb ist es auch nicht nötig, ihnen Entitäten als Werte zuzuordnen. Nur echte bindbare Variablen erfordern einen Bereich von außersprachlichen Entitäten als ihre Werte, diejenigen Entitäten nämlich, die die Ausdrücke denotieren, die für die Variablen eingesetzt werden können, wenn die Variablen frei vorkommen. Die Auffassung, die Quine um jeden Preis vermeiden möchte, ist die Auffassung, daß Satzvariablen über Propositionen laufen, daß ihnen also Propositionen als Werte zugeordnet werden. Denn Quine ist bekanntermaßen kein Freund von Propositionen. Die Verfechter von Propositionen, verstanden als sprachunabhängige Bedeutungen von Sätzen, sind in seinen Augen dem Mythos vom mentalen Museum zum Opfer gefallen. Und er glaubt, diese Auffassung am besten dadurch vermeiden zu können, daß er bei Satzschemata Zuflucht sucht, bei denen die Notwendigkeit entfällt, anzugeben, für welche Art von Entitäten die Ausdrücke stehen, die für die Buchstaben eingesetzt werden können. Es gibt gewisse Ähnlichkeiten zwischen schematischen Satzbuchstaben und substitutioneil verstandenen Satzvariablen, denn beide Ausdruckstypen involvieren einen Bezug auf eine Menge zulässiger sprachlicher Substitutionen. Aber Quine ist ein dezidierter Verfechter der gewöhnlichen referentiellen Quantifikation, bei der es auf die Werte der Variablen ankommt, und nicht, wie bei der substitutioneilen Quantifikation, auf die Substituenden für die Variablen. Da die substitutionelle Deutung nicht erfordert, daß den Variablen ein Wertebereich außersprachlicher Gegenstände zugeordnet wird, befurchtet Quine, daß durch sie seine scharfe Unterscheidung zwischen schematischen Buchstaben und Variablen nivelliert wird. Quine gesteht durchaus zu, daß sich die referentielle Quantifikation in der Tat auf eine verständliche Weise substitutioneil reinterpretieren läßt - solange jeder Gegenstand einen Namen hat. Dies ist allerdings eine wichtige 58 59 60
Vgl auch Leeds, 1978, S.121 Vgl. Grover, 1990 Vgl. Quine, 1970, S.10-13; 1953, S.108-112
28
I Der wahrheitstheoretische Deflationismus
Einschränkung. Wenn das Universum namenlose Dinge enthält, dann können die beiden Auffassungen der Quantifikation zu gegensätzlichen Resultaten fuhren.61 Eine Existenzquantifikation könnte sich unter der substitutionellen Interpretation als falsch, unter der referentiellen Interpretation hingegen als wahr herausstellen, wenn es Gegenstände gibt, die den entsprechenden offenen Satz erfüllen, aber eben Gegenstände, die keinen Namen haben. Und eine Allquantifikation könnte sich unter der referentiellen Interpretation als falsch, unter der substitutioneilen Interpretation hingegen als wahr herausstellen, wenn es Gegenstände gibt, die den Satz falsifizieren, aber eben Gegenstände, die keinen Namen haben. Quines philosophischer Hauptvorwurf gegen die substitutioneile Deutung ist jedoch, daß sie die Dimension der "objektiven Referenz" preisgibt und somit ontologischen Fragen aus dem Wege geht.62 Für Quine hingegen spielt die objektuale Interpretation der Quantoren die Schlüsselrolle in der Ontologie. Angesichts des engen Zusammenhangs zwischen Qualifikation und Ontologie, von dem sein berühmtes Kriterium der ontologischen Verpflichtung - "To be ist to be the value of a variable"63 - beredtes Zeugnis ablegt, muß ihm eine Form der Qualifikation, die, wie er glaubt, ontologische Neutralität anstrebt, als suspekt erscheinen. Da Quines Gebrauch von Satzschemata unter den Disquotationalisten eher die Ausnahme als die Regel ist, habe ich mich in diesem Zusammenhang stärker an Soames orientiert. Soames schreckt, wie wir gesehen haben, vor der Quantifikation über Sätze nicht zurück, die, wie er anmerkt, "am natürlichsten, wenn auch nicht unvermeidlicherweise" als eine objektuale Quantifikation erster Stufe interpretiert wird. So verstandene Satzvariablen sind Individuenvariablen und somit singulare Termini; sie erstrecken sich über einen Bereich von Sätzen wohlgemerkt, von Sätzen, nicht von Propositionen. Die Gegenstände, über die hier quantifiziert wird, sind also sprachliche Gegenstände, Sätze. Folglich können Namen dieser Sätze für die Variablen eingesetzt werden. Aber es ist keineswegs nötig, die Sätze selbst als Namen zu betrachten. Wenn wir diese Interpretation der Quantoren auf Ramseys Beispiel "Alles, was er sagt, ist wahr" anwenden, dann erhalten wir die folgende Analyse: (1) Für alle x, wenn er x sagt, dann ist x wahr. "x" ist hier eine gewöhnliche Individuenvariable. Eine Instanz von (1) ist etwa (2) Wenn er sagt "Gras ist grün", dann ist "Gras ist grün" wahr. Wir sehen jetzt, in welchen Punkten sich Soames' Analyse der Verallgemeinerung, die wir, wie ich glaube, als repräsentativ für die 61 62 63
Vgl. Quine, 1970, S.91-93 Vgl. Quine, 1966, S.181-183 Vgl. Quine, 1953, S.103; 131
3. Die Disquotationstheorie der Wahrheit
29
Disquotationalisten betrachten können, von der Analyse, die die Prosententialisten vorschlagen, unterscheidet. Der wesentliche formale Unterschied ist, daß die gebundenen Variablen, die die Disquotationalisten benutzen, nominale Positionen einnehmen, während die Variablen, die die Prosententialisten verwenden, sententiale Positionen einnehmen. Damit hängt natürlich zusammen, daß eine Theorie den semantischen Aufstieg und ein explizites Wahrheitsprädikat benötigt, wogegen die andere Theorie sich lediglich auf Prosentenzen zu stützen versucht. Ein weiterer Kontrast ist, daß die Prosententialisten die Quantoren nicht objektual, sondern substitutioneil interpretieren, so daß mit jeder Satzvariablen eine Substitutionsklasse abgeschlossener Sätze verknüpft ist. Das Wahrheitsprädikat, so behaupten die Disquotationalisten, ist überflüssig, wenn es einem explizit gegebenen Satz zugeschrieben wird, da man genausogut diesen Satz selbst verwenden kann. Wir benötigen es jedoch, um sagen zu können, daß alle oder einige Sätze einer bestimmten Form wahr oder nicht wahr sind, oder daß jemandes Aussage, die wir aus dem einen oder anderen Grund nicht mehr präzise identifizieren können, wahr oder nicht wahr ist. Es sollte somit klar sein, daß die Disquotationstheorie den Begriff der Wahrheit nicht definiert, zumindest nicht in dem strengen Sinn von "Definition", der die Elimination des definierten Ausdrucks aus jedem Kontext, in dem er vorkommen kann, erfordert. Sie sagt uns nur, wie man das Wahrheitsprädikat eliminieren kann, wenn es auf einen Satz angewandt wird, der in Anfuhrungszeichen steht. Einige Disquotationalisten lassen es dabei bewenden. Andere, allen voran natürlich Quine, wollen eine echte, eine explizite Definition und wenden sich zu diesem Zweck Tarskis Theorie der Wahrheit zu. Aber auch die meisten deijenigen Verfechter der Disquotationstheorie, die nicht davon überzeugt sind, daß eine zufriedenstellende Spezifikation der Bedeutung oder des Gebrauchs eines Prädikats die Form einer eliminativen Definition annehmen muß, berufen sich in der einen oder anderen Weise auf Tarskis Werk. Deshalb wollen auch wir unser Augenmerk jetzt auf Tarskis Theorie richten.
II
Wahrheit definiert: Tarskis Leistung Tarskis Schriften zum Wahrheitsbegriff zählen zu den einflußreichsten Arbeiten sowohl in der Logik als auch in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Nicht nur bilden seine Methoden, Erfüllung und Wahrheit zu definieren, einen festen Bestandteil der zeitgenössischen Logik; auch in der modernen Philosophie hat keine andere Theorie der Wahrheit eine solche Wirkung und Verbreitung erzielen können wie diejenige Tarskis, die insbesondere die formale Semantik, die Philosophie der Logik und die Philosophie der Sprache ganz maßgeblich bestimmt hat. Von Beginn an jedoch hat Tarskis Wahrheitstheorie recht kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Nicht natürlich, was die Richtigkeit seiner formalen Resultate anbelangt. Sie sind unbestritten. Wohl aber, was ihre philosophische Signifikanz betrifft. Die Zweifel konzentrieren sich vornehmlich auf die Frage, ob oder in welchem Sinn Tarskis Theorie überhaupt eine Theorie der Wahrheit ist. Während einige Philosophen, Popper etwa1, behaupten, daß Tarskis Theorie endgültig das Problem der Natur der Wahrheit gelöst habe, wird sie von anderen Philosophen hinsichtlich dieser Frage als ganz irrelevant eingestuft. So glaubt Putnam, trotz des großen Respekts, den er Tarskis formalen Errungenschaften zollt, daß die Wahrheitsprädikate, die Tarski definiert, nichts mit unserem intuitiven Begriff der Wahrheit zu tun haben und daß sie deswegen für die Beschreibung der Semantik natürlicher Sprachen ungeeignet sind. Sein hartes Urteil lautet: But the concern of philosophy is precisely to discover what the intuitive notion of truth is. As a philosophical account of truth, Tarski's theory fails as badly as it is possible for an account to fail.2 Im folgenden werde ich versuchen, die Frage nach der philosophischen Relevanz von Tarskis Wahrheitstheorie zu beantworten. Dazu ist es zunächst erforderlich, die wesentlichen Elemente dieser Theorie mit der nötigen Sorgfalt darzustellen und sich mit den Problemen, auf die sie reagiert, und den Zielen, die sie verfolgt, vertraut zu machen. Tarskis wichtigstes Werk über den Wahrheitsbegriff, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, beginnt folgendermaßen. Vorliegende Arbeit ist fast gänzlich einem einzigen Problem gewidmet, nämlich dem der Definition der Wahrheit; sein Wesen besteht darin, dass man - im Hinblick auf
1 2
Vgl Popper, 1935, S.219, Fn 1; 1983, S.273-5 Putnam, 1994a, S.333
1. Inhaltliche Adäquatheit
31
diese oder jene Sprache - eine sachlich zutreffende und formal korrekte Definition des Terminus "wahre Aussage" zu konstruieren hat.3 Tarskis eigentliches Problem ist also die Konstruktion einer exakten Definition der Wahrheit, einer Definition, die zwei Bedingungen erfüllen muß: Sie muß zum einen "sachlich" oder "inhaltlich" adäquat sein, und sie muß zum anderen "formal korrekt" sein. Die erste Bedingung schränkt den möglichen Inhalt, die zweite die mögliche Form einer jeden befriedigenden Definition ein.
1. Inhaltliche
Adäquatheit
Da der Begriff der Wahrheit bereits in der Alltagssprache vorkommt, liegt es für Tarski nahe, von einer Betrachtung dieser vertrauten, umgangssprachlichen Verwendungsweise des Ausdrucks "wahr" auszugehen. Tarskis Projekt ist es jedoch nicht, eine deskriptive Analyse durchzuführen; es geht ihm nicht darum, alle Facetten der gewöhnlichen Verwendungsweisen dieses Ausdrucks sorgfältig zu beschreiben. Den Begriff der Wahrheit, den wir in der Umgangssprache benutzen, hält Tarski für mehrdeutig, unpräzise, ja sogar für inkohärent. Aus diesem Grunde richtet er sein Interesse auf eine einzige Bedeutung von "wahr", diejenige Bedeutung nämlich, auf die die "klassische Auffassung der Wahrheit" abzielt und die überdies seiner Meinung nach mit dem überwiegenden umgangssprachlichen Gebrauch des intuitiven Wahrheitsbegriffs übereinstimmt. So sagt Tarski in seinem klassischen Aufsatz: Ich möchte nur erwähnen, dass es sich in der ganzen Arbeit ausschließlich darum handelt, die Intentionen zu erfassen, welche in der sog. "klassischen" Auffassung der Wahrheit enthalten sind ("wahr - mit der Wirklichkeit übereinstimmend") im Gegensatz z.B. zu der "utilitaristischen" Auffassung ("wahr - in gewisser Weise nützlich").4 Die klassische Auffassung der Wahrheit, um die es ihm geht, ist demnach die Übereinstimmungstheorie oder die Korrespondenztheorie der Wahrheit, derzufolge, grob gesprochen, eine Aussage genau dann wahr ist, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder der Wirklichkeit korrespondiert. An einer anderen Stelle betont Tarski, daß sich seine Definition auf die "klassische aristotelische Konzeption der Wahrheit" stützt, die in Aristoteles' berühmtem Diktum ihren Ausdruck gefünden hat: Von etwas, das ist, zu sagen, daß es nicht ist, oder von etwas, das nicht ist, daß es ist, ist falsch, während von etwas, das ist, zu sagen, daß es ist, oder von etwas, das nicht ist, daß es nicht ist, ist wahr.5
3 4 5
Tarski, 1983b, S.448 Ibid., S.448 Vgl. Tarski, 1944, S.342-343
32
II Wahrheit definiert: Tarskis Leistung
Auch hier stellt Tarski einen sehr engen Zusammenhang zwischen der klassischen Konzeption der Wahrheit und der Korrespondenztheorie der Wahrheit her, denn er sagt, daß die Ansicht, daß die Wahrheit eines Satzes darin besteht, daß er der Wirklichkeit korrespondiert oder mit ihr übereinstimmt, eine moderne Variante der klassischen Konzeption ist. Und er fugt hinzu, daß wir zum selben Zweck auch sagen könnten, daß ein Satz wahr ist, wenn er einen bestehenden Sachverhalt bezeichnet. 6 Mit keiner dieser Formulierungen ist Tarski jedoch wirklich einverstanden, denn sie alle genügen hinsichtlich ihrer Genauigkeit und Klarheit noch nicht seinen eigenen Standards, obwohl dies, wie er anmerkt, für die ursprüngliche, aristotelische viel weniger als für die moderneren Varianten gilt. Mit der Bedingung der inhaltlichen Adäquatheit will Tarski also sicherstellen, daß eine akzeptable Definition der Wahrheit mit dem rationalen Kern des herkömmlichen Gebrauchs dieses alten Begriffs, den er in dem Korrespondenzgedanken findet, in Einklang steht. Tarski glaubt, daß der Versuch, eine "semantische" Definition der Wahrheit zu konstruieren, der natürlichste Versuch ist, eine korrekte Definition der Wahrheit für die Aussagen der Umgangssprache zu konstruieren. Was aber versteht Tarski unter "Semantik"? Semantics is a discipline which, speaking loosely, deals with certain relations between expressions of a language and the objects (or "states of affairs") "referred to" by those expressions? Die Semantik beschäftigt sich also Tarski zufolge mit den referentiellen Beziehungen zwischen sprachlichen Ausdrücken und außersprachlichen Gegenständen. Die Semantik ist mithin eine Theorie der Referenz. Als typische Beispiele semantischer Begriffe erwähnt Tarski die Begriffe der Bezeichnung, der Erfüllung und der Definition. Obwohl der Begriff der Wahrheit, anders als diese Begriffe, keine Beziehung zwischen sprachlichen Ausdrücken und dem, worauf sie sich beziehen, ausdrückt, sondern vielmehr eine Eigenschaft von sprachlichen Ausdrücken, nämlich von Sätzen, und somit eine andere logische Natur als die typischen semantischen Begriffe aufweist, reiht Tarski ihn dennoch unter die semantischen Begriffe ein. Ein Grund, den Tarski dafür angibt, ist, daß der Wahrheitsbegriff einem Satz aufgrund von Beziehungen zwischen dem Satz und den Gegenständen, von denen in ihm geredet wird, oder den Sachverhalten, die er beschreibt, zugeschrieben wird. Darüber hinaus, so fügt Tarski hinzu, macht "die einfachste und natürlichste Art, eine exakte Definition der Wahrheit zu erhalten" von anderen semantischen Begriffen, insbesondere von dem Begriff der Erfüllung, Gebrauch. 8
6 7 8
Vgl. ibid. Ibid., S.345 Ibid.
1. Inhaltliche Adäquatheit
33
In seinem klassischen Aufsatz schlägt Tarski zunächst die folgende semantische Definition vor: (1) eine wahre Aussage ist eine Aussage, welche besagt, daß die Sachen sich so und so verhalten, und die Sachen verhalten sich eben so und so.9 Obwohl, so Tarski, "der anschauliche Sinn und die allgemeine Intention dieser Formulierung recht klar und verständlich" zu sein scheinen, sei doch zu beanstanden, daß diese Definition in bezug auf "formale Korrektheit, Klarheit und Eindeutigkeit" der in ihr vorkommenden Ausdrücke "offenbar viel zu wünschen übrig läßt".10 Daraus ergibt sich die spezifische Aufgabe einer semantischen Definition der Wahrheit, die Aufgabe nämlich, diese Intention zu präzisieren und ihr eine korrekte Form zu geben. Um die genannten Defizite zu beheben, geht Tarski von einem konkreten Satz, dem Satz "Schnee ist weiß", aus und stellt die Frage nach seinen Wahrheitsbedingungen. Wenn man den klassischen Wahrheitsbegriff zugrunde legt, dann wird man wohl sagen müssen, daß dieser Satz dann und nur dann wahr ist, wenn Schnee weiß ist. Die zu entwickelnde Definition muß deshalb die folgende Äquivalenz implizieren:
Der Satz "Schnee ist weiß" ist wahr dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist. Diese Äquivalenz bildet die Ausgangsbasis für die Formulierung der Bedingung der inhaltlichen Adäquatheit. Auf der rechten Seite des Junktors "dann und nur dann, wenn" steht ein Satz, auf der linken Seite dagegen der Name dieses Satzes. Dies ermöglicht es Tarski, seine Vorgehensweise zu generalisieren, so daß wir zu dem allgemeinen Schema dieser Art von Sätzen gelangen: (W) Jf ist wahr dann und nur dann, wenn p, in dem "p" durch einen beliebigen Satz und "X" durch einen Namen dieses selben Satzes ersetzt werden kann. Bei einem solchen Namen kann es sich um einen Anfuhrungsnamen oder um einen strukturell-deskriptiven Namen, der die Buchstaben, aus denen der Satz besteht und ihre Reihenfolge angibt, handeln. Dieses Schema ist Tarskis berühmte Konvention W. Ausgehend von diesem Schema ist Tarski nun in der Lage, die Adäquatheitsbedingungen sowohl des Gebrauchs als auch der Definition des Ausdrucks "wahr" festzulegen: Der Ausdruck "wahr" wird dann und nur dann adäquat gebraucht, wenn alle Äquivalenzen der Form W behauptet werden können, und eine Definition des
9
Tarski, 1983b, S.450 Ibid.
10
34
II Wahrheit definiert: Tarskis Leistung
Wahrheitsbegriffs ist dann und nur dann adäquat, wenn alle diese Äquivalenzen aus ihr logisch folgen." Tarskis Konvention W liegt eine wichtige Einsicht zugrunde, die jedoch meistens nicht gebührend berücksichtigt wird. Während der Jahre, in denen er sich zuerst gründlich mit dem Wahrheitsproblem befaßte, also Ende der zwanziger Jahre, war es eine natürliche Erwartung, daß eine Definition der Wahrheit, insbesondere für mathematische Sprachen, beweistheoretische Form annehmen sollte. Was man erwartete, war eine Definition etwa der folgenden Art: "Alle und nur die Sätze, die aus den und den Axiomen mittels Anwendung von den und den Schlußregeln ableitbar sind, sind wahr." Aufgrund von Gödels Unvollständigkeitsergebnissen wissen wir mittlerweile, daß solche Definitionen meistens unmöglich sind. Tarski hat jedoch, noch ganz unabhängig von Gödels Ergebnissen, beweistheoretischen Definitionen eine Absage erteilt, indem er scharf zwischen einer Definition und einem Kriterium der Wahrheit unterschied und geltend machte, daß es keinen einleuchtenden Grund gäbe, warum eine Definition der Wahrheit uns auch mit einem effektiven Entscheidungsverfahren für die Klasse der wahren Sätze versehen sollte. Tarski unterstreicht immer wieder, daß das Schema W keineswegs selbst eine Definition der Wahrheit ist, obwohl er in diesem Punkt häufig mißverstanden wird. Darüber hinaus kann auch kein besonderer Fall des Schemas W als eine Definition der Wahrheit angesehen werden. Vielmehr bezeichnet Tarski jede Äquivalenz der Form W, das heißt, jeden Satz, der durch Einsetzung aus ihr hervorgeht, als "Teildefinition" des Ausdrucks "wahr", denn solche Äquivalenzen erklären für den jeweiligen Satz, worin die Wahrheit dieses Satzes besteht. 12 Aber, worauf Tarski hinauswill, ist natürlich nicht die Definition des Wahrheitsbegriffs für einen einzelnen Satz einer bestimmten Sprache, sondern eine allgemeine Definition, eine Definition, die in einem gewissen Sinn die logische Konjunktion aller Teildefinitionen für die Sätze dieser Sprache sein müßte. In dieser Allgemeinheit liegt jedoch ein Problem. Darauf werden wir gleich zurückkommen. Zunächst wollen wir uns der zweiten Forderung, die Tarski an eine Definition der Wahrheit stellt, der Forderung, formal korrekt zu sein, zuwenden.
2. Formale Richtigkeit und die
Wahrheitsantinomien
Die Bedingung der formalen Richtigkeit betrifft die exakte formale Struktur der Sprache, in der die Definition der Wahrheit gegeben werden soll: Die primitiven Termini und die Definitionsregeln, kraft deren neue Termini in die Sprache eingeführt werden können, müssen angegeben werden; die Formregeln, die die Klasse der wohlgeformten Ausdrücke und vornehmlich der Sätze festlegen, 11 12
Vgl. Tarski, 1944, S.344 Vgl. ibid., S.344
2. Formale Richtigkeit und die Wahrheitsantinomien
35
müssen aufgestellt werden; und schließlich müssen die Bedingungen, unter denen ein Satz der Sprache behauptet werden kann, formuliert werden, was erfordert, daß die Axiome und die Schlußregeln der Sprache angegeben werden. 13 Es ist eine bekannte Tatsache, daß semantische Begriffe, wenn sie unvorsichtig gehandhabt werden, zu Antinomien oder logischen Paradoxien fuhren. Die Antinomie des Lügners, die im Altertum entdeckt wurde, zeigt, daß einige Sätze, wie zum Beispiel "Was ich jetzt sage, ist falsch" oder "Dieser Satz ist falsch", in den natürlichen Sprachen unvermeidlich zum Widerspruch fuhren. Da Widersprüche die schlimmsten Feinde des Logikers sind, war es Tarskis vorrangiges Ziel, eine Lösung dieses Problems zu finden. Zu diesem Zweck untersuchte er die Antinomie des Lügners in einer präziseren auf Lukasiewicz zurückgehenden Form und behauptete, daß sie im wesentlichen auf zwei Voraussetzungen beruht: 14 (1) Die Sprache, in der die Antinomie auftritt, enthält zusätzlich zu ihren Ausdrücken auch (a) Namen dieser Ausdrücke und (b) semantische Prädikate wie "wahr" und "falsch", die auf die Sätze dieser Sprache angewandt werden. Tarski nennt eine solche Sprache eine "semantisch geschlossene" Sprache. (2) Die üblichen logischen Gesetze gelten in der Sprache. Jede Sprache, die die Bedingungen (1) und (2) erfüllt, ist notwendigerweise inkonsistent. Zu diesen Sprachen zählt die Umgangssprache, deren "Universalismus", das heißt, deren Tendenz, die Semantik einer Sprache in dieser Sprache selbst zu betreiben und damit wichtige Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachstufen zu nivellieren, Tarski als die wesentliche Quelle aller semantischen Antinomien identifiziert.15 Deshalb kann, davon ist er fest überzeugt, einem möglichen Versuch, den Wahrheitsbegriff im Rahmen einer natürlichen Sprache zu definieren, kein Erfolg beschieden sein. Da Tarski offensichtlich nicht bereit ist, Voraussetzung (2) über Bord zu werfen, sieht er sich zu der Folgerung gezwungen, daß eine formal korrekte Definition der Wahrheit in einer Sprache formuliert werden muß, die nicht semantisch geschlossen ist. selbstverständlich Die ursprünglich einheitliche Sprache wird zu diesem Zweck in zwei Teilsprachen zersplittert, so daß die Definition von Wahrheit in L, wobei L die Objektsprache ist, die Sprache, für die Wahrheit definiert wird, in einer Metasprache ML, einer Sprache, in der Wahrheit in L definiert wird, gegeben werden muß. Die Wahrheitsdefinition muß Tarski zufolge auf eine bestimmte Sprache relativiert werden, denn es ist klar, daß ein und derselbe Satz in einer Sprache wahr und in einer anderen Sprache falsch oder sinnlos sein könnte. 13 14 15
Vgl. ibid., S.346 Vgl. ibid., S.348-9 Vgl. Tarski, 1983b, S.457
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II Wahrheit definiert: Tarskis Leistung
Durch die Unterscheidung zweier Sprachstufen, der Objektsprache und der Metasprache, und der damit implizierten Festsetzung, daß alle Ausdrücke regelwidrig sind, in denen sich semantische Termini auf Sätze oder andere Ausdrücke derselben Sprachstufe beziehen, in der sie selbst vorkommen, wird die Entstehung der semantischen Paradoxien blockiert. Weil Wahrheit für eine gegebene Sprachstufe immer durch ein Prädikat der nächsten Stufe ausgedrückt wird, kann der die Antinomie des Lügners ausdrückende Satz "Dieser Satz ist falsch" nur in der harmlosen Form des Satzes "Dieser Satz ist falsch in Z," auftreten, der natürlich ein Satz der Metasprache ML ist und folglich als solcher nicht wahr in L sein kann; er ist vielmehr einfach falsch und mitnichten paradox. Die Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache ist natürlich eine relative Unterscheidung, denn jede Metasprache kann ihrerseits wieder zum Gegenstand einer semantischen Analyse werden; eine ganze Hierarchie von Sprachen wäre letztlich erforderlich, um Wahrheit auf jeder Stufe zu definieren. Die Metasprache muß immer "wesentlich reichhaltiger" als die Objektsprache sein; denn, weil alle Äquivalenzen der Form W aufgrund der inhaltlichen Adäquatheitsbedingung durch die Wahrheitsdefinition impliziert sein müssen, muß ML entweder L selbst oder Übersetzungen aller sprachlichen Ausdrücke von L enthalten. Zudem aber muß ML auch Bezeichnungen für die sprachlichen Ausdrücke von L und semantische Prädikate enthalten, die sich auf die Ausdrücke von L beziehen. Diese Bezeichnungen und Prädikate dürfen in L selbst nicht vorkommen, wenn in L die Entstehung von semantischen Paradoxien vermieden werden soll. Innerhalb der Metasprache kann man also den nichtsemantischen und den semantischen Teil voneinander unterscheiden. Wenn in ML eine korrekte Wahrheitsdefinition für L durchgeführt werden soll, dann muß erstens der nichtsemantische Teil von ML mindestens denselben Ausdrucksreichtum besitzen wie L, und dann darf zweitens der semantische Teil von ML überhaupt nicht in L vorkommen. Einen wichtigen Punkt dürfen wir hier jedoch nicht aus den Augen verlieren, den Punkt nämlich, daß die Umgangssprache stets die oberste Metasprache ist, denn wenn wir beginnen, die Regeln einer Sprache L zu beschreiben oder festzulegen, müssen wir uns natürlich einer Sprache bedienen, die wir schon verstehen.
3. Definition der Wahrheit Wir haben gesehen, daß Tarski Äquivalenzen der Form W Teildefinitionen der Wahrheit nennt, weil jeder Satz dieser Form die Bedingungen spezifiziert, die erfüllt sein müssen, damit ein bestimmter Satz wahr ist. Dies legt den Gedanken nahe, für alle in einer Sprache L vorkommenden Sätze, "si", s2", "53", ... ,"sn", eine explizite Wahrheitsdefinition zu formulieren und die allgemeine Definition als die Konjunktion aller Teildefinitionen zu verstehen. In der Tat weist Tarski
3. Definition der Wahrheit
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darauf hin, daß für eine Sprache mit einer endlichen Zahl von Sätzen eine befriedigende Definition der Wahrheit die folgende Form haben könnte: Xist wahr genau dann, wenn (A'-'si" und sj) oder (X="s2" und s2) oder und i 3 ) oder
(X="sn" und sn). Es ist offenkundig, daß diese Definition die Bedingung der inhaltlichen Adäquatheit erfüllt. Denn wenn man in der Definition für "X" den Namen eines beliebigen objektsprachlichen Satzes einsetzt, dann erhält man eine metasprachliche Aussage, die logisch äquivalent mit der Instanz der Konvention W für diesen Satz ist. Eine solche triviale, sämtliche Sätze der Objektsprache einfach auflistende Definition läßt sich jedoch nur für Sprachen mit einer endlichen Zahl von Sätzen durchfuhren. In den meisten Sprachen ist der Zahl der Ausdrücke, die als Sätze zugelassen sind, keine Schranke gesetzt, und es ist für uns unmöglich, für unendlich viele Sätze die Wahrheitsbedingungen explizit zu spezifizieren. Überdies, so Tarski, können Teildefinitionen wie ""Schnee ist weiß" ist wahr dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist" auch nicht durch eine Verallgemeinerung in eine Definition der Wahrheit verwandelt werden.16 Es scheint zunächst so, als könne man durch Einsetzung eines Satzbuchstabens für den zweimal vorkommenden Satz "Schnee ist weiß" und durch Allquantifikation der so entstandenen Formel zu einem Satz gelangen, der alle Instanzen des Schemas W umfaßt: D (p ) ("p" ist wahr dann und nur dann, w e n n p ) . Tarski weist diesen Definitionsversuch jedoch zurück, weil er große Zweifel hegt, ob die Qualifikation in Anführungsnamen hinein sinnvoll ist. Er erörtert in diesem Zusammenhang zwei Interpretationen von Anführungsnamen. Die erste, von Tarski favorisierte Interpretation behandelt einen Anführungsnamen als ein einzelnes Wort, das heißt, als einen syntaktisch einfachen Ausdruck, so daß die einzelnen Bestandteile dieser Namen, die Anführungszeichen und die in Anfuhrungszeichen stehenden Ausdrücke, keine selbständige Bedeutung haben. Bei dieser Interpretation sind Teildefinitionen für sinnvolle Verallgemeinerungen ganz ungeeignet. Satz (D) kann mitnichten als eine solche Verallgemeinerung angesehen werden, denn, wenn man versucht, die Einsetzungsregel auf (D) anzuwenden, ist es genausowenig gestattet, irgend etwas für den Buchstaben 16
Vgl. ibid., S.453-6
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II Wahrheit definiert: Tarskis Leistung
"p", welcher als Bestandteil des Anfuhrungsnamens auftritt, einzusetzen, wie es etwa gestattet ist, irgend etwas für den Buchstaben "W" in dem Wort "Wahrheit" einzusetzen. Als Resultat der Einsetzung erhält man den Satz ""p" ist wahr dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist" und nicht den Satz, der eigentlich intendiert war. Die zweite Interpretation behandelt Anführungsnamen als syntaktisch zusammengesetzte Ausdrücke, deren syntaktische Bestandteile zum einen die Anführungszeichen und zum anderen die zwischen den Anführungszeichen stehenden Ausdrücke sind. Dieser Interpretation zufolge spielen Anführungszeichen die Rolle von Funktoren, die einem sprachlichen Ausdruck einen Namen zuordnen. Tarski lehnt diesen Vorschlag ab, weil er bezweifelt, daß der Sinn einer solchen Anführungsfünktion hinreichend klar gemacht werden kann, und weil er zudem befürchtet, daß man durch sie in die semantischen Antinomien verwickelt wird. Nicht nur ist also Tarski zufolge das Schema W keine Definition der Wahrheit, sondern es kann auch nicht durch direkte Generalisierung in eine solche Definition verwandelt werden. Außerdem scheitert der Versuch, für jeden einzelnen Satz einer Sprache explizit seine Wahrheitsdefinition aufzustellen, an dem simplen Faktum, daß die Zahl der Sätze in den meisten Sprachen nicht beschränkt ist. Tarski braucht also eine Methode, um für jeden der unendlich vielen Sätze einer Sprache L einen Satz der Form W zu erzeugen. Zu diesem Zweck drängt sich die rekursive Methode geradezu auf. Die Sätze einer Sprache L weisen ganz verschiedenartige logische Strukturen auf. Sätze, die überhaupt keine logischen Zeichen enthalten, heißen "Atomsätze"; Sätze, in denen die aussagenlogischen Verknüpfungen wie "und", "oder" etc. vorkommen, die aber weder freie noch durch Quantoren gebundene Variablen enthalten, heißen "Molekularsätze". Der Grundgedanke der rekursiven Definition ist, das Prädikat "wahr" zuerst für die verschiedenen Atomsätze von L und dann für die Molekularsätze der unterschiedlichen Typen als eine Funktion seiner Anwendung auf die Atomsätze zu definieren. Dabei wird von der sogenannten Wahrheitstafelmethode Gebrauch gemacht, in der angegeben wird, wie die Wahrheit der verschiedenen Molekularsatzstrukturen - Negation, Disjunktion, Konjunktion etc. - von der Wahrheit ihrer Teilsätze abhängt. Zwar vermag eine solche rekursive Definition von "wahr in L" die Schwierigkeit, die das Vorkommen von unendlich vielen Sätzen in L mit sich bringt, zu beheben. Aber, wenn wir den Bereich der Molekularsprachen verlassen und uns generalisierten oder quantorenlogischen Sprachen zuwenden, Sprachen, die Variablen und Quantoren enthalten, stellt sich dieser direkten rekursiven Methode ein unüberwindliches Hindernis in den Weg. Dieses Hindernis besteht darin, daß in diesen Sprachen die Bestandteile komplexer Sätze nicht länger selbst notwendigerweise Sätze sind. In quantorenlogischen Sprachen werden nicht mehr alle Sätze aus Atomsätzen durch Anwendung bestimmter logischer Operationen aufgebaut, sondern sie können nun auch, wie
3. Definition der Wahrheit
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dies bei generellen Sätzen stets der Fall ist, aus Satzfunktionen oder offenen Sätzen auf dem Wege einer Bindung der freien Variablen durch Allquantoren und Existenzquantoren gebildet werden. Der abgeschlossene, komplexe Satz "(Ex)(Fx v Gx)" zum Beispiel wird aus "Fx" und "Gx" durch die Operationen der Disjunktion und der Existenzquantifikation gebildet. Weil die Satzfunktionen "Fx" und "Gx" selbst nicht wahr oder falsch sein können, besteht nun auch keine Möglichkeit mehr, die Wahrheitsbedingungen von "(Ex)(Fx v Gx)" auf rekursivem Wege auf diejenigen von ' W u n d "Gx" zurückzufuhren. Tarskis brillante technische Errungenschaft besteht darin, dieses Problem auf eine elegante Weise gelöst und somit gezeigt zu haben, daß und wie für quantorenlogische Sprachen eine Wahrheitsdefinition möglich ist. Sein wesentlicher Gedanke ist in der folgenden Passage enthalten: Es ergibt sich aber die Möglichkeit, einen Begriff von allgemeinerem Charakter einzuführen, welcher bei beliebigen Aussagefunktionen Anwendung findet, sich schon rekursiv definieren läßt und, auf Aussagen angewendet, uns mittelbar zum Begriff der Wahrheit fuhrt; diesen Bedingungen genügt nämlich der Begriff des Erfülltseins der gegebenen Aussaeefunktion durch gegebene Gegenstände [. . .] 17
Tarski macht sich die Tatsache zunutze, daß in generalisierten Sprachen zwar nicht alle Sätze aus einfacheren Sätzen gebildet werden, wohl aber alle Satzfunktionen durch Rekursion auf elementare Satzfunktionen zurückgeführt werden können. Tarski geht von dem Begriff der Satzfunktion aus, der gegenüber dem Begriff des Satzes allgemeiner ist, und identifiziert in dem semantischen Begriff der Erfüllung einen Begriff, der sich hinsichtlich der Satzfunktionen so ähnlich verhält wie der Begriff der Wahrheit hinsichtlich der abgeschlossenen Sätze. Satzfunktionen sind weder wahr noch falsch, sondern werden durch Gegenstände, Paare von Gegenständen, Tripel von Gegenständen etc. erfüllt oder nicht erfüllt. So wird zum Beispiel die Satzfunktion "x ist eine Stadt" durch Hamburg erfüllt, und die Satzfünktion "x ist die Hauptstadt von y" wird durch das geordnete Paar