Wachstum, Entwicklung, Stabilität: Governanceprobleme und Lösungen 9783110696745, 9783110696707

This volume contains the papers given at the 52nd Radein Research Seminar. This edited volume inquires into the role pla

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German Pages 325 [320] Year 2020

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Wachstum, Entwicklung, Stabilität: Governanceprobleme und Lösungen
 9783110696745, 9783110696707

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Martin Leschke, Nils Otter (Hrsg.) Wachstum, Entwicklung, Stabilität

Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft

| Herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Apolte Prof. Dr. Martin Leschke Prof. Dr. Albrecht F. Michler Prof. Dr. Christian Müller Prof. Dr. Rahel M. Schomaker und Prof. Dr. Dirk Wentzel

Band 106

Wachstum, Entwicklung, Stabilität | Governanceprobleme und Lösungen Herausgegeben von Martin Leschke und Nils Otter

ISBN 978-3-11-069670-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069674-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069677-6 Library of Congress Control Number: 2020939139 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Entwicklung bedeutet Veränderung. Das gilt nicht nur für die Individuen, die stetig neue Erfahrungen verarbeiten und ihr Verhalten anpassen. Es gilt genauso für die Ent­ wicklung von Gesellschaften, Staaten und Regionen. Eine zufriedenstellende volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Staaten bzw. Regionen dieser Welt ist heutzutage ohne Zweifel von zahlreichen gravierenden Instabilitäten bedroht: Militärische Konflikte, mögliche Einschränkun­ gen des internationalen Freihandels sowie Integrationsprobleme und Probleme der internationalen Zusammenarbeit (Krise der EU, stagnierende Entwicklungen bei ASE­ AN und innerhalb der Afrikanischen Union, Vertrauenskrisen bei Weltbank, Interna­ tionalem Währungsfonds und der Welthandelsorganisation sowie der UNO) behin­ dern eine wünschenswerte Entwicklung, die Innovationen, Wohlstand und Sicherheit für die Menschen hervorbringt. Die durch den Prozess der Globalisierung bewirkte fortschreitende Vernetzung der Volkwirtschaften hat auch dazu geführt, den Transmissionskanal ökonomischer Krisenerscheinungen zu beschleunigen. Exemplarisch sei auf die sog. „Große Rezes­ sion“ der Jahre 2007 bis heute verwiesen, die ausgehend von einer Immobilienmarkt­ krise in den USA zu einer weltweiten Bankenkrise bzw. einer Staatsschuldenkrise in Europa geführt hat. Eine Gemeinsamkeit der hier angesprochenen Probleme ist darin zu sehen, dass es sich um internationale Krisenerscheinungen handelt, die nicht mehr sinnvoll auf der nationalstaatlichen Ebene bekämpft und gelöst werden können. Hinzu tritt als besonderes Problem, dass nicht wenige der entwickelten Industrie­ staaten sich in einer Stagnationsphase – es wird auch von säkularer Stagnation ge­ sprochen befinden. Neben der Wachstumsschwäche sehen sich einige der Industrie­ länder auch mit zunehmenden sozialen Problemlagen in der Gesellschaft konfron­ tiert, so dass man von Integrationsproblemen nach „innen“ und „außen“ sprechen kann. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die angesprochenen Probleme von den Sozialwissenschaften – und hier insbesondere von der Ökonomik – diagnos­ tiziert werden, um darauf aufbauend tragfähige Lösungen zu erarbeiten. Mit welchen Ideen lassen sich Freihandel, Integration und Inklusion sicherstellen? Und schließ­ lich: Wie lassen sich Wachstum und Entwicklung fördern ohne soziale Kosten (Exter­ nalitäten, gravierende Ungleichheiten) hervorzurufen?

https://doi.org/10.1515/9783110696745-201

VI | Vorwort

Die abgedruckten Referate und Korreferate wurden auf einer interdisziplinär be­ setzten Tagung – dem Forschungsseminar „Radein 2019“, das vom 10.02 bis zum 17.02.2019 in Oberitalien im Zirmerhof stattfand – intensiv diskutiert. Für die finanzi­ elle Unterstützung möchten wir uns bei der Doris und Dr. Michael Hagemann Stiftung, der Fazit-Stiftung, der Marburger Gesellschaft für Ordnungsfragen der Wirtschaft, bei Degussa Gold sowie bei Prof. Jörg Thieme bedanken. Martin Leschke und Nils Otter Bayreuth und Berlin im Februar 2020

Inhalt Vorwort | V Martin Leschke Entwicklung und kollektives Handeln: Marktwirtschaft, Demokratie, Governance | 1

Teil I: Grundlegende Zusammenhänge Rahel M. Schomaker und Carsten Deckert Wachstum, Entwicklung und Governance: Zur Interdependenz von Regierungsführung und wirtschaftlicher Entwicklung | 23 Lena Gerling (Korreferat) | 48 Albrecht F. Michler Das Finanzsystem als fragiles Element für Wachstum und Entwicklung | 57 Niklas Gogoll (Korreferat) | 80 Oliver Schmidt Die Entwicklungsökonomik als Anwendungsfeld der Verhaltensökonomie (Behavioural Development Economics) | 85 Jan Schnellenbach (Korreferat) | 109

Teil II: Wachstums- und Stabilitätsprobleme in den Industriestaaten Andreas Polk Säkulare Stagnation in Europa? | 117 Peter Spahn (Korreferat) | 148 Heinz-Dieter Smeets Wachstumspolitische Strategie(n) der EU | 153 Jasmin Diemer (Korreferat) | 174 Tobias Thomas Zur Rolle der Medien in der Demokratie | 179 Oliver Budzinski, Sophia Gaenssle und Annika Stöhr (Korreferat) | 206

VIII | Inhalt

Teil III: Ausgewählte Entwicklungsprobleme und Konzepte Thomas Döring Wachstum und ökologischer Fußabdruck – Zielkonflikt, mögliche Lösungskonzepte und ordnungspolitische Schlussfolgerungen | 219 Felix Schlieszus (Korreferat) | 248 Werner Pascha Die ASEAN-Wirtschaftsgemeinschaft: Unvollkommenes Integrationsprogramm oder Vorreiter „asiatischer“ Kooperationsmechanismen? | 253 Martin Leschke (Korreferat) | 286 Andreas Knorr Wirtschaftssystem und Wirtschaftsentwicklung Nordkoreas | 289 Dirk Wentzel (Korreferat) | 312 Teilnehmerliste Radein 2019 | 317

Martin Leschke

Entwicklung und kollektives Handeln: Marktwirtschaft, Demokratie, Governance 1

Einleitung | 1

2

Hat die Marktwirtschaft als Konzept ausgedient? | 3

3

Was ist der eigentliche Grund für gravierende Externalitäten beziehungsweise Verstöße gegen das Prinzip der Nachhaltigkeit? | 5

4

Ist die Demokratie immer noch ein zentrales normatives Ideal | 9

5

Wozu benötigt man eigentlich kollektives Handeln und internationale Zusammenarbeit? | 11

6

Ist eine (internationale) Entwicklungszusammenarbeit grundsätzlich sinnvoll? | 12

7

Kernprobleme kollektiven Handelns und Ansatzpunkte zu deren Lösung– fünf Thesen zum Abschluss | 15

1 Einleitung Entwicklung ist etwas Unausweichliches: Menschen planen, entscheiden, handeln und interagieren. Neugier und Ideen, die eigene Situation zu verbessern, treiben sie voran. Die Ergebnisse dieses Handelns sind zum Teil intendiert – Ziele werden erwar­ tungsgemäß erreicht – und zum anderen Teil aber auch nicht intendiert, das heißt soziale Kosten oder auch Nutzen entstehen in ungeplanter und oft auch ungeahnter Art und Weise. Darauf reagieren die Individuen dann wiederum. Jedenfalls entsteht immer etwas „Neues“ – manchmal geplant, manchmal ungeplant. Vor diesem Hintergrund heben Ökonomen die Marktwirtschaft als einen zen­ tralen „Garanten“ für Fortschritt und Wohlstand hervor. Warum? Der Wettbewerb gibt den Unternehmen den Anreiz, um die Zahlungsbereitschaften der Nachfrager zu kämpfen. Mannigfaltige erschwingliche Güter und Dienstleistungen für die Haus­ halte ergeben sich aus diesem Prozess als nicht intendiertes Resultat intentionalen Handelns (Adam Smith¹): Die Intention der Anbieter ist es, Gewinne zu erzielen. Dies jedoch kann nur gelingen, wenn die Preis-Leistungsrelationen so gut sind, dass die entsprechenden Güter auch erworben werden. Insofern ist die Marktwirtschaft eine Arena, die eine grundlegende soziale Funktion erfüllt: Die breite Masse der Bevöl­ kerung wird mit Gütern und Dienstleitungen zu erschwinglichen Preisen versorgt. Ludwig Erhard sprach daher vom „Wohlstand für Alle“.

1 „Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse“ (Smith, 1846: 26). https://doi.org/10.1515/9783110696745-001

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Als weiteres nicht intendiertes Resultat des Wirtschaftens innerhalb eines frei­ heitlichen Rahmens ergibt sich das Wirtschaftswachstum oder kurz Wachstum. Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf steigt in marktwirtschaftlichen Regionen bezie­ hungsweise Staaten von Jahr zu Jahr: in entwickelten Staaten um Raten von knapp 2 %, in Regionen, die aufschließen (das heißt Aufholprozesse eingeleitet haben) um deutlich höhere Raten bis über 10 % (wie in China bis vor einigen Jahren). Verfechter einer freien Marktwirtschaft sehen in diesem Koordinationsmechanis­ mus den Grundstein für Wohlstand und Wachstum. Kritiker dieses Systems sehen die Marktwirtschaft hingegen als Auslöser zahlreicher Externalitäten: Sie wird für Um­ weltverschmutzungen, Klimawandel, Überschuldung oder auch Vermögens- und Ein­ kommensungleichheiten und schwere Finanz- und Wirtschaftskrisen verantwortlich gemacht. Nicht selten wird daher von Marktwirtschaftskritikern ein völliger System­ wechsel gefordert, und zwar hin zu einer Postwachstumsökonomie, in der der Staat maßgeblich das Wirtschaftsgeschehen lenkt.² Diese unterschiedlichen Grundpositionen haben in der Vergangenheit auch die Politik der Entwicklungszusammenarbeit auf internationaler Ebene bestimmt. Wäh­ rend die Anhänger der Marktwirtschaft für eine weltweite Verbreitung dieses Koor­ dinationssystems plädieren und für entsprechende Freiheitsrechte eintreten, fordern Marktwirtschaftsgegner eher staatliche und zwischenstaatliche Lösungen – gegebe­ nenfalls koordiniert durch internationale Organisationen. Vor dem Hintergrund dieser zwei Argumentationsrichtungen stellen sich die Fragen „Hat die Marktwirtschaft als Konzept ausgedient? Sind mit dieser Koordina­ tionsform zwangsläufig gravierende negative Externalitäten verbunden? Oder sind die Gründe für die Externalitäten auf einer anderen Ebene verortet? Diese Fragen leiten uns auf die Ebene der Regeln und der Regelentstehung beziehungsweise der Weiterentwicklung der Regeln über. Letztlich stößt man damit auf das Problem von „Good or Bad Governance“ auf der Ebene der Nationalstaaten. Damit verbunden ist unmittelbar die Frage „Ist die Demokratie noch ein Ideal, das man verteidigen sollte?“. Bringt sie die Regeln hervor, die einen geeigneten Rahmen für eine zufriedenstellende Entwicklung darstellen? Viele Probleme lassen sich jedoch nicht alleine auf dem We­ ge nationalstaatlichen Handeln lösen. Sie sind länderübergreifend. Daher soll auch der Frage „Wozu benötigt man eigentlich internationale Zusammenarbeit und speziell Entwicklungszusammenarbeit?“ nachgegangen werden. Die verschiedenen Ebenen, auf denen Regeln und Verträge ausgehandelt, verab­ schiedet und verankert werden betreffen alle verschiedene Formen oder Spielarten des kollektiven Handelns. Vor dem Hintergrund vieler Missstände soll beziehungs­ weise muss abschließend auch die Frage aufgeworfen werden: Was sind die Kernpro­ bleme kollektiven Handelns?

2 Vgl. hierzu beispielsweise Meadows/Meadows/Randers (1972) und (2006), Paech (o. J.) sowie Felber (2014).

Entwicklung und kollektives Handeln: Marktwirtschaft, Demokratie, Governance | 3

Auf diese Fragenkomplexe soll im Folgenden kurz eingegangen werden. Sie be­ leuchten die essenzielle Frage, in welchem Rahmen wir uns entwickeln sollten und sind damit von entscheidender Bedeutung für die Richtung, in der sich Entwicklung vollzieht. Abschließend werden auf Basis der Diskussion der Fragen fünf Thesen als Ausblick formuliert.

2 Hat die Marktwirtschaft als Konzept ausgedient? Die freiheitliche Marktwirtschaft gibt einzelnen Individuen eine Fülle von Möglichkei­ ten, ihre Fähigkeiten zu entfalten und ihre unterschiedlichen Ziele zu verfolgen. Frei­ heit ermöglicht zuallererst unternehmerisches Experimentieren (Schumpeter 1911). Ideen können entwickelt und in Güter und Leistungen transformiert werden, die den Konsumenten angeboten werden. Auf Basis vorhandener Preise für Güter, Leistungen, Faktoren und Ressourcen, die sich ändernde Knappheiten anzeigen, entsteht die Mög­ lichkeit, Investitionsprojekte erfolgreich zu planen. Mises (1922) und Hayek (1945) ar­ gumentieren diesbezüglich, dass diese Informationsfunktion der Preise nur in einem freien Spiel der angebotsseitigen und nachfrageseitigen Kräfte gegeben ist. Bei sich permanent ändernden Umständen (Präferenzen, Entdeckungen und somit Knapphei­ ten) gelingt eine Anpassung der individuellen Pläne an diese Änderungen innerhalb einer freiheitlichen, dezentralen Ordnung vergleichsweise gut. Wegen des dem Markt­ system innewohnenden Prinzips der negativen Rückkoppelung zeigen freie Preise die sich ändernde Knappheiten unmittelbar an. Der Einzelne kann damit seine Pläne und Entscheidungen auf Basis der Knappheitssignale neu ausrichten, ohne die Fülle von Einzelumständen kennen zu müssen, durch die sie hervorgerufen werden. In einem System staatlich gesetzter Preise entfällt diese zentrale Funktion des Preismechanis­ mus; dezentrales unternehmerisches Investieren auf Basis von Knappheitssignalen ist dann nahezu unmöglich. Darüber hinaus ist der marktliche Wettbewerb eine Arena, die das dezentral ver­ streute Wissen aktiviert und zu Tage treten lässt. Hayek (1968) spricht daher vom „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“. Die einzelnen unternehmerisch tätigen In­ dividuen sind durch den Wettbewerbsdruck gezwungen, permanent ihre Produkte, Dienstleistungen und Verfahren zu verbessern. Tun sie es nicht, laufen sie Gefahr durch innovative Konkurrenten vom Markt verdrängt zu werden. Insofern ist der Inno­ vationswettbewerb ein konstitutives Element der wettbewerblichen Marktwirtschaft. Das einzelne Unternehmen hat jedoch bei der Planung der Invention und Innovation nur die Vermutung beziehungsweise Hoffnung, dass die Neuheit ein Erfolg wird. Ob neue Preis-Leistungskombinationen tatsächlich erfolgreich sind und dem Unterneh­ men die erhofften Umsätze und Gewinne liefern, kann nur der Marktprozess selbst zeigen. In diesem Sinne ist jede Innovation erst einmal eine Erfolgshypothese und die Arena des Marktes liefert den Hypothesentest (Kerber 1997).

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William Baumol hebt zudem hervor, dass erfolgreiche Innovationen eine hohe Ab­ strahlwirkung haben und auf diese Weise positive Rückkopplungseffekte initiieren. Als Gründe nennt er (2002, 51 f.): – den kumulativen Charakter von Innovationen (jedes Unternehmen muss nachzie­ hen und sich am neuesten Standard orientieren), – Innovationen bringen immer positive Externalitäten mit sich (die Informationen über neue Verfahren und Produkte lassen sich nie vollständig an ein Unterneh­ men binden, sondern diffundieren), – die Akzellerator-Eigenschaft von Innovationen (Innovationen schaffen Investitio­ nen, also Angebot und Nachfrage und auf dem neuen Niveau der Technik und Einkommen werden neue Innovationen getätigt). Kein anderes bisher bekanntes Koordinationssystem vermag für permanenten Fort­ schritt im Sinne von neuen erschwinglichen Gütern und Leistungen für die Konsu­ menten zu sorgen. Insofern ist der marktliche Wettbewerb ein bisher unübertroffenes System, um für die Individuen die Wohlfahrt stetig zu erhöhen. Zudem wird durch den (technischen) Fortschritt Wachstum (des realen Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts) in­ duziert. Die deutschen Ökonomen Heinsohn und Steiger (1996) und in ihrem „Fahrwas­ ser“ Binswanger (2009) und de Soto (2003) heben zudem hervor, dass der Kreditzins ein Treiber für Produktivität und Wachstum ist. Der Zins, der sich nach Heinsohn und Steiger aus dem knappen Eigentumstiteln zur Absicherung des Kredits (haftendes Eigenkapital) ergibt, muss samt dem Kredit zurückgezahlt werden. Das funktioniert letztlich nur, wenn Investitionsprojekte eine entsprechende Rendite erwirtschaften. Daher muss unternehmerische Tätigkeit, die zum großen Teil fremdfinanziert ist, dar­ auf ausgerichtet sein, das Kapital produktiv einzusetzen. Dies führ zu Produktivitäts­ anstiegen und Wachstum. Diese Eigenschaften des marktwirtschaftlichen Systems führen dazu, die zahlrei­ chen marktlichen Interaktionen als ein Positivsummenspiel aufzufassen; wobei nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ laufend „mehr“ entsteht. Ein „Mehr“, das letztlich allen zu Gute kommt (Wohlstand für alle). Vor diesem Hintergrund lässt sich an dieser Stelle sagen, dass die wettbewerbli­ che Marktwirtschaft keinesfalls ausgedient hat, sondern nach wie vor die entschei­ dende Grundlage für Produktivitätsfortschritte darstellt. Hierbei sind die Innovatio­ nen keinesfalls auf den materiellen Wohlstand (mehr und bessere dingliche Güter) beschränkt. Auch vielfältige organisatorische Neuerungen (zum Beispiel Car-Sharing) und Dienstleistungen bringt die freiheitliche Marktwirtschaft hervor. Allerdings dürften mit diesen Argumenten die Kritiker des Marktsystems kaum überzeugt werden; denn sie geben diesem System die Schuld an kollektiven Übeln, wie: zunehmende Ungleichheit, Chancenungerechtigkeiten, Wirtschaftskrisen, Über­

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schuldungen und gravierende Umweltverschmutzungen und Klimaschädigungen.³ Die Frage ist jedoch, ob diese Übel tatsächlich untrennbar mit der Marktwirtschaft verknüpft sind. Dies verneinen Institutionen- beziehungsweise Konstitutionenöko­ nomen. Denn Vertreter dieser Denkrichtung vertreten die These, dass die Funktions­ fähigkeit der Marktwirtschaft (die konkrete Ausgestaltung des Systems der relativen Preise und die Marktergebnisse) maßgeblich von den Spielregeln – der Marktverfas­ sung – abhängen. Dazu mehr im Folgenden Abschnitt. An dieser Stelle lässt sich daher sagen, dass die Marktwirtschaft eine Arena der Generierung von Produkt- und Verfahrensfortschritt ist. Dies ist eine zutiefst soziale Funktion der Marktwirtschaft. Allerdings sind mit ihr auch soziale Kosten verbun­ den – jedenfalls in der Realität. Insofern hat die Marktwirtschaft als Koordinations­ system keinesfalls ausgedient. Allerdings muss auch stetig nach Wegen gesucht wer­ den, die mit ihr verbundenen sozialen Kosten (Externalitäten) einzudämmen. Eine zu­ friedenstellende Entwicklung auf Basis der Marktwirtschaft kann nur gelingen, wenn es gelingt, die sozialen Kosten spürbar einzudämmen. Nur dann wird die Marktwirt­ schaft als Koordinationsmechanismus von der breiten Masse der Bürger akzeptiert werden.

3 Was ist der eigentliche Grund für gravierende Externalitäten beziehungsweise Verstöße gegen das Prinzip der Nachhaltigkeit? Was passiert nun, wenn die Ressourcen unserer Erde mit einem Koordinationsme­ chanismus konfrontiert werden, der Wachstumszwänge auslöst? Die Antwort ist für die Kritiker klar: Es muss zu einer Übernutzung der Ressourcen kommen. Der wett­ bewerbs- und schuldgeldinduzierte Wachstumszwang wird zu einer Interessenkolli­ sion von Arbeitgebern (Unternehmern, Managern) und den Arbeitnehmern führen: Konsum-, Gewinn- und Einkommensziele werden Nachhaltigkeitsziele in vielen Berei­ chen dominieren, so dass es zu zahlreichen externen Effekten kommen muss. Grund­ sätzlich lassen sich in Bezug auf die Ebene der Staaten folgende Arten von negativen Externalitäten unterscheiden (Leschke 2011): – Produktions- verbunden mit Konsumentscheidungen schädigen die Lebensbe­ dingungen der Bevölkerung in einem Land zeitgleich, also „hier und jetzt“. – Produktions- verbunden mit Konsumentscheidungen schädigen die Lebensbe­ dingungen der Bevölkerung in einem Land zeitverzögert, also „in der Zukunft“.

3 Vgl. hierzu auch Leschke (2015a) und die dort angegebenen Quellen der Wachstumskritiker.

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Produktions- verbunden mit Konsumentscheidungen schädigen die Lebensbe­ dingungen der Bevölkerung eines anderen Landes zeitgleich, also „hier und jetzt“. Produktions- verbunden mit Konsumentscheidungen schädigen die Lebensbe­ dingungen der Bevölkerung eines anderen Landes zeitverzögert, also „in der Zukunft“.

Marktwirtschaftliche Kritiker sehen – wie oben erwähnt – den marktwirtschaftlichen Wachstumszwang als die Hauptursache für zahlreiche Verstöße gegen den Grundsatz der Nachhaltigkeit. Sie plädieren deshalb für eine vorwiegend staatsgelenkte PostWachstumsökonomie. Die konstitutionelle Ökonomik in der Tradition von James Buchanan (1984), Dou­ glass North (1992), Friedrich von Hayek (2003) und Walter Eucken (1990) sieht das Problem „anders“. Die konstitutionelle Ökonomik vertritt die einfache Grund-These, dass der institutionelle Regelrahmen maßgeblich verantwortlich ist für die Art und Weise, wie sich Volkswirtschaften oder Wirtschaftsräume entwickeln. Insbesondere in komplexen Großgesellschaften sind vielfältige Regeln notwendig, um das Zusam­ menleben – verschiedene Formen der Kooperation und des Wettbewerbs – zu ordnen. Diesbezüglich sollen Regeln „win-win-Möglichkeiten“ zwischen den Individuen und korporativen Akteuren schaffen. Konkret ist es vor allem ihre Aufgabe – einseitige und wechselseitige Ausbeutung zu verhindern, – Erwartungssicherheit und geschützte Freiräume für die Individuen zu schaffen, – Transaktionskosten für unerwünschte Tätigkeiten zu erhöhen und für erwünschte Tätigkeiten zu verringern, – die Schnittstelle zwischen den verschiedenen Arten kollektive (staatliche) und in­ dividuellen Handelns festzulegen, – den politisch handelnden Akteuren Anreize geben, politische Entscheidungen im Sinne der Bürger zu treffen (Ebene der Verfassungsregeln und supra-nationalen Regeln), – Handeln und Haften möglichst zur Deckung zu bringen und damit zu verhindern, dass Dritte illegitimer Weise mit Kosten belastet werden (Äquivalenzprinzip), zu diesen Dritten zählen auch zukünftige Generationen. Damit wird auch das Prinzip der Nachhaltigkeit eingeschlossen. Regeln stellen auf diese Weise den institutionellen Rahmen dar, innerhalb dessen die Individuen und sonstigen Akteure frei agieren können. Treten in bestimmten Berei­ chen systematisch unerwünschte Ergebnisse auf, so muss der Regelrahmen verändert werden, wenn man die Ergebnisse verändern will. Moralische Appelle gegen schlechte Anreize in Stellung zu bringen, hilft zumeist wenig. Dem entsprechend gilt: Wenn die Marktergebnisse systematisch unerwünschte Ergebnisse liefern (zum Beispiel Exter­ nalitäten hervorbringen), muss über Änderung der Spielregeln nachgedacht werden, um die unerwünschten Marktergebnisse zu korrigieren.

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Verfassungsregeln, internationale Abkommen, mentale Modelle Diskurse, Politische Entscheidungen (Governance) informelle Regeln (Kultur) Formale Regeln, Institutionen, Infrastruktur, Bildung Handlungen, Interaktionen, Verträge

Ergebnisse (Güter, Raten, Wohlbefinden)

Abb. 1: Institutionen, Handlungen und Ergebnisse (Quelle: Leschke 2015b, 185).

Regeln als institutionelle Beschränkungen kanalisieren das Verhalten unter­ schiedlicher Akteure auf verschiedenen Ebenen. Hierbei muss dem Wandel Rech­ nung getragen werden. Das bedeutet: Der Regelrahmen muss mithilfe von diskursi­ ven Feedbackschleifen permanent kritisch hinterfragt und gegebenenfalls an neue Bedingungen angepasst werden. Regeln stellen somit „relatively absolute absolutes“ (Buchanan 1989) in einer Mehr-Ebenen-Struktur dar (siehe Abb. 1). Abbildung 1 veranschaulicht die Wirkungskanäle zwischen verschiedenen verti­ kalen Ebenen. Auf der untersten Ebene befinden sich die (Markt-) Ergebnisse als Folge der Handlungen (Interaktionen, Verträge) der nächst höheren Ebene (als nicht inten­ dierte Resultate). Diese werden nun wiederum maßgeblich durch die Marktverfassung (Regeln, Institutionen) und durch das leistungsstaatliche Handeln beeinflusst. Diese Ebene wird nun ihrerseits durch die politischen Diskurse, das politische Handeln, also letztlich durch die gute oder schlechte Regierungsführung (Good or Bad Governance), bestimmt. Ob die Regierungsführung gut oder schlecht ist, hängt nun nicht nur von der Verfassungsebene ab, sondern auch der Einbindung in internationale Abkommen und Verträge und den informellen Regeln. Zudem erfolgt eine Rückkopplung von den anderen Ebenen – gegebenenfalls kritisch, je nach Zufriedenheit/Unzufriedenheit mit den Ergebnissen.

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Das Set politischer Entscheidungsregeln umfasst nicht nur das Wahlverfahren und die Entscheidungsfindung in politischen Arenen wie Parlamenten, sondern auch die Kompetenzverteilung im politischen System – und zwar horizontal („Gewalten­ teilung“, „checks & balances“) und vertikal (Föderalismus) – sowie bindende Ver­ fassungsregeln und internationale Abkommen. Hinzu treten die informellen Regeln (unter anderem Moralvorstellungen, die ihrerseits auf Ideologien fußen, vgl. Denzau/ North 1994). Wenn immer wieder unerwünschte Resultate auftreten (zum Beispiel Verstöße ge­ gen den Grundsatz der Nachhaltigkeit), die sich systematisch auf einen defizitären Regelrahmen des Marktes zurückführen lassen⁴, der nicht reformiert wird, muss es auch Defizite im Set der politischen Entscheidungsregeln geben. Diese Defizite muss man ausfindig machen und zu beheben versuchen. Dies ist ohne Zweifel ein mühse­ liges Unterfangen, denn einzelne mächtige gut organisierte Gruppierungen können Vorteile aus der reformierungsbedürftigen Regelstruktur ziehen (Olson 2004), zudem können auch andere Effekte wie Gewöhnung oder Zweifel an der Funktionsfähigkeit von Alternativen für einen „Quasi-Lock-in“ (North 1992, insb. 133) des einmal einge­ schlagenen institutionellen Pfades führen. Die konstitutionelle Ökonomik unterscheidet systematisch zwischen der Regel­ ebene („rules of the game“) und den Spielzügen („choices within rules“), wobei diese Struktur mehrfach ineinandergreifen kann (Abbildung 1). Unerwünschte Resultate müssen aus dieser Perspektive systematisch auf Defizite in der Regelstruktur zurück­ geführt werden. Es geht der konstitutionellen Ökonomik somit um eine kluge „InKraft-Setzung“ von wissensschaffenden Wettbewerbsprozessen in Markt und Gesell­ schaft mittels geeigneter Institutionen. Während die Postwachstums-Anhänger in der schwindenden Menge verfügba­ rer natürlicher Ressourcen und in den Externalitäten, die eingedämmt werden müs­ sen, eine „natürliche Grenze des Wachstums“ sehen und deshalb für eine Abkehr von marktwirtschaftlichen Systemen mit Wachstumszwang eintreten, sehen die Vertreter der konstitutionellen Ökonomik die Quelle des Wachstums an anderer Stelle: nämlich in der unerschöpflichen Welt menschlicher Ideen, durch die dann auch Zahlungsbe­ reitschaften generiert werden können. Wenn es richtig ist, dass Schwächen der Regelsetzung und -durchsetzung für Nachhaltigkeitsprobleme verantwortlich sind, wird der Vorschlag „mehr kollektives Handeln unter Rückführung marktlicher Bereiche“ keine Lösung sein. Vielmehr muss es das Ziel sein, sich durch „kluge“ Regelsetzung das Innovationspotenzial von Märk­ ten zunutze zu machen und unerwünschte Externalitäten möglichst zu vermeiden. Kurzum: Externalitätenprobleme sind aus Sicht der Konstitutionenökonomik kei­ ne Marktversagensprobleme, sondern entstehen durch ineffektive Institutionen. Da

4 Vgl. in diesen Zusammenhang auch die verschiedenen Spielarten des Kapitalismus (bad & good capitalism) und die Verbindung zur Governance-Struktur bei Baumol/Litan/Schramm (2006).

Entwicklung und kollektives Handeln: Marktwirtschaft, Demokratie, Governance | 9

aber das Setzen und die Weiterentwicklung des Regelrahmens eine Funktion des kol­ lektiven Handelns sind, stellen Externalitäten- und Nachhaltigkeitsprobleme Kollek­ tiv- oder Staatenversagen dar (sofern man Staaten als zentralen Regelsetzer oder zu­ mindest Regeldurchsetzer ansieht). Der Korrekturvorschlag kann daher nicht lauten „mehr Staat und weniger Markt“, sondern „Reformen der Marktverfassung und gege­ benenfalls auch der politischen Verfassung“. Das leitet uns über zu der Frage, ob die Demokratie als nationalstaatliches Konzept nach wie vor einen zentralen Stellenwert als Leitidee haben sollte.

4 Ist die Demokratie immer noch ein zentrales normatives Ideal „Demokratie“ stammt von dem griechischen Begriff „δημoκρατία“, was „Herrschaft des Volkes“ bedeutet. Welche Institution bzw. welche Governance-Form verbirgt sich dahinter, wenn wir aus Kostengründen über kollektive Belange nicht stets als gesam­ tes mündiges Volk abstimmen können? Gemäß Theorie und Praxis zwingen die sonst ausufernden Entscheidungsfindungskosten, den Abstimmungsmechanismus zu me­ diatisieren. Wir wählen Volksvertreter für eine bestimmte Zeit, die über die Politik entscheiden. Diese Volksvertreter sind die Parlamentarier, die über die Gesetze als Rahmen und Wegweiser der tagespolitischen Entscheidungen befinden. Die Tages-, Monats- und/oder Jahrespolitik führt die Regierung durch. Diese wird gegebenenfalls vom Parlament gewählt, ihre Spitze gegebenenfalls auch vom Volk. Um Streitigkeiten zwischen der Regierung als Spitze der Exekutivgewalt und dem Parlament (als Legis­ lative) auf der einen und Streitigkeiten zwischen den Bürgern untereinander und der Staatsgewalt auf der anderen Seite zu schlichten, bedarf es einer funktionierenden Schiedsstelle: dies ist die Judikative (Gerichtsbarkeit). Charles de Secondat, Baron de Montesquieu (1748, 1965) trat daher in Anlehnung an Schriften von John Locke (1690, 1974) für eine strikte – auch personelle – Tren­ nung der Staatsgewalt in die Legislative, Exekutive und Judikative ein, um Machtmiss­ brauch, Vetternwirtschaft, Korruption und andere durch Rent Seeking entstehende Privilegien zu verhindern. Ökonomisch interpretiert steigen zwar durch die Gewalten­ teilung die Entscheidungsfindungskosten (ein Autokrat kann ohne Zweifel schneller entscheiden, weil er weniger rechtsstaatliche Regeln beachten muss), die Diskrimi­ nierungskosten (Gefahr durch willkürliche staatliche Entscheidungen diskriminiert zu werden) sinken jedoch auf ein erträgliches Maß.⁵ Ein weiteres Sinken der Diskrimi­ nierungskosten wird erreicht, wenn man in Verfassungen grundlegende Rechte der Bürger niederschreibt (Individual- und Freiheitsrechte, demokratische Grundrechte)

5 Buchanan/Tullock (1962) haben diese Kostenbetrachtung in die Ökonomik eingeführt.

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und diese so ausgestaltet, dass sie auch gegebenenfalls gegen staatliche Entscheidun­ gen fungieren. Auf dieser Basis können Individuen sich gegen die staatlich verkörper­ te „Meinung der Mehrheit“ stellen und diese gegebenenfalls wirksam in die Schran­ ken weisen. Wenn man Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger als zentrale Werte ansieht, tritt man als aufgeklärter Bürger üblicherweise für die Demokratie ein, und zwar nicht für eine reine Wahldemokratie, sondern für eine rechtsstaatliche Demokratie. Wer demgegenüber meint, dass autokratische Staatsformen besser in der Lage sind, über Kollektivbelange zu entscheiden, weil die Bürger stets zu uninformiert (beziehungs­ weise dumm) sind, um bei der Lösung von Kollektivproblemen mitsprechen und mit­ entscheiden zu können, negiert, dass mit autokratischen Systemen die Diskriminie­ rungskosten fast immer auf ein unerträglich hohes Niveau ansteigen. Nicht selten sind Autokraten mit vollmundigen Versprechen (dass es allen schnell und spürbar bes­ sergehe) angetreten, um nur wenige Monate später zu beginnen, das Volk auszubeu­ ten, um den eignen Wohlstand zu mehren und die Macht „nachhaltig“ abzusichern. Dass reflektierte Philosophen, Politologen, Soziologen, Ökonomen und alle, die über Staatsformen nachdenken, mehrheitlich für die rechtsstaatliche Demokratie ein­ treten, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch dieses System anfällig für Korruption, Rent-Seeking-Prozesse, Privilegienpolitik oder auch Formen von Diskri­ minierung ist. Vor diesem Hintergrund scheinen zwei Punkte als Quintessens zu die­ ser Staatsform angebracht: (1) Es lohnt sich für die rechtsstaatliche Demokratie offensiv einzutreten. Es ist ei­ ne Staatsform, die auf das friedliche Lösen von Konflikten ausgerichtet ist. Zu­ gleich wird der Mensch als Träger der Staatsgewalt geachtet. Zudem erlaubt diese Staatsform, dass Probleme aus vielen Perspektiven diskutiert werden. Sie ist die Staatsform, die Kritik, Lernen aus Fehlern und Anpassung an neue Gegebenhei­ ten (Wandel politischer Entscheidungen) vergleichsweise gut gewährleistet. (2) Um Transaktionskosten zu sparen (Entscheidungsprozesse einfacher zu gestal­ ten), wird in realen Demokratien immer von Montesquies‘ Prinzip der strikten – und damit auch personellen – Teilung der Staatsgewalten abgewichen. Dadurch wird allerdings die parlamentarische Kontrolle der Regierungspolitik beschränkt. Die „Verbandelung“ von Legislative und Exekutive zieht das Parlament in die Ta­ gespolitik hinein. Das Parlament wird selbst empfänglich für das Rent Seeking von Interessengruppen. Als Folge kommt es zu einer Privilegienpolitik, die dis­ kriminierend ist. Auch eine Kontrolle der Politik im Sinne des Nachhaltigkeits­ prinzips wird dadurch deutlich erschwert. Folglich kann es nicht nur darum ge­ hen, mit mehr oder weniger starker Vehemenz für die Demokratie einzutreten, sondern auch darum, darüber nachzudenken, das institutionelle Gerüst der De­ mokratie beziehungsweise des Rechtsstaats so zu verbessern, dass das Prinzip der Nachhaltigkeit stärker von den Entscheidern beachtet werden muss.

Entwicklung und kollektives Handeln: Marktwirtschaft, Demokratie, Governance |

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Für die Demokratie gilt somit dasselbe für die Marktwirtschaft. Sie wird nur von der breiten Masse der Bürger unterstützt und stabilisiert werden, wenn sie sich so entwi­ ckelt, dass Diskriminierungen in Form von diskriminierender Privilegienpolitik weit­ gehend unterbunden werden.

5 Wozu benötigt man eigentlich kollektives Handeln und internationale Zusammenarbeit? Ein zentrales Ordnungsprinzip der Ökonomik ist das Subsidiaritätsprinzip. Dieses be­ sagt, dass Aufgaben (Entscheidungen über Maßnahmen, Ausgaben, Einnahmen) erst dann von einer höheren Entscheidungsebene übernommen werden sollen, wenn die untere Ebene mit der Aufgabenfüllung überfordert ist und nächsthöhere Ebene die Aufgabe erwartungsgemäß zufriedenstellend erfüllen kann. Gängiger Weise lassen sich folgende Ebenen unterscheiden: (0) das Individuum, (1) Gruppen in Form frei­ williger Zusammenschlüsse von Individuen, wozu auch Haushalte und Unternehmen zählen, (2) Zwangsvereinigungen wie zum Beispiel Kammern, (3) Kommunen oder Gemeinden als untere Gebietskörperschaften öffentlichen Rechts, (4) Bundesländer, (5) Bundesstaaten, (6) Staatengemeinschaften, (7) Weltebene. Was sind nun Kriterien, um festzustellen, ob eine Aufgabe auf eher unterer oder oberer Ebene angesiedelt sein sollte? Die Kollektivgütertheorie und die Theorie exter­ ner Effekte liefern hierfür Anhaltspunkte: Aufgaben sollten auf der Ebene angesiedelt werden, auf der am ehesten sichergestellt ist, dass die Kreise der Nutzer, Zahler und Entscheider möglichst deckungsgleich sind (Olson 1969). Würde nämlich ein Kol­ lektivgut, das vielen Individuen zu Gute kommt, auf unterer Ebene bereitgestellt, entstünden zwangsläufig positive externe Effekte, da nicht zahlende Nutzer nicht vom Konsum ausgeschlossen werden können. Die Exklusionsmöglichkeiten (Kön­ nen zahlende von nicht zahlenden Nutzern kostengünstig getrennt werden?) spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Andere Kriterien können Wissensvorsprünge einer bestimmten Ebene oder Transaktionskostenersparnisse aufgrund wiederkehrender ähnlicher Tätigkeiten sein.⁶ Vor diesem Hintergrund lassen sich Argumente für eine internationale Zusam­ menarbeit finden. So können Staaten die äußere Sicherheit durch eine Zusammenar­ beit deutlich effizienter gestalten – verglichen mit separaten nationalstaatlichen Mi­ litärs. Das von Buchanan (1984) in Anlehnung an Thomas Hobbes (1651) entwickelte Argument, dass eine staatliche Sicherung des Eigentums und anderer Rechte kosten­ günstiger ist als eine rein individuelle Sicherung lässt sich analog auf die koopera­ tive Zusammenarbeit von Staaten übertragen. Auch im Bereich der länderübergrei­

6 Vgl. zu diesem Problemkomplex Grossekettler (2006).

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fenden externen Effekte (zum Beispiel Klimapolitik) erscheint eine internationale Zu­ sammenarbeit notwendig zu sein. Auch zur Abwehr globaler Wirtschaftskrisen ist ein abgestimmtes Verhalten der betroffenen Länder geboten, um wirksam eine Stabilisie­ rung oder auch Aufhellung der Erwartungen der (potenziellen) Investoren einzulei­ ten. Auch kann es für einzelne Staaten mit ähnlichen konstitutionellen Präferenzen sinnvoll sein, Integrationsschritte hin zu einem gemeinsamen Markt, gemeinsamer Regulierung und/oder auch gemeinsamer Geldpolitik und Außenpolitik einzuleiten. Dies schafft Rechtssicherheit für Investoren und erleichtert es, eigenen Positionen in den Bereichen der Geld- und Außenwirtschaft international leichter durchzusetzen. Kurzum: Internationale Kooperation und Integration können als Regelbindungen zum wechselseitigen Vorteil angesehen werden.⁷ Ob sie es tatsächlich sind, hängt al­ lerdings von ihrer konkreten Ausgestaltung ab. Ein Problem scheint aber in Bezug auf die internationalen Vereinbarungen noch erwähnenswert: Das Problem der Durchsetzung vereinbarter Regeln. Während man bei international vereinbarten Handelsregeln noch darauf hoffen kann, die Durch­ setzung durch die Androhung von Retorsionsmaßnahmen gegenüber Regelbrechern zu gewährleisten, fehlen bei Umweltschutzabkommen oder Bekenntnissen zu Men­ schenrechten oder Arbeitsschutzregeln solche Möglichkeiten. Hier ist man auf die Exekutivorgane der Staaten und deren Mitwirkung bei der Regeleinhaltung und -durchsetzung angewiesen. Zwar könnte man sich vorstellen, dass Strafen für Regel­ brecher in der Form ausgesprochen werden, dass letztlich ein Ausschluss aus einem Staaten- und damit Regelverbund droht. Das Beispiel der Europäischen Union zeigt jedoch, wie schwer es ist, solche harten Maßnahmen zu vereinbaren und wirksam durchzusetzen. Ich glaube, dass zukünftige Abkommen zwischen Staaten in einem viel größe­ ren Maße das Problem der Durchsetzung vereinbarter Regeln und damit die Frage der wirksamen Sanktion von Regelbrechern in das Zentrum rücken müssen. Wird diese Frage nicht offensiv angegangen und ein Stück weit gelöst, drohen internationale Ver­ einbarungen ihren Stellenwert und ihre Bedeutung zu verlieren.

6 Ist eine (internationale) Entwicklungszusammenarbeit grundsätzlich sinnvoll? Der Begriff „Entwicklungszusammenarbeit“, der die Begriffe der Entwicklungshilfe oder auch der Entwicklungspolitik weitgehend abgelöst hat, wird von „Wikipedia“ folgendermaßen umschrieben: „Entwicklungszusammenarbeit . . . ist das gemeinsa­

7 Internationale Kooperationen lassen sich grundsätzlich genauso legitimieren wie gesellschaftliche Regelwerke nationaler Staaten; nämlich als institutionelle Einrichtungen zum wechselseitigen Vorteil. Vgl. hierzu auch Rawls (1998: 81), der zudem betont, dass die Regeln fair sein müssen.

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me Bemühen von Industrieländern und Entwicklungsländern, weltweite Unterschie­ de in der sozioökonomischen Entwicklung und in den allgemeinen Lebensbedingun­ gen dauerhaft und nachhaltig abzubauen.“ Bei dieser Definition fällt auf, dass hier eigentlich nur auf staatliche Entwicklungszusammenarbeit abgestellt wird, denn es ist von Industrie- und Entwicklungsländern – also Staaten – die Rede. Genauer und zielführender wäre es, in die obige Begriffsumschreibung noch „Akteuren in“ einzufü­ gen (und zwar zwischen „von“ und „Industrieländern“). Mit diesem Einschub würde der Begriff auch eine Zusammenarbeit nicht staatlicher Akteure in Industrie- und Ent­ wicklungsländern als EZ umfassen – was sinnvoll erscheint. Ein mögliches Motiv für die Entwicklungszusammenarbeit lässt sich unmittelbar von dem älteren Begriff der Entwicklungshilfe ableiten: ein altruistisches Motiv der Hilfestellung für Menschen, die unglücklicherweise und unverschuldet im Umgebun­ gen geboren wurden, die sie in Armut gefangen halten. Hierzu ist es erst einmal nötig, eine Armutsgrenze zu definieren: Die internationale Gemeinschaft legt diesbezüglich folgendes fest: „Die internationale Armutsgrenze ist der Durchschnitt der nationalen Armutsgrenzen der fünfzehn ärmsten Entwicklungsländer. Die jüngste PPP-Erhebung durch das ICP fand 2011 statt und bildete die Grundlage für die neue Armutsgren­ ze von 1,90 Dollar. Frühere Erhebungen gab es 1985 (Anhebung der Armutsgrenze auf 1,01 Dollar), 1993 (1,08 Dollar) und 2005 (1,25 Dollar).“⁸ Andererseits kann man Armut auch mit einem fehlenden Zugang zu lebens- und entwicklungsnotwendigen Grundgütern – wie Nahrung, Frisch- und Abwasser, Gesundheits- und Bildungssys­ tem, etc. – definieren. Ziel wäre es dann, Voraussetzungen zu schaffen, um den Zu­ gang zu fehlenden Grundgütern zu ermöglichen. Als Motiv für eine Bereitschaft, in die Entwicklungshilfe oder -zusammenarbeit „einzusteigen“, kann man also zunächst einmal Nächstenliebe anführen. Oder man fundiert es mit dem Gedankenexperiment, dass man selbst froh wäre, Hilfe zu erhal­ ten, wenn man in solch ungünstiger Umgebung geboren ist und aufwachsen muss. Dies ist ein Reziprozitätsgedanke, dem die Hilfsbereitschaft als Prinzip entspringt. Man kann dies auch mit der Denkfigur des Rawls‘schen Schleiers der Unwissenheit (Rawls 1979) verbinden, und zwar in Bezug auf den eigenen Geburtsort. Risikoaver­ se Individuen würden dann wohl für das Prinzip der weltweiten Armutsbekämpfung eintreten, um zu vermeiden, dass sie bei ungünstigen Geburtsorten in der Armutsfalle gefangen sind. Allerdings hat die Hilfe aus Mitmenschlichkeit Grenzen: Hat man das Gefühl, dass Hilfeleistungen wenig bewirken und/oder dass die Hilfe zu einer spürbaren Schmäle­ rung des eigenen Wohlstands wird, sinkt die Bereitschaft spürbar – mitunter dras­ tisch. Ein anderer Ansatz lässt als „Entwicklungszusammenarbeit im eigenen Interesse“ umschreiben. Hierbei steht eine Investition via Entwicklungszusammenarbeit, die all­ seitig vorteilhaft ist, im Vordergrund. Die deutsche Bundesregierung (o. J.) umschreibt

8 reset.org (o. J.).

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diesen Ansatz wie folgt: „Geberländer profitieren davon, indem sie langfristig in den Partnerländern neue Märkte eröffnen und Zugang zu Rohstoffen erhalten, die ihnen die Entwicklungsländer bieten. Besonders Deutschland, als rohstoffarmes Land, ist auf Rohstoffimporte angewiesen. Die Projekte der deutschen Entwicklungszusam­ menarbeit sind hierbei sozusagen Wegbereiter für wirtschaftliche Kooperationen.“ Man kann eine investive Sicht der EZ auch weniger „euphorisch“ auslegen und ausdrücken; nämlich etwa so: Durch Entwicklungshilfe werden Regierungssysteme in Krisengebieten möglicher Weise soweit stabilisiert, dass sie nicht länger ein Herd von Wirtschaftsflüchtlingen, politischen Flüchtlingen und/oder Keimzelle von Terro­ rismus oder sonstigen internationalen Straftaten (zum Beispiel Cyber-Angriffen) sind. Auch aus dieser Perspektive ließe sich EZ gegebenenfalls legitimieren. Dieser letzte Punkt leitet uns auch noch auf das grundsätzliche Problem des Frie­ dens auf der Welt über: Weltfrieden kann man zwar etwas abschätzig als ein reines Ideal – scheinbar nur etwas für Träumer – ansehen, aber man darf nicht vergessen, dass Kollektivgüter wie innere Sicherheit auch nie vollständig erreicht werden (kön­ nen – unter Knappheit). Dennoch ist Frieden eine Grundvoraussetzung für Investitio­ nen, Handel und sonstige Kooperationen. Die Gefahr oder der Ausbruch eines Krieges macht langfristiges Planen und Handeln nahezu unmöglich. Daher sollte eine EZ auch stets darauf ausgerichtet sein, für Governance-Strukturen einzutreten, die eine friedli­ che Konfliktlösungen fördern und damit wahrscheinlicher machen. Daran dauerhaft auf internationaler Ebene zu arbeiten (über die Vereinten Nationen), scheint ein ver­ nünftiges und legitimes Anliegen zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Bestrebungen, die Staaten zu verpflichten, die Würde des Menschen zu achten, das heißt sich zur Einhaltung von grundlegenden Menschenrechten zu bekennen. Dass es also gute Argumente – und damit eine grundsätzliche Legitimation – für eine EZ (samt Maßnahmen zur Friedenssicherung und Einhaltung von Menschenrech­ ten) gibt, dürften die meisten Individuen anerkennen.⁹ Wenn dies so ist, scheint es sinnvoll, sich über Prinzipien und Regeln der EZ zu verständigen – dies schafft Er­ wartungssicherheit und schirmt bis zu einem gewissen Grad vor Willkür durch Rent Seeking und Korruption ab. Zudem erscheint es sinnvoll, sich auch international über Maßnahmen der EZ abzustimmen oder dies auch an internationale Organisationen zu delegieren. Dies stellt eine EZ auf Dauer (Nachhaltigkeit), und gibt den Organisa­ toren vergleichsweise gute Anreize, wirksame Konzepte und Maßnahmen zu suchen, zu analysieren und zu implementieren. Grundsätzlich gibt es somit Argumente für eine internationale EZ. Dies bedeu­ tet aber nun keineswegs, dass man der EZ nicht auch wohlbegründet skeptisch ge­ genüberstehen kann. Denn man kann ja durchaus die Meinung vertreten, dass die zur EZ eingesetzten Maßnahmen aufgrund von schlechter Dosierung, Analysefehlern oder Kontroll- und Durchsetzungsproblemen stets mehr Kosten verursachen als Nut­ zen stiften. Hier gilt es dann Verbesserungen bzw. Reformen einzuleiten.

9 Vgl. hierzu auch gfs.bern (2014) sowie die Ausführungen der Bundesregierung (o. J.).

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7 Kernprobleme kollektiven Handelns und Ansatzpunkte zu deren Lösung– fünf Thesen zum Abschluss Die Legitimation kollektiven Handelns bedeutet nun (leider) keineswegs, dass kollek­ tives Handeln tatsächlich die Chance, den Nutzen beziehungsweise die Wohlfahrt der Individuen durch die Implementierung geeigneter Maßnahmen tatsächlich erhöht. Ineffektive und/oder ineffiziente Maßnahmen kollektiven Handelns können dazu füh­ ren, dass ein völliges Unterlassen von Kollektivhandlungen für die betroffenen Indi­ viduen besser wäre beziehungsweise besser ist. Dies führt zu unserer ersten These: These 1: Dass kollektives Handeln auf einer bestimmten Ebene legitim erscheint, bedeutet nicht, dass durch die getroffenen Maßnahmen kollektiven Handelns tatsäch­ lich die Wohlfahrt steigt. Die erste These leitet uns zur Frage nach den Gründen für mögliche „Misserfolge“ kollektiven Handelns über. Und als Antwort auf diese Frage soll als zweite These die folgende formuliert werden: These 2: Abstrakt formuliert können alle auftretenden Probleme kollektiven Han­ delns als Wissens- oder/und Anreizprobleme klassifiziert werden. Bei komplexen Entscheidungen auf gesellschaftlicher – auch internationaler Ebe­ ne – sind Individuen und Kollektive (Organisationen) oft mit zahlreichen Wissenspro­ blemen konfrontiert. Unternehmen wissen nicht, ob ihre Innovationen und Investi­ tionen erfolgreich sind, internationale Entwicklungsorganisationen (IWF, Weltbank) wissen nicht, ob die unterstützten Entwicklungsprojekte erfolgreich sein werden. Und allein die Abschätzung der Folgen von Umweltproblemen – wie zum Beispiel dem Kli­ mawandel – samt den Resultaten eingeleiteter Gegenmaßnahmen ist äußerst schwie­ rig und mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Auch wissenschaftliche Modelle aus den Naturwissenschaften (zum Beispiel Klimamodelle) oder aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften (Konjunktur- und Wachstumsmodelle) sind genau genom­ men stets falsch, auch wenn sie zum Teil wichtiges Orientierungswissen vermitteln. Menschen entscheiden also stets unter mehr oder weniger großer Unsicherheit – re­ sultierend aus zahlreichen Wissensdefiziten, die sich auch durch wissenschaftlichen Fortschritt nie abschaffen lassen. Denn menschliches Handeln dringt stets in neue Bereiche vor und schafft neue Probleme, so dass auch für die Wissenschaft stets neue Rätsel entstehen. Wissensprobleme haben auch eine unmittelbare Verbindung zu Anreizproble­ men. Theorien und Modelle aus dem Bereich der Prinzipal-Agent-Probleme oder aus dem Bereich der Vertragsbrüche resultieren aus dem Unvermögen, in Verträgen – internationale Verträge zwischen Staaten eingeschlossen – alle möglichen Umwelt­ zustände, Handlungen und sonstigen für den Vertrag relevanten Ereignisse richtig zu antizipieren und in der Vereinbarung adäquat zu verarbeiten. Dies leitet uns zur dritten These über:

16 | Martin Leschke These 3: Verträge und Abkommen aller Art und damit auch alle Vereinbarungen über Governancestrukturen sind immer „unvollständige Verträge“. Was folgt nun aus dieser dritten These? Zum einen können wir nicht erwarten, dass alle erhofften Resultate tatsächlich eintreten – das ist klar (und trivial). Leider dürfte auch – zumindest für Ökonomen – klar sein, dass asymmetrische Information, mangelnde Überwachung – verbunden mit mangelnder Compliance – dazu führen, dass einzelne Vertragsparteien hier und da die Unvollständigkeit zu ihren Gunsten ausnutzen. Es treten somit vielschichtige Trittbrettfahrer- und Hold-Up-Probleme auf (Williamson 1996). Hierbei nehmen verschiedene Akteure – private Individuen, Unter­ nehmen, Staatsvertreter oder ganze Staaten – sowohl die Rolle der Ausbeuter als auch die Rolle der Ausgebeuteten ein. Eine zweite Art der Unvollständigkeit betrifft das wei­ te Feld der Sanktionen (Strafen). Selbst wenn viele „Dinge“ in Verträgen und Abkom­ men (inklusive der Governancestrukturen) aufgenommen und geregelt werden, muss auch festgelegt werden, wie die Sanktionen gegen Regelbrecher ausgestaltet sein sol­ len, so dass sie eine wirksame Abschreckung gegen Defektion darstellen. In diesem Zusammenhang sind drei Bereiche von Bedeutung: erstens die Festlegung des Straf­ maßes, zweitens die zur Verantwortung zu ziehenden Akteure und drittens das Pro­ zedere der Feststellung der Regelübertretung. Als Quintessenz lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass komplexe Vertragswer­ ke immer unvollständig in dem ein- oder anderen Bereich sind. Dies macht sie zu Ein­ fallstoren der Ausbeutung und des Trittbrettfahrens. Gegen dieses Problem kann man nur sehr bedingt mit moralischen Appellen vorgehen, sondern man muss die Anreiz­ defizite ausfindig machen und – zumindest ein Stück weit – beheben. Dies leitet zur vierten These über: These 4: Verträge, Abkommen und Governancestrukturen müssen von den be­ troffenen Akteuren permanent hinterfragt und weiterentwickelt werden, um uner­ wünschte Lücken zu schließen und die Anreizmechanismen so auszugestalten, dass die gemeinsamen Ziele erreicht werden. Die vierte These beinhaltet den Punkt, dass Regelsysteme stets an neue Gegeben­ heiten angepasst werden müssen, um erfolgreich ihre Wirkung entfalten zu können. Dies ist in dynamischen (realen) Umwelten ein notwendiger und permanenter Pro­ zess. Allerdings setzt dies voraus, dass sich (a) die Akteure der Probleme bewusst sind und (b) erkennen, dass es in ihrem eigenen langfristigen Interesse ist, den Re­ gelrahmen weiterzuentwickeln, statt Lücken für sich auszunutzen. Solche effektiv arbeitenden Problemlösungsmechanismen sind auf der konstitutionellen Ebene rea­ liter (leider) selten vorhanden. Daher ist die Analyse von Governancestrukturen mit der Perspektive „Analysieren, um umsetzbare Regelverbesserungen ausfindig zu ma­ chen“ ein Kerngeschäft der Konstitutionen- oder Ordnungsökonomen. Um solche Analysen seriös und zielgerichtet durchzuführen, empfiehlt es sich, je nach konkreter Problemstellung, Erkenntnisse von Nachbarwissenschaften (zum Beispiel Rechts­ wissenschaft, Sozialpsychologie, Soziologie) zu integrieren. Diese Art von Interdis­ ziplinarität schärft den Blick für relevante Kosten- und Nutzenkategorien. Wahrneh­

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mungen, Ideologien und Wertschätzungen können auf diese Weise genauer erfasst werden, genau wie Pfadabhängigkeiten und Lock-In-Situationen. Hierbei sollte der Ökonom allerdings nicht auf methodische Vielfalt zurückgreifen, sondern den Kern seiner Analyse – Knappheit, Ziele, Restriktionen und Anreize – beibehalten (gerade das macht ja einen Ökonomen aus). Fragen wie „Was sind die relevanten Restriktio­ nen? Wie werden verschiedene Situationen von den Akteuren wahrgenommen und bewertet? Wie hoch sind die Wechselkosten eingeschlagener institutioneller Pfade und wie werden diese empfunden? Wie werden Werte und Ideologien gesteuert und verändert?“ lassen sich oftmals aber nur befriedigend analysieren und ein Stück weit beantworten, wenn nachbarwissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden. Als fünfte These lässt sich somit formulieren: These 5: Eine zielführende Analyse komplexer Regelwerke sollte interdisziplinär ausgerichtet sein, um möglichst alle relevanten Kosten- und Nutzenaspekte (die oft auf subjektiven Wahrnehmungen, Werten und Ideologien beruhen) zu erfassen. Hier­ bei sollte der Kern der ökonomischen Analyse (Fokussierung auf relevante Kosten, Nutzen und Anreize) beibehalten werden. Eine solche ökonomisch aufgeklärte Interdisziplinarität bietet folgende Vorteile: Ökonomische Kernpunkte, die von zentraler Bedeutung sind, um Interaktionen im Markt und anderen Arenen kollektiven Handelns zu verstehen, bleiben wesentliche Bestandteile der Analyse. Dies sind: – Anreizanalysen basierend auf relevanten Kosten und Nutzen sind als Mikrofun­ dierung essenziell. – Wettbewerbsprozesse im Markt und in anderen Umgebungen (der Politik) dienen der Wissensschaffung. – Wettbewerb und Freiheit sind durch adäquate Regeln in Märkten und in der Poli­ tik so zu kanalisieren, dass ein produktiver Leistungswettbewerb entsteht. Mit diesen (unter anderem) ökonomischen Kategorien angereichert mit nachbarwis­ senschaftlichen Erkenntnissen lassen sich Regel- und Governance-Systeme auf eine Art und Weise analysieren, dass Schwachstellen aufgedeckt und Reformvorschläge in die Diskussion eingespeist werden können. Eine zufriedenstellende Entwicklung – flankiert mit wirtschaftlichem und gesell­ schaftlichen Fortschritt – wird in Regionen dieser Welt nur dann zu erwarten sein, wenn es gelingt, die Governance-Strukturen so zu verbessern, dass Prozesse des Ler­ nens in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Recht und Moral initiiert werden. Dies ist meines Erachtens auch die Botschaft, die uns Karl Poppers kritischer Rationalismus sendet.¹⁰ Hier sollte auch die Wissenschaft verstärkt ansetzen.

10 Es sei an dieser Stelle auf die gut lesbare populäre Aufsatzsammlung von Karl Popper verwiesen: Auf der Suche nach einer besseren Welt aus dem Jahr 1987.

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Wachstum, Entwicklung und Governance: Zur Interdependenz von Regierungsführung und wirtschaftlicher Entwicklung 1

Einführung | 23

2

Der Institutionenbegriff | 24

3

(Politische) Institutionen und wirtschaftliche Entwicklung | 26 3.1 Indikatoren für Regierungsführung und Demokratie | 27 3.2 Institutionen und wirtschaftliche Entwicklung – Empirie | 30

4

Kulturelle Charakteristika als Einflussfaktoren | 34 4.1 PSI-Modell | 37 4.2 Mögliche Operationalisierbarkeit des PSI-Modells | 41

5

Fazit | 43

1 Einführung Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung oder Wirtschaftswachs­ tum einerseits und der Existenz von bestimmten Institutionen – insbesondere „gute Regierungsführung“ im Sinne demokratischer Strukturen oder Prozesse, aber auch entsprechend eines erweiterten Governancebegriffs – andererseits wird in der ein­ schlägigen Literatur seit langem diskutiert. Theoretisch wie auch empirisch lassen sich hier sowohl Zusammenhänge als auch kausale Abhängigkeiten begründen; die Annahme hinter allen Modellen ist die Hauptannahme der Institutionenökonomik seit ihren Anfängen: Institutions matter! Gleichwohl sind Art und Umfang des Einflus­ ses von Regierungs- und Governancequalität auf Wachstum und Entwicklung nicht unumstritten und teilweise empirisch schwächer als theoretisch ableitbar. Dies gilt umso mehr mit Blick auf weniger trennscharf zu erfassende informelle Institutionen oder in Fällen, wo einzelne institutionelle Dimensionen nicht kohärent sind. Darüber hinaus ist die einschlägige Literatur auch gekennzeichnet von der Diskussion über Daten, Indikatoren und methodischen Schwierigkeiten. Der vorliegende Beitrag trägt zu dieser Debatte um die Rolle von Institutionen in zweierlei Hinsicht bei: Zum einen erfolgt eine kritische Reflexion des Institutionenbe­ griffs sowie eine Analyse bestehender empirischer Arbeiten zum Thema, in welcher schwerpunktmäßig die Frage nach der Tauglichkeit der verwandten Indikatoren so­ wie inhaltliche wie methodische Inkonsistenzen der (empirischen) Literatur disku­ tiert werden. Anschließend erfolgt mit der Diskussion kultureller Faktoren als Komple­ ment oder Substitut „traditionell“ definierter Institutionen eine bescheidene Erweite­ https://doi.org/10.1515/9783110696745-002

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rung der Literatur. Das Hauptargument ist an dieser Stelle, dass weniger die formellen und beobachtbaren Institutionen relevant sein könnten, sondern deren kulturelle Ba­ sis, die in verschiedenen Dimensionen als „funktionales Äquivalent“ wirkt.¹

2 Der Institutionenbegriff Die Frage, warum einige Länder wirtschaftlich erfolgreicher sind als andere wird in der einschlägigen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Literatur sowohl theore­ tisch als auch empirisch diskutiert. Neben der traditionell neoklassisch orientierten wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, tragen verschiedene Positionen zu dieser Diskussion bei. Während einige Ansätze auf die Rolle von Technologie und Innovati­ on abzielen (vgl. Romer 1990; Stiglitz/Greenwald 2014) vertreten etwa Diamond (2017) und Morris (2011) den Standpunkt, dass sich Länder aufgrund ihrer geografischen Vor­ aussetzungen und der sich daraus ergebenden sozialen Strukturen unterschiedlich entwickeln; andere wie etwa Landes (2002) und Harrison (2000) fokussieren auf die Kultur eines Landes bei der Entwicklung: „Culture matters!“. Seit den 1930er-Jahren, verstärkt auch im Rahmen von Entwicklungsforschung in den Wirtschafts- und Sozial­ wissenschaften sowie im Zuge der Transformationsprozesse der 1990er-Jahre in Ost­ europa und Asien, ist zunehmend die besondere Rolle von Institutionen in diesen Pro­ zessen Gegenstand theoretischer wie auch empirischer Analyse geworden. Nach wie vor unterrepräsentiert ist jedoch die Inklusion von Institutionen in formale Wachs­ tumsmodelle (als Ausnahme vgl. Gradstein 2002 und 2005; Tebaldi/Elmslie, 2008). “[W]e are still in the early stages when it comes to incorporating institutions into our growth theories” (Sala-i-Martin 2002: 18). Institutionen sind in diesem Zusammenhang sowohl als Spielregeln wie auch Spielergebnis zu verstehen; nach North “Institutions are the rules of the game in a society or, more formally, are the humanly devised constraints that shape human in­ teraction, [. . . ] they structure incentives in human exchange, whether political, social, or economic” (North 1990: 3). Sie bilden ein – formelles oder informelles – Netzwerk oder Normensystem und determinieren das Handeln der Akteure, sei es offiziell oder inoffiziell (North 1992). Formelle Institutionen wie Gesetze oder Organisationen ent­ stehen oftmals aus informellen Institutionen, z. B. denkbar ist an dieser Stelle die Entstehung einer formellen Verfassung entsprechend bestimmter Regeln, welche informell bereits zuvor existiert haben, jedoch aufgrund einer gestiegenen Gruppen­

1 Die Autoren danken der Korreferentin Dr. Lena Gerling herzlich für Ihre hilfreichen Kommentare im Rahmen des Radein-Seminars 2019, allen Teilnehmern für Anregungen und Prof. Dr. Nils Otter für die Prägung des Begriffs „funktionales Äquivalent“. Diesem Beitrag zugrunde liegende Arbeiten wurden gefördert im Rahmen des ERDF Interreg Alpine Space Projekts „Alpine Social Innovation Strategy“ (ASIS).

Wachstum, Entwicklung und Governance |

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größe informell nicht länger durchsetzbar sind (vgl. Erlei/Leschke/Sauerland 2007). Entsprechend gilt “institutions need not be ‘designed’, and even if they are, their ac­ tual operation may be quite different than intended” (Pande/Udry 2005: 2). Dennoch ist keinesfalls ein Automatismus zu konstatieren, welcher zur Herausbildung von bestimmten formellen Institutionen führt (Blum/Dudley/Leibbrand 2005). Unterschieden werden können soziale, ökonomische und politische Institutio­ nen, wobei eine trennscharfe Abgrenzung dieser oftmals nicht vorgenommen wird – etwa können die Abwesenheit von Korruption oder Regulierungsaktivitäten sowohl als politische wie auch ökonomische Institutionen angesehen werden. Differenziert werden kann auch entsprechend der Durchsetzbarkeit in externe (staatliche) Institu­ tionen, deren Durchsetzung „unter Rückgriff auf den Staat erfolgt“ (Voigt 2002: 39) und interne (private) Institutionen, für welche dies nicht zutrifft. Entsprechend kön­ nen Institutionen auch als formelle Institutionen – welche über ein morphologisches Korrelat verfügen – und informelle Institutionen klassifiziert werden. Interne und externe Institutionen können dabei durch eine komplementäre, substitutive, konfli­ gierende oder auch neutrale Beziehung zueinander gekennzeichnet sein (vgl. Voigt 2002). Grundsätzlich werden als „ökonomische Institutionen” eher Institutionen auf Meso- oder Mikroebene diskutiert, etwa die Struktur von Verfügungsrechten oder die Existenz von wettbewerblich organisierten Märkten (vgl. Acemoglu/Johnson/Robin­ son 2005). Sie können sowohl intern als auch extern ausgestaltet sein. Als „politi­ sche Institutionen“ – und somit zwangsläufig externe Institutionen – können sowohl Struktur (etwa Regierungsform) als auch Funktionsweise (etwa ein effizientes Regu­ lierungs- oder Wahlsystem oder ein reibungsloses und nicht von Revolution bedroh­ tes Funktionieren des Systems) des politisch-administrativen Systems verstanden werden, sie wirken entsprechend sowohl auf Makro-, Meso- und Mikroebene. Sozia­ le Institutionen sind in der einschlägigen (ökonomischen) Literatur bislang relativ schwach abgedeckt, diese wirken auf Mikro- wie Mesoebene und umfassen in der Regel eher informelle beziehungsweise interne Institutionen. Als Institution ist nicht ausschließlich das Regelsystem selbst zu verstehen, son­ dern ebenso die entsprechenden Durchsetzungsmechanismen, welche seine Einhal­ tung garantieren sollen (Erlei/Leschke/Sauerland 2007). Darüber hinaus haben In­ stitutionen „informatorischen Gehalt und verringern deshalb strategische Unsicher­ heit“ (Voigt 2002: 38). Basierend darauf werden sie oftmals als conditio sine qua non für Wirtschaftswachstum und Entwicklung diskutiert (vgl. Apolte 2004; North 1991; Sachs/Warner 1997; Wagener 2004). Sowohl theoretisch als auch empirisch lässt sich also eine zentrale Rolle von verschiedenen Institutionen begründen (Erlei/Leschke/ Sauerland 2007; Schomaker 2011). Entsprechend stellt sich für den vorliegenden Bei­ trag die Frage, welche Organisationen oder Regeln unter dem Institutionenbegriff ge­ fasst werden sollen. Im Zuge einer Überprüfung der Rolle von Institutionen für wirt­ schaftliche Entwicklung und Wachstum ist eine Reihe von Ansätzen denkbar, etwa eine Überprüfung der rein formellen Anwesenheit von Institutionen (de jure) versus

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deren Funktionsfähigkeit oder Exekutierbarkeit (de facto) oder „Qualität“ im Sinne normativ erwünschter Outputs oder etwa ein Fokus auf die Kohärenz von Institutio­ nen untereinander beziehungsweise zwischen formellen und informellen Institutio­ nen. Grundsätzlich besteht in der einschlägigen Literatur Konsens, dass Institutio­ nen als endogen angesehen werden können: „Economic institutions, and institutions more broadly, are endogenous; they are, at least in part, determined by society, or a segment of it. Consequently, the question of why some societies are much poo­ rer than others is closely related to the question of why some societies have much ‘worse economic institutions’ than others” (Acemoglu/Johnson/Robinson 2005: 389). Diese Annahme mag dann in Frage gestellt werden, wenn es zu einem „Institutio­ nentransfer” aufgrund von Besatzung oder Eroberung kommt, was zu nicht nationalkonsensual geprägten Institutionen, sondern einer gewaltsamen „Transplantation“ von Institutionen führt, scheint aber grundsätzlich gültig.² Entsprechend werden Institutionen als „collective choice“ angesehen, welche von der Gesellschaft, oder zumindest signifikanter Teile davon, präferiert werden, beziehungsweise welche von denjenigen Eliten präferiert wird, welche die Macht in dem entsprechenden Land ausüben: “[T]he distribution of political power in society is the key determinant of their evolution“ (Acemoglu/Johnson/Robinson 2005: 391 f.). Nichts desto trotz besteht durchaus nicht immer Konsens über diese Präferenzen: „Consequently, there will ty­ pically be a conflict of interest among various groups and individuals over the choice of economic institutions” (Acemoglu/Johnson/Robinson 2005: 390).

3 (Politische) Institutionen und wirtschaftliche Entwicklung Im Folgenden sollen wesentliche einschlägig verwandte Indikatoren für Demokratie beziehungsweise Regierungsform oder einzelne Institutionen vorgestellt und disku­ tiert werden, die in den nachfolgend berücksichtigten Studien – sowie insgesamt ei­ ner Mehrheit der Forschungsarbeiten zum Thema – Verwendung finden. Während die einzelnen Indikatoren durchaus verschiedene Schwerpunkte setzen, basiert die grundsätzliche Ausrichtung aller auf einer Annahme von Demokratie als im Wahlsys­ tem abbildbares Konstrukt, wie etwa von Lipset vorgestellt “democracy (in a complex

2 Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf nationale Institutionen – Strukturen, Prozesse oder Re­ geln, welche in einem Nationalstaat verankert sind, die internationale Dimension wird weitgehend ignoriert, obgleich die erörterten methodischen Fragen in diesem Fall ebenso gelten. Jedoch ist die einschlägige Literatur in diesem Bereich insofern unterentwickelt, als dass in der Regel der Einfluss spezifischer Institutionen auf einzelne Felder fokussiert wird, etwa die Rolle von Handelsabkommen für den Welthandel.

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society) is defined as a political system which supplies regular constitutional oppor­ tunities for changing the governing officials“ (Lipset 1959, 71; dazu auch Przeworski 2000).

3.1 Indikatoren für Regierungsführung und Demokratie Ein Beispiel für eine dichotome Demokratiemessung ist die von Michael Alvarez, José Antonio Cheibub, Fernando Limongi und Adam Przeworski angewandte Methode; hier werden Demokratien als jene Länder, in denen die Regierenden durch freie Wah­ len bestimmt werden, definiert. Darüber hinaus müssen ein frei gewählter Regierungs­ chef und Parlament existieren, mindestens zwei Parteien zu Wahlen antreten und es muss mindestens ein Regierungswechsel unter identischem Wahlrecht stattgefunden haben, damit die Demokratievariable auf 1 gesetzt wird. Die Governance-Indiaktoren der Weltbank umfassen 215 Länder und Territorien; die einzelnen Indikatoren in kontinuierlicher Messung reichen von −2.5 (schlecht) bis 2.5 (sehr gut) und umfassen im Detail: Mitspracherecht und Verantwortlichkeit, politische Stabilität und Abwesenheit von Gewalt, Leistungsfähigkeit der Regierung, staatliche Ordnungspolitik, Rechtsstaatlichkeit und Korruptionskontrolle. Verschie­ dene Datenquellen, die insbesondere Perzeptionsdaten von unterschiedlichen Ziel­ gruppen, etwa Zivilgesellschaft und Experten aus Politik und Wirtschaft nutzen, lie­ gen der Datenbank zugrunde. Der von Ted R. Gurr initiierte Polity-Index als Beispiel für eine kontinuierliche Messung nimmt zwei voneinander getrennte Messungen auf einer Skala von 0 bis 10 für die Variablen Demokratie und Autokratie als Grundlage. Der Polity-Indexwert be­ rechnet sich dann aus dem Wert für Demokratie minus dem Autokratie-Wert, eine kon­ tinuierliche Skala von −10 (maximal autokratisch; hereditäre Monarchie) bis +10 (ma­ ximal demokratisch, konsolidierte Demokratie) bildet den eigentlichen Index. Die Nichtregierungsorganisation Freedom House publiziert mit dem Bericht „Freedom in the World“ einen Datensatz, in dem für ein globales Sample von Staaten und Territorien der Grad an Demokratie und Freiheit beurteilt werden. Die Eintei­ lung beruht auf Checklisten zur Verwirklichung politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten, die durch Länderexperten auf Skalen von 1 (frei) bis 7 (am wenigsten frei) durchgeführt werden; aufbauend werden Schwellenwerte für die Klassifikation eines Landes als „frei“ (1.0 bis 2.5), „teilweise frei“ (3.0 bis 5.0) und „nicht frei“ (5.5 bis 7.0) verwandt. Der von Hans-Joachim Lauth entwickelte „Kombinierte Index der Demokratie“ (KID) folgt einem dreidimensionalen Demokratieverständnis, welches die Dimensio­ nen Freiheit, Gleichheit und Kontrolle umfasst. Der KID nutzt eine Kombination der Datensätze des Polity-Projektes und von Freedom House mit dem Rule-of-Law-Indika­ tor der Weltbank; um zusätzlich die Staatlichkeit in die Messung einzubeziehen, wird dazu noch der Political-Stability-Indikator der Weltbank eingearbeitet. Die KID-Skala

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umfasst die Werte von 0 bis 10, wobei 0 für ein stark autokratisches System steht und 10 ein umfassend demokratisches System bezeichnet. Mittels Schwellenwerten wer­ den Länder als Autokratie (0 bis 5), defizitäre Demokratie (5 bis 7) und Demokratie (7 bis 10) eingestuft. Der von Tatu Vanhanen konzipierte Index der Demokratisierung (ID) misst den Demokratisierungsgrad von Staaten (aktuell 187) als Langzeitpanel anhand der Va­ riablen Partizipation und Wettbewerb. Partizipationsgrad (P) wird zur Berechnung des Index mit dem Wettbewerbsgrad (W) multipliziert; das Produkt wird anschließend durch 100 dividiert. Dabei wird der Partizipationsgrad anhand der Wählerzahl bei der letzten Wahl geteilt durch die Gesamtbevölkerungszahl mal 100 bestimmt, als Wett­ bewerbsgrad wird der Stimmenanteil der stärksten Partei bei der letzten Wahl zur na­ tionalen Volksvertretung von 100 subtrahiert. Anhand von Schwellenwerten (P-Wert mindestens 20, W-Wert mindestens 30, ID-Wert auf mindestens 6.0) wird die Einstu­ fung als Demokratie vorgenommen. Der Index „Varieties of Democracy“ (V-Dem) ist ein sozialwissenschaftlicher An­ satz zur Demokratiemessung, aktuell liegen Daten für 120 Länder vor. Der Index (von 0 nicht demokratisch bis 1 vollkommen demokratisch) wird auf Basis von Fakteninfor­ mationen aus offiziellen Dokumenten wie Verfassungen oder Regierungsdokumenten sowie Experteneinschätzungen (mindestens 5 pro Land) zur praktischen Umsetzung und Compliance innerhalb der Gesellschaft erstellt. Kritiken an diesen Indikatoren und den vorgestellten Studien sind mannigfaltig und werden teilweise bereits in den Arbeiten selbst geführt beziehungsweise in auf­ bauenden Studien (siehe beispielsweise Kurtz und Schrank 2007 in Bezug auf Kauf­ mann et al. 2007). Da es sich hierbei jedoch um ein grundlegendes und daher in der Regel nicht auf einzelne Studien beschränktes Problem handelt, sollen grundsätzli­ che Aspekte bereits an dieser Stelle aufgegriffen werden; Kritiken lassen sich – neben explizit auf die inhaltliche Konzeption von einzelnen Studien ausgerichtete Diskus­ sion – hauptsächlich in drei Kategorien einordnen: Modelle, Daten, und Indikatoren, wobei letztere beiden Kategorien eng miteinander verknüpft sind. Eine Reihe von Studien ignoriert die Frage eines möglichen „omitted variable bi­ as“, welches bedeuten würde, dass eine dritte Variable beide, abhängige wie unab­ hängige Variable, erklärt, jedoch nicht im Modell inkludiert ist. Entsprechende Unter­ suchungen zum Zusammenhang von Institutionen und Wohlstand, etwa Knack und Keefer (1995) und Barro (1997) sind daher trotz ihrer Ergebnisse, welche durchaus be­ stehende Theorien stützen, mit Vorsicht zu interpretieren (vgl. Acemoglu/Johnson/ Robinson 2005). Auch lineare Schätzmodelle werden teilweise genutzt, scheinen je­ doch oftmals ungeeignet da unterkomplex, da nicht-lineare Zusammenhänge oder ein reines Wirken auf Wahrscheinlichkeiten angenommen werden können. Institutionenqualität ist in vielen Fällen nur schwerlich zu operationalisieren und entsprechend kaum direkt quantifizierbar; Messung und Beobachtung gestalten sich oftmals als verzerrt, insbesondere im Zeitablauf. Auch die oftmals genutzte Möglich­ keit, durch Perzeptionsdaten die Existenz oder Qualität von Institutionen zu messen

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ist anfällig für Verzerrungen, etwa durch Informationsmängel oder Antworten ent­ sprechend einer antizipierten sozialen Erwünschtheit (vgl. Kurtz und Schrank 2007). Diese Einschränkungen lassen, wie Erlich und Lui (1999) festhalten, den folgenden Schluss zu: „[D]ifferent observable measures of quality of governance can be construc­ ted only as proxies for the variable of interest”. Somit können die zur Messung von Institutionenqualität verwandten Indikatoren denn auch eher als „Proxies“ denn als exakte Indikatoren verstanden werden (Gradstein 2004; Williamson 2000). Des Weiteren besteht das Problem, dass zumeist nur formale Institutionen in die Analyse einbezogen werden können, obgleich mit Blick auf die institutionenökono­ mische Theorie durchaus auch und gerade informelle Institutionen von Bedeutung sind (Andretta und Baetge 1998; North 1991; Leipold 2006). Dies ist insbesondere rele­ vant, geht man davon aus, dass gegebenenfalls formelle und informelle Institutionen nicht kohärent sind, oder wenn ein stärkerer Einfluss der einen oder anderen Grup­ pe angenommen wird. Etwa: Wenn nicht ein allgemeiner Einfluss auf wirtschaftliches Wachstum, etwa gemessen in Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes, im Zen­ trum des Forschungsinteresses steht, sondern eine differenziertere Entwicklungsidee, ist davon auszugehen, dass ein Fokus auf formelle Institutionen, wie er durch viele Operationalisierungen impliziert wird, zu kurz greift: As institutional measures tend to focus on the urban and formal sector, we would expect them to have less impact when we consider poverty, which depends particu­ larly strongly on features of the rural and informal economy. [. . . ] Aggregate formal sector based indices of institutional quality are unlikely to capture institutional qua­ lity as faced by the average person in developing countries (Pande/Udry 2005: 12 f.). Messungen von Regierungssystemen als Ganzes oder der Qualität einzelner Insti­ tutionen erfolgt oftmals ordinal – verschiedene „Qualitäten“ von Regierungssystemen oder Institutionen werden dabei kodiert, ohne dass die Reihung eine zwingende Lo­ gik aufweist. Grundsätzlich sollte eine Ordinalskala Variablen mit bestimmten Aus­ prägungen, zwischen denen eine Rangordnung besteht, sortieren. Insofern enthalten ordinalskalierte Variablen Nominal-Informationen und auch Informationen über die Reihung (Ordnung) der Variablenwerte, so dass Beobachtungen auf einem Merkmal mit ordinalem Messniveau hinsichtlich dieses Merkmals gruppiert und ihrer Größe nach geordnet werden können. Dieses Ideal ist jedoch bei der ordinalen Behandlung von etwa Regimetypen regelmäßig verletzt, etwa wenn hereditären absoluten Monar­ chien ein niedriger Wert, Demokratien ein hoher Wert zugeordnet wird. Auch die oftmals verwandte Messung von Institutionenqualität im Rahmen von Indizes kann sich als problematisch erweisen, insbesondere die Frage nach der Ge­ wichtung von Subindizes und Daten, oder auch diejenige der Transparenz der Index­ entwicklung (Pande/Udry 2005). Auch die Messung von Institutionen mittels kontinu­ ierlicher Skalen, welche aus frei zugeordneten Werten gebildet werden, erscheint in diesem Zusammenhang methodisch umstritten. Alternativ dazu wird oftmals eine di­ chotome Institutionenmessung, etwa Demokratiemessung, vorgenommen. Diese er­ weist sich insofern als problematisch, als dass eine Vielzahl von Informationen durch

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die Dichotomie verloren gehen und somit die verwendeten Modelle die Realität nur sehr unzureichend abbilden. Wie bereits erörtert besteht eine erhebliche Unschärfe bezüglich der Operationa­ lisierbarkeit von Institutionenqualität, entsprechend fehlen einige Aspekte von In­ stitutionen in den einschlägigen Datensammlungen (vgl. Campos/Nugent 1999). Dies gilt um so mehr für die Vergleichbarkeit von – globalen oder regionalen – Daten (vgl. Pande/Udry 2005). Die verfügbaren Datensätze sind oftmals belastet durch Änderun­ gen der Erhebungsmethodik, Strukturbrüche oder Einschränkungen bezüglich des Messniveaus, so dass ihre Nutzung zumindest für eine Reihe von Modellen nur ein­ geschränkt möglich ist.

3.2 Institutionen und wirtschaftliche Entwicklung – Empirie Unabhängig von methodischen Detailfragen, etwa zur Messung von Institutionenqua­ lität, findet eine Vielzahl von empirischen Arbeiten Evidenzen für diesen positiven Einfluss von verschiedenen (politischen) Institutionen auf wirtschaftliche Entwick­ lung. Traditionell werden diese politischen Institutionen oftmals mit Regierungssys­ tem oder -qualität gleichgesetzt oder von diesem abgeleitet, sind sie doch in der Regel staatlich fixiert oder dominiert. Die entsprechenden Studien stellen entsprechend re­ gelmäßig auf die Regimeform sowie weitere Governance-Indikatoren als unabhängige Variable ab. Der vorliegende Beitrag macht sich einen weiteren Institutionenbegriff zu eigen, welcher eng an die Idee einer umfassenderen „Governance“ anknüpft; der Begriff be­ zeichnet in diesem Verständnis das Steuerungs- und Regelungssystem im Sinn von Strukturen (Aufbau- und Ablauforganisation) einer politisch-gesellschaftlichen Ein­ heit. Diesem Verständnis nach können die handelnden Akteure sowohl staatlich als auch nicht staatlich sein, im Einzelnen umfasst dieser Ansatz die Regierung, die Ver­ waltung, Rechtstaatlichkeit, die Ausgestaltung des Prozesses von Politikgestaltung sowie die Zivilgesellschaft. Diese Governance wird entsprechend einschlägiger Studi­ en zu „Good Governance” und damit zu einem positiven Treiber von wirtschaftlicher Entwicklung, wenn bestimmte Merkmale erfüllt sind: In particular, (1a) the executive branch of government should be accountable for its actions; (2a) the quality of the bureaucracy should be high (“imbued with a pro­ fessional ethos”) such that it is efficient and capable of adjusting to changing social needs; (3a) the legal framework should be appropriate to the circumstances and adhe­ red to by members of both the private and public sectors; (4a) policy-making should be open and transparent so that all affected groups may have inputs into the decisions to be made; and (5a) civil society should be strong so as to enable it to participate in public affairs (Campos/Nugent 1999: 439 f.). Als grundsätzlich tautologisch und damit wenig zielführend muss die Idee ver­ standen werden, gute Institutionen oder Good Governance als diejenigen anzusehen,

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welche Wachstum und Entwicklung in einem eng beschränkten Kontext in Zeit oder Raum ermöglichen, „because a given set of economic institutions may be relatively good during some periods and bad during others. [. . . ] a given set of economic instituti­ ons may have very different implications for economic growth depending on the tech­ nological possibilities and opportunities” (Acemoglu/Johnson/Robinson 2005: 395). Der weiter gefasste und auf bestimmten Merkmalen gründende Governancebe­ griff erscheint besonders geeignet, um den materiellen Gehalt von formellen Institu­ tionen oder auch informelle Institutionen abzudecken, welcher in traditionell eng ge­ fassten Definitionen nicht enthalten ist. Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass trotz einer engen Verbindung (und eines allgemein formal hohen Korrelations­ grades) Good Governance und demokratisches Regierungssystem nicht zwangsläufig in die gleiche Richtung laufen müssen – denkbar sind insbesondere Fälle von Staaten, die formal demokratisch organisiert sind, in denen jedoch die Governance nicht parti­ zipativ-inklusiv erfolgt. Auch das Gegenteil – Staaten, welche formell keine Demokra­ tien sind, aber durchaus Merkmale von Good Governance aufweisen – sind denkbar. Entsprechend werden auch disaggregierte Indikatoren für einzelne „Felder“ von Go­ vernance inkludiert, beziehungsweise Governance-Indikatoren, welche Bereiche ab­ decken, die nicht dem staatlichen Einfluss direkt unterliegen. Zu beachten ist, dass die vorgestellten Arbeiten elementare Unterschiede nicht nur in den unabhängigen, sondern auch der abhängigen Variablen aufweisen; die Messung wirtschaftlicher Entwicklung beziehungsweise der Indikator für wirtschaftli­ che Entwicklung ist sehr heterogen. Das Level des Bruttoinlandsproduktes (BIP) sowie das BIP-Wachstum jährlich sind die mit Abstand am häufigsten genutzten Variablen, in der Regel mit einem zeitlichen Verzug (lag); auch Produktivität oder Produktivi­ tätswachstum sind als abhängige Variable zu finden, ebenso heimische Investitionen oder ausländische Direktinvestitionen. Neben diesen sind auch Indikatoren denkbar, welche nicht ausschließlich auf die wirtschaftliche Dimension von Entwicklung zie­ len, sondern eine eher „soziale Entwicklung“ im Sinne von Inklusions- und Integra­ tionsfähigkeit von Gesellschaften implizieren, gesundheits- oder bildungsorientierte Outcomes beinhalten, oder auf den Nexus öffentlich-privat zielen (Schomaker 2014). Es muss in diesem Zusammenhang festgestellt werden, dass keinesfalls ein Kon­ sens über Einfluss und Richtung von Institutionen und Governance-Indikatoren be­ steht, wie Kurz und Schrank feststellen: “In fact, [. . . ] we lack genuine consensus as to what malgovernance really is; we are further still from cross-nationally valid mea­ sures thereof; and we are therefore decidedly premature in assigning causal priority to governance and not vice versa“ (Kurtz/Schrank 2007: 538). Eine Reihe von Arbei­ ten findet jedoch einen robusten Zusammenhang verschiedener Governance- bezie­ hungsweise Regimeindikatoren und wirtschaftlichem Wachstum, Entwicklungslevel, oder Determinanten dieser Indikatoren: ”Gross correlations between institutional de­ velopment and growth observed in cross-country data have provided a persuasive case that long-run growth is faster in countries that have higher quality contracting institutions, better law enforcement, increased protection of private property rights,

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improved central government bureaucracy, smoother operating formal sector finan­ cial markets, increased levels of democracy, and higher levels of trust” (Pande/Udry 2005, 30). Zu diesen gehören etwa Acemoglu/Johnson/Robinson (2001), Barro (1997), Chong und Calderon (2000), Hall und Jones (1999), Kaufmann et al. (1999a), Knack und Keefer (1997a, 1997b), La Porta et. al (1999), Mauro (1995), oder auch Svensson (1998). Einige dieser Arbeiten können dabei als „Kernarbeiten“ identifiziert werden, welche die Basis für Anschlussarbeiten bilden und standardsetzend für Indikatoren­ nutzung und Schätzmethoden sind (siehe für die Diskussion im Detail Pande/Udry 2005). Diese Studien nutzen nahezu ausnahmslos aggregierte Indikatoren für Insti­ tutionen- und Governancequalität, die oftmals relativ unscharf verbleiben (müssen) und somit Detailunterschiede oder einzelne Phänomene nicht einbeziehen (können). Auch arbeiten viele Studien aufgrund von Endogenitätsproblemen mit Instrumenten­ variablen, jedoch mit einer sehr geringen Auswahl (etwa geografische Lage oder Ko­ lonialgeschichte), welche sehr unterschiedliche institutionelle Dimensionen abdeckt; an dieser Stelle sind Probleme der Interpretierbarkeit gegeben. Im Einzelnen stehen dabei im Bereich der politischen Institutionen insbesondere, aber nicht ausschließlich, die nachfolgend diskutierten Dimensionen im Fokus, die auf unterschiedliche Argumentationsketten abstellen und eine Reihe verschiedener Schätzmodelle nutzen (für eine Übersicht der Arbeiten zu Finanzinstitutionen und Wachstum siehe etwa Hamdi et al. 2017). Regimetyp und Regimestabilität Ein Hauptergebnis dieser Studien ist, dass politische oder sozio-politische Instabili­ tät – gemessen etwa mit den Indikatoren „politisch motivierte Morde“, „Revolution“ oder „Revolutionsversuch“, oder auch (erfolgreicher) „coup d’etat“ – Wachstum ver­ langsamt oder verhindert. Die Argumente reichen dabei von über die mit rent-seeking zum Zwecke des Machterhalts der herrschenden Eliten verbundenen Kosten, Kapital­ flucht und Folge der allgemeinen sozialen Unsicherheit oder grundsätzlich mangeln­ de Investitionen durch Unsicherheit (etwa Alesina et al. 1996; Alesina und Tabellini 1989). Auch die Tatsache, dass der Regimetyp selbst eine Demokratie ist, ergibt in eini­ gen Studien einen signifikant positiven Einfluss auf Wirtschaftswachstum. Diese Er­ gebnisse sind jedoch oftmals insofern nicht stabil, als dass hier nicht der Regimetyp direkt, sondern über korrelierte Indikatoren, welche die Qualität von Administration, etwa Korruptionskontrolle, und Regulierung abbilden, wirkt: „In this model, stron­ ger democratic institutions influence governance by constraining the actions of cor­ rupt officials” (Rivera-Batiz, 2002: 32). Der benannte positive Einfluss von Demokratie „occurs only insofar as democratic institutions are associated with greater quality of governance. In a multivariate growth regression analysis where both quality of gover­ nance and democracy indexes are introduced, the democracy variable loses its statisti­ cal significance. The quality of governance variable, on the other hand, is statistically significant and a strong determinant of growth” (Rivera-Batiz 2002, 33).

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Entsprechend ist die Evidenz in diesem Bereich heterogen: Während sich nicht durchgehend ein direkter Zusammenhang zwischen Instabilität und BIP oder BIPWachstum allgemein feststellen lässt (etwa Campos und Nugent 2002), finden sich doch robuste negative Einflüsse von Instabilität auf Investment (Campos und Nugent 1998 und 2003), eine Erklärung ist möglich über die gegeneinander wirkenden direk­ ten und indirekten sowie kurz- und langfristigen Effekte; „it is quite obvious that SPI [socio-political instability] can have a negative contemporaneous impact on growth and investment owing to the destruction of some capital stock and the interruption of production processes during episodes of social and political instability. But our re­ sults show that, over the somewhat longer run, this relationship is much subtler than previously thought” (Campos und Nugent 2003, 540). Die Bedeutung von Eigentumsrechten für wirtschaftliche Entwicklung geht auf North (1990) und Olson (1982, 1996) zurück. Es wird ein positiver Einfluss gesicherter Eigentumsrechte modelliert. Als abhängige Variable dient in entsprechenden Studi­ en sowohl das BIP direkt, ausländische Direktinvestitionen sowie heimische Investiti­ onstätigkeit wie auch unternehmensbasierte Indikatoren wie etwa Wachstumskenn­ zahlen oder Produktivität. Knack and Keefer (1997b), Mauro (1995), und theoretisch Gradstein (2005) zeigen etwa, dass schlecht durchsetzbare Eigentumsrechte einen si­ gnifikanten negativen Einfluss auf Investitionen haben. Olson et al. (2000) zeigen den negativen Einfluss einer hohen Enteignungswahrscheinlichkeit auf Investitionen und Produktivitätswachstum, Claessens und Laeven (2003) finden Evidenz für den positi­ ven Einfluss von gesicherten Eigentumsrechten auf Unternehmenswachstum und BIP. Ähnliche Ergebnisse finden sich bei Hall und Jones (1999) für den Einfluss von Eigen­ tumsrechten auf die Produktivität, auch Kaufmann et al. (1999a) sowie Chong und Cal­ deron (2000); einen direkten Zusammenhang zwischen Eigentumsrechten und Wirt­ schaftswachstum in Entwicklungsländern finden auch Mahyudin und Hall (2017). Für den Schutz geistigen Eigentums – intellectual property rights – lässt sich ein positiver Effekt annehmen, welcher über die Akkumulation von Faktorinputs für For­ schung und Entwicklung, aber auch physisches Kapital führt. Hier finden sich hete­ rogene empirische Ergebnisse. Der Einfluss ist signifikant positiv für Industriestaaten und die am wenigsten entwickelten Staaten der Welt, für Staaten in einem mittleren Entwicklungsstadium zeigen sich keine oder sogar negative Effekte, möglicherweise bedingt durch die somit mangelnden Möglichkeiten zur Imitation (vgl. Falvey/Foster/ Greenaway 2006) Grundsätzlich, so die theoretische Annahme in vielen Modellen, hat Korrupti­ on einen negativen Effekt auf Wirtschaftswachstum und wirtschaftliche Entwick­ lung. Auch finden zahlreiche empirische Studien einen negativen Zusammenhang zwischen (politischer) Korruption, schlechter Verwaltungsqualität und Wirtschafts­ wachstum, oder Korruption und privatwirtschaftlicher Initiative, etwa im Sinne von Public-Private Partnerships (vgl. Schomaker 2011 und 2014). Der gegenteilige, positi­ ve Effekt zwischen effizienter und effektiver Bürokratie auf Wirtschaftswachstum ist hingegen weniger konsensual (Kurtz/Schrank 2007). Olson, Sarna und Swamy (2000)

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finden etwa höhere Raten an Investment und höheres Produktivitätswachstum als Folge niedriger Korruption und einer hohen Effizienz der Bürokratie sowie von hohen Werten für Rechtsstaatlichkeit. Mauro (1995) zeigt den positiven Einfluss der Effizienz der Bürokratie auf das BIP-Wachstum pro Kopf. Jedoch beschreibt eine Reihe von Autoren einen positiven Einfluss von Korrupti­ on auf wirtschaftliche Entwicklung. Dies scheint jedoch insbesondere dann zu gelten, wenn Korruption dazu dienen kann, die negativen Effekte schwacher sonstiger admi­ nistrativer Institutionen beziehungsweise die schlechte Performanz der Verwaltung durch Umgehung abzumildern, insbesondere durch eine höhere Geschwindigkeit im administrativen Prozess oder durch die Umgehung hinderlicher Eliten (Aidt/Dutta/ Sena 2005; vgl. auch Leff 1964).

4 Kulturelle Charakteristika als Einflussfaktoren Basierend auf obigen Überlegungen soll nachfolgend ein neuer Ansatz diskutiert wer­ den, welcher einige der Probleme mit „standardisierten“ Variablen, welche die forma­ le Regierungsführung oder Goverancequalität abbilden, möglicherweise zu umgehen hilft (wenn auch durch die Wahl eines derartigen Ansatzes neue Probleme auftauchen mögen). Dieser Ansatz stellt auf kulturelle Faktoren oder Wirkmechanismen als funk­ tionale Äquivalente für informelle oder auch formale Institutionen ab. Während die dezidierte Ausgestaltung nach bestem Wissen der Autoren neu ist, ist es das Verständ­ nis von Kultur als Institution im weiteren Sinne nicht, bereits Engerman und Sokoloff verstehen Institutionen “interpreted broadly to encompass not only formal political and legal structures but culture as well” (Engerman/Sokolof 1997: 261). Kultur wird so denn auch in der einschlägigen Literatur als ein relevanter Faktor identifiziert, der Wirtschaftswachstum, Entwicklungsstand oder Innovationsfähigkeit von Staaten zu beeinflussen vermag; entsprechend dieses Verständnisses, welches je­ doch eher in Sozial- und Kulturwissenschaft, weniger der Ökonomie gilt, wird die An­ nahme getroffen „culture makes all the difference” (Landes 2002: 516). Die Bedeutung kultureller Faktoren kann dabei auf zwei Wegen modelliert werden: – Zum einen ist denkbar, dass das Vorliegen bestimmter kultureller Eigenschaften die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass spezifische formelle Institutionen in staat­ lichem Kontext entstehen beziehungsweise diese Institutionen materiell funkti­ onsfähig sind. Dies entspräche einem Verständnis von kulturellen Faktoren als De­ terminanten von formellen Institutionen. In diesem Falle wären also etwa in einer auf Partizipation ausgerichteten Kultur wahrscheinlich eher ein demokratisches System und gleichberechtigte Wahlen zu finden als in einer Kultur, welche parti­ zipatorische Elemente weniger hoch einschätzt. – Zum anderen kann Kultur gewissermaßen als Bündel informeller Institutionen selbst angesehen werden, welche das Verhalten von Individuen oder Wirtschafts­

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subjekten beeinflusst und somit komplementär oder substitutiv zu formellen In­ stitutionen wirken können; der Ansatz versteht kulturelle Faktoren als informel­ le Institutionen, „funktionale Äquivalente“ oder „Prä-Institutionen“. Diesem Ver­ ständnis nach könnten kulturelle Faktoren somit formelle Institutionen komplett substituieren oder aber komplementär zu diesen wirken, etwa wenn in einem for­ mell nicht-demokratisch ausgerichteten System starke partizipatorische Elemen­ te herrschen. Die Annahme hier wäre, dass kulturelle Faktoren bei gegenläufigen Ausrichtungen zu bestehenden formellen Institutionen den stärkeren Einfluss ha­ ben; im Falle einer vollständigen Abwesenheit bestimmter formeller Institutionen diese zu ersetzen vermögen. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung, welche erst im Zuge konkreter empi­ rischer Testung relevant wird, entspricht der vorgestellte Ansatz der Grundannahme einer endogenen Basierung von Institutionen, entwickelt diese jedoch weiter, indem vergleichbare kulturelle Charakteristika herangezogen werden. Der Kulturbegriff ist an dieser Stelle also derart, dass nicht einzelne Spezifika der jeweiligen Kultur in kon­ kreter Ausformung betrachtet werden – etwa eine „muslimische Kultur“ oder „asia­ tische Kultur“.³ Vielmehr werden zugrunde liegende Charakteristika, welche in allen Kulturen vorkommen beziehungsweise Kultur charakterisieren, systematisiert und als Erklärung herangezogen. Kultur umfasst in diesem Sinne nach Erez und Earley (1993) ein System von Bedeutungen und Zuschreibungen, das von allen Mitgliedern einer Gruppe mehr oder weniger geteilt wird und für die Interpretation und Bewertung von Ereignissen und Praktiken genutzt wird. Hofstede versteht Kultur plakativer als „kol­ lektive Programmierung des Geistes, die die Mitglieder einer Gruppe oder Kategorie von Menschen von einer anderen unterscheidet“ (Hofstede/Hofstede/Minkov 2010: 31). Die an dieser Stelle genutzten Kulturdimensionen basieren auf der GLOBE-Studie und sind im Detail in Tabelle 1 dargestellt und erläutert (House et al. 2002 und 2004; Javidan et al. 2006).⁴

3 Derartige basale Ansätze finden in den weiter oben diskutierten Studien durchaus Anwendung, wenn etwa für die Zugehörigkeit eines Staates zu einem bestimmten „Kulturkreis“ oder einer kultu­ rell als homogen angesehenen Großregion Dummys verwendet werden, die als erklärende Variable dienen. Jedoch werden nach Ansicht der Autoren in dieser Nutzung wesentliche Charakteristika von Kultur ignoriert, da „Kulturdummys“ zumeist isoliert eingesetzt werden und keine Differenzierung entlang kultureller Dimensionen erfolgt, sondern regionale Differenzierungen erfolgen. Diese Verwen­ dung ignoriert die Tatsache, dass geografisch weit entfernte Kulturen oder verschiedene Religionen durchaus über sehr ähnliche Charakteristika verfügen können. 4 Das „Global Leadership and Organizational Behaviour Effectiveness Research Programm“, kurz GLOBE Studie, geleitet von Robert J. House erfasst seit 1991 empirische Daten über den Zusammen­ hang zwischen Gesellschaftskultur, Unternehmenskultur und Führungsstilen. Zu den dargestellten Kulturdimensionen wird jeweils der „Ist-Zustand“ und der „Soll-Zustand“ der vorherrschenden Wer­ tevorstellungen erhoben, dies macht den Unterschied zwischen dem „Practice Scale“ und dem „Value

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Tab. 1: Kulturdimensionen der GLOBE-Studie (Quelle: House et al. 2002: 6, Übersetzung der Autoren). Kulturdimension

Definition

Machtdistanz (Power Distance) Unsicherheitsvermeidung (Uncertainty Avoidance)

Der Grad, zu dem die Mitglieder eines Kollektivs eine ungleiche Verteilung von Macht erwarten. Das Ausmaß, zu dem eine Gesellschaft, Organisation oder Gruppe sich auf soziale Normen, Regeln oder Prozeduren verlässt, um die Unvorhersehbarkeit zukünftiger Ereignisse abzumildern. Der Grad, zu dem ein Kollektiv Individuen dazu ermutigt und belohnt, fair, altruistisch, großzügig, fürsorglich und gütig zu anderen zu sein. Der Grad, zu dem organisationale und soziale institutionelle Praktiken zur kollektiven Verteilung von Ressourcen und zu kollektiven Aktionen ermutigen und diese belohnen. Der Grad, zu dem Individuen Stolz, Loyalität und Zusammengehörigkeit zu ihrer Organisation und Familie ausdrücken. Der Grad, zu dem Individuen bestimmt, streitlustig und aggressiv in ihren Beziehungen mit anderen sind. Der Grad, zu dem ein Kollektiv Geschlechterungleichheit reduziert. Das Ausmaß, zu dem Individuen zukunftsorientiertes Verhalten praktizieren wie Aufschieben einer Belohnung, Planung und Investition in die Zukunft. Der Grad, zu dem ein Kollektiv Gruppenmitglieder zu Leistungssteigerung und Exzellenz ermutigt und dieses Verhalten belohnt.

Soziale Orientierung (Humane Orientation) Institutioneller Kollektivismus (Institutional/Societal Collectivism) Gruppenkollektivismus (In-Group/Family Collectivism) Bestimmtheit (Assertiveness) Geschlechtergleichheit (Gender Egalitarianism) Zukunftsorientierung (Future Orientation) Leistungsorientierung (Performance Orientation)

Dieser Ansatz erweitert bestehende Institutionenmodelle, indem gleichsam ein Schritt zurückgetan wird. Die Hypothese ist wie folgt: Bestimmte Ausprägungen von Kultur im weiteren Sinne – im Detail die in Tabelle 1 beschriebenen Kulturdimensio­ nen – fungieren selbst als funktionale Äquivalente oder determinieren die Ausgestal­ tung von externen und internen Institutionen im Sinne von Governance in den ein­ zelnen Staaten und somit – zumindest partiell – soweit vorhanden auch Aufbau oder auch Funktionsweise von formellen Institutionen, oder ersetzen diese bei Abwesen­ heit.

Scale“ aus (siehe im Detail Deckert und Schomaker 2018). Es ist anzumerken, dass neben der GLOBEStudie eine Reihe weiterer Ansätze und Systeme von Kulturdimensionen besteht; bekannte Ansätze sind die Kulturdimensionen von Hofstede und Kollegen (Hofstede 2003; Hofstede et al. 2010), Trom­ penaars und Hampden-Turner (2012) sowie die Culture Map von Meyer (2014), auf welchen GLOBE teilweise basiert.

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Im Einzelnen bedeutet das nicht zwangsläufig, dass kulturelle Präferenzen zu einem formalen Korrelat führen müssen. So ist keinesfalls ein Automatismus anzu­ nehmen, dass etwa partizipative Gesellschaften zwangsläufig ein frei gewähltes Par­ lament haben müssen, dass ein hohes Maß an institutionellem Kollektivismus zur Begründung eines Sozialstaats führt, oder dass ein hohes Maß an Geschlechtergleich­ heit automatisch eine formale Gleichstellung der Geschlechter in einem Rechtssystem impliziert. Jedoch, entsprechend des oben ausgeführten Verständnisses von Institu­ tionen als collective choice, welche von der Gesellschaft oder zumindest signifikanter Teile davon präferiert werden, können diese kulturellen Determinanten die materielle Ausgestaltung von formellen Institutionen erklären, oder auch die Existenz und Form informeller Institutionen. Darüber hinaus können kulturelle Faktoren, nach Annahme der Autoren, formelle Institutionen grundständig substituieren. Etwa kann ein hohes Maß an Vertrauen oder Sozialkapital die Abwesenheit formaler Eigentumsrechte hei­ len, oder ein hoher Grad an institutionellem Kollektivismus oder sozialer Orientierung sozialstaatliche Strukturen ersetzen.

4.1 PSI-Modell Bestimmte kulturelle Ausprägungen, so die Grundannahme, sind eher hinderlich für unternehmerische Aktivität, Innovationsfähigkeit, langfristige Investments, soziale Umverteilung oder ein partizipatorisches Gesellschaftsmodell, und somit wirtschaft­ liche Entwicklung und Wachstum, andere befördern dies. Im Detail gehen wir dabei von drei „Pfaden“ aus, über welche kulturell bedingte Präferenzen und Normen direkt als funktionale Äquivalente oder auf formelle Institutionen wirken und somit Wachs­ tum und Entwicklung von Staaten positiv oder negativ beeinflussen können (siehe Abbildung 1). – Ein Pfad führt von der Kultur über die politischen Institutionen eines Landes. Die­ se beinhalten die formalen Regeln oder Beschränkungen der menschlichen Inter­ aktion wie Verfassung, Gesetze, Verträge und Eigentumsrechte (North 1991). Die politischen Dimensionen der Kultur wirken über die bestehenden Machtstruktu­ ren eines Landes und damit über die existierenden gesellschaftlichen Praktiken („Practice Scale“). – Ein weiterer Pfad führt über die sozialen Beziehungen, wie sie in der Zivilgesell­ schaft ausgeprägt sind. Hier geht es eher um die informellen Regeln wie Traditio­ nen, soziale Normen und Verhaltensregeln (North 1991). Diese sind geprägt von den sozialen Werten des Landes („Value Scale“). – Ein dritter Pfad führt von der Kultur zum Individuum und seinen kulturpsycho­ logischen Eigenschaften und Verhaltensweisen. Diese werden sowohl durch die sozialen Praktiken als auch durch die sozialen Werte bestimmt und zwar im We­ sentlichen durch die Abweichung von Praktiken und Werten; grundsätzlich an­ gelehnt an das Phänomen „kulturelle kognitive Dissonanz“.

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Machtdistanz Gruppenkollektivismus Leistungsorientierung

Bestimmtheit Geschlechtergleichheit Soziale Orientierung

Unsicherheitsvermeidung Zukunftsorientierung Inst. Kollektivismus

POLITISCHE INSTITUTIONEN WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG

SOZIALE BEZIEHUNGEN

WIRTSCHAFTSWACHSTUM

INDIVIDUELLE VERHALTENSWEISEN

Abb. 1: Kulturelle Faktoren als „Funktionelle Äquivalente“ oder „Prä-Institutionen“ (Quelle: Eigene Darstellung).

Politische Dimensionen Die politischen Dimensionen – Machtdistanz, Gruppenkollektivismus und Leistungs­ orientierung – determinieren, ob die politischen Institutionen – sofern existent – plu­ ralistisch oder exklusiv sind, ob – formal oder informell geregelt – politische Macht zentral oder dezentral verteilt ist, wie Loyalitäten wirken, und ob Positionen eher nach Leistung oder nach anderen Faktoren wie Netzwerken vergeben werden. Sie können formale Institutionen durch informelles Verhalten sowohl ersetzen als auch umgehen; etwa ist konsensuale oder majoritäre Entscheidungsfindung durchaus ohne die Exis­ tenz formal-demokratischer Strukturen denkbar. Eine hohe Machtdistanz bedeutet unter anderem ungleiche Machtverteilung, kaum vorhandene Machtgrundlagen, hohe Korruption, hohe Chancenungleichheit und begrenzte soziale Mobilität (House et al. 2004). Der Grad an Gruppenkollekti­ vismus bestimmt die Beziehung in Familien und Organisationen (House et al. 2004). Während ein hohes Zusammenhörigkeitsgefühl von Gruppen bis zu einem gewissen Grad positiv für ein Land ist, verfällt es bei Übertreibung zu einer Clangesellschaft, die zu dezentralen und instabilen Machtstrukturen und einer Bewahrung des Status quo führt. Leistungsorientierung bedeutet unter anderem, dass Leistung belohnt und geachtet wird, ebenso wie Bildung und Ergebnisse eigener investiver oder unterneh­ merischer Aktivität (House et al. 2004). Verfall demokratischer Institutionen und ein Rückfall in Nepotismus werden oft­ mals als Hauptgründe für Regression eines Landes diskutiert (vgl. Fukuyama 2015). Politische Institutionen können durch fehlende Anpassungsfähigkeit ihre Daseins­ berechtigung verlieren, oder sie werden durch korrupte Eliten kannibalisiert, die die unpersönlichen Regeln der Vergabe von Positionen durch Bevorzugung von Familien oder Freunden ersetzen. Beides hat negative Auswirkungen. Wenn Institutionen ver­

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altet sind, werden die falschen Innovationsanreize für eine zukünftige Entwicklung gesetzt. Ebenso fehlt der Anreiz zur Innovation und Aktivität, wenn Positionen nicht auf Basis von Leistung, sondern durch Beziehungen vergeben werden. Nach Acemo­ glu und Robinson (2013) setzen extraktive Institutionen, die Einkommen und Wohl­ stand der Gesellschaft entnehmen, um kleine mächtige Eliten zu bereichern, keine Anreize zur Innovation. Dagegen ist der Anreiz bei inklusiven Gesellschaften mit plu­ ralistischer Beteiligung und funktionsfähigen zentralen Institutionen gegeben. Diese zeichnen sich durch geringe Machtdistanz, geringen Gruppenkollektivismus und ho­ he Leistungsorientierung aus. Entsprechend ist anzunehmen, dass Praktiken von ho­ her Machtdistanz und starkem Gruppenkollektivismus einen negativen Einfluss auf Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung ausüben, während der Einfluss der Leis­ tungsorientierung positiv ist. Soziale Dimensionen Die sozialen Dimensionen – Bestimmtheit, Geschlechtergleichheit und Soziale Orien­ tierung – beeinflussen die Beziehungen und Interaktionen zwischen Personen, also die informellen Normen des Zusammenlebens. Sie bestimmen, ob die Kommunikati­ on direkt und aggressiv oder indirekt und defensiv erfolgt, ob Geschlechtergleichheit oder -ungleichheit vorherrscht und ob Beziehungen generell eher von Empathie oder Gleichgültigkeit geprägt sind. Sie wirken über die sozialen Werte eines Landes, also die Erwartungshaltung der Menschen, auf wirtschaftliche Entscheidungen und somit auch Outcomes. Geschlechtergleichheit zeichnet sich durch gleiche Bildungs-, Berufs- und Karrie­ rechancen für Frauen (und grundsätzlich wohl auch eine höhere Egalität von Min­ derheiten) aus. Soziale Orientierung geht von der Annahme aus, dass Menschen ge­ nerell vertrauenswürdig sind und führt unter anderem vermehrt zu Altruismus und Freundschaft sowie sozialer, finanzieller und materieller Unterstützung anderer, bil­ det somit also die Grundlagen für Umverteilung (House et al. 2004). Fukuyama (2001) spricht im Zusammenhang mit informellen Normen, die Kooperation begünstigen, von Sozialkapital („social capital“) und hebt in diesem Zusammenhang die Bedeu­ tung von Vertrauen für eine Gesellschaft hervor. In dieser Argumentationslinie sind formelle Institutionen wie Verträge und Gesetze nicht ausreichend für eine funktio­ nierende Wirtschaft; es muss auch ein gewisses Maß an Vertrauen herrschen, da nicht jeder Sachverhalt vertraglich geregelt werden kann, oder Verträge unvollständig blei­ ben müssen. Er spricht dabei vom „Vertrauensradius“: Starke Solidarität innerhalb einer Gruppe hat die negative Tendenz, Kooperationen mit Personen außerhalb der Gruppe zu erschweren, und kann zu den negativen Auswirkungen des Gruppenkol­ lektivismus führen (siehe politische Dimensionen). Ein großer Vertrauensradius führt dazu, dass sich Gruppen überlappen und sich so gruppenübergreifende Vertrauens­ verhältnisse bilden. Hier sind insbesondere die von Granovetter (1973) beschriebenen schwachen Bindungen („weak ties“) von besonderer Bedeutung, da sie eine Brücken­

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funktion („bridging“) zwischen Gruppen bilden. Diese sind auch für Innovationsfä­ higkeit und Wachstum relevant, da sie eine schnellere und weitreichendere Diffusion von Wissen und Ideen begünstigen. Für die wirtschaftliche Entwicklung und Innovati­ onsfähigkeit, so die Annahme, spielen dabei sowohl das Vertrauen in die gleichwerti­ gen Fähigkeiten beider Geschlechter als auch das Vertrauen gegenüber Personen, die nicht direkt zum Familien- oder Freundeskreis gehören, eine Rolle. Der Einfluss der sozialen Werte von Bestimmtheit, Geschlechtergleichheit und sozialer Orientierung auf Wachstum wird entsprechend als positiv angenommen. Individuelle Dimensionen Die individuellen Dimensionen – Unsicherheitsvermeidung, Zukunftsorientierung und Institutioneller Kollektivismus – beeinflussen die Selbstregulierung der Mitglie­ der einer Kultur und dadurch ihre Erfahrungen und ihr Verhalten innerhalb von Normen oder Institutionen. Sie bestimmen, ob das Verhalten durch Angst vor dem Neuen (Neophobie) oder Offenheit gegenüber Neuem (Neophilie), durch kurzfristige oder langfristige Erwägungen und durch individuelle oder kollektive Motive bestimmt ist. Hier ist der Zusammenhang nicht so eindeutig wie bei den beiden anderen Kate­ gorien, da sowohl ein Zusammenhang mit den sozialen Praktiken als auch mit den sozialen Werten besteht und diese Zusammenhänge gegenläufig sind. Dabei haben, so die Annahme, die Staaten das höchste Wachstumspotenzial, die eine möglichst geringe Abweichung zwischen Praktiken und Werten haben. Hier spiegelt sich eine gewisse Janusköpfigkeit der individuellen Dimensionen wider, die sich nach Ansicht der Autoren durch psychologische Faktoren erklären lässt. Traditionellerweise werden eine geringe Unsicherheitsvermeidung und hohe Zukunftsorientierung mit Innovationsfähigkeit und Wachstum assoziiert.⁵ Die Über­ legungen der Autoren implizieren ein differenzierteres Bild. Die Unsicherheitsvermei­ dung trägt demnach über ein ausgewogenes Gleichgewicht aus Präventionsfokus und Promotionsfokus zu innovativem Verhalten wie Forschung oder zukunftsgerichteten Investitionen bei. Während beim Präventionsfokus negative Ergebnisse vermieden werden, werden beim Promotionsfokus positive Ergebnisse angestrebt (Higgins 1998). Zukunftsorientierung wirkt durch Willenskraft, aber auch durch „Anpackmentalität“ auf entrepreneurisches Vorgehen und Innovationsfähigkeit. Institutioneller Kollekti­ vismus schlussendlich wirkt durch die richtige Mischung aus unabhängigem Selbst („independent self“) und abhängigem Selbst („interdependent self“) (Markus und Kitayama 1991). Durch ein unabhängiges Selbst wird die Entstehung von originellen Ideen begünstigt, aber durch ein abhängiges Selbst das richtige Gespür für Bedürf­

5 Institutioneller Kollektivismus wird vielleicht zunächst negativ assoziiert, da sich Evidenzen für ei­ nen positiven Einfluss von Individualismus auf Wachstum finden lassen; Taylor und Wilson (2012) konnten jedoch einen positiven Einfluss von institutionellem Kollektivismus auf die Innovationsfä­ higkeit nachweisen.

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nisse des Marktes.⁶ Ein Erklärungsansatz für diese komplexen Zusammenhänge ist der Originalitäts-Effektivitäts-Dualismus, der der Kreativität zugrunde liegt. Kreati­ vität, die zu neuen und potenziell nützlichen Ideen führt, erfordert sowohl Neues und Unerwartetes als auch Bewährtes und Angemessenes. Sie spielt sich daher ab im Spannungsfeld aus Offenheit und Expertenwissen, aus divergentem und konvergen­ tem Denken, aus Eintauchen und Distanz sowie aus Aktion und Geschehen-Lassen (Deckert 2016). Entsprechend könnten hier Abweichungen zwischen „Soll“ und „Ist“ relevant sein; diese Interpretation der Zusammenhänge ist jedoch noch vorläufig und bedarf einer weiteren wissenschaftlichen Fundierung.

4.2 Mögliche Operationalisierbarkeit des PSI-Modells Werden formale Institutionen in ihren konkreten de jure Ausprägungen (wie etwa „De­ mokratie angezeigt durch Existenz freier Wahlen“) ersetzt durch deren kulturelle de facto Äquivalente (etwa „Starke Präferenz für Partizipation“), ergeben sich unter Um­ ständen neue Erkenntnisse über die Bedeutung informeller Institutionen beziehungs­ weise dem tatsächlichen de facto Gehalt von Institutionen. Ein Einbezug dieses Ansat­ zes und somit eine Erweiterung des bisherigen Institutionenbegriffs auch im Rahmen empirischer Studien erscheint sinnvoll. Formal können aus den oben diskutierten Zu­ sammenhängen auf Basis der regelmäßig, jedoch nicht jährlich erhobenen Kulturdi­ mensionen Indikatoren gebildet werden, welche durchaus in empirischen Untersu­ chungen genutzt werden können (Deckert/Schomaker 2018). – Der Indikator „Soziale Dimension” umfasst Bestimmtheit, Geschlechtergleich­ heit, Soziale Orientierung. Der sehr reduzierte (und daher möglicherweise unter­ komplexe) Indikator wurde gebildet durch Addition der arithmetischen Mittel­ werte der drei Subkategorien sozialer Werte („Value Scale“). Ein positives Vorzei­ chen bedeutet hier einen positiven Einfluss auf Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung. – Der Indikator „Individuelle Dimension” umfasst Unsicherheitsvermeidung, Zu­ kunftsorientierung, und Institutioneller Kollektivismus. Erwartet wird entspre­ chend ein positiver Einfluss dieses Indikators, sofern „Ist“ das „Soll“ überwiegt beziehungsweise kein Unterschied zwischen diesen besteht, die kognitive Disso­ nanz gegen Null tendiert. Er wird z. B. konstruiert als arithmethisches Mittel der „Gaps“ zwischen Practice Scale und Value Scale (PS minus VS). – Der Indikator „Politische Dimension” umfasst Machtdistanz, Gruppenkollekti­ vismus und Leistungsorientierung. Entsprechend der Inkonsistenz des Einflus­ ses der Subeinheiten auf Innovationsfähigkeit kann dieser Indikator wie folgt konstruiert werden: Leistungsorientierung hat annehmbar einen positiven Ein­ 6 Der so genannte Institutionelle Kollektivismus wirkt also in unserem Modell nicht über politische Institutionen wie der Gruppenkollektivismus, sondern über kulturpsychologische Mechanismen.

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fluss, Machtdistanz und Gruppenkollektivismus jedoch einen negativen Einfluss, so dass für diese eine Invertierung erfolgt, bevor das arithmetische Mittel der existierenden Praktiken wie oben für die Indikatorbildung gewählt wurde. Ent­ sprechend kann auch dieser Indikator dergestalt interpretiert werden, dass sein positives Vorzeichen einen positiven Einfluss aufzeigt.⁷ Während sich der Einbezug von Kulturdimensionen als „funktionale Äquivalente“ von Institutionen aus den diskutierten Gründen inhaltlich anbietet, bestehen jedoch aus mehreren methodischen Gründen Einschränkungen hinsichtlich der Nutzbar­ keit. Zum einen sind kulturelle Faktoren über lange Zeiträume stabil anzunehmen, es besteht daher entsprechend das Problem von Stationarität beziehungsweise Invarian­ zen über die Zeit. Darüber hinaus sind sowohl die im vorliegenden Beitrag genutzten Kulturdimensionen als auch weitere Studien zum Thema gekennzeichnet davon, dass nur eine einmalige Erhebung stattgefunden hat oder die Abstände zwischen den Er­ hebungen groß sind. Entsprechend ist die Nutzung der oben konstruierten Indikato­ ren in Langzeitstudien sehr eingeschränkt, da keine Daten auf Jahresbasis vorliegen, während sie in länderübergreifenden Vergleichsstudien durchaus Anwendung finden können. Auch handelt es sich bei den diskutierten sowie sonstigen erhobenen Kulturvaria­ blen um Perzeptionsdaten. Die Tendenz zur Verzerrung ist bei derartigen Daten auf­ grund ihrer Natur relativ hoch, da grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass persönliche Einstellungen oder normative Vorstellungen eine Rolle spielen: [P]erception is a form of belief.[. . . ] Everyone will agree that perception does give rise to beliefs about the environment. But this does not mean that perception is simply the acquisition of belief. One obvious reason why it isn’t, [. . . ] is that one can have a perceptual illusion that things are a certain way even when one knows they are not [this phenomenon is sometimes called “the persistence of illusion”] (Crane/French 2015). Darüber hinaus kann die konkrete Konstruktion des PSI-Models als problema­ tisch angesehen werden. Die einzelnen Dimensionen werden bei der Konstruktion der Indikatoren nicht gewichtet, so dass alle Subkategorien gleichermaßen berücksichtigt werden. Auch sind Nivellierungen der einzelnen Komponenten durch die Aggregati­ on jeweils dreier Subkategorien in einem Indikator möglich, entsprechend leidet das Modell unter ähnlichen Schwächen wie allgemein aggregierte Indizes. Der disaggre­ gierte Einbezug einzelner Subindikatoren in Modelle ist ein möglicher Lösungsansatz, jedoch erscheint aus Sicht der Autoren eine Bündelung sinnvoll, sofern gleiche Wirk­ richtungen beziehungsweise die Beeinflussung gemäß einer Wirklogik besteht.

7 Mehr noch als bei den anderen Indizes stellt sich hier jedoch das weiter oben diskutierte Problem der Interpretierbarkeit beziehungsweise Zuschreibung des Effekts auf die Subindikatoren – dies ist den Autoren bewusst und wird bei einer Verfeinerung des Modells Berücksichtigung finden.

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5 Fazit Die Forschung zur Bedeutung von Institutionen für wirtschaftliche Entwicklung und Wirtschaftswachstum hat in den letzten Jahrzehnten erheblich an Umfang und Ein­ fluss gewonnen und bildet aktuell sowohl theoretisch als auch empirisch einen we­ sentlichen Anteil der Gesamtliteratur zum Thema (für einen Gesamtüberblick theore­ tisch Erlei/Leschke/Sauerland 2007; bis 2005 siehe Pande/Udry 2005; aktueller Ace­ moglu/Robinson 2013). Dabei ist zu beobachten, dass im Zuge dieses Zuwachses an Studien zunehmend auch disziplinäre Grenzen aufgeweicht werden, sind doch insti­ tutionelle Ansätze auch in der Politik- und Verwaltungswissenschaft oder Soziologie gegeben. Allgemein lässt sich feststellen, dass die einfache Gleichung „Good Governance = Wirtschaftswachstum“, oder mehr noch „Demokratie = Wirtschaftswachstum“ empi­ risch nicht durchgängig haltbar erscheint. Zwar sind, heruntergebrochen auf einzelne Dimensionen von Governance wie etwa Korruptionskontrolle, Rechtstaatlichkeit oder effiziente Verwaltung, durchaus signifikant positive Effekte zu finden, eine Reihe von Studien zeigen jedoch auch gegenteilige, nicht signifikante oder nicht robuste Ergeb­ nisse. Die Frage, was aus dieser Feststellung folgt, ist bislang nicht konsensual beant­ wortet. Einige Autoren, etwa Kurtz und Schrank, sehen darin die Aufforderung, die Richtung der vermuteten Kausalbeziehung zu ändern, wenn sie betonen: “[T]he rela­ tionship between governance and growth rests on far weaker empirical foundations than is customarily claimed. Indeed, we contend that the opposite hypothesis – that is, that economic development drives political modernization – may have more empiri­ cal support than the current conventional wisdom implies” (Kurtz/Schrank 2007: 539). Andere Autoren, etwa Acemoglu, Johnson und Robinson (2005) oder Pande und Udry (2005) betonen die Relevanz geeigneter Modelle oder auch eines verstärkten „Mikro­ ansatzes“, sprich die Komplementierung von Querschnittsstudien oder Paneldaten, welche relativ „rohe“ Indikatoren für Institutionen nutzen (müssen), durch Fallstu­ dien auf Länderebene oder auf subnationaler Ebene, welche zum einen verfeinerte Messmethoden für Institutionen nutzen können und andererseits auch Heterogenitä­ ten oder Wandel besser abzubilden vermögen. Hierzu gehört auch die Nutzung von für die Disziplin innovativen Methoden, etwa Experimenten oder teilnehmenden Be­ obachtungen. Der im Anschluss vorgestellte Ansatz versucht, einige der diskutierten Probleme durch einen neuen Zugang abzumildern, der den Institutionenbegriff weiter auslegt und somit als Institution die Wirkung, nicht das Vorhandensein bestimmter morpholo­ gischer Korrelate versteht. Das vorgestellte PSI Modell sieht Institutionen dabei als en­ dogene Größen an, welche nicht zwangsläufig durch formelle Organisationen, Regeln oder Gesetze abgebildet werden müssen, sondern durch Kulturdimensionen abgebil­ det werden können. Klassifiziert werden Wirkmechanismen, die letztlich unabhän­

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gig von formalen Strukturen auf Innovationsfähigkeit oder wirtschaftliche Entwick­ lung einwirken können. Eigentumsrechte könnten etwa entlang dieser Argumentati­ onsweise „ersetzt“ oder aber auch „verstärkt“ werden durch Vertrauen innerhalb der Gesellschaft, demokratische Institutionen durch partizipatorische Elemente in der je­ weiligen Kultur, Good Governance durch eine hohe Leistungsorientierung und die Ori­ entierung des Individuums und des Bürokraten am Gemeinwohl. Diese politischen, sozialen und individuellen Faktoren ergeben in der theoreti­ schen Betrachtung des Modells einen positiven Einfluss auf die abhängige Variable; gewisse kulturelle Charakteristika könnten entsprechend Innovation und Wachstum befördern. Die Ergebnisse erster empirischer Analysen (vgl. Deckert und Schomaker 2018) sind dabei durchaus konsistent mit den auch in traditionellen institutionen­ ökonomischen Studien genutzten Erklärungsansätzen im Bereich politischer Institu­ tionen. Jedoch geht der vorgestellte Ansatz über diese hinaus, da durch die gewähl­ ten Indikatoren auch informelle soziale Institutionen und Normen abgebildet werden, welche von traditionellen institutionenökonomischen Ansätzen aufgrund ihrer infor­ mellen Natur nicht erfasst werden oder unterrepräsentiert sind. Entsprechend bietet das Modell trotz der diskutierten nicht unwesentlichen Ein­ schränkungen nach Ansicht der Autoren einen interessanten Ansatz zur Erweiterung des Institutionenbegriffs sowie für weiterführende empirische Studien, etwa können weitere Modelle der Kulturdimensionen für die Entwicklung einer „Theorie funktio­ naler Äquivalente“ oder zur Bildung quantitativer Indikatoren für empirische Studien herangezogen werden. Zu den gegebenenfalls geeigneten Kulturklassifikationen zäh­ len etwa die „Culture Map“ nach Meyer (2014), die starke Überschneidungen zum Mo­ dell nach Trompenaars und Hampden-Turner (2012) aufweist, sowie Studien zu „Sur­ vival versus Self Expression Values“ und „Traditional versus Secular-rational Values“ (Inglehardt 2017 und 2018), „Autonomy versus Conservatism“, „Hierarchy versus Ega­ litarian Commitment“ sowie „Mastery versus Harmony with Nature“ (Schwarz 1994), „Cultures of Honor, Achievement and Joy“ (Basanez 2016) oder „Cultural Tightness“ (Gelfand et al. 2011; Gelfand 2018). Auch ein Bezug zu den Daten des World Values Survey (WVS), welches Werte und Normen erfasst, erscheint geeignet; auch zeitliche Aspekte von Kulturen wie Lebenstempo und Pünktlichkeit können berücksichtigt wer­ den.

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Korreferat zum Beitrag von Schomaker und Deckert Lena Gerling Der Beitrag von Schomaker und Deckert zum Thema „Wachstum, Entwicklung und Governance“ setzt sich mit dem weiten Themengebiet der Interdependenz von Insti­ tutionen und wirtschaftlicher Prosperität auseinander. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Frage, wie Institutionen konzeptionell erfasst, empirisch operationalisiert und kausale Effekte auf die wirtschaftliche Entwicklung gemessen werden können. Zu diesem Zweck beschreibt der Beitrag zunächst anschaulich die Komplexität des Institutionenbegriffs und diskutiert exemplarisch am Beispiel der politischen Regie­ rungsform die Herausforderung, Institutionen empirisch trennscharf und vollständig zu messen.⁸ Daran anknüpfend schlagen die Autoren einen neuartigen Ansatz zur Messung und Bündelung von Institutionen vor, der auf einer Reihe von latenten kul­ turellen Ausprägungen beruht. Die empirische Basis dieser latenten kulturellen Di­ mensionen, die die Autoren als „funktionale Äquivalente“ für formale Institutionen bezeichnen, ist das „Global Leadership and Organizational Behaviour Effectiveness Research Programm“, kurz GLOBE-Studie (House et al. 2004).

8 Auch wenn keine explizite eigene Eingrenzung des Institutionenbegriffs vorgenommen wird, be­ zieht sich die weitere Diskussion im Wesentlichen auf politische Institutionen der Regierungsform, wobei an späterer Stelle das Konzept der „Governance“ in den Mittelpunkt rückt.

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Ziel dieses begleitenden Beitrags ist es, den Vorschlag von Schomaker und De­ ckert zur Messung von Institutionen mit Hilfe der GLOBE-Dimensionen im Hinblick auf drei Kriterien zu diskutieren, die von den Autoren selbst als Analysekategorien aufgestellt werden: Konzeptionelle Operationalisierung der Kulturdimensionen, Mes­ sung und Datengrundlage, sowie Kausalität der Wirkungszusammenhänge im Rah­ men einer empirischen Analyse. Konzeptionelle Operationalisierung Im Hinblick auf die konzeptionelle Operationalisierung der Kulturdimensionen zeich­ net sich der Ansatz von Schomaker und Deckert dadurch aus, dass insgesamt zehn Kulturdimensionen, die von Machtdistanz über Kollektivismus bis zur Leistungsori­ entierung reichen, definiert werden, die die Ausprägung und Funktionsweise von In­ stitutionen beeinflussen können. Der Fokus auf kulturelle Präferenzen erscheint da­ bei insbesondere für die Messung informeller Institutionen, die mit formalen Regeln und de-jure Indikatoren nur schwer erfasst werden können, interessant. Die identifi­ zierten Kulturdimensionen werden zu drei Metadimensionen zusammengefasst, wel­ che im Zusammenhang mit wiederrum drei Metadimensionen von Institutionen gese­ hen werden, nämlich politische Institutionen, soziale Beziehungen und individuelle Handlungsweisen (siehe Abbildung 1 von Schomaker/Deckert). Hierbei weiten die Au­ toren den Institutionenbegriff bewusst über rein politische Institutionen hinaus aus, was für den Einfluss kultureller Faktoren durchaus sinnvoll erscheint. Andererseits ist die Zuordnung der Kulturdimensionen zu den jeweiligen institutionellen Dimen­ sionen nicht eindeutig. Während Schomaker und Deckert beispielsweise die Kategorie „Gruppenkollektivismus“ als relevant für die Ausprägung politischer Institutionen be­ trachten, ist auch denkbar, dass Unterschiede im Grad gruppenkollektivistischer Prä­ ferenzen (laut Schomaker und Deckert „[d]er Grad, zu dem Individuen Stolz, Loyalität und Zusammengehörigkeit zu ihrer Organisation und Familie ausdrücken“) die sozia­ len Beziehungen und unter Umständen auch die individuellen Verhaltensweisen be­ einflussen. Dies weist auf ein erstes Problem des gewählten Ansatzes hin, das darin besteht, dass sowohl kulturelle Präferenzen als auch institutionelle Kategorien konzeptionell auf einem sehr hohen Niveau aggregiert werden. Während diese Bündelung von Indi­ katoren sich grundsätzlich als nützlich erwiesen hat, um der Interpendenz von Insti­ tutionen Rechnung zu tragen (Helfer 2017), erscheint es hierbei doch schwierig, kon­ krete Wirkungszusammenhänge zu identifizieren und zu isolieren. Schomaker und Deckert verweisen im Rahmen der Diskussion bestehender Demokratieindikatoren selbst treffend auf den trade-off, der sich aus der Wahl zwischen enggefassten binären Indikatoren, die Demokratie entlang einer einzigen Dimension erfassen (zum Beispiel der Durchführung kompetitiver, pluralistischer Wahlen wie bei Cheibub et al. 2010), und mehrdimensionalen, graduellen Ansätzen wie dem Polity IV Index, die einen breiteren Demokratiebegriff zugrunde legen, ergibt. Letztere zeichnen sich zwangs­

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läufig durch eine gewisse Beliebigkeit bei der Auswahl der berücksichtigten Dimen­ sionen und, stärker noch, bei der Aggregation und Gewichtung dieser Dimensionen aus (Munck/Verkeuilen 2002). In beiden Fällen erscheint eine begründete theoreti­ sche Verankerung der gewählten Instrumente für die Indexkonstruktion zentral. Die­ se theoretische Verankerung sollte auch für die Kulturdimensionen von Schomaker und Deckert noch weiter intensiviert werden: Was sind die theoretischen Argumente für die Auswahl der Dimensionen (und zwangsläufig die Vernachlässigung anderer)? Welche theoretischen Mechanismen rechtfertigen die gewählte Zuordnung der kultu­ rellen Dimensionen zur jeweiligen institutionellen Dimension? Für die konzeptionelle Operationalisierung ist es zudem zentral, Annahmen über die Art des Wirkungszusammenhangs zwischen kulturellen Dimensionen und Insti­ tutionen zu treffen. Schomaker und Deckert bleiben in diesem Punkt recht vage, in­ dem sie den Wirkungszusammenhang (bewusst?) offenhalten: Kulturell bedingte Prä­ ferenzen können demnach „direkt als funktionale Äquivalente oder auf formelle Insti­ tutionen wirken“ (Kapitel 4.1). Sowohl aus theoretischer Perspektive als auch für die empirische Modellierung ist die Frage, ob kulturelle Faktoren als „Komplement oder Substitut“ (Kapitel 1) wirken aber entscheidend: Wirken die identifizierten kulturel­ len Präferenzen auf formelle Institutionen, wären sie als erklärende Variable für die Ausprägung einer spezifischen Institution zu modellieren, das heißt als Instrument, unter der Annahme, dass wirtschaftliche Prosperität nur indirekt durch Kultur beein­ flusst wird. Hier stellt sich die Frage, ob diese Exklusionsannahme plausibel erscheint. Werden kulturelle Präferenzen jedoch als „funktionales Äquivalent“, das heißt als Substitut für formelle Institutionen, verstanden, dann würden sie als wie auch im­ mer aggregierte Variablen die bislang genutzten Indikatoren formeller Institutionen im Modell ersetzen, nun unter der Annahme, dass diese kulturellen Indikatoren alle relevanten Aspekte einer spezifischen formellen Institution (oder eines Institutionen­ bündels) für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes erfassen. Alternativ wäre auch ein Moderatorenmodell denkbar, das heißt die kulturellen Indikatoren werden zusätzlich zu den institutionellen Indikatoren in ein Modell integriert und miteinan­ der interagiert, um so den bedingten Effekt einer formellen Institution bei gegebener Ausprägung der kulturellen Präferenzen zu testen. Das grundlegende Problem, dass sich für alle drei Ansätze ergibt, ist die inhärente Interdependenz zwischen Kultur und Institutionen: Länderspezifische Unterschiede in kulturellen Präferenzen beeinflus­ sen die Ausprägung von formellen Institutionen, die wiederrum einen Einfluss auf die Entwicklung kultureller Präferenzen, wie sie hier gemessen werden, ausüben (Ro­ land/Gorodnichenko 2011). Messung der Indikatoren und Datengrundlage Für die empirische Operationalisierung der definierten Kulturdimensionen schlagen Schomaker und Deckert als Datenbasis die sogenannten GLOBE-Studie vor. Dieses Projekt ist im Bereich der internationalen Managementforschung angesiedelt und hat

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zum Ziel, den Einfluss kultureller Faktoren auf den Führungsstil von CEOs zu unter­ suchen: „GLOBE researchers were interested in how a society’s culture influences lea­ dership behaviors“ (Globe Project 2019). Mit der Verwendung der organisationsökonomisch ausgerichteten GLOBE-Daten für die Messung formeller politischer Institutionen zeigen Schomaker und Deckert einen innovativen Ansatz auf, um die Literatur um den Zusammenhang von politi­ schen Institutionen und Wachstum zu erweitern.⁹ Im Vergleich zu bestehenden in­ stitutionellen Indikatoren ergeben sich jedoch für die GLOBE-Daten einige Probleme, die auch andere etablierte Indikatoren aufweisen. Die Studie stützt sich auf Experten­ befragungen von circa 17.000 Managern in mittleren Positionen. Auf die Anfälligkeit von Perzeptionsdaten für Verzerrungen, zum Beispiel durch soziale Erwünschtheit und Informationsmängel der Befragten, weisen Schomaker und Deckert in ihrem Bei­ trag selbst hin. Auch die Tatsache, dass die Messung eines Indikators allein auf Ex­ perteneinschätzungen beruht und keine „objektiven“ Kriterien hinzuzieht, wird in der Debatte um Demokratieindikatoren wiederholt kritisiert (Gründler/Krieger 2016), scheint für die Erfassung kultureller Präferenzen jedoch weniger relevant, da es sich hierbei ja um explizit informelle Werte und Normen handelt. Allerdings stellt sich die Frage, ob die befragte sozio-ökonomische Gruppe der Manager ein repräsentatives Bild für die Ausprägung kultureller Präferenzen in der Gesamtbevölkerung zeichnen kann. Hierbei gilt zu beachten, dass der ursprüngliche Fokus der Befragung auf der Analyse von Führungsqualitäten in betriebswirtschaftlichen Settings liegt. Zwar wer­ den in der Studie eine Reihe von Fragen zu allgemeinen gesellschaftlichen Normen gestellt, Einschätzungen hierzu aber nicht von einem Querschnitt der Bevölkerung, sondern lediglich einer sehr eng definierten ökonomischen „Expertengruppe“ berück­ sichtigt. Darüber hinaus sieht sich auch die GLOBE-Studie mit bekannten Messproblemen aus der Literatur zu Meinungsumfragen konfrontiert. Der Fragenkatalog der GLOBEStudie erscheint recht komplex; für neun kulturelle Dimensionen werden jeweils drei bis fünf Fragen formuliert, die wiederrum jeweils zweifach gestellt werden, um zum einen den „Ist-Zustand“ der Gesellschaft („practice-scale“) und zum anderen den nor­ mativen „Soll-Zustand“ („value scale“) zu ermitteln. In nicht nachvollziehbarer Wei­ se werden diese Fragen zu den genannten neun Kulturdimensionen aggregiert, die dem Ansatz von Schomaker und Deckert folgend weiterhin zu drei Metadimensio­ nen (politische Kulturfaktoren, soziale Kulturfaktoren, individuelle Kulturfaktoren) zusammengefasst werden sollen. Die Gewichtung der Subindizes und die Transpa­ renz der Indexentwicklung sind dabei nur bedingt nachvollziehbar, ein Kritikpunkt, den vergleichbare Erhebungen wie das V-Dem Projekt durch eine umfangreiche und 9 Im Folgenden konzentriert sich dieser Beitrag auf die Dimension der politischen Institutionen und vernachlässigt die sozialen Beziehungen und individuellen Verhaltensweisen als „institutionelle“ Di­ mensionen (siehe Abbildung 1 im Beitrag von Schomaker und Deckert), da die Abgrenzung zwischen kultureller und institutioneller Ebene bei letzteren schwierig ist.

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Abb. 2: GLOBE Sample Länder (Quelle: House et al. 2004). Weiß markierte Länder: im GLOBE-Sample erfasst; grau markierte Länder: nicht im Sample.

transparente Dokumentation und Bereitstellung aller Subindizes abgemildert haben (Pemstein et al. 2019). Die größte Limitation der GLOBE-Daten liegt jedoch in ihrer zeitlichen und räum­ lichen Verfügbarkeit. Abbildung 2 zeigt die geografische Verteilung der 62 Länder, die im GLOBE-Sample erfasst sind. Es fällt auf, dass insbesondere für den afrikanischen Kontinent und die arabische Halbinsel überwiegend keine Informationen vorliegen. Darüber hinaus wurden die Daten (bislang) nur einmalig für das Jahr 2004 erhoben und eignen sich somit lediglich für eine Querschnittsanalyse. Damit bleiben Umfang und Aussagekraft der GLOBE-Indikatoren empirisch hinter vielen vergleichbaren Da­ tensätzen zu kulturellen Werten und politischen Institutionen zurück, wie dem World Value Survey oder dem Afrobarometer. Hinzu kommt, dass die erfassten Länder mehr­ heitlich (teil-)demokratische Institutionen haben wie die Korrelation der Dimension Machtdistanz („Power Distance“) und dem Polity2-Index zeigt (Abbildung 3). Dies re­ duziert die Varianz in den erfassten politischen Systemen im Sample. Interessanter­ weise zeigt sich nur ein sehr moderater (wie erwartet) negativer Zusammenhang zwi­ schen der Kulturdimension Machtdistanz und dem Polity2-Index. Kausalität und Wirkungszusammenhänge Unabhängig von der konkret modellierten Funktionsgleichung (die wie unter 1. beschrieben zunächst hergeleitet werden müsste) und den unter 2. diskutierten Messproblemen, ergeben sich aus der begrenzten Datenverfügbarkeit auch einige Schwierigkeiten, empirisch einen kausalen Zusammenhang zwischen kulturellen Präferenzen, Institutionen und wirtschaftlicher Prosperität aufzuzeigen. Die jüngere empirische Literatur zum Thema hat einige Fortschritte gemacht, um den Zusammen­

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Abb. 3: Machtdistanz und Polity2-Index (Quelle: House et al. 2004; Marshall et al. 2016).

hang von Institutionen und wirtschaftlicher Entwicklung mit Hilfe moderner ökono­ metrischer Methoden zu messen. Insbesondere der Rückgriff auf lange Zeitreihen und Panelanalysen hat sich dabei als hilfreich erwiesen, um für unbeobachtete länder­ spezifische Unterschiede und länderspezifische Trends zu kontrollieren (Acemoglu et al. 2019). Eine Analyse des Zusammenhangs auf Basis der GLOBE-Daten ist jedoch nur im Rahmen einer Querschnittsanalyse möglich. Dabei ist weder eindeutig, ob die kulturellen Differenzen, die zwischen den Ländern bestehen, persistent oder über die Zeit gewachsen (beziehungsweise geschrumpft) sind, noch lässt sich ausschließen, dass unbeobachtete Faktoren, zum Beispiel die geografische Lage oder unterschied­ liche Entwicklungspfade in der Vergangenheit, sowohl die Ausprägung informeller und formeller Institutionen als auch das Wirtschaftswachstum beeinflussen und so­ mit die empirische Analyse verzerren. Auch ist die Wirkungsrichtung zwischen den Variablen im Modell nicht eindeutig: Zwar ist es plausibel anzunehmen, dass laten­ te kulturelle Präferenzen die Ausprägung formeller Institutionen und (dadurch) das Wirtschaftswachstum beeinflussen. Umgekehrt verändern ökonomische Entwicklung und technologischer Fortschritt aber auch die Anforderungen an formelle Institutio­ nen und langfristig auch den kulturellen Konsens in einer Gesellschaft. Auch wenn kulturelle Präferenzen persistent sein mögen, so ist doch nicht davon auszugehen, dass sie über alle Zeiten hinweg konstant sind. Es liegt also Umkehrkausalität vor. Diese Interdependenz wird besonders anschaulich, wenn man die einzelnen Kom­ ponenten der GLOBE-Indikatoren betrachtet. So beinhaltet der aggregierte Indikator zum institutionellen Kollektivismus beispielsweise das folgende Item: „The economic system in this society is designed to maximize individual interests“ (versus collective

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interests). Eine positive Korrelation zwischen diesem Indikator und einer beliebigen Variable für die wirtschaftliche Entwicklung sagt nichts anderes aus, als dass Gesell­ schaften mit einem höheren Wachstum (jetzt oder in der Vergangenheit) dazu neigen, das wirtschaftliche System auf individuelle Interessen auszurichten. Eine Aussage über die Wirkungsrichtung lässt sich auf dieser Basis nicht vornehmen. Fazit Die empirische Erforschung des Zusammenhangs (politischer) Institutionen und wirtschaftlicher Entwicklung hat in der jüngeren Zeit zu einer Reihe von neuen An­ sätzen geführt, die insgesamt auf einen positiven Einfluss zwischen demokratischer Transition und anschließendem ökonomischen Wachstumspfad hindeuten. Um po­ litische Institutionen zu messen, werden dabei verstärkt Entwicklungen im Bereich von Big Data und maschinellem Lernen genutzt (siehe Gründler und Krieger 2016). Zudem werden bereits etablierte Indikatoren wie Polity IV und Freedom House zu­ nehmend stärker miteinander kombiniert, um die darin enthaltenden Informationen zu bündeln und valide Aussagen über die politischen Institutionen eines Landes zu einem Zeitpunkt zu treffen (siehe hierfür vor allem Acemoglu et al. 2019). Dennoch konzentrieren sich aktuelle Ansätze überwiegend auf formale Institutionen wie das Regierungssystem, Veto-Spieler, Unabhängigkeit der Gerichte oder das Wahlsystem, um die institutionelle Qualität eines Landes zu messen. Vor diesem Hintergrund stellen Schomaker und Deckert in ihrem Beitrag die Frage nach der Rolle von kultu­ rellen Faktoren und Präferenzen für die Ausprägung und Funktionsweise formeller Institutionen. Die Bedeutung der individuellen Wahrnehmung gesellschaftlicher Nor­ men und Werte sowie institutioneller Performanz ist in der jüngeren Zeit zunehmend auch in der polit-ökonomischen Literatur erkannt worden (zum Beispiel Roland/Go­ rodnichenko 2011; Wig/Tollefsen 2016; van Hoorn 2019). Diese Entwicklung wurde nicht zuletzt auch durch die vermehrte Verfügbarkeit breit angelegter Meinungsum­ fragen wie dem World Value Survey oder dem Afrobarometer unterstützt. Insofern leistet der Vorschlag von Schomaker und Deckert einen relevanten Beitrag zur Dis­ kussion um den Zusammenhang von Kultur, Institutionen und Entwicklung. Die für die empirische Operationalisierung des Zusammenhangs vorgeschlagenen Daten der GLOBE-Studie weisen allerdings einige Limitationen auf, die eine kausale empirische Analyse problematisch erscheinen lassen. Stattdessen sollten für den vorgeschlage­ nen Ansatz nach Möglichkeit Daten genutzt werden, die über einen langen Zeitraum und ein großes Länderpanel erfasst wurden und die es möglich machen, einen strin­ genten modelltheoretischen Rahmen aufzustellen, der die Wirkungsmechanismen zwischen latenter kultureller Präferenz, formeller institutioneller Ausprägung und wirtschaftlichem Indikator eindeutig identifiziert. Der bereits erwähnte World Value Survey könnte sich hier als passend(-er) erweisen. Alternative Ansätze sind zudem im Bereich der Entwicklungsökonomie zu finden, die einzelne institutionelle Ausprägun­ gen in einem begrenzten Setting isolieren, das den Anforderungen an ein natürliches

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Experiment entspricht (Acemoglu/Reed/Robinson 2014). Auch wirtschaftshistorische Studien widmen sich verstärkt dem Zusammenhang institutioneller Veränderungen und wirtschaftlicher Prosperität (Lowes et al. 2017). Auch wenn die externe Validi­ tät der so ermittelten Ergebnisse möglicherweise begrenzt ist, ist der Vorteil dieser Ansätze, dass für eine spezifische institutionelle Ausprägung der Effekt auf die wirt­ schaftliche Entwicklung isoliert und kausal messbar gemacht werden kann.

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Albrecht F. Michler

Das Finanzsystem als fragiles Element für Wachstum und Entwicklung 1

Problemstellung | 57

2

Aufgaben eines gut funktionierenden Finanzsystems | 58

3

Zusammenhang zwischen Finanzmärkten und Wirtschaftswachstum | 60

4

Entwicklung der Finanzmärkte und Finanzmarktstabilität | 62

5

Der Trade-off zwischen Wachstum und Krisengefahr | 64

6

Wirtschaftspolitische Konsequenzen des „too much finance“ | 74

7

Schlussbemerkungen | 76

1 Problemstellung Das Finanzsystem wird von vielen Ökonomen und Politikern als ein fragiles Element für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung betrachtet (Roubini/Mihm 2010). Spätes­ tens seit der Finanzkrise von 2007/2008 – mit ihren massiven realwirtschaftlichen Folgewirkungen insbesondere für offene Volkswirtschaften – wird die These vertreten, dass spezifische Rahmenbedingungen, wie mangelnde Transparenz, asymmetrische Informationsverteilung und versteckte Kosten, dazu beitragen, dass die Finanzmärkte ihre zentrale Aufgabe – die optimale Allokation knapper Finanzmittel zu gewährleis­ ten – nur noch unvollständig erfüllen. Demzufolge kann ein Zustand des „too much finance“ entstehen, wenn ein optimaler Grad der Finanztiefe überschritten wird und die langfristigen Kosten von Instabilitäten im Finanz- sowie im realen Sektor die po­ sitiven Wachstums- beziehungsweise Wohlfahrtseffekte übersteigen. Im Weiteren werden zunächst die Aufgaben eines gut funktionierenden Finanz­ systems skizziert (Kapitel II), um anschließend im dritten Kapitel den Zusammenhang zwischen der Tiefe von Finanzmärkten und ihren potenziellen Auswirkungen auf den realwirtschaftlichen Entwicklungspfad zu betrachten. Im Kapitel IV werden die In­ terdependenzen zwischen dem Umfang des Finanzsektors und seiner Krisenanfällig­ keit analysiert, um schließlich die unterschiedlichen Erklärungsstränge (Kapitel V) der vorangegangenen Kapitel zusammenzuführen. Das vorletzte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage der wirtschaftspolitischen Konsequenzen. Zentrale Ergebnisse und Anmerkungen zu den Implikationen der Geldpolitik beziehungsweise dem Niedrig­ zinsumfeld sind im Schlusskapitel zusammengefasst.

https://doi.org/10.1515/9783110696745-003

58 | Albrecht F. Michler

2 Aufgaben eines gut funktionierenden Finanzsystems Ein gut funktionierendes Finanzsystem, bestehend aus den Intermediationsleistun­ gen von Banken, Finanzmärkten, Finanzinstrumenten sowie sonstigen Finanzinsti­ tutionen kann das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft nachhaltig fördern, da Beschränkungen auf beiden Marktseiten beseitigt beziehungsweise abgemildert wer­ den. Das Finanzsystem übernimmt eine Reihe von Aufgaben: – Die Bereitstellung von ex ante Informationen über potenzielle Investments im Sinne einer Rendite/Risiko-Abwägung (Informationsfunktion/Transparenzfunk­ tion). – Die laufende Überwachung von Investitionen sowie die Kontrolle über die Ein­ haltung der mit der Mittelbereitstellung erwarteten Unternehmensführung (Go­ vernance-Funktion). – Sicherstellung des Handels von Risiken sowie deren Diversifikation und Manage­ ment (Risikotransformationsfunktion) zur Beseitigung des vorhandenen RisikoMismatch zwischen Kapitalgebern und -nehmern. – Die Mobilisierung und das Pooling von Ersparnissen (Losgrößentransformation) sowie die Beseitigung bestehender Differenzen zwischen dem gewünschten An­ lagehorizont von Kreditanbietern und dem gewünschten Finanzierungszeitraum von Kreditnehmern (Fristentransformationsfunktion). – Die allgemeine Unterstützung des Waren- und Dienstleistungsaustausches in ei­ ner Volkswirtschaft. Jede dieser Funktionen kann die Ersparnis- und Investitionsentscheidungen inner­ halb einer Volkswirtschaft beeinflussen und damit zum Wirtschaftswachstum beitra­ gen. In der Literatur sind verschiedene Messverfahren entworfen worden, um die Ent­ wicklung des Finanzsystems adäquat zu erfassen. Häufig wird das Konzept der Fi­ nanztiefe verwendet, das das Verhältnis zwischen dem Kreditvolumen, dem Finanz­ kapital und den Finanzprodukten einerseits sowie der realen Wirtschaft – in Form des BIP – andererseits erfassen soll. Betrachtet man die Entwicklung der globalen Finanztiefe seit dem Beginn der Fi­ nanzkrise von 2007/2008 lässt sich feststellen, dass die Verschuldung in allen drei Sektoren (Staat, nicht-finanzielle Unternehmen sowie private Haushalte) sukzessive zugenommen hat (McKinsey Global Institute 2018).¹ Die Verschuldung zwischen 2007

1 Die Berechnungen umfassen die Daten von insgesamt 51 Ländern auf Basis von Statistiken der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (43 Länder) und auf Basis der McKinsey Country Debt Database (8 Länder).

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und 2017 ist um 74 % von 97 Billionen USD auf 169 Billionen USD angestiegen. In diesem Zeitraum hat sich das Volumen der ausstehenden Unternehmensanleihen im nicht-finanziellen Sektor von 4,3 Billionen USD auf 11,7 Billionen USD erhöht, was ei­ ner Wachstumsrate von circa 172 % entspricht. Die durchschnittliche Wachstumsrate gemessen am CAGR betrug 10,5 %. Der stärkste Anstieg war dabei in China (39,9 % CA­ GR) und in anderen Entwicklungs- beziehungsweise Schwellenländern (14,0 % CAGR) zu beobachten. Im Investmentgrade-Bereich (ohne BBB) stieg das Anleihevolumen im Durchschnitt um 7 %, im BBB-Bereich um 10 % und im Non-Investmentgrade-Bereich um 8 %. Betrachtet man die Schuldenentwicklung ausschließlich in den Industrieländern ergibt sich in ein differenziertes Bild hinsichtlich der Expansion seit dem Jahr 2007. Demzufolge ist insbesondere die zunehmende Staatsverschuldung für das steigende Verhältnis der Schulden zum BIP verantwortlich. Im Zeitraum 2007 bis 2017 stieg die Verschuldung um circa 35 %, während die Verschuldung im privaten Sektor konstant blieb. Vor der Finanzkrise war hingegen der private Sektor die wesentliche Triebfeder der Schuldenentwicklung. Berücksichtigt man bei der Ermittlung der Finanztiefe die Eigenkapitalmärk­ te – respektive die Aktienmärkte – wird die Interpretation der Entwicklungsprozesse durch die starken Wertschwankungen auf diesen Märkten verzerrt. Der Gesamtwert der ausstehenden Aktien sank beispielsweise von 64 Billionen USD im Jahr 2007 auf 36 Billionen USD in 2008 (in konstanten Wechselkursen von 2011). Die Finanztiefe – gemessen an den ausstehenden Krediten und Aktien – sank von 355 % (2007) auf 307 % (2008) in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Die zunächst zögerliche Erho­ lung auf den Aktienmärkten, die sich dann tendenziell beschleunigte, führte bis zum aktuellen Rand zu einem deutlichen Wiederanstieg der Finanztiefe. Die Finanztiefe einer Volkswirtschaft wird aber nicht nur durch die Aktivitäten des Geschäftsbankensektors sondern auch durch den Schattenbankensektor (SB-Sek­ tor) geprägt. Diesem Sektor wird ein nicht unerheblicher Anteil beim Entstehen der Finanzkrise und ihren Folgewirkungen angelastet (Michler, 2016).² Aus Sicht des „Fi­ nancial Stability Board“ (2018) umfasst der Schattenbankensektor im Wesentlichen Marktakteure, die an Intermediationsleistungen (Transformation von Laufzeiten, Kre­ diten und Liquidität) beteiligt sind und nicht dem regulären Geschäftsbankensektor angehören. Im Gegensatz zum Bankensektor betreiben sie keine Giralgeldschöpfung, haben keinen direkten Zugang zu Zentralbankliquidität und ihre Einlagen werden nicht im gleichen Maß durch staatliche Sicherungssysteme geschützt. Zur Durchfüh­ rung der Transformationsleistungen weist das SB-System spezifische Eigenschaften auf (Deutsche Bundesbank 2014): (i) die finanziellen Aktiva und Passiva sind größ­ 2 Das Financial Stability Board differenziert zwischen einer breiten Abgrenzung (MUNFI; Monitoring Universe of Non-Bank Financial Intermediation) basierend auf den internationalen Vermögensposi­ tionen von „anderen Finanzintermediären“ (Other Financial Intermediaries; OFI) und einer engeren Abgrenzung, die um einige Positionen bereinigt wird.

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tenteils marktbasiert, (ii) die Finanzierungsinstrumente sind im hohen Maße fonds­ basiert und (iii) die Transaktionen sind in einem höheren Ausmaß besichert. In den In­ dustrieländern besteht der Schattenbankensektor typischerweise aus einem Netzwerk von Finanzinstitutionen und Marktaktivitäten, die den üblichen Prozess der Kreditin­ termediation zwischen Kreditnehmern und Gläubigern in eine Reihe von diskreten Operationen zerlegen und damit umfangreiche Intermediationsketten erzeugen (IMF 2014). Nach einem leichten Rückgang im Zuge der Finanzkrise hat der Umfang der As­ sets im Schattenbankensektor seit 2010 wieder deutlich zugenommen, was sich auch in der relativen Bedeutung des Sektors seit dem Jahr 2012 widerspiegelt. Betrachtet man die Dynamik des SB-Sektors in Relation zur Entwicklung des Wirtschaftswachs­ tums, ist feststellbar, dass das Verhältnis zwischen den OFI-Assets und dem BIP in der Mehrheit der Industrie- als auch der Schwellenländer angestiegen ist (Financial Stability Board 2018). Neben der dargestellten Finanztiefe gibt es auch weitere Dimensionen, die ein Fi­ nanzsystem prägen und Einfluss auf die realwirtschaftliche Entwicklung haben. Hier­ zu gehören der Wert, die Qualität, die Diversifikation, die Effizienz und die jewei­ lige Einbindung der Marktteilnehmer in die Leistungsprozesse. Viele dieser Fakto­ ren müssen über Proxy-Variablen abgebildet werden, wie beispielsweise durch den Beschäftigungsanteil im Finanzsektor und die Gehälter beziehungsweise Gehaltsauf­ schläge (wage premia) in der Finanzindustrie. Diese zusätzlichen Maßstäbe sind ge­ eignet, um die Allokation beziehungsweise Fehlallokation von Produktionsfaktoren zwischen den volkswirtschaftlichen Sektoren zu identifizieren.

3 Zusammenhang zwischen Finanzmärkten und Wirtschaftswachstum Die Mehrheit empirischer Studien auf Basis unterschiedlicher Mess- beziehungsweise Schätzverfahren kommen zu dem Ergebnis, dass gut funktionierende Finanzsysteme das langfristige Wachstum einer Volkswirtschaft nachhaltig verbessern können (vgl. die Übersichten bei Levine 1997 und 2005; sowie Popov 2018). Allerdings werden zwei Problemstellungen weiterhin kontrovers diskutiert. Einer­ seits stellt sich die Frage, ob es eine eindeutige Kausalrichtung gibt, also letztlich das Finanzsystem das Wirtschaftswachstum bedingt oder ob umgekehrte oder gegenseiti­ ge Kausalität auftreten kann. Die zweite Fragestellung zielt auf die Allgemeingültigkeit der Wirkungszusammenhänge ab, also ob die Einflüsse des Finanzsystems auf die Re­ alwirtschaft zwischen einzelnen Ländern beziehungsweise in Abhängigkeit von der Ausbaustufe des Finanzsystems oder des Entwicklungsgrads der Volkswirtschaft be­ ziehungsweise anderer Rahmenparameter variieren.

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Hinsichtlich der Frage der Kausalität gibt es eine starke Evidenz dafür, dass die Finanztiefe positiv auf das Wirtschaftswachstum einwirkt und nicht umgekehrt. Dabei werden auch jene Faktoren verortet, die letztendlich für die positiven Zusam­ menhänge verantwortlich sind. Im Ergebnis ist der Einfluss des Finanzsystems auf die Gesamtfaktorproduktivität von zentraler Bedeutung (Levine/Loayza/Beck 2000). Während Querschnitts- beziehungsweise Panel-Analysen zumeist eine eindeutige Kausalrichtung identifizieren, kommen stärker zeitreihen-basierte Analysen häufig zu dem Schluss, dass eine gegenseitige Kausalität zwischen dem Ausbau des Finanz­ systems und der Wachstumsdynamik einer Volkswirtschaft nicht ausgeschlossen werden kann (zum Beispiel Ghirmay 2004). Die Homogenität der Wachstumseffekte wurde in frühen empirischen Untersu­ chungen vernachlässigt. Inzwischen gibt es viele Untersuchungen, die sich mit der Frage beschäftigen, inwieweit die Ausgangslage einer Volkswirtschaft, die Ausbau­ stufe des Finanzsystems sowie länderspezifische Faktoren die Stärke der Wachstums­ impulse beeinflussen. Der Übersichtsartikel von Pasali (2013) liefert keine eindeutigen Ergebnisse, ob beispielsweise Länder auf einem höheren Entwicklungsniveau mehr von der zuneh­ menden Finanztiefe profitieren als geringer entwickelte Volkswirtschaften bezie­ hungsweise vice versa. Hingegen gibt es einen gewissen Konsens, dass sich die positi­ ven Effekte einer zunehmenden Finanztiefe sukzessive reduzieren. Zugleich wirkt ein rascher Ausbau der Finanztiefe in aller Regel kontraproduktiv, sodass sich die Frage nach der optimalen Finanztiefe stellt. Während ein großer Teil der empirischen Evidenz Querschnittsdaten auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene verwendet, zeigen Untersuchungen auf lokaler bezie­ hungsweise unternehmensspezifischer Ebene einen engen Zusammenhang zwischen dem Finanzsektor und dem Wirtschaftswachstum (zum Beispiel Guiso/Sapienza/ Zingales 2004; Kendall 2012). Auch diese Studien beschäftigen sich mit der Frage der Kausalität und der Homogenität. Rajan und Zingales (1998) zeigen anhand firmen­ spezifischer Daten, dass Industriesektoren, die einen höheren externen Finanzie­ rungsbedarf aufweisen, in Ländern mit einem ausgebauten Finanzsystem schneller wachsen. Ein potenzieller Wachstumsfaktor stellt dabei die Reduktion der externen Finanzierungskosten dar, die in einem entwickelten System tendenziell geringer aus­ fallen als in einem unterentwickelten Finanzsystem. Demirgüc-Kunt und Maksimovic (1998) zeigen, dass Unternehmen in Ländern mit entwickelten Finanzinstitutionen und einem effizienten Rechtssystem größere Chancen haben, auf eine externe Finan­ zierung zurückzugreifen. Beck, Demirgüc-Kunt und Maksimovic (2005) verweisen schließlich auf die Bedeutung des Einflusses von finanziellen, rechtlichen und Kor­ ruptionsproblemen auf die Wachstumsraten der Unternehmen. Sie zeigen auf, dass kleinere Unternehmen durch diese Rahmenbedingungen deutlich stärker belastet werden und im Gegenzug deutlich stärker von einer positiven Finanz- und institutio­ nellen Entwicklung profitieren. Ferner lässt sich zeigen, dass die Finanzentwicklung

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bestehende Beschränkungen, aufgrund von Informationsasymmetrien und unvoll­ ständigen Kontrakten, reduzieren kann (Love 2003).

4 Entwicklung der Finanzmärkte und Finanzmarktstabilität Die Literatur, die sich mit der Frage beschäftigt, welcher Zusammenhang zwischen dem Ausbau eines Finanzsystems und dem Auftreten von Finanz- beziehungswei­ se Wirtschaftskrisen besteht, ist ähnlich umfangreich. Empirische Studien kommen überwiegend zu der Erkenntnis, dass eine rasche Beschleunigung der Kreditvergabe durch Banken, der schnelle Aufbau der Staatsverschuldung sowie der rasche Anstieg von Aktienkursen robuste Indikatoren für das Auftreten von Finanzkrisen darstellen und zugleich Informationen für die Krisenintensität liefern (Jordá/Schularick/Taylor 2011). Eng damit verknüpft ist die zweite Aussage, dass die rasche Beschleunigung beim Volumen und in den Preisen von Vermögensaktiva Teil eines Boom-Bust-Zyklus sind. Der Zusammenbruch auf den Vermögensmärkten (Bust) ist wiederum verant­ wortlich für negative realwirtschaftliche Effekte. Ferner gibt es empirische Belege, dass sich die Wahrscheinlichkeit von krisenhaften Erscheinungen mit der zunehmen­ den Länge einer Boom-Phase erhöht (Dell´Arrica et al. 2016). Eine dritte Erkenntnis der Studien besteht darin, dass internationale Finanzströme einerseits einen Boom auslösen beziehungsweise massiv flankieren (zum Beispiel Kapitalimporte im Sinne von „hot money“ in Richtung von Schwellenländern) und andererseits die Bust-Phase durch einen „sudden stop“ der Kapitalflüsse initiieren beziehungsweise durch eine Umkehr der Finanzströme verstärken (Aguiar/Gopinath 2007). Bemerkenswert sind die Anfälligkeiten der Schwellenländer. Entsprechende Risi­ ken treten nicht nur auf, wenn beispielsweise die Preise und Mengen von wichtigen Exportgütern (zum Beispiel Rohstoffen) dieser Länder rückläufig sind beziehungswei­ se die Importpreise und -mengen steigen, sodass sich nachhaltige Leistungsbilanz­ defizite etablieren. Zinssteigerungen in den Industrieländern respektive in den USA beziehungsweise eine sinkende Risikoneigung der internationalen Anleger bedingen einen raschen Abfluss von Portfolioinvestitionen, die in aller Regel sowohl die Ak­ tien- als auch die Anleihenmärkte erfassen und sich zudem in entsprechenden Ab­ wertungen der lokalen Währungen gegenüber den Anlagewährungen der Investoren niederschlagen. Die Umkehr der Portfolioströme wird erst dann gestoppt, wenn die Risikoprämien in den Schwellenländern wieder deutlich angestiegen sind. Die ver­ schlechterten Refinanzierungsbedingungen sowohl auf den Eigen- als auch auf den Fremdkapitalmärkten spiegeln sich schließlich auch in der negativen Realeinkom­ mensentwicklung dieser Länder wider. Sofern sowohl die Finanzinstitutionen als auch die Finanzmärkte das Wirtschafts­ wachstum und die Krisenrisiken beeinflussen, stellt sich die Frage, ob die Ausgestal­

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tung des Finanzsystems im Sinne eines eher bankorientierten oder eines eher markt­ orientierten Systems Einfluss auf Wachstum und Stabilität haben.³ Die steigende re­ lative Bedeutung marktbasierter Finanzsysteme könnte folgerichtig auch die bis dato bestehenden Zusammenhänge zwischen den beiden Variablen nachhaltig verändern. Es lässt sich eine gewisse Evidenz dafür finden, dass ein marktbasiertes System den privaten Konsum der Volkswirtschaft eher stabilisiert als ein bankbasiertes System. Sofern der private Konsum stark von den Änderungen des aktuellen Einkommens (im Sinne der Aktualeinkommenshypothese), das heißt von auftretenden Budgetrestrik­ tionen abhängt, stabilisiert die erleichterte Kreditaufnahme über den Markt die Volks­ wirtschaft eher als ein bankorientiertes System. Empirisch lässt sich zeigen, dass mit einem steigenden Finanzindex (IMF-Methodik: Wert 0 für ein rein bankbasiertes Sys­ tem; Wert 1: für ein rein marktbasiertes System) die Korrelation zwischen Konsum und Einkommen im untersuchten Zeitraum von 1985–2005 tendenziell abnimmt (Haan/ Oosterloo/Schoenmaker 2012). Demgegenüber wird unterstellt, dass ein bankbasier­ tes System eher geeignet ist, die Investitionstätigkeit in einer Volkswirtschaft zu sta­ bilisieren. Während eines normalen konjunkturellen Abschwungs werden Kreditin­ stitute in bankbasierten Systemen stärker die langfristigen Vorteile des „Relationship Bankings“ sehen und akzeptieren kurzfristige Leistungsstörungen der Kreditnehmer. Der Kapitalpuffer der Banken (Kreditgeber) kann einen Teil der auftretenden Verlus­ te kompensieren. Infolgedessen begünstigen bankbasierte Systeme eine Glättung im Investitionsverhalten über den Konjunkturzyklus, was sich auch empirisch für den Zeitraum 1985–2005 bestätigen lässt (Haan/Oosterloo/Schoenmaker 2012). Zusammenfassend lässt sich aber keine hinreichende Evidenz für die Überle­ genheit eines der beiden Systeme identifizieren. Einzelne Studien kommen zu dem Schluss, dass das Dienstleistungsangebot von Banken insbesondere für weniger ent­ wickelte Volkswirtschaften einen Mehrwert stiftet (Gambacorta/Yang/Tsatsaronis 2014). Zudem wird konstatiert, dass ein gesundes Bankensystem in der Lage ist, Schocks in einer normalen Abschwungphase zu kompensieren, diese Schockabsorp­ tionsfähigkeit aber in Finanzkrisen verloren geht. Im Gegenzug ist festzustellen (Lang­ field/Pagano 2016), dass in hochentwickelten Volkswirtschaften – unter Berücksichti­ gung der Erfahrungen aus der jüngsten Finanzkrise von 2007/2008 – eine Ausweitung des Bankensystems im Verhältnis zu den Aktien- und privaten Anleihenmärkten mit einem niedrigeren Wirtschaftswachstum und einem höheren systemischen Risiko einhergeht.

3 In bankbasierten Systemen – wie man sie insbesondere in kontinentalorientierten Ländern findet – spielen die Intermediationsleistungen von Universalbanken für die Finanzierung der Volkswirtschaft eine zentrale Rolle. Im Gegensatz dazu sind die stärker marktbasierten Finanzsysteme angelsächsi­ scher Provenienz zu sehen, in denen die Wertpapiermärkte einen größeren Teil der Finanzierungsbe­ dürfnisse abdecken. In den letzten Dekaden ist eine verstärkte Hinwendung zu den marktbasierten Systemen zu beobachten.

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5 Der Trade-off zwischen Wachstum und Krisengefahr Nach der isolierten Betrachtung der Einflüsse der Finanzmarktentwicklung auf das Wirtschaftswachstum beziehungsweise auf das Risiko von Finanzmarktinstabilitä­ ten ist eine Zusammenführung beider Wirkungsstränge in einem integrierten An­ satz erforderlich. Wirtschaftspolitische Eingriffe, die eine Weiterentwicklung des Finanzsystems fördern sollen, müssen den Trade-off zwischen dem gewünschten Wirtschaftswachstum und dem unerwünschten Anstieg der Finanzrisiken abwägen. Ein integrierter Ansatz muss folgerichtig jene Rahmenbedingungen identifizieren, unter denen konträre Effekte ausgelöst werden und mit welchen Nettoeffekten die finanzielle Entwicklung einhergeht. Ökonometrische Studien in der letzten Dekade (Loayza/Ranciere 2006; Ranciere/ Tornell/Westermann 2006) auf Basis von Panel-Fehlerkorrekturmodellen kommen zu dem Ergebnis, dass langfristige positive Beziehungen zwischen der Finanztiefe einer Volkswirtschaft und ihrem Wachstumspfad bestehen und zugleich kurzfristige hete­ rogene sowie sehr länderspezifische negative Effekte auftreten können. Im Ergebnis wird der langfristige positive Entwicklungspfad durch kurzfristige Fluktuationen auf­ grund einer exzessiven Kreditvergabe überlagert, was zu temporären Rückgängen der realwirtschaftlichen Entwicklung führt. In krisenanfälligen Ländern fallen dabei die negativen Effekte deutlich höher aus. Die krisenbedingten Schwankungen sind nicht die einzige Ursache für die kurzfristige negative Dynamik. Häufig führen Kreditbooms auch zu einer weichen Landung mit einem verzögerten realwirtschaftlichen Rückgang ohne gravierende Kriseneffekte (Gourinchas/Valdes/Landerretche 2001). Widmen wir uns nun der Schätzmethode zur Analyse simultaner Effekte einer Li­ beralisierung des Finanzsystems. Das Modell von Ranciere, Tornell und Westermann (2006) war der erste direkte Test, die beiden unterschiedlichen Effekte einer Liberalisierung der Finanzmärkte si­ multan aufzuzeigen. Das Modell kombiniert eine Wachstumsgleichung – die jeweils eine Dummy-Variable für die Liberalisierung des Finanzsektors und für das Auftreten einer Finanzkrise beinhaltet – mit einer Krisengleichung, die die Eintrittswahrschein­ lichkeit einer Krise endogen bestimmt. Diese Krisenwahrscheinlichkeit hängt ihrer­ seits von Krisenindikatoren ab, zu denen wiederum eine Dummy-Variable für die Libe­ ralisierung des Finanzsektors zählt. Im ersten Schritt wird das Krisenmodell mithilfe eines Probit-Modells abgeschätzt. Im nächsten Schritt werden die Ergebnisse als Ge­ fährdungsmoment (hazard rate) in der Wachstumsgleichung implementiert, um die Endogenität des Krisenrisikos abzubilden. In dem Gleichungssystem nimmt die Libe­ ralisierung des Finanzsektors in Bezug auf das Wachstum zwei Funktionen wahr: Es existiert einerseits ein direkter Einfluss der Finanzliberalisierung (FL) auf das Wirt­ schaftswachstum in einem normalen Regime (Nicht-Krisenregime) und ein indirekter Effekt, der die erwarteten Kosten im Krisenregime erfasst. Formal ergibt sich folgender

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Zusammenhang: E(FL-Wachstumsgewinn) = E(FL-Wachstumseffekt|keine Krise) + E(Krisenkosten) ⋅ [Prob(Krise|FL) − Prob(Krise|keine FL)]

(1)

FL = Dummy für die Liberalisierung der Finanzmärkte Im Schätzzeitraum von 1960 bis 2000 für 60 Länder mit einem mittleren Einkom­ mensniveau identifizieren Ranciere, Tornell und Westermann (2006) einen positiven direkten Wachstumseffekt, der mit circa einem Prozentpunkt (PP) pro Jahr quantifi­ ziert wird, während der indirekte Effekt mit circa −0,25 bis −0,3 PP pro Jahr zu Bu­ che schlägt, sodass sich ein positiver Nettowachstumseffekt von circa 0,7 bis 0,75 PP einstellt. Dabei muss beachtet werden, dass im Krisenfall gravierende Kosten durch den Konjunktureinbruch auftreten (typischerweise Einbrüche des Outputs von bis zu 10 PP). Das Krisenregime ist aber auch nach einer deutlichen Liberalisierung des Fi­ nanzsystems ein eher seltenes Ereignis, da die jährliche Eintrittswahrscheinlichkeit nur geringfügig um circa 2 bis 4 PP ansteigt. Wie lautet die theoretische Erklärung des Trade-off zwischen Wachstum und Finanzstabilität? Der Trade-off zwischen dem Wirtschaftswachstum und dem zunehmenden Risiko von Instabilitäten lässt sich – analog zum typischen Spannungsfeld zwischen Renditeund Risikopotenzial von Investitionen zwar intuitiv erklären, nichtsdestotrotz ist die Implementierung eines makroökonomischen Analyserahmens erforderlich, um die Interdependenzen verstehen zu können. Ranciere, Tornell und Westermann unterstellen ein stochastisches Wachstums­ modell, wobei das Wachstum von der Ausgestaltung des Finanzsystems abhängig ist. Es wird angenommen, dass in der betrachteten Volkswirtschaft Verträge zunächst nur unvollständig durchsetzbar sind, das heißt Marktteilnehmern nicht (ausreichend) ver­ pflichtet werden können, ihre Schulden zurückzuzahlen. Im Ergebnis entstehen da­ durch Kreditbeschränkungen und dieser finanzielle Flaschenhals bedingt ein gerin­ geres Wirtschaftswachstum, da Investitionen nur noch eigenfinanziert werden kön­ nen beziehungsweise die Verschuldungsquoten – insbesondere bei risikobehafteten Wachstumsinvestitionen – begrenzt werden, um sicherzustellen, dass Kredite nicht in andere Verwendungen umgeleitet werden. Sofern Unternehmer (Kreditnehmer) mit der Übernahme von Risiken ihre effekti­ ven Kapitalkosten senken können, reduziert sich ihr Anreiz die geliehenen Mittel in andere Verwendungen umzuleiten und ermöglicht im Ergebnis eine höhere Verschul­ dungsquote sowie höhere Investitionen. Der höhere Verschuldungsgrad impliziert zu­ gleich das Risiko eines Ausfalls in schlechten Phasen. Folgerichtig wird eine risikobe­ haftete Strategie auch nur dann umgesetzt, wenn die Gewinnaussichten hinreichend

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groß sind. Mit diesen Überlegungen lässt sich der Ttrade-off zwischen Wachstum und Krise auf der mikroökonomischen Ebene begründen. Was lässt sich zum Zusammenhang zwischen mikro- und makroökonomischer Risikoübernahme sagen? Wie lassen sich die mikroökonomischen Anreize zur Übernahme von Risiken in ei­ ne systemische makroökonomische Risikoübernahme transferieren? Die Existenz von expliziten oder impliziten systemischen Bail-out-Garantien liefern für beide Sei­ ten auf den Finanzmärkten Anreize ihre Risikoübernahme zu koordinieren (Farhi und Tirole 2012, „kollektives Moral Hazard“). Die Risikoübernahme kann zudem eine Feedback-Schleife zwischen dem Verschuldungsgrad, den Preisen und den Unterneh­ mensgewinnen erzeugen, was die Existenz von multiplen Gleichgewichten erlaubt. Demzufolge existiert einerseits ein Nichtkrisen-Gleichgewicht in normalen (ruhi­ gen) Phasen und andererseits ein Krisengleichgewicht. In offenen Volkswirtschaften treten zusätzliche Feedback-Schleifen auf, wenn die Risikoübernahme durch einen Währungs-Mismatch entsteht, das heißt die Kreditaufnahme beispielsweise in Fremd­ währung erfolgt, während die Erlöse – beispielsweise für nicht handelbare Waren und Dienstleistungen – in Inlandswährung auflaufen. Im normalen Regime gehen die (internationalen) Kreditgeber davon aus, dass die Unternehmen ihren Verpflich­ tungen nachkommen können und stellen dementsprechend genügend Kredite bereit. Im Krisengleichgewicht erwarten die Kreditgeber hingegen einen Ausfall der Kredit­ nehmer und schränken die Kreditvergabe ein. Die Preise für nicht exportfähige Güter im Inland brechen ein (es kommt zu einer realen Abwertung des Wechselkurses). In diesem Fall führt der Währungs-Mismatch zu einer Zahlungsbilanzkrise und zu Unternehmenszusammenbrüchen, die man beispielsweise am Ende der 1990er Jah­ re in einer Reihe von asiatischen Ländern beobachten konnte, deren Unternehmen sich – in Vertrauen auf eine weitgehende Stabilität der lokalen Währung gegenüber dem USD beziehungsweise einem Währungskorb – kurzfristig in USD refinanzierten. Neben dem Währungs-Mismatch kam erschwerend der Laufzeiten-Mismatch (länger­ fristiger Finanzierungsbedarf bei kurzfristiger Refinanzierung auf den internationalen Finanzmärkten) hinzu. Welche Bedeutung haben länderspezifische Entwicklungsstands für den Trade-off? Ranciere und Tornell (2016) beschreiben in ihrem Modell zwei Entwicklungspfade, ei­ nen sicheren Wachstumspfad, der durch geringes Kreditwachstum, eine geringe Ver­ schuldungsquote und ein geringes Wirtschaftswachstum charakterisiert ist und dafür keine Krisenrisiken beinhaltet. Der zweite, risikobehaftete Expansionspfad ist durch einen Boom-Bust-Zyklus geprägt. Im Falle einer finanziellen Repression existiert nur

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der sichere Anpassungspfad, während in einem liberalisierten Finanzsektor beide An­ passungspfade koexistieren.⁴ Für welche Länder kann unterstellt werden, dass die Wachstumsgewinne die Kos­ ten einer auftretenden Krise dominieren, wenn sie sich von einem sicheren Entwick­ lungspfad abwenden und bereit sind einen risikobehafteten Wachstumspfad einzu­ schlagen? Ranciere, Tornell und Westermann (2008) kommen zu dem Schluss, dass Länder, die durch einen mittleren Grad der Vertragsdurchsetzung geprägt sind, mit positiven Nettoeffekten rechnen können. Diese ordnungspolitischen Rahmenbedin­ gungen sind typischerweise bei Ländern mit einem mittleren Einkommensniveau zu erwarten. Bei Ländern mit einer geringen Durchsetzungskraft von Verträgen führt die Risikoübernahme nur zu begrenzten Leverage-Gewinnen, die die Krisenkosten nicht abdecken würden. Für Länder mit einem hohen Grad der Durchsetzbarkeit von Verträ­ gen zeigen Kreditbeschränkungen deutlich geringere negative Auswirkungen, sodass potenzielle Wachstumsgewinne durch eine Lockerung der Kreditvorgaben von vorn­ herein beschränkt sind. Damit sich ein risikoreicher Entwicklungsprozess im Finanzsektor auszahlt, müs­ sen insbesondere die Restriktionen für jene Sektoren beziehungsweise einzelnen Un­ ternehmen gesenkt werden, die bis dato mit den stärksten Kreditbeschränkungen kon­ frontiert wurden. In diesem Fall ist damit zu rechnen, dass positive Externalitäten für die restliche Volkswirtschaft erzeugt werden. Eine Liberalisierung des Finanzsektors führt zu einer erhöhten Kreditaufnahme inländischer Unternehmen, die dann über verstärkte Investitionen ihre Produktivität und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit ge­ genüber ausländischen Konkurrenten auf den Binnenmärkten erhöhen können. Die ausländischen Wettbewerber sehen sich gezwungen, über produktivitätssteigernde Investitionen ihre Produktionstechnik ebenfalls zu modernisieren. Im Ergebnis erhöht sich der Effizienzgrad in der gesamten Volkswirtschaft. Es lässt sich ferner zeigen, dass die Liberalisierung des Finanzsektors den Markteintritt neuer Wettbewerber erleich­ tert und das bisherige Preissetzungsverhalten von Unternehmen erschwert wird. Ins­ gesamt kann festgehalten werden, (a) dass technologischer Fortschritt (Varela 2018), (b) die Beseitigung von Engpassfaktoren durch eine erweiterte und kostengünstigere Produktion von Vorprodukten für andere Sektoren der Volkswirtschaft (Ranciere/Tor­ nell/) sowie (c) veränderte Spielregeln bei der Preisbildung auf den Märkten (Levchen­ ko/Ranciere/Thoenig 2009) die zentralen Transmissionskanäle charakterisieren, über die eine Liberalisierung des Finanzsektors positiv auf die realwirtschaftliche Entwick­ lung einwirkt und steigende Krisenrisiken rechtfertigt.

4 Der Begriff der Financial Repression geht auf McKinnon (1973) zurück und beschreibt ein Instru­ mentenset, mit denen Regierungen versuchen, die Lasten der Verschuldung auf inländische Sparer zu überwälzen.

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Welche Rolle spielt das Kreditwachstum für das makroökonomisches Schwankungspotenzial? Wie lässt sich in diesem Zusammenhang das makroökonomische Schwankungspo­ tenzial – das mit den Krisenrisiken verknüpft ist – messen? Ein Boom-Bust-Zyklus ist typischerweise durch ein länger anhaltendes sukzessiv ansteigendes Kreditvolu­ men charakterisiert. Die Boomphase endet in der Regel abrupt und geht in eine Krise über, die durch einen Zusammenbruch des Kreditangebots geprägt ist. Der asymme­ trische Verlauf lässt sich durch die Schiefe des Kreditwachstums ermitteln. Sie misst den Grad der Asymmetrie in der Verteilung des Kreditwachstums und liefert damit aussagekräftigere Informationen als die Varianz beziehungsweise die Standardabwei­ chung des Kreditwachstums. Die Schiefe erlaubt eine Abkoppelung der recht selten auftretenden Krisen von der häufigeren und symmetrisch verlaufenden Volatilität. Es lässt sich zeigen, dass das Ausmaß der Schiefe positiv verknüpft ist mit dem re­ alwirtschaftlichen Wachstum. Dies gilt insbesondere für Länder mit einem mittleren Einkommensniveau. Länder, die einen Boom-Bust-Zyklus durchlaufen, wachsen fol­ gerichtig schneller als Länder mit einem stabilen Kreditangebot. Diese Erkenntnis ko­ existiert mit der Tatsache, dass höhere Schwankungen im Kreditwachstum kontrapro­ duktiv für das Wirtschaftswachstum sind. Welche Rolle spielen die Liberalisierung des Finanzsystems und andere wachstumspolitische Maßnahmen? Inwieweit fördert eine Liberalisierung des Finanzmarktes im Vergleich zu anderen wachstumspolitischen Maßnahmen den Trade-off zwischen realwirtschaftlicher Ent­ wicklung und Instabilitäten? Einige Studien (zum Beispiel Caldera-Sanchez/Gorri 2016) untersuchen den Einfluss von Reformen, in dem sie – wie Ranciere, Tornell und Westermann – eine Wachstumsgleichung mit einer Krisengleichung verknüpfen. Sie kommen zu dem Schluss, dass ausschließlich eine Liberalisierung des Finanzsek­ tors den unerwünschten Trade-off generiert. Reformen auf den Gütermarkten haben keinen signifikanten Einfluss auf die Kriseneintrittswahrscheinlichkeit, während Re­ formen des (Außen-)Handels oder Arbeitsmarktmaßnahmen sowohl das Wirtschafts­ wachstum fördern als auch die Eintrittswahrscheinlichkeit von Krisen senken. Es lässt sich zudem zeigen, dass inländische Privatkredite und private internationale Schul­ denströme die zentralen Ursachen von Krisenrisiken darstellen (Caldera-Sanchez et al. 2016). Dies impliziert allerdings nicht, dass ein (politisch initiierter) Wechsel von der Fremdfinanzierung hin zur Finanzierung via Eigenkapital den Trade-off si­ gnifikant reduziert. Eine Schuldenfinanzierung beinhaltet in normalen Marktphasen durchaus einen Disziplinierungsmechanismus, auch wenn zugleich das unvorher­ sehbare Risiko (Randrisiko; tail risk) steigen könnte. Es lässt sich ferner zeigen, dass eine höhere Qualität der Finanzinstitutionen (zum Beispiel ihre Fähigkeit zur Ein­ schätzung von Kreditrisiken etc.) die Trade-off-Wirkungen einer Liberalisierung des

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Finanzsektors reduziert. In diesem Fall können die positiven Wachstumseffekte die negativen Effekte einer Krise wiederum überwiegen (Caldera-Sanchez et al. 2016). Was sind Ergebnisse auf Basis sektorspezifischer beziehungsweise disaggregierter Daten? Die meisten Studien zum Trade-off konzentrieren sich auf die Nutzung aggregierter Daten und beinhalten damit bei länderübergreifenden Querschnittsanalysen die Ge­ fahr, Schätzverzerrungen aufzuweisen. Einzelne Studien nutzen allerdings sektorspe­ zifische Daten und können exogene sektorübergreifende Variationen – wie sektorale Unterschiede in den Finanzierungskonditionen innerhalb eines Landes – identifizie­ ren. Im Rahmen einer Panel-Studie für 28 Sektoren in 60 Ländern finden Levchenko, Ranciere und Thoenig (2009) im Zeitraum 1970 bis 2004, dass die Liberalisierung des Finanzsektors gleichzeitig zum Anstieg des Wirtschaftswachstums und der Volatilität führt. Während der Wachstumseffekt häufig nur temporärer Natur ist, verfestigen sich die Volatilitätseffekte beim Wirtschaftswachstum. Sofern die Wachstumsimpulse groß genug sind, führt dies zu einem Anstieg des Output-Niveaus, sodass trotz der dauer­ haft steigenden Wachstumsschwankungen ein positiver Nettowohlfahrtseffekt gene­ riert wird. Der überwiegende Teil der zunehmenden Wachstumsvolatilität lässt sich mit der einsetzenden sektoralen Reallokation begründen, die durch die Beseitigung bislang vorhandener Fehlallokationen das langfristige Wirtschaftswachstum begüns­ tigt (Manganelli/Popov 2015). Schließlich lässt sich die Schiefe des Kreditwachstum auch auf der sektoralen Ebene identifizieren (Popov 2014). Zusammenfassend lässt sich ein Trade-off zwischen dem realwirtschaftlichen Wachstum und den Krisenrisiken in Folge einer Liberalisierung des Finanzsektors feststellen, der sich sowohl in der Weiterentwicklung des inländischen Finanzsek­ tors als auch in der internationalen Öffnung des Finanzsektors niederschlägt. Der Trade-off spielt insbesondere für Länder mit einem mittleren Einkommensniveau ei­ ne zentrale Rolle. Diese Länder verfügen in aller Regel über Finanzinstitutionen, um in ruhigen Phasen von der Liberalisierung zu profitieren, sie sind aber zu schwach sind, um signifikante Kreditbeschränkungen abzufedern. Vor diesem Hintergrund sind diese Länder am ehesten bereit, die potenziellen Krisenrisiken einer zuneh­ menden Liberalisierung zu akzeptieren, da im Gegenzug die Investitionen und das Wirtschaftswachstum deutlich ansteigen. „Too much finance“? Oder die Frage nach dem optimalen Niveau des Finanzsektors Die Finanzkrise von 2007/2008 sowie der im Nachgang ausgelöste Konjunkturein­ bruch in vielen Ländern hat die Frage nach der optimalen Finanztiefe beziehungswei­ se die Debatte um die postulierte Hypothese „too much finance“ verschärft. In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage aufgeworfen, ob nicht generell spezifische Fi­ nanzaktivitäten beziehungsweise Finanzinstrumente – also auch in „ruhigen“ Wachs­ tumsphasen – zu Wohlfahrtsverlusten führen und eine Fehlallokation von Ressour­

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cen bewirken. Unter Umständen verursachen bereits geringfügige Veränderungen im Setup des Finanzsektors negative gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtseffekte (Rancie­ re/Tornell 2016). So können Anpassungen im Angebot von Asset- beziehungsweise Subasset-Klassen – zum Beispiel der Einsatz von Derivaten – die systemische Risiko­ übernahmebereitschaft zwischen den Marktteilnehmern verändern und die wachs­ tums- beziehungsweise wohlstandsfördernden Effekte dominieren. Im Fall systemim­ manenter Bail-out-Garantien kann die Benutzung von Derivaten die Kreditnehmer da­ zu verleiten, einen größeren Teil ihrer Verbindlichkeiten in einen Krisenzustand zu versetzen, in dem die Bail-out-Effekte wirksam werden. Der disziplinarische Charak­ ter klassischer Kreditverträge, indem üblicherweise Überrenditen bei Verspannungen gezahlt werden und zugleich das Risiko von Verlusten getragen wird, kann unterlau­ fen werden. Dieser Mechanismus war in der Finanzkrise 2007/2008 zu beobachten. Im Vorfeld der Krise hatten viele US-Haushalte Immobilien erworben, die sie nur unter der Bedin­ gung langfristig finanzieren konnten, dass die Immobilienpreise weiter steigen und die Refinanzierung zu niedrigen Zinssätzen möglich war. Als der Immobilienpreisan­ stieg in 2016 abrupt stoppte, stiegen die Verpflichtungen der Haushalte schlagartig und die Möglichkeit zur Bedienung der Schulden zu Niedrigzinsen war – aufgrund der variabel verzinsten Kredite – nicht mehr möglich. Im Ergebnis waren viele der preissensitiven Kreditnehmer im Subprime-Markt zahlungsunfähig und ihre Immo­ bilien wurden zwangsvollstreckt. Beim Vergleich der unterschiedlichen Zinssätze in normalen und in Krisenzeiten bleibt festzuhalten, dass diese Kreditnehmer de facto eine derivate-ähnliche Amortisationsstruktur akzeptiert haben, was dazu führte, dass die Verbindlichkeiten in den Krisen- beziehungsweise Bailout-Status versetzt wurden. Aus Sicht der Kreditnehmer waren die eingegangenen Risiken letztlich begrenzt, da sich die Haftung für die aufgenommen Kredite auf die jeweilige Immobilie beschränk­ te. In gleicher Weise reagierten auch jene Finanzinstitute, die die Immobilienkredite in Verbriefungsstrukturen verpackten, beziehungsweise die Absicherung über Credit Default Swaps bereitstellten. Schließlich bleibt zu klären, ob ab einem gewissen Niveau der Finanztiefe die realwirtschaftlichen Wachstumseffekte verschwinden beziehungsweise die negativen Volatilitätseffekte beziehungsweise Krisenrisiken die Wachstumswirkungen dominie­ ren. Arcand, Berkes und Panizza (2015) zeigen, dass ein Verhältnis der privaten Kredi­ te zum BIP von mehr als 100 %, die Wachstumsimpulse einer zusätzlichen Ausweitung des Finanzsektors für den Expansionspfad einer Volkswirtschaft – auch nach einer deutlichen Liberalisierung des Finanzsystems –vernachlässigbar sind. Es lässt sich andererseits aber keine Evidenz dafür finden, dass eine höhere Kreditquote in Relati­ on zum BIP das Ausmaß der makroökonomischen Volatilitäten erhöht. Diese Aussage ist wiederum konsistent mit der Position, dass ein schnelles Anwachsen der Kredite die Eintrittswahrscheinlichkeit von Krisen erhöht und nicht das Kreditniveau an sich verantwortlich ist (Schularick/Taylor 2012).

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Welche Rolle spielen Einkommensdisparitäten für das Krisenrisiko? Inwieweit kann die zunehmende Finanztiefe gemeinsam mit anderen Faktoren die Systemanfälligkeit erhöhen? Eine Rolle könnten steigende Einkommensunterschie­ de in der Volkswirtschaft spielen (Kumhof, Ranciere und Winant 2015). Disparitäten führen bei Beziehern höherer Einkommen dazu, dass sie zunehmend Ersparnisse auf­ bauen, die den niedrigeren Einkommensgruppen in Form von Krediten bereitgestellt werden. Im Ergebnis führt die steigende Verschuldung der Bezieher niedriger Einkom­ men zu einem erhöhten Risiko für die Finanzstabilität. Sowohl in den 1920er Jahren vor der Weltwirtschaftskrise als auch im Vorfeld der jüngsten Finanzkrise lässt sich ein starker Anstieg der privaten US-Haushaltskredite bei einer rasch zunehmenden Ein­ kommensdisparität identifizieren. Im Vorfeld der Krise von 2007/2008 sind zudem die Innovationen auf den Finanzmärkten zu beachten, die zu einer Verbriefungskette im Subprime-Immobilienmarkt führten. Sie waren zum Teil die systeminhärente Reakti­ on auf die veränderte Einkommensverteilung in den USA. Zudem können Rückkoppe­ lungseffekte zwischen dem Finanzsystem und der Einkommensdisparität auftreten. Ein nicht unerheblicher Teil der seit 1970 in den USA steigenden Einkommensdispari­ täten lässt sich auf die Erträge bzw. erzielbaren Gehälter im Finanzsektor zurückfüh­ ren (Philippon und Resheff 2012). Was ist die Bedeutung der Kreditstrukturen innerhalb einer Volkswirtschaft? Die Literatur versucht darüber hinaus eine Erklärung zu finden, warum die Wachs­ tumseffekte aufgrund einer zunehmenden Finanztiefe sukzessive absinken. Hierfür ist möglicherweise das Verhältnis zwischen Haushalts- beziehungsweise Konsumen­ tenkrediten und Unternehmenskrediten von Bedeutung, da die Kredite divergierende Wachstumseffekte generieren (Arcand/Berkes/Panizza 2015). Unternehmenskredite, die für Investitionszwecke genutzt werden, sind besser geeignet, Wachstumsimpulse zu erzeugen als Haushaltskredite, die für den Erwerb von Gebrauchsgütern und Immo­ bilien verwendet werden. Die abnehmenden Wachstumseffekte lassen sich erklären, wenn zunehmend private Haushaltskredite respektive Immobilienkredite die Kredit­ entwicklung dominieren. Zweitens können Haushaltskredite die Unternehmenskre­ dite verdrängen, also Crowding-out-Effekte auslösen. Dies trifft insbesondere Unter­ nehmen, die bei der Beschaffung von Finanzmitteln beschränkt sind (Chakraborty et al. 2014). Zudem kann es eine Präferenz für die Vergabe an private Haushalte seitens der Finanzinstitute geben. Die Zweitverwertungsmöglichkeiten von kreditfinanzierten Immobilien im privaten Sektor sind höher einzuschätzen als die Wiederverwendbar­ keit eines Investitionsobjektes von Unternehmen (Faktorspezifität). Insbesondere bei innovativen Unternehmen, die einen hohen Anteil an Investitionen in das Humanver­ mögen aufweisen, drohen hohe sunk costs. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase zu Beginn der 2000er Jahre suchten deshalb speziell US-Banken nach alternativen Kre­ ditvergabemöglichkeiten und verorteten in diesem Zusammenhang das vermeintlich sichere private Immobilienfinanzierung. Aufgrund der in den USA traditionell hohen

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Hauseigentümerquoten, waren die Finanzinstitute gezwungen sich auf die Finanzie­ rung für Haushalte mit niedrigeren Einkommen zu fokussieren. Der rasche Anstieg des Subprime-Marktes wurde ferner durch das Niedrigzinsumfeld bis 2004 flankiert, was wiederum erforderlich war, um die negativen realwirtschaftlichen Effekte der ge­ platzten Dotcom-Blase abzufangen. Empirisch lässt sich tatsächlich festhalten, dass ein Anstieg der Haushaltskredite relativ zum BIP tendenziell geringere Wachstumsimpulse generiert und häufig mit ei­ nem Anstieg der Arbeitslosigkeit in der mittleren Frist einhergeht (Mian/Sufi/Verner 2019). Was sind Grenzen des Wirtschaftswachstums? Die Abschwächung der Wachstumseffekte beim fortlaufenden Ausbau des Finanzsek­ tors lässt sich durch drei konkurrierende Ansätze (Levchenko, Ranciere und Thoenig 2009) erklären: – Verbesserte Finanzierungsmöglichkeiten beschleunigen nur die Konvergenz in Richtung eines langfristigen Gleichgewichtspfad, sodass nach dem Auslaufen des Aufholprozesses weitere Impulse ausbleiben. Das erreichbare steady state-Niveau hängt schließlich vom jeweiligen Technologieniveau einer Volkswirtschaft ab. – Die Finanzierungsmöglichkeiten erhöhen die Wachstumsraten unbegrenzt im Sinne des AK-Modells (Rebelo 1992). Das endogene Wachstumsmodell (Yreal = A ⋅ K) ist linear und erklärt das Output-Niveau (Yreal ) über den Kapitaleinsatz (K) – der sowohl Sach- als auch Humankapital umfasst – sowie einen gesamt­ wirtschaftlichen Technologiefaktor (A) der größer Null ist. Die finanziellen Rah­ menbedingungen bestimmen im Ergebnis die Investitionsquote, die wiederum den Kapitaleinsatz im Modell determiniert und beliebig erweitern kann. – Die Finanzierungsmöglichkeiten ermöglichen das Erreichen eines höheren steady state-Niveaus – zum Beispiel durch einen Technologiesprung –, sodass sich das Wirtschaftswachstum in einer Übergangsphase beschleunigen kann. Diese Hypo­ these nimmt eine Zwischenposition zwischen den beiden anderen Erklärungsan­ sätzen wahr. Soll die These „too much finance“ bestätigt werden, muss die empirische Evidenz des AK-Modells negiert werden. Eine Differenzierung zwischen den beiden anderen Hypothesen ist empirisch deutlich schwieriger umzusetzen. Die Untersuchungen von Aghion, Howitt und Mayer-Foulk (2005) sowie Arcand, Berkes und Panizza (2015) stützen die These einer beschleunigten Konvergenz in Richtung eines fixierten steady state-Niveaus. Auf Basis von sektorspezifischen Daten kommen Levchenko, Ranciere und Thoenig (2009) zu dem Ergebnis, dass eher der dritte Erklärungsstrang relevant ist, da die verbesserten finanziellen Rahmenbedingungen das industriespezifische Preissetzungsverhalten und damit bestehende Preisverzerrungen reduzieren, sodass die Volkswirtschaft auf ein höheres Gleichgewichtsniveau gehievt werden kann.

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Wie hoch sind die Crowding out-Effekte von finanziellen Aktivitäten? Spezifische Aktivitäten im Finanzsektor können produktivere Aktivitäten verdrängen und zu einer gesamtwirtschaftlichen Fehlallokation führen. Eine nicht monotone Beziehung zwischen dem Finanzsektor und dem Wirtschaftswachstum etabliert sich nach Ansicht von Cecchetti und Kharroubi (2015) dann, wenn man das Beschäfti­ gungsniveau im Finanzsektor als Proxy für die Finanztiefe heranzieht. Ihr Modell liefert eine Erklärung für den negativen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Finanzsektors und dem Produktivitätswachstum in hochentwickelten Finanzsys­ temen der Industrieländer. Das Modell unterstellt zwei Externalitäten: – Investment-Externalität Durch diese Externalität werden im Finanzsektor Projekte favorisiert, die eine ho­ he Sicherheit bieten, die im Ergebnis aber weniger produktiv sind als risikotragen­ de Projekte. Sofern risikotragende Projekte zudem eine höhere Eigenkapitalhin­ terlegung bei Finanzinstituten erfordern, begünstigt das regulatorische Umfeld die Externalität. – Arbeits-Externalität Der Finanzsektor attrahiert besonders viele hochqualifizierte Arbeitskräfte und behindert damit eine adäquate Humankapitalausstattung anderer Sektoren der Volkswirtschaft, sodass im Ergebnis die realwirtschaftliche Entwicklung abge­ schwächt wird. Auf Basis von sektorspezifischen Daten im Rahmen einer Länderquerschnittsanalyse finden Cecchetti und Kharroubi (2015) eine empirische Evidenz für die Existenz beider Externalitäten. Wie ist der Zusammenhang zwischen Finanztiefe und Ausmaß des regulatorischen Umfelds im Finanzsektor? Andere Studien beschäftigen sich mit den Interdependenzen zwischen einer zuneh­ menden Finanztiefe und dem Umfang der Regulierung beziehungsweise der Überwa­ chung des Finanzsektors. Philippon und Reshef (2012) finden einen Zusammenhang zwischen der Gehaltsentwicklung und der zunehmenden Deregulierung des Finanz­ sektors. So lässt sich zeigen, dass die Gehälter im Finanzsektor – im Vorfeld der jüngs­ ten Finanzkrise – nicht nur deutlich stiegen, sondern sich auch zunehmend von der Gehaltsentwicklung in anderen Sektoren abkoppelten. Dabei lässt sich dieser Anstieg auch nicht mithilfe der üblichen Entlohnungsmaßstäbe für Führungskräfte im Ban­ kensektor – wie Bilanzsumme oder Assets under Management (AuM) – begründen. Lediglich 20 % der Gehaltsaufschläge lassen sich auf den Anstieg des AuM-Volumens zurückführen. Ein weiterer Teil kann durch Finanzinnovationen sowie die erhöhte Ri­ sikobereitschaft im Zuge der einsetzenden Deregulierung zu Beginn der 2000er Jahre erklärt werden. Philippon und Reshef (2013) identifizieren einen positiven Zusammen­ hang zwischen der relativen Bedeutung der Finanzindustrie in der Volkswirtschaft,

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den Gehaltsaufschlägen im Finanzsektor sowie dem Ausmaß der Finanzderegulie­ rung. Hohe Gehälter im privaten Finanzsektor können zudem die Durchsetzung von Regulierungsmaßnahmen sowie eine effektive Überwachung des Finanzsektors er­ schweren. Für die Durchsetzung und Überwachung des Regulierungsrahmens sind vergleichbare Fachkenntnisse erforderlich, wie für die Bereitstellung und Durchfüh­ rung der Finanzdienstleistungen. Die gravierenden Unterschiede zwischen der Ent­ lohnung im privaten Finanzsektor und in den öffentlich-rechtlichen Regulierungsin­ stitutionen erschweren eine wirksame Regulierung, da die besten Talente seitens des privaten Sektors attrahiert werden. In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass auch das Gehaltsgefälle innerhalb des Finanzsektors zu unerwünschten Effek­ ten führt. In Ländern mit einem starken öffentlich-rechtlichen Bankensystem und vorgegebenen Gehaltsstrukturen können sich gravierende Unterschiede im Qualifika­ tionsniveau der Mitarbeiter aufbauen. Die Fehlentwicklungen im Umfeld der jüngsten Finanzkrise, insbesondere die Bereitschaft der deutschen Landesbanken in hochris­ kante Verbriefungsstrukturen zu investieren, lässt sich sicherlich nicht allein auf den damals bestehenden Renditedruck zurückführen sondern resultierte teilweise aus dem mangelnden Verständnis über das Risikopotenzial solcher Instrumente. Diesen Risiken sind auch kleinere Finanzinstitute ausgesetzt, die nicht in der Lage sind, ent­ sprechendes Humankapital anzuziehen und zugleich nicht die Finanzierungskraft aufweisen, um in einem dynamischen Wettbewerbsumfeld die erforderlichen Inves­ titionen zu tätigen. Diese Entwicklung ist gegenwärtig besonders auffällig im Umfeld von „Künstlicher Intelligenz“ und „Smart Data“ zu beobachten.

6 Wirtschaftspolitische Konsequenzen des „too much finance“ Akzeptiert man die These, dass es ein optimales Niveau der Finanztiefe beziehungs­ weise des Ausbaus des Finanzsektors gibt, stellt sich die Frage, wie man wirtschafts­ politisch eine Situation des „too much finance“ verhindern beziehungsweise besei­ tigen kann. Das Regulierungsumfeld müsste so gestaltet sein, dass es einerseits die Probleme einer Fehlallokation vermeidet, andererseits aber auch die Anreizstruktu­ ren für die Finanzierung wachstumsfördernder Investitionen begünstigt. Ranciere und Tornell (2011 und 2016) beschäftigen sich mit den systemischen Bailout-Möglichkeiten in Krisenzeiten. Wenn derartige Bail-outs nicht ausgeschlossen werden können, sollten zumindest die Risikoträger die Konsequenzen ihrer Verluste (mit-)tragen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei jenen derivativen Instrumenten, mit denen man die Option hat, auftretende Verluste in den Krisenmodus zu verset­ zen. Dies bedeutet beispielsweise, dass Kreditausfallinstrumente – wie Credit Default Swaps – an organisierten Börsen gehandelt werden und mit einem Margin Call verse­ hen werden. Bei zunehmenden Risiken entsteht eine Nachschusspflicht, sodass die

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Risiken am Markt jederzeit richtig abgebildet werden und die Risiken nicht beliebig transferiert werden können. Die Finanzaufsichtsbehörden können zudem Einfluss auf das Gehaltsniveau, al­ so auf die Gehaltsaufschläge in der Branche nehmen und somit eine Umlenkung von hochqualifizierten Arbeitskräften in andere Sektoren begünstigen. Dies stellt aller­ dings einen ordnungspolitisch bedenklichen Eingriff in die Preisgestaltung auf den Arbeitsmärkten dar. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich zielführender, die Bo­ nuszahlungen im Finanzsektor zu regulieren, um falsche Anreize in der leistungs- und erfolgsabhängigen Vergütung zu vermeiden, die in der Vergangenheit zu einer erhöh­ ten Risikobereitschaft und -übernahme geführt haben. Die Ergebnisse einer von compgovernance durchgeführten Studie auf der Grundla­ ge der 2017 veröffentlichten Offenlegungsberichte der 30 größten Banken in Deutsch­ land kommt allerdings zudem Ergebnis, dass trotz der verstärkten Regulierung von Gehalts- und Bonuszahlungen – insbesondere bei Risk Takern – bislang keine signi­ fikanten Veränderungen erkennbar sind.⁵ – Zu der von den Regulatoren angestrebten Reduzierung der hohen Gesamtvergü­ tungen ist es bislang nicht gekommen. Wie die europäische Bankenaufsicht EBA (2019) berichtet, ist die Anzahl der High Earner in der EU im Nachgang der Fi­ nanzkrise weiter angestiegen und erreichte mit mehr als 5.100 Personen in 2015 einen Spitzenwert (2017: circa 4850). Etwa 90 Prozent dieser High Earner werden als Risk Taker identifiziert. – Der Vergütungsmix bei den Risk Takern hat sich durch die Regulierung geändert, der Anteil der variablen Vergütung an der Gesamtvergütung ist tendenziell rück­ läufig, wobei sicherlich auch die schwache Performance in vielen Banken bei­ trägt. Der durchschnittliche variable Vergütungsanteil an der Gesamtvergütung der Risk Taker beträgt circa 15–35 % Prozent. – Die geforderten Aufschiebungen bei der Auszahlung der variablen Vergütung (De­ ferral-Regelungen) greifen offensichtlich bei den meisten Instituten nicht. Durch die Vereinfachungsregeln (Deferral erst über 50.000 EUR) wurden durchschnitt­ lich nur 10 Prozent bis 20 Prozent der Gesamtvergütung der Risk Taker unter den besonderen Nachhaltigkeitsanforderungen gewährt. Jenseits von Finanzregulierung und Finanzüberwachung kann möglicherweise eine adäquate Besteuerung des Finanzsektors eine exzessive Finanzierung der Volkswirt­ schaft verhindern. Nach Ansicht von Philippon (2010) muss sich die Besteuerung be­ ziehungsweise Subventionierung des Finanzsektors (Kreditgeber) beziehungsweise der anderen volkswirtschaftlichen Sektoren (Kreditnehmer) an den jeweils sektorspe­

5 Bei Risk Takern handelt es sich neben den Geschäftsleitern um weitere Führungskräfte und SeniorExperten in den geschäftsgenerierenden Markteinheiten sowie den Kontrolleinheiten von Banken, die durch ihr Handeln das Finanzinstitut in seiner Existenz gefährden können.

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zifischen Externalitäten gegenüber der restlichen Volkswirtschaft orientieren. Wenn die Human- und Sachinvestitionen in einer Volkswirtschaft adäquat subventioniert werden, um die Externalitäten von Innovationen zu nutzen, sollten nach Ansicht von Philippon alle Sektoren gleich besteuert werden. Was sind verbleibende Forschungsdefizite im Umfeld von „too much finance“? Die Literatur zum Thema „too much finance“ hat sich bisher auf das sukzessive Ver­ schwinden der Wachstumseffekte infolge einer zu zunehmenden Finanztiefe fokus­ siert. Bislang wurde die Frage, welche Implikationen mit dem Umfang der Finanztie­ fe für die Finanzstabilität beziehungsweise das Krisenrisiko einhergehen, noch nicht umfassend analysiert, auch wenn die Finanzkrise von 2007/2008 verdeutlichte, dass eine unbegrenzte Liberalisierung des Finanzsektors sowie die starke Zunahme neuer Finanzinstrumente die Krisenrisiken erhöhen. Dies beinhaltet auch die Konstellation, dass eine Ausweitung des Finanzsektors ohne ein adäquates Regulierungs-Setup so­ wohl das Wirtschaftswachstum als auch die Stabilität gefährdet, sich also der bislang bestehende Trade-off auflöst und in ein noch bedenklicheres Regime wechselt. Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist also eine Finanzregulierung und Überwachung anzu­ streben, die erstens den Trade-off zwischen hohem Wachstum und hohem Krisenrisi­ ko minimiert und zweitens positiv auf Wachstum und Stabilität einwirkt.

7 Schlussbemerkungen Die Literatur zum Themenfeld Entwicklung des Finanzsektors, Finanzkrisen und Wirtschaftswachstum hat in den beiden letzten Dekaden deutlich an Umfang gewon­ nen. Während in der Anfangsphase die beiden Forschungsstränge Entwicklung des Finanzsektors und seine Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum sowie seine Auswirkungen auf die Finanzstabilität noch getrennt betrachtet wurden, werden sie inzwischen simultan analysiert. Die aus einer Vielzahl von empirischen Untersuchungen gezogenen Schlussfol­ gerungen sind nicht eindeutig, sie hängen von den Schätzverfahren und dem jeweils verwendeten Datenset ab. Insbesondere die optionale Nutzung von aggregierten be­ ziehungsweise sektorspezifischen Daten sowie die Auswahl der betrachteten Länder und ihres Entwicklungsniveaus haben einen signifikanten Einfluss auf die Schätzer­ gebnisse. Dennoch lassen sich Aussagen aus der empirischen Analyse ableiten. Es besteht ein deutlicher Trade-off zwischen einem höheren Wirtschaftswachstum und der Stabilität des Finanzsystems. Positive Nettoeffekte sind insbesondere bei Ländern mit einem mittleren Einkommensniveau zu erwarten. Eine zunehmende Finanztiefe löst in diesen Ländern vorhandene Beschränkungen bei der Finanzierung und damit bei den Investitionstätigkeiten, sodass kräftige Wachstumsimpulse ausgelöst werden.

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Zugleich steigen die Risiken von Finanzinstabilitäten beziehungsweise Krisen nur be­ dingt an; in der Summe ist mit positiven Nettoeffekten zu rechnen. Für fortgeschrittene Industrieländer besteht hingegen die verstärkte Gefahr eines „too much finance“, das heißt das bestehende Finanzsystem beziehungsweise seine Erweiterung liefert keinen erkennbaren Mehrwert. Dies gilt nicht nur in Stress- oder Krisensituationen, sondern auch in einem „ruhigen“ Regime. Der Finanzsektor at­ trahiert zu viele Ressourcen – insbesondere vom Arbeitsmarkt aufgrund der hohen sektorspezifischen Gehälter – sodass es zu Fehlallokationen kommt. Sofern diese Hy­ pothese valide ist, muss das Regulierungs-Setup Anreize liefern, die eine weitere Aus­ dehnung des Sektors zu Lasten der restlichen Volkswirtschaft eindämmt. Diese sek­ torspezifischen Eingriffe sind letztlich nur dann gerechtfertigt, wenn die Marktunvoll­ kommenheiten und negativen Externalitäten ausreichend groß sind. Die künftige Forschung wird sich verstärkt mit der Frage beschäftigten, welchen Einfluss unterschiedliche Marktteilnehmer oder Marktsegmente – wie der Schatten­ bankensektor – im Zuge einer zunehmenden Finanztiefe ausüben. Auch die Frage nach den Verteilungseffekten ist nicht abschließend beantwortet. Dabei müssen die eher mikroökonomischen Erkenntnisse letztlich auch auf die makroökonomische Ebe­ ne transportiert werden, um ein abschließendes Bild hinsichtlich des Wirtschafts­ wachstums und der Finanzstabilität zu erhalten. Auch die Frage nach einer adäquaten Wirtschaftspolitik ist bislang nicht zufrie­ denstellend beantwortet. Die „Notoperationen“ im Nachgang der Finanzkrise, das heißt die Bail out-Maßnahmen sowohl zugunsten von Kreditinstituten als auch von Staaten sowie die unkonventionelle Geldpolitik stellen keine grundlegende Lösung dar und beheben nicht die strukturellen Probleme im Finanzsektor beziehungsweise im realen Sektor einzelner Länder. Im Gegenteil, die Nachwirkungen dieser Politik­ maßnahmen sind überhaupt noch nicht absehbar. Die lange Phase der Niedrigzins­ politik, deren Ende in der Eurozone und anderen Ländern bislang noch nicht erkenn­ bar ist sowie der Abbruch der geldpolitischen Normalisierungspolitik in den USA verschärft die Problematik. Sowohl der Internationale Währungsfonds als auch die OECD, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich sowie einzelne Notenbanken weisen verstärkt auf das erhebliche Risikopotenzial hin, das sich durch ein anhalten­ des Niedrigzinsniveau ergeben hat. Im Ergebnis ist die globale Verschuldungsquote heute höher als im Vorfeld der Finanzkrise, weil die Beschaffung von Fremdkapital für Staaten, Unternehmen und privaten Haushalten in den letzten Jahren deutlich erleichtert wurde. Demzufolge wurden die strukturellen Probleme nicht angegangen und die Krisenanfälligkeit weiter erhöht. Der zinspolitische Spielraum für die Noten­ banken ist aufgrund der erhöhten Zinssensitivität in den kommenden Jahren massiv eingeschränkt. Mit den Bail outs sowohl auf der privaten als auch auf der staatlichen Ebene wur­ den infolge der Finanzkrise gefährliche Präzedenzfälle geschaffen, die man künftig vermeiden sollte. Zwar müssen die weltweit systemrelevanten Banken (global systemi­ cally important banks; G-SIBs) – deren Bedeutung für das Finanzsystem sowohl aus

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ihrer Größe als auch ihrer Vernetzung im Finanzsystem entsteht – einen zusätzlichen Kapitalpuffer vorhalten, um Krisensituationen zu überstehen. Sofern dieser zusätzli­ che Kapitalpuffer – der im Übrigen immer wieder in seiner Höhe hinterfragt wird – auf­ gezehrt ist, dürften diese Marktteilnehmer aufgrund der „too big to fail“– beziehungs­ weise der „too interconnected to fail“ –Thematik de facto konkursunfähig sein. Eine drastische Lösung für dieses Problem wäre eine Zerlegung dieser Institute in kleinere Einheiten, stattdessen wird eher über eine stärkere Konzentration im internationalen Bankensystem diskutiert, um mithilfe von Skaleneffekten dem weiter zunehmenden Margendruck zu begegnen.

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Korreferat zu dem Beitrag von Albrecht Michler Niklas Gogoll Spätestens seit Beginn der Finanzkrise in den USA wird das Bankensystem in der Öf­ fentlichkeit als fragiles Element der wirtschaftlichen Entwicklung wahrgenommen. So sorgt unser globales Finanzsystem nicht nur für eine schnellere Ausbreitung von Kri­ sen, sondern kann auch Auslöser von Selbigen sein. Albrecht Michler zeigt in seinem Beitrag, dass eine große Finanztiefe, Wachstum und Entwicklung unter bestimmten

Das Finanzsystem als fragiles Element für Wachstum und Entwicklung | 81

Bedingungen tatsächlich nachhaltig negativ beeinflusst. Der Beitrag beschäftigt sich dabei mit einer Fülle von Gründen und Auswirkungen. Interessant wäre allerdings zu erfahren, welche der im Beitrag diskutierten Faktoren das wirtschaftliche Wachstum derzeit maßgeblich in den Ländern beeinflussen, die immer noch mit den Folgen der Krise zu kämpfen haben. Um die langfristigen Auswirkungen der Tiefe eines Finanzsystems auf das Wirt­ schaftswachstum bewerten zu können, sind besonders die Faktoren „Krisenhäufig­ keit“ und „Krisenpersistenz“ von Bedeutung. Die von Michler (2020) zitierte Litera­ tur beschäftigt sich vor allem mit der Frage der Krisenhäufigkeit. Eine höhere Kri­ senhäufigkeit könnte theoretisch aber aufgrund einer schnellen Erholung und hohen Wachstumsraten in Nachkrisenzeiten als unproblematisch eingeschätzt werden. Es zeigt sich zwar, dass eine höhere Finanzstabilität in der Vergangenheit auch in Summe vorteilhaft für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung war (Arcand, Berkes und Panizza 2015). Die jüngste Finanzkrise unterscheidet sich aber insofern von vorheri­ gen Krisen, dass sich durch die niedrigen Zinsen auch die Krisenpersistenz in einigen Ländern spürbar veränderte. Geht man davon aus, dass sich viele Volkswirtschaften auch in der Zukunft häufiger mit niedrigen Zinsen konfrontiert sehen, sollte man die Interdependenz zweier Elemente, die Albrecht Michler in seinem Text anspricht, nä­ her betrachten: die Krisenpersistenz und die Finanztiefe. Zur Frage, ob die Finanztiefe ab einem bestimmten Punkt negative Auswirkun­ gen auf das gesamtwirtschaftliche, langfristige Wachstum hat, existiert eine Vielzahl an Literatur. Kaminsky und Reinhart (1999), Easterly, Islam und Stiglitz (2001) und Arcand, Berkes und Panizza (2015) kommen alle zu dem Ergebnis, dass ein Verhältnis von privaten Krediten in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) von über 100 Pro­ zent keinen positiven, sondern tendenziell einen negativen Einfluss auf die wirtschaft­ liche Entwicklung hat. Kaminsky und Reinhart (1999) zeigen, dass insbesondere ein schneller Anstieg der privaten Kreditquote die Eintrittswahrscheinlichkeit von Krisen erhöht. Schularick und Taylor (2012) kommen ebenfalls zu dem Schluss, dass dieser Anstieg und nicht das private Kreditvolumen an sich für die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von Krisen verantwortlich ist. Dieser Punkt lässt sich allerdings in zwei­ erlei Hinsicht ergänzen. Die reine Betrachtung des Anstiegs des privaten Kreditvolumens lässt etwas au­ ßer Acht, warum dieser Anstieg für die Eintrittswahrscheinlichkeit von Krisen rele­ vant ist. In einer Situation, in der viele Investitionsmöglichkeiten bestehen, Kredite also produktiv eingesetzt werden, führt ein Anstieg des privaten Kreditvolumens an sich noch zu keiner höheren Eintrittswahrscheinlichkeit. Vielmehr ist entscheidend, inwieweit produktive Investitionsmöglichkeiten bereits ausgeschöpft sind und Kredite dementsprechend eher zu Konsumzwecken oder für reine Portfolioinvestitionen auf­ genommen werden. So kommen Rousseau und Wachtel (2011) zu dem Schluss, dass der marginale Einfluss zusätzlicher Kredite auf die wirtschaftliche Entwicklung bei einem hohen absoluten privaten Kreditvolumen vernachlässigbar gering ist.

82 | Niklas Gogoll

Zusätzlich darf man die Rolle von Erwartungen nicht außer Acht lassen. Phasen niedriger Unsicherheit über zukünftige wirtschaftliche Entwicklungen sorgen kurz­ fristig für ein stabiles, positives wirtschaftliches Wachstum. Je länger diese Phase an­ hält, desto eher sind Investoren von kognitiven Verzerrungen (Selbstüberschätzung) und in der Folge von exzessiver Risikobereitschaft geprägt (Bhattacharya et al. 2015). Ein Schock, der die Erwartungen über zukünftige wirtschaftliche Entwicklungen in einer solchen Situation langanhaltender Stabilität negativ beeinflusst, erhöht die Ein­ trittswahrscheinlichkeit von Krisen mit einer zeitlichen Verzögerung (Hristov/Roth 2019). In der Folge wäre der Anstieg des privaten Kreditvolumens zwar mit dem Ein­ tritt von Krisen korreliert, eine direkte Kausalität, die über einen reinen Indikator hin­ ausgeht, ist aber nicht zwingend ableitbar. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass das private Kreditvolumen in Relation zum BIP gesetzt wird. So könnte der Indikator ansteigen, obwohl sich das private Kreditvolumen nur unwesentlich verändert. Geht man davon aus, dass Krisen ein Phänomen sind, das unabhängig von der Ausgestaltung des Finanzsystems und der Finanztiefe wiederkehrend auftritt, so ist die absolute Finanztiefe nicht nur für die Eintrittswahrscheinlichkeit entscheidend, sondern auch für die Dauer der Krisen. Insbesondere die letzte Finanzkrise zeigt, dass eine hohe private und öffentliche Verschuldung jeweils, aber insbesondere in Kom­ bination, zu einer höheren Persistenz von Krisen führen kann (Batini/Melina/Villa 2016). Dies lässt sich auch dadurch begründen, dass die „produktive Kreditvergabe“ in der Finanzkrise deutlich zurückgegangen ist. Die Kombination aus Niedrigzinsum­ feld, strengeren regulatorischen Anforderungen und niedrigem Vertrauen innerhalb des Bankensektors führte dazu, dass Banken Kredite an Unternehmen, die in drei auf­ einanderfolgenden Jahren Probleme mit der Rückzahlung ihrer Zinszahlungen auf­ wiesen (sogenannte Zombiefirmen), trotzdem verlängerten (McGowan/Andrews/Mil­ lot 2017). Diese Entwicklung wird durch ein bankbasiertes System, in dem Bankge­ schäfte durch langjährige Beziehungen geprägt sind, zusätzlich verstärkt. Würde es sich nur um kurzfristige Leistungsstörungen der Unternehmen handeln, kann ein sol­ ches bankbasiertes System konjunkturelle Schwankungen abfangen. Mit steigender Finanztiefe geraten Banken in Finanzkrisen allerdings selbst zum Problemfall – und sei es nur deswegen, weil das Vertrauen in mögliche staatliche Bail-Outs aufgrund der hohen Bilanzsumme einzelner Banken sinkt. Der eigene Kapitalpuffer kann also nicht mehr als Glättung des Investitionsverhaltens fungieren. Stattdessen steigen die Anreize für Banken, Kredite in den Büchern zu belassen, um diese nicht abschreiben zu müssen. So führt die gestörte Kreditvergabe der Banken dazu, dass die notwendi­ gen Marktprozess „schöpferische Zerstörung“ (Schumpeter 2017) behindert werden. In Kombination führt eine hohe Finanztiefe in einem bankbasierten System also dazu, dass sich die Persistenz von Krisen deutlich erhöht. Zombiefirmen etwa kre­ ieren durch ihre Existenz zusätzliche Markteintrittsbarrieren und limitieren auf viel­ fältige Art das Wachstum insbesondere kleiner und mittelständischer Unternehmen, die besonders auf die Refinanzierung durch den Bankensektor angewiesen sind. So zeigen McGowan, Andrews und Millot (2017) beispielsweise, dass ein negativer Zu­

Das Finanzsystem als fragiles Element für Wachstum und Entwicklung | 83

sammenhang zwischen Arbeitsproduktivität und dem Anteil von Zombiefirmen be­ steht, weil Zombiefirmen Humankapital binden. Diese ineffiziente Ressourcenalloka­ tion tritt umso stärker auf, je intensiver sich der Bankensektor in eigenen Problemen befindet (Storz et al. 2017). Nachdem die Finanztiefe wiederum Auswirkungen auf die Resilienz des Bankensektors hat, erholen sich Länder mit einer hohen Finanztiefe – insbesondere bei eigener hoher Staatsverschuldung – vergleichsweise langsam von Krisen, wie etwa das Beispiel Italiens zeigt. Vor diesem Hintergrund erscheinen regulatorische Eingriffe notwendig. Die Ban­ kenregulierung sollte dabei sowohl auf eine effiziente Finanztiefe als auch auf eine ausreichende Eigenkapitaldeckung mit antizyklischen Kapitalpuffern abzielen. Sind regulatorische Eingriffe allerdings zu restriktiv, können die marginalen Kosten der gestiegenen Finanzmarktstabilität den gesunkenen Grenzertrag finanzieller Entwick­ lung übersteigen (La Torre/Ize/Schmukler 2011). Daher ist es entscheidend, dass die Bankenregulierung in angemessener Höhe von anderen strukturellen Maßnahmen auf institutioneller Ebene – wie etwa von einem effizienten Insolvenzregime – be­ gleitet wird. Sonst können häufig auftretende (Finanz-)Krisen in hochverschuldeten Ländern mit großem Bankensektor dazu führen, dass das reale Wirtschaftswachstum sogar langfristig negativ ausfällt. Vor diesem Hintergrund muss man von der Existenz einer optimalen Finanztiefe ausgehen, die in einigen Ländern wie Japan oder Italien deutlich überschritten zu sein scheint (Arcand/Berkes/Panizza 2015).

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84 | Niklas Gogoll

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Oliver Schmidt

Die Entwicklungsökonomik als Anwendungsfeld der Verhaltensökonomie (Behavioural Development Economics) 1

Einleitung | 85

2

Was ist „Behavioural Development Economics“? | 87 2.1 Verhaltensökonomik | 87 2.2 Entwicklungs[mikro]ökonomik | 88

3

Behavioural Development Economics: Empirie und Empfehlungen | 89 3.1 Selbstkontrolle, Aufmerksamkeit, und Informationsverwendung | 89 3.2 Beispiele und entwicklungsökonomische Empfehlungen | 91

4

Verhaltensökonomik und Programmgestaltung („Policy Making“) | 102

5

Schlussbemerkung | 104

1 Einleitung Die Entwicklungsökonomik hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine Hinwendung zur Mikroökonomik erfahren: Zahlreiche Forscher/-innen haben sich den Verhaltensmus­ tern gewidmet, die wirtschaftliche Entscheidungen von Haushalten und Unterneh­ men beeinflussen. Zugleich wurden die Institutionen unter- und gesucht, von denen diese Verhaltensmuster geformt werden. Somit sind die Spezifika der Haushalte und Unternehmen in den Ländern des globalen Südens¹ – Mehrgenerationenfamilien, un­ terschiedliche Genderrollen, Subsistenzunternehmungen, Informalität, Vernetzung von Haushalten und Subsistenzunternehmen durch sprachliche, räumliche und an­ dere („kulturelle“) Gemeinsamkeiten, und ähnliche – auch in stärker formalisierten Modellen erfassbar geworden (beispielhaft Dupas 2011).

1 Zur Vermeidung des einseitigen Begriffs „Entwicklungsländer“ (als ob reiche Länder sich nicht mehr entwickeln würden und als ob sie den Qualitätsstandard für Entwicklungsrichtung verkörpern sollten) wird gelegentlich auch vom „Globalen Süden“ gesprochen. Denn die meisten dieser Niedrigeinkom­ mensländer liegen in Afrika, Asien und Lateinamerika, während die Hocheinkommensländer mehr­ heitlich in Europa und Nordamerika zu finden sind. Eine Reihe von „Aufholländern“ („emerging mar­ kets“) fanden sich bisher vor allem in Asien. Synonym für Hocheinkommensländer wird regelmä­ ßig der Begriff „OECD (Mitgliedsstaaten)“ verwendet. Die Kategorisierung nach Einkommen ist prä­ ziser, da es keine andere Entwicklungsdimension vorweg nimmt; zugleich ist diese Dimension aber mit vielen anderen – Bildung, Gesundheit, in der Vergangenheit Urbanisierung beziehungsweise BIPAnteil der Landwirtschaft – korreliert. Allerdings ist das deutsche Wort „Niedrigeinkommensland“ recht sperrig. https://doi.org/10.1515/9783110696745-004

86 | Oliver Schmidt

Dieser Trend spiegelt sich in der Hinwendung zur empirischen Mikroökonomik², welche experimentelle Forschungsdesigns betont. Die experimentelle Forschung ist auch ein „Markenzeichen“ der Verhaltensökonomik (Thaler 2015). Das Forschungs­ programm der Verhaltensökonomik hat sich in den letzten 30 Jahren aus der Kritik an der neo-klassischen Modellwelt entwickelt (Schnellenbach 2017). Es hat empirisch und theoretisch aufgezeigt, dass das „rational-agent-model“³ in vielen Märkten nicht erklärungsfähig ist, sondern es systematische Abweichungen gibt, welche oft zu si­ gnifikant anderen Ergebnissen führen, als von rationalen Agenten erwartet würden (Akerlof/Shiller 2015; Kahneman 2011; Mullainathan/Thaler 2000). Aus diesen beiden Strängen hat sich die Entwicklungsökonomik als ein fruchtba­ res Anwendungsfeld der Verhaltensökonomik entwickelt. Dies hat zwei Fundamen­ te: Zum einen haben mikro-ökonomisch orientierte Entwicklungsökonomen die ver­ fügbaren Daten erheblich vervielfacht, sowohl durch kreativ-geniale Feldexperimen­ te als auch durch erhöhte Computerkapazitäten zur Verarbeitung dieser Daten. Zum anderen haben sie die „großen“ Fragen der Entwicklungsökonomik in test- und fal­ sifizierbare Hypothesen heruntergebrochen (beispielhaft Schmidt 2014, mit weiteren Verweisen). Als dritter Grund mag eine politökonomische Neuausrichtung nach 1990 gelten; einerseits verschwand die ideologische Konfrontation zwischen Kapitalismus und (Sowjet-)Sozialismus, was die Ideen und die praktischen Möglichkeiten der Ent­ wicklungsökonomen, mit Regierungen des Globalen Südens an evidenzbasierten Po­ litiken zu arbeiten, beeinflusste. Andererseits können solche Ansätze sichtbar und prestigeträchtig organisiert werden mit den ungeahnten Möglichkeiten neuer priva­ ter Geldgeber (Stiftungen von Gates, Dell, und andere mehr). Dieser Aufsatz bietet einen Überblick über verhaltensökonomische Beiträge zur Entwicklungsökonomik und -politik, im Englischen griffiger als „Behavioural Deve­ lopment Economics“ zusammengefasst. Der Schwerpunkt dieses Überblicks liegt auf der Praxis, entsprechend ist die Theorie knapp gehalten. Die Methodik dieses Über­ blicks ist die qualitative Erkundung,⁴ sie baut auf den Übersichten des Forschungs­ feldes von Demeritt und Hoff (2018) und Kremer, Rao und Schilbach (2018) auf; sowie auf Karlan, Ratan und Zinman (2013). Demeritt und Hoff beleuchten stärker die theo­

2 Welcher bereits vor der Weltfinanz- und der durch sie ausgelösten Weltwirtschaftskrise von 2008/9 zu beobachten war. 3 Diese Formulierung stammt von Kahnemann (2011: 411); in der Ökonomik wird geläufiger vom „ra­ tional-choice“-Modell gesprochen; dessen Verhaltens- und Präferenzannahmen auch als „homo oeco­ nomicus“ bekannt sind, siehe beispielsweise Fritsch (2014: 21 ff.). 4 Berücksichtigt wurden Aufsätze mit verhaltensökonomischer Problemstellung aus den führenden entwicklungsökonomischen Zeitschriften „World Development“ und „Journal of Development Econo­ mics“ seit 2017, wobei nur letzteres sich als ergiebig erwies. Weiterhin werden einige vielzitierte Stu­ dien einbezogen, das heißt solche, die bei Demeritt und Hoff (2018) und/oder Kremer, Rao und Schil­ bach (2018) und/oder Banerjee und Duflo (2011) genannt werden. Mehrere dieser Studien wurden in hoch-renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften, die nicht auf Entwicklungsökonomik speziali­ siert sind, veröffentlicht.

Die Entwicklungsökonomik als Anwendungsfeld der Verhaltensökonomie |

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retisch-ideengeschichtlichen Wurzeln, Kremer et al. stärker die Sektor-bezogenen For­ schungsergebnisse. Karlan et al. ist eine ausgezeichnete vergleichende Übersicht neo­ klassischer, institutioneller und verhaltensökonomischer Entwicklungsforschung, al­ lerdings lediglich eines ökonomischen Lebensaspekts, nämlich des Sparverhaltens. In diesem Aufsatz wird auf die für die Entwicklungsökonomik bedeutsamsten ver­ haltensökonomischen Konzepte abgestellt, sowie über die vorgenannten Beiträge hin­ aus die Rolle des Policy-Making als Forschungsperspektive der Behavioural Develop­ ment Economics angesprochen. Eine systematische Meta-Studie zu den Erkenntnis­ sen der Behavioural Development Economics steht noch aus.

2 Was ist „Behavioural Development Economics“? Abschnitt 2. gibt einen knappen Überblick über die Verhaltensökonomik und ihre An­ knüpfungspunkte zur Institutionenökonomik, Abschnitt 2.2 zeichnet die mikroöko­ nomische Anwendung in der Entwicklungsökonomik nach.

2.1 Verhaltensökonomik Die Verhaltensökonomik stellt die Rationalitätsannahmen der neoklassischen Öko­ nomik theoretisch und empirisch in Frage. Sie hat eine Reihe von Verhaltensverzer­ rungen ermittelt, welche (evolutionär) in der Physiologie des menschlichen Gehirns verankert sind und zu systematischen Entscheidungsfehlern führen. „The definition of rationality as coherence [. . . ] demands adherence to rules of logic that a finite mind is not able to implement. Reasonable people cannot be rational by that definition, but they should not be branded as irrational for that reason. [. . . ] I often cringe when [our] work [. . . ] is credited with demonstrating that human choices are irrational, when in fact our research only showed that Humans are not well described by the rationalagent model“ (Kahneman 2011: 411). Dieser Beitrag geht nicht auf die theoretischen und empirischen Grundlagen der Verhaltensökonomik ein; der Leser sei dazu auf die reichhaltige Literatur ver­ wiesen, insbesondere Kahnemann (2011), welches als Standardwerk eingestuft wer­ den darf. Einen sehr guten nicht-technischen Überblick geben Baddeley (2017) und Thaler und Mullainathan (2000). Beck (2014) ist eine kritische deutschsprachige Einführung. Sutter (2014) stellt die Ergebnisse und Herangehensweisen des For­ schungsprogramms zu Selbstkontrolle und Geduld vor. Die Grundlagen des Biases and Heuristics‘-Forschungsprogramms sind bei Kahneman, Tversky und Slovic (1982) dargestellt. Hieraus ist die „Prospect-Theorie“ hervorgegangen, eine Alternative zur Erwartungsnutzentheorie. Die Prospect-Theorie wird von einige Autoren als die be­

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deutendste theoretische Errungenschaft der Verhaltensökonomik angesehen (bei­ spielhaft Beck 2014; Schnellenbach 2017). Die Verhaltensökonomik hat Wurzeln in Simons (1955) Konzept der beschränkten Rationalität. Es gibt daher viele Berührungspunkte mit dem Forschungsprogramm der Institutionenökonomik. In beiden spielen die Kosten von Informationen eine wichtige Rolle. Die Beschaffungskosten von Informationen, zum Beispiel zur Aushandlung von Verträgen oder zur Überwachung von Agenten, führen zu Institutionen und Organisa­ tionen, um diese Kosten zu beherrschen. Die Fähigkeit und Bereitschaft zur Verarbei­ tung von Informationen unterscheiden sich von Individuum zu Individuum (ebenso wie von Organisation zu Organisation), und dies bedeutet, dass nicht alle Informa­ tionen automatisch genutzt werden, wie in Modellen mit vollständiger Rationalität angenommen wird.

2.2 Entwicklungs[mikro]ökonomik In der Perspektive der mikroökonomischen Entwicklungsökonomik tragen systema­ tische (individuelle) Verhaltensfehler – gemessen an der Erwartungsnutzentheorie oder an den Informationsannahmen bei vollständiger Rationalität – dazu bei, dass Haushalte in Armut verharren und unter ihren Möglichkeiten zur Wohlfahrtssteige­ rung bleiben. Banerjee und Duflo (2011) zeigen anhand des Konzepts der „Armutsfal­ le“ (umgangssprachlich auch als „Teufelskreis der Armut“ bezeichnet) auf, wie sys­ tematische Fehlentscheidungen von Haushalten und/oder Unternehmen⁵ eine solche Armutsfalle begründen könnten. Behavioural Development Economics ist somit zunächst, und derzeit, die Er­ forschung systematischer Entscheidungsfehler und wie diese am besten vermieden werden können. In Abschnitt 3 werden die wichtigsten Ergebnisse dieser Forschung vorgestellt. Die Einsichten aus dieser Forschung sind allerdings regelmäßig durch die Gestaltung von Rahmenbedingungen – von Sunstein und Thaler (2008) als „Entschei­ dungsarchitektur“ bezeichnet – umzusetzen. Somit gehört zur Behavioural Develo­ pment Economics nicht nur die Erforschung und Gestaltungsempfehlung von Poli­ tiken, sondern in Zukunft auch von deren Schaffung („Policy-Making“). Abschnitt 4 greift diese Perspektive auf. Kurz gesagt ist Behavioural Development Economics die Anwendung der Verhal­ tensökonomik auf entwicklungsökonomische und entwicklungspolitische Probleme.

5 Wie in der Einleitung angemerkt, sind die Haushalte und (Kleinst-)Unternehmen in vielen Niedrig­ einkommensländern nicht funktional getrennt, sondern praktisch „vermischt“ – zum Beispiel unbe­ zahlte Arbeit von Familienmitgliedern, Familienland ist Konsum (Wohnung) ebenso wie Produktions­ mittel, Geldströme sind gleichermaßen Haushalts- wie Unternehmensbezogen, etc. Daher wird in die­ sem Aufsatz der Kürze wegen von Haushalten gesprochen mit der Annahme, dass Haushalte und deren Unternehmen gleichermaßen angesprochen sind.

Die Entwicklungsökonomik als Anwendungsfeld der Verhaltensökonomie | 89

3 Behavioural Development Economics: Empirie und Empfehlungen Abschnitt 3.1 erläutert die wichtigsten verhaltensökonomischen Konzepte in der Ent­ wicklungsökonomik – gemessen an Forschungsumfang und an praktischen Auswir­ kungen auf Spar- und Investitionsverhalten. Abschnitt 3.2 stellt Anwendungen aus den Bereichen Landwirtschaft, Finanzverhalten und Gesundheitswesen vor.

3.1 Selbstkontrolle, Aufmerksamkeit, und Informationsverwendung Selbstkontrolle und Geduld, Aufmerksamkeitsbeschränkungen, und der Umgang mit Informationen verursachen systematische Abweichungen von der optimalen Ent­ scheidung unter vollständiger Rationalität. Beschränkte Selbstkontrolle beziehungs­ weise Ungeduld und beschränkte Aufmerksamkeit führen zu zeitinkonsistentem Ver­ halten: Das heißt die Präferenzen heute entsprechen nicht den Präferenzen morgen (beziehungsweise zu einem späteren Zeitpunkt). a) Selbstkontrolle und Geduld Selbstkontrolle bezeichnet die Fähigkeit, selbstgesteckte (gegebenenfalls als Nut­ zenmaximierend erkannte) Ziele konsistent über die Zeit zu verfolgen. Sutter (2014) spricht von der Entscheidung zwischen „weniger heute“ und „mehr morgen“. Selbst­ kontrolle ist daher mit Geduld, oder auch: Beharrungsvermögen, verknüpft. Das ist also die Fähigkeit, auf etwas zu warten. Geduld ist eine non-kognitive Fähigkeit, die sich weitgehend im Verlauf der Kindheit und Jugend ausbildet (Tough 2013). Mangelnde Selbstkontrolle äußert sich durch Prokrastination („Aufschieberitis“): Ein bestimmtes Verhalten – zum Beispiel keinen Alkohol zu trinken oder zumindest eine als moderat definierte Menge nicht zu überschreiten – wird aus der Gegenwart auf die Zukunft verschoben. Es fehlt an Geduld, auf das Ziel (Gewichtsreduktion) zu war­ ten beziehungsweise an Beharrungsvermögen, die entsprechenden Aktivitäten, zum Beispiel keinen Alkohol zu trinken, lange durchzuhalten. Menschen mit beschränktem Beharrungsvermögen verfehlen ihre selbstgesteck­ ten Ziele, zum Beispiel für zukünftige Gesundheits- oder Bildungsausgaben zu sparen. Für landwirtschaftliche Haushalte ist es auch notwendig, für Saatgut und idealerwei­ se für begleitende Inputs (Dünger, Schädlingsbekämpfung) zu sparen, welche in ei­ ner bestimmten zukünftigen Zeitperiode (der Saat- und/oder Pflanzsaison) eingesetzt werden müssen. Impulsgüter („temptation goods“) stellen die Selbstkontrolle auf eine besonders harte Probe. Banerjee et al. (2013: 20) definieren Impulsgüter als solche, von denen

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die Teilnehmer/-innen ihrer Studie selbst sagen, dass sie weniger davon konsumieren wollen als sie tatsächlich konsumieren. Darunter fallen Alkohol, Tabak und Glücks­ spiel, ebenso wie Betelblätter und außer-Haus-konsumierte Nahrungsmittel. b) Aufmerksamkeit Menschen stecken sich Ziele und planen, die entsprechenden Aktivitäten zu verfol­ gen. Im Laufe der Zeit werden diese Aktivitäten aber vernachlässigt, obwohl die Ziele weder aufgegeben noch erreicht wurden. Kein Mensch hat jedoch unbeschränkte Aufmerksamkeit zur Verfügung (Kahne­ man 2011). Es ist daher möglich, dass beispielsweise gegessen wird, während die Auf­ merksamkeit auf andere Dinge gerichtet ist, etwa drängende Angelegenheiten der Fa­ milie, zum Beispiel ein anstehender Kindergeburtstag, und/oder des Eigentums, zum Beispiel eine anstehende Autoreparatur, und/oder der Arbeit, zum Beispiel ein Ge­ schäftsessen mit einer wichtigen Kundin. Dies kann dazu führen, dass jemand mehr Fett (zum Beispiel in Form von Salami oder Pizza) zu sich nimmt oder Bier trinkt als von ihm selbst vorgesehen war. Dieses Beispiel zeigt auch, dass beobachtbare Verstöße gegen die Verfolgung ei­ nes Ziels auf ganz unterschiedliche Ursachen zurückzuführen sein können. Mangeln­ de Aufmerksamkeit hat eo ipso nichts mit Selbstkontrolle zu tun. Aufmerksamkeit ist eine beschränkte Ressource, für welche Opportunitätskosten anfallen – je mehr Auf­ merksamkeit auf eine Sache gelenkt wird, desto weniger steht für eine andere zur Ver­ fügung (Kahneman 2011). c) Informationen und Einstellungen Informationen bilden die Grundlage von zielführenden Entscheidungen. Es erscheint beinah selbst-evident, dass besser informierte Menschen weniger Entscheidungsfeh­ ler begehen als schlechter informierte Menschen. Jedoch unterscheiden sich Menschen darin, wie sie Informationen suchen und/ oder verarbeiten. In der klassischen Ökonomik haben Informationen keine Kosten und daher wird impliziert, dass jede Entscheidung unter optimalen (vollständigen) Informationen getroffen wird. Die Institutionenökonomik führt Kosten der Informati­ onssuche und -verarbeitung ein: Dies sind Transaktionskosten, welche zum Beispiel bei Verhandlungen, welche komplexen (Tausch-)Entscheidungen zugrunde liegen, die Form der Verträge beeinflussen (Williamson 1990). Doch auch Informationen, welche grundsätzlich zu geringfügigen Kosten verfüg­ bar sind, werden oft bei Entscheidungen nicht berücksichtigt. Dies kann daran liegen, dass die Informationen neu sind oder nicht als vertrauenswürdig eingeschätzt wer­ den, oder dass deren Bedeutung aufgrund von systematischen Entscheidungsfehlern nicht erkannt wird. Der Umgang mit Informationen kann von den Fähigkeiten eines Menschen ab­ hängen, zum Beispiel Lesen oder Rechnen, ebenso wie von bestimmten Einstellun­

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gen, zum Beispiel, wenn Menschen ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen oder – auf­ grund soziokultureller Umstände (ebenfalls eine Form von Institutionen) – bestimmte Informationsquellen vernachlässigen. Wie dieser Einstieg andeutet, ist die Schaffung, Verbreitung und Nutzung von Informationen ein weites Feld, auf dem sich verschiedene ökonomische und so­ zialwissenschaftliche Forschungsprogramme „tummeln“. In diesem Beitrag werden ‚Informationen und Einstellungen‘ als eine Art Sammelbecken aller anderen verhal­ tensökonomischen Konzepte verwendet, außer Selbstkontrolle oder Aufmerksamkeit. Tatsächlich gibt es eine solche Vielfalt von entwicklungs-ökonomischen Bezügen und entsprechenden empirischen Studien dazu, dass sie den Rahmen dieses Beitrags sprengen würden. Einige wenige werden in Abschnitt 3.2c) beispielhaft vorgestellt.

3.2 Beispiele und entwicklungsökonomische Empfehlungen a) Selbstkontrolle und Geduld Die meisten Menschen in Niedrigeinkommensländern müssen ihr Leben unter er­ heblicher Komplexität gestalten: Einkommen ist ungewiss, und für die meisten land­ wirtschaftlichen Haushalte saisonal. Die verfügbaren Produktionsgüter unterliegen hohen Risiken, unter anderem Diebstahl, Krankheiten im Falle von Nutzvieh, Ver­ derblichkeit von Lagerbeständen, Preisschwankungen und Verfügbarkeit von Saat­ gut sowie Dünger oder Pestizide/Insektizide, und zumeist Wetterabhängigkeit des Landbaus. Entsprechend sind unternehmensbezogene Ausgaben ebenfalls mit Unge­ wissheiten behaftet; dazu kommen unvorhergesehene Ausgaben für Gesundheitsvorund -fürsorge von Mitgliedern der (Groß-) Familie. Da in den ländlichen Regionen des Globalen Südens typischerweise die Grenzen zwischen Haushalt und (Familien-) Unternehmen verschwimmen, sind diese ohnehin mindestens teilweise als Erhaltung von Produktionsgütern (Arbeitskraft, Managementfähigkeit) zu rechnen. Selbstkontrolle und Geduld sind unter diesen Umständen wahrscheinlich Erfolgs­ faktoren für die Bewirtschaftung der verfügbaren Produktionsgüter und das Manage­ ment der Haushaltsangelegenheiten. Diese Hypothese wurde durch eine Reihe von experimentellen empirischen Studien gestützt. Sie zeigen, wie Programme, welche Sparen für und entsprechend Investieren in Gesundheit der Haushaltsmitglieder oder Produktivität der (landwirtschaftlichen) Betriebe erreichen wollen, durch solche prak­ tischen Mechanismen (oder Institutionen) effizienter werden, welche Selbstkontrolle erhöhen und Ungeduld zügeln können. Duflo, Kremer und Robinson (2008, 2011) erforschten die Nutzung von Kunst­ dünger durch Kleinlandwirte durch die Kombination einer observationalen und einer (darauf aufbauende) experimentellen Studie. Es ist eine vielbeachtete und weithin anerkannte Studie (beispielhaft Deaton 2014). Duflo et al. stellten zunächst fest, dass die Kleinbauern substantiell unterinvestierten in den Einsatz von Kunstdünger, ob­ wohl sie über die notwendigen Informationen verfügten. Das Experiment von Duflo et

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al. zeigte sodann, dass die Nutzung von Kunstdünger durch Kleinbauern signifikant ansteigt, wenn sie den Kunstdünger direkt nach der vorherigen Ernte (also am Ende der vorigen Saison) kaufen können. „In the first season, the program increased usage by 14 percentage points, on a base of 24 percentage points. In the second season, the increase was even bigger, increasing usage by 18 percentage points, on a base of 26 percentage points (a 69 percent increase)” (J-PAL 2019). Duflo et al. ermittelten die Präferenzen der teilnehmenden Kleinbauern, und zeig­ ten so, dass ein Modell mit zeitinkonsistenten Präferenzen, wie sie durch „Aufschiebe­ ritis“, begründet werden, die Produktionsentscheidungen der Kleinbauern am besten erklärt. Dagegen kann ein Modell mit rationalen Akteuren, deren Präferenzen im Zeitab­ lauf stabil sind, verworfen werden, weil der quantitative wirtschaftliche Nutzen des Kunstdüngereinsatzes unbestreitbar und den Landwirten durch die observationale Studie, welche diese Fakten ermittelte, wohlbekannt ist. Vergleichbar mit Duflo et al. haben Studien für den Gesundheitssektor gezeigt, dass Haushalte im globalen Süden⁶ zu wenig in präventive Maßnahmen investieren, obwohl diese signifikant positiv das Lebenszykluseinkommen beeinflussen könnten. Dupas (2011: 4) bezeichnet es daher als stiliserten Fakt, „that households in low-in­ come countries invest little in preventive health care”. Dupas (2011) berichtet über zwei Forschungsprojekte, die zeigten, dass Mängel an Selbstkontrolle für diesen stili­ sierten Fakt mit verantwortlich sind: – Gine, Karlan und Zinman (2010) setzten ein Forschungsprojekt zusammen mit der Green Bank auf den Philippinen auf. Dazu wurde zufällig ausgewählten regelmä­ ßigen, „aufhörwilligen“ Rauchern ein Sparkonto angeboten. Auf diesem Sparkon­ to wurde eine selbstgewählte Sparrate über 6 Monate eingezahlt. Der Sparbetrag ging verloren, wenn die Raucherin nach 6 Monaten bei einem Nikotin-Urintest „durchfiel“. Die Erfolgsrate – gemessen als dauerhaft das Rauchen aufzugeben – der Sparkontoinhaber war ein Vielfaches höher als die der Kontrollgruppe: „Cli­ ents of the CARES program are estimated to be 30–65 percentage points more like­ ly to pass their urine test after six months than their comparison-group counter­ parts. Importantly, this effect persisted in surprise tests at 12 months, indicating that CARES produced lasting smoking cessation” (Dupas 2011: 24). – Banerjee et al. (2010) zeigen, dass eine geringfügige Belohnung⁷ sich signifikant auf Impfraten auswirken kann. Eltern in Udaipur (Indien), welche ihre Kinder im

6 Wie auch andernorts. 7 Hier wird noch ein anderes verhaltensökonomisches Konzept angesprochen, die Verlustaversion, welche auf dem „Status-Quo-Bias“ fußt. Menschen vermeiden Veränderung, und sind besonders avers gegenüber Verlusten. Daher funktionieren Belohnungen in der Regel besser als (monetär äquivalente) Bestrafungen.

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Rahmen eines Impfcamps⁸ impfen ließen, erhielten 1 kg Linsen (Gegenwert von < 1 US$). Die Impfrate unter dieser Gruppe war mehr als doppelt so hoch wie die der Kontrollgruppe (38 gegenüber 17 %). Die Autoren argumentieren, dass dieser kostenmäßig vernachlässigbare Anreiz die Neigung zur Aufschieberitis überwin­ den hilft. Analog zum Kunstdüngerbeispiel sind diese experimentellen Ergebnisse durch ver­ haltensökonomische Modelle, welche zeitinkonsistente Präferenzen in Form von Pro­ krastination annehmen, gut erklärbar. Dagegen ist die Annahme des rationalen Agen­ ten wenig überzeugend. Es könnte etwa argumentiert werden, dass die Belohnung die Opportunitätskosten der Impfcamp-Teilnahme ausgleiche. Dann muss allerdings an­ genommen werden, dass der nachweislich quantitativ massive Nutzen der Impfung sehr stark ab-diskontiert wird und eine hohe Risikoneigung vorliegt (denn das enorm hohe Ansteckungsrisiko wäre dem rationalen Agenten in Form der geringen Durch­ impfungsraten bekannt). Die meisten Menschen dürften sich teilweise darüber bewusst, sein, dass ihre Ge­ duld beschränkt ist, selbstgewählte Ziele beziehungsweise entsprechende Aktivitä­ ten, zum Beispiel Sparraten und -rhythmen, durchzuhalten. Die verhaltensökonomi­ sche Forschung zeigt auch, dass die meisten Menschen unterschätzen, wie gering ihre Fähigkeit zur Geduld ist (sogenannte partielle Naivität,). Bai, Handel, Miguel und Rao (2017) testen ein Modell mit diesen Annahmen, in dem Menschen mit Bluthochdruck verschiedene Selbstverpflichtungsmechanismen angeboten wurden. Diese hatten die Form einer Vorabzahlung, um später an einer Kontrolluntersuchung und gegebenen­ falls Behandlung teilzunehmen, und sogar einen Teil der Vorabzahlung zurückzuer­ halten. Im Gegensatz zu den vorigen Studien kommen die Forscher jedoch zu pes­ simistischen Ergebnissen: „The results are generally disappointing from the point of view of harnessing commitment contracts in the health sector: take-up of the contracts was modest, few of those who purchased the contracts ended up utilizing health ser­ vices, and objective health outcomes (blood pressure, weight) do not change in the treatment groups. Under plausible model assumptions, offering individuals commit­ ment contracts reduces social welfare in the context we study”. Dagegen haben zahlreiche experimentelle Studien sowohl außerordentliche ho­ he Annahmeraten („take-up“) von Sparmechanismen als auch signifikante Effekte auf das Sparvolumen gefunden. Beispielsweise lagen die Annahmeraten für sechs „Spar­

8 Dies bedeutet, dass die Impfungen an einem vorab festgelegten und angekündigten Tag für alle Bürger/-innen der Umgebung angeboten wurden. Dies adressiert das Problem der hohen Unzuver­ lässigkeit der öffentlichen Gesundheitszentren, in welchen ungeplante und unvorhersehbare Abwe­ senheit des Gesundheitspersonals ebenso wie der Impfstoffe weit verbreitet ist. Daher setzt sich die Mehrzahl der ländlichen Bevölkerung nicht (wiederholt) dem Aufwand aus, erfolglos dorthin zu rei­ sen; ergo sind die Impfraten niedrig. Die Impfcamps erhöhten die Impfrate im Forschungsgebiet in Udaipur von 6 % auf 17 %.

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produkte“ aus zwei Studien zwischen 56 % und 97 % der Teilnehmer/-innen, denen die Sparprodukte angeboten wurden (Aggarwal/Francis/Robinson 2018; Dupas/Ro­ binson 2013). Karlan et al. (2013) halten fest, dass fünf experimentelle Studien von Sparverhal­ ten starke indirekte Wirkungen, das heißt auf Haushaltseinkommen und -ausgaben und/oder Wohlstand, gemessen haben – zwei von diesen Studien (Dupas/Robinson 2013; Brune/Gine/Goldberg/Yang 2013) sind in die Auswahl dieses Aufsatzes einbe­ zogen. Aggarwal et al. berichten, dass die Steigerungen des Sparvolumens für sechs Studien aus vier Ländern zwischen 6 % und 18 % lagen; dies schließt ihre eigene Stu­ die ein, welche Sparen in Form der Ernteeinlagerung (hier: Mais) untersucht. Auch finden Studien, welche sich mit der Vermittlung von finanziellem Grundwissen („fi­ nancial literacy [FL]“ – siehe Abschnitt 3.2c) befassen, zumeist die stärksten Effekte beim Sparverhalten. Kaiser und Menkhoff (2018) zeigen, dass FL-Trainings diese Wir­ kung durch Stärkung der Selbstkontrolle erzielen können. „Several field experiments find large impacts of expanding access to formal accounts on savings rates. Most of these studies also find impacts on downstream outcomes like income, expenditures, and decision power, and the magnitudes hint at more transformative impacts than found thus far in similar evaluations of microcredit“ (Jamison/Karlan/Zinman 2014: 1 f. [with further references⁹]). Analog zu Duflo et al. und Bai et al. haben zahlreiche Studien Sparprodukte mit Selbstverpflichtungen (Commitment savings) untersucht. Selbstverpflichtungen, wie in der oben angesprochenen Studie von Bai et al, können verschiedene Formen an­ nehmen: Höhe und Rhythmus der Sparrate; Verwendung der Sparsumme (dazu zählt Duflo et al.), oder Festlegung von Zeitraum oder Höhe der Zielsparsumme, bevor das Ersparte abgehoben werden kann. Ein solches Sparprodukt hatte positive Wirkungen für Tabakbauern in Malawi, welche verstärkt moderne Produktionsmittel (Kunstdün­ ger, Pestizide) einsetzten und (dadurch) bessere Verkaufszahlen bei der folgenden Ernte erzielten, und welche während der „Hungersaison“ – die Zeit zwischen Aussaat und Ernte, wenn die meisten Bauern ohne Einkommen sind – mehr Finanzmittel zur Verfügung hatten (Brune et. al. 2013). Die Mehrzahl dieser Sparprodukte sind Variationen von Gruppen-basiertem Spa­ ren, wobei die Gruppenmitglieder bei zumeist wöchentlichen oder zwei-wöchentli­ chen Treffen einen über die Gruppenlaufzeit (in der Regel 10–12 Monate) vereinbar­

9 Sie beziehen sich vor allem auf eine Anzahl von experimentellen Studien von Forschern, welche zumeist mit „Innovations for Poverty Action (IPA)“ und/oder dem „Abdul Latif Jameel Poverty Action Lab (J-PAL)“ arbeiten. Diese Organisationen haben sich der Messung der Wirksamkeit von EZ-Inter­ ventionen im Globalen Süden mittels RCTs verschrieben. J-PAL-Mitbegründerin Esther Duflo und ihr Lehrer und Forschungskollege Abhijit Banerjee, sowie Michael Kremer wurden 2019 mit dem Wirt­ schaftsnobelpreis ausgezeichnet.

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ten (Mindest-)Sparbetrag in die „Gruppenkasse“ einzahlen.¹⁰ Sparen in der Gruppe kann eine Form der Selbstverpflichtung – durch sozialen Druck – sein, um Selbst­ kontrollprobleme zu überwinden. Die oben genannte Studie von Dupas und Robinson quantifiziert den Effekt dieser Art sozialen Drucks im Vergleich zu harten und weichen Selbstverpflichtungen, die im folgenden Abschnitt 3.2b) vertieft werden. Darüber hinaus kann die Spargruppe auch ein Mechanismus sein, um anderem sozialem Druck, nämlich von Haushaltsmitgliedern, zu entgehen. So zeigen Aggarwal et al. (2018), dass Kleinbauern ihre Maisernte länger „halten“ und somit zu besseren Preisen verkaufen, wenn sie einen Teil dieser Ernte in einem gemeinsamen Lager un­ terbringen. Dieses Lager wird durch die Bauerngruppe freiwillig organisiert. Aggar­ wal et al. (2018) vergleichen die Wirkung dieser Lagermethode mit der Möglichkeit, in einem individuellen Sparprodukt regelmäßig Geld zu sparen. Die Forscher argumen­ tieren, dass die Überlegenheit der Gruppeneinlagerung von Mais dadurch begründet ist, dass die Kleinbauern damit dem sozialen Druck von Familienmitgliedern besser widerstehen können, den Mais schnell zu verkaufen.¹¹ Aggarwal et al. (2018) berichten über eine weitere experimentelle Studie, welche für die einkommenslose Zeit zwischen Aussaat und Ernte den Zugang zu Lagermög­ lichkeiten mit dem Zugang zu Kredit in Form von Grundnahrungsmitteln („in-kind loans“) verglich (Basu/Wong 2015). Das Ergebnis war, dass die Lagermöglichkeit ei­ ne sehr kleine und der Kredit gar keine Auswirkung auf den Konsum in dieser Peri­ ode hatte. Aggarwal et al. (2018) schließen daraus: „[T]he poor often operate under multiple binding constraints (for instance, a farmer’s storage choices are guided by financial limitations as well as the lack of physical storage technology)”. Verhalten bei Kreditaufnahme spiegelt Sparverhalten. Das heißt leider, dass po­ tentielle Kreditnehmer zu Über-Optimismus neigen, was ihre Einschätzung der Rück­ zahlbelastung in zukünftigen Zeitperioden angeht. Zinman (2014: 13) hält fest, dass Kreditnehmer „behave as if search and switch costs are quite substantial [. . . ] which could of course be rationalized with a standard time-cost explanation, but may ulti­ mately be better explained by a behavioral model of (non-)shopping”. Ein verwandtes Thema ist das mobile Angebot von Konsumentenkredit über inter­ netfähige Telefone (Smartphones); in Ostafrika ist außerdem eine rasante Verbreitung von Sportwetten über Smartphone-Apps zu beobachten. In beiden Fällen weisen se­ lektive qualitative Eindrücke darauf hin, dass hier Gegenwarts-verzerrte Präferenzen zu Lasten der Konsumenten ausgenutzt werden (Kremer et al. 2018: 47). Es gibt aller­ dings wenige empirische Tests dieser Theorien in der Entwicklungsökonomie oder an­ derswo. Banerjee et al. (2013) fanden, dass Kreditnehmer/-innen in Indien ihren Kon­

10 Dieses Forschungsprojekt nutzte die weitverbreitete soziale Struktur von ROSCAs, freiwillige Grup­ pen deren Mitglieder sich regelmäßig treffen, zusammen sparen und daraus einander Geld leihen. 11 Dieser Druck ist wohl teilweise durch Aufmerksamkeit bedingt. Wenn der Mais zuhause gelagert wird, im Gegensatz zum Gruppenlager, haben alle Haushaltsmitglieder ihn buchstäblich beständig vor Augen.

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sum von „Impulsgütern“ signifikant einschränkten, um Zahlungsverzug ihrer (Mikro-) Kredite zu vermeiden. Hier funktioniert der Kredit wie ein Selbstverpflichtungsmecha­ nismus, dies beantwortet daher nicht die Frage, ob die Kreditnehmer die Rückzahlbe­ lastung unterschätzt (oder die Profitabilität ihrer kreditfinanzierten Investition über­ schätzt) hatten. Bemerkenswert ist, dass die Einschränkung von Impulsgütern auch in anderen Studien als Wirkung beobachtet wird (zum Beispiel Robinson/Dupas 2013; Calderone/Fiala/Mulaj/Sadhu/Sarr 2018). b) Aufmerksamkeit Modelle beschränkter Aufmerksamkeit ähneln in ihren theoretischen Vorhersagen denjenigen anderer Verhaltensverzerrungen. So könnte die Teilnahme am Impfcamp, beziehungsweise die Belohnung dafür, oder die Teilnahme an der Spargruppe als Mechanismus zur Erinnerung interpretiert werden. In Verbindung mit neuen techno­ logischen Möglichkeiten, speziell Mobiltelefon-Kurznachrichten (SMS), sind Modelle beschränkter Aufmerksamkeit aber deshalb besonders interessant, weil sie die Wirk­ samkeit von „Aufmerksamkeits-Schocks“ prognostizieren. Beispielsweise Rodriguez und Saavedra (2018) studieren die Effekte von „Auf­ merksamkeits-Schocks“ in Form von SMS-Kampagnen für Jugendliche, welche ein Sparkonto bei einer Bank eröffnet hatten. Sie finden signifikante Steigerungen der Sparvolumina, erreicht vor allem durch verringerte Abhebungen von den Sparkonten. Sie argumentieren, dass diese Ergebnisse vor allem durch verstärkte Aufmerksamkeit erzielt wurden; können allerdings nicht quantifizieren, wie stark der Effekt verstärk­ ter Selbstkontrolle – analog zur oben zitierten Studie von Kaiser und Menkhoff – ist. Die gesteigerte Sparrate ist auch nach Ende der 12-monatigen SMS-Kampagnen stabil, was auf die Ausbildung von Spargewohnheiten hindeutet. Karlan, McConnell, Mullainathan und Zinman (2012)¹² fanden ebenfalls signifi­ kante Veränderungen des Sparverhaltens infolge von SMS-Erinnerungen: „Reminders increased the total amount saved at the bank by 6 percent and increased the likelihood that individuals reached their saving goal by 3 percentage points (6 percent)” (Karlan et al. 2013: 23). Beide Studien finden, dass der Inhalt der SMS hoch-relevant für die Wirkung ist.¹³ Erst Hinweise auf (selbstformulierte) Sparziele oder spezifische Vortei­ le (zum Beispiel eine an das Sparen gekoppelte Versicherung) machen den Schock wirkungsvoll.

12 Dies ist die Arbeitspapier-Version, welche von Karlan et al (2013) zitiert wird. Der Aufsatz wurde 2016 in der wissenschaftlichen Zeitschrift ‚Management Science‘ veröffentlicht. 13 Die im folgenden Abschnitt diskutierte Studie von Calderone et al. testet ebenfalls die Wirkung von Erinnerungen, in Form von persönlicher Ansprache. Sie findet fast durchgehend insignifikante oder geringe Effekte auf das Sparverhalten, welche verglichen mit dem Kerninteresse jener Studie, Training in finanzieller Grundbildung, zumeist deutlich schwächer ausfallen.

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Verwandte Forschung zeigt, dass Sparkonten dann regelmäßiger bespart wer­ den, wenn sie die abstrakte Spartätigkeit durch spezifisch und öffentlich formulierte Sparziele konkretisieren. So finden Kast, Meier und Pomeranz (2018), dass solche im Rahmen von Gruppensparen regelmäßig überwachte Ziele beziehungsweise die entsprechenden Sparraten, in Verbindung mit nicht-monetären Preisen für Zielerrei­ chung, fast viermal so wirksam sind wie ein hochattraktiver Sparzins. Sie wiederho­ len das Experiment mit SMS-basierten (Fortschritts- beziehungsweise Abweichungs-) Rückmeldungen an individuelle Sparer, ohne nicht-monetäre Preise, und finden, dass fast dieselben Effekte erreicht werden. Dies deutet darauf hin, dass nicht sozia­ ler Druck (der Gruppe), sondern die Aufmerksamkeit auf das Ziel die meist-erklärende Variable ist. Im Gegensatz zu Rodriguez und Saavedra (2018) finden Kast et al. keine signifikante Ausbildung von längerfristigen Gewohnheiten. Die Formulierung von und die Fokussierung auf spezifische Sparziele fällt in den sowohl theoretisch als auch praktisch spannenden Bereich der weichen und harten Selbstverpflichtungen. Harte Selbstverpflichtungen bedeuten, dass dieselben unab­ änderbar sind, wenn sie einmal eingegangen wurden. Dies gilt etwa in den oben genannten Studien von Dupas und Robinson, Brune et al. und Karlan et al. Jedoch waren die Sparkonten mit harten Selbstverpflichtungen bei Dupas und Robinson deutlich weniger wirkungsvoll als solche mit weichen Selbstverpflichtungen. Die Erklärung hierfür ist zum Teil darin zu suchen, dass die Annahmequoten für diese Varianten höher sind. Im Fall von Brune et. al. wurde der hohe positive Effekt sogar durch Ersparnisse im „freien“ Konto erzielt, während nur geringe Summen in dem Sparkonto mit Selbstverpflichtung eingezahlt wurden. Das heißt, dass das Sparkonto zwar das Sparverhalten maßgeblich beeinflusste, aber eben dieses Konto tatsächlich kaum benutzt wurde. Dies kann durch gegenwartsverzerrte Präferenzen, durch Ri­ sikoneigung oder durch Ungewissheit über die Zukunft (also „bound rationality“) erklärt werden. Eine Form der weichen Selbstverpflichtung ist die „mentale Kontenführung“ („mental accounting“, Übersetzung nach Beck 2014; auch als „labelling“ bezeichnet). Dies beschreibt eine „weiche Selbstverpflichtung“ durch Markierung (beziehungswei­ se „Verbuchung“) von bestimmten Summen oder Aufbewahrungsorten für bestimmte Verwendungszwecke (Thaler 1985).¹⁴ Lipscomb und Schechter (2018) untersuchen experimentell, wie diese Technik für Gesundheitsvorsorge eingesetzt werden könn­ te, und wie effektiv sie im Vergleich zur herkömmlichen Subvention sein könnte. Untersuchungsgegenstand ist die Verwendung einer sanitären Maßnahme, welche der traditionellen Latrinenreinhaltung deutlich überlegen, jedoch auch kostspieli­

14 Praktikern der ländlichen Entwicklung war diese Methode, wenn auch nicht ihr moderner Name, lange bekannt – Kleinbauern ordnen verschiedenen Ernten verschiedene Verwendungen zu. Zum Bei­ spiel in Malawi wird die Erdnuss nach der Sojabohne geerntet; das Einkommen der Erdnussernte gilt als Grundlage für die Investitionen in die Aussaat für die folgende Saison.

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ger ist.¹⁵ Als Form der mentalen Kennzeichnung werden einerseits eine regelmäßig angesparte Vorauszahlung und andererseits ein (für die Bezahlung der sanitären Maßnahme) festgelegtes Sparkonto mit freier Sparrate und regelmäßiger SMS-Erinne­ rung getestet. Beide Maßnahmen bewirken jedoch keine signifikante Aufnahme der verbesserten Sanitärmaßnahme, während die Subvention in dieser Hinsicht hoch­ wirksam ist. Freilich ist die Subvention insofern ineffizient, als auch all diejenigen, welche diese Maßnahme aus eigenem Antrieb erworben hätten, nun nicht zahlen müssen. In der oben angesprochenen Studie von Dupas und Robinson (2013) wurde die Wirkung von harten Selbstverpflichtungen mit der „bloßen“ Bereitstellung eines Auf­ bewahrungsortes für das Angesparte (der entsprechend mentaler Kontenführung für Gesundheitsvorsorge gekennzeichnet war) sowie mit sozialem Druck (durch die Spar­ gruppe) zum regelmäßigen Gesundheitssparen verglichen. Während alle drei einen positiven Sparerfolg bewirken, verglichen zur Kontrollgruppe, ist der Effekt der har­ ten Selbstverpflichtung verglichen mit dem bloßen Aufbewahrungsangebot negativ. Dupas und Robinson (2013: 1157) argumentieren, dass „the liquidity cost of earmar­ king discourages investment on average, compared to a storage technology without earmarking”. Diese Ergebnisse entsprechen dem oben angeführten stilisierten Fakt, dass zu we­ nig in Gesundheitsvorsorge investiert wird. Dasselbe gilt oft für Investitionen in Hu­ mankapital, in Form von Bildung und/oder Fähigkeitserwerb (Holla/Kremer 2009). c) Informationen und Einstellungen Gesundheitsvorsorge und finanzielle Vorsorge (im weitesten Sinne, nicht nur für das Alter) unterliegen ähnlichen Informationsproblemen: – Die Umstände zukünftiger Gesundheitsprobleme, ebenso wie zukünftiger Finanz­ probleme, werden falsch eingeschätzt. Dies bezieht sich sowohl auf den mögli­ chen Umfang eines Problems – zum Beispiel mit einer chronischen Erkrankung zu leben, oder überschuldet zu sein – als auch auf die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Problem eintritt. – Die Methoden, um solchen Problemen vorzubeugen, sind nicht bekannt oder wer­ den in ihrer Wirksamkeit unterschätzt. So lassen sich viele schwere Krankheiten – Malaria, Wurmbefall, Durchfall, Masern – durch einfache und kostengünstige Maßnahmen ganz oder weitgehend vermeiden – imprägnierte Bettnetze, Entwur­ mungstabletten, Hände waschen und gegebenenfalls viel trinken, Impfungen.

15 „Households [. . . ] which are off of the networked sewage lines, need to purchase this service ap­ proximately once every six months. They can choose a manual desludging which is cheaper but less sanitary, or a mechanized desludging which is more expensive but more sanitary” (Lipscomb und Schechter 2018, 236).

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Ähnlich lassen sich einige Finanzprobleme wie zum Beispiel Überschuldung und Liquiditätsmangel bei planbaren Ausgaben (zum Beispiel Schulgebühren) durch Prüfung der Kredittragfähigkeit und durch überschaubares regelmäßiges Sparen vermeiden, sowie durch rechtzeitige Investitionen zum Beispiel in landwirtschaft­ liche Inputs, wie in Abschnitt 3.2a) aufgezeigt. Wenn allerdings Einkommen aus­ bleibt oder schwere Gesundheitskrisen den Haushalt befallen, dann nützt das re­ gelmäßige Kleinsparen wenig und die Überschuldung ist oft der kurzfristig einzi­ ge Ausweg. Offensichtlich verringert Gesundheitsvorsorge die Wahrscheinlichkeit von kostspieligen Gesundheitskrisen, kann sie aber nicht ausschließen. Immer wieder wird beobachtet, dass Informationen, selbst wenn sie ganz oder annähernd kostenlos verfügbar sind, nicht zur Anwendung kommen. Lusardi und Mitchell (2014) argumentieren im Falle von finanzieller Grundbildung (FL), dass dies durch die heterogenen Präferenzen und Umstände der Teilnehmerinnen von FL-Trainings erklärbar sei. Dies ist aber wohl nur ein Teil der Erklärung, da zum Beispiel auch bei gut gebildeten FL-Trainingsteilnehmern die Vernachlässigung der Informationen festgestellt werden kann.

Im Folgenden werden diese Informationsprobleme an beispielhaften Studien aus dem Gesundheits- und aus dem FL-Feld – ein Beispiel für Investitionen in Humankapital – erörtert. Cohen und Saran (2018) und Cohen, Dupas und Scharner (2015) untersuchen In­ formationsprobleme am Beispiel der Malaria, die zu den weitverbreiteten Krankheiten im globalen Süden gehört.¹⁶ Daher ist es vielleicht nicht überraschend, dass fiebrige Erkrankungen regelmäßig als Malaria selbstdiagnostiziert und Malaria-Medikamen­ te gewissermaßen „auf Verdacht“ eingenommen wurden. Dies wird zudem noch von Ärzten empfohlen, da Malariatests (Diagnose) in der Vergangenheit oft unzuverlässig waren. Zugleich werden diese Medikamente – ebenso wie andere Parasiten-Behand­ lungen, zum Beispiel Antibiotika – zu oft nicht ordnungsgemäß oder bis zum Ende eingenommen. Dies erhöht die Gefahr von Resistenzbildung. Beide Studien untersu­ chen experimentell, wie Informationen über die Malaria-Behandlung gegeben und aufgenommen werden. Cohen und Sahran (2018) vergleichen zwei Methoden, Informationen über die Medikamente zu vermitteln: Einerseits eine aufwändige, farbige Verpackung, welche Hochwertigkeit signalisieren soll, und auf einem Beipackzettel mit farbigen Bildern die Verwendung (und deren Wichtigkeit) erklärt für Patienten, die nicht lesen können. Andererseits zwei einfache Aufkleber, welche lediglich die Wichtigkeit der vollständi­ gen Einnahme betonen und die Patienten ermutigen, diese zu befolgen. Nur die Auf­

16 „Every year, malaria kills hundreds of thousands of people, most of them African children under age five. Pregnant women and their unborn children are particularly vulnerable to the disease, which contributes to anemia, low birthweight, premature birth, and infant deaths” (MVI 2019).

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kleber hatten einen signifikanten, allerdings geringfügigen Effekt (vollständige Ein­ nahme um 9 % erhöht). Diese Methode ist dabei substantiell kostengünstiger. Die Autorinnen erklären das Ergebnis mit einem Modell, welches auf der Wahr­ nehmung der Patienten über ihren Genesungsfortschritt und über die Wirksamkeit des Medikaments beruht. Die Aufkleber scheinen letztere beeinflusst zu haben, aller­ dings kann die Studie nicht erklären, warum dieselben Informationen in dieser Form und nicht in der anderen aufgenommen wurden. Cohen et al. (2015) untersuchen, wie (potentielle) Malariapatienten die Infor­ mation über und durch, neue, sehr zuverlässige Malaria-Schnelltests aufnehmen. In diesem Forschungsprojekt wurden zufällig ausgewählten Nachfragern nach Malaria­ medikamenten die neuen Schnelltests (in der Regel kostenfrei) angeboten. Von fünf Nachfragern, welche den Test nutzten und herausfanden, dass sie keine Malaria hat­ ten, verzichteten zwei auf Kauf und Einnahme des Medikaments.¹⁷ Die Forscherinnen prüften verschiedene Einflussfaktoren dafür, dass drei von fünf negativ Getesteten trotzdem das Medikament nehmen. Sie argumentieren, dass die sehr prävalente Er­ fahrung mit den früheren unzuverlässigen Tests (veraltete Information) dafür ver­ antwortlich sei (die Studienlaufzeit ist zu kurz, um dieses Argument quantitativ zu belegen). Die Aufnahme von neuen beziehungsweise das Ersetzen von alten Infor­ mationen verursacht Transaktionskosten. Aus verhaltensökonomischer Perspektive könnte auch argumentiert werden, dass dieses Misstrauen (oft verbunden mit dem bereits erbrachten Aufwand, zur Apotheke zu gehen) Ausdruck von Status-quo-Bias ist. McCarthy (2019) findet eine vergleichbare Informationsfluss-Struktur in einer Un­ tersuchung über Verwendung von (Schwangerschafts-)Verhütung im ländlichen Tan­ sania. Auch hier sind faktisch falsche Informationen weit verbreitet (zum Beispiel über die Effektivität von „Verhütungszauber“). Auch die Vermittlung finanziellen Grundwissens steht vor der Frage, wie Informa­ tionen aufgenommen und in Verhalten übersetzt werden. Kaiser und Menkhoff (2018) testen experimentell die Wirksamkeit eines mit Unter­ stützung der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) entwi­ ckelten FL-Trainings. Es gibt den Teilnehmer/-innen in nur zwei Stunden einen inter­ aktiven Überblick über fünf FL-Domänen: Finanzplanung, Sparen, Investieren, Kredit und Auswahl von Finanzdienstleistern. Dies wurde gegen ein „traditionelles“ Fron­ taltraining getestet, mit denselben Inhalten, Zeitrahmen und Trainer/-innen. Die Stu­ die wurde 2015/2016 in 83 ländlichen Märkten im Westen Ugandas durchgeführt, das Training also direkt am Arbeitsplatz der teilnehmenden Kleinhändler/-innen, zu 80 % weiblich, angeboten.

17 Dieser Verzicht ist weitgehend unabhängig vom Umfang der Subvention, welche für das Malaria­ medikament gewährt wird. Die Studie testete Preiselastizität für Subventionen zwischen 92 % und 80 % des Produktionspreises.

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Das interaktive Trainingsformat ist dem traditionellen signifikant überlegen, was Wirkungen auf das finanzielle Verhalten betrifft: Die interaktiven Trainees haben ihre durchschnittlichen Investitionen mehr als doppelt so stark erhöht wie die traditionel­ len Trainees. Dies wurde durch erhöhte Sparbeträge erreicht. Dagegen gab es keine signifikanten Unterschiede in den anderen Domänen. Kaiser und Menkhoff (2018) haben auch den Transfermechanismus ergründet: Interaktives Training wirkt durch erhöhtes Finanzwissen, durch verbesserte Selbst­ disziplin, und durch gestärktes finanzbezogenes Selbstvertrauen. Es stehen also zwei verhaltensökonomische einem neo-klassischen Mechanismus gegenüber. Das tradi­ tionelle Training wirkt dagegen nur auf das finanzbezogene Selbstvertrauen. Calderone et. al. (2018) führen ein Experiment mit Kund(inn)en eines mobilen Finanzdienstleisters im ländlichen Nordindien durch. Dieser Dienstleister arbeitet durch teilzeit-aktive Agent(inn)en („bandhus“), welche vor Ort leben und ITC-basiert mit dem Unternehmen verbunden sind. Die Hälfte von 3.000 zufallsausgewählten Kund(inn)en – von denen 88 % ein inaktives Konto hatten – erhielten ein 2-tägiges FL-Training. Wie Kaiser und Menkhoff finden auch Calderone et al., dass das FL-Training Spar­ verhalten positiv beeinflusst – die FL-Trainees sparten mehr mit formalen Finanz­ dienstleistern (vor allem regierungseigene Banken) und kauften mehr Anlagegüter wie zum Beispiel Goldschmuck (in Indien eine verbreitete Form des Sparens). Die von Calderone et al. ermittelten Transfermechanismen sind jedoch nicht verbessertes Fi­ nanzwissen oder veränderte Zeitpräferenzen (Selbstkontrolle), sondern eine positiv veränderte Einstellung zu Finanzplanung (eine der FL-Domänen¹⁸). Allerdings hat sich das veränderte Sparverhalten kaum auf die Konten bei dem mobilen Finanzdienstleister niedergeschlagen, woraus die Autor/inn/en Unterschie­ de des institutionellen Vertrauens (in diesen relativ jungen Anbieter, verglichen mit anderen Finanzdienstleistern, insbesondere den langjährig bekannten regierungsei­ genen Banken) ableiten. Die Autoren fanden heraus, dass der Zugang zu den Agenten nicht so eindeutig Transaktionskosten verringert, wie der Anbieter sich das vorstellt. Daher ist der Vertrauenseffekt relativ zum Transaktionskosteneffekt – Zugang zu den Bankfilialen verursacht Reisekosten – nicht quantifizierbar. Jamison et. al. (2014) finden ebenfalls signifikante Steigerung der Ersparnisse und des zugeflossenen Einkommens (sie haben keine Daten zum Mechanismus, der von zusätzlichem Sparen zu zugeflossenem Einkommen führt). Allerdings verglei­ chen sie die Wirkung von FL-Training mit dem Angebot eines Sparkontos. Jeweils 60 zufallsausgewählten Jugendclubs wurde ein (Gruppen-)Sparkonto angeboten, be­ ziehungsweise ein 15-stündiges, interaktives FL-Training (über 10 Wochen verteilt),

18 Die Inhalte des FL-Trainings waren weitgehend vergleichbar mit denen in der Kaiser/MenkhoffStudie, bis auf einen höheren Anteil an Informationen über Versicherungen (welche in Indien weiter verbreitet angeboten werden als in Uganda).

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beziehungsweise beides zusammen; 60 weitere Sparclubs bildeten die Kontrollgrup­ pe. Die Spar- und Einkommensunterschiede zwischen den Gruppen sind nicht sta­ tistisch signifikant,¹⁹ und daher schlussfolgern die Autoren, dass FL-Training und Kontenzugang gegeneinander substituierbar und nicht ergänzend seien. Dies wider­ spricht somit Kaiser und Menkhoff (2018), die ihn der interaktiven Vermittlung den „Mechanismus zum Erfolg“ solcher Trainings erkennen. Jamison et al. können auch keinen „teachable moment“ belegen, welcher sich durch die erhöhte Wirkung des kombinierten Angebots gezeigt hätte; „teachable moments“ werden als verhaltens­ ökonomischer Erfolgsfaktor von Training betont, zum Beispiel von Kaiser und Men­ khoff (2017). Dagegen erinnert die Studie an Rodriguez und Saavedra (2018), welche die Aufmerksamkeitskampagne für Sparziele mit einer, wie die Vergleichskampagne SMS-basierten, FL-Kampagne (wobei die SMS Mini-Lerneinheiten darstellten) vergli­ chen. Sie fanden ebenfalls keine Wirkung von FL-Lerninhalten auf das Sparverhalten.

4 Verhaltensökonomik und Programmgestaltung („Policy Making“) Die im vorigen Abschnitt vorgestellten Studien zeigen, wie Programme durch Nutzung verhaltensökonomischer Konzepte das Abfedern von gesundheitlichen Notfällen und allgemein das Erreichen von Sparzielen verbessern, landwirtschaftliche Produktivität erhöhen, Trainings und Informationen effektiver darbieten und (dadurch) Verschul­ dung verringern könnten. Diese Studien zeigen auch, dass es schwierig beziehungs­ weise per Definition langwierig ist, dauerhafte Gewohnheiten zu schaffen. Im Lichte der Erkenntnisse zu den physiologischen Wurzeln von Geduld und Beharrungsvermö­ gen ist dies zu erwarten. Anhang 1 fasst die programmatischen Prinzipien zusammen, welche sich aus den diskutierten Studien ergeben. Die Spalten 3 und 4 zeigen, in welchem Kontext die entsprechenden Prinzipien erfolgreich beziehungsweise nicht erfolgreich angewen­ det wurden – im Sinne von unmittelbaren und indirekten Wirkungen, Beispiele sind Sparvolumen und verbesserte Gesundheitsversorgung respektive. Aus Praktiker-Sicht ist entscheidend, ob und wie diese Prinzipien im institutionellen Setting umgesetzt werden können. Experimentelle Forschungsdesigns sind interessant, weil sie eine bei­ spielhafte Umsetzung, regelmäßig in Zusammenarbeit mit Praktikern (Geberorgani­ sationen, Nichtregierungsorganisationen) vorführen. Oft ist die Breitenumsetzung je­ doch problematisch (dies ist auch einer der Kritikpunkte an „Randomized Control Tri­ als“, welche sehr aufwändig, aber oft wenig skalierbar sind.)

19 Darüber hinaus weisen die Autoren darauf hin, dass Design- und Ablaufbezogene Faktoren (zum Beispiel Gruppenkonto, relativ späte Aktivierung) die Wirkung des Kontos unterdrücken könnten. Das heißt der Sparkonto-Zugang könnte sogar wirksamer als das FL-Training sein.

Die Entwicklungsökonomik als Anwendungsfeld der Verhaltensökonomie |

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Die programmatischen Prinzipien erinnern an jene der Nutzer-zentrierten Pro­ duktentwicklung („human centred design“).²⁰ Nun ist es nicht überraschend, dass entwicklungspolitische Programme den Empfänger, dem sie nutzen wollen, als Aus­ gangspunkt nehmen sollten, und dessen tatsächliche Bedürfnisse und Verhaltenswei­ sen erfassen und daran anschließen sollten. Tatsächlich verhalten sich die „PolicyMaker“ in der Entwicklungszusammenarbeit viel öfter wie der von Coase beschrie­ bene Ökonom, der ein Pferd verstehen möchte. „If economists wanted to study the horse, they wouldn’t go around and look at horses. They’d sit in their studies and say to themselves, ‘what would I do if I were a horse?’” (Ely Devons zitiert nach Ronald Coase 1999). Eine offene Frage ist, ob und in welcher Form diejenigen, die Entwicklungspro­ gramme aufsetzen, die Einsichten der Behavioural Development Economics berück­ sichtigen. Das heißt es ist die Politökonomik der Entwicklungszusammenarbeit zu un­ tersuchen. Wie in der traditionellen Politökonomik gibt es auch hier Politiker und Bü­ rokraten. Die in der Einführung erwähnten neuen Geldgeber ähneln als Auftraggeber den Politikern, nehmen aber für sich in Anspruch, sich an den Methoden der empiri­ schen Entwicklungs[mikro]ökonomik zu orientieren. Es gibt allerdings fast keine Studien dazu, wie (stark) sich Verhaltensverzerrungen von Entscheidern auf die Wirksamkeit ihrer Entscheidungen – hier: EZ-Programmen – auswirken. Schnellenbach (2017) und Döring (2016) berichten in einigen Studien aus anderen Politikfeldern. Danach ist Überoptimismus eine „Untugend“ von Politikern; der Vorrang „des Dringenden vor dem Wichtigen“ (Döring 2016: 20 [mit weiteren Ver­ weisen]) wird mit dem „Availability Bias“ begründet. Allerdings argumentieren beide Autoren, dass die „Behavioural Political Economy“ vor allem Verhaltensverzerrungen von Wähler/-innen untersucht, da diese sich oft auf Politiker und (dann) Bürokraten übertrügen. In der EZ dürfte das nicht zutreffen, da es, wie eingangs angedeutet, praktisch keinen direkten Übertragungsmechanismus von den Zielgruppen der EZ-Programme zu den Entscheidern gibt. Entsprechend halten Schnellenbach und Schubert (2015: 407) fest, dass Wertvorstellungen und Glaubenssätze („beliefs“) von Politikern wie Bürokraten die Verwertung neuer Informationen – hier: Programmempfehlungen der Behavioural Development Economics – beschränken (Schnellenbach und Schubert, 2015: 407). Da Bürokraten externe Rückkopplung (wie sie Unternehmen durch den Markt erhalten) fehlt, um aus Fehlern zu lernen, sind sie besonders anfällig für Her­ deneffekte (Schnellenbach und Schubert (2015: 410). Insgesamt gibt es bisher wenige empirische Arbeiten zu Verhaltensverzerrungen bei Bürokraten; die Gruppe, welche den Gestaltern von EZ-Interventionen in öffentli­ chen, nationalen und multilateralen Organisationen am ehesten entspricht.

20 Beispielsweise www.cognitiveclouds.com/insights/key-principles-of-user-centered-design/. Letzter Aufruf 10.06.2019.

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5 Schlussbemerkung Die Verhaltensökonomik hat sich als fruchtbar für die Entwicklungszusammenarbeit erwiesen. Es muss sich noch zeigen, ob die Breitenanwendung ihrer Einsichten erfolg­ reich ist und die positiven Wirkungen repliziert werden können. Dies hängt zuvorderst von Form und Gestaltbarkeit des institutionellen Settings ab. Daher ist die Vertiefung der Anknüpfungspunkte von Verhaltens- und Institutionenökonomik von hervorra­ gender Bedeutung für die Entwicklungsökonomik. Die Replikation dieser (und anderer) Einsichten der (Verhaltens-)Ökonomik hängt ebenso von der Gestaltung entwicklungspolitischer Programme ab. Es ist daher wichtig, die Politikökonomie der Entwicklungszusammenarbeit, nicht nur in ver­ haltensökonomischer Perspektive, zu erforschen und hoffentlich effektiver zu gestal­ ten. Zugleich bietet die Erforschung von Verhaltensverzerrungen bei Praktikern der Entwicklungszusammenarbeit, also einer Gruppe von Bürokraten (politökonomisch gesprochen), eine Gelegenheit, eine Forschungslücke in den behavioural political economics zu schließen. Nachahmenswert ist die von der Behavioural Development Economics betriebe­ ne Arbeitsweise: Studien werden in enger Zusammenarbeit mit öffentlichen und priva­ ten Gebern und Programmimplementierern aufgesetzt, und so tatsächlich bestehende Programme (oder Programmideen) reflektiert und mit wissenschaftlicher Unterstüt­ zung verbessert. Dies ist angewandte Mikroökonomik, wie sie sein sollte: Praxis und Theorie relevant füreinander.

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Voucher für landwirt­ schaftliche Inputs zur Erntezeit

(i) (Verschließbare) Metallbox für Spar­ gruppen (ii) (Verschließbare) Lagersäcke für Bauerngruppen (iii) Sparfunktion auf dem Mobiltelefon für individuelle Sparer (i) Gruppensparkonten für Gesundheitsvor­ sorge, und Notfälle respektive (ii) Individuelle Spar­ konten mit und ohne SMS-Erinnerung an (selbstgewähltes) Sparziel

Investitionsgüter erwerben, wenn Liquidität hoch ist.

Zusätzliche „Spar­ plätze“ zur Verfü­ gung stellen

Mentale Kontenfüh­ rung – „fühlbare“ Kennzeichnung, explizites Sparziel

Praktische Beispiele

Prinzip

(i) Kleinbauern und/oder länd­ liche Kleinhändler (Männer und Frauen), Kenia [Sparziel gesundheitliche Notfälle], Ma­ lawi [Sparziel einschließlich Investition], (ii) Semi-urbane Niedrigeinkom­ menshaushalte, Bolivien, Peru, Philippinen [wenn SMSErinnerungen auf Sparziel bezogen!]

(i) Kleinbauern und/oder länd­ liche Kleinhändler (Männer und Frauen), Kenia, Malawi; Sekundarschüler, Uganda (ii) Kleinbauern, Kenia [hoher Effekt], Indonesien [geringer Effekt] (iii) Semi-urbane Niedrigeinkom­ menshaushalte, Senegal

Kleinbauern, saisonaler Anbau (Mais), Kenia.

Erfolgreicher Kontext

(i) Kleinbauern und/oder ländli­ che Kleinhändler (Männer und Frau­ en), Kenia [Sparziel gesundheitliche Vorsorge] (ii) Semi-urbane Nied­ rigeinkommens­ haushalte, Senegal [Sparleistung po­ sitiv, aber nicht für Sparziel – Sanitärleistung verwendet]

Nicht-erfolgreicher Kontext

Siehe Sparplätze Infrastruktur für SMS-Kampagnen

Qualität der Inputs ist für den Klein­ bauern beobachtbar. Input wird zum vereinbarten (benö­ tigten!) Zeitpunkt bereitgestellt. Hinreichend Klarheit, wie Verände­ rungen während der Voucher-Lauf­ zeit gehandhabt werden (Relatio­ nalvertrag). „Sparplatz“ muss sicher sein Lagerplatz muss sachgerecht aus­ gestattet sein Verfügbarkeit der Ersparnisse muss hoch sein (siehe Spalte „Selbstver­ pflichtungen“) Risikoverteilung (zum Beispiel bei Diebstahl, etc.) muss hinreichend geklärt sein

Institutionelles Setting

Die Entwicklungsökonomik als Anwendungsfeld der Verhaltensökonomie |

107

Anhang 1: BDE – programmatische Prinzipien und Erfolgskontexte

Anzahlungen mit und ohne Rückvergütung bei Teilnahme an Gesundheitsmaßnahme

(i) Gruppensparen und -inves­ tieren (ii) Mental Accounting (siehe entsprechende Spalte oben)

(i) Finanzielle Grundbildung Lernerzentriert aufberei­ ten, (ii) Training mit Anwendung (zum Beispiel Sparkonto) verbinden

Ausbalancieren von So­ zialem Druck

Training oder Info spezi­ fisch (anwendungsorien­ tiert) und aktionsbezogen gestalten

Ausbildung der Trainer/Design und Bereitstellung der Trainings­ materialien Operationale Steuerung, die tatsächliche Umsetzung aktiven Lernens gewährleistet

(i)/(ii) Sekundarschüler, Uganda

(i) Ländliche Kleinhänd­ ler/-innen, Uganda [moderat erfolgreich: Info-Auf­ kleber für semi-urbane Nied­ rigeinkommenshaushalte, die Malaria-Medikamente kauften, Uganda]

Siehe Sparplätze

Institutionelles Setting

Analyse und Definition von po­ sitivem und negativem sozialen Druck

Semi-urbane Niedrigeinkom­ menshaushalte in Indien [Bluthochdruckbehandlung] und Senegal [Sanitärleistung]

Nicht-erfolgreicher Kontext

Ländliche und semi-urbane Niedrigeinkommenshaushalte, Globaler Süden

(i) Kleinbauern, Kenia (ii) Ländliche Niedrigeinkom­ menshaushalte, Tansania

(i) (Verschließbare) Lagersä­ cke für Bauerngruppen (ii) Gemeinsame Teilnahme v. Eheleuten an Info-Veran­ staltung

„zu harte“ Selbstver­ pflichtungen verschre­ cken Teilnehmer

Ländliche und semi-urbane Niedrigeinkommenshaushalte, Globaler Süden

Kleinkredite und Sparkonten

Ermutigung, selbstge­ wählte Vermeidung v. Impulsgütern durchzuhal­ ten „Halbweiche“ Selbstver­ pflichtungen

Erfolgreicher Kontext

Praktische Beispiele

Prinzip

108 | Oliver Schmidt

Die Entwicklungsökonomik als Anwendungsfeld der Verhaltensökonomie | 109

Korreferat zu dem Beitrag von Oliver Schmidt Jan Schnellenbach Was kann ein verhaltensökonomischer Ansatz in der Entwicklungsökonomik leisten? Oliver Schmidt argumentiert in seinem Papier, dass es vor allem darum ginge, indivi­ duelle Abweichungen im Entscheidungsverhalten von den Prognosen neoklassischer Standardmodelle zu berücksichtigen. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Denn das Forschungsprogramm der Verhaltensökonomik fokussierte im Anschluss an Tversky und Kahneman (1974) vor allem darauf, einen Katalog solcher empirisch auffindbaren Verhaltensanomalien zu erstellen (Heukelom 2014). Die Aufgabe einer Behavioral De­ velopment Economics bestünde dann tatsächlich vor allem darin, diese Erkenntnisse in entwicklungspolitischen Kontexten zur Anwendung zu bringen. Behavioral Development Economics als Forschungsfeld Von dieser Prämisse ausgehend gibt Oliver Schmidt einen Überblick über typische, verhaltensökonomisch geprägte Beiträge zur jüngeren Entwicklungsökonomik. Dabei geht es beispielsweise um fehlende Selbstkontrolle, die Besitzer von kleinen land­ wirtschaftlichen Betrieben dazu bringt, Ersparnisse, die sie für die nächste Aussaat brauchen könnten, gar nicht erst zu bilden, sondern stattdessen schnellen Konsum zu wählen. Wer unter hyperbolischen Präferenzen leidet (Laibson 1997), kann von Me­ chanismen zur Selbstbindung an seine eigenen, langfristigen Präferenzen profitieren. Lässt man ihn etwa seinen Dünger oder ein Saatgut direkt nach der letzten Ernte kau­ fen, dann sinkt die Gefahr der Zeitinkonsistenz (Duflo et al. 2011). Ähnlich argumentiert Oliver Schmidt, dass auf dem Gebiet der öffentlichen Ge­ sundheitsvorsorge ein kleiner materieller Anreiz helfen kann, die Neigung zur Pro­ krastination zu überwinden und sich Impfungen verabreichen zu lassen. Und Ent­ scheidungsschwächen, die zu einer zu geringen Sparquote führen, könnten durch An­ gebote zur finanziellen Bildung zumindest teilweise überwunden werden (Kaiser und Menkhoff 2017). Dies sind nur wenige Beispiele von sehr vielen, die Oliver Schmidt in seinem Bei­ trag diskutiert. Fast alle zitierten empirischen Studien zur Behavioral Development Economics haben einige wesentliche Charakteristika gemeinsam. Erstens handelt es sich um experimentelle Studien, sogenannte Randomized Controlled Trials, die sich dadurch auszeichnen, dass unter kontrollierten Bedingungen eine Gruppe von Teil­ nehmern, die einem experimentellen Treatment ausgesetzt sind, mit einer Kontroll­ gruppe von Teilnehmern verglichen wird, die unbeeinflusst ihre Entscheidungen tref­ fen. Dieses Vorgehen erlaubt relativ sichere Aussagen über den kausalen Effekt, der durch das experimentelle Treatment erreicht wird. Zweitens betrifft die überwiegende Mehrzahl der Experimente in diesem Litera­ turstrang relativ kleine Gruppen. Die Experimente werden beispielsweise in Dorfge­

110 | Jan Schnellenbach

meinschaften durchgeführt. Im entwicklungsökonomischen Zusammenhang sind da­ gegen Randomized Controlled Trials in größeren Gruppen sehr selten. Und drittens steht das Individuum mit seinen Entscheidungsschwächen im Mittelpunkt der Analy­ se. Hier folgt die verhaltensökonomische Entwicklungsökonomik dem Ansatz, unmit­ telbar die systematischen Entscheidungsanomalien der Individuen als Ursache nichtoptimaler gesamtwirtschaftlicher Ergebnisse zu vermuten. Probleme der Behavioral Development Economics Das zentrale Problem des Forschungsansatzes besteht in einer Individualisierung von Entwicklungsproblemen. Der Blick richtet sich dagegen bisher nur wenig auf Institu­ tionen oder die Qualität politischer Entscheidungen. Damit folgt die Entwicklungs­ ökonomik Forschungsprogrammen wie sie von Thaler und Sunstein (2008) popula­ risiert wurden und die zuvor auf der theoretischen Ebene bereits unter anderem von Camerer et al. (2003) angestoßen worden sind. Dabei wird eine verhaltensökonomisch fundierte Wirtschaftspolitik angestrebt, die mangelnde individuelle Rationalität kom­ pensieren soll. Es ist dann die Aufgabe des Wirtschaftspolitikers, Entscheidungssitua­ tionen so zu gestalten, dass die Individuen sich so verhalten, wie es der Wirtschafts­ politiker für vernünftig halten würde. Gegen diese Herangehensweise wurden bereits zahlreiche kritische Einwände vorgebracht. Insbesondere wurde die paternalistische Herangehensweise kritisiert, die voraussetzt, dass der Politiker weiß, an welchen Entscheidungsschwächen die Individuen leiden und welche Entscheidungen für sie tatsächlich sinnvoller wären. Dieses Wissen kann nicht immer vorausgesetzt werden und es besteht die Gefahr, dass individuelle Freiheit eingeschränkt wird (Rebonato 2012). Ebenso kann es passieren, dass verhaltensökonomisch motivierte Politik die tatsächliche Heterogenität indivi­ dueller Interessen stark unterschätzt (Schnellenbach 2016). Und nicht zuletzt können die politischen Entscheidungsträger selbst Entscheidungsverzerrungen unterliegen (Schnellenbach 2014). Gerade auf dem Feld der Entwicklungspolitik sollte man sich aber vor allem auch die Frage stellen, ob die individuelle Ebene der richtige Ansatzpunkt ist. Sind Entwick­ lungsprobleme in Volkswirtschaften mit geringem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf tat­ sächlich in nennenswertem Ausmaß den Entscheidungsschwächen der Individuen in ihren Rollen als Kleinbauern, Kleinunternehmer oder Konsumenten geschuldet? Ist der Kapitalstock in Entwicklungsländern zu klein, weil die Haushalte ein Selbstkon­ trollproblem bei ihrer Sparentscheidung haben? Zwar können Fehlentscheidungen auf der Basis systematischer Verzerrungen erhebliche Auswirkungen auf die Wohl­ fahrt einzelner Individuen haben, aber es erscheint doch sehr unwahrscheinlich, dass sich makroökonomische Entwicklungsrückstände auf diese Art plausibel erklären las­ sen. Ein Beispiel kann das illustrieren. Kremer et al. (2019, Abschnitt 8) argumentieren, dass in Entwicklungsländern die Entscheidungsträger in Unternehmen oft anfälliger

Die Entwicklungsökonomik als Anwendungsfeld der Verhaltensökonomie | 111

für Entscheidungsverzerrungen sind, als in entwickelten Ländern. Wenn dies der Fall wäre, dann könnte vielleicht tatsächlich ein Entwicklungsrückstand zumindest zum Teil verhaltensökonomisch erklärt werden. Aber wieso glauben Kremer et al., dass Un­ ternehmen in Entwicklungsländern anfälliger sind? Ein Faktor, den sie anführen ist, dass durch hohe Einfuhrzölle der disziplinierende Wettbewerbsdruck auf die heimi­ schen Anbieter geringer ist. Schlechte Entscheidungsträger werden nicht zuverlässig vom Markt verdrängt. In die gleiche Richtung wirkt schlechte Infrastruktur, die dazu führt, dass wegen hohen Reisekosten die Nachfrager einem oder wenigen lokalen An­ bietern ausgeliefert sind. Und auch eine starke Aktivität des Staates im Privatsektor wirkt oft schützend auf Incumbent-Unternehmen. Kremer et al. (2019) liefern also eine ganze Reihe von Beispielen für schlechte und vernachlässigte Ordnungspolitik, die dann ihrerseits größeren Spielraum für schlech­ te unternehmerische Entscheidungen schafft, welche (auch) durch verhaltensökono­ mische Phänomene zustande kommen. Die entwicklungspolitische Antwort darauf sollte aber vermutlich in klassischer Entwicklungspolitik bestehen: Infrastruktur be­ reitstellen, eine stabile Wettbewerbsordnung durchsetzen, Einfuhrzölle senken. Die so gesetzten Anreize reduzieren dann den Spielraum für schlechte Entscheidungen; die Unternehmer im Entwicklungsland werden zur Verbesserung ihrer eigenen Ent­ scheidungen diszipliniert. Außerdem wird hier auch deutlich, dass verhaltensökonomische Probleme den Entwicklungsrückstand einzelner Länder nicht wirklich erklären können. Entschei­ dungsverzerrungen können auf der Mikroebene stärker durchschlagen als in entwi­ ckelten Ländern, weil Institutionen und Infrastruktur schlechter sind. Aber sind die­ se auch wieder wegen verhaltensökonomischen Problemen schlechter? Und wenn ja, wieso sollte das der Fall sein? Vermutlich kann eine wirtschaftshistorisch-institutio­ nenökonomische Analyse wie die von North et al. (2009) mehr beitragen, um zu ver­ stehen, wieso in manchen Ländern die Institutionen schlecht sind und daher auch – neben vielen anderen Problemen – Entscheidungsverzerrungen schlechter beherrscht werden (siehe auch die Fallstudien in North et al. 2013). Ganz ähnlich könnte dem Farmer aus dem Beispiel oben vielleicht geholfen wer­ den, wenn er Zugang zu einem funktionierenden Finanzmarkt hätte. Auch dann könn­ te er zwar einmal seine Ernte sofort konsumieren, anstatt einen Anteil davon für neues Saatgut zu sparen. Wenn er dann aber einen Kredit aufnimmt, um das Saatgut doch noch zu finanzieren, ist er später vertraglich zu regelmäßigen Rückzahlungen ver­ pflichtet und er hat einen Anreiz, diese Zahlungen auch zu leisten, um im nächsten Jahr wieder kreditwürdig zu sein. Verhaltensökonomisch gesprochen begibt er sich mit dem Abschluss eines Kreditvertrages in eine Entscheidungsarchitektur, in der das Selbstkontrollproblem zumindest reduziert wird. Man würde also nicht dazu raten, Hundertschaften von Verhaltensökonomen einzusetzen, um den im Randomized Con­ trolled Trial in der Kleingruppe erprobten Mechanismus nun auf der Ebene ganzer Gesellschaften einzusetzen. Stattdessen würde man empfehlen, die Voraussetzungen

112 | Jan Schnellenbach

für funktionierende Märkte zu etablieren, die von den Individuen dann selbst zur Lö­ sung ihrer Probleme genutzt werden können. Methodologische Probleme Deaton (2010) kritisierte am Ansatz der Randomized Controlled Trials im Kontext der Entwicklungsökonomik, dass diese Experimente oft ohne eine ausgefeilte theoreti­ sche Grundlage durchgeführt werden. Häufig sei der Ausgangspunkt eine ad hoc ge­ bildete Vermutung, wie etwa dass Frauen in lokalen Führungspositionen Dorfgemein­ schaften besser leiten als Männer. Diese wird dann einem empirischen Test unterzo­ gen. Wenn dann im Experiment beobachtet wird, dass eine eingesetzte Intervention scheinbar funktioniert, dann wisse man, so Deaton, häufig gar nicht wirklich, wieso das der Fall ist. Ebenso bleibt die Frage der externen Validität oft außen vor. Auch kritisiert Deaton, dass der größere institutionelle Kontext oft nicht gesehen wird. Ein Mechanismus bewährt sich in einem lokalen Experiment unter bestimm­ ten Bedingungen und wird dann exportiert. Dabei wird aber häufig nicht berücksich­ tigt, dass bereits bestehende institutionelle Rahmenbedingungen in anderen Ländern oder Regionen dazu führen könnten, dass der anderswo erfolgreiche Mechanismus hier nicht mehr funktioniert, oder sogar schädlich ist. Oliver Schmidt geht am Ende seines Papiers auch kurz darauf ein, dass die Politi­ sche Ökonomik in der verhaltensökonomisch orientierten Entwicklungspolitik bisher zu kurz kommt. Dem ist zweifellos zuzustimmen. Der Ansatz hat nicht nur, wie schon oben erwähnt, das Problem, dass er Ursachen von Entwicklungsproblemen vor allem auf der individuellen oder lokalen Ebene verortet. Er fragt darüber hinaus auch nicht, ob und unter welchen Umständen Regierungen in Entwicklungsländern einen Anreiz haben, eine konstruktive und wachstumsorientierte Politik zu betreiben. Ebenso fehlt bisher völlig eine Analyse der verhaltensökonomischen Probleme auf politischer Ebe­ ne, die eine langfristig effiziente Politik im Entwicklungskontext behindern könnten (Schnellenbach und Schubert 2015). Geht man vorurteilsfrei an die Forschungsfragen heran, dann scheint dies aber eigentlich die relevantere Fragestellung zu sein. Denn sicherlich liegen die größeren Entwicklungshemmnisse dann doch in der Politik und nicht in den Entscheidungs­ schwächen der Bürger. Allerdings sind diese Probleme natürlich der Analyse mit Feld­ experimenten weniger zugänglich. Experimentelle Entwicklungsökonomen können sich gut Zugang zu Dorfgemeinschaften verschaffen, aber sie werden kaum Feldex­ perimente mit Mitgliedern der Regierungen in Sub-Sahara-Afrika durchführen, oder ihnen sogar Vorschläge für effizientere Entscheidungsverfahren machen können. In­ sofern leidet das Forschungsprogramm bisher auch darunter, dass man nach politi­ schen Hebeln dort sucht, wo die gerade modische Methode ihr Licht hinwirft – aber nicht dort, wo es theoretisch sinnvoll wäre. Schließlich liegt aus normativer Perspektive auch den gewählten Zielgrößen nicht immer eine gründliche Wohlfahrtsanalyse zugrunde. Vielmehr scheint oft auch das erwünschte Ergebnis eines Randomized Controlled Trials einfach ad hoc festgelegt zu

Die Entwicklungsökonomik als Anwendungsfeld der Verhaltensökonomie | 113

sein. Wenn etwa die Sparquote erhöht werden soll, so scheint das auf den ersten Blick sinnvoll. Aber was, wenn die erhöhte Sparquote zulasten sinnvoller Konsumausga­ ben, etwa für Gesundheit und Bildung, geht? Solche nicht intendierten Nebeneffek­ te werden oft weder untersucht noch berichtet; wichtig ist nur, dass bei der ad hoc gewählten Zielgröße ein signifikanter Effekt nachgewiesen werden kann. Oder könn­ te nicht das Dünger-Experiment von Duflo et al. (2011) in der langen Frist, wenn die Experimentatoren längst abgereist sind, zur Etablierung einer sozialen Norm führen, die dann den Farmern sinnvolle Flexibilität raubt? Das Problem, dass der feldexperi­ mentelle Ansatz immer nur kurze empirische Schnappschüsse, aber kein großes Kino liefert, scheint für die politische Implementation erheblich, aber bisher zu wenig dis­ kutiert.

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Andreas Polk

Säkulare Stagnation in Europa? 1

Einführung | 117

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Der Begriff der säkularen Stagnation | 119 2.1 Historie, Hintergrund, Definition | 119 2.2 Mögliche Ursachen für säkulare Stagnation | 125 2.3 Kritische Stimmen zur Hypothese der säkularen Stagnation | 127

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Säkulare Stagnation in Europa? | 130 3.1 Die Eurozone | 131 3.2 Europäische Mitgliedstaaten | 132

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Wirtschaftspolitische Ansätze | 138 4.1 Der wirtschaftspolitische Baukasten | 138 4.2 Ordnungspolitik | 141

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Fazit | 145

1 Einführung Welche Wachstumsraten sind angemessen für moderne Volkswirtschaften? Muss es überhaupt Wachstum geben? Ähnliche Fragen werden häufig aus wachstumskriti­ schen, dem Kapitalismus eher distanziert gegenüberstehenden Denkströmungen for­ muliert.¹ Mit der Debatte um die säkulare Stagnation, ein Begriff, der 2013 maßgeblich von Larry Summers revitalisiert und auf aktuelle Umstände angewendet wurde (Sum­ mers 2014a, 2014b, 2015, 2018, 2019), erlangte das Thema quasi durch die Hintertür wieder allgemeineres, ein auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiertes Interesse. Die Kernfrage der Diskussion ist, ob sich die „entwickelten“ Volkswirtschaften dau­ erhaft hin zu einer Null- beziehungsweise Niedrigwachstumsökonomie hinbewegen, bei gleichzeitigen niedrigen oder negativen Realzinssätzen und geringer Inflation. Zugespitzt ließ sich auch fragen, ob wir uns langfristig von der Idee stetig wachsen­ der Volkswirtschaften mit angemessenen Wachstumsraten verabschieden müssen, und was überhaupt als „angemessenes“ Wirtschaftswachstum zu gelten hat. Sofern wir uns wirklich einer Phase säkularer Stagnation befinden, wäre auch fraglich, ob 1 Der Bericht des Club of Rome (Meadows 1972) und seine Nachfolgestudien waren für diese Diskus­ sion nach dem zweiten Weltkrieg sicherlich prägend. Anmerkung: Ich danke allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Radein Seminars 2019 für eine leb­ hafte Diskussion, insbesondere auch Heinz-Dieter Smeets für hilfreiche Anmerkungen und Nils Otter für zahlreiche Kommentare und Anmerkungen zu einer frühen Version dieses Beitrages. Mein beson­ derer Dank gilt den Organisatoren des Radein Seminars 2019, Martin Leschke und Nils Otter, für die Einladung zum Seminar und die offene und diskussionsfreudige Atmosphäre. https://doi.org/10.1515/9783110696745-005

118 | Andreas Polk

und in welcher Form die herkömmlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen über­ haupt noch greifen, und wie ein alternativer wirtschaftspolitischer Werkzeugkasten aussehen könnte. Die Diskussion um die säkulare Stagnation ist im Wesentlichen empirisch ge­ prägt. Zwar werden auch Modelle artikuliert, die explizit Fragestellungen zur sä­ kularen Stagnation thematisieren (Caballero et al. 2015; Eggertsson/Mehrotra 2014; Eggertsson et al. 2016), charakteristisch ist jedoch ihre positiv ausgerichtete Analyse. Damit unterscheidet sie sich auch deutlich von der eher normativ geführten Debatte über den Sinn und Zweck des wirtschaftlichen Wachstums, die üblicherweise vor dem Hintergrund endlicher (Umwelt-) Ressourcen geführt wird. Im Zentrum der These zur säkularen Stagnation steht die Frage, ob sich Volks­ wirtschaften wie die USA, aber auch die Europäische Union (oder wahlweise die Euro­ zone oder einzelne Mitgliedstaaten) in einer Phase dauerhafter Stagnation befinden, oder ob sich zurzeit lediglich eine vorübergehende, und damit als normal anzusehen­ de Wachstumsschwäche beobachten lässt. Sofern die Hypothese bejaht werden soll, würde sich die Frage nach der Notwendigkeit neuer wirtschaftspolitischer Ansätze stellen, da die herkömmlichen Maßnahmen zur Konjunktursteuerung in Zeiten der säkularen Stagnation zu verpuffen drohen. Dieser Themenkomplex wird allerdings durchaus kontrovers diskutiert.² Eine Gegenhypothese lautet, dass wir durchaus in „normalen“ Zeiten leben und es gegenwärtig mit temporären Sondererscheinungen in Folge der Finanzkrise zu tun haben (Lo/Rogoff 2015; Rogoff 2015). In dieser Diskussion spielt auch der Zeithorizont eine wesentliche Rolle, vor dem Entwicklungen als nor­ mal angesehen werden. Denn letztendlich macht es in wirtschaftspolitischer Hinsicht durchaus einen Unterschied, ob Situationen aus dem Blickwinkel beispielsweise der letzten dreißig Jahre betrachtet werden, oder über einen langen historischen Kontext von beispielsweise mehr als hundert Jahren hinweg (Gordon 2015; Acemoglu/Restre­ po 2017). Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, die Diskussion um die säkulare Stagnation darzu­ stellen und sie vor dem Hintergrund der verwendeten Begrifflichkeiten einzuordnen. Dabei wird deutlich, dass der Begriff der säkularen Stagnation keineswegs eng de­ finiert ist. So kreisen zwar alle wesentlichen Beiträge um die Frage niedrigen Wachs­ tums, allerdings setzen verschiedene Autoren unterschiedliche Schwerpunkte aus va­ riierenden Blickwinkeln. Anschließend diskutiert dieser Beitrag, ob die These der sä­ kularen Stagnation auch auf die europäischen Volkswirtschaften passt. Es wird sich zeigen, dass vor dem Hintergrund der europäischen Heterogenität eine eher distan­ zierte Sichtweise angemessen erscheint, es also fraglich erscheint, ob wir uns wirklich in einer Phase säkularer Stagnation befinden. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Notwendigkeit neuer wirtschaftspolitischer Doktrinen. Aus ordnungspolitischer Per­ spektive wird deutlich, dass auch unter Berücksichtigung klassischer wirtschaftspoli­

2 Vgl. die verschiedenen Diskussionbeiträge in Teulings/Baldwin (2014).

Säkulare Stagnation in Europa? |

119

tischer Maßnahmen noch Wachstumspotenziale realisierbar sind, die eine neue wirt­ schaftspolitische Doktrin zunächst als nicht zwingend notwendig erscheinen lassen. Dies bezieht sich einerseits auf die klassischen ordnungspolitischen Rahmenbedin­ gungen des Wirtschaftens, aber auch auf eine angemessene Verteilungs- und Nach­ fragepolitik.

2 Der Begriff der säkularen Stagnation Unter der „säkularen Stagnation“ versteht man keine Theorie oder Denkrichtung. Viel­ mehr ist sie als Hypothese über empirische Sachverhalte schon vor längerer Zeit for­ muliert worden.

2.1 Historie, Hintergrund, Definition Den Begriff der säkularen Stagnation prägte 1938 der damalige Präsident der Ame­ rican Economic Association, Alvin Hansen, der auch als Berater der Regierung des US-amerikanischen Präsidenten Roosevelt tätig war (Hansen 1939). Vor dem Hinter­ grund niedrigen Wachstums bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit formulierte er die Befürchtung, dass sich die US-amerikanische Wirtschaft in einer Phase dauerhaften niedrigen Wachstums befinde, aus der sie sich auch in Aufschwungphasen nicht nach­ haltig lösen könne. So formulierte Hansen in seiner Rede an die American Economic Association: Not until the problem of full employment of our productive resources from the long-run, secular standpoint was upon us, were we compelled to give serious consideration to those factors and forces in our economy which tend to make business recoveries weak and anaemic and which tend to prolong and deepen the course of depressions. This is the essence of secular stagnation – sick recoveries which die in their infancy and depressions which feed on themselves and leave a hard and seemingly immovable core of unemployment. (Hansen 1939: 4)

Der Begriff der säkularen Stagnation ist damit als Hypothese über ein dauerhaft nied­ riges Wachstum und hohe Arbeitslosigkeit formuliert. Ein wesentlicher Aspekt sind Hysterese-Effekte, die Hansen als sich selbst verstärkenden Abschwungphasen bei gleichzeitig schwachen Aufschwungphasen formuliert. Wie sich aus der Wirtschafts­ geschichte gezeigt hat, war diese Befürchtung falsch: Die amerikanische Volkswirt­ schaft hat mit und nach dem zweiten Weltkrieg ein langanhaltendes und dauerhaftes Wachstum realisieren können, das weit von dieser düsteren Prognose entfernt ist. Wiederbelebt wurde der Begriff der säkularen Stagnation im Jahre 2013/2014 von Larry Summers, der ihn zunächst auf einer IMF-Tagung verwendete und dann mit ei­ ner Rede vor der „National Association of Business Economics“ populär machte. Im Kern von Summers‘ Hypothese stehen zwei Elemente, die er durchaus als pathologi­

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sche Diagnose der amerikanischen Volkswirtschaft versteht, und die sich nach seiner Auffassung seit der Finanzkrise 2007 manifestieren: – Die These der säkularen Stagnation postuliert eine Outputlücke, also eine sub­ stanzielle Lücke zwischen dem tatsächlichen und dem potenziellen Bruttoin­ landsprodukt (BIP) der US-amerikanischen Volkswirtschaft. Das tatsächliche Wachstum bleibt damit dauerhaft unter dem eigentlich möglichen Wachstum. Als Konsequenz verharrt die US-amerikanische Volkswirtschaft langfristig unter ihrem eigentlichen Potenzial, die in der Volkswirtschaft vorhanden Ressourcen werden nicht effizient eingesetzt. – Das zweite Element der Hypothese der säkularen Stagnation betrifft das poten­ zielle Wachstum selbst. Nach dieser Sichtweise muss nach der Finanzkrise das Wachstum des potenziellen BIPs dauerhaft nach unten angepasst werden, d. h. die potenzielle Leistungsfähigkeit der US-amerikanischen Volkswirtschaft ist im Zuge der Finanzkrise gesunken. Wesentlich dabei ist, dass sich diese Revision bis heute fortsetzt, d. h. auch, nachdem die Wirtschaft die durch die Finanzkrise in­ duzierte Rezession überwunden hat. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die Wirtschaft selbst bei Vollauslastung aller Ressourcen – die aufgrund der Output­ lücke aber erst gar nicht erreicht wird – hinter dem zurückbleibt, was vor der Fi­ nanzkrise potenziell möglich gewesen wäre. Beide Aspekte – Outputlücke und das Sinken des Potenzials – sind Elemente der sä­ kularen Stagnation nach Summers. Damit nimmt er deutlichen Bezug zum von Han­ sen formulierten Hysterese-Effekt, da die Finanzkrise nach seiner Sichtweise nicht nur temporäre Wachstumsprobleme verursacht hat, sondern sich dauerhaft in Form eines gesunkenen Outputpotenzials niederschlägt. Abbildung 1 zeigt die Entwicklung von tatsächlichem und potenziellem Output der US-amerikanischen Wirtschaft seit Ausbruch der Finanzkrise. Die Grafik links ori­ entiert sich an den Abbildungen in Summers (2014a, 2014b) und aktualisiert die Da­ ten. Vertikal ist der Zeitpunkt seiner Diagnose markiert. Zunächst wird deutlich, dass die Prognosen zum potenziellen Output nach der Finanzkrise nach unten korrigiert wurden. Ob eine Outputlücke aber tatsächlich dauerhaft vorhanden ist, ist letztend­ lich Interpretationssache. So deuten die Entwicklungen der letzten Jahre darauf hin, dass sich die Outputlücke eher schließt. Die rechte Seite der Grafik stellt dieselben Daten etwas anders dar. Während auf der linken Seite die prognostizierten Wachs­ tumsraten zum potenziellen BIP an das reale BIP-Niveau von 2007 angelegt werden, legt die rechte Seite der Grafik die Entwicklung des potenziellen BIPs im Jahre sei­ ner Prognose an das jeweilige reale BIP des Jahres an. So dargestellt wird deutlich, dass sich die US-amerikanische Wirtschaft durchaus seit 2009 wieder im Rahmen ih­ res Potenzials entwickelt. Dies gilt allerdings nur, wenn man den Potenzialverlust im Zuge der Finanzkrise einmal nach unten korrigiert, also dauerhaft abschreibt. Ob sich die US-amerikanische Volkswirtschaft in einer dauerhaften Phase säkularer Stagnati­ on befindet, ist damit letztendlich Interpretationssache. Grundlegend bleibt: Zentral

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Abb. 1: Tatsächliches und potenzielles BIP in den Vereinigten Staaten (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Summers 2014a, 2014b). Erläuterung: Der Zeitpunkt von Summers‘ Diagnose: 1 Quartal 2014. Reales BIP in 2013 Dollars. Potenzielles BIP basierend auf prognostizierten Wachstumsraten von CBO Estimates, fortgeführt oben: vom realen BIP 2007; unten: von realen BIP im jeweiligen Jahr der Prognose.

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für die Hypothese der säkularen Stagnation ist ein schwaches Wachstum, über des­ sen Ausmaß und Existenz im Anschluss an seine Formulierung eine lebhafte Debatte entbrannt ist. Ein geringes (potenzielles) Outputwachstum allein ist jedoch auch nach Sum­ mers noch nicht charakterisierend für eine Phase säkularer Stagnation, da sich ein geringes Wirtschaftswachstum durch wirtschaftspolitische Maßnahmen, also expan­ sive Fiskal- oder Geldpolitik, beeinflussen lässt. Ein zentrales weiteres Element ist das Konzept des natürlichen Zinssatzes. Der Zinssatz ist die Größe, die Investitions- und Spartätigkeit miteinander ausgleicht. Der natürliche Zins ist definiert als der Zinssatz, der Investitions- und Spartätigkeit so ausgleicht, dass die Volkswirtschaft bei Vollbe­ schäftigung ohne Inflationsdruck ihr volles Potenzial entfalten kann (Laubach/Wil­ liams 2016). Er ist ein theoretisches Konstrukt, da der real beobachtbare Zinssatz über oder unter diesem hypothetischen Vollbeschäftigungszinssatz liegen kann. Üblicherweise stehen Zinssenkungen, genauer gesagt Senkungen des Nominal­ zinses, als wirtschaftspolitisches Instrumentarium im Zuge der Geldpolitik zur Ver­ fügung. Ist dieser nahe oder gleich Null, kann er nicht weiter gesenkt werden („zero lower bound“, ZLB). In diesem Fall ist eine Realzinssenkung nur über eine höhere Inflation erreichbar. Dies führt zu mindestens zwei Problembereichen. Erstens ist es möglich, dass die expansive Geldpolitik im Sinne der keynesianischen Liquiditäts­ falle wirkungslos wird und damit ihre Effektivität verliert. Die zweite Implikation ist zentral für die Argumentation Summers, sie geht über die Diagnose Hansens hinaus: Sofern es möglich ist, den Realzins bei gegebenem Nominalzins durch eine höhere Inflation weiter zu senken (und negativ werden zu lassen), hat dies Implikationen für die Stabilität der Finanzmärkte. Nach Ansicht von Summers steigt in diesem Fall die Bereitschaft zur Risikoübernahme bei Investoren, weil die Finanzierung von risiko­ behafteten Vorhaben mit geringen Opportunitätskosten einhergeht. Zudem mangelt es Anlegern an attraktiven Substituten auf den Anlagemärkten, so dass sie eher be­ reit sind, auch bei niedrigen Zinsen in riskante Anlageformen zu investieren. Im Zuge einer solchen Nullzins- oder Niedrigzinsphase wird der Finanzmarkt zunehmend in­ stabil. Dies wird dadurch verstärkt, dass Ponzi-Anlageformen, also Anlageformen, in denen heutige Auszahlungen auf Wetten morgiger Rückläufe beruhen, zunehmend attraktiver werden. Solche Wetten auf die Zukunft können für den Fall eines späteren Zinsanstiegs möglicherweise nicht mehr eingelöst werden, das System ist insgesamt dem Risiko eines Zusammenbruchs ausgesetzt, die Finanzmarktinstabilität steigt. Beispielhaft zeigt Abbildung 2 die Entwicklung der Zinsen für inflationsabgesi­ cherte zehn Jahres Anleihen in den USA. Da diese Anleihen die Erwartungshaltung der Individuen über zukünftige Zinsentwicklungen widerspiegeln, bieten sie einen verlässlicheren Eindruck über die Dauerhaftigkeit der gegenwärtigen Niedrigzinspha­ se als dies Spotpreise tun würden. Auch hier zeigt sich, dass sich die US-amerikani­ sche Wirtschaft spätestens mit dem Ausbruch der Finanzkrise hin zu einem Zustand niedriger Zinsen entwickelt hat, die sich seit 2014 aber wieder leicht erholen und nun knapp positiv sind. Zum Zeitpunkt Summers‘ Diagnose war tatsächlich eine Tendenz

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Abb. 2: Entwicklung der Zinsen (Quelle: Federal Reserve). Erläuterung: Oben: Zinssatz für zehnjährige inflationsgeschützte Wertpapiere des Treasury, kon­ stante Fälligkeit („10-Year Treasury Inflation-Indexed Security, Constant Maturity“). Unten: Zinssatz auf Überschussreserven von Banken (IOER; blau), und der effektive Leitzins (Federal Funds Rate; rot).

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zu niedrigen oder negativen Realzinsen vielleicht stärker zu erkennen als jetzt. Auf der rechten Seite werden die Entwicklungen des Leitzinssatzes und die des Zinssatzes für Überschussreserven dargestellt. Auch hier zeigt sich eine leichte Erholung in den letzten Jahren. Summers hat damit seine Idee der säkularen Stagnation zu Hansen um den Aspekt der Finanzmarktstabilität erweitert, so dass sie das tatsächliche Wachstum, das potenzielle Wachstum und ein hohes Maß an Finanzmarktstabilität beinhaltet, die – die Existenz einer Phase säkularer Stagnation überhaupt vorausgesetzt – ge­ meinsam nicht zu erreichen sind:³ „[. . . ] simultaneous achievement of adequate growth, capacity utilization, and financial stability appears increasingly difficult [. . . ]“. (Summers 2014a: 66)

Der Vorstoß von Summers führte zu einer lebhaften Debatte, die im Wesentlichen um die Frage kreiste, ob seine Diagnose richtig ist, und – falls ja – welche wirtschaftspo­ litischen Implikationen dies mit sich bringe. Zu den Autoren, die der Hypothese der säkularen Stagnation eher kritisch gegenüberstehen, gehören beispielsweise Lo und Rogoff (2015) und Rogoff (2015), auf deren Argumente noch zu einem späteren Zeit­ punkt eingegangen wird. Beispielhaft sei an dieser Stelle auch der kritische Beitrag von Crafts (2014) aufgeführt, der durchaus in Frage stellt, ob die Diskussion um säku­ lare Stagnation nicht eher dem Charakter einer eingebildeten Krankheit entspricht. Gleichzeitig weist er auf die Unterschiedlichkeit der industrialisierten Staaten hin, in­ dem er insbesondere Europa als möglichen Kandidaten identifiziert: The rediscovery of secular stagnation [. . . ] could well turn out to be hypochondria rather than far-sighted prediction. [. . . ] [I]t is not obvious why an economy with a steady-state growth rate of more than 2 percent per year should have a permanent shortfall in demand or a need for a permanent negative real rate of interest. [. . . ] However, the threat of secular stagnation may be much more real for Europe. (Crafts 2014: 92–93)

Bevor der nächste Abschnitt auf Ursachen und Gründe für das Auftreten der säkula­ ren Stagnation eingeht, schließt dieser Abschnitt mit der folgenden Arbeitsdefinition nach Teulings und Baldwin (2014) zum Begriff der säkularen Stagnation, zu dem bei Bedarf noch der Aspekt der Finanzmarktinstabilität hinzuzufügen ist: A workable definition for secular stagnation is that negative real interest rates are needed to equate saving and investment with full employment. As such, secular stagnation raises the li­ kelihood that full employment cannot be achieved because low inflation and the ZLB on nominal interest rates keep real rates firmly positive. (Teulings/Baldwin 2014: 2) 3 Auch wenn wir erst im nächsten Unterabschnitt auf die möglichen Ursachen für die säkulare Stagna­ tion eingehen, sei an dieser Stelle eine alternative Formulierung dieser Hypothese aufgeführt, denn zentral für die Analyse ist ja zu verstehen, welche Faktoren diesen Zustand herbeiführen, worin die Ursache für die säkulare Stagnation also liegt. An einer anderen Stelle im selben Beitrag formuliert er den Zustand der säkularen Stagnation in Anlehnung an Say als „Umgekehrtes Say’sches Gesetz“: „Lack of demand creates lack of supply“ (Summers 2014a).

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2.2 Mögliche Ursachen für säkulare Stagnation Die Literatur diskutiert verschiedene Gründe für ein möglicherweise dauerhaftes ge­ ringes Wachstum. Im Zentrum der Argumentation steht die Identität von Investitionsund Sparaufkommen, für die der Zinssatz als zentraler Koordinationsmechanismus die Rolle des Preises einnimmt. Ein dauerhafter Druck auf den Zins kann entweder durch einen lang anhaltenden Trend zu einem hohen Sparaufkommen oder einer zu geringen Investitionstätigkeit erklärt werden. Autoren machen mögliche Ursachen für die säkulare Stagnation an dieser Identität fest. Verschiedene Autoren thematisieren die demografische Entwicklung als langfris­ tigen ursächlichen Trend für säkulare Stagnation (Gordon 2014; Jimeno et al. 2014; Krugman 2014). Die Überalterung der Gesellschaft, durch die viele Industrieländern gekennzeichnet sind, führt zum einen dazu, dass die Sparquoten beziehungsweise das Sparaufkommen steigen, da die Individuen im Sinne der Lebenseinkommenshy­ pothese höhere Beträge für ein länger andauerndes Rentenalter zurücklegen.⁴ Dieser Aspekt wird zusätzlich durch eine geringere Partizipationsrate am Arbeitsmarkt in sol­ chen Volkswirtschaften verstärkt, in denen das Renteneintrittsalter in der Vergangen­ heit gesunken ist. In diesem Falle verstärkt sich der demografische Effekt, weil das für das Rentenalter anzusparende Vermögen in einem kürzeren Zeitraum erspart werden muss und die Spartätigkeit insgesamt zunimmt. Mit diesem Aspekt verwandt ist die Idee, dass sich das Sparverhalten auch in struktureller Hinsicht verändert. Mit der Finanzkrise haben die Individuen gelernt, dass die Finanzmärkte instabil sein können, und sie haben eine stärkere Präferenz für sichere Anlageformen entwickelt. Als sicher gelten Staatsanleihen von Ländern, die als politisch stabil erscheinen, also häufig genau von den Ländern, um die die Diskus­ sion um die säkulare Stagnation kreist. Die gestiegene Nachfrage nach den sicheren Anlageformen dieser Länder führt zu einem Sinken des Zinses. Dieses Phänomen wird zusätzlich durch ein gleichzeitig sinkendes Angebot dieser Anlageformen verstärkt, da sich zum einen der Kreis der als sicher geltenden Länder im Zuge der Finanz- und Eurokrise verringert hat, und zum anderen auch die Möglichkeiten zur Absicherung von Anleihen “Asset-Backed-Securities“ (ABS) in Verruf geraten ist. Die Neigung zum Sparen wird durch eine gesunkene Konsumnachfrage flankiert, für die es unterschiedliche Ursachen gibt. Zum einen führt eine zunehmende Un­ gleichheit zu einem sinkenden Konsum, da die Haushalte mit hohen Einkommen eine geringere Konsumquote aufweisen (Glaeser 2014; Gordon 2015; Summers 2014). Allerdings ist der Sachverhalt umstritten, ob die Ungleichverteilung der Einkommen tatsächlich zugenommen hat. Dies ist zum einen länderspezifisch, zum anderen hängt

4 Dies bedeutet nicht, dass das Sparaufkommen der Individuen angesichts gestiegener Lebenserwar­ tungen ausreichend ist. Für die Begründung der säkularen Stagnation reicht es aus, dass die Indivi­ duen einen Trend zu gesteigertem Sparverhalten zeigen, auch wenn das Ausmaß des individuellen Sparens dennoch möglicherweise zu gering sein mag.

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die Aussage über eine mögliche Zunahme der Ungleichheit vom verwendeten Gleich­ heitsmaß ab. Eine generelle Aussage ist daher mit Vorsicht zu treffen, in Hinblick auf einzelne Länder aber durchaus lohnenswert. Auf der anderen Seite wird von Autoren die sinkende Konsumnachfrage in den Zusammenhang mit staatlicher Aktivität ge­ setzt, beispielsweise über die Anreizwirkung der Steuergesetzgebung (Glaeser 2014). Auch führt eine höhere Staatsverschuldung im Zuge der Finanzkrise zu gesunkenen Investitions- und Konsumausgaben, sofern die Staaten und Private versuchen ihre Finanzen zu konsolidieren (Gordon 2014; Rogoff 2014; Lo und Rogoff 2015). Bei den Privaten führt dies zu einem geringeren Konsum, und sofern die Konsolidierung bei Staaten nicht über eine Ausgabensenkung, sondern über eine Erhöhung der Ein­ nahmen angestrebt wird, führen steigende Steuern und Abgaben zu einer höheren Belastung der Haushalte, was den Konsum Privater ebenfalls einschränkt. Ein weiterer möglicher Grund für eine Verschiebung des IS-Gleichgewichts ist ein verändertes Investitionsverhalten (Eichengreen 2015; Gordon 2014; Krugman 2014). Einige Autoren stellen einen Mangel an Investitionen in Infrastruktur fest. Dies wirkt in der kurzen Frist negativ auf das Gütermarktgleichgewicht (im Sinne einer Verschie­ bung des Gütermarktgleichgewichts hin zu negativen Realzinsen), weil fehlende In­ frastrukturinvestitionen nachfragedämpfend wirken. Zusätzlich zu diesem kurzfristi­ gen Effekt führen ausbleibende Investitionen in Produktivkapital zu einer geringeren Faktorproduktivität, was langfristig negative Auswirkungen auf Output und Einkom­ men hat. Hier wird der zirkuläre Trend, von dem bereits Hansen (1939) sprach, beson­ ders deutlich. Eine geringe Nachfrage durch ausbleibende Investitionen verstärkt sich selbst und führt zu dem bereits zitierten „blutleeren“ Wirtschaftskreislauf. Ein weiterer Erklärungsansatz für die geringe Investitionsnachfrage besteht in veränderten Wachstumstreibern im Zuge der Digitalisierung. Das gegenwärtige Wachstum wird in den USA stark durch Unternehmen aus der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) generiert. Diese Unternehmen arbeiten im Ver­ gleich zu anderen, eher traditionellen Unternehmen, mit einer deutlich geringeren Kapitalausstattung. Auch traditionelle Unternehmen investieren zwar vermehrt in den technologischen Wandel, insgesamt ist der Strukturwandel im Zuge der Digi­ talisierung aber durch einen geringeren Bedarf an Kapitaleinsatz gekennzeichnet. Der technologische Wandel trägt damit zur schwach ausgeprägten Nachfrage nach Kapitalgütern bei, was sich negativ auf die Investitionsnachfrage auswirkt. Dieser Aspekt wird durch sinkende Preise für Kapitalgüter verstärkt. So zeigt Eichengreen (2015), dass die qualitätsbereinigten relativen Preise für Kapitalgüter seit den 1950er Jahren um 75 Prozent gesunken sind. Beide Effekte, die geringere Nachfrage und die sinkenden relativen Preise, sind komplementär und führen zu insgesamt sinkenden Investitionsausgaben. An dieser Stelle soll in einem kleinen Einwurf der eingangs hergestellte Bezug zwischen der Debatte um die säkulare Stagnation und dem wachstumskritischen Den­ ken wieder aufgenommen werden. Mit Blick auf das Argument niedrigeren Kapitalbe­ darfs wird deutlich, wie stark die Diskussion um die säkulare Stagnation empirisch/

Säkulare Stagnation in Europa? |

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deskriptiv geführt wird. Normative Fragestellungen scheinen höchstens dann durch, wenn in der Sorge um niedriges Wirtschaftswachstum die Folgen in Hinblick auf Ar­ beitslosigkeit, Armut und Ungleichverteilung mitschwingt. In Hinblick auf die gesun­ kene Konsumneigung und die geringeren Investitionsausgaben durch den technolo­ gischen Wandel ist allerdings auch zu hinterfragen, welchen Zweck das Wirtschaften und Wachstum erfüllt. Wenn technologischer Fortschritt dazu führt, dass wachstums­ starke Industrien mit weniger Kapital und Ressourceneinsatz auskommen, ist dies aus normativer Sicht zunächst ein begrüßenswerter Aspekt, der vor dem Hintergrund der induzierten Nachfrageschwäche dann „problematisiert“ wird. Ein Bezug zwischen der Diskussion um die säkulare Stagnation und dem wachstumskritischen Denken lässt sich also durchaus herstellen. Damit ließe sich auch fragen, ob es nicht angemes­ sen erscheint, in wirtschaftspolitischer Hinsicht nicht nur eine Diskussion über einen möglichen Ausgleich potenzieller Nachfrageschwächen zu führen, sondern eine Dis­ kussion darüber, wie sich die vorhandenen Produktionsfaktoren bei sinkender Nach­ frage so allozieren lassen, dass Einkommenswachstum und Verteilungsgerechtigkeit erreicht werden. Diese Diskussion kann um die Zukunft der Arbeit kreisen, aber auch um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit oder eine adäquate Ausgestaltung des Sozial­ staats.⁵

2.3 Kritische Stimmen zur Hypothese der säkularen Stagnation Die säkulare Stagnation ist als Hypothese zur Erklärung der gegenwärtigen Trends in Hinblick auf Wirtschaftswachstum, Zinsen und Inflation formuliert. Wie die Ab­ bildungen 1 und 2 zeigen, besteht durchaus Interpretationsspielraum der Datenlage. Verschiedene Autoren stellen daher den Erklärungsansatz der säkularen Stagnation in Frage, insbesondere was die Dauerhaftigkeit der prognostizierten Entwicklung an­ geht. Dabei spielt auch eine Rolle, ob die vorgelegten Trends nach einer neu ausge­ richteten Wirtschaftspolitik verlangen, oder ob sie sich mit herkömmlichen Mitteln adressieren lassen. Prominente Kritiker an der These zur säkularen Stagnation sind Lo und Rogoff (2015) und Rogoff (2015). Nach Ihrer Sichtweise befindet sich die US-amerikanische Wirtschaft nicht in einem Zustand säkularer Stagnation, vielmehr reflektiert die ge­ genwärtige Wachstumsschwäche gepaart mit niedrigen Zinsen die langfristigen Aus­ wirkungen der Finanzkrise. Zentral für diese Argumentation ist ein Wirkungsme­ chanismus, der Auswirkungen der Finanzmarktkrise auf die Realwirtschaft abbildet. Nach Ihrer Sicht führt die Finanzkrise und das Anhäufen von Schulden zu einer Re­ aktion der Akteure nach Abklingen der Krise, indem sie die aufgehäuften Schulden wieder abbauen. Staaten tun dies beispielsweise im Sinne einer Austeritätspolitik 5 Ein früher Diskussionsbetrag zu diesem Themenkomplex ist Rifkin (1997). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen einordnen.

128 | Andreas Polk

durch kontraktive Fiskalpolitik, aber auch durch Steuererhöhungen, um die Haushal­ te zu konsolidieren. Private bauen Schulden ab, indem sie mehr sparen und weniger konsumieren, und Unternehmen zeigen ein zurückhaltendes Investitionsverhalten. Letztendlich wirken sich alle Effekte gleich auf die Realwirtschaft auf: Sie führen zu ei­ ner schwachen Nachfrage, was die gegenwärtigen Trends erklärt. Zyklen des Auf- und Abbaus von Schulden können langfristig wirken, weshalb die Autoren von „Superzy­ klen“ sprechen („debt super cycles“). Interessant ist an dieser Argumentation, dass sie den unter Abschnitt 2.2 diskutierten ökonomischen Fakten nicht widerspricht. Der Unterschied liegt allerdings in der Bewertung hinsichtlich ihrer Dauerhaftigkeit. Während die säkulare Stagnation langfristig wirkende (und aus sich heraus nichtumkehrbare) Trends postuliert, die letztendlich zu Gleichgewichten bei niedrigem Wachstum und Unterbeschäftigung führen können und daher ein Gegensteuern er­ fordern, deuten Lo und Rogoff auf die Tugend der Geduld. Wenn die gegenwärtige Wachstumsschwäche auf Schuldenabbau beruht, befindet sich die Volkswirtschaft gegenwärtig nicht im Gleichgewicht. Durch das Wirken der Marktkräfte ist mit einer Umkehr dieses Trends zu rechnen, wenn sich Private und Staaten weitgehend konsoli­ diert haben oder zumindest wieder optimistischeres Nachfrageverhalten zeigen. Es ist daher zu erwarten, dass sich mit Abbau der Schulden von alleine wieder eine stärkere Nachfrage einstellen wird. Eine neue wirtschaftspolitische Doktrin ist damit nicht notwendig. Durchaus Einklang mit Summers‘ Sichtweise besteht in der Betonung der Rolle der Finanzmärkte. Wenn diese für die lang anhaltende, aber nicht säkula­ re, Wachstumsschwäche verantwortlich sind, wäre eine geeignete Wirtschaftspolitik eher die, die sich auf die Stabilisierung der Finanzmärkte und auf die Konsolidierung der öffentlichen und privaten Haushalte konzentriert. Bernanke (2015) fokussiert in seiner Replik zur These der säkularen Stagnation auf globale Zusammenhänge. Er postuliert, dass negative Realzinsen nicht dauerhaft auftreten können, da das hohe Maß an globaler Kapitalmobilität die Finanzströme zu rentablen Anlageformen umleitet. Da negative Realzinsen nicht weltweit zu beob­ achten sind, kann sich dieser Trend nicht dauerhaft in den Industriestaaten festset­ zen. Zudem würden dauerhaft niedrige Nullzinsen in der Konsequenz bedeuten, dass auch Investitionsvorhaben mit absurd niedrigen Zinserträgen noch als lohnenswert erscheinen. Ein solcher Zustand der Ökonomie ist dauerhaft nicht sehr wahrschein­ lich. Zuletzt wird die These der säkularen Stagnation aus historischer Perspektive kri­ tisch hinterfragt. Im Zentrum dieser Arbeiten steht die Frage, was sich aus wirtschafts­ historischer Sicht über die gegenwärtige Zeit lernen lässt. Dieser Ansatz lässt sich als Suche nach dem historisch „Normalen“ bezeichnen. Er hat zum Gegenstand, langfris­ tig wirkende Trends zu identifizieren und Phasen, die über sehr lange Zeiträume auf­ treten, zu identifizieren. Durch die Erweiterung des Zeithorizonts wird es möglich zu untersuchen, ob die als anormal erscheinenden gegenwärtigen Trends nicht eigent­ lich langfristig wiederkehrende Zyklen sind.

Säkulare Stagnation in Europa?

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129

Dabei sind zwei Trends, die als Erklärungsmechanismus zur säkularen Stagnation herangezogen werden, tatsächlich lang andauernd. Nicht überraschend ist zum einen die demografische Entwicklung mit dem Trend zur Alterung von Gesellschaften. Über einen Zeitraum von 1950 bis heute analysieren Acemoglu und Restrepo (2017) den zu­ nehmenden Anteil der über 50-jährigen im Verhältnis zu der Population der 20 bis 49-jährigen. Diese Entwicklung gilt für die OECD-Länder als auch global. Die Entwick­ lung zeigt, dass der Anteil der älteren Bevölkerung bis kurz vor der Jahrtausendwende recht konstant blieb (von einem Anstieg in den Nachkriegsjahren abgesehen), seitdem aber deutlich ansteigt. Dies gilt insbesondere für die Prognose der OECD-Länder bis 2050, die einen Anstieg um circa 50 Prozent vorhersagt. Für die anderen Länder ver­ doppelt sich dieser Anteil sogar, allerdings von einem niedrigeren Niveau ausgehend. Ein weiterer langfristiger Trend besteht im Sinken des relativen Preises für Kapitalgü­ ter (Eichengreen 2015; IMF 2019: Kap. 3). Ab 1950 hat sich der relative Preis für quali­ tätsbereinigte Kapitalgüter in 30 Jahren ungefähr halbiert, so dass der relative Preis­ index für Kapitalgüter heute nur noch circa 25 Prozent des Wertes von 1950 ausmacht. Dies führt zu der bereits diskutierten dauerhaft sinkenden Investitionsnachfrage. Zwei weitere Aspekte, die gemeinhin der säkularen Stagnation zugeschrieben werden, lassen sich aus wirtschaftshistorischer Perspektive jedoch nicht als dauer­ hafte Trends identifizieren. So argumentiert Eichengreen (2015), dass die gegenwärti­ ge Phase niedriger Zinsen nicht ungewöhnlich ist. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die Hochzinsphase, die sich in Hinblick auf die Nominalzinsentwicklung in den USA im Wesentlichen nach dem zweiten Weltkrieg eingestellte und in den Achtzigerjah­ ren ihren Höhepunkt erlebte, als Besonderheit anzusehen ist, während im Zeitraum von 1800 an bis heute Nominalzinsen zwischen zwei und sieben Prozent durchaus als normal anzusehen sind. Auch wenn die gegenwärtige Phase sehr niedriger No­ minalzinsen (nahe Null) damit eine Besonderheit darstellt, erscheint dies vor der historischen Einordnung eher als temporärer Ausschlag denn als langfristiger Trend. Der Realzins unterlag in dieser langen Zeitspanne regelmäßig starken Schwankun­ gen, wobei die Phasen stark negativer Realzinsen im Wesentlichen in den beiden Weltkriegen auftraten. Gordon (2015) identifiziert zentrale makroökonomische Kenngrößen in der langen Frist ab der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Er identifiziert vier Phasen unter­ schiedlichen Produktivitätswachstums in den USA. Das gegenwärtig niedrige Wachs­ tum der totalen Faktorproduktivität (und das damit einhergehende geringe realwirt­ schaftliche Wachstum) ist zwar gegenüber der Periode 1996–2004 auffällig, nicht aber im Vergleich zum Zeitraum 1972–1996. Der Unterschied besteht heute jedoch in einem relativ moderaten Wachstum der geleisteten Arbeit, und hier insbesondere im unter­ schiedlichen Wachstum der geleisteten Arbeitsstunden. Während diese zwischen 1972 und 1996 im Durchschnitt mit einer Rate von 1.63 Prozent wuchs, ist es in der gegen­ wärtigen Periode auf durchschnittlich 0.36 Prozent gesunken. Dies bedeutet, dass sich das starke Wachstum des realen BIPs seit 1972 in zwei Phasen unterteilt, zum einen ge­ trieben von einem hohen Wachstum der geleisteten Arbeitsstunden (1972–1996), da­

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nach von einem hohen Anstieg der Faktorproduktivität im Zuge der Digitalisierung (1996–2004). Beide Effekte sind jetzt, was das gegenwärtig niedrige Wachstum erklärt. Es lässt sich auf eine geringere Arbeitsproduktivität zurückführen, aber auch auf ein geringeres Wachstum der geleisteten Arbeit insgesamt. So erhellend die wirtschaftshistorische Perspektive auch ist, so ist Vorsicht ge­ boten in Hinblick auf vereinfachende Schlussfolgerungen. Erstens wirkt eine mehrere Jahre umfassende Zinsentwicklung, wie auch immer ausgestaltet, vor einem Zeitraum von über zweihundert Jahren per Definition als marginal. Das nimmt ihr aber nicht die wirtschaftspolitische Relevanz. Man sollte also vorsichtig sein, allein aus diesem sehr langfristigen Blickwinkel heraus Entwarnung zu geben. Zweitens zeigt auch die Realzinsentwicklung, dass eine Niedrigzinsphase wie die gegenwärtige eher selten auftritt oder besonderen Umständen geschuldet ist. Sofern von Phasen negativer Zin­ sen im Zuge der beiden Weltkriege abstrahiert wird, zeigt sich, dass die gegenwärtige Niedrigzinsentwicklung auch im langfristigen Horizont durchaus bemerkenswert ist, auch wenn sie kein singuläres Ereignis darstellt. In Hinblick auf die unterschiedlichen Entwicklungen der Faktorproduktivität ist anzumerken, dass die Periode eines hohen TFP-Wachstums bei gleichzeitig hohem realwirtschaftlichem Wachstum nur neun Jah­ re umfasst, während die Phase davor sich auf 25 Jahre bezieht (Gordon 2015). Insofern ist dem Argument zu folgen, dass die relativ kurze Phase des hohen TFP-Wachstums in den Nullerjahren eine Besonderheit nach dem zweiten Weltkrieg darstellt, wäh­ rend die Phase des eher geringen aktuellen Wachstums der totalen Faktorproduktivi­ tät dem Normalen entspricht. Das hohe Wirtschaftswachstum in den Siebzigerjahren beruhte demnach hauptsächlich auf dem Wachstum des Arbeitseinsatzes. Letztend­ lich lässt sich somit der demografische Trend als ursächlich für das gegenwärtig nied­ rige Wachstum interpretieren, womit die Analyse wieder zur Ausgangshypothese der säkularen Stagnation führt, die genau dies als langfristigen Trend postuliert.

3 Säkulare Stagnation in Europa? Die Debatte um die säkulare Stagnation richtete sich bald auch auf Europa (Teulings/ Baldwin 2014). Zusätzlich zur Diskussion um die Fakten ist auch der Gegenstand der Hypothese zu präzisieren, d. h. es ist zu klären, welche Länder überhaupt unter dem Begriff „Europa“ zusammengefasst werden sollten, und ob für alle Länder die gleiche Diagnose angemessen ist. Da die Debatte zentral um die Geldpolitik kreist, erscheint die Zusammenfassung aller Mitgliedstaaten der EU als wenig zielführend, da sie nicht über einen einheitlichen Währungsraum verfügen. Damit kommt zum einem die Eu­ rozone in Betracht, sofern der Fokus auf der einheitlichen Geld- und Währungspolitik liegt. Zum anderen erscheint ein Blick auf die einzelnen Mitgliedsländer zielführend, da die Länder der Eurozone nicht nur individuelle Fiskalpolitiken durchführen, son­ dern auch über individuelle, d. h. länderspezifische Ordnungsrahmen charakterisiert

Säkulare Stagnation in Europa?

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131

sind. Es wird deutlich werden, dass aufgrund der Heterogenität der Länder und ihrer Ordnungsrahmen eine alleinige Ausrichtung der Diskussion um die säkulare Stagna­ tion an der Eurozone wenig zielführend erscheint.

3.1 Die Eurozone Betrachtet man die Eurozone als Ganzes, ergibt sich zunächst ein ähnliches Bild wie für die Vereinigten Staaten. Zur Frage, ob die säkulare Stagnation auch ein europäi­ sches Thema ist, kommt beispielsweise Crafts zu dem Schluss: [T]he risks of secular stagnation are much greater in depressed Eurozone economies than in the US, due to less favourable demographics, lower productivity growth, the burden of fiscal conso­ lidation, and the ECB’s strict focus on low inflation. (Crafts 2014: 91)

Zum einen sind die Prognosen für das potenzielle Wachstum seit der Finanzkrise im­ mer wieder gesenkt worden, so dass sich der Einbruch im Zuge der Finanzkrise als verselbstständigender Abschwung charakterisieren lässt. Zum anderen besteht auch in Hinblick auf die gegenwärtigen Prognosen eine Lücke zwischen dem potenziellen und dem tatsächlichen Wachstum (Summers 2014b). Allerdings wurden die Aussagen von Summers aus der Perspektive des Jahres 2014 gemacht, also dem Jahr, in dem der Begriff der säkularen Stagnation eine Wiederbelebung erfuhr. Betrachtet man die Da­ ten zu den Outputlücken der letzten Jahre und ihre Prognosen (Abbildung 3), zeigt sich ein differenziertes Bild: Während die Eurozone insgesamt und einzelne Länder 5

0 2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

2020

‐5

‐10

‐15

‐20

Euro area (17) France Germany Ireland Italy Spain Greece

Abb. 3: Geschätzte und prognostizierte Entwicklung des Outputgaps für ausgewählte Länder und die Eurozone (Euro-17) (Quelle: OECD Economic Outlook 104, 2018).

132 | Andreas Polk

(Deutschland, Frankreich, Irland) nur geringe Abweichungen vom BIP-Potenzial auf­ weisen und Italien und Spanien sich an das Potenzial über die Zeit annähern, ist die Lücke für Griechenland sehr ausgeprägt. Der Teil der säkularen Stagnationshypothe­ se, der die Outputlücke thematisiert, gilt zumindest für einige Staaten der Eurozone und auch seit 2016 für die gesamte Eurozone nicht. Damit ist jedoch keine Aussage über das Sinken des potenziellen Wachstums an sich getroffen, was sich anhand der verfügbaren Daten nicht ablesen lässt.

3.2 Europäische Mitgliedstaaten Es ist zu vereinfachend, von der Eurozone als homogene Einheit auszugehen. Das his­ torische Nord-Süd-Gefälle in der EU spiegelt sich in wirtschaftspolitischer Hinsicht auch in der Diskussion um die säkulare Stagnation wider. Die Länder aus „dem Nor­ den“ (Deutschland, Frankreich, Benelux-Länder) unterstützten die ins Strudeln gera­ tenen Länder aus „dem Süden“ durch Kreditvergabe, allen voran Griechenland, Spa­ nien und Portugal. Sie diente dazu, den Konsum dort aufrecht zu erhalten, was letzt­ endlich den exportorientierten Branchen des Nordens zugutekam. So diagnostiziert Summers: [I]n retrospect it is clear that much of the strength of the economies of the periphery prior to 2010 was based on the availability of inappropriately cheap credit, and that much of the strength of the economies of Northern Europe was derived from exports that were financed in unsustainable ways. (Summers 2014b: 31)

Neben diesem strukturellen Aspekt der wirtschaftspolitischen Maßnahmen im Zuge der Eurorettung spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass die Volkswirtschaften der Eu­ ropäischen Union, und damit auch der Eurozone, recht heterogen sind. Grob gespro­ chen lässt sie sich in einen historisch gewachsenen Kern solider Volkswirtschaften im Nordwesten der EU ausmachen, die im Wesentlichen aus den Gründungsländern der EU und frühen Mitgliedsländern besteht (EU-9), sowie den Beitrittsländern zur EU-15 Runde (Österreich, Schweden, Finnland). Auf der anderen Seite stehen zwei Länder­ gruppen, zum einen die südlichen Länder Griechenland, Portugal und Spanien, sowie die im Zuge der Osterweiterung aufgenommenen Transformationsstaaten. Selbst die­ se Einteilung ist mit Vorsicht zu verwenden, denn auch innerhalb der Gruppen ist das Bild durchaus heterogen. So entfernt sich beispielsweise das Gründungsmitglied Ita­ lien immer weiter weg von den starken Ländern des Nordens. Von den Staaten der EU-Osterweiterung haben bisher lediglich die baltischen Staaten, Slowenien und die Slowakei den Euro eingeführt, während die anderen Ländern über eigene Währungen mit freien oder fixen Wechselkurse zum Euro verfügen. Grundsätzliche Aussagen sind allein aus dieser Unterschiedlichkeit heraus mit Vorsicht zu genießen. Dennoch ist eine gewisse Einordnung der Länder aufgrund bestimmter Merkma­ le in Gruppen hilfreich. Um die unterschiedliche Ausgestaltung der Volkswirtschaf­

Säkulare Stagnation in Europa? |

133

ten vor allem in Hinblick auf das Nord-Süd-Gefälle darzustellen, aber auch um Un­ terschiede innerhalb dieser Gruppen zu verdeutlichen, werden im Folgenden einige Kennzahlen für ausgesuchte Volkswirtschaften der Eurozone dargestellt. Dabei ste­ hen Deutschland und Frankreich beispielhaft für die relativ starken Länder der Euro­ zone, auch wenn beide nicht frei von ökonomischer Sklerose sind (Olson 1982). Aus der Gruppe der südlichen Länder ist Griechenland von besonderer Bedeutung, aber auch Spanien, das deutlich besser aus der Eurokrise herausgekommen ist. Italien lässt sich zwischen diesen beiden Gruppen einordnen. Es hat zum einen durch seine Wirt­ schaftskraft eine besondere Bedeutung, sieht sich aufgrund der politischen Instabili­ tät und einer wenig nachhaltigen Wirtschaftspolitik jedoch einem besonderen Risiko ausgesetzt.⁶ Einen ersten Einblick über die Widerstandsfähigkeit zeigen die Daten zu den Wachstumsraten dieser Volkswirtschaften (Abbildung 4). Alle Länder, einschließlich der Eurozone insgesamt, verzeichnen einen Wachstumseinbruch im Zuge der Eurokri­ se 2009. Deutschland und Frankreich zeigten sich widerstandsfähiger die Rezession rasch zu überwinden als andere Staaten. Das zeigt sich vor allem in Hinblick auf den erneuten Einbruch 2012/13, der zwar auch diese beiden Länder trifft, sie aber nicht wieder in eine Rezession abrutschen lässt. Im Gegensatz dazu sind Spanien und Italien deutlich anfälliger, die Eurokrise hinterließ trotz kurzfristiger Erholung eine nachhaltige Wachstumsschwäche. Am stärksten ist Griechenland betroffen, das über fünf Jahre ein negatives Wachstum verzeichnete, erst seit kurzem einen schwachen Aufschwung realisieren kann und über zehn Jahre unter seinem Potenzial liegt. Für das Verständnis dieser Unterschiede im Wirtschaftswachstum sind die beiden zentralen Elemente für Wettbewerbsfähigkeit in den Fokus zu rücken, die Faktorpro­ duktivität und ihr Verhältnis zu den Preisen der produzierten Güter und Dienstleis­ tungen. Abbildung 5 zeigt die indexierte Entwicklung der totalen Faktorproduktivität (TFP) für die genannten Länder.⁷ Zum einen wird das stetige Wachstum der TFP in Deutschland und Frankreich deutlich, das diese Volkswirtschaften seit den 1980erJahren kennzeichnet und sich auch nach der Krise fortsetzt, allerdings mit leicht unterschiedlichen Wachstumsraten. Im Gegensatz zu diesen beiden Ländern fällt Spanien ab, das sich durch eine nahezu stagnierende TFP auszeichnet, die seit Mitte der 1990er-Jahre sogar leicht sinkt. Ein ähnliches Bild ergibt sich für das Gründungs­ mitglied Italien, wobei hier zwar das Wachstum vor der Krise, aber auch der Rückgang danach etwas ausgeprägter ist. Die Entwicklung von Griechenland sticht hervor. Sein hohes Wachstum der TFP vor der Krise ist zwar mit Deutschland und Frankreich ver­ gleichbar, nach der Krise wird es aber nahezu nivelliert und sinkt auf das Niveau zu 6 Italien ist 2018 die viertgrößte Volkswirtschaft in Europa nach Bruttoinlandsprodukt zu Marktprei­ sen (nach Deutschland, Großbritannien und Frankreich; Eurostat 2019) und weltweit auf Rang 20 ge­ messen am BIP pro Kopf in US-Dollar im Jahre 2016 (OECD 2019). 7 Für Griechenland liegen keine Daten vor.

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4% 2% 0% 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 ‐2%

Euro area Germany France Italy Greece Spain

‐4% ‐6% ‐8% ‐10% 5

0 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020

‐5

‐10

‐15

Euro area Germany France Italy Greece Spain

‐20 Abb. 4: Reales Wachstum und Outputlücken der Eurozone und ausgewählter EU Mitgliedstaaten (Quelle: Europäische Kommission, AMECO Datenbank). Erläuterung: Oben: Reales Wachstum ausgewählter EU Mitgliedstaaten und der Eurozone. Unten: Differenz zwischen tatsächlichen und potenziellem realem Wachstum.

Säkulare Stagnation in Europa? |

135

110 100 90 80 France Germany Ireland Italy Spain

70 60 50 1985

1990

1995

2000

2005

2010

2015

Abb. 5: Entwicklung der totalen Faktorproduktivität in ausgewählten EU Mitgliedstaaten und der Eurozone – indexiert: 2007 = 100 (Quelle: OECD Data Multifactor Productivity).

Beginn der 1990er-Jahre zurück. Interessant und deshalb zusätzlich dargestellt ist die Entwicklung Irlands, dessen TFP am stärksten über den genannten Zeitraum wuchs und sich auch durch die Eurokrise nicht nachhaltig beeinflussen ließ.⁸ Eine nähere Analyse müsste die verschiedenen Ursachen für diese Entwicklungen in den Fokus rücken, beispielsweise die Rolle der Arbeitsmarktreformen in Deutsch­ land, die (durchaus auch steuerlich geprägte) Ausrichtung der irischen Standortpo­ litik zur Ansiedlung multinationaler Konzerne, die Rolle von politischer Instabilität, Rechtssicherheit und Klientelpolitik in Italien und Griechenland, oder das Ausmaß der Regulierung und die Wirkung des korporatistischen Systems in Frankreich. Auch wenn eine detaillierte und länderspezifische Auseinandersetzung zu diesen Aspekten an dieser Stelle nicht möglich ist, so zeigt die Analyse, durch welch unterschiedliche Volkswirtschaften die Eurozone und Europa insgesamt charakterisiert ist. Nicht nur in Hinblick auf die historischen wirtschaftspolitischen Entwicklungen (Transformati­ onsländer, Kerngruppe, Süderweiterung), sondern auch in Hinblick auf die Diversität der Ordnungsrahmen erscheint es deshalb fraglich, inwiefern eine Diagnose für „Eu­ ropa“ oder „die Eurozone“ als Ganzes überhaupt zielführend ist. Die Preisentwicklung ist neben der Faktorproduktivität der zweite zentrale Aspekt von Wettbewerbsfähigkeit. Sinn (2014) argumentiert, dass sich diese im Zeitraum zwi­ schen 1995⁹ und dem Ausbruch der Eurokrise deutlich auseinanderentwickelt haben. So sind die Preise der südlichen Länder, allen voran Griechenland und Spanien, um 67

8 Die positive Entwicklung Irlands ist vor dem Hintergrund der umstrittenen Steuergesetzgebung kri­ tisch zu reflektieren, vgl. beispielsweise „Is Ireland a tax haven? European Parliament says yes“, The Irish Times, 28 March 2019. 9 Der Europäische Rat legte bei seinem Treffen 1995 in Madrid den allgemeinen Rahmen zur Einfüh­ rung des Euro 1999 fest.

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beziehungsweise 56 Prozent gestiegen. Die Preise der nördlichen Länder stiegen deut­ lich moderater an, was insbesondere für Deutschland gilt. Das Bild zur Wettbewerbs­ fähigkeit der einzelnen Länder wird aber erst vollständig, wenn die vor der Festlegung der Wechselkurse durchgeführten Auf- und Abwertungen der Währungen Berücksich­ tigung finden. So hat sich der griechische reale Wechselkurs gegenüber dem Rest der Eurozone um 18 Prozent aufgewertet, bei Spanien (22), Portugal (14) und Irland (30) fielen die Aufwertungen zum Teil noch stärker aus. Die individuellen Aufwertungen sind jedoch nur bedingt aussagefähig, weil sie relativ zum gesamten Rest der Eurozo­ ne ausgewiesen werden, d. h. auch gegenüber den anderen, ebenfalls aufwertenden, südlichen Ländern. Betrachtet man die südlichen Länder¹⁰ gemeinsam mit dem Rest der Eurozone, ergibt sich ein deutliches Bild: Die Aufwertung dieser Länder betrug im genannten Zeitraum 30 Prozent gegenüber den anderen Mitgliedern der Eurozone, während beispielsweise Deutschland real um 22 Prozent abwertete. Die Härte, mit der die Mitgliedstaaten durch die Eurokrise in unterschiedlichem Ausmaß getroffen wur­ den, lässt sich als Problem mangelnder Wettbewerbsfähigkeit interpretieren. Die Pro­ dukte der südlichen Ländergruppen sind, bei gleichzeitig niedrigem Wachstum der Faktorproduktivität, zu teuer geworden. Einen weiteren Unterschied verdeutlichen Daten zur Realzinsentwicklung und zum natürlichen Zins in den genannten Volkswirtschaften (Abbildung 6). Belke und Klose (2019) schätzen den natürlichen Zins mit und ohne Schuldenzyklus und stel­ len ihn der Entwicklung des Realzinses gegenüber. Hier zeigen sich nicht nur Unter­ schiede in Hinblick auf die Zinshöhen im Zeitablauf, sondern auch im Verhältnis des Realzinses zum theoretischen natürlichen Zins. Die Daten deuten darauf hin, dass sä­ kulare Stagnation in Deutschland und der Eurozone insgesamt eher weniger präsent ist, da die Zinsstruktur das wirtschaftliche Wachstum insgesamt unterstützt. Dies ist für Frankreich, aber insbesondere auch Italien und Griechenland, nicht der Fall. Der Realzins liegt deutlich über dem geschätzten natürlichen Zins, was wachstumshem­ mend wirkt und bei wirkender Nominalzinsuntergrenze (ZLB) auch nicht durch Zins­ senkungen adressiert werden kann. Auch wenn die hier dargestellten Daten nur einen Ausschnitt der wirtschafts­ politischen Realitäten widerspiegeln, veranschaulichen sie die Heterogenität inner­ halb der Eurozone. Von einer säkularen Stagnation in Europa oder in der Eurozone zu sprechen, erscheint daher wenig zielführend, vielleicht sogar irreführend. Die unterschiedlichen makroökonomischen Indikatoren deuten darauf hin, dass eine Mikroanalyse der einzelnen Volkswirtschaften notwendig ist, um die individuellen Wachstumsschwächen und mögliche Abhilfemaßnahmen zu identifizieren. Eine ähn­ liche Diagnose erstellt Crafts (2004), der zur Diskussion um die säkulare Stagnation in Europa schreibt:

10 Sinn fasst die Länder Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien und Zypern zu dieser Gruppe zusammen.

Säkulare Stagnation in Europa?

Euro Area

|

137

France

4

6

3

4

2

2 0

1

-2

0 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014

-4 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014

Germany

Italy

4 3

10

2

-10

1 -30

0 -1

-50 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014

2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014

Greece 25 20 15 10 5 0 -5 -10 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014

Abb. 6: Realzins und natürlicher Zins in ausgewählten Ländern der Eurozone (Quelle: Belke/Klose 2019). Erläuterung: Der Realzins ist schwarz dargestellt. Der natürliche Zins wird nach dem LaubachWilliams-Modell geschätzt ohne (dunkel) und mit Berücksichtigung des finanziellen Zyklus (hell). Daten für Spanien liegen nicht vor.

[P]roductivity growth in European countries was frequently held back by weak competition, ex­ cessive regulation and shortfalls in human capital that particularly undermined productivity per­ formance in marketed services, where the single market has been ineffective. (Crafts 2014: 93)

Zwar lässt sich nicht verneinen, dass sich Tendenzen zur säkularen Stagnation her­ ausbilden könnte. Sofern eine Analyse aber die länderspezifischen Rahmenbedin­ gungen als mögliche Ursachen für Wachstumsschwächen ignoriert läuft sie Gefahr, zu stark zu verallgemeinern und inadäquate Schlüsse zu ziehen. Ohne bei der Ana­ lyse auf die zugrundeliegenden Ordnungsrahmen einzugehen, besteht die Gefahr, dass neue wirtschaftspolitische Instrumente notwendig erscheinen, obwohl sich die Wachstumsschwächen auch mit herkömmlichen Maßnahmen adressieren lassen,

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beispielsweise im Zuge von ordnungspolitischen Ansätzen. Erst wenn sich heraus­ stellt, dass diese Maßnahmen wider Erwarten nicht greifen, ist es empfehlenswert nach alternativen und unorthodoxen Rezepten zu suchen. Vorzuziehen sind jedoch bewährte, auf individuellen Länderanalysen beruhende wirtschaftspolitische Rezep­ te, die die Ausgestaltung geeigneter Ordnungsrahmen adressieren. Mit ihrer konse­ quenten Umsetzung würde es nicht überraschen, wenn sich die die Debatte um die säkulare Stagnation in Europa erübrigt.

4 Wirtschaftspolitische Ansätze Zwar beeinflussen globale Trends wie die demografische Entwicklung oder sinkende Kapitalausgaben die Länder der Eurozone in ähnlicher Weise. Es ist aber nicht zwin­ gend, dass daraus Tendenzen zur säkularen Stagnation entstehen. Wachstumsschwä­ che ist vor dem Hintergrund dessen zu analysieren, was zentral für ökonomische Akti­ vität und Wettbewerbsfähigkeit ist: Die Entwicklung eines hohen Maßes an Produkti­ vität bei wettbewerbsfähigen Preisen. Wesentlich hierfür sind offene und bestreitbare Märkte, ein hohes Maß an politischer Stabilität, sowie verlässliche Institutionen, die Anreize geben zur wirtschaftlichen Entfaltung und frei sind von Vetternwirtschaft und Willkür. Traditionelle Ansätze der Ordnungspolitik bieten damit viele Stellschrauben zur Überwindung der Wachstumsschwäche einzelner Länder, die gegebenenfalls mit weiteren Maßnahmen aus dem wirtschaftspolitischen Werkzeugkasten flankiert wer­ den sollten.

4.1 Der wirtschaftspolitische Baukasten Der Spielraum aktiver Geldpolitik ist angesichts niedriger Nominalzinsen kaum vor­ handen. Da sich die Nominalzinsen in der Eurozone weiterhin nahe der Nullgrenze be­ finden, ließe sich eine Realzinssenkung nur über Inflation realisieren. Einige Autoren schlagen deshalb vor, die Europäische Zentralbank möge ihr Inflationsziel anheben, beispielsweise auf vier Prozent (Krugman 2013).¹¹ Gegner dieser Argumentation füh­ ren insbesondere die Gefahr eines sinkenden Vertrauens in die Unabhängigkeit der EZB ins Feld und verteidigen ihre auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik. Sie be­ tonen auch die außerordentliche Bedeutung der geldpolitischen Stabilität für einige Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland, aufgrund seiner historischen Erfahrung mit Hyperinflation und Geldentwertung. Faktisch ist die EZB ohnehin unabhängig

11 Zur Diskussion der Rolle von Geldpolitik zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit im Kontext säkularer Stagnation vgl. beispielsweise auch Belke (2018).

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und der Preisstabilität verpflichtet, und sie macht bisher keine Anzeichen, ihr Inflati­ onsziel in Höhe von zwei Prozent dauerhaft aufzuweichen zu wollen. Der Spielraum der Fiskalpolitik ist vor der Frage zu diskutieren, wie sich nach­ haltige Wachstumseffekte durch expansive Maßnahmen realisieren lassen, um Nach­ frageschwächen auszugleichen und langanhaltendes Wachstum zu fördern. Während für einige nördliche Länder der Eurozone expansive fiskalpolitische Maßnahmen auf­ grund der relativ guten Haushaltslage und einer mehr oder weniger soliden ökono­ mischen Basis durchaus als Option zur Verfügung stehen, scheint dies für Länder der südlichen Gruppe wenig empfehlenswert. Zentral ist ohnehin die Frage, welche Ausgaben die expansive Fiskalpolitik umfasst: Sind sie konsumtiv, können sie zwar kurzfristig konjunkturelle Impulse entfalten, langfristig belasten sie aber die Haushal­ te, verstärken angesichts ohnehin schon hoher Staatsverschuldung die finanzpoliti­ sche Unsicherheit, belasten zukünftige Generationen und verstärken die intergenera­ tionelle Ungerechtigkeit. Sind sie investiv, können sie langfristig die Produktivität zu erhöhen und positive Wirkungen in Hinblick auf Produktivität und Wachstum zu ent­ falten. Fiskalpolitische Investitionsprojekte sind – richtig eingesetzt – grundsätzlich in der Lage, die fiskalische Leistungsfähigkeit zukünftiger Generationen zu erhöhen und das Risiko intergenerationeller Ungerechtigkeiten zu mindern. Zentral für die Wahl fiskalpolitischer Maßnahmen ist die Haushaltslage des be­ troffenen Mitgliedstaates und die Frage, ob sinnvolle Investitionsprojekte vorhanden sind, die der Staat (und nicht etwa Private) durchführen sollten. Diese Frage ist letzt­ endlich auf Ebene der Mitgliedstaaten zu treffen, und keine Frage der Eurozone an sich. Am Beispiel Deutschlands lässt sich durchaus Investitionsbedarf identifizie­ ren, beispielsweise in den Bereichen öffentlicher Infrastruktur oder im Schulwesen. Letztendlich ist es somit eine Frage der Abwägung unterschiedlicher politischer Ziele (beispielsweise ausgeglichener Haushalt versus fiskalischer Nachfrageimpuls), ob fiskalpolitische Maßnahmen zum gegenwärtigen Zeitpunkt als sinnvoll erscheinen. In welchem Ausmaß und in welchen Sektoren dies der Fall sein kann, ist eine län­ derspezifische Frage und vor allem in den nördlichen Ländern der Eurozone eine veritable Option. Ein Teil der Wirkung expansiver Fiskalpolitiken wird als positiver externer Effekt im Ausland auftreten, was durchaus wünschenswert ist. Die damit einhergehende Anreizproblematik des Trittbrettfahrerverhaltens spricht durchaus für eine Koordination der nationalen Fiskalpolitiken zur Überwindung der Eurokri­ se.¹² Sie kann aber immer nur eine flankierende Maßnahme in einem umfassenderen ordnungspolitischen Lösungsansatz sein, da sie für Länder aus der Südgruppe der Eurozone wenig empfehlenswert ist, und sich eine dauerhafte Nachfragelücke durch expansive Fiskalpolitik nicht nachhaltig bekämpfen lässt.

12 Daraus folgt nicht die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Fiskalpolitik. Der Aspekt des Trittbrettfahrerverhaltens ist ein Argument für eine koordinierte und auf die Besonderheiten der einzelnen Länder abgestimmten Vorgehensweise.

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Sinn (2014) thematisiert die Rolle der Fiskalpolitik, indem er die notwendigen Anpassungen der realen Wechselkurse der südlichen Länder analysiert. Um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, sind bei der gegenwärtigen Produktivität entweder reale Preissenkungen notwendig, oder Preiserhöhungen im EU-Ausland. Preissen­ kungen durch Lohnanpassungen sind im Süden wenig effektiv und politisch nicht wünschenswert. Sofern die südlichen Länder im Eurosystem bleiben sollen (was eine nominale Abwertung verhindert), ist eine relative Abwertung der Währungen damit nur durch Preisanstiege der nördlichen Eurozone realisierbar, also letztendlich durch eine durch expansive Geldpolitik in Kauf genommene Inflation. Dem steht auf der einen Seite die bereits diskutierte Unabhängigkeit der EZB mit dem starken Fokus auf Preisstabilität entgegen, und in politischer Hinsicht die deutsche Erfahrung mit Geldentwertungen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Damit bleibt als wirtschaftspolitisches Instrumentarium letztendlich eine klassische keynesianische Nachfragepolitik, die vor den oben aufgeführten Fallstricken, aber auch in Hinblick auf die Rechtslage der europäischen Verträge nicht als dauerhaftes Mittel zur Ver­ fügung steht. Vor dem Hintergrund dieses eingeschränkten Optionsrahmens bleibt nach seiner Ansicht letztendlich nur, sich auf die Marktkräfte zu besinnen, die zu einem Rückfluss der Kapitalströme in die nördlichen Länder der Eurozone und letzt­ endlich zu einer relativen Preisanpassung führen werden. In der Konsequenz wird dies zu einem Anstieg der Vermögenspreise in den nördlichen Ländern führen, sowie zu einer durch Austeritätspolitik unvermeidlichen Stagnation im Süden. Die Kosten dieses Anpassungsprozesses sind die ökonomischen Konsequenzen fehlgeleiteter vergangener Wirtschaftspolitik. Sie sind aber temporär und tragen nur so lange, bis die Anpassungsprozesse die Wettbewerbsfähigkeit der südlichen Länder wiederher­ gestellt haben. Verteilungspolitische Maßnahmen sind zum Ausgleich einer Nachfrageschwäche ebenfalls geeignet. Da insbesondere niedrigere Einkommensgruppen über eine hö­ here Konsumquote verfügen, könnte eine Zunahme von Ungleichheit ursächlich für das Entstehen einer Nachfragelücke sein, oder diese zumindest verstärken. Vor die­ sem Hintergrund diskutieren Peichl et al. (2018) die Entwicklung der Ungleichheit in Deutschland und argumentieren, dass die Einkommensungleichheit seit den Achtzi­ gerjahre zugenommen hat.¹³ Je nach verwendetem Maß und der Berücksichtigung re­

13 Gegenstand der Diskussion ist die Frage, welche Bemessungsgrundlage zur Berechnung von Un­ gleichheitsmaßen geeignet ist, und wie sich die Maßzahlen über die Zeit entwickeln. So ist beispiels­ weise zentral zu klären, ob das einzelne Wirtschaftssubjekt, ein Haushalt oder das Steuersubjekt Ge­ genstand der Analyse ist, wie auf Haushaltsebene die Äquivalenzfaktoren (Gewichtung der einzel­ nen Haushaltsmitglieder) berechnet werden, und ob Einkommen beziehungsweise Vermögen vor oder nach staatlichen Transfers miteinander verglichen werden. Vor diesem Hintergrund thematisieren die Autoren einen Anstieg des Gini-Koeffizienten von circa 0.22 gegen Ende der 1970er-Jahre für äquiva­ lenzgewichtete Haushaltseinkommen auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe auf ei­ nen Wert von circa 0.29 zu Beginn der 2010er-Jahre.

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gionaler Unterschiede (ost/west) lässt sich zwar ein leicht dämpfender Effekt dieses Anstiegs seit Mitte der Nullerjahre feststellen, insgesamt hat die Ungleichheit aber zu­ genommen. Auch die Vermögen sind zunehmend ungleich verteilt, wenn auch im in­ ternationalen Vergleich in insgesamt moderatem Ausmaß. Die Verteilungspolitik ist also grundsätzlich geeignet, eine schwache Konsumnachfrage zu adressieren. Damit ist der Rahmen der zur Verfügung stehenden wirtschaftspolitischen Maß­ nahmen zur Überwindung einer Wachstumsschwäche abgesteckt: Eine allgemeine expansive Fiskalpolitik ist zur Überwindung einer langfristigen Nachfrageschwäche ungeeignet, da sie nicht nachhaltig ist. Sie sollte nicht zur Förderung des privaten Kon­ sums eingesetzt werden, sie zukünftige Generationen belastet und die Effekte lang­ fristig verpuffen.¹⁴ Werden aber fiskalpolitische Impulse (insbesondere in den Län­ dern der nördlichen Gruppe) gezielt eingesetzt, um Investitionen in Produktivkapital zu fördern, erscheint dies wirtschaftspolitisch zielführend. Sie fördern kurzfristig die Nachfrage und haben das Potenzial, die Produktivität langfristig zu steigern und kom­ men auch zukünftigen Generationen zugute. Sofern eine Lücke im privaten Konsum als ursächlich für eine Nachfrageschwäche identifiziert wird, scheint eher ein vertei­ lungspolitischer Ansatz geeignet, um die Kaufkraft von Einkommensbeziehern nied­ riger Einkommen zu erhöhen und zu einem positiven Nachfrageeffekt beizutragen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass in einer offenen Volkswirtschaft ein Teil dieses positiven Nachfrageeffekts im Ausland anfällt, was vor dem Hintergrund des hohen Maßes an intra-europäischem Handel ein wünschenswerter Nebeneffekt ist.

4.2 Ordnungspolitik Was bleibt angesichts dieses eingeschränkten wirtschaftspolitischen Instrumentari­ ums? Verschiedene Autoren diskutieren die Rolle der Angebotspolitik beziehungswei­ se die Kombination aus angebots- und nachfrageorientierten Politikmaßnahmen (Bel­ ke 2018; Bouis/Duval 2011; OECD 2015; Ollivaud et al. 2016; Rawdanowicz et al. 2014). Crafts (2014) schreibt dazu: If adequate monetary and fiscal responses to a threat of secular stagnation in Europe are not forth­ coming, then that leaves supply-side reform, which might crowd in private investment and/or consumer expenditure, as well as increase productivity in the long run, as the only game in town. (Crafts 2004: 95)

Die besondere Rolle der Ordnungspolitik wird vor dem Hintergrund der Eurokrise und der Rolle, die Griechenland dabei spielte, besonders deutlich. Die Produktivkräfte können sich nur dann frei und nachhaltig entfalten, wenn die Rahmenbedingungen 14 Davon unberührt ist der Aspekt, wie beispielsweise das Rentensystem gerecht ausgestaltet werden sollte, um Altersarmut zu vermeiden, die häufig Frauen trifft, die sich der Kindererziehung gewidmet haben.

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so gesetzt sind, dass sich wirtschaftliche Aktivität lohnt (Bourlès et al. 2013; Égert 2016). Dies ist weder ein Argument für staatlichen Rückzug und Laissez-faire, noch für angebotsorientierte Lohnkürzungen. Die Höhe der Löhne und Einkommen werden langfristig durch die Produktivität bestimmt, die wiederum von anderen Faktoren wie dem Bildungsgrad, der Kultur zur Leistungsbereitschaft, der Bestreitbarkeit von Märk­ ten, administrativen Rahmenbedingungen und der Verlässlichkeit des Rechtssystems abhängen. Institutionen spielen eine zentrale Rolle, sie lassen sich produktivitätsför­ dernd im Zuge der Ordnungspolitik gestalten. Ein Nachteil des wirtschaftspolitischen Ansatzes ist es, dass sich seine Wirkung erst langfristig entfaltet, da die Anpassung der Rahmenbedingungen Zeit braucht, politisch oft schwierig umzusetzen ist und die Marktwirkung verzögert auftritt. Die notwendigen ordnungspolitischen Maßnah­ men sind daher kurzfristig durch wirtschaftspolitische Maßnahmen zu flankieren, wie in Abschnitt 4.1 dargestellt. Der Ordnungspolitik kommt jedoch deshalb eine her­ ausragende Rolle zu, weil sie direkt an den Ursachen geringer Produktivität ansetzt, während fiskalpolitische Maßnahmen hauptsächlich Symptome eines schwachen Wachstums adressieren. Basierend auf Schätzungen von Barnes et al. (2011) berechnet Crafts (2015) die Potenziale, die durch verschiedene ordnungspolitische Reformen in ausgewählten OECD-Ländern realisierbar sind. Die Zahlen deuten darauf hin, dass alle Länder der Eurozone Potenziale besitzen, die sich durch angebotspolitische Maßnahmen adres­ sieren lassen, und dass diese Potenziale freigelegt werden können, indem unter­ schiedliche „Schwächen“ der Länder adressiert werden. Während dies beispielsweise in den südlichen Ländern wie Portugal, Spanien, aber auch Griechenland bildungs­ politische Maßnahmen oder Maßnahmen zur wettbewerblichen Ausgestaltung der Produktmärkte sind, spielen Steuergesetzgebung und arbeitsmarktpolitische Maß­ nahmen eine größere Rolle in Frankreich und Deutschland. Ein weiterer Indikator für die Rolle geeigneter Institutionen ist der „Ease of Doing Business Index“ der Weltbank. Er misst verschiedene institutionelle Aspekte, die mit einer hohen administrativen Hürde verbunden sind und als wachstumshemmend gel­ ten. Sie messen beispielsweise, wie aufwendig es ist, Verträge durchzusetzen, ein Un­ ternehmen zu gründen und aufzulösen, oder Eigentum zu registrieren. Die Länder, die relativ gut durch die Krise gekommen sind, sind im Weltbank-Ranking auch tendenzi­ ell durch gute Ergebnisse charakterisiert, auch wenn das Bild nicht immer eindeutig ist (Abbildung 7). Deutschland und Frankreich liegen tendenziell in den oberen Be­ reichen der gemessenen Indikatoren, während Griechenland und beispielsweise auch Italien häufig abfallen. Im Vergleich der Daten 2007 bis 2014 wird auch deutlich, dass Griechenland – vor allem im Vergleich zu dem durch Sklerose gebeutelten Italien – sich in einigen Aspekten deutlich verbessert hat, was langfristig positive Wachstums­ impulse erwarten lässt. Ein ähnliches Bild zeichnet der vom Fraser Institute publizierte Economic Free­ dom Index, der Aspekte misst, die mit einem hohen Grad an wirtschaftlicher Frei­

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Abb. 7: Worldbank „Ease of doing business“ Index. (Quelle: Worldbank Ease of doing Business Report 2007 und 2019). Erläuterung: Die dunkle Linie bezieht sich auf den aktuellen Report 2019, die helle Linie auf den Report 2007. Aufgrund der Vergleichbarkeit werden die Länderränge für jede Kategorie aufgeführt. Je weiter außen der jeweilige Rang, desto höher ist das Ranking.

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heit einhergehen. Abbildung 8 stellt die Entwicklung eines aggregierten Maßes für alle Indikatoren dar, die in Hinblick auf die institutionellen Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eine Rolle spielen. Auch hier zeigt sich, dass Länder, die relativ gut durch die Eurokrise gekommen sind, eher durch ein relativ ho­ hes Maß an ökonomischer Freiheit gekennzeichnet sind. Der Anstieg des bereits dis­ kutierten Fallbeispiels Irland seit den 1980er-Jahren ist besonders auffällig. Im Ver­ gleich zu anderen Ländern wird ein Rückgang der wirtschaftlichen Freiheit in Grie­ chenland und Italien deutlich, bedingt auch in Frankreich. Auch diese Daten zeigen

8

7 France Germany Italy Greece Spain

6

5

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France Germany Greece Italy Ireland

France Germany Greece Italy Ireland

120

Abb. 8: Ergebnisse (oben: Indikator zwischen 10 und 1) und Ranking der Länder (unten) ausgewähl­ ter Länder im Economic Freedom Index des Fraser Instituts. Erläuterung: Das Gesamtranking setzt sich zusammen aus Indikatoren für die Rolle des Staates, dem Rechtssystem und Schutz von Eigentumsrechten, der Stabilität des Geldsystems, der Handels­ freiheit und dem Regulierungsrahmen. Die Indikatoren für die Rolle des Staates (beispielsweise Höhe der staatlichen Transfers) und Teile der Indikatoren für den Regulierungsrahmen (insb. zu den Arbeitsmarktregularien) sind kritisch zu hinterfragen, da sie die Güte des Ordnungsrahmens in Hin­ blick auf die wirtschaftliche Freiheit nicht eindeutig wiedergeben. Trotz dieser Mängel ist der Index als Gesamtes geeignet, das Ausmaß der wirtschaftlichen Freiheit näherungsweise abzubilden.

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die Richtung auf, wie langfristig orientierte Reformen der Rahmenbedingungen Wir­ kung entfalten können. Gleichzeitig warnen die Grafiken vor zu einfachen Schluss­ folgerungen und weisen darauf hin, dass länderspezifische Analysen der Ursachen der Wachstumsschwächen unumgänglich sind. Dies legen beispielsweise die Daten zu Griechenland nahe, denn den Indikatoren der Weltbank zufolge ist das Land eher auf einem aufsteigenden Trend in Hinblick auf die wirtschaftliche Freiheit, was nach den Daten des Fraser Instituts genau nicht der Fall sein soll.

5 Fazit Die Diskussion um säkulare Stagnation schwappte schnell von den USA nach Euro­ pa über. Während für die USA die Wachstumsraten der letzten Jahre und das mode­ rate Ansteigen der Zinsen als Entwarnung in Hinblick auf säkulare Tendenzen inter­ pretiert werden können und gegenwärtig die Konsequenzen der protektionistischen Wirtschaftspolitik der aktuellen Regierung in den Vordergrund der wirtschaftspoli­ tischen Debatte rücken, bleibt die Frage, ob es säkulare Stagnation in Europa gibt und wir möglicherweise einen neuen wirtschaftspolitischen Werkzeugkasten benöti­ gen. Der Beitrag argumentiert, dass Skepsis angebracht ist. Zwar zeichnen sich einige Volkswirtschaften durch niedriges Wachstum bei gleichzeitig niedrigen Zinsen aus, es ist aber nicht eindeutig, dass es sich hierbei um ein unvermeidbares und langfris­ tiges Phänomen handelt. Ein alternativer Erklärungsansatz besteht darin, dass einige Länder immer noch mit den mittel- bis langfristigen Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise zu tun haben. Gegen die These einer säkularen Stagnation in Euro­ pa spricht die starke Unterschiedlichkeit der Staaten in der Eurozone und der EU, die zielgerichtete Politikmaßnahmen notwendig machen. Deutschland, Frankreich und Irland sind wesentlich besser durch die Eurokrise gekommen als beispielsweise Itali­ en und Griechenland. Wirtschaftspolitische Maßnahmen müssen dieser Heterogenität Rechnung tragen, sie sollten Ungleiches nicht gleichbehandeln. Die Diskussion rund um die Idee der säkularen Stagnation zeigt die Grenzen der wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume auf. Denn falls eine dauerhafte Nachfra­ geschwäche ursächlich für ein schwaches Wirtschaftswachstum sein sollte, kann ei­ ne expansive Fiskalpolitik nicht nachhaltig als Lösungsansatz dienen. Zwar bleibt die Möglichkeit, dass sie in Einzelfällen und gezielt eingesetzt positive Wirkungen entfal­ tet, ja sogar gezielt eingesetzt werden sollte; als Medizin für einen kranken Patienten taugt sie aber nicht. Die zusätzliche Beschränkung, angesichts niedriger Zinsen durch Geldpolitik steuern zu können, lenkt den Blick fast zwangsweise auf die vorhandenen Alternativen: Der Ordnungspolitik, aber eventuell auch der Verteilungspolitik, fällt ei­ ne besondere Rolle zu. Während Fragen zur Verteilung verschiedene gesellschaftliche Dimensionen berühren – Fragen der Gerechtigkeit, der Leistungsanreize, aber auch der Konsummöglichkeiten und aggregierter Nachfrageeffekte – und ambivalent dis­

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kutiert werden können, bietet die ordnungspolitische Sichtweise eine klare Perspek­ tive. Sie stellt den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit in den Vordergrund, indem sie den Blick auf die Faktoren lenkt, die langfristig zu Wachstum und Wohlstand beitragen. Die gegenwärtige Wachstums­ schwäche in einigen Ländern der Eurozone lässt sich nur nachhaltig durch Rahmen­ bedingungen adressieren, die Wachstum ermöglichen und Produktivkräfte freisetzen. Die Ordnungspolitik rückt damit wieder stärker in den Fokus. Ihr kommt die Aufga­ be zu, durch das Setzen geeigneter Rahmenbedingungen ein Umfeld zu schaffen, in dem sich wirtschaftliche Aktivität lohnt. Rechtliche und politische Institutionen, aber auch die Stabilität und Verlässlichkeit dieser Rahmenbedingungen, spielen vor dem Hintergrund der säkularen Stagnation eine besondere Rolle. Diese Reformen, die län­ derspezifisch umzusetzen sind, können schmerzhaft sein, da sie mit der Abschaffung liebgewonnener Privilegien einzelner Gruppen einhergehen. Zudem entfalten sie ihre Wirkung nur langfristig. Sie sind zur Freisetzung von nachhaltig wirkenden Wachs­ tumskräften aber unumgänglich.

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Korreferat zum Beitrag von Andreas Polk Peter Spahn Andreas Polk versieht die Überschrift seines Beitrags zu Recht mit einem Fragezei­ chen, denn zum einen hat sich das Wachstum nach Finanz- und Eurokrise fast wieder normalisiert und zum anderen sind eben die Unterschiede zwischen den EU- bezie­ hungsweise Eurozonenländern offenkundig das größere Problem. Auch in den USA, wo das Stagnationsthema 2014 zuerst (wieder) aufkam, hat sich das Wachstum da­ nach stabilisiert, allerdings wurde das alte Niveau des Wachstumspfads dort wie hier nicht wieder erreicht. Polk betont, dass die Diskussion um die säkulare Stagnation im Wesentlichen empirisch geprägt sei. Das gilt jedoch nur, wenn man bereits ein Einver­ nehmen über den konzeptionellen Ansatzpunkt und die definitorische Verortung der zentralen makroökonomischen Variablen erzielt hat. Diese Bedingung ist aber kaum gegeben. Eine substanzielle Outputlücke zwischen tatsächlichem und potenziellem Brutto­ inlandsprodukt ist für sich genommen Signum einer typischen konjunkturellen Krise, nicht jedoch einer Stagnation. Davon kann man erst dann sprechen, wenn nach der Anpassung von Güterangebot und -nachfrage (also bei geschwundener Outputlücke)

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das zuvor realisierte Wachstum ausbleibt. Über die möglichen Ursachen eines fehlen­ den (Potenzial-)Wachstums sind in der Theoriegeschichte lange Debatten geführt wor­ den. Einerseits wurde die Gefahr beschworen, ein Mangel unverzichtbarer Produkti­ onsfaktoren könnte die weitere Produktion angebotsseitig beschränken, andererseits galten struktureller Nachfragemangel und geschwundene Ertragserwartungen der In­ vestoren als Problem. Die letztgenannte Konstellation wird oft im Rahmen des bekannten InvestitionsErsparnis-Diagramms behandelt, in dem sich der hypothetisch markträumende Re­ alzins (die Natural Rate) aufgrund „ungünstig“ gelegener Investitions- und Erspar­ nisfunktionen im negativen Bereich befindet, der aber vom faktischen Marktrealzins auch unter Mithilfe der Geldpolitik wegen der Nullzinsgrenze des Nominalzinses und niedriger Inflationserwartungen nicht immer zu erreichen ist. Das ist nicht nur ein praktisches, wirtschaftspolitisches Problem, vielmehr gibt es auch zum Diagramm selbst analytische Kontroversen. Es kann als Gütermarktmodell gesehen werden, das jenen Zinssatz zeigt, bei dem der produzierte Output von der Nachfrage absorbiert wird; oder es erscheint als Kre­ ditmarktmodell, das den Verleih von Finanzmitteln beschreibt. Beide Perspektiven unterscheiden sich insbesondere im Hinblick auf die Angebotsseite. Im ersten Fall ist das Ersparnis als Nicht-Konsum definiert, der durch eine entsprechend große Investi­ tionsgüternachfrage kompensiert werden muss, um das Einkommen konstant zu hal­ ten; im zweiten Fall ist die temporäre Überlassung von Geldbeständen gemeint (wobei im Fall der Bankkreditvergabe auch Geldschöpfung auftritt). Aber Konsumverzicht ist eben nicht identisch mit gesamtwirtschaftlichem Kreditangebot; selbst dann nicht, wenn zusätzliche Sparbeträge zur Bank gebracht oder am Finanzmarkt angelegt wer­ den. Denn diese Finanzmittel fehlen ja nun bei den Unternehmen, wohin sie bei wei­ terem Konsum geflossen wären. Haushaltsparen verteilt den Strom der Geldmittel nur um, ein steigendes „Sparaufkommen“ kann deshalb entgegen der Meinung Polks kei­ nen zinssenkenden Anlagedruck im Finanzsystem erzeugen.¹⁵ Denkbar ist, dass eine zunehmende Sparneigung die Sparfunktion des Güter­ marktmodells verschiebt und darüber den Gleichgewichtszins absenkt. Aber auch diese Variable ist nur auf den ersten Blick als gütermarkträumender Realzins ein­ deutig definiert. „Views about the natural rate are necessarily model-dependent” (Juselius et. al. 2016: 1). Bauen sich etwa bei Gütermarktgleichgewicht und niedriger Inflation nicht nachhaltige Kreditblasen und Vermögensmarktübertreibungen auf, so wird man den herrschenden Realzins schwerlich als „gleichgewichtig“ bezeichnen können. Unter Berücksichtigung dieses Financial Cycle ist die Natural Rate im Ver­

15 Diese Verwechslung zwischen Saving und Finance hat in der ökonomischen Debatte eine lange Tradition. Zuletzt sprachen zum Beispiel Belke/Klose (2018: 6) von einer „liquidity trap via excess savings“. Zur Kritik siehe Terzi (1986) und Borio (2014).

150 | Peter Spahn

gleich zu den üblichen Schätzungen in den letzten Jahren deutlich weniger gesunken (Borio et. al. 2019). Festzuhalten ist somit, dass eine zum Beispiel demografisch bedingte Zunahme der Spartätigkeit die Marktzinsen nur mittelbar absenkt, indem die Geldpolitik als Re­ aktion auf die Nachfrageschwäche einen expansiven Kurs einschlägt. Polk schließt sich nach Abwägung einer Reihe von Hypothesen letztlich der vorherrschenden Mei­ nung an, die gegenwärtige Wachstumsschwäche sei vor allem auf demografische Ur­ sachen zurückzuführen. Dies müsste allerdings durch eine differenzierte Analyse der einzelnen makroökonomischen Nachfragekomponenten in den jeweiligen Ländern genauer untersucht werden. Zumindest in Deutschland hat man gerade nicht den Ein­ druck, dass die Bevölkerung angesichts künftig sinkender Renten ihre Beiträge zur Altersvorsorge nachhaltig erhöht. Als ein Ansatzpunkt expansiver Geldpolitik wird auch die Anhebung des Infla­ tionsziels der Notenbank genannt. Die Vorstellung ist, dass sich dadurch die Inflati­ onserwartungen der privaten Akteure entsprechend nach oben anpassen und so der Marktrealzins sinkt. Problematisch an diesem Vorschlag ist nicht in erster Linie, dass das Vertrauen in die Stabilität des Geldwerts verloren gehen könnte. Fraglich ist viel­ mehr, wie die Notenbanken eine höhere Zielinflationsrate erreichen können, wenn es ihnen nicht einmal gelingt, die Zwei-Prozent-Marke zu realisieren. Im Übrigen – wenn es doch gelänge – würde sich der Nominalzins um die erwartete Inflationsrate nach oben anpassen, so dass im Hinblick auf den Realzins nichts gewonnen wäre.¹⁶ Entgegen der Meinung Polks könnte die Fiskalpolitik durchaus bei einer dauer­ haften Nachfrageschwäche hilfreich sein. Die entscheidende Bedingung hierfür ist das Vorliegen der „dynamischen Ineffizienz“ aus wachstumstheoretischer Perspek­ tive: eine positive Differenz zwischen Wachstumsrate und Realzins. Denn in diesem Fall würde bei temporären Budgetdefiziten die Staatsschuldenquote immer wieder en­ dogen absinken, und anhaltende Budgetdefizite sind bei konstanter Schuldenquote möglich (Spahn 2016: 126 ff.; Blanchard 2019). Zumindest einige Länder in der Euro­ zone, allen voran Deutschland, könnten so mit investiven Nachfrageprogrammen das Wachstum stärken. Polk betont schließlich zu Recht, dass der Begriff der säkularen Stagnation für die Eurozone nicht adäquat ist. Denn das Hauptproblem ist hier die große Hetero­ genität der Volkswirtschaften. In der ersten Dekade der Währungsunion haben die

16 Tatsächlich sollten die Notenbanken eher das Zwei-Prozent-Ziel zugunsten eines Preisniveauziels aufgeben und das gefährliche Quantitative Easing beenden. Wenn Form und Lage der Angebotsfunk­ tion auf dem Weltgütermarkt keine Inflation zulassen, so bewirkt eine aggressive Nullzinspolitik ledig­ lich eine Inflation der Vermögenswerte. Es ist grotesk, dies als eine Politik im Dienste der Geldwert­ stabilität darzustellen. Für die Bundesbank bedeutete Geldwertstabilität nicht nur eine Begrenzung der Preissteigerung von Konsumgütern, sondern angesichts der deutschen Hyperinflationserfahrun­ gen in erster Linie eine Wertstabilität des Geldvermögens, so dass Sparbücher und Immobilien enge Substitute blieben. Die Europäische Zentralbank betreibt hingegen eine Politik der Entwertung des Geldvermögens.

Säkulare Stagnation in Europa? |

151

„Südländer“ ein ansehnliches, verschuldungsgetriebenes Wachstum vorgelegt, dass von beträchtlichem Kapital- und Güterexport seitens der „Nordländer“ begleitet wur­ de. Nach Ausbruch der Eurokrise standen im Süden Konsolidierung und Rückgewin­ nung der Wettbewerbsfähigkeit auf der Tagesordnung, der Norden verlor so einen Teil seiner Absatzmärkte. Für die einzelnen Länder der Eurozone stellen sich nun Wachs­ tums- und Zinsprobleme recht verschieden dar.¹⁷ Einen Ausweg aus dem Dilemma fehlender makropolitischer Instrumente bei ma­ kroökonomischen Ungleichgewichten sieht Polk in der eher mikroökonomisch ange­ legten Ordnungspolitik. Die Verbesserung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingun­ gen, insbesondere mit Blick auf den Ease of Doing Business bietet einen Ansatzpunkt zur Stärkung der Wachstumskräfte in den sogenannten Problemländern der Eurozo­ ne. Die Veränderung des diesbezüglichen Business Index in der vergangenen Dekade zeigt zwar nur einen schwachen Zusammenhang mit der jeweiligen gesamtwirtschaft­ lichen Entwicklung, dennoch ist die Orientierung an einer vermehrten Einforderung marktwirtschaftlicher Prinzipien richtig. Dies sollte jedoch ausgeweitet werden auf den Grundgedanken, dass Verantwortung und Haftung auch für nationale Politik zu­ sammengehören. Die Entwicklung finanz- und währungspolitischer Rettungsschirme seit der Eurokrise bringt die Gefahr mit sich, dass die Anpassungskosten politischer Stagnation und selbstverschuldeter Reformlücken gezielt auf die europäischen „Part­ nerländer“ umgelegt werden.

Literatur Belke, Ansgar und Jens Klose. 2018. Equilibrium Real Interest Rates, Secular Stagnation, and the Fi­ nancial Cycle – Empirical Evidence for Euro-Area Member Countries. Ruhr Economic Papers 743, Universität Duisburg-Essen. Blanchard, Oliver J. 2019. Public Debt and Low Interest Rates. American Economic Review, 109 (4), 1197–1229. Borio, Claudio. 2014. The Financial Cycle and Macroeconomics – What Have We Learnt. Journal of Banking and Finance, 45, 182–198. Borio, Claudio, Piti Disyatat und Phurichai Rungcharoenkitkul. 2019. What Anchors for the Natural Rate of Interest? BIS Working Papers 777, Basel. Juselius, Mikael, Claudio Borio, Piti Disyatat und Mathias Drehmann. 2016. Monetary Policy, the Financial Cycle and Ultralow Interest Rates. BIS Working Papers 569, Basel. Spahn, Peter. 2016. Streit um die Makroökonomie – Theoriegeschichtliche Debatten von Wicksell bis Woodford. Marburg. Terzi, Andrea. 1986. The Independence of Finance from Saving – A Flow-of-Funds Interpretation. Journal of Post Keynesian Economics, 9 (2), 188–197.

17 Dass der natürliche Zins in Italien tatsächlich bei −50 Prozent liegen soll, darf allerdings bezweifelt werden.

Heinz-Dieter Smeets

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU 1

Grundlagen | 153

2

Die Lissabon Strategie | 154

3

Europa 2020 | 161 3.1 Die Strategie und ihre Ergebnisse | 161 3.2 Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Probleme | 165 3.3 Umsetzungsstrategie – Lehren aus der Lissabon Strategie? | 166

4

Ausblick | 168

5

Anhang | 170

1 Grundlagen Neben dem übergeordneten friedensstiftenden Ziel stand stets die Wohlfahrtssteige­ rung im Sinne eines stetigen Wirtschaftswachstums im Mittelpunkt der europäischen Integration. Bereits Artikel 2 des EWG-Vertrags sieht die Aufgabe der Gemeinschaft darin, „durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise An­ näherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewoge­ ne Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Le­ benshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in die­ ser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind“. In Artikel 6 heißt es dazu weiter: „Die Mitgliedstaaten koordinieren in enger Zusammenarbeit mit den Organen der Gemein­ schaft ihre Wirtschaftspolitik, soweit dies zur Erreichung der [oben genannten] Ziele dieses Vertrags erforderlich ist“. Artikel 2 zeigt ferner, dass die Errichtung der Zoll­ union und nachfolgend die Vollendung des Gemeinsamen Marktes, der heute als Eu­ ropäischer Binnenmarkt bezeichnet wird, von Beginn an als wichtiges Mittel zur Rea­ lisierung des Wachstumsziels angesehen wurden. Auf eine breitere Basis gestellt wurde die wachstumspolitische Strategie erst mit der im Jahre 2000 startenden Lissabon Agenda, in deren Rahmen wirtschafts-, be­ schäftigungs-, sozial- und umweltpolitische Ziele verfolgt und koordiniert wurden. Damit wollte die EU den Herausforderungen der Globalisierung begegnen. Auf der einen Seite sollte insbesondere die Wachstumslücke gegenüber den USA geschlos­ sen und auf der anderen Seite auf die wirtschaftliche Konkurrenz durch die neuen asiatischen Großmächte China und Indien reagiert werden (Wissenschaftliche Diens­ te 2006: 1). Doch schon bald stellte sich heraus, dass sich die im Jahre 2000 vor dem Hintergrund von Börsenboom, Konjunkturaufschwung und New Economy formulier­ ten Ziele nicht halten ließen. Daher kam es ab 2005 zu einer Fokussierung auf die https://doi.org/10.1515/9783110696745-006

154 | Heinz-Dieter Smeets

wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Ziele – ohne dadurch allerdings den ge­ wünschten Erfolg zu erzielen. Trotz des weitgehenden Misserfolgs der Lissabon Strategie wurde 2010 die neue Wachstumsstrategie „Europa 2020“ ins Leben gerufen, die von den Zielen her im Kern durchaus als eine – wenig inspirierte – Fortführung der ursprünglichen Lissa­ bon Agenda interpretiert werden kann. Durch die im Jahre 2008 mit der Lehman-Pleite auf Europa übergreifende Finanzkrise und die nachfolgende weltweite Rezession, ste­ hen allerdings in dieser neuen Wachstumsstrategie eher makroökonomische Ziele im Vordergrund. Der Fokus der weiteren Überlegungen liegt auf den wachstumspolitischen Über­ legungen der Lissabon Strategie und der Agenda „Europa 2020“. Analysiert werden dabei deren Zielsetzungen, die konzeptionellen sowie die Umsetzungs-Probleme.

2 Die Lissabon Strategie Vor dem Hintergrund boomender Märkte wurde Ende der 1990er-Jahre die Lissabon Strategie entwickelt, die für die Jahre 2000 bis 2010 den wachstumspolitischen Rah­ men der EU bildete. Ihr ambitioniertes Ziel war es, „die Union zum wettbewerbsfähigs­ ten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzie­ len“ (Europäischer Rat 2000: 2). Dazu wurden wirtschafts-, beschäftigungs-, sozialsowie umweltpolitische Ziele formuliert und länderübergreifend koordiniert. Die um­ weltpolitischen Ziele wurden allerdings erst 2001, also nachträglich, aufgrund der Be­ schlüsse des Gipfels von Göteborg in die Agenda aufgenommen (siehe Abbildung 1). Nachdem zunächst 107 Strukturindikatoren als Maßstab der Umsetzungsbilanz und als Basis für die Vergleichbarkeit der nationalen Berichte von Seiten der EU aufge­

Ziele der Lissabon Strategie (2000 –2010)

Wirtschaftspolitische Ziele

Beschäftigungspolitische Ziele

Sozialpolitische Ziele

(Ab 2005 im Focus)

Abb. 1: Lissabon Strategie (Quelle: Eigene Darstellung).

Umweltpolitische Ziele (2001 ergänzt)

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

| 155

listet wurden, reduzierte man diesen Zielkatalog bis 2004 auf einen begrenzten Kreis quantitativer und qualitativer (Zwischen-)Ziele. Hierzu gehören insbesondere: 1. Anstieg des BIPs pro Kopf um durchschnittlich 3 Prozent pro Jahr 2. Zunahme der Arbeitsproduktivität, um den Abstand zu den USA zu verringern 3. Erwerbstätigenquote von insgesamt 70 Prozent 4. Erwerbstätigenquote von Frauen 60 Prozent 5. Erwerbstätigenquote älterer Arbeitnehmer 50 Prozent 6. Stetige Erhöhung der (privaten und öffentlichen) Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) auf bis zu 3 Prozent des BIPs. Zwei Drittel der Ausgaben soll die Privatwirtschaft erbringen 7. Anstieg der Unternehmensinvestitionen gemessen am BIP 8. Verbesserte Ausbildung Jugendlicher (Halbierung der Zahl der 18- bis 24-jährigen, die lediglich über einen Abschluss der Sekundarstufe I verfügen) 9. Umsetzung aller Binnenmarktrichtlinien bis 2003 10. Reduktion der Treibhausgase im Verhältnis zu 1990 (Einhaltung der Kyoto-Ziele). 11. Verbesserung der Energieeffizienz 12. Der Anteil erneuerbarer Ressourcen soll – gemessen am Primärenergiebedarf – auf 12 Prozent erhöht werden 13. Quote der von Armut bedrohten Menschen soll reduziert werden Das Wachstumsziel in Höhe eines durchschnittlichen Anstiegs des BIPs pro Kopf von 3 Prozent sollte dabei durch die Realisierung der anderen (Zwischen-)Ziele erreicht werden. Wie Abbildung 2 veranschaulicht, fielen die angestrebten Wachstumsraten aber zu Beginn des neuen Jahrtausends deutlich hinter die Zielmarke zurück. Abbil­

Prozent

25,0 22,5 20,0 17,5 15,0 12,5 10,0 7,5 5,0 2,5

24,4

Aggregiertes BIP pro Kopf (ab 2000)

EU-28 19,4

2010 14,2

EU-15

2010 11,3

3

3,00

Prozent

1 -1 -3 BIP pro Kopf -5 1996

1998

2000

2002

2004

2006

2008

2010

2012

2014

2016

2018

Abb. 2: Reales BIP pro Kopf in der EU (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf der Basis von Macrobond).

156 | Heinz-Dieter Smeets

dungen A1 und A2 im Anhang zeigen zudem, dass auch die zentralen (Zwischen-)Zie­ le Beschäftigungsanstieg und vermehrte Ausgaben für F&E in der ersten Phase der Lissabon Strategie nicht erfüllt werden konnten. Umfassende Zwischen-Evaluationen durch Expertenkommissionen unter der Leitung von Andre Sapir (2003) und Wim Kok (2004) machten ebenfalls deutlich, dass die EU als Gesamtheit die gesteckten Ziele bei weitem nicht würde realisieren können. Dabei wurde allerdings auch deutlich, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern der EU in der jeweilig ak­ tuellen Abgrenzung gab (Breuss 2005), die hier aus Platzgründen allerdings nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Das Ziel der Lissabon Strategie, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dyna­ mischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen, verbunden mit der oben erläuterten Operationalisierung dieser Ziele führt zu deren „theoretischen“ Grundlagen, in deren Mittelpunkt die Wettbewerbsfähigkeit (von Volkswirtschaften) steht. Dabei gibt es allerdings eine Vielzahl von Definitionen und damit verknüpften Indikatoren, um dieses Phänomen zu erfassen und zu bewerten – vorausgesetzt, man ist nicht der Ansicht, dass es sich bei der internationalen Wettbewerbsfähigkeit um ei­ nen bedeutungslosen, ja sogar gefährlichen Begriff handelt, wenn man ihn auf Volks­ wirtschaften anwendet (Krugman 1994). Grundlästzlich lassen sich vier Konzepte¹ zur Interpretation der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unterscheiden: (1) Ability to sell: Im Mittelpunkt dieses Konzepts steht die Fähigkeit einer Volkswirt­ schaft, möglichst viele Waren und Dienstleistungen insbesondere auf ausländi­ schen Märkten verkaufen zu können. Gemessen wird diese Form der internatio­ nalen Wettbewerbsfähigkeit in der Regel durch den Handels- beziehungsweise Leistungsbilanzsaldo, Außenhandelsanteile (constant market share und revealed comparative advantage Analyse) sowie am realen effektiven Wechselkurs auf der Basis unterschiedlicher Inflationsraten oder Kostenentwicklungen. (2) Ability to attract: Hierbei geht es darum, die internationale Wettbewerbsfähigkeit als Fähigkeit eines Landes zu interpretieren, (international) mobile Faktoren auf sich zu ziehen. Die in diesem Zusammenhang typischen Indikatoren umfassen et­ wa Standortfaktoren wie Steuern und Löhne, die Arbeitslosenquote beziehungs­ weise die Zahl qualitativ hochwertiger Arbeitsplätze sowie den Saldo ausländi­ scher Direktinvestitionen. (3) Ability to adjust: Dieser Ansatz beurteilt die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit, Anpassungsgeschwindigkeit und der Effi­ zienz der Anpassungsprozesse als Folge neuer Entwicklungen auf der Angebotsoder Nachfrageseite. An konkreten Indikatoren für die so abgegrenzte Wettbe­ werbsfähigkeit mangelt es allerdings. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass

1 Auf die umfangreiche Diskussion um die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Staaten kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden. Zur Darstellung und Kritik an den verschiedenen Konzepten und Indikatoren siehe etwa Trabold (1995).

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

|

157

eine weitgehende Flexibilität von Arbeitsmärkten und der damit verbundenen Lohnbildung sowie der Wechselkurse erforderlich ist, um internationale Wettbe­ werbsfähigkeit zu erhalten. (4) Ability to earn: In diesem Rahmen geht es um die Fähigkeit eines Landes, etwa durch den Verkauf von Waren und Dienstleistungen auf internationalen Märkten, das Realeinkommen seiner Bürger zu steigern. Sieht man einmal von Bodenschät­ zen ab, dann steht die technologische Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft im Mittelpunkt dieser Betrachtung. Als Indikatoren werden typischerweise das reale Pro-Kopf-Einkommen und die damit in engem Zusammenhang stehende Arbeits­ produktivität herangezogen. Unter diese Definition lässt sich auch das (weiterhin) im Rahmen der gesamten Wachstumsstrategie verfolgte Ziel der EU eingruppieren, den Binnenmarkt – ins­ besondere im Bereich der Dienstleistungen – weiter voranzutreiben und zu ver­ vollständigen. Dies soll – wie die nachstehende Abbildung 3 veranschaulicht – zunächst die Produktivität und letztlich das Wachstum des BIPs und die Beschäf­ tigungsrate steigern.

Druck auf die Preise Kosten

Makroökonomische Entwicklung Wachstum von BIP und Beschäftigung, F&E Abb. 3: Wachstumswirkungen des Binnenmarktes (Quelle: EU 1999).

Verknüpfen lassen sich die zuvor angestellten Überlegungen, indem man „die Wettbe­ werbsfähigkeit einer Volkswirtschaft als ein pyramidenförmiges System [. . . ] interpre­ tiert [siehe Abbildung 4], wobei die Komponenten ‘ability to sell’, ‘ability to attract’ und ‘ability to adjust’ die Basis für die ‘ability to earn’ darstellen. Im Zentrum des

158 | Heinz-Dieter Smeets

Systems steht dabei das in der Volkswirtschaft in Form von Humankapital und Tech­ nologie verfügbare Wissen, das die Höhe der Pyramide und damit das Realeinkom­ men beziehungsweise das Wirtschaftswachstum entscheidend beeinflusst“ (Trabold 1995: 182).

Ability to earn

WISSEN

Ability to sell

Ability to attract

Ability to adjust

Abb. 4: Internationale Wettbewerbsfähigkeit (Quelle: Trabold 1995: 182).

Eine solche (umfassende) Interpretation der internationalen Wettbewerbsfähig­ keit ermöglicht zudem eine Verbindung mit den Ansätzen der endogenen Wachstums­ theorie (Frenkel/Hemmer 1999), in deren Mittelpunkt nicht mehr der vermehrte Ein­ satz bekannter, sondern vielmehr die Entwicklung neuer Kapitalgüter steht. Innova­ tionsgetriebene Wachstumsansätze lassen sich daher auch als eine Fortentwicklung des Schumpeter‘schen Prozesses der „schöpferischen Zerstörung“ verstehen, in dem es sowohl zu Produkt- als auch Prozessinnovationen kommt. Diese Innovationen er­ geben sich wiederum durch den Einsatz von Humankapital in F&E-Aktivitäten bei Verwendung des aktuellen technischen Wissens. Im Gegensatz zum Humankapital ist Wissen dabei nicht an einzelne Personen oder Faktoren gebunden, sondern steht allen Wirtschaftssubjekten – etwa in Form von Literatur – zur Verfügung. Doch erst die Ver­ bindung von Humankapital und Wissen, die im Bereich F&E erfolgt, bildet die Grund­ lage für Innovationen in der Volkswirtschaft. Der F&E-Sektor „produziert“ folglich auf der einen Seite Innovationen, auf der anderen Seite aber in diesem Rahmen auch zu­ sätzliches neues Wissen, das als positiver externer Effekt allen Forschern für weitere F&E-Tätigkeiten zugutekommt. Hierdurch erhöht sich wiederum die Produktivität im F&E-Sektor. Erweitert man diese Überlegungen um außenwirtschaftliche Aspekte, so kann zum Beispiel der Rückgriff auf im Ausland entwickeltes Wissen bei eigenen For­ schungsaktivitäten oder der Einsatz von im Ausland entwickelten Innovationen im ei­ genen Produktionsprozess einem Land zusätzliche Außenhandelsvorteile erbringen. Die endogene Wachstumstheorie kommt vor diesem Hintergrund zu dem Er­ gebnis, dass wirtschaftspolitische Maßnahmen in der Lage sind, die langfristige Wachstumsrate einer Volkswirtschaft zu beeinflussen. Dabei steht die Bildung von

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

| 159

Humankapital im Mittelpunkt der Überlegungen. Von gravierender wirtschaftspoli­ tischer Bedeutung ist aber darüber hinaus auch die außenwirtschaftliche Öffnung. Sie kann sowohl über Skaleneffekte größerer Märkte als auch über die Partizipation an neuem Wissen das wirtschaftliche Wachstum beeinflussen. Diese Überlegungen zeigen auch vor diesem Hintergrund die – immer wieder von Seiten der EU betonte – Bedeutung einer weiteren Vertiefung des Binnenmarktes. Die Europäische Kommission (2002: 4) selbst definiert Wettbewerbsfähigkeit „als dauerhaften Anstieg der Realeinkommen und der Lebensstandards in Regionen oder Staaten, bei einem Arbeitsplatzangebot für alle, die eine Beschäftigung suchen“. Da­ bei sieht sie die „Produktivität als Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit der europäi­ schen Volkswirtschaften und Unternehmen“. Diese Definition stellt unzweideutig die „Ability to earn“ in den Mittelpunkt der Erklärung internationaler Wettbewerbsfähig­ keit. Die oben aufgeführten Ziele der Lissabon Strategie belegen dies durch die Indi­ katoren BIP-pro-Kopf sowie Produktivität eindeutig. Das weitere Ziel, die Ausgaben für F&E auf 3 Prozent des BIPs anzuheben, lässt sich ferner – im Sinne der endoge­ nen Wachstumstheorie und Abbildung 4 – als der Versuch interpretieren, das verfüg­ bare Wissen als Basis für das angestrebte Wachstum auszuweiten. Weniger eindeu­ tig ist allerdings die Interpretation einer verbesserten beziehungsweise vermehrten (Hochschul-) Ausbildung. Wachstumspolitisch ließen sich diese Ziele wiederum als eine Stärkung des Humankapitals interpretieren, die das künftige Wachstum anhebt. Zusammen mit dem Beschäftigungsziel gewinnt man allerdings eher den Eindruck, dass diese Ziele von Seiten der EU als sozialpolitische Flankierung des Wachstums­ ziels angesehen werden. Aufgrund der schwachen „Halbzeit“-Bilanz kam es ab 2005 zu einer Straffung der Lissabon Strategie und zu einer Fokussierung auf die beiden Politikbereiche Wirt­ schaft und Beschäftigung, während der sozial- und der umweltpolitische Bereich in den Hintergrund traten. Doch auch diese Schärfung des Profils führte nicht dazu, dass man den zentralen Zielen näherkam. So lag das durchschnittliche Wachstum pro Kopf 2010 – je nach der Abgrenzung der EU – zwischen 1.1 und 1.4 Prozent (siehe Abbil­ dung 2). Auch die Beschäftigungsquote und die Ausgaben für F&E lagen zu diesem Zeitpunkt deutlich unter den angestrebten Zielmarken und nur wenig über den Aus­ gangswerten des Jahres 2000 (siehe Abbildungen A1 und A2 im Anhang). Als Gründe für diese schwache Gesamtbilanz werden insbesondere die folgenden Argumente an­ geführt: (1) Während der Umsetzung der Lissabon Strategie kam es zur Erweiterung der EU um insgesamt zwölf neue Mitgliedsländer („Ost“-Erweiterung plus Bulgarien und Rumänien), die zum Zeitpunkt ihres Beitritts ein deutlich niedrigeres Entwick­ lungsniveau aufwiesen als die Mitglieder der bis dahin bestehenden EU. Hier­ durch wurde die Umsetzung der Lissabon Strategie erheblich erschwert. (2) Externe Schocks in Form der Finanz-, der realwirtschaftlichen und der Staats­ schulden-Krise in den Jahren ab 2008 bildeten ein weiteres Argument dafür, dass sich die anvisierten Zielmarken nicht realisieren ließen.

160 | Heinz-Dieter Smeets

(3) Die Lissabon-Strategie wies gravierende konzeptionelle Probleme auf. Die Viel­ zahl von betrachteten Indikatoren führte – selbst nach der Straffung im zweiten Teil der Agenda – zu einem überladenen Gesamtkonzept, in dem nahezu alle EUPolitiken mit den Lissabon-Zielen verknüpft wurden. In der Folge kam es zu über­ frachteten Programmen und einer fehlenden eindeutigen Prioritätensetzung. Dabei geht es allerdings nicht nur um die Anzahl und die Auswahl der Ziele, sondern auch um deren konkrete und eindeutige Operationalisierung (Berg et al. 2007: 314 f.). Insbesondere das Wirtschaftswachstum selbst steht als eigen­ ständiges Ziel bereits seit langem in der Kritik, weil es das kaum vorhersehbare Ergebnis individueller einzelwirtschaftlicher Entscheidungen widerspiegelt (Woll 1968). Teilt man die Bedenken gegen eine aktive Wachstumspolitik des Staates, so ließe sich das (engere) wirtschaftspolitische Zielsystem im Extremfall auf die Preisniveaustabilität und einen hohen Beschäftigungsstand reduzieren. Unge­ achtet solcher Bedenken lässt es „der Staat [wie auch im vorliegenden Fall der EU zu sehen ist] jedoch [. . . ] nicht an wachstumspolitischem Engagement fehlen und setzt dazu insbesondere sein industrie-, bildungs-, forschungs- und außen­ wirtschaftspolitisches Instrumentarium ein“ (Berg et al. 2007: 317). Darüber hinaus wurden die theoretischen Grundlagen (vgl. Berg et al. 2007; Cas­ sel/Thieme 2007) und die damit einhergehende Zuordnung von Instrumenten zur Realisierung der gesteckten Ziele sowie die Zielbeziehungen untereinander (Har­ monie oder Konflikt) zu wenig untersucht und thematisiert (Becker/Hishow 2005: 6; sowie Breuss 2005: 7 ff.). (4) Die Umsetzung der Strategie mit Hilfe der „Offenen Methode der Koordinierung“ führte zu unklaren Zuständigkeiten und Kontrollen. Diese Methode kann in Berei­ chen angewandt werden, in denen die EU grundsätzlich keine Regelungskompe­ tenz besitzt, für die aber „europäischer Handlungsbedarf“ besteht (Oppermann 2005, § 6, Rn. 114). Dabei einigen sich die EU-Mitgliedstaaten im Grundsatz frei­ willig auf gemeinsame Ziele. Über das Setzen von Zielvorgaben – den sogenann­ ten Benchmarks und Indikatoren – und die Veröffentlichung vergleichender Fort­ schrittsberichte soll auf informellem Weg Druck auf die Mitgliedstaaten ausge­ übt werden, sich zielkonform zu verhalten. „Dennoch bleiben die gesetzten Ziele rechtlich unverbindlich. Ein Mitgliedstaat, dessen Politik die Lissabon-Strategie nicht berücksichtigt, sieht sich daher keinen Sanktionen ausgesetzt.“ (Wissen­ schaftliche Dienste 2006: 5). Gemeinsame Zieldefinitionen traten somit an die Stelle von Rechtsvorschriften, die wiederum lediglich politisch verpflichtend wa­ ren. Die Umsetzung dieser europäischen Vorgaben sollte – aufgrund der unterschied­ lichen Ausgangslagen und vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips – auf (individueller) nationaler und regionaler Ebene erfolgen. Der EU-Kommission fiel dabei die Aufgabe zu, die nationalen Reformprogramme aufgrund der zuvor er­ läuterten umfangreichen Indikatorliste zu überwachen. Dazu legte sie jährlich auf dem Frühjahrsgipfel des Europäischen Rates umfangreiche Berichte und Analy­

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

| 161

sen vor, die allerdings von den Mitgliedstaaten zunehmend als Belastung ohne tatsächlichen Mehrwert angesehen wurden. Darüber hinaus wurden die fehlen­ den Sanktionsmöglichkeiten im Rahmen dieser Koordinierungsmethode bemän­ gelt.

3 Europa 2020 3.1 Die Strategie und ihre Ergebnisse Trotz des ungenügenden Erfolgs der Lissabon Strategie wurde 2010 die neue Wachs­ tumsagenda Europa 2020 für den kommenden Zehnjahreszeitraum verkündet. Ihr Ziel ist es, intelligentes, nachhaltiges und integratives wirtschaftliches Wachstum in der EU zu gewährleisten. Konkretisiert werden diese Ziele – wie Abbildung 4 weiter ver­ deutlicht – durch die für die Evaluation und den ländermäßigen Vergleich operationa­ lisierten Zwischenziele, die die nachfolgend aufgeführten Indikatoren und angestreb­ ten Grenzwerte umfassen: 1. Erhöhung der Beschäftigungsquote der 20- bis 64-jährigen auf mindestens 75 Pro­ zent. 2. Anhebung der öffentlichen und privaten Investitionen in F&E auf 3 Prozent des BIPs. 3. Verminderung der Treibhausgasemissionen um mindestens 20 Prozent gegenüber 1990. 4. Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien am Energieendverbrauch auf 20 Pro­ zent. 5. Steigerung der Energieeffizienz um 20 Prozent (entspricht einer Verringerung des Endenergieverbrauchs auf 1086 Millionen Tonnen RÖE). 6. Verringerung des Anteils frühzeitiger Schulabgänger (der 18- bis 24-jährigen) auf weniger als 10 Prozent. 7. Erhöhung des Anteils der 30- bis 34-jährigen mit Hochschulabschluss auf min­ destens 40 Prozent. 8. Verringerung der Anzahl derjenigen Menschen, die von Armut und sozialer Aus­ grenzung bedroht sind, um mindestens 20 Millionen im Vergleich zu 2008. Diese Liste macht zudem deutlich, dass das primär angestrebte Ziel Wirtschaftswachs­ tum – im Gegensatz zur Lissabon Strategie – selbst nicht quantifiziert wurde, son­ dern vielmehr an den acht zuvor aufgelisteten Parametern und deren Zielerreichung gemessen wird. Durch sieben Leitinitiativen und zehn integrierte Leitlinien soll der Rahmen für die Umsetzung der zuvor erläuterten (Zwischen-)Ziele gesetzt und kon­ kretisiert werden. Dabei sind die Leitinitiativen eins und zwei dem Bereich intelligen­ tes, die Leitinitiativen drei bis fünf dem Bereich nachhaltiges und die Leitinitiativen

162 | Heinz-Dieter Smeets

Ziele:

Steuerung (Governance) der Strategie

Verbesserte Politikkoordination Überwachung der Implementierung Synchronisation der Prozesse durch das Europäische Semester Enge Einbindung weiterer Akteure

Intelligentes, nachhaltiges und integratives wirtschaftliches Wachstum Konkretisierte Zwischenziele

Leitinitiativen

Integrierte Leitlinien

1.

Beschäftigungsziel

1. 2.

Innovationsunion Jugend in Bewegung

1. 2.

2.

F&E Ziel

3.

3.

Klimaschutzziele

4.

Digitale Agenda für Europa Ressourcenschonendes Europa Industriepolitik

4.

Bildungsziele

5.

Armutsbekämpfungsziel

5. 6.

EU-Binnenmarkt

7.

Neue Beschäftigungsmöglichkeiten Plattform zur Bekämpfung der Armut

EU-Budget

Öffentl. Finanzen Makroökon. Ungleichgewichte 3. Ungleichgewichte in der Eurozone 4. F&E und digitale Wirtschaft 5. Ressourceneffizienz und CO2 Ausstoß 6. Rahmenbedingungen für Unternehmen und Industrie 7. Beschäftigungsquote 8. Qualifizierung von Arbeitskräften 9. Bildungssysteme 10. Armutsbekämpfung

Außenwirtschaftliche Agenda

Abb. 5: Europa 2020 (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Becker 2011: 9).

sechs und sieben dem Bereich integratives Wachstum zugeordnet. Ebenfalls in den Dienst der Kernziele werden (weiterhin) die Vollendung des Binnenmarktes und die außenwirtschaftliche Agenda der EU sowie – neu in diesem Rahmen – der EU Haus­ halt gestellt. Die Abbildungen A1 bis A8 im Anhang zeigen dabei, dass insbesondere das Be­ schäftigungsziel sowie die angestrebten Ausgaben für F&E bisher nicht erreicht wur­ den und wohl auch bis 2020 nicht erreicht werden. Demgegenüber fallen die Ergeb­ nisse bei den weiteren Zwischenzielen gemischt aus. Darüber hinaus wird auch hier deutlich, dass die ländermäßigen Zielerreichungsgrade erhebliche Unterschiede auf­ weisen (Eurostat 2017). Das schwache Ergebnis bei den wachstumspolitischen Zielen ist wohl auch dar­ auf zurückzuführen, dass die „Europa 2020“-Agenda von Beginn an durch die Folgen der Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise dominiert wurde. Dadurch trat ne­ ben die langfristigen Strukturreformen in zunehmendem Maße die Koordination der kurzfristigen Krisenbewältigung hinzu. Zwar waren Ziele wie die effektive Koordinie­ rung der makroökonomischen Politik in der EU sowie die Konsolidierung der Staats­ haushalte bereits als Bestandteile in der „Europa 2020“-Strategie enthalten; allerdings veränderte sich deren Stellenwert vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen deutlich.

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

| 163

Abb. 6: Drei Szenarien für Europa bis zum Jahr 2020 (Quelle: Europäische Kommission 2010: 9).

Während die bereits in der Lissabon-Strategie enthaltenen Konsolidierungsziele bis­ her als Mittel zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung gedacht waren, soll ein stärkeres europaweites Wirtschaftswachstum nun dafür sorgen, die Staatsverschul­ dung zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund stand folglich die makroökonomische Stabilisierung (In­ tegrierte Leitlinien eins bis drei) im Vordergrund der neuen Wachstumsstrategie, die aber mit ihren angebotsorientierten Maßnahmen selbst wiederum dazu beitragen soll­ te, die Krise(n) zu überwinden. Dabei lassen sich drei mögliche Konstellationen un­ terscheiden, an denen die Wirksamkeit der aktuellen Wachstumsstrategie mit Blick auf die Krisenbewältigung beurteilt werden kann (siehe Abbildung 6). Abbildungen 7 bis 9 zeigen jedoch, dass es von den großen Mitgliedsländern le­ diglich Deutschland geschafft hat, das aktuelle Wachstum nach dem krisenbeding­ ten Einbruch zu steigern und dadurch seit 2016 den ursprünglichen Wachstumspfad zu überschreiten. Demgegenüber scheinen sowohl Frankreich als auch Italien erst ab 2016 den alten Wachstumspfad wieder erreicht zu haben. Dabei hatte Italien in der

164 | Heinz-Dieter Smeets

Zeit von 2008 bis 2016 deutlich höhere Wachstumseinbußen zu verzeichnen als Frank­ reich. 3,0 2,9 Ab 2009 Status-QuoProjektion

2,8

Euro (Bio.)

2,7 2,6 2,5 2,4 2,3 2,2 2000

2002

2004

2006

2008

2010

2012

2014

2016

2018

Abb. 7: Entwicklung des realen BIPs in Deutschland (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung auf der Basis von Macrobond). 2,5 Ab 2009 Status-QuoProjektion

2,4 2,3

Euro (Bio.)

2,2 2,1 2,0 1,9 1,8 1,7 2000

2002

2004

2006

2008

2010

2012

2014

2016

2018

Abb. 8: Entwicklung des realen BIP in Frankreich (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung auf der Basis von Macrobond).

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

| 165

1,90 Ab 2009 Status-QuoProjektion

1,85 1,80

Euro (Bio.)

1,75 1,70 1,65 1,60 1,55 1,50 1,45 2000

2002

2004

2006

2008

2010

2012

2014

2016

2018

Abb. 9: Entwicklung des realen BIP in Italien (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung auf der Basis von Macrobond).

3.2 Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Probleme Das übergeordnete Ziel eines intelligenten, nachhaltigen und integrativen wirtschaft­ lichen Wachstums wird im Rahmen von Europa 2020 nicht unmittelbar operationali­ siert, sondern lediglich über die zuvor erläuterten (konkretisierten) Zwischenziele. Da­ bei wird auch die Wettbewerbsfähigkeit erneut als entscheidendes Kriterium für den Erfolg dieser Strategie herausgestellt. So heißt es in der Schlusserklärung des Europäi­ schen Rats (2010): „Unsere Bemühungen müssen zielgerichteter sein, um die Wettbe­ werbsfähigkeit, die Produktivität, das Wachstumspotenzial und die Wirtschaftskon­ vergenz Europas zu steigern.“ Diese Aussage lässt sich wiederum – wie bereits im Rahmen der Lissabon-Strategie erläutert – als Erzielung (gesamteuropäischer) Wett­ bewerbsfähigkeit gegenüber Drittländern im Sinne der „ability to earn“ interpretieren. Im Gegensatz dazu findet man allerdings keine quantitativen Indikatoren für die (so abgegrenzte) Wettbewerbsfähigkeit unter den oben genannten Kernzielen der Strate­ gie. Hinzu kommt nun allerdings im Rahmen des Verfahrens zur Vermeidung und Kor­ rektur makroökonomischer Ungleichgewichte eine zweite Interpretation von Wettbe­ werbsfähigkeit, die sich primär an der makroökonomischen Situation der einzelnen Mitgliedstaaten (insbesondere der Eurozone) orientiert. Hierbei stehen nachfrageori­ entierte Überlegungen im Sinne der „ability to sell“ im Vordergrund, was die Verwen­ dung von Indikatoren wie den Leistungsbilanzsaldo, Exportanteile und reale effektive Wechselkurse belegen. Im Gegensatz zur global orientierten Wettbewerbsfähigkeit der

166 | Heinz-Dieter Smeets

wachstumsorientierten Strategiebereiche geht es hier allerdings stärker um die Wett­ bewerbsfähigkeit innerhalb der Eurozone selbst. Ebenso unklar bleiben auch die konkreten Mittel, mit denen die (Zwischen-) Ziele erreicht werden sollen. Die Leitinitiativen und integrierten Leitlinien stellen lediglich einen weit gefassten Handlungsrahmen dar, dem es allerdings an konkreten Maß­ nahmen mangelt. Das gilt selbst für die (Querschnitts-)Bereiche EU-Binnenmarkt und außenwirtschaftliche Agenda der EU. Durch die weitere Vertiefung des Binnenmarkts können primär innereuropäische Handelsvorteile und durch eine multilaterale Han­ delspolitik im Rahmen der WTO sowie durch bilaterale Handelsabkommen offene Märkte gegenüber Drittländern geschaffen werden. Neu in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass das EU Budget in den Dienst der Wachstumsstrategie gestellt wird. Die aktuelle Wachstumsstrategie leidet darüber hinaus – ähnlich wie bereits die Lissabon Strategie – daran, dass die Beziehung zwischen den zahlreichen (Zwischen-) Zielen nicht untersucht wird. Man geht vielmehr ohne weitere Prüfung davon aus, dass sie sich gegenseitig verstärken (EU Kommission 2010: 10). Diese Ansicht mag ferner dazu geführt haben, dass keine Prioritäten bei der Umsetzung vorgenommen wurden.

3.3 Umsetzungsstrategie – Lehren aus der Lissabon Strategie? Die im Mittelpunkt der Lissabon-Strategie stehende Umsetzungsstrategie in Form der offenen Methode der Koordinierung wird im Rahmen von „Europa 2020“ nicht mehr explizit erwähnt. Darin drückt sich das Bestreben der EU-Kommission aus, „die Ver­ antwortung der Akteure für die Implementierung der Strategie und der spezifischen Maßnahmen zu erhöhen. Die Kommission will die Möglichkeit, einen Mitgliedstaat nach Artikel 121 Absatz 4 AEUV förmlich verwarnen zu können, [. . . ] auf alle Berei­ che der ‚Europa 2020‘-Strategie ausweiten“ (Becker 2011: 22). Die seit 2008 auftre­ tenden Krisen haben darüber hinaus dazu geführt, dass neben die aus der LissabonStrategie bekannte wachstumspolitische Koordinierung in zunehmendem Maße auch weitere Koordinierungs- und Überwachungsmechanismen im stabilitätspolitischen Bereich eingeführt wurden. Der neue Governance-Ansatz, der auf diese Weise im Rah­ men der „Europa 2020“-Strategie entstanden ist, basiert auf einem jährlichen Monito­ ring- und Koordinationszyklus in Form des 2012 eingeführten „Europäischen Semes­ ters“, in dessen Mittelpunkt folgende Aufgaben stehen: 1. Das Monitoring der wachstumsfördernden nationalen Politiken und Maßnah­ men, deren Fortschritte an den oben erläuterten konkretisierten (Zwischen-) Zielen gemessen werden (Europa 2020 im engeren Sinne). 2. Die Überprüfung der Vorgaben aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP). 3. Die verstärkte Überwachung makroökonomischer Ungleichgewichte unter dem speziellen Gesichtspunkt der nationalen Wettbewerbsfähigkeit.

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

| 167

Europa 2020 Wirtschaftspolitik

Beschäftigungspolitik

Sozialpolitik

Umweltpolitik

Makroökonomisches Überwachungsverfahren

SWP

Euro‐Plus‐Pakt

Koordination im Rahmen des Europäischen Semesters

EZB

ESM

Bankenunion

Abb. 10: Aktuelle Politikkoordination in der EU (Quelle: Eigene Darstellung).

Der Euro-Plus-Pakt, dem sich auch die Nicht-Euroländer Bulgarien, Dänemark, Lett­ land, Litauen, Polen und Rumänien angeschlossen haben, verstärkt die wirtschafts­ politische Koordinierung seit März 2011 noch weiter. Schwerpunktbereiche des Paktes sind neben der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sowie die Stabilisierung des Finanzsektors. Der Euro-Plus-Pakt soll damit auch dazu beitragen, die Kernziele der „EU 2020“-Strategie – zum Beispiel in den Bereichen Beschäftigung, Forschung und Innovation und Bildung – zügiger zu erreichen. Dieser Pakt weist al­ lerdings erhebliche Überschneidungen mit den bereits bestehenden Koordinierungs­ instrumenten auf. Die Wahl der Ziele und Maßnahmen bleibt hierbei in nationaler Verantwortung. Ganz bewusst sollen die teilnehmenden Staaten selbst festlegen, wo sie Schwerpunkte setzen und welche Maßnahmen sie ergreifen wollen. Eine weitere Politikkoordination – insbesondere im Bereich der Eurozone – ergab sich durch gemeinschaftliche Institutionen. Neben der bereits existierenden Europäi­ schen Zentralbank traten im Rahmen der Staatsschuldenkrise der Europäische Stabi­ lisierungsmechanismus (ESM) und die Bankenunion hinzu. Abbildung 10 fasst diesen Koordinationsrahmen noch einmal zusammen. Die grün umrandeten „Institutionen“ wurden dabei erst im Rahmen der Krisenbewältigung neu geschaffen oder zumindest reformiert. Die wachstumspolitischen Ziele im Rahmen der „Europa 2020“-Strategie sowie die Ziele des Euro-Plus-Pakts sind – wie zuvor bereits erläutert – nicht sanktions­ bewehrt. Entscheidend für deren Realisierung wird deshalb die Implementierung in und durch die Mitgliedstaaten selbst sein. Die Umsetzung der in diesem Zusammen­

168 | Heinz-Dieter Smeets

hang spezifizierten Ziele wird entscheidend davon abhängen, ob die Interessen zwi­ schen der europäischen Ebene und den Mitgliedstaaten übereinstimmen. Im Gegen­ satz dazu weisen der Stabilitäts- und Wachstumspakt, sowie das Verfahren zur Ver­ meidung makroökonomischer Ungleichgewichte, die grundsätzliche Möglichkeit auf, zumindest gegenüber den Mitgliedern der Eurozone Sanktionen bei Verstößen vorzu­ nehmen. Doch gerade die bisherige Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts macht einmal mehr deutlich, wie schwierig es ist, selbst auf europäischer Ebene (klar) vorgegebene Regeln gegenüber nationalen politischen Interessen durchzusetzen.

4 Ausblick Das Ziel, durch die „Europa 2020“-Strategie intelligentes, nachhaltiges und integra­ tives wirtschaftliches Wachstum in der EU zu gewährleisten, soll(te) den Weg weisen zu einer sozialen Marktwirtschaft Europas im 21. Jahrhundert. Durch die seit Herbst 2008 einsetzenden Krisen verlagerte sich der Schwerpunkt der Strategie allerdings von den wachstumspolitischen Zielen zu den stabilitätsorientierten Zielen. Wachstum war nicht mehr das Ziel, sondern ein Mittel, um zum Beispiel aus der Staatsschulden­ krise „herauszuwachsen“ – bisher allerdings mit mäßigem Erfolg. Daher bleibt abzu­ warten, ob es – rechtzeitig zum neuen Jahrzehnt – eine Nachfolgestrategie geben wird, die sich dann wieder stärker auf den Wachstumsaspekt konzentriert.

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Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

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170 | Heinz-Dieter Smeets

5 Anhang 80

Grenzwert Europa 2020 Grenzwert Lissabon-Strategie

75,0

70

70,0

60

Prozent

50

65,4

63,2

68,6

72,1

40 30 20 10 0

EU 15, From 15 to 64 Years 2000 2005 2008 2010 2015 2017

EU 28, From 20 to 64 Years 2005 2008 2010 2015 2017

Abb. A1: Beschäftigungsquote insgesamt (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf der Basis von Macrobond).

3,5

3,00

3,0

2,5

Prozent

2010 1,92 2,12 2,0

1,5

2,00

Gesamte Ausgaben 1,41 Private Ausgaben

1,0 2010 1,19 0,5 2000

2002

2004

2006

2008

2010

2012

2014

2016

2018

Abb. A2: Öffentliche und private Ausgaben für F&E als Anteil am BIP (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf der Basis von Macrobond).

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

| 171

100 2000 92,4 95

90

2010 85,9

Index

85

80 78,3 75

70

65 1990

1992

1994

1996

1998

2000

2002

2004

2006

2008

2010

2012

2014

2016

2018

Abb. A3: Treibhausgasemission (1990 = 100) (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf der Basis von Macrobond).

22,5

20,0

20,0

17,5

Prozent

2010 14,3

15,9

15,0

12,5

2000 10,3

10,0

7,5 1990

1992

1994

1996

1998

2000

2002

2004

2006

2008

2010

2012

2014

2016

Abb. A4: Anteil erneuerbarer Energien am Endenergieverbrauch (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf der Basis von Macrobond).

172 | Heinz-Dieter Smeets

1,200

2010 1,16 billion

1,175

Mrd. Tonnen

1,150

1,125

1,12 billion 2000 1,13 billion n

1,100 1,086 billion 1,075

1,050 1990

1992

1994

1996

1998

2000 2002 2004 2006 2008 2010

2012

2014

2016

2018

Abb. A5: Energieeffizienz – bezogen auf den Endenergieverbrauch (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf der Basis von Macrobond).

17

16

15

2010 13,9

Prozent

14

13

12

11 10,6 10

10,0

9 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

Abb. A6: Anteil frühzeitiger Schulabgänger – 18- bis 24-jährige (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf der Basis von Macrobond).

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

| 173

42,5 40,7 40,0

40,0

37,5 2010 33,8

Prozent

35,0

32,5

30,0

27,5

25,0

22,5 2002

2004

2006

2008

2010

2012

2014

2016

2018

Abb. A7: Anteil der 30- bis 34-jährigen mit Hochschulabschluss (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf der Basis von Macrobond).

7,5

5,0

Anzahl (Millionen)

2,5

0,0

-2,5

-5,0

-7,16 million

-7,5 2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

Abb. A8: Anzahl der Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind (kumulative Veränderung gegenüber 2008) (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf der Basis von Macrobond).

174 | Jasmin Diemer

Korreferat zum Beitrag von Heinz-Dieter Smeets Jasmin Diemer Die beiden im Beitrag von Heinz-Dieter Smeets behandelten Wachstumsstrategien der EU hatten zugegebenermaßen jeweils keinen leichten Start und mit großen Herausfor­ derungen zu kämpfen. Die Lissabon-Strategie wurde im Jahr 2000 verabschiedet, um „die Union [angesichts der wirtschaftlichen Vormachtstellung der USA und den immer weiter aufstrebenden asiatischen Staaten, allen voran China] zum wettbewerbsfähigs­ ten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“ (Eu­ ropäischer Rat 2000: 2). Schon durch das Platzen der New Economy-Blase und die da­ mit einhergehende Rezession, erfuhr das eben formulierte Selbstbewusstsein der EU schnell einen herben Dämpfer. Auch auf die Herausforderungen durch den Beitritt von zwölf weiteren Mitgliedern, welche insgesamt in ihrer Wirtschaftsleistung weit hinter dem Durchschnitt der damaligen EU-15 lagen, geht Heinz-Dieter Smeets in seinem Bei­ trag ein. Nicht zu vergessen die diversen Krisenerscheinungen ab 2008. Diese warfen ihren Schatten auch voraus auf die Nachfolgestrategie, Europa 2020, welche inmitten der Maßnahmen zur Rettung der Gemeinschaftswährung verabschiedet wurde. Nun darf man aber nicht meinen, dass der mangelnde Erfolg der Lissabon-Stra­ tegie, um chronologisch zu beginnen, schlichtweg einem ungünstigen politischen und wirtschaftlichen Umfeld zuzuschreiben wäre. Auch die von der Kommission be­ schwichtigend gewählte Umschreibung des ausgebliebenen Erfolgs als „Umsetzungs­ lücke“ trägt den Defiziten der Strategie nicht ausreichend Rechnung. Im Folgenden darum sollen einige Kritikpunkte näher beleuchtet werden. Angesetzt wird am Offensichtlichen, nämlich an der Formulierung, beziehungs­ weise am Wortlaut. Was sollte eine Strategie notwendigerweise leisten und werden diese Anforderungen hier erfüllt? Eine eindeutige Definition, was genau unter einer Strategie zu verstehen ist, liegt nicht vor und kann sich je nach Fachdomäne unter­ scheiden. Als wesentliche Merkmale des Strategiebegriffs kristallisieren sich jedoch die folgenden heraus: Strategien befassen sich mit der Zukunft. Sie formulieren über­ geordnete Ziele, die innerhalb einer gewissen Zeit erreicht werden sollen und an wel­ chen das Entscheiden und Handeln der Akteure ausgerichtet sein soll. Ziele sollten al­ so zu diesem Zweck eindeutig und realistisch formuliert, im besten Fall messbar und überprüfbar sein. Die Frage nach dem Was bildet den Grundstock. Daneben sollte eine Strategie ihr Instrumentarium zur Gestaltung und die relevanten Akteure benennen und somit mögliche, nicht zwingenderweise abschließenden, Antworten auf die Fra­ gen nach dem Wie und dem Wer geben. Auch das Wann gilt es festzusetzen. Mit der Festlegung einer Dekade wurde diese Anforderung problemlos erfüllt. Auch das Wer wurde beantwortet, indem die Verantwortlichkeit für Umsetzung der Strategie an die Mitgliedstaaten delegiert wurde. An fehlenden messbaren Zielfor­ mulierungen mangelte es der Lissabon-Strategie in ihrem ausgeprägten Multi-Indika­ toren-Ansatz prinzipiell nicht. Nichtsdestotrotz sind einige Defizite klar ersichtlich:

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

| 175

Ziele sollten ambitioniert, dennoch aber realistisch formuliert werden. Wichtig – und in diesem Falle offensichtlich nicht selbstverständlich – ist zudem, dass diejenigen Akteure, welche die Strategie auf- und diejenigen, welche sie umsetzen, an die Rea­ lisierbarkeit und Sinnhaftigkeit der Ziele glauben. Tabellini und Wyplosz (2010: 48) sehen als mögliche Erklärung für das Scheitern der Lissabon Strategie, dass ihre Ziele in ihrer Vielzahl und Reichweite weder von ihren Verfassern noch von der allgemeinen Meinung ernst genommen wurden. Problematisch ist zudem, dass die Strategie den unterschiedlichen Ausgangspositionen der einzelnen Mitgliedsstaaten nicht ausrei­ chend Rechnung trug. Die quantitativen Zielwerte wurden im Sinne eines one size fits all- Ansatzes formuliert und damit oftmals von den „Mitgliedsländern eher als Fremd­ körper perzipiert und nur halbherzig verfolgt“ (Hishow 2005: 9). So ist im Nachhinein bei einem Scheitern der Strategie nicht klar auszumachen, ob der Misserfolg an man­ gelnder Anstrengung(sbereitschaft) oder an von vornherein mangelnder Fähigkeit lag (Tabellini/Wyplosz 2010: 48 f.). Grundsätzlich sollten klare Zielformulierungen als Orientierungshilfe dienen. Durch 107 Strukturindikatoren wurden für die betroffenen Akteure jedoch eher Überforderung und Ungewissheit als Erwartungssicherheit ge­ schaffen. Überprüfbarkeit sollte mittels der Offenen Methode der Koordinierung (OMK) als Governance-Mechanismus erreicht werden. In Reports sollten Fortschritte erfasst und damit ein Benchmarking zum Zweck des gegenseitigen Lernens erfolgen. Eine rechtliche Grundlage für eine Sanktionierung bei Nichtkooperation der Mitgliedstaa­ ten besteht in diesen sich der Befugnis der EU entziehenden Bereichen nicht. Durch den öffentlichen Vergleich der Mitglieder untereinander sollte jedoch Handlungsdruck aufgebaut werden („name and shame“). Der Gruppenzwang sollte in gewissem Maße auch als Gegenpol zu nationalen Lobbygruppen dienen, die notwendige strukturelle Reformen aus Eigeninteresse zu verhindern suchen und somit zu paretoinferioren Zuständen führen können. Tatsächlich wurden die jährlich fälligen umfangreichen Reports an die Kommission von den Mitgliedstaaten eher als Belastung gesehen. Sie galten mitunter als unnötige Bürokratie ohne sich ergebenden Mehrwert und damit als Ressourcenverschwendung. Alesina und Perotti (2004) bezeichnen die OMK zuge­ spitzt als kafkaeske Betätigung. Ein Benchmarking im Sinne der OMK stellt prinzipiell einen praktikablen Mittelweg zwischen zentraler Steuerung und lokaler Zuständig­ keit dar, jedoch nur solange, wie die Ressourcen, die für Monitoring und Kontrolle aufgewandt werden, nicht das tatsächliche Handeln und Ergreifen von Maßnahmen überwiegen (Arrowsmith et al. 2004: 312) oder gar zum Selbstzweck mutieren, wie es im Falle der Lissabon-Strategie auch nach ihrer Neuausrichtung anmutet. Nach der ernüchternden Bilanz der Lissabon-Strategie, welche unter anderem auf die von Heinz-Dieter Smeets und die hier genannten Defizite zurückzuführen ist, fragt Smeets in seinem Beitrag folgerichtig nach den Lehren aus der Lissabon-Strategie. Hierauf soll nun im Folgenden noch kurz schlaglichtartig eingegangen werden. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass die Europa2020-Strategie kein explizites quantitatives Wachstumsziel formuliert wie es noch ihre Vorgänger-Strategie tat (An­ stieg des BIPs pro Kopf um durchschnittlich drei Prozent pro Jahr). Stattdessen wird

176 | Jasmin Diemer

Wachstum qualitativ gefasst als „intelligentes, nachhaltiges und inklusives Wachs­ tum“ (Europäische Kommission, ohne Jahr). Heinz-Dieter Smeets führt richtig aus, dass die Ziele der Europa2020-Strategie ebenso wie in der Vorgängerstrategie keiner klaren Priorisierung unterliegen und eine kritische Betrachtung möglicher Zielkon­ flikte gänzlich unterbleibt, da stets von einer Komplementarität ausgegangen wird. Zwar ist die Strategie im Vergleich zu ihrer Vorgängerstrategie deutlich entschlackt, weist aber dennoch einige Unzulänglichkeiten auf. Ergänzend zu den Betrachtungen von Heinz-Dieter Smeets soll angemerkt werden, dass die fünf Kernziele auf den ers­ ten Blick wohl ambitioniert, aber erreichbar scheinen. Auf den zweiten Blick lassen sich aber einige Unzulänglichkeiten ausmachen. (1) Beschäftigungsförderung: 75 Prozent der 20 bis 64-Jährigen sollen bis 2020 er­ werbstätig sein. Von Vollbeschäftigung wird (anders als beispielsweise in § 1 Stabilitätsgesetz) vorsichtig lieber nicht gesprochen. Eine qualitative Zielformulierung unterbleibt gänzlich: wie sollen die (neuen) Jobs ausgestaltet sein? Was ist mit Teilzeitjobs, befristeten Verträgen oder Zeitarbeit, die Menschen zwar (zeitweise) zu Beschäf­ tigten im Sinn der quantitativen Zielmarke machen, aber zur Sicherung und Planbarkeit des Lebensunterhalts oftmals nicht ausreichen? (2) Forschung und Entwicklung: Drei Prozent des BIPs sollen dafür aufgewandt wer­ den. Während der Input klar spezifiziert wird unterbleibt die Effizienzbetrachtung. Die Fördermittel müssen auch in einem entsprechenden Output in Form tatsächlich umgesetzter Innovationen resultieren. Denkbar wären als flankierende Zielvorga­ ben die Anzahl der Patente oder der Wert der Hightech-Exporte der EU als Refe­ renzwerte, welche im Fortschrittsbericht zur Europa2020-Strategie von Eurostat bereits Einzug finden (Eurostat 2018). Maßnahmen wie beispielsweise ein euro­ päisches F und E-Budget werden nicht thematisiert. (3) Klimaschutz- und Energieziele: Bis 2020 sollen die Treibhausgasemissionen im Vergleich zum Referenzjahr 1990 um 20 Prozent reduziert werden, erneuerbare Energien sollen 20 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs betragen und die Ener­ gieeffizienz um 20 Prozent erhöht werden. Die Verständigung auf diese Ziele ist keineswegs Errungenschaft der Europa2020Strategie, sondern wiederholt lediglich, was bereits durch das Kyoto-Protokoll im Rahmen der zweiten Verpflichtungsperiode sowie durch den 2009 in Kraft getre­ tenen Klima- und Energiepakt als gemeinsame Verpflichtungen festgeschrieben wurde. (4) Bildung: Bis 2020 soll die Quote der frühzeitigen Schulabgänger auf unter zehn Prozent sinken und der Anteil der Hochschulabsolventen unter den 30- bis 34-Jäh­ rigen auf mindestens 40 Prozent erhöht werden. Prinzipiell ist die Schaffung von Humankapital volkswirtschaftlich wünschens­ wert. Zu beachten ist, dass die genannten Maßnahmen auch als Art Quersubven­ tionierung für das Beschäftigungsziel gesehen werden können, da die sich in Aus-

Wachstumspolitische Strategie(n) der EU

| 177

und Weiterbildung befindlichen Individuen nicht in die Gruppe der Arbeitslosen fallen. Mit dieser Überlegung im Hinterkopf erklären sich auch die relativ guten Zielerreichungsgrade in den Krisenstaaten Griechenland oder Spanien bezüglich des Beschäftigungs- und Bildungsziels (vgl. Eurostat 2018, 135 f.). (5) Armut: Bis 2020 sollen mindestens 20 Millionen Menschen weniger vom Armuts­ risiko betroffen sein. Ungeklärt lasst die Europa2020-Strategie an diesem, wie auch an den vorgenann­ ten Punkten, eine Komposition konkreter Maßnahmen zur Zielerreichung. Die OMK findet in der aktuellen Strategie keinen Einzug. Stattdessen wird als Go­ vernance-Ansatz das Europäische Semester, welches auch zur Überprüfung des Sta­ bilitäts- und Wachstumspakts und zur makroökonomischen Überwachung dient, gewählt. Durch diese teilweise Prozessvereinheitlichung und -verknüpfung können zumindest einige Skalenerträge generiert werden. Fraglich ist aber weiterhin, in wie weit die wirtschaftspolitische Koordinierung in dieser Weise in der Lage ist, Ungleich­ gewichte zwischen den Mitgliedstaaten wirksam zu verhindern oder zu reduzieren. Weiterhin hat die supranationale Ebene zur Umsetzung der Wachstumsstrategie kei­ ne Eingriffskompetenz, sodass ein Sanktionsmechanismus nicht gegeben ist. Wirt­ schaftspolitische Koordinierung um ihrer Selbstwillen ist jedoch niemals mit ord­ nungsökonomischen Grundsätzen vereinbar. Ausgehend von dieser Überlegung soll die grundsätzliche Frage, ob eine Europa2030-Strategie als Fortschreibung von Lissa­ bon und Europa2020 überhaupt erfolgen sollte, offen bleiben. In wenigen Monaten kann Bilanz gezogen werden und die Erfolge oder Misserfol­ ge der Europa2020-Strategie können resümiert und bewertet werden. Der Fortschritts­ bericht ließ 2018 eine ausgeprägte Heterogenität auf zwei Ebenen erkennen: Während einige Mitgliedstaaten bereits ihre Zielmarken übertrafen, lagen andere noch weit hin­ ter den Vorgaben zurück. Dabei ist auch je nach Mitgliedstaat unterschiedlich, welche Ziele (nicht) erreicht wurden. Eindeutig ist nur, dass das F und E-Ziel (wie auch schon in der Vorgängerstrategie) am schwächsten realisiert wurde (Eurostat 2018). Zu Beginn der zweiten Jahreshälfte von 2019 steht die EU wieder vor großen Herausforderungen. Bis 2030, also dem Endzeitpunkt einer möglichen neuen Wachs­ tumsstrategie, wird Europa die älteste Bevölkerung weltweit haben. Die erwerbsfähi­ ge Bevölkerung wird bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung zurückgehen und massive Herausforderungen an die (nationalen) sozialen Sicherungssysteme stellen. Daneben gilt bislang der 31. Oktober 2019 als Datum für den Austritt Großbritanniens aus der EU. Unabhängig davon, ob ein Deal zustande kommen wird oder nicht, wird dieser Präzedenzfall die Gemeinschaft massiv beanspruchen. Die konjunkturelle La­ ge in Europa, insbesondere auch in Deutschland als Europas größter Volkswirtschaft, ist angespannt. Wirtschaftsforschungsinstitute haben die Wachstumsprognosen für dieses und kommendes Jahr erneut nach unten revidiert. Der Trend des ifo-Geschäfts­ klima-Index weist bereits seit zehn Monaten nach unten, was als Indikator für eine bevorstehende (möglicherweise schon vorherrschende) Rezession gedeutet werden

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kann. Angesichts der weiter fortdauernden extremen Niedrigzinspolitik der Euro­ päischen Zentralbank sind die Reaktionsmöglichkeiten auf eine wirtschaftliche Ab­ schwächung eingeschränkt. Es bleibt abzuwarten, wie die EU auf diese Herausfor­ derungen reagieren wird und ob sie, ähnlich wie 2010 eine Wachstumsstrategie als Mittel zur Überwindung der Herausforderungen wählt.

Literatur Alesina, Alberto und Robert Perotti. 2004. The European Union: A politically incorrect view. Journal of Economic Perspectives, 18, 27–48. Arrowsmith, James, Keith Sisson und Paul Marginson. 2004. What can ‘benchmarking’ offer the open method of co-ordination. Journal of European Public Policy, 11, 311–328. Kommission, Europäische. o. J. Strategie Europa 2020. https://ec.europa.eu/info/businesseconomy-euro/economic-and-fiscal-policy-coordination/eu-economic-governancemonitoring-prevention-correction/european-semester/framework/europe-2020-strategy_de. Letzter Aufruf 10.01.2020. Brüssel. Eurostat. 2018. Smarter, greener, more inclusive? Indicators to support the Europe 2020 strategy. Hishow, Ognian. 2005. Wachstumspolitik in der EU. Stiftung Wissenschaft und Politik. Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, SWP-Studie 23. Tabellini, Guido und Charles Wyplosz. 2004. Réformes structurelles et coordination en Europe. Rap­ port au premier minister.

Tobias Thomas

Zur Rolle der Medien in der Demokratie 1

Medien in Demokratien: Hoffnung und Vertrauenskrise | 179

2

Empirische Medieneinflussforschung: Überblick | 180

3

Vermessung der Medienberichterstattung | 183

4

Medien und Wahrnehmung im öffentlichen Diskurs | 186 4.1 Medien und Wahrnehmung von Ungleichheit | 186 Tatsächliche und wahrgenommene Ungleichheit | 186 Einfluss der Medienberichterstattung | 187 4.2 Medien und Wahrnehmung von Zuwanderung | 190 Media-Spillovers über Ländergrenzen | 191 Einfluss der Medienberichterstattung | 192

5

Medien und Wahlabsichten | 194 5.1 Kurzfristige Wahlabsichten und langfristige Parteineigung | 194 5.2 Einfluss der Medienberichterstattung | 196

6

Medien als vierte Gewalt | 197 6.1 Politische Verortung von Medien | 198 6.2 Regierungsbonus oder -malus in der Berichterstattung | 201

7

Medien in Demokratien: Ergebnisübersicht | 202

1 Medien in Demokratien: Hoffnung und Vertrauenskrise Die Medien und ihre Rolle als Institution in der Demokratie stehen wieder einmal un­ ter verschärftem Beobachtungsdruck. Zum Teil werden sie harsch kritisiert und mit Begriffen wie „Journaille“ oder „Lügenpresse“ bedacht. Dennoch ist die Hoffnung, die mit der Rolle der Medien in der Demokratie mitschwingt, bei vielen nach wie vor groß und lässt sich in dem Ausdruck der „vierten Gewalt“ zusammenfassen. Edmund Burke nutze den Begriff „fourth estate“ 1787 in einer Parlamentsdebatte. Er sah die Medien als zusätzliche Kontrollinstanz der britischen Regierung – neben den klerikalen und weltlichen Mitgliedern des House of Lords und den Abgeordneten des House of Com­ mons. Eine weniger hoffnungsvolle Sicht auf die Medien findet sich hingegen in Beiträ­ gen der Neuen Politischen Ökonomie, die Entscheidungen und Verhalten im politi­ schen Kontext mit dem Instrumentarium der ökonomischen Wissenschaft untersucht. Anmerkung: Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Beitrag darauf verzichtet, geschlechtsspezifische Formulierungen zu verwenden. Soweit personenbezogene Bezeichnungen nur in männlicher Form an­ geführt sind, beziehen sie sich auf Männer und Frauen in gleicher Weise. https://doi.org/10.1515/9783110696745-007

180 | Tobias Thomas

So betonen unter anderem Anderson und McLaren (2012), dass auch Eigentümer von Medien politische Interessen haben und über die Berichterstattung versuchen, die Po­ litik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Einen anderen, aber kaum weniger kritischen Blick haben Besley und Prat (2006): Medien würden in der Tendenz regierungsfreund­ lich berichten, da sie sich dadurch entweder eine Beeinflussung von Gesetzesinitiati­ ven in ihrem Sinne erhoffen, zum Beispiel wenn es um geistiges Eigentum geht, oder einen besseren Zugang zu exklusiven Berichten. In beiden Fällen wäre die Funktion der Medien als vierte Gewalt in der Demokratie erheblich beeinträchtigt. Der vorliegende Beitrag gibt zunächst in Abschnitt 2 einen kursorischen Überblick über den aktuellen Stand der empirischen Forschung zum Einfluss der Medien auf Wahrnehmung und Verhalten. Dabei wird insbesondere auf den politischen Kontext fokussiert. Sodann werden einige Forschungsarbeiten unter Beteiligung des Autors eingehender vorgestellt, die den Einfluss der Medienberichterstattung in Demokra­ tien unter die Lupe nehmen. Hierzu werden in Abschnitt 3 zunächst Methoden und Probleme bei der Erhebung von Mediendaten aufgezeigt. In Abschnitt 4 folgen dann zwei Studien zum Einfluss der Medien auf die Wahrnehmung in detaillierter Form. Da­ bei werden beispielhaft zwei Themen in den Blick genommen, die in der politischen und öffentlichen Diskussion eine besonders prominente Rolle spielen: Ungleichheit und Migration. Abschnitt 5 zeigt, inwieweit sich die Medienberichterstattung in De­ mokratien auf die Wahlabsichten auswirkt. Abschnitt 6 analysiert sodann, ob Medien ihrer Rolle als vierte Gewalt gerecht werden. Abschnitt 7 schließt mit einem Überblick über die Forschungsergebnisse.

2 Empirische Medieneinflussforschung: Überblick Medienberichterstattung hat zum Teil erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung und Entscheidungen der Bürger als Konsumenten, Unternehmer oder Wähler. Wenngleich diese Aussage bereits viele vom Gefühl her bejahen würden, so gibt es in den letzten Jahren immer mehr Forschungsarbeiten, die den Einfluss der Medien mit ökonometri­ schen Methoden untersuchen. Das Forschungsfeld ist relevant, da Medien niemals ein exaktes Abbild des gesamten Weltgeschehens darstellen können. Medien berichten immer nur über einen kleinen Teil des Geschehens und der berichtete Teil unterliegt wiederum verschiedenen systematischen Verzerrungen, die in den empirischen Wis­ senschaften «Bias» genannt werden. Als Folge der vielfach verzerrten Berichterstat­ tung können Entscheidungen von Individuen, die auf Medieninformationen beruhen, von denen abweichen, die auf einer umfänglicheren und weniger verzerrten Informa­ tion beruhen würden. Die bekanntesten Arten von Media-Bias sind der Advertising-Bias, wenn die Medi­ enberichterstattung in Umfang und Wertung zugunsten der Werbekunden verzerrt ist (siehe Dewenter/Heimeshoff 2014 und 2015; Gambaro/Puglisi 2015; oder Reuter/Zit­

Zur Rolle der Medien in der Demokratie | 181

zewitz 2006); der Newsworthiness-Bias, wenn Nachrichten über bestimmte Themen die Berichterstattung über andere Themen verdrängen, weil sie von den Medien als wichtiger angesehen werden (siehe Durante/Zhuravskaya 2018; oder Eisensee/Ström­ berg 2007); der Distance-Bias, wenn Medien eher über Ereignisse berichten, die in der Nähe ihres Erscheinungsortes stattfinden (Berlemann/Thomas 2019); der NegativityBias, wenn sich Medien stärker auf Katastrophen, Kriminalität und bedrohliche poli­ tische und wirtschaftliche Entwicklungen konzentrieren statt auf positivere Nachrich­ ten (siehe Friebel/Heinz 2014; Garz 2013 und 2014; Heinz/Swinnen 2015 oder Soroka 2006) und der Political-Bias, wenn die Medienberichterstattung bestimmte Teile des politischen Spektrums bevorzugt (siehe Anderson/McLaren 2010; Besley/Prat 2006; Groseclose/Milyo 2005 oder Prat 2014).¹ Medienberichterstattung kann die Wahrnehmung und die Handlungen von In­ dividuen in vielerlei Hinsicht beeinflussen. Im wirtschaftlichen Kontext zeigen Na­ deau et al. (2000), Soroka (2006) und van Raaij (1989), dass die Einschätzung der Wirtschaftslage und die Konjunkturerwartungen zumindest teilweise von Medienbe­ richten abhängen.² Alsem et al. (2008), Goidel und Langley (1995) sowie Doms und Morin (2004) untersuchen den Einfluss der Medienberichterstattung auf das Konsum­ klima. Garz (2013) analysiert die Auswirkungen einer verzerrten Medienberichterstat­ tung über Arbeitslosigkeit auf die Wahrnehmung der Arbeitsplatzunsicherheit und Lamla und Maag (2012) untersuchen den Einfluss der Medienberichterstattung auf die Inflationserwartungen von Haushalten und Experten. Dass die Medienberichterstat­ tung im wirtschaftlichen Kontext auch handlungsrelevant sein kann, zeigen unter an­ derem Dewenter et al. (2016). Die Ergebnisse legen nahe, dass die Anzahl der Autover­ käufe zumindest teilweise von der Medienberichterstattung über die Automobilindus­ trie abhängt. Im politischen Kontext analysieren Bernhardt et al. (2008), D’Alessio und Allen (2000), Druckman und Parkin (2005), Entman (2007), Gentzkow et al. (2011) sowie Morris (2007) die Auswirkungen der Medienberichterstattung auf politische Präferen­ zen und Wählerentscheidungen. Eine umfassende Analyse der Wirkung der Medien­ berichterstattung im politischen Kontext liefern Snyder und Strömberg (2010). Die Au­ toren stellen fest, dass Wähler in US-Regionen mit wenig ausgeprägter politischer Me­ dienberichterstattung weniger in der Lage sind, ihre Abgeordneten zu benennen oder sie zu bewerten. Das wirkt sich auch auf die Arbeit der Politiker aus: Kongressabge­ ordnete, die nur wenig in den regionalen Medien vorkommen, sind weniger bereit, bei Kongressanhörungen oder in Ausschüssen mitzuwirken.

1 Darüber hinaus gibt es eine breite Literatur über die Existenz von Media-Bias und deren Grundlagen in der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Beispiele hierfür sind Ball-Rokeach (1985) sowie Ball-Rokeach und DeFleur (1976) in Bezug auf die Abhängigkeiten des Mediensystems und Dunham (2013) in Bezug auf die Messung des Media-Bias. 2 Kholodilin et al. (2017) wiederum untersuchen am Beispiel der Industrieproduktion inwieweit Pro­ gnosemodelle unter Verwendung von Mediendaten verbessert werden können.

182 | Tobias Thomas

Die Auswirkungen der Medienberichterstattung auf Wahlen stehen im Fokus der Untersuchung von Enikolopov et al. (2011). Die Autoren analysieren Wahlergebnisse der Parlamentswahl im Jahre 1999 in russischen Regionen mit unterschiedlichem Zugang zu einem unabhängigen Fernsehsender. Die Autoren stellen fest, dass der Zugang zu dem unabhängigen Fernsehsender zu einem Rückgang der Stimmen für die Regierungspartei um 8,9 Prozentpunkte und zu einem Anstieg der Stimmen für die großen Oppositionsparteien um 6,3 Prozentpunkte führt. Die Ergebnisse sind ver­ gleichbar mit denen von DellaVinga und Kaplan (2007). Die Autoren nutzen in ihrer Untersuchung, dass im Zeitraum 1996 bis 2000 in den USA der konservative Sender Fox News Channel schrittweise eingeführt wurde und stellen fest, dass die Stimm­ anteile für die Republikaner in den Städten, in denen Fox News bereits empfangen werden konnte, um 0,4 bis 0,7 Prozentpunkte höher ausfallen. Auch im internationalen und geopolitischen Kontext spielt der Einfluss der Me­ dien eine Rolle. So analysieren Eisensee und Strömberg (2007) die Auswirkungen der Medienberichterstattung über Naturkatastrophen auf US-Katastrophenhilfeentschei­ dungen. Die Autoren stellen fest, dass weniger über Naturkatastrophen berichtet wird, wenn diese während Olympischen Spielen stattfinden und dadurch der Raum für die Berichterstattung kleiner ist. Da die US-Katastrophenhilfeentscheidungen zumindest zum Teil von der Medienberichterstattung abhängen, wird in der Folge auch weni­ ger Katastrophenhilfe ausgezahlt. Beckmann et al. (2017) wiederum zeigen anhand der Global Terror Database, dass ein Anstieg der Terrorzahlen nicht nur mehr interna­ tionale Medienberichte zum Thema auslöst, sondern mehr Medienberichte zu Terror auch zu mehr und brutaleren Terrorakten führen. Dass die Medienberichterstattung im internationalen Kontext auch strategisch genutzt werden kann, um Aufmerksam­ keit zu erzielen oder auch zu vermeiden, zeigen Durante und Zhuravskaya (2018). Die Autoren finden robuste Hinweise darauf, dass es im israelisch-palästinensischen Kon­ flikt häufiger zu israelischen Angriffen kommt, wenn die US-Nachrichten von vorher­ sehbaren Ereignissen wie Sportgroßereignissen beherrscht werden und daher weniger Raum für die Berichterstattung über die Angriffe besteht. Die nachfolgend vorgestellten Forschungsarbeiten ergänzen die bestehende Lite­ ratur in mehrerlei Hinsicht: Erstens basieren sie auf großen Mengen handcodierter Daten, die im Vergleich zu computerlinguistischen Verfahren eine wesentlich höhere Genauigkeit gerade im Hinblick auf die Erfassung des thematischen Kontexts und der Tonalität der Berichterstattung aufweisen (siehe Abschnitt 3). Dies ermöglicht zwei­ tens den Einfluss der Tonalität der Berichterstattung in die Analysen einzubeziehen (siehe Abschnitt 5 und 6), was in bestehenden Studien zum Einfluss der Medienbe­ richterstattung zumeist vernachlässigt wurde.³ Da in der empirischen Medieneinfluss­ forschung die Identifikation der Effekte eine Herausforderung ist, wird in bisherigen Studien oftmals der Ansatz der Instrumentenvariablenschätzung genutzt: Durch den

3 Dies kritisieren unter anderem Puglisi und Snyder (2015, 664).

Zur Rolle der Medien in der Demokratie | 183

Einsatz eines Instruments wird die Medienberichterstattung exogen variiert und auf dieser Basis der Einfluss auf Wahrnehmung und Verhalten analysiert. Bisher etablier­ te Instrumente lassen sich grob einteilen in Großereignisse, wie Sportgroßereignis­ se oder Naturkatastrophen, die die sonstige Berichterstattung teilweise verdrängen und in technisch bedingte Variationen des Zugangs zu Medien, wie bei DellaVinga und Kaplan (2007). Die hier vorgestellten Forschungsarbeiten führen drittens MediaSpillovers als neues Instrument in die Literatur ein: Die Berichterstattung im Ausland kann einen Einfluss auf die Berichterstattung im Inland haben, auch wenn die Aus­ landsberichte gar nichts mit den Geschehnissen im Inland zu tun haben (siehe Ab­ schnitt 4.2 und 5). Schließlich wird viertens mit dem Political Coverage Index (PCI) ei­ ne neue auf Tonalitäten basierende Methode eingeführt, Medien politisch zu verorten und zu analysieren, wie Medien in Abhängigkeit von unterschiedlichen Regierungs­ konstellationen berichten, mithin ob sie ihrer Rolle als vierte Gewalt in Demokratien nachkommen oder nicht (siehe Abschnitt 6).

3 Vermessung der Medienberichterstattung Um den Einfluss der Medienberichterstattung zu untersuchen, sind die Auswahl der zu analysierenden Medien („Medien-Set“), die Identifikation der relevanten Berichte und die Qualität der inhaltlichen Analyse wichtige Voraussetzungen. Dies gilt umso mehr, wenn der thematische Untersuchungsgegenstand komplex ist und auch Bewer­ tungen eine Rolle spielen. Im Gegensatz zu der Ergebnisberichterstattung zum Bei­ spiel in den Bereichen Wetter, Finanzen oder Sport, die heute teilweise bereits auto­ matisiert erstellt werden⁴, gilt dies insbesondere in der politischen Berichterstattung. Auswahl des Medien-Sets Da die Auswertung der Medieninhalte sehr aufwendig sein kann, muss vor der Aus­ wertung ein verfügbares und relevantes Medien-Set ausgewählt werden. Für die Aus­ wahl können verschiedene Kriterien herangezogen werden. Zum einen kann die Reichweite der Medien als Kriterium genutzt werden, also die Anzahl der Medien­ konsumenten. Darüber hinaus kann als Kriterium genutzt werden, welche Medien am meisten von anderen Medien zitiert werden, damit den größten Hebel in der Me­ dienberichterstattung besitzen und als Leitmedien angesehen werden können. In Deutschland sind seit Jahren die Bild-Zeitung und der Spiegel die meistzitierten Me­

4 Siehe: F. A. Z. vom 17.04.2015: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/automatisierterjournalismus-nehmen-roboter-allen-journalisten-den-job-weg-13542074.html (letzter Aufruf: 12.04.2019).

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Tab. 1: Die 10 meistzitierte Medien in Deutschland 2018 (Quelle: Kress auf Basis von Media Tenor. Basis: 26.211)⁵ Rang 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Medium

Zitate

Bild-Zeitung Spiegel New York Times Bild am Sonntag Süddeutsche Zeitung Handelsblatt FAZ Welt Wall Street Journal Washington Post

1.203 1.098 907 895 725 703 579 511 492 458

dien (siehe Tabelle 1). Neben den genannten Kriterien können weitere Kriterien wie Zielgruppen, Themenfokus oder regionale Verbreitung herangezogen werden. Identifikation der relevanten Medienberichte Im Hinblick auf die Qualität der erhobenen Mediendaten spielt auch die korrekte und umfängliche Identifikation der relevanten Artikel eine entscheidende Rolle. Automa­ tisierte Verfahren haben diesbezüglich Schwierigkeiten. So werden in bestehenden Studien häufig Newswire-Dienste wie Reuters, Bloomberg oder Mediendatenbanken wie Factiva verwendet. Diese Quellen können allerdings durch eine unzureichende Indexierung verzerrt sein, sodass nicht alle relevanten Nachrichten bereitgestellt wer­ den (Ehrmann/Fratzscher 2007). Eine Alternative ist die Durchsicht der Medien durch Analysten. Allerdings können auch hier relevante Artikel unidentifiziert bleiben, so­ dass die Kombination beider Verfahren die geringste Fehlerrate ausweist. Codierung der Medienberichte In der (sozial-)wissenschaftlichen Textanalyse stehen grundsätzlich zwei Ansätze zur Verfügung. Zum einen ist die Codierung durch menschliche Analysten („human co­ ding“) nach wie vor verbreitet. Zum anderen wird mit Methoden der Computerlinguis­

5 Zitate in Berliner Zeitung, Bild-Zeitung, Die Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfur­ ter Rundschau, Leipziger Volkszeitung, Süddeutsche Zeitung, taz, Tagesspiegel, ARD Tagesschau und Tagesthemen, ZDF Heute und Heute Journal, Fakt, Frontal 21, Kontraste, Monitor, Panora­ ma, Report (BR), Report (SWR), Börse im Ersten, Die Zeit, Focus, Spiegel, Stern, Super Illu, Bild am Sonntag, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Welt am Sonntag, Handelsblatt, Wirt­ schaftswoche, Capital, Manager Magazin sowie die 7-Uhr-Nachrichten des Deutschlandfunks. Abruf­ bar unter: https://kress.de/news/detail/beitrag/141850-zitate-ranking-handelsblatt-mit-groesstemzuwachs-bild-verdraengt-spiegel-von-platz-1.html (letzter Aufruf: 12.04.2019).

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tik versucht, Texte mit teil- oder vollautomatisierten Verfahren zu erfassen. Für letzte­ re sprechen insbesondere forschungsökonomische Gründe, denn die Codierung durch menschliche Analysten ist kostenaufwendig. Allerdings wird in der sozialwissenschaftlichen Literatur bislang bezweifelt, dass computerlinguistische Verfahren in der Lage sind, Texte inhaltlich akkurat zu erfas­ sen. So betonen Puglisi und Snyder (2015: 656) die Vorteile handcodierter Daten, da automatisierte Verfahren eine wesentlich geringere Genauigkeit in der Erfassung ins­ besondere der Tonalität der Berichterstattung haben. In der Folge kann die Kodierung zum Teil deutlich von einer in einem Kodierhandbuch („code-book“) vorgesehenen Kodierung abweichen. Diese Einschätzung teilen Grimmer und Stewart (2013), die zu dem Ergebnis kommen, dass computerlinguistische Ansätze in Bezug auf den thema­ tischen Kontext und die Tonalität eine Genauigkeit in der Textanalyse von weniger als 60–70 Prozent erreichen. Daher schlussfolgern die Autoren, dass es derzeit noch keinen Ersatz für die menschliche Kodierung in der wissenschaftlichen Textanalyse gibt. Auch jüngere Beiträge bestätigen diese Einschätzungen. So betonen Nelson et al. (2018) in ihrem Beitrag „The Future of Coding: A Comparison of Hand-Coding and Three Types of Computer-Assisted Text Analysis Methods” zwar die großen Fortschrit­ te in der Computerlinguistik. Mit Bezug auf die Inhaltsanalyse komplexerer Texte in den Sozialwissenschaften bezeichnen die Autoren die händische Codierung aber nach wie vor als den Goldstandard (Nelson et al. 2018: 4). Insgesamt zeigen die Beiträge, dass es in der wissenschaftlichen Textanalyse ge­ rade im politischen Kontext derzeit noch keinen vollwertigen Ersatz für die menschli­ che Kodierung gibt. Allerdings werden computerlinguistische Verfahren in den nächs­ ten Jahren im Hinblick auf die Medieninhaltsanalyse aller Voraussicht nach weiter an Qualität gewinnen. Verwendete Methode der Medieninhaltsanalyse in den vorgestellten Studien Die in den folgenden Abschnitten vorgestellten Untersuchungen basieren auf Medi­ endaten von Media Tenor International, das Medien mit der Methode des „human coding“ auswertet.⁶ Die Medien werden auf Basis eines verbindlichen Kodierhand­ buchs kodiert. Jeder Bericht wird unter anderem nach Medientyp (wie Fernsehen, Print, allgemeine und Fachpresse usw.), Themen (wie Arbeitslosigkeit, Inflation, Un­ gleichheit), Personen (wie Politiker, Unternehmer, Manager, Prominente) und Orga­ nisationen (wie politische Parteien, Unternehmen, Fußballvereine), Zeitreferenz (Zu­ kunft, Gegenwart und Vergangenheit) und der Informationsquelle (wie Journalist, Po­ litiker, Experte) kategorisiert und kodiert. Darüber hinaus wird erfasst, ob die relevan­ ten Akteure und Institutionen positiv, negativ oder neutral von der Informationsquel­ le bewertet werden. Dabei wird jeder Bericht, Nachrichteneinheit für Nachrichtenein­ heit, kodiert. Das heißt, dass jedes Mal, wenn eine neue Person, eine neue Institution, 6 Siehe: www.mediatenor.com.

186 | Tobias Thomas

ein neues Thema, eine neue Quelle etc., im Bericht auftaucht, eine neue Nachrichten­ einheit kodiert wird. Dadurch, dass in den verwendeten Datensätzen zumeist sowohl die Gesamtzahl der Nachrichteneinheiten pro Medium und Tag, als auch die Anzahl der Nachrich­ teneinheiten über spezifische Themen oder Protagonisten pro Medium und Tag vor­ liegen, kann der Anteil der Berichterstattung („share-of-coverage“) berechnet werden, der von jedem Medium an jedem einzelnen Tag einem spezifischen Thema oder einem Protagonisten gewidmet wurde. Da jede Nachrichteneinheit als positiv, negativ oder neutral codiert wird, kann die Tonalität der Berichterstattung berechnet werden, mit der in einem Medium über ei­ nen Protagonisten berichtet wird. Die Tonalität s der Berichterstattung eines Mediums über den Protagonisten i zum Zeitpunkt t kann definiert werden als s i,t =

n+i,t − n−i,t N i,t

.

Dabei ist n+ die Anzahl der positiven Nachrichteneinheiten, n− die Anzahl der ne­ gativen Nachrichteneinheiten und N die Anzahl aller Nachrichteneinheiten (positiv, negativ und neutral). Je höher der Wert von s ist, desto positiver ist die Tonalität. Die Genauigkeit und Reliabilität der Kodierung wird von Media Tenor regelmäßig mit monatlichen Standardtests und weiteren Stichproben basierend auf dem Kodier­ handbuch überprüft. Somit wird eine mittlere Genauigkeit über alle Codierer von 0.85 bis 0.95 erreicht.

4 Medien und Wahrnehmung im öffentlichen Diskurs In Abschnitt 4 werden zwei Arbeiten unter Beteiligung des Autors zum Einfluss der Medienberichterstattung auf die Wahrnehmung der Bürger vorgestellt. Diese nehmen zwei Themen unter die Lupe, die von besonderer Relevanz im öffentlichen Diskurs sind.

4.1 Medien und Wahrnehmung von Ungleichheit Diermeier et al. (2017) untersuchen den Einfluss der Medienberichterstattung in Deutschland auf die Wahrnehmung und die Sorgen der deutschen Bevölkerung.

Tatsächliche und wahrgenommene Ungleichheit Der Gini-Koeffizient ist das gängige Maß für die Einkommensverteilung. Erhalten alle Haushalte identische Einkommen, so nimmt der Gini-Koeffizient den Wert 0 an, erhält

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ein einziger Haushalt das gesamte Einkommen, so ist der Wert 1. Betrachtet man den Gini-Koeffizienten nach Umverteilung durch Steuern und Sozialtransfers für Deutsch­ land, so zeigt sich im Zeitverlauf ein uneinheitliches Bild. Nachdem der Koeffizient in den Jahren 1995 bis 1999 nahezu unverändert blieb, stieg er seit der Jahrtausendwen­ de auf einen Höchstwert im Jahre 2005. Bis zum Jahre 2008 sinkt der Koeffizient wie­ der leicht und variiert seither rund um den Wert 0.29. Derzeit liegt der Gini-Koeffizient nach staatlicher Umverteilung in Deutschland etwas unterhalb des Wertes von 2005.⁷ Es gibt somit kein Anzeichen einer steigenden Ungleichheit der Nettoeinkommen seit 2005.⁸ Auch wenn die Einkommensungleichheit in Deutschland geringer ausfällt als in der Mehrheit der Industrienationen und sich in den letzten Jahren daran auch wenig geändert hat, so wird diese von vielen Menschen als ungerecht angesehen, und die Einkommensunterschiede werden als zu groß wahrgenommen. Hinweise auf die Fehl­ wahrnehmung der Ungleichheit gibt Niehues (2016) auf Basis des International Social Survey Programme (ISSP). Die Ergebnisse zeigen, dass 54.2 Prozent der Deutschen ei­ nen Großteil der Bevölkerung in der unteren Gesellschaftsschicht verortet. Dies wider­ spricht der tatsächlichen Einkommensverteilung deutlich: trotz unterschiedlicher Ab­ grenzungen der Schichten, zum Beispiel nach Einkommen oder Bildungsstand, kom­ men Untersuchungen immer wieder zu dem Ergebnis, dass die meisten Menschen in Deutschland in der Mittelschicht leben. Deutlich weniger Menschen leben in un­ teren und oberen gesellschaftlichen Schichten. Das Ausmaß der Ungleichheit in der deutschen Gesellschaft wird von der deutschen Bevölkerung demnach deutlich über­ schätzt. Zum Vergleich: Obwohl die Einkommensverteilung nach Steuern und Trans­ fers in den USA deutlich polarisierter ist als in Deutschland, zeigen die Ergebnisse der ISSP-Befragung für die Vereinigten Staaten, dass ein größerer Anteil der US-Bürger als der Deutschen glauben, dass sie in einer idealtypischen Mittelschichtgesellschaft leben.

Einfluss der Medienberichterstattung Bei der Diskrepanz zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Einkommensvertei­ lung sowie des häufig bemühten Bildes der sich immer weiter öffnenden Einkommens­ schere stellt sich die Frage, wie es zu solchen Fehleinschätzungen kommen kann. Da­ bei ist weniger überraschend, dass Bürger die Einkommensverteilung schlecht oder gar nicht einschätzen können. Im Gegensatz zum beobachtbaren Konsumverhalten von Nachbarn, Kollegen oder Freunden ist die Einkommensverteilung der Gesamt­ 7 Die Änderungen des Gini-Koeffizienten der Nettoeinkommen seit 2005 erweisen sich allesamt als statistisch nicht signifikant (Niehues 2017). 8 Dieses Ergebnis bestätigt sich auch bei Betrachtung des P90/P10- und des S80/S20-Verteilungsmaß (siehe Diermeier et al. 2017).

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gesellschaft keine direkt beobachtbare Größe. Was hingegen überrascht ist, dass die Bürger in Deutschland die Einkommensungleichheit nicht zufällig unter- und über­ schätzen, sondern systematisch zu einer Überschätzung der Ungleichheit neigen. Ein möglicher Treiber dieser Diskrepanz könnte die Medienberichterstattung sein. Mediendaten Das untersuchte Medien-Set umfasst sieben meinungsführende deutsche Medien, darunter Fernsehnachrichten (ARD Tagesschau, ARD Tagesthemen, ZDF heute, ZDF heute Journal), Zeitschriften (Focus, Spiegel) sowie die Bild-Zeitung. Jeder Medien­ bericht im Zeitraum von Januar 2001 bis Dezember 2016 wurde entsprechend der in Abschnitt 3 beschrieben Erhebungsmethode ausgewertet und codiert. Insgesamt wurden 644.443 Nachrichteneinheiten in die Analyse einbezogen. Davon hatten 3.523 einen Bezug zum Thema Ungleichheit. Betrachtet man den Anteil der Berichterstattung zu Ungleichheit und verwandten Themen im Zeitverlauf, so fällt auf, dass das Medieninteresse am Thema Ungleich­ heit deutlich gestiegen ist. Machten die Berichte zur Ungleichheit im Zeitraum 2001 bis 2012 durchschnittlich 0.45 Prozent aller Medienberichte aus, so lag der Anteil ab dem Jahr 2013 im Durchschnitt bei 0.8 Prozent. Insgesamt verdreifachte sich zwischen 2001 und 2015 der Anteil an Berichten zum Thema Ungleichheit (siehe Abbildung 1). Bemerkenswert ist, dass auch ab dem Jahr 2005 der Anteil der Berichterstattung zum Thema Ungleichheit nahezu kontinuierlich gestiegen ist, auch wenn sich weder die Ungleichheit vor noch nach staatlicher Umverteilung wesentlich verändert hat. Umfragedaten Um die Wirkung der Medienberichterstattung zu Ungleichheit auf die Wahrnehmung und Sorgen der Bürger zu untersuchen, nutzen Diermeier et al. (2017) Daten des deut­ schen Sozio-ökonomischen Panels (SOEP)⁹ zwischen 2001 und 2015. Grundsätzlich handelt es sich beim SOEP um eine jährliche Befragung. Die Interviews finden aber zufällig über das Jahr verteilt statt und Datum und Zeitpunkt des Interviews sind Teil des Datensatzes. Auf diese Weise können individuelle Antworten auf Tagesbasis mit der Medienberichterstattung verknüpft werden. Diermeier et al. (2017) fokussieren insbesondere auf zwei Fragen aus dem SOEP. Zunächst wird der Einfluss der Medienberichterstattung zur Ungleichheit auf die wirt­ schaftlichen Sorgen der Bevölkerung untersucht. Konkret werden die Antworten auf folgende SOEP-Frage in die Analyse einbezogen: „Wie ist es mit den folgenden Gebie­

9 Das SOEP besteht seit 1984 und ist die größte und am längsten laufende Langzeitstudie in Deutsch­ land. Aktuell werden jedes Jahr rund 30.000 Personen in etwa 15.000 Haushalten befragt. Dadurch können langfristige gesellschaftliche Trends und auch die gruppenspezifische Entwicklung, zum Bei­ spiel unter Älteren oder Jüngeren, Frauen oder Männer, mehr oder weniger Gebildeten, gut analysiert werden.

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Anteil Medienberichte

Gini

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0,10 -0,005 Jan. 01

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Jan. 15

Gini Markteinkommen (vor staatlicher Umverteilung) Gini Nettoeinkommen Anteil der Medienberichte mit Ungleichheitsbezug Trendlinie Medienberichte

Abb. 1: Einkommensungleichheit in Deutschland und Anteil der Ungleichheitsberichterstattung in deutschen Medien (Quelle: Media Tenor, OECD, eigene Berechnung). Hinweis: Die Abbildung stellt auch die 2016er Daten zur Berichterstattung über Ungleichheit dar, um zu zeigen, dass die relative Bedeutung des Themas auch nach 2015 nicht abgenommen hat.

ten – machen Sie sich da Sorgen? [. . . ] – um die allgemeine wirtschaftliche Entwick­ lung“. Die Antwortmöglichkeiten sind: „Große Sorgen“, „Einige Sorgen“ und „Keine Sorgen“. Mit der 2015er-Welle des SOEP wurde eine gesonderte Frage nach der Zufrieden­ heit der Interviewten mit der sozialen Gerechtigkeit in die Umfrage aufgenommen. Konkret lautet die SOEP-Frage: „Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig mit den folgen­ den Bereichen Ihres Lebens? [. . . ] – mit der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland?“ Die Antworten können auf einer Skala von 0 („völlig unzufrieden“) bis 10 („vollständig zufrieden“) gegeben werden. Die zweite Frage ermöglicht zusätzlich einen Fokus auf die ungleichheitsbezoge­ ne Zufriedenheit der Bevölkerung. Darüber hinaus wurden folgende personenbezoge­ nen Daten als Kontrollvariablen in die Analyse einbezogen: Haushaltsnettoeinkom­ men, Anzahl der Kinder, Familienstand, Konfession und Berufsstatus. Insgesamt ge­ hen Antworten von 30.700 Personen in die Analyse ein. Das entspricht im gesamten Beobachtungszeitraum 303.100 Beobachtungen.¹⁰

10 Für eine ausführliche Darstellung der empirischen Identifikationsstrategie und der Ergebnisse der ökonometrischen Untersuchung siehe Diermeier et al. (2017).

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Ergebnis 1: Kurzfristige Verunsicherung der Bevölkerung im Hinblick auf wirtschaftliche Sorgen Um den Einfluss der Medienberichterstattung auf die Sorgen der Bevölkerung zu ana­ lysieren, schätzen Diermeier et al. (2017) auf Basis der Panel-Daten ein Logit-Regres­ sionsmodell mit fixen Effekten auf Ebene der Individuen in verschiedenen Spezifika­ tionen. Die abhängige Variable sind die Sorgen der Bevölkerung. Die Variable hat eine binäre Ausprägung und nimmt den Wert 1 an, wenn sich die Befragten „große Sorgen“ oder „einige Sorgen“ machen und den Wert 0, wenn sich die Befragten „keine Sorgen“ machen. Die unabhängige Variable ist der Anteil der Berichterstattung zur Ungleich­ heit und verwandten Themen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich eine stärkere Berichterstattung ab einem Zeit­ raum von drei aufeinanderfolgenden Tagen vor dem jeweiligen Interview signifikant negativ auf die Sorgen der Befragten auswirkt. Liegt der Anteil der Berichterstattung zur Ungleichheit in einer Woche um einen Prozentpunkt höher, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit um rund 4 Prozent, dass ein Befragter beziehungsweise eine Be­ fragte angibt, sich Sorgen um die wirtschaftliche Lage zu machen. Ergebnis 2: Weniger Zufriedenheit mit der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit Da für die Frage zur Zufriedenheit mit der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit keine Zeitreihe verfügbar ist, stützt sich dieser Teil der Untersuchung auf ein Quer­ schnittsregressionsdesign. Die abhängige Variable ist nun die Zufriedenheit mit der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit. Die unabhängige Variable ist wiederum der Anteil der Berichterstattung zur Ungleichheit und verwandten Themen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Befragten weniger zufrieden mit der Verwirkli­ chung der sozialen Gerechtigkeit sind, wenn vor ihrem Interview intensiver über Un­ gleichheit berichtet wurde. Steigt der Anteil der wöchentlichen Berichterstattung über Ungleichheit und verwandte Themen um einen Prozentpunkt, so verschiebt sich die Bewertung der Befragten auf einer 10-Punkte-Skala um 0.11 Punkte hin zu „weniger Zufriedenheit mit der sozialen Gerechtigkeit“. Erhöht sich aber der Anteil der Inlands­ berichterstattung zu Ungleichheitsthemen im engeren Sinne (zum Beispiel „Einkom­ mensschere“), dann ist der Einfluss der Medienberichterstattung auf die Unzufrieden­ heit sogar beinahe doppelt so groß.

4.2 Medien und Wahrnehmung von Zuwanderung Ein besonders intensiv diskutiertes Thema in der öffentlichen Debatte ist das Thema Zuwanderung. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahre 2015 gingen in den Ländern der Europäischen Union mehr als 1,5 Millionen Asylanträge ein. Die massive Zuwanderung hat auch Auswirkungen auf die Sorgen der Bevölkerung, die Haltung gegenüber Ausländern und auch den Aufstieg rechter Parteien (Halla et al. 2017).

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Benesch et al. (2019) untersuchen vor diesem Hintergrund den Einfluss der Me­ dienberichterstattung auf die Migrationssorgen der Bevölkerung. Allerdings kann bei dieser Forschungsfrage die Identifikation der Effekte problematisch sein, da die rei­ ne Koinzidenz von intensiverer Berichterstattung und größeren Migrationssorgen der Bevölkerung verschiedene Gründe haben kann: So können Medien intensiver über Migration berichten, weil sich die Bevölkerung größere Sorgen macht oder die Bevöl­ kerung macht sich größere Sorgen, weil die Medien intensiver über Migration berich­ ten oder beide, Sorgen der Bevölkerung und Medienberichterstattung, reagieren un­ abhängig voneinander auf den Zustrom von Migranten. Daher nutzen Benesch et al. (2019) Schweizer Referenden mit Migrationsbezug als Instrument zur exogenen Varia­ tion der deutschen Medienberichterstattung.

Media-Spillovers über Ländergrenzen In der Schweiz werden Legislativvorschläge des Parlaments nicht direkt in Gesetze umgewandelt (Portmann et al. 2012; Hessami 2016). Jede Verfassungsänderung un­ terliegt einem Referendum. Darüber hinaus können Bürger einen Volksentscheid vor dem Erlass von Gesetzen verlangen oder selbst Verfassungsänderungen durch eine Volksinitiative vorschlagen. Hierzu müssen innerhalb von 100 Tagen 50.000 Unter­ schriften (Referendum) oder innerhalb von 18 Monaten 100.000 Unterschriften (In­ itiative) gesammelt werden. Der Prozess eines Referendums wird in der Regel von viel Aufmerksamkeit der Schweizer Medien begleitet und die Ergebnisse der Referenden werden zum Teil auch in den Medien der Nachbarländer berichtet. Abbildung 2 zeigt die durchschnittliche Anzahl der täglichen Berichte über Migration in ausgewählten deutschen Medien in den Tagen vor und nach den Schweizer Referenden mit Migrationsbezug.¹¹ Die Be­ richterstattung über Einwanderungsfragen erhöht sich am Tag der Abstimmungen und am Folgetag um durchschnittlich 5.7 Berichte pro Tag. Der Anteil der Medienbe­ richte zu Migrationsfragen wiederum steigt an diesen beiden Tagen um 3.3 Prozent­ punkte im Vergleich zu den übrigen Tagen in den zwei Wochen rund um die Referen­ den. Somit zeigen sich, zumindest zum Migrationsthema, Hinweise auf Media-Spill­ overs über Ländergrenzen zwischen der Schweiz und Deutschland. Diese nutzen Ben­ esch et al. (2019) als Instrument, also als exogene Variation der deutschen Medienbe­ richterstattung.¹²

11 Die betrachteten Medien sind in Abschnitt 4.2.2 aufgelistet. 12 Adäquate Instrumente müssen zwei Hauptanforderungen erfüllen: Das Instrument muss stark mit der erklärenden Variablen korreliert sein („relevance“) und das Instrument darf nicht mit dem Stör­ term korreliert sein („exclusion restriction“). Zudem wurden weitere statistische Tests („underidentif­

Durchschnittliche Anzahl der Berichte zur Migration in deutschen Medien

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Anzahl der Tage vor und nach den Schweizer Referenden mit Migrationsbezug Abb. 2: Anzahl der Berichte zur Migration in deutschen Medien vor und nach einem Schweizer Referendum mit Migrationsbezug.

Nun könnte eingewendet werden, dass der Zeitpunkt der Schweizer Referenden nicht unabhängig ist von Problemlagen in Deutschland ist, zum Beispiel weil Flücht­ lingsströme gleichzeitig beide Nachbarländer betreffen. Davon ist hier allerdings nicht auszugehen. Referenden in der Schweiz sind ein langwieriger Prozess. In der Regel vergehen mehrere Monate bis Jahre zwischen der Initiierung eines Referendums und der tatsächlichen Abstimmung. Im Fall der hier betrachteten Referenden sind es bis zu 33 Monate. Zudem finden die Abstimmungsentscheidungen viermal im Jahr zu vorbe­ stimmten Terminen statt und die Zuteilung zu diesen Terminen folgt einer Reihe von Verwaltungsvorschriften. Daher sind die Zeitpunkte der Referenden unabhängig von tagesaktuellen Entwicklungen in der Schweiz selbst und sicher von tagesaktuellen Entwicklungen in Deutschland, von denen die Befragten im SOEP betroffen sind.

Einfluss der Medienberichterstattung Benesch et al. (2019) untersuchen nun den Einfluss der Medienberichterstattung auf die Migrationssorgen der deutschen Bevölkerung, indem sie die durch Schweizer Re­ ferenden bedingte exogene Variation der deutschen Medienberichterstattung mit den im SOEP geäußerten Migrationssorgen verknüpfen.

lcation“, „weak identification“) nach Stock und Yogo (2005) durchgeführt. Die Schwellenwerte legen nahe, dass das Instrument adäquat ist. Siehe hierzu Benesch et al (2019).

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Mediendaten Das Medien-Set besteht aus 26 verschiedenen meinungsführenden Medien aus Deutschland, darunter eine private TV-Nachrichtensendung, vier öffentlich-recht­ liche TV-Nachrichtensendungen, zwölf öffentlich-rechtliche politische Fernsehma­ gazine, eine öffentlich-rechtliche Rundfunknachrichtensendung, eine Tageszeitung, zwei Wirtschaftszeitschriften sowie fünf Wochenzeitschriften.¹³ Im Zeitraum von Januar 2009 bis Dezember 2014 wurden sämtliche Medienbe­ richte entsprechend der in Abschnitt 3 beschrieben Erhebungsmethode ausgewertet und kodiert. Insgesamt bilden 363.408 Nachrichten die Grundlage der Analyse. 3.369 davon berichteten (a) von Ausländern und Migranten als Protagonisten (zum Bei­ spiel Asylsuchende, Ausländer, Migranten oder Flüchtlinge) und/oder behandelten (b) Themen wie Migration, Asyl und verwandte Themen (zum Beispiel Asyl, Men­ schenhandel, Migration oder Menschenschmuggel). Umfragedaten Wie bereits in der in Abschnitt 4.1 vorgestellten Untersuchung von Diermeier et al. (2017) verwenden Benesch et al. (2019) die Einstellungen und Sorgen aus dem deut­ schen Sozioökonomischen Panel (SOEP). Dabei werden insbesondere die Antworten auf die Frage „Wie besorgt sind Sie über die folgenden Themen? [. . . ] Einwande­ rung nach Deutschland“ als abhängige Variable betrachtet.¹⁴ Der Analysezeitraum erstreckt sich von 2009 bis 2014. Dabei werden die individuellen Antworten der jähr­ lichen SOEP-Umfrage über das Datum der Interviews auf Tagesbasis mit der Medi­ enberichterstattung verknüpft. Die Gesamtstichprobe umfasst 35.211 Personen mit insgesamt 118.066 Beobachtungen. Ergebnis: Nicht vernachlässigbarer Einfluss der Medien auf die Migrationssorgen Um den Einfluss der Medienberichterstattung zur Migration auf die Sorgen der Be­ völkerung zu analysieren, nutzen Benesch et al. (2019) Panel-Schätzungen mit fixen Effekten auf Ebene der Individuen in verschiedenen Spezifikationen. Die Ergebnisse zeigen positive und statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen der Medienbe­ richterstattung am Tag vor dem Interview und den Einwanderungssorgen. Der Zusam­ menhang bleibt auch robust, wenn die Medienberichte zwar das Thema Einwande­

13 Konkret umfasst Medien-Set RTL aktuell, Tagesthemen (ARD), Tagesschau (ARD), heute (ZDF), heute journal (ZDF), Fakt (MDR), Frontal 21 (ZDF), Kontraste (SFB), Monitor (WDR), Panorama (NDR), Plusminus (ARD), Report (BR), Report (SWR), WISO (ZDF), Bericht aus Berlin (ARD), Berlin direkt (ZDF), Börse vor Acht (ARD), 7 Uhr-Nachrichten (Deutschlandfunk), Bild, Bild am Sonntag (BamS), Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS), Focus, Spiegel, Welt am Sonntag (WamS), Capital und Manager Magazin. 14 Zur Betrachtung möglicher Wechselwirkungen untersuchen Benesch et al. (2019) zudem die Sor­ gen um Arbeitslosigkeit, Fremdenfeindlichkeit und Kriminalität.

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rung behandeln, Migranten aber nicht die handelnden Protagonisten sind. Allerdings haben Nachrichten mit Migranten als Protagonisten einen stärkeren Einfluss auf die Einwanderungssorgen. Die Tonalität der Berichte über Migranten ist hingegen weni­ ger entscheidend. Die Verwendung der Instrumentenvariablenstrategie mit den Schweizer Referen­ den zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Anteil der Medienbericht­ erstattung mit Migrationsbezug am Tag vor dem Interview und den Einwanderungs­ sorgen. Die Koeffizienten für die instrumentierte Medienberichterstattung sind in den Schätzungen mit individuellen fixen Effekten positiv und statistisch signifikant. Die Ergebnisse können nun kausal interpretiert werden. Eine exogen bedingte Zunahme des Anteils der Berichterstattung über Migration in deutschen Medien um 10 Prozent­ punkte erhöht die in der SOEP-Umfrage genannten Einwanderungssorgen auf einer Drei-Punkte-Skala um 0.13 Punkte. Im Vergleich zwischen einzelnen Personengrup­ pen fallen die Effekte bei Frauen, älteren Personen und Nicht-Berufstätigen besonders kräftig aus.

5 Medien und Wahlabsichten Nun stellt sich die Frage, ob die Medien lediglich die Wahrnehmung und Sorgen be­ einflussen oder auch Handlungen auslösen beziehungsweise zumindest Handlungs­ absichten induzieren können. Hinweise dafür, dass die Medienberichterstattung zum Beispiel Wahlergebnisse beeinflussen können, zeigen unter anderem Enikolopov et al. (2011) sowie DellaVinga und Kaplan (2007).¹⁵ In dieser Tradition untersuchen De­ wenter et al. (2019b) den Zusammenhang zwischen der Politikberichterstattung und den politischen Präferenzen der Bevölkerung. Im Gegensatz zu den genannten Unter­ suchungen analysieren die Autoren nicht die Auswirkungen des Zugangs zu bestimm­ ten Medien, sondern den Einfluss der Tonalität der Berichterstattung über politische Parteien und Politiker. Damit greifen Dewenter et al. (2019b) unter anderem den Hin­ weis von Puglisi und Snyder (2015, 664) auf, dass in bestehenden Studien zum Einfluss der Medienberichterstattung die Tonalität der Berichterstattung häufig vernachlässigt wird.

5.1 Kurzfristige Wahlabsichten und langfristige Parteineigung Um den Einfluss der Medienberichterstattung auf die Wahlabsichten und auf die grundsätzliche Parteineigung zu untersuchen, verwenden Dewenter et al. (2019b)

15 Die Ergebnisse der Arbeiten von Enikolopov et al. (2011) sowie DellaVinga/Kaplan (2007) sind in Abschnitt 2 näher vorgestellt.

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zum einen Mediendaten und zum anderen Daten aus der Politbarometer-Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen. Mediendaten Das Medien-Set besteht aus 35 verschiedenen Medienunternehmen aus Deutschland: drei private TV-Nachrichtensendungen, vier öffentlich-rechtliche TV-Nachrichten­ sendungen, elf öffentlich-rechtliche TV-Politikmagazine, sieben Tageszeitungen und zehn Sonntagszeitungen beziehungsweise Zeitschriften.¹⁶ Im Zeitraum von Febru­ ar 1998 bis Dezember 2012 wurden insgesamt 10.105.239 Nachrichten zu politischen Parteien und/oder Politikern ausgewertet. Die Analyse konzentriert sich auf die Unionsparteien Christlich Demokratische Union und Christlich Soziale Union (CDU/CSU), die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die Freie Demokratische Partei (FDP) sowie auf die Grünen. 9.451.032 Nachrichten entfielen auf diese Parteien. Die Medienberichte wurden ent­ sprechend der in Abschnitt 3 beschrieben Erhebungsmethode ausgewertet und ko­ diert. Umfragedaten Die Daten zu politischen Präferenzen stammen aus der Politbarometer-Umfrage. Die Politbarometer-Umfrage ist eine wiederholte Querschnittsbefragung. Die Daten wer­ den per Telefoninterview (CATI) mit standardisierten Fragebögen erhoben. Jeden Mo­ nat werden rund 1.700 Interviews geführt. Dewenter et al. (2019b) nutzen die Umfragen von Februar 1998 bis Dezember 2012. Für die Analyse werden die Fragen nach den Wahlabsichten der Befragten und der grundsätzlichen Parteineigung verwendet. Die Wahlabsichten sind ein Indikator für die kurzfristigen politischen Präferenzen. Eine grundsätzliche Neigung zu einer Par­ tei bedeutet nicht notwendigerweise, dass diese Person auch immer für diese Partei stimmt. So können aktuelle Einflussfaktoren wie die derzeitige Leistung der Regie­ rung oder auch die Medienberichterstattung Einfluss auf die Wahlabsicht und das Wahlverhalten haben. Die längerfristige grundsätzliche Parteineigung hängt weniger von den aktuellen Geschehnissen ab, sondern besteht eher aufgrund einer generellen und dauerhaften Übereinstimmung mit der inhaltlichen Ausrichtung der Partei oder aufgrund familiärer Tradition. Darüber hinaus verwenden die Autoren eine Vielzahl

16 Konkret umfasst Medien-Set RTL aktuell, Sat.1 News, ProSieben News, Tagesthemen (ARD), Tages­ schau (ARD), heute (ZDF), heute journal (ZDF), Fakt (MDR), Frontal 21 (ZDF), Kontraste (SFB), Monitor (WDR), Panorama (NDR), Plusminus (ARD), Report (BR), Report (SWR), WISO (ZDF), Bericht aus Ber­ lin (ARD), Berlin direkt (ZDF), Bild, Berliner Zeitung, Die Welt, Die Tageszeitung (taz), Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Bild am Sonntag, Frankfurter All­ gemeine Sonntagszeitung, Focus, Spiegel, Welt am Sonntag, Stern, Super Illu, Die Woche, Rheinischer Merkur und Die Zeit.

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weiterer Variablen aus der Politbarometer-Umfrage, um für soziodemografische Merk­ male zu kontrollieren.

5.2 Einfluss der Medienberichterstattung Bei der empirischen Analyse des Einflusses der Medienberichterstattung auf die Wahl­ absichten kann es zu verschiedenen Schwierigkeiten bei der Identifikation der Effekte kommen. So kann die Koinzidenz einer negativeren Berichterstattung zu einer Par­ tei und geringeren Wahlabsichten darin begründet sein, dass die Medien über die nachlassenden Wahlabsichten, zum Beispiel ausgedrückt in Wahlumfragen, berich­ ten oder die Medien den Stimmungswechsel in ihrer Leserschaft antizipieren und entsprechend die Berichterstattung nach den (vermuteten) Präferenzen anpassen. Es kann aber auch sein, dass die Wahlabsichten zu einer Partei sinken, da die Medien negativer über sie berichten oder dass beide, Wahlabsichten und Berichterstattung, sich eintrüben, da zum Beispiel die Leistung der Regierungspartei nachlässt. Daher verwenden auch Dewenter et al. (2019b) die Methode der Instrumentenva­ riablenschätzung. Hierzu wird die Tonalität internationaler Medienberichte über die Bankenbranche verwendet, um die Berichterstattung über Politiker und politische Parteien in inländischen Medien zu instrumentieren. Dabei besteht ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen der internationalen Medienberichterstattung über die Bankenbranche und der Tonalität der Berichterstattung über Parteien in deutschen Medien. Es scheint so zu sein, dass sich Journalisten, die im Gegensatz zur Bevölkerung oft auch internationale Medien konsumieren und Nachrichten über internationale Agenturdienste erhalten, nicht von dieser Berichterstattung frei ma­ chen können, auch wenn sie über ganz andere Themen wie die deutsche Innenpolitik berichten.¹⁷ Nun könnte eingewendet werden, dass die nationale Berichterstattung zu Politi­ kern und Parteien deshalb auf die internationale Bankenberichterstattung reagiert, weil den deutschen Politikern die internationale Bankenregulierung zugerechnet wird. Würden die Wähler in der Folge mit veränderten Wahlabsichten reagieren, so wären diese nicht unabhängig von der internationalen Berichterstattung über Banken und das Instrument müsste verworfen werden. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein. Zum einen konsumiert nur ein geringer Teil der deutschen Bevölkerung internationale Medien. Zum anderen werden Rege­ lungen zur Bankenregulierung in erster Linie international beschlossen, zum Beispiel

17 Adäquate Instrumente müssen zwei Hauptanforderungen erfüllen: Das Instrument muss stark mit der erklärenden Variablen korreliert sein („relevance“) und das Instrument darf nicht mit dem Stör­ term korreliert sein („exclusion restriction“). Zudem wurden weitere statistische Tests („underidentifi­ cation“, „weak identification“) nach Stock/Yogo (2005) durchgeführt. Die Schwellenwerte legen nahe, dass das Instrument adäquat ist. Siehe hierzu Dewenter et al (2019b).

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im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, und durch entsprechende Umsetzungsricht­ linien auf europäischer Ebene implementiert. So unterscheiden die Bürger zwischen einer Regulierung des Bankensektors auf internationaler Ebene und den auf natio­ naler Ebene handelnden Politikern. Hinweise hierfür liefert auch eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (2013) zur Finanzkrise, nach der 68 Prozent der Befragten die unzureichende internationale Regulierung als Haupt­ grund für die Finanzkrise betrachten. Im Gegensatz dazu sehen nur 11 Prozent die nationale Politik der Bundesregierung als Hauptursache. Ergebnis: Einfluss der Medien auf die Wahlabsichten, aber nicht auf die Parteineigung Die Ergebnisse der Schätzungen zeigen einen positiven Effekt einer exogen verbes­ serten Tonalität der Berichterstattung über eine Partei auf die Wahlabsichten. Zum Beispiel wirkt sich eine positivere oder weniger negative Berichterstattung über die CDU/CSU positiv auf die Wahlabsichten aus. Die Koeffizienten sind auch für die SPD und die FDP statistisch signifikant und positiv, für die Grünen hingegen insignifikant. Wendet man dieselben Schätzungen auf die grundsätzliche Parteineigung an, die als längerfristige politische Präferenzen interpretiert werden kann, so wird der Zusam­ menhang für die CDU/CSU und die SPD insignifikant.¹⁸ Dies ist wenig überraschend, da die grundsätzliche Parteineigung als relativ stabil angenommen werden kann. Sie wird weniger durch Medienberichterstattung als durch eine weitergehende Überein­ stimmung der eigenen Einstellungen mit dem Parteiprogramm oder auch durch die Familientradition bestimmt.

6 Medien als vierte Gewalt Kommen wir zurück zu den Medien als Institution in Demokratien: Werden sie ihrer Rolle als vierte Gewalt gerecht? Um diese Frage zu beantworten, entwickeln Dewenter et al. (2019a) zunächst einen Political Coverage Index (PCI), mit dem sich die Leitme­ dien in Deutschland anhand ihrer politischen Berichterstattung empirisch robust in ein eindimensionales politisches Spektrum einordnen lassen. Anhand der Variation der Positionierung der Medien im Zeitverlauf analysieren die Autoren sodann, ob die Medien eher zu einer positiveren oder einer negativeren Berichterstattung über die Regierungspartei neigen.

18 Lediglich für die FPD wird ein signifikanter Zusammenhang zwischen der exogen verbesserten Berichterstattung und der grundsätzlichen Parteineigung sichtbar. Die Ergebnisse für die Grünen sind wie bereits bei den Wahlabsichten insignifikant.

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6.1 Politische Verortung von Medien Mediendaten Das Medien-Set besteht aus 35 verschiedenen Medienunternehmen aus Deutschland: drei private TV-Nachrichtensendungen, vier öffentlich-rechtliche TV-Nachrichten­ sendungen, elf öffentlich-rechtliche TV-Politikmagazine, sieben Tageszeitungen und zehn Sonntagszeitungen beziehungsweise Zeitschriften.¹⁹ Insgesamt wurden im Zeit­ raum von Februar 1998 bis Dezember 2012 10.105.165 Nachrichten in die Analyse einbezogen, von denen 7.203.351 Nachrichten auf die Christlich Demokratische Union und auf die Christlich Soziale Union (CDU/CSU) sowie auf die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) entfallen. Die überwiegende Mehrheit der Berichte konzen­ triert sich dabei auf die Bundesebene in Deutschland, da im Medien-Set überwiegend die Leitmedien auf nationaler und nicht auf regionaler Ebene vertreten sind. Um die politische Positionierung der Medien zu untersuchen, nutzen Dewenter et al. (2019a) die Tonalität der Berichterstattung über die CDU/CSU und über die SPD je Monat und Medium und berechnen die Differenz zwischen den beiden Werten. Der Political Coverage Index (PCI) für Medium i in Monat t ergibt sich demnach als: CDU/CSU

PCIi,t = s i,t

− sSPD i,t

CDU/CSU

Dabei ist s i,t die Tonalität der Berichterstattung zur CDU/CSU in Medium i und Monat t. Diese kann Werte von −1 (alle Berichte sind negativ) bis +1 (alle Berichte sind positiv) annehmen. Entsprechend ist sSPD i,t die Tonalität der Berichterstattung zur SPD in Medium i und Monat t. Der PCIi,t kann entsprechend Werte zwischen −2 (alle Be­ richte zur CDU/CSU negativ und alle Berichte zur SPD positiv) und +2 (alle Berichte zur CDU/CSU positiv und alle Berichte zur SPD negativ) annehmen. Die Ergebnisse des PCI für den Zeitraum Februar 1998 bis Dezember 2012 sind in Abbildung 3 dargestellt. Die 35 Medien verteilen sich in einer Bandbreite von PCI-Wer­ ten von −0.07 bis 0.14. Negative PCI-Werte bedeuten, dass das Medium weniger kri­ tisch über die SPD berichtet als über die CDU/CSU. Positive PCI-Werte bedeuten wie­ derum, dass das Medium weniger kritisch über die CDU/CSU berichtet als über die SPD. Insgesamt ist die Verteilung etwas rechtsschief. Wenn man bedenkt, dass der PCI Werte von −2 bis 2 annehmen kann, beschränkt sich die Streuung auf einen rela­

19 Konkret umfasst Medien-Set diesmal RTL aktuell, Sat.1 News, ProSieben News, Tagesthemen (ARD), Tagesschau (ARD), heute (ZDF), heute journal (ZDF), Fakt (MDR), Frontal 21 (ZDF), Kontras­ te (SFB), Monitor (WDR), Panorama (NDR), Plusminus (ARD), Report (BR), Report (SWR), WISO (ZDF), Bericht aus Berlin (ARD), Berlin direkt (ZDF), Bild, Berliner Zeitung, Die Welt, Die Tageszeitung (taz), Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Bild am Sonntag, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Focus, Spiegel, Welt am Sonntag, Stern, Super Illu, Die Wo­ che, Rheinischer Merkur und Die Zeit.

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Medien berichten weniger kritisch über die SPD als über CDU/CSU

Medien berichten weniger kritisch über CDU/CSU als über die SPD

PCI

Abb. 3: Politische Verortung von Medien in Deutschland, Political Coverage Index (PCI), Februar 1998 – Dezember 2012 (Quelle: Eigene Darstellung).

tiv kleinen Bereich.²⁰ Dennoch zeigt der PCI eine politische Verortung der Medien, die vielfach den subjektiven Einschätzungen entsprechen dürfte. Am weitesten links von der 0-Linie liegt das politische Fernsehmagazin Moni­ tor, welches in der ARD ausgestrahlt wird. Es folgen unter anderem der Report aus Mainz (SWR), die Tageszeitung taz und der Spiegel mit negativen PCI-Werten. Rechts der 0-Linie finden sich unter anderem die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die Bild-Zeitung oder der Rheinische Merkur. Am weitesten rechts der 0-Linie liegt das po­ litische Fernsehmagazin Report München, das ebenfalls in der öffentlich-rechtlichen ARD ausgestrahlt wird. Regierungskoalitionen und Variation der politischen Positionierung im Zeitverlauf In einem weiteren Schritt wird nun die politische Positionierung im Zeitverlauf be­ trachtet. Hierbei hat es im Untersuchungszeitraum folgende Regierungskoalitionen auf Bundesebene gegeben: 11/1994–10/1998: CDU/CSU und FDP I 10/1998–10/2002: SPD und Grüne I

20 In Dewenter et al. (2019a) bilden wir zudem einen gewichteten PCI, der neben der Tonalität der Berichterstattung auch den Anteil der Berichterstattung zu CDU/CSU und SPD berücksichtigt. Die Er­ gebnisse bleiben sehr ähnlich.

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10/2002–10/2005: SPD und Grüne II 10/2005–10/2009: CDU/CSU und SPD 10/2009–10/2013: CDU/CSU und FDP II In Abbildung 4 werden beispielhaft die PCI-Werte für ausgewählte TV-Nachrichten­ sendungen dargestellt. Die vertikalen Linien stellen den Beginn einer neuen Regie­ rungskoalition dar, die horizontalen Linien den durchschnittlichen PCI-Wert inner­ halb einer Regierungsperiode. Es zeigt sich, dass zum Beispiel beim heute journal (ZDF) zu Zeiten der beiden rotgrünen Koalitionen der PCI-Wert im Durchschnitt leicht positiv ist. Das bedeutet, dass in diesem Zeitraum kritischer zur SPD als zur CDU/CSU berichtet wurde. Zu Zeiten der großen Koalition von CDU/CSU und SPD liegt der durchschnittliche PCI-Wert nahe­ zu exakt bei 0, was bedeutet, dass über CDU/CSU und SPD ähnlich kritisch berichtet wurde. Während der Koalition von CDU/CSU und FDP nimmt der durchschnittliche PCI hingegen deutlich negative Wert an, was bedeutet, dass im heute journal (ZDF) in diesem Zeitraum wesentlich kritischer über die CDU/CSU berichtet wurde als über die SPD. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch für die Tagesschau (ARD). Bei den SAT1 News ist hingegen kaum Variation des durchschnittlichen PCI zu beobachten. RTL aktuell berichtet wiederum in den Zeiten der rot-grünen Koalitionen Regierungen und

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Abb. 4: Regierungskoalitionen und Variation der politischen Positionierung im Zeitverlauf, PCI-Werte ausgewählter TV-Nachrichtensendungen (Quelle: Eigene Darsatellung). Hinweis: Die vertikalen Linien stellen den Beginn einer neuen Regierungskoalition dar, die horizon­ talen Linien den durchschnittlichen PCI-Wert innerhalb einer jeden Regierungsperiode.

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der großen Koalition im Durchschnitt nahezu gleich kritisch über CDU/CSU und SPD. Während der Koalition von CDU/CSU und FDP nimmt der PCI hingegen auch bei RTL aktuell deutlich negative Werte an.

6.2 Regierungsbonus oder -malus in der Berichterstattung Eine erste Betrachtung der Variation der politischen Positionierung von ausgesuch­ ten Medien im Zeitverlauf hat bereits erste Hinweise darauf gegeben, dass deutsche Medien auf Bundesebene in der Tendenz eher regierungskritisch berichten. Dies wird nun mithilfe von Panelschätzungen mit fixen Effekten eingehender un­ tersucht. Hierzu wird die Berichterstattung in sämtlichen 35 Medien über den gesam­ ten Zeitraum von Februar 1998 bis Dezember 2012 betrachtet und für jede der in Ab­ schnitt 6.1 genannten Regierungskoalitionen ein Dummy gesetzt, der den Wert 1 an­ nimmt, wenn die jeweilige Koalition im Amt war. Die Ergebnisse bestätigen im Wesentlichen die ersten Hinweise im vorherigen Ab­ schnitt. Die Koeffizienten sind für SPD und Grüne-Koalitionen statisch signifikant und positiv. Ist eine rot-grüne Koalition an der Regierung, so berichten Medien etwas kri­ tischer über die SPD als über die CDU/CSU. Betrachtet man die Koalitionen SPD und Grüne I und II getrennt, so ist der Koeffizient der zweiten Koalition SPD und Grüne II deutlich größter als bei SPD und Grüne I. Dies mag zum einen in einem grund­ sätzlichen Trend zu einer kritischeren Berichterstattung bei andauernder Amtszeit zu tun haben. Zum anderen brachte SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder gerade in der zweiten Amtszeit von SPD und Grünen (SPD und Grüne II) mit der Agenda 2010 ein Re­ formpaket auf den Weg, das hinsichtlich des Arbeitsmarkts als umfassendste Reform seit dem Zweiten Weltkrieg gesehen werden kann. Dieses wurde begleitet von heftiger Kritik unter anderem von Politikern und Gewerkschaften, die insbesondere auch über die Medien vorgebracht wurden. Auch bei der großen Koalition von CDU/CSU und SPD nimmt der Koeffizient einen positiven Wert an. Dieser ist jedoch kleiner als der Koeffizient mit Bezug auf beide rot-grüne Koalitionen gemeinsam und auch kleiner als der Koeffizient mit Bezug auf die erste rot-grüne Koalition (SPD und Grüne I) allein. Der Koeffizient mit Bezug auf die Koalition von CDU/CSU und FDP ist hingegen statistisch signifikant und negativ. Das bedeutet, dass Medien in Zeiten der Koalition von CDU/CSU und FDP kritischer über die CDU/CSU berichten als über die SPD.²¹ Insgesamt ergeben die Schätzungen, dass in deutschen meinungsführenden Me­ dien die Berichterstattung zur CDU/CSU tendenziell kritischer beziehungsweise die Berichterstattung zur SPD weniger kritisch wird, wenn auf Bundesebene die CDU/CSU 21 In Dewenter et al. (2019a) wiederholen wir die Schätzungen mit dem gewichteten PCI und kommen zu ähnlichen Ergebnissen.

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an der Regierung ist. Auch wird die Berichterstattung zur SPD tendenziell kritischer beziehungsweise jene zur CDU/CSU weniger kritisch, wenn auf Bundesebene die SPD an der Regierung ist. Dieses Ergebnis kann mit aller Vorsicht als Hinweis auf eine Art Regierungsmalus in der Berichterstattung gesehen werden und als Hinweis darauf, dass Medien zumindest in Deutschland ihrer Rolle als vierte Gewalt in der Demokra­ tie gerecht werden.

7 Medien in Demokratien: Ergebnisübersicht Gerade in Demokratien spielen Medien eine wichtige Rolle für die Wahrnehmung und die Entscheidungen von Individuen. So zeigen Diermeier et al. (2017), dass die Medi­ enberichterstattung zum Thema Ungleichheit auf die Wahrnehmung und Sorgen der Bevölkerung wirkt. Interessant dabei ist, dass obwohl die Einkommensungleichheit in Deutschland seit 2005 nicht zugenommen hat, sich im selben Zeitraum der Anteil der Berichterstattung zu Ungleichheit verdoppelt und seit 2001 sogar verdreifacht hat. Die Berichterstattung zur Ungleichheit treibt wiederum die Sorgen der Bevölkerung. Liegt der Anteil der Berichterstattung zur Ungleichheit in den Tagen vor dem Interview um einen Prozentpunkt höher, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Befragter in der SOEP-Umfrage Sorgen um die wirtschaftliche Lage angibt, um rund 4 Prozent. Ebenfalls sind die Befragten weniger zufrieden mit der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit. Erhöht sich der Anteil der Berichterstattung zur Ungleichheit im enge­ ren Sinne (zum Beispiel zur Einkommensschere) und werden nur Berichte über Ge­ schehnisse im Inland berücksichtigt, ist der Einfluss auf die Unzufriedenheit beinahe doppelt so groß. Eine ähnliche Wirkung der Medienberichterstattung zeigen Benesch et al. (2019) im Hinblick auf Migrationssorgen. Ein exogen bedingter Anstieg des Anteils der Me­ dienberichterstattung über Migration um 10 Prozentpunkte erhöht die in der SOEPUmfrage genannten Einwanderungssorgen auf einer Drei-Punkte-Skala um 0.13 Punk­ te. Im Vergleich zwischen einzelnen Personengruppen wirkt die Medienberichterstat­ tung auf die Migrationssorgen bei Frauen, älteren Personen und Nicht-Berufstätigen besonders kräftig. Hinweise dafür, dass Medienberichterstattung in der Demokratie nicht nur auf der Wahrnehmungsebene wirkt, sondern auch Handlungen beziehungsweise Hand­ lungsabsichten beeinflusst, analysieren Dewenter et al. (2019b). Es zeigt sich, dass ei­ ne positivere beziehungsweise weniger negative Berichterstattung zu einer Partei die Wahlabsichten für diese Partei steigen lässt. Kein Effekt zeigt sich hingegen im Hin­ blick auf die grundsätzliche Parteineigung, die wohl mehr von der grundsätzlichen Übereinstimmung der Einstellungen mit dem Parteiprogramm oder auch von Famili­ entradition abhängt.

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Dennoch unterstreichen zum einen der nachgewiesene Einfluss der Medienbe­ richterstattung zu Themen wie Ungleichheit und Migration auf die Wahrnehmung be­ ziehungsweise Sorgen der Bevölkerung und zum anderen der Einfluss der Medienbe­ richterstattung auf die Wahlabsichten die besondere Verantwortung von Medien in Demokratien. Kommen wir zurück zu den Medien als Institution in Demokratien: Werden sie ihrer Rolle als vierte Gewalt gerecht? Hier besteht durchaus Hoffnung. So zeigen De­ wenter et al. (2019a) auf Basis des von ihnen entwickelten Political Coverage Index (PCI), dass sich zum einen die Leitmedien in Deutschland in ihrer Parteienbericht­ erstattung empirisch robust in ein eindimensionales politisches Spektrum einordnen lassen. Zum anderen variiert die Positionierung im Zeitverlauf: überregionale Medi­ en berichten im Vergleich zu ihrer durchschnittlichen Positionierung kritischer zu der Partei, die gerade an der Regierung beteiligt ist. Das kann als Hinweis gesehen wer­ den, dass zumindest in Deutschland die Medien ihrer Rolle als vierte Gewalt nach­ kommen. Weitere empirische Forschungen könnten auch den themenspezifischen Einfluss der Medienberichterstattung gerade im Hinblick auf das Zusammenwirken unter­ schiedlicher Themen in den Blick nehmen. Forschungsbedarf besteht auch zu den Wirkungen und Wechselwirkungen von klassischen Medien und sogenannten So­ zialen Medien ohne redaktionellen Qualitätssicherungsprozess. Sollte es in Zukunft gelingen, mit computerlinguistischen Verfahren Medienberichte auch im Hinblick auf den thematischen Kontext und auf die Tonalitäten valide auszuwerten, würde das zu einer massiven Kostenreduktion und zu wesentlich verbesserten Möglichkeiten für mehr empirische Medieneinflussforschung führen.

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Korreferat zu dem Beitrag von Tobias Thomas Oliver Budzinski, Sophia Gaenssle und Annika Stöhr Im Einklang mit der Literatur kommt Thomas (2020) in seinem Beitrag zu dem grund­ sätzlichen Ergebnis, dass Medienberichterstattung in Demokratien Einfluss auf die Meinungsbildung der Bevölkerung und damit die Wahlabsichten hat. Er zeigt dadurch die besondere Verantwortung der Medienanstalten gegenüber der Allgemeinheit auf. In unserem Beitrag gehen wir weniger auf die einzelnen Teilaspekte der von Tho­ mas (2020) zusammengefassten empirischen Studien ein, sondern greifen einleitend noch einmal kurz den ökonomietheoretischen Hintergrund auf, bevor wir Aspekte der Wettbewerbsordnung (Abschnitt 2) und die Besonderheiten des Onlinekonsums von Nachrichteninhalten (Abschnitt 3) aufzeigen. Der erste Teil stellt die Frage nach den ordnungsökonomischen Faktoren, welche die von Thomas (2020) zusammengefass­ ten Ergebnisse begründen, während der Zweite die Frage aufwirft, ob sich jene empi­ rischen Studien auf Phänomene des digitalen Nachrichtenzeitalters noch anwenden lassen. Ökonomische Analyse verzerrter Berichterstattung Die ökonomische Theorie hat sich mit dieser wichtigen Thematik verzerrter Bericht­ erstattung unter dem Stichwort „Media Bias“ beschäftigt. Hierbei wird die moderne Literatur dadurch angestoßen, dass modelltheoretisch herausgearbeitet wird, unter welchen Bedingungen ein Nachrichtenmonopolist Anreize zu einer ausgewogenen Berichterstattung hat und unter welchen Bedingungen ein Marktwettbewerb bezie­ hungsweise eine wettbewerbliche Marktstruktur Media Bias begünstigen könnte (im Gegensatz zu Coase 1974). Kurz und vereinfachend zusammengefasst kann dabei fest­ gehalten werden: verhalten sich alle Medienunternehmen strikt gewinnmaximierend (was die Abwesenheit politischer Ziele impliziert) und liegen keine Informations­ defizite und -asymmetrien vor, so bestimmen die Präferenzen der Rezipienten über das Ausmaß der Verzerrung (Mullanaithan/Shleifer 2005). Dabei gibt es drei Mög­

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lichkeiten: Präferieren erstens alle Nachfrager homogen eine unverzerrte Bericht­ erstattung so haben weder ein Nachrichtenmonopolist noch Wettbewerber Anreize verzerrend zu berichten. Präferieren zweitens alle Nachfrager homogen eine iden­ tisch-verzerrte Berichterstattung, so werden sowohl Monopol als auch Wettbewerb die gewünschte Verzerrung liefern. Sind die Nachfrager hingegen drittens heterogen, das heißt manche präferieren eine unverzerrte Berichterstattung, andere Verzerrun­ gen unterschiedlicher Ausrichtungen, so erfahren Wettbewerber Anreize, sich auf die Präferenzen bestimmter Nachfragegruppen zu spezialisieren und ihre Bericht­ erstattung entsprechend zu verzerren, während ein Monopolist weiterhin Anreize hat, unverzerrt zu berichten, um die Marktmenge möglichst zu maximieren. Es dürfte dabei unstrittig sein, dass die Rezipienten wie im dritten Fall angenommen heterogen sind und aufgrund unterschiedlicher politischer Ideologien, Vorurteile und Inter­ essen unterschiedliche Verzerrungsrichtungen präferieren. Gibt man allerdings die Annahmen der (i) Abwesenheit von Informationsdefiziten und -asymmetrien sowie (ii) ausschließlich profitmaximierender Medienunternehmen und perfekter Informa­ tion, so verändert sich das Bild und ein Nachrichtenmonopol ist keineswegs mehr die bevorzugte Marktstruktur für eine möglichst unverzerrte Berichterstattung. (i) Wenn Rezipienten den Wahrheitsgehalt von Nachrichten, mithin den Grad und die Richtung der Verzerrung, nicht perfekt identifizieren können, da Nachrichten mindestens teilweise Vertrauensgutcharakter besitzen (inter alia, Budzinski/Ku­ chinke 2020), dann entstehen zwei gegenläufige Reputationseffekte hinsicht­ lich der Glaubwürdigkeit von Nachrichtenmedien. Einerseits erhöht eine Be­ richterstattung, welche tendenziell das Weltbild eines Rezipienten bestätigt, die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung für diesen Rezipienten. Somit hängt Glaubwürdigkeit wiederum von einer präferenzgerechten Verzerrung der Bericht­ erstattung ab. Wenn jedoch Rezipienten entdecken, dass sie verzerrter Bericht­ erstattung ausgesetzt waren, so sollte dies die Reputation und Glaubwürdig­ keit des entsprechenden Nachrichtenmediums senken (Gentzkow/Shapiro 2006, 2008, 2010; Anderson/McLaren 2012). Somit wirkt die Entdeckungswahrschein­ lichkeit einer verzerrten Berichterstattung als Korrektiv und verringert den Anreiz von Medienunternehmen verzerrt zu berichten. Dies hat wesentliche Implikatio­ nen für die Effekte der Marktstruktur auf verzerrte Berichterstattung, denn je mehr Wettbewerber im Nachrichtenmarkt sind, umso größer wird die Wahrscheinlich­ keit, dass Rezipienten eine systematische Verzerrung in der Berichterstattung durch den Konsum konkurrierender Nachrichtenmedien erkennen – womit in­ tensiver Wettbewerb den Anreiz senkt, verzerrt zu berichten. Dabei können ver­ bleibende Verzerrungen selbst als Informationsquelle zu ihrer Entdeckung für die Rezipienten dienen (Xiang/Savary 2007). (ii) Lässt man das empirisch relevante Phänomen zu, dass Medienunternehmer und – unternehmen auch politisch-gesellschaftliche Ziele verfolgen (wie beispielsweise der italienische Medienunternehmer und Politiker Berlusconi oder das US-ame­ rikanische Nachrichtennetzwerk Fox News (vgl. Durante/Knight 2012 sowie Della

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Vigna/Kaplan 2007), so entsteht eine Kongruenz zwischen Marktmacht und Mei­ nungsmacht (Corneo 2006; Dewenter 2007; Anderson/McLaren 2012). In welchem Ausmaß sich Marktmacht in Meinungsmacht transferieren lässt, hängt dabei zum einen von den Zielfunktionen der Eigentümer eines Medienunternehmens ab. Um die Rezipienten politisch zu beeinflussen, also ihre Meinung zu ändern, muss die Berichterstattung bis zu einem gewissen Grad gegen die Präferenzen der Rezipien­ ten verzerrt werden. Dies birgt die Gefahr eines Nachfragerückgangs mit sich, wel­ cher umso stärker ausgeprägt ist, je mehr und je intensiverer Wettbewerb auf den Medienmärkten herrscht. Mit anderen Worten, ein politisch-motivierter Media Bi­ as reduziert oftmals die Profite der Medienunternehmen. Je heterogener die Inter­ essen der Eigentümer sind, umso schwieriger wird ein Profitverzicht zu Gunsten politischer Einflussziele konsensfähig sein, sodass beispielsweise börsennotier­ te Aktiengesellschaften weniger zu Verzerrungen neigen sollten als Einzeleigen­ tümer oder politisch-homogene Eigentümerstrukturen. Zum anderen spielt aber auch eine Rolle, wie stark Rezipienten auf verzerrte Berichterstattung mit Nach­ frageentzug reagieren, also wie groß ihr Disnutzen aus nicht-präferenzkonformen Nahrichten ist (Garcia Pires 2013). Marktmacht wird aber im Regelfall den Spiel­ raum für verzerrte Berichterstattung erhöhen. Insgesamt kann aus der ökonomischen Theorie des Media Bias gefolgert werden, dass ein Nachrichtenmonopol ebenso wie ein enges Oligopol an Medienunternehmen er­ hebliche Gefahren verzerrter Berichterstattung mit sich bringen, während intensiver Wettbewerb zwischen einer Vielzahl und Vielfalt an Nachrichtendiensten die Anrei­ ze für Media Bias senkt.²² Hieraus ergibt sich eine erhebliche Bedeutung der Wettbe­ werbs- und Regulierungspolitik für die Wettbewerbsordnung der Medienmärkte. Zur Rolle von Wettbewerbs- und Regulierungspolitik Gerade aufgrund des, neben anderen auch von Thomas (2020) festgestellten, Ein­ flusses der Medien auf Wahlen und damit auf die Entwicklung einer Gesellschaft existieren diese mitnichten in einem regulierungsfreien Raum. In Deutschland un­ terliegen Medien beispielsweise dem Rundfunkstaatsvertrag und der darin festge­ schriebenen Aufgabe der Förderung der Medien- und Meinungsvielfalt. Neben die­ sem Staatsvertrag, welcher private und öffentlich-rechtliche Medien gleichermaßen reguliert, unterliegen Medienanstalten in ihrer Eigenschaft als Unternehmen auch den allgemeinen Wettbewerbsregeln, also dem Kartellverbot, der Missbrauchsauf­ sicht und der Fusionskontrolle (Budzinski/Stöhr 2019a). Darüber hinaus werden in der Fallpraxis aufgrund der sich aus den genannten Eigenschaften ergebenden be­ sonderen Bedeutung von Medienunternehmen häufig bestimmte Ausnahmen oder

22 Neuere Entwicklungen und Veränderungen des Nachrichtenkonsums können diese Effekte aller­ dings erheblich verändern (siehe Abschnitt 3).

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Sonderregelungen getroffen. So erfahren seit der 9. GWB-Novelle aus dem Jahr 2017 Presseverlage in Deutschland erhebliche Vorteile bei wirtschaftlichen Kooperationen im Sinne einer Ausnahme vom Kartellverbot auf der wirtschaftlichen Verlagsebene. Hier könnte man also von einem Schutz der Verlagshäuser vor (digitalem) Wettbewerb sprechen (Budzinski 2017). Weitere Besonderheiten zeigen sich regelmäßig in deutschen, aber auch interna­ tionalen Zusammenschlussfällen. So wird Meinungsvielfalt in verschiedenen euro­ päischen Fusionskontrollvorschriften teilweise explizit als sogenanntes Public Inte­ rest oder Gemeinwohl aufgeführt (beispielsweise in Österreich, wo Medienfusionen im KartG explizit geregelt sind) oder implizit in der Fallpraxis umgesetzt. In Deutsch­ land ist beispielsweise der Schutz der Medienvielfalt allgemein als Gemeinwohlgrund in einem Ministererlaubnis-Verfahren anerkennungswürdig. Das kann bedeuten, dass ein antikompetitiver Zusammenschluss von Medienunternehmen trotz negativer wett­ bewerblicher Auswirkungen auf die relevanten Märkte und die Wohlfahrt erlaubt wer­ den kann, wenn die beteiligten Unternehmen aufzeigen können, dass der Zusammen­ schluss dem Erhalt oder der Stärkung der Medienpluralität und der Meinungsvielfalt dient (Budzinski/Stöhr 2020). Freilich weist die ökonomische Theorie des Media Bias eher darauf hin, dass mit wirtschaftlicher Macht auch Meinungsmacht einhergeht, so dass eher eine Verschärfung der Fusionskontrolle für Medienunternehmen angemes­ sen erscheint als eine Rechtfertigung antikompetitiver Medienfusionen. Des Weiteren verfügt in Deutschland zum einen die KEK (Kommission zur Ermittlung der Konzen­ tration im Medienbereich) über eigene spezifische Kompetenzen zur Kontrolle von Medienfusionen, zum anderen gelten im allgemeinen Wettbewerbsrecht für den Zu­ sammenschluss von Zeitungen niedrigere Aufgreifschwellen als für andere Fusionen. Auch das Bundeskartellamt scheint Medienzusammenschlüsse in besonderer Weise kritisch zu betrachten, was aus rein ökonomischer Perspektive beispielsweise im Falle der untersagten Fusion Springer-ProSiebenSat.1 für teilweise deutliche Kritik gesorgt hat (Budzinski/Wacker 2007; Dewenter 2007). Rechtfertigen also die Ergebnisse von Thomas (2020) – der nachweisliche Ein­ fluss von Medien auf die politische Meinungsbildung – eine Ausnahme vom Wettbe­ werbsrecht? Ist also die Medien- und Meinungsvielfalt im Interesse der Allgemeinheit und sollte deshalb beispielsweise Vorrang vor dem Schutz des Wettbewerbs oder der Ausnutzung von Effizienzvorteilen (wie beispielsweise anbieterseitige Größenvorteile oder direkte und indirekte Netzwerkeffekte) haben, falls hier ausnahmsweise ein Kon­ flikt auftritt? Einer Gesellschaft muss es grundsätzlich immer auch erlaubt sein, nichtwohlfahrtsoptimale Entscheidungen zu treffen – wie die Untersagung effizienzstei­ gernder Zusammenschlüsse oder die Einschränkung des Wettbewerbs, um dadurch die Medienpluralität zu steigern, wenn dies im überragenden Interesse der Allgemein­ heit liegt. Wichtig dabei ist die Transparenz über die Kosten einer solchen nicht-opti­ malen Entscheidung (Budzinski/Stöhr 2019b, Stöhr/Budzinski 2019). Eine gebildete und informierte Gesellschaft, welche so in einem demokratischen Meinungsbildungsund Wahlprozess fundierte Entscheidungen treffen kann, liegt im Interesse der Allge­

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meinheit. Die Forschungsergebnisse von Thomas (2020) liefern Grund zu der Annah­ me, dass Medien diesen Bildungs- und Informationsauftrag unterstützen und wahr­ nehmen und damit positive Wirkungen auf die Gesellschaft haben. Dementsprechend könnte Medienpluralität durchaus einen Gemeinwohlgrund darstellen. Insgesamt ist jedoch nach dem Stand der ökonomischen Theorie (siehe Ab­ schnitt 1) äußerst fraglich, ob Zusammenschlüsse und damit einhergehend eine gesteigerte Konzentration auf dem relevanten Medienmarkt sich überhaupt positiv auf die Medienpluralität auswirken. So ist die derzeit auf den US-amerikanischen Medienmärkten zu beobachtende Fusionswelle zum einen ökonomisch problema­ tisch, da vertikal integrierte Medienkonzerne entstehen, welche über Verschlussund Verdrängungsstrategien nicht–integrierten Wettbewerbern (sowohl auf vor- und auf nachgelagerten Markstufen) wichtige Inputs oder Marktzugangsvoraussetzungen vorenthalten und diese damit aus den Märkten drängen können (Stöhr et al. 2020). Darunter leiden derzeit insbesondere innovative und neue Wettbewerber. Gleichzeitig ist nicht zu erkennen, dass hier in irgendeiner Weise die Wettbewerbsbeschränkun­ gen mit positiven Effekten auf die Medienvielfalt oder auf eine weniger verzerrte Be­ richterstattung einhergehen. Allerdings verdienen die spezifischen Eigenheiten von Online-Nachrichtenmärkten besondere Aufmerksamkeit, welche – in der bisherigen ökonomischen Theorie des Media Bias ebenso wenig berücksichtigt wie in der aktuel­ len Wettbewerbs- und Regulierungspolitik oder den empirischen Studien von Thomas (2020) – das Potenzial haben, für erhebliche Veränderungen in den Beziehungen von Marktwettbewerb und verzerrter Berichterstattung zu sorgen. Besonderheiten des Online-Zeitalters: Echokammern und Filter-blasen Mit der fortwährenden Entwicklung des Internets und digitaler Märkte werden in jüngster Zeit deren Effekte auf die Nachrichtenberichterstattung und -wahrnehmung sowie auf das Wahlverhalten diskutiert. Dabei stehen sogenannte „Filterblasen“ und „Echokammern“ im Zentrum der Diskussion, durch die eine Entmischung von Mei­ nungen, gesellschaftliche Polarisierung und negative Wohlfahrtseffekte befürchtet werden. Unter Echokammern (englisch Echo Chambers) versteht man einen begrenz­ ten Medienraum, in dem einmal eingeführte Informationen verstärkt und vor Wider­ legung und Diskurs geschützt werden (Jamieson/Cappella 2010, 76); das heißt eine steigende Anzahl von Rezipienten bewegt sich im Internet nur auf Seiten, die ihre bereits vorhandene Meinung bestätigen oder verstärken (Sunstein 2009, 2017). Die Entstehung dieser abgeschlossenen Blasen und Echokammern, in denen sich Gleichgesinnte finden, wird durch die Gegebenheiten digitaler Märkte verstärkt. Auf der Ebene der Nachrichtenselektion werden den Rezipienten durch automati­ sierte Verfahren präferenzgerechte Medienprodukte zusammengestellt. Diese Aus­ wahl basiert auf Algorithmen, die individuelle Informationen über die Konsumenten

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sammeln und eine darauf abgestimmte Inhaltsselektion zur Verfügung stellen.²³ Die Such- und Empfehlungsfunktionen bei Onlinediensten wie YouTube, Netflix, Spotify oder auch Amazon funktionieren alle nach diesem Muster. Während die Bereitstel­ lung präferenzgerechter Suchergebnisse und Empfehlungen bei Konsumgütern und Unterhaltungsinhalten von Medien einigermaßen unproblematisch sein mag, entste­ hen – ohne politische Intention der Dienste – bei Nachrichteninhalten problematische selbstverstärkende Effekte. Da die Algorithmen versuchen, auf Basis der verfügbaren personalisierten Daten den Nutzern möglichst präferenzgerechte Inhalte bereitzustel­ len und gleichzeitig viele Nutzer Inhalte präferieren, welche das individuelle Weltbild bestätigen, werden tendenziell diese selektiert und dem Nutzer prominent präsentiert (beispielsweise als erste Suchtreffer oder auf den ersten Nachrichtenplätzen), wäh­ rend jene aussortiert werden (und als nachgeordnete Suchtreffer oder auf hinteren Nachrichtenplätzen „versteckt“ werden), die dem Weltbild des individuellen Nutzers widersprechen. Dadurch wird die kognitive Dissonanz bei Rezipienten gesenkt, was den Konsum im Interesse der profitorientierten Dienste fördert, und gleichzeitig je­ doch ein selbstverstärkender Trend der Meinungsbestätigung (Echokammereffekt) in Gang gesetzt. Besonders in Sozialen Netzwerken (beispielsweise Facebook) ist dieser Trend zu beobachten, da diese über von Nutzern massenhaft bereitgestellte personalisierte Daten verfügen, auf deren Basis eine präferenzgerechte Zusammenstellung von Me­ dieninhalten möglich ist. Soziale Medien haben sich zu einer verbreiteten Nachrich­ tenquelle entwickelt. In den USA nutzen rund die Hälfte aller Erwachsenen Soziale Netzwerke zu Informationszwecken und einem Drittel der Facebook-Nutzer dient das Netzwerk zum Nachrichtenkonsum (Pew Research Center 2018). Laut einer Studie von Reuters gehören Soziale Medien auch in Deutschland zu den wichtigsten Nachrich­ tenquellen für die Altersgruppe der 18 bis 25-jährigen (Hölig und Hasebrink 2016). Im Gegensatz zu traditionellen Medien, bieten Social Media Plattformen vermehrt die Möglichkeit der Selbstselektion und Zuteilung zu spezifischen Interessengruppen. Diese Zuordnung vereinfacht die Entstehung von Echokammern und deren selbst­ verstärkenden Effekten, wie eine Reihe von empirischen Studien zeigen (inter alia, Bond et al. 2012; Bessi et al. 2015; Del Vicario et al. 2016a, 2016b; Schmidt et al. 2017). Allerdings existieren auch Studien, welche zu skeptischen Ergebnissen hinsichtlich der Meinungsentmischung und einer Verstärkung der gesellschaftlichen Polarisation kommen (Gentzkow/Shapiro 2011; Boxell et al. 2017; Schnellenbach 2017). Daten- und algorithmenbasierte Nachrichtenselektion kann dazu führen, dass Konsumenten nur noch Informationen ihrer individuellen Zusammenstellung wahr­ nehmen und ihre Meinung iterativ bestätigt und verfestigt wird. Der gesellschaftliche Diskurs wird folglich reduziert und demokratische Grundprinzipien der Meinungs­

23 Zu personalisierten Empfehlungssystemen siehe auch: Belleflamme/Peitz (2018), Budzinski/Lind­ städt-Dreusicke (2020), Gaenssle/Budzinski (2020).

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bildung gefährdet. Ohne Informationsfluss, Auseinandersetzung und Konfrontation mit anderen Meinungen sowie Ideenaustausch ist eine gemeinschaftliche und demo­ kratische Meinungsbildung kaum möglich. In Echokammern findet dieser Austausch nicht statt, was die Kritik- und Lernfähigkeit der Bürger negativ beeinflusst und de­ mokratische Grundsätze gefährdet. Dieser neuen Rolle digitaler Medien kommt eine erhebliche Bedeutung hinsichtlich der Meinungsbildung in modernen Industriena­ tionen zu. Bereits bekannte Phänomene, wie Stammtischrunden oder die Auswahl eines politisch links (oder rechts) ausgerichteten Berichterstatters, werden durch die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters weiter verschärft. Auch für die ökonomische Theorie verzerrter Berichterstattung (Media Bias) er­ geben sich erhebliche Konsequenzen. Für Nutzer, welche ihren Nachrichtenkonsum überwiegend oder gar ausschließlich durch daten- und algorithmenbasierte Dienste (wie Facebook) bestreiten, spielt die Marktstruktur und die Wettbewerbsintensität auf der Ebene der Nachrichtenproduzenten eine erheblich verminderte Rolle. Auf der Ebene der Nachrichtenselektion jedoch wählt die Plattform beziehungsweise der zwischengeschaltete Dienst primär weltbildkonforme Informationen aus, wo­ mit die Vielfalt der Nachrichtenmedien in vorgelagerten Stufen nicht mehr zu den Nutzern durchdringt. Dadurch sinkt insbesondere auch die Wahrscheinlichkeit, dass Nutzer verzerrte Nachrichten identifizieren und darüber die Glaubwürdigkeit der verzerrenden Medien geschwächt wird (siehe Abschnitt 1). Damit wird ausgerech­ net jenes Element des Reputationsmechanismus geschwächt, welches Anreizen zu verzerrter Berichterstattung entgegenwirkt, mit der Folge, dass Weltbildkonformität (Präferenzgerechtigkeit) zum dominierenden Kriterium für Glaubwürdigkeit wird. Dies kann den jüngst wachsenden Einfluss stark verzerrter Nachrichten (inklusive sogenannter fake news) und von Plattformen à la Breitbart auf das Wahlverhalten zumindest zum Teil erklären.²⁴ Insgesamt schwächt dies damit für diese Gruppe an Nutzern die verzerrungsmindernden Anreize, welche der Wettbewerb der Nachrich­ tenproduzenten traditionell ausübt. Die Problematik verschärft sich dadurch, dass nicht offensichtlich ist, dass der Wettbewerb der (daten- und algorithmenbasierten) Nachrichtenselektoren diese Funktion übernehmen kann, da diese Nutzergruppe möglicherweise kaum multi-homing betreibt und/oder die Algorithmen unterschied­ licher Dienste in ähnlicher Weise selektieren. Während empirische Studien hierzu bereits existieren (siehe oben), besteht hier eine Forschungslücke hinsichtlich der ökonomischen Theorie des Media Bias. Ordnungsökonomische Implikationen Die in Thomas (2020) zitierten Studien liefern eine empirische Evidenz dafür „(. . . ), dass zumindest in Deutschland die Medien ihrer Rolle als vierte Gewalt nachkom­ men.“ Dies spricht zunächst einmal für die Wettbewerbsordnung der Medienmärk­ 24 Vgl. beispielsweise zum Brexit-Votum Del Vicario et al. (2016c).

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te in Deutschland, welche offenbar zumindest überwiegend die richtigen Anreize zu einer vielfältigen und auf der Systemebene vergleichsweise wenig verzerrten Bericht­ erstattung liefern. Offen bleibt dabei, ob dies auf den erheblichen Umfang des öffent­ lich-rechtlichen Rundfunks zurückzuführen ist oder ob gerade die Wettbewerbskräf­ te eines hybriden Systems mit einem konkurrierenden privaten Rundfunk sowie pri­ vatwirtschaftlichen Tages- und Wochenzeitungen die positiven Effekte herbeiführen. Eine Identifizierung und Differenzierung der Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge, welche zu den von Thomas (2020) berichteten empirischen Ergebnisse führen, wä­ re jedoch für ordnungsökonomische Implikationen von erheblicher Bedeutung. In je­ dem Fall wird angesichts internationaler (vertikaler wie horizontaler) Integrationsund Konzentrationstendenzen gerade die Wettbewerbspolitik in Zukunft eher stärker gefordert sein. Dabei ist aus der Sicht der ökonomischen Theorie ein funktionierender Wettbewerb auf Medienmärkten ein deutlich verlässlicherer Garant der gesellschaft­ lich relevanten Rolle der Medien als Marktmacht einzelner Medienunternehmen. Die größte Herausforderung scheint aber in den Implikationen des Onlinezeit­ alters zu liegen. Hier ändern sich derzeit die Wege des Nachrichtenkonsums. Statt um 20 Uhr die Tagesschau zu sehen, entnehmen insbesondere jüngere Rezipienten ihr Nachrichtenwissen zunehmend aus daten- und algorithmenbasierten Selektions­ diensten wie Facebook oder Google. Zwar sollten die gegenwärtigen Effekte dieses Wandels auch nicht überbetont werden, seine Bedeutung wird aber tendenziell zu­ nehmen. Es stellt sich damit die Frage, inwieweit die noch im traditionellen Medi­ ensystem verankerten Studien im Beitrag von Thomas (2020) auch für solche Nutzer Gültigkeit behalten, welche Nachrichten überwiegend oder ausschließlich online kon­ sumieren und dabei in die Gefahr von Echokammer- und Filterblaseneffekte geraten. Die Frage einer geeigneten Wettbewerbsordnung für algorithmenbasierte Nachrich­ tenselektionsdienste – inklusive einer entsprechenden Re-Interpretation der gesetzli­ chen Gebote der Sicherung der Meinungsvielfalt – stellt derzeit noch eine offene For­ schungsfrage dar.

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Thomas Döring

Wachstum und ökologischer Fußabdruck – Zielkonflikt, mögliche Lösungskonzepte und ordnungspolitische Schlussfolgerungen 1

Einführung und Problemstellung | 219

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Zentrale Elemente des Zielkonflikts zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz | 222 2.1 Die inhaltliche Dimension: Nutzungskonkurrenz und Wachstumszwang | 222 2.2 Die institutionelle Dimension: Unzureichende Internalisierung externer Effekte | 224 2.3 Die zeitliche Dimension: Vom Zielkonflikt zur Zielharmonie? – Die Umwelt-Kuznets-Hypothese | 225

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Mögliche Konzepte zur Lösung des Zielkonflikts zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz | 228 3.1 Wachstum und Umweltschutz als unlösbarer Konflikt – Überlegungen zur Realisierung einer Post-Wachstumsökonomie | 228 3.2 Die Integration von Wachstum und Umweltschutz – Überlegungen zur Verwirklichung einer Gemeinwohlökonomie | 232 3.3 Die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch – der Ansatz des „Grünen Wachstums“ | 236

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Ordnungsökonomische Schlussfolgerungen zur Überwindung des Zielkonflikts von Wachstum und Umweltschutz | 241

1 Einführung und Problemstellung Das weltweit vorherrschende Entwicklungsmodell in Form eines kontinuierlichen Wirtschaftswachstums steht wegen seiner ökologisch negativen Auswirkungen in der Kritik. Diese Kritik am Wachstumsparadigma ist jedoch keineswegs neu, vielmehr gibt es sie fast schon so lange wie das Wirtschaftswachstum selbst.¹ Mit Blick auf die zurückliegenden 50 Jahre führte vor allem der erste Bericht an den Club of Rome (vgl. Meadows et al. 1972) zu einer breiteren gesellschaftlichen Diskussion um die „Grenzen des Wachstums“ auf einem Planeten mit endlichen natürlichen Ressour­ cen. Die wachstumskritischen Beiträge der jüngeren Vergangenheit knüpfen daran an, erweitern die frühe Diskussion unter Schlagworten wie „Post-Wachstum“, „Green Growth“ oder „De-Growth“ jedoch zugleich um neue Perspektiven der Kritik, aber auch denkbare Lösungen des Konflikts zwischen Wachstum und Umweltschutz (vgl. Bergh und Kallis 2012; Bardi 2013; Klingholz 2014; Jackson 2017). Zwar sind Zielkon­

1 Siehe Hussen (2018) mit Verweis auf die Überlegungen von Thomas Malthus (1766–1834) zu den natürlichen Grenzen von Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum. https://doi.org/10.1515/9783110696745-008

220 | Thomas Döring

flikte und damit einhergehende Opportunitätskosten als solches aus ökonomischer Sicht keine Besonderheit. Die Brisanz des Konflikts zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch kann jedoch in der mittlerweile erreichten Eingriffsintensität ökonomischen Handelns in die natürlichen Regelkreisläufe gesehen werden, die den Fortbestand der menschlichen Zivilisation selbst gefährden könnte. Der Atmosphärenforscher und Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen hat in die­ sem Zusammenhang den Begriff des „Anthropozäns“ – der Epoche des Menschen – geprägt, um sowohl auf die Dringlichkeit als auch die Offenheit der Lösung des Kon­ flikts zwischen Ökologie und Wirtschaftswachstum zu verweisen. Damit soll der Sach­ verhalt beschrieben werden, dass „erdgeschichtlich erstmals der Mensch zu einem zentralen Einflussfaktor auf relevante geoökologische Prozesse geworden ist“ (Schnei­ dewind 2018, 132). Danach hängt nicht nur die Existenz der Menschheit immer stär­ ker von der Umwelt ab, sondern auch die Umwelt immer massiver vom menschlichen Verhalten, wobei sie erhalten, verändert oder auch dauerhaft zerstört werden kann.² Von den drei genannten Optionen spricht aktuell viel für die Realisierung der dritten Variante, d. h. einer zunehmenden irreversiblen Schädigung vorhandener Umweltgü­ ter. So wurden von einer Gruppe von (Natur-)Wissenschaftlern neun grundlegende ökologische Prozesse untersucht und darauf bezogen planetare Belastungsgrenzen („Planetary Boundaries“) festgelegt, bei deren Überschreitung eine Gefährdung der ökologischen Funktionsweise des Planeten droht (vgl. Rockström et al. 2009; Foley et al. 2010).³ Danach sei bereits heute bei drei dieser Prozesse (Biodiversität, Stickstoff­ kreislauf, Klima) eine solche Überschreitung gegeben. Als verursachender Faktor für die Entwicklung wird die heutige Wirtschaftsweise angesehen, welche die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört und dadurch den Wohlstand zukünftiger Generation un­ tergräbt. Die großflächige Abholzung von Wäldern, die Überfischung der Meere oder der Verlust fruchtbarer Böden gelten als prägnante Beispiele für diese Entwicklung. Allein die globalen Folgen des Klimawandels sowie des Verlusts an biologischer Viel­ falt werden vom Umweltbundesamt für das Jahr 2050 auf rund 25 Prozent des welt­ weiten BIPs geschätzt (vgl. UBA 2018). Die voranschreitende Umweltzerstörung zeigt sich auch bei der Messung des so­ gennanten Ökologischen Fußabdrucks. Es handelt sich dabei um ein vom Global Foot­ print Network (GFN) berechnetes Kennzahlensystem, mit dessen Hilfe quantifiziert

2 Diese Aussage wird auch von Prigmaier (2018, 265) geteilt, die darüber hinaus feststellt: „Modern civilisation is at a crossroads. Dominant forces in society are well underway to destroy the living condi­ tions for human and non-human beings. [. . . ] The world is already transitioning towards a new order, but the outcome is still unclear. A descent to barbarism [. . . ] is just possible as the attainment of a rational society.” 3 Siehe zu den planetaren Grenzen auch Schneidewind (2018, 125 ff.), der zugleich darauf verweist, dass aus heutiger Sicht und damit anders als noch in Meadows et al. (1972) die „Grenzen des Wachs­ tums“ nicht vorrangig in Form von Rohstoffgrenzen sondern vor allem im Sinne dieser planetaren Belastungsgrenzen zu verstehen sind.

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werden soll, wie viele Ressourcen der Menschheit zur Verfügung stehen, und wie vie­ le sie verbraucht (siehe auch Wackernagel und Beyers 2016). Der Ökologische Fußab­ druck kann folglich als eine Art Buchhaltungssystem für natürliche Ressourcen ver­ standen werden, das Auskunft darüber gibt, in welchem Umfang einzelne Länder, aber auch die Menschheit insgesamt, natürliche Ressourcen verbrauchen relativ zum gegebenen Bestand. Ein Ergebnis dieser Berechnung ist der „Ecological Debt Day“ be­ ziehungsweise „Earth Overshoot Day“. Dieser gibt für jedes Jahr den Kalendertag an, ab welchem das Ausmaß der durch die Menschheit genutzten Ressourcen die Kapa­ zität der Erde im Sinne ihrer natürlichen Selbstregenerationsfähigkeit übersteigt. Im Jahre 2019 war dieser Tag bereits am 29. Juli erreicht und damit sehr viel früher als noch vor 40 Jahren, als dieses Datum erstmals berechnet wurde und auf den 19. Dezember fiel. Über die Zeit zeigt sich ein zunehmender Verzehr an natürlichen Ressourcen, der vor allem in den Industrie- und Schwellenländern besonders ausgeprägt ist (vgl. Glo­ bal Footprint Network 2020). Nicht allein die Messwerte des Ökologischen Fußabdrucks stimmen unter der An­ nahme unveränderter wirtschaftlicher Verhaltensmuster wenig optimistisch mit Blick auf den zukünftigen Bestand an Umweltgütern. Vielmehr befeuern auch andere Studi­ en eine eher pessimistische Zukunftserwartung unter Fortschreibung der Status-quoBedingungen. So werden etwa im jüngsten Bericht an den Club of Rome, der eine globale Entwicklungsprognose für den Zeitraum bis 2052 enthält, weiterhin steigende (negative) Beeinträchtigungen von Klima und Natur aufgrund wirtschaftlichen Han­ delns prognostiziert, ohne dass diese vollständig oder auch nur zu größeren Teilen in die Wirtschaftsrechnung von Unternehmen einfließen. Zudem wird – trotz einer immer effizienteren Nutzung von Energie – ein wachsender Energieverbrauch erwar­ tet (vgl. Randers 2012). Aufgrund von wachsenden Umweltschäden und zunehmend knapper werdenden natürlichen Ressourcen sowie einer daraus resultierenden Ver­ ringerung des Produktivitätszuwachses wird allerdings auch von einem deutlich lang­ sameren Anstieg der globalen Wirtschaftsleistung ausgegangen.⁴ Vor dem Hintergrund der zurückliegenden Ausführungen geht der vorliegende Beitrag zunächst der Frage nach, wie sich der Zielkonflikt zwischen Wirtschafts­ wachstum und Umwelt(-schutz) aus ökonomischer Sicht sowohl inhaltlich, insti­ tutionell als auch zeitlich näher bestimmen lässt (Kapitel 2). Daran anschließend werden verschiedene Ansätze vorgestellt, die unterschiedliche Reformmaßnahmen zur „Entschärfung“ der Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltver­ brauch zum Gegenstand haben (Kapitel 3). Diese lassen sich grob danach differenzie­ ren, ob (1) der Zielkonflikt als unlösbar eingestuft wird (De-Growth- beziehungsweise Post-Wachstums-Ansätze), (2) ein schonender Umgang mit natürlichen Ressourcen 4 Wirtschaftshistoriker wie Pomeranz (2001) sprechen angesichts der Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen und der damit einhergehenden Umweltschäden auch vom Phänomen der „Expansion von Rohstoffgrenzen“, in dem sich die Wachstumsdynamik vor allem der marktwirtschaftlich verfassten Systeme geografisch ausdrücken soll.

222 | Thomas Döring

durch eine ethische Neuausrichtung der Marktwirtschaft realisiert werden soll (An­ satz der Gemeinwohlökonomie) oder (3) von der Möglichkeit einer weitgehenden Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch (Ansätze des „Green Growth“) ausgegangen wird. Der Beitrag endet mit der Ableitung ordnungspoliti­ scher Schlussfolgerungen, die als wichtige Bausteine einer Lösung des Zielkonflikts zwischen Wachstum und Umwelt zu verstehen sind (Kapitel 4).

2 Zentrale Elemente des Zielkonflikts zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz Umweltschäden werden in aller Regel als das Ergebnis einer wirtschaftlichen Nutzung natürlicher Ressourcen angesehen. Sie werden durch Produktion und Konsum so­ wie die Aufnahme von Schadstoffen innerhalb der bestehenden Umweltmedien (Luft, Wasser, Boden) verursacht.⁵ Unter der Annahme eines gegebenen Standes der Tech­ nik bezogen auf Produktion und Entsorgung, induziert die wirtschaftliche Nutzung der Umwelt einen Zielkonflikt zwischen einer quantitativen Zunahme der Menge an Gütern und Dienstleistungen und der bestehenden Umweltqualität. Dem liegt die öko­ nomische Vorstellung einer Produktionsmöglichkeitskurve zugrunde, aus der sich ab­ leiten lässt, wieviel maximal an Gütern und Dienstleistungen zu einem bestimmten Zeitpunkt hergestellt werden kann und wieviel Schadstoffe dabei in Kauf zu nehmen sind. Mit steigender Produktion werden dabei mehr Schadstoffe erzeugt (Siebert 1985, 386). Diese Kopplung und der daraus sich ergebende Zielkonflikt hinsichtlich der Nut­ zung von Umweltgütern und natürlichen Ressourcen unter der Bedingung wirtschaft­ lichen Wachstums hat eine inhaltliche, institutionelle und zeitliche Dimension.

2.1 Die inhaltliche Dimension: Nutzungskonkurrenz und Wachstumszwang Aus ökonomischer Sicht sind der beschriebene Kopplungseffekt und der damit ein­ hergehende Zielkonflikt zunächst nichts ungewöhnliches, da Wirtschaftswachstum ebenso wie Umweltschutz jeweils mit Opportunitätskosten einhergehen: Ein Wachs­ tum der Menge an Gütern und Dienstleistungen führt bei gegebenem technischem Wissen dazu, dass andere Aktivitäten wie etwa ein schonenderer Umgang mit der Um­ welt nicht weiter verfolgt werden können. Soll demgegenüber die Umweltqualität ge­ steigert werden, so geht dies unter gegebenen Bedingungen nur durch einen Verzicht auf andere Güter beziehungsweise deren quantitativen Vermehrung. Solange Umwelt­

5 Siehe ausführlich Döring/Töller (2018: 402 ff.) mit weiteren Literaturverweisen.

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güter überreichlich vorhanden und damit ihr Umfang und ihre Assimilationskapazi­ täten sehr groß waren, stellte deren wirtschaftliche Nutzung kein Problem dar. Zu Pro­ blemen kommt es erst dann, wenn Umweltgüter knapp werden und es zu einer Nut­ zungskonkurrenz im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten in Form von Produktions-, Konsum- und Deponiefunktion kommt (vgl. Siebert 1985: 387). Erst angesichts einer zunehmenden Nutzungskonkurrenz macht die Interpretati­ on von Wachstum und Umwelt als einem konfliktbehafteten Verhältnis einen inhaltli­ chen Sinn. Die Konfliktthese besagt, dass (quantitatives) Wirtschaftswachstum durch den hiermit verbundenen steigenden Energie- und Rohstoffverbrauch sowie Schad­ stoffemissionen zu einer steigenden Umweltbelastung führt. Im Gegenzug wird be­ fürchtet, dass ein vermehrter Umweltschutz das wirtschaftliche Wachstum insofern negativ beeinträchtigt, wie Maßnahmen zum Erhalt oder zur Steigerung der Umwelt­ qualität zu Lasten anderer möglicher Investitionen gehen können, die das Produk­ tionspotenzial steigern (vgl. Sprenger 1994: 537 ff.). Allokationstheoretisch bedarf es insofern einer Abwägung aller Vor- und Nachteile von Umweltschutzmaßnahmen – nicht zuletzt auch in Bezug auf das Wachstumsziel. Dabei sind jedoch zwei Aspekte besonders zu berücksichtigen: So bilden zum einen gemäß dem Postulat einer nach­ haltigen Entwicklung nicht nur die Bedürfnisse der jeweils gegenwärtigen Generation den Maßstab für einen angemessenen Umgang mit dem Konflikt zwischen Wachstum und Umweltschutz. Darüber hinaus ist auch die Beeinträchtigung der Lebensgrundla­ ge zukünftiger Generationen bei der Bestimmung von Umweltschäden und der daraus resultierenden Opportunitätskosten wirtschaftlichen Wachstums mit zu berücksich­ tigen. Der Nachhaltigkeitsgrundsatz stellt zudem nicht allein auf die unmittelbaren Umweltwirkungen auf den Menschen ab, sondern bezieht auch all jene Schädigungen von Tieren und Pflanzen in die Betrachtung mit ein, die auf den Menschen zurückwir­ ken können (vgl. Rogall 2012a: 41 ff.). Zum anderen ist für die inhaltliche Dimension des Zielkonflikts von Bedeutung, dass wirtschaftliches Wachstum durch eine starke Eigendynamik gekennzeichnet ist, die wahlweise als „fataler Wachstumszwang“ (Söllner 1998: 21) oder „Expansi­ onszwang“ (Leschke 2015: 3) umschrieben werden kann.⁶ Eine Ursache dieses sys­ teminhärenten Wachstumszwangs kann im marktlichen Wettbewerbsprozess gese­ hen werden, in dessen Rahmen einerseits die Konsumenten – oft angefeuert durch anbieterseitige Werbemaßnahmen – nach quantitativ wie qualitativ immer besseren Möglichkeiten der individuellen Bedürfnisbefriedigung suchen und andererseits die Unternehmen zwecks Erlangung von Konkurrenzvorsprüngen in die Erfindung und Herstellung neuer Produkte sowie die Einführung produktiverer beziehungsweise kostensparender Produktionsverfahren investieren. Diese inhärente Steigerungslogik

6 In ähnlicher Weise stellt auch Dörre (2013: 149) fest: „Kapitalistischen Ökonomien ist ein struktu­ reller Wachstumszwang inhärent“. Siehe zudem WBGU (2011: 188).

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wird durch das für Marktwirtschaften typische Kreditschöpfungs- und Zinssystem zusätzlich verstärkt, wobei im Fall von kreditfinanzierten Investitionen die damit ver­ bundenen Ertragserwartungen nur über den Zwang zu wirtschaftlichem Wachstum eingelöst werden können. Die Investoren müssen danach Gewinne erwirtschaften, um die zuvor aufgenommenen Kredite einschließlich der damit verbundenen Zinsen bedienen zu können. Die dergestalt sich vollziehende Steigerungslogik wirtschaftli­ chen Wachstums bewirkt „in der Gegenwart fast zwangsläufig eine Zuspitzung und Verschärfung ökologischer Krisen“ (Dörre 2013: 150).

2.2 Die institutionelle Dimension: Unzureichende Internalisierung externer Effekte Neben der inhaltlichen Seite des Zielkonflikts zwischen Wachstum und Umwelt exis­ tiert auch eine institutionelle Dimension (vgl. Siebert 1985: 390). Den Ausgangspunkt hierfür bildet der Sachverhalt, dass sich die wachstumsbedingte Übernutzung von Umweltgütern als „Externalitäten-Problem“ kennzeichnen lässt.⁷ Während bei der Nutzung von Umweltgütern grundsätzlich zwischen positiven und negativen Exter­ nalitäten unterschieden werden kann, werden hier vor allem letztere betrachtet. Sie entstehen bekanntermaßen durch ein Auseinanderfallen von privaten und sozialen Grenzkosten bei der Produktion oder dem Konsum von Gütern und Dienstleistungen. Da wirtschaftliches Wachstum mit einer hohen Energieintensität sowie einem exten­ siven Verbrauch an natürlichen Ressourcen verbunden ist, gelten negative externe (Umwelt-)Effekte als eine typische Begleiterscheinung einer Wachstumsgesellschaft. Dieser Wirkungszusammenhang entspricht grundsätzlich der Marktlogik, der zu­ folge sich die Allokation knapper Ressourcen an der relativen Preisstruktur orientiert und damit dem Pfad des kostenminimalen Ressourcenverbrauchs folgt. Die Kosten von Produktion wie Konsum sind wiederum dort am niedrigsten, wo die gesamten Opportunitätskosten (d. h. einschließlich negativer externer Effekte) nicht eingepreist sind. Die Verursacher werden hierbei nicht mit den sozialen Kosten konfrontiert, da diese nicht automatisch über den Preismechanismus abgerechnet werden können. In der ökonomischen Literatur wird diesbezüglich oft von einem „Marktversagen“ gesprochen, auch wenn die Nichtberücksichtigung solcher negativen Externalitäten nicht unmittelbar durch den Markt, sondern aufgrund fehlender Eigentums- und Verfügungsrecht verursacht wird (vgl. Fritsch 2011: 81). Fehlen jedoch institutionelle Regelungen in Form einklagbarer Eigentums- und Verfügungsrechte, besteht keine marktliche Möglichkeit, um das Auftreten negativer externer Effekte zu unterbinden. Die mangelnde Berücksichtigung von Umweltschäden und deren Kosten in der Wirtschaftsrechnung etwaiger Verursacher lässt sich aus ökonomischer Sicht auch

7 Siehe zu den nachfolgenden Ausführungen auch Leschke (2011) sowie Leschke (2015).

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darauf zurückführen, dass Umweltgüter die typischen Eigenschaften von öffentlichen Gütern aufweisen. Diese sind bekanntermaßen dadurch gekennzeichnet, dass ein so­ genanntes Ausschlussprinzip nicht angewendet werden kann, d. h. ein privater Anbie­ ter wäre nicht in der Lage, für entsprechende Güter kostendeckende Preise zu erzielen, da – wenn erst einmal bereitgestellt – niemand von der Nutzung dieser Güter mittels Vergabe exklusiver Eigentumsrechte ausgeschlossen werden kann. Die lebenserhal­ tende Funktion der Ozonschicht oder der natürliche Treibhauseffekt sind Beispiele für Umweltgüter, welche die Eigenschaften öffentlicher Güter aufweisen. Hier können die weiter oben beschriebenen Nutzungskonflikte im Ergebnis zu einer Übernutzung von natürlichen Ressourcen führen, da aufgrund fehlender Eigentumsrechte kein (in­ stitutioneller) Anreiz für einen schonenden Umgang mit dem betroffenen Umweltgut besteht.⁸ Im Ergebnis ist vielmehr ein strategisch motiviertes Trittbrettfahrer-Verhal­ ten zu erwarten, welches zu keiner präferenzgerechten Bereitstellung knapper Um­ weltgüter führt (vgl. Nordhaus 1993: 18).⁹ Daraus folgt, dass ohne eine entsprechen­ de staatliche Gestaltung des institutionellen Ordnungsrahmens unter der Zielsetzung einer möglichst weitgehenden Internalisierung umweltbezogener Externalitäten eine Lösung des Zielkonflikts zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch nicht zu erwarten ist.

2.3 Die zeitliche Dimension: Vom Zielkonflikt zur Zielharmonie? – Die Umwelt-Kuznets-Hypothese Bislang ist offen geblieben, wie sich das Verhältnis von Wachstum und Umweltschutz im Zeitverlauf entwickelt. Letzteres zielt auf die Frage, ob im Rahmen von Wachstums­ prozessen von einer zunehmenden Verschärfung des Konflikts ausgegangen werden muss oder ob das Verhältnis von Wachstum und Umwelt vielmehr durch unterschied­ liche Entwicklungsphasen gekennzeichnet ist. Folgt man der sogenannten UmweltKuznets-Hypothese, ist davon auszugehen, dass der Zusammenhang zwischen auftre­ tenden Umweltbelastungen einerseits und wirtschaftlicher Entwicklung andererseits nicht linear verläuft. Vielmehr sei zu erwarten, dass der Verbrauch an natürlichen Ressourcen mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen zunächst kontinuierlich zunimmt, um im weiteren Verlauf der Einkommensentwicklung dann jedoch wieder zurückzu­ gehen. Der beschriebene Zusammenhang ist auch als „Umwelt-Kuznets-Kurve“ be­ kannt, wonach von einer umgekehrt U-förmigen Beziehung zwischen dem wirtschaft­ lichen Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft und den Umweltemissionen auszu­

8 Im Zusammenhang mit entsprechenden Umweltproblemen ist daher auch von der „Tragödie der Allmende“ die Rede (Ostrom 1999). 9 Folgt man Feess/Seeliger (2013: 13 ff.) oder auch Endres (2000: 213 ff.), lässt sich ein solches Verhal­ ten auch als das Ergebnis eines Gefangenendilemmas charakterisieren.

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gehen ist.¹⁰ Begründet wird dieser Entwicklungsverlauf mit den drei folgenden Argu­ menten: (1) Volkswirtschaften unterliegen einem Strukturwandel, der durch eine Verschie­ bung der sektoralen Anteile an der Wertschöpfung gekennzeichnet ist. Dabei steht am Anfang eine vergleichsweise schadstoffarme Agrargesellschaft, die frü­ her oder später durch eine emissionsintensiv produzierende Industriegesellschaft abgelöst wird. Im weiteren Wachstumsprozess verschieben sich die Wertschöp­ fungsanteile erneut und zwar hin zum Dienstleistungssektor, der im Vergleich zum Industriesektor durch einen geringen Verbrauch an natürlichen Ressourcen und – zumindest relativ – abnehmende Umweltschäden bei weiterhin steigendem Pro-Kopf-Einkommen gekennzeichnet ist. (2) In Volkswirtschaften mit einem vergleichsweise hohen Einkommen kommen zu­ nehmend Technologien zur Anwendung, die für mehr Ressourceneffizienz sowie den Einsatz moderner Energiegewinnungsverfahren sorgen. Die Unternehmen richten also ihr Neuerungsverhalten immer stärker auf umweltschonende Pro­ dukte und Produktionsweisen aus. (3) Letzteres geschieht vor allem auch deshalb, weil die Präferenzen der immer rei­ cher werdenden Bevölkerung sich in Richtung einer höheren Wertschätzung des Gutes Umweltschutz verschieben, d. h. es wird sich bezogen auf Konsummuster und (Umwelt-)Gesetzgebung zunehmend ökologisch bewusster verhalten. Würde die so begründete Umwelt-Kuznets-Hypothese zutreffen, hätte wirtschaftliches Wachstum mit Blick auf einen schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen lang­ fristig positive Konsequenzen. In der umweltökonomischen Literatur ist die Existenz der „Umwelt-Kuznets-Kurve“ jedoch in theoretischer wie empirischer Hinsicht um­ stritten.¹¹ Aus theoretischer Perspektive wird zwar anerkannt, dass sich in Hochein­ kommensländern entsprechende Wertschöpfungsanteile in den Dienstleistungssek­ tor verschieben, wodurch auch die Ressourceneffizienz steigt. Es wird jedoch zugleich darauf verwiesen, dass im Zuge dieses Strukturwandels in aller Regel umwelt- be­ ziehungsweise energieintensiv produzierende Branchen aus dem Inland in Richtung solcher Volkswirtschaften verlagert werden, die durch geringe Umweltstandards und ein niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen gekennzeichnet sind. Bezogen auf das Beispiel

10 Siehe zur ursprünglichen „Kuznets-Kurve“, die auf das Verhältnis von Wachstum und Verteilung abstellt, Kuznetz (1955). Siehe zur Übertragung auf das Verhältnis von Wachstum und Umwelt etwa Panayotou (1993) oder auch Grossman/Krueger (1996). 11 Siehe zu dieser Diskussion etwa Beckerman (1992), Stern et al. (1996), Stern et al. (1998), Munasing­ he (1999), Yandle et al. (2002), Stern (2003), Dinda (2004), Stern (2004), Dinda (2005), Akbostanci et al. (2009), He/Richard (2010) sowie Apergis/Ozturk (2015).

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der klimaschädlichen Treibhausgase wird eine solche Verlagerung von Emissionen auch als „Carbon-Leakage-Effekt“ bezeichnet (vgl. auch Babiker 2005; Eichner/Pethig 2011). Mit Blick auf die empirischen Untersuchungsergebnisse zur Umwelt-Kuznets-Kur­ ve sind die vorliegenden Befunde ambivalent. Für den aufsteigenden Ast der Kurve – den Anstieg der Umweltbelastung bei zunehmendem Wirtschaftswachstum – gibt es vor allem in aufstrebenden Schwellenländern vielfältige Evidenz. Beim absteigenden Ast der Kurve ist demgegenüber zwischen lokal und global wirksamen Umweltbelas­ tungen zu unterscheiden. Im Fall von lokal begrenzten Umweltbelastungen (zum Bei­ spiel NOx , SO2 ) belegt die überwiegende Zahl an Studien, dass diese ab einem be­ stimmten Einkommensniveau abnehmen, was als Bestätigung der Umwelt-KuznetsHypothese interpretiert wird. Allerdings schwankt die Höhe der ermittelten Einkom­ mensschwelle je nach Studie, ab der die Belastung eines jeweiligen Schadstoffs rück­ läufig sein soll, zum Teil erheblich (vgl. Achten et al. 2018: 29). Noch uneinheitlicher stellen sich die empirischen Befunde für global wirksame Umweltbelastungen (zum Beispiel CO2 ) dar, für die es entweder keine Evidenz im Sinne der Umwelt-KuznetsKurve gibt oder eine empirische Bestätigung von der Spezifikation des Untersuchungs­ designs abhängt. Berücksichtigt man bei der Gestaltung des Untersuchungsdesigns die genannten Verlagerungseffekte durch die Einbeziehung der Wirkungen des internationalen Han­ dels, verändert sich die umgekehrt U-förmige Beziehung zwischen Wachstum und Umwelt in Richtung einer konkav steigenden Funktion. In einer aktuellen Studie wur­ de diese Verlagerung bezogen auf CO2 -Emissionen durch das Herausrechnen der Han­ delseffekte berücksichtigt (siehe Steinkraus 2017). Der Hochpunkt der auf diese Weise ermittelten Umwelt-Kuznets-Kurve liegt dabei jenseits eines sehr hohen Einkommens­ niveaus von 470.000 US-Dollar pro Kopf – also einem Wert, den keine Volkswirtschaft dieser Welt aktuell erreicht (und wohl auch in Zukunft nur schwerlich erreichen wird). Werden die Emissionen unabhängig vom Standort der Freisetzung allein konsumba­ siert erfasst, d. h. werden Emissionsexporte und -importe berücksichtigt, so zeigt sich, dass „der absteigende Ast der Umwelt-Kuznetz-Kurve ein Trugschluss ist. Wachstum und sektoraler Wandel allein haben in näherer Zukunft wahrscheinlich keinen dämp­ fenden Effekt auf die globalen Treibhausemissionen“ (Achten et al. 2018: 31).¹² In An­ betracht dessen besteht nach wie vor ein Bedarf an Konzepten, die zu einer nachhal­ tigen Lösung des Konflikts zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Umweltschutz beitragen können.

12 Nach Untersuchungen von Davis und Caldeira (2010) sowie Peters et al. (2011) sorgen Güterimporte der Hocheinkommensländer für mehr als 30 Prozent der verbrauchten Emissionen.

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3 Mögliche Konzepte zur Lösung des Zielkonflikts zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz Spätestens seit der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2007–2009 hat die seit den frühen 1970er-Jahren geführte Diskussion um die Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums als Grundlage von Wohlstand und Lebenszufriedenheit erneut an Dyna­ mik gewonnen. Dabei wird vor allem kritisch hinterfragt, wie eine wachsende Wirt­ schaft mit einer am Nachhaltigkeitsziel ausgerichteten Nutzung von Umweltgütern in Einklang gebracht werden kann. Nennenswerte Beiträge zu dieser Diskussion liefern Ansätze einer „Post-Wachstumsökonomie“, aber auch das Konzept einer verstärkt am „Gemeinwohl“ ausgerichteten Wirtschaft ebenso wie Überlegungen zu einem „Grünen Wachstum“, die alle drei nachfolgend näher betrachtet werden sollen.

3.1 Wachstum und Umweltschutz als unlösbarer Konflikt – Überlegungen zur Realisierung einer Post-Wachstumsökonomie Die Überlegungen zur Gestaltung einer Post-Wachstumsgesellschaft sind vielfältig, wobei grob zwischen sozialreformerischen, kapitalismuskritischen sowie suffizienz­ orientierten Ansätzen unterschieden werden kann (vgl. Schmelzer 2017; WBGU 2011). Auch wenn mit jeweils anderen Schwerpunkten versehen, besteht die Gemeinsam­ keit dieser Ansätze darin, dass die Möglichkeit eines umweltverträglichen Wachstums grundsätzlich in Frage gestellt wird.¹³ Vielmehr wird davon ausgegangen, dass unter Beibehaltung des traditionellen Wachstumsparadigmas und der damit verbundenen steigenden Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen selbst dann, wenn vorhan­ dene Potenziale zur Effizienzsteigerung bei Produktion und Logistik vollständig aus­ geschöpft werden, der globale Energie- und Ressourcenverbrauch nicht auf das er­ forderliche Maß zur Realisierung einer nachhaltigen Entwicklung reduziert werden kann. Begründet wird dies damit, dass eine Abkopplung wirtschaftlicher Aktivitäten vom natürlichen Ressourcenverbrauch nicht nur ein Mehr an technischer Effizienz, sondern ebenso verbesserte Recyclingsysteme, vor allem aber ein grundlegend ge­ wandeltes Konsumentenverhalten voraussetzt. Ansonsten bestehe gerade in einer Wachstumsökonomie die stetige Gefahr, dass etwaige Fortschritte bei der Einsparung von Material und Energie sowie bezogen auf die „Ökologisierung“ von Wertschöp­

13 Siehe hierzu Adler/Schachtschneider (2010) oder auch Martinez-Alier et al. (2010). Siehe darüber hinaus die verschiedenen Beiträge in Seidl/Zahrnt (2010), D’Alisa et al. (2014) sowie Schachtschnei­ der/Adler (2017).

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fungsketten durch Zuwächse der Nachfrage wieder aufgezehrt werden. Letzteres gilt jedoch aus Sicht der Vertreter einer Post-Wachstumsökonomie aufgrund von soge­ nannten Rebound-Effekten als vergleichsweise wahrscheinlich.¹⁴ Es kann daher nicht überraschen, dass aus dieser Perspektive eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch gegenwärtig wie zukünftig für nicht möglich erachtet wird. Eine wirksame Sicherung der natürlichen Umwelt erfordere vielmehr eine radikale Abkehr von dem auf wirtschaftliche Expansion ausgerichteten Entwicklungspfad. Ein zusätzliches Argument für eine solche Abkehr wird darin gesehen, dass die Wohlstandssteigerungen der vergangenen Jahrzehnte nicht vorrangig auf Innova­ tionspotenziale und arbeitsteilige Effizienzgewinne zurückzuführen seien, sondern durch eine unbegrenzte und kostenminimale Verfügbarkeit von Energieträgern er­ möglicht wurden. Dieser wachstumstreibende Faktor stoße jedoch zunehmend an seine Grenzen, da aufgrund einer steigenden Weltbevölkerung in Verbindung mit einem Kaufkraftzuwachs der globalen Mittelschicht der Energiebedarf permanent steigt.¹⁵ Wenn die genannten Probleme einer Wachstumsökonomie vermieden werden sollen, dann bedürfe es eines grundlegenden Umsteuerns. Um dies zu gewährleisten, müssen – so die Forderung – jegliche Wachstumsabhängigkeiten beziehungsweise Wachstumszwänge beseitigt werden. Als solche Abhängigkeiten und Zwänge gel­ ten (1) die Innovationsorientierung moderner Marktwirtschaften, (2) das bestehende Geld- und Zinssystem, (3) hohe Gewinnerwartungen, (4) ein auf globaler Arbeitstei­ lung beruhendes System der Fremdversorgung sowie (5) eine Kultur der bedingungs­ losen Steigerung materieller Selbstverwirklichungsansprüche.¹⁶ Nur der Verzicht auf diese Elemente der Wachstumsökonomie schaffe die Voraussetzung zum Aufbau einer ökologisch zukunftsfähigen Ökonomie. Realisiert werden soll eine zukunftsfähige Ökonomie durch die folgenden Maß­ nahmen, die es simultan umzusetzen gelte: – Entrümpelung und Entschleunigung – Als ein wesentlicher Schritt des gesell­ schaftlichen Umbaus gilt die Befreiung von all jenen Bestandteilen des aktuell praktizierten Lebensstils, die zwar in starkem Maße Ressourcen (Zeit, Geld, Raum, natürliche Ressourcen) beanspruchen, aber nur einen minimalen Nutzen stiften. Das Ziel ist dabei, vorhandene Konsumansprüche auf die Möglichkeiten einer nachhaltigen Befriedigung zu begrenzen (Suffizienz-Strategie). – Balance zwischen Selbst- und Fremdversorgung – Als ökologisch und sozial stabil gelten nur solche Versorgungsstrukturen, die eine geringe Distanz zwischen Her­ stellern und Konsumenten aufweisen. Damit verbunden ist die (Re-)Aktivierung von Kompetenzen und manuellen Fertigkeiten, um vermehrt die eigenen Bedürf­ nisse jenseits des Gütertauschs auf Märkten zu befriedigen. 14 Siehe stellvertretend Jackson (2017), Paech (2013) oder auch Simms et al. (2010). 15 Siehe zum genannten Argument Paech (2009), dessen Überlegungen zu einer Postwachstumsge­ sellschaft auch mit Blick auf die nachfolgenden Ausführungen gefolgt wird. 16 Siehe Paech (2013), der sich dabei auf die Arbeiten von Daly (1996) und Daly (2010) stützt.

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Regionales Wirtschaften – Ein ökologieverträglicher und stärker krisenresis­ tenter Rahmen wirtschaftlichen Handelns kann dadurch erreicht werden, dass vorhandene Bedürfnisse vermehrt durch regionale Märkte und damit verkürzte Wertschöpfungsketten bedient werden. Die Einführung einer Regionalwährung könnte in diesem Zusammenhang vorhandene Kaufkraft an die Region binden und diese damit von globalisierten Transaktionen entkoppeln. Stoffliche Nullsummenspiele – Da auch nach „Entrümpelung“ und „Regionalisie­ rung“ ein Teil der bestehenden Konsumansprüche an globalisierte Wertschöp­ fungsverflechtungen gebunden sein wird, soll der zu ihrer Befriedigung benötig­ te Ressourcenverbrauch dadurch verringert werden, dass die Nutzungsdauer von Produkten verlängert beziehungsweise deren Nutzung intensiviert wird. Institutionelle Innovationen – Um die Übernutzung natürlicher Ressourcen zu ver­ meiden, sollten individuelle CO2 -Bilanzen mit handelbaren Zertifikaten in Orien­ tierung an einer globalen Gesamtbelastung eingeführt werden, die dem 2-GradKlimaschutzziel entsprechen. Zudem wäre die genannte Regionalwährung mit einer zinslosen Umlaufsicherung zu versehen, um den in kapitalistischen Markt­ wirtschaften bestehenden Wachstumszwang abzumildern.

Der schrittweise Übergang zu einer Post-Wachstumsökonomie stützt sich „auf zwei Grundpfeiler: eine individuelle Strategie der Suffizienz kombiniert mit einem radi­ kalen Rückgang der Fremdversorgung zugunsten regionaler und lokaler Ökonomien, Selbstversorgung und Eigenproduktion“ (Schmelzer 2017: 9). Zwar wird durch Paech (2013: 134 ff.) auf eine notwendige politische Flankierung des gesamten Transforma­ tionsprozesses durch institutionelle Reformen verwiesen. Der diesbezüglich formu­ lierte Vorschlag der Einführung individueller CO2 -Bilanzen allein trägt jedoch zu kei­ ner grundlegenden Lösung der institutionellen Dimension des Zielkonflikts zwischen Wachstum und Umwelt bei, da unklar bleibt, wie jenseits der Klimaproblematik ei­ ne Internalisierung ökologischer Externalitäten erreicht werden kann. Die Lösung des Zielkonflikts wird vielmehr vorrangig auf der personalen Ebene gesehen: So sollen die „wichtigsten Akteure des Wandels“ sogenannte Prosumenten sein, d. h. „Personen, die nicht nur weniger konsumieren, sondern auch gemeinsam zum Beispiel in Re­ paraturwerkstätten die Lebensdauer vorhandener Produkte verlängern, Formen von Eigenproduktion entwickeln [. . . ] und so Lokalisierung und Entkommerzialisierung vorantreiben“ (Schmelzer 2017: 9). Unklar bleibt bei dieser Vision einer konsumärmeren und durch vermehrte Eigen­ produktion gekennzeichneten Lebensweise, wie die privaten Akteure motiviert wer­ den sollen, die notwendigen Schritte zur Verwirklichung einer Post-Wachstumsöko­ nomie auch umzusetzen. Hier wird vorrangig auf subjektive Aufklärung und individu­ elle Einsicht in den Sachverhalt gesetzt, dass eine Wachstumsökonomie zwangsläufig zu unerwünschtem Ressourcenverbrauch und schädlichen Emissionen führen muss. Zur Steigerung von Nachhaltigkeit und Lebenszufriedenheit sollen die privaten Akteu­ re „einem Lebensstil entsagen, der auf Geld- und Konsumgier ausgelegt ist“ (Leschke

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2015: 18).¹⁷ Auch wenn mit dieser Forderung auf eine Überwindung des Wachstums­ zwangs abgestellt wird, bleibt offen, wie die Nutzungskonkurrenz um natürliche Res­ sourcen, die ebenfalls Bestandteil der inhaltlichen Dimension des Zielkonflikts von Wachstum und Umwelt ist, im Spannungsfeld von Wirtschafts- und Nachhaltigkeits­ interessen allein durch Aufklärung und Einsicht entschärft werden kann. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Für eine solche Strategie der Aufklärung und Selbstbindung kommt noch am ehesten jene Bevölkerungsgruppe in Frage, die einen hohen Bildungsstand (zumeist gepaart mit einem hohen Einkommen) auf­ weist. Dies gilt insofern, wie etwa mit Blick auf Deutschland – so eine Studie von Kleinhückelkotten et al. (2016) – sich in dieser Bevölkerungsgruppe vermehrt Per­ sonen finden, die zugleich eine positive Umwelteinstellung aufweisen und stärker dazu neigen, ihre Lebensweise als ressourcenschonend einzustufen, sowie beabsich­ tigen, ihren Verbrauch an natürlichen Ressourcen auch in Zukunft gering zu halten. Bemerkenswert ist jedoch, dass mit steigendem (formalen) Bildungsstand und hö­ herem Einkommensniveau auch der personenbezogene Gesamtressourcenverbrauch ansteigt, d. h. die Verbrauchswerte sind gerade in jenen „sozialen Milieusegmenten mit verbreitet positiven Umwelteinstellungen überdurchschnittlich hoch“ (Kleinhü­ ckelkotten et al. 2016: 4). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen Reaňos und Pothen (2018), die für Deutschland den Zusammenhang zwischen verfügbarem Einkommen und Materialfußabdruck untersucht haben.¹⁸ In der umweltbezogenen Einstellungsforschung wird in Anbetracht der genann­ ten Ergebnisse auch von einer „Wissens-Verhaltens-“ beziehungsweise einer „Ein­ stellungs-Verhaltens-Kluft“ gesprochen. Konkurrierende Werthaltungen (Komfort, Prestige) ebenso wie „korrumpierende“ Lebensverhältnisse (Wohlstand, Annehm­ lichkeiten) sorgen danach für Verhaltensroutinen und eine das Handeln beeinflus­ sende Sinnstruktur, die alltagsnäher als das vorhandene Umweltbewusstsein sind.¹⁹ Vor diesem Hintergrund muss bezweifelt werden, ob eine vorrangig auf Aufklärung setzende Strategie zur Lösung des Konflikts zwischen Wachstum und Umwelt als tragfähig bewertet werden kann. Dies gilt umso mehr, wie auch hierbei auf die insti­ tutionelle Dimension des Zielkonflikts nur am Rande eingegangen wird. So dürften die von Paech (2013: 151) propagierten regionalen Märkte, ein Mehr an Eigenpro­ duktion oder die Einführung eines zinslosen Regionalgeldes nur einen begrenzten

17 Entsprechende Überlegungen von Vertretern einer Post-Wachstumsökonomie weisen insofern Be­ züge zur Scholastik auf, wenn – folgt man Kurz (2013: 17) und übertragen auf den Zielkonflikt zwischen Wachstum und Umwelt – dessen Lösung „nicht in der Steigerung der Produktion und in wirtschaftli­ chem Wachstum, sondern in der Zurückdrängung der Bedürfnisse, in Genügsamkeit“ gesehen wird. 18 Folgt man Reaňos/Pothen (2018: 3), hat das „Viertel der Haushalte mit dem höchsten Haushalts­ einkommen [. . . ] mit durchschnittlich 49,29 Tonnen einen Materialfußabdruck, der mehr als dreimal so groß ist wie der des ärmsten Viertels der deutschen Bevölkerung (16,15 Tonnen)“. Für eine ausführ­ liche Darstellung siehe auch Pothen/Reaňos (2018). 19 Siehe grundsätzlich zum Zusammenhang von Lebensstil und Umwelt auch Schuster (2008).

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Beitrag zur Internalisierung unerwünschter Umwelt-Externalitäten liefern. Um für das notwendige Ausmaß an „Kostenwahrheit“ zu sorgen, ist vielmehr eine umfas­ sende Umgestaltung der Handlungsrechte bezogen auf sämtliche Umweltmedien (Boden, Wasser, Luft) und als relevant anzusehende Schadstoffeinträge (Emissionen) erforderlich, um die sich im Zuge von Nutzungskonflikten um natürliche Ressourcen ergebenden Umweltschäden anreizkompatibel einzupreisen. Als problematisch kann schließlich auch das Fortschrittsverständnis bei zumin­ dest einem Teil der Vertreter einer Post-Wachstumsökonomie angesehen werden. Zu kritisieren ist hierbei vor allem die Vorstellung, dass „ein gelenktes emissionsfrei­ es Wirtschaften die wesentlichen Innovationen schon hervorbringen wird“ (Leschke 2015: 18), deren es bedarf, um eine Transformation in Richtung auf eine durch Emissi­ onsreduktion und Nachhaltigkeit gekennzeichnete Ökonomie zu bewerkstelligen. Die bloße Feststellung, dass ein marktvermitteltes Wirtschaftswachstum, das in der Ver­ gangenheit zu erheblichen Umweltschäden geführt hat, in Zukunft nur durch einen weitgehenden Verzicht auf den Koordinationsmechanismus des Marktes überwun­ den werden kann (Schmelzer 2017: 9), übersieht vielmehr die Funktion des marktli­ chen Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren zur Hervorbringung von Neuerungen, die zu einer vermehrten Harmonisierung von Wirtschafts- und Nachhaltigkeitsinter­ essen beitragen können. Demgegenüber lässt ein Mehr an wirtschaftlicher Lenkung keineswegs eine Überwindung der Fehlallokation von Umweltgütern erwarten.

3.2 Die Integration von Wachstum und Umweltschutz – Überlegungen zur Verwirklichung einer Gemeinwohlökonomie Im Unterschied zu den Ansätzen einer Post-Wachstumsökonomie sind die Überlegun­ gen zur Verwirklichung einer „Gemeinwohlökonomie“ dadurch gekennzeichnet, dass Wachstum und Umwelt nicht als ein unlösbarer Konflikt gedeutet werden. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass beide Zielgrößen durch eine ethische Transformation der Marktwirtschaft im Sinne einer gemeinwohlverträglichen Wachstumspolitik inte­ griert werden können. Die Harmonisierung von Wachstum und Umweltschutz unter­ liegt damit keiner „Entwicklungsgesetzmäßigkeit“, wie dies bei der Umwelt-KuznetsHypothese unterstellt wird, sondern es bedarf im Kern eines wirtschaftlichen Werte­ wandels, um beide Zielgrößen miteinander in Einklang zu bringen. Mit Blick auf die vorgeschlagenen Reformmaßnahmen fällt die Grenze zu den Postulaten und Forde­ rungen der Post-Wachstumstheoretiker dabei nicht immer trennscharf aus. So wird auch hier unter anderem auf die Notwendigkeit zu „einer eigenständigen, an lokalen Märkten orientierten Versorgung von Orten und Regionen“ unter gleichzeitiger Ein­ dämmung der bestehenden „Dominanz des Weltmarktes“ verwiesen (Möller und Pe­ ters 1998: 23). Ebenso „sollte jede Region zusätzlich eine eigene Währung oder Ver­ rechnungseinheit und ein regional eigenständiges Banken- und Kreditsystem haben“ (Diefenbacher 1998: 25). Das wohl bekannteste Konzept einer Gemeinwohlökonomie

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dürfte hierbei von Felber (2018) stammen, so dass die nachfolgenden Ausführungen vor allem auf diesen Entwurf konzentriert sind.²⁰ Den Ausgangspunkt der Überlegungen Felbers bildet die Zurückweisung der in den Wirtschaftswissenschaften weitverbreiteten Annahme, dass nach Gewinn stre­ bende Unternehmen unter den Rahmenbedingungen einer marktvermittelten Kon­ kurrenzwirtschaft als nichtintendierte Folge intentionalen Handelns zur größtmög­ lichen Wohlfahrt beitragen. Dem wird das Alternativkonzept eine Gemeinwohlöko­ nomie gegenübergestellt, mit dem sich eine Ausrichtung der Marktwirtschaft an den (ethischen) Werten und Zielen demokratisch verfasster Staaten (gleiche Rechte und Chancen, Vermeidung exzessiver sozialer Ungleichheit, gemeinwohlorientierte Eigen­ tumsnutzung, Bewahrung der natürlichen Ressourcen) verbindet. Zur Verwirklichung dieses Konzepts sind nach Felber (2018: 35 ff.) vor allem die folgenden drei Maßnah­ menbündel umzusetzen: – Setzen marktkonformer Anreize – Als ein zentraler Baustein wird die Veränderung des rechtlichen und finanziellen Anreizrahmens angesehen. Danach sollten nicht länger Gewinnstreben und Konkurrenz, sondern Gemeinwohlstreben und Koope­ ration belohnt werden. Ziel ist es dabei, anstelle von Finanzgewinn oder Kapital­ rendite den wirtschaftlichen Erfolg am Ausmaß von Bedürfnisbefriedigung, Le­ bensqualität und Gemeinwohl zu bemessen. Zu diesem Zweck soll die Finanzbi­ lanz eines Unternehmens durch eine sogenannte Gemeinwohlbilanz, die sich aus einer Vielzahl von Indikatoren zu den Bereichen „Menschenwürde“, „Solidarität und Gerechtigkeit“, „Ökologische Nachhaltigkeit“ sowie „Transparenz und Parti­ zipation“ zusammensetzt, ergänzt werden. Durch die finanzielle Förderung von Unternehmen mit vergleichsweise positiver Gemeinwohlbilanz erfahren – so die Intention – ethisch kompatible, ökologisch verträgliche ebenso wie regionale Pro­ dukte und Dienstleistungen einen wirksamen Wettbewerbsvorteil gegenüber un­ ethischen, wenig ökologischen und global gehandelten Produkten. Als entspre­ chende Anreize können dabei Steuererleichterungen, geringere Zölle, zinsgüns­ tige Kredite, eine begünstigende Behandlung bei öffentlichen Ausschreibungen oder bei Maßnahmen der Wirtschaftsförderung dienen. – Veränderung des wirtschaftlichen und politischen Ordnungsrahmens – Neben dem Einsatz marktkonformer Anreizinstrumente wird zudem eine Umgestaltung des Ordnungsrahmens gefordert. Hierzu zählt etwa die Implementierung rechtlicher Vorschriften, mittels deren die Verwendung unternehmerischer Gewinne zuguns­ ten von Investitionen mit einem sozialen und ökologischen Mehrwert kanalisiert werden soll. Um einen konsumärmeren, suffizienten und ökologisch nachhalti­ geren Lebensstil zu verwirklichen, gelte es den Umfang an Erwerbsarbeit recht­ lich zu begrenzen. Mehr Einkommens- und Vermögensgleichheit soll wiederum

20 Siehe ebenso Felber (2006) und Felber (2008). Siehe auch Pintó/Palmieri (2015).

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durch eine gesetzliche Deckelung der Arbeits- und Gewinneinkommen erreicht werden.²¹ Entsprechende Gesetzesvorschläge wären von einem Wirtschaftskon­ vent zu erarbeiten, über die dann direkt-demokratisch entschieden werden soll. Da in einer Gemeinwohlökonomie das Ziel der Gewinnmaximierung in den Hinter­ grund tritt, sollen die Unternehmen nicht länger dem allgemeinen Wachstumszwang unterliegen (vgl. Felber 2018: 60). In der Umgestaltung des Wirtschaftssystems in Richtung Gemeinwohlsteigerung wird zudem ein Beitrag gesehen, den ökologischen Fußabdruck von Personen, Unternehmen und Staaten auf ein nachhaltiges Niveau zu verringern, da „Naturverbrauch und materiell[e] Ressourcen, [. . . ] ihr effizienter Ge­ brauch und ihre Bewahrung Teil des neuen Ziels geworden sind“ (Felber 2018: 188 f.). Wachstum und Umweltschutz erfahren eine stärkere Integration und stehen damit nicht länger in Konflikt zueinander – so zumindest die Grundidee. Für eine Bewertung der genannten Maßnahmen ist zunächst festzustellen, dass im Unterschied zu den Ansätzen einer Post-Wachstumsökonomie hier stärker in den Kategorien von Anreizen sowie der Gestaltung des wirtschaftlichen und politischen Ordnungsrahmens gedacht wird und weniger in jenen von ökologischer Aufklärung und individueller Selbstbindung. Damit wird beim Konzept der Gemeinwohlökono­ mie die institutionelle Dimension des Zielkonflikts zwischen Wachstum und Umwelt vergleichsweise stärker in den Blick genommen. Das anreizpolitische Denken zeigt sich exemplarisch an den Reformvorschlägen zum Unternehmenssteuersystem, das in Richtung eines finanziellen Belohnungssystems für nachhaltigkeitsorientiertes Wirt­ schaften umgestaltet werden soll. Damit bildet der Unternehmenssektor zugleich ei­ nen wesentlichen Adressaten für die ökologische Transformation des Wirtschaftssys­ tems und nicht etwa die privaten Haushalte beziehungsweise das Verbraucherverhal­ ten (vgl. Leschke 2015: 19). Das Denken in Anreiz- und Ordnungsstrukturen zeigt sich darüber hinaus bei der bereits erwähnten Forderung nach verstärkter Bürgerbeteili­ gung (direkte Demokratie), die auch für die Entscheidungsfindung von Unternehmen in zentralen Bereichen der Daseinsvorsorge (Bildung, Gesundheit, Mobilität, Energie, Kommunikation) sowie des Finanzsektors gelten soll (vgl. Felber 2018: 100). Ein wei­ teres Beispiel für eine solche Veränderung des Institutionengefüges stellt die propa­ gierte Einrichtung einer Fair-Trade-Zone mit nachhaltigkeitsorientierten Produktstan­ dards und Zöllen sowie einer global einheitlichen Währung dar, damit das Gemein­ wohlsystem nicht durch Außenhandel unterlaufen werden kann²², da es sich hierbei um interdependente Teilordnungen handelt. Jenseits dessen soll jedoch auch beim Konzept eines gemeinwohlorientierten Wirtschaftens das Problem der Nutzungskonkurrenz um knappe natürliche Res­ 21 Die Forderung nach Ausweitung von Gemeingütern, der Stärkung von Projekten der solidarischen Ökonomie sowie der Einführung von Grund- und Maximaleinkommen finden sich auch bei Rätz et al. (2011), Schmelzer/Passadakis (2011) sowie Muraca (2014). 22 Siehe hierzu auch Diefenbacher (1998: 25) sowie Möller/Peters (1998: 23).

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sourcen und der damit einhergehenden unerwünschten Umweltexternalitäten durch den verstärkten Einsatz von kooperativen Planungs- und Lenkungsinstrumenten²³ und nur begrenzt unter Zuhilfenahme der dezentralen Anreizfunktion des Marktund Wettbewerbsmechanismus gelöst werden. Wörtlich heißt es hierzu bei Felber (2018: 35): „Dafür müssten wir dem falschen Leitstern – Gewinnstreben und Konkur­ renz – den rechtlichen Anreizrahmen ‚abschnallen‘ und diesen unseren mehrheitsfä­ higen Leitstern – Vertrauensbildung, Kooperation, Solidarität, Teilen – umschnallen“. Investitionen durch kollektiv bestimmte Vorschriften zu lenken sowie Gewinn- und Einkommenserzielung als Anreiz für neue Produkte und Produktionsverfahren zu beschränken, dürfte jedoch zu einer erheblichen Beschneidung des Innovationspo­ tenzials einer Volkswirtschaft auch für die Lösung von Umwelt- und Nachhaltigkeits­ problemen führen. Der Markt kann dann nur noch eingeschränkt seine Funktion als „wettbewerbliches Entdeckungsverfahren“ im Sinne Hayeks (1968) wahrnehmen. Schließlich ist auch das „Herzstück“ der Gemeinwohlökonomie – die Gemein­ wohlbilanz – mit erheblichen Problemen behaftet. Dies gilt nicht allein deshalb, wie für die weit überwiegende Zahl der Unternehmen diese Form der Bilanzierung kei­ ne relevante Handlungsalternative darstellen dürfte. Lediglich sehr wenige genossen­ schaftlich verfasste Unternehmen sowie Kleinunternehmen aus dem Sozialbereich, die viele der Indikatoren der Gemeinwohl-Bilanz schon heute umsetzen, da es der Ziel­ setzung ihrer Tätigkeit weitestgehend entspricht, sind in der Lage, die entsprechen­ den Vorgaben zu erfüllen. Jenseits dessen fällt zudem die Integration eines differen­ zierten Belohnungssystems in die Unternehmensbesteuerung, wie es der Ansatz der Gemeinwohlökonomie vorsieht, vergleichsweise komplex aus, da sich eine (objektive) Messung und Bewertung unternehmerischen Handelns unter dem Gemeinwohlziel weitaus schwieriger gestalten würde als jene von Gewinn oder Umsatz. Darin spiegelt sich nach Löhr (2016) zugleich ein mangelndes Verständnis des Preismechanismus, der in einer Marktwirtschaft als ein ebenso einfacher wie effektiver Knappheitsindi­ kator von Gütern und Ressourcen fungiert. Fließen in die Preisbildung sämtliche Op­ portunitätskosten ein, d. h. sind gesellschaftliche Kosten des Umweltverbrauchs etwa mittels entsprechender Internalisierungssteuern vollständig eingepreist, trägt ein Un­ ternehmen schon allein aus Eigeninteresse zum Gemeinwohl bei und dies ganz ohne Zertifizierung mittels einer sehr aufwendig und im Detail schwierig zu erstellenden Gemeinwohlbilanz.²⁴

23 Felber (2012: 65) spricht diesbezüglich von einer „kooperativen Marktwirtschaft“ beziehungsweise einer „kooperativen Marktsteuerung“, deren Rahmen und Prozedere durch die Entscheidungen diver­ ser Konvente (Wirtschaftskonvent, Daseinsvorsorgekonvent, Medienkonvent etc.) bestimmt wird. Auf diese Weise sollen „nur noch solche Investitionen getätigt werden, die einen sozialen und ökologi­ schen Mehrwert schaffen“ (Felber 2012: 51). 24 Nach Löhr (2016) gedeiht – bildlich gesprochen – die Gemeinwohlbilanz nur „auf dem giftigen Beet der Preislügen, das wir heute haben“.

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3.3 Die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch – der Ansatz des „Grünen Wachstums“ Der Ansatz des „Grünen Wachstums“ (Green Growth) kann als ein Sammelbecken verschiedener theoretischer Konzepte und politischer Initiativen verstanden werden, die durch die Leitidee miteinander verbunden sind, dass ein nachhaltiges Wachs­ tum dann möglich ist, wenn die wirtschaftliche Entwicklung in ökologische, durch Umweltziele unterlegte Leitplanken eingebettet wird.²⁵ Auch besteht Einigkeit dar­ über, dass eine umfassende ökologische Modernisierung der gesamten Wirtschaft er­ forderlich ist, wobei insbesondere der bisherige Ressourcenverbrauch, das Ausmaß an Emissionen sowie die Gestaltung von Produkten und Wertschöpfungsketten ge­ ändert werden müsse. Dabei wird der Förderung von Umweltinnovationen eine zen­ trale Bedeutung zugeschrieben. Dem liegt die – von Sprenger (1994: 534) schon früh als „Entkopplungsthese“ bezeichnete – Auffassung zugrunde, dass durch technische und soziale Innovationen bewirkte Substitutionsprozesse und Einsparungen von na­ türlichen Ressourcen der Zielkonflikt zwischen Wachstum und Umwelt entweder voll­ ständig (absolute Entkopplung) oder zumindest weitgehend (relative Entkopplung) aufgehoben werden kann. Richtet man den Blick auf die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion, sind die vor allem von Vertretern der Ökologischen Ökonomik (siehe etwa Constanza et al. 2001 oder auch Isenmann/Hauff 2007) sowie der Nachhaltigkeitsökonomik (siehe stellvertretend Rogall 2011 und 2012a) formulierten Überlegungen zu einem grünen Wachstum aus einer Kritik an der traditionellen (neoklassischen) Wachstumstheorie entstanden. Als Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum galt in den frühen Mo­ dellen dieses Typs bekanntermaßen allein die quantitative Vermehrung der beiden Inputfaktoren Kapital und Arbeit (bei gegebener Technologie), wobei weder natür­ liche Ressourcen als Produktionsinput noch Emissionen oder Abfälle als Output einflossen. Zwar sind neuere Modelle der Wachstumstheorie dadurch gekennzeich­ net, dass nicht nur das technologische Wissen (vgl. Romer 1990) zu einer endogenen Variable wird, sondern auch der Verfügbarkeit von natürlichen (nicht nachwach­ senden) Ressourcen eine wachstumsrelevante Rolle zukommt (vgl. Nordhaus 1992). Nichtsdestotrotz sehen aber auch diese Modelle keine ökologischen Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums vor, da eine weitreichende Substituierbarkeit der Pro­ duktionsfaktoren sowie eine beliebige Überwindung etwaiger Knappheit durch Inno­ vationen unterstellt wird.²⁶ Geht man demgegenüber von der Annahme aus, dass das wirtschaftliche System ein Bestandteil des umfassenderen (ökologischen) Systems

25 Siehe für verwandte Konzepte und Initiativen wie etwa den Ansatz der „Green Economy“, die Stra­ tegie des „(Global) Green New Deal“, das Konzept der „Ökologischen Marktwirtschaft“, die Überle­ gungen zu einer „Blue Economy“ oder auch die Strategie einer „Nachhaltigen Industriepolitik“ den Überblick in Renault/Schwietring (2016: 47 ff.). 26 Siehe zu dieser Kritik beispielsweise Daly (1996) oder auch Irmen (2011).

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„Erde“ ist, lassen sich – so früh schon Georgescu-Roegen (1971) – aus dessen natür­ lichen Gesetzmäßigkeiten (vor allem der Thermodynamik) absolute Grenzen für das ökonomische Wachstum ableiten. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass es dann zu keiner Übernutzung natürlicher Ressourcen kommt, wenn der Materialund Energiedurchsatz des Wirtschaftssystems mit den Reproduktionsbedingungen des ökologischen Systems kompatibel ist. Der Ansatz des grünen Wachstums schließt folglich quantitatives Wachstum nicht grundsätzlich aus. Entscheidend ist vielmehr, ob es gleichzeitig zu einem Rückgang an Umweltschäden kommt, wie dieser durch den Einsatz von technologischen und sozialen Innovationen zugunsten von mehr Rohstoff- und Energieeffizienz sowie eine Steigerung bestehender Recyclingraten bewirkt werden kann. Modellbasierte Simu­ lationen²⁷ zeigen diesbezüglich, dass nicht nur eine „relative Entkopplung“ des wirt­ schaftlichen Wachstums vom Umweltverbrauch, bei dem die Umweltbelastung weni­ ger stark als die Wirtschaftsleistung zunimmt, möglich ist. Vielmehr lassen sich auch Szenarien konzipieren, die zu einer „absoluten Entkopplung“, d. h. zu konstant blei­ benden oder sogar abnehmenden negativen Umweltwirkungen bei gleichzeitiger Stei­ gerung der Wirtschaftsleistung führen, wie dies etwa im Rahmen von Stoffstromana­ lysen für die Mitgliedstaaten der EU auf Grundlage von Daten zum (globalen) Mate­ rialaufwand (Biomasse, Metalle, nicht-metallische Mineralien, fossile Energieträger) gezeigt werden konnte. Dabei wurden sowohl Effekte der Schadstoffverlagerung durch internationalen Handel als auch zu erwartende Rebound-Effekte berücksichtigt. Die Ergebnisse entsprechender Simulationen hängen hierbei maßgeblich davon ab, wie zukünftig „marktliche und staatliche Anreize“ gestaltet sind und ob absehbar „eine verbesserte staatliche Rahmengesetzgebung“ (Bleischwitz 2012: 31) realisiert werden kann. Um ein grünes Wachstum zu realisieren, werden im Einzelnen die folgenden Maßnahmen(-bündel) vorgeschlagen: – Förderung von Umweltinnovationen – Das Neuerungsverhalten in Form von tech­ nologischen Innovationen, neuen Geschäftsmodellen sowie gewandelten sozia­ len Verhaltenspraktiken gilt als der Schlüssel für die Realisierung eines nach­ haltigen Wachstumsprozesses. Hierbei wird als zentral angesehen, dass mit dem Erreichen vorgegebener ökologischer Ziele die Wirtschaft mittel- bis langfristig auch ökonomisch im globalen Wettbewerb durch eine (ressourcen-)effiziente und umweltverträgliche Produktionsweise gestärkt wird. Die in einem wirksamen Um­ weltschutz enthaltene wirtschaftliche Chance zeigt sich – so die Argumentation – nicht zuletzt am Beispiel der „grünen Zukunftsmärkte“, die stark innovationsge­ trieben sind und für die mit einer (noch weiter) steigenden Wertschöpfung ge­ rechnet wird (vgl. BMU 2018: 7 f.). Damit wird ähnlich der Umwelt-Kuznets-Hypo­ these der innovationsgetriebene Strukturwandel zu einer Schlüsselgröße bei der

27 Siehe exemplarisch Giljum et al. (2008) sowie Meyer et al. (2012).

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Lösung des Zielkonflikts von Wachstum und Umwelt, allerdings ohne darin einen Entwicklungsautomatismus zu sehen. Vielmehr wird für eine Förderung ökolo­ gischer Investitionen, die für eine Entkopplung von Umweltverbrauch und wirt­ schaftlicher Prosperität sorgen sollen, ein weitreichender Umbau der institutio­ nellen Anreizstrukturen als zwingend notwendig angesehen, ohne dass dadurch jedoch die grundlegende Fortschrittsfunktion des Markt- und Wettbewerbspro­ zesses in Frage gestellt wird.²⁸ Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen – Hierzu zählt ein Abbau von rechtlichen und marktbezogenen Schranken, welche Umweltinnovationen und „grüne“ Geschäftsmodelle behindern. Auch wird die (massive) Besteuerung von solchen Wirtschaftstätigkeiten gefordert, die aufgrund ihres Ausmaßes an negativen Umweltexternalitäten als wenig nachhaltig einzustufen sind. Des Wei­ teren gilt eine deutliche Erhöhung staatlicher Ausgaben für „grüne“ Forschung und Entwicklung, aber auch zur öffentlichen Risikoabsicherung nachhaltigkeits­ bezogener Innovationen als zweckdienlich zur Lösung des Zielkonflikts zwischen Wachstum und Umwelt. Darüber hinaus vorgeschlagene Maßnahmen sind unter anderem die Definition und Durchsetzung sozial-ökologsicher Mindeststandards ebenso wie eine Änderung der Eigentums- und Wettbewerbsordnung – letzteres in dem Sinne, dass der Umgang mit Eigentum nicht nur durch die Rechte Dritter, son­ dern auch durch die Pflicht zum Erhalt von Umweltgütern beschränkt wird (vgl. Dohmen 2018). Auf diese Weise soll nicht länger der Verzehr von Umweltgütern sondern deren Erhalt durch Markt und Wettbewerb gefördert werden. Damit wird zwar die grundlegende Nutzungskonkurrenz um knappe natürliche Ressourcen nicht aufgehoben, jedoch würden Maßnahmen wie eine stärker umweltbezogene Ausrichtung des Besteuerungssystems oder die Möglichkeit zu ökologisch moti­ vierten Wettbewerbsklagen das – nach Eucken (1952) – für eine Marktwirtschaft konstitutive Prinzip der Haftung (hier: für wachstumsinduzierte Umweltschäden) befördern.

Vor allem mit Blick auf die starke Betonung von Umweltinnovationen, die als Mo­ tor für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum dienen sollen, unterscheidet sich der Ansatz des grünen Wachstums von den beiden zuvor behandelten Ansätzen. Wäh­ rend die Vertreter von Post-Wachstums- wie Gemeinwohlökonomie dazu neigen, den möglichen Beitrag des technologischen Fortschritts zu einem schonenderen Umgang mit knappen Umweltgütern zu unterschätzen, trifft dies nicht auf die Überlegungen zur Realisierung eines ökologisch verträglichen Wachstums zu. Diese Unterschätzung

28 So wird etwa in GCEC (2014: 9) diesbezüglich festgestellt: „Stimulating innovation in technolo­ gies, business models and social practices can drive both growth and emission reduction. [. . . ] But technology will not automatically advance in a low-carbon direction. It requires clear policy signals, including the reduction of market and regulatory barriers to new technologies and business models, and well-targeted public expenditures“.

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ist allerdings kein neues Phänomen, sondern hat durchaus eine gewisse theoriege­ schichtliche Tradition (vgl. Schieritz 2013: 23). Übersehen wird hierbei jedoch allzu oft, dass aufgrund von Produkt- und Prozessinnovationen die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen in der Vergangenheit nicht nur zu einem immer geringeren Res­ sourceneinsatz geführt hat, mit dem zugleich Kosten gespart werden konnten. Auch war mit der Ausschöpfung des vorhandenen Innovationspotenzials nicht selten zu­ gleich die Erzeugung neuer Bedürfnisse auf Seiten der Konsumenten verbunden. In der Summe bewirkten beide Effekte eine stetige Erweiterung der Grundlage für neues Wirtschaftswachstum, die sich der Ansatz des grünen Wachstums unter dem Ziel ei­ ner Entkopplung von zusätzlicher Wertschöpfung und Umweltverbrauch zunutze zu machen versucht. Mit den auf eine ökologische Korrektur des bisherigen Wachstumspfads ausge­ richteten Reformmaßnahmen vermeiden die Vertreter der „Green-Growth“-Idee zu­ dem ein weiteres Problem: So wären in einer wachstumslosen Wirtschaft sämtliche Investitionen nur noch Ersatzinvestitionen mit deutlich eingeschränktem Gewinnpo­ tenzial. Dies hätte zur Folge, dass die Produktionskapazität einer solchen Wirtschaft auf dem jeweils gegebenen Niveau verharren würde. An diese stagnierende Produkti­ onskapazität müsste sich auch die Konsumnachfrage anpassen, was bei einer wach­ senden Bevölkerung zu einem sinkenden Pro-Kopf-Konsum führt. Ein entsprechender Nachfrageverzicht, wie er von den Vertretern des Post-Wachstums-Ansatzes gefordert wird, setzt allerdings – wie bereits erwähnt – einen grundlegenden Kulturwandel vor­ aus, der aus aktueller Sicht entweder nur schwer vorstellbar ist oder zumindest ein erhebliches Maß an Zeit benötigt, da dies mit einem tiefgreifenden Wandel der Kon­ sumentenpräferenzen verbunden wäre (vgl. Döring/Rischkowsky 2016: 40 f.). Um eine spürbare Wirkung zu entfalten, müssten sich möglichst viele Länder weltweit für diese Strategie der Verlangsamung oder des Verzichts auf Wirtschaftswachstum entschei­ den. Mit Blick auf Entwicklungs- und Schwellenländer ist eine solche Entscheidung zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufgrund der bestehenden Entwicklungsrückstände je­ doch nicht zu erwarten, so dass ein Wachstumsverzicht im Grunde nur von den In­ dustrieländern praktiziert werden könnte, was ebenfalls als unwahrscheinlich gelten kann. Mit einer auf qualitatives Wachstum setzenden Wirtschaftspolitik werden dem­ gegenüber die genannten negativen Effekte einer Suffizienz-Strategie vermieden. Der Ansatz des grünen Wachstums trägt schließlich auch der Einsicht Rechnung, dass bei keinem oder einem deutlich verlangsamten Wachstum der aus ökologischer Sicht erforderliche Strukturwandel nur unter erheblichen Schwierigkeiten zu reali­ sieren wäre. Dies gilt nicht allein deshalb, wie bei einer solchen Transformation in den schrumpfenden Wirtschaftssektoren zusätzlich zum eintretenden Lohnverzicht auch strukturelle Arbeitslosigkeit entstehen würde, die zumindest mittel- bis lang­ fristig durch ein Wachstum in anderen Wirtschaftssektoren – vor allem im Bereich der genannten grünen Zukunftsmärkte – wieder abgebaut werden könnte. Mindes­ tens ebenso gravierend ist, dass für eine solche Transformation hin zu einer ökologie­ verträglichen Gesellschaft verfügbares Kapital in Milliardenhöhe erforderlich ist. Aus

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dieser Perspektive liefert (grünes) Wirtschaftswachstum überhaupt erst die Grundla­ ge, um den skizzierten Transformationsprozess erfolgreich bewältigen zu können.²⁹ Auch wenn sich für die Entkopplungsthese – zumindest in ihrer relativen Varian­ te und bezogen auf einen Teil des Umweltverbrauchs – schon aktuell empirische Evi­ denz findet (siehe Döring/Rischkowsky 2016: 33 ff.), bleibt allerdings offen, ob die lau­ fenden und für die Zukunft noch zu erwartenden Entkopplungsprozesse, auf die mit dem Ansatz des grünen Wachstums gesetzt wird, für die Realisierung eines ökologie­ verträglichen Wirtschaftssystems ausreichen werden. Auch wäre eine nationale Ent­ kopplung, wenn andere Länder nicht in gleicher Weise dieser Strategie folgen, nur wenig hilfreich, da in diesem Fall mit unerwünschten internationalen Rebound-Effek­ ten zu rechnen ist.³⁰ Zwar geht es hierbei nicht um einen Schadstoffexport vermittels internationaler Handelsverflechtungen, wie dieser bezogen auf die Umwelt-KuznetzKurve kritisch diskutiert wurde. Vielmehr könnten nationale Effizienzgewinne, die zu international sinkenden Rohstoff- und Energiepreisen führen, andernorts eine Mehr­ nachfrage nach diesen Umweltressourcen bewirken, so dass sich in globaler Betrach­ tung keine oder eine lediglich zu geringe Entkopplung von Wachstum und Umwelt­ verbrauch einstellt. Die darin zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber der Wirksamkeit des Ansatzes eines grünen Wachstums wird noch dadurch verstärkt, wenn angezwei­ felt wird, ob allein mittels Öko-Innovationen die Einhaltung der planetaren Belas­ tungsgrenzen erreicht werden kann. So wird etwa von Schneidewind (2018: 54 ff.) eine „doppelte Entkopplung“ gefordert, die auf ein umfassenderes und systemi­ sches Innovationsverständnis abzielt. Während dabei die erste Entkopplung jene von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch adressiert, die über ein Mehr an Öko-Effizienz mittels technologischer Innovationen erreicht werden kann, geht es bei der zweiten Entkopplung um jene von Lebensqualität und ökonomisch-materiel­ lem Wachstum, die über veränderte Konsummuster und Lebensstile realisiert werden soll. Aus ordnungsökonomischer Sicht bedarf es – so die Argumentation – somit nicht allein einer Veränderung der formalen Anreizstrukturen zur Förderung von Umwelt­ innovationen und grünen Zukunftsmärkten. Vielmehr ist nach Raworth (2017) oder auch Göpel (2016) zudem ein kultureller Wandel („Great Mindshift“) im Sinne einer Veränderung bestehender informeller Institutionen erforderlich, um die für eine wirk­ same Transformation in Richtung eines nachhaltigen Wirtschaftssystems notwendige doppelte Entkopplung bewerkstelligen zu können. Dabei gilt ein solcher kultureller Wandel aufgrund bestehender Pfadabhängigkeiten als ein langwieriger Prozess.

29 So auch die Argumentation des WBGU (2011, 189). Schätzungen zur monetären Größenordnung eines solchen Umbaus finden sich beispielsweise in GCEC (2014). 30 Das Ausmaß solcher Rebound-Effekte wird allerdings kontrovers eingeschätzt. Siehe hierzu etwa die unterschiedlichen Prognosen von Jackson (2017) und Bleischwitz (2012).

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4 Ordnungsökonomische Schlussfolgerungen zur Überwindung des Zielkonflikts von Wachstum und Umweltschutz In der Gesamtschau der zurückliegenden Ausführungen lassen sich die folgenden Schlussfolgerungen ableiten, die zugleich als Grundlage für eine nachhaltigkeitsori­ entierte Wachstums- und Ordnungspolitik gelten können: – Ungelöster Zielkonflikt als persistentes Problem – Sowohl die weltweit vorliegen­ den Daten zum ökologischen Fußabdruck und seiner Entwicklung im Zeitverlauf als auch jene zur Gefährdung der Funktionsfähigkeit von Ökosystemen in Orien­ tierung an planetaren Belastungsgrenzen deuten auf einen anhaltenden, wenn nicht sogar sich verschärfenden Zielkonflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch hin. Bestätigt wird diese Aussage zudem durch die Ergebnisse von empirischen Untersuchungen zur Umwelt-Kuznets-Kurve, soweit dabei bezo­ gen auf die bestehenden internationalen Wirtschaftsverflechtungen eine verur­ sachungsgerechte Zurechnung von Umweltbelastungen vorgenommen wird. Als ursächlich für diesen Zielkonflikt kann die Nutzungskonkurrenz um knappe na­ türliche Ressourcen gelten, die sich im Spannungsfeld von Wirtschafts- und Nach­ haltigkeitsinteressen vollzieht und die aufgrund einer unzureichenden Ausgestal­ tung des Ordnungsrahmens zu nicht internalisierten (negativen) Umwelt-Exter­ nalitäten mit der Folge der Übernutzung führt. – Keine Konfliktlösung allein durch Aufklärung – Vor allem der Ansatz der PostWachstumsökonomie sieht in der umfassenden Aufklärung über die ökologi­ schen Grenzen des Wachstums und einer daraus resultierenden freiwilligen Selbstbindung zugunsten einer nachhaltigen Nutzung von Umweltgütern ei­ nen wirksamen Mechanismus zur Lösung des Zielkonflikts. Dergestalt auf in­ dividuelle Problemeinsicht basierende Maßnahmen der „Entschleunigung“, des Konsumverzichts sowie der Selbstbegrenzung im Umweltverbrauch verfügen je­ doch nur dann über eine hinreichende Erfolgsaussicht, wenn der Zielkonflikt zwischen Wachstum und Umwelt ausschließlich als ein Koordinationsproblem interpretiert wird. Koordinationsprobleme sind aus ordnungsökonomischer Sicht im Kern durch harmonierende Interessen der interagierenden Akteure gekenn­ zeichnet, wobei lediglich eine unzureichende Interessenabstimmung die allseits als wünschenswert angesehene Allokation der knappen (Umwelt-)Ressourcen verhindert. Gegen eine solche Interpretation des Zielkonflikts als informationsbe­ dingtes Abstimmungs- beziehungsweise Koordinationsproblem, welches durch Aufklärung gelöst werden kann, spricht jedoch zum einen die bereits angespro­ chene Nutzungskonkurrenz, die neben möglichen harmonisierenden zugleich auch auf konfligierenden Interessen beruht. Zum anderen lassen die vorliegen­ den Untersuchungsergebnisse zum Umweltverhalten nicht erwarten, dass eine

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auf diesem Weg bewirkte Veränderung der Umwelteinstellung allein bereits zu einem umweltverträglicheren Verhalten im Sinne einer freiwilligen Suffizienz beiträgt. Fehlende Nachhaltigkeit als Ergebnis eines sozialen Dilemmas – Das für Um­ weltprobleme konstitutive Merkmal konfligierender Interessen legt es nahe, die Übernutzung vorhandener Umweltgüter nicht als ein inhärentes Problem einer wachsenden Wirtschaft zu deuten, sondern als ein mit der Lösung von Umweltbeeinträchtigungen verbundenes Gefangendilemma, das wiederum aus den öffentlichen Gutsmerkmalen eines ökologisch verträglichen Wirtschaftshan­ delns resultiert. Aufgrund dieser Merkmale wird bei den (privaten) Akteuren ein strategisches Entscheidungsverhalten im Sinne einer Freifahrer-Mentalität mit der Folge eines unzureichenden Schutzes natürlicher Ressourcen begünstigt. Dies ist jedoch kein Defizit des Wachstum ermöglichenden Marktmechanismus, wie dies sowohl in den Ansätzen zur Post-Wachstumsökonomie als auch der Gemeinwohlwirtschaft anklingt. Vielmehr ist die Übernutzung der natürlichen Ressourcen aus ordnungsökonomischer Sicht auf eine unzureichende Spezifi­ zierung der Verfügungsrechte mit der Folge einer mangelnden Berücksichtigung wachstumsbedingter gesellschaftlicher (Opportunitäts-)Kosten mit Blick auf den Preismechanismus zurückzuführen, so dass kein hinreichender Anreiz für einen schonenden Umgang mit den negativ betroffenen Umweltgütern besteht. Notwendige Änderung der institutionellen Anreizstruktur – Die zuletzt getroffene Aussage verweist auf die zentrale Rolle des Staates bei der Lösung des Zielkon­ flikts zwischen Wachstum und Umweltschutz. Soll eine im Zuge von Wirtschafts­ wachstum und Marktgeschehen auftretende Übernutzung von natürlichen Res­ sourcen vermieden werden, bedarf es zwingend eines staatlichen Ordnungs­ rahmens, von dem eine entsprechende Lenkungswirkung zur Vermeidung der unerwünschten Zerstörungen von Umweltgütern ausgeht, wie dies vor allem von Vertretern der Nachhaltigkeitsökonomik im Sinne eines umweltverträglichen Wachstums gefordert wird. Individuelles Trittbrettfahrerverhalten zu Lasten der Funktionsfähigkeit von Ökosystemen ebenso wie eine umweltschädigende Nut­ zungskonkurrenz kann durch rechtliche beziehungsweise regulatorische Vorga­ ben zur Internalisierung umweltbezogener externer Effekte überwunden werden. Aber auch der Einsatz marktorientierter umweltpolitischer Instrumente (Um­ weltabgaben, handelbare Verschmutzungsrechte, Umweltsubventionen) zählt zu einem solchen Ordnungsrahmens, um bestehende Verzerrungen in den re­ lativen Preisstrukturen unterschiedlich umweltintensiv hergestellter Waren und Dienstleistungen zu überwinden. Wo ein entsprechend ausgestaltetes Institu­ tionengefüge fehlt oder nur in einer stark perforierten Form vorhanden ist, kann dies als Hinweis auf ein kontinuierliches Staats- beziehungsweise Politikversagen gewertet werden. Nutzung des Marktes zur Generierung von Umweltinnovationen – Vermehrte Inves­ titionen und Innovationen können als eine weitere notwendige Voraussetzung

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dafür gelten, dass der Transformationsprozess in Richtung eines ökologieverträg­ lichen Wirtschaftssystems und damit die Auflösung des Zielkonflikts zwischen Wachstum und Umwelt gelingt. Diesbezüglich ist wirtschaftliches Wachstum als Grundlage zur Finanzierung des hierfür benötigten Investitionsbedarfs in vermehrte Energieeffizienz, Kreislaufwirtschaft, alterative Antriebsstoffe, klima­ schonende Energietechniken, nachhaltige Wasserwirtschaft etc. unverzichtbar. Um den Status quo an Umweltbeeinträchtigungen zu überwinden, bedarf es transformationswirksamer Innovationen in Form neuer Produkte und Produkti­ onsverfahren, zu deren Hervorbringung wiederum aus ordnungsökonomischer Sicht die Entdeckungsfunktion von Markt und Wettbewerb einen wesentlichen Beitrag leistet. Jede Form der staatlichen Planung und (direkten) Lenkung ent­ sprechender ökologischer Innovationen und Investitionen käme demgegenüber im Kern eine „Anmaßung von Wissen“ gleich. Notwendigkeit der Stimulierung sozialer Innovationen – Wenn eine Lösung des Zielkonflikts zwischen Wachstum und Umwelt nicht allein von der technologi­ schen, sondern auch von der kulturellen Veränderung her zu denken ist, kommt neben technischen Umweltinnovationen auch sozialen Innovationen, die auf einen Wandel von Lebensstilen und Konsummustern abzielen, eine besondere Bedeutung zu. Auch hierbei sollte analog zur Generierung umweltentlastender Technologien und damit abweichend von Post-Wachstumsüberlegungen vor al­ lem auf den Marktmechanismus zur Hervorbringung solcher Produkte gesetzt werden, die den privaten Haushalten eine nachhaltigere Konsum- beziehungs­ weise Verhaltensweise (zum Beispiel beim Ernährungs- und Mobilitätsverhalten) erleichtern. Dies erfordert sowohl fördernde institutionelle Rahmenbedingun­ gen als auch Unternehmen, die diese Rahmenbedingungen innovativ aufgreifen. Zumindest ersteres kann der Staat etwa in Form von Steuererleichterungen für „transformative Produkte“ gewährleisten. Eine unmittelbare staatliche Steuerung des Transformationsprozesses ist lediglich in jenen Umweltbereichen vorstellbar, in denen bereits aktuell die planetaren Belastungsgrenzen als erreicht gelten.

Den institutionellen Rahmen von Wachstumsprozessen so zu gestalten, dass der nach wie vor bestehende Zielkonflikt zwischen Wachstum und Umweltverbrauch gelöst werden kann, zählt aus ordnungsökonomischer Sicht zu den grundlegenden Aufga­ ben des Staates. Fehlt ein entsprechender Ordnungsrahmen, ist dies kein Ausdruck von Wachstums- oder Marktversagen, sondern muss vielmehr als Auftrag an den Staat verstanden werden, die ihm zur Verfügung stehenden Anreiz- und Steuerungsinstru­ mente für eine ebenso wirksame wie umfassende Internalisierung negativer Umwelt­ externalitäten und damit für eine ökologische Transformation des Wirtschaftssystems einzusetzen.

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Wie individuelle Zahlungsbereitschaften zur Lösung kollektiver Probleme führen Felix Schlieszus Thomas Döring erläutert in seinem Beitrag den Zielkonflikt zwischen Wirtschafts­ wachstum und Umweltschutz. Ausgehend von dem Nichteintreten der Umwelt-Kuz­ nets-Hypothese, sprich, dass es im Zeitverlauf durch strukturellen Wandel zu einem Rückgang der Emissionen und Umweltzerstörung kommt, gibt er drei in der Wissen­ schaft diskutiere Lösungskonzepte wieder (Döring 2019). Dieses Koreferat argumen­ tiert auf einer Meta-Ebene, warum es im Zeitverlauf eben doch zur Bestätigung der Umwelt-Kuznets-Hypothese kommen kann. Dies jedoch nicht aufgrund eines nicht intendierten strukturellen Wandels (Verlagerung der Produktion zwischen den drei Sektoren), sondern als Konsequenz sich verändernder Zahlungsbereitschaften. Da­ hinter verbirgt sich die These, dass in der langen Frist die Kosten von konstantem oder steigendem Umweltverbrauch die Kosten der Findung und Durchsetzung eines das Problem lösenden Arrangements übersteigen und hierdurch eine institutionen­ ökonomische Lösung eingeleitet wird. Gemäß den Daten des Institute for New Economic Thinking der Universität Ox­ ford, ist die Anzahl von Naturkatastrophen im Jahr 2018 im Vergleich zum Jahr 1900 weltweit um mehr als das 55-fache angewachsen. Über die Hälfte der Naturkatastro­ phen in diesem Zeitraum sind auf Fluten zurückzuführen. Zusammen mit extremen Wetterbedingungen konstituieren Fluten mehr als zwei Drittel aller globalen Natur­ katastrophen (Richie/Moser 2019). Symptomatisch für Naturkatastrophen sind neben der Anzahl an Toten insbesondere die Zerstörung der Existenzgrundlage (zum Beispiel Unterkunft, Infrastruktur, öffentliche Institutionen) der Betroffenen. Das „U.S. Global Change Research Program“, eine staatlich-wissenschaftliche US-Forschungsinstituti­ on, führt den Anstieg an Fluten wesentlich auf einen steigenden Meeresspiegel zurück (U.S. Global Change 2019). Dieser wiederum ist Ursache unterschiedlicher Facetten des sogenannten Umweltverbrauchs. Aus diesen empirischen Beobachtungen folgt, dass ein deutlicher Zusammenhang zwischen Umweltverbrauch auf der einen und Bedrohung der Existenzgrundlage auf der anderen Seite besteht. Die Bedrohung der Existenzgrundlage erweist sich insbesondere für dicht besiedelte, urbane, an Küsten gelegene Lebensräume zunehmend als Herausforderung (Simanovsky 2016). Promi­ nente Beispiele hierfür sind New York City und Boston (Department of Environmental Conservation 2019). Diese Entwicklungen motivieren eine einfache, ökonomische Betrachtung von existenzbedrohenden Katastrophen auf individueller und aggregierter Ebene. Als Ausgangspunkt dient der Extremfall der Existenzgefährdung der Menschheit durch eine Umweltkatastrophe. Dabei muss die Zahlungsbereitschaft für das eigenständig definierte Gut Existenzsicherung dem gesamten individuellen Budget entsprechen.

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Dies ist der Fall, da jede weitere individuelle Präferenz andernfalls nicht realisiert werden könnte.³¹ Aus aggregierter Perspektive käme es demzufolge zum Existenz­ ende der Menschheit genau dann, wenn jene Kosten zur Rettung der Menschheit die aggregierten Budgets aller Menschen überstiegen. Bei der Betrachtung mittelbis langfristiger existenzbedrohender Probleme sollte für die spieltheoretische Dar­ stellung kein einmaliges Spiel verwendet werden, bei dem es nur die Entscheidung Rettung oder Nichtrettung gibt. Vielmehr scheint es sich um einen graduellen Prozess zu handeln, der sich auf nahezu jede Entscheidung auswirkt. Es stellt sich also ge­ nerell die Frage, (i) ob schon heute diese Zahlungsbereitschaft zur Existenzsicherung besteht und (ii) inwiefern diese zur Geltung kommt. Weiterhin stellt sich die grund­ legende Frage, wie es zur Entwicklung einer solchen Zahlungsbereitschaft kommen kann, da es bei öffentlichen Gütern stets zur Trittbrettfahrerproblematik kommt. Hierzu soll im Folgenden das Coase-Theorem näher betrachtet werden: Im Fall eines normalen Gutes haben die Individuen Präferenzen über dieses Gut. In Kombi­ nation mit ihrem Budget ergibt sich eine Zahlungsbereitschaft. Es kommt zu einer optimalen Allokation entsprechend aller bestehenden Zahlungsbereitschaften, un­ abhängig von der ursprünglichen Verteilung der Eigentumsrechte. Die diesem Theo­ rem zu Grunde liegende Annahmen sind, dass (1) keine Transaktionskosten bestehen, (2) die Eigentumsrechte vergeben und durchsetzbar sind. Öffentliche Güter zeichnen sich durch Verletzung von Annahme (2) aus (Coase 1978). Als Folge kommt kein Markt­ preis zu Stande, da die Ressource auch (nahezu) kostenfrei – zumindest beinahe frei von privaten Kosten – genutzt werden kann. Dies führt, ceteris paribus, zu einer in­ effizienten Allokation, da die Zahlungsbereitschaften – die bei Gütern, über die man Eigentumsrechte definieren könnte, bestünden – nicht zu Stande kommen, das heißt nahe null sind.³² Analysiert man diese Argumentation genauer, stellt sie sich allerdings als nicht korrekt heraus, sofern die Annahme der Transaktionskostenfreiheit noch immer be­ steht: Bei gegebener Transaktionskostenfreiheit, können an der Ressource interessier­ te Akteure Nutzungsrechte vereinbaren. Warum sollten sich die Akteure nun an diese nicht definierten oder durchsetzbaren Eigentumsrechte halten? In einem längerfristig fortlaufenden Spiel könnten Spieler anderen Spielern Geld dafür bieten, diese Res­ source nicht zu nutzen. Halten Sie sich an die vereinbarte Nichtnutzung, so bekom­ men Sie jede weitere Runde Geld, unterließen Sie dies würden Sie in der folgenden Runde kein Geld bekommen. Diese Tit-for-Tat Strategie müsste bei rational agierenden Spielern zum Bestehenbleiben individueller Zahlungsbereitschaften und somit einer effizienten Allokation führen. Ermöglicht wird dies durch die weiterhin bestehende

31 Es sei angemerkt, dass die Zahlungsbereitschaft für das eigene Überleben geringer sein kann, wenn diese in einem Trade-off Verhältnis zum Überleben etwaiger Nachkommen oder in der Nutzenfunktion vorkommender anderer Personen steht. 32 Für eine dezidierte Beschreibung des Trittbrettfahrerproblems bei Kollektivgütern siehe Erlei/ Leschke/Sauerland (2016: Kapitel 6.1.1).

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Annahme der fehlenden Transaktionskosten, die die kostenfreie Messung der Nut­ zung der Ressource sowie kostenlose Anpassung der Strategie bedingt. Das Problem ineffizienter Allokationen muss somit in der Nichterfüllung der Transaktionskostenfreiheit verortet sein. Diese scheint einerseits aufgrund der gro­ ßen Anzahl an Akteuren, deren Nutzen, Kosten und Gewinne, die zu betrachten sind, und andererseits durch die komplexen Transmissionskanäle – sprich auf welche Art es zu Veränderungen bei den Akteuren kommt – eine Coase‘sche Verhandlungslö­ sung zu beeinflussen. Die entscheidende Frage ist, ob diese Kosten prohibitiv hoch sind, sodass keinerlei Zahlungsbereitschaften entstehen beziehungsweise zur Gel­ tung kommen. Im Kontext der Ressourcenknappheit ergibt sich eine Lösung des Umweltpro­ blems in Abhängigkeit des Verhältnisses von Transaktionskosten zu den Kosten des Umweltverbrauchs. Übersteigen die Transaktionskosten die Kosten des Umweltver­ brauchs, kommt es zu keiner Lösung des Problems. Übersteigen die Kosten des Um­ weltverbrauchs die Kosten der Transaktionen zur Findung eines wirksamen Mecha­ nismus, kommt es (zumindest langfristig) zu einer Lösung. Diese Deutung entspricht der im anderen Kontext wohlbekannten Demsetz-These, die besagt, dass sich ein System genau dann ändern wird, wenn die Kosten des alten Systems zusammen mit den Transaktionskosten des Wechsels in ein neues System, die Kosten dieses neuen Systems übersteigen (Demsetz 1967). Doch wie findet dieser Prozess des Wechsels statt? Die Transformation vom alten zum neuen System wird maßgeblich durch indi­ viduelle Zahlungsbereitschaften bestimmt. Allerdings geschieht dies nicht auf dem direkten Wege einer Verhandlungslösung über den Markt. Vielmehr wirkt sich die Zahlungsbereitschaft in anderen Entscheidungsbereichen aus. Institutionen sind da­ bei das Vehikel. Beispielsweise könnten die guten Wahlergebnisse der Partei „B90 Die Grünen“ in Deutschland als Ausdruck der Zahlungsbereitschaft zur Behebung von Umweltschäden angesehen werden. Zunächst steigt aufgrund von Risikoabwä­ gungen – und gegebenenfalls bereits auftretenden Kosten – die potenzielle Zahlungs­ bereitschaft für das Gut Umwelt. Individuen erkennen jedoch, dass eine triviale Um­ setzung dieser zunächst nicht den gewünschten Erfolg bringt, da sie mit der Steue­ rung ihres eigenen Verhaltens nur eine geringe Veränderung in Bezug auf das Ziel erreichen. Da sich diese Zahlungsbereitschaft somit nicht direkt im Markt artikulie­ ren kann, suchen Akteure andere Möglichkeiten zur Etablierung dieser. Der politische Prozess bietet ihnen eine solche Möglichkeit. So könnte beispielsweise eine Verlage­ rung im Bereich der präferierten öffentlichen Güter von individueller Mobilität (Aus­ bau Autobahnen) hin zu Umweltprojekten stattfinden (Anpflanzung von Bäumen). Ei­ ne andere mögliche Option ist die Akzeptanz einer Preiserhöhung von Emissionen und einer damit einhergehenden Konsumverringerung beziehungsweise gegebenen­ falls sogar eines Konsumverzichtes, also eine Substituierung des Privatkonsums zum Zweck des Erhalts des öffentlichen Gutes Umwelt. Dieser Trade-off wird bewusst ein­ gegangen, jedoch nur auf kollektiver und nicht auf individueller Ebene, das heißt es

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besteht eine Bereitschaft zum Verzicht, jedoch nur bei hinreichendem Effekt auf das gewünschte Gut. Dieser Effekt kann erreicht werden, sofern eine Maßnahme auf eine größere Gruppe verbindlich ausgedehnt wird. Die gewählte Partei sorgt somit über ih­ ren gestiegenen Einfluss beispielsweise durch Verbote für eine Verbesserung der Um­ weltsituation. Die Zahlungsbereitschaft offenbart sich hierbei einerseits über die Wahl der entsprechenden Partei, andererseits aber auch über den zu erwartenden Einfluss der Partei nach der Wahl. So würde die Wahl einer radikalen Partei, welche in abseh­ barer Zukunft keine Rollen im politischen Prozess der Meinungsfindung spielen wird, eben nicht einer hohen Zahlungsbereitschaft entsprechen. Mit der Fortführung dieser Idee könnte selbst die Gründung des IPCC durch die Vereinten Nationen somit letzt­ endlich als Konsequenz entsprechender Zahlungsbereitschaften betrachtet werden. Eine weitere Möglichkeit wäre, seine Zahlungsbereitschaft in Form von Spenden an Lobbyisten weiterzugeben, die entsprechend ihren Einfluss auf die Politik nutzen. Institutionen wie Parteien oder Lobbygruppen kanalisieren die Zahlungsbereitschaf­ ten der Individuen und führen dazu, dass kollektive Ziele erreicht werden. Die Zah­ lungsbereitschaft artikuliert sich hierbei nicht unbedingt in einer direkten Zahlung, sondern wie zuvor in der Bereitschaft auf andere Dinge zu verzichten – sei es direkter Verzicht auf Konsum oder die Hinnahme anderer Nachteile durch die Unterstützung einer bestimmten Partei, die für die Lösung dieser Probleme eintritt. Hierbei stehen die verschiedenen Institutionen mit Ihren Möglichkeiten, Zahlungsbereitschaften ab­ zuschöpfen und zu verarbeiten in einem Wettbewerb miteinander. Durch die Bandbreite unterschiedlicher Kanäle können Individuen in die Mög­ lichkeit investieren, die für sie das Ziel im besten Kosten-Nutzen-Verhältnis erreicht. Da dieser Prozess dynamisch ist, werden Transmissionskanäle, die nicht den erwarte­ ten Nutzen erbringen, durch Verlagerung der Zahlungsbereitschaften aussortiert. Es kommt somit auch hier zu einer effizienten Allokation. Mit steigendem Risiko des Exis­ tenzendes – oder zumindest der Angst vor gravierenden Auswirkungen von Umwelt­ zerstörung – nehmen individuelle Zahlungsbereitschaften zu, vor allem, wenn es In­ stitutionen nicht hinreichend gelingt, die Zahlungsbereitschaften in eine Lösung des Problems umzusetzen. Dies ermöglicht gleichzeitig tiefergreifende, kostenintensive­ re, doch durch eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit gekennzeichnete Lösungsan­ sätze. Dementsprechend kann im Lichte der Umweltproblematik davon ausgegangen werden, dass zunächst kostengünstigere Lösungsmöglichkeiten wie „Green Growth“ getestet werden. Führen diese nicht zum gewünschten Ergebnis setzen tiefergreifen­ de Reformen, wie eine Gemeinwohlökonomie oder eine politisch durchgesetzte PostWachstumsstrategie ein. Hier scheint auch die Rolle der Wissenschaft verortet: Sie befindet sich zwischen den Konsumenten und Ihren „verdeckten“ Zahlungsbereitschaften für öffentliche Gü­ ter einerseits und der Lösung des kollektiven Problems andererseits. Sie kann auf ver­ schiedenste Weisen – sei es technisch oder institutionell – die Kosten der einzelnen potenziellen Lösungsmöglichkeiten verändern. So führt der Beitrag von Thomas Dö­

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ring drei solch institutionelle Innovationen³³ vor Auge. Es stellt sich für den Ökonomen somit nicht die Frage, ob das kollektive Problem gelöst wird, sondern nur zu welchen Kosten. Abschließend sei, an dieser Stelle, noch auf zwei Kritikpunkte zum eben vorge­ stellten Denkansatz hingewiesen: Einerseits ist die Idee tautologisch. Eine Vielfalt von Verhalten und (Miss-)Erfolg kann durch sie erklärt, beziehungsweise ihre innere Kon­ sistenz nicht falsifiziert werden. Alles ist stets auf sich verändernde Zahlungsbereit­ schaften und den Versuch der Individuen diese zu artikulieren rekurrierbar. Somit bedarf es konkreter Hypothesen, die an der Realität gemessen werden können, um die gegebene Theorie auch falsifizierbar zu machen. Andererseits unterstellt die Idee einen Wettbewerb, der unabhängig vom Agieren der einzelnen Akteure und dem in­ stitutionellen Rahmen stets zum Erreichen des angestrebten Ziels führt. Auf diesen Annahmen basierend können kaum politische Implikationen abgeleitet werden.

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33 Post-Wachstumsökonomie, Gemeinwohlökonomie und „Grünes Wachstum“.

Werner Pascha

Die ASEAN-Wirtschaftsgemeinschaft: Unvollkommenes Integrationsprogramm oder Vorreiter „asiatischer“ Kooperationsmechanismen? 1

Einführung: Die Fragestellung | 253

2

Die Entwicklung der ASEAN | 254

3

Die Beteiligung der ASEAN an Freihandelsabkommen in der Region | 261

4

Stand der erreichten ASEAN-Integration | 264 4.1 Stand der organisatorischen Integration | 264 4.2 Stand der wirtschaftlichen Integration | 266 4.3 Stand der sicherheitspolitischen und sozio-kulturellen Integration | 268

5

Zur Interpretation der ASEAN: Defizite durch strukturelle Mängel oder Vorbote einer neuen Generation „asiatischer“ Kooperations- und Integrationsmechanismen? | 270

6

Gemeinsamkeiten zwischen der ASEAN und anderen multilateralen Mechanismen aus der Region Asien-Pazifik | 273 6.1 Die Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC) | 273 6.2 Chinas Neue Seidenstraße | 274 6.3 Ein Vergleich von ASEAN, APEC und BRI | 275

7

Zusammenfassung und Ausblick | 279 7.1 Status, Erfolg und Beispielhaftigkeit der ASEAN | 279 7.2 Ausblick: Die Zukunft der ASEAN | 281

1 Einführung: Die Fragestellung Die Vereinigung südostasiatischer Nationen ASEAN (Association of Southeast Asian Nations) wird zwiespältig gesehen. Dies wurde an den Kommentaren zum 50-jähri­ gen Bestehen des Zusammenschlusses im Jahre 2017 wieder deutlich: Die ZEIT etwa spricht von einer schwachen, kaum handlungsfähigen Gruppe, während diesem Ver­ bund gleichzeitig eine große Bedeutung als politischer Stabilitätsanker in der Region zugemessen wird (Lee 2017). Eine Expertengruppe des Ostasiatischen Vereins, einer Einrichtung asienerfahrener Unternehmen mit Sitz in Hamburg, nimmt „beachtli­ che Erfolge beim Aufbau moderner und konkurrenzfähiger Volkswirtschaften“ zur Kenntnis, wobei die regionale Integration für „Auftrieb“ gesorgt habe (OAV o. J.: 8). Von akademischer Seite werden die Fortschritte der ASEAN-Integration häufig im Vergleich zur europäischen Integration beurteilt, wobei Erstere dann schlecht ab­ schnitt. Albrecht Rothacher, hochrangiger EU-Beamter und wissenschaftlicher Autor, https://doi.org/10.1515/9783110696745-009

254 | Werner Pascha

spricht von „aufgewärmten alten Rezepten“, verächtlich gar von „Plauderstunden um gemeinsame Golf-, Dinner – und Fototermine“ (2004: 154). Rolf Langhammer, lang­ jähriger Beobachter des ASEAN-Verbundes, der oft die mangelnde Verbindlichkeit der Übereinkünfte kritisiert hat (zum Beispiel 2006), stellt zum 50-jährigen Jubilä­ um immerhin heraus, dass die ASEAN-Integration (im Gegensatz zur EU) zwar flach sei, damit aber immerhin die „Achterbahnkosten“ überambitionierter Vorhaben habe vermeiden können (2017). Der vorliegende Beitrag verortet die Entwicklung der ASEAN in diesem Span­ nungsfeld zwischen übertriebenen Erwartungen in Bezug auf die Gestaltbarkeit von Integrationsräumen einerseits und einem mangelnden Engagement bei der Einrich­ tung funktionstüchtiger Regionalintegration andererseits. Die politischen, insbeson­ dere sicherheitspolitischen, und die sozio-kulturellen Aspekte der ASEAN-Gemein­ schaft können dabei im Rahmen dieses Aufsatzes nur am Rande mitgedacht werden. Die hier verfolgte Grundthese geht dahin, dass die ASEAN keineswegs so unzuläng­ lich ist wie oft behauptet. Die ASEAN macht das Beste aus den zum Teil schwierigen Bedingungen, denen sie sich anpassen muss. Insoweit kann sie, so die hier disku­ tierte These, sogar als Beispiel einer neuen Generation von internationalen, auch regionalen Abkommen gesehen werden, welche vor dem Hintergrund schwieriger Rahmenbedingungen agieren müssen und dies realistischerweise nur ohne ein en­ ges und verbindliches Regelgerüst verfolgen können. Viele solcher Ansätze stammen aus Ostasien. Insoweit könnte, diese These soll im vorliegenden Aufsatz jedenfalls vertreten werden, die ASEAN als Vorreiter einer neuen Welle „asiatisch geprägter“ Kooperationsmechanismen interpretiert werden.

2 Die Entwicklung der ASEAN Die ASEAN wurde 1967 mit den Staaten Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur und Thailand gegründet. 1984 kam Brunei Darussalam hinzu (ASEAN-5 beziehungs­ weise ASEAN-6), viel später (1995 bis 1998) dann Kambodscha, Laos, Myanmar und Vietnam (die sog. CLMV-Länder). Das Gründungsdokument von 1967, die BangkokErklärung, stellt in ihren Zielen, die in Artikel 2 niedergelegt sind, sowohl auf wirt­ schaftliche als auch auf politische Ziele ab. Es geht danach um Wirtschaftswachstum, auch Wohlstand, aber gleichrangig ist von einem Interesse an Gemeinschaft, von re­ gionalem Frieden und Stabilität sowie dem Respekt von Recht und Gerechtigkeit in den Beziehungen der Region die Rede. Tatsächlich wurde die wirtschaftliche Stärkung eher als Mittel zur Erreichung vorrangig politischer Kooperationsziele gesehen (vgl. Yeo 2010: 216): als Stabilitätsanker gegenüber einer kommunistischen Bedrohung – gerade eskalierte in Indochina der Vietnamkrieg –, als vertrauensschaffender Mecha­ nismus zwischen den Mitgliedsstaaten sowie als Möglichkeit, ein wahrnehmbares au­ ßenpolitisches Gewicht gegenüber Drittstaaten zu entwickeln. Deutlicher als im Arti­ kel 2 kommt in der Präambel der politische Primat zum Ausdruck:

ASEAN: Unvollkommenes Integrationsprogramm oder Vorreiter?

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„the countries of South East Asia share a primary responsibility for strengthening the economic and social stability of the region and ensuring their peaceful and progressive national develop­ ment, and that they are determined to ensure their stability and security from external interfe­ rence in any form or manifestation in order to preserve their national identities in accordance with the ideals and aspirations of their peoples” (ASEAN 1967).

Bezüglich der Sorge um regionalen Frieden und Stabilität sollte man sich in Erinne­ rung rufen, dass das nachkoloniale Südostasien in den 1960er Jahren keineswegs eine besonders friedliche Region war, auch jenseits des Vietnamkonfliktes. Zwar hatte es bereits Ende der 1950er Jahre Ansätze zu einer regionalen Kooperation gegeben, die Association of Southeast Asia (ASA) und Maphilindo, um Malaysia, die Philippinen und Indonesien, doch blieb eine post-koloniale Konsolidierung der Region angesichts ethnischer, religiöser aber auch wirtschaftlicher Unterschiede schwierig. Ein beson­ deres Gewicht hatte die sogenannte Konfrontasi-Politik von Indonesien, dem mit Ab­ stand größten Staat der Region, gegenüber Malaysia. Einen weiteren Konflikt gab es um Sabah im Norden der Insel Borneo zwischen Malaysia und den Philippinen. Nicht unerwähnt sollte auch bleiben, dass die Unabhängigkeit Singapurs von der malaysi­ schen Föderation im Jahre 1965, in welche die Stadt erst zwei Jahre zuvor von der briti­ sche Kronkolonie entlassen worden war, insbesondere aufgrund ethnischer Spannun­ gen zwischen malaysischen und chinesischen Bevölkerungsgruppen zustande kam. Entsprechend dieser virulenten Spannungen wurde nach vielerlei Wendungen, zu denen nicht zuletzt eine Abkehr von Konfrontasi unter dem neuen indonesischen Machthaber Soeharto gehörte, eine Form der Zusammenarbeit gewählt, die darauf ausgerichtet war, dass die Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten nie übergangen werden konnten. Dieser bald als „ASEAN Way“ bezeichnete und für die Gemeinschaft auch heute immer noch prägende Ansatz umfasst vor allem die folgenden Elemente (vgl. auch Severino 2006: 11): die Bevorzugung informeller Arrangements gegenüber formalen Abkommen, die Betonung persönlicher Beziehungen und von Peer-Mecha­ nismen gegenüber organisatorisch verfestigten Einrichtungen, eine Präferenz für Kon­ sensbildung und gemeinsame Interessen gegenüber bindenden Verpflichtungen so­ wie das Prinzip der Nichteinmischung. An dieser Stelle sollte kurz innegehalten werden. Für eine spätere Beurteilung der Frage, inwieweit die ASEAN erfolgreich war beziehungsweise ist, stellt eine zu­ treffende Charakterisierung der Ziele offenbar eine entscheidende Basis dar, wenn man im Sinne der tradierten Theorie der Wirtschaftspolitik die ASEAN vor dem Hin­ tergrund der Ziel-Mittel-Träger-Problematik interpretiert (vgl. dazu Berg/Cassel/Hart­ wig 2007). Insgesamt wäre die ASEAN von daher ein Träger, der bestimmte politi­ sche und wirtschaftliche Ziele verfolgt und dabei entsprechende Mittel beziehungs­ weise Instrumente einsetzt, zum Beispiel außenwirtschaftsorientierte Integrations­ mechanismen wie die Einrichtung einer Freihandelszone. Der ASEAN Way wäre in diesem Kontext als Verdichtung von ordnungskonformen Prinzipien und Methoden im Rahmen einer Konzeption zu denken, die das Ziel-Mittel-Träger-System der ASE­

256 | Werner Pascha

AN möglich macht. Dass oben vom Primat der politischen Ziele gegenüber den wirt­ schaftlichen gesprochen wurde, senkt natürlich die Ansprüche ab, welche von der ASEAN in ökonomischer Hinsicht zu erreichen sind und bereitet damit von vornher­ ein den Boden für eine letztlich wohlwollende(-re) Diagnose. Ist die Zuschreibung wirklich berechtigt? Tatsächlich kann man zusätzliche Evidenz anführen, dass etwa die zitierte Präambel deutlich die Positionen des im Kreise der ASEAN-Länder be­ sonders starken Indonesiens widerspiegelt, ohne welches es keine ASEAN gegeben hätte (vgl. ausführlicher Dosch 2016: 46–49). Die wirtschaftlichen Ziele dienten nicht zuletzt schon in der Anfangsphase vor allem dazu, der Gruppe Legitimität und Auf­ merksamkeit zu sichern, denn das Modell des stark von seinen wirtschaftspolitischen Integrationsschritten geprägten europäischen Einigungsweges galt als Goldstandard einer solchen Kooperation. Insoweit hatten die wirtschaftlichen Integrationsziele vor allem eine kommunikative Bedeutung, wobei neuerdings auch die politische Ökono­ mie die Bedeutung einer Kommunikationsstrategie für die Ermöglichung und Kon­ solidierung von (wirtschafts-)politischem Wandel unterstreicht (vgl. etwa Blyth 2007; Pascha 2016). Mitte der 1970er Jahre wurde das Vorhaben der ASEAN – jedenfalls, was die Rheto­ rik anbelangt – ambitionierter. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung Ostasiens, allen voran Japans, daneben auch Südkoreas und Taiwans sowie Hongkongs, drohten die Volkswirtschaften der ASEAN wirtschaftlich den Anschluss zu verlieren. Ausdruck der Neuausrichtung war der ASEAN Concord (Bali-Erklärung) von 1976, der ein halbher­ ziges Bekenntnis zu einem Präferenzraum beinhaltete: „Member states shall progress towards the establishment of preferential trading arrangements as a long term ob­ jective . . . “ (Artikel 3 ii). Im Jahr 1992 folgte dann eine Entscheidung zur Einrichtung einer ASEAN Free Trade Area (AFTA), womit man auf den EU Binnenmarkt und die Gründung der North American Free Trade Area (NAFTA) reagierte. In der Folge kam 1995 ein Rahmenabkommen zu Dienstleistungen, 1996 ein Programm für industrielle Kooperation (ASEAN Industrial Cooperation Scheme AICO) und 1998 ein Investitions­ abkommen (ASEAN Investment Area AIA) hinzu. Im politischen Bereich wurde 1994 ein ASEAN Regional Forum gegründet, und 1997 wurde im Zuge der asiatischen Fi­ nanzkrise ein Mechanismus der Einbindung der großen nordostasiatischen Staaten China, Japan und Südkorea eingerichtet, bekannt als ASEAN+3. Aus Sicht der traditionellen Stufen der wirtschaftlichen Regionalintegration ist der Entschluss, eine „Freihandelszone“ zu gründen, der zentrale Aspekt dieser Phase. Zunächst wurde dabei der Plan verfolgt, bis 2008 eine solche Zone einzurichten, aller­ dings mit vielen Ausnahmebereichen. Später wurde diese Zeitgrenze auf 2002/03 nach vorne gezogen, wobei den Neumitgliedern Kambodscha, Laos, Myanmar und Vietnam (CLMV) mehr Zeit eingeräumt wurde. Die größten Hürden in der Umsetzung bestanden darin, dass die Zollerleichterungen unter dem Common Effective Preferential Sche­ me (CEPT) mit recht umfangreichen Ausschlusslisten verbunden wurden, und zwar im Hinblick auf sogenannte temporäre, sensible und allgemeine Ausschlüsse. Dazu kam ein niedriger Nutzungsgrad des CEPT (vgl. Severino 2011: 31). Die vorrangigen

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Probleme waren ein Mangel an Bewusstheit, unklare Prozeduren insbesondere auch hinsichtlich der Zollregelungen, das Fehlen eines adäquaten Streitschlichtungsme­ chanismus und sogar Versuche eines Rücksetzens von Zusagen (vgl. Soesastro 2005; Yeo 2010). Für das Beispiel Malaysia wurde etwa geschätzt, dass der Nutzungsgrad der präferenziellen Zollsätze zwischen 2007 und 2011 nur von 8,7 auf 20,0 Prozent zu­ nahm; schließt man den Handel mit Singapur aus, das ohnehin im Wesentlichen unter der Meistbegünstigungsrate von 0 Prozent Importe zuließ, so dass kein Präferenzzoll­ satz notwendig war und ist, erhöht sich die Nutzungsrate im gleichen Zeitraum von 20,0 auf 26,2 Prozent (vgl. Faiz 2017, 126). Insgesamt lagen die anzuwendenden Import­ zölle für die Unternehmen aus den Mitgliedsländern noch im Jahre 2007 nur etwas geringer (2,7 %) als für den Export in den globalen Markt (3,6 %) (vgl. Plummer/Petri/ Zhai 2014: 15). Um das Jahr 2000 nahm die Erkenntnis zu, dass man der schnell wachsenden Wettbewerbsfähigkeit Chinas und anderer Schwellenländer mehr entgegenzusetzen hatte, um eine starke Rolle in der Region zu behalten (vgl. Ferguson 2004). Bei einer Neubesinnung spielte auch die zurückliegende asiatische Finanzkrise (1997/98) eine Rolle: Verschiedene Länder der Region hatten Anfang der 1990er Jahre bei der Erklä­ rung ihrer wirtschaftlichen Erfolge auf „asiatische Werte“ abgehoben; die Finanzkrise offenbarte allerdings, dass in den betroffenen Ländern keineswegs alles zum Besten stand. Von daher musste eine neue Erzählung gesucht werden, um die Welt vom ei­ genen Reformwillen und einer stichhaltigen Strategie zu überzogen. Dafür wiederum bot sich eine noch deutlichere Anknüpfung an den Weg der EU an, die sich zu einer immer engeren Wirtschaftsunion entwickelte. Ein zentraler Schritt war 2003 die Verabschiedung eines Bali Concord II, der die Verfolgung einer „ASEAN Economic Community” (AEC) als Ziel ausrief, welche auf drei Säulen beruhen sollte, einer wirtschaftlichen, einer Sicherheits- sowie einer so­ zio-kulturellen Gemeinschaft. 2007 wurde dies weiter konkretisiert in einer Vision 2020 und einem AEC Blueprint for 2015, mit den Zielen eines Gemeinsamen Binnen­ marktes, einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft, Verteilungsgerechtigkeit und der In­ tegration in die globale Wirtschaft. 2009/2010 folgte schließlich ein Trade in Goods Agreement (ATIGA), welches das CEPT in verschiedener Hinsicht weiterentwickelte und verschiedene frühere Vereinbarungen zusammenführte. Einzelne Ziele wurden sehr ambitioniert formuliert, so etwa die Freiheiten, die im Rahmen des Binnenmarkt­ ziels als Unterziele genannt wurden (vgl. Tabelle 1). Bei einem Seitenblick auf die EU war klar, dass ein solcher Ehrgeiz höchstens dann realistisch sein konnte, wenn man bereit war, sich zukünftig stärker an verbind­ liche Regeln und Verpflichtungsmechanismen zu halten. Ergebnis solcher Überlegun­ gen war 2008 die Verabschiedung einer ASEAN Charter. Vor allem ging es um die Stär­ kung organisatorischer Mechanismen als „Anker“ einer verbindlicheren Umformung des traditionellen ASEAN Way. Elemente waren eine Stärkung des ASEAN Sekreta­ riats, eine permanente Vertretung der Mitgliedsländer am Sitz der ASEAN in Jakarta, die Einrichtung von hochrangigen Panels für Menschenrechtsfragen sowie für ein Fol­

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Tab. 1: Die vier Säulen der ASEAN Economic Community nach dem Blueprint von 2008 (Quelle: Eigene Übersetzung vom Verfasser nach ASEAN Secretariat 2015: 5). Erste Säule: Gemeinsamer Markt und Produktions­ basis

Zweite Säule: Wettbewerbsfähige Wirtschaftsregion

– – – – – – –

– – – – – –

Freier Güterverkehr Freier Dienstleistungsverkehr Freier Investitionsverkehr Freier Kapitalverkehr Freie Mobilität für ausgebildete Arbeitskräfte Prioritäre Sektoren für Integration Lebensmittel, Land- und Forstwirtschaft

Wettbewerbspolitik Konsumentenschutz Geistige Eigentumsrechte Infrastrukturentwicklung Besteuerung Internethandel

Dritte Säule: Faire Einkommensentwicklung

Vierte Säule: Integration in die globale Wirtschaft

– Entwicklung von Klein- und Mittelunternehmen – Initiative für ASEAN-Integration

– Kohärenter Ansatz für die Außenwirtschaftsbeziehungen – Ausgebaute Beteiligung an globalen Beschaffungsnetzwerken

low-up der Umsetzung der Charter, einschließlich von Schritten in Richtung institu­ tionalisierter Streitschlichtung (aus dem Statement on the ASEAN Charter 2008). Trotz dieser Verstetigungsversuche überwog schnell eine Skepsis gegenüber der Charter, die etwa der einflussreiche indonesische Politiker Jusuf Wanandi als „mediocre do­ cument“ brandmarkte. Der Hauptgrund solcher Enttäuschungen bestand darin, dass immer noch Nichteinmischung und Konsens betont wurden, nicht compliance im Sin­ ne der vereinbarungsgetreuen Umsetzung bindender Beschlüsse (vgl. Phan 2014; so­ wie insbesondere auch Artikel 2 (2) und Artikel 20 (1) der Charter). Ende 2015 wurde die Einführung der AEC offiziell als erfolgreich beendet gemel­ det. Das bedeutet allerdings nicht, dass die ausformulierten Ziele vollständig umge­ setzt wurden. Vielmehr blieb man beispielsweise weit hinter den fünf Freiheiten des Gemeinsamen Binnenmarktes der EU zurück, jedenfalls, wenn man diese wörtlich nimmt. Masahiro Kawai, langjähriger Dean des Asian Development Bank Institute und damit der Idee einer Regionalintegration in Ostasien mit Sympathie zugeneigt, kam 2016 beispielsweise zu einer recht ernüchternden Evaluierung der AEC (vgl. Tabelle 2). Mit dem Abschluss des AEC-Projektes 2015 wurde im gleichen Jahr bereits ein AEC 2025 Blueprint vorgelegt, mit dem für die nächsten zehn Jahre weitere Integrations­ schritte angekündigt wurden. Danach sollen insbesondere die folgenden fünf Cha­ rakteristika der AEC gestärkt und gefestigt werden (vgl. ASEAN 2018a: 1): 1. Eine hochintegrierte und –kohäsive Wirtschaft, 2. Eine wettbewerbsfähige, innovative und dynamische ASEAN, 3. eine verbesserte Konnektivität und sektorale Zusammenarbeit, 4. eine widerstandsfähige, inklusive und am Menschen orientierte ASEAN sowie 5. eine globalisierte ASEAN.

ASEAN: Unvollkommenes Integrationsprogramm oder Vorreiter?

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259

Tab. 2: Grundlegende Eigenschaften der AEC im Vergleich zur TPP und der EU (Quelle: Eigene Übersetzung nach Kawai 2016: 9). Erläuterung: ↑ voll beziehungsweise weitgehend enthalten, → teilweise enthalten, ↓ nicht einge­ schlossen.

Abschaffung von Zöllen Abschaffung von nicht-tarifären Handelshemmnissen Handelserleichterung Liberalisierung des Dienstleistungshandels Liberalisierung von Investitionen Liberalisierung der Mobilität von ausgebildeten Arbeitskräften Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens Zollunion Gemeinsame Währung

AEC

TPP

EU

↑ → → → → → ↓ ↓ ↓

↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↓ ↑ ↓ ↓

↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑

Dem Blueprint folgte 2017 ein hochdifferenzierter Consolidated Strategic Action Plan, der an die Terminologie entsprechender EU-Dokumente erinnert. Der ASEAN Econo­ mic Community 2025 CSAP, in seiner Aktualisierung von 2018, enthält auf 54 Sei­ ten insgesamt 153 Strategische Maßnahmenbereiche, die den oben angegebenen fünf Charakteristika zugeordnet sind. Zum 3. Charakteristikum (Konnektivität) wurde bei­ spielsweise der Bereich C1 (Verkehr) zugeordnet. Der Strategische Maßnahmenbereich 74 widmet sich dabei dem landbezogenen Verkehr. Als „key action lines“ werden in diesem Kontext sieben konkrete Vorhaben genannt, etwa die Vollendung der fehlen­ den Verbindungsstücke der Singapur-Kunming Schienenverbindung (Kunming ist ei­ ne Stadt in Südchina, so dass das Vorhaben die Verbindung der wichtigsten Regio­ nen Indochinas bis nach Singapur einerseits und Südchina andererseits umfasst). Genannt werden auch Termine, im Falle des Bereichs 74 recht allgemein 2016–2025, wobei auf die Kuala Lumpur Verkehrsstrategie für 2016–2025 und die zeitlichen Mei­ lensteine für die einzelnen Initiativen verwiesen wird. Als maßgebende Steuerungs­ einrichtung für den Bereich 74 wird das ASEAN Senior Transport Officials Meeting ge­ nannt. Ist man der Rhetorik der ASEAN gefolgt, dass die ASEAN Economic Communi­ ty 2015 vollendet wurde, so verwundert es, dass ein solch umfangreiches Programm mit dem Endpunkt 2025 überhaupt noch notwendig sein sollte. Das Institute for De­ mocracy and Economic Affairs in Kuala Lumpur hat Ende 2018 eine Gesamtübersicht erstellt, inwieweit die Charakteristika des 2025 Blueprint umgesetzt sind. Selbst für das Charakteristikum 1, den hochintegrierten und –kohäsiven Wirtschaftsraum, der am ehesten den frühen und damit den schon am längsten verfolgten integrationspoli­ tischen Bemühungen der ASEAN entspricht, wird nur ein Implementierungsgrad von 11 % für „voll“ angegeben, 18 % für teilweise und bei 71 % sei keine Evidenz ersicht­ lich. Innerhalb des Aufgabenbereichs des Charakteristikums 1 kann am ehesten ei­ ne Kohäsion im Feld des Güterhandels konstatiert werden (39 % voll, 23 % teilweise, 38 % nicht ersichtlich) (vgl. Menon, Todd/Arujunan 2018: 11–12). Die Zollsätze sind

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dabei nicht mehr das Problem. Schon 2012 wiesen 96 Prozent der Zollkategorien un­ ter dem ATIGA-Schema für 2016 einen Zollsatz von 0 auf. Gerade die entwickelteren Länder der Region hatten dabei höhere Anteile, Singapur wie schon erwähnt 100 %, aber auch Thailand zum Beispiel 99,85 Prozent. Im Durchschnitt der ASEAN-6 waren es 99,20 Prozent, bei den CLMV-Ländern entsprechend weniger, um 90 bis 92 Prozent (zitiert nach Daten des Ministry of International Trade and Industry von Malaysia). Hierbei ist allerdings zu beachten, dass sich diese hohen Anteile auf den Anteil des Handels beziehen, der von ATIGA erfasst wird; für den Gesamthandel der ASEAN-Län­ der untereinander waren die Anteile niedriger, vor allem wegen der CLMV-Länder: im Jahre 2012 74,2 % für ASEAN insgesamt, dabei im Falle der CLMV noch unter 50 % (vgl. Dosch 2016: 115–116). Das Problem sind also die nicht-tarifären Handelshemmnisse in ihren verschie­ densten Formen. Manche Bereiche der ASEAN sind offenkundig hoch integriert und offen. Als Beispiel mag der Überseehafen von Singapur gelten. In anderen Regionen sind den faktischen Möglichkeiten eines intensiven wirtschaftlichen Austauschs noch sehr enge Grenzen gesetzt. Ein Beispiel mag an dieser Stelle genügen, um die Defizite zu illustrieren. Viele japanische Produktionsunternehmen haben sich in Thailand und insbesondere in der Region Bangkok niedergelassen, um die dortigen komparativen Vorteile für ihre international ausgerichteten Güterketten, aber auch für die dortigen Märkte zu nutzen. Dabei ist auch eine Einbindung Kambodschas nicht unattraktiv, da einfache Wertschöpfungsschritte unter den dortigen günstigen Kostenbedingungen erfolgen können. Der Nahrungsmittelhersteller Ajinomoto lässt zum Beispiel Produk­ te in Kambodscha portionieren und entsprechend verpacken. Am ersten Tag verlassen die Produkte die thailändische Fabrik auf dem Landweg, werden am 2. Tag vormittags an der Grenze auf andere Laster verladen, kommen um Mitternacht dieses Tages in der Sonderwirtschaftszone an und können dann erst am dritten Tag umgepackt und zollmäßig behandelt werden (vgl. Nakabayashi 2018, 110). Die OECD (OECD Development Centre 2018, 19–23) stellt eine ganze Reihe von ak­ tuellen Aufgabenstellungen hinsichtlich einer weiteren Vertiefung der ASEAN-Regio­ nalintegration heraus: Bezüglich des Handels von Gütern und Dienstleistungen blei­ be als zentrale Aufgabe eine weitere Liberalisierung des noch eher verschlossenen Dienstleistungssektors, auch wenn es hier einzelne Fortschritte etwa bei Luftverkehrs­ diensten gibt. Ein Rahmenabkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Qualifi­ kationen müsse weiter gestärkt werden. Angesichts der intraregionalen Interdepen­ denzen seien die Felder Wettbewerbspolitik und Konsumentenschutz besser zu ver­ zahnen, wobei es Ansätze bei noch sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in den verschiedenen Mitgliedsländern gibt. Eine Rahmenvereinbarung für die Region steht noch aus. Weiterer Handlungsbedarf wird auch in den Feldern des Schutzes der geis­ tigen Eigentumsrechte gesehen, im Bereich von Infrastruktur und Konnektivität – bei­ spielsweise im Hinblick auf beschränkte Hafenkapazitäten –, bei der Unterstützung von Klein- und Mittelunternehmen bezüglich ihrer Einbindung in globale Wertschöp­ fungsketten, in den Sektoren Landwirtschaft, Energie und Tourismus sowie bei der sozialen Entwicklung beziehungsweise der Überwindung von Armut.

ASEAN: Unvollkommenes Integrationsprogramm oder Vorreiter?

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261

3 Die Beteiligung der ASEAN an Freihandelsabkommen in der Region Eine weitere Dimension der Entwicklung der ASEAN als wirtschaftlicher Integrati­ onsraum betrifft die Einbindung in internationale Handelsabkommen. Während die Weltwirtschaft bis zum Abschluss der Uruguay-Runde des GATT Mitte der 90er Jahre durch eine markante Liberalisierung des multilateralen Handels geprägt war, stagnie­ ren weitere Fortschritte einer Handelsliberaliserung und -erleichterung auf WTO-Ebe­ ne bekanntlich (als Einstieg in diese Debatte: Baldwin 2016). Die Konsequenz war eine markante Zunahme bilateraler Freihandelsabschlüsse. Das Geflecht aus Präferenzen wurde dadurch immer unübersichtlicher, was von Richard Baldwin mit dem Begriff der „Spaghettischale“ anschaulich gemacht wurde. Eine Konsequenz war die Suche nach sogenannten Megadeals auf der Ebene von Großregionen oder im interregiona­ len Zusammenhang. Wie hat sich die ASEAN in diesem Kontext aufgestellt? Während Nordostasien, also insbesondere die Ländergruppe China, Japan und Südkorea, nicht zuletzt auf­ grund immer wieder aufflackernder politischer Spannungen nur wenige Abkommen untereinander eingegangen sind, hat die ASEAN-Gruppe Freihandelsvereinbarungen mit allen drei abgeschlossen (vgl. Tabelle 3). China unterbreitete zunächst 2000 sei­ nen Vorschlag, wobei die Vereinbarung zuerst in Stufen von den ASEAN-6 eingerichtet und später auf die neueren CLMV-Mitglieder ausgeweitet wurde. 2002 folgte Japan mit einem eigenen Vorschlag, wobei offenkundig das Motiv mitschwang, gegenüber China nicht ins Hintertreffen hinsichtlich der regionalen Einbindung zu geraten. Wenn die Initiative auch von den größeren Ländern ausging, hat sich die ASEAN doch als ko­ operativer Partner erwiesen, der sich damit zu einem wichtigen Knotenpunkt der wirt­ schaftlichen Beziehungen in der Region entwickelt hat. Dieses Muster ist auch bei an­ deren wirtschaftlichen Kooperationsvereinbarungen zu beobachten: Der am weites­ ten ausgebaute monetäre Mechanismus in der Region ist der Stabilitätsmechanismus des Chiangmai-Abkommens in der Region ASEAN+3, das im Wesentlichen multilate­ ralisierte Währungsswap-Zusagen für den Fall von Währungs- und Finanzkrisen mit einem Gesamtvolumen von 240 Milliarden US-Dollar in Aussicht stellt (vgl. Pascha Tab. 3: Freihandelsabkommen in Ostasien mit Jahr des Inkrafttretens (Quelle: FTA Database der WTO; Aufbereitung vom Verfasser). China China Japan Südkorea ASEAN

Japan



Südkorea

ASEAN

2015

2005 2008 2010 1993

– 2015 2005

2008

– 2010

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2014). Auch hier ist die ASEAN zentraler Anker (und potenzieller Hauptnutznießer) dieses Abkommens, dessen einzige Einrichtung, das Forschungsinstitut AMRO (ASE­ AN+3 Macroeconomic Research Office) mit seiner Zuständigkeit für monitoring- und compliance-Fragen, seinen Sitz in Singapur hat. Wenn ASEAN auch als zentraler Anknüpfungspunkt für regionale Wirtschaftsin­ tegration in der Region Ostasien gelten kann, so muss dieser Befund doch in mehr­ facher Hinsicht qualifiziert werden. Zunächst einmal konnte ASEAN unter anderem deshalb schon früh eine ganze Reihe von Freihandelsabkommen abschließen, weil diese Vereinbarungen selber relativ flach ausgestaltet sind. Dahinter wiederum stand die Befürchtung vieler Mitgliedsländer, wirklich tiefen Abkommen hinsichtlich ih­ rer Wettbewerbsfähigkeit nicht gewachsen zu sein. Da die ASEAN im Wesentlichen zwischenstaatlichen Charakter hat, orientieren sich entsprechende Vereinbarungen von daher in der Regel am kleinsten gemeinsamen Nenner. Auswirkungen hat das beispielsweise auf die wie erwähnt zumeist unbefriedigend niedrige Nutzungsrate der entsprechenden Abkommen. Ein anderer Effekt dieser Disposition bestand darin, dass es bis heute nicht zu einem EU-ASEAN Freihandelsabkommen gekommen ist. Ursprünglich hatte die EU vor, mit der ASEAN-Gruppe eines der ersten Abkommen „der neuen Generation“ abzuschließen, mit denen man über die traditionell rela­ tiv einfach am Güterhandel orientierten Handelsabkommen hinaus vorstoßen wollte. ASEAN galt dabei als attraktiver Partner, zumal die EU und ASEAN sich als kongeniale Integrationsräume sehen. Als die ASEAN sich jedoch nicht auf ein solch vertieftes Ab­ kommen einlassen wollte, wurde das ganze Vorhaben eines Freihandelsabkommens 2009 auf Eis gelegt. 2017, als die EU erneut Vorstöße unternahm, kam es trotzdem nicht zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen. Angesichts der seichten Ausgestaltung der meisten Handelsabkommen auf ASEAN-Ebene ist es nicht verwunderlich, dass die Mitgliedsländer auch eigene bi­ laterale Abkommen unterhalten, sogar mit Partnern, mit denen auch auf ASEANEbene entsprechende Abkommen bestehen (vgl. Tabelle 4). Den Spaghetti-Effekt intransparenter Strukturen und damit hoher Transaktionskosten der eigentlich als Liberalisierung gedachten Vereinbarungen verstärkt das nicht unerheblich. Für Mitgliedsländer, die stärker von der Dynamik der internationalen Arbeitstei­ lung und der Einbindung in transnationale Wertschöpfungsketten profitieren wollen, ergibt sich immerhin die Möglichkeit, durch eigene, vertiefte Handelsabkommen zu­ sätzliche Schritte in diese Richtung zu gehen. Für Vietnam ist das etwa eine Option: Es erlebt einen deutlichen Zustrom ausländischer Direktinvestitionen und könnte durch ein tief angelegtes EU-Vietnam Freihandelsabkommen weitere markante Vorteile er­ zielen (vgl. Berger 2016). Durch solche tief angelegten Abkommen wird allerdings die Kohäsion der Mitgliedsländer zunehmend in Frage gestellt. Diese Kohäsion innerhalb der ASEAN wird durch eine weitere Entwicklung her­ ausgefordert, nämlich die Dynamik von sogenannten Mega-Handelsabkommen. Dies­ bezüglich geht es in der Region Asien-Pazifik vor allem um zwei Abkommen, zum einen das 2019 in Kraft getretene Comprehensive and Progressive Agreement for

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Tab. 4: Freihandelsabkommen der ASEAN und einzelner Mitgliedsländer, Stand Mai 2019 (Quelle: FTA Database der WTO; Aufbereitung vom Verfasser).

ASEAN Brunei Kambodscha Indonesien Laos ( * ) Malaysia Myanmar Philippinen Singapur Thailand ( * ) Vietnam *

Freihandelsabkommen

. . . davon mit Ländern, mit denen auch die ASEAN ein Abkommen unterhält

5 1 0 1 1 7 0 2 15 6 4

— 1 0 1 1 4 0 1 6 4 2

inklusive Laos-Thailand Abkommen.

Trans-Pacific Partnership (CPTPP) sowie den Vorschlag eines Regional Comprehen­ sive Economic Partnership (RCEP). Das RCEP steht seit längerer Zeit als Handelszu­ sammenschluss der drei großen Volkswirtschaften Nordostasiens, also Chinas, Japans und Südkoreas, der ASEAN-Länder und von Indien, Australien sowie Neuseeland im Raum. Formal wurden die Verhandlungen 2012 aufgenommen, und die ASEAN-Län­ der gelten als Triebkraft hinter dem Vorschlag, auch wenn sich die Idee, teils unter anderen Namen, letztlich auf japanische Vorschläge zurückführen lässt. Angesichts der großen Heterogenität der Länder stand und steht ein eher schwach ausgelegtes Abkommen zur Diskussion, wie es auch der Interessenlage der ASEAN entspricht. Trotzdem kommen die Verhandlungen nicht recht voran, da die nationalen Interes­ sen schwer zu vereinbaren sind (Cook 2019). Anfang 2019 ist nach Berichten erst die Hälfte der Kapitel des vorgesehenen Vertrages ausverhandelt. Ein alternatives Konzept stellt das Trans-Pacific Partnership dar, das ursprüng­ lich 2006 von den Ländern Brunei, Chile, Singapur und Neuseeland in Angriff genom­ men wurde: Durch ein tief angelegtes Abkommen wollten sich diese im Grunde klei­ nen Volkswirtschaften Vorteile im internationalen Handel durch eine überzeugende Clublösung sichern. Später hatten sich die USA zu einem Wortführer dieser zwischen­ zeitlich auf zwölf Interessenten angewachsenen Gruppe gemacht, während China zu­ nehmend zum Taktgeber des alternativen RCEP-Abschlusses wurde. Dahinter standen zum einen rivalisierende Machtansprüche, aber auch die unterschiedlichen Konzepte einer eher flachen oder vertieften regionalen beziehungsweise trans-regionalen Inte­ gration. Als TPP Anfang 2016 ausverhandelt war, war es eine der ersten Amtshandlun­ gen des neu gewählten US-Präsidenten Trump, die Zustimmung zur Beteiligung der USA zurückzuziehen. Letztlich kam eine reduzierte TPP-11 (formal: CPTPP) auf Betrei­ ben Japans zustande, die Anfang 2019 in Kraft trat.

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An diesen Entwicklungen ist verschiedenes bemerkenswert: Realisiert ist bisher nur das TPP-11 Konzept, nicht das RCEP-Konzept, bei dem die ASEAN einer der Haupt­ treiber war. Bei TPP-11 sind bisher nur vier ASEAN-Mitglieder involviert: Brunei, Ma­ laysia, Singapur und Vietnam. Beim zentralen realisierten Integrationsansatz der wei­ teren Region ist die ASEAN also gespalten, wobei das von der Gruppe vorangetriebene Konzept des RCEP nicht recht vorankommt und von China für seine Ambitionen in­ strumentalisiert wird. Die früheren Erfolge, ASEAN als zentrale Anlaufstelle für wirt­ schaftliche Abkommen in der erweiterten Region zu positionieren, hat damit in der jüngsten Vergangenheit einen markanten Dämpfer erhalten.

4 Stand der erreichten ASEAN-Integration In einem zweiten Schritt soll gefragt werden, welchen Stand die Regionalintegration sowie die wirtschaftliche Entwicklung in der ASEAN inzwischen erreicht hat. Zu­ nächst ist es sinnvoll zu fragen, wie es um den organisatorischen Stand der ASEAN bestellt. Daraus ergeben sich offenbar Erwartungen für die Chancen und möglichen Grenzen einer weiteren Zusammenarbeit. Auf die sicherheitspolitische sowie auf die sozio-kulturelle Integration kann abschließend nur knapp eingegangen werden.

4.1 Stand der organisatorischen Integration Oberstes Organ der Staatengemeinschaft sind die zweimal jährlich stattfindenden Gipfeltreffen (zu den Details: ASEAN 2008), die zumeist im Zusammenhang mit an­ deren hochrangigen Treffen abgehalten werden. Von besonderer Bedeutung sind etwa die jährlichen ASEAN+3-Gipfel mit China, Japan und Korea. Neben den Gipfeln gibt es weitere Gremien wichtiger Minister, insbesondere den Koordinierungsrat der Außenminister, Komitees hochrangiger Beamter und darüber hinaus über hundert Arbeitsgruppen. Man darf mittlerweile von circa 1100 entsprechenden Sitzungen im Jahr ausgehen. Der Vorsitz der ASEAN wechselt jährlich. Zusammengehalten wird dieser komplexe Prozess durch ein Sekretariat in Jakar­ ta, das von einem Generalsekretär geleitet wird. Er wird auf fünf Jahre ohne Wieder­ wahlmöglichkeit gewählt. Am Sitz des Sekretariats sind permanente Repräsentanten der Mitgliedsländer angebunden. Die Kompetenzen des Sekretariats und alleine sei­ ne kapazitativen Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Es muss mit etwa 300 Mitarbeitern auskommen und hat ein allgemeines Budget von nur gut 10 Millionen USD zur Verfü­ gung, das in gleichen Teilen von den Mitgliedern aufgebracht wird. Für Sonderprojek­ te werden weitere Mittel verfügbar gemacht. Oft kommen sie von außen; so fördert die EU maßgeblich den institutionellen Kapazitätsaufbau in der ASEAN. Man kann der ASEAN nachgerade eine besondere Effizienz bei der Akquirierung auswärtiger Mittel zusprechen.

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Offenkundig ist der intergouvernementale Charakter der ASEAN immer noch stark und fest in den Strukturen verankert. Die Möglichkeiten des Generalsekretärs, der zen­ tralen Administration ein größeres Eigengewicht zu verleihen, sind eng begrenzt. Ein Begriff wie „soft institutionalism“ (Dosch 2006) ist kaum fehl am Platze. Bezüglich der Entscheidungsmechanismen ist das Konsensprinzip zentral im Ar­ tikel 20 als Absatz 1 der Charter von 2008 verankert: „As a basic principle, decisionmaking in ASEAN shall be based on consensus and consultation“. Zweifelsfälle der Auslegung der Charter werden an den ASEAN Summit verwiesen. Für Dispute ist die Möglichkeit eines Schiedsverfahrens durch die Charter vorgesehen (Artikel 22 bis 26), wobei es bereits frühere Ansätze in diese Richtung gab, so die Idee einer „ASEAN Troi­ ka“ für besondere Krisenfälle (vgl. Dosch 2016: 64). Dieser Weg wurde aber noch nicht beschritten, zumal er nicht stark sanktionsbewährt ist. So ist zwar bezüglich der com­ pliance in Bezug auf Schiedsgerichtsentscheidungen eine Berichterstattung durch das Sekretariat vorgesehen (Artikel 27), doch können kritische Fälle hier letztlich wieder nur an den Summit verwiesen werden (vgl. zur compliance auch Phan 2014). Gerard (2018) geht von daher davon aus, dass die Änderungen letztlich nur in einem neuen branding bestanden hätten, um das Vertrauen der Investoren zu stärken, dass aber kein substanzieller Wandel zu einer rule of law eingetreten sei. Die Möglichkeit beziehungsweise die Drohung mit einem Exit ist ebenfalls be­ grenzt. Explizite Regelungen dazu gibt es in der Charter nicht. Beobachter gehen davon aus, dass ein Exit von einem austrittswilligen Land relativ einfach und schnell vollzogen werden könnte (Chalermpalanupap 2016). Die Effekte wären aber wahr­ scheinlich begrenzt und nicht mit einschlägigen Brexit-Szenarien vergleichbar, so­ wohl für die ASEAN wie für das Land. In wirtschaftlicher Hinsicht unterscheiden sich die WTO-Meistbegünstigungszollsätze ohnehin nicht sehr markant von den Präfe­ renzzöllen der ASEAN, zumal letztere nicht stark genutzt werden. Politisch ist die Assoziierung der Bevölkerung mit der ASEAN nicht hoch, so dass auch von dort kei­ ne großen Schockwellen zu erwarten sind. Für den Fall eines „serious breach“ der ASEAN-Charter sieht die Charter in Artikel 20 Absatz 4 eine Befassung des Summit mit dieser Problematik vor, auch hier allerdings ohne konkrete Szenarien, was dann passieren könnte. Im Wesentlichen hält die ASEAN von daher durch Reputations- und längerfristige Peer-Prozesse zusammen, auch wenn dies mangels klar definierter Sanktionsnormen kaum eine Basis für die Bereitschaft sein kann, sich auf fest vereinbarte, gegebenen­ falls schmerzhafte Regeln einzulassen beziehungsweise diese zu befolgen. Das Kon­ sensprinzip kann in diesem Zusammenhang allerdings nicht einfach mit einer VetoPosition für jedes Mitgliedsland gleichgesetzt werden. Vielmehr darf man davon aus­ gehen, dass sich über längere Teilhabeprozesse bestimmte Sichtweisen als gangbar und zumutbar erweisen, die dann konsensuale Entscheidungen ermöglichen. Dabei spielt eine Rolle, dass die Beteiligten bei diesen Diskussionsprozessen auf traditionel­ le soziale Muster der Interaktion in Südostasien zurückgreifen können, denen sie sich dann in der Auseinandersetzung mit konträren Positionen auch kaum entziehen kön­

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nen. Insbesondere werden dabei immer wieder die indonesischen Konzepte musyawa­ rah und mufakat (Erwägung und Konsens) genannt (zum Beispiel Mahbubani/Seve­ rino 2014). Diese konstruktivistische Betrachtung des Potenzials von Konsensfindung ist einer empirischen Prüfung schwer zugänglich, erscheint aber nicht unplausibel. Bei alldem ist nicht ausgeschlossen, dass es hinter verschlossenen Türen auch einmal zu Abstimmungen kommen kann, wie Insider berichten (Severino 2011), oder dass es zuweilen auch zu einer „ASEAN-minus-X“-Lösung kommen kann, um bei einigen Ge­ staltungsfragen voranzukommen (vgl. Stubbs 2019: 13).

4.2 Stand der wirtschaftlichen Integration Insgesamt gehören die ASEAN-Länder zu den Top-Performern unter den Entwick­ lungs- beziehungsweise Schwellenländern (vgl. Tabelle 5). Im Durchschnitt der Jahre 2010–17 lag das durchschnittliche Wirtschaftswachstum im ASEAN-Raum bei gut fünf Prozent, wobei die CLMV-Länder noch etwas besser abschnitten. Die Unterschiede in der Höhe des Pro-Kopf-Einkommens und bezüglich der absoluten Größe der Volks­ wirtschaft sind aber nach wie vor sehr markant (vgl. Tabelle 5). Die Divergenz in den Pro-Kopf-Einkommen scheint fortzubestehen. Inwieweit hat die Regionalintegration zu der insgesamt so erfolgreichen Wachs­ tumsstory der Region beigetragen? Es reicht offenbar nicht, einen zeitlichen Zusam­ menhang zwischen den Regionalisierungsschritten und den Wachstumsraten der ASEAN nachzuweisen. Viele andere Faktoren könnten zur wirtschaftlichen Perfor­ mance der einzelnen Volkswirtschaften beziehungsweise der Region kausal beigetra­ gen haben. Eine ganze Reihe von empirischen Beiträgen geht dieses Zuschreibungs­ Tab. 5: Wirtschaftliche Eckdaten der ASEAN-Mitglieder (Quelle: ASEAN 2018b: 43 und 45). Mitgliedsland

BIP in Millionen USD (2017)

BIP pro Kopf in USD (2017)

durchschn. Wachstum des BIP (2010–2017) in %

Brunei Indonesien Kambodscha Laos Malaysia Myanmar Philippinen Singapur Thailand Vietnam ASEAN ASEAN-6 CLMV

12.212 1.013.926 22.340 17.090 317.252 65.607 313.875 323.954 455.704 223.837 2.765.798

28.986 3.872 1.421 2.531 9.899 1.229 2.992 57.722 6.736 2.390 4.308

−0,2 5,5 7,1 7,5 5,2 7,0 6,2 3,9 3,1 6,1 5,2 5,0 6,5

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problem an. Die Einschätzungen liegen zum Teil deutlich auseinander, was an un­ terschiedlichen Modellen, Variablenspezifizierungen, an der Auswahl untersuchter Länder und Zeiträume sowie an auftretenden Kollinearitätsproblemen liegt. In der Summe sehen die meisten Studien jedoch einen positiven kausalen Zusammenhang von regionaler Integration und wirtschaftlichem Erfolg als belegbar an. Balasubra­ miam et al. (2016) kommen für die ASEAN-5, für den langen Zeitraum von 1980 bis 2009, zu einem positiven Outputeffekt der Handelsintegration, allerdings unter einem Prozent. Öncel und Lubis (2017) identifizieren für einen ähnlichen Zeitraum ebenfalls einen signifikant positiven Effekt, allerdings nur nach Einrichtung der AFTA, was plausibel ist. Plummer et al. (2014) errechnen für ein Zukunftsszenario im Jahre 2025, bezogen auf das Basisjahr 2007, sogar ein reales Einkommenswachstum von 8 %, wobei die Rechnung allerdings deutlich von der Wahl des Basisjahrs abhängt. Al­ len solchen Berechnungen ist gemein, dass die indirekten Effekte der ASEAN nur unzureichend erfasst werden können. Die Ermöglichung relativer politischer Stabili­ tät in einer eigentlich unruhigen Region mit vielen ethnischen, nationalen, weltan­ schaulichen und religiösen Spannungen über mehrere Jahrzehnte hat gewiss zu einer positiveren Haltung bezüglicher marktwirtschaftlicher Möglichkeiten beigetragen, die dann über entsprechende Wirtschaftspolitiken nutzbar gemacht werden konnte. Diese Effekte werden durch Dummy-Variablen oder ähnliche Versuche der Berück­ sichtigung der ASEAN-Zugehörigkeit tendenziell unterschätzt, da das counterfactual, eine alternative Entwicklung der Region, die ohne Integration wahrscheinlich sehr viel unruhiger verlaufen wäre, nicht beobachtbar ist. Die erwähnten Differenzen innerhalb der ASEAN wirken sich markant auf die Le­ bensumstände der Bevölkerung aus. Bezüglich des bekannten Konzeptes des Human Development Indexes liegt der Stadtstaat Singapur bei über 0,9 und damit in der glo­ balen Spitzengruppe, während Kambodscha, Laos und Myanmar höchstens die Re­ gion um 0,6 erreichen. Bezüglich der absoluten Armut (Anteil der Bevölkerung unter 1,90 USD pro Tag) streuen die Länder ebenfalls markant: Kambodscha 2,2 %, Indone­ sien 6,5 %, Laos 22,7 %, Malaysia 0,1 %, Myanmar 6,4 %, Philippinen 8,3 %, Thailand 0,04 % und Vietnam 2,0 % (vgl. ASEAN 2018b: 261). Hinsichtlich des Außenhandels haben die Güterexporte der ASEAN zwischen 2010 und 2017 von 714 auf 973 Milliarden USD zugenommen, was Ausdruck der ein­ drucksvollen Beteiligung der ASEAN-Länder an der weltwirtschaftlichen Arbeitstei­ lung in den zurückliegenden Jahren ist. Setzt man den gesamten Warenaußenhandel der Gruppe (Exporte plus Importe) im gleichen Zeitraum in Bezug zum Intra-ASEANHandel, so hat sich der Anteil des letzteren von 25,1 % auf 22,9 % verringert, was zunächst überraschen mag. Die gleiche Tendenz gilt auch für den Dienstleistungs­ handel, dessen Intra-Anteil von 18,4 % auf 16,5 % zurückging, und für die Direktin­ vestitionen, wenn auch im verringerten Maße (20,1 % auf 19,4 %) (vgl. Menon et al. 2018: 8). Diese Entwicklungen sind in zweierlei Hinsicht ausdeutbar: Zum einen könnte man argumentieren, dass die Dynamik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit inner­

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halb der ASEAN-Gruppe nur schwach ausgeprägt sei und der sinkende Anteil des intraregionalen Wirtschaftsaustauschs auf diese Weise zustande komme. Zum ande­ ren könnte man aber auch vermuten, dass durch die wirtschaftliche Regionalintegra­ tion eine bessere, an den tatsächlichen Knappheiten orientierte Arbeitsteilung zwi­ schen den ASEAN-Ländern möglich geworden ist. Dadurch haben die ASEAN-Länder dann besser am weltwirtschaftlichen Austausch teilnehmen können, was sich im ge­ stiegenen Anteil des extraregionalen Anteils beim Handel und bei den Investitionen niederschlage. Calvo-Pardo et al. (2009) können für den Zeitraum von 1992 bis 2007 belegen, dass Zugeständnisse in den intraregionalen Präferenzzöllen weiteren multi­ lateral angelegten Reduzierungen der Meistbegünstigungszollsätze vorausgehen. Sie finden auch Evidenz für die These, dass dies kausal sei, und schließen daraus, dass die ASEAN-Integration eine Kraft zugunsten einer breiteren, global orientierten Libe­ ralisierung sei. Dies stärkt also die obige zweite Interpretation und ist auch kongruent mit der Eigenwahrnehmung der ASEAN: ASEAN betreibt demnach eine Strategie, die man als „außenorientierte Regionalintegration“ bezeichnen kann. Dass der Anteil der intraregionalen Wirtschaftsbeziehungen bei einer insgesamt deutlichen Zunahme der internationalen Aktivitäten nicht steigt, ist demnach nicht als problematisch anzuse­ hen. In diese Überlegung passt, dass die Präferenzzölle innerhalb der ASEAN nicht zu einem Rückgang der Importe geführt haben (vgl. Calvo-Pardo et al. 2009).

4.3 Stand der sicherheitspolitischen und sozio-kulturellen Integration Hinsichtlich der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit der ASEAN, einem der drei Eckpfeiler des Bali Concord II von 2003, sind insbesondere auf der organisatorischen Ebene einige Erfolge zu verzeichnen (vgl. Baviera 2017). Schon 1994 war es zur Grün­ dung des ASEAN Regional Forum (ARF) gekommen, das der politischen und insbeson­ dere auch sicherheitspolitischen Konsultation sowie dem Dialog in der Region die­ nen soll. Meilensteine sind auch das ASEAN Defence Ministers Meeting (ADMM) ab 2006, dem allerdings andere entsprechende Ministergremien beigeordnet sind, und das ADMM Plus-Format, das 2010 erstmals tagte und wichtige Dialogpartner der Re­ gion einschließt. In substanzieller Hinsicht sind Erfolge der sicherheitspolitischen Zusammenar­ beit schwerer zu belegen. Wo größere Spannungen zutage traten, erscheint die Rolle der ASEAN als Problemlöser eher begrenzt: 1999 spielte die Gemeinschaft kaum ei­ ne tragende Rolle, die bürgerkriegsähnlichen Konflikte in Osttimor zu entschärfen, Mitte der 2000er Jahre kam es zu einem Aufruhr in Südthailand, wobei die ASEAN ebenfalls wenig zur Entschärfung eines thailändisch-malaysischen Konfliktes beitra­ gen konnte. Ein immer noch aktuelles Beispiel sind die Spannungen um Territorial­ ansprüche im Südchinesischen Meer. So kam schon 2012 eine eigentlich vorgesehene ASEAN-Erklärung zum Südchinesischen Meer nicht zustande, und 2016 wurde eine

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Erklärung, welche die „Besorgnis“ der ASEAN zum Ausdruck bringen sollte, in kürzes­ ter Zeit wieder zurückgezogen, angeblich auf Druck von Laos und Kambodscha (vgl. Kipgen/Chaturvedi 2018). Die Hintergründe für diese beschränkte Wirksamkeit der ASEAN-Sicherheitspo­ litik sind nachvollziehbar: Zum einen sind sicherheitspolitisch relevante Fragen für jeden Nationalstaat immer äußerst sensibel, auch wenn sie Fragen innerhalb der eige­ nen Staatengemeinschaft betreffen. Zum anderen ist die ASEAN selbst in ihrer Summe militärisch gegenüber großen ausländischen Mächten zu schwach, um als strategi­ sches Gewicht eine ernsthafte Gegenposition einnehmen zu können. Trotzdem kann kaum bestritten werden, dass die vertieften Dialoge in und mit der Region bisher ins­ gesamt zu einer im Wesentlichen friedlichen Entwicklung in der nicht spannungsar­ men Region beigetragen haben. Bezüglich der sozio-kulturellen Gemeinschaftsbildung sind angesichts der ange­ sprochenen hohen Diversität der Region die Erfolge noch bescheidener. Organisatori­ sche Basis der Kooperation ist das ASEAN Socio-Cultural Community (ASCC) Council, das Minister mit Portfolios in den Bereichen der sozialen und humanitären Entwick­ lung, Arbeit sowie Kultur umfasst. Der Blueprint für die ASCC formuliert als Haupt­ aufgabe „to mainstream and promote greater awareness and common values in the spirit of unity in diversity at all levels of society“ (Maramis 2017). Ein wichtiges Ele­ ment des Blueprint, zunächst im Hinblick auf 2015 verfasst und später für 2025 ak­ tualisiert, sind auch Nachhaltigkeit und Resilienz in Umweltbelangen der Region und die Entwicklung von Positionen zum demografischen Wandel sowie zur sozialen Si­ cherung. Dazu kommt ein Anspruch, mit nicht-staatlichen Akteuren in einen partner­ schaftlichen Dialog einzutreten. Ein besonders schwieriges Terrain ist angesichts der vielfach autoritär geführten Regierungen der Region die Beachtung von Menschen­ rechten und politischer Partizipation. Das zeigte sich etwa am Umgang mit Myanmar. Ob die ASEAN hier wirklich zum Reformprozess der Militärdiktatur beitragen konn­ te, muss für nüchterne Betrachter als schwer belegbar erscheinen (vgl. Kurlantzick 2012). Insgesamt sind angesichts der ambitioniert formulierten Vorstellungen die bis­ herigen Ergebnisse sehr überschaubar geblieben; es geht in entsprechenden Aufar­ beitungen (vgl. Kurlantzick 2012) letztlich um die Identifizierung tragfähiger oder zu­ mindest richtungsweisender Wege für die Zukunft.

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5 Zur Interpretation der ASEAN: Defizite durch strukturelle Mängel oder Vorbote einer neuen Generation „asiatischer“ Kooperationsund Integrationsmechanismen? Aus der obigen Bestandsaufnahme ergibt sich, dass die ASEAN nur begrenzt als Erfolg anzusehen ist, insbesondere, wenn man sie an ihren eigenen Ansprüchen misst: – Freihandelszone AFTA, vorgezogen auf 2002: nur unvollkommen erreicht. – Ein gemeinsamer Binnenmarkt bis 2015 (AEC): Ebenfalls nur sehr unvollkommen erreicht, da zentrale Freiheiten eines solchen Binnenmarktes nicht gewährleistet sind. – In politischer Hinsicht ist die Zielerreichung höher: Frieden und Stabilität konn­ ten in der Region trotz vorhandener latenter Spannungen weitgehend gesichert werden. Allerdings kann man kaum von einer Sicherheitsgemeinschaft sprechen: Die Mechanismen wie das ASEAN Regional Forum sind schwach und wenig funk­ tionstüchtig. – Von einer sozio-kulturellen Gemeinschaft, wie sie ebenfalls schon dem Konzept der AEC entsprach, ist die ASEAN noch weit entfernt. – Vertiefte Wirtschaftsgemeinschaft bis 2025: Nur begrenzte Fortschritte bisher sichtbar. Eine Zollunion steht zudem nicht einmal auf dem Programm, da Singapur bereits seit längerem eine Nullzollpolitik betreibt und sich kaum im Rahmen einer ASEAN-Zoll­ union auf die Wiedereinführung höherer Sätze einlassen würde. Insgesamt scheint sich daraus ein begrenzter Grad der Zielerreichung zu ergeben. Laursen (2010) hat versucht, den Erfolg von Regionalintegration mit verschiedenen erklärenden und intervenierenden Variablen in Zusammenhang zu bringen. Die Zahl der auf dem Globus verfügbaren Fallstudien ist dabei begrenzt. Der Autor versucht sich dem Problem der „kleinen Fallzahlen“ dadurch zu nähern, dass er die Variablen sorgfältig definiert und damit das Feld der Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge stark strukturiert und vereinfacht. Insgesamt scheint sich aus dieser Analyse zunächst das übliche Resultat einzustellen, dass ein schwaches leadership und unvollständige Ent­ scheidungsmechanismen nur moderate Erfolge ermöglichen (vgl. Tabelle 6). Tatsäch­ lich weist Laursen aber daraufhin, dass seine Ergebnisse überdeterminiert sind. Es wird angesichts des „kleinen n“ nicht wirklich deutlich, welche Faktoren letztlich ent­ scheidend sind. Mit dem Abstand von etwa zehn Jahren zur Studie von Laursen fallen weitere Punkte ins Auge: Erstens würde man heute nicht mehr ohne Weiteres von einem hohen Grad der Zielerreichung bei der NAFTA sprechen können. Im Gegenteil: Die US-Regierung unter Trump hat das scheinbar bewährte Abkommen aufgekündigt.

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Tab. 6: Tentative Erklärungsbeiträge für den Erfolg von Regionalintegration nach Laursen, Stand 2010 (Quelle: Laursen 2010: 266; übersetzt vom Verfasser). Beispielfall

Unabhängige Variablen

Intervenierende Variablen

Abhängige Variable

EU

Moderate Machtasymmetrie, Starke Interdependenz Leitideen (Monet).

Hoher Grad der Zielerreichung (über die Zeit ansteigend).

NAFTA

Starke Machtasymmetrie, Starke Interdependenz, Beschränkte ideelle Inspiration. Starke Machtasymmetrie, Moderate Interdependenz, Beschränkte ideelle Inspiration. Starke Machtasymmetrie, Niedrige Interdependenz, Beschränkte ideelle Inspiration.

Supranationale Mechanismen, Unvollständiger Vertrag, Leadership leicht verfügbar. Zwischenstaatliche Mechanismen, Vollständiger Vertrag, US Leadership. Zwischenstaatliche Mechanismen, Unvollständiger Vertrag, Beschränktes Leadership. Zwischenstaatliche Mechanismen, Unvollständiger Vertrag, Beschränktes Leadership.

Niedriger bis moderater Grad der Zielerreichung (relativ stationär).

ASEAN

MERCOSUR

Hoher Grad der Zielerreichung (stabil).

Moderater Grad der Zielerreichung (im Laufe der Zeit geändert).

Auch bei der EU würde man angesichts des Brexits und der immer noch schwelenden Probleme in der Euro-Zone nicht mehr so undifferenziert von „hoher Zielerreichung“ sprechen wollen, schon gar nicht von einem permanenten Anstieg der Zielerreichung. Zweitens: Nimmt man die von den jeweiligen Mechanismen selbst formulierten Zie­ le nicht „zum Nennwert“ an, weil sie zum Teil einen strategisch-kommunikativen Charakter besitzen, so kann die abhängige Variable ohnehin nicht mehr so einfach dargestellt werden. Nimmt man drittens eine mangelnde Bereitschaft unter den Staa­ ten einer Region zur Kenntnis, nationale Souveränität aufzugeben und sich an vorher vereinbarte Regeln zu halten, so ergibt eine solchermaßen „bedingte Zielerreichung“ im Falle der ASEAN sogar ein recht positives Bild. Der Hauptgrund für diese mangelnde Bereitschaft, nationale Souveränitätsrechte abzugeben, kann unter Rückgriff auf Dani Rodriks (2011) Ansatz des Globalisierungs­ trilemmas prägnanter erfasst werden. Mit einer forcierten Globalisierung, die stark in die Strukturen der Volkswirtschaften einwirkt, wird es zunehmend schwierig, die na­ tionale Souveränität über die verschiedenen Politikfelder sicherzustellen, jedenfalls dann, wenn sich die nationale Politik über demokratische Mechanismen den Inter­ essen ihrer Stakeholder nicht entziehen kann. (Für die ASEAN mag man zwar argu­ mentieren, dass die demokratischen Strukturen, von Land zu Land verschieden, noch nicht sehr stark ausgebaut sind, doch müssen sich auch die dortigen Regierungen le­ gitimieren und können nicht einfach die sich im Kontext einer „Hyperglobalisierung“, so Rodriks Begriff, artikulierenden Interessen übergehen). Die Folge ist, dass nicht al­

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le drei Anliegen, Globalisierung, nationale Souveräntität und Demokratie bzw. Legiti­ mität gleichermaßen umgesetzt werden können (vgl. Stein 2016). Gleichzeitig entsteht dadurch ein Druck, den nationalen Politikraum („policy space“) möglichst auszudeh­ nen (vgl. Alonso und Occampo 2015) und dadurch die Basis für eine „smarte Globali­ sierung“ (vgl. Rodrik 2011) zu legen. Hierbei kommen auch regionalen Mechanismen wie der ASEAN eine Rolle als „regionaler Politikraum“ (vgl. Pascha 2019) zu, wenn schon eine ausgreifende globale Governance-Lösung der Widersprüche zwischen Glo­ balisierung, nationaler Souveränität und Demokratie/Legitimität nicht aussichtsreich ist. Dennoch bleibt auch hier die Spannung, durch eine starke Rolle der nationalen Positionierung ein Überborden der Globalisierung angesichts legitimer Interessen in Grenzen zu halten. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion erscheint die ASEAN al­ so als ein durchaus zeitgemäßer Versuch, mit der Schaffung eines regionalen Politik­ raums Vorteile der Globalisierung zu nutzen und dank des „ASEAN Way“, mit seiner Erhaltung nationaler Souveränität, dabei die Legitimitationsbasis der Politik nicht zu gefährden. Es passt in dieses Argumentationsschema, dass sich die ASEAN-Ideologie als er­ staunlich resilient über längere Zeiträume hinweg erwiesen hat (vgl. Rüland 2018): Auch nach der traumatischen Asienkrise von 1997/98, als sich die ASEAN zur Vision einer europäisch anmutenden „Wirtschaftsgemeinschaft“ bekannte, ist man letztlich wieder bei einem ASEAN Way geblieben, wie weiter oben schon bezüglich der ASEAN Charter von 2008 dargelegt wurde. In diesem Sinne halten auch Jetschke und Mur­ ray (2012) fest, dass die ASEAN zwar einige Elemente der EU übernommen habe, dass dies aber keinen Wandel der Verhaltensweise bedeute. Offenbar erfüllt dieser Ansatz als „cognitive prior“ eine wichtige Funktion für die ASEAN. Aufschlussreich ist dar­ über hinaus, dass die Art und Weise, wie sich die ASEAN darstellt, durchaus nicht inkompatibel mit den öffentlichen Erwartungen ist (vgl. Benny et al. 2015). Die Iden­ tifikation mit der ASEAN ist nicht sehr hoch, wie entsprechende Umfragen zeigen: In Vietnam fühlen sich nach einer Studie das indonesischen Habibe Centre zwar 79 % der ASEAN „nah“ oder „sehr nah“, aber in Indonesien, dem größten Land der Region, sind es nur 22 % (vgl. Menon et al. 2018: 22). Angesichts des proklamierten Anspruchs, eine „sozio-kulturelle Gemeinschaft“ zu schaffen, mag man das kritisch sehen. Positiv gewendet bedeuten diese Zahlen aber, dass man mit der ASEAN eine Plattform für die Nutzung markanter Globalisierungsvorteile geschaffen (vgl. Jones/Smith 2006), sich zudem weitere Vorteile für die politische Stabilisierung der Region erarbeitet hat, oh­ ne dabei aber die legitimatorische Akzeptanz dieses Weges überzustrapazieren. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre zu urteilen, ist das in der EU möglicherweise ange­ sichts vielfältiger Herausforderungen weniger gut gelungen.

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6 Gemeinsamkeiten zwischen der ASEAN und anderen multilateralen Mechanismen aus der Region Asien-Pazifik Mit dieser „bescheidenen“, aber gerade dadurch längerfristig tragfähigen Basis für re­ gionale Zusammenarbeit steht die ASEAN in der Region Asien-Pazifik, so die hier ver­ folgte These, nicht alleine. Um dies zu belegen, soll die ASEAN hier nicht wie oft üb­ lich mit anderen Mechanismen wie der lateinamerikanischen MERCOSUR verglichen werden, die einen ähnlich starken Bezug zu handelspolitischen Fragen haben, son­ dern mit anderen interessanten Formaten aus der eigenen Region, die einen innovati­ ven Kooperationsansatz verkörpern, nämlich der Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC), die einen transregionalen Ansatz der wirtschaftlichen Kooperation darstellt und im Wesentlichen den Nordpazifik umfasst, sowie der chinesischen, dabei aber transnational ausgreifenden Infrastrukturinitiative der Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative: BRI).

6.1 Die Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC) Die APEC wurde 1989 auf Initiative von Australien und mit starker japanischer Vorar­ beit gegründet, um die institutionelle Basis für die sich rasch vertiefende Zusammen­ arbeit im Nordpazifik zu verbessern, die bis dato im Grunde nur von der Privatwirt­ schaft getragen wurde (neuerer Überblick: Cook 2016). Die USA waren von Anfang an beteiligt, China erst etwas später. Inzwischen gehören dem Verbund 21 Staaten an, in denen knapp die Hälfte der Weltbevölkerung lebt. Die Ziele wurden recht ambi­ tioniert und ausgreifend formuliert und umfassen ein nachhaltiges Wachstum in der Region, einen Beitrag zum globalen Wachstum und die Schaffung nichtdiskriminie­ render Handelsabkommen. Fahrt nahm die Gruppe erst 1993 auf, als die USA zu einem ersten Gipfeltreffen einluden. Hintergrund war die Sorge, angesichts Verzögerungen beim Abschluss der Uruguay-Runde des GATT und gegenüber einer sich stärker durch das Binnenmarktprojekt integrierenden EU möglicherweise ins Hintertreffen zu ge­ raten. Mit der Bogor-Erklärung von 1994 wurde eine bis 2010 beziehungsweise für die schwächeren Länder der Region bis 2020 zu schaffende Freihandelszone als Ziel ausgegeben. Tatsächlich blieben die Fortschritte bezüglich der Umsetzung kollektiver und auf die Einzelmitglieder bezogener Aktionspläne gegenüber den weitreichenden Plänen einer Free Trade Area of the Asia Pacific (FTAAP) sehr begrenzt. Erfolgreicher war beziehungsweise ist die APEC als vertrauensbildender Mecha­ nismus (vgl. Pascha 2003). Bis zum Seattle-Gipfel von 1993 hatten sich viele Staatsund Regierungschefs nicht einmal von Angesicht zu Angesicht gesehen. Man könnte von einer „Bar-Funktion“ der APEC sprechen: Angesichts einer mangelhaften institu­

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tionellen Verzahnung in der Großregion war es wichtig, überhaupt einen möglichst unproblematischen „virtuellen Ort“ der Zusammenkunft zu schaffen. Das dezidiert „nicht-politische“ Mandat der Gruppe – welches es ursprünglich nicht zuletzt erleich­ tern sollte, China, Taiwan und Hongkong als Mitglieder zu gewinnen, was auch ge­ lang –, erleichterte diese Funktion ungemein. Den aktuellen Spannungen zwischen den USA und China kann allerdings auch die APEC nicht entkommen: Der Gipfel vom November 2018 in Papua-Neuguinea war der erste, der ohne ein gemeinsames Kom­ muniqué zu Ende ging (vgl. Edwards 2018). Ein weiterer Erfolg der APEC kann in der Einrichtung und Umsetzung verschie­ dener Kooperationsvorhaben gesehen werden, an denen alle Mitglieder im Sinne von win-win-Konstellationen Interesse haben können. Bezüglich der Grundlagen ihrer Zusammenarbeit hat die APEC vor allem drei Prin­ zipien formuliert: erstens eine Offenheit, sowohl hinsichtlich der Möglichkeit, neue Mitglieder aufzunehmen – wobei inzwischen aber angesichts der erreichten Größe ein Moratorium besteht –, als auch nach innen im Sinne von Flexibilität bezüglich neuer Entwicklungen. Zweitens wird der nicht-diskriminierende Charakter betont. Die Grup­ pe will nicht als closed shop arbeiten, auch bei eventuellen Handelsabkommen sollen Dritte nicht diskriminiert werden, damit dem Charakter der APEC als einem Fazilitator für letztlich multilaterale Lösungen nichts entgegensteht. Drittens wird die Freiwillig­ keit der Kooperation hervorgehoben, auch im Sinne des Konsensprinzips. Eine Reihe von Gemeinsamkeiten springen zwischen der ASEAN und der APEC ins Auge. Beide dienen der Liberalisierung und weiteren Kooperationsformaten, bei APEC allerdings ohne eine ergänzende politische beziehungsweise soziale Agenda. Beide sehen sich dabei nicht als eine Alternative einer globalen Orientierung, son­ dern als eine wegbereitende Vorstufe. Beide heben auf Freiwilligkeit und Konsens ab, weshalb sich Kooperationsprojekte wie ein Freihandelsraum, in dem ein Unterlaufen der Absprachen unterbunden werden muss, schwertun.

6.2 Chinas Neue Seidenstraße Auf den ersten Blick geht es bei Chinas BRI um ein recht anderes Projekt (aktueller Überblick bei Fang/Nolan 2019), nämlich die Etablierung einer international angeleg­ ten Infrastrukturinitiative, damit aber auch wiederum um ein groß angelegtes Koope­ rationsvorhaben. 2013 wurde vom chinesischen Präsidenten das Vorhaben verkündet, über den Land- wie über den Seeweg große Konnektivitätsprojekte in Eurasien zu för­ dern, was inzwischen auch auf andere Regionen, etwa Lateinamerika, ausgeweitet worden ist. Das Vorhaben ist als eine offene, flexible Initiative gedacht (vgl. Öztürk 2019) und hat sich tatsächlich seit ihrer Gründung schon deutlich weiterentwickelt. So wurde der ursprünglich rein bilaterale Ansatz, Einzelabkommen zwischen China und dem jeweiligen Partnerland aufzubauen, bereits in Richtung Multilateralisierung fortentwickelt. Als verwandtes Charakteristikum kann ein „institutioneller Minimalis­ mus“ (vgl. Grimmel/Li 2018) des Mechanismus angesehen werden, der Gelegenheiten

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zur Kooperation befördern soll. Beispielsweise gibt es keine klar zugewiesene Kopf­ stelle für das Projekt, und das genaue Budget ist unklar. Bezüglich der beteiligten Or­ ganisationen herrscht große Vielfalt: Sie reichen von chinesischen Staatsbanken mit politischen Aufgaben über speziell eingerichtete Sonderfonds bis hin zu einer neu gegründeten multilateralen Entwicklungsbank unter chinesischem Primat, der Asi­ an Infrastructure and Investment Bank (AIIB). Die BRI ist über fünf Aufgabenbereiche hin angelegt: In die Bereiche politische Abstimmung, Infrastruktur, Handel, Finanzen sowie zwischenmenschlicher Austausch, wobei der Schwerpunkt zunächst bei der In­ frastruktur liegt. Aus chinesischer Sicht wird betont, dass das Vorhaben internationale win-win-Si­ tuationen schaffen soll, insoweit also als ein neues regionales beziehungsweise sogar globales öffentliches Gut anzusehen ist. Dabei geht es dem Initiator gewiss nicht nur um altruistische Motive, sondern mit dem Vorhaben soll auch Chinas Anspruch auf eine stärkere Rolle in der multilateralen Ordnung des 21. Jahrhunderts befördert wer­ den. Gleichzeitig werden damit auch engere wirtschaftliche Ziele verfolgt, etwa eine Förderung des Exports chinesischer Produkte und die Unterstützung zurückgebliebe­ ner Regionen im Westen Chinas. Inzwischen liegen erste Erfahrungen vor. Das Vorhaben hat große Erwartungen geweckt, nicht zuletzt aufgrund einer angenommenen Gesamtgröße von 1 Billiarde USD und mehr, und viele Projekte wurden in die Wege geleitet. Dabei sind bereits Spannungen zwischen den verschiedenen Zielen deutlich geworden, die China gleich­ zeitig verfolgt. So gibt es Beispiele, etwa die erzwungene Übergabe eines Hafens auf Sri Lanka an chinesische Investoren, als das Land die eingegangenen Verpflichtungen nicht bedienen konnte, die zeigen, dass win-win-Konstellationen keineswegs zwin­ gend sind. Die Offenheit und Flexibilität des Ansatzes erlauben es, im Hinblick auf sol­ che Defizite nachzujustieren. Umgekehrt bedeutet die Flexibilität auch, dass schwä­ chere Partner gegenüber dem starken China aufgrund der Asymmetrie leicht in eine Nachteilsposition geraten. Der weitere Prozess ist ein offener, zumal Mitkonkurren­ ten Chinas um eine herausgehobene Rolle im multilateralen System wie Japan, In­ dien, Russland, die EU und selbstverständlich die USA die weiteren Entwicklungen maßgeblich mitprägen werden. Immerhin ist zu konstatieren, dass angesichts einer Stagnation multilateraler Mechanismen wie der WTO die chinesische Infrastrukturin­ itiative Bewegung in die multilaterale Bereitstellung öffentlicher Güter gebracht hat. Auch die EU fühlte sich beispielsweise angesprochen, Ende 2018 eine Gemeinsame Mitteilung der Kommission und der Außenbeauftragten zu einer Konnektivitätsstra­ tegie zwischen Europa und Asien vorzulegen (vgl. EU 2018).

6.3 Ein Vergleich von ASEAN, APEC und BRI Trotz aller Unterschiede in ihren Aufgaben beziehungsweise Zielen und den dafür ein­ gesetzten Instrumenten weisen ASEAN, APEC und BRI eine ganze Reihe von Gemein­ samkeiten auf.

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Erstens schaffen alle drei Ansätze neue Politikräume für Kooperation. Vor Grün­ dung der ASEAN waren andere Kooperationsforen aufgrund politischer Spannungen gescheitert. Auch bezüglich der APEC gab es eine ganze Reihe weniger erfolgreicher beziehungsweise weniger langlebiger alternativer Gründungen. Schließlich gingen auch der BRI zahlreiche wenig erfolgreiche Versuche zu Infrastrukturinitiativen vor­ aus, betrieben etwa von den Vereinten Nationen und ihren Teilgliederungen oder auch von Japan. Zweitens wurden die besprochenen Neuschöpfungen für sich öffnende Koopera­ tionsmöglichkeiten vor dem Hintergrund schwieriger Ausgangsbedingungen geschaf­ fen, worauf schon das eben erwähnte Scheitern vorausgegangener Ansätze hindeutet. Bei der ASEAN waren es der nahe Indochinakrieg und die Rolle der USA als unge­ liebte Schutzmacht gegenüber Systemumstürzen, bei der APEC die unklare Führungsund Einbindungsfrage – Japan, Australien, die USA oder doch bald China? –, und bei der BRI war und ist es das Ausbalancieren von nationalen und multilateralen Inter­ essen bei einem China, dass noch keineswegs einen gefestigten Rang als regionale Führungsmacht einnimmt und leicht Fehler in dieser neuen Rolle machen kann. Woran liegt es angesichts dieser schwierigen Rahmenbedingungen, dass die Me­ chanismen trotzdem einige Erfolge zeigen und zumindest eine Reihe schwieriger Pha­ sen überstanden haben? Ein drittes Charakteristikum ist in diesem Kontext das Konsens-Prinzip, sehr ex­ plizit bei ASEAN und APEC. Bei der BRI gilt dies für die strategische Ebene des soft law ebenfalls, wo es um Absichtserklärungen geht, während bei einzelnen Projekten offenkundig Vertragstypen des hard law angewendet werden (vgl. Wang 2019). Die Kooperationsmöglichkeiten beschränken sich durch den konsensualen Ansatz auf er­ wartete win-win-Situationen, können aber jenseits der limitierten wirtschaftlichen Ef­ fekte weitere bedeutsame politische Erfolgsbeiträge leisten: Dies ist ganz ausgeprägt bei der ASEAN der Fall, bei der APEC zumindest im ersten Jahrzehnt, bei der BRI bleibt der längerfristige politische Nutzen für China noch abzuwarten, wobei das Land kurz­ fristig sicherlich sein Renommee als ernstzunehmender Führungsanwärter aus der Region festigen konnte. Verbunden damit ist viertens eine Bescheidenheit bei den institutionellen Mecha­ nismen stilprägend. Bei der BRI, die ohne Hauptverwaltung auskommt, wird man so­ gar von einem institutionellen Minimalismus sprechen müssen. Bei der ASEAN ist das Sekretariat auch nach den institutionellen Reformen im Zuge der Charter von 2008 im­ mer noch klein. Ein fünfter Punkt ist – ebenfalls in diesem Kontext – die Flexibilität der gewähl­ ten Mechanismen. Einerseits ist das wiederum ein Makel, weil dadurch anspruchs­ volle und längerfristig vertraglich abgesicherte Regelungen nicht möglich sind, die wie etwa eine vertiefte Regionalintegration hohen wirtschaftlichen Nutzen verspre­ chen würden. Andererseits kann der Ansatz damit gut auf neue Chancen oder not­ wendig werdende Nachjustierungen eingehen. Bei der ASEAN ist das verschiedentlich der Fall gewesen, wenn immer neue Anläufe zur Vertiefung der wirtschaftlichen In­

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tegration und Außenöffnung gegen Widerstände und Schwierigkeiten unternommen wurden, bei der APEC wurden vielfältige, immer wieder aktualisierte Kooperations­ projekte möglich, und bei der BRI ist China dabei, aus frühen Fehlern einer zu selbst­ zentrierten Verfolgung transnationaler Projekte zu lernen. Ein verwandter Punkt ist die Offenheit der Initiativen. Sechstens schließlich ist zu würdigen, dass alle drei ausgewählten innovativen Mechanismen mit ihren verwandten Eigenheiten aus der Region Asien-Pazifik stam­ men. Jenseits der ja nicht zufälligen Selektion ist der Grund für diese Ähnlichkeiten kaum in kulturellen Besonderheiten der Region zu suchen. Eine neue asiatisch-pazi­ fische Wertedebatte wäre fehl am Platze, da es naheliegendere Gründe gibt, die im Sinne von Parsimonie diesen Tatbestand hinreichend erklären können. Ein wichtiger Faktor ist, dass die Region trotz ihrer hohen wirtschaftlichen Dynamik relativ schwach mit institutionellen Mechanismen ausgestattet ist, die eine politische wie auch wirt­ schaftliche Stabilität unterstützen könnten. Gleichzeitig ist die Einrichtung solcher Mechanismen schwierig, weil es keine klaren Führungsstrukturen wie in den wirt­ schaftlich ebenfalls starken Regionen Nordamerika (USA) oder dem westlichen Eu­ ropa (Deutschland und Frankreich) gibt. Von daher bilden sich tendenziell offene, flexible und konsensorientierte Mechanismen auf zwischenstaatlicher Ebene aus, die win-win-Kooperationen ermöglichen, ohne aber – so jedenfalls die Hoffnung – dauer­ hafte Abhängigkeiten zu zementieren. Vorteile einer vertieften, regelbasierten Zusam­ menarbeit können damit allerdings nicht geschöpft werden. Während das Hauptaugenmerk der Proponenten von Integrationsagenden zu­ meist auf die Verbreitung vertiefter, regelbasierter und sanktionsbewährter Koope­ rationsmechanismen wie zum Beispiel Handelsabkommen der neuen Generation gerichtet ist, beobachtet man in Asien-Pazifik eine Welle offener, flexibler und kon­ sensorientierter Initiativen, die von daher als „asiatisch“ bezeichnet werden können. Die ASEAN mit einem Gründungsdatum 1967 kann als Vorreiter angesehen werden. Selbstverständlich ist jede Form von dualistischer Unterscheidung, hier zwischen Kooperationsmechanismen eines „westlichen“ und eines „asiatischen“ Typus, immer unterkomplex, kann auch zu Missverständnissen Anlass geben. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Regionalismustypen wie „alt oder „neu“ ist sehr komplex (vgl. Söderbaum 2015; Börzel 2016), und manche würden sogar die Sinnhaftigkeit von Studien, die auf solchen typologisierenden Unterscheidungen beruhen, generell an­ zweifeln (vgl. zum Beispiel Closa 2015). Umgekehrt werden jedoch oft erst in typologi­ sierenden Vereinfachungen interessante Muster deutlich (vgl. zum Beispiel Kuckartz 2006). Dass die Wirklichkeit dann differenzierter ist und eine dualistisch angelegte Ty­ pologie nicht einfache Schwarz-Weiß-Aussagen über die Wirklichkeit erlaubt, ist ba­ nal und muss kaum betont werden. Geht man der Frage nach den Mechanismen „asiatischen“ Typs also hier trotz­ dem nach, stehen insbesondere zwei Fragen im Vordergrund: Erstens, bieten solche offenen, flexiblen und konsensorientierten Mechanismen möglicherweise nutzenori­ entierte Vorzüge, die bisher übersehen wurden oder die sich früher nicht so ergeben

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haben (normative Frage)? Zweitens, gibt es unabhängig von den Vorteilen solcher Me­ chanismen Gründe, warum sie sich verbreiten und möglicherweise in Zukunft noch weiterverbreiten (positive Frage)? Bezüglich der normativen Frage wurde auf die Attraktivität von win-win-Koope­ rationen bereits hingewiesen. Wenn die Möglichkeiten von Handelsliberalisierung in Form niedriger Zollschranken bereits ausgeschöpft oder weitere Fortschritte fraglich sind, werden Kooperationsprojekte besonders attraktiv. Für die Konnektivität bezie­ hungsweise für Infrastrukturprojekte wird zum Beispiel auch zukünftig ein markant wachsender Markt erwartet, nicht zuletzt für die Region Asien-Pazifik: Für die von der Asian Development Bank abgedeckte Gesamtregion wird zum Beispiel bis 2030 ein Volumen von 22,5 Bill USD prognostiziert (vgl. ADB 2017). Vertrauensbildende, flexi­ bel nutzbare Mechanismen asiatischen Typs können dabei eine hilfreiche Grundlage bilden. Ein weiterer Punkt ist darin zu sehen, dass viele der zentralen Herausforderungen, die weiteres wirtschaftliches Wachstum ermöglichen, ohnehin auf der binnenwirt­ schaftlichen Ebene angesiedelt sind, zum Beispiel die Schaffung geeigneter Wettbe­ werbsbedingungen, der Schutz geistiger Eigentumsrechte oder die Förderung umwelt­ verträglicher Strukturen (vgl. Armstrong/Westland 2018: 8). Bindende, schmerzhafte Verpflichtungen dazu werden entweder nicht eingegangen oder gegebenenfalls unter­ laufen beziehungsweise verschleppt. Muss man deshalb ohnehin von längeren Pro­ zessen ausgehen, erscheinen „asiatische“ Integrationsmechanismen mit ihrem softAnsatz von Interessenausgleich und -annäherung nicht mehr zweitklassig. Schließlich besitzen in einer zunehmend komplexen und unübersichtlichen Welt­ ordnung mit zahlreichen Ambiguitäten, die Acharya (zum Beispiel 2017) als multiplex bezeichnet, Flexibilität und Offenheit einen eigenen Wert, der in seiner Bedeutung eher noch zunimmt. Aus der Sicht der zentralen Akteure, insbesondere, aber natürlich nicht nur, der nationalen Politiker, bieten „asiatische“ Mechanismen eine Reihe weiterer Vorzüge. Die angesprochene Flexibilität und Offenheit, auch die Konsensorientierung, reduzie­ ren für die Politiker das Risiko, ihre stakeholder aufgrund unvorhergesehener und un­ erfreulicher Entwicklungen enttäuschen zu müssen. Dieser Aspekt ist in Demokratien gewiss besonders ausgeprägt, gilt aber auch für viele der noch autoritärer geführten Volkswirtschaften in Asien-Pazifik, einschließlich den ASEAN-Staaten. Auch dieser Effekt nimmt mit einer steigenden Multiplexität der Weltwirtschaft zu. Daneben eröffnen (auch) relativ wenig verbindliche Abkommen „asiatischen“ Typs einen hohen Grad an Visibilität und Außenwirkung, welcher positiv auf die sich pro-aktiv und erfolgreich gebenden politischen Akteure abfärbt. Recht vage gehaltene Mechanismen dieses Typs eröffnen sogar relativ mehr Möglichkeiten, sich positiv dar­ zustellen: Im Gegensatz zu den, nach einer Einführungsphase, relativ „automatisch“ ablaufenden regelorientierten Mechanismen bieten sie nämlich viele Gelegenhei­ ten dazu, einzelne Vorhaben zu verhandeln, zu verabschieden und umzusetzen. Die Politiker haben die Möglichkeit, sich immer wieder neu als „Macher“ zu präsentieren.

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7 Zusammenfassung und Ausblick Was kann als Fazit der obigen Analyse festgehalten werden, und welche zukünftigen Herausforderungen stellen sich auf dieser Basis?

7.1 Status, Erfolg und Beispielhaftigkeit der ASEAN Die wesentlichen Ergebnisse der vorliegenden Bestandsaufnahme von ASEAN lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die ASEAN besteht seit 1967 und ist allein damit einer der erfolgreichsten Regio­ nalverbünde der Weltwirtschaft, insbesondere wenn man ihre Basis im Globalen Sü­ den berücksichtigt. Eine präzise Bestimmung des „Erfolgs“ der ASEAN fällt schwerer, da unterschied­ liche Kriterien angelegt werden können und sich damit eine Erfolgsbestimmung letzt­ lich einer gewissen Subjektivität nicht entziehen kann (vgl. dazu auch Stubbs 2019). Es liegt nahe, von den selbst formulierten Zielen in den Feldern der wirtschaftlichen, politisch/sicherheitspolitischen und sozio-kulturellen Gemeinschaftsbildung auszu­ gehen. Die Beurteilung fällt dann differenziert aus: Am weitesten ist die ASEAN noch von einer sozio-kulturellen Gemeinschaft entfernt. Die große Diversität der Region (vgl. Tabelle 5) lässt ein solches Ziel auch hoffnungslos überambitioniert erscheinen. In politischer Hinsicht hat die südostasiatische Region angesichts der vielen tra­ ditionellen Spannungsherde eine beachtliche Stabilität und eine lange Friedenspha­ se erreicht. Inwieweit dies kausal auf die ASEAN zurückgeführt werden kann, ist aber deutlich schwerer zu bestimmen (vgl. Kliem 2017). Die ASEAN bietet jedenfalls ein Forum, um politische Konflikte nach innen zu entschärfen als auch den Dialog mit äußeren Mächten voranzubringen. In wirtschaftlicher Hinsicht sind die Ambitionen, eine vertiefte Integration über ein ambitioniertes Freihandelszonenkonzept zu schaffen und sogar einen gemeinsa­ men Binnenmarkt zu etablieren, bisher nur unvollkommen umgesetzt worden. An­ gesichts starker nationaler Vorbehalte erscheinen vielen Kritikern diese Ziele auch überambitioniert. Die Liberalisierungsschritte innerhalb der ASEAN haben jedoch ei­ ne Liberalisierung auch nach außen vorbereitet und unterstützt, was oben als „au­ ßenorientierte Regionalisierung“ bezeichnet wurde, so dass sie im besten Sinne ei­ nen wichtigen Trittstein hin zu der bisher so erfolgreichen Integration der regionalen Volkswirtschaften in die Weltwirtschaft darstellen. Noch positiver fällt das Fazit gerade in wirtschaftlicher Hinsicht aus, wenn man bereit ist, zwei argumentative Schritte mitzugehen. Erstens, wenn man unterstellen darf, dass die ambitionierten Ziele, die sich die ASEAN selbst gestellt und die sie im­ mer wieder verfehlt hat, in erster Linie (nur) einer kommunikativen Strategie entspre­ chen, nicht aber wörtlich zu nehmen sind. Ist das Ziel also die Schaffung positiver Er­

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wartungen, darf man festhalten, dass diese Kommunikationsstrategie tatsächlich bis­ her aufgegangen ist. Die ASEAN hat durch die Proklamierung einer Freihandelszone (AFTA) und später einer Wirtschaftsgemeinschaft (AEC) mit einem einheitlichen Bin­ nenmarkt (single market) internationale Aufmerksamkeit und Wohlwollen erzeugt. Die intensive Einbindung in Handelsabkommen oder auch die finanzielle Unterstüt­ zung durch die EU, durch Japan, die ADB und andere, wahrscheinlich auch die hohen Volumina an Direktinvestitionen aus dem Rest der Welt und die intensive Einbindung in internationale Lieferketten wären geringer ausgefallen, wenn es diese positive Er­ wartungshaltung nicht gegeben hätte. Zu beweisen ist das allerdings mangels kontra­ faktischer Evidenz kaum. Das Fazit ist zweitens weiter zu modifizieren, wenn man berücksichtigt, dass die Überwindung nationaler Vorbehalte durch eine Aufwertung überstaatlicher Stellen oder durch verbindliche Regeln im Falle der ASEAN-Länder nie wirklich zu erwarten war. In diesem Fall kann die EU, die bei einem Vergleich praktisch immer als das „er­ folgreichere Modell“ abschneidet, nicht mehr als Vergleichsmaßstab herangezogen werden, weil das Ausmaß an Integrationsbereitschaft in der EU nie erreicht werden konnte beziehungsweise werden wird. Bezüglich einer solchermaßen „bedingten Ziel­ erreichung“ schneidet die ASEAN dann sehr gut ab: Trotz des Problems, auf den na­ tionalen Souveränitätsverzicht nicht verzichten zu können, hat die ASEAN mit ihren daran angepassten und immer wieder neu adjustierten Mechanismen erstaunlich viel erreicht. Die aufstrebende Wirtschaftsregion Asien-Pazifik ist durch ihre koloniale Vergan­ genheit, die potenzielle Instabilität vieler junger Staaten und ihrer Regierungssysteme sowie durch das Wettstreben großer Mächte um Einflussräume schon länger dadurch geprägt, dass regionale Mechanismen kaum auf nationalen Souveränitätsverzicht und auf regelbasierte Formen eines „harten Institutionalismus“ zurückgreifen kön­ nen. Gleichzeitig lässt der wirtschaftliche Erfolg durch marktgetriebene wirtschaft­ liche Integration den Bedarf an institutionellen Einbindungs- und Sicherungsme­ chanismen ansteigen. Es ist von daher nicht überraschend, dass neben der ASEAN auch andere Mechanismen wie APEC und BRI entstanden sind, die flexibel, offen und konsensorientiert angelegt sind und damit auf die oben entwickelten Bedingungen reagieren. Wir haben sie als „asiatische“ Mechanismen bezeichnet. Die Region fun­ giert quasi als Versuchslabor der Welt, um solche Mechanismen zu testen. In dem Maße, wie es auch in anderen Weltregionen oder auf Weltebene immer schwieriger wird, wegen nationaler Vorbehalte auf überstaatliche oder regelgebundene Verfahren zurückzugreifen – vergleiche etwa die Probleme der WTO oder der EU, ohne dass dies hier vertieft werden könnte –, wird die Beschäftigung mit diesem Typ von Mechanis­ men immer wichtiger.

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7.2 Ausblick: Die Zukunft der ASEAN Selbst wenn die ASEAN bisher beachtliche Erfolge vor dem Hintergrund schwieriger Bedingungen erbracht hat und ein interessantes Fallbeispiel auch für den Rest der Welt als offener, flexibler und konsensorientierter Mechanismus darstellt, ist immer noch offen, wie erfolgreich ASEAN sich zukünftig entwickeln kann. Große Heraus­ forderungen stellen offenkundig die globalen Megatrends dar. Dazu gehören der Kli­ mawandel, die Alterung von Gesellschaften – in vielen ASEAN-Ländern ab Mitte der 2020er Jahre spürbar –, die Digitalisierung oder der Umgang mit gesellschaftlicher Teilhabe in den vielfach immer noch autoritär geführten Mitgliedsländern. Hier sei allerdings auf eine Reihe von Fragen abgehoben, die stärker auf die in diesem Aufsatz angesprochenen Themen abheben. Eine erste Herausforderung in diesem Zusammenhang stellen die geopolitischen Entwicklungen dar. Die ASEAN muss einen Weg zwischen den Erwartungen, Verspre­ chungen und möglicherweise auch Bedrohungen der großen Mächte China und USA finden, dabei auch andere externe Parteien wie Japan, Indien oder die EU im Blick haben. Offenbar setzt dies großes diplomatisches Geschick, wohl auch schwer zu be­ einflussendes Fortune, voraus. Solche Problemlagen sind für die ASEAN allerdings nicht neu: Anfang der 2000er Jahre musste die ASEAN beispielsweise mit einem star­ ken, aber seines Kurses nicht ganz sicheren Japan und einem aufstrebenden und sich zunehmend bemerkbar machenden China umgehen (vgl. zum Beispiel Yeo 2006). Verschärft wird diese Herausforderung zweitens dadurch, dass diese geopoliti­ schen oder auch anderen Einflüsse auf die ASEAN zum Teil asymmetrisch einwirken, von daher die Logik einer Willensbildung im Konsens nicht oder jedenfalls kaum grei­ fen kann. Ein Beispiel dafür sind die angesprochenen Spannungen um Territorialan­ sprüche im Südchinesischen Meer. Offenbar haben hier Länder wie die Philippinen und Malaysia, die wie China Ansprüche auf bestimmte Inselgruppen erheben, andere Interessen als landgestützte Länder Indochinas, die sich eher Unterstützung von Chi­ na erhoffen oder aufgrund ihrer Schwäche leichter chinesischem Druck nachgeben. Als grundlegendes Prinzip der Außenbeziehungen wird immer wieder auf die „ASEAN Centrality“ verwiesen, das heißt einen Primat der Gemeinschaftsebene für diplomatische Aktivitäten. Wie sehr auch immer dieses Prinzip angesichts der be­ schränkten Handlungskapazität der ASEAN der Realität gerecht wurde, gefährden sich verschärfende Asymmetrien diesen Ansatz jedenfalls heute zusätzlich (vgl. Ca­ ballero-Anthony 2014). Mit den großen Infrastrukturinitiativen von einflussreichen Ländern wie Japan und insbesondere China, durch die schon genannte BRI, entstehen zusätzliche Fragen, wie verschiedene Länder der ASEAN und die ASEAN insgesamt mit diesen verlockenden, aber nicht ganz ungefährlichen Angeboten umgehen (vgl. Parks et al. 2018). Schwerwiegende asymmetrische Entwicklungen können auch in der Wirtschaft relevant werden. Das Entwicklungsniveau der ASEAN-Mitglieder ist wie dargestellt sehr unterschiedlich, und sie nehmen auch unterschiedlich stark an der weltwirt­

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schaftlichen wie regionalen Integration teil. In der Konkurrenz um Standorte in den internationalen Produktionsketten können deshalb markante Unterschiede auftreten. Solche Differenzen können sich in ihren Auswirkungen verschärfen, weil die positive Produktivitätsentwicklung der Vergangenheit nachlässt und damit weniger zusätzli­ cher Wohlstand entsteht (vgl. Azis 2018). Handelspolitische Asymmetrien sind bereits sichtbar geworden: Nur einige Län­ der der ASEAN nehmen an dem 2019 gestarteten TPP-11 teil, nämlich bisher Singapur und Vietnam, wobei auch Brunei und Malaysia zu den 11 Signaturstaaten zählen. Soll­ te sich dieser Weg einer vertieften Kooperation zukünftig als erfolgreich darstellen, zum Beispiel durch Aufnahme neuer Mitglieder wie Südkorea oder vielleicht sogar durch eine Rückkehr der USA in die Gruppe, würde das die Zentralität von ASEAN in diesem zentralen Bereich der Zusammenarbeit massiv unter Druck setzen. Wichtig wäre es aus dieser Perspektive, dass RCEP als weniger anspruchsvolles Konzept, das aber alle ASEAN-Mitglieder einschließt, trotz aktueller Verzögerungen, zu denen auch das ASEAN-Mitglied Malaysia beigetragen haben soll (vgl. Gnanasagaran 2018), bald erfolgreich verabschiedet werden kann. Als letzter Punkt soll auf eine grundlegende Frage zurückgekommen werden, die in gewisser Weise den gesamten Aufsatz geprägt hat: die Glaubwürdigkeit der ASEAN im Hinblick auf die mit großem Gestus verkündeten integrationspolitischen Ambitio­ nen. Es herrscht weitgehende Einigkeit, dass die Erwartungen an deren Umsetzung nie erfüllt worden sind und dass für die AEC Vision 2025 kaum anderes zu erwarten ist. Oben war argumentiert worden, dass das Bekenntnis zu ambitionierten Zielen als Mittel einer strategischen Kommunikation nicht unklug gewesen sein mag: Vielerorts wurde dadurch eine positiv zugewandte Erwartungshaltung geweckt, die der ASEAN Sympathien und konkrete wirtschaftliche wie politische Vorteile gebracht hat. Mit der Nichterfüllung von Zusagen beziehungsweise Erwartungen zu bestimmten Zeitpunk­ ten, zuletzt bezüglich der Erreichung des Ziels der AEC-Gemeinschaft im Jahre 2015, wurden immer neue, noch ambitioniertere Ziele verkündet (aktuell: die AEC Vision 2025), welche die Latte noch höher legten und damit von der Nichterreichung der frü­ heren Ziele ablenkten. Diese Strategie kann aber nicht beliebig fortgesetzt werden. Es wird nicht immer Verlass darauf sein können, dass andere das „Spiel“ nicht durch­ schauen beziehungsweise dass früher geweckte Erwartungen vergessen werden. Vor allem aber sind jenseits der AEC 2025 kaum noch weitreichendere Visionen vorstell­ bar, auf die man noch ausweichen könnte. Von daher wird die ASEAN mittelfristig eine neue Kommunikationsstrategie fin­ den müssen, um den ihr entgegengebrachten goodwill nicht zu gefährden. Ein Weg könnte darin bestehen, die Erwartungen bewusst etwas zurückzuschrauben. In ei­ ner Welt, die zunehmend durch Spannungen gekennzeichnet scheint, in denen es Ländern zunehmend schwerer fällt, gemeinsame Interessen zu definieren und um­ zusetzen, ist die ASEAN mit ihrer bewiesenen Fähigkeit, Frieden und Stabilität in ei­ ner nicht einfachen Weltregion sichern zu helfen und die erfolgreiche Mitwirkung am weltwirtschaftlichen Austausch zu stützen, kein schlechter Referenzpunkt.

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Korreferat zu dem Beitrag von Werner Pascha Martin Leschke Werner Pascha vertritt in seinem sehr informativen Beitrag zur ASEAN eine Erfolgs­ these. Begründet wird dies mit der – Grundsteinlegung für den Ausbau eines liberalen Binnenmarktes, – Unterstützung weiterer Liberalisierungsschritte auch nach außen (außenorien­ tierte Regionalisierung) als Push-Faktor einer erfolgreichen Integration der regio­ nalen Volkswirtschaften in die Weltwirtschaft, – Schaffung gewisser politischer Stabilität, indem ASEAN ein Forum geschaffen hat, um politische Konflikte nach innen und außen zu entschärfen, weil der Dialog durch diese Plattform intensiviert wird. Dass diese Bewertung subjektiv ist und die Bewertung auch negativer ausfallen kann, räumt Werner Pascha ein. Denn gemessen an den eigenen (wirtschaftlichen) Zielen wie Zollunion bzw. Verwirklichung eines Binnenmarktes lassen sich erhebliche De­ fizite ausmachen. Dieser Sichtweise wird allerdings entgegengehalten, dass man die selbst gesteckten und verkündeten Ziele eher als eine „Kommunikationsstrategie“ be­ greifen solle, die – gerade mit Blick auf Partner innerhalb der Weltgemeinschaft – sehr positiv aufgenommen wurde. Man könnte es überspitzt so ausdrücken: Die Ziel­ verkündung ist als „Signalling“ für die Weltgemeinschaft aufzufassen. Man will hier „nur“ die zukünftige Richtung der Entwicklung skizzieren. Ob formulierte Ziel hier und da verfehlt wurden und werden, ist erst einmal sekundär. Folglich zogen und zie­ hen diese Zielverfehlungen auch keine Schuldzuweisungen (wie wir es aus der Euro­ päischen Union kennen) nach sich. So gesehen kann man schwerlich leugnen, dass sich auf dieser Basis nach außen viele wirtschaftliche und politische Beziehungen po­ sitiv entwickelt haben. Insofern kann man Paschas Erfolgsthese durchaus beipflich­ ten. Bevor wir zukünftige Herausforderungen und die Frage ihrer Bewältigung disku­ tieren (Werner Pascha spricht diesen Problemkreis am Ende seines Aufsatzes an), soll kurz die Governance-Struktur der ASEAN-Vereinigung dargelegt werden. ASEAN ist eine Staatengemeinschaft, die Entscheidungen im Konsens trifft. Das höchste Gremium ist die jährliche Gipfelkonferenz (ASEAN Summit). Der Vorsitz des ASEAN-Gipfels und der Ministerkonferenzen wechselt jährlich unter den Mitglieds­ staaten in alphabetischer Reihenfolge. Das wichtigste Organ ist das ASEAN-Sekretari­ at in Jakarta, geleitet von einem Generalsekretär. Eine Tendenz hin zu einer Mehrebe­ nen-Governancestruktur wird erst in jüngster Zeit diskutiert. Bisher fehlen Entschei­ dungskompetenzen auf supranationaler Ebene aber völlig. Auf absehbare Zeit wird an der Einstimmigkeit nicht „gerüttelt“ werden. Was bedeutet nun aber „Einstimmigkeit“ als Prinzip? Buchanan und Tullock (1962) haben sich in ihrem Buch „The Calculus of Consent“ mit dieser Frage beschäf­

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tigt. Sie unterscheiden bezüglich der Entscheidungsregel zwei Arten von Kosten: die Entscheidungsfindungskosten (decision making cost) und die Diskriminierungskos­ ten (external cost). Bei einem Abrücken von der Einstimmigkeitsregel, steigen die Diskriminierungskosten immer weiter an. Aufgrund des Vetorechts eines jeden Ak­ teurs sind diese Kosten beim Konsensprinzip natürlich 0. Dafür sinken die Entschei­ dungsfindungskosten mit jedem weiteren Abrücken von der Einstimmigkeitsregel. Gemäß dieser Kostenbetrachtung scheint es wenig sinnvoll, eine Abstimmungsre­ gel zu etablieren, die „Einstimmigkeit“ bedeutet. Das Vetorecht eines jeden Akteurs (hier Staates) kann ja nur dazu führen, dass Entscheidungen nur schwerlich zustande kommen. Wieso nimmt ASEAN dies in Kauf? ASEAN nimmt zum einen höhere Entscheidungsfindungskosten in Kauf, weil die Kosten einer Diskriminierung durch ein Überstimmen dazu führen könnten, dass die Gemeinschaft durch Austritte zerbricht. Zum anderen besteht (begründete) Hoffnung, dass eine Übereinstimmung bei den abstrakten Zielen insoweit vorhanden ist, dass man auch auf der Ebene der Maßnahmen durch Verhandlungen Einigkeit erzielen lässt – wenn auch langsam. Wie sieht es nun mit den zukünftigen Problemen, die Werner Pascha zum Ende seines Beitrags formuliert, aus? Genannt werden hier der Klimawandel, die Alterung der Gesellschaft, die Digitalisierung sowie die heterogenen Außenbeziehungen der einzelnen ASEAN-Staaten. Meine These ist, dass erst einmal nur der dritte Problembereich für die ASEANEbene eine Rolle spielt. Heterogene Außenbeziehungen können vor allem in Form unterschiedlicher Verträge eine Zerreißprobe für eine Staatengemeinschaft sein. Sol­ che Art von Verträgen mit unterschiedlichen Privilegien werden als Diskriminierun­ gen wahrgenommen. Und dies schlägt sich negativ auf eine vertiefende Zusammenar­ beit nieder. Insofern sollte die ASEAN-Ebene die Außenbeziehungen so koordinieren, dass die Vertragsheterogenität in den wirtschaftlichen Außenbeziehungen abgebaut beziehungsweise auf ein erträgliches Maß reduziert wird. Der Problembereich „Klimawandel“ wird unter den ASEAN-Staaten erst einmal weiter auf nationalstaatlicher Ebene behandelt. Erst, wenn Umwelt- und Klimastan­ dards, die von der Weltgemeinschaft eingefordert werden, zu asymmetrischen Wir­ kungen der ASEAN-Staaten führen, werden Sie diesen Problembereich ernsthaft auf der oberen Ebene verhandeln und koordinieren. Das Problem der (Über-) Alterung der Gesellschaft scheint aus heutiger Sicht kein Problembereich für die ASEAN-Ebene zu sein, da hier nationalstaatliche Politiken ein­ gesetzt werden können, die nicht unmittelbar diskriminierend wirken. Vergleichen wir abschließend die ASEAN-Staatengemeinschaft mit der EU, so fällt unmittelbar auf, dass die ASEAN-Gemeinschaft keine weitreichende Integration an­ gestrebt hat beziehungsweise anstrebt, sondern eher eine zentrale Ebene zur Koordi­ nation einsetzt. Die EU hingegen ist – vor allem aufgrund der Probleme mit der Wäh­ rungsunion – auf dem Weg zur politischen Union. Im Gegensatz zur EU erodiert in der ASEAN-Staatengemeinschaft die nationale Verantwortung nicht, und auch die Tritt­

288 | Martin Leschke

brettfahrerstrategie (Enthaltsamkeit bei Gemeinschaftsaufgaben) ist weniger ausge­ prägt – natürlich auch, weil die Anreize für solche Politiken viel geringer sind als in der EU. Der Erfolg der ASEAN-Gemeinschaft liegt also gerade in der Vermeidung von Kon­ flikten, die durch eine übereilte Integration entstehen können. Die nationale Verant­ wortung bleibt so erhalten. Nachteilig wirkt sich an dieser Art von Koordination ohne Delegation politischer Macht auf die obere Ebene aus, dass die gemeinsamen Ziele eben nur recht langsam erreicht werden können.

Literatur Buchanan, James M. und Gordon Tullock. 1962. The Calculus of Consent: Logical Foundations of Constitutional Democracy. Ann Arbor.

Andreas Knorr

Wirtschaftssystem und Wirtschaftsentwicklung Nordkoreas 1

Einleitung | 289

2

Vielfältige Datenprobleme | 290

3

Sozioökonomische Indikatoren | 292

4

Historischer Abriss | 295

5

Politisches System | 296

6

Wirtschaftssystem | 299

7

Fazit und Ausblick | 306

1 Einleitung Nordkorea ist eine der letzten verbliebenen Zentralverwaltungswirtschaften der Welt.¹ Das Regime überstand selbst den wirtschaftlichen und politischen Kollaps der Sowjet­ union – seines damaligen Haupthandelspartners – nicht nur politisch unbeschadet, sondern auch, zumindest offiziell, ohne grundlegende Änderungen am bestehenden Wirtschaftssystem – wenn auch um den Preis eines schweren Anpassungsschocks, der sich Mitte der 1990er auch in einer schweren Hungersnot manifestierte.² Außen­ politisch befindet sich das Land seit Ende des Koreakrieges (1950–1953) offiziell noch immer im Kriegszustand mit Südkorea. Abgeschlossen wurde am 27. Juli 1953 vom Chinese-North Korea Command (der Koreanischen Volksarmee und der Freiwilligenar­ mee des Chinesischen Volkes) und dem United Nations Command (der multinationa­ len Militärstreitmacht unter Führung der USA, die im Koreakrieg auf Seiten Südkoreas kämpfte) lediglich ein Waffenstillstandsabkommen als Zwischenschritt zu einer noch immer nicht erreichten abschließenden Friedensvereinbarung. Mit Beginn des Korea­ kriegs am 25. Juni 1950 wurde Nordkorea wirtschaftlichen Sanktionen unterworfen, die seither nicht aufgehoben wurden. Das damals von den USA verhängte Handels­ embargo wurde nach dem Ausstieg Nordkoreas aus dem Atomwaffensperrvertrag im

1 Abgesehen von Nordkorea findet sich eine solche Wirtschaftsordnung offiziell nur noch in Kuba und, in Form des Sozialismus des 21. Jahrhunderts (Dieterich 2006), in Venezuela unter den Regierun­ gen Chávez und Maduro. 2 Das besondere Ausmaß der damaligen Hungernot lässt sich daran erkennen, dass die nordkorea­ nische Regierung ab Anfang der 1990er, insbesondere ab 1995, erstmals überhaupt Nahrungsmittel­ hilfen aus Südkorea akzeptierte, welche sie zuvor regelmäßig abgelehnt hatte (vgl. Kim/Lee/Sumner 1998). https://doi.org/10.1515/9783110696745-010

290 | Andreas Knorr

Januar 2003 und der (offiziellen) Aufnahme eines eigenen Nuklearwaffenprogramms durch mehrere Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zwischen 2006 und 2017 erheblich ausgeweitet. In den letzten beiden Jahren ließ sich jedoch gewisse politische Annäherung zwi­ schen Nord- und Südkorea beobachten, die nicht zuletzt auf die Bereitschaft Donald Trumps zurückzuführen ist, als erster US-amerikanischer Präsident ein Gipfeltreffen mit einem Staatsoberhaupt Nordkoreas zu absolvieren, das am 12. Juni 2018 in Singa­ pur stattfand; ein Folgegipfel wird derzeit auf höchster diplomatischer Ebene vorbe­ reitet. Zugleich haben sich die offiziellen Kontakte zwischen den Staatsoberhäuptern Nordkoreas und Südkoreas deutlich intensiviert. Sichtbare Ergebnisse waren deren gemeinsame Panmunjom-Erklärung vom 27. April 2018 (Nordkorea-Info.de 2018) so­ wie die gemeinsame Erklärung von Pjöngjang vom 19. September 2018 (KBS World Radio 2018). In beiden Dokumenten wurde neben der Entnuklearisierung der koreani­ schen Halbinsel, der Aufstellung gesamtkoreanischer Mannschaften bei wichtigen in­ ternationalen Sportwettbewerben und der gemeinsamen Bewerbung um die Sommer­ olympiade 2032 auch der Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit vereinbart. Demgegenüber scheinen sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage Nordko­ reas kontinuierlich weiter zu verschlechtern. So warnte die Regierung im Februar 2019 die Vereinten Nationen vor einer anstehenden Hungernot und erklärte, dass das Land 1,4 Millionen Tonnen Nahrungsmittel benötige. Zugleich wurden die der Bevölkerung zugeteilten Essensrationen von 550 Gramm pro Tag auf nur mehr 300 Gramm nahezu halbiert (ohne Verfasser 2019). Vor diesem Hintergrund widmet sich die vorliegende Abhandlung dem Wirt­ schaftssystem und der wirtschaftlichen Entwicklung Nordkoreas.

2 Vielfältige Datenprobleme Jede wissenschaftliche Untersuchung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems Nordkoreas wird erheblich erschwert durch das weitgehende Fehlen unabhängig er­ hobener sozioökonomischer Daten und Indikatoren, denn diese gelten überwiegend als Staatsgeheimnisse. Sie sind folglich Ausländern (sowie auch allen Nordkoreanern mit Ausnahme der obersten politischen Führung) nicht zugänglich. Erschwerend hin­ zukommen politisch-propagandistisch motivierte Verzerrungen bis hin zu veritablen Datenfälschungen. Beispielsweise wurde Kim Jong-Il, der Sohn des Staatsgründers Kim Il-Sung und nach dessen Tod sein Nachfolger als Staatschef, dem sowjetischen Geburtenregister zufolge 1941 im russischen Fernen Osten nahe der Stadt Khabarovsk geboren, wo sich sein Vater im politischen Exil befand. Offiziellen nordkoreanischen Quellen zufolge erblickte er demgegenüber erst im Februar 1942 in einem Militärlager der von seinem Vater angeführten Guerillagruppe zur Befreiung des Landes von der

Wirtschaftssystem und Wirtschaftsentwicklung Nordkoreas

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japanischen Besetzung am Fuße des Bergs Peaktusan das Licht der Welt (Kim 1998; BBC News 1999).³ Unabhängig von diesen Limitationen wären die im Rahmen von Länder- und insbesondere von Wirtschaftssystemvergleichen üblicherweise genutzten makroöko­ nomischen Kennziffern zur Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Zentralverwaltungswirtschaft aus offensichtlichen methodischen Gründen ökono­ misch kaum aussagekräftig. Denn diese unterscheidet sich hinsichtlich der Aus­ gestaltung ihrer konstitutiven und akzessorischen Formelemente fundamental von einer marktwirtschaftlichen Ordnung (Kolb 1991: 55 ff.). So setzen Indikatoren wie die Arbeitslosenquote, die Inflationsrate, das Bruttonationaleinkommen (beziehungs­ weise das Bruttoinlandsprodukt oder das Bruttosozialprodukt) sowie dessen Wachs­ tumsrate wettbewerblich organisierte Güter- und Faktormärkte mit funktionsfähigem Preismechanismus, dezentraler Planung und Privateigentum voraus – Ausprägun­ gen dieser Formelemente also, die allesamt in Nordkorea nur innerhalb der wenigen geduldeten Sphären begrenzter privatwirtschaftlicher Betätigung teilweise gegeben sind. Die entsprechenden Werte für Nordkorea, die beispielsweise im World Fact­ book der CIA regelmäßig veröffentlicht werden (Central Intelligence Agency 2019a), basieren daher überwiegend auf Schätzungen, Hochrechnungen und Plausibilitäts­ erwägungen. Seit dem Zusammenbruch der Zentralverwaltungswirtschaften der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten werden deshalb routinemäßig Hilfsquellen für die Ana­ lyse der wirtschaftlichen Entwicklung herangezogen.⁴ Neben Energieproduktionsund Energieverbrauchsdaten (Rawski 2001; Fernald/Markin/Spiegel 2013) erfreuen sich in diesem Zusammenhang vor allem Satellitenaufnahmen großer Beliebtheit (Henderson, Storeygard und Weil 2012). Im speziellen Kontext Nordkoreas werden aufgrund der weitreichenden politischen Abschottung des Landes gegenüber dem Ausland überdies weitere Hilfsquellen unterschiedlicher Akkuratesse herangezogen. Dabei handelt es sich vor allem um Augenzeugenberichte von Flüchtlingen und Über­ läufern sowie den Mitarbeitern im Lande tätiger ausländischer Hilfsorganisationen, Geheimdienstberichte, aber auch die Einfuhr- und Ausfuhrstatistiken der wichtigsten Handelspartner Nordkoreas (wobei letztere infolge der langjährigen internationalen Sanktionen gegen Nordkorea ebenfalls nur sehr eingeschränkt aussagekräftig sind, da diese illegale grenzüberschreitende Transaktionen natürlich nicht erfassen.

3 Von diesem in Nordkorea als heilig angesehenen Berg nahm der nordkoreanischen Propaganda zu­ folge der von Kim Il-Sung angeführte Kampf zu Befreiung der koreanischen Halbinsel seinen Ausgang. 4 In jüngerer Vergangenheit werden die genannten Methoden auch regelmäßig von ausländischen Analysten zur Validierung der offiziellen Wirtschaftsdaten der Volksrepublik China als ergänzende Daten herangezogen.

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3 Sozioökonomische Indikatoren Vergleicht man die vorliegenden sozioökonomischen Daten Nordkoreas und Südko­ reas, lassen sich erhebliche und vor allem im Zeitablauf zunehmende Entwicklungs­ unterschiede konstatieren (zum folgenden: Central Intelligence Agency 2019a und 2019b; Institut der deutschen Wirtschaft 2018; Kim 2019a); in diesem Zusammenhang ist überdies festzuhalten, dass das heutige Nordkorea zum Zeitpunkt der Staatsgrün­ dung wirtschaftlich etwas höher entwickelt war als Südkorea. Die Bevölkerungszahl Nordkoreas beträgt derzeit 25,2 Millionen Einwohner (Süd­ korea: 51,4 Millionen) bei einem Bevölkerungswachstum von 0,52 Prozent (Südkorea: 0,44 Prozent). die durchschnittliche Lebenserwartung beläuft sich auf 71 Jahre (Süd­ korea: 82,5 Jahre) bei einem Medianalter von 34,2 Jahren (Südkorea: 42,3 Jahre). Die Geburtensterblichkeit Nordkoreas von 22 Todesfällen je 1.000 Geburten übersteigt die­ jenige Südkoreas (3 Todesfälle je 1.000 Geburten) um etwas mehr als das Siebenfache. Gemessen in Kaufkraftparitäten-Dollar wurde das Bruttoinlandsprodukt Nordko­ reas für 2015 auf 40 Milliarden geschätzt. Der entsprechende Wert für Südkorea be­ trug 2.027 Milliarden. Dies entspricht Pro-Kopf-BIP-Werten von 1.700 respektive 39.000 Kaufkraftparitäten-Dollar. Während jedoch die südkoreanische Volkswirtschaft seit mehreren Jahrzehnten zu den dynamischsten Ökonomien weltweit zählt, gelang es Nordkorea im Zeitablauf nicht nur nicht, seine Wirtschaftsleistung dauerhaft zu stei­ gern; im Gegenteil ist diese seit Anfang der 1990er Jahre tendenziell rückläufig, wie der nachstehenden Abbildung 1 zu entnehmen ist. Südkoreanische Schätzungen ge­ hen sogar von einem Schrumpfen der Wirtschaftsleistung um minus 3,5 Prozent im Jahr 2017 aus (Welter 2018). Einen realistischeren Einblick in die Wirtschaftsentwicklung beider Länder erhält man durch den Vergleich der Pro-Kopf-Emissionen von CO2 im Zeitablauf; er ist der

GDP per capita: North Korea vs. South Korea (1990 US$) 25

GDP/cap

20 15 10 5 0 1940

1950

1960

1970

1980

1990

2000

2010

Decade South (GDP per cap)

North (GDP per cap)

Abb. 1: Pro-Kopf-BSP – Nordkorea versus Südkorea (Quelle: indexmundi 2019a und 2019b).

2020

Wirtschaftssystem und Wirtschaftsentwicklung Nordkoreas

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293

CO2 emissions per capita North Korea vs. South Korea 3,5 3

t/cap

2,5 2 1,5 1 0,5 0 1940

1950

1960

1970

1980

1990

2000

2010

2020

Decade South CO2 (t/cap)

North CO2 (t/cap)

Abb. 2: CO2 -Emissionen pro Kopf – Nordkorea versus Südkorea (Quelle: Boden/Marland/Andres 2011).

vorstehenden Abbildung 2 zu entnehmen und zeigt deutlich die extreme Kontraktion der nordkoreanischen Volkswirtschaft ab Anfang der 1990er Jahre, von der sich das Land seither kaum erholen konnte. Die überaus schwierige wirtschaftliche Lage Nordkoreas lässt sich auch an der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen ablesen. Obschon in dem Land nach offiziellen Statistiken mit 4,2 Prozent nahezu Vollbeschäftigung herrscht (Trading Economics 2019), gehen westliche Schätzungen davon aus, dass inzwischen etwa ein Viertel der Nordkoreanerinnen und Nordkoreaner im erwerbsfähigen Alter ohne offizielle Beschäftigung sind (Central Intelligence Agency 2019a). Allerdings ist auch anhand dieses Werts das tatsächliche Ausmaß an Unterbeschäftigung, das heißt an verdeckter und offener Arbeitslosigkeit, nicht exakt ablesbar. Auch die Wirtschaftsstruktur beider Länder weist signifikante Unterschiede auf. Während lediglich zwei Prozent der südkoreanischen Wirtschaftsleistung im primä­ ren Sektor erbracht werden, betragen die Anteile des sekundären und des tertiären Sektors 39 Prozent respektive 59 Prozent. Demgegenüber ist Nordkorea weiterhin stark agrarisch geprägt (25 Prozent), während Industrie und verarbeitendes Gewerbe mit 41 Prozent in etwa auf dem Niveau Südkoreas liegen. Wesentlich kleiner ist jedoch der Anteil der Dienstleistungen mit lediglich 34 Prozent. Des Weiteren zählt Nordkorea zu den am wenigsten in die internationale Arbeitsteilung integrierten Nationen welt­ weit. Das absolute Niveau der (offiziellen) Export- und Importaktivitäten ist infolge der

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Tab. 1: Ausländische Kredite und Zuwendungen in Millionen US-Dollar (Quelle: Korean Development Institute 2012: 19). Zeitraum

Die frühere Sowjetunion

Vor 1948 1953–60 (Zuschüsse) 1961–70 1971–80 1981–90 Gesamt

53,0 609,0 (325,0) 558,3 682,1 508,4 2.409,8

China

Andere sozialistische Staaten

OECD-Mitglieder

– 459,6 (287,1) 157,4 300,0 500,0 1.417,0

– 364,9 (364,9) 159,0 – – 523,9

– – – 9 1.292,2 – 1.301,0

Zwischensumme 53,0 1.883,5 (977,0) 883,7 2.274,1 1.008,4 6.102,7

seit Jahrzehnten gegen das Land anhängigen Wirtschaftssanktionen außerordentlich gering. Außerdem weist Nordkorea den vorliegenden Daten zufolge seit Jahrzehnten ein chronisches Handelsbilanzdefizit auf und leidet in der Folge an einem erhebli­ chen Mangel an Devisenreserven in Hartwährung; beispielsweise standen 2017 Ex­ porte im Wert von US$ 1,74 Milliarden Importe im Wert von US$ 3,42 Milliarden gegen­ über. Schließlich besteht eine außergewöhnlich große Abhängigkeit zum Haupthan­ delspartner China, auf den 91 Prozent der nordkoreanischen Exporte und 94 Prozent der Importe entfallen (Observatory of Economic Complexity 2019). Zu den wichtigs­ ten Exportgütern zählen, neben Kohle und Erzen, Textilien sowie landwirtschaftliche und Fischereierzeugnisse. Importiert werden vor allem Textilien, Plastikmaterialen, Treibstoff, Maschinen, Lkw, Rundfunk- und Fernsehtechnik und Nahrungsmittel. Finanziert wurde das Handelsbilanzdefizit Nordkoreas über mehrere Jahrzehnte hinweg mit Hilfe von Transferzahlungen aus dem (ehemals) sozialistischen Ausland und später Südkorea (siehe Tabelle 1). Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und vor allem ab der Serie von Missernten ab Mitte der 1990er Jahre kamen Realtransfers in Form von Nahrungsmittelhilfen hinzu. Allerdings gelang es Nordkorea 2012, in bi­ lateralen Verhandlungen mit Russland, einen Schuldenschnitt im Gegenwert von elf Milliarden US-Dollar sowie eine Umschuldung der restlichen Verbindlichkeiten zu­ gunsten russischer Investitionsprojekte im Land zu vereinbaren. Dies entsprach ei­ nem Haircut um neunzig Prozent; es handelte sich dabei noch um Altschulden aus Zeiten der Sowjetunion (ohne Verfasser 2012). Die verbleibenden Auslandschulden des Landes werden – Stand 2013 – auf circa US$ 5 Milliarden taxiert (Central Intel­ ligence Agency 2019a). Sie entstanden beim (erfolglosen) Versuch der nordkoreani­ schen Regierung, in den 1970er Jahren durch den Import westlicher Technologien die Modernisierung der Industrie voranzutreiben und so die Wirtschaftsleitung unter Bei­ behaltung der zentralverwaltungswirtschaftlichen Strukturen zu steigern. Nordkorea stellte die Tilgung seiner Auslandsschulden an westliche Gläubiger 1984 einseitig und als erste Zentralverwaltungswirtschaft überhaupt ein (Kristof 1987).

Wirtschaftssystem und Wirtschaftsentwicklung Nordkoreas

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Im von der Heritage Foundation (2019) entwickelten Index der wirtschaftlichen Freiheit nimmt Nordkorea schließlich mit nur 5,9 Punkten (von 100) sowohl in der asiatisch-pazifischen Region als auch weltweit mit großem Abstand den letzten Rang ein. Im vergleichbaren Index Economic Freedom of the World des kanadischen Fraser Institute (2018) wird das Land ebenso wenig wie im Doing Business-Ranking der Welt­ bank (World Bank 2019) mangels hinreichender Betätigungsmöglichkeiten für priva­ tes Unternehmertum, einschließlich ausländischer Investoren, aufgeführt. Gemessen am Anteil seiner Militärausgaben am BIP rangiert Nordkorea allerdings weltweit deutlich an der Spitze. Ausländische Schätzungen – offizielle Zahlen existie­ ren nicht – schwanken zwischen circa zwanzig Prozent und einem Drittel des nord­ koreanischen BIP (Tooth 2017; Sommerfeldt/Zschäpitz 2017). Darüber hinaus verfügt das Land mit 1,17 Millionen Soldatinnen und Soldaten bei einer rein quantitativen Be­ trachtung über die viertgrößten Streitkräfte weltweit, wobei ein weiteres Viertel der Bevölkerung als paramilitärische Reserve hinzuzurechnen ist (Hegmann 2017). In ab­ soluten Zahlen betrachtet belaufen sich die geschätzten Militärausgaben Nordkoreas auf lediglich circa zehn Milliarden US$ im Vergleich zu 37,56 Milliarden US$ für Süd­ korea (Statista 2019).

4 Historischer Abriss Die koreanische Halbinsel bildet seit jeher eine, aufgrund ihrer geografischen La­ ge, geopolitisch bedeutsame Einflusssphäre sowie einen Pufferstaat konkurrierender Groß- und Regionalmächte wie China, der Mongolei, der Sowjetunion beziehungs­ weise Russlands, Japans und der USA. Seit der Frühzeit bestanden dort diverse ko­ reanische Staatsgebilde unterschiedlicher Stabilität. Zu den bedeutendsten zählen neben dem Go-Joseon, dem ersten historisch verbrieften Königreich (ca. 2.333–108 AD), die Königreiche Goryeo (918–1392) und Joseon (1392–1897) und das Kaiserreich Korea (1897–1910). 1905 gelangte die koreanische Halbinsel jedoch unter den Einfluss des expandierenden japanischen Kaiserreichs, zunächst ab 1905 als dessen Protek­ torat und ab 1910 schließlich als dessen Kolonie. Nach der Kapitulation Japans am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Halbinsel zunächst von der Sowjetunion – nördlich des 38. Breitengrads – und den USA – südlich desselben – besetzt. Unter amerikanischem Einfluss wurde schließlich am 15. August 1948 die Staatsgründung der Republik Koreas (Südkorea) vollzogen; die Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) wurde nur wenig später, initiiert von der Sowjetunion, am 09. September 1948 ausgerufen. Bereits vor der doppelten Staatsgründung unternahmen die USA und die Sowjetunion intensive Bemühungen, in ihren jeweiligen Einflusszonen ihre konkurrierenden politischen und wirtschaftlichen Systeme zu verankern. Bereits kurz nach der Staatengründung eskalierten die politischen Spannungen zwischen beiden koreanischen Staaten und mündeten am 25. Juni 1950 im Koreakrieg.

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Am 27. Juli 1953 unterzeichneten die Vereinten Nationen, die Volksrepublik China und Nordkorea ein Waffenstillstandsabkommen, dem Südkorea bis zum heutigen Tag fern­ blieb. Da seither kein Friedensvertrag zu Stande kam, befinden sich Nordkorea und Südkorea formal somit noch immer im Krieg. Der seither in unterschiedlicher Inten­ sität schwelende Koreakonflikt (Hilpert/Meier 2019) verschärfte sich wesentlich seit 2003, als Nordkorea seinen Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag erklärte und we­ nig später sein Kernwaffenprogramm initiierte. Die bislang letzten Nuklearwaffentests mit ballistischen Raketen fanden am 28. November 2017 mit einer Hwasong-15-Rakete statt, deren Reichweite ca. 13.000 km beträgt und die somit in der Lage ist, nahezu jeden Punkt in den USA zu erreichen. Mit der Aufnahme von Kernwaffentests im Jahr 2006 wurden die internationalen Sanktionen gegen Nordkorea nochmals deutlich verschärft. Bereits mit Beginn des Ko­ reakriegs verhängten die USA Wirtschaftssanktionen, die bis heute in Kraft sind und die lediglich humanitäre Hilfe ausnehmen. Seit 2006 beschloss der Weltsicherheitsrat mehrere Resolutionen mit Sanktionen, die allerdings nicht von allen UN-Mitglieds­ staaten befolgt wurden. So erklärte sich China erst 2017 bereit, seinen daraus resultie­ renden völkerrechtlichen Verpflichtungen für ein Jahr nachzukommen (Einfuhrstopp für Kohle und Textilien aus Nordkorea; Ausfuhrstopp für Erdölprodukte nach Nord­ korea). Auch die EU (seit 2006), Südkorea (seit 2010), Japan (seit 2016) und Australien (seit 2017) verhängten zwischenzeitlich umfassende Wirtschaftssanktionen nach dem Muster der USA.

5 Politisches System Laut seiner Verfassung ist Nordkorea ein sozialistischer Staat nach dem Vorbild der ehemaligen Sowjetunion. Entsprechend ähnlich ist der politische Staatsaufbau des Landes. Im Parlament, der Obersten Volksversammlung, vertreten sind derzeit drei Parteien. Die Partei der Arbeit Koreas (PdAK) stellte als Staatspartei bis zur Wahl am 12. März 2019 607 der insgesamt 687 Abgeordneten. Schätzungen zufolge sind vier bis acht Millionen Nordkoreaner Mitglied der PdAK. Zusammen mit zwei Blockparteien – die über keine eigenen Parteiorganisationen verfügen –, der Sozialdemokratischen Partei Koreas (49 Abgeordnete) und der national-religiös geprägten Chondoistischen ˘ Ch’ongu-Partei (22 Abgeordnete), bildet die PdAK die Demokratische Front für die Ver­ einigung des Vaterlandes, die zusammen 682 Abgeordnete auf sich vereint. Neu seit der Wahl 2019 mit fünf Sitzen im Parlament vertreten ist nunmehr auch der General­ ˘ verband der Koreaner in Japan Ch’ongryon.⁵

5 Die vollständige Liste sämtlicher gewählter Abgeordneter findet sich unter https://en.wikipedia. org/wiki/2019_North_Korean_parliamentary_election.

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Die wichtigsten Entscheidungsorgane der PdAK sind das Zentralkomitee (ZK), welches auch die Zentralorgane der Presse, das Staats­ fernsehen, den staatlichen Rundfunk und das nordkoreanische Internet kontrol­ liert, das Politbüro als höchstes politisches Führungsgremium der PdAK sowie die Zentrale Militärkommission als das höchste Führungsorgan der Volksarmee.

In die PdAK integriert sind außerdem der 2016 in Kimilsungistisch-Kimjongilistischer Jugendverband umbenannte Sozialistische Jugendverband „Kim Il-Sung“ einschließ­ lich des Korps der jungen Pioniere mit zusammen schätzungsweise acht Millionen Mit­ gliedern sowie der Demokratische Frauenbund. Als einzigem sozialistischem Land überhaupt entstammten die Staatsoberhäup­ ter Nordkoreas bislang ausschließlich einer einzigen Familie. Diese auch als Paek­ tusan-Blutverwandtschaft⁶ bezeichnete de facto-Erbmonarchie wurde vom Staats­ gründer Kim Il-Sung begründet. Dieser regierte ununterbrochen vom 9. September 1948 bis zu seinem Tod am 8. Juli 1994 (45 Jahre und 302 Tage). Zu seinem Nachfolger bestimmte er seinen Sohn Kim Jong-Il, der bis zu seinem Ableben am 17. Dezember 2011 als Staatsoberhaupt fungierte. Diesem folgte wiederum mit dem derzeitigen Staatschef Kim Jong-Un einer seiner Söhne nach. Für außenstehende Beobachter naturgemäß nicht erkennbar ist, ob sich diese Dy­ nastiebildung innerhalb der PdAK eher einvernehmlich vollzog, oder ob sie parteiin­ tern auf Widerstände stieß. Dokumentiert sind jedoch wiederholte Säuberungen, in denen es Kim Il-Sung sukzessive gelang, rivalisierende Gruppierungen innerhalb der PdAK im Kampf um die politische Vorherrschaft innerhalb der Partei wirksam aus­ zuschalten und zugleich die Loyalität seiner eigenen Verbündeten durch Gewährung von Vergünstigungen zu stärken. Nicht zu unterschätzen sein dürfte in diesem Zusam­ menhang auch die Bedeutung des Songbun-Systems, einer hoch differenzierten und inzwischen volldigitalisierten Form der sozialen Kontrolle und vor allem der politi­ schen Zuverlässigkeitsüberprüfung; ihr sind sämtliche nordkoreanischen Staatsbür­ ger unterworfen (Collins 2012). Deren Vertrauenswürdigkeit und Loyalität zur Familie Kim und dem Staat wird bereits seit den fünfziger Jahren regelmäßig alle zwei Jahre systematisch anhand eines Katalogs von derzeit 51 Kriterien bewertet, wobei auch der familiäre Hintergrund in die Bewertung einfließt. Eine Verbesserung des individuellen Songbun-Score ist faktisch nur in wenigen Ausnahmefällen möglich, wohl aber eine Herabstufung. Unterschieden werden die drei Zuverlässigkeits- und Loyalitätsklassen „Kern“ (haeksim), „wankelmütig“ (dongyo) und „feindlich gesonnen“ (choktae).⁷ Vom Songbun-Score abhängig sind nicht nur die Aufnahme als Mitglied in die PdAK (mit 6 In Anlehnung an den Gründungsmythos Nordkoreas, in dem die Befreiung des Landes unter Füh­ rung von Kim Il-Sung von einem Militärlager am Fuße dieses Berges ihren Ausgang genommen hatte. 7 In einer Rede Kim Il-Sungs aus dem Jahr 1958 war folgende Aufteilung enthalten: „Kern“: 25 Prozent, „wankelmütig“: 55 Prozent und „feindlich gesinnt“: 20 Prozent.

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den damit verbundenen Privilegien, unter anderem bei der materiellen Versorgung), sondern auch so essenzielle Lebensbereiche wie die Wahl des Berufs und die Zuwei­ sung des Wohnorts. Darüber hinaus gelang es Kim Il-Sung, seinen Sohn Kim Jong-Il frühzeitig als Oberhaupt der Zentralen Militärkommission einzusetzen, so dass dieser sich die Unterstützung der Streitkräfte bei der Nachfolge Kim Il-Sungs sichern konnte (Lim 2012). Große Bedeutung bei der Absicherung der Kim-Dynastie dürfte schließlich auch dem exzessiven Personenkult (Lim 2015)⁸ zugekommen sein, der bereits seit der Staatsgründung einen wesentlichen Pfeiler der spezifisch nationalistisch orientierten nordkoreanischen politischen Ideologie bildet (Baek 1999). Diese setzt sich aus den folgenden drei Kernelementen zusammen: (1) Mittels der Juche-Ideologie (Kim 1982) legte das Regime die ideologischen Grund­ lagen eines Nordkorea-spezifischen Sozialismusstils mit ausgeprägten konfuzia­ nischen⁹ Wurzeln. Sie fußt auf der zentralen Annahme, dass der Mensch selbst – und zwar vertreten durch einen Großen Führer – der Gestalter jeglichen gesell­ schaftlichen Fortschritts sei. Damit steht Juche in einem ideologischen Gegensatz zur traditionellen Lehre des Marxismus-Leninismus, der durch die Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsverhältnisse – das heißt insbesonde­ re der herrschenden Eigentumsverhältnisse – gesellschaftlichen Wandel herbei­ zuführen trachtet. Etwas konkreter steht die Juche-Ideologie für größtmögliche politische Unabhängigkeit des Landes bei einem Höchstmaß an wirtschaftlicher Selbstversorgung und der Fähigkeit zur umfassenden militärischen Selbstvertei­ digung. (2) Etwa ab dem Jahr 2009 wurde die Juche-Ideologie um die Songun-Ideologie er­ gänzt. Diese wurde wesentlich von Kim Jong-Il zu dessen Zeit als Vorsitzender der Zentralen Militärkommission entwickelt und besagt, dass dem Militär in der Ge­ sellschaft grundsätzlich die führende politische Rolle zuzuweisen sei (sogenannte Militär-Zuerst-Politik) (Chol 2012). (3) Die Zehn Prinzipien für die Errichtung des monolithischen ideologischen Systems¹⁰ kodifizierten schließlich den ideologischen und personellen Alleinherrschaftsan­ spruch von Kim Il-Sung innerhalb der PdAK. Sie wurden im Jahr 1967 unter Kim Il-

8 Beispielsweise besitzt das Land eine eigene Zeitrechnung, die mit dem Geburtsjahr Kim Il-Sungs beginnt. Beispielweise entspricht das Jahr 2019 in Nordkorea dem Jahr Juche 108. Außerdem wird der Geburtstag Kim Il-Sungs am 15. April 1912 offiziell als Tag der Sonne und nordkoreanischer National­ feiertag gefeiert. 9 In dem Sinn, dass jedem Mitglied einer Gesellschaft ein bestimmter hierarchischer Rang zugewiesen wird, also eindeutige Überordnungs-Unterordnungsbeziehungen bestehen, mittels derer eine Gesell­ schaft stabilisiert wird. 10 Die Zehn Prinzipien können im Volltext unter folgendem Link abgerufen werden: http:// www.internationallawbureau.com/wp-content/uploads/2016/12/Ten-Great-Principles-of-theEstablishment-of-the-Unitary-ideology.pdf.

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Sung im Anschluss als Reaktion auf die letzte nach außen hin bekannt gewordene Säuberung der Staatspartei von parteiinternen Oppositionellen erarbeitet (Person 2013) und 1974 offiziell verabschiedet. Sie verpflichten mittels zehn Grundprin­ zipien, die wiederum durch insgesamt 65 Direktiven konkretisiert werden, alle Nordkoreaner unter Androhung harter Strafen zur unbedingten Treue zum Macht­ haber und dessen Familie. Faktisch heben sie – für westliche Demokratien konsti­ tutive – Grundrechte wie unter anderem die freie Meinungsäußerung, die Freiheit der politischen Betätigung, die Pressefreiheit sowie die Religionsfreiheit auf. Sie wurden 2013 nach dem Machtwechsel von Kim Jong-Il zu Kim Jong-Un letztmals überarbeitet und stehen formaljuristisch noch über der nordkoreanischen Verfas­ sung.

6 Wirtschaftssystem Widmen wir uns zuerst der Funktionsweise des Wirtschaftssystems. Das Wirtschaftssystem Nordkoreas entsprach, als integraler Bestandteil der an­ gestrebten Transformation des gesamten Gesellschaftssystems, zunächst exakt dem zentralverwaltungswirtschaftlichen Typ sowjetischen Musters.¹¹ Dessen Aufbau wur­ de bereits mit Beginn der sowjetischen Besatzung Nordkoreas nach dem Zweiten Welt­ krieg in Angriff genommen und nach dem Ende des Koreakriegs auch als Instrument des politisch-wirtschaftlichen Systemwettbewerbs zwischen Ost und West massiv for­ ciert. Zu den wesentlichen Formelementen des nordkoreanischen Wirtschaftssystems zählen folglich (Brun und Hersh 1976; Frank 2014: 14 ff.; ohne Verfasser 2016): – Die überwiegend durch Enteignungen vollzogene Vergesellschaftung sämtlicher Produktionsmittel, wobei zu den staatseigenen Betrieben auch die vom Mili­ tär und den Sicherheitsorganen betriebenen Wirtschaftsbetriebe zu zählen sind. Letztere waren und sind insbesondere im grenzüberschreiten Warenverkehr tätig, um dringend benötigte Fremdwährungseinnahmen zu erlösen, – die ebenfalls durch Enteignungen umgesetzte Kollektivierung der Landwirt­ schaft, – die zentrale Planung und Lenkung des gesamten Produktionsprozesses – ein­ schließlich des Einsatzes der Produktionsfaktoren, der Faktoreinkommen, der Unternehmensfinanzierung, sowie der Verrechnungs- und Endpreise – durch eine Zentralplanbehörde auf der Basis eines Systems gesamtwirtschaftlicher Ein­ jahres- und Mehrjahresvolkswirtschaftspläne, – die naturale Planung der zu produzierenden Mengen über ein Bilanzierungssys­ tem, in dem für jedes Gut (Vorprodukte inklusive der Produktionsfaktoren, Zwi­ schenprodukte, Endprodukte) deren jeweilige Bestandsmengen die Planungsin­ 11 Grundsätzlich dazu Dembinski (1991), Hensel (1979), Spencer (1960: 121 ff.) sowie von Hayek (1963).

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stanz den von ihr geschätzten Bedarfsmengen gegenübergestellt hatte. Zentrale Steuerungsgröße und Knappheitsindikatoren waren somit der Saldo dieser na­ turalen Planbilanzen (anstelle der für Marktwirtschaften konstitutiven pretialen Steuerung), die zentral organisierte Zuteilung von Konsumgütern einschließlich Wohnraum über das sogenannte Öffentliche Verteilungssystem (OVS), welches es der Regie­ rung zudem erlaubte, weitgehend auf Bargeld zu verzichten.

Um den gewünschten Industrialisierungsprozess möglichst zügig voranzutreiben, zu­ gleich aber auch eine hohe Schlagkraft des nordkoreanischen Militärs und der Sicher­ heitskräfte dauerhaft sicherzustellen, legte die Regierung den Planungsschwerpunkt zunächst auf die systematische Entwicklung und den Ausbau der Schwer- und der Rüstungsindustrie; inzwischen zählt auch die Informationstechnologie zu den bevor­ zugt entwickelten Wirtschaftszweigen. Demgegenüber kam und kommt der Landwirt­ schaft die Rolle zu, das Land auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung möglichst autark zu halten. Welche endogenen Faktoren sind für Funktionsprobleme verantwortlich? Gleichwohl zeigten sich auch in Nordkorea rasch die Zentralverwaltungswirtschaf­ ten immanenten Funktionsprobleme (Murrell und Olson 1991, Easterly und Fischer 1995; Vonyó und Klein 2019). Diese waren und sind ökonomisch im Wesentlichen dem Fehlen wirksamer Lenkungs- und Leistungsanreize geschuldet: Wesentliche Faktoren stellten in diesem Zusammenhang die Ineffizienz der zentralen Planungsbürokratie, fehlende private Eigentums- und Verfügungsrechte an den Produktionsfaktoren sowie gravierende Informationsmängel und Informationsasymmetrien dar; letztere bestan­ den zum einen zwischen der Planungsbehörde und den ausführenden Unternehmen (Stichwort: Weiche Pläne, das heißt gezielte Falschmeldungen bezüglich Produktions­ kapazität und erzieltem Output) und anderen zwischen der Planungsbehörde und der Nachfrageseite. So manifestierte sich die bis heute deutlich schlechtere wirtschaft­ liche Performanz der zentralverwaltungswirtschaftlich organisierten sozialistischen Volkswirtschaften im Allgemeinen und von Nordkorea im Besonderen vor allem in – regelmäßigen Versorgungsengpässen infolge systematischer Planungsfehler bei zugleich wesentlich niedriger Anpassungsflexibilität bei Datenänderungen auf der Angebots- und der Nachfrageseite sowie als Reaktion auf exogene Schocks; – einem den Präferenzen der Nachfragen nur teilweise entsprechenden Angebot an Waren und Dienstleistungen; – einer im Vergleich zu marktwirtschaftlich ausgerichteten Ökonomien deutlich geringeren Faktorproduktivität bei zugleich langfristig anhaltend unterdurch­ schnittlichem Produktivitätswachstum mit entsprechenden Konsequenzen für die Entwicklung der Faktoreinkommen; – der chronischen Vernachlässigung von Erhaltungs- und Modernisierungsinves­ titionen in Sach- und Infrastrukturkapitel. Diese resultierte nicht nur in der suk­

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zessiven Überalterung des direkt produktiven Kapitalstocks und der Produktions­ technologien, sondern auch in einem sinkenden Modernitätsgrad der physischen Infrastrukturen, insbesondere des Verkehrswesens und der Energieversorgung. Beides erwies sich in der Folge als gravierender Engpass für Wirtschaftswachs­ tum¹² und wirtschaftliche Entwicklung sowie als Quelle erheblicher negativer Ex­ ternalitäten im Umweltbereich; die Vorrangpolitik für das Militär sowie den Unterhalt eines umfassenden Über­ wachungsstaates zur Absicherung des politischen Systems nach Außen und nach Innen; beide binden ebenfalls erhebliche Ressourcen in gesamtwirtschaftlich un­ produktiven Verwendungen; sowie die minimale Integration des Landes in die internationale Arbeitsteilung, die nicht nur der Hebung komparativer Kostenvorteile entgegensteht, sondern eine Hauptursache für den chronischen Mangel an Devisen darstellt.

Darüber hinaus erwies sich die langjährige Fokussierung auf ein überwiegend nur quantitatives Wirtschaftswachstum und die daraus zwangsläufig resultierende zu­ nehmende Verknappung der verfügbaren Produktionsfaktoren als weiterer Engpass­ faktor. Dieser hemmte die geplante Ausweitung des Produktionspotentials der nord­ koreanischen Wirtschaft zunehmend. Wie wenig es der Planbehörde selbst über mehrere Jahrzehnte hinweg nicht gelang, die Funktionsmängel des zentralverwal­ tungswirtschaftlichen Wirtschaftssystems zu überwinden, zeigt sich letztlich daran, dass seit 1993 kein Zentralplan mehr veröffentlicht wurde (obwohl diese weiterhin erstellt werden). Welche exogenen Faktoren sind für Funktionsprobleme verantwortlich? Die soeben beschriebenen Funktionsprobleme der nordkoreanischen Volkswirtschaft wurden im Zeitablauf jedoch auch durch – teilweise nahezu zeitgleich auftretende – exogene Schocks mitunter erheblich verschärft. So bedeutete der wirtschaftliche und politische Zusammenbruch der Sowjetunion und deren offizielle Auflösung am 21. De­ zember 1991 für Nordkorea den weitgehenden Wegfall der geopolitisch motivierten und bereits an anderer Stelle dieses Textes quantifizierten Wirtschaftshilfe zur Stüt­ zung des nordkoreanischen Regimes. Sie erfolgte insbesondere in Form stark verbil­ ligter Rohölimporte für die Energieerzeugung und die Düngemittelherstellung (Frank 2014: 76 f.). Dieser Wegfall wurde später durch die Volksrepublik China zwar teilweise kompensiert. Allerdings zog das zu Beginn des Millenniums von Nordkorea initiier­ te und bis heute fortgeführte Kernwaffenprogramm eine erhebliche Verschärfung des Koreakonflikts sowie als Reaktion der Weltgemeinschaft die substanzielle Ausweitung der Wirtschaftssanktionen gegen das Land nach sich.

12 Derzeit steht selbst in manchen Stadtteilen der Hauptstadt Pjöngjang elektrischer Strom an einigen Tagen lediglich für eine Stunde zur Verfügung (Gi 2019).

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Schließlich wird Nordkorea regelmäßig von Naturkatastrophen, insbesondere Überschwemmungen, Hitzewellen und Dürreperioden, heimgesucht. Diese ziehen regelmäßig Ernteausfälle bis hin zu schweren Missernten nach sich, wodurch sich die bereits seit Jahrzehnten wirtschaftssystembedingt angespannte Versorgungslage mit Nahrungsmitteln weiter verschlechterte. In Kombination mit dem zuvor erwähnten Wegfall subventionierter Rohölimporte nach dem Kollaps der UdSSR führte dies ab 1994 bis zum Ende der 1990er Jahre zu einer beispiellosen Serie von Hungersnöten. Dadurch verloren westlichen Schätzungen und Modellrechnungen zufolge 240.000 bis 3,5 Millionen der damals insgesamt 22 Millionen Nordkoreaner ihr Leben (Weiler 1999; Noland, Robinson und Wang 1999; Noland 2004; Spoorenberg und Schweken­ diek 2012). Die ganze Dramatik der damaligen Versorgungslage zeigte sich auch daran, dass das Öffentliche Versorgungssystem (OVS) mehrfach und jeweils über mehrere Monate hinweg die Verteilung von Nahrungsmitteln an die Bevölkerung komplett einstellen musste und die Regierung die Bevölkerung zur Selbstversorgung aufrief (Haggard und Noland 2007: 51 ff.; Kang 2011). Zugleich akzeptierte das Regime jedoch umfangreiche ausländische Lebensmittelhilfen, die 2007 mit einem Volumen von umgerechnet 330 Millionen Euro ihren Höhepunkt erreichten, danach allerdings infolge des Nuklear­ programms erheblich zurückgingen (Shin 2017). In jüngster Zeit scheint sich die Versorgungslage mit landwirtschaftlichen Erzeug­ nissen in Nordkorea wieder erheblich verschlechtert zu haben. Abgesehen von der Aufforderung der nordkoreanischen Regierung an die Vereinten Nationen, dem Land 2019 Nahrungsmittel mit einem Volumen von 1,4 Millionen Tonnen zur Verfügung zu stellen, rief die Staatsführung die Bevölkerung Anfang Januar 2019 landesweit zum Einsammeln und zur Ablieferung menschlicher und tierischer Exkremente auf, die an­ stelle von Kunstdünger als organischer Dünger in der Landwirtschaft verwendet wer­ den sollten (Kim 2019b). Außerdem reduzierte die Regierung, wie bereits erwähnt die Essensrationen der Bevölkerung von 550 Gramm pro Tag auf nur mehr 300 Gramm; sie wurde also nahezu halbiert (ohne Verfasser 2019). Einem im Mai 2019 veröffentlich­ ten gemeinsamen Bericht der Welternährungsorganisation FAO und des World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen gemäß sollen aktuell schätzungsweise 10,1 Millionen Nordkoreaner ausländischer Nahrungsmittelhilfe bedürfen (FAO und WFP 2019). Welche Reform(idee)n gab und gibt es und wie sind deren Erfolgsaussichten? Nach dem ersten 1947 – also bereits vor der Staatsgründung – in Kraft getretenen Ein­ jahreswirtschaftsplan folgten mehrere Zentralpläne unterschiedlicher zeitlicher Dau­ er mit Laufzeiten zwischen einem und sieben Jahre und unterschiedlichen sektoralen Schwerpunkten. Allerdings gelang es der Staatsführung und der Planbehörde nicht, den aufgelaufenen Produktionsrückstand wieder aufzuholen. Den gewünschten Er­ folg brachten weder

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wiederholte Mobilisierungsinitiativen in Gestalt ideologischer Appelle, noch der Einschub sogenannter Pufferjahre – also das zeitweilige Aussetzen ein­ zelner Plansollvorgaben, um den dahinter zurückliegenden Sektoren und Unter­ nehmen die Möglichkeit zu eröffnen, diese nachträglich doch noch zu erreichen, noch die Verstärkung materieller und immaterieller Leistungsanreize einschließ­ lich einer kleinen Landreform, in deren Rahmen Bauern erstmals ein Stück Land (100 qm) selbständig bewirtschaften und ihre Erzeugnisse selbst verkaufen durf­ ten, noch die Einführung von Mikromanagementmethoden wie vor allem des TaeanArbeitssystems (Buzo 1999: 103 f.); letzteres soll in Form kollektiver Entschei­ dungsprozesse ohne nennenswerte Hierarchien auf der Ebene der einzelnen Betriebe deren Produktionsabläufe optimieren und so zu einem höheren Erfül­ lungsgrad der Plansollvorgaben beitragen (Kim 1992: 160 ff.).

Auch Kim Il-Sungs Nachfolger versuchten und versuchen regelmäßig, über Verhal­ tensappelle und Mobilisierungskampagnen – deren Wirksamkeit aber nicht abschätz­ bar ist – eine nachhaltige Verbesserung der Versorgungslage ohne offizielle Preisga­ be des Systems zentraler Planung zu erreichen (beispielhaft Kim, 2013, 2014, 2016, 2017). Als exemplarisch kann die Wiederaufnahme regelmäßiger Inspektionsreisen des Staatsoberhaupts zu Betrieben und staatlichen Einrichtungen gelten. Die Tradi­ tion dieser sogenannten Vor-Ort-Anleitungen wurde von Kim Il-Sung begründet und von Kim Jung-Il jedoch nicht beachtet, bevor sie von Kim Jong-Un unmittelbar nach dessen Amtsantritt wiederbelebt wurde. Die sich wie bereits erläutert seit Anfang der 1990er Jahre rapide verschlechtern­ de Wirtschaftslage zwang das Regime des Weiteren zu einer Politik der vorsichtigen Marktöffnung im Inland sowie zumindest teilweise trotz der Sanktionen gegenüber dem Ausland. So wurde, auf der Basis eines bereits 1984 verabschiedeten Gesetzes, das die Errichtung von Gemeinschaftsunternehmen mit ausländischen Investoren re­ gelte, 1991 zusammen mit China und Russland in Rajin-Sonbong in der gemeinsamen Grenzregion die erste von derzeit vier Sonderwirtschaftszonen auf nordkoreanischem Territorium eröffnet (Seliger 2003). Diese Initiative blieb allerdings bisher aufgrund der anhaltenden politischen Spannungen deutlich hinter den Erwartungen des Re­ gimes zurück. So wurde Anfang 2016 aufgrund der politischen Spannungen nach der Wiederaufnahme des Nuklearprogramms die wichtigste Sonderwirtschaftszone in der nordkoreanischen Grenzstadt Kaesong von den Behörden geschlossen und die dort von südkoreanischen Firmen in den vorausgegangenen zwölf Jahren getätigten Inves­ titionen verstaatlicht (Seo/Seliger 2017). Während die soeben beschriebene parzielle Öffnung für ausländische Investoren von der Regierung aktiv vorangetrieben wurde, erzwang die wirtschaftliche Depres­ sion der 1990er Jahre die Regierung zur Duldung bestimmter privatwirtschaftlicher Aktivitäten, ohne die der weitgehende Zusammenbruch der Versorgung der Bevölke­ rung mit Lebensmitteln nach dem Kollaps des ÖVS nicht hätte abgewendet werden

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können. In der Folge entstand eine neue Schicht von Kleinunternehmen und -gewer­ betreibenden – die sogenannten Donju. Diesen gelang es, auf staatlich geduldeten Schwarzmärkten¹³ landesweit einen Großteil der Versorgung mit Nahrungsmitteln sowie Waren des täglichen Bedarfs sicherzustellen. Da zudem die Wirtschaftskrise Anfang der 1990er Jahre auch die Mehrzahl der staatlichen Industrieunternehmen zwang, die Produktion einzustellen oder zumindest deutlich zu drosseln, entwen­ deten zahlreiche Beschäftige Gegenstände aller Art aus besagten Unternehmen, um diese auf dem Schwarzmarkt zu tauschen, wodurch das Donju-System zunehmend Verbreitung fand (Lankow 2016: 5 f.). Zwar trugen die Donju durch ihre wirtschaftlichen Aktivitäten indirekt erheblich zur Stabilisierung des Regimes bei, waren im Zeitablauf aber dafür in der Lage, durch Reinvestition ihrer Gewinne ihre Geschäftstätigkeit schrittweise auf weitere Bereiche wie unter anderem die Gastronomie, die Vergabe von Kleinkrediten, Wechselstuben, Werkstätten und sogar Nachhilfeunterricht auszudehnen. Darüber hinaus existieren mittlerweile neben den besagten Schwarzmärkten – deren genaue Zahl nach wie vor unbekannt ist – mindestens 436 offiziell anerkannte lokale Märkte, auf denen private Händler und Bauern streng reguliert gegen hohe Standgebühren ihre Waren feilbieten dürfen; die Zahlenangabe beruht auf Satellitenaufnahmen (Cha/Collings 2018). Nach jüngeren, von Lankow (2016, 3 und 15) zitierten, methodisch aber umstritte­ nen Schätzungen südkoreanischer Ökonomen soll der Wertschöpfungsbeitrag privat­ wirtschaftlicher Akteure in Nordkorea derzeit zwischen dreißig und fünfzig Prozent der Wirtschaftsleistung erreichen. Allerdings verfolgte das Regime keine konsisten­ te Wirtschaftspolitik gegenüber der durch die Depression der 1990er Jahre entstan­ denen Kleinunternehmerschaft. So führte die Regierung unter Staatsoberhaupt Kim Jong-Il im Dezember 2009 erstmals seit der Staatsgründung ohne nennenswerte Vor­ ankündigung einen radikalen Währungsschnitt durch. In dessen Folge wurden die Altbestände in nordkoreanischem Won im Verhältnis von 100:1 in neue Won umge­ tauscht, wobei die maximale Umtauschsumme je Familie auf 100.000 alte Won (das heißt auf circa zwanzig Euro nach dem damaligen offiziellen Wechselkurs) begrenzt war; nach schweren Protesten in der Bevölkerung wurde dieses Limit jedoch nachträg­ lich auf 150.000 alte Won für Bargeld und 300.000 alte Won für Bankguthaben erhöht. Die Währungsreform führte, wie unmittelbar einsichtig ist, somit nicht nur zur weit­ gehenden Beseitigung der seit Anfang der 1990er bestehenden Kassenhaltungsinfla­ tion. Sie wirkte über die weitgehende Enteignung der von den Donju akkumulierten Privatvermögen auch wie ein massiver staatlicher Vergeltungsschlag gegen die rasch expandierende private Schwarzmarktökonomie. Sie kann daher durchaus als Versuch des Regimes bewertet werden, die in den 1990er Jahren zu einem nicht unerheblichen Teil verloren gegangene Kontrolle über das Wirtschaftsgeschehen wiederzuerlangen (Snyder 2010). 13 Da in Nordkorea privatwirtschaftliche Aktivitäten nach wie vor ganz überwiegend illegal sind, er­ öffneten sich dadurch für korrupte Parteikader lukrative Einnahmemöglichkeiten.

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Einen erneuten Kurswechsel vollzog die Regierung nach der Machtübernahme von Kim Jong-Un. In seiner Neujahresansprache 2013 – der ersten seit 19 Jahren – kündigte er radikale wirtschaftliche Reformen an, die Nordkorea in einen „wirtschaft­ lichen Riesen“ verwandeln und den Lebensstandard der Bevölkerung substanziell und nachhaltig anheben sollten. Die wesentlichen Beiträge dazu sollten neben der Landwirtschaft und der Leichtindustrie Wissenschaft und Hochtechnologie leisten. Darüber hinaus deutete er erstmals die Möglichkeit einer Wiedervereinigung beider koreanischer Staaten an, betonte aber auch die Notwendigkeit, parallel zu den Wirt­ schaftsreformen auch die militärische Stärke Nordkoreas im Rahmen der SongunPolitik weiter auszubauen (ohne Verfasser 2013). Wenig später wurde ausländischen Besuchern erlaubt, das mit Hilfe des ägyptischen Telekommunikationsunterneh­ mens Orsacom vom Netzbetreiber Koryolink¹⁴ – einem ägyptisch-nordkoreanischen Gemeinschaftsunternehmen – errichtete nordkoreanische Internet für den Zugriff auf ausländische Webseiten zu nutzen sowie lokale SIM-Karten für Auslandsgespräche zu erwerben (Lee 2013). Umgesetzt wurden die von Kim Jong-Un angekündigten Reformmaßnahmen in den sogenannten Maßnahmen des 28. Juni 2012 und den Maßnahmen des 30. Mai 2014 (Hanssen/Song 2019: 7). So erfolgte in den letzten Jahren die schrittweise Lockerung des Verbots der Gründung privater Unternehmen. Dies galt sowohl für den Dienstleis­ tungssektor als auch das verarbeitende Gewerbe und die Industrie. Allerdings handelt es sich dabei lediglich um eine de facto Privatisierung dergestalt, da die Gründung for­ mal unter der Firma eines Staatsunternehmens erfolgen muss (Gray/Lee 2017). Da die in diesen Unternehmen gezahlten Löhne tendenziell deutlich höher sind als in den Staatsunternehmen, und in Gestalt der sogenannten 8.3-Ausnahme-Regelung es den dort Beschäftigten häufig erlaubt ist, gegen eine Art Abstandszahlung bei formaler Aufrechterhaltung ihres Beschäftigungsverhältnisses eigenen wirtschaftlichen Akti­ vitäten nachgehen zu dürfen, resultierte daraus ein spürbarer positiver Lohndrift. Die­ ser begünstigte wiederum die Umsetzung von Arbeitskräften in die neu entstandenen Quasi-Privatunternehmen erheblich (Hui 2019). Allerdings scheint die nordkoreani­ sche Regierung die Nutzung dieser Ausnahmeregelung wieder einzuschränken (Ah 2019). Das Problem der anhaltenden Devisenknappheit versucht das Regime schließlich seit vielen Jahren durch eine breite Palette an Einzelmaßnahmen zu mildern, unter anderem durch – den systematischen Ausbau der Tourismuswirtschaft auf bis zu zwei Millionen Einreisenden pro Jahr – insbesondere für Reisegruppen aus China, auf die derzeit mehr als 100.000 jährliche Einreisen entfallen, aber zunehmend auch für westli­

14 2016 musste der ägyptische Partner Orsacom seine 75-prozentige Beteiligung an Koryolink aller­ dings vollständig abschreiben, nachdem die nordkoreanische Regierung die Repatriierung seiner Ge­ winne verhindert und ein staatliches Konkurrenzunternehmen etabliert hatte (Gale 2016).

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che Touristen(gruppen), von denen derzeit circa 6.000 im Jahr Nordkorea besu­ chen (Morris 2015); den Verleih von derzeit ca. 50.000 Arbeitskräften ins Ausland (unter anderem nach Russland, die Golfstaaten, aber auch in die EU-Mitgliedsstaaten Polen und Tschechien);¹⁵ die Teilnahme am Clean Development Mechanism der Vereinten Nationen (Park 2018); die Gründung von Gemeinschaftsunternehmen mit russischen (Lukin und Zak­ harova 2018) und chinesischen Partnern (United States Department of State et al. 2018) in wichtigen Wirtschaftsbereichen, wie der Transportinfrastruktur, dem Großhandel der Textilindustrie, der Forstwirtschaft, der Nahrungsmittelindustrie und dem Bergbau (Kohle und seltene Erden, von denen Nordkorea bedeutende und mit heimischer Technologie nicht effizient abbaubare Vorkommen besitzt); Bauprojekte der weltweit einzigen auf Großmonumente und Gedenkstätten spe­ zialisierten nordkoreanischen Firma Mansudae Overseas Development Group, de­ ren bisheriger Auslandsumsatz im Zeitraum von 2000 und 2011 – jüngere Zahlen liegen nicht vor – auf circa US$ 160 Millionen geschätzt wird und die überwiegend in afrikanischen Staaten aktiv ist (Winn 2011), sowie durch illegale Praktiken wie Schmuggel und Produktpiraterie (Gollom 2017) und gezielte Verstöße gegen die internationalen Sanktionen in Form gezielter Täu­ schungen im Schiffsverkehr wie die Schiff-zu-Schiff-Betankung auf hoher See oder das Setzen falscher Flaggen (U.S. Department of the Treasury 2018).

7 Fazit und Ausblick Für den westlichen Beobachter erstaunt zunächst die außerordentliche Resilienz, mit der es dem nordkoreanischen Regime und seinen Führern seit der Staatsgründung gelungen ist, ihre Machtposition gegenüber dem Ausland – und vermutlich auch im Inland – trotz erheblicher exogener Schocks dauerhaft zu festigen (obschon dies auch durch massive Verstöße gegen die Menschenrechte gelang). Gleichwohl ist das für Außenstehende, und dies schließt auch Wissenschaftler und Politiker aus Südkorea ein, nicht seriös einzuschätzen. Wie die vorliegende Abhandlung gezeigt hat, vollzieht sich – wenngleich in einer rechtlichen Grauzone und damit für die Akteure mit gro­ ßen Unsicherheiten behaftet – seit Anfang der 1990er Jahre ein schleichender Prozess der Marktöffnung und Privatisierung. Dieser birgt trotz der bisherigen diesbezüglich

15 Nach südkoreanischen Schätzungen erlöst das Regime auf diese Weise jährlich Devisen-Einnah­ men in Höhe von US$ 1,2–2,3 Milliarden (Shin und Go 2014, 11). Allerdings verpflichtet eine UN-Reso­ lution vom Dezember 2017 alle Mitgliedstaaten dazu, alle nordkoreanischen Arbeitskräfte im Rahmen des UN-Sanktionsregimes binnen zwei Jahren zu repatriieren (van Gardingen/Breuker 2018: 186).

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ambivalenten Politik des Regimes ein nicht unbeträchtliches Potential für die drin­ gend erforderliche Modernisierung der Wirtschaft des Landes bei gleichzeitiger, zu­ mindest partieller Transformation des Wirtschaftssystems. Inwieweit dieses Potenzial tatsächlich ausgeschöpft werden kann, hängt freilich entscheidend von der künftigen Entwicklung der geopolitischen Rahmenbedingungen ab – Stichwort: Wiedervereini­ gung – und kann derzeit wissenschaftlich nicht seriös beurteilt werden.

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Wirtschaftssystem und Wirtschaftsentwicklung Nordkoreas

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312 | Dirk Wentzel

Korreferat zum Beitrag von Andreas Knorr Dirk Wentzel In der heutigen Wissenschaftslandschaft der Ökonomik ist es sehr ungewöhnlich, auf einer Konferenz¹⁶ einen Vortrag über das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem NordKoreas zu hören. Das Erstaunen wächst umso mehr, wenn zusätzlich berücksichtigt wird, dass der Referent das Land selbst bereist hat und einen Teil des offensichtlichen Datenproblems – es gibt kaum brauchbare Daten aus seriösen Quellen über NordKorea, die über den Zustand des Landes halbwegs verlässlich Auskunft geben – durch eigene Recherche selbst überwunden hat¹⁷. Für die meisten jungen Ökonomen, die modellbasiert und empirisch arbeiten und publizieren, erschließt sich der Nutzen einer Fallstudie über Nord-Korea nur begrenzt. Selbst unter den aktuellen Studierenden der Volkswirtschaftslehre ist kaum bekannt, was für eine Wirtschaftsordnung die DDR eigentlich hatte. Sozialismus als Begriff ist zwar noch bekannt, aber welche Eigentums- und Planungsordnung damit verbunden ist, wissen nur noch die wenigsten. Für die älteren Ökonomen, die die DDR und den Warschauer Pakt noch selbst miterlebten und die Transformationsprozesse beim Übergang von der Zentralverwal­ tungswirtschaft hin zur Marktwirtschaft wissenschaftlich und in zahlreichen Funktio­ nen selbst begleitet haben, kommt es quasi zu einem déjà-vu-Effekt: Die Frage nach der Wahl der Wirtschaftsordnung war die alles entscheidende Systemfrage nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Fall der Berliner Mauer. Und nirgendwo konnte die Unter­ schiedlichkeit der Systeme klarer beobachtet werden als in Korea und in Deutschland. Nord-Korea und Kuba: Die letzten kommunistischen Dinosaurier Nord-Korea ist heute neben Kuba der einzige noch verbleibende kommunistische Staat alter Prägung, d. h. mit einer Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs. Der große Unterschied ist jedoch, dass Kuba beachtliche Deviseneinnahmen aus dem Tourismus erzielt und hierdurch materielle Engpässe – zum Beispiel in der medi­ zinischen Versorgung – schließen kann. Venezuela kann ebenfalls noch als kom­ munistisches Land gelten, seit 1999 die Bolivarische Revolution eine sozialistische Einheitspartei an die Macht brachte. Durch die viertgrößten Erdöl-Reserven der Welt

16 Allerdings ist das von K. Paul Hensel 1968 begründete internationale Forschungsseminar Radein e. V. (www.radein.de) keine normale Konferenz. Die Erforschung der sozialistischen Wirtschaftssys­ teme war bei Hensel und seinen Schülern ein zentrales Anliegen. Insoweit ist 30 Jahre nach dem Zu­ sammenbruch der DDR eine Wiederbeschäftigung mit einem kommunistischen Land gewissermaßen eine Rückkehr zu den Wurzeln des Systemvergleichs. 17 Deutschlands berühmtester Wissenschaftler, Alexander von Humboldt, war zutiefst überzeugt von der Notwendigkeit, fremde Länder zu bereisen, um eigene Erkenntnisse zu gewinnen. Die Reisen von Humboldt hat Andrea Wolf (2015) in einem bemerkenswerten Buch nachgezeichnet.

Wirtschaftssystem und Wirtschaftsentwicklung Nordkoreas

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kann die Regierung Maduro Einnahmen erzielen: Dennoch ist die Armutsquote der Bevölkerung rasant angestiegen. In das eigentliche Raster der Morphologie der Wirt­ schaftsordnungen im Sinne von Hensel (1972/78) passt Venezuela aber nicht. Dem alten Idealbild einer zentral administrierten Wirtschaftsordnung kommt Nord-Korea jedoch am nächsten. Der Koreakrieg 1950–53 hat die koreanische Halbin­ sel geteilt und die Sowjetunion wurde zur Schutzmacht und zum wichtigsten finan­ ziellen Unterstützer der Nordkoreaner – ähnlich wie im geteilten Deutschland. Die wirtschaftliche Entwicklung nach fast 70 Jahren Sozialismus hat das Land jedoch zu einem der ärmsten Länder der Welt gemacht. Obwohl der Norden nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich der besser entwickelte Teil des Landes war – vergleiche hierzu die Ausführungen von Knorr in seinem Beitrag – hat in Nord-Korea quasi keinerlei wirt­ schaftliche Entwicklung stattgefunden. Das BIP pro Kopf beträgt heute ca. 1700 Dollar in Nord-Korea im Vergleich zu 39.000 Dollar im marktwirtschaftlichen Süd-Korea. Die massive politische Unterdrückung der eigenen Bevölkerung ist die einzige Ver­ sicherung der Regierung Kim Jong-un gegen einen Umsturz im Land. Außenpolitisch sichert Nord-Korea seine Existenz durch eine völlig überdimensionierte Armee und durch Nuklear-Waffen. Die Qualität des politischen Regimes in Pjöngjang hat in der Tat Orwellsche Dimensionen. Ohne ein tieferes Verständnis für die Funktionsproble­ me einer Zentralverwaltungswirtschaft können die Ausmaße des wirtschaftlichen Nie­ dergangs jedoch kaum verstanden werden. Die Theorie der Zentralverwaltungswirtschaft Im Jahr 1954 begründete K. Paul Hensel die Schriften zum Vergleich von Wirtschafts­ ordnungen (Heft 1) mit der Publikation seiner Habilitationsschrift: „Einführung in die Theorie der Zentralverwaltungswirtschaft“. Hensel, der ein Schüler Walter Euckens war, ging es um die zentrale Frage der wirtschaftlichen Lenkung in unterschiedli­ chen Wirtschaftsordnungen. Während in marktwirtschaftlichen, dezentralen Syste­ men der Preismechanismus die Koordination der Knappheit übernimmt, benötigt die Zentralverwaltungswirtschaft einen Planmechanismus, um das wirtschaftliche Koor­ dinationsproblem zu lösen. Doch welches Wirtschaftssystem ist besser geeignet, den Umgang mit knappen Ressourcen und die Versorgung der Bevölkerung sicherzustel­ len? Aus heutiger Perspektive ist diese Frage trivial und durch die Geschichte eindeu­ tig beantwortet. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, die deutsche Wiedervereinigung mit dem mühsamen Wiederaufbau der ostdeutschen Länder, die durch die sozialistische Mangelwirtschaft schwer gezeichnet waren, alle diese historischen Entwicklungen und empirischen Fakten lassen keinen Zweifel am Ausgang der Frage: Eine dezentrale Wirtschaftsordnung mit Wettbewerb und mit Pri­ vateigentum an den Produktionsmitteln ist besser geeignet, den Umgang mit knappen Güter zu organisieren. Francis Fukuyama (1992) sprach sogar vom Ende der Geschich­ te, vom Ende der Hegelschen Geschichtsdialektik und dem Sieg von Marktwirtschaft

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und Demokratie im Wettstreit der Systeme: Aus heutiger Sicht ein verhängnisvoller Trugschluss. Doch Hensel ging es in seiner Habilitationsschrift weniger um praktische wirt­ schaftspolitische Beratung, sondern um die zutiefst theoretische Fragestellung, ob es grundsätzlich und mathematisch-logisch möglich wäre, eine komplette Wirtschaft mit einem einzigen Plan zu lenken. „Eine Theorie der Zentralverwaltungswirtschaft schreiben heißt das Gegenmodell zur vollständig dezentralen Lenkung des Wirt­ schaftsprozesses entwickeln, und bedeutet weiterhin, die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer ökonomisch sinnvollen Wirtschaftsrechnung in diesem Lenkungssystem beantworten“ (Hensel 1954: Vorwort zur ersten Auflage). Kritiker warfen Hensel vor, eine solche Theorie sei uninteressant und letztlich ohne Nutzen, da in der Realität ohnehin nur wirtschaftliche Mischformen vorlägen mit teilweise freien Märkten. Hensel hielt dem entgegen, dass die Kenntnis der Theorie der zentra­ len Wirtschaftsplanung Voraussetzung sei um zu erkennen, „wie sich die Einführung zentraler Lenkungselemente in ein System dezentraler Lenkung ökonomisch aus­ wirkt“ (ebenda). Diese ökonomische Fragestellung ist keineswegs nur historisch zu deuten: Sie könnte wirtschaftspolitisch kaum aktueller sein. Hensels Habilitationsschrift ging 1978, also 24 Jahre nach ihrer ersten Publika­ tion, in die dritte Auflage. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Sowjetunion die zentrale Wirtschaftslenkung im real existierenden Sozialismus und in allen Staaten ihres Herrschaftsgebietes eingeführt, allerdings mehr oder minder ohne eine ökonomi­ sche Theorie, wie ein solches System in der Realität funktionieren könnte. Es galt das sog. „Primat der Politik über die Ökonomie“ (vgl. Wentzel 1995: 41). Das sozia­ listische Autorenkollektiv der DDR gab hierzu folgende Antwort: „. . . und es (das Lehrbuch der marxistisch-leninistischen politischen Ökonomie, D. W.) soll helfen, auf viele Fragen, die im entscheidenden Bereich des gesellschaftlichen Lebens, in der Wirtschaft, auftreten, eine wissenschaftliche, das heißt marxistisch-leninistische Antwort zu geben“. Die mangelnde wirtschaftliche Kenntnis über die tatsächlichen wirtschaftlichen Anreizmechanismen und Abläufe wurde in der Praxis ersetzt durch verschiedene Versuche, Experimente und Reformen, ohne jedoch an den zentralen Dogmen der Zentralverwaltungswirtschaft zu rütteln: Staatlichem Eigentum und zen­ traler Planung. Hensel (1972/78) sprach deshalb vom „Zwang zum wirtschaftlichen Experiment“. Systemvergleich als Aufgabe Als Konsequenz des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich Europa zum Schauplatz des direkten Wettkampfes der Systeme. Die Sowjetunion zwang die Staaten in ihrem di­ rekten Einflussbereich, zentral gelenkte Wirtschaftssysteme einzuführen, gepaart mit dem Versprechen, man würde den Westen bis spätestens Ende der 60 Jahre eingeholt und sogar überholt haben. Die Realität war bekanntlich eine andere: Die DDR war schon 1961 gezwungen, eine Mauer um ihr Territorium zu bauen, um den Massenexo­

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dus der Menschen aus Ostdeutschland zu stoppen. In allen Ländern des Warschauer Paktes begann eine Politik des Kapitalabbaus, der ausbleibenden Ersatzinvestitionen und der Übernutzung natürlicher Ressourcen. Zudem wurden zahlreiche Kanäle zur Erwirtschaftung westlicher Devisen genutzt (vgl. Wentzel 1996), um durch den An­ kauf spezieller Produktionsfaktoren und Technologie im Westen eigene Produktions­ engpässe in der zentralen Planung zu beseitigen. Das System taumelte zunehmend und geriet spätestens seit Mitte der 80 Jahre in den freien Fall. Dieser Logik konnte sich auch die Führung der Sowjetunion nicht mehr entziehen, in der sich Michael Gor­ batschow nach seinem Amtsantritt für Glasnost und Perestroika einsetzte und damit letztlich auch in seinem Land eine Abkehr von der zentralen Wirtschaftslenkung ein­ leitete. Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 endete das Experiment mit Sozialismus und zentraler Wirtschaftslenkung mit einem eindeutigen Resultat. Die von Hensel mit begründete Methode des Systemvergleichs hatte es über fast 40 Jahre hinweg ermöglicht, die unterschiedlichen Wirtschaftssysteme neutral und unideologisch zu analysieren. „Ob die analysierten Ordnungsformen kommunisti­ schen, sozialistischen, liberalen oder sonstigen politischen Programmen entsprechen oder widersprechen, ist für die Untersuchung (der Theorie der Zentralverwaltungs­ wirtschaft, D. W.) ohne Bedeutung“ (siehe Hensel 1954: Vorwort). Die in der Theorie aufgezeigten Funktionsprobleme von zentraler Planung und Staatseigentum hatten sich empirisch eindeutig bestätigt. Aktualität der Fragestellung Es wäre schön, wenn sich die Hypothesen von Fukuyama (1992) als richtig erwiesen hätten – jedenfalls aus ordnungspolitischer Perspektive. Wirtschaftliche und politi­ sche Freiheit, freier Welthandel und Multilateralismus, eine starke Rolle für die inter­ nationalen Organisationen und der Verzicht auf kriegerische Mittel zur Lösung von Konflikten haben in Europa und weltweit zu einem starken Anstieg des wirtschaftli­ chen Wohlstandes geführt. Doch offensichtlich schlägt das Pendel zurück. Der frühe­ re Freihandelshegemon USA, der nach dem Krieg den freien Welthandel entscheidend förderte und den Multilateralismus mit internationalen Organisationen ins Leben rief, ist unter dem erklärten Freihandelsgegner Donald Trump zu einem Protektionisten mutiert und hat Handelskriege zu einem legalen Mittel der Politik des Stärkeren er­ klärt. In Europa ist mit dem Brexit die klassische ökonomische Integrationstheorie von Jakob Viner quasi auf den Kopf gestellt worden: Zurück vom gemeinsamen Markt ohne Schranken für Güter, Dienstleistungen, Personen und Kapitel zur Klein-Staate­ rei mit Zöllen, Handelsschranken und Währungsmanipulationen. Ende der Geschich­ te? Wohl kaum! Der Beitrag von Mancur Olson (1982) über den Aufstieg und Nieder­ gang von Nationen könnte einen wesentlich größeren Erklärungsbeitrag leisten, war­ um wirtschaftlich erfolgreiche Staaten und Regionen in einen Abwärtsstrudel geraten können, wenn es in ihren Ländern einflussmächtige Verteilungskoalitionen gibt, die erfolgreich versuchen, Sondervorteile und Privilegien zu erlangen.

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Ebenso wie Zölle, Handelskriege und Vergeltungsmaßnahmen und diskretionäre Wirtschaftspolitik im Trump‘schen Sinne wieder populär geworden sind, gibt es auch in Deutschland zahlreiche Beispiele für die Wiederentdeckung zentralverwaltungs­ wirtschaftlicher Lenkungsmethoden. Die geforderte Verstaatlichung der (Berliner) Wohnungswirtschaft zur Lösung von Wohnungsknappheit, die Verstaatlichung der Automobilindustrie (BMW) zur Durchsetzung von Elektro-Mobilität und die Einfüh­ rung einer Vermögenssteuer für „Superreiche“ nach (gescheitertem) französischen Vorbild sind nur drei hochaktuelle Beispiele für politische Vorschläge, die gerade in Deutschland diskutiert werden. Statt vom Ende der Geschichte könnte man eher von der Rückkehr der Geschichte sprechen. Hensel ging es in seiner Theorie der Zentralverwaltungswirtschaft immer um das grundsätzliche Verständnis von zentraler Wirtschaftslenkung. Das ökonomische De­ saster in Nord-Korea und in Kuba ist insoweit ökonomisch gut erklärbar und die Fall­ studie von Andreas Knorr ist aufschlussreich. Man kann nur hoffen, dass die beiden kommunistischen Dinosaurier nicht noch neue Nachkommen zeugen, die weltweit oder in einzelnen Ländern zu neuen wirtschaftspolitischen Experimenten mit zentra­ ler staatlicher Wirtschaftslenkung führen werden.

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Teilnehmerliste Radein 2019 Teilnehmer

Akad. Titel

Universität/Hochschule/Forschungseinrichtung

Thomas Apolte Detlef Aufderheide Ansgar Belke Oliver Budzinski Dieter Cassel Jasmin Diemer Thomas Döring Alfa Farah Sophia Gänßle Lena Gerling Niklas Gogoll Jörg Hahn Justus Haucap Thomas Jost Timo Kaiser Moritz Kappler Andreas Knorr Ekkehard Köhler Malte Krüger Martin Leschke Albrecht Michler Anna Nowak Nils Otter Werner Pascha Andreas Polk Thorsten Polleit Gerd Rösl Horst Rottmann Oliver Schmidt Franz Seitz Felix Schlieszus Dieter Smeets Jan Schnellenbach

Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. M. Sc. Prof. Dr. M. Sc. M. Sc. Dr. M. Sc. Dipl.-Kfm. Prof. Dr. Prof. Dr. M. Sc. M. A. Prof. Dr. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. M. Sc. Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. Prof. Dr. Dr. Prof. Dr. M. Sc. Prof. Dr. Prof. Dr.

Rahel M. Schomaker Peter Spahn Annika Stöhr Jörg Thieme Tobias Thomas

Prof. Dr. Prof. Dr. M. Sc. Prof. Dr. Dr.

Mike Weber Dirk Wentzel

Dr. Prof. Dr.

Westfälische Wilhelms-Universität Münster Hochschule Bremen Universität Essen-Duisburg Standort Essen Technische Universität Ilmenau Universität Essen-Duisburg Standort Duisburg Universität Bayreuth Hochschule Darmstadt Westfälische Wilhelms-Universität Münster Technische Universität Ilmenau Westfälische Wilhelms-Universität Münster Universität Bayreuth DZ Privatbank S. A. Luxembourg Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Technische Hochschule Aschaffenburg Hochschule für Angewandte Wissenschaften Pforzheim Universität Speyer Universität Speyer Walter-Eucken-Institut Technische Hochschule Aschaffenburg Universität Bayreuth Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Westfälische Wilhelms-Universität Münster Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin Universität Duisburg-Essen Standort Duisburg Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin Universität Bayreuth Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg Ostbayerische Technische Hochschule Amberg-Weiden Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit Ostbayerische Technische Hochschule Amberg-Weiden Universität Bayreuth Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg Fachhochschule Kärnten Universität Hohenheim Technische Universität Ilmenau Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, EcoAustria, Central European University Fraunhofer-Institut für Kommunikationssysteme Hochschule für Angewandte Wissenschaften Pforzheim

https://doi.org/10.1515/9783110696745-011