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German Pages 621 [624] Year 2000
H. Walter u.a. (Hrsg.) Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb
Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb Festschrift für Klaus Herdzina
Herausgegeben von Helmut Walter Stephanie Hegner Jürgen M. Schechler
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Lucius & Lucius · Stuttgart · 2000
Anschrift der Herausgeber: Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre 520 70593 Stuttgart
Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung des Universitätsbundes Hohenheim e. V.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb : Festschrift für Klaus Herdzina / hrsg. von Helmut Walter.... - Stuttgart : Lucius und Lucius, 2000. ISBN 3-8282-0146-6
© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2000 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: F. Spiegel, Ulm Printed in Germany
Klaus Herdzina Zum 60. Geburtstag
Einführung Helmut Walter Dies ist eine Freundesgabe, die Klaus Herdzina von Kollegen und Mitarbeitern zur Vollendung seines 60. Lebensjahres gewidmet worden ist. Titel und Thematik lehnen sich ganz bewusst an jene Problembereiche an, die der Jubilar zum Gegenstand seiner Habilitationsschrift gemacht und 1981 veröffentlicht hat. Wirtschaftliches Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb stehen nach wie vor auf der Agenda wirtschaftswissenschaftlicher Fragen mit an vorderster Stelle. Damals musste Herdzina konstatieren, "dass es angesichts zunehmender Spezialisierung in der ökonomischen Theorie an Versuchen mangelt, die einzelnen Theoriekomplexe zusammenzufügen und insbesondere die Wachstumstheorie, die Theorie des Strukturwandels und die Wettbewerbstheorie zu einer einzigen Entwicklungstheorie zu vereinigen" 1 . Grundsätzlich besteht dieses Defizit bis heute fort, und angesichts seiner komplexen Problematik stellt sich die Frage, ob dieser Mangel überhaupt zu beheben ist. Dennoch gehört die Erkenntnis, dass zwischen den genannten drei Teilgebieten innere Zusammenhänge und wechselseitige Abhängigkeiten bestehen, mittlerweile zu den unbestrittenen Einsichten innerhalb der ökonomischen Profession. Insoweit erscheint uns das seinerzeit von Herdzina herausgearbeitete Fazit, nämlich die Betonung der "Interdependenz von Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb, sowie ihre gemeinsame Abhängigkeit von sozioökonomischen, institutionellen und wirtschaftspolitischen Faktoren" 2 heute als Selbstverständlichkeit. Sie dient vielen Autoren dieser Festschrift auch implizit oder ausdrücklich als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Andererseits ist, nicht zuletzt unter dem Einfluss aktueller Probleme, die Spezialisierung der Fachgebiete und die Ausdifferenzierung von Fragestellungen weiter vorangeschritten. Wachstums- und Strukturüberlegungen können heute kaum noch unter Ausblendung der damit einhergehenden sozialen Fragen sowie von Beschäftigungs- und Arbeitsmarktproblemen hinreichend erörtert werden. Globalisierung und Wirtschaftsunionen verleihen den Problemen des wirtschaftlichen Wettbewerbs eine die nationalen Grenzen und Gegebenheiten weit überspannende Dimension. Herdzina selbst hat sich über die ursprünglich im Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Interesses stehenden Sachgebiete hinausgehend zunehmend auch mit Fragen der regionalen und sektoralen Wirtschaftsentwicklung auseinan-
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Herdzina, Wirtschaftliches Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb. Berlin 1981, S. 7 Herdzina, a.a.O., S. 285
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dergesetzt. Diese Tatsache schlägt sich in den Inhalten der hier vorliegenden Einzelbeiträge nieder, ohne dass dabei Herdzinas Konzeption einer Zusammenschau der drei Hauptthemenbereiche, die durch aktuelle Entwicklungen lediglich eine gewisse Erweiterung und spezielle Akzentuierung erfahren haben, aufgegeben werden musste. Es war das Bestreben der Herausgeber, davon zumindest einen exemplarischen Eindruck zu vermitteln. An dieser Stelle sei es mir gestattet, einige Worte des Dankes zu sagen: den Mitherausgebern, Stephanie Hegner und Jürgen M. Schechler, von denen nicht nur die Idee zur Anfertigung dieser Festgabe ausgegangen ist, sondern die auch mit ansteckender Begeisterung und unermüdlichem Engagement einen Großteil der damit verbundenen Aufgaben übernommen und bewältigt haben. Sie fanden dabei wertvolle Unterstützung durch Rainer Berger, Tanja Bruhin, Inge Huttenlocher, An Vu Ngoc und Marcus Schmid. Ein ganz besonderer Dank gilt dem Universitätsbund Hohenheim e.V., seinem Vorsitzenden Karl Magnus Graf Leutrum von Ertingen und den Mitgliedern des Vorstandes für die Bewilligung eines großzügigen Druckkostenzuschusses, ohne den die Herausgabe dieser Festgabe nicht möglich gewesen wäre. Beim wirtschaftlichen Wachstum handelt es sich um Prozesse, die einerseits durch relativ stabile - sozio-ökonomische und institutionelle - stilisierte Fakten, und andererseits durch verhältnismäßig schnelle Veränderungen der quantitativ messbaren Variablen gekennzeichnet sind. Die darauf gegründete Einsicht vieler klassischer Ökonomen, dass das Wachstum des materiellen Wohlstandes und die sozio-ökonomische Entwicklung als Ganzes kaum voneinander zu trennen sind, ist in der nachklassischen Epoche weitgehend dem Trend zur Spezialisierung und reduzierenden Abstraktion geopfert worden. Auch über die Rolle, die der Staat und andere korporative Institutionen bei der Sicherung von Wachstum und Entwicklung zu übernehmen haben, hat es immer wieder unterschiedliche Auffassungen gegeben. Damit hängt wiederum die Frage zusammen, welchen Erfordernissen und Funktionen jene Führungskräfte (Unternehmer und Management) genügen müssen, die in einer marktwirtschaftlichen Ordnung Wachstum und technischen Fortschritt vorantreiben (sollen). Der mit "Wachstum und Stabilisierung" überschriebene erste Teil dieses Bandes soll eine - selbstverständlich nur beispielhafte - Vorstellung von der Komplexität dieses Problembündels vermitteln. Der einleitende Aufsatz von Bernd Blessin über den Unternehmer in der ökonomischen Theorie und Praxis kann als geeigneter Einstieg in die Gesamtthematik dieses Bandes angesehen werden, ist der Unternehmer doch quasi als das personifizierte Agens von Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb in einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu betrachten. Was aber, so lautet schon der erste Satz
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bei Blessin, macht den Unternehmer aus? Ist es in erster Linie seine Funktion als Innovator, der Neuerungen durchsetzt, damit bisher Bewährtes in Frage stellt und Gleichgewichtskonstellationen aufbricht (so vor allem Schumpeter), oder ist es eher seine Funktion als Arbitrageur, der Angebots-/Nachfragedifferenzen sowie Preisunterschiede aufspürt, sie durch seine Aktivitäten ausgleicht und damit Ungleichgewichtssituationen auf den Märkten beseitigt (so in etwa Kirzner)? Über diese - in der verkürzenden Formulierung fast gegensätzlichen - Positionen hinaus sind dem Unternehmer in der theoretischen Literatur eine ganze Reihe weiterer Aufgaben und Funktionen zugeschrieben worden, während er in der Praxis in erster Linie als Gründer und/oder Leiter von Unternehmen gesehen wird. Die Vielfalt seiner diesbezüglichen Charakteristika und Handlungsmotive hat man durch klassifizierende Unternehmertypologien überschaubar zu machen versucht. Als übergreifendes Merkmal zeichnen sich Unternehmer nach Blessin durch selbstverantwortliches Handeln aus. In dieser Blickrichtung wird insbesondere ihre Bedeutung für die Entstehung und den wirtschaftlichen Erfolg kleiner und mittlerer Unternehmen sowie die Abfederung struktureller Verwerfungen hervorgehoben. Sowohl eine Spezifizierung als auch eine Erweiterung des von Blessin entworfenen allgemeinen Unternehmerbildes beinhaltet der folgende Beitrag von Bernd Nolte. Die Spezifizierung besteht in der (ausschließlich) auf Schumpeter rückbezogenen Idee des Unternehmers als Innovator, dessen Funktionen aber auf die modernen Gegebenheiten einer durch wachsende Komplexität, schnelle technologische und ökonomische Veränderungen und daraus resultierende neue Organisations- und Managementerfordernisse gekennzeichneten Unternehmenssituation projiziert werden. Gleichzeitig bedingt das eine thematische Erweiterung über die Aufgaben des Unternehmers im engeren Sinne hinaus auf die sich auf allen Führungsebenen ergebenden neuen Probleme und Anforderungen. Der Aufsatz ist somit von vornherein durch eine auf ganzheitliche Systemzusammenhänge orientierte Problemstellung gekennzeichnet. Der Verfasser listet eine Vielzahl von Gründen für das zu konstatierende Beharrungsvermögen des Managements auf. Es ist nicht nur der Mangel an Risikobereitschaft und das Festhalten an einem mechanistischen Unternehmerbild, sondern es sind vor allem die innovations- und kreativitätshemmenden Elemente des oftmals noch autoritären Führungsstils und der hierarchischen Organisationsstrukturen, die nach Noltes Auffassung für die relative Innovations- und Wachstumsschwäche verantwortlich zu machen sind. Stattdessen müsste durchgängig eine kreativitäts- und kommunikationsfördernde Unternehmenskultur etabliert werden, die über alle Ebenen hinweg ein innovationsfreundliches Klima begünstigt. Der Verfasser lässt es nicht bei allgemeinen Erörterungen bewenden, sondern bietet auch einen Katalog hierfür geeigneter Maßnahmen an.
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Harald Hagemann zeigt in seinem Beitrag die Veränderungen der ökonomischen Realitität und der Wirtschaftstheorie seit Herdzinas Habilitationsschrift auf. Während Globalisierung, Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Netzwerkeffekte eine immer größere Rolle spielen, sieht sich die Theorie der Herausforderung gegenüber, diese Veränderungen zum einen in ihren Modellen zu berücksichtigen, und zum anderen die Subdisziplinen Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung zu integrieren. Hagemann hebt hierbei Pasinettis jüngere Studie zur wirtschaftlichen Dynamik hervor: Die Wechselabhängigkeiten zwischen den genannten Themenbereichen aufzuzeigen und die Integration der Nachfrageaspekte technologischen Wandels sind sein Verdienst. Daneben werden die Schwächen des traditionellen Sektorenkonzepts erkannt, die die Determinanten des gegenwärtigen Strukturwandels nicht mehr eindeutig identifizieren können. Es gilt außerdem zu erkennen, dass vor dem Hintergrund der realen Veränderungen potenzielle Wohlfahrtgewinne bei adäquater Nutzung der IKT in erster Linie von der Diffusionsgeschwindigkeit und der Adaption dieser Technologien abhängen. Letztlich existieren jedoch bezüglich Produktivitäts- und Beschäftigungswirkungen der New Economy bzw. der Informations- und Kommunikationstechnologien sehr uneinheitliche Aussagen. Im folgenden Beitrag zeichnet Stephan Seiter die Hauptlinien der modernen Wachstumstheorie nach. Dabei geht es ihm insbesondere um die Gegenüberstellung der mit den Namen Solow, Swan, Meade, aber auch Kaldor und Arrow verbundenen ersten Phase und der u.a. von Romer/Lucas initiierten so genannten Neuen oder Endogenen Wachstumstheorie. Er untersucht, inwieweit die jeweiligen Modelle nicht nur eine zutreffende Erklärung der stilisierten Fakten des Wachstumsprozesses anbieten, sondern auch Ansatzpunkte fur wachstumsfordernde Maßnahmen liefern. Während die "ältere" Theorie in dieser Hinsicht eine geringe Aussagekraft besitzt, lassen die verschiedenen Varianten der Endogenen Wachstumsmodelle durchaus Fortschritte erkennen. Dabei handelt es sich sowohl um die Einbindung eines erweiterten Kapitalbegriffes in die Produktionsfunktion als auch um die explizite Berücksichtigung von Produktinnovationen und die Rezeption Schumpeter'scher Gedankengänge. Allerdings bleiben auch die Endogenen Wachstumsmodelle dem Steady State-Paradigma verhaftet und ignorieren sowohl die Tatsache, dass nicht alle Unternehmen in einer Volkswirtschaft die jeweils beste verfugbare Produktionstechnik anwenden, als auch die Probleme der konjunkturellen Unterauslastung des Produktionspotenzials. In der Realität sind Wachstumsprozesse aber unzweifelhaft auch - und vorrangig - durch diese beiden stilisierten Fakten gekennzeichnet. Auch im Aufsatz von Helmut Walter dient die moderne Wachstumstheorie als Ausgangspunkt für die Erörterung der methodischen und inhaltlichen Ansätze der
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Mainstream-Ökonomie im allgemeinen und die der neoklassischen Wachstumstheorie im besonderen. Die Frage, inwieweit durch sie die wirtschaftliche Wirklichkeit zutreffend erklärt wird, ist schon seit längerer Zeit Gegenstand kontroverser Diskussionen, die durch das Aufkommen der so genannten evolutorischen Ökonomik zusätzlichen Auftrieb erhalten hat. Der Beitrag weist einleitend auf die methodische Orientierung der Neoklassik am naturwissenschaftlichen Weltbild hin, um sich dann exemplarisch einigen so genannten Reduktionismus-Vorwürfen zuzuwenden. Anschließend wird zu zeigen versucht, dass sich auch die Sichtweise der evolutionären Ökonomik naturwissenschaftlicher Vorbilder, insbesondere aus der Biologie und Thermodynamik, bedient, wobei einerseits lediglich begriffliche Analogien oder Metaphern, andererseits aber auch partiell übertragbare Erklärungsmuster (Isomorphien) bemüht werden. In diesem Zusammenhang scheinen insbesondere Konzepte wie Selbstorganisation, Pfadabhängigkeit und technologische Trajektorien in der Lage zu sein, die Prozesse von Wachstum und wirtschaftlicher Entwicklung besser verstehbar zu machen. Gegenstand des Beitrages von Jürgen Pätzold ist die Frage, ob eine Stabilisierung wirtschaftlicher Abläufe im Konflikt zwischen allokativen Effizienzerfordernissen und dem Postulat sozialpolitischer Verantwortung erreicht werden kann. Anders formuliert geht es dabei um die Realisierung von dauerhaftem Wachstum bei strukturellem Wandel, wirksamem Wettbewerb und gleichzeitiger Vermeidung sozialer Schieflagen. Der Verfasser macht deutlich, dass in diesem hochkomplexen Zielbündel interdependente Prozessabläufe involviert sind, so dass der Rückgriff auf einfache und einseitige angebots- bzw. nachfrageorientierte Lösungsansätze zu kurz greift. Das Problem liegt vielmehr darin, einen Ausgleich zu finden zwischen einer auf Anpassungsflexibilität und Allokationseffizienz gerichteten Stabilisierungspolitik und einer der sozialen Sicherung dienenden Distributionspolitik. Erstere kommt wegen ihrer gesamtwirtschaftlichen Wachstumseffekte allen zugute, während letztere stets auf die Kompensation von Nachteilen für einzelne (Gruppen von) Individuen abzielt. Die Vernachlässigung der zwischen diesen makro- und meso- bzw. mikroökonomischen Bereichen existierenden historischen und strukturellen Wechselwirkungen mag nach Pätzold dafür verantwortlich sein, dass zumindest ein Teil der Wachstums- und Beschäftigungsprobleme, denen wir uns in der jüngeren Vergangenheit gegenübergesehen haben, die Folge einer missverstandenen "systemtherapeutischen" und strukturkonservierenden Stabilisierungspolitik in der Vergangenheit sein dürfte. Deshalb plädiert er für eine an den Ursachen von Fehlentwicklungen ansetzende Marktund Wettbewerbspolitik und generell für eine "evolutorische und institutionenaufbrechende Sicht des Krisenphänomens".
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Hans-Dieter Feser geht der Frage nach den politischen und ökonomischen Voraussetzungen der Globalisierung sowie ihren positiven und negativen Umwelteffekten nach. Einerseits wird die Internationalisierung und Diffusion von Umweltschutztechniken sowie deren Effizienz durch die Globalisierung gefördert, andererseits steigt wegen des mit ihr einhergehenden zunehmenden Material- und Energiedurchsatzes aber auch die globale Umweltbelastung. Die Frage ist, ob die traditionellen Instrumente der Internalisierung externer Effekte auch anwendbar und wie sie gegebenenfalls zu modifizieren - sind, wenn jene Effekte globale Dimensionen annehmen. Über die damit verbundenen Auswirkungen auf die nationale Wettbewerbsfähigkeit gibt es bisher noch keine eindeutigen Erkenntnisse. Darüber hinaus stellt sich das Problem, wie angesichts der irreversiblen Erschöpfung von Naturkapital globalisierte Märkte in Richtung nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung organisiert werden können. Eine Entschärfung dieses Problems wird nach Feser wesentlich davon abhängen, "ob es gelingt, im Rahmen internationaler Verhandlungs- und Kooperationslösungen eine ökologische Ordnungspolitik zu implementieren". Struktureller Wandel gehört zu den unbestrittenen und hervorstechendsten stilisierten Fakten sozio-ökonomischer Entwicklung. Weder ist langfristiges wirtschaftliches Wachstum ohne strukturellen Wandel in der Realität beobachtbar, noch lässt sich ein wirksamer, funktionierender Wettbewerb denken, der die Strukturen, d.h. die Elemente des ökonomischen Gesamtsystems unverändert lässt. Die klassischen Ökonomen waren sich dieser Einsichten nicht nur bewusst, sie haben sie auch - in unterschiedlicher Richtung und Ausführlichkeit - zum Gegenstand ihrer Analyse gemacht. Obgleich sich unser Wissen über die Bedeutung des strukturellen Wandels, etwa im Zuge der schnellen Entwicklung der Dienstleistungsbereiche, eher noch verstärkt hat, ist der Strukturtheorie in der modernen Ökonomik nur eine sparsame Behandlung zuteil geworden. Neoklassische Theorie, Input-Output-Analyse, die Drei-Sektoren-Hypothese sowie Pasinettis Theorie vertikal integrierter Sektoren haben zwar wichtige Beiträge zum Verständnis ausgewählter struktureller Veränderungen geleistet, weisen aber (jeweils unterschiedliche) Mängel und Erklärungsdefizite auf. Die einzelnen Beiträge des folgenden zweiten Teils dieser Festschrift können selbstverständlich nicht den Anspruch erheben, diese Mängel zu beheben, sondern allenfalls als Versuch gewertet werden, dem sektoralen und regionalen Strukturwandel einzelne neue Aspekte hinzuzufügen. Karin Knottenbauer geht von der Überlegung aus, dass auf der Grundlage evolutorisch-systemtheoretischer Konzepte eine Weiterentwicklung der Theorie des sektoralen Strukturwandels auf den Weg gebracht werden kann, und sie präsentiert hier einen dazu geeigneten Analyserahmen. Ausgehend von Gowdy's Begriff
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des Sorting, der als eine Erweiterung des (biologischen) Selektionsbegriffes interpretiert werden kann, befasst sie sich mit den verschiedenen Formen, in denen sich Sorting-Vorgänge auf der Mesoebene ökonomischer Sektoren darstellen und auf ihre strukturverändernden Wirkungen hin untersuchen lassen. Diese können sowohl durch intersektorale Produktions-, Technologie- und Nachfrageverflechtungen als auch durch gesamtwirtschaftliche Einflüsse und/oder historische Zufallsereignisse bedingt sein. Insoweit stellt das Konzept des Sorting einen für die Erklärung sektoraler Wachstums- und Entwicklungsprozesse geeigneten formalen Analyserahmen dar. Hinsichtlich seiner inhaltlichen Ausfüllung kann durchaus auf bereits vorhandene Versatzstücke der ökonomischen Theorie zurückgegriffen werden, wenngleich deren Vernetzung zu einer zusammenhängenden Theorie sektoraler Strukturveränderungen erst am Anfang steht. Wie einige andere Beiträge berührt auch der Aufsatz von Heinz-Peter Spahn die Nahtstellen zwischen den drei Themenbereichen dieser Festschrift. Er versucht zu zeigen, dass die von vielen Ökonomen als "strukturell" bezeichnete Arbeitslosigkeit mit dem von der herrschenden (angebotsorientierten) Arbeitsmarkttheorie bemühten Analyseansatz nicht hinreichend erklärt werden kann. Diese konfiguriere nämlich den Arbeitsinput als einen im Prinzip homogenen Block von Faktorleistungen. Nach Auffassung des Verfassers bedarf die Arbeitsmarktanalyse jedoch der Berücksichtigung jener qualitativen Unterschiede der Arbeitskräfte, die nicht bereits durch unterschiedliche Teilmärkte und eine entsprechende Auffächerung der institutionellen Lohnstruktur abgebildet werden. Unter dieser Prämisse leitet er die Entstehung eines "Insider-Outsider-Phänomens", d.h. eine Marktspaltung zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen ab, auf deren Hintergrund Rigiditäten der Lohnpolitik "rational" begründbar sind. Diese Marktspaltung wird noch akzentuiert, wenn Qualität und Leistungsfähigkeit der Arbeitslosen mit der Höhe und Dauer der Arbeitslosigkeit (negativ) rückgekoppelt sind. Spahn hält daher den Begriff der strukturellen Arbeitslosigkeit für wenig sinnvoll, weil bei heterogenen Produktionsfaktoren, d.h. bei Arbeitskräften unterschiedlicher Qualität und Effizienz, keine eindeutige Grenzlinie zwischen nachfrage- und qualifikationsbedingter Arbeitslosigkeit gezogen werden könne. Die Landwirtschaft als "Ursektor" ökonomischer Aktivitäten hat seit jeher im Blickfeld wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Interesses, aber auch theoretischer Reflexionen gestanden. Sowohl auf Grund ihrer historischen ökonomischen Bedeutung als auch wegen ihrer vom Menschen nur teilweise beeinflussbaren natürlichen Gegebenheiten unterliegt sie in stärkerem Maße der wirtschaftspolitischen Einflussnahme als die meisten anderen Sektoren. In seinem Beitrag "Bedeutungswandel in der Agrarpolitik" legt Werner Grosskopf zunächst die Gründe dar, die auch aus theoretischer Sicht für eine vergleichsweise stärkere sektor-
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spezifische wirtschaftspolitische Einflussnahme angeführt werden können, um sich danach dem Wandel der Agrarpolitik im Laufe der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zuzuwenden. Wenngleich sich die agrarpolitischen Prämissen und Ziele in den hoch entwickelten Industrieländern gewandelt haben, hat sich die als Protektionspolitik zu bezeichnende agrarpolitische Strömung bis heute im Prinzip erhalten. Der Verfasser konstatiert jedoch eine Verschiebung der Prioritäten hin zu einer von der Produktion unabhängigen Einkommensstabilisierung sowie in Richtung auf eine stärkere Betonung umweltökonomischer Erfordernisse. Hatte Grosskopf sein Augenmerk auf den Wandel der Agrarpolitik in den entwickelten Industrieländern gerichtet, so gilt das Interesse von Franz Heidhues der ländlichen Regionalentwicklung in den Entwicklungsländern und den aus veränderten globalen Gegebenheiten resultierenden entwicklungspolitischen Konsequenzen. Seiner Meinung nach macht die Globalisierung mit ihren Tendenzen zum Zusammenwachsen von Produktionsstandorten und den damit verbundenen infrastrukturellen, ökologischen und sozialen Problemen einen Paradigmawechsel im entwicklungspolitischen Denken notwendig. Zwar hat die dem Interventionismus der Nachkriegszeit folgende Liberalisierungsstrategie der 1980er und der folgenden Jahre einerseits die Voraussetzungen für die heutige Globalisierung sowie den catching-up-Prozess einzelner früherer Low-Income-Countries geschaffen, andererseits aber auch die Entwicklungsunterschiede sowohl zwischen als auch innerhalb vieler Entwicklungsländer vergrößert. Der Regionalentwicklung erwächst daher eine neue, für die Armutsbekämpfung zentrale Rolle. Der Autor meint, dass die in vielen Forschungsarbeiten nachgewiesenen Komplementaritäten zwischen ländlichen Regionen und urbaner Wirtschaft in den meisten Entwicklungskonzepten zu wenig Beachtung finden. Sein Aufsatz enthält einen Katalog jener Erfordernisse und Maßnahmen, die für eine ländliche Entwicklungsplanung und die schrittweise Überwindung der Armut in den Enwicklungsländern notwendig und geeignet sind. Die für die Bundesrepublik Deutschland vorherrschende Situation eines Überschusses der ausfließenden über die einfließenden Direktinvestitionen wird oftmals als Indiz für die Schwäche des Industriestandortes Deutschland, seine zu hohen Arbeitskosten und die damit verbundenen Beschäftigungsschwierigkeiten interpretiert. Nettokapitalexport wird insoweit mit Arbeitsplatzexport gleichgesetzt. Bernhard Holwegler und Hans-Michael Trautwein gehen mit Recht davon aus, dass diese Hypothese einer genaueren, auf sektorale und regionale Untersuchungen gegründeten, empirischen Überprüfung bedarf. Eine solche haben sie für die im Stuttgarter Raum angesiedelten Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie vorgenommen. Dabei wird die o.g. Vermutung für diesen - in regionaler und sektoraler Hinsicht immerhin als Kernbereich anzusehenden - Industriestandort
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nicht bestätigt. Zwar hat hier in den 1990er Jahren ein massiver Stellenabbau stattgefunden, der aber nach Auffassung der Autoren weniger auf eine spezifische Standortschwäche, sondern vermutlich auf andere Faktoren (Konjunktureinbruch und Fortschrittsdefizite) zurückzuführen sein dürfte. Die auf Christaller und Lösch zurückgehende Theorie zentraler Orte hat sich seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts sowohl zu einem wichtigen Bestandteil von Raumordnungskonzepten als auch zu einem Instrument der Landes- und Regionalplanung entwickelt. Joachim Genosko zeigt, dass sich dabei die praktische Umsetzung des Konzepts, z.B. in den einzelnen Bundesländern, nicht nur stark ausdifferenziert hat und teilweise in Gefahr geraten ist, sich opportunistischen Partikularinteressen unterzuordnen, sondern sich auch vom ursprünglichen Theorieentwurf mehr oder weniger abgekoppelt hat. Er diskutiert die dafür maßgebenden ökonomischen und praktischen Einflüsse und die Möglichkeiten einer Neufundierung des Zentrale-Orte-Konzepts. Dabei sollten, so sein Plädoyer, die Erkenntnisse sowohl der Neuen Politischen Ökonomie als auch der Neuen Institutionenökonomik berücksichtigt werden. Der Beitrag von Ulrich Schempp ist eine teilweise bewusst provokant formulierte Kurzdarstellung der Gründe, warum nach der Wende der vielfach beschworene Aufschwung Ost zumindest für den nordöstlichen Teil der neuen Bundesländer nicht nur nicht eingetreten ist, sondern im Gegenteil eher zu einer Peripherisierung dieser Region geführt hat. Er zeigt, wie die damals existierenden strukturellen Gegebenheiten sich nach der Wiedervereinigung verfestigt und einer relativen Entleerung und Deindustrialisierung dieser Region Vorschub geleistet haben. Dieser Prozeß wird vom Verfasser in analoger Anwendung Krugman'scher Überlegungen als unumkehrbar eingeschätzt, so dass für eine Trendwende ganz neue Konzepte und Entwicklungsschwerpunkte in das Blickfeld gerückt werden müssen. Gerhard Gröner stellt in seinem Aufsatz bestimmte Probleme im Verhältnis zwischen Regionalwissenschaft und Demographie dar. Der Beitrag ist in zwei deutlich voneinander unterschiedene Teile gegliedert. Zum ersten reflektiert der Verfasser die auf seiner langjährigen Tätigkeit am Statistischen Landesamt beruhenden Erfahrungen über Verständigungs- und Koordinationsprobleme zwischen beiden Disziplinen und die dafür maßgebenden Gründe. Diese sind nach Gröner nicht nur in dem ungleichen Stand der jeweiligen wissenschaftlichen Grundlagen, sondern auch in der mangelnden Einsicht in die wechselseitigen Sach- und Systemzusammenhänge zu suchen, die für beide Bereiche relevant sind. Im zweiten Teil des Aufsatzes werden dann am Beispiel des in den letzten Jahrzehnten zu beobachtenden veränderten Eheschließungsverhaltens Konsequenzen angedeutet,
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die für die künftige Gesellschaftsstruktur sowie die daraus erwachsende Kooperation von Bevölkerungs- und Regionalwissenschaftlern bedeutsam sein könnten. Auf den ersten Blick liegt das von Olaf Schneider behandelte Thema eher am Rande der anderen drei Sachbereiche des vorliegenden Bandes. Wie diese haben sich jedoch auch die Beziehungen, speziell die arbeits- und organisationsrechtlichen Gegebenheiten zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern, im Verlauf der industriellen Entwicklung außerordentlich stark gewandelt. Dies ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf den mit sich verändernden Wachstums-, Strukturund Wettbewerbsprozessen einhergehenden Bewusstseinswandel der Menschen gegenüber der Arbeitswelt zurückzuführen. Der Verfasser wendet sich in seinem Beitrag einem speziellen Aspekt dieses Strukturwandels zu, nämlich der Darstellung der historischen Entwicklung und des gegenwärtigen Standes der Mitbestimmung in Deutschland; dabei werden auch Vergleiche mit Schweden und Österreich herangezogen. Um die Darstellung nicht ausufern zu lassen, klammert der Verfasser die betriebliche Mitbestimmung aus und beschränkt sich auf die einschlägigen Grundlagen und Verfahrensregelungen in den (Groß-)Unternehmungen, insbesondere in Aktiengesellschaften. In dieser Eingrenzung wird der Mitbestimmungstatbestand selbst seiner weiten Interpretation als Sammelbegriff für alle Arten institutionalisierter Arbeitnehmerbeteiligung entledigt und auf die heute praktizierten Formen der (unter-)paritätischen Teilhabe der Arbeitnehmer an unternehmerischen Entscheidungen eingeengt. In der historischen Folge ihres Entstehens handelt es sich dabei um drei Ausformungen: die volle Parität nach Maßgabe der Montanmitbestimmung, die offene Minderheitenposition der so genannten Drittelparität und die versteckte Minderheitenposition im Mitbestimmungsgesetz von 1976. Diese drei Modelle werden eingehend dargestellt, in bestimmten Einzelaspekten mit entsprechenden Regelungen in Schweden und Österreich verglichen und einer praxisorientierten Würdigung unterzogen. Mit der Globalisierung, die an sich nichts prinzipiell Neues ist, die aber eine Ausweitung und Akzentuierung internationaler Wirtschaftsbeziehungen im Gefolge hat, ist auch der Wettbewerb, der in der traditionellen Theorie noch vorwiegend unter nationalen Aspekten analysiert wurde, in eine neue Phase übergegangen. Diese ist sowohl durch die Intensivierung der grenzüberschreitenden Transaktionen als auch durch Versuche gekennzeichnet, die Konkurrenz im Wege bekannter und neuer Eingriffe zu regulieren. Mit diesen Problemen setzen sich die Beiträge des dritten Teils dieser Festschrift vorwiegend auseinander. Nach einer kurzen Charakterisierung der wichtigsten Globalisierungstatbestände und dem Hinweis auf die ambivalenten wettbewerbstheoretischen und wettbewerbspolitischen Implikationen der zunehmenden transnationalen Unternehmens-
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Zusammenschlüsse wendet sich der Aufsatz von André Schmidt der grundsätzlichen Frage zu, ob und inwieweit die gängigen Konzeptionen der Wettbewerbstheorie überhaupt eine verlässliche Handhabe für wettbewerbspolitisches Eingreifen bieten. Schließlich ist der Wettbewerbsbegriff - und mehr noch die Voraussetzungen und Erfordernisse seiner wirtschaftspolitischen Umsetzung - kaum eindeutig zu definieren. Stattdessen setzt sich der Verfasser ausfuhrlich mit einigen der bekanntesten theoretischen Ansätze (Harvard- und Chicago-Schule, Hoppmann) auseinander und versucht deren wettbewerbspolitische Konsequenzen im Zeitalter der Globalisierung herauszuarbeiten. Dabei ergibt sich letztlich kein einheitliches und widerspruchsfreies Bild über die Wirkungen grenzüberschreitender Fusionen. Feststehen dürfte lediglich, dass für jeden konkreten Einzelfall eine Würdigung aller wettbewerbspolitisch virulenten Umstände angezeigt ist, anstatt sich allein auf einzelne Wettbewerbskriterien und/oder die problematische Abgrenzung so genannter "relevanter" Märkte zu stützen. Auch der folgende Beitrag von Henning Klodt konstatiert die auf den ersten Blick überraschende Tatsache, dass einige nationale Kartellbehörden den Fusionstendenzen auf globalisierten Märkten mit einer gewissen Toleranz begegnen, weil angesichts diversifizierter Unternehmensstrukturen und Markterweiterungseffekte die Konzentration auf relevanten Märkten eher abzunehmen scheint. Ob die aktuelle Fusionswelle eine Gefahr fur den Wettbewerb auf den Weltmärkten darstellt, lässt Klodt aber offen. Er setzt sich vielmehr mit der Frage auseinander, ob die nationale Wettbewerbspolitik einer Ergänzung durch entsprechende internationale Maßnahmen und Institutionen bedarf, oder ob grenzüberschreitenden Wettbewerbsbeschränkungen durch Anwendung nationaler Regeln und Kooperation der beteiligten Behörden hinreichend entgegen gewirkt werden kann. Er beleuchtet diese Frage anhand ausgewählter wettbewerbsrechtlicher Fälle zunächst aus wettbewerbspolitischer und anschließend aus handelspolitischer Sicht. Dabei wird deutlich, dass insbesondere dann, wenn die nationalen industriepolitischen Interessen divergieren, sich Konflikte kaum vermeiden lassen, und dass die Praxis der internationalen Handelspolitik noch erhebliche wettbewerbspolitische Defizite ausweist. Seine abschließenden Überlegungen gelten der Frage, mit welchen institutionellen Ansätzen die Realisierungschancen einer internationalen Wettbewerbspolitik verbessert werden könnten. Die derzeitige europäische Kartellregelung besteht in einer Mischung aus relativ strenger (praktisch auf ein per se-Verbot hinauslaufender) Interpretation des Kriteriums "Wettbewerbsbeschränkung" und einer verhältnismäßig großzügig gehandhabten Freistellungspraxis der Europäischen Kommission. Dies hat zu einer Flut von Freistellungsanträgen und damit zu einem erheblichen Verfahrensstau gefuhrt. Die Kommission hat daher vorgeschlagen, die derzeitige Anmelde- und
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Freistellungsregelung abzuschaffen und durch ein Sanktionssystem zu ersetzen, von dem man sich eine abschreckende Wirkung verspricht. Hartwig Bartling und Hans Peter Seitel diskutieren die Reformvorschläge und die dabei anzuwendenden technischen Verfahren unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zwischen Sanktion (Bußgeldhöhe) und Aufdeckungswahrscheinlichkeit. Dabei geht es auch darum, zwischen so genannten "Hard core"-Kartellen und solchen mit nicht eindeutiger wettbewerbsbeschränkender Wirkung zu unterscheiden. Wegen des grundsätzlich gegebenen Spannungsverhältnisses zwischen dem Ziel eines möglichst hohen Wettbewerbsschutzes einerseits und dem Erfordernis der Justiziabilität und Rechtssicherheit bei der Beurteilung von Wettbewerbsbeschränkungen andererseits plädieren die Autoren für die prinzipielle Beibehaltung des Kartellverbotes gem. Art. 81 EGV und dessen Anwendung im Sinne einer Rule of Reason-Beurteilung der Wettbewerbsgefahrdung. Der Aufsatz von Martin Dietz und Ulrich Fehl ist die Fortschreibung und Aktualisierung einer Studie über den Welt-Reifenmarkt, die 1989 von Fehl/Stein veröffentlicht worden ist. Den Autoren geht es jetzt vor allem um das durch die zunehmende Globalisierung beeinflusste Marktverhalten der Reifenhersteller im weltweiten Wettbewerb. So werden einmal die in den vergangenen ca. 15 Jahren von den wichtigsten Anbietern eingesetzten Wettbewerbsparameter, und zum anderen die damit einhergehenden Kooperations- und Konzentrationsprozesse dargestellt. Gleichzeitig werden diese Vorgänge jeweils vor dem Hintergrund der gängigen wettbewerbstheoretischen Erkenntnisse reflektiert, wobei sich die Autoren methodisch am Prinzip der Wettbewerbsfreiheit und damit am evolutorischen Verständnis von Wettbewerb orientieren. Der Beitrag stellt eine sowohl theoretisch als auch wirtschaftspolitisch informative Fallstudie über die jüngste Entwicklung eines wichtigen globalen Marktes dar. Zwar hatte Schumpeter in seiner Theorie wirtschaftlicher Entwicklung den Akzent auf die innovative Aktivität der dynamischen Unternehmer gelegt. Ihm war aber durchaus klar, dass die Ausbreitung von Neuerungen durch die Nachfolger als die andere Seite der Medaille und insoweit als conditio sine qua non eines dauerhaften Entwicklungsprozesses anzusehen ist. Stephanie Hegner und Jürgen M. Schechler knüpfen an diesem grundlegenden Zusammenhang an, um (angelehnt an J.M. Clark, H. Arndt und E. Heuß) zu demonstrieren, dass die gewissermaßen gleichberechtigten Aktivitäten von Innovatoren und Imitatoren in ihrem Zusammenwirken erst einen funktionierenden Wettbewerbsprozess gewährleisten. Diese (alte) Erkenntnis dient ihnen jedoch nur als theoretischer Einstieg, um zu zeigen, dass die übliche Begründung fur die Förderung von Innovatoren unter den modernen Bedingungen der so genannten Internet-Ökonomie nicht mehr uneingeschränkt zu halten sind. In den rasant wachsenden Bereichen der
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Medien- und Kommunikationsindustrien, in denen Netzwerkeffekte, Pfadabhängigkeiten und Lock in-Phänomene das Bild bestimmen, können sich, wie das Beispiel Microsoft zeigt, dauerhafte Monopole bilden, die durch nachfolgenden Wettbewerb nicht mehr ohne weiteres auszuhebein sind. Hegner/Schechler folgern für diese Situation: "Nicht Innovatoren, sondern Imitatoren sind schutzbedürftig". Egon Görgens' Aufsatz geht von der Hypothese aus, dass der Arbeitsmarkt grundsätzlich den gleichen Zusammenhängen gehorcht, die auch für Gütermärkte gelten. Die Fehlentwicklungen führt er daher auf die Herauslösung der Arbeitsmärkte aus dem interdependenten Wettbewerbsgefüge und Koordinationsmechanismus der marktwirtschaftlichen Gesamtordnung zurück. Aus dieser Sicht muss eine neo-keynesianische gesamtwirtschaftliche Nachfragesteuerung versagen, wenn sie von den Tarifparteien als Signal zur Ausschöpfung neu entstandener Lohnerhöhungsspielräume interpretiert und entsprechend ausgenutzt wird. Darüber hinaus hätten zahlreiche sozial- und/oder strukturpolitisch intendierte Regulierungen, die als so genannte "Entmarktung" des Arbeitsmarktes bezeichnet werden können, einen Keil zwischen Lohneinkommen und Arbeitskosten getrieben und in Verbindung mit einer per Saldo strukturkonservierenden Wirtschaftspolitik zu einer zunehmenden institutionellen Verkrustung des Arbeitsmarktes beigetragen. Der Aufsatz schließt mit einem Resümee der mutmaßlichen arbeitsmarktund beschäftigungspolitischen Wirkungen der Globalisierung, exemplifiziert am Beispiel der Europäischen Währungsunion. Deren Regelungen sind zwar grundsätzlich als Wachstums- und beschäfitigungsfördernd anzusehen; Görgens will aber nicht ausschließen, dass die Möglichkeit der Externalisierung nationaler Versäumnisse auch Gegentendenzen heraufbeschwören könnte. Auf der Grundlage einer ähnlichen Sichtweise wie derjenigen von Görgens geht Ronald Clapham davon aus, dass der System- oder institutionelle Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften mit unterschiedlichen Rechts- und Verwaltungsordnungen durchaus mit den analytischen Instrumenten und den empirisch bewährten Ansätzen der ökonomischen Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik dargestellt werden kann. Die dort entwickelten Kategorien der Wettbewerbsvoraussetzungen (z.B. Marktstruktur), der Prozessabläufe in Abhängigkeit vom Marktverhalten sowie der anhand der Marktergebnisse zu identifizierenden Wettbewerbswirkungen sind sowohl formal als auch materiell auf den Systemwettbewerb übertragbar. Insbesondere lassen sich aus der Theorie bekannte Konstellationen aufzeigen, die wettbewerbsbeschränkendes Verhalten des Regelungsanbieters (des Staates) indizieren. Darüber hinaus demonstriert Clapham, dass sich bestimmte Wirkungen des Systemwettbewerbs in Analogie zu den bekannten Wett-
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Einfuhrung
bewerbsfunktionen - Anpassungs-, Fortschritts-, Verteilungs- und Freiheitsfunktion - diagnostizieren lassen. Frank Daumann hat sich in dem diesen Band abschließenden Aufsatz die Aufgabe gestellt, Friedrich von Hayeks Ordnungskonzeption darzulegen, die darin enthaltenen Schwächen aufzuzeigen und mögliche Verbesserungsansätze zu diskutieren. Als wesentliche Kriterien des Hayek'schen Konzepts arbeitet er heraus, dass den ein Maximum an individueller Freiheit gewährleistenden Regeln sozusagen Gesetzescharakter zukommt, was bedeutet, dass sie universal, offen, abstrakt, gewiss und widerspruchsfrei auszugestalten sind. Demgegenüber ist kritisch anzumerken, dass insbesondere das Universalitätskriterium weder einen wirksamen Schutz gegen symmetrische Freiheitsbehinderungen bietet, noch in der Lage ist, Diskriminierungen bzw. Privilegierungen einzelner Individuen gänzlich zu unterbinden. Auch zwischen dem Kriterium der inhaltlichen Gewissheit und dem der Abstraktheit von Regeln besteht ein Trade-off, der allenfalls ansatzweise aufzuheben ist. Der Verfasser diskutiert mögliche Lösungsansätze, durch die diese Unzulänglichkeiten beseitigt oder zumindest abgemildert werden könnten. Es zeigt sich jedoch, dass insbesondere bei Vorliegen konfligierender Wertvorstellungen die Definition und die praktische Handhabung allgemein gültiger und zeitlich stabiler freiheitssichernder Regeln außerordentlich schwierig ist.
Inhalt Helmut Walter Einführung
1. Teil: Wirtschaftliches Wachstum und Stabilisierung Bernd Blessin Der Unternehmer in der ökonomischen Theorie und Praxis Bernd Nolte Management von Innovation und Wachstum Unternehmer im Spannungsfeld von Fortschritt und Beharrung Harald Hagemann Wirtschaftliches Wachstum, technischer Fortschritt, Strukturwandel und Beschäftigung Stephan Seiter Neues in der Wachstumstheorie? Helmut Walter Neoklassisches Wachstum und evolutorische Ökonomik. Bemerkungen zu einem Paradigmenstreit Jürgen Pätzold Allokation - Distribution - Stabilisierung. Stabilisierungspolitik im Konflikt zwischen allokativer Effizienz und sozialpolitischer Verantwortung Hans-Dieter Feser Globalisierung und Umwelt
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Inhaltsverzeichnis
2. Teil: Sektoraler und regionaler Strukturwandel Karin Knottenbauer Sorting von Sektoren - eine evolutorisch-systemische Erklärung des sektoralen Strukturwandels
175
Heinz-Peter Spahn Strukturell Arbeitslose - gibt's die? Der unvollkommene Wettbewerb am Arbeitsmarkt und das Beschäftigungsproblem
199
Werner Grosskopf Bedeutungswandel in der Agrarpolitik
227
Franz Heidhues Globalisierung, Einkommensverteilung und ländliche Regionalentwicklung in Entwicklungsländern
243
Bernhard Holwegler und Hans-Michael Trautwein Nettokapitalexport = Arbeitsplatzexport? Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen am Beispiel der Metall- und Elektroindustrie im Raum Stuttgart
259
Joachim Genosko Das Zentrale-Orte-Konzept. Einige theoretische und empirische Anmerkungen
293
Ulrich Schempp Über das lange Warten auf den Aufschwung Ost. Der Nordosten Deutschlands nach der Wende durch die theoretische Brille von Paul Krugman gesehen
313
Gerhard Gröner Zum Verhältnis von Regionalwissenschaft und Bevölkerungswissenschaft: ein Erfahrungsbericht
323
Inhaltsverzeichnis
Olaf Schneider Industrielle Beziehungen in Deutschland: Das Beispiel der Unternehmensmitbestimmung - zugleich ein Blick auf Schweden und Österreich
XXIII
333
3. Teil: Wettbewerb und Globalisierung André Schmidt Wettbewerbspolitik im Zeitalter der Globalisierung
377
Henning Klodt Megafusionen und internationale Wettbewerbspolitik
417
Hartwig Bartling und Hans Peter Settel Kartellverbot in der Europäischen Union: Reformvorschläge aus institutionenökonomischer Sicht
443
Martin Dietz und Ulrich Fehl Der deutsche Markt für PKW-Reifen im Zeichen der Globalisierung
463
Stephanie Hegner und Jürgen M. Schechler Über das Verhältnis von Innovatoren und Imitatoren in der Internet-Ökonomie
493
Egon Görgens Funktionsbeeinträchtigungen des Arbeitsmarktes und internationale Herausforderungen
519
Ronald Clapham Ansatzpunkte für eine ökonomische Diagnose des Systemwettbewerbs zwischen Staaten
543
Frank Daumann Zur Ausgestaltung freiheitssichernder Regeln
561
XXIV
Inhaltsverzeichnis
Anhang Autorenverzeichnis
XXVII
Schriftenverzeichnis
XXXI
WIRTSCHAFTLICHES WACHSTUM UND STABILISIERUNG
Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2000
Der Unternehmer in der ökonomischen Theorie und Praxis Bernd Blessin
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Die Rolle des Unternehmers
Was macht den Unternehmer aus? Die Beschäftigung mit der Thematik "Unternehmer" bzw. "Entrepreneur" hat eine lange Tradition,1 ohne dass dies zu einer allgemein akzeptierten Unternehmertheorie gefuhrt hätte (vgl. Abschnitte 2 und 3). Vielen dieser Ansätze gemeinsam ist der innovierende Unternehmer, an den im Zusammenhang mit ökonomischem Wachstum, Produktivitätsfortschritt und Strukturwandel gedacht wird. Dieser Zusammenhang ist wohl auch der Grund dafür, dass in Zeiten eines schwindenden Wirtschafts- bzw. Produktivitätswachstums oder bei strukturbedingten Verkrustungen zunehmend der Rückgang an Unternehmern bzw. deren angeblich schwächer werdender Unternehmergeist verantwortlich gemacht wird. Dies wird vor allem in jüngerer Zeit besonders deutlich. Die der Figur des Unternehmers durch Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zugewiesene Rolle, scheint eine weit reichende Renaissance zu erfahren. So wird dem Unternehmer eine Schlüsselrolle bei der Förderung wirtschaftlichen Wachstums sowie des Produktivitätsfortschritts zugewiesen. Erkennbar wird dies an stärker werdenden Appellen und Initiativen von Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, mit denen versucht wird, eine Gründerwelle loszutreten. Schließlich kann man am Beispiel der USA nachvollziehen, dass es etwa in der Nähe verschiedener Forschungseinrichtungen verstärkt innovative Unternehmensgründungen gibt - oft in Form von "Spin-offs". Entsprechend wird auch in Deutschland die Einrichtung von Gründerlehrstühlen, das Angebot von Entrepreneurship-Veranstaltungen an Hochschulen, das Angebot von Start-up-Beratungen oder Existenzgründungskonferenzen forciert. Ausgelöst durch die Erfolge von Unternehmensgründungen in Wachstumsbereichen, wie dem Multi-Media-Bereich, dem Bereich der Informations-, Bio- und Gentechnologie sowie der Mikroelektronik, zeichnen sich bereits erste Fortschritte bei der Wiederbelebung des Unternehmertums in Deutschland ab.
1
Für einen Überblick siehe z.B. Casson (1982); Long (1983); Timmons (1994); Bull/Willard (1995); Welzel (1995).
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Der U n t e r n e h m e r
Von ungleich größerer Relevanz ist die notwendige Förderung des Unternehmertums zur Beseitigung strukturbedingter Wirtschaftskrisen bzw. zur Forcierung des Strukturwandels 2 in Deutschland. Vor dem Hintergrund einer abnehmenden Bedeutung des in Deutschland noch stark ausgeprägten sekundären Sektors und damit des produzierenden bzw. verarbeitenden Gewerbes, ist mit der Initiierung einer Gründerwelle in den vorgenannten Wachstumsbereichen vielfach auch die Intention verbunden, der beobachtbaren Verkrustung der Strukturen entgegenzuwirken und den Anschluss an die weltwirtschaftliche Entwicklung zu halten bzw. diese maßgeblich zu beeinflussen. Begünstigend könnte hierbei sein, dass es vornehmlich kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind, die in allen Wirtschaftsbereichen Deutschlands dominieren. Der in ihnen vorherrschende Unternehmertypus ist gekennzeichnet durch seine Position an der Spitze des Unternehmens als Inhaber, Mitinhaber bzw. Geschäftsführender Gesellschafter - und damit die formale Entscheidungsgewalt. Sie fällt in der Regel mit dem Eigentum am Unternehmenskapital, d.h. mit dem Einsatz von Privatkapital zusammen. Entsprechend liegt seine Funktion in der Unternehmensführung, die als dynamisch und innovativ anerkannt wird. Er zeichnet sich durch das Aufspüren und Nutzen von Marktchancen, Ideenreichtum, Flexibilität und den Mut zur Übernahme von Risiken aus. In mittelständischen Tugenden wie Kreativität, Fleiß und der Bereitschaft zu eigenverantwortlichem Handeln ist nicht nur die Basis des zukünftigen wirtschaftlichen Erfolgs in Deutschland und auf den internationalen Märkten, sondern auch ein wichtiger gesellschaftspolitischer Faktor zu sehen. Denn es sind vor allem KMU, die Ausbildungs- und Arbeitsplätze schaffen und hierdurch als Stabilisator von Wirtschaft und Gesellschaft eine herausragende Rolle spielen. Letzteres ist nicht nur bei einer gesamtwirtschaftlichen sondern auch bei einer regionalwirtschaftlichen Betrachtungsweise von erheblicher Bedeutung. So tragen insbesondere die Unternehmer in KMU zu einer Abfederung sozialer Spannungen in vom wirtschaftlichen Strukturwandel besonders hart betroffenen Regionen bei und sorgen damit zugleich für gesellschaftliche Stabilität. Der in KMU vorherrschende Unternehmertypus könnte also positiv auf die Entwicklung einer neuen, jungen Unternehmerelite ausstrahlen, mit deren Hilfe die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums bzw. des Produktivitätsfortschritts sowie des Strukturwandels möglich wird. Ob allerdings der ideale Unternehmer überhaupt existiert und wodurch er gekennzeichnet ist, ist fraglich. Nachfolgend
2
Zur Problematik des Strukturbegriffes vgl. ausführlich Herdzina (1981), S. 118ff. und S. 211.
Der Unternehmer
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werden diese Aspekte eingehend beleuchtet. Im Mittelpunkt steht dabei die Auseinandersetzung mit dem Unternehmer in der ökonomischen Theorie sowie der betrieblichen Praxis.
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Der Unternehmer in der ökonomischen Theorie
Bereits Cantillon, Mill und Say setzten sich mit den Eigenschaften des Unternehmers (Entrepreneur) auseinander. 3 Cantillon wird die erste verzeichnete Verwendung des Begriffs "Entrepreneur" zugeschrieben. Er erkannte bereits 1755 die entscheidende Rolle des Unternehmers bei der wirtschaftlichen Entwicklung auf der Basis individueller Eigentumsrechte. Cantillon sieht im Unternehmer jemanden, der etwas unternimmt, wobei er Entscheidungen unter Unsicherheit trifft, indem er Waren zu einem fixen Preis kauft, zu diesem Zeitpunkt jedoch den genauen Absatzpreis bzw. die genaue Absatzmenge noch nicht kennt.4 Ähnliche Aussagen finden sich auch bei Mill, der dem Unternehmer in seinen Überlegungen ebenfalls die Funktion der Risikoübernahme ("risk-bearing") zuweist. 5 Demgegenüber billigt Say dem Unternehmer in seiner Tätigkeit darüber hinaus dispositive Aufgaben zu. Dadurch steht bei ihm die Risikofunktion nicht mehr allein im Mittelpunkt. Der Unternehmergewinn setzt sich bei Say aus Verzinsung, Lohn für Arbeit und einer Residualgröße, die ein Entgelt für die Übernahme des Risikos eines Kapitalverlusts darstellt, zusammen. Weitere Ansätze für die Entwicklung einer ökonomischen Theorie des Unternehmertums, die eine Analyse der Gründe ökonomischen Erfolgs bzw. Misserfolgs ermöglichen sollen, finden sich bei Schumpeter bzw. den Vertretern der Österreichischen Schule. In jüngerer Zeit ist vor allem der Ansatz von Casson hervorzuheben. Schumpeter weist dem Unternehmer in seiner Theorie eine wesentliche volkswirtschaftliche Funktion zu. Er sieht in ihm einen Innovator, der ein wirtschaftliches Potenzial erkennt und eine "neue Kombination durchsetzt"6, wodurch eine deutliche Abgrenzung zum Erfinder oder Entwickler neuer Technologien statt-
3 4 5 6
Vgl. Cantillon (1755); Mill (1848); Say (1880). Vgl. Cantillon (1755), S. 62ff. Vgl. Mill (1848), vgl. dazu ferner Baumol (1993), S. 12; Deakins 1996), S. 8f. Schumpeter (1934b), S. 116, Schumpeter unterscheidet fünf Arten der Innovation: Einfuhrung neuer Güter, Einführung neuer Produktionsmethoden, Öffnung neuer Märkte, Erschließung neuer Bezugsquellen sowie Entwicklung neuer Organisationsstrukturen.
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Der Unternehmer
findet. Das Wesen des Unternehmertums liegt somit darin, dass unternehmerisches Denken und Handeln stattfindet, bevor neue Konsumentenbedürfnisse oder neue Produkte entdeckt werden. Die durch den schumpeterschen Unternehmer ausgelösten wirtschaftssystemimmanenten Entwicklungsimpulse beginnen also auf der Angebotsseite. Schumpeter beschreibt dies als "Prozess der schöpferischen Zerstörung" 7 , der ein Ausbrechen aus dem Marktgleichgewicht bedeutet und somit die Haupttriebkraft der ökonomischen Entwicklung ist. Er hebt damit in besonderem Maße das dynamische bzw. evolutionäre Element dieser Entwicklung hervor. 8 Mit dem Durchsetzen von Innovationen gegen Marktwiderstände erlangt der Unternehmer eine Monopolstellung. Nach und nach wird die Innovation von anderen übernommen bzw. drängen Imitatoren in den Markt und bewirken damit die Wiederherstellung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auf neuem Niveau. Daraus resultiert zum einen die Zerstörung bestehender Produkte und Produktionsverfahren sowie u.U. von Unternehmen, Branchen und Märkten. Zum anderen resultieren aus den schöpferisch-kreativen Neukombinationen bessere Produkte, effizientere Produktionsverfahren sowie neue Unternehmen, Branchen und Märkte, die das Erreichen eines höheren Wohlstandsniveaus ermöglichen. Als Motive für das Ingangsetzen dieses Prozesses nennt Schumpeter neben dem Gewinnmotiv das Streben nach sozialer Machtstellung, die Freude am schöpferischen Gestalten sowie das Erfolgsstreben um des Erfolges willen.9 Obwohl der Unternehmer hierbei Risiken eingeht, beziehen sich diese nach Schumpeters Ansicht ausschließlich auf seine Funktion als Geldgeber bzw. Güterbesitzer und nicht auf die Unternehmerfunktion selbst.10 Insgesamt hat Schumpeter mit seiner Konzeption als erster eine konsistente evolutorische Interpretation des ökonomischen Wandels entworfen und den Menschen als zentrale Figur in einer ökonomischen Theorie verankert. Für die Vertreter der Österreichischen Schule" ist der Unternehmer die Schlüsselfigur im Marktprozess. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Arbeiten
7
Vgl. Schumpeter (1950), S. 137f. Vgl. Schumpeter (1912), S. 172ff.; Schumpeter (1950), S. 214, damit unterscheidet sich der Schumpetersche Unternehmer von dem bei Cantillon und Say beschriebenen. Letztere stellen eher auf den Firmengründer ab, unabhängig davon, ob er innovativ ist oder nicht. 9 Vgl. Schumpeter (1912), S. 138; Schumpeter (1934a), S. 93f. 10 Vgl. Schumpeter (1912), S. 290. " Carl Menger, Eugen von Boehm-Bawerk, Ludwig von Mises, Friedrich von Hayek sowie Israel M. Kirzner. 8
Der Unternehmer
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von Kirzner. In seinem Konzept weist er dem Unternehmer im wesentlichen vier Funktionen zu: die Preisarbitrage, d.h. die Nutzung erkannter bzw. vermuteter Preisdifferenzen zwischen Produkt- und Faktormärkten, die anderen Marktteilnehmern entgangen ist; die Aufklärung der Marktteilnehmer, indem potenzielle Käufer und Verkäufer zusammengeführt werden und dadurch Markttransparenz hergestellt wird; die marktgleichgewichtsbildende Funktion, indem durch kontinuierliche räumliche und zeitliche Arbitrage Preisunterschiede reduziert werden sowie schließlich die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung durch die Einbeziehung innovativer Tätigkeiten in die Arbitragefunktion. Damit unterscheiden sich Kirzners Ansichten über den Unternehmer von denen Schumpeters in einigen Punkten. 12 Während bei Schumpeter lediglich außergewöhnliche Menschen die Fähigkeit zu einem Unternehmer besitzen, hat bei Kirzner jeder das Potenzial zu einem Unternehmer. 13 Der Unternehmer bei Kirzner nutzt profitable Tauschmöglichkeiten, die andere übersehen haben. Kirzner führt dazu weiter aus: "It is the alertness of the entrepreneur that leads him to recognize what others and even the entrepreneur himself may earlier have failed to notice" 14 . Der Unternehmer bei Kirzner bedient sich also der Möglichkeiten, die aus neuen Technologien entstehen. Die erkannten Tauschmöglichkeiten sind auf Anpassungsdefizite 15 zwischen verschiedenen Märkten zurückzuführen. Indem der Unternehmer die daraus entstehenden Bedürfnisse und Ineffizienzen erkennt Kirzner bezeichnet dies als Findigkeit - sowie die sich ergebenden Gewinnmöglichkeiten nutzt, werden die sich auf den Märkten ergebenden Ungleichgewichte durch die Reaktion des Unternehmers immer wieder abgebaut. Kirzner bemerkt hierzu, dass sein Unternehmer in einem sich ständig ändernden Umfeld durch Spekulation bzw. Nutzung von Arbitragen die Wirtschaft zu einem Gleichgewicht führt, wohingegen Schumpeters Unternehmer "acts to disturb an existing equilibrium situation" 16 . Voraussetzung dafür, dass der Unternehmer diese Rolle übernehmen kann "is absence of privilege and freedom of entrepreneurial
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Für eine kritische Betrachtung der Schumpeterschen Theorie vgl. Kirzner (1979), S. 115ff. sowie auch Albach (1979), S. 539ff. Vgl. Schumpeter (1912), S. 162ff. und S. 177 i.V. m. Deakins (1996), S. 10. Kirzner (1984), S. 3. Vollständige Information schließt das unternehmerische Element in Entscheidungsprozessen aus. Die Möglichkeiten gewinnbringenden Handels entstehen aufgrund unvollständiger Information. Die Nutzung zusätzlicher Informationen ermöglicht dem Unternehmer, Vorteile aus profitablen Gelegenheiten zu ziehen. Im Marktgleichgewicht besteht aufgrund vollständiger Information keine Funktion für den Unternehmer. Vgl. Kirzner ( 1979), S. 109ff.; Deakins (1996), S. 9. Kirzner (1974), S. 72ff. Vgl. ferner Kirzner (1979), S. 11 Iff.
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entry"17, d.h. die Gewissheit, dass er eine erkannte Gelegenheit verfolgen darf.18 Die bedeutendste Rolle des Unternehmers besteht daher in der Preisregulierung bzw. -festlegung. Nach den beiden vorgenannten Ansätzen erwachsen Gewinnmöglichkeiten aus Innovationen 19 bzw. Arbitragegeschäften 20 . Im Falle von Innovationen übernimmt für gewöhnlich der Unternehmer das aktive Management der Ressourcen in seinem Einflussbereich, wohingegen bei der Arbitrage lediglich das Erkennen einer Gewinnmöglichkeit bei der Überbrückung von Märkten notwendig ist. Die Überbrückung kann dabei zeitlich, räumlich oder sachlich (Transformation z.B. in neue Produkte) erfolgen. Ein Großteil unternehmerischen Handelns in einer Marktwirtschaft geht in der Tat auf die Verbesserung von Handelsbedingungen zurück, d.h. auf die Senkung von Transaktionskosten. Einen weiteren Ansatz für die Beschreibung des Unternehmers bzw. des Unternehmertums versucht Casson in seiner "theory of the entrepreneur" zu entwickeln. 21 Im Zentrum seiner Forschungen steht die Verbindung rational-sozialen Verhaltens mit Unternehmertum sowie die Entwicklung einer einheitlichen, empirisch testbaren Theorie des ökonomischen und sozialen Fortschritts. Für Casson ist der Unternehmer zunächst Träger unternehmerischer Funktionen. Er konkretisiert diesen allgemeinen Funktionsansatz indem er Unternehmertum (Entrepreneurship) als eine individuelle Fähigkeit charakterisiert, die bestimmte Individuen in die Lage versetzt, langfristige Entscheidungen zur Reallokation oder Organisation knapper Ressourcen zu treffen. Entsprechend definiert er den Unternehmer als "someone who specializes in taking judgmental decisions about the coordination of scarce resources"22. Aus dieser Definition gehen verschiedene Eigenschaften des Unternehmers hervor. Er strebt unabhängig von anderen als Individuum Entscheidungen und Werturteile für komplexe Probleme an, für die keine offensichtlich geeigneten Lösungsschemata vorliegen. Dabei hebt er sich dadurch ab, dass er sich auf das Auffinden von Lösungen für komplexe Situationen spezialisiert hat sowie aktiv plant. Hierzu bedarf es nicht nur einer optimisti-
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19 20 21 22
Kirzner (1984), S. 8. Das Erzielen eines unternehmerischen Gewinns setzt nach Kirzner dabei nicht das Eigentum voraus, d.h. bei der Nutzung von Arbitragen sind keine eigenen Ressourcen (Investitionsmittel) notwendig. Vgl. Kirzner (1979), S . 9 4 f f . Vgl. Schumpeter (1934a), S. 1 3 3 f f ; Baumol (1993), S. Iff.; Casson (1995), S. 85. Vgl. Kirzner (1974), S. 48; Kirzner (1979), S. 94ff. Vgl. Casson (1982). Casson (1982), S. 23 (im Original kursiv).
Der Unternehmer
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sehen Einstellung, sondern auch der Zuversicht, dass dieser Optimismus gerechtfertigt ist. Dies bedingt ebenfalls eine begrenzte Risikoaversion. Die Koordination knapper Ressourcen hebt ferner den dynamischen Aspekt des Unternehmertums hervor: Koordination verändert die Allokation, um zu einer Situationsverbesserung zu gelangen. Unternehmertum wird somit durch selbstmotiviertes und am eigenen Nutzen orientiertes Streben zu einem kontinuierlichen Prozess. Die nutzenbringende Reallokation bzw. Organisation knapper Ressourcen bedingt aber zugleich die Verfügungsgewalt über sie. Folglich benötigt erfolgreiches Unternehmertum auch eine ausreichende Ausstattung mit finanziellen Mitteln. 23 Als weitere Voraussetzungen erfolgreichen Unternehmertums sind Personalführungsqualitäten und Teamfähigkeit in Verbindung mit einem gut ausgebauten Netzwerk unterschiedlichster Informationsquellen und Ratgeber notwendig. Casson geht davon aus, dass alle unternehmerischen Fähigkeiten zu einem gewissen Grad angeboren sind und nur bedingt durch Training oder Erfahrung erlernt werden können. Die von ihm herausgearbeiteten Fähigkeiten sind: self-knowledge, imagination, practical knowledge, analytical ability, search skill, foresight, computational skill, communication skill, delegation skill, organizational skill. So sind nach Casson beispielsweise Phantasie, Vorstellungskraft oder Weitblick nicht erlernbar, wohingegen analytische, mathematische oder praktische Fähigkeiten sowie Delegations- oder Organisationsfähigkeiten gefordert werden können.24 In seiner Unternehmertheorie gelangt Casson zu dem Schluss, dass diese letztlich ein Teilaspekt einer umfassenden Theorie ökonomischer und sozialer Prozesse ist. Ferner stellt sein Ansatz die Verbindung zur Transaktionskostentheorie her, indem er ausdrücklich die Kosten der unternehmerischen Funktionsausübung berücksichtigt. Dies wurde in den früheren Ansätzen von Schumpeter und Kirzner vernachlässigt. Zusammenfassend können die Ansätze von Kirzner und Casson als Weiterentwicklung der neoklassischen Theorie eingeordnet werden, da sie den Markt als Prozess verstehen. Die treibende Kraft ist dabei die Bewegung hin zum Gleichgewicht, wobei dieses letztlich das Resultat unternehmerischer Initiative ist. Neben den vorgenannten Theorien finden sich in der Literatur noch zahlreiche weitere Versuche zur Entwicklung von Unternehmertheorien, 25 deren erschöp-
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Vgl. Casson (1982), S. 23ff. und Casson (1995), S. 80ff. Vgl. Casson (1982), S.35f. Vgl. Casson (1982), S. 364ff.; Welzel (1995), S. 42ff.
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Der Unternehmer
fende Beschreibung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Dennoch soll auf die Ansätze von Leibenstein bzw. Knight hingewiesen werden, die in der Literatur häufig diskutiert werden. Leibenstein, der den Schwerpunkt seiner Forschungen im mikroökonomischen Bereich setzt, betrachtet Unternehmertum als kreative Antwort auf X-Ineffizienzen. 26 Der nach Gewinn strebende Unternehmer versucht diese Wirtschaftlichkeitsdefizite abzubauen, indem neue Beschaffungsmärkte gesucht, neue Einsatzfaktoren, die die Effizienz der vorhandenen Produktionsmethoden verbessern, beschafft bzw. neue Methoden eingeführt werden oder indem der Unternehmer, ähnlich wie bei Kirzner, eine Überbrückungsfunktion ausübt. Letztlich liefert Leibenstein aber keine Hypothesen über unternehmerisches Verhalten. 27 Als die bedeutendste Eigenschaft des Unternehmers gilt für Knight die eigene Urteilsfähigkeit in Verbindung mit einer geringen Risikoaversion sowie Selbstvertrauen. Überdies stellt er die Übernahme von Leitung und Verantwortung als charakterisierende Merkmale des Unternehmers heraus.28 Der knightsche Unternehmer ist der Empfänger des Reingewinns als Belohnung für das Tragen der Unsicherheitskosten. Dabei unterscheidet Knight zwischen Unsicherheit und Risiko. Das Risiko läßt sich durch Wahrscheinlichkeiten charakterisieren und kann versichert werden. Unsicherheit hingegen kann nicht berechnet und demnach auch nicht versichert werden. Die Übernahme dieses Restrisikos zeichnet den knightschen Unternehmer aus. Hier setzt auch die Kritik an diesem Unternehmerbild an. Ein Unternehmer wäre nach dieser Sichtweise jeder, der bereit ist, Risiken einzugehen, indem er Entscheidungen über eine ungewisse Zukunft fällt. Die findige und suchende Rolle, die etwa Kirzner dem Unternehmer zuweist, wird hier vernachlässigt.
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Der Unternehmer in der betrieblichen Praxis: Die zentralen Eigenschaften des Unternehmers in KMU
Aufbauend auf den oben dargestellten Theorien, wobei die Ansätze von Schumpeter und Kirzner im Vordergund stehen, wurde insbesondere in der amerikanischen Literatur versucht, die Eigenschaften des Unternehmers zu erfassen und seine zentrale Stellung im Unternehmen bzw. im ökonomischen Prozess zu charakterisieren. Die Risiko tragende und Unsicherheit reduzierende Rolle (Knight)
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Vgl. Leibenstein (1966); Leibenstein (1968). Vgl. Leibenstein (1968), vgl. dazu ferner Kirzner (1979), S. 126f.; Casson (1982), S. 364ff. Vgl. Kirzner (1974), S. 8Iff.; Casson (1982), S. 370ff.; Deakins (1996), S. l l f . Vgl. zur Übernahme einer Führungsfunktion durch den Unternehmer auch Baumol (1993), S. 4.
Der Unternehmer
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sowie die Rolle des Vermittlers (Kirzner bzw. Casson) in Verbindung mit der Funktion des Innovators (Schumpeter) zeigen insgesamt, dass der Unternehmer vor allem in Phasen der Unsicherheit bzw. des Wandels eine wichtige Schlüsselstellung im wirtschaftlichen Prozess einnimmt. Ferner entstehen die Charakteristika kleiner und mittlerer Unternehmen gerade durch die Person des Unternehmers. Die Unternehmerperson bildet das Fundament kleiner und mittlerer Unternehmen. Also hängt auch Erfolg und Misserfolg des Unternehmens eng mit der Persönlichkeit des Unternehmers zusammen. 29 An dieser Stelle müssen zwei Erklärungsrichtungen zur Beschreibung von Unternehmern voneinander abgegrenzt werden. Die Untersuchungsansätze zur Erfassung des Wesens von Unternehmern teilen sich in jene, die den Unternehmer ausschließlich als Unternehmensgrwrccfer in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen und jene, die neben dem Unternehmensgründer insbesondere den Unternehmens/w/zrer betrachten. Wird der Unternehmer ausschließlich mit dem Gründer eines Unternehmens gleichgesetzt, steht dahinter in erster Linie der Gedanke, dass mit der Gründung eines neuen Unternehmens ein Prozess des Wandels initiiert wird, der zugleich zu wirtschaftlichem Wachstum fuhren soll.30 Sicherlich darf diese Funktion nicht unberücksichtigt bleiben, zumal in ihr auch die Begründung für eine Zunahme von Existenzgründungsinitiativen (z.B. durch Beratungsangebote, die Einrichtung von Gründerparks, die Vergabe günstiger Darlehen) insbesondere in wirtschaftlichen Problemphasen liegt.31 Sie greift aber dennoch zu kurz. So gehen von Unternehmensgründungen oftmals nicht die erhofften Strukturwandel-,
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Witte verweist zwar darauf, dass es unrealistisch sei, eine Einengung der Entscheidungsprozesse auf die Person des Unternehmers vorzunehmen, da das Vordringen von Kapitalgesellschaften sowie die Trennung von Eigentum und Management in Verbindung mit zunehmender Entscheidungsdelegation die Loslösung vom Ein-Personen-Entscheidungsmodell erfordern. Vgl. Witte (1973), S. 5. Gegen diese Auffassung spricht jedoch zunächst die quantitative Bedeutung der Kleinst-, Klein- und Mittelunternehmen, die in der Regel von Einzelpersonen geführt werden. Dennoch zeigt Witte gerade hierdurch bereits die konsequente Weiterentwicklung einer Verbundwirkung zwischen dem Unternehmer als Entrepreneur und den Mitarbeitern als Intrapreneure auf, die an der (innovativen) Entscheidungsfindung beteiligt sind.
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Vgl. Burch (1986), S. 5, der auf S. 24 weiter ausführt: "The entrepreneur is, indeed, the change agent, the source of innovation and creativity, the schemer, the heart and soul of economic growth." Vgl. dazu auch U.S. Small Business Administration (1985), S. 125. So erwachsen durch die Gründung neuer Unternehmen weitere unternehmerische Gelegenheiten, wie zahlreiche Beispiele von Computer-, Bio- und Gentechnologie- sowie Informations- und Kommunikationstechnologieunternehmen zeigen oder wie es in den U S A an bestimmten regionalen Beispielen (Silicon Valley, Route 28 oder Raleigh) nachvollzogen werden kann. Vgl. Burch (1986), S. 5 i.V.m. Rothwell (1989), S. 52.
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Wachstums- oder Wettbewerbseffekte aus, da die Zahl der überlebensfähigen Gründungen letztlich hinter den Erwartungen zurückbleibt. 32 Daneben ist der ideale Unternehmensgründer eben nicht als der "risk-taking, profit-maximizing economic man, independent, competitive, materialistic and single-minded in his pursuit of wealth" 33 zu charakterisieren. Ferner bleiben die von Schumpeter und Kirzner beschriebenen wirtschaftlichen Veränderungsprozesse durch unternehmerisches Handeln ohne Beachtung. Schließlich läßt sich diese Funktion nur schwer operationalisieren und damit empirisch untersuchen, da keine eindeutige Aussage darüber besteht, zu welchem Zeitpunkt der Gründungsprozess abgeschlossen ist und der Unternehmensfuhrungsprozess beginnt. An diesem Defizit setzt beispielsweise Audretsch an, indem er den Versuch unternimmt, ein neues operationales Maß für Unternehmertum zu finden. Er reduziert hierzu Unternehmertum auf die Gründung eines neuen Unternehmens und versucht damit zwei ökonomische Phänomene miteinander zu verbinden: den Beginn eines neuen Unternehmens sowie sein Überleben.34 Die von Audretsch aufgezeigten Ergebnisse geben jedoch nur Anhaltspunkte über die Dynamik, d.h. die Gründung bzw. Löschung von Unternehmen, innerhalb der untersuchten Industriezweige. Er räumt selbst ein, dass Unternehmensgründungen von der Kapital·, der Forschungs- und Entwicklungs- bzw. Werbeintensität oder dem Konzentrationsgrad der jeweiligen Branche abhängen. Somit gelingt es ihm mit seinem Ansatz ebenfalls nicht, die Theorie entscheidend voranzubringen bzw. das Wesen des Unternehmers näher zu charakterisieren. Die Ansätze zur Charakterisierung des Unternehmers in seiner Funktion als Unternehmens/w/zrer sind Legion.35 Dabei ist es aber nicht gelungen, aus den um-
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Zwar sieht eine hohe Anzahl von Firmengründungen imposant aus. Zu beachten ist aber auch die Tatsache, dass viele Neugründungen das erste Jahr bzw. die ersten drei Jahre nicht überleben. Wie anhand verschiedener Untersuchungen in Großbritannien nachgewiesen werden kann, ist die große Mehrheit kleiner Firmen nicht in der Lage, umfangreich Arbeitsplätze zu schaffen bzw. jemals mehr als 20 Mitarbeiter zu beschäftigen. Vgl. Deakins (1996), S. 40ff. Darüber hinaus sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit mit abnehmender Gründungsgröße deutlich. Vgl. U.S. Small Business Administration (1983), S. 70f.; Timmons (1994), S. 9ff. Daher sind Strukturwandel- oder Beschäftigungseffekte durch Unternehmensgründungen mit großer Zurückhaltung zu beurteilen. Deeks (1973), S. 40f., höchstens 10% der Unternehmensgründer in den bei Deeks dokumentierten Studien konnten in dieser Weise charakterisiert werden. Vgl. Audretsch (1995), S. 103ff. Eine Übersicht verschiedener Unternehmercharakteristika in der Literatur findet sich bei Carland u.a. (1984), S. 3 5 6 ergänzt durch Timmons (1994), S. 198. Vgl. auch Kets de Vries (1977), S. 38ff. Teilweise wird im Rahmen der Unternehmensführung eine Differenzierung zwischen Unternehmer und Manager vorgenommen. So sehen beispielsweise Mugler und Schmidt den Unternehmer als Kapitalgeber und Unternehmensleiter mit hoher Motivation, während der Manager die Unterneh-
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fangreichen Charaktereigenschaften diejenigen herauszufiltern, die die Komplexität unternehmerischen Handelns erfassen und gleichzeitig Ansatzpunkte für die Erklärung unternehmerischen Handelns liefern. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, finden sich bei einer Reihe von Charakteristika Überschneidungen: 36 - die Suche und Nutzung von Gelegenheiten; - die Übernahme von (kalkulierbaren, überschaubaren) Risiken; - das innovative bzw. kreative Handeln; - die Orientierung am Leistungsprinzip; - das Eingehen von Kooperationen bzw. Bilden von Netzwerken; - das Streben nach Unabhängigkeit. Das Eingehen von Kooperationen bzw. das Bilden von Netzwerken sowie das Streben nach Unabhängigkeit schließen sich nur vordergründig gegenseitig aus. In der Suche nach Kooperationspartnern bzw. der Einbindung in Netzwerke kann das Streben nach Verbesserung der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die Steigerung des eigenen Wissens gesehen werden, wodurch letztlich die Wahrung der Unabhängigkeit ermöglicht wird. Neben der Darstellung des Unternehmers anhand einzelner Charakteristika wurde auch mehrfach der Versuch unternommen, Unternehmertypologien durch die Vereinigung mehrerer Charakteristika zu einem übergreifenden Konstrukt herauszuarbeiten. 37
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mensleitung aufgrund höherer Qualifikation inne hat. Vgl. Mugler/Schmidt (Hrsg.) (1995), S. 78f. Bei Baumol besteht die unternehmerische Aufgabe darin, "to locate new ideas and to put them into effect", die Managementaufgabe besteht hingegen in der effizienten und effektiven Ausführung innerhalb bestehender Strukturen. Ein Zusammenfallen der Aufgaben in einer Person wird dabei nicht ausgeschlossen. Vgl. Baumol (1968), S. 64f.; Baumol (1993), S. 2ff. Vgl. Blessin (1998), S. 34f. Vgl. als einen der ersten Ansätze hierzu die Unternehmertypologie von Schumpeter, die durch die Phasenbetrachtung von Heuß eine Erweiterung fand. Vgl. Schumpeter (1928), S. 483ff. und Heuß (1965), S. 8ff. Neben den hier dargestellten Unternehmertypologien von Miles und Snow bzw. Kirsch und Trux finden sich weitere Typologien beispielsweise bei Preston (1977), S. 13ff.; Carland u.a. (1984), S. 357f.; Pleitner (1984), S. 514ff.; Bamberger/Pleitner (Hrsg.) (1988), S. 39ff.; Fröhlich/Pichler (1988), S. 59ff.; Mugler/Schmidt (Hrsg.) (1995), S. 147ff.
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Einen zentralen Beitrag zur Typisierung von Unternehmern liefern Miles und Snow, die sich an den Einstellungsmustern gegenüber dem Markt orientieren.38 Die Anpassungsfähigkeit des Unternehmens an die externen und internen Rahmenbedingungen hängt von der Fähigkeit ab, die Komplexität und Dynamik des Markts zu reduzieren. Der Anpassungsprozess läßt sich dabei in drei Teilprobleme gliedern, zu deren Lösung die Unternehmensfuhrung (der Unternehmer) ständig in der Lage sein muss. Das unternehmerische Problem beinhaltet die Festlegung geeigneter Produkt-Markt-Kombinationen, d.h. die Auswahl geeigneter Produkte oder Dienstleistungen sowie die Definition geeigneter Zielmärkte oder Marktsegmente. Die Lösung des technischen Problems erfordert die Wahl geeigneter Produktionstechnologien und Distributionswege, während sich das Organisationsproblem auf die Wahl zukünftiger Innovationsfelder sowie Möglichkeiten der Struktur- und Prozessrationalisierung bezieht. Aus der unterschiedlichen Anpassung an die drei Teilprobleme entwickeln Miles und Snow vier Unternehmertypologien, den Verteidiger, den Prospektor, den Analysierer und den Reagierer.39 Verteidiger ändern ihre Produkte und wechseln die Märkte, auf denen sie tätig sind, nur selten. Aufgrund ihres engen ProduktMarkt-Programms und einfacher Schlüsseltechnologien sind sie in erster Linie auf die Verteidigung ihres Einflussbereichs, in dem sie ein hohes Expertenwissen aufweisen, fixiert. Ihre Konkurrenzfähigkeit versuchen sie hauptsächlich über den Preis oder die Qualität bzw. durch Verbesserung der Produktionseffizienz zu erhalten. Im Gegensatz dazu zeichnet Prospektoren die Fähigkeit aus, in Trendbrüchen Möglichkeiten für neue Produkte und Märkte zu erkennen und diese zu nutzen. Entsprechend kann ihr Einflussbereich als breit und sich ständig entwickelnd charakterisiert werden. Hierzu benötigen sie ein breit gefächertes Technologiepotenzial sowie eine hohe Flexibilität, die sie durch Investitionen in Informations- und Kommunikationsnetzwerke, die einen Zugang zu neuen Potenzialen ermöglichen sollen, aufrechterhalten. Eine Mischung aus den beiden vorgenannten Typen stellen die Analysierer dar. Sie streben einen Ausgleich zwischen dem Auffinden und Nutzen neuer Produkt-Markt-Kombinationen und dem Beibehalten traditioneller Produkt- und Konsumentengruppen an. Die Transformation des innovativen Einflussbereichs erfolgt durch Imitation, sobald der Markterfolg durch Prospektoren nachgewiesen werden konnte. Im eher stabilitätsorientierten Bereich agiert das Unternehmen auf der Basis formalisierter Strukturen und Prozesse routiniert und effizient. Das gleichzeitige Wahren von
38 39
Vgl. M i l e s / S n o w ( 1978). Vgl. M i l e s / S n o w (1978), S . 3 1 f f .
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Flexibilität und Stabilität stellt hohe Anforderungen an die organisatorischen Ausgleichsmechanismen. Reagierer zeichnen sich durch inkonsistentes und instabiles Anpassungsverhalten aus. Die Unternehmensführung hat weder ein klar formuliertes Konzept der Organisationsstrategie, noch passen die Organisationsstruktur und die Prozesse zu den gewählten Strategien, oder sie behält StrategieStruktur-Beziehungen bei, obwohl sich bedeutende Veränderungen der Rahmenbedingungen ergeben haben. Eine Anpassungsreaktion auf sich ändernde Rahmenbedingungen kommt folglich nur unter hohem Druck zustande. Der aufgezeigte Ansatz findet durch die Überlegungen von Kirsch und Trux eine Erweiterung.40 Sie differenzieren sechs Typen strategischer Grundhaltungen, von denen sich fünf in einer Matrix positionieren lassen (Verteidiger, Risikostreuer, Architekt, Innovator, Prospektor), während sich der Reagierer nicht einordnen läßt. Die Dimensionen der Matrix orientieren sich an den Produkt-Markt-Strategien (konservativ - progressiv) bzw. an der Einstellung hinsichtlich der Suchund Auswahlaktivitäten (Spezialist - Generalist): Spezialist Konservativ Analysierend (liberal) Reformerisch (progressiv)
Synergist
Verteidiger
Generalist Risikostreuer
Architekt Innovator
außerhalb: Reagierer
Prospektor
Abb. 1: Typen strategischer Grundhaltungen nach Kirsch und Trux Quelle: in Anlehnung an Kirsch/Trux (1981), S. 300
Der Verteidiger beschränkt sich - ähnlich dem Architekten - auf sein Kerngeschäft. Er steht dabei Neuem allerdings sehr skeptisch gegenüber und übernimmt dies nur, sofern es sich nachhaltig bewährt hat. Der Risikostreuer kann, da er sich verschiedene Standbeine geschaffen hat, auch als diversifizierter Verteidiger eingeordnet werden. Er hält weitgehend konservativ an angestammten Geschäftsfeldern fest und ist durch eine mangelnde Risikobereitschaft geprägt. Der Architekt - er entspricht am ehesten dem Analysierer bei Miles und Snow - hält an seinem Kerngeschäft fest. Dabei betrachtet der Architekt die derzeit von ihm bearbeite-
40
Vgl. Kirsch/Trux (1981), S . 2 9 9 f f . ; Kirsch (1983), S. 157ff.
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ten Geschäftsfelder nicht als seine ureigene Domäne - wie dies etwa beim Verteidiger der Fall ist -, sondern nutzt diese als Ausgangsbasis für die Suche nach und die Erschließung von neuen Produkt- oder Marktpotenzialen. Der Innovator ist einem spezialisierten Prospektor vergleichbar, dessen Suche nach neuen Aktivitäten auf wenige Produkte und Segmente beschränkt ist, die er mit allem Nachdruck zum Erfolg führen will. Mit Erreichen dieses Ziels wendet sich der Innovator der nächsten Innovation zu, ohne sich lange mit der Verteidigung aufzuhalten. Das Charakteristikum des Prospektors ist schließlich die ständige und risikoreiche Suche nach etwas Neuem. Unerheblich ist dabei, ob er nach der Lösung eines identifizierten Kundenbedürfnisses sucht oder nach dem Problem, das durch eine neu entwickelte Technologie gelöst werden kann. Wie der Innovator verteidigt er seine Geschäftsfelder nicht, wenn beispielsweise die Architekten nachstoßen. Die Gemeinsamkeiten der in beiden Ansätzen als Reagierer bezeichneten Unternehmertypen beziehen sich lediglich auf deren Strategielosigkeit. Diese ist aber bei dem von Kirsch und Trux beschriebenen Reagierer durchaus beabsichtigt, da er sich hiermit die notwendige Freiheit und Flexibilität bewahren will, um auf Veränderungen der Rahmenbedingungen spontan reagieren zu können. Hierin liegen sowohl die Stärken als auch die Schwächen dieser Grundhaltung. Zwar lassen sich Ressourcen flir den Planungsprozess einsparen und können als "Manövriermasse" bei der Umsetzung von Problemlösungen eingesetzt werden. Mit dem Verzicht auf Planung muss bei steigender Komplexität und Dynamik der Rahmenbedingungen aber auch die "Manövriermasse" vergrößert werden und es wächst zugleich die Gefahr von Fehlgriffen.41 Die vorgestellten Modelle von Miles und Snow sowie von Kirsch und Trux zur Typologisierung von Unternehmern sind nicht empirisch validiert. Sie erlauben damit keinen Rückschluss darauf, welchen Anteil die einzelnen Unternehmertypen in der betrieblichen Praxis einnehmen. Diesen Versuch unternimmt eine vom Institut für Mittelstandsforschung begleitete Untersuchung.42 Sie zeigt auf, dass mehr als die Hälfte der befragten Unternehmer als aufbauend, gestaltend und flexibel charakterisiert werden können und aktiv auf die Bedürfnisse des Markts reagieren.43 In der Terminologie der vorigen Modelle wären dies bei Miles und
41 42 43
Vgl. Kirsch/Trux (1981), S. 299ff. Vgl. mind (1999). Einen etwas geringeren Anteil - nämlich ca. 30% - ermittelt Blessin (1998) in seiner empirischen Untersuchung der Erfolgsfaktoren in KMU. Zwar steht hier nicht die Typologisierung von Unternehmern im Vordergrund, dennoch läßt die Beschreibung der identifizierten homogenen Gruppe be-
Der Unternehmer
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Snow die Prospektoren und Analysierer bzw. bei Kirsch und Trux die Architekten, Innovatoren und Prospektoren. Damit kann folglich auch empirisch der Nachweis erbracht werden, dass ein gewisser Anteil der vorhandenen Unternehmerschaft den zuvor beschriebenen Ansprüchen an den typischen Unternehmer gerecht wird. Aus ihnen könnte sich in Verbindung mit den jungen Unternehmern, die die sich bietenden Chancen der neuen Wachstumsbranchen nutzen bzw. die die zahlreichen Initiativen zur Erleichterung bzw. Forcierung von Unternehmensgründungen annehmen, das Potenzial zu einer neuen Unternehmerelite in Deutschland bilden, das den notwendigen Strukturwandel erfolgreich vorantreibt.
4
Der Unternehmer - Begriffsbestimmung und Fazit
Unternehmen lassen sich als offene, autonome, dynamische, ökonomische und sozio-technische Systeme charakterisieren, die in vielfachen Austauschbeziehungen mit ihrem Umfeld stehen. Vor allem der Unternehmer in kleinen und mittleren Unternehmen nimmt innerhalb eines solchen Systems eine zentrale Stellung ein. Der Unternehmer befindet sich als Marktakteur in einem komplexen, diskontinuierlichen und sich stark verändernden Umfeld, in dem er Chancen bzw. Problemlösungen erkennt und diese durch den geeigneten und Erfolg versprechenden Einsatz von Produktionsfaktoren ökonomisch nutzt bzw. anbietet. Unter Berücksichtigung der Ungewissheit sowie Übernahme des Risikos wird er dabei arbitragierend, innovierend und/oder imitierend tätig. Für die Suche nach Chancen und Problemlösungen sowie die Reduktion von Unsicherheit und Risiko bemüht er sich um die aktive Einbindung in verschiedene Netzwerke, die als Kommunikations- und Informationsplattformen marktrelevante Entscheidungen vorbereiten helfen und den Zugang zu Märkten erleichtern. Anhand der vorstehenden Ausfuhrungen ließe sich nun ein idealtypisches Unternehmerbild skizzieren.44 Der Unternehmer ist demnach innovativ und dynamisch, hat eine positive Einstellung gegenüber Ungewissheit und Risiko, Information und Kommunikation, ergreift die Initiative und verfugt über zahlreiche Fähig-
44
sonders erfolgreicher Unternehmen Rückschlüsse auf die Eigenschaften der in ihnen tätigen Unternehmer zu. Vgl. Welzel (1995), S. 298.
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keiten, wie Kreativität, analytisches Denken, Intuition, Durchsetzungsvermögen, physische und psychische Ausdauer, Leistungsmotivation, Beharrlichkeit und leistet aus eigenem Antrieb einen evolutionären Beitrag fur die Entwicklung von Märkten, die Veränderung von Unternehmens- und Wirtschaftsstrukturen sowie zur Steigerung des Wohlstands. In Abhängigkeit der Ausprägung der vorgenannten Eigenschaften bzw. Fähigkeiten könnte mit Hilfe einer Matrix ein bestimmter Unternehmertypus abgeleitet werden. Problematisch an dieser Definition ist, dass sie beliebig verlängert bzw. angereichert werden kann. Zweifelsohne ist in komplexen, sich diskontinuierlich und rasch verändernden Systemen auch Lernbereitschaft und -fähigkeit, systemisches und netzwerkorientiertes Denken, soziale Kompetenz, Kooperations- und Führungsfähigkeit etc. von ebenso hoher Bedeutung. Ferner ist zu berücksichtigen, dass das Unternehmerbild und somit die Anforderungen an die Eigenschaften und Fähigkeiten des Unternehmers einem gewissen Zeitgeist unterliegen und folglich variieren können. Was aber zeichnet den Unternehmer im Wesentlichen aus? Unternehmerisches Handeln ist doch letztlich durch die Freiheit und die Unabhängigkeit sowie die Möglichkeit motiviert, eigene Ideen verwirklichen zu können und ist damit im Kern durch "eigen-verantwortliches Handeln" gekennzeichnet. Darin schließt sich ein - die Entwicklung eigener Ideen und Konzepte; - die Übernahme von Verantwortung für das eigene Tun und dessen Wirkung auf die Anspruchsgruppen des Unternehmens (Stakeholder) sowie auf die natürliche Umwelt; - das Handeln, also die Umsetzung der eigenen Ideen und Konzepte in marktfähige Produkte und Problemlösungen. Zusammenfassend ergibt sich folglich als Charakterisierung des Unternehmers: Unternehmer handeln eigen-verantwortlich. Wie sich - vor allem am Beispiel der KMU - zeigen lässt, existiert der zuvor beschriebene Unternehmer. Aus diesem Potenzial könnte sich in Verbindung mit den jungen Unternehmern, die die sich bietenden Chancen der neuen Wachstumsbranchen nutzen, eine neue Unternehmerelite in Deutschland bilden, die den notwendigen Strukturwandel erfolgreich vorantreibt.
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Management von Innovation und Wachstum Unternehmer im Spannungsfeld von Fortschritt und Beharrung Bernd Nolte
1
"Innovation tut Not"
Es gehört zum Wesen des erfolgreichen Unternehmers, so erkannte bereits der österreichische Nationalökonom Josef Alois Schumpeter, dass er mit innovativem Drang immer wieder durch erfinderische Kombinationen von Ressourcen und Fähigkeiten Neues schafft und auf diese Weise Markt- und Wertschöpfungspotenziale erschließt. Auf tradierten Positionen auszuruhen und das Überholte zu verteidigen, gehört nicht zu seinen Wesenszügen. Denn das hieße, den eigenen Untergang zu programmieren, da dann die neuen wirtschaftlichen und technologischen Initiativen außerhalb des eigenen Einflussbereiches und Wollens entstehen. Obwohl die Rolle der Innovation als Triebkraft der dynamischen Prozesse des Wirtschaftslebens mindestens seit Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung aus dem Jahr 19111 erkannt ist, müssen heute zum wiederholten Mal Innovationen als Voraussetzung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit neu entdeckt werden. Was hat dazu geführt, dass in vielen Unternehmen die schumpeterschen Erkenntnisse und viele andere Ergebnisse der Innovationsforschung nahezu in Vergessenheit geraten sind? In dem Wechselspiel zwischen Trieb- und Trägheitskräften hat sich in vielen Unternehmen ein ausgeprägtes Beharrungsvermögen entwickelt. Der Widerstand des Etablierten gegen Neuerungen entsteht - das belegen auch zahlreiche unserer Hohenheimer Innovationsstudien 2 - in erster Linie durch •
' 2
die Dominanz der bestehenden Geschäfte, deren Umsatzvolumina und Cashflow das Denken bestimmt,
Vgl. Schumpeter (1911). Vgl. Herdzina/Nolte/Hegner (1995a), Herdzina/Nolte/Hegner (1996) und Herdzina/Blessin (1996).
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•
die funktionalisierte Arbeitsteilung formalisierter Organisationen, die den Innovationsprozess zerstückelt,
•
die Qualifikationsstruktur der Mitarbeiter, die überwiegend an bestehenden Technologien und Leistungen orientiert ist, sowie
•
die Ferne der höheren Hierarchieebenen von den aktuellen Bedürfnissen der Kunden.
Voraussetzung eines erfolgreichen Innovationsmanagements ist aber die Einsicht, dass der soziale und wirtschaftliche Wandel eine im Wettbewerb des Besseren mit dem Guten notwendige Herausforderung darstellt und eine Anpassung an sich verändernde Markt- und Produktionsverhältnisse Existenzbedingung ist. Nur wer positiv auf diesen ständigen Veränderungsprozess reagiert, kann seinen Erfolg dauerhaft sichern. Diese Offenheit für Neues und Veränderung wird zum entscheidenden Parameter wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Qualitäts- und Kundenorientierung reichen allein nicht mehr aus. Als Erfolgsfaktoren kommen Kreativität und Innovationskraft hinzu. Die Innovation ist damit zu Beginn des neuen Jahrhunderts zu einem der gefragtesten Wirtschaftsgüter geworden, deren Bedeutung mittelfristig noch weiter steigen wird. Ein Faktum, das der überwiegenden Mehrheit der Unternehmer und Führungskräfte heute durchaus bekannt ist. Wenn es aber darum geht, aus theoretischem Wissen um die Erfordernisse künftiger Erfolge konkrete Folgerungen zur Realisierung entsprechender Maßnahmen im unternehmerischen Alltag zu ziehen, herrscht vielfach Hilflosigkeit. Im Mittelpunkt der Kritik an vielen Unternehmern und Topmanagern steht der Mangel an Mut zu Risiko und Kreativität. Dieser Mangel wurde vor allem dafür verantwortlich gemacht, dass Deutschland auf dem Gebiet vieler Spitzentechnologien seine fuhrenden Stellungen verlor und in der Entwicklung der Produktivität seiner Industrien im internationalen Vergleich zunehmend schlechter abschnitt. Legt man die jährlichen Produktivitätssteigerungen der letzten zehn Jahre zugrunde, belegt Deutschland unter den G7-Staaten den vorletzten Platz. Die deutsche Wirtschaft liegt zwar mit dem Aufwand für Forschung und Entwicklung an dritter Stelle hinter Japan und USA, dieser Aufwand sagt aber wenig über den Erfolg der eingesetzten Mittel aus. Im Vergleich zu diesen beiden Ländern wird
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die deutsche Patentstatistik von Jahr zu Jahr schlechter3. Innovationen benötigen heute länger als früher, bis sie Gewinn abwerfen, und die Rate der "Flops" ist trotz eines erheblich gesteigerten Planungsaufwands heute noch genauso hoch wie in den 70er Jahren.
2
Traditionelle Lösungsmuster
Viele Entscheidungsträger scheinen wenig aus den zurück liegenden Wirtschaftskrisen gelernt zu haben. Stärker als bei früheren Rezessionen hat der konjunkturelle Abschwung diesmal eine heftige und umfassende Kritik an Unternehmensfuhrern und Managern ausgelöst. Das Wort von den "Nieten in Nadelstreifen" war schnell bei der Hand, wenn in den Medien nach Ursachen gesucht wurde. Und in der Tat: Manche Unternehmen haben nicht verinnerlicht, dass ihre Krise selbst verschuldet war. Nicht das eigene Verhalten, die eigene Geschäftspolitik und die Unternehmensführung wurden jedoch für die Probleme verantwortlich gemacht, sondern staatliche Regulierungsmaßnahmen, gewerkschaftliche Forderungen oder kommunale und gesellschaftliche Auflagen. Zyniker bemerkten jedoch: Wir arbeiten in Unternehmensstrukturen von gestern an Problemen von morgen vorwiegend mit Menschen, die die Strukturen von gestern geschaffen und keine Vision von den Unternehmensstrukturen von morgen haben. Wenn der Begriff der "Innovations-Krise" gebraucht wird, dann steht er für eine Situation mit ganz besonderen Merkmalen: Die zunehmende Komplexität der Umwelt und der Zukunft lässt viele Lösungen möglich erscheinen. Unternehmensentscheidungen werden a-priori immer weniger rechenbar. Erneuerung erzeugt damit fur viele Entscheidungsträger mehr Skepsis als Hoffnung. Es gibt scheinbar nur wenig vertraute Lösungsmuster, Führungskräfte und Unternehmer fühlen sich dem steigenden ökonomischen und emotionalen Druck nicht mehr gewachsen. Niemand ist gegen Innovation an sich, aber die Veränderungen, die sie auslöst, werden oft als Gefahrdung - verbunden mit Unsicherheit und Angst empfunden. Blockaden gegen Innovationen sind die Folge. Der Kreislauf des Misslingens beginnt:
3
Vgl. Gerstner (1998), S. 37 ff.
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Informations- und Wissensdefizite Probleme bei der Akquisition • qualifizierter und kreativer Mitarbeiter • von neuem Wissen und Ideen • von Risikokapital
Î
Misserfolg im Wettbewerb
\
Tradiertes Verhalten
Verständnisprobleme und Vorstellungsschwierigkeiten
Ängste / Skepsis
Gefühl der Überforderung
Die unternehmerische Haltung ist folglich in der Unternehmenspraxis zumeist gekennzeichnet durch •
kurzfristige Ertragsorientierung,
•
risikovermeidende Entscheidungen,
•
formalisierte Planungsverfahren,
•
Intoleranz gegenüber Misserfolgen und
•
nicht bewusst gesteuerte Qualität der Kommunikation über Erneuerungsmöglichkeiten.
Die bereits vor der Innovationskrise zu beklagende Präferenz für Lean Production, Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer und Personalabbau - grundsätzlich durchaus richtig, aber meist einseitig - anstelle von Bemühungen um Effizienz und Ertragssteigerungen durch verbesserte Produkte, Leistungen und Vertriebsaktivitäten besteht weiter fort. Kostensenkung allein schafft jedoch noch keine Innovation fur zukünftige Märkte, Sparen allein noch keinen Weg aus der Krise. Die verfolgten Ansätze sind zu sehr dem rationalen, analytischen Denken sowie einem mechanistischen Unternehmensbild verhaftet. Der sozialpsychologi-
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sehe Aspekt der unternehmerischen Erneuerung gerät zunehmend in den Hintergrund. Vielleicht aber ist genau dies die entscheidende Ursache für die hohe Versagensquote bei den meisten Erneuerungsprozessen. Hier deutet sich jedoch in der Unternehmenspraxis ein Umdenkprozess an. Die Notwendigkeit, die Unternehmensorganisationen flexibel an die Entwicklungen anzupassen, hat zu Konzepten gefuhrt wie z.B. KVP, dem japanischen Prinzip der stetigen Verbesserung der Leistungen/Produkte in kleinen Schritten, oder des Total Quality Management (TQM), bei dem über institutionalisierte Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse eine stetige Qualitätsverbesserung und Erneuerung erreicht werden soll. Ansätze wie beispielsweise das Qualitäts- und Changemanagement in bereichsübergreifenden Mitarbeiterzirkeln können durchaus das Innovationsklima positiv beeinflussen, denn sie fördern das Denken über den eigenen Bereich hinaus, aktivieren und motivieren, stärken die Identifikation. Dieser Prozess beansprucht darüber hinaus ein fundamentales Überdenken bestehender Organisationsstrukturen und eine radikale Neugestaltung des Unternehmens oder wesentlicher Geschäftsprozesse. Die Frage ist nur, ob der Kern dieser Ansätze des Changemanagements richtig verstanden wurde. Wurde nicht vielfach nur "kopiert" statt "kapiert"? Immerhin ist sich die Hälfte der Unternehmen der Gefahr bewusst und begreift Innovationsmanagement als ganzheitlichen Prozess. Rund ein Sechstel der Unternehmen setzt dies heute bereits in vorbildlicher Weise um - und das mit hervorragenden Ergebnissen. Die Produktentwicklungszeiten konnten bei ihnen um ca. 40% verkürzt werden, gleichzeitig stieg die Zahl der Innovationen um rund 60%. Aber auch Irrwege sind nicht selten, und allzu oft konterkariert der mechanistische Einsatz der Methoden die angestrebten Inhalte: Bei den nicht erfolgreichen Innovationsvorhaben wird zu wenig versucht, die enormen Reserven im persönlichen Engagement der Mitarbeiter durch Vorbild, Glaubwürdigkeit und Einbindung in die Ziele des Unternehmens zu wecken. Die Projekte scheitern häufig •
am mangelnden Einsatz und Verständnis der Führungskräfte,
•
dem Widerstand des mittleren Managements oder
•
dem falschen Führungs- und Kommunikationsverhalten vieler Vorgesetzter.
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3
Engpassfaktoren der Innovation
In der Innovationsforschung zeigt sich immer wieder, dass große streng hierarchisch strukturierte Organisationen erhebliche Erneuerungsprobleme haben. Funktionale Arbeitsteilung, divisionaler, einseitig operativer Leistungswettbewerb und ein autoritärer Führungsstil verhindern hier nicht nur die Durchsetzung innovativer Ideen, sondern blockieren von vornherein die Entstehung kreativer Denkprozesse. Das Hauptanliegen "traditioneller" Organisationen scheint vielmehr zu sein, verlässliche, wirksame und sich wiederholende Reaktionen von spezialisierten Mitarbeitern zu erhalten und zu koordinieren. Mechanische und bürokratische Prinzipien sind so beherrschend, dass die meisten Tätigkeiten dahin tendieren, eine zentralistisch steuerbare Form, mit durch ein lähmendes Dickicht von Vorschriften eingeschränkten Gestaltungsfreiheiten, anzunehmen. Als Vorbilder für Gesellschaft und Wirtschaft galten ganz offensichtlich vor allem militärische Strukturen und Vorgehensweisen, die auf Unternehmen und Organisationen übertragen wurden. Sehr deutlich zeigt dies die Sprache: Da ist die Rede von Kompetenzregeln, Organisations- und Arbeitsrichtlinien oder Zeiterfassungssystemen. Überspitzt kann man daher formulieren, dass diese Organisationen ihren eigenen innovativen Leistungen meist im Wege stehen. Sie schaffen eine kreativitätsfeindliche Kultur, die immer noch Konformismus stärker belohnt als ein Abweichen von der Norm. Eine der Hauptursachen hierfür ist bereits unser äußerst einseitig ausgerichtetes Erziehungs- und Bildungssystem, das Kreativität und Innovationsbereitschaft eher bremst und verhindert als fördert und ermutigt. Schulen und Universitäten trainieren und belohnen kaum die Fähigkeit, neue Gedanken zu denken, neue Lösungen und Probleme zu entwickeln. Die richtigen Antworten zu wissen auf Fragen, die längst beantwortet wurden, bereits gedachte Gedanken, bereits gemachte Experimente, bereits komponierte Musikwerke, Gedichte usw. fehlerfrei wiedergeben zu können, das alles rangiert weit vor dem eigenständigen Herangehen an Fragen und Probleme. Innovation kommt in Lehr- und Studienplänen, aber auch im betrieblichen Weiterbildungsangebot eigentlich nicht vor. Bestärkt wird im Gegenteil die Angst, etwas nicht zu wissen oder einen Fehler zu machen. Eine Eigenschaft, die, wie viele unserer Hohenheimer Innovationsstudien immer wieder zeigen, der Feind alles Kreativen ist. Denn gerade der Mut, das eigene Nichtwissen einzugestehen, Fehler zu begehen und Irrtümer zu wagen, ist eine unverzichtbare Grundvoraussetzung dafür, dass sich Kreativität und Innovation überhaupt erst entfalten können.
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Dem gegenüber neigen Gesellschaft und Wirtschaft häufig dazu, die Lösung ihrer Probleme sog. erfahrenen Experten und Fachautoritäten zu übertragen. Im öffentlichen wie im privaten Leben, in der Politik, in der Wirtschaft - überall hat Expertenerfahrung einen extrem hohen Stellenwert, sind wir bereit, für in der Vergangenheit aufgebautes Erfahrungswissen einen hohen Preis zu zahlen - auch wenn es um die Lösung von Problemen geht, die so neu sind, dass es für sie noch gar keine Erfahrungen geben kann. Übersehen wird dabei, dass für neue kreative Lösungen Erfahrungen nur bedingt hilfreich sind. Ohne Frage sind Erfahrungen und von ihnen abgeleitete Routinen, Denk- und Handlungsgewohnheiten für die erfolgreiche Bewältigung schwieriger Probleme notwendig und unverzichtbar. Erfahrungen haben aber auch stets die Eigenschaft, unsere Denkrichtung zu beeinflussen. Sie verstärken die Neigung, uns auf ganz bestimmte - vertraute und bewährte - Modelle und Denkpfade zu fixieren, statt flexibel neue Kombinationsmöglichkeiten unseres Wissens auszuprobieren. Dabei wird auch im Problemlösebereich einseitig das sogenannte "konvergente", rückwärts gerichtete, Routinedenken dem "divergenten", der Zukunft gegenüber offenen, kreativen Denken vorgezogen. Das konvergente Denken führt zu flachen, klaren, technokratischen Ordnungs- und Erklärungsmustern. Die Komplexität soll in möglichst überschaubare, logisch-rationale und strukturierte Formen überfuhrt werden. In einer solchen Situation wird der kreativ Denkende meist nur als Außenseiter, als "Spinner" empfunden werden, weil er Bestehendes in Frage stellt. Er wird sozial isoliert und durch institutionelle Innovationshindernisse blockiert. Hierzu gehören u.a.: •
einseitig auf Konformismus ausgerichtete Mitarbeiterauswahl und -entwicklung,
•
fehlende Delegation von erneuerungsorientierter Verantwortung unter Gewährung von Freiheit,
•
mangelnde Fähigkeit, unvermeidliche Fehler zu ertragen und als Lernchance zu nutzen.
Werden diese Hindernisse bzw. Engpassfaktoren der Innovation nicht beseitigt, so erleben wir einen höchst problematischen Zusammenhang zwischen der Dauer der Betriebszugehörigkeit und der Kreativität:
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Innovationsmanagement
Kreativität
B e t r i e b s z u g e h ö r i g k e i t in Jahren
Unsere Hohenheimer Studien bestätigen immer wieder, dass die Ursachen für misslungene Innovationsvorhaben nahezu ausnahmslos in innovations- und kreativitätsfeindlichen Elementen des Unternehmensklimas oder der Arbeitsorganisation zu finden sind4. Die Erschließung innovativer Reserven im Unternehmen kann sich deshalb nicht nur isoliert auf den einzelnen Mitarbeiter beziehen, sondern muss auch die Gestaltung des beruflichen Umfeldes und damit die gesamte Unternehmensorganisation mit einschließen. Es geht darum, ein für Innovationsprozesse angemessenes innerbetriebliches Klima zu schaffen und zu pflegen, das nicht nur den erfolgreichen Umgang mit Veränderungen unterstützen soll, sondern ein aktives Mitgestalten des Wandels ermöglicht, fordert und fördert. Das bedeutet, zu erkennen, wie eine innovationsfördernde Organisation aussehen muss, welche Menschen am besten eingesetzt werden, welche Eigenschaften diese Menschen haben müssen und welche Form der Zusammenarbeit die geeignetste ist. Dies wiederum erfordert eine "offene" Organisation, die kontinuierlich "lernt", die Veränderungen in sich selbst und in ihrer Umgebung erkennt, verarbeitet und als Innovation einfuhrt. Diese "lernenden Organisationen" knüpfen unmittelbar am Führungsverständnis ihrer Entscheidungsträger an, die die Einsicht gewinnen müssen, dass nur größere Denk- und Handlungsspielräume zu gesteigerter Leistungsfähigkeit und gleichzeitig zu Erneuerung führen.
4
Vgl. Nolte (1996), S. 91 ff. und insbesondere S. 173 ff., Herdzina/Nolte (1995b) und Nolte/Hegner (1998).
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Innovation als Führungsaufgabe
Den schumpeterschen Unternehmer gibt es auch heute noch. Ein außergewöhnliches Beispiel der jüngsten Zeit ist James Clark, der Gründer der Internetfirma Netscape Communications Corp. Clark hatte bereits mit einigen Studienfreunden Anfang der 80er Jahre die Computerfirma Silicon Graphics gegründet und sie zu einem fuhrenden Hersteller von Hochleistungs-Workstations gemacht, als er 1993 nach Differenzen über den weiteren Kurs der Gesellschaft aus dieser ausschied. Den Erlös aus dem Verkauf seiner Anteile steckte er sofort in eine neue Unternehmung, als er das enorme Potenzial in einer Software erkannte, die eine Gruppe um den 22-jährigen Studenten Mark Andreesen am National Center for Supercomputing Applications (NCSA) entwickelt hatte. Die Gruppe hatte den ersten Prototyp der Internet-Browser für PCs erstellt, die heute millionenfach von Unternehmen und Privatleuten zum Surfen im World Wide Web verwendet werden und denen das Internet seinen phänomenalen Aufschwung verdankt. Clark machte Andreesen zum Teilhaber, und der größte Teil der Entwickler wechselte von NCSA in die im April 1994 gegründete Netscape Communications Corp. Für den rasanten Aufstieg, den das junge Unternehmen nahm, sorgte eine innovative Marketingstrategie. Die Browser selbst waren nicht nur technologisch führend, sondern wurden obendrein kostenlos abgegeben - jeder Interessent konnte sich (und kann immer noch) die neueste Version über das Internet auf seinen Computer laden. Die eigentlichen Umsätze wurden mit dem Verkauf der dazugehörigen Internetserver generiert, die ein Anbieter von Informationen im Internet benötigt, um seine Kunden und Interessenten erreichen zu können.5. Die kostenlose Abgabe und massenhafte Verteilung der Browser erzeugte so den nötigen Sog für das eigentliche (Hochpreis-)Produkt. Im Handumdrehen dominierte Netscape mit einem Anteil von 80% den neu entstehenden Markt für Internet-Software, den ein gestandenes Weltunternehmen wie Microsoft nicht erkannt hatte. Als Netscape im August 1995 an die Börse ging, war die Firma von einem Tag auf den anderen 300 Mio. Dollar wert. Sie ist heute Marktfuhrer für Internet- und Intranetserver. Ein Beispiel von vielen. Doch so markant diese Beispiele sind, spiegeln sie doch nur einen Teil der Realität wider. In etablierten Unternehmen stellt sich die Lage anders dar. Sie müssen den Innovationsprozess organisieren. Während junge Unternehmen sich auf ein innovatives Leitprodukt stützen können und ihre Lern-
5
Eine ähnliche Marketing-Strategie wurde im Mobilfunk verfolgt, als einige Anbieter Handys zu symbolischen Preisen von teilweise einer Mark abgaben, sofern der Kunde einen langfristigen Vertrag abschloss.
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Innovationsmanagement
kurve bedingt durch die Persönlichkeit des Gründers stark biografisch geprägt ist (was in der Startphase meist ein Vorteil ist, auf dem ausklingenden Ast der SKurve jedoch regelmäßig Probleme bereitet), haben im Markt etablierte Firmen ein Portfolio aus Produkten in unterschiedlichen Reifestadien zu gestalten. Bei ihnen geht es um das organisationale Lernen. Jedes innovative Projekt ist mit einem Lernprozess sämtlicher Beteiligten verbunden, und je deutlicher das Management erkennt, dass die Gestaltung und Beschleunigung dieser Lernprozesse auf allen Ebenen seine ureigenste Aufgabe ist, desto eher wird sich das Unternehmen auf Märkten, die wieder einmal im Umbruch sind, behaupten können. In großen Firmen kann der Vorstand nicht mehr darauf bauen, dass mutige, unternehmerische Persönlichkeiten Ideen, Fähigkeiten und Ressourcen aufgreifen und zu neuen erfinderischen Kombinationen zusammensetzen. Denn ein einzelner Manager kann angesichts der Komplexität der Innovationsherausforderungen kaum allein entscheiden, welche Kombination von Ideen, Fähigkeiten und Ressourcen die geeignetste für sein Unternehmen ist. Und - noch problematischer das Management kann Innovationen nicht einfach per Dekret verordnen, sondern es muss vielmehr die Imagination, Intuition und Motivation seiner Führungskräfte und Mitarbeiter wecken und auf diese Weise kreative Leistungen stimulieren. Darin liegt heute die wichtigste Innovation: die Überwindung der organisatorischen Engpassfaktoren der Erneuerung. Es geht demnach darum, auf welche Weise diese Lern- und Erneuerungsprozesse optimal initiiert, geplant, organisiert und schließlich als leistungs-, erfolgs- und überlebenssichernde Mittel der Unternehmensführung eingesetzt werden können. Aufgabe eines solchen Innovationsmanagements ist die Gestaltung des Innovationsprozesses und seiner relevanten unternehmensinternen und -externen Einflussfaktoren. Da Produkte und Prozesse immer austauschbarer werden, reicht es nicht aus, sich auf den technisch-wissenschaftlichen Sektor zu konzentrieren. Innovation wird in Zukunft vor allem auch eine soziale Innovation sein müssen, d.h. eine umfassende Verhaltensänderung bei Führungskräften und Mitarbeitern und damit ein Wandel in den Organisationen selbst. Der Mensch wird zum entscheidenden "Produktionsfaktor" von Innovationen. Die Realität eines Produktes ist nicht seine objektive Beschaffenheit, sondern die subjektive Vorstellung darüber. Es sind nicht die Fakten, die uns erfolgreich machen, sondern die Interpretation dieser Fakten. Innovationsmanagement wird deshalb weniger Fachaufgabe als vielmehr Führungsaufgabe werden müssen. Der Innovationsmanager muss wesentlich mehr von Menschen verstehen als von der Technik der Innovation. Qualität wird dann
Innovationsmanagement
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nicht auf Produktqualität verkürzt, sondern genauso als Prozess und soziale Qualität erkennbar werden. Mitarbeiter werden zu den wichtigsten Innovations- und Kreativitätsressourcen. Der Erfolg der Führung wird messbar an der Optimierung der Kreativität und der Lernprozesse ihrer Mitarbeiter. Über das in jedem Unternehmen vorhandene kreative Potenzial der Mitarbeiter lassen sich Produktivitätssteigerungen erzielen, deren Ausmaß heute kaum absehbar ist. Wir schätzen, dass gegenwärtig nur etwa 30% bis 40% des problemlösenden Potenzials, das durch die Mitarbeiter der Unternehmen repräsentiert wird, ausgeschöpft werden. Diese in den Mitarbeitern ruhenden Problemlösungsreserven und kreativen Potenziale freizusetzen, ihre Effizienz zu erhöhen und dem Unternehmen nutzbar zu machen, ist eine der zentralen Aufgaben des Innovationsmanagements der Zukunft.
5
Innovationsmanagement - kleine, aber gravierende Veränderungen
Ob die wirtschaftlichen Veränderungen ein Unternehmen gefährden oder ihm neue Potenziale erschließen, hängt zwar auch von den sogenannten "harten" Faktoren der Unternehmenssituation (Konkurrenzfähigkeit der Produkte, Finanzen, Standort usw.) ab. Wichtiger aber werden künftig die "weichen" Faktoren sein: die in diesem Unternehmen herrschende Unternehmenskultur, die nach innen und außen erlebte Innovationskultur. Dazu bedarf es •
neuer Denk- und Persönlichkeitsstrukturen in einem Unternehmen (Innovationskompetenz),
•
ganzheitlicher kreativer System- und Prozessorientierung (Methodenkompetenz) und
•
kreativitätsfördernder Verhaltens- und Führungsnormen (Innovationskultur).
Die Bestimmungsgrößen des kreativen Erfolges sind folglich 1. das Individuum, das kreativ denken darf und soll, 2. die Methodik bzw. Problembehandlung, wie diese Arbeit gelöst werden soll, und 3. die Unternehmenskultur, in der dieses Denken ermöglicht wird.
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Innovationsmanagement
Der Kreativitätsforschung verdanken wir die Erkenntnis, dass unterdrückte oder verkümmerte Fähigkeiten auch im Erwachsenenalter wieder zu aktivieren sind. Es scheint danach keineswegs utopisch, durch bewusste Förderung kreativer Denk- und Handlungsoperationen das kreative Potenzial eines Menschen um 2 0 % bis 3 0 % anzuheben. Die Auswirkungen auf die Innovationspotenziale von Unternehmen sind gewaltig. Kreative Problemlösungen und erfolgreiche Innovationen können nicht allein dadurch erzielt werden, dass das Unternehmen einige "hochkreative Köpfe" trainiert und ansonsten alles beim Alten belässt. Im Gegenteil - es besteht die Gefahr, dass selbst der Einfallsreichtum des Hochkreativen in einem kreativitätsfeindlichen Umfeld blockiert wird und irgendwann versiegt. Innovative Leistungen entstehen vor allem dann, wenn man Wissen, Denkfähigkeiten sowie Motivation und damit den kreativen Output der in jedem Unternehmen bereits vorhandenen vielen "anonymen Kreativen" fördert. Eine erste Aufgabe für ein innovationsorientiertes Management besteht demnach darin, die Bedingungen für die kreative Entfaltung der einzelnen Mitarbeiter möglichst günstig zu gestalten - es geht um die Erhöhung der Innovationsbereitschaft. Sie ist die Voraussetzung zum selbständigen Einsatz des vorhandenen kreativen Potenzials. Für die Förderung dieser Leistungsbereitschaft stehen u.a. eine Anzahl betrieblicher Anreizsysteme zur Verfügung, die in der Praxis allerdings bislang noch zu wenig genutzt werden. Dies betrifft insbesondere die gezielte Anerkennung für kreative und innovative Leistungen. Nur in 4 % der deutschen Unternehmen werden Mitarbeiter für erfolgreiche Innovationen geehrt, und nur in 2 % werden kreative Ideen finanziell honoriert. Ob ein Unternehmen in der Zukunft innovativ erfolgreich arbeiten wird oder nicht, hängt deshalb davon ab, ob zwei Grundvoraussetzungen erfüllt sind: 1. Das Unternehmen muss über Führungskräfte mit ausgeprägten Fähigkeiten im Bereich des Innovationsmanagements verfügen, die gleichzeitig in der Lage sind, das innovativ-kreative Potenzial ihrer Mitarbeiter optimal zu nutzen. 2. Die Unternehmensleitung muss dafür Sorge tragen, dass in allen Bereichen des Unternehmens ein Klima herrscht, in dem Führungskräfte nicht nur neue Ideen entwickeln lassen können, sondern auch die für die Durchsetzung innovativer Projekte erforderlichen Voraussetzungen gewährleistet sind. Das Innovationsmanagement stellt somit in erster Linie an die Führungskräfte eines Unternehmens neue und ungewohnte Anforderungen und verlangt von ihnen, vor allem dann, wenn sie schon einige Jahre Führungsfunktionen ausüben,
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zum Teil gravierende Einstellungs- und Verhaltensänderungen. Spezialisten- und Expertentum sind für diese Aufgaben nicht vorrangig gefragt. Die Führungskräfte der Zukunft sollten vor allem "Generalisten" sein, denn von ihnen wird nicht nur ein hohes Maß an funktionsübergreifendem Verständnis und Handeln innerhalb des Unternehmens erwartet, sondern auch zukunftsorientiertes visionär-kreatives Herangehen an Probleme und Aufgaben. An dieser Stelle stellt sich eine Frage: Welche besonderen Eigenschaften kennzeichnen innovationserfolgreiche Führungskräfte? Das nachfolgende Anforderungsprofil sollte weniger als Forderungskatalog gelesen werden sondern vielmehr als eine mögliche Orientierungshilfe fur die Personalauswahl, die Personalentwicklung und vor allem fur denjenigen Führungskräften dienen, die künftig innovativ führen wollen. Für die Personalentwicklung stellt sich demnach die Frage, welche Qualifikationen vom Innovationsmanagement der Zukunft erwartet werden. Hierzu zählen nach einer unserer jüngsten Studien insbesondere 6 : •
Flexibilität, Aufgeschlossenheit und Sensibilität: Die ständigen Veränderungen der Organisationen und ihrer Strukturen lassen sich nur dann erfolgreich bewältigen, wenn sie von den Organisationsmitgliedern sowohl mental als auch in ihren Haltungen mitgetragen werden.
•
Systematisches und ganzheitliches Denken: Die Fähigkeit zu einem ganzheitlichen, Systemzusammenhänge und Vernetzungen berücksichtigenden Denken ist unerlässliche Voraussetzung für erfolgreiches Führen. Unternehmen sind nicht nur von ihrer informellen Struktur her äußerst komplexe Systeme. Sie erfolgreich zu führen, setzt die Fähigkeit voraus, mit Komplexität umgehen zu können. Ursachen, Wirkungen und Folgen unternehmerischen Planens und Handelns sind immer mehrdimensional und multikausal.
•
Teamfähigkeit: Die zunehmende Verflechtung und Komplexität der Aufgaben erfordern ein interdisziplinäres Denken und Arbeiten, z.B. in Projektgruppen. Die Grenzen zwischen Abteilungen, Funktionen und Kompetenzbereichen im Unternehmen
6
Vgl. Nolte (2000).
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Innovationsmanagement
verschwimmen - nicht zuletzt aufgrund neuer Informations- und Kommunikationstechniken; neue Prozesstechnologien erfordern eng zusammenarbeitende Teams. •
"Neuphorie": Effektive Führung darf sich nicht in einem Handeln nach gewohnten Verhaltensmustern oder in vorschriftsmäßiger Aufgabenerledigung erschöpfen. Innovatives Verhalten muss normaler, selbstverständlicher Bestandteil des Handelns im Management werden. Notwendig dazu ist eine ausgeprägte Lernund Veränderungsmentalität bei den Führungskräften, eine Führungsqualität, die Mut zur Veränderung sowie Lust auf Innovation und Leistung bei den Mitarbeitern fördert.
Kreativität ist keine einheitlich definierbare menschliche Fähigkeit, sondern umfasst verschiedene Formen des schöpferischen Vorstellens, des Denkens und Handelns. Wie Ergebnisse der Kreativitätsforschung zeigen, sind schöpferische Wissenschaftler, Schriftsteller und Architekten origineller, dynamischer, unkonventioneller, gelegentlich auch radikaler und rebellischer als Individuen der Vergleichsgruppe. Sie sind weniger rigide, weniger geneigt, ihre Impulse durch Repression zu kontrollieren, sie tendieren weniger zu sozialer Konformität und politisch konservativen Richtungen. Besonders auffällig sind ihre Unabhängigkeit im Urteil, ihr Standhalten gegenüber Gruppendruck und ihre große Interessenbreite. Aus zahlreichen Untersuchungen besonders kreativer Personen wissen wir, dass sich erfolgreiche Problemloser im Wesentlichen durch folgende Eigenschaften auszeichnen: •
Problemsensibilität, d.h. die Fähigkeit zur Problemerkennung, zum Entdecken von Widersprüchen und Lücken im Wissen, zum Hinterfragen von Gewohnheiten und herkömmlichen Denk- und Verfahrensweisen.
•
Gedankliche Flexibilität, d.h. die Fähigkeit, spielerisch eine Vielzahl von Ideen zu entwerfen, ohne die gefundenen Ideen gleich kritisch abzuwerten und zu verwerfen.
•
Möglichst vielseitiges Wissen, d.h. einen fundierten Erfahrungs- und Wortschatz und eine am oberen Durchschnitt liegende Intelligenz. Eine sehr hohe bzw. sehr niedrige Intelligenz korreliert durchaus nicht mit hoher bzw. geringer Kreativität.
Innovationsmanagement
•
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Überdurchschnittliche Frustrationstoleranz, d.h. die Fähigkeit, innere Spannungen zu ertragen, um den Druck des sozialen Systems - bedingt durch systemabweichende Meinungen und Verhaltensweisen - zu überwinden.
Ein in die gleiche Richtung weisendes Modell von Leavitt 7 teilt das Zusammenspiel der hier skizzierten Führungskräfte und Mitarbeiter im Innovationsprozess in drei Phasen ein: •
kreatives Entdecken,
•
analysierendes Problemlösen und
•
umsetzendes Realisieren.
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person alle drei Begabungen in sich vereinigt und damit gleichzeitig Entdecker, Analyst und Realisierer ist, ist erfahrungsgemäß recht gering. In unseren empirischen Forschungen konnten wir feststellen, dass sich ungefähr 16% der befragten Entscheidungsträger in Unternehmen primär zu den Entdeckern, 43% eher zu den Analysten und rund 41% in erster Linie zu den Realisierern zählen. Kaum jemand glaubt von sich selbst, in allen drei Bereichen überdurchschnittliche Leistungen vollbringen zu können. Es würde die im Innovationsmanagement eingesetzten Führungskräfte deshalb erheblich frustrieren und demotivieren, würde man sie - beispielsweise bei Einstellungs- oder Beförderungsgesprächen - an einer solchen Idealfigur messen. Mit Trainingsmaßnahmen können jedoch die Begabungen, die in den einzelnen Phasen der Innovationsprozesses notwendig sind, bei allen Beteiligten gefördert und erheblich verbessert werden. Eine Maßnahme, die dabei angewendet werden kann, ist die sogenannte "Disney-Strategie", die auf dem Prinzip des inneren Rollenspiels beruht. Hierbei versetzen sich die Beteiligten eines Innovationsprojektes zumindest gedanklich abwechselnd auch in die komplementäre Rolle eines Teammitgliedes: •
Als Entdecker und Visionär scheint ihnen nichts unmöglich. Sie durchbrechen alte Gewohnheiten und begeben sich auf die Suche nach Neuem und Unbekanntem. Sie sind auf dem geistigen Höhenflug und machen vor nichts mehr Halt. Sie entwickeln neue Ideen, fantasievolle Möglichkeiten, Visionen und "Verrücktheiten".
7
V g l . Leavitt (1968).
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I nnovationsmanagement
•
Als Analyst bewerten sie den Wert der jeweiligen Idee bzw. des Projektes: Basis-Wert, Nutz-Wert, Mehr-Wert - was gibt die Sache her? Sie wägen Risiken und Chancen sowie Vor- und Nachteile ab und entscheiden dann grundsätzlich: ja oder nein. Darüber hinaus üben sie auch konstruktive Kritik - und machen Verbesserungsvorschläge.
•
Als Realisierer sind sie gleichermaßen praktisch wie pragmatisch. Sie befassen sich damit, die Ideen ihres Träumers in die Tat umzusetzen. Sie denken und handeln als Macher. Sie planen, organisieren und improvisieren - finden Mittel und Wege.
In der Vernetzung dieser Rollen und ihrer Akteure im Innovationsprozess, z.B. über moderierte Innovationsgruppen, lassen sich dann die kreativen Potenziale und die Zusammenarbeits- und Übermittlungsfähigkeiten wecken und steigern. Ein vernetzter Erneuerungskreislauf in einer "Innovations-Keimzelle" beginnt:
Innovationsmanagement
6
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Kreativität entdecken und entwickeln
Innovationsfähigkeit beinhaltet vor allem die Fähigkeit zur Kreativität. Kreativität ist - entgegen einem tief verwurzelten Vorurteil - heute längst nicht mehr ein Privileg einiger weniger besonders talentierter Menschen in Kunst und Wissenschaft oder in den sogenannten kreativen Berufen. Zahlreiche Untersuchungen beweisen: Nahezu alle Menschen können in ihrem Denken und Handeln kreativ sein. Jeder Mensch besitzt ein mehr oder weniger großes "kreatives Potenzial". Kreativität wird in der Unternehmenspraxis jedoch häufig nicht gefordert und auch meist zu wenig gefördert. Kreativität wird operational fassbar, wenn man den kreativen Prozess mit dem Problemlösungsprozess verknüpft. Das Wort "Kreativität" hat seinen Ursprung im Lateinischen "creare", was "zeugen", "gebären", "schaffen" oder "erschaffen" heißt. Gemäß dieser Herleitung ist Kreativität etwas Dynamisches, ein Prozess, der sich entwickelt, sich entfaltet und der bereits Ursprung und Ziel in sich birgt. Kreativität bedeutet ebenso "Denken" - nicht nur Intuition, sondern ebenso Kognition. Sie arbeitet wechselnd mit konvergenten und divergenten sowie produktiven und reproduktiven Denkoperationen. Konvergentes Denken ist fixiertes, enges, aber auch logisches Denken, das überlegt in systematischen Schritten abläuft. Divergentes Denken ist ein freies, ungeordnetes und fantastisches Denken, das nicht logisch nachvollziehbar ist. Im Innovationsprozess wird beides benötigt: die Divergenz zur Ideenproduktion, die Konvergenz zur Analyse und Überprüfung der gefundenen Ideen. Die gegenwärtig wirksamste Maßnahme zur Entwicklung dieser Denkweisen ist die systematische Anwendung von sogenannten Kreativitätstechniken. Kreativität ist durch methodisches Vorgehen trainierbar. Innovationstechniken können Kreativität zwar nicht ersetzen, sie können sie aber vorbereiten und stimulieren. Die Kreativitätsforschung hat hier eine Vielzahl von Techniken entwickelt, die neue Zugänge zur effizienten Problemlösung in der Unternehmenspraxis eröffnen. Hierbei geht es zum einen darum, Problemsensibilität, d.h. •
die Fähigkeit zur Problemerkennung, zum Aufspüren von Widersprüchen, Unvereinbarkeit und Wissenslücken und
•
das Infragestellen von Gewohnheiten, Routinen und herkömmlichen Denkund Verfahrensweisen
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Innovationsmanagement
zu fördern. Zum anderen soll das konventionelle systematisch-logische Vorgehen bei der Problemlösung den Prinzipien an die Seite gestellt werden, die Intuition, Fantasie und schöpferische Ideenfindung möglich machen. Kreativitätstechniken wecken die Verschmelzung dieser beiden Sphären, indem der kreative Denkprozess formal nachvollzogen wird und die Gruppenarbeit das einfließende Wissen verbreitert. Die methodischen Verfahrensweisen basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Ablauf von Denkprozessen, die Durchfuhrungsempfehlungen zielen auf die Beseitigung von psychischen Blockaden, die kreatives Denken hemmen. Die regelmäßige Anwendung der Methoden wirkt wie ein Kreativitätstraining. Kreativitätstechniken sind deshalb in erster Linie Hilfsmittel zur Produktion "neuer" Ideen. Sie sind Planungssysteme im Dienst einer systematischen Ideenfindung. Dabei können sie Kreativität zwar nicht ersetzen, sie können sie jedoch vorbereiten, stimulieren und lenken. Kreativitätstechniken erhöhen die Effizienz innovativ-kreativer Problemlösungen vor allem dann, wenn möglichst viele Mitarbeiter eines Unternehmens durch regelmäßiges Training damit vertraut sind und ihre Anwendung für Führungskräfte wie Mitarbeiter selbstverständlich ist. Wenn selbst in überdurchschnittlich innovativen Unternehmen die regelmäßige Anwendung von Kreativitätstechniken nur von rund 2 5 % der Befragten für unverzichtbar gehalten wird, kann es kaum verwundern, dass bei mäßig innovativen Unternehmen nur 1% der Führungskräfte sie für unverzichtbar halten und fast 6 0 % sie noch nie angewendet haben. Die Schwierigkeit, den Forderungen nach Kreativität im beruflichen Alltag gerecht zu werden, hat zum einen personelle und zum anderen situative Gründe: Die Kreativität eines Menschen kann sich nur dann vollständig entfalten, wenn sie weder durch bestimmte Einstellungen und Motivationen noch durch äußere Einwirkungen blockiert wird. Die Situation ist paradox: Die Dynamik der Veränderungen verlangt Kreativität und Einfallsreichtum. Wohl noch nie zuvor hatten so viele Menschen die Chance, ihre kreativen Fähigkeiten zu erproben und zu entwickeln und damit die berufliche Arbeit als Quelle eines befriedigenden und motivierenden Eu-Stresses zu erleben. Gleichzeitig führen aber gerade diese Veränderungen und der mit ihnen einhergehende rasante Anstieg der Informationen, die von jedem einzelnen verarbeitet werden müssen, bei vielen Menschen zu dem Gefühl, nicht mehr Herr der Situation zu sein, nur noch zu reagieren statt zu agieren. Sie erfahren keinen Eu-Stress, sondern Hektik und Dis-Stress. Damit entsteht ein verhängnisvoller Kreislauf: Denn Kreativität und negativer Stress sind miteinander unvereinbar.
Innovationsmanagement
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Zeitdruck und Zeitstress verhindern die notwendigen Divergenzen, die nur durch eine zeitliche Distanz zum Problem erreicht werden können. Innerhalb von Stunden oder einem Tag können die Phasen der kontrollierten Divergenz nicht konsequent realisiert werden. Viele Routinearbeiten sind sicher dringlich "reaktiv" zu bewältigen (konvergent). Aber die meisten Problemlösungen verlangen ein "aktives" Handeln (divergent). Geschieht dies nicht, wird das Wichtige plötzlich aktuell, und dann ist meist nicht mehr die Zeit und Distanz vorhanden, um optimale Entscheidungen zu treffen - das Dringende verdrängt das Wichtige. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung von neuen Produkten und Leistungen ist neben der allgemeinen Entdeckung und Entwicklung von Kreativität insbesondere die Förderung der sogenannten "kreativen Spinner". Sie fristen meist ein unwürdiges Dasein und sind als Querdenker verschrien. Dabei kommen nach Schätzungen des MIT über 80% aller großen Ideen von den sogenannten kreativen Spinnern. Wesentlich sinnvoller wäre es deshalb, den "kreativen Köpfen" größere Chancen einzuräumen und sie vor ungerechtfertigten Angriffen in Schutz zu nehmen, andernfalls tauchen sie mit ihren Ideen ab. Die meisten - und oftmals die besten - Innovationen in einem Unternehmen entstehen dadurch, dass Mitarbeiter querdenken, sich eigene Gedanken machen und zuerst einmal heimlich tüfteln. Praxisschätzungen ergeben, dass rund 20% der (Geld- und Zeit-)Etats von Forschungs- und Entwicklungsabteilungen für heimliche Ideen verwendet werden. Zudem haben Kreative in der Unternehmenspraxis von Großunternehmen im Wettbewerb mit analytisch orientierten Spezialisten und Führungskräften häufig die schlechteren Karrierechancen. Auch deshalb, weil Kreative oft nicht gerade pflegeleichte Mitarbeiter sind. Sie fallen in der Topetage unangenehm auf, weil ihre Lebensläufe zerrissen sind. Sie wechseln häufig das Unternehmen, da sie auf der Suche nach mehr Freiraum sind und sich ungern anpassen. Sie sehnen sich weniger nach Macht und Status, sondern sind vielmehr ideenbesessen. Innovationsmanagement verlangt von der Unternehmensführung daher eine Umorientierung bereits bei der Auswahl und der Entwicklung ihrer Führungskräfte. Ein abgeschlossenes Hochschulstudium mit guten Noten und einer kurzen Studiendauer, bis vor wenigen Jahren noch das Ticket schlechthin für einen erfolgreichen Einstieg in das Management, wird dem veränderten Aufgabenspektrum nicht immer gerecht. Jemand, der in den Semesterferien gearbeitet hat, sich sozial eingesetzt oder politisch engagiert hat, nebenher intensive Erfahrungen in unterschiedlichen sozialen Umfeldern gesammelt hat, dafür aber länger studierte und
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eventuell kein Prädikatsexamen nachweisen kann, bringt voraussichtlich im Innovationsmanagement die besseren Voraussetzungen für den Erfolg mit. Auch die Erwartungen dieser zukünftigen Manager an ihre eigene Karriere sollten den Realitäten in einem auf bereichsübergreifende Teamarbeit ausgerichteten, innovativen Unternehmen mit entsprechend "schlanker" Struktur und flachen Hierarchien angepasst sein. Es ist wichtig, diesen Punkt bereits in Bewerbungsgesprächen deutlich anzusprechen, Karrierehoffnungen, -chancen und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten nüchtern und offen mit dem Bewerber zu erörtern, um zu verhindern, dass aus enttäuschten Hoffnungen Frustration und A b wanderung entsteht. Den einzelkampferprobten Manager, der sich gegen Konkurrenten durchboxt und seine Selbständigkeit allein aus der Geschwindigkeit zieht, mit der er die einzelnen Stufen der Hierarchieleiter erklettert, wird es künftig nur noch in wenigen Ausnahmefällen geben. Gefragt ist vielmehr der "Mannschaftsfuhrer", der "Coach", der gemeinsam mit Kollegen und Mitarbeitern die Realisierung der Unternehmensziele voranbringt. Dies wird auch in den zukünftigen Entlohnungssystemen stärker als bisher üblich zum Ausdruck kommen müssen. Diese werden sich nicht mehr allein danach richten können, wie viele Mitarbeiter eine Führungskraft "unter sich" hat oder wie groß das von ihr verwaltete Budget ist. Das zukunftsweisende Karrierekonzept eines innovativen Unternehmens muss vielmehr von dem Beitrag ausgehen, den eine Person, ein Team oder eine Gruppe zur Wertschöpfung erbringt. Je mehr Kompetenzen einer Führungskraft bei dieser Aufgabe zuwachsen, desto größer ist der Wert für das Unternehmen und desto höher sind dementsprechend auch ihr Status, ihr Ansehen und ihre Entlohnung. Unternehmen werden daher künftig stärker als bisher gezielt in die Qualität ihrer Führung und ihrer Erneuerungsprozesse investieren müssen. Die Führungsqualität jedes einzelnen Vorgesetzten muss mit dieser Zielrichtung permanent weiterentwickelt werden. Sie hat vor allem deshalb so große Bedeutung, weil Vorgesetzte sehr viel durch ihre Vorbildfunktion bewirken und darin unter allen Umständen glaubwürdig sein müssen. Gerade in dieser Hinsicht überschätzen sich jedoch viele Führungskräfte. Nach eigener Einschätzung führen rund 29% autoritär, nach Beurteilung der Mitarbeiter zählen aber etwa 70% zu den autoritären Typen. Dadurch werden nur 80% des kreativen Potenzials genutzt. Als schwerwiegende Fehler gelten der ungenügende Informationsfluss, der missbräuchliche Einsatz von Informationen als Machtmittel und die mangelnde Bereitschaft, Mitarbeiter bei Entscheidungen einzubinden.
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Die allgemeine Bereitschaft, fremdbestimmte Leistungserwartungen zu erfüllen, nimmt ständig ab. Selbstentfaltungsbedürfnisse und Bedürfnisse nach selbstbestimmter Gestaltung des eigenen Lebens werden den Menschen auch in Bezug auf ihr berufliches Umfeld und ihre persönliche Karriereplanung immer wichtiger. Die Möglichkeit zu kompetenter und selbstbestimmter Einflussnahme und Auseinandersetzung mit der Umwelt bekommt daher für immer mehr Menschen einen hohen Stellenwert. Es geht deshalb in der Praxis des Innovationsmanagements darum, •
Mitarbeitern in ihrem beruflichen Tätigsein individuellen Sinn zu vermitteln, sie selbst Sinne schaffen zu lassen und
•
ihnen Impulse zu bieten, die nicht nur die materiellen, sondern vor allem die veränderten psychosozialen Bedürfnisse ansprechen.
Also nicht nur mehr Geld, Prestige usw., sondern interessante, motivierende Tätigkeiten, die den persönlichen Erwartungen und Ansprüchen nach weniger Fremd- und mehr Selbstbestimmung, nach Partizipation, nach Eigenverantwortlichkeit, nach ganzheitlicher Tätigkeit, aber auch nach Zusammengehörigkeit und sozialer Unterstützung Rechnung tragen. Wer Mitarbeiter im Rahmen des Innovationsmanagements zu mehr Eigeninitiative, Kreativität und Innovationsbereitschaft ermutigen will, sollte deshalb 1. konkrete herausfordernde Ziele und anspruchsvolle, anregende Leistungsstandards vereinbaren, 2. alle nicht unbedingt notwendigen Reglementierungen, Normen und Vorschriften beseitigen (Minimierung der bürokratischen Abläufe und der sogenannten "Misstrauenskosten"), 3. nicht nur Aufgaben, sondern vor allem Verantwortung delegieren, 4. die eigenen Entscheidungen seinen Mitarbeitern transparent machen; diese, wo immer möglich, in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen und an der Auswahl von Lösungsalternativen teilhaben lassen; 5. die Risiko- und Erneuerungsbereitschaft der Mitarbeiter fördern, 6. die Voraussetzungen dafür schaffen, dass zwischen den einzelnen Abteilungen ein regelmäßiger Informations- und Erfahrungsaustausch stattfinden kann,
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7.
im Umgang mit den Mitarbeitern einen von gegenseitigem Vertrauen und Respekt getragenen aktiven, partnerschaftlichen Kommunikationsstil pflegen, der dazu fuhrt, dass jeder rechtzeitig und problemlos die Informationen erhält, die er zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt, und der Vorgesetzte und Mitarbeiter gleichermaßen verpflichtet, aktiv zu informieren und Informationen einzuholen. Das wiederum bedeutet: offene Kommunikationsstrukturen statt starrem Ressortdenken, Reduzierung aller bürokratischen Reglementierungen auf das nur unbedingt notwendige Mindestmaß, Informationsaustausch auch über Ressort- und Abteilungsgrenzen hinweg, Kooperation statt Abschottung, denn in einem kommunikationsfeindlichen Arbeitsklima lässt sich die für die Innovatoren unverzichtbare kooperative Praxis nicht realisieren,
8.
die fachliche Weiterbildung der Mitarbeiter optimal fördern (nur der fachlich kompetente Mitarbeitern ist zu kreativen Problemlösungen fähig),
9.
die Anwendung der Kreativitätstechniken nicht nur fordern, sondern auch fördern, d.h., sich aktiv selbst und vorbehaltlos mit ihnen beschäftigen, dafür Sorge tragen, dass ausreichend viele Mitarbeiter das Instrumentarium der Kreativitätstechniken beherrschen und regelmäßig anwenden, selbst an der Realisierung interessanter Innovationsideen mitwirken und eventuelle Barrieren ausräumen helfen,
10. unbedingt vermeiden, dass Mitarbeiter, die Innovationsvorschläge einbringen, damit "schlechte Erfahrungen" machen (z.B. keine Resonanz, kommentarlose Ablehnung, Aneignung der Ideen durch Dritte usw.), 11. dafür Sorge tragen, dass einmal geäußerte kreative Ideen, selbst wenn sie zur Zeit nicht realisiert werden können, nicht verloren gehen, d.h. Schaffung einer nach Möglichkeit in der zweiten Hierarchieebene angesiedelten zentralen Institution, die diese Ideen sammelt und systematisch im Unternehmen kommuniziert, 12. in regelmäßigen Abständen Aktionsprogramme zur Verbesserung kreativer Leistungen durchführen (z.B. Materialeinsparungswochen, Ideenwettbewerb zur Verringerung der innerbetrieblichen Umweltbelastung etc.). Die Anforderungen verdeutlichen ein verändertes Rollenverhalten der Führungskraft im Innovationsprozess: Nicht einsame Planung und Organisationsanweisungen sind gefragt, sondern vielmehr die aktive Unterstützung der Mitarbeiter
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bei der Erbringung einer Teamleistung. Führungskräfte fungieren hierbei koordinierend und unterstützend innerhalb des Teams. Sie sorgen für die Bereitstellung der erforderlichen Mittel und tragen Verantwortung für die Ergebnisse. Führungskräfte werden nur dann erfolgreich sein, wenn sie ihre Mitarbeiter erfolgreich machen. Das bedeutet konkret: in die Mitte treten und andere um sich versammeln, Mitdenken fördern, eigenständiges Handeln ermöglichen, eine auf Eigendynamik angelegte Leistungsgemeinschaft schaffen und durch Anregungen, Koordination und Zielabsprachen wach halten, gerecht, menschlich und kalkulierbar sein, dirigieren, ohne dabei die erste Geige spielen zu wollen, vorleben, was für andere nachahmenswert sein soll, Selbstvertrauen, Mut und positive Gefühle als Wert der Gemeinschaft stützen. Die Interessen der Beteiligten (Mitarbeiter, Partner, Kunden, Lieferanten usw.) werden zu oft nicht nur falsch eingeschätzt, die Beteiligten werden auch zu wenig eingebunden. Was in der Praxis fehlt, ist eine ganzheitliche Betrachtung, gemeinsame Visionen und Ziele sowie eine gemeinsam getragene Verantwortung. Ressort- und Bereichsdenken dominieren in vielen Unternehmen immer noch das Handeln, d.h., das Ergebnis des eigenen Bereichs geht oft auf Kosten eines anderen oder auf Kosten des Gesamtergebnisses. Die Schwerpunkte des Innovationsmanagements liegen deshalb deutlich auf der Überbrückung von Schnittstellen, z.B. zwischen Funktionsbereichen (Forschung und Entwicklung und Marketing) und zwischen Unternehmung und Kunden. Entscheidend wird dabei sein, inwieweit es gelingt, die funktionalen Schnittstellen in traditionellen Organisationsstrukturen zu überwinden. Das dynamische Wettbewerbsumfeld erfordert eine höhere Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Strukturen. Statt "besitztumsorientiert" ist Innovationsmanagement "vorhabensorientiert". Im Mittelpunkt erfolgreicher Innovationsteams stehen daher Visionen und Zukunftsmodelle, die gemeinsam von Verantwortlichen und Mitarbeitern entwickelt werden. Ein "Wir" anstelle eines "Ichs" steht im Vordergrund. Es integriert Denkvermögen, Kreativität und Mitgestaltungsmöglichkeiten aller Beteiligten in die Unternehmensstrategie. Wenn von den Mitarbeitern ständige Innovationsbereitschaft und damit ein permanenter Mut zum Risiko erwartet wird, dann muss auch nachgewiesen werden, dass dies Sinn macht und dass es für jeden Einzelnen mindestens ebenso gewinnbringend ist wie für das System insgesamt.
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Innovationskultur - Kulturinnovation
Unternehmenskultur kann nur ganzheitlich betrachtet werden. Entscheidend ist letztlich die Frage, wie Innovationsfähigkeit und Bereitschaften in konkretes Verhalten umgesetzt werden können. Unter dem Begriff "Unternehmenskultur" wird üblicherweise die Gesamtheit der Normen, Wertvorstellungen und Denkhaltungen verstanden, die das Verhalten der Beteiligten prägen. Jede Unternehmung hat eine Unternehmenskultur. Es kommt darauf an, dass in diesem gelebten Wertesystem, welches den Einsatz vieler anderer Instrumente steuert, Platz bleibt für die Bereitschaft zur Innovation, zur Akzeptanz eines (begrenzten) Risikos, zur Offenheit in der Kommunikation, zum Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Einzelnen oder von Mitarbeitergruppen verschiedener Größenordnungen. Ohne eine Unternehmenskultur, in welcher die Veränderungsbereitschaft und dem Streben nach innovatorischen Leistungen ein hoher Rang in gültiger Wertordnung zukommt, kann das Wirkungspotenzial aller weiteren Instrumente nicht zur vollen Entfaltung gelangen. Unternehmenskultur manifestiert sich letztlich in der Art und Weise, wie eine Unternehmung Probleme erkennt, bearbeitet und löst. Sie ist ganz wesentlich abhängig von •
den Persönlichkeitsprofilen der Unternehmer und Führungskräfte, insbesondere ihren Werten und Mentalitäten (z.B. Innovationsbereitschaft, Risikoeinstellung, Durchsetzungs- und Durchhaltevermögen, Innovationserfahrungen),
•
der Art der Kommunikation nach innen und außen (z.B. spontane und unkonventionelle Kommunikation, partnerschaftliche Kommunikation mit Kunden und Lieferanten, gezielte Würdigung innovativer Leistungen in der Öffentlichkeitsarbeit) und
•
dem Entscheidungszentralisationsgrad innerhalb der Unternehmenshierarchie (z.B. Delegationsbereitschaft an Teams, Eröffnung unternehmerischer Handlungsspielräume).
Wesentliche Aufgabe der Führungskräfte im Innovationsmanagement ist es deshalb, in ihrem unmittelbaren Aufgaben- und Verantwortungsbereich ein Arbeitsklima zu schaffen, das Kreativität und Innovationsfreude, mithin Wandel in allen Bereichen, potenziell zulässt und unterstützt. Sie haben einen Rahmen zu gestalten, innerhalb dessen Veränderungen prinzipiell gewollt sind, also positiv gewertet werden. Erst in einem solchen Klima der Offenheit und Aufgeschlossenheit können und werden Mitarbeiter Kreativität, Einfallsreichtum und schöpferi-
Innovationsmanagement
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sches Problemlöseverhalten entwickeln und pflegen. Eine Arbeits- und/oder Organisationskultur, die Vielgestaltigkeit zulässt oder sogar unterstützt, d.h., •
die z.B. im Rahmen der Entscheidungsfindung an vielfaltigen Meinungen interessiert ist,
•
unterschiedlichste Bearbeitungsweisen und Aufgaben ausprobiert und
•
individuellen Verhaltensstilen auch einmal freien Lauf lassen kann,
bereitet somit den Boden für innovative Ideenfindung und die Entwicklung kreativer Potenziale. Unternehmenskultur ist etwas Gelebtes. Sie ist die Praxis des für die Beteiligten eines Unternehmens typischen Denkens und Handelns. Sie lässt sich am ehesten in der Art und Weise des Miteinanderumgehens fassen. Eine innovative Unternehmenskultur lässt sich nur dann erfolgreich in die Praxis umsetzen, wenn das betreffende Unternehmen über eine entsprechende, von Führungskräften und Mitarbeitern akzeptierte und gelebte Unternehmens- und Führungskultur verfugt. Dies erfordert von allen Beteiligten die Bereitschaft, sich auf neue Formen des Miteinanderumgehens einzulassen. Nicht nur die Führungskräfte, sondern alle Mitarbeiter sind in gleicher Weise gefordert, ihren Beitrag zu leisten, damit ein solches "neues" Denken und Handeln in ihrem Arbeitsumfeld zur selbstverständlichen, verlässlichen Realität werden kann. Ein kreatives Unternehmensklima fordert von der Unternehmensleitung und den Führungskräften, dass sie •
innovativen Aufgaben grundsätzlich einen höheren Stellenwert beimessen als Routinearbeiten,
•
sich Neuerungen gegenüber aufgeschlossen zeigen - auch gegenüber den neuen Techniken zur Anregung und Steigerung des innovativ-kreativen Denkens,
•
zu innovativen Vorschlägen ausdrücklich ermutigen,
•
bereit sind zu einer offenen Diskussion neuer Ideen,
•
Experimente und Initiativen im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Vereinbarkeit mit den Unternehmenszielen unterstützen,
•
gelegentliche Fehlschläge tolerieren und überwinden helfen bzw. diese als Chance zum gemeinsamen Lernen werten - Ängste vor Kompetenzverlust bei eventuellem Misserfolg nehmen und
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•
Innovationsmanagement
Vertrauen in die Fähigkeiten oder die Kooperationsbereitschaft der Mitarbeiter zeigen.
Nur vor einem solchen Hintergrund, nur in dieser Art Klima können Mitarbeiter und Führungskräfte an sich selbst so arbeiten, dass für sie Veränderungen nicht von vornherein zum Problem werden, sondern als Anregung und echte Herausforderung erlebt und angepackt werden können. So können sie bei sich selbst den Mut zur Veränderung entwickeln, ihn in ihrem aktuellen Handeln zum Tragen kommen lassen und ihrerseits andere zur Veränderung ermutigen. Es gelingt ihnen leichter, Bestehendes in Frage zu stellen und Vertrautes loszulassen. Fähigkeiten, die für ein Innovationsmanagement im weitesten Sinne unbedingte Voraussetzungen sind. Eng damit verbunden ist die Aufgeschlossenheit für Neues und, was darüber hinausgeht, die Entwicklung von Interesse und Neugierde.
Innovationsmanagement
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Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2000
Wirtschaftliches Wachstum, technischer Fortschritt, Strukturwandel und Beschäftigung Harald Hagemann
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Einführung
In seiner Hohenheimer Habilitationsschrift Wirtschaftliches Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb systematisiert Klaus Herdzina (1981) drei wichtige ökonomische Sachverhalte, die zumeist in spezialisierten Theorieansätzen getrennt abgehandelt werden, und vereinigt sie in einer einzigen Entwicklungstheorie. Der Verfasser zeigt grundlegende Zusammenhänge auf, wie z.B. den interdependenten Charakter von Wachstum und Strukturwandel, den Einfluß des wachstumsbedingten Wandels der Nachfragestruktur auf die Höhe des Produktivitätswachstums einer Volkswirtschaft und insbesondere das hohe Gewicht eines funktionierenden Wettbewerbs zur Förderung der Innovationstätigkeit und damit als Wachstumsdeterminante. In den zwanzig Jahren seit Erscheinen der Arbeit von Herdzina hat sich die Wettbewerbssituation auf den internationalen Märkten erheblich verändert. Die bislang großen drei Volkswirtschaften des Welthandels (USA, Japan, EU) sehen sich einer wachsenden Konkurrenz aus verschiedenen Regionen der Erde gegenüber. Die Güter-, Arbeits- und insbesondere die Kapitalmärkte sind im Rahmen der Globalisierung durch eine zunehmende Integration gekennzeichnet. Die traditionellen Industriesektoren sind nicht länger Garanten für einen dauerhaften, arbeitsplatzschaffenden Wachstumsprozeß. Aufgrund der Entwicklungen auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) ist die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland einfacher geworden. Darüber hinaus ist durch den Transformationsprozeß in Osteuropa ein großes Arbeitskräftepotential verfügbar geworden. Die Sektoren der IKT werden vielfach als die Wachstumsbranchen der Zukunft angesehen. Ihre Herstellung und ihr Einsatz verlangen zum einen von den Arbeitskräften neue Qualifikationsmuster, zum anderen bieten sie die Chance zu großen Produktivitätsfortschritten. Die Schaffung von Informationsgütern selbst ist durch eine zunehmende Bedeutung des Produktionsfaktors Wissen im Vergleich zu den materiellen Inputs Sachkapital und Arbeit gekennzeichnet. Während in der traditionellen Ökonomie Eigentum an Grund und Boden und in der Industriegesellschaft Eigentum an Sachkapital eine entscheidende Rolle spielt(e), rücken in der entstehenden Informationsgesellschaft Humankapital und Eigen-
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tumsrechte an Wissen und Patenten immer stärker in den Vordergrund. Dabei werden insbesondere im Fall von Netzwerkexternalitäten gravierende Wettbewerbsfragen aufgeworfen, wie z.B. das gegenwärtige Microsoft-Verfahren in den USA in exemplarischer Weise zeigt. Die höhere Profitabilität innovativer Unternehmen wurde traditionell mit der Schumpeter-Rente für den Pionier erklärt, die jedoch als ein temporäres Phänomen angesehen wurde, da aufgrund fortschreitenden technologischen Wandels Erfindungen und Entdeckungen einem hohen Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind, der durch das Aufkommen neuer Innovatoren entsteht. Falls jedoch historische oder geplante lock-in Prozesse zu hohen Marktzutrittsbarrieren fuhren, kann die hohe Profitabilität nicht nur eine temporäre und angemessene Entschädigung für die vorangegangene Innovation sein, sondern zu ungerechtfertigten und dauerhaften Renten fuhren. Dies weist der Wettbewerbspolitik die schwierige Aufgabe zu, zu klären, in welchem Umfang hohe Unternehmensgewinne das verdiente Resultat von Innovationsanstrengungen sind oder vielmehr das Ergebnis von Netzwerkexternalitäten und lock-in Prozessen darstellen. Aber selbst dann, wenn die Beweisaufnahme ein wettbewerbswidriges Verhalten aufzeigt, wie es bei Microsoft nachweisbar der Fall ist, fällt die Antwort auf die angemessene Therapie wesentlich schwerer. Das gegenwärtig noch nicht rechtskräftige Urteil, Microsoft in zwei Unternehmen aufzuspalten, verhängt juristische Sanktionen, die durch eine solide theoretische und empirische Forschung im Bereich der Netzwerkökonomie allenfalls unzulänglich fundiert sind. Die langfristigen wohlfahrtstheoretischen Konsequenzen des Urteils zur Spaltung von Microsoft konnten bisher keineswegs geklärt werden.1 Im Nachfolgenden sollen zentrale von Herdzina angesprochene Zusammenhänge vor dem Hintergrund der jüngeren realen und theoretischen Entwicklung diskutiert werden. Dabei gibt es eine leichte Akzentverschiebung. Während Wettbewerbsfragen eher am Rande angesprochen werden, sollen die angesichts der gegenwärtig hohen Arbeitslosigkeit bedeutsamen Beschäftigungsaspekte stärker berücksichtigt werden, insbesondere die Beschäftigungswirkungen neuer Technologien. Der technische Fortschritt ist nicht nur von entscheidender Bedeutung für Wirtschaftswachstum und Strukturwandel (sowie für damit zusammenhängende Wettbewerbsfragen), sondern übt auch wesentlichen Einfluß auf die Höhe und die strukturelle Zusammensetzung der Arbeitsnachfrage aus. In Abschnitt 2 werden zunächst einige wichtige Zusammenhänge von technologischem Wandel, Strukturwandel und Beschäftigungsentwicklung diskutiert, bevor in Abschnitt 3 die Implikationen der gegenwärtigen technologischen Dynamik für die überkommene Abgrenzung von Sektoren sowie die daraus resultierenden Meßprobleme und
Auch Hegner und Schechler thematisieren in ihrem Beitrag in diesem Band das Fehlen grundlegender wirtschaftstheoretischer Überlegungen für diesen Problembereich.
Wachstum, Fortschritt, Strukturwandel und Beschäftigung
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Schwierigkeiten einer empirischen Analyse in den Blickpunkt gerückt werden. Einige Überlegungen zu den Wachstums- und Beschäftigungswirkungen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bilden den Schwerpunkt im abschließenden Abschnitt 4.
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Technologischer Wandel, Strukturwandel und Beschäftigung
Die Verbindung zwischen wirtschaftlicher Dynamik und strukturellem Wandel stand im Zentrum der Analyse der ökonomischen Klassiker (wie Adam Smith und David Ricardo), deren Wachstumstheorien im Kern strukturelle Ansätze sind, da wirtschaftliches Wachstum notwendigerweise einen Wandel ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturen impliziert. Im Falle von Smith (1776) kann die Arbeitsteilung in den verschiedenen Sektoren der Volkswirtschaft mit unterschiedlicher Rate ausgedehnt werden und somit den relevanten Beitrag jedes einzelnen Sektors zum Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität und zum Volkseinkommen verändern. Bei Ricardo (1817) fuhrt die Existenz nichtreproduzierbarer natürlicher Ressourcen zu einer Verbindung von Wachstum und Strukturwandel, die durch abnehmende Erträge geprägt wird. In klassischen Theorieansätzen wird die Beziehung zwischen wirtschaftlicher Dynamik und struktureller Transformation verstärkt durch die Vorstellung, daß ein ökonomisches System mit konstanter Struktur dazu verurteilt ist, in eine Phase des Nullwachstums einzumünden (wie in Ricardos stationärem Endzustand). Die moderne Wirtschaftstheorie hat weitgehend davon abgesehen, die klassischen Ansätze zur Analyse des Wirtschaftswachstums und Strukturwandels im Rahmen eines geschlossenen und logisch konsistenten Modells zu reformulieren. Stattdessen haben in der modernen Wachstumstheorie lange Zeit Ansätze dominiert, in denen alle Sektoren der Volkswirtschaft mit derselben und im Zeitablauf konstanten Rate wachsen. Diese proportionale "Dynamik" bedeutet letztlich nichts anderes als einen stationären Zustand "auf höherer Ebene", d.h. ein strukturkonstantes Wachstum. Auf der anderen Seite hat sich die empirische Forschung zwar mit strukturellem Wandel beschäftigt - durch die spezifische Selektion und Zusammenstellung von Fakten wie Hoffmanns Relation von Kapitalgütern zu Konsumgütern (1931) oder Kaldors Anteil des Verarbeitenden Gewerbes (1966) -, ohne jedoch eine allgemeine Interpretation im Rahmen eines theoretischen Modells vorzunehmen. In jüngerer Zeit hat die ökonomische Theorie des Strukturwandels den Versuch unternommen, durch die Betrachtung einer Vielzahl von strukturellen Spezifika
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und stilisierten Fakten einen rigiden analytischen Modellrahmen zu formulieren. Es ist im allgemeinen jedoch vermieden worden, einen Ansatz zu entwickeln, der die komplexe Realität möglichst vollständig erfaßt. Stattdessen ist man von einer begrenzten Auswahl von Fakten zur Konstruktion analytischer Modelle vorangeschritten, die bestimmte kritische Eigenschaften struktureller Dynamik erklären können. Beispielsweise haben die Rigiditäten, die das Wachstum einer Volkswirtschaft beschränken können, die einem bestimmten Impuls (wie einer Veränderung des Arbeitsangebots bzw. der natürlichen Ressourcen oder technologischen Innovationen) ausgesetzt ist, zur Entwicklung des Konzepts der Traverse2 geführt, das ein äußerst nützliches analytisches Instrument für die Erforschung von Engpässen (bottlenecks) und 'Mismatches' ist, die das wirtschaftliche Wachstum in historischer Zeit beeinflussen. In ähnlicher Weise haben scheinbar konsistente Zeitreihen langfristiger Transformationen (wie steigende Pro-Kopf-Einkommen aufgrund von technischem Fortschritt und eine veränderte strukturelle Zusammensetzung der Endnachfrage gemäß dem Engeischen Gesetz) die Idee hervorgerufen, daß strukturelle Dynamik ein physiologischer Prozeß ist, aufgrund der Notwendigkeit, die langfristige Kompatibilität zwischen unterschiedlichen Aspekten menschlichen Lernens zu sichern3. Bislang existiert jedoch kein systematischer Versuch, das Zusammenspiel zwischen den Faktoren, die zu Parameteränderungen (wie Veränderungen in den Konsumgewohnheiten und in der Technologie) fuhren und den Faktoren, die das Tempo und die Form des strukturellen Wandels in der gesamten Volkswirtschaft beeinflussen, zu analysieren. Will man strukturelle Veränderungen in ökonomischen Systemen erfassen, erfordert dies insbesondere eine Abkehr von den Ein-Gut-Modellen hin zu disaggregierten mehrsektoralen Modellen. Bezüglich der zugrundegelegten Produktionsstrukturen ist idealtypischerweise insbesondere zwischen zwei theoretischen Ansätzen zu unterscheiden4: Lineare Produktionsmodelle, in denen mit Hilfe von Arbeit und natürlichen Ressourcen Güter produziert werden, die als Input in der nächsten Produktionsstufe verwendet werden usw. bis zur Produktion eines fertigen Gutes {vertikale Disaggregation). Zirkuläre Produktionsmodelle, in denen die Güterproduktion nicht (immer) auf Arbeit und natürliche Ressourcen zurückgeführt werden kann, da es zumindest einige Güter gibt, zwischen denen zirkuläre Beziehungen beste-
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Hicks (1973), Lowe (1976). Pasinetti (1981, 1993). Vgl. Baranzini/Scazzieri (1990) und Landesmann/Scazzieri (1996).
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hen, d.h. (Basiskapital-)Güter, die Input in der Produktion von Gütern sind, die wiederum als Input in der eigenen Produktion notwendig sind (horizontale Disaggregation). Bezieht man zudem noch Ansätze mit ein, die sowohl lineare als auch zirkuläre Elemente beinhalten, dann entsteht eine Vielzahl von alternativen Disaggregationsmöglichkeiten, mit denen ökonomische Systeme dargestellt werden können. Auf dieser Basis läßt sich auch Strukturwandel, d.h. eine Veränderung in der Produktionsstruktur auf gesamtwirtschaftlicher Ebene, untersuchen. Je nach Theorieansatz lassen sich Aussagen z.B. über die Wirkungen des technischen Fortschritts oder über die notwendige Transformation einer Volkswirtschaft für eine (künftige) störungsfreie Entwicklung (z.B. Vollbeschäftigung der Arbeit) ableiten. Ein Vergleich der alternativen Theorieansätze soll zeigen, inwieweit die Ergebnisse ähnlich oder kontrovers sind. Auch in den Grundmodellen der Neuen Wachstumstheorie bleiben die Probleme des Strukturwandels und der technologischen Arbeitslosigkeit weitgehend unberücksichtigt. Der Arbeitsmarkt ist immer im Gleichgewicht bzw. es werden nur Situationen betrachtet, die diese Bedingung erfüllen. Neben der Zerstörung von Arbeitsplätzen durch technische Neuerungen können aber auch neue, wettbewerbsfähige Branchen entstehen. Technischer Fortschritt und Strukturwandel sind eng miteinander verbunden. Kaum ein anderer ökonomischer Sachverhalt ist so eindeutig wie die Tatsache, daß wirtschaftliches Wachstum nicht unter der Bedingung der Strukturkonstanz erfolgt, sondern durch andauernde Veränderungen der Wirtschaftsstruktur charakterisiert ist. Obwohl empirische Studien diesen Sachverhalt zweifelsfrei belegen, wie er am bekanntesten in der einfachen DreiSektoren-Hypothese erfaßt wird, die einen systematischen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens und den Anteilen des primären, sekundären und tertiären Sektors postuliert, stand in der modernen Wachstumstheorie lange Zeit ein strukturkonstantes Wachstum im Zentrum. Dies hat sich durch Pasinettis jüngere Studien zur strukturellen wirtschaftlichen Dynamik entscheidend verändert. Der Autor konzentriert sich dabei auf die Herausarbeitung der (äußerst restriktiven) Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Volkswirtschaft bei vollausgelasteten Produktionskapazitäten und Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung wächst, wenn sie dynamischen Impulsen wie technologischem Wandel, einer wachsenden Bevölkerung (Veränderungen in der Erwerbsquote oder in der Arbeitszeit) sowie Veränderungen der Konsumpräferenzen gemäß dem Engeischen Gesetz unterliegt. Der gleichgewichtige Wachstumspfad ist kein 'steady state' mit konstanten Strukturen sondern einer, bei dem fortlaufend Veränderungen in grundlegenden Größen wie dem Volksein-
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kommen, Konsum, Investitionen oder dem gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungsniveau mit Veränderungen ihrer strukturellen Zusammensetzung verbunden sind. Die dynamischen Veränderungen der Produktivität, des Arbeitsangebots und der Nachfragestruktur werden als Wesensmerkmale dynamischer Industriegesellschaften verstanden. Über die Zeit unterliegen die verschiedenen (vertikal integrierten) Sektoren einer strukturellen Dynamik sowohl auf der Produktions- wie der Kostenseite (Gleichgewichtspreise), die bedeutende Konsequenzen für die Entwicklung der Arbeitsnachfrage hat. Die strukturelle Dynamik der Beschäftigungsentwicklung läßt sich im Kern folgendermaßen formulieren. Wenn bei konstantem Arbeitsangebot die Arbeitsproduktivität im Sektor i mit der Rate δ; und die Güternachfrage nach dem im selben Sektor erzeugten Gut i mit der Rate r\ wächst, bliebe die sektorale Arbeitsnachfrage nur in dem speziellen, aber unwahrscheinlichen Fall r¡=5i konstant. Wenn r j größer (kleiner) ist als δ ΐ , erhöht (senkt) Sektor i die Arbeitsnachfrage. Bei unterschiedlichen Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität und unterschiedlichen Wachstumsraten der sektoralen Nachfrage ist eine Reallokation der Arbeit zwischen den Sektoren unvermeidbar, abgesehen vom extremen Spezialfall, bei dem in jedem Sektor die Wachstumsrate der Nachfrage mit derjenigen der Arbeitsproduktivität übereinstimmt. Ein hohes Beschäftigungsniveau kann dann nur bei fortlaufender angemessener Mobilität der Arbeit zwischen den Sektoren (und Regionen) aufrechterhalten werden. Pasinettis theoretischer Rahmen erlaubt nicht nur die Betrachtung wachsender sondern auch die Analyse schrumpfender Industriezweige im Prozeß strukturellen Wandels. Wenn in einigen Sektoren die Einführung neuer Technologien hohe Raten des Produktivitätswachstums zur Folge hat, die nicht durch einen entsprechenden Anstieg der Nachfrage aufgefangen werden können, weil bereits eine gewisse Sättigung erreicht ist, kann in diesen Sektoren ein Rückgang der Beschäftigung nicht vermieden werden. Bei wachsender Bevölkerung muß die gesamtwirtschaftliche Produktionskapazität kontinuierlich erweitert werden, wobei in jedem Sektor eine eindeutige Beziehung zwischen der Wachstumsrate der Nachfrage und der Höhe neuer Investitionen gelten muß. Um Vollbeschäftigung über die Zeit aufrechtzuerhalten, müssen eine effektive Nachfragebedingung und eine Kapitalakkumulationsbedingung erfüllt sein. Es ist daher äußerst wahrscheinlich - selbst dann, wenn die Volkswirtschaft aus einer Gleichgewichtsposition mit Vollbeschäftigung und Vollauslastung der Produktionskapazitäten heraus startet -, daß die strukturelle Dynamik, die jene Position verändert, nicht zur Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung durch die endogenen Mechanismen marktwirtschaftlicher Systeme fuhrt. Pasinetti5 kommt
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Pasinetti (1981), S. 90.
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daher zu dem Schluß, daß die Strukturdynamik nahezu unvermeidlich zur Generierung technologischer Arbeitslosigkeit führt. Gleichzeitig produziere dieselbe strukturelle Dynamik entgegengesetzt wirkende Entwicklungen - jedoch nicht automatisch. Es gebe nichts in der strukturellen Evolution technischer Koeffizienten einerseits, der Entwicklung der Pro-Kopf-Nachfrage andererseits, die die Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung garantiere. Um Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten, müsse diese aktiv als explizites Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik verfolgt werden. Dabei habe die Gesellschaft zwischen einer der folgenden Strategien bzw. einer Kombination daraus zu wählen: einer keynesianischen Politik, die die Pro-Kopf-Nachfrage für existierende Produkte erhöhe; einer Förderung der Forschung und Entwicklung neuer Güter. Da der technische Fortschritt nicht nur zu einem Anstieg der Produktivität sondern auch zu Produktinnovationen mit einem großen Potential des Nachfrage-, Investitions- und Beschäftigungswachstums führe, zielt eine stärker angebotsorientierte Politik dieses Typs auf eine Verstärkung der letzteren Tendenz zur Kompensation der erstgenannten; einer Politik der Arbeitszeitverkürzung oder Reduzierung der Erwerbsquote. Innerhalb bestimmter Grenzen gibt der technische Fortschritt der Gesellschaft die Option zwischen der Produktion mehr und besserer Güter und mehr Freizeit zu wählen. Es ist das Verdienst von Pasinettis Untersuchungen klar aufgezeigt zu haben, daß die Vollbeschäftigung nur aufrechterhalten werden kann, wenn die Volkswirtschaft in der Lage ist, einen kontinuierlichen Prozeß struktureller Reallokation der Arbeit zwischen den Sektoren zu implementieren, der in Übereinstimmung mit der doppelten Wirkung des technischen Fortschritts auf die Arbeitsproduktivität und die Nachfrageentwicklung steht. Die Strukturdynamik der Beschäftigung ruft gravierende Anpassungsprobleme für Unternehmer wie Arbeitnehmer hervor, da sie ein spezielles Entwicklungsmuster des Investitionsverhaltens und der Qualifizierung sowie Mobilität zwischen Sektoren (und Regionen) erfordert. Die Integration der Nachfrageaspekte technologischen Wandels in die theoretische Analyse ist ein weiterer Vorteil von Pasinettis Untersuchung strukturellen Wandels. Derjenige Faktor, der letztlich für Strukturwandel verantwortlich ist, ist der technische Fortschritt als das Ergebnis von Lernprozessen. Steigerungen der Produktivität führen zu Wachstum im Pro-Kopf-Einkommen. Bei einem Realeinkommensanstieg erweitern die Konsumenten ihre Nachfrage nach den vorhandenen Produkten im allgemeinen nicht proportional. Darüber hinaus führt der tech-
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nische Fortschritt zu Produktinnovationen. Diese Verallgemeinerung von Engels empirischen Gesetz, d.h. die Integration der strukturellen Dynamik der Nachfrage, spielt eine wichtige Rolle in der Analyse Pasinettis, der betont, daß langfristig das Niveau des Realeinkommens - und nicht die Preisstruktur - die entscheidende Variable sei. Es ist eine von Pasinettis innovativen Hauptverdiensten, den Doppelcharakter technischen Fortschritts auf der Angebots- und der Nachfrageseite sowie die Interdependenzen beider Aspekte klar aufgezeigt zu haben.
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Jenseits intersektoralen Wandels: Marktgetriebene Restrukturierung von Unternehmen
Mit der gegenwärtigen Welle technologischen Wandels, insbesondere der rapiden Entwicklung und Diffusion von Informations- und Kommunikationstechnologien, ist das Problem aufgetaucht, daß das traditionelle Konzept einer sektoralen Analyse des strukturellen Wandels nicht mehr voll greift. Aufgrund der technologischen Konvergenz zuvor getrennter Industrien und Unternehmen werden einer Betrachtungsweise, die von einer gegebenen Klassifikation von Sektoren ausgeht, ihre Grenzen aufgezeigt. Ein spezieller Sektor, die Telekommunikation, der traditionell aus öffentlichen Unternehmen bestand, die Telefon- und Postdienste anbieten, ist einer besonders schnellen Transformation, einer nahezu vollständigen Restrukturierung, unterworfen, nunmehr elektronische Dienstleistungen via digitalisierter Breitbandnetzwerke anbietend. Während dieser Prozeß voranschreitet, hängt das Ausmaß horizontaler und vertikaler Integration über nationale Grenzen hinweg von der Möglichkeit technologischer und institutioneller Optionen ab, die ein verändertes Umfeld für Unternehmen konstituieren, die ihre zukünftigen Geschäftsstrategien planen. Der Versuch, die künftige Entwicklung des Kommunikationssektors auf der Basis vergangener Trends bezüglich der Brutto- oder Nettowertschöpfting dieses Sektors in den letzten Jahrzehnten abzuleiten, wird nicht zu brauchbaren Ergebnissen fuhren. Globalisierung und technologische Konvergenz bzw. Fusion zuvor getrennter Märkte stellen die überkommenen Markt- und Industriestrukturen in vielen Bereichen der Volkswirtschaft in Frage. Frühere Zusammenstellungen struktureller Daten sind daher oft unzulänglich, um die Antriebskräfte der gegenwärtigen strukturellen Veränderungen zu identifizieren. Der einzige Weg aus diesem Dilemma scheint in der Entwicklung eines Satzes von Mikrodaten - von Unternehmen bzw. Produktionsstätten - zu bestehen, der hinreichende Informationen enthält, um die intra- und interindustrielle Entwicklung zu verfolgen. Mit den neu entstehenden Märkten integrierter Güter und Dienstleistungen, die Bereiche traditioneller Industrien abdecken, indem sie sie zu einer Einheit verschmelzen, geht
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dieser marktgetriebene Strukturwandel über die traditionellen sektoralen Abgrenzungen hinaus. Unternehmen verschiedener Industrien haben damit begonnen, sich von ihren Ursprüngen abzusetzen, um in neu entstehenden Märkten tätig zu werden und zu bestehen. Die sich entwickelnde neue Arbeitsteilung fuhrt nicht nur zu einer verzweigten Differenzierung traditioneller Sektoren in stärker spezialisierte Subsektoren, sondern kombiniert auch Teile aus verschiedenen überkommenen Sektoren in neue Industrien. Diese industrielle Restrukturierung kann nicht durch die Anwendung eines tradierten sektoralen Rahmens befriedigend erfaßt werden. Outsourcing, einschließlich globaler Verlagerungen und einer Größenkorrektur der Unternehmen bzw. ihrer Teile, hat die traditionelle Zuordnung von Unternehmen zu bestimmten Industrien entsprechend des Schwerpunktprinzips in erheblichem Maße erschwert. Die Verschiebung von industriellen Aktivitäten zur Produktion von Dienstleistungen mit einem bedeutenden Anteil unternehmensbezogener Dienstleistungen, die jedoch künftig nicht einer einzelnen Industrie zugeordnet werden können, behindert selbst ein deskriptives Verständnis gegenwärtiger struktureller Entwicklungen in der deutschen Volkswirtschaft, die sich zunehmend in die globale Wirtschaft und insbesondere den gemeinsamen europäischen Markt integriert. Mit der Generierung von Mikrodatensätzen von Unternehmen und ihrer auf bestimmten Märkten tätigen Teileinheiten kann die Aggregation dieser Mikrodaten entsprechend der jeweiligen Fragestellungen und Themen spezifischer Studien zu wesentlich besseren Ergebnissen fuhren, wenn sich die Märkte verstärkt von traditionellen in neue Bereiche verändern. Die Flexibilität der wirtschaftlichen Entwicklung hinsichtlich der Unternehmen und ihres Verhaltens kann in empirischen Untersuchungen nur analysiert werden, wenn die gesammelten Datensätze diese offensichtlichen Trends verfolgen. Die Entwicklung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien liefert Mittel, derartig große Informationsmengen sehr viel effizienter zu nutzen, als es noch vor einem Jahrzehnt der Fall war. Mit dem immer noch geltenden Mooreschen Gesetz (Verdoppelung der Rechnergeschwindigkeiten innerhalb von jeweils 18 Monaten) wird die Handhabung dieser komplexen Datensätze für eine viel größere Gruppe interessierter Wissenschaftler möglich. Durch die Erleichterung des Zugangs ohnehin an öffentlichen Institutionen wie den statistischen Ämtern vorhandenen Mikrodaten, bei gleichzeitigem Schutz der Privatsphäre und der Datensicherheit, könnte eine neue Informationsbasis von Mikrodaten dazu genutzt werden, die hochspezifischen Fragestellungen zu analysieren, die im Prozeß der Politikberatung aufgeworfen werden. Da strukturelle Veränderungen als
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eine Reallokation von Mikroeinheiten in einem zunehmend komplexer werdenden wirtschaftlichen Umfeld stattfinden, ist die Fähigkeit, die Entwicklungspfade dieser Mikroeinheiten nachverfolgen zu können, entscheidend für ein besseres Verständnis der neueren Dynamik der modernen Volkswirtschaften. Der gegenwärtige Strukturwandel fügt sich immer weniger in das traditionelle Sektorenkonzept statistischer Analysen mit dauerhaft unterschiedlichen Industrien wie der Wirtschaftszweigsystematik WZ93 oder NACE (Nomenclature générale des Activités économiques dans les Communautés Européennes), der statistischen Klassifikation in der Europäischen Union, bei der Wandel auf einem klar separierbaren Niveau vordefinierter bestimmter Industrien stattfindet. Die Fähigkeit dieser analytischen Mittel, modernen Strukturwandel abzubilden und nachzuverfolgen, geht rapide zurück. Mit der Restrukturierung vertikaler und horizontaler Integration von Produktionsaktivitäten im Wachstumsprozeß der Unternehmen wird die Analyse auf der Basis ein für allemal klar definierter Industriesektoren zunehmend problematisch. Die Antriebskräfte des Strukturwandels wirken auf der Unternehmensebene, und Unternehmen fühlen sich immer weniger daran gebunden, ihre Aktivitäten gemäß ihrer jeweiligen industriellen Ursprünge zu beschränken. Stahlproduzenten wie Mannesmann haben sich grundlegend zu einem Hauptanbieter von Dienstleistungen im Telekommunikationsbereich umstrukturiert. Die finnische Firma Nokia, einstmals vorwiegend in der Papierherstellung tätig, hat sich in einen der großen globalen Produzenten von Mobiltelefonen und der Telekommunikationsausstattung umgewandelt. Banken haben mit stärkeren Aktivitäten in der Entwicklung von Grundbesitz und Gebäuden begonnen, wie z.B. die Deutsche Bank/Bankers Trust. Innerhalb weniger Jahre entstehen neue Konglomerate, die ebenso schnell wieder verschwinden oder sich umstrukturieren, dabei einen Großteil der Unternehmensorganisation verändernd. Hierbei entstehen ebenso neue Industriezweige wie alte schrumpfen oder gar gänzlich aufhören zu existieren. Diese neue Unternehmensdynamik über Industriezweige und klassische Abgrenzungen hinweg stellt den Nutzen eines rigiden sektoralen Rahmens für die Analyse strukureller Entwicklung einer Volkswirtschaft zunehmend in Frage. Ein zunehmender Anteil der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung wird auch in Deutschland durch immaterielle Dienstleistungsaktivitäten generiert. Es besteht daher ein dringender Bedarf neue Meßkonzepte zu entwickeln, die immaterielle Aktiva, wie Eigentumsrechte an Markennamen, Patente, Nutzungsrechte, Wissen oder den Wert einer hohen qualifizierten Belegschaft erfassen. Ohne adäquate Meßkonzepte für derartiges immaterielles Vermögen, die den Wert von Unter-
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nehmen entscheidend konstituieren, müssen die rapiden Umbewertungen auf den Aktienmärkten ein Rätsel bleiben. Da die intellektuellen Kapazitäten, die Produktions-, Verteilungs-, und Vermarktungsprozesse in einem zunehmend komplexen Umfeld effizient zu (re-)strukturieren, Schlüsselfaktoren für den Erfolg von Unternehmen darstellen, verlagern sich die realen Antriebskräfte wirtschaftlicher Entwicklung immer mehr von Eigentumsrechten an Realkapital zu Eigentumsrechten an Humankapital und immateriellem Kapital. Die Rolle des Bildungssystems für das Entwicklungspotential von Volkswirtschaften wird im Rahmen der Neuen Wachstumstheorie diskutiert. In einem zentralen Modell von Robert E. Lucas jr. (1988, 1993), erweist sich die Effizienz von Bildungsmaßnahmen als eine der entscheidenden Variablen in der Bestimmung der Wachstumsrate des Konsums. Eine Verbesserung der Ausbildung der Arbeitskräfte bietet somit die Möglichkeit mehr Wachstum zu erreichen. Gerade in diesem Bereich liegen in vielen Volkswirtschaften große Mängel vor. Erinnert sei nur an das schlechte öffentliche Bildungswesen der USA oder die überfüllten Hörsäle deutscher Universitäten, die zu den gegenwärtigen Studentenprotesten gefuhrt haben. Die Effizienz des Bildungssystems ist für die Wachstumsrate relevant, da auch die Humankapitalbildung interne und externe Effekte aufweist; intern, da die Aus- und Weiterbildung das individuelle Humankapital und somit die individuelle Produktivität erhöht, extern, da die Erhöhung individueller Humankapitale auch den durchschnittlichen Humankapitalstock erhöht. Volkswirtschaften, die sich auf Sektoren mit hohen Lerneffekten konzentrieren, werden höhere Wachstumsraten erzielen. Da Lerneffekte in ihrem Ausmaß abnehmen können, ist zur Erzielung fortlaufender Produktivitäts- und Wachstumseffekte ein ständiger struktureller Wandel erforderlich. Innerhalb der Literatur zur modernen Wachstumstheorie haben einige Ökonomen damit begonnen, die Wirkungen endogener Regimeshifts privater oder öffentlicher Eigentumsrechte auf den Wachstumsprozeß zu analysieren6. Diese Art von Modellen stellt eine relevante Verbindung zwischen der wirtschaftspolitischen Analyse von Eigentumsrechten und Wachstum dar, die intensivere theoretische und empirische Untersuchungen sowie eine Debatte darüber erfordert, wie unterschiedliche Politikregime derartige Fragen regeln7. Eigentumsrechte an Prozeßverfahren, innovativen Produkten und Markennamen stellen die traditionelle Dominanz von Vermögen, das auf Eigentum von physischem Kapital beruht, zunehmend in Frage8. Ohne überlegenes Wissen an der Entwicklung flexibler Stra-
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Vgl. z.B. Tornelli 1997). Vgl. z.B. Claque/Keefer/Knack/Olson ( 1996, 1999). Vgl. Thurow( 1997).
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tegien, den Herausforderungen des globalen Wettbewerbs gewachsen zu sein, hat die Gefahr für die Unternehmen, daß ihre physischen Kapitalgüter aufgrund des schnellen technologischen Wandels bzw. Präferenzveränderungen auf Konsumentenseite obsolet werden, dramatisch zugenommen. Diese Ambivalenz schließt selbst einen Bill Gates als gegenwärtig reichste Person der Welt nicht aus. Einerseits ist seine aktuelle Position innerhalb von nur fünfzehn Jahren mit Blick auf das Ausgangsvermögen gleichsam aus dem Nichts entstanden. Andererseits besteht selbst für Microsoft die Gefahr einer Erosion der bedeutsamen Marktposition durch das Verschlafen eines neuen technologischen Trends. Das Versäumnis, das Internet als einen überragenden neuen Wachstumsmarkt im Bereich der Kommunikations- und Informationsindustrie rechtzeitig erkannt zu haben, mag dafür als erstes Indiz erscheinen. Ohne die Schaffung geeigneter Meßkonzepte zur Beurteilung des immateriellen Vermögens und seiner Veränderungen wird das gegenwärtige System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung mehr und mehr an Relevanz verlieren. Wenn die modernen Antriebskräfte wirtschaftlicher Entwicklung nicht adäquat erfaßt werden, kann die verbleibende Information zum Wert physischer Ströme von Gütern und Dienstleistungen kein aussagekräftiges Bild über die entscheidende Dynamik liefern. In seiner Präsidentschaftsadresse gegenüber der American Economic Association hat Fogel (1999) sich diesem Problem gewidmet und mit dem Titel Catching up with the Economy versehen. Darin umreißt er die Problematik, daß die aktuelle Wirtschaftstheorie aufgrund konzeptioneller Defizite in der Sammlung und Analyse relevanter Informationen über die fundamentalen langfristigen Veränderungen bezüglich der Konsequenzen einer zunehmend alternden Bevölkerung und eines Gesundheitssystems, das seine Leistungen an den steigenden Bedarf zur medizinischen Versorgung dieser Bevölkerung anzupassen und sich effizient zu restrukturieren hat, der realen wirtschaftlichen Entwicklung in immer größerem Maße hinterherhinkt.
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Wachstums- und Beschäftigungswirkungen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien
Die modernen Volkswirtschaften befinden sich gegenwärtig im Übergang von der Industrie- bzw. Dienstleistungsgesellschaft zur Informationsgesellschaft, die durch eine rapide wachsende Bedeutung der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) gekennzeichnet ist. Ein zentrales Charakteristikum dieser Informationsgesellschaft ist die Existenz von Netzwerkstrukturen. Innerhalb der Informationsgesellschaft gehören die effiziente Nutzung verfügbaren Wissens und die Koordination der Kommunikationsprozesse zwischen den einzelnen Mitglie-
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dem der jeweiligen Netzwerke sowie zwischen den verschiedenen Netzwerken zu den wichtigsten Aufgaben. Unter der Voraussetzung einer erfolgreichen Bewältigung dieser Aufgaben können höhere Effizienzgewinne erzielt werden als mit traditionellen Produktionsmethoden, die auf material- und energieverbrauchenden Prozessen basieren. Eine verbesserte Allokation der Ressourcen ist jedoch mit einer verstärkten Abhängigkeit der Produktionsverfahren gegenüber diesen neuen Technologien verbunden. Die fuhrende Rolle der USA wird bei einem internationalen Vergleich wichtiger Indikatoren der Informationsgesellschaft deutlich. Die Bundesrepublik Deutschland rangiert dabei hinter den USA, Großbritannien, Japan und Frankreich 9 . Die Interpretation derartiger Benchmark-Prozeduren ist jedoch aufgrund der weitgehend unbefriedigenden statistischen Erfassung des IKTBereichs schwierig und problematisch. Die Schaffung einer globalen Infrastrukturbasis im Rahmen der Global Information Infrastructure Initiative der G7-Länder kann dabei als ein bedeutsamer Schritt in Richtung auf eine weltweite Informationsgesellschaft angesehen werden. Daraus resultieren neue Möglichkeiten für eine schnelle Substitution traditioneller durch elektronische Dienstleistungen. Darüber hinaus existiert ein weiter Bereich fur Innovationsaktivitäten bei elektronischen Serviceangeboten (Electronic Commerce). Aufgrund der hohen Flexibilität in der Standortwahl zwischen dem Angebot elektronischer Dienstleistungen und der realisierten Nachfrage innerhalb des globalen Netzwerks gewinnen die immobilen Standortfaktoren in der Informationsgesellschaft zunehmend an Gewicht. Potentielle Wohlfahrtsgewinne bei adäquater Nutzung der IKT hängen entscheidend von der Diffusionsgeschwindigkeit und der Adoption dieser neuen Technologien ab. Die ökonomische Analyse von Netzwerkexternalitäten, die mit diesen Technologien verbunden sind, zeigt, daß mögliche Engpässe in der Qualifikationsstruktur des Arbeitsangebots, der Innovationskapazitäten der Unternehmen, in einer mangelhaften Infrastruktur sowie zu kleiner Absatzmärkte auftreten können. Darüber hinaus müssen die Konsequenzen für die Wettbewerbssituation betrachtet werden, da das Auftreten steigender Skalenerträge ein wesentliches Merkmal der IKT ist. Bei Abwesenheit regulativer Eingriffe kann dies aufgrund der hohen technologischen Dynamik relativ schnell zur Herausbildung monopolistischer Strukturen auf der Angebotsseite fuhren. Die Reduktion der Wettbewerbsintensität kann des weiteren kontraproduktive Wirkungen auf die Innovationsfähigkeit von Unternehmen haben. Die Diffusion der IKT impliziert jedoch nicht nur externe Effekte auf den Wettbewerb innerhalb einzelner Volkswirt-
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Siehe European Information Technology Observatory EITO (1999) und Erber/Hagemann/Seiter (2000), Kap. 2.
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schaften, sondern auch externe Wirkungen auf den internationalen Handel. Die Einfuhrung und verstärkte Durchsetzung der modernen IKT fuhrt zu einer wachsenden internationalen Integration der Finanz-, Güter- und Arbeitsmärkte. Dies impliziert einen steigenden Wettbewerbsdruck und einen arbeitsparenden technischen Fortschritt, der mit einer Verschlechterung der relativen Position von Lohneinkommensbeziehern in der Produktion handelbarer Güter verbunden ist. Als ein weiteres Ergebnis der neuen IKT ist auch ein steigender Anteil von Dienstleistungen betroffen, die international verlagert werden können. Um mögliche Aussagen über die zu erwartende Entwicklung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu treffen, bietet sich in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit den USA an. Im allgemeinen wird die US-amerikanische Ökonomie als Vorreiter auf dem Weg zur Informationsgesellschaft gesehen, während die Bundesrepublik Deutschland noch am Anfang dieses Prozesses zu stehen scheint10. Darüber hinaus weisen die USA im Gegensatz zu den europäischen Volkswirtschaften in den beiden letzten Jahrzehnten ein sehr hohes Beschäftigungswachstum auf, was den Schluß nahelegt, daß die voranschreitende Informatisierung der Ökonomie von einer zunehmenden Beschäftigungsmenge begleitet wird. Diese kurzfristig gesehen positive Entwicklung kann mittel- bis langfristig Probleme aufwerfen, wenn sie sich über einen längeren Zeitraum verfestigt. Die Wettbewerbsfähigkeit und damit die Wachstumschancen einer Volkswirtschaft werden von den realisierten Produktivitätszuwächsen bestimmt. Auch hier unterscheiden sich Deutschland und die Vereinigten Staaten sehr stark. So liegt in den USA das durchschnittliche Produktivitätswachstum trotz der großen Ausgaben für Informations- und Kommunikationstechnologien deutlich unterhalb des bundesdeutschen Niveaus, weshalb auch vom sog. Produktivitäts- bzw. SolowParadoxort gesprochen wird". Dieses empirische Ergebnis widerspricht der normalen wirtschaftstheoretischen Sichtweise des Zusammenhangs zwischen Produkt- und Prozeßinnovationen sowie Investitionsanstrengungen einerseits und Produktivitätswachstum andererseits. Eine systematische Analyse der für das Produktivitätsparadoxon angeführten Argumente zeigt, daß es keine einfache Antwort, sondern ein ganzes Bündel verschiedener Aspekte auf Unternehmens-, Industrie- und gesamtwirtschaftlicher Ebene gibt, die in ihrem Zusammenwirken das geringe Produktivitätswachstum erklären können 12 . Mögliche Ursachen für das Ausbleiben der produktivitätsfördernden Effekte der Informations- und Kommunikationstechnologien können u.a.
10
Vgl. Erber/Hagemann/Seiter (2000), Kap. 4. " Vgl. Sichel ( 1997) und Jorgenson/Stiroh ( 1999). 12 Vgl. z.B. Brynjolfsson/Young (1996).
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in einer falschen Ressourcenallokation, negativen Extemalitäten von Innovationen auf zuvor dominierende Produzenten ("business-stealing-effect"), dem zeitlichen Auseinanderfallen von Einfuhrung und Wirkung neuer Technologien, dem höheren Abschreibungsbedarf, dem noch sehr geringen Anteil der Computertechnologien am gesamtwirtschaftlichen Kapitalstock oder in statistischen Meßproblemen liegen. Die Prognosen über mögliche Beschäftigungseffekte der Informationsgesellschaft hängen weitgehend von den investitionsinduzierten Produktivitätswirkungen ab. Ein drastischer Effizienzanstieg kann kurzfristig größere Freisetzungseffekte implizieren. Kommt es dagegen zu großen zeitlichen Verzögerungen bei der Realisierung der Effizienzsteigerungen, können anfanglich höhere Arbeitsplatzzahlen erwartet werden. Obwohl der Diffusionsprozeß der IKT einen positiven Nettoeffekt auf die Beschäftigung haben dürfte, sind frühere sehr optimistische Erwartungen hinsichtlich der arbeitsplatzschaffenden Effekte in letzter Zeit vielfach revidiert worden. Der Beitrag der IKT zur Lösung der gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungsproblematik wird begrenzt sein, da IKT nicht nur neue Arbeitsplätze schaffen, sondern auch alte Arbeitsplätze vernichten. Sie stellen daher keine Ausnahme bezüglich des allgemeinen Problems dar, daß die genaue Quantifizierung der gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungswirkungen für eine dynamische offene Volkswirtschaft, die einen permanenten Prozeß von Freisetzungs- und gleichzeitig Kompensationsprozessen unterworfen ist, ausgesprochen schwierig, wenn nicht unmöglich ist. Kurzfristige Beschäftigungseffekte sind ebenso von langfristigen zu unterscheiden wie Effekte auf der Mikroebene von jenen auf der Meso- bzw. Makroebene oder direkte von indirekten Beschäftigungswirkungen. Im Gegensatz zu direkten Effekten, die, insbesondere auf Mikroebene, beobachtet werden können, ist es extrem schwierig und methodisch komplex, die indirekten Wirkungen für die gesamte Volkswirtschaft zu quantifizieren 13 . Es sind genau diese indirekten Wirkungen der Einfuhrung neuer Technologien, die so bedeutsam sind und seit Ricardos früher Analyse des Maschinerieproblems im Zentrum der Kontroversen über Freisetzungs- und Kompensationseffekte gestanden haben. Im Oktober 1999 sind die Volkseinkommensdaten der USA erheblich revidiert worden, gefolgt von einer grundsätzlichen Revision der Produktivitätsdaten durch das Bureau of Labor Statistics am 12. November. Die Softwareproduktion z.B., die zuvor nur als Unternehmensausgaben behandelt worden ist, ist erstmals auch als Output und Input erfaßt worden. Die neuen Produktivitätszahlen fur die USA beinhalten eine größere Aufwertung, einschließlich des Tatbestandes, daß die Abschwächung des Produktivitätswachstums in den 1970er und frühen 1980er Jah13
Vgl. auch Kap. 4, "Technological Change and Innovation" der OECD Jobs Study (1994).
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ren deutlich weniger ausgeprägt war als zuvor allgemein angenommen. Darüber hinaus lassen die starken Aufwertungen des Produktivitätswachstums seit Mitte der 1980er und für die gesamten 1990er Jahre die Abschwächung des Produktivitätswachstums eher als ein temporäres Phänomen denn als eine Veränderung des langfristigen Wachstumstrends erscheinen. Damit wird Anwälten der sogenannten New Economy, in der IKT zu einem langfristigen Anstieg des Wirtschaftswachstums und einer Beschleunigung des Produktivitätswachstums führen, Beweismaterial geliefert. 14 Aber implizieren die neuen Produktivitätsdaten, die zeigen, daß das Produktivitätswachstum sich bereits auf einem leichten Aufwärtstrend befand, als es Mitte der 1990er Jahre "loslegte", wirklich, daß das Solow-Paradoxon nur ein grandioser Irrtum war und wir unsere Vorstellung eines vergleichsweise langsamen Produktivitätstrends, der Anfang der 1970er Jahre begann, grundsätzlich zu revidieren haben? Im Gegensatz zu dieser im Hinblick auf die Produktivitätsentwicklung recht optimistischen Sichtweise sind jedoch auch kritische Stimmen zu vernehmen, die der New Economy-Euphorie reserviert gegenüberstehen. So zeigt eine vor kurzem veröffentlichte Studie fur die Jahre von 1995 bis 1999 von Jorgenson und Stiroh, die auf den revidierten US-Daten basiert, daß auch weiterhin "...computer-using industries like finance, insurance, and real estate (...) and services have continued to lag in productivity growth"15. Bislang scheinen sich die durch den Einsatz von Computertechnologien induzierten Produktivitätssteigerungen weitgehend auf den klassischen Bereich der IKT zu beschränken, in dem Computertechnologien produziert werden. Darüber hinaus sind auch in Industrien, die mit Hilfe einer raschen Restrukturierung IKT implementieren, überdurchschnittliche Effizienzsteigerungen zu erkennen. Auch aus einem zweiten Grund ist bei der Interpretation des aktuellen Produktivitätswachstums in den USA Vorsicht geboten. Es ist eine empirisch erhärtete Tatsache, daß Veränderungen des Produktivitätswachstums eine stark prozyklische Natur aufweisen, wie sie z.B. dem Okunschen Gesetz zugrundeliegt, das die kurzfristigen Produktivitätsgewinne(verluste) umfaßt, die mit einem höheren (geringeren) Produktionswachstum verbunden sind, welches die Vorteile (Nachteile) einer höheren (geringeren) Auslastung der Produktionskapazitäten reflektiert. Es gibt kaum einen Zweifel daran, daß ein erheblicher Anteil des Anstiegs im Produktivitätswachstum in den USA der späten 1990er Jahre auf zyklische Faktoren zurückzufuhren ist. Das Phänomen einer prozyklischen Variation der Wachstums-
14
15
Vgl. z.B. den Artikel "How fast can this hod-rod go? N e w productivity data raise the speed limit in growth" in der Business Week vom 29. November 1999, S. 40-42. Jorgenson/Stiroh (2000), S. 3.
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rate der Arbeitsproduktivität überlappt sich mit dem Verdoornschen Gesetz, das langfristig einen engen linearen Zusammenhang zwischen dem Produktions- und dem Produktivitätswachstum konstatiert, mit steigenden Skalenerträgen als einer wichtigen Determinante16. Ein Anstieg im langfristigen Wachstumstrend ist somit mit einem starken Produktivitätswachstum untrennbar verbunden. Ein zentrales Element möglicher wirtschaftspolitischer Maßnahmen ist das "Lebenslange Lernen". Die Wachstumsmodelle bezüglich der Implikationen von Netzwerkexternalitäten erlauben eine Fundierung und erhebliche Ausweitung dieses Konzepts. Lernen besteht aus vielen Facetten: learning by doing, learning by using, komplementärem Lernen, Feedback-Effekten der Lerneffekte der Nutzer von IKT an die Unternehmen, etc. Lernen transzendiert die intendierte Adoption von Wissen und stellt z.T. einen Nebeneffekt dar. Die Nutzung dieser Effekte ermöglicht jedoch weitere Produktivitätssteigerungen. Die Förderinstrumente der Regierung in der Informationsgesellschaft können weitere Maßnahmen beinhalten. Zentrale Anknüpfungspunkte sind Eintrittsbarrieren, monopolistische Tendenzen und die Aufrechterhaltung bzw. Intensivierung des Wettbewerbs, die z.B. im Bereich der IKT diskutiert werden. Darüber hinaus sind die Beschleunigung der Diffusionsgeschwindigkeit neuer Technologien, die Einfuhrung von Standardisierungen und öffentliche Nachfrageprogramme (z.B. bei der Computerausstattung von Schulen) von besonderer Bedeutung. Die Diskussion über die theoretischen Ansätze zu Netzwerkeffekten und Pfadabhängigkeiten liefert eine konsistente Fundierung eines entsprechenden Instrumentenmix. Die Durchdringung mit IKT verändert auch die Organisationsstrukturen von Unternehmen und die Standortdistribution von Arbeit (Stichworte: Telearbeit und Job Sharing) sowie die Arbeitsinhalte und Unternehmenshierachien. Daraus ergeben sich Konsequenzen für das Verhältnis von Arbeit und Kapital, insbesondere hinsichtlich der Mitbestimmungsmöglichkeiten. Die gestiegene räumliche Distanz zwischen Ort der Arbeit und Unternehmen gibt dem einzelnen mehr Freiheit über seine Arbeitszeit zu entscheiden. Gleichzeitig besteht die Gefahr der Scheinselbständigkeit. Für Unternehmen besteht z.B. aus Kostenüberlegungen heraus der Anreiz Mitarbeiterstellen durch "freie" Kleinunternehmen zu ersetzen. Insbesondere die soziale Absicherung der Betroffenen wird dabei meist geringer. Auch zwischen den Unternehmen werden sich Veränderungen der Beziehungen ergeben. Die geringen Transportkosten für Informationen und die damit verbundenen Dienstleistungen ermöglichen das Outsourcing von Unternehmensaufgaben. Spezialisierte Unternehmen übernehmen z.B. die Buchhaltung, die Datenverarbeitung oder die Entwicklungstätigkeiten, so daß an die Stelle eines großen integrierten
16
Vgl. Hagemann/Seiter (1999).
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Unternehmens ein Netzwerk von kleineren Einheiten tritt. Kleineren und mittleren Unternehmen bieten sich hier Chancen für schnelles Wachstum, aber auch die Gefahr der Abhängigkeit von dominierenden Unternehmen. Diese Veränderungen machen auch eine Diskussion über alternative Entlohnungssysteme erforderlich. Zu denken ist dabei insbesondere an Formen des Investivlohns, die Elemente einer Beteiligungswirtschaft mit Verbesserungen der Qualifikationsstruktur des Humankapitals kombiniert. Von diesem Ausgangspunkt können Beschäftigungsfragen mit der fur eine Informationsgesellschaft essentiellen Ausbildung und Wissenserweiterung verbunden werden. In gleichem Sinne sollten weitere Arbeitszeitverkürzungen für die zuvor angesprochenen lebenslangen Lernprozesse genutzt werden. Die Klärung der Frage, ob IKT in Zukunft größere Produktivitätssteigerungen auf gesamtwirtschaftlicher Ebene hervorrufen, wird insbesondere in den USA Konsequenzen für die Ausgestaltung der geldpolitischen Maßnahmen haben. Ein Anstieg der Arbeitsproduktivität kann zur Entlastung des Arbeitsmarktes beitragen, so daß ein durch Lohnerhöhungen bedingter Inflationsdruck vermieden wird. Die Notenbank kann als Folge hiervon auf Zinserhöhungen verzichten, die dämpfende Wirkungen auf die Investitionstätigkeit und damit auf die Arbeitsnachfrage haben können. Die rasche Implementierung von IKT wird deshalb nicht nur die mittelbis langfristige Beschäftigungsentwicklung, sondern auch indirekt das Niveau der konjunkturellen Arbeitslosigkeit beeinflussen. Darüber hinaus bleibt offen, inwieweit es der Notenbank bei einer zunehmenden Bedeutung der New Economy überhaupt noch gelingt, mittels Geldpolitik auf das gesamtwirtschaftliche Investitionsniveau steuernd einzuwirken.
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Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2000
Neues in der Wachstumstheorie? Stephan Seiter
1
Vorbemerkungen
Die internationale wirtschaftliche Situation im Jahr 2000 ist durch unterschiedliche Konstellationen in zwei der wichtigsten Wirtschaftsräumen der Welt geprägt. Während die europäischen Volkswirtschaften vor dem Problem hoher Arbeitslosenzahlen und niedriger Wachstumsraten stehen, vollzieht sich in den USA der längste wirtschaftliche Aufschwung aller Zeiten, der scheinbar nur durch einen Mangel an Arbeitskräften und Alan Greenspan, dem US-amerikanischen Notenbankpräsidenten, beendet werden kann. Zur Lösung dieser Probleme ist z.B. die Europäische Union bestrebt, wachstumsfördernde Impulse zu geben und die Schaffung von Millionen von Arbeitsplätzen anzustoßen. Für die USamerikanische Wirtschaft wiederum stellt sich die Frage, inwieweit Angebotsbeschränkungen vermieden werden können, um drohende zinspolitische Schritte der eigenen Notenbank überflüssig zu machen und einen durch den Rückgang der Börsenkurse bedingten wirtschaftlichen Abschwung zu verhindern. Vor diesem Hintergrund läßt sich das verstärkte Interesse sowohl bei Wirtschaftswissenschaftlern als auch bei den Trägern der Wirtschaftspolitik an der Wachstumstheorie erklären. Wachstumspolitische Fragestellungen berühren vielfach strukturpolitische Themen und stehen in engem Zusammenhang zu den Regionalwissenschaften und der Wettbewerbstheorie sowie Wettbewerbspolitik, die zu den aktuellen zentralen Forschungsgebieten von Klaus Herdzina gehören. In seinem Buch Wirtschaftliches Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb (1981) widmet er sich z.B. den verschiedenen Beziehungen, die sich zwischen den drei Themenkomplexen Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb ergeben können. Teil dieser Arbeit ist eine kritische Bestandsaufnahme der Wachstumstheorie, in der relevante Schwächen des damaligen state-of-the-art diskutiert werden. Die Vertreter der unter dem Stichwort der Neuen Wachstumstheorie zusammengefaßten Ansätze haben es sich zur Aufgabe gemacht, einige dieser Schwächen der traditionellen Modelle zu überwinden. Im folgenden werden die zentralen Argumentationslinien der Neuen Wachstumstheorie skizziert und diskutiert. Es zeigt sich, daß viele der damals geäußerten Kritikpunkte bis heute nicht an Aktualität verloren haben.
72
Wachstum stheorie
2
Altes und Neues in der Wachstumstheorie
2.1
Anforderungen an ein wachstumstheoretisches Modell
Die von Herdzina (1981) gewählte integrative Vorgehensweise trägt der Tatsache Rechnung, daß wirtschaftliches Wachstum kein Phänomen ist, das losgelöst vom Strukturwandel und wettbewerblichen Prozessen gesehen werden kann. Wachstumsprozesse gehen in der Realität immer mit der Veränderung der Produktionsverhältnisse einher. Strukturkonstantes Wachstum ist eher die Ausnahme, denn die Regel. Neue Produkte und/oder Produktionsverfahren stellen vielfach die Ursache für einen wirtschaftlichen Wachstumsprozeß dar, so daß sich sowohl Verschiebungen in der Zusammensetzung des gesamtwirtschaftlichen Outputs als auch der Allokation der Arbeitskräfte auf verschiedene Sektoren ergeben. Die hieraus resultierenden Anpassungsprozesse benötigen Zeit und fuhren zu Transaktionskosten. Wachstumsmodelle, die ausschließlich eine Ein-Gut-Ökonomie abbilden, sind nicht in der Lage, sämtliche Elemente von Wachstumsprozessen einzubinden. Da wirtschaftliches Wachstum von der Entwicklung neuer Produkte begleitet wird, sind auch Wettbewerbsaspekte von zentraler Bedeutung fur die adäquate Erklärung von Wachstumsprozessen. Tatsächlich wird die Generierung eines wachstumstheoretischen Modells sehr schwerfallen, das alle relevanten Variablen erfassen kann. Darüber hinaus stellt sich immer die Frage, welche Determinanten des Wachstumsprozesses überhaupt relevant sind und in der jeweiligen Untersuchung berücksichtigt werden sollten. Diese Frage kann nur durch das Zusammenwirken von theoretischer und empirischer Analyse beantwortet werden. Vorgelagert muß jedoch überlegt werden, welche Aufgaben in den Verantwortungsbereich der Wachstumstheorie gehören. Im allgemeinen kann von der Annahme ausgegangen werden, daß die Wachstumstheorie, wie alle Zweige der Wirtschaftswissenschaften, den Wirtschaftsprozeß zu erklären hat, weshalb sich der Wachstumstheorie drei Themengebiete zuweisen lassen:1 1. den Einfluß wirtschaftlichen Wachstums auf ökonomische und nichtökonomische Variablen zu analysieren, 2. die Ermittlung der Determinanten des Wachstums,
'
Vgl. Herdzina (1981), S. 24.
Wachstumstheorie
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3. die Bestimmung der Bedingungen für das Erreichen bestimmter Wachstumsverläufe. Nicht jeder Ansatz innerhalb der Wachstumstheorie wird diesen Aspekten gerecht, denn häufig richtet sich die Ausrichtung des Forschungsinteresses nach den aktuellen wirtschaftlichen Problemen. In Zeiten einer vermeintlichen Wachstumsschwäche werden z.B. mehr die Fragen nach den Bestimmungsgrößen des Wachstums denn die Suche nach einer Rechtfertigung des Wachstumsstrebens im Vordergrund stehen. Entsprechendes gilt für die Ermittlung notwendiger Bedingungen für bestimmte Wachstumspfade. Da bei letzterem die moderne Wachstumstheorie weitgehend die Analyse von Steady-State-Wachstumspfaden in das Zentrum des Interesses gerückt hat, erscheint sie vielfach ohne Bezug zu realen Wachstumsprozessen zu sein. Dennoch lassen sich aus den Ergebnissen dieser Ansätze interessante Hinweise für wirtschaftspolitische Handlungsanweisungen ableiten. Hierzu bedarf es jedoch einer empirischen Überprüfung der getroffenen Annahmen, die erfüllt sein müssen, damit gleichgewichtiges Wachstum möglich wird. Tendieren Volkswirtschaften zu Steady-State-Wachstumspfaden, ergeben sich für die wirtschaftspolitischen Akteure andere Konsequenzen als im Falle eines inhärent instabilen Wirtschaftssystems. Insbesondere die moderne Wachstumstheorie hat durch diese Debatte einige Impulse erhalten. Während die Modelle von Harrod und Domar noch durch eine pessimistische Sichtweise im Hinblick auf gleichgewichtige Wachstumsprozesse geprägt waren und Ausdruck für die Befürchtung sind, daß nach dem Zweiten Weltkrieg eine Wiederkehr der wirtschaftlichen Probleme der 1920er und 1930er Jahre zu erwarten sei, sind die neoklassischen Ansätze der 1950er und 1960er Jahre durch die positive wirtschaftliche Entwicklung der Nachkriegszeit beeinflußt und unterstellen nicht nur die Möglichkeit von SteadyState-Wachstumspfaden, sondern sehen deren Realisierung aufgrund der Flexibilität des marktwirtschaftlichen Systems als gesichert an. Pionierarbeiten wurden hier bekanntlich von Solow (1956, 1957), Swan (1956) und Meade (1962) geleistet, aber auch Tinbergen hatte 1942 ein vergleichbares Modell besprochen und auf seine langfristigen Implikationen hin untersucht. Die dabei auftretende Ähnlichkeit mit Solows Modell ist verblüffend. 2 Aufgrund dieser unterschiedlichen Sichtweise marktlicher Prozesse weist die postkeynesianische Wachstumstheorie staatlichen Institutionen eine zentrale Rolle bei der Erreichung gleichgewichtigen Wachstums zu. Im Gegensatz hierzu ergibt sich aus der im neoklassischen Modell dominierenden Annahme über die Flexibi-
2
Vgl. hierzu z.B. Seiter (1997), S. 24ff.
74
Wachstumstheorie
lität von Preisen und Mengen nicht zwingend eine gestalterische Aufgabe für den Staat. Die Klärung der Frage nach den Determinanten wirtschaftlichen Wachstums ist vor allem von breitem Interesse, wenn es um die Beeinflussung der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes geht. Nur wenn die den Wachstumsprozeß bestimmenden Größen bekannt sind, können in einem zweiten Schritt die Methoden analysiert werden, mit denen man diese Variable steuern kann, um die erwünschten Veränderungen hinsichtlich der Wachstumsverlaufs zu erhalten. Gemeinhin gilt jedoch, daß die im theoretischen Modell ermittelten Determinanten sowohl ökonomisch Sinn machen als auch empirische Relevanz aufweisen müssen. 2.2
Die traditionelle Erklärung stilisierter Fakten
Aus dem oben genannten Anliegen läßt sich die Forderung ableiten, Wachstumsmodelle zu entwickeln, die die sogenannten stilisierten Fakten der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung abbilden. Kaldor (1957, 1961) hat in seiner Kritik am neoklassischen Paradigma diesen Anspruch an die theoretische Analyse immer wieder formuliert. Ende der 1950er Jahren war folgendes Datenset für die Dynamik von entwickelten Volkswirtschaften charakteristisch:3 1. Vorliegen einer konstanten, positiven Wachstumsrate des Outputs und der Arbeitsproduktivität, 2. Konstanz der Wachstumsrate der Kapitalintensität, 3. Konstanz der Profitrate, 4. Konstanz des Kapitalkoeffizienten, 5. Korrelation zwischen der Investitionsquote und der Profitquote, 6. größere Unterschiede zwischen den Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität in verschiedenen Ländern, die mit der Investitionsquote und der Profitquote verknüpft sind. Die Abbildung der ersten vier Eigenschaften stellt für das von Kaldor kritisierte neoklassische Wachstumsmodell keinerlei Schwierigkeit dar. So ist die Konstanz des Kapitalkoeffizienten ein typisches Merkmal des Steady-State-Wachstums-
3
Vgl. z.B. Kaldor (1961), S. 230f.
Wachstumstheorie
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pfades und ergibt sich durch die definitionsgemäße Konstanz der Wachstumsrate des Sozialprodukts und den getroffenen Annahmen über das Sparverhalten bzw. über die langfristig zu maximierende Nutzenfunktion. 4 Im neoklassischen Grundmodell ergibt sich die tatsächliche Wachstumsrate als gewogenes Mittel der Wachstumsraten der Inputs. Als Gewichte fungieren die Produktionselastizitäten des jeweiligen Faktors. Um eine konsistente Bestimmung der funktionalen Einkommensverteilung und der gleichgewichtigen Wachstumsrate zu ermöglichen, wird darüber hinaus die Existenz konstanter Skalenerträge unterstellt. Da die Wachstumsrate der Arbeitsbevölkerung als konstant unterstellt wird, ergibt sich zwangsläufig bei Fehlen technischen Fortschritts als Lösung fur den gleichgewichtigen Wachstumspfad die Identität der Veränderungsraten aller Variablen. Sowohl die Inputs als auch der Output müssen mit der Wachstumsrate der Arbeitsbevölkerung, der sogenannten natürlichen Wachstumsrate wachsen. 5 Gleichzeitig bedingen die Eigenschaften des neoklassischen Modells die Eindeutigkeit und die Stabilität der Gleichgewichtslösung. M.a.W. eine Ökonomie, die die typischen neoklassischen Eigenschaften aufweist, wird langfristig zu einem durch ihre Parameterwerte vorgegebenen Gleichgewichtspfad gelangen, auf dem die Kapitalintensität konstant ist. Die in der Volkswirtschaft getätigten Investitionen entsprechen in dieser Situation genau der Menge an Kapital, die notwendig ist, um die neu hinzukommenden Arbeitskräfte mit der bisherigen Kapitalmenge pro Kopf auszustatten. Das sog. capital-deepening und das capital-widening sind dann identisch. Die Identität aller Wachstumsraten impliziert jedoch ein langfristiges Pro-KopfWachstum von 0%. 6 Es ist zwar dadurch eine langfristig konstante Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität darstellbar, doch entspricht deren Wert nicht den realen Gegebenheiten. Realiter ist das trendmäßige Produktivitätswachstum größer als null. Trotz kurzfristiger Wachstumsschwächen ist mittel- bis langfristig in einer Großzahl von Volkswirtschaften eine Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens erkennbar. Der Vergleich der theoretischen Ergebnisse mit der empirischen Entwicklung legt die Vermutung nahe, daß dieser Ansatz mangelnde Relevanz für die Erklärung realer Phänomene zu haben scheint. Das einfache neoklassische Wachstumsmodell ist nicht ausreichend spezifiziert, um alle relevanten Sachverhalte zu erfassen.
4
s
6
Vgl. zur Bestimmung der Steady-State-Lösung im neoklassischen Wachstumsmodell z.B. Walter (1983), Barro/Sala-i-Martin (1995). Bei Vorliegen Harrod-neutralen technischen Fortschritts ergibt sich die natürliche Wachstumsrate aus der Summe der Wachstumsrate der Arbeitsbevölkerung und der Rate des technischen Fortschritts. Vgl. hierzu z.B. Barro/Sala-i-Martin (1995).
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Wachstumstheorie
Ein erster Schritt zur Vermeidung dieser Mängel ist die Einbeziehung des technischen Fortschritts. Im theoretischen Modell geschieht dies mit Hilfe des Harrodneutralen technischen Fortschritt. Diese Modifikation läßt zwar eine positive Wachstumsrate im Steady-State-Gleichgewicht zu, da die Rate des technischen Fortschritts zur Wachstumsrate der Arbeitsbevölkerung hinzukommt, doch bleibt weiterhin die Eigenschaft erhalten, daß die gleichgewichtige Wachstumsrate unabhängig von der Investitions- bzw. Sparentscheidung ist. Nur das Niveau des Wachstumspfades kann durch die Variation der Sparquote beeinflußt werden. Je mehr eine Volkswirtschaft anteilsmäßig spart und aufgrund des Zinsmechanismus auch investiert, desto höher ist das Niveau des Pro-Kopf-Einkommens im Gleichgewicht. Die Wirtschaftssubjekte können durch die Entscheidung über ihre Sparquote auswählen, welchen Wachstumspfad sie anstreben. Als mögliche Auswahlkriterien bieten sich die Maximierung des Konsumniveaus oder des Nutzenniveaus an. Die in diesem Zusammenhang ermittelten Handlungsempfehlungen für ein optimales Wachstum sind unter dem Begriff Goldene Regel der Akkumulation zusammengefaßt worden. Trotz der Gelegenheit, den besten Wachstumspfad zu ermitteln und anzusteuern, bleibt die Höhe der Wachstumsrate weiterhin exogen bestimmt und somit außerhalb der Entscheidungsoptionen der Wirtschaftssubjekte. 7 Die Annahme exogenen technischen Fortschritts schafft damit Abhilfe bei der Abbildung des vierten stilisierten Faktum, aber es bestehen Probleme bei der Berücksichtigung der Fakten (5) und (6). Gerade dieser Punkt hat Kaldor (1959, 1961) veranlaßt, die sog. technical progress function zu entwickeln, die den Zusammenhang zwischen der Investitionstätigkeit und der Produktivitätsentwicklung abbilden soll.8 Trotz gewisser Unterschiede zwischen den verschiedenen Generationen der technical progress function wird generell ein positiver Einfluß der Kapitalakkumulation auf die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität angenommen, indem Investitionen einerseits das vorhandene technologische Wissen in den Produktionsprozeß einführen und damit Träger des technischen Fortschritts werden und andererseits die Möglichkeit zu Lerneffekten geben und den sog. technical dynamism der Gesellschaft, d.h. die Fähigkeit und Bereitschaft neues technologisches Wissen zu schaffen, vermehren helfen. 9 Hierin besteht eine Parallele zu
7 8 9
Vgl. für einen kurzen Überblick Seiter (1997), S. 46ff. Zu nennen ist auch der gemeinsame Aufsatz mit Mirrlees aus dem Jahre (1962). Kaldors Begriff des technical dynamism erinnert an den im Rahmen der Diskussion über die sog. Catching up-Hypothese geprägten Begriff der social capability, die die notwendigen Rahmenbedingungen erfassen soll, die erfüllt sein müssen, damit eine Land mit niedrigem Produktivitätsniveau die technologische Lücke gegenüber der fuhrenden Volkswirtschaft schließen kann. Neben dem Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte werden u.a. auch das Rechtssystem sowie kulturelle Tradition unter
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der Arbeit von Kenneth Arrow (1962), in der er die ökonomischen Konsequenzen des learning by doing-Konzepts analysiert. Investitionen in Sachkapital sind dabei Träger des aktuell vorhandenen Know hows und schaffen für die an den Maschinen und Anlagen tätigen Arbeitskräfte gleichzeitig neue Rahmenbedingungen sowie die Gelegenheit zur Gewinnung neuer Erfahrungen und somit zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Darüber hinaus wird angenommen, daß die so gewonnenen Erkenntnisse in die nächste Maschinengeneration einfließen. Heutige Investitionen weisen deshalb einen intertemporalen externen Effekt auf, indem sie das Produktivitätsniveau in der Zukunft erhöhen. Diese Annahme hat eine weitere wichtige Implikation. Die "(Investitions)Geschichte" einer Volkswirtschaft wird entscheidend für ihre weiteren Entwicklungsmöglichkeiten. 10 Trotz der Einführung des investitionsinduzierten technischen Fortschritts mittels technical progress function bzw. learning by doing ist sowohl in Kaldors als auch Arrows Ansatz aber nur eine exogene Erklärung der langfristigen Wachstumsrate des ProKopf-Einkommens möglich, d.h. der Wert dieser Rate auf dem gleichgewichtigen Wachstumspfad wird durch vom ökonomischen Verhalten unabhängige Parameter bestimmt."
2.3
Ein neues Set stilisierter Fakten: Anforderungen an eine moderne Wachstumstheorie
Die unter theoretischen und empirischen Aspekten unbefriedigenden Ergebnisse des neoklassischen Wachstumsmodells bzw. deren Überwindung bilden den Startpunkt für einen großen Teil der aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet der Wachstumstheorie. Seit 1986 Paul Romers Aufsatz Increasing Returns andLongRun Growth erschienen ist, hat sich innerhalb der neoklassischen Wachstumstheorie eine wahre Flut von Artikeln ergeben, die unter dem Oberbegriff der Neuen bzw. Endogenen Wachstumstheorie zusammengefaßt werden. Ein weiterer Impuls für diese Entwicklung ist eine Rückbesinnung auf die oben angesprochenen
10
"
diesem Begriff subsumiert, so daß die social capability in gewissem Sinne den Charakter einen Catch all-Variable hat. Vgl. hierzu auch Abramovitz (1986) und Seiter (1997). Ein typisches Beispiel für diese Überlegung ist die Situation der westdeutschen Volkswirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Arbeitskräfte hatten eine Reihe an Erfahrungen im Umgang mit Maschinen und Anlagen im Rahmen der Kriegsproduktion gewonnen. Auch wenn der Kapitalstock der jungen Bundesrepublik Deutschland anderen Zwecken diente als in den Kriegsjahren, konnten sie von ihrem durch learning by doing entstandenen Wissen profitieren und wiesen eine hohe Produktivität auf. So sind dies in Kaldors Ansatz die Parameter der technical progress function und in Arrows Modell die unterstellten Lerneffekte bzw. deren Produktivitätswirkungen. Diese Aussage gilt für Kaldors Überlegungen aber nur, falls die Unabhängigkeit des technical dynamism, der über die Lage der technical progress function entscheidet, von der Investitionstätigkeit angenommen wird.
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Aufgaben der Wirtschaftswissenschaften, eine Erklärung des Wirtschaftsprozesses zu liefern. Um diesem Anspruch in besserer Art und Weise gerecht zu werden als es bis dahin dem neoklassischen Ansatz gelang, versuchen die aktuellen Ansätze ebenfalls stilisierte Fakten abzubilden. In Ergänzung und Modifikation zu Kaldors Katalog werden von Romer (1994) folgende Charakteristika wirtschaftlichen Wachstums in modernen Volkswirtschaften angeführt: 1. Marktwirtschaften sind durch eine große Zahl an Unternehmen gekennzeichnet, 2. Ergebnisse von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten können von mehreren Personen gleichzeitig eingesetzt werden, 3. physische Aktivitäten können dupliziert werden, 4. technologischer Fortschritt ist das Resultat einer aktiven Handlung, 5. viele Individuen und Unternehmen haben Marktmacht und erhalten Monopolrenten aufgrund erfolgreicher Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten. 12 Faktum (1) wird der Tatsache gerecht, daß Marktwirtschaften nicht durch die Dominanz von einzelnen Unternehmen bzw. Konglomeraten von Unternehmen gekennzeichnet sind. Hierauf aufbauend läßt sich die Annahme repräsentativer Wirtschaftssubjekte (Individuen, Unternehmen) rechtfertigen. Faktum (2) erfaßt eine wichtige Eigenschaft des Produktionsfaktors Wissen, den andere materielle Inputs nicht besitzen. Im Gegensatz zu physischem Kapital oder Arbeitskraft kann Wissen in mehreren Produktionsprozessen gleichzeitig zur Anwendung kommen. So werden beispielsweise in der Automobilproduktion in den Werken der verschiedenen Hersteller zur selben Zeit das Wissen über die Prinzipien der Fließbandproduktion eingesetzt. Die Produktion bei Hersteller A wird dabei nicht durch die Tatsache beeinflußt, daß dasselbe Know How bei Hersteller Β verwendet wird. Die Nutzung von Wissen rivalisiert nicht. Wissen besitzt die Eigenschaften eines öffentlichen Gutes.13 Die Möglichkeit, physische Produktionsverfahren duplizieren zu können, kann in der Realität ebenfalls beobachtet werden. Zwei identische Produktionsverfahren werden bei denselben Einsatzmengen von
12 13
Vgl. Romer (1994), S. 12-13. Unter Konkurrenzgesichtspunkten ist fur die Hersteller von Fahrzeugen durchaus relevant, über welches Wissen die Konkurrenz verfügt. Dennoch wird die technologische Effizienz der Wissensverwendung nicht durch die gleichzeitige Nutzung beeinflußt.
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Arbeit und Sachkapital dieselben Produktionsmengen ergeben. Mit Hilfe der Annahme konstanter Skalenerträge bzgl. der materiellen Produktionsfaktoren kann Faktum (3) in ein Wachstumsmodell integriert werden. Die Überlegung, daß technischer Fortschritt die Folge intentionalen Handelns ist, stellt eine wichtige Erweiterung gegenüber dem ursprünglichen neoklassischen Ansatz bzw. den Vorschlägen von Arrow und Kaldor dar. Während im ersten Fall die Produktivitätsfortschritte noch exogen gegeben sind, d.h. wie Manna vom Himmel fallen, sind im zweiten Fall Investitionen notwendig. Durch die Akkumulation von Sachkapital kommt es zwar zu einer Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität, doch handelt es sich weiterhin um ein nicht intendiertes Ergebnis. Es läßt sich nicht leugnen, daß ein gewisser Teil des neu entstehenden Wissens ein Kuppelprodukt anderer Tätigkeiten darstellt, doch kann davon ausgegangen werden, daß ein Großteil des technologischen Fortschritts aktive Suchprozesse voraussetzt.14 Faktum (4) stellt damit ein durchaus wichtiges Element bei der wachstumstheoretischen Analyse dar. Faktum (5) wiederum berücksichtigt die Folgen eines erfolgreichen Suchprozesses. Wenn Unternehmen oder Individuen die Ausdehnung des Wissensbestandes gelingt, können sie diesen Erfolg zumindest temporär in Monopolrenten umsetzen und ihre Marktmacht ausnutzen. Trotz dieses ambitionierten Katalogs von Anforderungen an aktuelle Wachstumsmodelle läßt sich schon an dieser Stelle festhalten, daß nur die Abbildung eines Teils dieser Fakten gelungen ist. Primär steht bei der Neuen Wachstumstheorie die endogene Bestimmung der gleichgewichtigen Wachstumsrate im Vordergrund. Welche Möglichkeiten hierzu gefunden wurden, wird im folgenden Abschnitt skizziert.
3
Neuere Entwicklungen in der Wachstumstheorie
3.1
Gründe für endogenes Wachstum
Innerhalb des neoklassischen Wachstumsmodells paßt sich, wie gezeigt, die tatsächliche Wachstumsrate ohne äußere Eingriffe an das Niveau der natürlichen an, welche eine Grenze für die mögliche Entwicklung der Ökonomie darstellt. Eine zentrale Ursache für dieses Resultat ist die (angenommene) Existenz sinkender Grenzerträge der Kapitalbildung. Mit steigendem Kapitaleinsatz pro Kopf nimmt der Anreiz zu weiteren Investitionen mehr und mehr ab, bis schließlich das
14
Vgl. auch Herdzina (1981), S. 69f.
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gleichgewichtige Niveau aller Absolutgrößen erreicht ist. Der Steady-StateWachstumspfad ist durch die Konstanz des Kapitaleinsatzes pro Arbeitskraft gekennzeichnet. Auch die Erweiterungen bzw. Modifikationen von Kaldor und Arrow können an diesem Resultat nichts ändern, da in beiden Fällen abnehmende oder zu geringe "Grenzerträge" der Investitionstätigkeit vorliegen. Von Arrow wird in der verwendeten Produktionsfunktion eine negativ geneigte Grenzproduktivitätsfunktion angenommen. Die investitionsinduzierten Produktivitätsfortschritte fuhren in diesem Fall zwar insgesamt zu steigenden Skalenerträgen in der Produktion, doch sind sie zu gering, um einen dauerhaften Investitionsanreiz zu bieten, damit die Investitionen pro Kopf die Kapitalintensität ständig erhöhen.15 Im Ansatz von Kaldor tritt an die Stelle der neoklassischen Produktionsfunktion die technical progress function, doch weist diese im linearen Fall eine Steigung kleiner als eins bzw. im nicht-linearen Fall eine fallende Steigung auf. Die erste Annahme bedeutet, daß die Wirkungen der Investitionstätigkeit auf das Produktivitätswachstum unterproportional sind, die zweite Annahme impliziert, daß die induzierten Produktivitätszuwächse bei zunehmender Kapitalbildung rückläufig sind. In beiden Fällen wird ein Punkt erreicht werden, in dem die Profiterwartungen der Unternehmen erfüllt sind und das Steady-State-Wachstum erreicht wird. Der oben angesprochene Harrod-neutrale technische Fortschritt wiederum ist Mittel zum Zweck, die abnehmende Grenzproduktivität des Kapitals zu überwinden. Ein Blick auf die Pro-Kopf-Produktionsfunktion offenbart, daß durch eine Zunahme der Kapitalintensität auch ein höheres Einkommen pro Kopf und damit dauerhaft Wachstum erreicht werden kann. Der technische Fortschritt gibt einen Anreiz, ständig den Kapitaleinsatz pro Kopf auszudehnen. Die beim Harrodneutralen technischen Fortschritt angenommene steigende Effizienz der Arbeitskräfte verschiebt die Pro-Kopf-Produktionsfunktion von Periode zu Periode nach oben. Dies impliziert eine stetige Zunahme der gleichgewichtigen Kapitalintensität. Der capital-deepening-Prozeß kommt dauerhaft zum Tragen. Auch in logischer Zeit kommt der Anpassungsprozeß zu keinem Ende, da durch die Veränderung der Produktionsfunktion ständig neue Rahmenbedingungen entstehen. 16
15 16
Vgl. hierzu z.B. Seiter (1997), Kap. 3. Auch in der Debatte über den Sinn einer europäischen Währungsunion spielte die Frage nach der Grenzproduktivität des Kapitals eine Rolle. Wenn die Einführung einer einheitlichen Währung die Reduktion des Zinsniveaus zur Folge hat, dann werden die Unternehmen mit einer Zunahme der Investitionen reagieren. Liegen nun externe Effekte der Kapitalbildung vor, wird u.U. ein endogener Wachstumsprozeß angeregt. Vgl. DeGrauwe (1997), S. 59ff.
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Die Einführung des exogenen technischen Fortschritts ändert nichts an der Form der Produktionsfunktion, sondern bestimmt deren Lage. Der Investitionsanreiz könnte aber auch durch die Modifikation der Eigenschaften der Produktionsfunktion, d.h. ihres Verlaufs erreicht werden. Wäre die Steigung der Pro-KopfFunktion konstant oder würde sie sogar mit steigendem Kapitaleinsatz zunehmen, gäbe es keine gleichgewichtige Kapitalintensität mehr. Der Output pro Kopf würde mit einer Rate größer als null wachsen, solange die Wachstumsrate des Kapitalstocks größer als diejenige der Arbeitsmenge ist. Besonders deutlich wird die Rolle der Konstanz der Grenzerträge anhand des sog. AK-Modells, in dem als einziger Produktionsfaktor Kapital (K) angenommen wird, der eine Produktionselastizität von 1 aufweisen soll, und (A) für das vorhandene technologische Wissen steht: 17 (F.l) Y = AK Dies impliziert ein konstantes Grenzprodukt und eine konstante Kapitalproduktivität bzw. die Konstanz des Kapitalkoeffizienten: (F.2)
« I - I - A 5K Κ
In Pro-Kopf-Größen ausgedrückt ergeben sich folgende Zusammenhänge: (F.3) f(k) = Ak
(Pro-Kopf-Produktionsfunktion)
(F.4) f ' ( k ) = A
(Grenzproduktivität des Kapitals)
(F.5)
f(k) -=A k
(Durchschnittsproduktivität des Kapitals)
Setzt man diese Ergebnisse in die allgemeine Gleichung für die Wachstumsrate der Kapitalintensität ein, ist diese durch (F.6) bestimmt: 18 (F.6) — = sA - η k
17
18
Für einen Überblick siehe z.B. Barro/Sala-i-Martin (1995). Das AK-Modell hat viel Kritik erfahren (z.B. von Kurz 1997) aber dennoch dient es zur Veranschaulichung der Grundidee der Neuen Wachstumstheorie. Hierbei steht (s) für die Sparquote und (n) für die Wachstumsrate der Arbeitsbevölkerung.
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bzw. fur die absolute Veränderung der Kapitalintensität gilt (F.7) k = sAk - nk Die Kapitalintensität wird zunehmen, solange das capital-deepening (sAk) das capital-widening (nk) übertrifft. Da die Grenzproduktivität des Kapitals nicht abnimmt, wird diese Bedingung dauerhaft erfüllt sein, wenn sAk>nk ist. Die Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens beträgt in diesem Falle: (F.8) — = sA - η y Rein formal stellt die Forderung nach Konstanz der Grenzproduktivität des Kapitals keine Schwierigkeit dar. Zu erklären ist, wie diese letztendlich gerechtfertigt werden kann. Eine Möglichkeit ist die Anwendung eines sehr umfassenden Kapitalbegriffs, der nicht nur die Wirkungen des Sachkapitalstocks, sondern auch Humankapitalüberlegungen berücksichtigt. Sinkende Grenzerträge könnten z.B. durch induzierte Lerneffekte beim Humankapital kompensiert werden. Die Überlegungen von Arrow bzw. Kaldor finden somit Anwendung. Zentrale Beiträge in dieser Richtung stellen z.B. die Aufsätze von Romer (1986), Rebelo (1991) oder Jones/Manuelli (1990) dar. Bezieht man das gesamtwirtschaftliche Know how als Produktionsfaktor mit in die Betrachtung ein, dann läßt sich ein konstantes Grenzprodukt mit Hilfe externer Effekte der Wissensgenerierung rechtfertigen. Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren, können sich das Wissen, das durch diese Aktivitäten entsteht, nicht vollständig aneignen. Vielmehr sind andere Unternehmen in der Lage, davon zu profitieren, ohne selbst aktiv in der Forschung tätig zu werden. So kann durchaus angenommen werden, daß auf einzelwirtschaftlicher Ebene das Wissen abnehmende Grenzerträge aufweist, weshalb weiterhin die Grenzproduktivitätsentlohnung der Produktionsfaktoren unterstellt werden kann. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene jedoch externe Effekte vorliegen, die konstante bzw. steigende Skalenerträge zur Folge haben. Innerhalb der Neuen Wachstumstheorie haben sich weitere Wege zur Rechtfertigung von konstanten Grenzerträgen herausgebildet. So wurde neben der Konzentration auf einen einzigen akkumulierbaren Produktionsfaktor die Anzahl der Inputs erhöht, wobei die akkumulierbaren Faktoren in der Summe eine Produktionselastizität größer als eins aufweisen müssen. Der hohe Aggregationsgrad des AK-Modells im Hinblick auf den Kapitalbegriff wird damit verlassen und z.B. explizit zwischen Sach- und Humankapitalstock unterschieden. Insbesondere die Rolle des Humankapitals hat in diesem Zusammenhang einiges Interesse erfahren, da es Eigenschaften aufweist, die die Existenz von konstanten
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Grenzerträgen rechtfertigen. 19 Sowohl beim Einsatz des Humankapitals in der Produktion von Gütern als auch bei dessen Schaffung kann die Existenz konstanter Grenzproduktivitäten gerechtfertigt werden. Denkbar sind z.B. externe Effekte des individuellen Humankapitaleinsatzes auf die Effizienz des Humankapitals anderer Wirtschaftssubjekte, weshalb die durchschnittliche Humankapitalmenge eine zentrale Rolle für den Wachstumsprozeß spielt. Darüber hinaus können auch Annahmen über die Wirksamkeit des Bildungssystems getroffen werden, die ebenfalls eine Aufrechterhaltung des Investitionsanreizes bedingen können. Maßgeblich ist hierbei, wie sich der vorhandene Bestand an Humankapital auf die Schaffung neuen Humankapitals auswirkt, d.h. welchen Wert dessen Produktionselastizität in der Akkumulationsfunktion für neues Humankapital annimmt. Selbstverständlich gilt auch hier das zuvor gesagte: Es muß ein konstantes Grenzprodukt vorliegen, d.h. die Produktionselastizität muß sich auf eins belaufen, damit endogenes Wachstum entstehen kann. 20 Von der Überlegung, Humankapital in die Produktionsfunktion aufzunehmen bzw. eine Akkumulationsfunktion für diesen Faktor zu beschreiben, ist es nur ein kleiner Schritt zur nächsten Gruppe von Modellen, die sich mit der expliziten Berücksichtigung von Produktinnovationen beschäftigen. Anknüpfungspunkt ist Faktum (4), wonach Innovationen nicht wie Manna vom Himmel fallen. Auch wenn viele Forschungs- und Entwicklungsergebnisse eher zufallig entstehen, sind sie doch auf Forschungsanstrengungen zurückzufuhren. Nur wenn Ressourcen für die Suche nach neuen Erkenntnissen eingesetzt werden, können diese auch entstehen. Es muß sich dabei nicht immer um finanzielle Aufwendungen handeln, sondern auch die Zeit, die nicht für die Produktion von Konsumgütern eingesetzt wird, ist hierbei zu beachten. Innerhalb der Literatur zur Neuen Wachstumstheorie sind in diesem Zusammenhang vor allem die Überlegungen von Schumpeter ( 1934) zum Prozeß der schöpferischen Zerstörung zu nennen, die z.B. von Romer (1990), Grossman/Helpman (1991) oder Aghion/Howitt (1992, 1998) aufgegriffen wurden. Wenn es einem Unternehmen gelingt, neue Produkte oder Prozesse zu entwickeln, dann besteht zumindest temporär die Möglichkeit zur Ausschöpfung von Monopolgewinnen. Die Extraprofite stellen den Anreiz für die Unternehmen dar, überhaupt in risikoreiche Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zu investieren. Selbstverständlich müssen dabei die potentiellen Erträge des Ressourceneinsatzes und die entstehenden Kosten miteinander verglichen werden. Solange die zu erwartenden Profite über den Kosten liegen, werden Unternehmen in die Generierung neuer Ideen und Produkte investieren. Der Erfolg der innova-
19 20
Wichtige Beispiele sind Lucas (1988) und Becker/Murphy/Tamura (1990). Vgl. z.B. Lucas (1988).
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tiven Unternehmen wird Nachahmer anlocken, was zu weiteren Wachstumsimpulsen fuhrt. Endogenes Wachstum verlangt auch hier die Aufrechterhaltung des Investitionsanreizes. Vergleichbar mit den Modellen, die eine gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion in die Analyse aufnehmen, bedeutet dies in den schumpeterianischen Ansätzen der Neuen Wachstumstheorie, daß die Grenzproduktivität des bzw. der akkumulierbaren Faktoren konstant sein muß. Je mehr Wissen über die Zeit angehäuft wurde, um so einfacher fällt die Entwicklung neuer Produkte. Ausdruck des akkumulierten Wissens ist die Zahl der entwickelten Produkte 21 bzw. Produktionsprozesse 22 oder die Qualitätsstufen 23 eines einzelnen Produktes. Je mehr Erfindungen vorhanden sind, um so effizienter werden die Forschungsund Entwicklungsaktivitäten. Diese Annahme impliziert die Existenz intertemporaler Effekte der Wissensgenerierung. Neben diesem positiven externen Effekt der individuellen Investitionstätigkeit bieten die Modelle einen weiteren interessanten Einblick. Der Begriff der schöpferischen Zerstörung weist daraufhin, daß Wachstum nicht nur Positives schafft, sondern auch negative Folgen haben kann. Im Zusammenhang mit Forschung und Entwicklung bedeutet dies eine Janusköpfigkeit von Erfindungen. Erfolgreiche Innovatoren schaffen auf der einen Seite neue Produkte und damit verbunden z.B. neuen Nutzen fur die Konsumenten. Auf der anderen Seite aber zerstören sie den Markt bzw. die Extraprofite der bisherigen Anbieter. Im modelltheoretischen Kontext kann nun eine Nullwachstumsfalle auftreten, wenn die Unternehmen den raschen Verlust ihres Monopols erwarten. Eine solches Hemmnis kann sich vor allem bei hohen erwarteten Investitionen der nachfolgenden Generationen in Forschung und Entwicklung ergeben. Je mehr Ressourcen in Forschung und Entwicklung in der Zukunft eingesetzt werden, desto wahrscheinlicher wird die Entwicklung eines neuen Produkts oder eines Produktionsprozesses. Dadurch verkürzt sich jedoch der Zeitraum, in dem der bisherige Monopolist seinen Preissetzungsspielraum ausnutzen kann. Die Erwartung einer potentiell erfolgreichen Forschungsinvestition morgen kann heute wachstumshemmende Konsequenzen haben. Verfestigt sich eine solche Haltung, kann das System stagnieren, da keinerlei Forschung und Entwicklung mehr betrieben wird.
21 22 23
Z.B. Grossman/Helpman (1991), Kap. 2. Z.B. Romer (1990). Aghion/Howitt ( 1992), Grossman/Helpman ( 1991 ) Kap. 3.
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3.2
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Neue Wachstumstheorie: Vielfalt oder Eintönigkeit?
Aufgrund der vielen Varianten der Neuen Wachstumstheorie scheint es eine Fülle von Möglichkeiten zur Generierung endogenen Wachstums zu geben. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch eine Gemeinsamkeit, die gleichzeitig die Grenzen dieser Ansätze offenbart. In den skizzierten Modellen entsteht endogenes Wachstum stets durch die Zunahme der Kapitalintensität, wobei sich die Ansätze auf unterschiedliche Kapitalarten konzentrieren. Unabhängig davon, ob nun von Humankapital, Sachkapital oder Wissen die Rede ist, der Motor des Pro-KopfWachstums ist in der dauerhaften Akkumulation eines Produktionsfaktors zu suchen. Trotz der Unterschiede zwischen diesen "Kapital"-Formen im Hinblick auf ihre ökonomischen Eigenschaften haben sie innerhalb der Modellstruktur dieselbe Aufgabe. Ihre Grenzerträge müssen konstant sein bzw. dürfen nicht unter ein bestimmtes Maß fallen, damit ein dauerhafter Anreiz zum capital-deepening besteht. Durch diese Vorgehensweise wurde zumindest ein kleiner Schritt getan, um die von Kaldor vorgebrachte Kritik der Untrennbarkeit von technischem Fortschritt und Investitionstätigkeit zu überwinden. Die großen Unterschiede zwischen den Modellen sind deshalb bei der Art und Weise zu suchen, wie die Kapitalbildung bzw. die Existenz der notwendigen Externalitäten erklärt werden. In der Vielfalt der verschiedenen Erklärungsversuche liegt ein großer Vorteil der Neuen Wachstumstheorie. Besonders hervorzuheben sind hierbei vor allem die auf den Überlegungen von Schumpeter basierenden Ansätze, bei denen einerseits Faktum (3) des Romerschen Katalogs Rechnung getragen wird, wonach technischer Fortschritt das Ergebnis intentionalen Handelns ist, und andererseits die Möglichkeit zu temporären Monopolgewinnen eingeräumt wird. Sie werden dadurch der Forderung der Integration des Erkenntnisund Inventionsprozesses mehr gerecht als die anderen Ansätze der Neuen Wachstumstheorie. 24 Der Versuch, die verschiedenen stilisierten Fakten zu erklären und die daraus resultierende Abhängigkeit der langfristigen Wachstumsrate von der Spar- bzw. Investitionstätigkeit legt die Frage nach den wirtschaftspolitischen Konsequenzen der neueren Entwicklungen in der Wachstumstheorie nahe. So ist z.B. die Betonung wachstumsrelevanter Faktoren wie Aus- und Weiterbildung bzw. Forschung und Entwicklung gerade in Zeiten eines großen Reformbedarfs bzw. langjähriger Einsparungen im Bildungssystem besonders wichtig. Die Probleme im staatlich finanzierten Bildungssystem der USA und die in der Bundesrepublik Deutschland im Frühjahr 2000 geführte Debatte über den Mangel an qualifizierten Fach- und
24
Vgl. zu dieser Forderung Herdzina (1981), S. 69fF.
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Führungskräften auf dem Gebiet der Informationstechnologie sind anschauliche Belege fur die Relevanz dieser Ansätze. Darüber hinaus zeigt die Diskussion über die Wachstums- und industriepolitischen Implikationen der neueren Modelle, daß die theoretischen Ergebnisse auch Einzug in den wirtschaftspolitischen Diskurs gefunden haben. 25 Gerade aber bei der Frage nach der empirischen Relevanz der aktuellen Wachstumsmodelle kann die Annahme konstanter bzw. steigender Grenzerträge des Kapitals einen Wermutstropfen beinhalten, der vor allem von Wirtschaftswissenschaftlern zu beachten ist. Würde die Grenzproduktivität des Kapitals mit steigendem Kapitaleinsatz zunehmen, dann könnte dies unter Umständen zur Abschaffung der Ökonomen-Zunft fuhren. Eine ständig zunehmende Effizienz des Kapitaleinsatzes ermöglicht es, in endlicher Zeit einen unendlich hohen Output zu erzielen. M.a.W. die Knappheit der Güter wäre überwunden. Die Profession, die sich mit der Überwindung bzw. Verwaltung knapper Ressourcen befaßt, sprich die Ökonomen, wären überflüssig. 26 Um diese Bedrohung fur den eigenen Berufsstand zu vermeiden und dennoch endogenes Wachstum zu generieren, muß ein konstantes Grenzprodukt des Kapitals angenommen werden. Ob dies in der Realität zutrifft, muß die empirische Überprüfung zeigen. Ein entscheidender Fortschritt der Neuen Wachstumstheorie ist die Tatsache, daß durch die Annahme der intertemporalen externen Effekte das Ergebnis für das sich einstellende Wachstumsgleichgewicht pfadabhängig wird. 27 Investitionsentscheidungen, die von Unternehmen unter den jeweils aktuellen Bedingungen getroffen wurden, haben langfristige Konsequenzen. Der aktuelle Zustand einer Volkswirtschaft kann nicht losgelöst von deren zurückliegender Entwicklung gesehen werden. Aber auch innerhalb des neoklassischen Standardmodells könnte man geneigt sein, Pfadabhängigkeit der Steady-State-Lösung zu vermuten, da die Wirtschaftssubjekte mittels ihrer Sparentscheidung festlegen, welchen Wachstumspfad sie erreichen möchten. Im Gegensatz zu den Ergebnissen der Neuen Wachstumstheorie können diese Entscheidungen umgekehrt werden. Eine Veränderung der Sparquote fuhrt zu einem neuen Wachstumsgleichgewicht, das keinen Bezug mehr zum ursprünglichen hat. In den neueren Ansätzen wird dagegen das durch Investitionen in der Vergangenheit entstandene Wissen durch die Entscheidung, in Zukunft mehr oder weniger zu investieren nicht direkt berührt. Es besteht zwar die Möglichkeit, daß das angehäufte Wissen aufgrund neuer Erkenntnisse
25
26 27
Vgl. zu den Wachstums- und industriepolitischen Implikationen der Neuen Wachstumstheorie z.B. Erber/Hagemann/Seiter ( 1998). Vgl. Solow (1994), S. 50 und Seiter (1997), S. 154ff. Vgl. zum Konzept der Pfadabhängigkeit z.B. Arthur (1994).
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obsolet wird, dies ist jedoch nichts anderes als reguläre Abschreibungen auf Sachkapital. Die aktuellen Modelle der neoklassisch geprägten Wachstumstheorie weisen somit einige Fortschritte gegenüber den Ansätzen der 1950er und 1960er Jahre auf, die sie nicht nur unter wirtschaftstheoretischen, sondern auch wirtschaftspolitischen Aspekten interessant erscheinen lassen. Die zu Erreichung des Ziels der Erklärung endogenen Wachstums getroffenen Annahmen sind mit Vorsicht zu betrachten und bedürfen weiterer empirischer Überprüfimg. Des weiteren weisen viele der Modelle einen Mangel auf, der auch schon die traditionellen neoklassischen Ansätze gekennzeichnet hat und Gegenstand des nächsten Abschnitts ist.
3.3
Wieviel Output ist möglich? Potential und Realisierung
Trotz zahlreicher Modifikationen des neoklassischen Wachstumsmodells Solowscher Prägung weisen die aktuellen Ansätze eine Eigenschaft auf, die sich auch in der traditionellen Vorgehensweise findet. In allen Fällen handelt es sich um ein Vollbeschäftigungsmodell, bei dem annahmegemäß Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage identisch sind bzw. die Vollauslastung der vorhandenen Ressourcen gewährleistet ist. Die Wirtschaftssubjekte optimieren den Einsatz aller Ressourcen, so daß sich die Volkswirtschaft auf der Produktionsmöglichkeitenkurve befindet. Es ergeben sich des weiteren keinerlei Schwierigkeiten, die maximal mögliche Produktionsfunktion zu erreichen, die durch den neusten Stand des technologischen Wissens bestimmt ist. Unterscheidet man mit Herdzina (1981) drei Arten von Produktionsfunktionen entsprechend der möglichen Produktionsmengen, offenbart sich bei der Neuen Wachstumstheorie die Vernachlässigung einer Reihe von Fragestellungen, die für eine adäquate Erklärung von Wachstumsprozessen zu beachten sind. Wenn wirtschaftliches Wachstum unter Verwendung einer Produktionsfunktion analysiert werden soll, dann lassen sich drei Produktionsfunktionen trennen. Typ 1, die sog. "TW-Produktionsfunktion" gibt an, welche Produktionsmengen erreicht werden können, wenn das vorhandene technologische Wissen in der Produktion eingesetzt wird. Die Realisierung dieser Produktionsprozesse verlangt jedoch die vollständige Diffusion der Erfindungen in der Ökonomie, so daß alle Unternehmen die bestmöglichen Prozesse realisieren können, wenn sie den Einsatz der Inputfaktoren Arbeit und Kapital optimieren. Dies schließt neben einer friktionslosen Durchdringung der Volkswirtschaft mit den neusten technologischen Erkenntnissen einen ebenso komplikationsfreien Forschungs- und Entwicklungsprozeß ein. Der so definierte Output stellt das Maximum dar, das erreicht werden kann.
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Im allgemeinen werden Forschungs und Entwicklungsaktivitäten immer mit Friktionen verbunden sein. Die Schaffung neuen Wissens stellt einen Produktionsprozeß dar, der nur in Ausnahmefällen, wenn überhaupt, idealtypisch abläuft. Für die tatsächlich möglichen Produktionsmengen wiederum ist aber nicht nur das theoretisch maximal mögliche Niveau entscheidend, sondern auch die Frage, inwieweit das vorhandene Wissen letztendlich Eingang in die Produktionsabläufe findet. Der Stand des angewandten Wissens kann in großem Ausmaß vom verfügbaren Wissen abweichen. Eine Produktionsfunktion vom Typ 2, die "TA-Produktionsfunktion" gibt den Output an, der bei optimaler Verwendung der Inputfaktoren Arbeit und Kapital unter Einsatz des angewandten Wissens möglich ist. Die Gründe für das Auseinanderfallen der TA-Produktionsfunktion und der TW-Produktionsfunktion können in der unvollständigen Verbreitung des neuen Wissens, d.h. beim Lernen und der Informationsübermittlung, und/oder bei Innovations- sowie Diffusionsprozessen liegen, die die Anwendung des theoretisch verfugbaren Wissens in der gesamtwirtschaftlichen Produktion verhindern.28 Das sog. Solow-Paradoxon, das im Zusammenhang mit der Entwicklung der Informationsgesellschaft immer wieder angeführt wird, ist ein gutes Beispiel für dieses Phänomen. Im allgemeinen wird angenommen, daß die neuen Informations· und Kommunikationstechnologien (IKT) große Produktivitätsfortschritte ermöglichen, da sie die Effizienz der Faktorinputs erhöhen können. Interessanterweise waren in den USA bis Mitte der 1990er Jahre nur geringe Produktivitätsfortschritte zu verzeichnen, obwohl gemeinhin Einigkeit über die Führungsposition der USA bei der Anwendung von IKT besteht. Diese Entwicklung veranlaßte Solow (1987) zur Feststellung "You can see the computer age everywhere but in the productivity statistics."29 Die in der Literatur angeführte Liste der Ursachen für das Solow-Paradoxon ist sehr lang. Neben der mehr technischen und sehr einleuchtenden These, daß der bisherige Anteil der IKT am gesamtwirtschaftlichen Kapitalstock aufgrund der erst kurzen Verfügbarkeit und der hohen Abschreibungsrate bei diesen Technologien noch sehr gering ist und deshalb nur ein marginaler Beitrag zum gesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstums erwartet werden kann, wird eine Reihe von Argumenten diskutiert, die sich auf die angesprochene dämpfende Wirkung von mangelhaften Lern- und Informations- und
28 29
Vgl. Herdzina (1981), S. 88ff. Solow (1987), S. 36.
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Diffusionsprozessen beziehen. 30 Der Einsatz neuer technologischer Möglichkeiten erfordert in vielen Fällen, so auch bei den IKT, Investitionsprozesse, die sich jedoch nicht ausschließlich auf die Anschaffung von Sachkapital beschränken dürfen. Um die vorhandenen Produktivitätspotentiale ausnutzen zu können, sind darüber hinaus große Anstrengungen zur Schaffung eines komplementären Humankapitalbestandes und die Reorganisation der Unternehmensstrukturen nötig. Sowohl die Aus- und Weiterbildung der Arbeitskräfte als auch die Veränderung der Abläufe innerhalb von Unternehmen sind jedoch zeit- und kostenintensiv. Hierdurch stellen sich Produktivitätszuwächse erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung ein. Da die IKT fast alle Bereiche des wirtschaftlichen Handelns berühren, tritt dieses Problem bei der aktuellen Entwicklung stärker als bislang auf. Die letztendlich tatsächlich realisierte Produktionsmenge wird von weiteren Variablen bestimmt. Die sich aus der TA-Produktionsfunktion ergebenen Outputmengen stellen nur ein Produktionspotential dar, das nicht automatisch auch ausgenutzt wird. Nur wenn Vollbeschäftigung aller Produktionsfaktoren erreicht wird, wird dies der Fall sein.31 Liegen jedoch unterausgelastete Kapazitäten vor, wird die realisierte gesamtwirtschaftliche Produktion unterhalb der möglichen liegen und durch die "TU-Produktionsfunktion" bestimmt. Die konjunkturelle Situation resultiert in einer Abweichung des tatsächlichen Produktionsniveaus von dem durch den Trend des Produktionspotentials bestimmten Niveau. In diesem Zusammenhang spielt selbstverständlich die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage eine herausragende Rolle. Nur wenn diese ausreichend groß ist und das potentielle Angebot ausschöpft, ist die TA-Produktionsfunktion mit der tatsächlichen identisch. Die aktuellen Ansätze der Neuen Wachstumstheorie vernachlässigen nun genau diese Überlegungen. Weder die Frage nach möglichen Differenzen zwischen der TW- und der TA-Produktionsfunktion noch nach konjunkturell bedingten Unterauslastungen des Produktionspotentials werden gestellt oder beantwortet. Gerade aber wenn man die in der Neuen Wachstumstheorie angeführten Erklärungen für endogenes Wachstum betrachtet, wäre die Integration dieser Aspekte von Interesse. Sobald intertemporale externe Effekte unterstellt werden, kommt Entscheidungen, die durch die kurzfristige konjunkturell bedingte Situation beeinflußt werden, eine große Relevanz zu. Bleibt z.B. aufgrund eines Nachfragerückgangs
30
31
Vgl. zur These über den noch geringen Anteil der IKT am gesamtwirtschaftlichen Kapitalstock Sichel (1997). Eine kurzen Überblick über die verschiedenen Argumente zum Solow-Paradoxon sowie weitere Literaturhinweise geben Erber/Hagemann/Seiter (2000). Implizit wird unterstellt, daß es auch innerhalb der Unternehmen zu keinen Ineffizienzen beim Mitteleinsatz kommt.
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die Investitionstätigkeit der Unternehmen aus oder führen rückläufige Profite zu einer Einsparung von Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, wird dies langfristig nicht nur Konsequenzen für das einzelne Unternehmen haben, sondern aufgrund des Ausbleibens der Wissensexternalitäten auch den Wachstumspfad der gesamten Ökonomie berühren. Die verschiedenen Typen von Produktionsfunktionen sind deshalb nicht unabhängig voneinander, sondern bilden ein interdependentes System.
4
Schlußbemerkungen
Betrachtet man die Entwicklung der Wachstumstheorie seit Mitte der 1980er Jahre, können einige Neuerungen festgestellt werden, bzw. sind lange Zeit vernachlässigte Aspekte wirtschaftlichen Wachstums wieder vermehrt in den Mittelpunkt des Interesses der Ökonomen gerückt. Hervorzuheben ist insbesondere die starke Rolle der Investitionstätigkeit zur Erklärung endogenen Wachstums. Gründe für das gestiegene Interesse an diesen Fragestellungen sind sowohl in den unter theoretischen und empirischen Gesichtspunkten unbefriedigenden Ergebnissen der traditionellen Modelle als auch den seit den frühen 1970er Jahren niedrigen Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität und des Sozialprodukts in den industrialisierten Volkswirtschaft zu finden. Dennoch bleibt festzuhalten, daß vieles von dem, was schon vor Aufkommen der Neuen Wachstumstheorie an Kritikpunkten gegenüber den neoklassisch geprägten Wachstumsmodellen vorgebracht wurde, auch heute noch Gültigkeit hat. Die weitgehende Ausblendung von Fragen zur Diffusion neuer Technologien bzw. der Rolle konjunktureller Phänomene verhindert eine letztendlich konsistente Erklärung von Wachstumsprozessen. 32 Entsprechendes gilt für die Vernachlässigung struktureller Aspekte. Wachstum und Strukturwandel sind eng miteinander verknüpft, so daß beide Phänomene nicht unabhängig voneinander zufriedenstellend erklärt werden können. Eine Rückbesinnung auf die Kritikpunkte und Anregungen, wie sie von Herdzina (1981) erarbeitet wurden, würde deshalb der Wachstumstheorie neue Impulse geben und die Entwicklung von Modellen fördern, die mehr zum Verständnis wirtschaftlichen Wachstums als komplexen Prozeß beitragen können als so manches der aktuell weitverbreiteten Modelle, in denen wichtige Aspekte realen Wachstums auf dem Altar der mathematischen Handhabbarkeit geopfert werden.
32
A u f beiden Gebieten, Diffusionstheorie und Konjunkturtheorie, haben sich zwar ebenfalls eine Reihe von Entwicklungen ergeben, doch steht die Integration der verschiedenen Ansätze noch am Anfang.
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Wachstumstheorie
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Wachstumstheorie
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Neoklassisches Wachstum und Evolutorische Ökonomik. Bemerkungen zu einem Paradigmenstreit Helmut Walter
1
Die Hauptlinien der neoklassischen Wachstumstheorie
Das Aufkommen wissenschaftlicher Themen verdankt seine Entstehung und Ausbreitung häufig aktuellen Ereignissen. So auch in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als es im Gefolge des Wiederaufbaus in vielen Industrieländern zu einem beispiellosen Wachstumsprozess kam, der seinerseits einen Boom einschlägiger theoretischer Publikationen zur Folge hatte. Deren Abklingen in den 70er Jahren ist nicht nur in den nachlassenden Wachstumsraten und dem Auftreten neuer Probleme (Ölpreisschocks, steigende Arbeitslosigkeit, Produktivitätsschwäche) zu sehen, sondern auch in einem wachsenden Unbehagen vieler Fachvertreter an der Art und Weise, wie die Fragen des langfristigen Wachstums und der wirtschaftlichen Entwicklung von der Mainstream-Ökonomie angegangen worden sind. Es schmälert wohl kaum die Bedeutung des neoklassischen Grundmodells Solow/Meade'scher Provenienz, wenn man konstatiert, dass es sich inzwischen nahezu überlebt hat. Paradox an dem teilweise verbissen geführten Streit um die traditionelle Wachstumstheorie ist die Tatsache, dass sich Befürworter und Kritiker sowohl über die Verdienste als auch über die Grenzen dieser Theorie im Grundsatz immer einig gewesen sind. Von niemandem nämlich ist bestritten worden, dass sie sich durch eine in der Theoriegeschichte wohl selten erreichte formale Geschlossenheit und logische Konsistenz auszeichnet, zugleich aber auf sehr unrealistischen Annahmen beruht. Darüber hinaus geben ihre Ergebnisse die stilisierten Fakten des langfristigen Entwicklungsprozesses in hochentwickelten Volkswirtschaften wieder, z.B. die langfristigen Zeitreihen der -
steigenden Arbeitsproduktivität bzw. des Pro-Kopf-Sozialprodukts und damit auch des Realeinkommens,
-
steigenden Kapitalintensität (Kapitalstock pro Beschäftigten),
-
Konstanz des Kapitalkoeffizienten (Kapitaleinsatz pro Output-Einheit), Konstanz der Einkommensverteilung (der sogenannten Lohn- und Profitquote),
-
Konstanz des Realzinssatzes.
Wachstum und evolutorische Ökonomik
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"Konstanz" bedeutet dabei lediglich die Abwesenheit eines langfristig von Null verschiedenen Trends. Nur beiläufig sei erwähnt, dass die genannten stilisierten Fakten nur einen Teil der langfristigen Bewegungsabläufe darstellen, durch die der Wachstumsprozess existierender Volkswirtschaften gekennzeichnet ist. Hinsichtlich einer ganzen Reihe anderer Fakten ist die Trefferquote der neoklassischen Theorie weniger erfreulich. 1 Andererseits ist ebenso unstrittig, dass die genannten Modellimplikationen das Zugeständnis erfordern, die wahrhaft heroischen Annahmen, die ihm zugrunde liegen, zu akzeptieren. Dazu gehören, um nur einige der wichtigsten zu nennen: -
Vollkommene Konkurrenz auf allen (Güter- und Faktor-)Märkten,
-
Faktorentlohnung nach der Grenzproduktivität,
-
Existenz einer die sogenannten Inada-Bedingungen erfüllenden gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion,
-
Harrod-neutraler technischer Fortschritt, der das ertragsgesetzlich eintretende Absinken der Grenz- und Durchschnittsproduktivität des Kapitals bei steigender Kapitalintensität gerade kompensiert und der damit die Aufrechterhaltung der stilisierten Fakten sichert.
Diese Prämissen engen den Erklärungsbereich der Wachstumstheorie nicht nur in methodischer, sondern auch in materiell-inhaltlicher Hinsicht stark ein. Sie konfigurieren Wachstum als einen Prozess, der - neben den exogen vorgegebenen Grössen technischer Fortschritt und Bevölkerungszunahme - weitgehend durch sogenannte Techniken bestimmt wird. Diese sind aber nur eine Metapher für bestimmte effiziente Faktorkombinationen auf der production surface. Die Transformation von Inputs in Output ist ertragsgesetzlich prädeterminiert und wird durch grenzproduktivitätsorientierte Faktorpreise und den entsprechenden Preisvektor für das Universalgut Sozialprodukt gesteuert. Das alles sind Begriffe und Zusammenhänge, die aus der mikroökonomischen, statischen Theorie entlehnt sind, die hier aber auf einen Prozess übertragen werden, der in der Realität durch Niveauschwankungen, ständigen strukturellen Wandel und Innovationen gekennzeichnet ist.2 Wenn nun aber sowohl über die Eindeutigkeit und logische Geschlossenheit des Modells, als auch über den Heroismus und damit die Problematik seiner Prämis-
'
2
Vgl. z.B. Homburg (1995), S. 343ff. Ähnlich auch Smith (1991), S.259f.
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sen im Grunde keine Meinungsverschiedenheiten bestehen, worüber geht dann eigentlich der ganze Streit? Nun, wie meist bei solchen Auseinandersetzungen liegen die Ursachen hierfür tiefer. Letztlich geht es um die angemessene Sichtweise, mit der man an die Konstruktion einer wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Theorie herangehen sollte, eine Frage, über die sich in der Tat endlos streiten lässt und über die später noch einiges zu sagen sein wird. Darüber hinaus handelt es sich aber auch um einen Streit über das, was in diesem Zusammenhang mit wirtschaftlicher Wirklichkeit gemeint ist. Wenn man die oben genannten, sich im langfristigen Entwicklungsprozess industrialisierter Volkswirtschaften herauskristallisierenden stilisierten Fakten und magischen Konstanten als die Realität betrachtet, auf deren Erklärung es letztlich ankommt, dann ist das neoklassische Modell nahezu unangreifbar, denn es hat die Existenz-, Eindeutigkeits- und Stabilitätsbedingungen eines solchen langfristigen Gleichgewichtswachstums (Steady State) in wohl unübertroffener Weise herausgearbeitet und begründet. 3 Für die Kritiker ist der Steady State jedoch nicht die Realität, die es abzubilden gilt, wenn es um die Frage geht, wie tatsächliche Wachstumsprozesse ablaufen. Er ist eher eine Parabel über das Goldene Zeitalter (J. Robinson), ein Bewegungsablauf, der sich zwar denken lässt, der aber praktisch nie eintritt, weil eine Volkswirtschaft - auch und gerade dann, wenn alle Prämissen des Modells erfüllt wären - sich immer nur auf Anpassungspfaden an den Steady State befindet. 4 Dieser Aspekt macht deutlich, warum der an die Vertreter der neoklassischen Orthodoxie gerichtete Vorwurf der mangelnden Realitätsnähe zwar immer wieder erhoben wird, aber dennoch ins Leere geht. Er prallt einfach ab an einer Festung, die auf logische Konsistenz und die Unangreifbarkeit einer Parabel gegründet ist. Man kann darüber streiten, ob die nach dem Ende einer Wachstumstheorie 5 neu entfachte Debatte gegen Ende der 80er Jahre - nunmehr mit dem Etikett Neue Wachstumstheorie versehen - ein Reflex der aktuellen Veränderungen war (u.a. Aufholprozess der sogenannten Schwellenländer, Entwicklung neuer Technologien, Handlungsdruck aufgrund der andauernden unbefriedigenden Arbeitsmarktsituation), oder auch dem Versuch geschuldet ist, den zunehmenden und grundsätzlicher werdenden kritischen Einwänden gegen die Mainstream-Ökonomie Rechnung zu tragen. Die Renaissance der Neuen Wachstumstheorie setzte jedenfalls an einem Punkt an, der auch von den Verfechtern des alten Modelltyps stets als unbefriedigend zugestanden worden war, nämlich an der exogenen Bestim-
3 4
5
Vgl. Walter (1990), S.288f. R. Sato hat gezeigt, dass die Spar-/Investitionsquote über irreal lange Zeiträume hinweg konstant sein müsste, um auch nur eine hinreichende Annäherung des Systems an den Steady State zu erreichen. Vgl. Sato (1963), (1968). So der Titel eines Aufsatzes von Hajo Riese in Kyklos (1971).
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mung der gleichgewichtigen Wachstumsrate. Insbesondere die entscheidende Rolle, die der technische Fortschritt dabei spielte, vertrug sich schlecht mit der Annahme, dieser sei gegeben oder falle einfach wie Manna vom Himmel. Allerdings hatten vorher bereits Kaldor 6 und Arrow 7 erste Ansätze zur Endogenisierung des technischen Fortschritts vorgetragen. In Kaldors Fortschrittsfunktion wird die Wachstumsrate des Pro-Kopf-Outputs als abhängig von der Pro-KopfInvestitionsrate hypostasiert und auf ein Zusammenwirken von investitionsabhängigen Produktivitäts- und Lerneffekten zurückgeführt. Ganz ähnlich postulierte Arrow die kumulierten Brutto-Investitionen als Vehikel und Maß der in einer Volkswirtschaft angesammelten Erfahrung und des Wissens. Investitionen haben also nicht nur einen Einkommens- und Kapazitätseffekt, sondern sie fuhren auch zu steigenden dynamischen Skalenerträgen und erhöhter Produktivität aufgrund von Wissensexternalitäten. Diese ersten Versuche sind in der Neuen Wachstumstheorie aufgegriffen und weitergeführt worden. Sie haben in relativ kurzer Zeit zu einer Flut von Beiträgen geführt, die das Grundthema der Endogenisierung wichtiger Wachstumsdeterminanten mit Hilfe unterschiedlicher, teilweise stark formalisierter Modellvarianten abhandeln. Dabei ist eine Reihe von Fragen aufgegriffen worden, die die traditionelle Wachstumstheorie offen gelassen oder kaum beachtet hat, so u.a. -
die Bedeutung des Humankapitals als weiterer Produktionsfaktor,
-
die Implikation neuen Wissens nach Maßgabe seiner Eigenschaft als frei zugängliches oder personen- bzw. firmengebundenes Gut,
-
der Einbau von Produktinnovationen und von Infrastruktur-Investitionen,
-
die Implikationen unterschiedlicher Marktstrukturmerkmale auch außerhalb der vollständigen Konkurrenz.
Damit hat sich eine beachtliche Ausdifferenzierung von bisher vernachlässigten Einzelaspekten und ihrer modelltheoretischen Implikationen vollzogen. Aber gerade die Vielzahl der unterschiedlichen Bestimmungsgrössen und Einflussfaktoren macht empirische Überprüfungen ihres jeweiligen Einflusses auf tatsächliche Wachstums- und Entwicklungsprozesse fragwürdig, weil "single equation
6 7
Kaldor (1957), (1962). Arrow (1962).
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regressions never can catch the complexity of elaborated and sophisticated new growth models". 8 Die grosse Zahl und thematische Breite der Modelle darf darüber hinaus nicht den Blick darauf verstellen, dass auch die Neue Wachstumstheorie der prinzipiellen Sicht- und Denkweise des neoklassischen Mainstreams verhaftet bleibt. Der Verdacht liegt nahe, "dass das Ziel [...] den Weg bestimmt, d.h. die Annahmen über die Produktionstechnologie werden nicht entsprechend real beobachtbarer Phänomene getroffen, sondern unterliegen dem Diktat des Steady StateGleichgewichts". 9 Erkenntnisziel sind die logisch herleitbaren Implikationen von Ad hoc-Annahmen, von denen angenommen (oder gehofft) werden kann, dass sie das Spektrum denkbarer Möglichkeiten weitgehend abdecken. Auf eine Einzeldarstellung kann - und muss aus Raumgründen - hier verzichtet werden. 10 Als übergreifende Klammer ist die Tatsache anzusehen, dass die Neue Wachstumstheorie den Investitionen in alle denkbaren Formen von Kapital wissens- und produktivitätsgenerierende Effekte zuschreibt und in dieser Hinsicht die Defizite der traditionellen Wachstumstheorie überwunden hat. Da andererseits die bekannten Probleme der Messung des Kapitals bei Ausdifferenzierung seiner unterschiedlichen Erscheinungsformen in Sachkapital, Humankapital und neues Wissen eher zu- als abnehmen, spielen die damit verbundenen externen Effekte in der Neuen Wachstumstheorie eine ähnliche Lückenbüßerrolle wie der exogene technische Fortschritt im alten Solow-Modell. Dies gilt umso mehr, als das Fehlen einer Investitionsfunktion in fast allen Modellen der Neuen Wachstumstheorie bedeutet, dass jene Effekte nur "Begleiterscheinungen der Akkumulation" sind, nicht aber deren Ursache. 11 Damit ergeben sich zwei Fragen: 1. Worauf ist die - hier am Beispiel der Wachstumstheorie exemplifizierte reduktionistische Methodik und mechanistische Denkweise der Neoklassik zurückzuführen und was beinhaltet sie generell? 2. Kann die seit einiger Zeit diskutierte sogenannte evolutorische Ökonomik, die sich - nicht nur, aber vorwiegend - mit Fragen des Wachstums und der Entwicklung von Wirtschaftsgesellschaften befasst, als eine Alternative zum neo-
8
Fagerberg ( 1994), S. 1171, zit. bei Schneider/Ziesemer ( 1995), S. 467. Seiter (1997), S. 140; vgl. auch Nelson (1995), S. 68. Als zusammenfassende Darstellungen siehe z.B. Gahlen/Hesse/Ramser (Hrsg.) (1991); Stolpe (1992); Verspagen (1992); Lessat (1994); Schneider/Ziesemer (1995); Seiter (1997); vgl. auch Walter (1996), S. 38ff. " Siehe Seiter ( 1997), S. 141.
9
10
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klassischen Mainstream und vielleicht sogar als Nukleus für ein neues Paradigma angesehen werden? Diesen beiden Fragen sind die folgenden Anmerkungen gewidmet.
2
Das neoklassische Paradigma
2.1
Einflüsse von außen und grundlegende Sichtweise
Im Bestreben, ihren Aussagen eine ähnliche Stringenz zu verleihen, wie sie den sogenannten harten Wissenschaften zuerkannt wurde, hat die neoklassische Wirtschaftstheorie eine am deterministischen Weltbild der klassischen Mechanik orientierte Methodik entwickelt. So war z.B. für Walras die ökonomische Theorie eine "physico-mathematical science like mechanics or hydrodynamics". 12 Diese Einstellung hat F. Capra mit dem etwas bissigen Kommentar bedacht: "Wann immer Psychologen, Soziologen oder Nationalökonomen wissenschaftlich sein wollten, wandten sie sich ganz natürlich den grundlegenden Begriffen der Physik Newton's zu".13 Die von den nationalökonomischen Klassikern noch eher im metaphorischen Sinne entlehnte Vorstellung einer natürlichen, gesetzmässigen Ordnung des Kosmos wurde im 19. Jahrhundert, ergänzt um die damals modernen Erkenntnisse der physikalischen Energetik14, zu einem Wissenschaftsprogramm verdichtet, in dem die Beziehungen zwischen den ökonomischen Grössen auf lineare Reaktionsmechanismen reduziert wurden. Die Ergebnisse endeten stets im Gravitationszentrum des allgemeinen Gleichgewichts, eine Vorstellung, die in den Naturwissenschaften, aus denen sie übernommen wurde, heute nur noch für wenige (i.d.R. geschlossene) Systeme akzeptiert wird.15 Diese Methodik hat sich, trotz ihrer offensichtlichen Mängel, dennoch als außerordentlich erfolgreich erwiesen. Ihre logische Konsistenz, sowie die zunächst auf 12 13 14
15
Walras (1954), S. 71. Capra (1996a), S. 46. Nach Mirowski beruht die Anlehnung der frühen Neoklassiker an die damalige Physik aber auf Missdeutungen und Verständnismängeln: "If contemporaries had understood what kind of economy the energetics metaphor described, then neoclassicism would have met substantial logical opposition". Mirowski (1984), S. 374. Andererseits konstatiert er, dass "the appropriation of the physical metaphor effectively appropriated credibility for economics as a respected science". (Ebd. S. 373); vgl. auch Lowe (1951), S. 404. "Das 'allgemeine Gleichgewicht' ist eine aus der Physik in der Mitte des 19. Jahrhunderts importierte, mit Formalismen angereicherte Metapher für einen deterministischen Erklärungsansatz, der in der Physik längst zu den Akten gelegt wurde." Schneider (1992), S. 620; ähnlich auch Göbel (1998), S. 27.
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kurze Sicht angelegte und die ökonomischen Mikroeinheiten (Firmen und Haushalte) in den Blick nehmende Betrachtungsweise macht einige grundlegende Zusammenhänge transparent und liefert dafür plausible Erklärungen. Ihre Dominanz als herrschende Sichtweise ist insoweit nicht überraschend. Gelegentlichen frühen Abweichlern, wie etwa J. Schumpeter16 oder T. Vehlen 17 , wurde zwar Beachtung und Respekt gezollt, die methodische Bastion der Orthodoxie haben sie aber nicht zu erschüttern vermocht. Selbst zuweilen als Revolution etikettierte Alternativen, wie etwa der Keynesianismus, konnten den Absorptionskräften der "neoklassischen Synthese" auf Dauer nicht widerstehen. Erstaunlich daran ist weniger die Tatsache, dass eine relativ junge Disziplin dergestalt bemüht war, sich der methodischen Exaktheit älterer Wissenschaften zu befleissigen, sondern dass die Quelle dieses Denkens, insbesondere die klassische Physik, ihren Kurs im Laufe des 19. Jahrhunderts änderte, und zwar hin zu einer mehr organischen, Indeterminiertheiten und Nichtlinearitäten beinhaltenden Perspektive.18 Somit wurde ziemlich genau zu jener Zeit, als Jevons und Walras die Grundlagen der modernen Volkswirtschaftslehre legten, das mechanistische Dogma in den Naturwissenschaften zunehmend in Frage gestellt und sukzessive revidiert. "And the curious fact is that none of the architects of 'the mechanics of utility and self-interest' and even none of the latter-day model builders seem to have been aware at any time of this downfall." 19 Ganz im Gegenteil "hat die enge Verknüpfung der entstehenden neoklassichen Theorie mit den Verständnismodellen der zeitgenössischen Physik mittelfristig dazu gefuhrt, dass die Weiterentwicklung der Naturwissenschaften nicht gleichmässig und fortlaufend in die Wirtschaftstheorie umgesetzt wurde, vielmehr verharrte diese in den gedanklichen Bahnen aus der Entstehungszeit der Neoklassik". 20 In ihr hat das mechanistische Weltbild seine zentrale erkenntnisleitende Funktion nicht nur beibehalten, sondern zum herrschenden Paradigma ausgebaut. Im Ergebnis besagt der "harte Kern" des neoklassischen Formalismus, dass unter den Annahmen
16 17 18 19
20
-
strikter Konvexität der (Nutzen- und Produktions-)Funktionen,
-
konstanter returns to scale,
-
kompetitiver Märkte,
Schumpeter (1912); zu Schumpeter Entwicklungstheorie siehe Herdzina (1981), S. 75ff. Vehlen (1898); siehe hierzu insbesondere Penz (1996). Vgl. Clark/Juma (1988), S. 199. Georgescu-Roegen (1971), S. 2f. Er bezieht sich dabei auf Jevons, welcher hinsichtlich der "mechanics of utility and self-interest" feststellte, dass "economics, if it is to be a science at all, must be a mathematical science." Jevons (1924), S. 3. Hinterberger/Hüther (1993), S. 231.
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-
nutzen- bzw. profitmaximierenden Verhaltens der Akteure, die mit vollständiger Information über alle gegebenen Handlungsalternativen ausgestattet sind,
-
Abwesenheit von Externalitäten
ein Vektor von Gleichgewichtspreisen sowie ein Pareto-optimales allgemeines Gleichgewicht existiert, dem das System auch zustrebt.21 Bei diesem harten Kern handelt es sich aber nicht um ein stilisiertes Erklärungsmuster für reale Ökonomien, sondern allein um das Aufzeigen jener Bedingungen, unter denen als optimal oder effizient zu bezeichnende Ergebnisse resultieren. Insoweit ist die neoklassische Theorie im Kern keine explikative, sondern eine Bedingungstheorie 22 , die aus bestimmten Voraussetzungen logisch konsistente Schlüsse zieht. Allerdings schwingt unterschwellig dabei stets die Überzeugung mit, dass sie imstande sei, jene Bedingungen zu artikulieren, die, wenn sie realisierbar wären, den Zustand der (ökonomischen) Welt verbessern würden. Selbstverständlich ist man über die restriktiven Prämissen des Grundmodells inzwischen weit hinausgekommen. Aber nach wie vor dienen sie vorwiegend der Herausarbeitung jener Bedingungen, unter denen die Existenz und Stabilität partieller und gesamtwirtschaftlicher Gleichgewichte nachgewiesen werden kann. An diesem zentralen Erkenntnisziel der Theorie hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert. Von einer grundlegenden Revision des Paradigmas kann daher kaum gesprochen werden. Einige der damit zusammenhängenden Einzelaspekte sollen im folgenden diskutiert werden.
2.2
Formen des Reduktionismus
Ein immer wieder gegenüber der neoklassischen Theorie erhobener Einwand ist der des Reduktionismus. Üblicherweise wird damit eine Sichtweise bezeichnet, die von linearen Beziehungen zwischen den Variablen ausgeht und daher meint, sämtliche Eigenschaften eines Gesamtsystems aus dem Verhalten seiner Einzelbestandteile ableiten zu können. Im weiteren Sinne wird Reduktionismus auch mit mechanistischer Betrachtungsweise oder ganz einfach mit einer zu weit ge-
21 22
23
Vgl. Hahn (1984), S. Iff. Vgl. Herdzina (1999). Diese Unterscheidung zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Lehrbuch Herdzinas. Er zeigt jedoch, dass die zugrunde gelegten Bedingungen überwiegend nicht erfüllt sind und streng genommen auch nicht erfüllt werden können, so dass der explikative Teil der Mainstream-Ökonomie relativ bescheiden ausfällt. Vgl. auch Schneider (1992), S. 617ff. Vgl. Hsieh/Ye (1991), S. 3ff.
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henden Vereinfachung und Verkürzung der komplexen Realität gleichgesetzt. In diesem letzteren Sinne ist der Vorwurf ambivalent, denn schließlich ist unbestritten, dass bei der Formulierung von Theorien weniger wichtige Einzelheiten vernachlässigt werden müssen. Dabei dürfen jedoch "nur die fur die jeweilige Fragestellung unwesentlichen und nicht etwa wichtige, das Ergebnis der Analyse tangierende Sachverhalte ausgeklammert werden". 4 Das erfordert allerdings ein Gespür dafür, was wesentlich ist und wovon deshalb auch bei höchstem Abstraktionsgrad nicht abgesehen werden darf. Insoweit ist die Frage nicht ganz abwegig, ob die Ökonomie (nur) eine exakte Wissenschaft oder vielleicht (auch) eine Kunst sei. So hat z.B. L. Walras konstatiert, dass "according to Adam Smith's view, the whole of political economy is an art rather than a science".25 Dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit wird allerdings zuweilen auf eine der Smith'schen Tradition eher konträre Weise Rechnung zu tragen versucht: Um einem hohen Formalisierungsstandard zu genügen, wird auf der Grundlage stark vereinfachender und irrealer Annahmen eine Exaktheit der Ergebnisse suggeriert, die die "dahinter stehende" Theorie nicht einzulösen vermag. 26 In diesem Falle sind unsere Abstraktionen nur der Reflex unseres mangelnden Wissens über die Wirklichkeit. Schwerwiegender ist die Reduktion ökonomischen Verhaltens auf ein hedonistisches Menschenbild, dessen zentrale Figur, der homo oeconomicus, mit vollkommener Information ausgestattet ist und deshalb "als eine vollständig bestimmte Menge von alternativen Handlungsmöglichkeiten und eine Bewertungsfunktion" auftritt, womit "beobachtbares menschliches Verhalten als mathematisches Maximierungsproblem beschrieben werden (kann)".27 Das läuft nun allerdings auf eine - auch mit der Notwendigkeit zur Abstraktion kaum noch zu rechtfertigende - Fiktion hinaus. Durch sie wird der Eindruck erweckt, dass von einer Norm, nämlich der des rationalen Handelns, auf ein logisches Ergebnis, nämlich die Existenz konsistenter Gleichgewichtslösungen, geschlossen werden könne. 28 Selbstverständlich ist die Maximierungshypothese als spezielle Modellprämisse legitim, "provided maximising behaviour is not equated with identical behaviour across individuals". 29 Deshalb muss differenziert werden:
Herdzina(1999), S. 24. Walras (1954), S. 54. Siehe Druwe (1988), S. 773f. Hesse (1996), S. 10. "In the special case of no uncertainty the behaviour of perfectly informed, fully optimizing agents responding with complete flexibility to every perturbation in their environment would not produce easily recognizable patterns, but rather would be extremely difficult to predict." Heiner (1983), S. 561. Metcalfe (1987), S. 61.
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(1) Die Verengung des Rationalitätsaxioms auf ein generelles Maximierungspostulat, dem nicht nur einzelne, besonders kenntnisreiche, befähigte und motivierte Akteure gehorchen, sondern das allen Wirtschaftssubjekten eigen ist, kondensiert schlechthin jedes individuelle Verhalten zu einem Durchschnitts·, oder besser: zum Eliteverhalten des "repräsentativen Agenten". Tatsächlich haben Menschen nicht nur ganz unterschiedliche Möglichkeiten des Zugangs zu handlungsrelevanten Informationen, sondern auch unterschiedliche Fähigkeiten, diese im Sinne ihrer jeweiligen Zielvorstellungen zu nutzen (Asymmetrie des Zugangs und der Verwertung von Informationen). Gemäß der behavioristischen Theorie30 unterliegen Akteure im allgemeinen begrenzter Rationalität ("bounded rationality"), d.h. kognitiven Beschränkungen in der selektiven Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten. 31 Sie legen ihren Entscheidungen nicht ausschliesslich kurzfristige Maximierungsvorstellungen zugrunde. Damit kommen, zumal bei längerfristig wirkenden Entscheidungen, auch andere Zielfunktionen in Betracht. (2) Um rational zu handeln, bedarf es keineswegs der vollkommenen Information über alle denkbaren Handlungsmöglichkeiten. Denn je vielfältiger die Anzahl und je komplexer - und damit u.U. auch widersprüchlicher - der Inhalt der zugänglichen Informationen ist, desto eher werden die Akteure relativ einfachen Routinen und Daumenregeln folgen. Vor allem bei gewohnheitsmäßigen Entscheidungen werden sie dadurch instand gesetzt, wiederkehrende Verhaltensmuster zu praktizieren, ohne dabei die Bedeutung und alle Implikationen einer grossen Menge potenziell verfügbarer Informationen verarbeiten zu müssen.32 Vollkommene Voraussicht hätte in solchen Fällen eher die Blockierung vernünftiger Verhaltensreaktionen und insoweit die Wahrscheinlichkeit irrationaler Entscheidungen zur Folge.33 Sehen sich die Akteure dagegen ganz neuen, ungewohnten Situationen oder Herausforderungen gegenüber, ist zwar von der Routine abweichendes Verhalten gefordert, aber das neoklassische Modell lässt offen, was und wie in dieser Situation maximiert werden soll. Weil individuelle Entscheidungen auch und vor allem von der vermuteten Strategie anderer Akteure abhängen, stellt die In-
30 31
32 33
Vgl. Simon (1955), (1957); Cyert/March (1963). Vgl. neuerdings Witt (1995b), S. 13ff. der sich dort ausfuhrlicher mit den Problemen der Wahrnehmung und Interpretation von Handlungssituationen und -alternativen auf Grundlage des aktuellen Standes der Kognitionstheorie auseinandersetzt. Vgl. auch Lane/Malerba/Maxfield/Orsenigo (1996) sowie Silverberg, Verspagen (1994), nach deren Auffassung "economists have been reluctant to embrace bounded rationality as an alternative program, perhaps less because of a belief in the realism of traditional methods than in a fear of the Pandora's box of unfettered behavioral possibilities and 'ad hocery' that might thereby be opened", S. 209. Vgl. Hodgson (1991), S. 122. Vgl. Heiner (1988), S. 148ff.
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teraktion zwischen den Beteiligten das entscheidende Problem dar. Die Wirkungen individuellen Handelns verändern die Situation für andere davon direkt oder indirekt betroffene Akteure und lösen deshalb Reaktionen im System aus, die von allen Beteiligten nur vage einzuschätzen sind. Nicht zuletzt hängen solche Reaktionen auch von den Erfahrungen ab, die die Akteure im historischen Verlauf der wechselseitigen Beziehungen gemacht haben. Formal können solche Abläufe in Analogie zu Gefangenendilemma-Situationen im Rahmen von Modellen iterativer Spiele abgebildet werden. 34 Deren Lösungen, etwa in Form der sogenannten evolutionär-stabilen Strategien (ESS) hängen u.a. von den Annahmen über kooperatives oder defektives Verhalten ab und bleiben letztlich dem statischen Theoriekonzept verhaftet. 35 Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang betrifft die (ausdrücklich oder stillschweigend) vorgenommene Eingrenzung dessen, was als zentrale Fragestellung der ökonomischen Theorie anzusehen ist. Kennzeichnend dafür ist das bekannte Diktum von L. Robbins, wonach die Wirtschaftswissenschaft es ausschliesslich mit der Frage zu tun habe, wie die Allokation knapper Ressourcen auf das gegebene Ziel maximaler Bedürfnisbefriedigung hin zu optimieren sei.36 Hierbei ist die rein pragmatische Ziel-Mittel-Frage zu trennen von dem theoretischen Ursache-Wirkung-Problem. Erstere ist darauf gerichtet, welcher Ausschnitt aus der Ziel-Mittel-Hierarchie für den in Rede stehenden Zusammenhang relevant ist und deshalb herausgegriffen werden soll. Dabei kann das, was heute Ziel ist, morgen Mittel zur Erreichung eines übergeordneten Zieles sein usf. Dies ist in Robbins Aussage aber nicht gemeint. Ihm geht es offensichtlich darum, was bei der theoretischen Behandlung ökonomischer Fragen als (unverrückbares) Ziel des Wirtschaftens (hier: die maximale Befriedigung von Bedürfnissen) und was als zur Erreichung dieses Ziels geeignetes Mittel (hier: die optimale Allokation knapper Ressourcen) zu konfigurieren ist. Dabei ist die konkrete Ausrichtung der Bedürfnisse innerhalb der ökonomischen Disziplin selbst grundsätzlich nicht mehr hinterfragbar, denn "economics takes all ends for granted".37 In der Tat ist diese Folgerung zwingend, solange die jeweilige Nachfrage- und Bedürfhisstruktur als gegeben akzeptiert wird, weil sich der Ökonom bei seinen 34 35 36
37
Siehe Axelrodt (1984). Vgl. Silverberg (1988), S. 552; Silverberg/Verspagen (1994), S. 209; Friedman (1998), S. 17. "Economics is the science which studies human behaviour as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses [...] by itself the multiplicity of ends has no necessary interest of the economist [...]. Ends as such do not form part of this subject-matter. Nor does the technical and social environment [...] there is but one end of activity - the maximising of satisfaction." Robbins (1952), S. 16, S. 13, S. 38, S. 15. Robbins (1952), S. 31.
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Wachstum und evolutorische Ökonomik
Ableitungen aus vorgegebenen Basissätzen jeder Wertung (etwa über die Art der Bedürfnisse) zu enthalten hat. Dieses Wertfreiheitspostulat bedeutet aber weder, dass eine Wissenschaft der Wertungen und normativen Grundpositionen überhaupt entraten könne, noch dass die Frage der inhaltlichen Ausformung von "ends", also von konkreten Zwecken und Bedürfnissen, ein fiir allemal und unabhängig vom jeweiligen konkreten Problemansatz festgeschrieben werden könne. Mit den im Zuge des historischen Wandels einhergehenden Veränderungen des "technical and social environment" ändern sich auch die exogenen Restriktionen •jo
ökonomischen Handelns und damit möglicherweise auch die Rangfolgen innerhalb des Ziel- und Güterbündels, ohne dass sich das immer in den Knappheitsrelationen niederschlagen muss, denn für die Umwelt beispielsweise existieren keine Marktpreise. Selbstverständlich kann über eventuelle Veränderungen der axiomatischen Grundlagen nicht im Rahmen der ökonomischen Theorie entschieden werden; aber sie hätte aus einer allgemein akzeptierten Änderung von Normen und Zielvorstellungen Konsequenzen zu ziehen. Insoweit ist zu fragen, ob ein ökonomischer Erklärungsansatz, der "all ends for granted" nimmt, nicht zu kurz greift. Über die von L. Robbins postulierte Eingrenzung hinaus ist generell auch jene reduktionistische Praktik angesprochen, die Forschung innerhalb eines bestimmten Sachgebietes unter bewusster Vernachlässigung der Probleme und Erkenntnisse in anderen Disziplinen betreibt; in unserem Falle also die gedankliche Isolierung sogenannter rein ökonomischer Fragen. Dieser Vorwurf lässt sich allerdings mit dem Hinweis kontern, dass die Komplexität der Welt mit einem intradisziplinären Erklärungsentwurf ohnehin nicht einzufangen ist. Die Beschränkung auf fachspezifische Fragen hat somit nicht nur das Argument des pragmatischen Vorgehens, sondern auch das des Strebens nach wissenschaftlichem Fortschritt auf ihrer Seite. Letzterer beruht schließlich zu einem erheblichen Teil auf der ständig weitergehenden Spezialisierung von Fragestellungen und Fraktionierung von Wissensgebieten. Insoweit erweist sich die Kritik daran als eine Ausprägung des uralten Unbehagens darüber, dass mit dem (akzelerierenden) Fortschritt des spezifischen Fachwissens zugleich der "Überblick über das Ganze" immer mehr verloren geht. 39 Dies ist in der Tat ein Dilemma, mit dem wohl jede Wissenschaft konfrontiert ist und das keineswegs nur die neoklassische Ökonomie betrifft. Das heute oft bemühte Plädoyer für interdisziplinäre Forschung findet schlicht in der durch intradisziplinäre Spezialisierungsvorteile bedingten Abschottung der Fachgebiete seine
38 39
Siehe dazu neuerdings die überzeugende Darstellung und Analyse bei Kraus (1999). Vgl. Herdzina(1981), S. 17.
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praktischen Grenzen. Dennoch sollten diese wohl unvermeidlichen Tendenzen nicht den Blick darauf verstellen, dass der Fortschritt des Wissens nicht allein von weiteren Spezialisierungen, sondern auch von unseren Fähigkeiten abhängt, die Verbundenheit aller Lebensbereiche und ihre oftmals überraschenden Problemähnlichkeiten zu erkennen. 40 Dies kann einerseits fruchtbare Synergieeffekte zeitigen, andererseits aber auch das Gespür fur die Gefahren allzu vordergründiger und schiefer Analogien schärfen. In diesem Zusammenhang sollen die aus zwei naturwissenschaftlichen Disziplinen entlehnten Denkanstöße kurz vorgestellt werden, welche fur die evolutorische Ökonomik als wichtig angesehen werden. Dies ist selbstverständlich nur als ein sehr kursorischer und verkürzender Versuch zu betrachten.
3
Naturwissenschaftliche Grundlagen evolutionären Denkens
3.1
Biologie
Bisherige Versuche, ökonomische Entwicklungsprozesse unter Bezugnahme auf naturwissenschaftliche, insbesondere biologische Erkenntnisse abzubilden, beginnen oftmals mit der Suche nach analogen Beziehungen zwischen beiden Sachgebieten. Als erster Schritt ist das auch zweckmässig, denn schließlich liegen der Entwicklung alles Lebendigen u.a. biologisch-genetische Gesetzmässigkeiten zugrunde. Häufig beschränken sich die Analogien allerdings auf einen bloßen Begriffstransfer, z.B. wenn daraufhingewiesen wird, dass Mutationen und Selektion mit Innovationen bzw. Wettbewerbsauslese verglichen werden können. Es handelt sich dann weniger um das Aufzeigen gleicher Erklärungsmuster oder von Isomorphien, sondern um "eine bloße Metapher oder Analogie, die zwar ein Argument oder einen Aspekt bildhaft verdeutlichen können, aber außer rhetorischer Eleganz keinen Erklärungsgehalt für den Theoriebereich bringen".41 Um echte Analogien handelt es sich erst dann, wenn Strukturrelationen eines Gebietes auf ein anderes übertragen werden können.42
40
41 42
"Interdisziplinarität, so scheint es, ist in heutiger Zeit nicht nur ein Desiderat theoretischer Vernunft, sondern Bestandteil einer Überlebensstrategie." Mohr (1990), S. 217. M ä n n e l ( 1 9 9 6 ) , S. 332. Vgl. Klamer/Leonard (1994), S. 45; Mohr (1990), S. 209ff.; Druwe (1988).
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Variationen in der so genannten "modernen Synthese" der neodarwinistischen Evolutionstheorie beruhen auf zufälligen Mutationen und genetischen Rekombinationen im Wege der geschlechtlichen Fortpflanzung; sie sind also rein stochastischer Natur. Insbesondere gibt es dort keine Vererbung erworbener Eigenschaften, wie noch Lamarck behauptete, und die Evolution unterliegt einem mehr oder weniger graduellen Prozess des ständigen Wandels. In der Wirtschaftsgesellschaft entspringen Variationen (Neuerungen) dagegen nur ausnahmsweise dem Zufall. In der Regel sind sie das Ergebnis intentionaler, Wissens· und kreativitätsabhängiger menschlicher Handlungen. Bei der Vielfalt individueller Antriebe und Fähigkeiten zur Realisierung solcher Neuerungen spielen neben sozialen Umwelteinflüssen wie Erziehung usw. - zwar auch biologische Faktoren eine Rolle. Die Herleitung bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse auf unterschiedlich ausgeprägte genetische "Fitness" wäre jedoch ein Rückfall in sozialdarwinistische Vorstellungen, der nicht nur aus ethischen Gründen zu verwerfen ist, sondern auch jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. Im übrigen ist das im Laufe der Stammesgeschichte des Menschen akkumulierte Wissen nicht durch Variationen im darwinistischen Sinne weiter gegeben worden, sondern quasi durch Lamarck'sche "Vererbung" über kommunikative Medien wie Sprache, Schrift usw. Wenn also Variation, wenn auch nur heuristisch, als einer der Grundpfeiler einer evolutionstheoretisch fundierten Erklärung ökonomischer Prozesse angesehen werden soll, muss man sich im klaren sein, dass es sich dabei weniger um eine dem biologischen Begriff entsprechende Analogie handelt, sondern um eine im umgangssprachlichen Sinne benutzte Metapher, was die Verwendung des Begriffes "Variation" im Sinne von Neuerung in der Ökonomie natürlich in keiner Weise ausschliesst. Die natürliche Selektion, das andere Grundprinzip der biologischen Evolution, setzt nach der neodarwinistischen Theorie am "Rohmaterial"4 der Varianten an und selektiert diese entweder aus, oder lässt sie weiter bestehen, wenn sie sich als den jeweiligen äusseren Lebensbedingungen gut angepasst erweisen. Auch in der Ökonomie werden "unvorteilhafte Varianten" u.U. "aussortiert"44, und nur das, was sich im Wettbewerb bewährt, kann auf Dauer überleben. Allerdings sind Selektions- bzw. Sortingprozesse in der Ökonomie nicht ausschließlich exogen bestimmt, sondern die wirtschaftlichen Akteure können die Selektionsbedingungen durchaus selbst beeinflussen. Wettbewerbliche Selektion spielte in der National43 44
Siehe Wuketits (1988), S. 48. Sortieren ("sorting") geht über den auf die Ökonomie übertragenen biologischen Selektionsbegriff hinaus, da hierbei nicht nur Anpassungsfähigkeit, sondern auch andere (z.B. Zufalls-) Einflüsse eine Rolle spielen können. Vgl. Gowdy (1992), S. 3ff. Siehe auch den Beitrag von K. Knottenbauer in diesem Band.
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Ökonomie aber schon eine wesentliche Rolle, lange bevor Lamarck und Darwin die Grundlagen der biologischen Evolutionstheorie legten. Insoweit kann die evolutorische Ökonomik von der Biologie - zumindest in deren inzwischen ebenfalls als "Orthodoxie" apostrophierten neodarwinistischen Version - kaum neue Anregungen erfahren. Auch in anderer Hinsicht ähnelt der Erklärungsduktus der modernen Synthese eher der neoklassischen Theorie: Die beiden wesentlichen Einflussfaktoren der biologischen Evolutionstheorie, Variation und Selektion, greifen zunächst einmal an den Mikroeinheiten, d.h. den Organismen oder einzelnen Phänotypen an. Aber sowohl die Bildung neuer Arten (Speziation) als auch die Makroevolution, also die Entwicklung biologischer Systeme als Ganzes, können als Folge mikroevolutiver Vorgänge interpretiert werden. Denn wenn der durch eine Variation veränderte Phänotyp den Selektionstest besteht, werden auch seine genotypischen Merkmale weiter gegeben und erweitern das Potenzial künftiger evolutorischer Prozesse von Organismen, Arten- und - im weitesten Sinne - biologischökologischer Gesamtsysteme. 45 Das erinnert an die Sichtweise der neoklassischen Orthodoxie, in der über die Figur des repräsentativen Agenten die Ebenen der Mikro- und Makroökonomie ebenfalls "kurzgeschlossen" werden. Der Reduktionismus der modernen Synthese "reducing animal behaviour to the element unit of the gene [...] is paralleled by the efforts of neoclassical economists to base all economnic phenomena on 'sound micro foundations'".46 Dies, zusammen mit der beiden Theorien gemeinsamen mechanistischen Betrachtungsweise und Vernachlässigung historischer Gegebenheiten 47 , mag dafür verantwortlich sein, dass sie beide - und zwar fast zur gleichen Zeit - "ins Gerede" gekommen sind. Etwa seit Mitte der 60er Jahre nämlich ist nicht nur die neoklassische Theorie, sondern auch das Paradigma der modernen Synthese in der Biologie zunehmend kritisch hinterfragt worden. Dies kann hier nicht in allen Einzelheiten dargestellt werden. 48 Bemerkenswert ist vor allem, dass insbesondere die neueren Erkenntnisse der Molekularbiologie eine Abkehr von der mechanistischen Betrachtungsweise
45
46 47
48
Vgl. Faber, Proops (1991), S. 80f.; Gowdy (1985), S. 332. Diese Folgerung ist allerdings weder empirisch überprüfbar, noch wird sie von allen Biologen akzeptiert. Vgl. u.a. Provine (1982), S. 861ff.; Mani (1991), S. 32 und 55. Hodgson (1991), S. 116. Vgl. auch Foster (1997), S. 431. Die neodarwinistische Orthodoxie sieht den Organismus als ein durch seine Einzelteile bestimmtes und erklärbares Ganzes und die äusseren (gegebenen) Selektionseinflüsse als maßgebend für den evolutorischen Wandel an. Vgl. Sober (1982), bes. S. 869ff. Sie nimmt darüber hinaus keine Notiz von Beschränkungen künftiger Entwicklungen durch den Einfluss vergangener Ereignisse. Die auffallende Ähnlichkeit in den Bauplänen völlig unterschiedlicher Organismen grenzt aus dieser Perspektive fast an ein Wunder. Beispielhaft sei hingewiesen auf Weber/Depew/Smith (Hrsg.) (1988); Ho (1988), S. 117ff.; Wieser (1994).
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Wachstum und evolutorische Ökonomik
des Genoms als einer Ansammlung voneinander unabhängiger Einzelgene mit jeweils singulären Aufgaben eingeleitet haben. "Dementsprechend haben Systembiologen damit begonnen, das Genom als ein selbstorganisierendes Netzwerk darzustellen, das imstande ist, neue Ordnungsformen spontan zu erzeugen." 49 Die Funktionsfähigkeit und Überlebensstrategie des Gesamtorganismus wird also sowohl von innerer Organisation als auch von den Herausforderungen und Selektionsvorgaben der Umwelt bestimmt50, so dass die Evolution lebender Systeme auf eine spontan entstehende Ordnung gerichtet ist, die durch Auslese verfeinert und in ihrer Richtung beeinflusst wird. Damit haben wir ein überraschendes Ergebnis zu konstatieren: Zwar bestehen zwischen beiden Orthodoxien, der neoklassischen und der neodarwinistischen Theorie, gewisse Analogien, aber diese sind eher an der methodischen Sichtweise51 und an einer vordergründigen Metaphorik festzumachen. Erst die modernen Weiterentwicklungen und Erkenntnisse in der Biologie - und wie wir später sehen werden, in der evolutionären Ökonomik - lassen strukturelle Isomorphien und damit "echte" Analogien erkennen. Da diese Entwicklungen in beiden Fachdisziplinen jedoch noch im Fluss sind, wäre es verfrüht, hier von gesicherten Ergebnissen zu sprechen. Insoweit sind die Analogieschlüsse zunächst nur als heuristisch einzustufen.
3.2
Thermodynamik
Die Thermodynamik beschäftigt sich mit Energie- und/oder Materietransaktionen in (isolierten, geschlossenen und offenen) Systemen. Neben dem Energieerhaltungssatz (1. Hauptsatz) ist für unseren Zusammenhang insbesondere das Entropiegesetz (2. Hauptsatz) von Bedeutung. Es besagt, dass in einem thermisch isolierten System die Entropie kontinuierlich und irreversibel zunimmt und ihr Maximum im thermodynamischen Gleichgewicht erreicht. Dort oder in dessen Nähe geht das System in einen stationären Zustand über, in dem die Entropieerzeugung gegen Null tendiert und alle Systemelemente einen Zustand maximaler Desorganisation ("Unordnung") einnehmen. Dieser Zustand ist streng genommen nur gedanklich vorstellbar, denn thermisch isolierte oder vollkommen geschlossene
49
50 51
Capra (1996b), S. 258. "The self-organisation approach has been shown to be more compatible with the findings of genetics than the reductionist and mechanical approach of neo-Darwinists, with their reliance upon 'storytelling' by human analogy". Foster (2000), S. 324. Vgl. auch Depew/Weber (1988), (1995). Vgl. Wieser (1994). Zu den methodischen Parallelen zwischen Neodarwinismus und Neoklassik siehe z.B. Khalil (1992), insbes. S. 22ff.; Gowdy (1994); Hodgson (1993).
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Systeme sind in der Realität ohnehin nicht auffindbar. Alle real existierenden Systeme, insbesondere auch Wirtschaftsgesellschaften, tauschen Energie und (meist auch) Materie mit ihrer Umgebung aus, sind also thermodynamisch offen. Das gemeinsame Kennzeichen aller offenen Systeme ist, dass sie sich außerhalb des thermodynamischen Gleichgewichts befinden und - im scheinbaren Widerspruch zum 2. Hauptsatz - ihre innere Ordnung aufrecht erhalten, indem sie niedrige Entropie aus ihrer Umgebung importieren und hohe Entropie dissipieren, d.h. an ihre Umgebung zurückgeben, also quasi auf Kosten der verfugbaren Energie ihrer Umwelt leben. Systeme mit diesen Eigenschaften werden deshalb auch als "dissipative Strukturen"52 bezeichnet. Insbesondere das ökonomisch-ökologische (Sub-)System nimmt fortgesetzt niedrig-entropische Ressourcen aus der Umgebung (Sonne, fossile Lagerstätten) auf und gibt im Gefolge von Stoffwechsel- und Produktionsprozessen hoch-entropische Abfälle wieder an diese ab. Alle ökonomischen Aktivitäten haben somit eine irreversible Entwertung von verfugbarer Materie und Energie im Gefolge. 53 Als offenes und fern vom thermodynamischen Gleichgewicht befindliches System unterliegen Wirtschaftsgesellschaften im naturwissenschaftlichen Sinne jenem Bereich der modernen Physik, der als nicht-lineare Thermodynamik bezeichnet wird. 54 Die dort untersuchten Phänomene zeichnen sich durch nicht-lineare Beziehungen und Rückkopplungseffekte zwischen den Systembestandteilen aus. Sie können ein ganz unterschiedliches und unvorhersehbares Verhalten zeigen, je nachdem, welcher Art die Rückkopplungen (positiv oder negativ) sind, welche Werte die Parameter an den Systemgrenzen einnehmen und welche exogenen Zufallseinflüsse wirken. "Wir wissen inzwischen, dass fern vom Gleichgewicht neue Strukturtypen entstehen können. Unordnung und Chaos können sich unter gleichgewichtsfernen Bedingungen in Ordnung verwandeln. Es können neue dynamische Zustände der Materie entstehen, in denen sich die Wechselwirkung eines Systems mit seiner Umgebung widerspiegelt. Wir haben diese neuen Strukturen als dissipative Strukturen bezeichnet, um die paradoxe Rolle von dissipativen
52 53 54
Prigogine/Stengers ( 1984), S. 151 f. Vgl. Binswanger (1992), S. 21f. Diese Disziplin ist wesentlich von der Forschergruppe um I. Prigogine entwickelt und vorangetrieben worden, wobei von Anfang an auch die Intention interdisziplinärer Wissens- und Forschungstransfers im Vordergrund stand; vgl. Prigogine, Stengers (1984). Zwar sind die dort erarbeiteten Aussagen nicht ohne weiteres und unreflektiert auf ökonomische Zusammenhänge übertragbar. Aber selbstverständlich unterliegen ökonomische Vorgänge den gleichen naturgesetzlichen Restriktionen, wie alle anderen Lebensvorgänge auch. Insoweit ist das ökonomisch-ökologische System eindeutig ein solches, das sich ausnahmslos fern vom thermodynamischen Gleichgewicht bewegt. Seine empirische und theoretische Exploration kann daher - zumindest heuristisch - auf die allgemeinen Prinzipien und Strukturanalogien zu thermodynamischen Prozessen rekurrieren.
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Wachstum und evolutorische Ökonomik
Vorgängen bei ihrer Entstehung hervorzuheben." 55 Die Verlaufspfade der Zustandsvariablen vermitteln dann oft den Eindruck eines zufälligen Bewegungsablaufs, obgleich dieser durchaus determiniert ist.56 Ebenso kann sich "das System einem zeitlich oder räumlich strukturierten Verhalten annähern, das einem dynamischen Gleichgewichtszustand entspricht. Gleichgewichtszustände dieser Art, die in ihrem Einzugsbereich ein bestimmtes Systemverhalten erzwingen, werden in der Theorie dynamischer Systeme als Attraktoren bezeichnet."57 Es können auch mehrere Attraktoren gleichzeitig vorliegen, wobei dem System quasi die "Wahl" unter mehreren Entwicklungspfaden offen steht. Konstellationen dieser Art werden mit Hilfe von "Bifurkationsbäumen" (Verzweigungsdiagrammen) dargestellt.58 Der Verlauf des weiteren Entwicklungspfades in der Nachbarschaft eines Bifiirkationspunktes ist, obgleich gesetzmäßigen Bestimmungsgründen folgend, nicht vorhersehbar, weil dort kleinste Veränderungen oder Zufallseinflüsse auf den künftigen Systemzustand einwirken können. Bifurkationsdiagramme veranschaulichen einige der grundlegenden Eigenschaften dissipativer Strukturen, insbesondere ihren irreversiblen Charakter und ihre Pfadabhängigkeit. Eine an einem Bifurkationspunkt vollzogene "Wahl" kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, und sie bestimmt gleichzeitig die künftigen Entwicklungsmöglichkeiten. Wenn es andere Optionen gegeben haben sollte, so sind diese hinfällig und auch gedanklich nicht mehr rekonstruierbar. Der von dem System realisierte Zustand wird als Ergebnis eines Prozesses der Selbstorganisation betrachtet.59 In der Natur kann dieser Prozess nur aus einem thermodynamischen Ungleichgewicht heraus entstehen, also gewissermassen unter Ausnutzung einer positiven Bilanz an verfügbarer, d.h. niedrig-entropischer Energie. In diesem - thermodynamischen - Sinne ist das Ungleichgewicht, im Gegensatz zum entsprechenden Begriff in der ökonomischen Theorie (und wohl auch im Alltagssprachgebrauch), nicht als ein möglichst zu vermeidender und normativ negativ besetzter Zustand anzusehen, sondern im Gegenteil gerade als Quelle und Voraussetzung höherer Ordnung. 60 Es wäre allerdings ziemlich abwegig, damit irgend eine Wertung zu assoziieren. Der Begriff des thermodynamischen (Un-) Gleichgewichts ist nicht mit dem in der ökonomischen Theorie gebräuchlichen Begriff
55 56 57 58 59 60
Progogine/Stengers (1983), S. 21. Vgl. Dosi/Metcalfe (1991), S. 137. Kraus (1999), S. 62. Siehe Allen (1988), S. 102f, (1998), S. 47ff. Progogine/Stengers (1984), S. 165f. "Die Entstehung höherentwickelter Organisationsformen stellt [...] kein 'mystisches' Element dar, [...] sondern ist eine notwendige Konsequenz der physikalischen Gegebenheiten fern vom thermodynamischen Gleichgewicht". Kraus (1999), S. 65.
Wachstum und evolutorische Ökonomik
113
zu vergleichen. 61 Dem zuweilen erweckten Eindruck, letzterer hätte etwas mit einem wünschenswerten Zustand zu tun, beruht ohnehin auf einem Missverständnis, das glaubt, von einem mechanistisch-deterministischen Methodenverständnis f
auf die Vorzugswürdigkeit realer Zustände schliessen zu können. Wenn man dagegen bereit ist, gewisse heuristische Analogien zur nicht-linearen Thermodynamik zu akzeptieren, dann könnte das zu einem ähnlichen Umdenken in der Ökonomie beitragen, wie es in jüngster Zeit auch in der biologischen Evolutionstheorie im Hinblick auf die dort vorherrschende orthodoxe Sichtweise sich anzubahnen beginnt. 63
4
Ansätze evolutorischer Ökonomik
4.1
Selbstorganisation
In den vorausgegangenen Überlegungen deutete sich an, dass der mit Selbstorganisation umschriebene Tatbestand in Teilgebieten der Naturwissenschaften eine wichtige Rolle spielt. Inzwischen begegnet man ihm auch in vielen anderen Wissenschaftsdisziplinen. 64 Eine dem jeweiligen Fachgebiet zuzuordnende, auf dessen spezifische Fragestellungen hinweisende Definition sucht man aber meist vergebens. In der Regel werden die bekannten naturwissenschaftlichen Anwendungsfelder 65 genannt und (implizit) unterstellt, dass Selbstorganisation auch fur das jeweils in Rede stehende Gebiet relevant sei. Eine allgemeine, disziplinübergreifende Definition referiert F. Schweitzer: "Als Selbstorganisation bezeichnet man die spontane Entstehung, Höherentwicklung und Ausdifferenzierung von komplexen Organisationsstrukturen, die sich in nicht-linearen dynamischen Systemen über Rückkopplungsmechanismen zwischen den Systemelementen ausbilden, wenn sich die Systeme durch die Zufuhr von unspezifizierter Energie, Materie oder Information jenseits eines kritischen Abstandes vom statischen Gleich-
61 62
63 64 65
Siehe auch Weise (1998), S. 324. "[A] set of logical abstractions becomes a normative standard. The idealized system is turned from an analytical device into what nature really is or should be". Clark/Juma (1988), S. 206, unter Bezugnahme auf Whitehead (1985); im Orig. z.T. gesperrt. Siehe die Literaturhinweise oben, Anm. 48; vgl. auch Foster (1994), (1997), S. 441. Vgl. z.B. die Auflistung bei Göbel (1998), S. 17. Dabei handelt es sich, neben dem im letzten Abschnitt behandelten Prigonin'schen Konzept der dissipativen Strukturen, vor allem um H. Hakens Synergetik, M. Eigens Hyperzyklus und das von Maturana/V arela entwickelte Konzept der Autopoiese.
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Wachstum und evolutorische Ökonomik
gewichtszustand befinden". 66 Diese Definition kann ihre Anlehnung an die Sichtweise der nicht-linearen Thermodynamik nicht verleugnen. Schweitzer merkt denn auch sofort an, dass solche Definitionen eine Fülle von Fragen aufwerfen, wenn sie aus dem naturwissenschaftlich streng definierten Zusammenhang beispielsweise in die Sozialwissenschaften oder die Ökonomie übertragen werden: Um welche Systemelemente und um welche Rückkopplungsmechanismen handelt es sich dort? Was ist in ökonomischen Systemen mit Zufuhr unspezifizierter Energie gemeint? 67 Aufgrund welcher Kriterien ist ein kritischer Abstand vom statischen Gleichgewicht zu bestimmen? Schweitzer stellt daher zu Recht die Frage, "ob denn ökonomisch oder soziologisch relevante Prozesse überhaupt mit derartigen vereinfachten, der Physik entlehnten Modellen beschrieben werden können". 68 In der Tat besteht die Gefahr, dass die Ökonomie, indem sie die Bedeutung von sich selbst organisierenden Prozessen in ihre Überlegungen einzubinden versucht, den tatsächlichen oder nur scheinbaren naturwissenschaftlichen Analogien in gleicher Weise aufsitzt, wie die Neoklassik dem methodischen Vorbild der klassischen Mechanik. "It would of course be as dangerous for economic theory simply to adopt whole-sale the concepts and methodology of biology as of physics. However, all the natural and social sciences face certain methodological problems in modelling the evolution of complex systems once the terrain of Newtonian reductionism is left behind." 69 Hinzu kommt, dass die Selbstorganisationsprozessen zugrundeliegenden Strukturcharakteristika (Nichtlinearität, Existenz von Ordnungsparametern, Irreversibilitäten) zwar auf den ersten Blick den Eindruck umfassender interdisziplinärer Übertragbarkeit erwecken, der faktische Anwendungsbereich in den als Vorbild dienenden Naturwissenschaften sich aber auf relativ eng begrenzte Teile der jeweiligen Disziplinen beschränkt. Dort allerdings beruhen sie auf wohl definierten Voraussetzungen und können, wenn auch bisher nur auf der Mikroebene, empirisch eindeutig nachgewiesen werden. Die Frage, ob und inwieweit sie generell und dann auch für Makrosysteme gelten, ist bisher offen geblieben. Es ist zu vermuten, dass eine positive Antwort auf diese Frage noch am ehesten im übergreifenden, von den jeweiligen fachspezifischen Beson-
66
67
68 69
Schweitzer (1998), S. 98. Er bezieht sich dabei auf die im SFB 230 "Natürliche Konstruktionen" der Univ. Stuttgart/Tübingen erarbeitete Formulierung. Vgl. auch Gould (1987), S. 21 Iff.; Druwe (1988), S. 770ff. "In these cases the analogue to 'exchange of energy' is 'exchange of information'". Dosi/Metcalfe (1991), S. 134. Schweitzer (1998), S. 99. Freeman (1988), S. 3f.
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US
derheiten abstrahierenden Kontext einer allgemeinen Systemtheorie der Selbstorganisation möglich sein wird. 70 Andererseits ist unbestreitbar, dass die Ökonomie nicht nur in materiellenergetischer Hinsicht, sondern auch in ihrer informationell-kommunikativen Dimension "offen" ist. Viele ihrer Subsysteme sind als Ergebnis von Vorgängen entstanden, die man in einem sehr allgemeinen Sinne als Selbstorganisationsprozesse bezeichnen kann. Sie sind weder dem Plan eines menschlichen Superhirns, noch dem einer formalen Organisation entsprungen, sondern das Ergebnis von Wettbewerbs- und Kooperationsprozessen zwischen unabhängigen Akteuren. Zu solchen Ergebnissen gehört die Herausbildung relativ dauerhafter Regeln und Institutionen, wie Wertvorstellungen, Sitten, Rechtssysteme, Sprache, Märkte, Kultur usw., aber auch relativ flüchtige Erscheinungen, wie technologische Trajektorien, Moden, der sogenannte Zeitgeist usw. Der Herausbildung solcher Phänomene wird meist eine Selbstreferenz sozialen Handelns unterstellt, was nichts anderes besagen soll, als "dass das Verhalten komplexer Systeme auf das jeweilige System selbst zurückwirkt und zum Ausgangspunkt weiteren Handelns und Verhaltens wird", ...wobei die "das jeweils zukünftige Verhalten determinierende Struktur ein Resultat vorausgegangener Interaktionen ist"71. Diese Kennzeichnung einer auf sozialwissenschaftliche Tatbestände anzuwendenden Selbstorganisationsmetapher macht aber zugleich deutlich, dass man dabei über die Formulierung allgemeiner systemtheoretischer Begrifflichkeiten noch kaum hinausgekommen ist. Am ehesten scheinen Ähnlichkeiten mit den in der neuen Institutionenökonomik diskutierten Zusammenhängen gegeben zu sein. Sozioökonomische Institutionen können ja bezeichnet werden als Regel- und Normensysteme "für rekurrente und multipersonelle Entscheidungssituationen, welche insoweit allgemeine (soziale) Gültigkeit erlangt haben, dass relativ stabile reziproke Verhaltenserwartungen entstehen, durch die bestimmte Konsequenzen individueller Entscheidungen spezifiziert und damit [...] Unsicherheit in bzw. Komplexität von Entscheidungssituationen reduziert werden" 72 . Nach dem vielleicht bekanntesten Versuch einer systemtheoretischen Interpretation sozioökonomischer Selbstorganisation von F.A.v. Hayek 73 basieren solche Prozesse auf der Herausbildung von Regeln und Normen menschlichen Zusammenlebens. Sie haben sich durch Überlieferung, Nachahmung und Lernprozesse allmählich entwickelt und sind daher vom einzelnen Gruppenmitglied weder völ-
70 71 72 73
Siehe auch Schnabl (1990), S. 239. Wolf (1997), S. 631; vgl. auch Silverberg/Dosi/Orsenigo (1988), S. 1036. Eisner (1986), S. 70. v.Hayek (1969), (1996).
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lig überschaubar, noch notwendigerweise beabsichtigt, sondern ergeben sich einfach aus der Emergenz überindividueller Muster des Zusammenwirkens von Individuen und Gruppen. 74 Von v. Hayek werden sie mit dem Terminus "spontane Ordnung" umschrieben. Sein Versuch, das naturwissenschaftliche Prinzip der Selbstorganisation in den sozioökonomischen Bereich zu übertragen, ist durchaus nachvollziehbar. V. Hayek spricht an mehreren Stellen von der "Zwillingsidee von Evolution und spontaner Ordnung", und er verbindet beides mit einer ganzen Reihe von Begriffen aus neueren wissenschaftlichen Teildisziplinen, angefangen von der Autopoiese bis zur Systemtheorie. 75 Dabei verknüpft er die Ordnungsidee mit einer (in der Biologie höchst umstrittenen) Theorie der Gruppenselektion: Diejenigen Gruppen von Individuen, die sich aufgrund der - wie auch immer entstandenen - Regeln eine überlegene Ordnung des Zusammenlebens geschaffen haben, werden auf Dauer erfolgreicher sein als andere, d.h. sie werden positiv selektiert.76 Dies gilt im ökonomischen Kontext insbesondere für die marktwirtschaftliche Ordnung, die sich offensichtlich allen anderen bekannten Formen der Wirtschaftsordnung gegenüber als überlegen erwiesen hat. Dieser nachvollziehbare Hinweis auf ein konkretes Beispiel verdeckt leider die Mängel der v. Hayek'schen Konzeption: Während in den zuvor behandelten naturwissenschaftlichen Beispielen die Abhängigkeit eines Ordnungszustandes von den Kopplungsbeziehungen der Variablen untereinander sowie den Anfangs- und den Randbedingungen prinzipiell einsichtig gemacht werden konnte, ist v. Hayeks Ordnungsbegriff weder konzeptionell noch inhaltlich hinreichend transparent. Seine spontane Ordnung unterscheidet sich im Prinzip nicht von Adam Smith's Unsichtbarer Hand, die ebenfalls eine Metapher für die (mechanistisch gesehene) Funktionalität vollkommener Märkte im Gleichgewicht ist.77 Letztlich hat v. Hayek Ordnung mit Gleichgewicht im Sinne der ökonomischen Orthodoxie identifiziert und damit die Bedeutung des Ungleichgewichts für evolutorische Prozesse übersehen. 78 Bei ihm hat Ordnung, ähnlich wie im populären Sprachgebrauch, einen positiven Wert als wünschenswerter Zustand7 , während der Ordnungsbegriff in der modernen (naturwissenschaftlichen und evolutionär-ökonomischen) Ungleichgewichtsdynamik instrumentaler Natur ist. Die Kontrollparameter bestimmen, ob ein Systemzustand stabil ist, oder in einen anderen Ordnungs- oder auch chaotischen Zustand übergeht, wobei der Tatbestand der Selbstorganisation dadurch charakterisiert ist, dass "die Ordnungs-
74 75 76 77 78 79
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
v.Hayek (1996), S. 10. Hodgson (1993), S. 177f. v.Hayek (1996), S. 24. Hinterberger/Hüther (1993), S. 224ff. Hodgson (1993), S. 45. Göbel (1998), S. 60 und 92.
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117
parameter [...] nicht von außen vorgegeben, sondern [...] vom System selbst generiert (werden)" 80 . Bei aller Würdigung seiner Versuche, evolutionäre Prinzipien in die Sozialwissenschaften einzubringen, scheint v. Hayek verkannt zu haben, dass komplexe Systeme durch Zustände gekennzeichnet sind, die mit unseren Alltagsvorstellungen von Gleichgewicht und Ordnung keineswegs deckungsgleich sind. Das Paradigma der Selbstorganisation lässt prinzipiell auch die Möglichkeit "spontaner Unordnung" 81 zu, und dafür gibt es in der Ökonomie ja durchaus auch Beispiele.
4.2
Pfadabhängigkeit
In den vorher dargestellten naturwissenschaftlichen Grundlagen wurde gezeigt, dass die Bewegungsprozesse eines fern vom thermodynamischen Gleichgewicht operierenden Systems sich "verzweigen" können; m.a.W. die durch Attraktoren bewirkten Bifurkationen sind Ausdruck seiner Pfadabhängigkeit. In einer systemtheoretisch analogen Weise können Pfadabhängigkeiten in der Ökonomie hypostasiert und auch empirisch nachgewiesen werden. 2 Hier geht es selbstverständlich nicht um naturgesetzlich ablaufende Prozesse, sondern um solche, die von unabhängig agierenden wirtschaftlichen Akteuren herbeigeführt werden. Stehen beispielsweise zwei oder mehrere als gleichwertig einzuschätzende Neuerungen (Produktionsprozesse oder Produktlinien) zur Auswahl, so ist die Frage, welche von ihnen von den potentiellen Anwendern mutmasslich adoptiert wird. Die Entscheidung jedes einzelnen Akteurs kann dann auch davon beeinflusst werden, wie sich seine Mitbewerber in dieser Situation verhalten. Häufig wenn auch nicht zwangsläufig - sind es dann Zufälligkeiten, die den Ausschlag geben, z.B. die Entscheidung eines Marktführers, der Einfluss von Interessengruppen, politische Vorgaben, Presseberichte u.v.a. Wird dann eine Entwicklungslinie von hinreichend vielen Firmen adoptiert, sichert ihr das aufgrund zunehmender Erträge einen Wettbewerbsvorsprung vor den anderen, nun ins Hintertreffen geratenden Alternativen. "Durch diesen 'Systemeffekt' - einer zunehmenden positiven Externalität - kann sich die Entwicklung im Markt spontan auf einen einzigen Standard festlegen" 83 (Lock-in). Allerdings ist der Prozess noch so lange instabil, bis es zum endgültigen Ausschluss der Alternativen (Lock-out) ge-
80
" 82
83
Schweitzer (1998), S. 99; vgl. auch Silverberg (1988), S. 531. Vgl. Hodgson (1993), S. 178. Aus der inzwischen recht umfangreichen Literatur sei nur exemplarisch hingewiesen auf Arthur (1988), (1989), (1994); David (1975), (1985), (1988), (1993), (1994); Katz/Shapiro (1985), (1986); Farrell/Saloner (1985). Witt (1995a), S. 167.
118
Wachstum und evolutorische Ökonomik
kommen ist; bis dahin sind immer noch andere Entwicklungspfade möglich. Pfadabhängigkeit verläuft also keineswegs linear-deterministisch, sondern beschreibt einen positiv-rückgekoppelten Ablauf, der von Arthur ausdrücklich als Form eines Selbstorganisationsprozesses charakterisiert wird.84 Er hat weiterhin aufgelistet, durch welche internen und externen, oftmals miteinander vermischten, Effekte der Prozess gekennzeichnet sein kann 85 : -
Je grösser die Zahl der Anwender, desto ausgeprägter sind die aggregierten Lerneffekte und die daraus resultierenden Chancen zu Verbesserungsinnovationen ("Learning by using");
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Die verstärkte Anwendung bestimmter Kommunikationsnetze (Telefon) oder von Komplementärtechniken (Hardware/Software) impliziert positive Netzwerkexternalitäten;
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Steigende Produktion fuhrt zur Fixkostendegression bzw. zu steigenden Skalenerträgen;
-
Mit zunehmender Verbreitung einer bestimmten Technologie wachsen Anzahl und Umfang der darauf abgestimmten Sub-Technologien sowie der Bereich komplementärer Infrastruktur, ein Vorgang, den man mit steigenden economies of scope bezeichnen könnte.
Bei pfadabhängigen Prozessen spielen zwar häufig historische Zufälligkeiten eine Rolle, sie beruhen aber weder allein auf ihren historischen Ausgangsbedingungen, noch auf irrationalem oder durch Informationsdefizite charakterisierten Verhalten der Akteure. Die Anfangsbedingungen hätten in aller Regel auch ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten zugelassen als diejenige, die sich schließlich durchsetzt.86 Und den Anstoß zu gerade dieser Entwicklung haben keineswegs unbegründete, nach Maßgabe der damals herrschenden und voraussehbaren Umstände unvernünftige Überlegungen der Beteiligten gegeben.87 Das Problem liegt vielmehr darin begründet, dass - selbst bei vollständiger Information über alle handlungsrelevanten Gegebenheiten - die langfristigen Konsequenzen heutiger Maß-
84 85
86
87
Arthur (1988), S. 595. Vgl. Arthur (1988), S. 590f., der in diesem Zusammenhang von "increasing returns to adoption" spricht. Die in der Literatur aufgeführten empirischen Beispiele (QWERTY-Tastatur, Benzingetriebene Motoren, Leichtwasser-Reaktoren, VHS-Videosysteme u.a.) zeigen lediglich, dass pfadabhängige Prozesse weder "blind" sind noch die Erwartung rechtfertigen, dass sie stets zu den besten Lösungen fuhren. "Indeed it is not farfetched to say that evolutionary economics is the economics of an imperfect, and from a conventional viewpoint, inefficient world." Metcalfe (1994), S. 933. Vgl. dazu David (1988).
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119
nahmen nicht vorauszusehen sind. In diesem Sinne ist jedes Verhalten im historischen, zukunfts-ungewissen Kontext unvermeidlich kurzsichtig. Insbesondere können jene zukünftigen Aktivitäten (Innovationen, Investitionen usw.) nicht antizipiert werden, die erst aufgrund der heutigen Maßnahmen und ihrer Auswirkungen notwendig werden. Die heute geschaffenen Strukturen determinieren die damit kompatiblen Systemerfordernisse von morgen. Die Einsicht in die Grenzen unseres Wissens über die exakte Natur künftiger Systemzustände kann uns zwar nicht vor Irrtümern, aber vielleicht vor den Fallstricken linearer Denkfiguren bewahren. Der Adoptions- und Diffusionsprozess neuer Technologien ist in der ökonomischen Literatur seit langem erörtert worden. Die im Rahmen evolutionsökonomischer Ansätze entwickelten Beiträge hierzu88 sind vielleicht noch am ehesten als Weiterführung der in der Neuen Wachstumstheorie begonnenen Überlegungen anzusehen, weil hier Lernprozesse sowohl für die Verbreitung als auch die Weiterentwicklung bestehender Technologien verantwortlich sind und im Zuge positiver Rückkopplungen steigende Skalenerträge im Gefolge haben. Die Entstehung grundlegender Neuerungen, sogenannter radikaler Innovationen, kann mit diesen Modellen natürlich nicht mehr hinreichend erklärt werden; dazu wird meist auf Denkansätze in der Tradition Schumpeters rekurriert.
4.3
Technologische Trajektorien
Mit Selbstorganisation und Pfadabhängigkeit sind noch nicht alle wichtigen Strukturprinzipien evolutorischer Ökonomik beschrieben, wobei ohnehin zweifelhaft sein dürfte, ob deren vollständige Auflistung überhaupt möglich (und konsensfähig) ist. Ein drittes Merkmalspaar, das in diesem Zusammenhang immer wieder genannt wird, soll abschließend vorgestellt werden: das technologische Paradigma und die technologische Trajektorie. 89 Es geht dabei um die Umsetzung der dem kumulierten Informations- und Wissensstand entsprechenden wissenschaftlichen und technologischen Prinzipien in konkrete (Produktions-)Abläufe und Problemlösungsheuristiken. Demgemäss charakterisiert G. Dosi "in broad analogy with the
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Einen relativ frühen Beitrag stellt die Arbeit von A. Gerybadze (1982) dar. Ansonsten wird in diesem Zusammenhang vor allem auf die Publikationen von Silverberg (1988), (1990) und Silverberg/ Verspagen (1998), verwiesen. In der Literatur werden von verschiedenen Autoren begrifflich und inhaltlich ähnliche Termini verwendet, auf deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede hier aber nicht näher eingegangen werden cnll
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Kuhnian definition [...] a technological paradigm as a model and a pattern of solution of selected technological problems, based on selected principles derived from natural sciences and on selected material technologies" und "a technological trajectory as the pattern of'normal' problem-solving activity (i.e. of'progress') on the ground of a technological paradigm"90. Technologische Trajekorien bewegen sich also entlang relativ geordneter Pfade, die durch die Merkmale des technologischen Paradigmas charakterisiert sind.91 Insoweit können Trajektorien auch als Ausformung pfadabhängiger Prozesse angesehen werden. Neben diesen allgemeinen Merkmalen sind technologische Trajektorien durch die spezifischen Verfahrensweisen und das gebundene Wissen einer Firma geprägt. Für diese besteht der Anreiz, einerseits die bewährten Charakteristika ihres individuellen Entwicklungspfades zu perpetuieren, andererseits die positiv selektierten Merkmale und Verbesserungen zu adoptieren, die in ihrer relevanten Umgebung stattfinden.92 Die Einsicht in diese Vorgänge war es wohl, die R. Nelson und S. Winter veranlasst haben, eine in diese Richtung weisende mikroökonomisch fundierte "evolutorische Theorie des Wachstums" zu konzipieren.93 Sie gehen dabei aus von den Verhaltensannahmen der behavioristischen Theorie, nach der Firmen nicht die Maximierung bestimmter Zielfunktionen, sondern das Erzielen befriedigender Ergebnisse anstreben (satisficing). Ihr Verhalten orientiert sich dann an bewährten Regeln ("Routinen")94, solange befriedigende Ergebnisse, indiziert durch die Profitrate, erzielt werden. Diese Routinen schließen die Suche nach Verbesserungen innerhalb der technologischen Trajektorie ein, d.h. die Firmen werden versuchen, inkrementale Veränderungen der Technik, der relativen Preise, der Nachfrage usw. zu antizipieren und in ihren Wirtschaftsplänen zu berücksichtigen. Solche Such- und Neuerungsaktivitäten bekommen allerdings eine neue, qualitative Dimension, wenn die Profitrate nachhaltig unter das befriedigende Niveau zu sinken droht. Richtung und Ausmass der dann einsetzenden innovativen Aktivitäten hängen vom kreativen Potenzial der Akteure95 und dem Grad der von außen an die Firma herangetragenen Herausforderungen ab. Sie bestimmen die Intensität der
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" 92 93 94
95
Dosi (1984b), S. 83 (Hervorhebung im Original); siehe auch Dosi (1982), (1988); Cimoli/Dosi (1995). Vgl. Silverberg et al. (1988), S. 1036f. Vgl. Smith (1991), S. 262. Siehe Nelson/Winter/Schuette (1976); Nelson/Winter (1982), (1974). Nelson/Winter bemühen dazu direkte Analogien zur Biologie, indem sie die Firmenroutinen mit Genen vergleichen und die Firmen selbst als Phänotypen bezeichnen, die der (externen) Selektion unterworfen sind. In diesem Punkte rekurrieren Nelson/Winter also, wie viele andere Autoren der evolutorischen Ökonomik auch, auf Schumpeter'sche Gedankengänge.
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eigenen Innovationsanstrengungen bzw. der Versuche, durch Adoption fremder Neuerungen sich wieder in die "natürliche Trajektorie des technischen Fortschritts" einzuordnen. Nelson und Winter gehören zu den Ökonomen, die sich schon vor etwa einem Vierteljahrhundert bemühten, auf der Grundlage eines formalisierten Wachstumsmodells evolutionäre Gedankengänge in die Theorie einzubringen. Sie haben daher große Beachtung gefunden und werden immer wieder zitiert, wenn es auf Beispiele evolutionärer Ökonomik hinzuweisen gilt. Dennoch hat ihr im Ansatz verdienstvolles Bemühen ein ambivalentes Ergebnis gezeitigt. Ihre Theorie ist, wie Hodgson 96 zutreffend bemerkt, im Niemandsland zwischen neoklassischer Theorie einerseits und dem durch einen Mix traditioneller und evolutorischer Modellbausteine gekennzeichneten heterodoxen Ansatz andererseits angesiedelt. In ihrem Simulationsmodell bilden sie die gleichen stilisierten Fakten ab, die auch im Zentrum des traditionellen Wachstumsmodells à la Solow standen, insbesondere die mit zunehmender Kapitalintensität steigende Arbeitsproduktivität und den arbeitssparenden Bias des - allein auf Prozessinnovationen eingegrenzten technischen Fortschritts, und dies "without assuming maximization or equilibrium; we need assume only profit oriented calculating behavior and competitive selection pressure. It's a much more plausible story."97 Aber abgesehen von ihrer (wenn auch nur teilweise) von der Orthodoxie abweichenden realistischeren Mikrofundierung unterscheidet sich ihre "story" im Ergebnis nicht von jener, die die Mainstream-Ökonomie bereits erzählt hat. "These deductions of evolutionary growth theory would not surprise an advocate of neoclassical theory. On the surface they appear similar to those of neoclassical theory."98 Unter dieser Oberfläche verbergen sich zwar evolutorische Kräfte und Phänomene "to which neoclassical theory is blind, or denies".99 Aber in ihrem Makromodell ist davon nicht mehr allzu viel wiederzufinden, denn dieses läuft im Ergebnis auf ein mit biologischen Analogien und evolutionsökonomischen Verhaltensannahmen angereichertes traditionelles Modell hinaus. Über Nelson/Winter hinausführend hat C. Perez ein "techno-ökonomisches Paradigma" 100 oder "einen "technologischen Stil" als eine Art von Idealtyp der produktiven Organisation und des "technologischen common sense" bezeichnet, der sich als Reaktion auf die Dynamik einer bestimmten Periode wirtschaftlicher
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Hodgson (1996), S. 205. Nelson (1987), S. 36. Nelson (1995), S. 71. Nelson (1995), S. 71. Perez (1985), S. 441; vgl. auch Freeman/Perez (1988).
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Entwicklung herausbildet.101 Wichtiges Merkmal eines technologischen Stils ist ein Schlüsselfaktor, dessen Kennzeichen vor allem seine beliebige Vermehrbarkeit und die niedrigen bzw. sinkenden Kosten sind, die angesichts seiner Bedeutung das gesamte relative Kostengefuge des technologischen Paradigmas beeinflussen. Historisch war z.B. die den Stil der Massenproduktion begünstigende billige Energie ein solcher Schlüsselfaktor. Heute scheint es die durch Mikroelektronik ermöglichte Ausweitung der Informations- und Kommunikationstechnologie zu sein. Es ist daher auch nicht überraschend, dass Perez ihre Überlegungen mit einer eigenen Version der Theorie der langen Wellen verbunden hat.102 Die umfassende, systemare Dimension des Perez'schen Ansatzes wird auch dadurch unterstrichen, dass er nicht nur die Veränderungen der Produktions- und Organisationsstruktur umfasst, sondern auch jene der Berufs- und Qualifikations-, sowie der Nachfragestruktur. Darüber hinaus hat sich Perez auch mit dem Problem der Aufeinanderbezogenheit zwischen dem technisch-ökonomischen und dem sozio-institutionellen Subsystem einer Gesellschaft auseinandergesetzt, das schon im Zentrum der Marx'schen Theorie gestanden hat. Auch für sie besteht zwischen beiden ein Spannungsverhältnis, das bei ihr aber, anders als bei Marx, nicht zum Kollaps, d.h. zum Umschlagen der Gesellschaftsordnung, führt. Perez interessiert sich vielmehr für die Voraussetzungen und Bedingungen eines langfristigen Spannungsausgleichs.
5
Evolutionsökonomische "Essentialien" und ihr paradigmatischer Stellenwert
Die zuvor dargestellten Strukturprinzipien der evolutorischen Ökonomik - Selbstorganisation in ihren verschiedenen Erscheinungsformen, Pfadabhängigkeit und technologische Trajektorien - weisen mutatis mutandis auffallende Parallelen zu entsprechenden Phänomenen auf, wie sie in den modernen Naturwissenschaften, insbesondere in der nicht-linearen Thermodynamik, eine wichtige Rolle spielen. In einem weiten und allgemeinen Sinne sind alle mehr oder weniger durch Rückkopplungen, die Existenz von Ordnungsparametern, durch Phasenübergänge, historische Zufallseinflüsse und Irreversibilitäten sowie die Notwendigkeit von Energie- und/oder Informationsaustausch charakterisiert.103 Grundlegende Neuerungen (radikale Innovationen) eröffnen der Ökonomie u.U. die Möglichkeit, ein
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Perez (1983), S. 361. Vgl. Freeman/Perez (1988), bes. S. 48-57. Vgl. Kraus (1999), S. 70f.
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ganz neues techno-ökonomisches Paradigma zu realisieren, in jedem Falle aber, auf neue technologische Trajektorien einzuschwenken. In diesem Sinne hat Foss die evolutorische Ökonomie definiert als "that body of economic theory in which the transformation of already existing structures and the emergence and possible spread of novelties are investigated [...] evolutionary economics is occupied with the 'becoming' rather than the 'being' aspects of the economy". 104 Wesentlich kürzer fassen sich Faber und Proops: "Evolution is the changing of something into something else over time"l05, weil sie Wandel und den Ablauf historischer Zeit als die auf ihre entscheidenden Merkmale reduzierten Charakteristika der wirtschaftlichen Entwicklung ansehen. Während die Neoklassik u.a. damit beschäftigt ist, zu untersuchen, was die Welt kohärent und geordnet macht, liegt der Akzent der evolutorischen Theorie auf der Frage, was die Welt verändert. 06 Da die Transformation existierender Strukturen und die Emergenz und Ausbreitung von Neuem wesentliche Kennzeichen wohl jeder Form von Evolution sind, können sie aus systemtheoretischer Sicht als übergreifende Essentialien eines allgemeinen evolutionären Ansatzes betrachtet werden. Im Hinblick auf diese Gemeinsamkeiten können dann auch heuristische Anleihen bei anderen wissenschaftlichen Disziplinen erkenntnisfördernd sein, vorausgesetzt, man lässt sich von Analogien oder Metaphern nicht den Blick darauf verstellen, dass die fachspezifischen Inhalte gleich benannter Phänomene oft erheblich differieren. So unterscheiden sich insbesondere die konkreten Mechanismen, die ökonomische Varietät generieren und die dann unter den Varianten die mehr oder weniger erfolgreichen "sortieren", von denjenigen, die in den Naturwissenschaften und der Biologie massgebend sind.107 Diese Unterschiede bestehen schon deshalb, weil es sich um - im metaphorischen Sinne - ganz unterschiedliche evolvierende "Populationen" handelt; in der Physik beispielsweise um molekulare Strukturen oder um Wellen, in der Biologie um Organismen oder Arten, in der Ökonomie dagegen um Wirtschaftssubjekte, Firmen, Institutionen, regionale Subsysteme u.dgl., bei denen stets intentionales menschliches Verhalten und Handeln involviert ist. Für die evolutorische Ökonomik ist deshalb vorrangig interessant, wie dieses strukturiert ist, um einen persistenten - graduellen oder auch sprunghaften - irreversiblen Prozess des technischen und wirtschaftlichen Wandels zu generieren. Sie geht dabei von einem etwas anderen Menschenbild aus als die neoklassiche Orthodoxie.
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107
Foss (1994), S. 21. Faber/Proops (1991), S. 59 (Hervorhebung im Orig.); vgl. auch Dosi/Nelson (1994), S. 154. So fast wörtlich Saviotti/Metcalfe (1991a), S. 4; vgl. auch Cantner/Hanusch (1997), S. 777, (1998), S. 8f. Vgl. Saviotti/Metcalfe (1991a), S. 10.
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Aber auch der Akteur der evolutionären Ökonomik handelt selbstverständlich vernünftig und erfolgsorientiert. Sein Wissen und seine Wahrnehmungsfähigkeit hinsichtlich aller relevanten Informationen sind begrenzt ("bounded"), andererseits ist er mit individuell unterschiedlich ausgeprägter kognitiver Kreativität 108 ausgestattet, d.h. er versucht zuweilen Neues, Ungewohntes, von der Routine Abweichendes zu realisieren, ohne dabei die Möglichkeit des Irrtums ausschließen zu können. Unter diesen Bedingungen ist eine der zentralen Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung die, herauszufinden, aufgrund welcher Prozesse es immer wieder zu relativ stabilen neuen Ordnungszuständen im Wandel kommt, obgleich die Akteure stets nur einen mikroskopisch kleinen Ausschnitt aus dem Geschehen selbst bestimmen konnten und jene Ordnungszustände keineswegs das Ergebnis einer bewussten Planung gewesen sind. Das lässt vermuten, dass der von den modernen Naturwissenschaften aufgezeigte Prozess der Selbstorganisation auch hier eine wichtige Rolle spielt, auch wenn seine ökonomischen Mechanismen noch nicht befriedigend geklärt sind. Insoweit kann man darüber streiten, ob die Charakterisierung sozio-ökonomischer Entwicklung als Selbstorganisationsprozess den mehr oder weniger vollständigen Einblick in dessen Zustandekommen voraussetzt. Angesichts der nahezu einmütigen Akzeptanz dieses Begriffes in der evolutionsökonomischen Literatur scheint dies nicht als notwendig angesehen zu werden. So konstatiert z.B. Foster (als Beispiel für viele ähnliche Aussagen): "Self-organisation is not a physiochemical analogy but a general principle in systems that process energy, matter and information". 109 Wem das Selbstorganisationsparadigma in der Ökonomie aber noch nicht hinreichend transparent und überzeugend erklärt zu sein scheint, wird (vorläufig) die "höhere" oder spontane Ordnung der evolutionären Ökonomie als eine ähnliche Metapher ansehen, wie die Steady State-Parabel der neoklassischen Wachstumstheorie. Auch diese ist ja lediglich eine qua Dynamisierung der statischen Allokationsprozesse auf die "höhere" und langfristige Ebene des dynamischen Gleichgewichts heraufgehievte Denkfigur. Der Gleichgewichtsbegriff wird in der evolutorischen Ökonomik aber - zu Recht - vermieden, weil das Ungleichgewicht gerade als Antriebskraft, gewissermassen als permanent wirkendes Brennelement des evolutorischen Kernprozesses konfiguriert wird. Nur im Ungleichgewicht kann der (oder die) Attraktor(en) das System in einen (neuen) Ordnungszustand "hineinziehen", der als prozessualer Vorgang die Fähigkeit des Systems widerspiegelt, Veränderungen seiner Variablen und Parameter zu absorbieren und - mit u.U. veränderter Struktur - weiterzuexistieren.
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Hesse (1990), (1996), S. 11; (1992), S. 115ff. Foster (2000), S. 325; ähnlich auch Foster (1997), S. 444.
Wachstum und evolutorische Ökonomik
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In der Ökonomie basieren Ordnungszustände vermutlich auf unterschiedlichen und historisch wechselnden Kombinationen von Lernprozessen, Selektionsmechanismen und institutionellen Strukturen, die sich als Ergebnis dann in veränderlichen Innovations-, Produktivitäts- und Profitraten sowie Marktstrukturen niederschlagen. In diesen recht allgemeinen Umschreibungen der Problemstellung und der (vorläufigen) Ergebnisse der evolutionären Ökonomik wird nun kaum ein Ökonom einen schwerwiegenden Dissens mit der Tradition erkennen können. So konstatieren z.B. auch Silverberg/Verspagen 110 , nachdem sie einige der bisherigen evolutorischen Modellansätze resümiert haben, dass diese kaum detaillierte, über die neoklassische Wachstumstheorie hinausgehende Ergebnisse zu Tage gefordert hätten.111 Was die evolutorische Ökonomik allerdings zeigen kann, ist die Tatsache, dass die Exaktheit der von den Mainstream-Modellen hergeleiteten Aussagen eine Illusion ist.112 Die evolutorischen Ansätze haben zumindest den Blick dafür geschärft, dass den allzu glatten und einfachen Lösungen der Orthodoxie misstraut werden muss - was so neu nun auch wieder nicht ist. Die Komplexität der Realität und die damit verbundene prinzipielle Unvorhersagbarkeit künftiger Systemzustände kann keine Theorie, auch nicht die evolutorische Ökonomik auflösen.113 Die häufig zitierte Dualität von Zufall und Notwendigkeit (Monod) ist in diesem Zusammenhang nichts anderes als die Gleichzeitigkeit von Ungewissheit über die Ergebnisse historischer Abläufe und der Tatsache, dass es Begrenzungen für die Zufälligkeiten solcher Abläufe gibt114; m.a.W. in evolutorischen Prozessen ist unvorstellbar vieles, aber eben nicht alles möglich. Die abschließend zu stellende Frage, ob die evolutorische Ökonomik denn nun ein neues Paradigma darstellt, ist eindeutig wohl kaum zu beantworten. 115 Sicherlich stellt sie eine andere methodische Sichtweise des Herangehens an ökonomische Probleme, insbesondere die des wirtschaftlichen Wachstums und der längerfristigen Entwicklung dar. Sie zeigt, dass diese Vorgänge im Rahmen und mit den
Vgl. Silverberg/Verspagen (1998), S. 257. "' "one of the main reasons that the mainstream neoclassical paradigm continues to exert such enormous influence, despite its aknowledged flaws, is the apparent lack of any satisfactory alternative which could offer anything approaching the same power and rigour". Freeman (1988), S. 3. Der Widerstand vieler neoklassischer Ökonomen gegenüber alternativen Denkansätzen ist daher auch auf die - bisher nicht ernstlich widerlegte - Vermutung zurückzufuhren, dass davon ohnehin keine prinzipiell anderen Ergebnisse erwartet werden können. 112 Siehe Nelson (1995), S. 85. " 3 Vgl. Nelson (1995), S. 85f. 114 Vgl. Silverberg/Verspagen (1998), S. 259; Dosi/Metcalfe (1991), S. 134. " 5 Der Paradigma-Begriff ist durch allzu häufigen Gebrauch inzwischen ziemlich ausgefasert und fast zu einer Allerweltsformel verkommen; schon deshalb wird es auf die o.g. Frage unterschiedliche Antworten geben.
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Wachstum und evolutorische Ökonomik
gängigen Mitteln der neoklassischen Orthodoxie nur unzulänglich erklärt werden können. Auch sehr viel kompliziertere Instrumente, mit deren Hilfe zyklische und chaotische Verläufe dargestellt werden können, produzieren lediglich mathematisch formalisierte Denkmöglichkeiten, aber keine konkreten erfahrungswissenschaftlich begründeten Aussagen. Auf der anderen Seite lässt die evolutorische Ökonomik bisher die zu fordernde Geschlossenheit und Konsistenz eines überzeugenden theoretischen Aussagesystems vermissen, was auch damit zusammenhängt, dass sie in zahlreiche heterodoxe Einzelpartikel zerfällt. Das unterstreicht aber auch, dass die Kritik an der neoklassischen Mainstream-Ökonomie sich aus vielen Quellen speist und der Ruf nach einer alternativen, oder zumindest ergänzenden Sichtweise gerechtfertigt ist.
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Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 0
Allokation - Distribution - Stabilisierung Stabilisierungspolitik im Konflikt zwischen allokativer Effizienz und sozialpolitischer Verpflichtung Jürgen Pätzold
1
Einleitung
Das wissenschaftliche Lebenswerk des mit dieser Festschrift Geehrten kreist um die Allokationsfrage. Hierfür stehen die Befassung mit Fragen der MikroÖkonomik, der Wettbewerbstheorie und -politik, mit Strukturwandel und wirtschaftlichem Wachstum1. Insbesondere in seiner Habilitationsschrift stellt Herdzina heraus, dass Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb nur als "interdependenter Prozess" verstanden werden können. Dieser Beitrag befasst sich mit allokativen und distributiven Aspekten der Stabilisierungspolitik. Stabilisierung dient der Sicherung bzw. Wiedergewinnung des "gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts". Dabei wurde in der Literatur lange Zeit davon ausgegangen, dass es sich hierbei um eine "makroökonomische Politik" handele, die letztlich die allokationspolitischen Mechanismen des Marktsystems unberührt lasse. In der praktischen Wirtschaftspolitik kommt der Stabilisierungspolitik eine ausgesprochen sozial- und verteilungspolitische Dimension zu. Speziell die Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungsstandes - als das dominierende Ziel der Stabilisierungspolitik - ist sozialpolitisch begründet. Die Zielsetzung besteht in erster Linie darin, die Auslastung der bestehenden Kapazitäten zu sichern. Die sog. Globalsteuerung postkeynesianischer Prägung kann daher auch als sozialpolitisch motivierte oder "sicherungsorientierte Stabilisierungspolitik" bezeichnet werden. Demgegenüber stehen bei der neoklassischen Version der Stabilisierungspolitik, der sog. Angebotspolitik, eindeutig Fragen der (dynamischen) allokativen Effizienz im Zentrum der wirtschaftspolitischen Empfehlungen. Diese Variante der Stabilisierungspolitik kann daher auch als allokationsorientierte Stabilisierungspolitik bezeichnet werden. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal besteht vor allem darin, dass das sicherungsorientierte Konzept eher auf den Zyklus, die allokationsorientierte Version dagegen eher auf den Trend der wirtschaftlichen Entwicklung ausgerichtet ist.
'
Siehe hierzu insbesondere Herdzina ( 1981 ); ders. ( 1999a) und ders. ( 1999b).
140
Stabilisierungspolitik
In diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass Allokation, Distribution und Stabilisierung interdependente Prozesse sind, die nicht isoliert betrachtet werden können. Die Politikbereiche stehen vielmehr in einem dialektischem Verhältnis zueinander2.
2
Allokation, Distribution und Stabilisierung
In den Wirtschaftswissenschaften werden seit R.A. Musgrave die Aufgaben des Staates zur Gestaltung der Marktwirtschaft üblicherweise in die Aktivitätsfelder Allokation, Distribution und Stabilisierung gruppiert3. 2.1
Allokation: Sicherung der Effizienz der Marktwirtschaft
Ziel der Allokationspolitik ist die Sicherung der Effizienz der Marktwirtschaft, und zwar in statischer (optimale Allokation der Ressourcen zu jedem Zeitpunkt) und dynamischer Hinsicht (optimales, durch dynamische Fortschrittsprozesse generiertes Wirtschaftswachstum). Dem Staat erwachsen vielfältige allokationspolitische Aufgaben: Zu erwähnen ist nicht nur die effiziente Bereitstellung öffentlicher Güter. Der Staat hat darüber hinaus zu gewährleisten, dass die Markt- bzw. Wettbewerbsmechanismen funktionsfähig sind und damit die Bereitstellung der privaten Güter allokationsoptimal erfolgt. Beeinträchtigungen des funktionsfähigen Wettbewerbs ergeben sich nicht nur als Folge von privater Marktmacht, sondern vor allem dadurch, dass der Staat (bewusst oder unbewusst) das Wirksamwerden der Marktkräfte suspendiert oder limitiert (ζ. B. wettbewerbspolitische Ausnahmebereiche, Gestaltung der Arbeitsmarktordnung, Beeinträchtigungen des Marktmechanismus infolge nicht-allokationsneutraler Steuersysteme). Allokationspolitische Aufgaben erwachsen dem Staat aber auch im Bereich der Bereitstellung öffentlicher Güter und durch die Existenz externer Effekte (Beispiel: Umweltpolitik). Die zentrale Aufgabe der Allokationspolitik besteht darin, den Marktmechanismus gegen Beschränkungen zu schützen, um so die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Märkte sicherzustellen. Allokationspolitik ist folglich an erster Stelle "offensive Marktpolitik". Allokationspolitik hat aber auch eine stabilisierungspolitische Dimension: Je besser die Marktmechanismen auf den Güter- und Faktormärkten ihre Wirkungen entfalten, je ausgeprägter die Wachstumsdynamik einer
2 3
Siehe auch Pätzold (1988). Vgl. Musgrave (1969), S. 5ff.
Stabilisierungspolitik
141
Volkswirtschaft, um so geringer wird tendenziell der Bedarf für (korrigierende) staatliche Stabilisierungsinterventionen. 2.2
Distribution: "Humanisierung" der Marktwirtschaft durch Sozial- und Verteilungspolitik
Die Sicherung der Effizienz der Marktwirtschaft ist nur notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingung für die Erreichung eines sozialökonomischen Wohlfahrtsoptimismus. Die distributiven Ergebnisse, die sich als Folge des marktwirtschaftlichen Allokationsmechanismus einstellen, können von den Bürgern als "ungerecht" oder "unsozial" empfunden werden. Im Zweifel wird dann die marktwirtschaftliche Ordnung insgesamt abgelehnt. Die staatliche Gestaltung von Marktwirtschaften zielt daher in der Realität immer auch darauf ab, diese durch geeignete Maßnahmen der Sozial- und Verteilungspolitik zu "humanisieren". Hierdurch soll den gesellschaftlichen Postulaten der "sozialen Gerechtigkeit", des "sozialen Friedens" und der "sozialen Sicherheit" Genüge getan werden. Stellenwert und konkrete Ausgestaltung der Sozial- und Verteilungspolitik werden geprägt von den in der Gesellschaft vorherrschenden Wertvorstellungen. Allokationspolitik einerseits und Sozial- und Verteilungspolitik (Distributionspolitik) andererseits stehen zueinander in einer Trade-off-Beziehung: ein Mehr an Umverteilung und sozialer Sicherung muss möglicherweise mit einem Weniger an (statischer und dynamischer) allokativer Effizienz erkauft werden. Die Opportunitätskosten des Mehr an sozialer Sicherung und sozialer Gerechtigkeit sind eine geringe Wettbewerbsfähigkeit und ein geringerer Wohlstandszuwachs in der Volkswirtschaft. Die systemkonforme Verzahnung der Sozial- und Verteilungspolitik mit der an Effizienzzielen ausgerichteten Allokationspolitik zählt zu den umstrittensten Fragen der staatlichen Gestaltung der Marktwirtschaft. 2.3
Stabilisierung: Stabilisierung der Marktwirtschaft
Der dritte Aufgabenbereich, nämlich derjenige der Stabilisierungspolitik, ist relativ jung. Seit der tiefen Depression von 1929 bis 1932, spätestens seit Erscheinen der "General Theory" von John Maynard Keynes, wird dem Staat über die Allokations- und Distributionsfunktion hinaus die Aufgabe zugewiesen, das Marktsystem zu stabilisieren. Postkeynesianer weisen den wirtschaftspolitischen Akteuren dabei insbesondere eine beschäftigungspolitische Verantwortung zu4.
4
Zur Stabilisierungspolitik s i e h e im einzelnen Pätzold ( 1 9 9 8 ) .
Stabi I isierungspolitik
142
2.3.1
Stabilisierungspolitik im Konflikt zwischen allokativen Erfordernissen und sozialpolitischer Verpflichtung
Stabilisierungspolitik hat - umfassend interpretiert - eine allokative und eine sozialpolitische oder distributive Komponente. Eine primär dem Ziel der allokativen Effizienz verpflichtete Stabilisierungspolitik soll - wie erwähnt - als "allokationsorientierte Stabilisierungspolitik", eine an sozialen Sicherungszielen ausgerichtete Stabilisierungspolitik dagegen als "sicherungsorientierte Stabilisierungspolitik" bezeichnet werden. So interpretiert ist "Stabilisierung" integraler Bestandteil der Allokationspolitik einerseits bzw. der Distributionspolitik andererseits. Es ist daher durchaus konsequent, dass H. Luckenbach neben der Allokationsaufgabe und der Distributionsfunktion des Staates die "Stabilisierungsaufgabe" nicht als einen eigenen Aktivitätsbereich der Wirtschaftspolitik benennt 5 .
2.3.2
Allokationseffizienz und Stabilisierung
Wirtschaftliches Wachstum ist immer mit Strukturwandel verbunden 6 . Die reibungslose Bewältigung des strukturellen Wandels ist geradezu die Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum. In der Marktwirtschaft wird der Strukturwandel über den Mechanismus der relativen Preise gesteuert; der Vollzug des Strukturwandels ist insofern Aufgabe des marktwirtschaftlichen Selbststeuerungsmechanismus. Sind die Güter- und Faktormärkte nicht voll funktionsfähig, stellen sich also nicht permanent die markträumenden Güter- und Faktorpreise ein, so kommt es zu Rigiditäten im strukturellen Anpassungsprozess. Gesamtwirtschaftliche und strukturelle Instabilitäten sind in der Marktwirtschaft letztlich Folge einer unzureichenden Flexibilität der Güter- und Faktorpreise und Folge einer unzureichenden Mobilität der Produktionsfaktoren: ein hoher Grad an mikroökonomischer Flexibilität korrespondiert mit einem hohen Grad an makroökonomischer Anpassungsfähigkeit und makroökonomischer Stabilität. Die Aufgabe einer "allokationsorientierten Stabilisierungspolitik" muss folglich darin bestehen, die Anpassungsfähigkeit des Marktsystems derart zu erhöhen, dass die Reallokation der Produktionsfaktoren und der Strukturwandel möglichst reibungslos vollzogen werden. Die Erhöhung der Anpassungsflexibilität der Marktwirtschaft verringert zugleich auch deren Stabilisierungsbedarf. Allokationsorientierte Stabilisierungspolitik ist folglich primär an den Ursachen der Instabilitäten ausgerichtet, sie ist Kausaltherapie.
5 6
Luckenbach (1986), S. 132ff. Siehe Herdzina (1981), S. 135ff.
Stabi 1 isierungspol itik
2.3.3
143
Soziale Sicherung und Stabilisierung
In der politisch-ökonomischen Praxis hat Stabilisierungspolitik eine ausgeprägte sozialpolitische bzw. distributive oder defensive Komponente. Ökonomischer und gesellschaftlicher Wandel hat nämlich die typischen Charaktereigenschaften eines "öffentlichen Gutes": Der Nutzen des strukturellen Wandels kommt der Gesellschaft insgesamt in Form einer höheren Wachstumsdynamik und in Form einer geringeren Krisenanfalligkeit des ökonomischen Systems zugute; der Nutzen des strukturellen Wandels ist also eine makroökonomische Kategorie. Die Kosten des Wandels sind dagegen von einzelnen Wirtschaftssubjekten zu tragen, also seitens der Unternehmer bzw. deren Kapitaleigner in Form von Kapitalvernichtung und/oder seitens der Arbeitnehmer in den unter Anpassungsdruck geratenen Branchen, Berufen und/oder Regionen, in Form als sozial "unbillig" empfundener Anpassung - bis hin zum völligen Verlust des Arbeitsplatzes. Die individuelle Betroffenheit auf der Mikroebene fuhrt in der Realität zu dem (verständlichen) Versuch, den strukturellen Wandel zu verlangsamen und Besitzstände zu verteidigen. Hier setzt die sicherungsorientierte Stabilisierungspolitik an. Die In-diePflichtnahme des Staates für sicherungsorientierte Stabilisierungsaufgaben ist mithin Folge des Versagens der Allokationspolitik. Die sozialpolitisch motivierte Stabilisierungspolitik zielt mithin nicht primär auf die Beseitigung der Ursachen von Instabilitäten, sondern auf die Kompensation der mit Instabilitäten einhergehenden unerwünschten sozialen oder distributiven Begleiterscheinungen. In diesem Sinne ist sie eher statischer und strukturkonservierender Natur. Sie zielt auf die Symptome, nicht jedoch auf die dahinterliegenden Ursachen der Fehlentwicklungen. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf das postkeynesianische Verständnis von Stabilisierungspolitik. Sie stellt ja letztlich die Zusicherung der wirtschaftspolitischen Akteure dar, Krisen jederzeit entgegenzusteuern und die mit Krisen einhergehenden sozialen Folgen von den Betroffenen fern zu halten. Zu verweisen ist aber auch auf die vielfältigen defensiven Vorschläge zur Bewältigung des Beschäftigungsproblems. Sie reichen von der Umverteilung eines (vermeintlich) bestehenden Arbeitsvolumens, über die Verringerung der wöchentlichen oder jahresdurchschnittlichen Arbeitszeit bis zur Rationierung von Überstunden oder Frühverrentung älterer zu Gunsten jüngerer Arbeitnehmer. Dabei wird vielfach verkannt, dass der "Arbeitsmarkt keine Veranstaltung (ist), in der zusätzliche Personen nur dann hineinkönnen, wenn andere das Lokal vorher verlassen haben"7. Entsprechendes gilt aber auch fur Versuche, durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Lohnsubventionierungen die Beschäftigungsprobleme zu lösen. 7
Sachverständigenrat (1999/2000), Tz. 329.
144
Stabilisierungspolitik
Sicherungsorientierte Stabilisierungspolitik weist möglicherweise vergleichbare Konflikte zur Allokationspolitik auf, wie die Sozial- und Verteilungspolitik: der "Beruhigung" bzw. "Stabilisierung" der ökonomischen Entwicklung durch symptomtherapeutische Maßnahmen sind als Opportunitätskosten die Verringerung der mikroökonomischen Anpassungsfähigkeit und die dadurch bewirkte Verringerung der dynamischen Effizienz der Volkswirtschaft gegenüberzustellen. Die Auseinandersetzung um die adäquate Ausgestaltung der Stabilisierungspolitik ist insofern vergleichbar mit der Kontroverse um die systemkonforme Ausgestaltung der Sozial- und Verteilungspolitik in der Marktwirtschaft. Es handelt sich letztlich um eine Auseinandersetzung zur Frage des relativen Gewichts der gesellschaftlichen Ziele "Effizienz" versus "soziale Sicherheit". Politisch ist die Kontroverse zwischen "Allokationspolitikern" einerseits und "Sicherungspolitikern" andererseits nach wie vor offen. In wirtschaftstheoretischer Hinsicht läuft die Frage letztlich auf das Problem der adäquaten mikrotheoretischen Fundierung der makroökonomischen Theorie und damit auf die Frage der adäquaten Fundierung der makroökonomischen Politik hinaus. Das Problem der Theoriebildung ist allerdings zirkulär: Es geht nämlich nicht nur um die mikroökonomische Fundierung der makroökonomischen Theorie auf der Basis gegebener mikroökonomischer Verhaltensweisen, sondern auch um die Rückwirkungen makroökonomischer Politik auf das mikroökonomische Verhalten selbst.
3
Sicherungsorientierte Stabilisierungspolitik und dynamische Effizienz
3.1
Rechtliche Institutionalisierung der sicherungsorientierten Stabilisierungskonzeption
Die Wirtschaftspolitik der sechziger und der siebziger Jahre wurde entscheidend von der postkeynesianischen Stabilisierungskonzeption geprägt. Das Konzept basiert auf der Vorstellung einer optimalen Verknüpfung der Lenkungselemente Markt und Plan: Die Steuerung der Mikrorelationen sollte ausschließlich den Marktkräften überantwortet bleiben. Aufgabe des Staates sei es lediglich, die makroökonomischen Nachfrageaggregate antizyklisch zu beeinflussen. Damit wird letztlich unterstellt, dass Wirtschaftspolitik auf der Makroebene möglich ist und dass diese keine negativen Auswirkungen auf das mikroökonomische Verhalten und auf die strukturellen, institutionellen und politischen Rahmenbedingungen des Systems hat.
Stabilisierungspolitik
145
Die im wesentlichen auf J.M. Keynes - genauer, auf die Postkeynesianer - zurückzuführende Konzeption wurde 1967 in der Bundesrepublik Deutschland im "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" (StWG) rechtlich verankert. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Implementation postkeynesianischer Stabilisierungsvorstellungen in der westlichen Welt vor allem auf die Initiative der Demokraten in den USA und der Sozialdemokraten in Westeuropa bzw. Deutschland zurückzufuhren war. Das postkeynesianische Weltbild entsprach den freiheitlich-sozialistischen Vorstellungen eines durch den demokratisch legitimierten Staat gesteuerten Marktsystems in besonderer Weise. Marktversagen solle - so die Vorstellung - durch einen effizienten staatlichen "Globalsteuerungsinterventionismus" korrigiert werden. Zudem nehmen die Ziele der sozialen Gerechtigkeit, des sozialen Friedens und der Humanität - Vollbeschäftigung ist ja zentraler Bestandteil einer sozialen Sicherungskonzeption - im Zielkatalog der freiheitlichen Sozialisten einen hohen Rang ein. Die Verankerung des Beschäftigungsziels im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist konsequenterweise auf diese Symbiose von postkeynesianischem Denken und (sozial-) demokratischen Wertvorstellungen zurückzuführen. Vollbeschäftigungssicherung ist seither rechtlich als "staatliche" und nicht mehr primär tarifpolitische Aufgabe verankert. Damit wurde in das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz eine Rollenverteilung aufgenommen und in den sechziger und siebziger Jahren auch praktisch vollzogen, die neoliberalen Vorstellungen diametral entgegen läuft8. Die postkeynesianische Sicht der Trennung von Makro- und Mikrorelationen ist jedoch letztlich statischer und ahistorischer Natur. Es ist zumindest fragwürdig, ob die in weiten Teilen der Makroökonomie gemachte Annahme einer stabilen internen Struktur des Systems - in Form stabiler Verhaltensweisen, stabiler Erwartungen und unveränderter institutioneller Rahmenbedingungen - die adäquate Methode zur Analyse des Wirtschaftsprozesses in seiner ganzen Breite und in seiner historischen Dynamik ist. Hierauf hat J.A. Schumpeter9 schon früh aufmerksam gemacht: Die herrschenden Verhaltensweisen, institutionellen und politischen Ausgangsbedingungen sind stets das Produkt historischer Prozesse und Entscheidungen, die unterstellten "Verhaltensgesetze" sind bestenfalls temporäre empirische Regelmäßigkeiten. Es ist durchaus möglich, dass ein Teil der Wachstums- und Beschäftigungsprobleme, denen wir uns heutzutage gegenübersehen, auch Folge einer symptomtherapeutischen Stabilisierungspolitik in der Vergan-
g
'
Zur Frage der Rollenverteilung in der Wirtschaftspolitik siehe Sachverständigenrat Tz. 369ff. Schumpeter (1997/1911).
(1974/75),
146
Stabilisierungspolitik
genheit sind. Das Wissen um die Funktionsweise des Systems ermöglicht zwar einerseits dessen vorübergehende Steuerung; diese Steuerung ist jedoch andererseits auch Ursache für die veränderten Funktionsbedingungen des Systems selbst und damit letztlich Ursache für das Versagen einer ursprünglich durchaus "erfolgreichen" Steuerungskonzeption. Der Rückzug der Keynesianer auf die simplifizierenden Verkürzungen von Lange, Klein, Hicks und Hansen und die "Weiterentwicklungen" in der politisch-ökonomischen Praxis der siebziger Jahre beraubte die Keynesische Theorie auch ihrer ursprünglich politischen Dimension. 3.2
Makrostabilisierung und mikroökonomisches Verteilungsverhalten
Das zentrale Problem einer am Vollbeschäftigungsziel orientierten Stabilisierungspolitik ist deren einkommenspolitische Flankierung. Die Erfahrung lehrt, dass staatliche Vollbeschäftigungspolitik zur Destabilisierung der Verteilungsauseinandersetzungen fuhren kann, mit der Folge langfristig negativer Auswirkungen auf die allokative Effizienz und negativer Konsequenzen für Wachstum und Beschäftigung. Zu Recht betont S. Borner, dass das Inflationsphänomen der siebziger Jahre gerade erst aus der Anwendung einer anfänglich durchaus erfolgreichen Steuerungskonzeption erwachsen ist10. Die in der Rezession von 1967 (tatsächlich oder vermeintlich) unter Beweis gestellte Fähigkeit des Staates zur Krisenbewältigung hat letztlich erst - im Verbund mit der politischen Zusicherung, jederzeit Krisen entgegenzusteuern - zu den Fehlentwicklungen geführt, die seit Beginn der siebziger Jahre, zuerst in Form von Inflation und später in Form zunehmender Arbeitslosigkeit, zu verzeichnen waren. Die Verteilungsauseinandersetzungen begannen sich völlig anders zu vollziehen als vor der Anwendung des postkeynesianischen Konzepts. Die Marktmechanismen wurden weitgehend durch "Machtmechanismen" ersetzt - und zwar sowohl auf den Gütermärkten als auch auf dem Arbeitsmarkt. Inflation wurde zum "sozialen Besänftiger" im Verteilungskamp f 1 . Verwiesen sei nur auf die angesichts der staatlichen Vollbeschäftigungsgarantie weitgehend risikolosen Verteilungsauseinandersetzungen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre12. Tatsache ist, dass die expansiven Maßnahmen zunehmend in Preis- und Lohnsteigerungseffekten verpufften und kaum noch reale Mengeneffekte bewirkten. Erst
10
" 12
Vgl. Borner (1975), S. 1166. Bronfenbrenner (1955). Zur Kritik der postkeynesianischen Stabilisierungspolitik siehe auch Pätzold (1998), S. 215ff.
Stabilisierungspolitik
147
mit dem Konzeptionswechsel zu einer allokationsorientierten Stabilisierungspolitik ("Angebotspolitik") Anfang der achtziger Jahre in Deutschland konnte der "Teufelskreis der Inflationsgewöhnung" durchbrochen werden. Die Notwendigkeit, das Konzept der Globalsteuerung durch Einkommenspolitik zu flankieren, wurde theoretisch bereits früh erkannt13, in den meisten Ländern ist diese Flankensicherung der Stabilisierungspolitik jedoch nicht erfolgreich gewesen; das gilt auch hinsichtlich "konzertierter Aktionen", "runder Tische", "Bündnisse für Arbeit" oder ähnlicher institutionalisierter Gesprächsrunden von Regierung, Gewerkschaften und Spitzenverbänden der Wirtschaft in Deutschland14. Der Wunsch nach "Bündnissen" resultiert aus der weit verbreiteten Vorstellung, politische Entscheidungen nach Möglichkeit im Konsens zu treffen. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich derartige "Bündnisse" gegen diejenigen richten, die nicht an der korporatistischen Veranstaltung teilnehmen (z.B. die Arbeitslosen) und dass sie sich zum Hemmschuh für grundlegende Reformen entwickeln. Korporatistische Ordnungselemente passen eigentlich nicht in eine Marktwirtschaft. 3.3
Strukturelle Verhärtungen als Folge sicherungsorientierter Stabilisierungspolitik
Ein zweites, mit dem Verteilungskampfproblem zusammenhängendes Phänomen, war die Erfahrung, dass die postkeynesianische Konzeption einer strukturellen Verkrustung Vorschub leistete. Die Frage, ob sich der strukturelle Wandel beschleunigt oder verlangsamt hat, wird zwar durch die empirische Wirtschaftsforschung nicht einhellig beantwortet; speziell in den siebziger und frühen achtziger Jahren überwogen jedoch diejenigen Einschätzungen, die eine Reduktion der Strukturänderungsgeschwindigkeit diagnostizierten. Bereits im Jahresgutachten 1976/77 hatte sich der Sachverständigenrat diese These ausdrücklich zu eigen gemacht und die Schlussfolgerung gezogen, dass die verlangsamte Anpassung an den strukturellen Wandel auch zur Verringerung der gesamtwirtschaftlichen Dynamik und zum Anstieg der Arbeitslosigkeit beigetragen habe15. Der langjährige Vorsitzende des Sachverständigenraten, H. Giersch, prägte in diesem Zusammenhang das Schlagwort der "Eurosclerose"16. Ob und inwieweit die Verlangsamung des Strukturwandels, und damit einhergehend die Verringerung der dynamischen
13 14
15 16
Siehe Tobin (1984). Siehe hierzu auch die jüngsten Ausführungen des Sachverständigenrates (1999/2000), Tz. 263ff. zum "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" in Deutschland. Sachverständigenrat (1976/77), Tz. 316. Giersch (1985).
148
Stabilisierungspolitik
Flexibilität der Volkswirtschaft, auf die praktizierte Globalsteuerung zurückzufuhren ist, dürfte sich empirisch wohl kaum eindeutig zuordnen lassen; dazu sind die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu vielschichtig. Eine der zentralen Schwächen der postkeynesianischen Sichtweise besteht sicherlich darin, dass die hoch aggregierte Analyseebene dazu verfuhrt, Strukturprobleme nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die makroökonomische Politik ist damit latent der Gefahr ausgesetzt, die allokative Effizienz des Systems und den strukturellen Wandel aus dem Blickfeld zu verlieren. In der Praxis ist postkeynesianische Stabilisierungspolitik jedoch keineswegs nur Makropolitik. Postkeynesianische Wirtschaftspolitik ist, wie dargelegt, von der Intention her soziale Sicherungspolitik. Sie ist primär darauf ausgerichtet, die bestehenden Kapazitäten optimal auszulasten - und zwar global wie strukturell. Das postkeynesianische Paradigma fördert das ohnehin latent vorhandene Erhaltungsdenken. Interpretiert man die postkeynesianische Steuerungskonzeption als eine Art makroökonomische Subventionspolitik (der Sachverständigenrat sprach in seinem Jahresgutachten 1981/82 von einer "Politik der Geschenke"17), so lassen sich unschwer Bezüge zur regionalen und sektoralen Subventionspolitik und zum außenwirtschaftlichen Protektionismus herstellen. Auch die regionale oder sektorale Wirtschaftspolitik dient, wie die Erfahrung lehrt, vornehmlich der Sicherung bestehender Arbeitsplätze, nur bedingt jedoch der Anpassung der Kapazitäten an geänderte Marktbedingungen und an den technologischen Wandel. Makro- und mesoökonomische Stabilisierungspolitik fordert folglich tendenziell den strukturellen Immobilismus. Die Notwendigkeit des strukturellen Wandels wird politisch und ökonomisch-instrumentell verdrängt. Eine ideale kapazitätskonforme Nachfragesteuerung ist zwar in der Praxis kaum möglich, dazu ist die staatliche Nachfrage auf ein zu enges Aktivitätsfeld begrenzt. Gleichwohl ist zu beobachten, dass die konjunkturpolitischen Maßnahmen immer wieder auch mit Blick auf die Erfordernisse einzelner Branchen und Regionen begründet worden sind. In der Praxis besteht zudem, bedingt durch den steigenden politischen Problemdruck, ohnehin eine Tendenz zur Sektoralisierung oder Regionalisierung der Wirtschaftspolitik. Der Versuch, mittels symptomtherapeutischer Maßnahmen die Wirtschaftssubjekte vor Einkommens- und Beschäftigungskrisen zu bewahren, hat also möglicherweise weitreichende negative Konsequenzen für die adaptive Anpassungsfähigkeit und die innovative Dynamik des Marktsystems.
17
Sachverständigenrat (1981/82), Tz. 401.
Stabilisierungspolitik
3.4
149
Zur allokativen Funktion von Krisen in der Marktwirtschaft
Mit dem voranstehenden Problemkomplex ist letztlich die Frage nach der Funktion von Krisen in der Marktwirtschaft aufgeworfen18. Krisen sind aus Sicht einer sicherungsorientierten Stabilisierungskonzeption "Fehlentwicklungen", die es zu bekämpfen gilt. Von einer stetigeren und krisenfreieren Entwicklung erhoffen sich die Postkeynesianer nicht nur die Verringerung der aktuellen sozialpolitischen Probleme, sondern auch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine beschleunigte Investitionstätigkeit und die raschere Durchsetzung des technischen Fortschritts. Aus evolutionstheoretischer Sicht sind Krisen dagegen - verwiesen sei auf J.A. Schumpeter, A. Spiethoff und F.A. von Hayek - notwendige Prozesse einer "schöpferischen Zerstörung". Krisen sind so gesehen erwünschte "Reinigungsprozesse". Für G. Mensch sind sie sogar das auslösende Element für einen neuen Innovations- und Wachstumsschub19. Seiner Einschätzung nach kommt die geballte Durchsetzung von technologischen Basisinnovationen immer erst dann in Gang, nachdem die Wirtschaft in eine tiefgreifende Krise geraten ist. Auch der Sachverständigenrat weist bereits in seinem Jahresgutachten 1967/68 auf die "reinigende und damit wachstumsfördernde Funktion" von Krisen hin20. Die Entwicklung in den neunziger Jahren in Deutschland scheint Beleg für diese These zu sein. Krisen sind so gesehen erforderlich, um den allgegenwärtigen Drang zur Immobilität, zur reinen Verteidigung nicht mehr entwicklungsfähiger Strukturen, zu durchbrechen und den Weg zur Entfaltung der bis dahin unterdrückten Kreativkräfte frei zu machen. Folgt man dieser evolutorischen und institutionenaufbrechenden Sicht des Krisenphänomens, so führt die Vermeidung von Krisen durch eine sicherungsorientierte (Stabilisierungs-)Politik zur Verringerung der wirtschaftlichen Dynamik und - da Krisenbekämpfung de facto mit der Erhaltung alter Strukturen einhergeht - zu einer um so krisenanfälligeren wirtschaftlichen Entwicklung, die, mit M. Olson, letztendlich in den "Niedergang von Nationen" mündet21. Je erfolgreicher die symptomtherapeutische Stabilisierungspolitik ist, um so langsamer wird auch die Anpassung an den strukturellen Wandel vollzogen und um so eher erlahmen die dynamischen Wachstumskräfte. Das daraus resultierende Syndrom der Abschwächung der dynamischen Effizienz aus sozialen und politischen Gründen wird von Olson als "institutionelle Sklerose"22 bezeichnet.
18 19 20 21 22
Siehe hierzu auch Spahn (1979), S. 80ff. Mensch (1975). Sachverständigenrat (1967/68), Tz. 239. Olson (1991). Olson (1991), S. 103.
150
Stabilisierungspolitik
Ein Erklärungsansatz, der auch Angebotstheoretikern als Begründung für die anhaltende Arbeitslosigkeit dient.
4
Elemente einer allokationsorientierten Stabilisierungspolitik
4.1
Verteilung der Rollen
Ziel der Stabilisierungspolitik muss es sein, den Stabilisierungsbedarf durch kausaltherapeutische Maßnahmen zu verringern. Stabilisierungspolitik ist daher in erster Linie Allokationspolitik. Ziel ist die Gewährleistung der statischen und dynamischen Effizienz des Marktsystems. Stabilisierungspolitik sollte also primär allokationsorientierte Stabilisierungspolitik, sollte "Mikrostabilisierungspolitik"23 sein. Der sicherungsorientierten Stabilisierungspolitik kommt demgegenüber nur eine subsidiäre Rolle zu. Auf ad hoc-Interventionen sollte so weit als sozialpolitisch verantwortbar verzichtet werden. Wie erwähnt, liegt der Schwerpunkt einer derartigen allokationsorientierten Stabilisierungspolitik in der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Marktkräfte. Den Marktmechanismen wird die entscheidende Stabilisatorrolle zugewiesen. Korrigierende politische Interventionen haben in den Hintergrund zu treten. Nach den Vorstellungen des Sachverständigenrates übernimmt der Staat in diesem Konzept einer neuen Rollenverteilung ("Reassignment") auch keine unmittelbare prozesspolitische Verantwortung mehr für die Sicherung eines hohen Beschäftigungsstandes. Er hat lediglich die (ordnungspolitischen) Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass mehr Beschäftigung möglich wird24. Zentrale Bausteine des Konzepts bilden die Gleichgewichtshypothese (funktionsfähige Märkte sichern die Stabilität des Marktsystems), das Saysche Theorem ("das Angebot schafft sich seine Nachfrage"), Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung ("Initiierung schöpferischer Zerstörungsprozesse" durch "Pionierunternehmer") und das Laffer-Theorem (Verringerung der Disincentives des herrschenden Abgabensystems).
23 24
Goßner (1985), S. 150ff. Siehe Sachverständigenrat (1974/75), Tz. 369ff. Ders. (1997/98), Tz. 292ff.
Stabilisierungspolitik
4.2
151
Stetigkeit und "Credibility" als Elemente allokationsorientierter Stabilisierungspolitik
An erster Stelle steht die Verstetigung der Wirtschaftspolitik selbst, also die Stabilisierung des wirtschaftspolitischen Rahmens, die "Konstanz der Wirtschaftspolitik" gemäß W. Eucken25. Diese Forderung folgt allerdings nicht nur ordoliberaler bzw. neoklassischer Tradition, sie entspricht auch der Tradition von J.M. Keynes. Keynes hat ja gerade die Instabilität des Wirtschaftsprozesses auf unsichere Zukunftserwartungen und auf die daraus resultierenden Schwankungen der Investitionstätigkeit und der Geldnachfrage zurückgeführt. In dieser Hinsicht bleibt die postkeynesianische Standardversion besonders weit hinter Keynes' Werk zurück. Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es also, fur einen positiven "state of confidence"26, so Keynes, bzw. fur "credibility" im Sinne von W. Fellner27 Sorge zu tragen. Zwar lässt sich die allgemeine Unsicherheit bezüglich der künftigen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung durch keine Form der Wirtschaftspolitik beseitigen, reduzierbar ist jedoch die Marktunsicherheit. Marktunsicherheit ergibt sich zum einen aus der Unsicherheit über das Verhalten anderer Marktpartner - diese Unsicherheit dürfte sich ebenfalls nur bedingt reduzieren lassen, zumindest dann, wenn Preismeldestellen, Investitionskartelle und andere Formen der ex ante-Koordination nicht ins Kalkül gezogen werden. Marktunsicherheit resultiert jedoch zum anderen aus der Unsicherheit hinsichtlich des Verhaltens der Wirtschaftspolitik. Die wirtschaftspolitischen Akteure sind daher aufgerufen, durch Stetigkeit und Berechenbarkeit des Handelns ihren Teil zur Verringerung der Marktunsicherheit beizutragen. Bedenkt man im übrigen, dass prozyklische Wirtschaftspolitik eher die Regel und antizyklisches konjunkturgerechtes Verhalten eher die Ausnahme ist, so erscheint die Forderung nach Stetigkeit ohnehin geboten. Gemessen am eher prozyklischen Verhalten von Bund, Ländern und Gemeinden in der Realität, handelt es sich hierbei um eine sehr anspruchsvolle Forderung. Stetige und berechenbare Wirtschaftspolitik bedeutet jedoch nicht nur Verstetigung der Finanzpolitik und die strikte Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, sondern auch konsequent stabilitätskonforme Geldpolitik. Der Geldwert sollte nicht zur Disposition derer stehen, die im Umverteilungsprozess Verbesserungen der Verteilungspositionen anstreben. In diesem Sinne plädiert der Sachverständigenrat seit Jahrzehnten fìir eine konsequent stabilitätsorientierte Geldpolitik und 25
26 27
Eucken (1990/1952), S. 285. Im gleichen Sinne forderte auch der Sachverständigenrat "mehr Konstanz der Wirtschaftspolitik"; Sachverständigenrat (1981/82), Tz. 300. Keynes (1936), S. 162; siehe auch A. LeijonhufVud (1983). Fellner (1979), S. 167ff.
152
Stabilisierungspolitik
damit für eine engere Verknüpfung von Fehlverhalten (der Privaten und/oder des Staates) und Sanktionen 28 . Inflation als "sozialer Besänftiger" ist kein adäquates Instrument zur Lösung der Verteilungsauseinandersetzungen. Preisniveaustabilität ist auch allokationspolitisch geboten. Sie ist Voraussetzung für das unverfälschte Funktionieren des Marktmechanismus und damit fur die Effizienz des Systems. Die Credibility-Hypothese setzt auf die Notwendigkeit der Austrocknung der Inflationserwartungen durch eine streng potenzialorientierte Geldpolitik, sei es auch um den Preis einer Stabilisierungskrise.
4.3
"Offensive Marktpolitik" als Element allokationsorientierter Stabilisierungspolitik
Die Steigerung der Anpassungsfähigkeit der Volkswirtschaft erfordert vor allem die Stärkung des Wettbewerbs auf den Gütermärkten. Dabei sollte der "kausaltherapeutischen Marktpolitik" der Vorzug vor einer ad hoc intervenierenden Wettbewerbspolitik gegeben werden. Eine auf die ex-post-Korrektur wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens ausgerichtete Wettbewerbspolitik ist, wie die Missbrauchsaufsicht eindrucksvoll belegt, immer der Gefahr ausgesetzt, in einen Einzelfallinterventionismus mit praktisch nicht prognistizierbarem Ergebnis auszuufern 29 . Ziel einer "kausaltherapeutischen Wettbewerbspolitik" sollte es sein, die marktstrukturellen Bedingungen derart zu verbessern, dass mehr Wettbewerb möglich wird. Allokationsorientierte Stabilisierungspolitik ist aus dieser Sicht vor allem Marktöffnungs- bzw. Deregulierungspolitik, und zwar nicht nur auf den Güter-, sondern auch auf den Faktormärkten. Deregulierung ist politisch allerdings doppelt problembehaftet. Es besteht nämlich ein Ungleichgewicht zwischen der Schaffung von Schutzzonen und deren Beseitigung. Bei der Einrichtung von Schutzzonen fallen für die Begünstigten regelmäßig konzentrierte Gewinne an, während für die Allgemeinheit nur verstreute und damit unmerkliche Verluste auftreten. Beim Abbau von Rentenpositionen ist es gerade umgekehrt: verstreuten Gewinnen für die Gesellschaft in Form einer (möglicherweise nur zögernd eintretenden) Erhöhung der Wachstumsdynamik stehen konzentrierte Verluste bei den Betroffenen gegenüber. Es ist nur zu verständlich, dass die negativ Betroffenen versuchen, sich gegen Deregulierungen und Marktöffnungen zu wehren. Deregulierungsfahig und -bedürftig sind aller-
28
29
Sachverständigenrat (1974/75), 5. Kapitel. Siehe hierzu auch die Ausführungen des Sachverständigenrates mit Blick auf die Ausgestaltung der Geldpolitik der EZB (1999/2000), Tz. 259ff. Siehe Herdzina ( 1999a), S. 103ff.
Stabilisierungspolitik
153
dings nicht nur die Gütermärkte, sondern auch die Faktormärkte, also die Kapitalmärkte und insbesondere die Arbeitsmärkte. 4.4
Mehr Markt am Arbeitsmarkt
Hinsichtlich der Arbeitsmärkte sollten institutionelle Reformen darauf abzielen, gesamtwirtschaftlich unerwünschte Folgen des lohnpolitischen BargainingProzesses den jeweiligen Verantwortungsträgern unmittelbarer als bisher zuzurechnen. Auch in der Lohnpolitik sollte daher das Prinzip der Internalisierung externer Effekte stärker zur Geltung kommen. Die Frage läuft letztlich darauf hinaus, wie gewährleistet werden kann, dass seitens der Tarifparteien Gleichgewichtslöhne vereinbart werden, die gewährleisten, dass auch die Arbeitslosen zu ihrem Recht kommen. Die Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung durchzieht wie ein roter Faden die Forderung, die Arbeitsmarktordnung mehr auf die allokativen Erfordernisse auszurichten. Das zu einem erheblichen Teil durch die Arbeitsgerichtsbarkeit geprägte Regelwerk für Arbeit setzt für das Verhalten der Marktteilnehmer am Arbeitsmarkt offensichtlich zu enge Schranken. Mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt muss vor allem zu Gunsten der Arbeitslosen erreicht werden. Zudem passt das ordnungspolitische Regelwerk am Arbeitsmarkt weniger denn je zu den sich wandelnden wirtschaftlichen Bedingungen. Insbesondere die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien erzwingen eine stärkere Dezentralisierung der Entscheidungen. Flexibilität und Anpassung an veränderte Bedingungen sind ein zwingendes Erfordernis, um die Allokationsfiinktion des Arbeitsmarktes wiederherzustellen. Mehr Flexibilität setzt die Bereitschaft der Tarifvertragsparteien voraus, neue Regelungen zu erproben. Dazu sind aber allokationspolitisch motivierte Änderungen des rechtlichen Regelwerkes unumgänglich30.
5
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Stabilisierungspolitik hat eine allokative und eine distributive Komponente. Speziell das postkeynesianische Konzept der Stabilisierungspolitik ist primär an sozialen Sicherungszielen orientiert, sie ist insofern eher symptomtherapeutischer Natur. Ein Mehr an sozialpolitisch motivierter Stabilisierung der Volkswirtschaft kann jedoch zu einem Weniger an dynamischer Effizienz führen. Stabilisierung
30
Siehe hierzu im einzelnen Sachverständigenrat (1999/2000), Tz. 359fF.
154
Stabilisierungspolitik
kann insofern zur strukturellen Verhärtung in der Volkswirtschaft beitragen. Sie schafft sich dann möglicherweise erst ihren eigenen Stabilisierungsbedarf. Das Ziel der Stabilisierungspolitik sollte vor allem darin bestehen, den Stabilisierungsbedarf selbst zu verringern, und zwar dadurch, dass versucht wird, die mikroökonomische Flexibilität der Volkswirtschaft zu steigern. Allokationsorientierte Stabilisierungspolitik dient der Stärkung der Marktkräfte und der Anpassungsflexibilität des Systems. Eine konsequent "allokationsorientierte Stabilisierungspolitik" wird allerdings den sozialen Sicherungsbedürfnissen der Menschen nicht immer gerecht. In einer parlamentarischen Demokratie stellt sie an die Politiker sehr hohe Anforderungen; denn diese bewerten die durch sicherungsorientierte Interventionen erhoffte Verbesserung der Wiederwahlchancen vielfach höher als die schleichende Verschlechterung der dynamischen Effizienz der Volkswirtschaft. Zudem muss konzediert werden, dass auch aus ökonomischer Sicht eine begrenzte "Subventionierung der Anpassung" an den Strukturwandel sinnvoll sein kann. Dies folgt ebenfalls aus dem Charakter des Strukturwandels als "öffentliches Gut" - allerdings nur dann, wenn die Sicherungspolitik nicht in eine permanente Erhaltungspolitik entartet. Wer wollte bestreiten, dass in einer Gesellschaft nicht nur die Sicherung der ökonomischen Effizienz, sondern auch die Erhaltung des sozialen Friedens eine zentrale Aufgabe der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ist. Im Zweifel sollte aber kausaltherapeutischen Maßnahmen der Vorzug vor der Symptomtherapie gegeben werden.
Stabilisierungspolitik
155
Literatur Borner, S. (1975), Versuch einer theoretischen und politischen Neuinterpretation der Einkommenspolitik, in: Schneider, H.K./Wittmann, W./Würgler, H. (Hrsg.), Stabilisierungspolitik in der Marktwirtschaft, zweiter Halbband, Berlin Bronfenbrenner, M. (1955), Some Neglected Implication of Secular Inflation, in: Kurihara, K.K. (Hrsg.), Post-Keynesian Economics, London Eucken, W. (1990), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen (1. Aufl. 1952) Giersch, H. (1985), Eurosclerosis, Kieler Diskussionsbeiträge 112, Kiel Goßner, A. (1985), Stagflation, Verteilungskonflikt und Stabilisierungspolitik, Tübingen Herdzina, K. (1981), Wirtschaftliches Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb, Berlin Herdzina, K. (1999a), Wettbewerbspolitik, 5. Aufl., Stuttgart, New York Herdzina, K. (1999b), Einfuhrung in die MikroÖkonomik, 6. Aufl., München Keynes, J.M. (1936), The General Theory of Employment, Interest and Money London, New York Leijonhufvud, A. (1983), What would have Keynes Thought of Rational Expectations, in: Worswick, D./Trevithick, J. (Hrsg.), Keynes and the Modern World, Cambridge Luckenbach, H. (1986), Theoretische Grundlagen der Wirtschaftspolitik, München Mensch, G. (1975), Das technologische Patt, Innovationen überwinden die Depression, Frankfurt a.M. Musgrave, R.A. (1969), Finanztheorie. Tübingen Olson, M. (1991), Aufstieg und Niedergang von Nationen, Ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit, 2. Aufl., Tübingen
156
Stabilisierungspolitik
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Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 0
Globalisierung und Umwelt Hans-Dieter
Feser1
Die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen kann einerseits effizientere und umweltverträglichere Entwicklungspfade fordern, etwa durch die Verbreitung entsprechender Technologien. Andererseits können diese Vorteile durch gegenläufige Tendenzen relativiert werden, wenn verstärkte ökonomische Aktivitäten zu einem weiteren Anstieg von Umweltverschmutzung und Ressourcenverbrauch führen. Die Globalisierung ist dabei kein neuartiger Prozess. Die Verflechtung wirtschaftlicher Aktivitäten über Märkte ist geradezu das Charakteristikum entwickelter Marktwirtschaften. Neu ist jedoch die Beschleunigung dieses Prozesses sowie die zunehmend problemlosere Überwindung der räumlichen Distanz. Wenn aber "Entfernung" immer mehr zu einer vernachlässigbaren Größe wird, forciert sich der weltweite Wettbewerb: Es kommt zu einer Neubestimmung der internationalen Arbeitsteilung, Wirtschaftsstandorte und Standortmerkmale werden neu verteilt. Neue Kommunikations- und Logistiktechnologien revolutionieren Wirtschaft und Gesellschaft. Die Industriestaaten stoßen zwar bei traditionellen Produktions- und Konsummustern gegenwärtig an Entwicklungsgrenzen: etwa bei den Ressourcen (Rohstoffe, Energie) und der Umwelt (Luft, Wasser, Boden). Andererseits brechen sie in eine Internet-basierte "new economy" auf. Die ökonomischen Konsequenzen dieser Entwicklung führen zu einer nachhaltigen Veränderung der bestehenden Wertschöpfungssysteme. Der Frage, welche positiven wie negativen Umwelteffekte die Globalisierung mit sich bringt, soll im Folgenden systematisch nachgegangen werden. Hierzu werden zunächst die Zusammenhänge zwischen Internationalisierung, Globalisierung und unterschiedlichen Wachstumstypen sowie die Dimensionen, Ursachen und Effekte der Globalisierung dargestellt. Anschließend werden sowohl die Auswirkungen der Globalisierung auf die Umwelt als auch die Effekte von Umweltpolitik auf die nationale Standortqualität betrachtet. Abschließend werden die normativen Implikationen des Leitbildes einer "Nachhaltigen Entwicklung" behandelt und in einem Fazit Konsequenzen für politisches Handeln abgeleitet.
Für wertvolle Anregungen und konstruktive Kritik danke ich meinem Mitarbeiter Dr. Wolfgang Flieger.
158
1
Globalisierung und Umwelt
Internationalisierung, Globalisierung und Wachstumstypen
Die von dem amerikanischen Sozialwissenschaftler John Naisbitt vor etwa 20 Jahren identifizierten "Megatrends"2 sind größtenteils verwirklicht. Die Industriegesellschaft traditionellen Typs wandelt sich in eine Informationsgesellschaft, Hierarchien werden in Netzwerke aufgebrochen, institutionelle Zentralisation transformiert sich in dezentrale Organisationen und die repräsentative Demokratie bekommt partizipative Elemente. In den Sozialwissenschaften fuhren diese Entwicklungen zu kultursoziologischen Begriffsbildungen wie "Erlebnisgesellschaft" 3 , "Risikogesellschaft" 4 oder "Informationsgesellschaft" 5 . Für Ökonomen sind die Expansion von Märkten, verschiedene Verfügbarkeiten von Technologien und dadurch ausgelöste Wohlfahrtseffekte seit Adam Smith 6 Gegenstand theoretischer wie empirischer Reflexion. Die über den Markttausch vermittelte Arbeitsteilung sowie die Rationalisierungseffekte der branchen- und produktmäßigen Spezialisierung sind genuine Quellen des "Reichtums der Völker". Die mit Adam Smith beginnende ökonomische Klassik bietet die erste umfassende Grundlegung der Theorie der Marktwirtschaft. Im Zentrum steht dabei die langfristige Entwicklung einer Volkswirtschaft. In der Streisslerschen Interpretation der Smithschen Wachstumstheorie 7 spielt für die stabile Trendentwicklung von Marktwirtschaften der enge Zusammenhang zwischen Sach- und Humankapital die entscheidende Rolle. Das Produktionssystem steht im Mittelpunkt des analytischen Interesses. In der neoklassischen Modellwelt wurde die Angebotsseite zur ausschließlich determinierenden für die kurzfristig orientierte Beschäftigungs- und Einkommenstheorie. Die dazu entwickelte mikroökonomische Analysetechnik erklärt über Substitutionseffekte - auch intertemporaler Art - den gesamtwirtschaftlichen Strukturwandel bzw. Modernisierungsprozess. Zur langfristigen Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und struktureller Anpassungsfähigkeit nationaler Volkswirtschaften wird die Kompetenz in Schlüsseltechnologien zur wichtigen Voraussetzung. 8 Mit Bezug auf Adam Smith heben Ayres 9 , Rosen-
2 3 4 5 6 7 8 9
Naisbitt (1982). Schulze (1993). Beck (1988). Lash (1996). Smith (1776/1999). Vgl. Streissler (1999). Vgl. Herdzina/Nolte (1995). Ayres (1988).
Globalisierung und Umwelt
159
berg, Landau und Mowery 10 sowie Foray und Freeman11 die zentrale Bedeutung von Technologien für den Wohlstand eines Landes hervor: "Technology and the Wealth of Nations "; folglich wird der technologische Wandel zum Zentrum der "technophysischen Evolution" 12 . In welchen Kontext ist diese Entwicklung eingebunden und welchen Stellenwert nimmt die Umwelt ein? Eine notwendige Bedingung für die Globalisierung der Wirtschaft ist deren Internationalisierung, d.h. die Veränderung der internationalen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen in Richtung offener Märkte und der Verwirklichung des Freihandelspostulats. Durch den Abbau tarifarer und nichttarifarer Handelshemmnisse sowie die multilaterale Gültigkeit der Meistbegünstigungsklausel im GATT/WTO-Bereich soll Markteffizienz ermöglicht werden. Mit der Globalisierung wird die prozessuale Dynamik der Intensivierung des Wettbewerbs aufgrund geöffneter Märkte, neu in den Markt eintretender Wettbewerber und beschleunigter Informations- und Kommunikationstechnologien beschrieben. 13 Eine weitere notwendige Voraussetzung für diesen Prozess der Marktvernetzung ist die Verfügbarkeit der neuen Technologien. Herbert Giersch14 beschreibt diese Entwicklung als die Verschränkung von zwei Wachstumstypen: das klassische SmithWachstum, das sich aus der Produktivität internationaler Arbeitsteilung und Konkurrenz ergibt, wird zunehmend ergänzt durch das Schumpeter-Wachstum der schöpferischen Zerstörung. Damit rücken der dynamische Unternehmer sowie Produkt- und Prozessinnovationen und folglich die Marktform des dynamischen Wettbewerbs 15 in den Mittelpunkt des Interesses. Die technologische Wettbewerbsfähigkeit wird zum strategischen Entwicklungsfaktor. Der dynamische Wettbewerb eröffnet dabei Chancen für den technologischen Umweltschutz, wie umgekehrt dieser auch Konkurrenzvorteile mit sich bringen kann.16
2
Dimensionen und Ursachen der Globalisierung
Das Globalisierungsphänomen umfasst politische, kulturelle, ökonomische und ökologische Dimensionen und ist folglich von hoher normativer Beschaffenheit.
0
2 3 4 5 6
Rosenberg/Landau/Mowery ( 1992). Foray/Freeman (1993). Fogel (1999). Vgl. Kirchgässner ( 1998). Giersch (2000). Vgl. Feser (1990). Siehe Abschnitt 4 und 5 unten.
Globalisierung und Umwelt
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Francis Fukuyamas Verdikt vom "Ende der Geschichte" 17 ist der optimistische Kontrapunkt zu Paul Kennedys 18 pessimistischer Beschreibung des relativen Niedergangs der westlichen Führungsmacht - ausgelöst durch die Niederlage im Vietnam-Krieg sowie Japans Aufstieg zur Wirtschaftsmacht. Fukuyama konstatiert mit dem politischen wie wirtschaftlichen Zusammenbruch der "Zweiten Welt" 1989 die Universalisierung westlicher Werte sowie der liberalen Demokratie als globaler Regierungsform. Damit wären die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen für die dynamischen ökonomischen Modernisierungsprozesse installiert. Auch die empirische Beobachtung bestätigt, dass die demokratischen Marktwirtschaften jene Wirtschaftssysteme sind, in denen es am meisten technologischen und organisatorischen Fortschritt gibt. Diese Innovationen eröffnen neue Produktions- und Produktmöglichkeiten. Die dritte Ursache der Globalisierung - neben dem Ende sozialistischer Wirtschaftssysteme und der technologischen Entwicklung - sind die ökonomischen Aktivitäten der emerging markets nicht nur Südostasiens, sondern zunehmend auch Südamerikas, empirisch belegbar durch die signifikant höheren Zuwachsraten im Welthandel im Vergleich zur Weltproduktion19. Die ökologische Dimension der Globalisierung ist mit dieser ökonomischen Entwicklung verbunden, da die Umweltwirkungen wirtschaftlicher Aktivitäten, die ohnehin nicht an hoheitliche Grenzen gebunden sind, ebenfalls an Reichweite und Interdependenz gewinnen.
3
Effekte der Globalisierung
Was verändert sich im ökonomischen Globalisierungsprozess, der die von Hayeksche Position des Marktes als "Entdeckungsverfahren" mit der Schumpeterschen Marktdynamik der Innovationen verknüpft, quantitativ wie auch qualitativ? Es sind vier Trends festzustellen, die schließlich in einen intensivierten Wettbewerb einmünden: •
17 18 19
eine zunehmende Kapitalintensität der Produktion bei gleichzeitig zunehmender internationaler Verflechtung der Sachkapitalbildung (gemessen am Anstieg der Direktinvestitionen),
Fukuyama (1989/1992). Vgl. Kennedy (1988). Vgl. Weltentwicklungsbericht 1999/2000 (2000).
Globalisierung und Umwelt
161
•
eine Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung,
•
ein struktureller Wandel der Aussenhandelsströme: innerhalb der Triade (EWR, NAFTA und Japan) dominiert das intraindustrielle Handelsmuster, zwischen Entwicklungs- und Schwellenländern überwiegt eher der interindustrielle Handel, sowie
•
ein verstärkter Wettbewerb nationaler Standorte (als immobile Faktoren) um mobiles Kapital und Technologien.
Alle vier Entwicklungstrends sind über die Verfügbarkeit technologischer Innovationen geprägt und miteinander verbunden. Die weltweite Durchsetzung eines technologie- und wissensbasierten Fortschritts- und Wachstumsmusters erhebt natürlich auch die Frage nach dessen "Qualität". Im Folgenden sollen die ökologischen Effekte der Globalisierung näher betrachtet werden.
4
Auswirkungen der Globalisierung auf die Umweltqualität
Umweltschutz und technologische Entwicklung sind untrennbar miteinander verbunden. Andererseits ist technischer Fortschritt auch eine der Ursachen für die Globalisierung. Ein negativer ökologischer Effekt der Globalisierung ergibt sich aus der Handelsintensivierung. Das erhöhte globale Transportaufkommen führt zu einem Anstieg transportbedingter Emissionen. Zusammen mit einer DurchflussOrientierung der dominierenden Produktions- und Konsummuster führt dies dazu, dass die anthropogenen Emissionen einen zunehmenden Anteil an den natürlichen Stoffkreisläufen stellen.20 Das Positivum der Globalisierung liegt in der weltweiten Diffusion von Umwelttechnikgütern des additiven Umweltschutzes sowie den beginnenden Anstrengungen im Bereich des integrierten Umweltschutzes. 21 Empirisch beobachtbar ist in den letzten Jahren eine Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung einerseits sowie Wirtschaftswachstum andererseits. Einsparungsmaßnahmen, Effizienzsteigerungen, Recyclingverfahren, Umweltinnovationen forcierten technisch-organisatorisch induzierte Umweltverbesserungen. Die klassischen Probleme - Wasser-, Luft- und Bodenverschmut-
20 21
Vgl. W B G U ( 1 9 9 9 ) , S. 3 f. Vgl. Feser (1996).
162
Globalisierung und Umwelt
zung - sind mittels technischer Umweltnormen in den Industriestaaten weitgehend gelöst. Diese sichtbaren lokalen Umweltbelastungen sind prinzipiell bekämpfbar. Ob diese Effizienzentwicklung bereits zu einem Paradigma des "nachhaltigen Wachstums" führen wird, ist allerdings kritisch zu hinterfragen. 22 Erst ein Blick auf die räumlichen Dimensionen von Umweltproblemen eröffnet deren Globalität. Quantitativ global zeigen sich Ressourcenprobleme wie Überfischung, Entwaldung, Flächenverbrauch und Kontamination des Trinkwassers, qualitativ global treten zunehmend Klimaveränderungen auf. Ein Indikator hierfür ist das Wachstumstempo von Schadensumfang und Schadensmenge von Umweltkatastrophen: das Schrumpfen der Ozonschicht, das Abschmelzen der polaren Eisdecken, Wirbelstürme und Überschwemmungen nehmen in der Beobachtung der Rückversicherer tendenziell zu. Umweltökonomisch interpretiert handelt es sich bei diesen Phänomenen um grenzüberschreitende negative Externalitäten. Die neoklassische Theorie des allokativen Marktversagens entwickelte zur Internalisierung externer Effekte das traditionelle umweltpolitische Instrumentarium: Abgaben und Zertifikate. 23 Die entscheidende umweltpolitische Frage ist, ob diese Instrumente auch bei grenzüberschreitenden Umweltproblemen, die international und global sind, entsprechend greifen können. Oder anders gefragt: müssen bei internationalen öffentlichen Gütern24 - wie bei den vorliegenden globalen Umweltproblemen - nicht auch global wirkende Strategien genutzt werden? Das Ziel muss die weltweite Internalisierung der externen Umweltkosten sein25, um die Belastung der Umwelt und Ressourcen insgesamt zu reduzieren bzw. auf die nationalen Emissionsquellen und damit in die nationalen Regelsysteme zurückzuverlagern. Da die internationale Immission von Schadstoffen auch die nationalen Wohlfahrtsfunktionen negativ vernetzt, werden bi- und multilaterale Verhandlungslösungen nach dem Kooperationsprinzip diskutiert. Die theoretische Grundlage liefert das Coase-Theorem 26 , die ordnungspolitische Begründung derartiger Ansätze die Nichtexistenz einer supranationalen Umweltbehörde.
22 23 24
25 26
Siehe unten Abschnitt 6; vgl. hierzu auch den Überblick in W B G U (1999), S. 51 und S. 214 f. Vgl. Endres ( 1994), S. 97 ff., Herdzina (1999), S. 155. Zur analytischen Äquivalenz von externen Effekten und öffentlichen Gütern vgl. Sohmen (1976), S. 291 ff. Ohr (1994/1995). Vgl. Kirchgässner (1995), Langhammer (2000).
Globalisierung und Umwelt
§
163
Auswirkungen von Umweltpolitik auf nationale Standortqualität
Die Auswirkungen der Regelungsdichte nationaler Umweltpolitiken auf die Standortqualität und damit die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen werden in zwei alternativen Positionen diskutiert: •
Negativer Standpunkt Eine strikte Umweltpolitik im Sinne der Internalisierung externer Effekte erlegt den Verursachern die vorher von Dritten getragenen Kosten der Umweltverschmutzung bzw. ihrer Vermeidung auf und verursacht somit im internationalen Wettbewerb komparative Kostennachteile. Sie vermindert damit die Wettbewerbsfähigkeit inländischer Unternehmen. Dies kann letztlich eine Verlagerung umweltintensiver Produktionsaktivitäten in das Ausland und negative Beschäftigungseffekte im Inland auslösen.
•
Positiver Standpunkt Die sog. Porter-Hypothese27 hingegen postuliert Wettbewerbsvorteile durch eine strikte Umweltpolitik, da dadurch innovative Entwicklungen von Umweltschutztechnik induziert werden, die zu first-mover-advantages bzw. Technologieführerschaft im Umwelttechnikmarkt fuhren.
Der empirische Beleg für die Negativ-Position ist nicht eindeutig. In einer ökonometrischen Analyse der deutschen Direktinvestitionen im Ausland ergibt sich für die Chemische Industrie zunächst das vermutete Ergebnis eines negativen Zusammenhangs zwischen Umweltschutzgesetzgebung und Standortwahl. Allerdings sind die Ergebnisse für diese umweltintensive Branche nur schwach signifikant. Bedeutsameren Einfluss auf die Standortwahl hätten jedoch die Entscheidungsdeterminanten wie Nachfragepotential, qualifiziertes Humankapital und Infrastrukturqualität. 28 In einer korrelationsanalytischen Untersuchung von siebzehn umweltintensiven deutschen Branchen kann sogar kein signifikanter Zusammenhang zwischen Umweltpolitik und sektoraler Wettbewerbsfähigkeit festgestellt werden. 29 Porter30 kritisiert an der Negativ-Position - aus wettbewerbstheoretischer Sicht deren ausschließlich statische Orientierung. Internationale Wettbewerbsfähigkeit
27 28 29 30
Porter/van der Linde (1995). Vgl. Horbach (1998/1999). Vgl. Felke (1998). Vgl. Porter/von der Linde (1995).
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hänge mit dem Paradigma eines dynamischen Wettbewerbs zusammen und sei innovationsorientiert. Durch technische Innovationen könne die Produktionsmöglichkeitskurve nach außen verschoben werden. Den Innovationsimpuls lösen Umweltpolitik und Umweltstandards aus. Die internationalen Wettbewerbsvorteile gegenüber Konkurrenten in Ländern ohne entsprechende Umweltpolitik nehmen zu, da die Produktivität der Ressourcennutzung steigt. Dadurch können die gestiegenen Produktionskosten überkompensiert werden. Aber auch diese Hypothese eines positiven Zusammenhangs zwischen Umweltpolitik und Wettbewerbsvorteilen ist derzeit nicht robust nachweisbar.31 Umwelttechnischer Fortschritt ist im Konzept der Porterschen Effizienzstrategie die entscheidende Größe. Die Generierung von Umweltinnovationen, die den Energie- und Ressourceninput bei gegebenem wirtschaftlichen Output senken und Umweltbelastungen einschränken, ist für eine umweltverträgliche Entwicklung eine notwendige Bedingung. 32 Für eine nachhaltige Entwicklung sind derartige Innovationen nicht hinreichend. Dazu werden auch Suffizienzstrategien benötigt, die zu verhaltensinduzierten Umweltverbesserungen führen.
6
Das Leitbild "Nachhaltige Entwicklung"
Seit der Deklaration von Rio de Janeiro 1992 sind Produkte und Produktionsverfahren nicht mehr ausschließlich unter dem Aspekt der Umweltverträglichkeit zu bewerten. Die damals erhobene Forderung nach "Nachhaltigkeit" umfasst alles, was mit der Endlichkeit natürlicher Ressourcen und Umweltsenken zusammenhängt. Dieses neue Paradigma impliziert eine tripolare Komplexität: die Bedürfnisbefriedigung lebender Generationen soll die Bedürfnisoptionen künftiger Generationen nicht restringieren. Diese Orientierung des Nachhaltigkeits-Leitbildes fuhrt unmittelbar zur Gleichrangigkeit der drei Dimensionen Ökonomie, Ökologie und Soziales und konkretisiert sich zudem in den beiden Postulaten einer intergenerationalen sowie einer intragenerationalen Gerechtigkeit. Ersteres betrifft intertemporale Verteilungsaspekte zwischen Generationen, letzteres hingegen gleichberechtigte Produktions- und Konsummöglichkeiten innerhalb von Generationen. Das zentrale Problem dabei ist, wie private und gesellschaftliche Nutzungsansprüche mit den natürlichen Lebensgrundlagen zeitlich und räumlich so in Ein-
31 32
V g l . Nil! ( 1 9 9 9 ) . V g l . Hemmelskamp ( 1 9 9 9 ) .
Globalisierung und Umwelt
165
klang gebracht werden können, dass die Gerechtigkeitsprinzipien des Nachhaltigkeitsleitbildes erfüllt werden können.33 In der neoklassischen Tradition sind Marktwirtschaften wachstumsorientiert und die Globalisierung der Märkte ist mit der langfristigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung verknüpft. Diese ist an die jeweils verfügbaren Ressourcen und folglich an die vorherrschenden Knappheitsverhältnisse gebunden. Unter ökologischen Gesichtspunkten stellt sich die Frage des Übergangs zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise. Damit ist auch die Frage nach exogenen Grenzen des Wachstums thematisiert. Die neoklassische Interpretation des Nachhaltigkeitsparadigmas geht von einem engen Zusammenhang zwischen Kapitalbildung und Wirtschaftswachstum aus. Die effiziente Ressourcenallokation alleine ist für die Sicherstellung eines exponentiellen Wachstumspfades nicht ausreichend. Sie ist auch mit einer stationären bzw. schrumpfenden Entwicklung vereinbar.34 Notwendig sind technologiebasierte Investitionen. So zeigen Gentechnologie, Lagerungstechniken und moderne Logistik einen flächenerweiternden Effekt, der eine ricardianisch argumentierende Wachstumsbegrenzung durch zunehmende Flächenknappheit überwindet. Die Club of Rome-Positionen der Wachstumsgrenzen durch erschöpfte Aufnahmekapazitäten der Senken wie auch begrenzter natürlicher Ressourcen wiederum sind vor dem Hintergrund moderner Explorationstechniken und ressourcensparender Technologien nicht haltbar.35 Die Substitutionalität verschiedener Kapitalarten (anthropogenes und Naturkapital) ist charakteristisch für dieses Konzept der sog. weak sustainability36. Gemäß diesem kapitaltheoretischen Substitutionskonzept soll die Summe aus natürlichen und anthropogenen Vermögensbeständen konstant gehalten werden. Aber: ergeben sich nicht aus der Irreversibilität der Erschöpfung von Naturkapital im Kontext des Nachhaltigkeitsparadigmas dennoch Begrenzungen des Wirtschaftswachstums? So belegt in einer kultur-anthropologischen Studie Marvin Harris37 den Niedergang des Maya-Reichs und der frühen Hochkulturen Asiens aus dem Zusammenspiel der drei evolutorischen Faktoren Produktion, Reproduktion und natürliche Ressourcen. Die stetige Ausdehnung der Produktion fand ihre Begrenzung durch das vorhandene Naturkapital und führte zu einer nicht zu
33 34 35 36 37
Vgl. Majer (1995), S. 237. Vgl. Neumann (1997), S. 9. Vgl. Neumann (1997), S. 88. Hampicke (1997), S. 133; Nutzinger (1995), S. 222. Harris (1990).
166
Globalisierung und Umwelt
schließenden "Schere" zwischen diesen beiden Faktoren.38 Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts wiederum forcierte die Produktionsintensivierung und brachte die technologisch verursachte Umkehr der demografischen Entwicklungstendenz. Die Brennstoffrevolution, die Revolution der Empfängnisverhütung sowie jene des Erwerbslebens überwanden das Malthussche Reproduktionsgesetz.39 Aber auch hier können die langfristig kumulativen Wirkungen der Produktivitätssteigerungen ihre Begrenzung in der Umwelterschöpfung finden. 40 Dieser Evolutionspessimismus fuhrt natürlich zur Frage eines Pfadwechsels. Ganz abgesehen davon, dass bereits beim neoklassischen Substitutionsgedanken die implizit unterstellte vollkommene technische Substituierbarkeit aller Kapitalarten kritisch zu hinterfragen ist. Für Robert Ayres 41 hat das konventionelle Wirtschaftswachstum (positive Zuwachsraten des BIP pro Kopf) keine Nachhaltigkeitsqualität. Im Gegenteil, die material- und energieintensive Produktion führt zu Umweltschäden und ist bestenfalls ein Null-Summen-, realistischer aber ein Negativ-Summenspiel für die Wohlfahrtsentwicklung. Eine Senkung des Material- und Energiedurchsatzes gilt Vertretern der ökologischen Ökonomie folglich als notwendige Bedingung einer nachhaltigen Entwicklung. 42 Das Ziel dabei ist zumindest die Stabilisierung des Material- und Energiedurchsatzes, des sog. throughput. Den Umfang dieses throughput bezeichnet Daly als scale43, als absolute physische Dimension des Wirtschaftens. Bleibt dieser scale konstant und übersteigt die Tragekapazität der Umwelt nicht, liegt eine steady-state-economy vor. Der Unterschied zwischen der traditionellen Wachstumswirtschaft und einer Steady-State-Wirtschaft liegt darin, dass für erstere quantifizierte Ziele vorgegeben werden können, für letztere dagegen nicht. Die ökologischen Wachstumsgrenzen, definiert über die Tragekapazität der Umwelt, sind wegen der Komplexität der natürlichen Prozesse nicht bestimmbar. Paradoxerweise führt gerade dieses Faktum zur Begründung einer Politik der Scale-Reduktion. Diese soll zu einer Senkung des Material- und Energiedurchsatzes führen, um potenzielle Begrenzungen der Optionen künftiger Generationen zu vermeiden. Letztlich entspräche diese Strategie einer Politik, die auf dem Vorsichtsprinzip aufbaut. 44 Damit könnte auch das Konzept der strong sustainability umgesetzt werden, das von der Komplementarität natürlicher und anthropogener Vermögensbestände ausgeht. Dann müsste aber nicht nur die
38 39 40 41 42 43 44
Vgl. ders.(1990), S . 2 2 5 f. Vgl. ders. (1990), S. 233 ff. Vgl. ders. (1990), S. 243 ff. Ayres (1998). Vgl. Bartmann (1996). Daly (1991). Vgl. Luks (1998).
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Summe, sondern jeder Anteil der Kapitalarten für sich, insbesondere der des Naturkapitals, konstant bleiben.45 Die ökologische Fragilität des Naturkapitals unserer Erde46 fuhrt zur ordnungspolitischen Frage, wie sich globalisierte Märkte in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln könnten. Hampicke antwortet normativ, da wir an ethische Grenzen des Utilitarismus stoßen und zudem eine gleichsam Kantsche Pflicht zu kollektiven Arrangements haben, um die ökonomischen wie ökologischen Interessen künftiger Generationen zu beachten. 47
7
Fazit
Wie dargestellt wurde, lassen sich im wesentlichen zwei gegenläufige Effekte der Globalisierung auf die Umweltqualität ausmachen: Während die zunehmende internationale Diffusion von Umweltschutz-Technologien insbesondere kleinräumig wirkende Umweltbelastungen in Entwicklungs- und Schwellenländern reduzieren dürfte, resultiert der im Zuge der Globalisierung steigende throughput in einer wachsenden Umweltbelastung. Welcher dieser beiden Effekte überwiegen wird, d.h. ob Globalisierung letztendlich eine nachhaltige Entwicklungsperspektive eröffnet, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es gelingt, im Rahmen internationaler Verhandlungs- und Kooperationslösungen eine ökologische Ordnungspolitik zu implementieren.
45 46 47
Vgl. Hampicke (1997), S. 133 f. Vgl. Gleich et al. (2000). Vgl. Hampicke (1997), S. 135 ff.
168
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SEKTORALER UND REGIONALER STRUKTURWANDEL
Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 0
Sorting von Sektoren - eine evolutorisch-systemische Erklärung des sektoralen Strukturwandels Karin
1
Knottenbauer
Die Herausforderung einer evolutorisch-systemischen Theorie des sektoralen Strukturwandels
Sektoraler Strukturwandel - eine Veränderung in der relativen Bedeutung der einzelnen Wirtschaftssektoren im Zeitablauf - gehört zu den stilisierten Fakten moderner Volkswirtschaften. Seit einigen Jahrzehnten lässt sich unter anderem ein Strukturwandel von industriell geprägten Volkswirtschaften hin zu Dienstleistungsgesellschaften beobachten, innerhalb dessen wiederum einige Industrie- und Dienstleistungsbranchen an Bedeutung gewinnen, während andere verlieren. Diese Produktionsverlagerungen wirken sich auf das Inlandsprodukt und die gesamtwirtschaftliche Beschäftigung aus. In seiner Habilitationsschrift hat Klaus Herdzina eine theoretische Integration des sektoralen Strukturwandels mit der konjunkturellen Entwicklung und dem Wettbewerbsphänomen vorgestellt.1 Dies stellt insofern eine Ausnahme dar, als in den Theorien der Volkswirtschaftslehre der sektorale Strukturwandel trotz seiner unbestrittenen Relevanz und anhaltenden Aktualität nicht in gebührendem Maße studiert wird. Die These der folgenden Ausführungen ist, dass die evolutorische Theorie einen fruchtbaren Beitrag zu einer Weiterentwicklung der Theorie des sektoralen Strukturwandels leisten kann. Die Kombination evolutorischer Konzepte mit systemtheoretischen Überlegungen erlaubt sowohl die Integration bestehender Theorieelemente aus anderen Forschungsprogrammen als auch die Entwicklung neuer Kernthesen. Die gegenwärtig diskutierten Ansätze des sektoralen Strukturwandels lassen sich grob vier verschiedenen Theoriegebäuden zuordnen. Zunächst intendiert die neoklassische Theorie den sektoralen Strukturwandel in der Allokations- und Wachstumstheorie zu modellieren.2 Daneben liefert die Input-Output-Analyse sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene Modelle zu einem Verständnis des strukturellen Wandels. 3 Ein weiterer - im deutschsprachigen Raum
' 2 3
Vgl. Herdzina (1981). Vgl. unter anderen Scheper/Henrichsmeyer (1970), Siebert (1977), Gans/Schiller (1996). Vgl. unter anderen Helmstädter et al. ( 1983) und Holub/Schnabl ( 1994).
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weitgehend vernachlässigter - post-keynesianischer Beitrag stammt von Pasinetti.4 Darüber hinaus bietet die Drei-Sektoren-Hypothese, die von Fisher und Fourastié begründet wurde 5 , in der aktuellen Diskussion des Strukturwandels zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft theoretische Argumente an, den historischen Strukturwandel zu erklären.6 Diese methodisch und inhaltlich äußerst heterogenen Theorien des sektoralen Strukturwandels weisen trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen einige Gemeinsamkeiten auf: (1) Den technischen Innovationen wird eine (zentrale) Rolle in der Erklärung des sektoralen Strukturwandels zugesprochen, sie werden jedoch nicht erklärt, sondern sind exogen gegeben ('Manna-vom-Himmel-Fortschritt'). (2) Im Hinblick auf die Ursachen des sektoralen Strukturwandels gilt das Hauptaugenmerk sektoralen Größen, wie den Güterpreisen oder den Prozess- und Produktinnovationen, und makroökonomischen Größen, wie der Entwicklung des Pro-Kopf-Realeinkommens. Die Erklärung des sektoralen Strukturwandels aus der Interdependenz der sektoralen Entwicklungen kommt insgesamt zu kurz. In der neoklassischen Theorie reduzieren sich die sektoralen Interdependenzen auf substitutive Mengeneffekte aufgrund von Veränderungen der relativen Preise. In der Theorie von Pasinetti werden Verflechtungen zwischen den Sektoren angesichts der produktionstechnischen Autarkie der einzelnen Sektoren und der Vernachlässigung von Preisstruktureffekten nicht berücksichtigt. Lediglich in der Input-Output-Analyse und der Drei-SektorenHypothese werden die Verflechtungen von Sektoren infolge von Kapitalgüterlieferungen ausfuhrlich analysiert. In der Input-Output-Analyse werden darüber hinaus technologische Spillover-Effekte untersucht. (3) Entwicklung und struktureller Wandel sind keine offenen, sondern determinierte Prozesse, in denen die Erreichung eines - je nach Theoriegebäude spezifizierten - Gleichgewichts eine zentrale Rolle spielt. Die Theorien basieren auf der Vorstellung, dass die Entwicklung durch eine permanente Gleichgewichtstendenz gekennzeichnet ist (neoklassische Allokationstheorie, InputOutput-Analyse), dass ein gleichgewichtiger Pfad langfristig erreicht wird (Fourastié) oder als Norm fur die Entwicklung vorzugeben ist (Theorie von Pasinetti, neoklassische "alte" Wachstumstheorie). In den neoklassischen "alten" Wachstumsmodellen zeigt sich, dass die zugrundegelegte Gleichgewichtskonzeption nicht mit einem allgemeinen sektoralen Strukturwandel
4 5 6
Vgl. Pasinetti (1981 und 1993). Vgl. Fisher (1939), (1954) und Fourastié (1952/54). Vgl. unter anderen Staroske (1995) und Grömling/Lichtblau/Weber (1998).
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vereinbar ist, somit eine neoklassische Theorie des sektoralen Strukturwandels an der Methodik scheitert.7 Pasinetti überwindet zwar das neoklassische Unvermögen der Unvereinbarkeit von sektoralem Strukturwandel und einer gleichgewichtigen Entwicklung, allerdings nur mit einer spezifischen Gleichgewichtsvorstellung, die durch Vollbeschäftigung aller Faktoren gekennzeichnet ist, aber Suboptimalitäten genauso zulässt, wie den Niedergang von Sektoren und eine permanente Reallokation der Arbeitskräfte (also eine durchaus unharmonische Entwicklung). Auf der Basis dieser Erkenntnisse lassen sich Ziele einer inhaltlichen und methodischen Neuorientierung der Theorien des sektoralen Strukturwandels formulieren, deren Umsetzung im Rahmen der evolutorischen Ökonomik realisierbar ist: (1) Die bisher als exogen angenommenen Ursachen des strukturellen Wandels sollten zumindest partiell endogenisiert werden. Die evolutorische Ökonomik ist dafür insofern prädestiniert als sie umfangreiche Beiträge zu einem besseren Verständnis der Entstehung und der vielfältigen Formen des technischen Fortschritt liefert. Insbesondere die Integration von endogenem technischem Fortschritt ist fur die Theorie des sektoralen Strukturwandels fruchtbar.8 (2) Darüber hinaus ist eine stärkere Ausrichtung sektoraler Strukturtheorien auf die Analyse der sektoralen Interdependenzen wünschenswert. Die systemare Sicht der evolutorischen Ökonomik fördert in einer theoretischen Untersuchung des sektoralen Strukturwandels die Analyse von sektoralen Interdependenzen. Eine detaillierte Untersuchung der vielfältigen Systemeffekte zwischen Sektoren - in Form von Spillover- und Feedback-Effekten, positiven und negativen Rückkopplungseffekten - ist hilfreich, über die bisherigen Ansätze hinaus einen ergänzenden Beitrag zu einer Theorie des sektoralen Strukturwandels zu leisten.
7
8
Vgl. Knottenbauer (2000), Abschnitt 3.1.3. Einige Modelle der neo-schumpeterianischen Theorie und der Neuen Wachstumstheorie basieren durchaus auch auf einer sektoralen Differenzierung. So wird in den Modellen von Aghion/Howitt (1992), Romer (1990) und Grossman/Helpman (1990) zwischen einem Konsumgutsektor, einem Forschungssektor und - in einigen Modellen zusätzlich einem Zwischengutsektor unterschieden. Voraussetzung einer Analyse des sektoralen Strukturwandels, wie er im folgenden verstanden wird, ist allerdings eine produktorientierte Untergliederung der Volkswirtschaft in mehrere Kapital- und Konsumgüter. Die Endogenisierung von Produktivitätssteigerungen ist auch ein Ziel der Neuen Wachstumstheorie und der neo-schumpeterianischen Theorie. Dies spricht fur eine mögliche gegenseitige Befruchtung der Forschungsprogramme. Vgl. für einen Überblick Verspagen (1992).
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(3) Des weiteren ist eine Abwendung von der in den sektoralen Strukturtheorien vorherrschenden Gleichgewichtsorientierung anzustreben. Aus der Sicht der evolutorischen Ökonomik ist diese Gleichgewichtsvorstellung - im Sinne eines tatsächlich erreichten Zustands, einer Tendenz oder eines normativ gedachten Referenzpfades - ein Irrbild, das dem mechanistischen Weltbild entspringt, das weder den realen Bedingungen entspricht - auch nicht in der Tendenz - noch ein erstrebenswertes Ziel sein kann, weil es frei ist von Heterogenitäten und Suboptimalitäten, deren Koexistenz jedoch für die Entstehung von Neuerungen jeglicher Art verantwortlich ist. Die Methodik der evolutorischen Ökonomik fordert eine dynamische Analyse, so dass Veränderungen des ökonomischen Systems im historischen Zeitverständnis untersucht werden. Diese Analyse der zeitlichen Anpassungsprozesse schließt Pfadabhängigkeiten und lock in-Effekte10 ein. Die Entwicklung strebt nicht einem bestimmten Gleichgewicht zu, sondern ist offen. Offenheit impliziert in der Regel, dass die Prozesse nicht deterministisch sind, was aber nicht bedeutet, dass sie völlig willkürlich oder ungeordnet ablaufen. Ziel dieses Beitrages sind grundsätzliche Überlegungen über eine mögliche evolutorische Theorie des sektoralen Strukturwandels. Es wird ein evolutorischsystemtheoretischer Analyserahmen vorgestellt, der im Folgenden das methodische und inhaltliche Grundgerüst darstellt. Da trotz einer inhaltlichen und methodischen Neuorientierung eine evolutorische Theorie des sektoralen Strukturwandels (wie die evolutorische Theorie generell) nicht die Strukturtheorie (und Ökonomik) von Grund auf neu konstituieren kann, sondern auch auf vorhandene Theorien zurückgreifen und diese modifizieren wird," lassen sich auch einige Aspekte bestehender Theorien bereits in dieses Grundgerüst einordnen. Dies gilt insbesondere für neuere Forschungsergebnisse in der Input-Output-Analyse. Darüber hinaus werden Vorschläge für Ergänzungen und weitere Forschungen entwickelt.
9 10 11
Vgl. David (1985 und 1994). Vgl. Arthur ( 1 9 8 9 und 1990). Die Theorie von Pasinetti (1981) wird beispielsweise von Reati (1998a und 1998b) dahingehend verändert, dass in einer nicht normativ, sondern positiv ausgerichteten Analyse - die auf Gleichgewichte verzichtet - die Wirkungen der Innovationen und ihrer Diffusion in Verbindung mit Effekten von Nachfragestrukturänderungen analysiert werden. Darüber hinaus deutet sich in der sektoralen Strukturtheorie auch eine theoretische Vernetzung zwischen der Input-Output-Analyse und evolutorischen Theorieelementen an, wie unten zu zeigen sein wird. Vgl. unter anderen Schnabl (1995).
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2
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Sektoraler Strukturwandel aus systemtheoretischer Sicht
Ein komplexes System ist definiert als ein System, das aus einer Vielzahl von Elementen besteht, die auf nicht simple Art interagieren.12 In einem hierarchischen System bestehen die miteinander verbundenen Elemente aus Subsystemen, die jeweils wiederum aus interagierenden Subsystemen bestehen usw. bis die niedrigste Ebene der elementaren Subsysteme erreicht wird.13 In einem komplexen ökonomischen Hierarchiemodell ließe sich die Volkswirtschaft in eine Mikro-, Meso- und Makroebene gliedern. Jede Ebene besteht aus verbundenen Subsystemen, die prinzipiell auch Einflüssen aus den anderen Ebenen des Gesamtsystems und der Umwelt unterliegen. In der Theorie des sektoralen Strukturwandels wird die mesoökonomische Ebene näher beleuchtet. Dabei ist es sinnvoll von einigen Einflüssen zu abstrahieren. Es wird ein System von (EinProdukt-)Sektoren gebildet. Das Hauptaugenmerk liegt auf der internen Beschaffenheit dieses Systems, den Interdependenzen zum übergeordneten Makrosystem sowie auf Einflüssen aus der Umgebung. In Abbildung 1 kennzeichnet S das System aller Sektoren, das hier exemplarisch aus drei Sektoren Si, s2 und s3 besteht. Die Doppelpfeile zwischen den Sektoren stehen für sektorale Interdependenzen. Jeder Sektor bildet wiederum ein eigenes (Sub-)System, das sich aus einzelnen Firmen zusammensetzt, die ebenfalls miteinander verbunden sind.14 Gleichzeitig ist das sektorale System Bestandteil des hier nicht näher spezifizierten Makrosystems Z, von dem es beeinflusst wird.15 Daneben existiert eine Umwelt U, die über historische Ereignisse Einfluss auf das sektorale System nimmt.16
12 13
14 15
16
Vgl. Simon (1991), S. 458. Vgl. ebenda und zur graphischen Darstellung Goguen/Varela (1991), S. 297, Abb. 2. Etymologisch betrachtet wurde der Begriff der Hierarchie früher vorwiegend in einem engeren Sinn verwendet. Er bezog sich auf Systeme, in denen über eine Autoritätsbeziehung Subsysteme dem System als Ganzes untergeordnet werden. Diese Bedeutung wird im folgenden verworfen. Vgl. Simon (1991), S. 458. Von den Einflüssen zwischen der Mikro- und der Mesoebene wird im folgenden abstrahiert. In einer ausfuhrlichen Analyse ließe sich das Makrosystem in weitere Subsysteme (und deren Interaktion) aufspürten. Auch wäre eine Analyse der Effekte vom System der Sektoren auf das Makrosystem sinnvoll. Vgl. zu der grundlegenden systemtheoretischen Methodik Goguen/Varela (1991), S. 295ff.
180
Sorting von Sektoren
des sektoralen Strukturwandels. Eine systemtheoretisch ausgerichtete Untersuchung des sektoralen Strukturwandels basiert auf der Vorstellung, dass die Entwicklung der einzelnen Sektoren nicht nur von der Entwicklung (autonomer) sektoraler Größen, sondern in entscheidendem Maße auch von der Entwicklung in anderen Sektoren abhängt. 17 Sektoren als Ganzes wachsen oder schrumpfen, je nachdem, ob die nachfrageseitigen, technologischen und produktionstechnischen Vernetzungen, in die sie eingebunden sind, ihre Entwicklung fordern oder behindern. Wenn ein Sektor Bestandteil eines Systems ist, hängt seine Entwicklung daher zu einem Großteil von der Entwicklung in den verbundenen Sektoren ab - die sektoralen Entwicklungsraten sind interdependent. Die Kernthese einer systemtheoretischen Betrachtung
17
Vgl. auch Häkansson/Lundgren (1997), S. 120f.
Sorting von Sektoren
181
des sektoralen Strukturwandels lautet daher, dass die strukturelle Einbindung eines Sektors für seine Entwicklung entscheidend ist. Die systemische Analyse des sektoralen Strukturwandels lässt sich durch die Vorstellung der Koevolution ergänzen: Die Entwicklung von Sektoren wird gefördert, wenn die technologisch, produktionstechnisch oder nachfrageseitig verbundenen Sektoren innovieren und/oder wachsen. Wenn andererseits bestimmte Sektoren sich nicht weiterentwickeln, bedeutet dies, dass auch das Entwicklungspotenzial verbundener Sektoren eingeschränkt ist. Entwicklungsbeschränkungen verhindern in diesem Fall Innovationssprünge und Wachstum in den betroffenen Sektoren.
3
Sektorale Vielfalt und Sorting von Sektoren
Ein Merkmal jeder evolutorischen Theorie ist die modellierte Vielfalt an Elementen, sei es an Firmen, Produkten, Techniken, Verhaltensformen oder Institutionen. 18 Die Vielfalt entsteht durch Innovationen (im weitesten Sinn). Sie erzeugen qualitativen Wandel. Ein Zweig der evolutorischen Ökonomik modelliert vorwiegend die mikroökonomische Vielfalt im Rahmen von Partialmodellen. Die Analyse des sektoralen Strukturwandels erfordert jedoch eine Betrachtung mehrerer heterogener Sektoren und muss die mikroökonomische Vielfalt zumindest partiell aufgeben, da die Modellierung der mikroökonomischen und mesoökonomischen Vielfalt an die Grenzen der noch analytisch handhabbaren und interpretatorisch überschaubaren Komplexität geht.19 Im Fall des sektoralen Strukturwandels sind daher die Elemente die einzelnen Sektoren. Neue Produkte lassen neue Sektoren entstehen.
"
19
Vgl. grundlegend zur Methodik der evolutorischen Ökonomik Nelson (1995), S. 54ff. Vgl. Andersen (1994), S. 101. Dies verdeutlicht das von Gerybadze entwickelte Partialmodell eines vertikal integrierten Sektors, in dem die Interaktion zweier Branchen analysiert wird, die sich jeweils aus heterogenen Firmen zusammensetzen. Vgl. Gerybadze (1982), S. 303ff. Dieses Modell zeigt einerseits, wie generell ein evolutorischer Ansatz konzipiert sein könnte, der sowohl die Heterogenität von Firmen innerhalb eines Sektors als auch die Heterogenität von Branchen erfasst, andererseits werden aber auch die Grenzen der analytischen Handhabbarkeit bereits in diesem Zwei-BranchenModell sichtbar. Gerade der Verzicht auf die mikroökonomische Heterogenität ist allerdings aus der Sicht der evolutorische Ökonomik nur schwer denkbar; einen Sektor produktionsseitig durch ein repräsentatives Unternehmen (mit einer Technik und einer Vérhaltensform) zu modellieren, ist für bestimmte Zweige der evolutorischen Ökonomik bislang eine 'heroische' Abstraktion, da in evolutorischen Theorien gerade die Heterogenität von unterschiedlichen Techniken, Verhaltensformen, Institutionen, auf deren Basis Selektionsprozesse stattfinden, Entwicklung erzeugen und diese auch endogen erklären. Vgl. Marengo/Willinger (1997), S. 332. Andererseits würde der Verzicht auf die Abstraktion mikroökonomischer Heterogenität bedeuten, dass die evolutorische Ökonomik in Partialmodellen verhaftet bleibt und die meso- und makroökonomische Ökonomik weiterhin der neoklassischen und keynesianischen Volkswirtschaftslehre überlassen bleibt.
182
Sorting von Sektoren
Auf die Vielfalt von Elementen wirken systematische Sortiermechanismen. Der Begriff des Sortings zielt auf die Vorstellung eines Sortierens bzw. Auswählens von Elementen ab, das auf den unterschiedlichsten Ursachen beruhen kann. Er ist daher wesentlich weiter gefasst als der Begriff der Selektion, der mit der Auffassung verbunden ist, dass die 'besten' Elemente ausgewählt werden, und daher bereits bestimmte Auswahlkriterien (ökonomische Fitness, Effizienz) impliziert.20 Es werden generell vier Formen des Sorting unterschieden:21 (1) Sorting auf der Basis des Effizienzkriteriums, die Selektion im engeren Sinne, (2) Sorting auf der Basis interner Systemeffekte, (3) Sorting als Ergebnis makroökonomischer Entwicklungen sowie (4) Sorting als Ergebnis historischer Ereignisse. Das Konzept des Sorting basiert auf der Vorstellung, dass die differenzielle Entwicklung von Elementen sowohl von der Effizienz der einzelnen Elemente als auch von Faktoren abhängt, auf die die Elemente nur einen begrenzten Einfluss haben. 22 Sorting wird von einzelnen Wirtschaftsakteuren (z.B. Unternehmern), durch den marktlichen Konkurrenzmechanismus und/oder durch vielfältige (auch staatliche) Institutionen vorgenommen. Die Sortiermechanismen sind dafür verantwortlich, dass die Entwicklung (auch) durch Regelmäßigkeiten und Kontinuität gekennzeichnet ist.23 Wird die Vorstellung des Sorting auf die Analyse des sektoralen Strukturwandels übertragen, dann stellen die Sektoren die dem Sorting unterliegenden Elemente dar. Die verschiedenen Formen des Sorting geben dabei Anhaltspunkte über die Ursachen der unterschiedlichen Entwicklungsraten der Sektoren. Das Sorting auf der Basis des Effizienzkriteriums, die Selektion im engeren Sinne, lässt sich allerdings nur bedingt auf die sektorale Strukturtheorie übertragen. Denn die Auslese über das Effizienzkriterium setzt in der Regel an einzelnen Firmen an. Daher werden nicht Sektoren, sondern einzelne Firmen kostengünstiger produzieren, höhere Gewinne erwirtschaften und relativ schneller wachsen als
20 21
22 23
Vgl. Gowdy (1992), S. 3ff. Gowdy unterscheidet die folgenden drei Kriterien des Sorting: (1) Effizienz, (2) technisches Passungsvermögen ('exaptations') und (3) makroökonomische Schocks. Vgl. Gowdy (1992), S. 3f. Das erste Kriterium wird im folgenden übernommen, das zweite Kriterium verallgemeinert und das dritte Kriterium wird aufgesplittet in Einflüsse aus dem übergeordneten System und Einflüsse aus der Umgebung. Vgl. Gowdy (1992), S. 5. Vgl. Nelson (1995), S . 5 4 f f .
Sorting von Sektoren
183
ihre Konkurrenten. Die Selektion findet daher primär auf der mikroökonomischen Ebene statt. Eine Selektion von Sektoren ist nur dann denkbar, wenn der Sektor als Ganzes Merkmale aufweist, die sich nicht auf einzelne Firmenmerkmale reduzieren lassen.24 Dabei handelt es sich um Merkmale, die die Beziehungen der Firmen innerhalb eines Sektors definieren und gleichzeitig sektorspezifisch sind, wie beispielsweise ein (intrasektorales) Kooperationsabkommen in der F&E, das alle Firmen eines Sektors gleichermaßen begünstigt und daher diesem Sektor gegenüber anderen Vorteile verschafft. Diese Selektion von Sektoren - die Selektion auf der Mesoebene - dürfte im Vergleich zur Selektion von Firmen oder Techniken der Selektion auf der Mikroebene - jedoch von geringerer Bedeutung sein. Im Rahmen einer Theorie des sektoralen Strukturwandels bestehen daher die relevanten Formen des Sortings in: (1) Sorting von Sektoren infolge sektoraler Interdependenzen (interne Systemeffekte), (2) Sorting von Sektoren bedingt durch makroökonomische Entwicklungen sowie (3) Sorting von Sektoren infolge externer historischer Ereignisse. Auch über wirtschaftspolitische Maßnahmen wird ein Sorting vorgenommen. So wird beispielsweise die Subventionierung aller Firmen eines Sektors den Sektor als Ganzes begünstigen, und daher indirekt alle anderen Sektoren benachteiligen. Diese staatlichen Eingriffe sollten jedoch nicht systemexogen - unter Kategorie (3) -, sondern systemendogen - unter den Kategorien (1) und (2) - analysiert werden. In dieser Sichtweise und auf der Basis des obigen Modells werden wirtschaftspolitische Maßnahmen durch bestimmte sektorale Interdependenzen oder makroökonomische Entwicklungen induziert. Denkbar ist beispielsweise, dass ein produktionstechnisch und technologisch bedeutender Sektor ('Schlüsselsektor') aufgrund seiner vielfältigen positiven Spillover-Effekte in Form von Güterlieferungen und technologischem Wissenstransfer mit staatlichen Mitteln gefordert wird. Es sind also die spezifischen Einflüsse auf andere Sektoren, die den staatlichen Eingriff erklären. Darüber hinaus spricht für eine systemendogene Betrachtung staatlicher Aktionen, dass einige Sektoren, wie der Transport- und Energiesektor in einigen Volkswirtschaften (noch) unter weitgehender staatlicher Kon-
24
Die Vorstellung einer Selektion von Sektoren basiert auf einer Analogie zu der Selektion von Arten einer relativ neuen Hypothese der biologischen Evolutionstheorie. Nach dieser Hypothese sind die Selektionskriterien artspezifische Merkmale, die sich nicht auf Merkmale individueller Organismen zurückfuhren lassen. Der Erfolg und die Durchsetzung einer Art gegenüber anderen Arten äußert sich in der erfolgreichen Aufsplittung in Unterarten. Diejenigen Arten, die lange überleben, und diejenigen, die eine hohe Speziationsrate aufweisen, sind daher begünstigt. Vgl. Stanley (1975), S. 648. Vgl. auch Benton (1990), S. 26f.
Sorting von Sektoren
184
trolle sind, insofern der Staat ohnehin eine Komponente des Sektorensystems darstellt. Die drei genannten Formen des Sorting werden im folgenden genauer untersucht.
4
Sorting von Sektoren infolge sektoraler Interdependenzen
Drei Ebenen intersektoraler Vernetzungen lassen sich identifizieren: Intersektorale Produktionsverflechtungen sowie sektorenübergreifende Technologie- und Güternachfrageverflechtungen. 4.1
Intersektorale Produktionsverflechtungen
Ein produktionstechnisch autarker (und daher isolierter) Sektor wäre in der Lage sein Produkt ohne die Hilfe anderer Sektoren zu produzieren. Das ist in den vorherrschenden spezialisierten und kapitalintensiven Produktionsverfahren allerdings nicht der Fall. Vielmehr ist jeder Sektor über Güterlieferungen in Form von zirkulierenden Kapitalgütern (Vorleistungen) und fixen Kapitalgütern (dauerhaften Produktionsmitteln, wie Maschinen, Anlagen und Gebäuden) mit anderen Sektoren verknüpft. Zwei Arten von Verflechtungen lassen sich unterscheiden: - Zirkuläre Verflechtungen liegen vor, wenn der Output eines Kapitalgütersektors als Produktionsinput in den eigenen Sektor eingeht. So wird beispielsweise der Energiesektor, der ein Vorleistungsgut herstellt, einen Teil seiner Produktion für die eigene Herstellung wieder als Input verwenden. Auch Fixkapitalgütersektoren, wie der Maschinen- und Bausektor werden jeweils als Input Maschinen oder Gebäude in der eigenen Produktion einsetzen. - Horizontale Verflechtungen liegen vor, wenn der Output eines Kapitalgütersektors als Input an andere Kapital- oder Konsumgütersektoren fließt. In diesen intersektoralen Vorleistungs- und Investitionsgüterlieferungen kommen die intersektoralen Produktionsabhängigkeiten der Sektoren zum Ausdruck. Eine detaillierte analytische Darstellung derartiger intersektoraler Abhängigkeiten liegt den Modellen der Input-Output-Analyse zugrunde:25 Die Analyse der Produktionsbeziehungen zeigt, dass der Produktionsanstieg in einem Sektor - sofern
25
V g l . grundlegend Helmstädter et al. ( 1 9 8 3 ) und Holub/Schnabl ( 1 9 9 4 ) .
Sorting von Sektoren
185
von Innovationen und Faktorsubstitutionsprozessen abgesehen wird - einen verstärkten Kapitalgütereinsatz erfordert und daher eine Nachfrage- und Produktionsexpansion in anderen Sektoren auslöst, die auch wieder auf den ursprünglich expandierenden Sektor zurückwirken kann. Die Input-Output-Analyse genügt allerdings nicht den methodischen Grundsätzen der evolutorischen Ökonomik. Die Variabiliät und Endogenisierung der Inputkoeffizienten ist aus der Sicht der evolutorischen Ökonomik zwar zu begrüßen, die Effekte von Nachfrageänderungen, Technikwechsel und technischem Fortschritt werden jedoch weiterhin durch den Vergleich von Gleichgewichten komparativ-statisch analysiert. Auch in der sogenannten dynamischen Input-OutputAnalyse findet lediglich eine Teildynamisierung statt. Über die Endogenisierung der Investitionen in Form der Akzeleratorhypothese werden Strom- und Bestandsgrößen zwar (dynamisch) verknüpft; eine zeitliche Analyse des Anpassungsprozesses zwischen den Gleichgewichten - der den eigentlichen Strukturwandelprozess darstellt - findet jedoch auch in den dynamischen Modellen nicht statt. Die Leontiefschen Multiplikatorrunden, in denen sich die Anpassungen an exogene Veränderungen über die einzelnen Sektoren hinweg fortpflanzen, laufen in logischer, nicht in historischer Zeit ab.26 Insofern ist die Analyse nicht dynamisch. Eine Realzeitanalyse müsste insbesondere sektoral divergierende Verzögerungen berücksichtigen und die zukünftige Entwicklung generell von den Zuständen der Vergangenheit abhängig machen. 27
4.2
Intersektorale Technologieverflechtungen
Wird Forschung und Entwicklung in einem Sektor nicht durch staatliche Grundlagenforschung oder die Forschung und Entwicklung in anderen Sektoren befruchtet, dann beschränkt sich der technische Fortschritt in der Regel auf inkrementelle Verbesserungen im Rahmen einer technologischen Trajektorie. Diese Innovationen unterliegen allerdings abnehmenden Grenzerträgen (Wölfisches
26 27
Vgl. Holub/Schnabl (1994), S. 607f. Vgl. Holub/Schnabl (1994), S. 556f. und 607. Ein explizit historisches Zeitverständnis weisen (neo-) österreichische Produktionsmodelle auf. Vgl. Böhm-Bawerk (1889/1959), Hayek (1931) und Hicks (1973). Deren Abstraktionsgrad ist aus der Sicht einer systemischen sektoralen Strukturtheorie jedoch recht hoch. Der vertikal integrierte Produktionsprozess beschreibt die Herstellung eines Konsumgutes mittels verschiedener Kapitalgüter. Der Produktionsprozess folgt dabei ausgehend von originären Inputs (Arbeit, natürlichen Ressourcen) verschiedenen Stufen der Kapitalgüterproduktion bis zum Endprodukt. In diesem unidirektionalen Prozess wird von zirkulären und horizontalen Strömen vollständig abstrahiert. Systemzusammenhänge werden auf diese Weise gänzlich ignoriert. Das postklassische Modell von Lowe (1976) bildet aus horizontalen und vertikalen Produktionsmodellen eine Synthese, allerdings bleibt der Konsumgutsektor aggregiert.
186
Sorting von Sektoren
Gesetz). Eine derartige Isolierung wird aber in der Realität nicht vorliegen, da jeder Sektor - allerdings in unterschiedlichem Ausmaß - Kapitalgüterlieferungen von anderen Sektoren erhält, die Träger von (neuem) technologischen Wissen sind. Darüber hinaus empfangen in jedem Sektor auch die Arbeitskräfte technologisches Forschungswissen aus sogenannten Spillover-Effekten von anderen Sektoren. Jeder Sektor ist daher über kapitalgebundene Technologietransfers und Transfers von Forschungswissen in Technologienetzwerke eingebunden, im Rahmen derer er sowohl Nehmer als auch Geber von Know-how ist. Sind die Innovationen kapitalgebunden, dann transferieren Kapitalgütersektoren mit dem Kapitalgut einen Teil ihres technologischen Know-hows in einen anderen Sektor. Die Grundthese ist, dass der Wissensfluss zwischen Sektoren umso größer ist, je mehr Kapitalgüter zwischen den Sektoren transferiert werden. Derart gebundene Technologiegeber- und Technologienehmerverflechtungen werden im Rahmen der Input-Output-Analyse bereits ausfuhrlich untersucht. 28 Die kumulierten sektoralen F&E-Aufwendungen dienen dabei als Maß für den sektoralen Wissensstock, der in Form von Vorprodukt- und Investitionsgüterlieferungen in andere Sektoren fließt.29 In der Regel bestehen die Technologiegebersektoren aus Kapitalgüterindustrien (elektronische und chemische Erzeugnisse, Maschinenbau etc.), aus deren F&E-Aktivitäten Produktinnovationen hervorgehen, deren Einsatz in den Technologienehmersektoren Prozessinnovationen darstellen. In derartigen Studien wird der sektorale F&E-Kapitalstock unter Beachtung zeitlicher Verzögerungen proportional zu der Lieferstruktur auf die Kapitalgüter empfangenden Sektoren aufgeteilt. 30 Diese Sichtweise unterstützt allerdings lediglich die Spillovers von Lieferanten an Abnehmer (sogenannte forward linkage spillovers), vernachlässigt daher alle anderen Formen des Wissenstransfers. 31 Technologisches Know-how überschreitet jedoch nicht nur in kapitalgebundener, sondern auch in kapitalungebundener Form die sektoralen Grenzen, wenn das Wissen ein Mindestmaß an öffentlichen-Gut-Eigenschaften (Nicht-Rivalität im Konsum und Nicht-Ausschluss) aufweist. 32 Kapitalungebundene Transfers dieser
28
29 30 31 32
Vgl. grundlegend zur Analyse von intersektoralen Technologietransfers in der Input-Output-Analyse DeBresson (1996). Vgl. zu einer methodischen Kritik der Input-Output-Analyse aus der Sicht der evolutorischen Ökonomik die Ausfuhrungen oben unter (b) Intersektorale Produktionsverflechtungen. Vgl. Straßberger/Stäglin (1995), S. 24ff. Vgl. Straßberger/Stäglin (1995), S. 29f. Vgl. Mohnen (1990), S. 138. Aufgrund von Unternehmens- und Technologiespezifitäten ist technologisches Wissen bestenfalls als ein latent öffentliches Gut zu charakterisieren. Lediglich der globale und unspezifische Teil des technologischen Wissens steht den Unternehmen und Sektoren in vollem Umfang zur Verfügung. Vgl. Pyka (1999), S. 17 und 51.
Sorting von Sektoren
187
Art - die nicht an direkte Input-Output-Verflechtungen gebunden sind - werden auch als Spillover-Effekte von Forschungswissen bezeichnet. Diese SpilloverEffekte sind sowohl imitationsverstärkend und tragen zur Diffusion von Wissen und Innovationen bei, als auch an der Entstehung von Wissenszuwächsen und (weiteren) Innovationen mit beteiligt.33 Wenn Firmen und Sektoren gegenseitig von der Entstehung neuen Wissens profitieren, dann fördert dies nicht nur die Diffusion von technischem Wissen, sondern generiert auch zusätzliche Wissenszuwächse. 34 Spillover-Effekte sind daher auch eine Ursache der Entstehung von Innovationen, so dass technischer Fortschritt partiell endogenisiert wird.35 Imitationsverstärkende und Verbesserungsinnovationen einleitende SpilloverEffekte werden begünstigt, je ähnlicher die F&E-Aktivitäten und die ihnen unterliegenden Arbeitsqualifikationen sind. Denn unter diesen Bedingungen sind die absorptiven Fähigkeiten 36 zur Nutzung des Wissens höher. Dieses Argument spricht fur eine intensivere intra- als intersektorale Wissensübertragung, da die Heterogenitäten in den F&E-Aktivitäten innerhalb eines Sektors geringer sind als die Heterogenitäten zwischen Sektoren.37 Für eine gegenseitige Befruchtung von Technologien ist Heterogenität jedoch kein Hemmschuh, im Gegenteil. Die Geschichte des technischen Fortschritts zeigt, dass vielfach die Kombination äußerst heterogener Technologien neue technologische Pfade und Basisinnovationen hervorbringt. 38 Allerdings stellt die fruchtbare Rekombination heterogener Technologien höhere Anforderungen an die absorptiven Fähigkeiten der Unternehmen, denn die Forscher müssen über Erfahrungen und Fähigkeiten verfugen, die nicht in ihrem bisherigen (sektoralen) technologischen Umfeld liegen. Zur Realisierung des Synergiepotentials aus der gegenseitigen Befruchtung von sektoralen Technologien bedarf es daher des vorherigen Aufbaus einer breiten disziplinübergrei-
33 34
35
36
37
38
Vgl. Los (1997), S. 10. Vgl. Mohnen (1997), S. 4. Diese Wissensströme werden in den Modellen operationalisiert, indem beispielsweise Proportionalitäten zu Fachkräften (Ingenieuren, Wissenschaftlern etc.) oder zu Patentzitaten gebildet werden. Vgl. ebenda. Nicht nur in der Input-Output-Analyse, sondern auch in der Neuen Wachstumstheorie, werden die Effekte technologischer Spillover und Wissenspillover analysiert. Vgl. für einen Überblick Verspagen (1992), S. 642f. Die sektorale Differenzierung in der Neuen Wachstumstheorie ist jedoch eine andere, so dass auch die Spillover-Effekte nicht zwischen produzierenden Sektoren ablaufen; vielmehr liegt das Hauptaugenmerk auf den Spillover-Effekten zwischen Individuen und zwischen Produktions- und F&E-Abteilungen sowie den damit verbundenen Externalitäten auf andere Individuen bzw. Unternehmen. Absorptive Fähigkeiten sind die durch Wissenserwerb in der Vergangenheit erworbenen Fähigkeiten einer Firma den Wert extern entstandenen Wissens zu bewerten, dieses Wissen in die F&E zu integrieren und fur kommerzielle Zwecke nutzbar zu machen. Vgl. Cohen/Levinthal (1990), S. 128. Zusätzlich ist zu erwarten, dass die imitationsverstärkenden Spillover-Effekte nicht auf bewusst kreierten Forschungsabkommen beruhen, sondern auf anderen Wegen die Firmengrenzen überschreiten. Vgl. Los (1997), S. 11. Vgl. M o k y r ( 1990), S . 2 8 0 f .
188
Sorting von Sektoren
fenden Wissensbasis in den Sektoren.39 Für intensivere inter- als intrasektorale Spillovers spricht, dass der Anreiz für Firmen, technische Wissenszuwächse auszutauschen, umso höher ist, je geringer der Wettbewerb zwischen Firmen ist. Im Fall von intersektoralen Spillover-Effekten - insbesondere zwischen Firmen vorund nachgelagerter Produktionsstufen - ist die Gefahr von Free-Rider Verhalten geringer als zwischen den untereinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen innerhalb eines Sektors.40 Sektorenübergreifende F&E-Kooperationen und/oder informelle Netzwerke sind daher mindestens so wahrscheinlich wie intrasektorales Teamwork. Aufgrund der Technologie- und Unternehmensspezifitäten des Wissens - die die Aneignungsbedingungen der Unternehmen erhöhen und Spillovers verhindern könnten - wird eine Realisierung der Synergiepotentiale heterogener Technologien daher durch eine freiwillige und aktive Kooperation formeller oder informeller Art deutlich begünstigt. Insofern ist die Kollektivität des Innovationsprozesses insbesondere für das Zustandekommen wissensgenerierender, intersektoraler Spillover-Effekte begünstigend, wenn nicht sogar eine Voraussetzung und Ursache.41 In dem stärker makroökonomisch ausgerichteten Ansatz von Freeman et al. liegen positive technologische Netzwerkeffekte vor, wenn Sektoren Bestandteil eines Technologiesystems sind. Das Aufkommen neuer Technologiesysteme lässt sich nach ihren Studien in den Aufschwungsphasen langer Wellen beobachten. Technologiesysteme sind durch vielfaltige Innovationen gekennzeichnet, die sektorenübergreifend in wissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Hinsicht miteinander in Verbindung stehen und deren Diffusion Folgeinnovationen nach sich ziehen.42 Sektoren, die Bestandteil eines (neuen) Technologiesystems sind, profitieren daher direkt über gebundene und ungebundene Spillover-Effekte von den Innovationen in anderen Sektoren, so dass ihre Produktivitätssteigerungen und Produktinnovationen vergleichsweise hoch sein werden. Die Grundidee dieses Ansatzes besteht darin, dass Basisinnovationen Wissenszuwächse generieren, die komplementäre Innovationen in anderen Sektoren ermöglichen, deren Diffusionsprozesse wiederum weitere (Verbesserungs-)Innovationen nach sich ziehen. Es entsteht ein positiver kumulativer Prozess, von dem letztlich alle dem Technologiesystem angehörenden Sektoren profitieren - das heißt überdurchschnittliche Wachstumsraten aufweisen und einen gesamtwirtschaftlichen Aufschwung auslösen. Nach Freeman et al. sind nur die Produktionseffekte miteinander verbundener Innovations- und Diffusionsprozesse in der Lage, einen makroökonomischen
39 40 41 42
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Pyka (1999), S. 81f. und 85. Cantner/Pyka (1996), S. 6. grundlegend zur Kollektivität des Innovationsprozesses Pyka (1999), S. 72ff., S. 79 und S. 85. Freeman/Clark/Soete (1982), S. 64ff.
Sorting von Sektoren
189
Expansionsprozess einzuleiten.43 In dieser Aufschwungphase wird die Entwicklung maßgeblich bestimmt von sogenannten Antriebsbranchen, die die unentbehrlichen und grundlegenden neuen Kapitalgüter ('Schlüsselinputfaktoren') produzieren und infolge von Prozessinnovationen Stückkostensenkungen realisieren können. Daneben werden die sogenannten Trägerbranchen maßgeblich an dem Aufschwungsprozess mitwirken, denn sie adaptieren die neuen Kapitalgüter und liefern Investitionsgüter an andere Sektoren der Volkswirtschaft. 44
4.3
Intersektorale Verflechtungen der Güternachfrage
Neben den produktionstechnischen und technologischen Verflechtungen sind Sektoren auch über substitutive und komplementäre Nachfragebeziehungen miteinander verknüpft. Die Nachfrage nach den Produkten einzelner Konsum- und Kapitalgütersektoren ist nicht nur abhängig von der Entwicklung makroökonomischer Größen, wie des Realeinkommens, des (erwarteten) Sozialprodukts oder des Zinssatzes, sondern im Rahmen gewisser Restriktionen, wie der Budgetrestriktion der privaten Haushalte, auch direkt abhängig von der Preis-, Mengen- und Qualitätsentwicklung sowohl des betreffenden Gutes als auch anderer Güter. Denn Konsum- und Kapitalgüter werden nicht unabhängig voneinander nachgefragt. Vielmehr ist der Konsum- bzw. Produktionseinsatz von Gütern in vielen Fällen (zwingend) an den Konsum- bzw. Produktionseinsatz anderer Güter gekoppelt oder kann durch den Konsum- bzw. Produktionseinsatz anderer Güter ersetzt werden. Güter formen daher Güternachfragesysteme im Rahmen derer komplementäre und substitutive Verknüpfungen bestehen. Durch Veränderungen in den relativen Güterpreisen ausgelöste Nachfragestruktureffekte werden von der neoklasssischen Theorie betont. Substitutive Verknüpfungen liegen vor, wenn der Preisrückgang eines Gutes mit einem Anstieg der nachgefragten Menge des betrachteten Gutes einhergeht und einen Nachfragerückgang nach anderen Gütern auslöst. In diesem Fall ist die Kreuzpreiselastizität der Güternachfrage positiv. Wenn beispielsweise der Preis für Telekommunikation sinkt, wird daraufhin die Nachfrage nach substitutiven Gütern, wie dem
43
44
Der Ansatz von Freeman et al. überwindet die These von Mensch (1975), nach der eine Häufung technisch und ökonomisch isolierter Basisinnovationen in einer Vielzahl von Sektoren einen gesamtwirtschaftlichen Aufschwung generiert. Vgl. Perez (1983), S. 361 ff. Wenn sektoraler Strukturwandel ausschließlich über die Konzeption der Technologiesysteme erklärt wird, Hegt allerdings eine rein angebotsorientierte Theorie vor. Die in diesen Theorien unterstellte positive Korrelation von sektoralen Prozess- und Produktinnovationen einerseits und sektoralen Produktivitätssteigerungen andererseits ist allerdings nicht zwingend. Daher sollten diese Theorien um nachfrageseitige Aspekte ergänzt werden.
190
Sorting von Sektoren
Briefverkehr, zurückgehen. Preisinduzierte Komplementäreffekte liegen vor, wenn der Preis eines Gutes (z.B. Mineralöl) sinkt, so dass die nachgefragte Menge nach dem betrachteten Gut und dem komplementären Gut (z.B. Kraftfahrzeugen) steigt. Voraussetzung für derartige Effekte ist, dass die Kreuzpreiselastizität der Güternachfrage negativ ist. Das Gegenstück dazu bilden durch Produktinnovationen, steigendes Pro-KopfRealeinkommen und Präferenzänderungen induzierte Mengeneffekte, die ebenfalls auf substitutiven oder komplementären Vernetzungen zwischen Sektoren beruhen können. Ausschließlich komplementäre Beziehungen zwischen Endprodukten sind durchaus möglich (beispielsweise Fahrzeuge und Mineralöl, elektronische Haushaltsgeräte und Energie), so dass im Zuge von gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozessen additive Produkte durchaus neue, zusätzliche Sektoren entstehen lassen, ohne dass in etablierten Sektoren die absolute Höhe der Produktion zwingend sinken muss. Eine Produktinnovation in Form von Iniineskatern induziert beispielsweise eine Steigerung der nachgefragten Menge nach Komplementärgütern, wie Sportbekleidung und Sportausrüstung.45 Insofern können Produktinnovationen für ein positives Sorting anderer Sektoren verantwortlich sein. Produktinnovationen stehen teilweise aber auch in einem substitutivem Verhältnis zu anderen Produkten. In diesen Fällen werden sie ein negatives Sorting anderer Sektoren auslösen. So ist es denkbar, dass die steigende Nachfrage nach Inlineskates mit einer abnehmenden Nachfrage nach Fahrrädern einhergeht. Wie das Beispiel der Inlineskates andeutet, stehen die meisten Produkte in einer substitutiven und einer komplementären Vernetzung zu anderen Produkten. Darüber hinaus ist denkbar, dass zwischen ein und denselben Produkten sowohl substitutive als auch komplementäre Nachfragebeziehungen bestehen. In diesen Fällen weisen die Produkte zum Teil ähnliche, zum Teil aber auch unterschiedliche Leistungsmerkmale auf (beispielsweise Flugzeug und Eisenbahn). 46
45
46
Das Ende der 1980er Jahre eingeleitete Forschungsprogramm über steigende Skalenerträge infolge steigender Nutzerzahlen von Produkten bzw. Technologien ist vorwiegend auf der Ebene eines Sektors angesiedelt. Vgl. grundlegend Arthur (1989). Netzwerke sind in diesen Theorien Systeme, deren Elemente Konsumenten (bzw. Produzenten) sind, die das gleiche Produkt (bzw. die gleiche Technologie) verwenden, beispielsweise ein Telekommunikationsnetz. Im Fall indirekter Netzwerkexternalitäten steigt der Nutzen dieses Produkts (bzw. der Technologie) - und damit die nachgefragte Menge - nicht nur bei steigender Nutzerzahl, sondern unter anderem auch mit der Zahl oder Vielfalt komplementärer Produkte; in diesem Beispiel Telefongeräte. Vgl. Church/Gandal (1993) und Katz/Shapiro (1994). Die komplementären Produkte sind allerdings in der Regel Bestandteil ein und desselben Sektors (hier des Telekommunikationssektors oder auf höherem Aggregationsniveau der Elektronikindustrie), so dass die Komplementaritäten weniger inter-, sondern vorwiegend intrasektoral analysiert werden. Vgl. Saviotti( 1988), S. 466f.
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5
191
Sorting von Sektoren bedingt durch makroökonomische Entwicklungen
Die sektoralen Entwicklungen werden nicht nur direkt durch die Entwicklung in anderen Sektoren bestimmt, sondern darüber hinaus auch von makroökonomischen Entwicklungen. Dabei sei angemerkt, dass die makroökonomische Entwicklung nicht autonom ist, sondern sie selbst auch ein Ergebnis der Summe der sektoralen Entwicklungen ist. Wenn beispielsweise in einer Vielzahl von Sektoren die Produktivität und die Produktion steigt, und diese Entwicklung nicht durch die Entwicklung in anderen Sektoren kompensiert wird, dann steigt das Pro-KopfRealeinkommen. Im folgenden werden allerdings nur die Effekte von der Makroebene auf die Systemebene der Sektoren angesprochen. Die nachgefragten Mengen in den einzelnen Sektoren werden insbesondere durch die Entwicklung des Pro-Kopf-Realeinkommens und des Zinssatzes berührt. Nach der Verallgemeinerung des Engeischen Gesetzes wird sich bei steigendem Pro-Kopf-Realeinkommen die Konsumgüternachfrage der privaten Haushalte auf neue, in der Bedürfhishierarchie höher angesiedelte Gütergruppen konzentrieren, während die Nachfrage nach anderen, in der Bedürfnishierarchie weiter unten angesiedelten Gütergruppen stagniert oder sogar rückläufig ist.47 Daher wird ein steigendes Pro-Kopf-Realeinkommen ein positives Sorting einkommenselastischer Güter und ein negatives Sorting (absolut) inferiorer Güter einleiten. Der Einfluss einer Zinsänderung auf die nachgefragten Mengen einzelner Sektoren dürfte hingegen nicht so eindeutig ausfallen. Wenn eine Zinssenkung eine steigende Kreditnachfrage der privaten Haushalte auslöst, so werden die zusätzlich nachgefragten Konsumgüter tendenziell Güter des gehobenen Bedarfs sein. Die durch eine Zinssenkung ausgelöste Kapitalgüternachfrage könnte sich auf überdurchschnittlich risikoreiche Produkte einschließlich Produktinnovationen konzentrieren.
6
Sorting von Sektoren infolge externer historischer Ereignisse
Ein Sorting durch (einmalige) historische Ereignisse kann dann vorliegen, wenn sich Umgebungsbedingungen ändern, die weder Bestandteil des Sektorensystems 47
Dieser zentrale Mechanismus liegt der Theorie von Fourastié und der Theorie von Pasinetti zugrunde. Vgl. Fourastié (1952/1954), S. 84ff., S. 257 und Pasinetti (1981), S. 73ff.
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noch des makroökonomischen Systems sind. Ein negatives Sorting eines Sektors entsteht entweder, wenn ein positives Ereignis die Entwicklung von Firmen anderer Sektoren günstig beeinflusst, oder wenn ein negatives Ereignis die Gesamtheit der Firmen eines Sektors berührt, nicht jedoch die Firmen in anderen Sektoren. Denkbar ist für den letztgenannten Fall ein angebotsseitiger Schock in Form einer flächendeckenden Ungezieferplage, die den landwirtschaftlichen Sektor im Inland schrumpfen lässt. Historische Ereignisse können aufgrund der eingeleiteten Pfadabhängigkeiten zudem die zukünftige Entwicklung eines Sektors unwiderruflich prägen. 4 Ein landwirtschaftlicher Ernteausfall wird die Volkswirtschaft zu verstärkten Importen zwingen, die in der Folgezeit - beispielsweise infolge einer Gewöhnung der Konsumenten an die importierten Produkte - aufrechterhalten werden, mit der Konsequenz, dass der Agrarsektor im Inland auf Dauer schrumpft. Ein anderes Beispiel ist der durch OPEC I Anfang der 1970er Jahre ausgelöste Energiepreisschock. Die damit einhergehende Verteuerung des Mineralöls benachteiligte relativ energieintensiver hergestellte Produkte, so dass diese sich relativ verteuerten. Gleichzeitig kam es zu einer Benachteiligung von Kapital- und Konsumgütern, die zu Mineralöl komplementär sind (z.B. Kraftfahrzeugen). In den betreffenden Sektoren sanken die Gewinne und/oder die nachgefragten Mengen, zumindest relativ. Diese Entwicklung leitete einen Produktionsrückgang oder eine Verlangsamung des sektoralen Wachstums ein. Insofern bewirkte OPEC I ein negatives Sorting von Sektoren und auf diese Weise einen sektoralen Strukturwandel. 49
7
Schlussbemerkungen
Es lassen sich - wie die obigen Ausführungen gezeigt haben - methodische Grundsätze und auch Inhalte einer evolutorisch-systemtheoretischen Theorie des sektoralen Strukturwandels aufzeigen. Die evolutorische Konzeption des Sorting dient dabei als Analyserahmen, die differenzielle Entwicklung von Sektoren in einer Volkswirtschaft zu erklären. Wird diese Vorstellung in ein systemtheoretisches Modell eingebettet, dann lassen sich verschiedene Formen des Sorting unterscheiden. Im Vergleich zu bisherigen Theorien des sektoralen Strukturwandels in anderen Forschungsprogrammen wird in der evolutorisch-systemischen Theorie dem Sorting infolge intersektoraler Ver-
48 49
Vgl. auch Hàkansson/Lundgren (1997). Vgl. Gowdy (1992), S. 5f.
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flechtungen eine besondere Rolle zugeteilt. Diese Vorgehensweise ist sinnvoll, weil die Untersuchung der vielfältigen Vernetzungen zwischen den Sektoren noch am Anfang steht, während die Einflüsse aus anderen Systemebenen und exogene Einflüsse in anderen Forschungsprogrammen bereits recht ausfuhrlich analysiert werden. Der Schwerpunkt der evolutorischen sektoralen Strukturtheorie sollte daher - in Ergänzung zu den bisherigen Theorien - auf der Untersuchung der Interdependenz der sektoralen Entwicklungen liegen. Insbesondere die derzeit in der Input-Output-Analyse und dem evolutorischen Technologiesystemansatz analysierten technologischen Verknüpfungen zwischen Sektoren als auch eine systemische Analyse der Güterendnachfrage liefert über die reine Analyse der sektoralen Kapitalgüterlieferungen hinaus weiterfuhrende Erkenntnisse über die Ursachen des sektoralen Strukturwandels.
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Strukturell Arbeitslose - Gibt's die? Der unvollkommene Wettbewerb am Arbeitsmarkt und das Beschäftigungsproblem Heinz-Peter
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Spahn
Einführung
Rothschild zielte im Jahre 1978 mit seinem ironisch überschriebenen Aufsatz "Arbeitslose - gibt's die?" auf eine Kritik der (damals) modernen, neoklassisch ausgerichteten Arbeitsmarkttheorie: Sie hatte sich verstärkt mikroökonomischen Erklärungsversuchen der Arbeitslosigkeit zugewandt, die zwar (z.T. sogar nach eigenem Bekunden) kaum einen Beitrag zum Verständnis der massiv aufgetretenen konjunkturellen Unterbeschäftigung boten, aber eben doch analytisch präzise modelliert werden konnten - während die keynesianische Hypothese unfreiwilliger Arbeitslosigkeit immer weniger mit den Prinzipien der modernen Theoriebildung vereinbar schien und (deshalb?) auch als empirisches Phänomen mehr und mehr geleugnet wurde. Insbesondere der Ansatz der Suchtheorie stilisierte Arbeitslosigkeit zu einer Aktivität investiver Eigenarbeit. Vergleicht man die damalige wissenschaftliche und wirtschaftspolitische Diskussion mit der heutigen, so ist festzustellen, dass trotz der in Europa deutlich zugenommenen Arbeitslosigkeit der Gedanke eines insoweit bestehenden Nachfrageproblems nach wie vor wenig Anhänger findet, während sich das Spektrum mikroökonomischer Ansätze zur Arbeitsmarkttheorie weiter verbreitert und verfeinert hat, von denen allerdings auch kaum einer den Anspruch erheben kann, analytisch vollständig zu überzeugen und empirisch eine allgemein anerkannte Erklärung des Arbeitslosenproblems zu liefern.1 Auf einer eher pragmatischen Ebene hat sich ein Konsens - quer durch ideologische, theoretische und politische Fraktionen - herausgebildet, demzufolge der Großteil der europäischen und insbesondere der deutschen Arbeitslosigkeit schlicht als "strukturell" anzusehen sei; dabei soll diese Charakterisierung wohl zum einen das Postulat stützen, dass diesem Problem nicht mit nachfragepolitischen Mitteln beizukommen sei, und zum
1
Zu einem Überblick siehe z.B. Franz (1987); Bean (1994); Gijsel u.a. (2000); Beißinger/Möller (2000).
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anderen offen lassen, worin die Unangemessenheit einer solchen wirtschaftspolitischen Reaktion konkret bestehen würde. Die Unscharfe dieses Begriffs der "strukturellen Arbeitslosigkeit" wird weiter dadurch unterstrichen, dass empirische Schätzungen über ihren hohen Anteil an der Gesamtarbeitslosigkeit nicht etwa allgemein zu der Forderung führen, den verbleibenden Rest mittels Nachfragepolitik zu bekämpfen. 2 Vielmehr scheint der Aufweis eines überwiegend strukturellen Charakters der Unterbeschäftigung die Schlussfolgerung zu legitimieren, überhaupt auf eine solche Politik verzichten zu müssen: Verbreitet ist eine Argumentation, nach der einerseits (geringfügige) Zinssenkungen, wenn überhaupt, nur zu einer marginalen Ausweitung der Investitionen führen könnten, im übrigen aber unausweichlich inflatorische Auswirkungen hätten, weil Arbeitnehmer sich gegen die zu erwartenden Kaufkraftverluste absichern würden.3 Hierbei wird allerdings das Ergebnis der Analyse in ihre Voraussetzungen eingeschmuggelt: Wenn expansive Geldpolitik angeblich keine Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hat, so ist sie nutzlos, aber auch nicht schädlich. Es bleibt dann unerfindlich, woher die Inflationsimpulse kommen sollen, vor denen sich die Arbeitnehmer meinen schützen zu müssen; zudem herrscht ja annahmegemäß (da die Arbeitslosigkeit nicht vollständig strukturell ist) immer noch Unterbeschäftigung im markttheoretischen Sinne, so dass knappheitsbedingte Lohnsteigerungen im makroökonomischen Durchschnitt auszuschließen wären. Als positives Vorbild in der europäischen beschäftigungspolitischen Diskussion gilt die erfolgreiche Entwicklung in den USA. Ein Blick auf die Daten (Abbildung 1) soll jedoch davor warnen, das amerikanische "Beschäftigungswunder" zu verabsolutieren: In den 80er Jahren war überall in der westlichen Welt eine Beschäftigungsexpansion zu registrieren, in den USA unter Reagan infolge des "most drastic Keynesian move [...] under its most anti-Keynesian label"4; in den 90er Jahren profitierten die Niederlande weiter von ihrer lohnpolitischen Unterbewertungsstrategie und Großbritannien von der geldpolitischen Freiheit nach seinem EWS-Ausstieg. Deutschland gehört neben Frankreich zu den Ländern, die sich in dieser Phase zunehmenden Arbeitsmarktproblemen gegenüber sahen. Dabei hat Deutschland noch den "Vorteil", auf das Sonderproblem der Vereinigung mit der DDR verweisen zu können. Die Anpassung einer ehemals sozialistischen
2 3 4
Fast schon eine Ausnahme ist Krupp (1998). So etwa bei Hesse/Naujokat ( 1998). Musgrave (1987), S. 180.
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201
Planwirtschaft an das um mindestens doppelt so hohe Produktivitätsniveau einer modernen Marktwirtschaft musste schließlich einen enormen Freisetzungsschub bewirken.
Abb. 1:
Arbeitslosenquoten im Vergleich; Datenquelle: Sachverständigenrat
Lehrbuchmäßig wären die "Beschäftigungswunder" in einigen Ländern so zu interpretieren, dass das Beschäftigungsvolumen mit dem Reallohn (entlang der Arbeitsangebotsfunktion) zunimmt, wobei die Arbeitslosenquote eigentlich gleich Null bzw. gleich ihrem "natürlichen" Wert sein müsste. Ein Sinken der Arbeitslosenquote ist lediglich im Zuge der Überwindung einer traditionellen, konjunkturellen Wirtschaftskrise (wie derjenigen in der Bundesrepublik 1967) zu erwarten; eine über viele Jahre sinkende Arbeitslosenquote wäre demnach so zu verstehen, dass trotz eines anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs ein makroökonomisches Arbeitsmarktungleichgewicht vorliegt, das erst am Ende des Booms mit dem Erreichen der Vollbeschäftigung behoben wird. Kaum jemand würde jedoch die Arbeitsmarktlage der USA etwa in den Jahren 1985 und 1995 als die einer konjunkturellen, nachfragebedingten Unterbeschäftigung deuten. Damit bleibt als mögliche Erklärung eher diejenige, dass im Zuge eines anhaltenden Aufschwungs vermehrt Arbeitskräfte in das Beschäftigungssystem integriert werden, die zuvor als "strukturell" Arbeitslose galten und insoweit eigentlich nicht unmittelbar zum "beschäftigungsfähigen" Arbeitsangebot gerechnet wurden. Anders ausgedrückt: Große Beschäftigungsbewegungen scheinen sich nicht nur durch Veränderungen in der konjunkturellen, sondern vor allem auch in der strukturellen Arbeitslosenquote zu vollziehen.
202
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Damit droht aber die beschäftigungstheoretische und -politische Diskussion den Boden unter den Füßen zu verlieren, weil die strukturelle Arbeitslosenquote zumeist den Referenzwert zur Beurteilung der Möglichkeit oder Notwendigkeit nachfragepolitischer Aktionen abgibt. Verändert sich dieser Referenzwert in unvorhersehbarer Weise, etwa in Form eines Random Walk oder gar - fatal für eine nach Orientierungspunkten suchende Beschäftigungspolitik - in Abhängigkeit von der laufenden allgemeinen Arbeitslosenquote, so verliert der Ansatz einer Trennung von konjunkturell und strukturell Arbeitslosen seinen Wert ftir die Konzeption der Beschäftigungspolitik. 5 Jedoch verweisen diese in den letzten beiden Jahrzehnten auffälligen Verschiebungen der Grenzen zwischen konjunktureller und struktureller Arbeitslosigkeit noch auf ein tieferliegendes Problem. Die Verschiebung einer Grenze mag misslich sein aus der Perspektive des Informationsbedarfs einer auf Stabilisierung angelegten Wirtschaftspolitik - die Existenz dieser Grenze ist damit jedoch noch nicht analytisch hinterfragt. Aber gerade die Notwendigkeit eines solchen Schrittes ist angesichts der empirischen Entwicklung und den damit verbundenen theoretischen Fragen naheliegend. Dabei drängt sich der Verdacht auf, dass die Nationalökonomie mit dem Zugeständnis der Existenz struktureller Arbeitslosigkeit zwar eine Brücke zu empirisch-institutionellen Arbeitsmarktproblemen zu schlagen bereit war, aber nur um den Preis, hernach den "Kern" der Theoriebildung wiederum auf der Annahme homogener Faktorleistungen aufzubauen. So bildet denn die Beveridge-Kurve 6 auch nur einen gleichsam "folkloristischen" Hintergrund zur Phillips-Kurven-Diskussion, in der dann eine rein makroökonomische Logik der Beschäftigungs-Inflations-Bestimmung durchdekliniert wurde, in den 60er und 70er Jahren unter keynesianischen, seit den 80er Jahren unter monetaristischen Vorzeichen. In der Tat: Wenn auf den Mengenachsen von Angebots- und Nachfragekalkülen keine homogenen Mengeneinheiten notiert werden können, so hat dies weitreichende Konsequenzen für die preistheoretische und dann auch wirtschaftspolitische Analyse. Im folgenden wird zunächst der Frage nachgegangen, wie Beschäftigungs- und Entlassungsentscheidungen unter den Bedingungen heterogener Arbeit auf der mikroökonomischen Ebene vonstatten gehen. Anschließend ist zu untersuchen, welche gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen daraus für das Thema "Gibt es eine makroökonomische Selbststabilisierung des Marktsystems?"
5 6
Vgl. Galbraith (1997). Siehe dazu Blanchard/Diamond (1989); Landmann/Jerger (1999), S. 54ff.
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203
abzuleiten sind. Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen finden sich im letzten Abschnitt.
2
Beschäftigung und Entlassungen bei heterogenen Arbeitskräften7
Qualitative Unterschiede von Gütern und Faktoren sind in der ökonomischen Theorie natürlich nie geleugnet worden. So wurden z.B. Teilarbeitsmärkte betrachtet, deren Existenz dann ihren preistheoretischen Ausdruck in einem entsprechenden Vektor von Lohnsätzen fand. Beschäftigungsprobleme können dann die Folge einer starren Lohnstruktur bei einer Veränderung in den Relationen der Arbeitsnachfrage sein.8 Aber dies bedeutet dann wiederum nur, dass eben auf einzelnen Märkten "falsche" Preise herrschen; und damit bietet die Berücksichtigung heterogener Faktoren methodisch keinen weiterfuhrenden Ansatzpunkt zum Verständnis und zur Überwindung von Unterbeschäftigung. Umgekehrt heißt das aber: Wenn es nicht für jede Qualitätsausprägung eines Gutes einen eigenen Markt mit einem eigenen Preis gibt, ist die Möglichkeit eines Marktversagens weitaus wahrscheinlicher. Im folgenden wird die These vertreten, dass die ökonomische Theorie (zumindest implizit) die Annahme einer Heterogenität von Faktorleistungen machen muss, um das Phänomen der Arbeitslosigkeit überhaupt erfassen und erklären zu können. Genauer formuliert: Es geht um qualitative Unterschiede der Arbeitskräfte, die nicht bereits institutionell durch eine entsprechende Auffächerung der Lohnstruktur abgebildet werden. Deshalb wird im weiteren ein Einheitsmarkt unterstellt. Das zu untersuchende Problem ist nicht die Unangemessenheit der Lohnstruktur in einem System von Teilarbeitsmärkten, sondern die ökonomische Spannung zwischen einer variierenden Leistungsfähigkeit der Arbeitskräfte und einem einheitlichen Lohnsatz. Warum sollte eine solche Spannung auftreten? Zur Beantwortung dieser Frage per Umkehrschluss lässt sich zunächst konstatieren, dass auf einem strikt homogenen Arbeitsmarkt ein Auftreten von Arbeitslosigkeit nur schwer erklärbar
7 8
Vgl. zum folgenden Spahn (1998). So wird gegenwärtig die hohe europäische Arbeitslosigkeit im Vergleich zu den U S A auch darauf zurückgeführt, dass der technologisch bedingte Rückgang der Nachfrage nach "einfacher" Arbeit nicht durch eine entsprechende Verbreiterung der Lohndifferenzierung aufgefangen werde, vgl. Krugman (1995); Feenstra ( 1998); Landmann (2000).
204
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wäre: Geht etwa die Güternachfrage zurück, so benötigen die Unternehmen eine geringere Zahl an Arbeitsstunden (die Variable Ν in den üblichen Produktionsfunktionen bezeichnet eben auch Arbeitsstunden und nicht direkt Beschäftigte). Die unmittelbare Reaktion sollte also demnach in einer Festsetzung von Kurzarbeit bestehen. Die (ungleiche) Verteilung eines solchen Rückgangs der Arbeitsstunden auf die Beschäftigten, so dass einige ihre gesamte Arbeitszeit verlieren und die Mehrheit gar keine Anpassung erbringen muss, ist mit den Mitteln der makroökonomischen Theorie nicht zu erklären. Keineswegs kann - um die neoklassische Standardargumentation aufzugreifen - ein Rückgang der Beschäftigung von A nach Β aufgrund eines gestiegenen Reallohns w/P ohne weiteres dahingehend gedeutet werden, dass die durch die Strecke NflN* symbolisierten Arbeitskräfte 9 entlassen werden (Abbildung 2). Ihre relativ geringe Grenzproduktivität Y'N ist nicht ihrer subjektiven Leistungsfähigkeit geschuldet, sondern allein der Knappheit des Kapitalstocks in Relation zur Gesamtzahl der Arbeitskräfte.
Um die Entlassung von Arbeitskräften erklären zu können, sind zusätzliche mikroökonomische Annahmen erforderlich, z.B. Rigiditäten des Produktionsprozesses und seiner Organisation, die eine "Unteilbarkeit" von Faktoreinsatzzeiten erforderlich machen; zu denken ist insbesondere an zusätzliche Informationskosten, die entstehen, wenn eine zusammenhängende Arbeitsaufgabe im Laufe eines Tages nacheinander von wechselnden Arbeitskräften ausgeführt wird. Selbst wenn derartige Annahmen gemacht werden, so ist doch das Muster der Entlassungsent9
Hierbei ist die Arbeitszeit pro Kopf als konstant betrachtet.
Strukturelle Arbeitslosigkeit
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Scheidung unbestimmt. Bei homogenen Arbeitskräften wäre eine Lotterie ein kostengünstiges und vielleicht auch "faires" Verfahren. Aber dies ist nicht das, was wir beobachten. Das allgemeine Bild zeigt eher, dass bestimmte Personen entlassen werden. Daraus lässt sich zweierlei folgern: • Die Unternehmen gehen offenbar davon aus, dass die Beschäftigten im Hinblick auf ihre Produktivität, ihre Fähigkeiten und Motivation differieren, und sie versuchen, nach Möglichkeit die "schlechtesten" zu entlassen.10 Dabei spielt es nicht unbedingt eine Rolle, inwieweit diese Beurteilung der Arbeitgeber mit den Fakten übereinstimmt. • Das unterstellte Leistungsprofil wird nicht durch eine entsprechend differenzierte Lohnstruktur abgebildet; denn ansonsten - wenn jeder Arbeitnehmer sein Grenzprodukt verdienen würde - könnte ein Unternehmen seine Lage nicht durch die Selektion bestimmter Arbeitnehmer verbessern, und wiederum sollte deshalb das Los über die Kündigung entscheiden. Der angemessene analytische Rahmen zur Erklärung von Arbeitslosigkeit ist demnach durch den Fall heterogener Arbeitskräfte gegeben, die dennoch den gleichen Lohn verdienen. Es ist lange Zeit übersehen worden, dass dieses Szenario den mikroökonomischen Hintergrund der Keynesschen Beschäftigungstheorie abgibt. Seine Verwendung einer Grenzproduktivitätskurve fur den Faktor Arbeit ist häufig als ein Relikt bzw. als ein Zugeständnis an die zeitgenössische neoklassische Ökonomie verstanden worden. Zwei Punkte markieren jedoch eine deutliche Abweichung vom neoklassischen Ansatz: • Zum einen ist die kausale Deutung der Grenzproduktivitätskurve anders: Nicht der Reallohn bestimmt die Beschäftigung, vielmehr fungiert die Kurve als eine Art indirekter Preisbestimmungsfunktion, die bei einem vom Gütermarkt bestimmten Beschäftigungsvolumen und einem gegebenen Nominallohnsatz jenes Preisniveau angibt, das unter Berücksichtigung der Produktionstechnik den vom Vermögensmarkt diktierten Rentabilitätsbedingungen genügt." • Zum anderen ist die negative Steigung der Kurve nicht auf die ertragsgesetzliche Wirkung des Sachkapitals als knappem Faktor zurückzufuhren, sie beruht
10
Dieses Verhaltensmuster kann durch institutionelle Vorschriften eingeschränkt werden, die aus sozialpolitischen Gründen gerade leistungsschwächere Arbeitnehmer vor einer Entlassung schützen. Im folgenden wird von diesem Aspekt abstrahiert. " Vgl. Keynes (1936), S. 26.
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vielmehr auf der Annahme unterschiedlich leistungsfähiger variabler Produktionsfaktoren, die nach ihrer Qualität geordnet eingesetzt werden.12 Der theoriegeschichtliche Hintergrund dieses letztgenannten Punktes ist vermutlich der, dass Keynes seit den 20er Jahren gut mit den in Cambridge ablaufenden Debatten zur Theorie der Firma und des unvollkommenen Wettbewerbs vertraut war. Sraffas sorgfaltige Analyse der Konstellationen steigender und fallender Erträge in der Produktion ließ "das Monument Marshall in Trümmern zurück"13: Auf der Grundlage steigender Grenzkosten basierende Angebotskurven waren nur unter extremen Annahmen zu konstruieren; wollte man nicht generell zu einer Welt unvollkommenen Wettbewerbs übergehen, so blieb eigentlich nur die Konsequenz, als Regelfall konstante Kosten zu unterstellen. Die Implikationen dieser Debatte für die makroökonomische Theorie waren damals (wie vielleicht auch noch heute) unklar.'4 Keynes scheute davor zurück, Sraffas Spur aufzunehmen und eine völlig elastische Angebotsfunktion auch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene zu postulieren, obwohl dies gut zu seinen beschäftigungstheoretischen Intentionen gepasst hätte. Aber damit wären diese Intentionen mit einer vom neoklassischen Standardfall deutlicher abweichenden produktionstheoretischen Grundlage verbunden worden, was möglicherweise die Aufmerksamkeit von den fur Keynes offensichtlich wichtigeren einkommens- und geldtheoretischen Aspekten der "Allgemeinen Theorie" abgelenkt hätte. So lag es näher, eine abnehmende Grenzproduktivität mit dem Fall heterogener Produktionsfaktoren zu begründen, der seit Ricardo zu einem der anerkannten Bausteine der klassisch-neoklassischen Schule gehörte. Der beschäftigungstheoretische Hintergrund der Keynesschen Modellierung der Grenzproduktivitätskurve lag wohl in dem Bestreben, nicht von vornherein eine Vollauslastung der Sachkapazitäten zu unterstellen (dies ist ja die Implikation der üblichen Konstruktion der Grenzproduktivitätskurve, bei der Produktion und Beschäftigung stets auf der "Knappheitsgrenze" des Realkapitals stattfinden). Unterbeschäftigung wäre dann mit dem Problem des Kapitalmangels verknüpft, dessen Überwindung eine teilweise anders gelagerte Therapie erfordert als der Fall allgemeiner Unterauslastung von Ressourcen.15 Allerdings wurde Keynes an die12 13 14
15
Vgl. Keynes (1936), S. 37f. und S. 250ff. Schefold (1976), S. 149; Vgl. zum folgenden Sraffa (1925); Sardoni (1994). Joan Robinson schrieb 1932 an Keynes: "I believe that like the rest of us you had your faith in supply curves shaken by Piero. But what he attacks are just the one-by-one supply curves that you regard as legitimate. His objections do not apply to the supply curve of output - but Heaven help us when he starts thinking out objections that do apply to it." Siehe dazu auch Skarstein (1992). Vgl. Bean (1989).
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ser Stelle doch wieder von den Konsequenzen seiner mangelnden Radikalität im Hinblick auf den Verzicht auf eine horizontale Angebotsfunktion eingeholt: Da seine Begründung der fallenden Kurve der Grenzleistungsfáhigkeit des Kapitals (die ebenfalls nicht auf der traditionellen Grenzproduktivitätstheorie beruht) u.a. auf steigende Angebotspreise der Kapitalgüter abstellt, die letztlich doch als Ausdruck einer Ressourcenknappheit zu deuten sind, wurde es schwierig, das Investirions- mit dem Unterbeschäftigungsgleichgewicht zu koppeln.16 Mit Blick auf das unmittelbare Arbeitsmarktgeschehen sind allerdings zwei andere Probleme wichtiger: • Erstens treten bei einer einheitlichen Bezahlung qualitativ unterschiedlicher Arbeitskräfte Rentenelemente bei der Entlohnung auf, die zum Gegenstand eines zusätzlichen Verteilungsstreits werden können." • Zweitens ändern sich die wettbewerbsmäßigen Beziehungen zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen gegenüber dem Standardfall homogener Arbeitskräfte. Aus dem Zusammenspiel beider Punkte lässt sich nun die Entstehung eines Insider-Outsider-Phänomens ableiten, das tendenziell auf eine Marktspaltung zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen hinwirkt und somit zu Persistenzerscheinungen bei der Arbeitslosigkeit fuhrt. Als Ausgangspunkt dient das Beschäftigungsgleichgewicht gemäß der Keynesschen Theorie {Abbildung 3). Die nachgefragte Beschäftigungsmenge 1Ψ1 hängt über die Produktionsftinktion von der Güternachfrage Y ab; da die Arbeitszeit pro Kopf fixiert ist, gibt Ν die Anzahl der Beschäftigten an. Sie sind auf der Abszisse nach ihrer abnehmenden individuellen Produktivität so geordnet, dass jeder zusätzliche Arbeiter dem Gesamtoutput ein sinkendes Grenzprodukt hinzufugt, das jeweils mit dem konstanten Güterpreis(niveau) Ρ bewertet und dem einheitlichen Nominallohn w gegenübergestellt wird. Das Gleichgewicht liegt in Punkt A.
16
17
"It is difficult to accept as an explanation for widespread unemployment the hypothesis that because there is full-employment in the investment goods industry the demand for investment goods is thus too small to achieve full-employment", Ebel (1978), S. 279. Keynes hat diesen Punkt nicht weiter analysiert, jedoch betont, dass der Nominallohn eine wichtige Rolle im Kampf um relative Einkommenspositionen zwischen verschiedenen Teilarbeitsmärkten spielt. Auch daraus kann Reallohnstarrheit resultieren, weil keine Branchengewerkschaft den Anfang mit einer Lohnzurückhaltung machen will, jedoch jede eine allgemeine Reallohnsenkung via Preissteigerung akzeptieren würde, vgl. Keynes (1936), S. 12; Summers (1988).
208
Abb. 3:
Strukturelle Arbeitslosigkeit
Beschäftigungsgleichgewicht bei Keynes
Das Dreieck ABC bezeichnet ein Renteneinkommen, das im neoklassischen Standardfall homogener Arbeitsleistungen dem Faktor Kapital zufällt, eben weil die abnehmende Grenzproduktivität der Arbeit eine Folge der physischen Kapitalknappheit ist. Wenn die negative Steigung von PY'N aber auf einer variierenden Leistung der Arbeitskräfte beruht, ist unmittelbar nicht einsichtig, dass die Arbeitnehmer eine derartige Verteilung der Renten akzeptieren. Im Falle einer individuellen Entlohnung würde jeder einzelne Arbeitnehmer eine seinem Grenzprodukt entsprechende Bezahlung anstreben. Bei Festsetzung eines durchschnittlichen Lohnsatzes z.B. durch eine Gewerkschaft wäre zu erwarten, dass die Arbeitnehmerseite versucht, einen Teil oder die gesamte Rente für sich zu beanspruchen. Denn zu beachten ist, dass die Unternehmen üblicherweise eine Aufschlagskalkulation praktizieren, bei der ein Normalgewinn bereits über den Aufschlagssatz k eingerechnet ist (^bezeichnet die Lohnsumme): Ρ = \{\ + k)) — y = \{\ + k)) γ ! Ν Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität Y/N lässt sich unter den o.g. Bedingungen als Funktion q = q (N), mit q' < 0, darstellen. Mit Υ = Ν q ist demnach die Grenzproduktivität Y¿=Nq' + q = x Die um den Aufschlagsfaktor (1+k) korrigierte Wertgrenzproduktivität kann nun als Orientierungslinie in den Verhandlungen über den Lohnkontrakt dienen (Abbildung 4). Gegeben sei eine Information (bzw. eine Erwartung) über den künfti-
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gen Absatz Y, womit ein bestimmtes Beschäftigungsvolumen Nn festliegt und (ebenso wie k und Ρ) nicht mehr Gegenstand der Verhandlung ist. Die Verhandlungspartner streben nun eine Übereinkunft über die Höhe des Nominallohnsatzes an. Im folgenden wird eine "solidarische" Lohnpolitik unterstellt, bei der die Arbeitnehmerseite den durchschnittlichen Arbeitsertrag (verringert um den Mark-up) auf die Löhne verteilt und den Unternehmen nur den Normalgewinn belässt.' 8 Die Wertproduktivität der guten Arbeitskräfte liegt über, diejenige der schlechten Arbeitskräfte unterhalb des Lohnsatzes w . Im Durchschnitt hebt sich diese Umverteilung auf (die schattierten Dreiecke sind gleich groß).
Abb. 4:
Löhne und Beschäftigung bei heterogenen Arbeitskräften
An dieser Stelle ist der Frage nachzugehen, warum beide Marktseiten ein Interesse an einer Kollektiventlohnung haben könnten, obwohl doch der Grundsatz der ökonomischen Effizienz eine möglichst breite Auffächerung der Lohnstruktur bis hin zu individuellen, die subjektive Produktivität widerspiegelnden Lohnsätzen nahelegt. Mit Blick auf die Gewerkschaften ist unmittelbar einleuchtend, dass sie schon aufgrund ihres Selbsterhaltungsinteresses als Organisation gegen direkte, bilaterale Lohnkontrakte votieren. Auf Seiten der Unternehmen sprechen neben der sozialen Norm "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" - Informations- und Überwachungskosten gegen eine direkte, leistungsbezogene Bezahlung. Die Leistung eines neuen Arbeitnehmers ist bei der Einstellung schwer zu prognostizieren und während seiner Arbeit möglicherweise nur unter großen Schwierig18
Diese Annahme ist für den Fortgang der Argumentation nicht wesentlich. Unternehmen und Arbeitnehmer müssen sich nur auf irgendeine Verteilung der Rente einigen.
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keiten zu messen. Derartige Messvorrichtungen könnten von der Belegschaft auch als Misstrauensbeleg verstanden werden und darüber das Betriebsklima stören. Die Literatur zur Effizienzlohntheorie verweist eher darauf, dass sich umgekehrt ein Vertrauensvorschuss, dokumentiert durch eine "faire", jeden gleich behandelnde Bezahlung, als langfristig produktivitätsfördemd erweisen kann." Zwar haben besonders die leistungsfähigen Arbeitnehmer ein Anreizproblem, da sie nicht in vollem Umfang von ihren eigenen Anstrengungen profitieren. Andererseits werden sie gerade deshalb versuchen, schwächere Kollegen mitzuziehen und Bummelei durch sozialen Druck zu ahnden, was für die Unternehmen auf eine elegante Form der Delegation des Kontroll- und Motivationsproblems hinausläuft. Damit benötigen die Unternehmen die Gewerkschaften, um die - insgesamt effiziente - Kollektiventlohnung institutionell abzusichern und Wünsche nach individueller Entlohnung abzulehnen. Aufgrund der Differenz zwischen Lohn und Wertproduktivität bei den schlechteren Arbeitnehmern besteht zwar ein Anreiz der Unternehmen, eben diese zu entlassen (dabei ist hier angenommen, dass die Unternehmen während der Beschäftigungsdauer durchaus eine, wenn auch nur grobe Vorstellung über die individuelle Leistungsfähigkeit und -bereitschaft ihrer Mitarbeiter gewinnen können). Aber bei konstanter Güternachfrage würde dies einen Verlust von Marktanteilen bedeuten. Zudem würden die verbleibenden Beschäftigten das Ziel einer solchen Verhaltensweise alsbald durchschauen und auf eine Nachverhandlung drängen, um die gestiegenen Stückgewinne über höhere Löhne rückzuverteilen. Kommt es bei gegebenen Marktbedingungen zu steigenden Lohnforderungen, so werden die Unternehmen versuchen, diese in den Preisen zu überwälzen. Steigt die Güternachfrage, so sind sie gezwungen, Arbeitskräfte von anderen Unternehmen abzuwerben oder aus dem Bestand der Arbeitslosen einzustellen. In jedem Fall dürften die Kosten steigen: Entweder ziehen die Lohngebote an anderweitig beschäftigte Arbeitnehmer auch den firmeninternen Durchschnittslohn hoch, oder es finden sich - darauf ist noch zurückzukommen - nur vergleichsweise schlecht qualifizierte Arbeitskräfte auf dem Markt. Geht die Güternachfrage zurück, werden die leistungsschwächsten Arbeitnehmer entlassen. 20 Die quantitative Anpassung der Beschäftigung von Nn auf Ν, (Abbil-
19
20
Vgl. Akerlof (1982); Franz (1994) S. 296ff.; Landmann/Jerger (1999), S. 183ff.; Falk/Gächter (2000). Werden aus organisatorischen oder sonstigen Gründen ganze Abteilungen oder Zweigwerke geschlossen, so sehen sich die Unternehmen häufig veranlasst, Teile der Belegschaft weiterzubeschäf-
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dung 4) geht dann mit einer Zunahme der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität einher. Dies bedeutet für sich genommen einen steigenden Stückgewinn (bei möglicherweise unverändertem Gesamtgewinn), was die beschäftigten Arbeitnehmer sogar zu Lohnerhöhungen motivieren könnte. Andererseits wird ein Nachfragerückgang oft mit dem Zwang zu Preiszugeständnissen einhergehen. Dabei verschiebt sich die Wertgrenzproduktivitätskurve nach unten (und wird dabei flacher). Der Reallohn steigt bei konstantem Nominallohn. Je nach Stärke der Produktivitäts- und Preiseffekte werden sich die Beschäftigten zu einer nachgebenden Haltung gezwungen sehen, wobei ein Ziel sein könnte, die "faire" Vorkrisenkonstellation des Rent Sharing wiederherzustellen. Die entscheidende beschäftigungstheoretische Frage ist jedoch, ob die nun arbeitslos gewordenen Arbeitnehmer über ein Mittel verfügen, wieder in den Markt zu gelangen. Offensichtlich können sie zu den gegebenen (bzw. nach Maßgabe der obigen Überlegungen adjustierten) Löhnen nicht mit den Beschäftigten konkurrieren, eben weil ihre Produktivität niedriger ist. Diese Information wird einem potenziellen Arbeitgeber schon durch ihren bloßen Status als Arbeitslose vermittelt - unter der realistischen Erwartung, dass sich andere Unternehmen bei der Entlassung ähnlich verhalten wie er selbst. Angesichts des meist langfristigen Charakters von Beschäftigungskontrakten und der asymmetrischen Informationslage zum Zeitpunkt ihres Abschlusses werden Arbeitgeber bei der Einstellungsentscheidung vorsichtig vorgehen und alle verfügbaren Informationselemente verwenden; dazu gehört eben auch der Beschäftigungsstatus des Bewerbers und insbesondere - worauf noch einzugehen sein wird - die Dauer seiner Arbeitslosigkeit. Schließlich kann man vermuten, dass das Anspruchsniveau der Unternehmen bei allgemeiner Unterbeschäftigung sogar steigt. "Das Wissen um die Existenz eines breit gestreuten Arbeitslosenpools lässt Unternehmen (beim Arbeitsamt und am Fabrikstor) Qualifikationen und Eigenschaften verlangen, auf die sie in Zeiten knapper Arbeitskräfte kaum bestanden hätten. Die Bereitschaft, weniger qualifizierte, weniger erfahrene Arbeitskräfte zu akzeptieren und sie im Betrieb einzuschulen, geht zurück."21 Bei unveränderter Güternachfrage hat jedenfalls das Unternehmen kaum einen Anreiz, zum gegebenen Lohnsatz w einen Beschäftigten gegen einen arbeitslosen Bewerber auszutauschen, weil dies einen Produktivitätsabfall erwarten lässt.
21
tigen. In der Folgezeit stellt sich dann erneut die Aufgabe, den Umfang der Belegschaft nach unten anzupassen, wobei dann Leistungsbeurteilungen ein wichtiges Kriterium darstellen. Rothschild (1983), S. 173; so auch bei Franz (1994), S. 219 und S. 363.
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Folglich kann der Arbeitslose als Outsider nicht unmittelbar mit den Insidern konkurrieren. Das Unternehmen müsste entweder den Bewerber schlechter bezahlen, was aber eine Aufgabe des Prinzips der Durchschnittsentlohnung bedeutet und sofort Zusatzforderungen der besseren Arbeitskräfte nach sich zieht; oder aber der durchschnittliche Lohn müsste für alle abgesenkt werden, wobei das Unternehmen bestenfalls nichts gewinnt, im ungünstigen Fall aber die leistungsfähige Stammbelegschaft "verärgert". Selbst die arbeitslosen Bewerber mögen gute Gründe haben, von einer Lohnunterbietungsstrategie abzusehen: Sie würden damit ein durch relative Marktpreise dokumentiertes "Downgrading" ihrer Qualifikation akzeptieren, was sich (unter einer realistischeren Modellbedingung vieler Teilarbeitsmärkte) negativ auf ihre weitere Einkommensbiografie auswirken kann.22 Ein solcher Schritt erscheint unklug, weil sie in Zeiten einer normalen Güternachfrage ebenfalls den höheren Durchschnittslohn erhalten haben und unmittelbar keine Verschlechterung ihrer persönlichen Qualifikation eingetreten ist. Deshalb könnten Arbeitslose eher auf eine exogene Verbesserung der Marktbedingungen setzen, die ihnen eine Wiederbeschäftigung zum alten Lohn verspricht, als zu versuchen, in einem anderen Marktsegment eine Billig-Lohn-Karriere zu starten.23 Wenn eine exogen bewirkte Nachfragesteigerung auf dem Gütermarkt eintritt, würde dieses Kalkül der Arbeitslosen aufgehen. Aber es gibt schon aus mikroökonomischer Sicht wenig Anlass zu der Hoffnung, dass von Seiten der Arbeitslosen eine Tendenz zur Lohnsenkung ausgeht, die dann auf die eine oder andere Weise eine solche Nachfragesteigerung in die Wege leiten könnte.
22
23
"Workers w h o lose 'good' jobs worry about being stigmatized by taking 'bad' jobs. [...] Unemployed steelworkers do not want potential employers thinking of them as hamburger flippers", Blinder (1988), S. 5. Im Rahmen des oben unterstellten Modells eines einheitlichen "ersten" Arbeitsmarktes könnte man sich die Öffnung eines "zweiten" Arbeitsmarktes vorstellen, etwa für niedrig bezahlte Dienstleistungen, der - wie die Land- und Subsistenzwirtschaft im Modell der klassischen Ökonomie - die Funktion eines Puffers übernimmt: Er bildet ein Reservoir zur temporären oder permanenten Aufnahme der aus dem ersten Markt freigesetzten Arbeitskräfte. In modernen Wohlfahrtsstaaten besteht zudem eine Wahl zwischen der Aufnahme einer Beschäftigung und dem Bezug von Sozialeinkommen. Wurden diese in Zeiten allgemeiner Prosperität relativ generös festgesetzt, so erweisen sie sich bei einer nachhaltigen Verschlechterung der Wirtschaftsentwicklung als "Zeitbombe": Nur wenn nach einer Krise "gute Jobs" vorhanden bleiben, bemühen sich Arbeitslose um eine Wiederbeschäftigung. Größere makroökonomische Schocks entwerten jedoch schlagartig das Humankapital und zwingen prinzipiell zur Annahme deutlich niedriger Löhne. Sind aber die Sozialleistungen an der Höhe des letzten Einkommens orientiert, bleibt der Reservationslohn hoch, die Suchzeiten sind lang und tendenziell erfolglos. Vgl. Ljungqvist/Sargent (1998); Ball (1997).
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3
213
Die endogene Strukturierung des Arbeitsmarktes
Der vorstehende Abschnitt hat weitere Indizien dafür geliefert, dass es auf beiden Seiten des Arbeitsmarktes eine Reihe von mikroökonomisch nachvollziehbaren, "rationalen" Rigiditäten der Lohnpolitik gibt.24 Die Modellierung heterogener Arbeit bei einheitlichem Lohn hat insbesondere gezeigt, dass zwar die vielfältigen Qualifikationsmerkmale der Arbeitskräfte mikroökonomischer Natur sind, jedoch lässt sich die Grenze zwischen "guten" und "schlechten" Arbeitskräften nicht angebotsseitig bestimmen; sie ist vielmehr eine endogene Variable im makroökonomischen Prozess. Die Eigentümlichkeit der Wettbewerbsverhältnisse am Arbeitsmarkt ist, dass - folgt man obigem Modell - die Wohlfahrtskosten bestehender Unzulänglichkeiten im Hinblick auf Produktivität und Qualifikation der Arbeitskräfte am unteren Ende der Rangskala tendenziell von den Leistungsfähigeren in Form eines relativen Reallohnverzichts getragen werden, solange Vollbeschäftigung besteht-, nach einer vom Gütermarkt erzwungenen Beschäftigungsanpassung, die zugleich mit einer Effizienzsteigerung in den Unternehmen einhergeht, sind diese Wohlfahrtskosten jedoch allein von den freigesetzten Arbeitslosen zu tragen, nämlich in Form verringerter Wiederbeschäftigungschancen. Die "solidarische" Form der Beschäftigungs- und Lohnkontrakte behindert zugleich den Wettbewerb für diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer zu Outsidern geworden sind. Aus alledem resultiert eine endogene Marktspaltung zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen, die nicht nur, wie von der traditionellen Insider-Outsider-Theorie betont, auf der institutionellen Organisierbarkeit ihrer Interessen beruht25, sondern selbst ein Produkt der Marktmechanismen im Gefolge der Beschäftigungs- und Entlassungsentscheidung bei heterogenen Arbeitskräften ist. Diese Marktspaltung wird durch weitere Effekte verstärkt. Wenn in einer Rezession bestimmte Produktionszweige und Techniken überhaupt aufgegeben werden, entwertet sich das Humankapital entlassener Arbeitskräfte nachhaltig. Allgemein ist der Verfall der Qualifikation der Arbeitslosen eine zunehmende Funktion der Dauer ihrer Nichtbeschäftigung, da sie vom Prozess des fortlaufenden Lernens am Arbeitsplatz ausgeschlossen werden. Dieses Dilemma wird dadurch "perfekt", dass die Unternehmen ihrerseits eben diese Dauer als ein Beurteilungskriterium zur Abschätzung der Leistungsfähigkeit von Bewerbern verwenden. "Dann muss man aber damit rechnen, dass ihre Produktionskompetenzen im Laufe der Zeit weiter
24 25
Vgl. dazu weiter Solow ( 1980); Franz ( 1996); Nickell ( 1997). Vgl. Blanchard/Summers (1986); Lindbeck/Snower (1988); Franz (1994), S. 288ff.
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abnehmen, und dass im gleichen Maß ihre Einstellungskosten steigen. Dies hat zur Folge, dass ihre Konkurrenzfähigkeit weiter abnimmt, so dass der Lohnsetzungsspielraum der Beschäftigten wieder steigt und somit die inflationsstabile Arbeitslosenrate, eben NAIRU, höher wird."26 Mit Hilfe des allgemeinen Zusammenhangs zwischen Strömen und Beständen am Arbeitsmarkt27 lässt sich auch verdeutlichen, dass Ströme in die und Abgänge aus der Arbeitslosigkeit nicht nur ihr Niveau, sondern darüber hinaus die "Qualität", d.h. die potentielle Leistungsfähigkeit des Arbeitslosenbestandes bestimmen. Der methodische Rahmen dafür ist ein "Badewannentheorem" (Tabelle 1): Tab. 1:
Größe und Qualifikation des Arbeitslosenbestandes bei unterschiedlichen Strömen und Beständen am Arbeitsmarkt Zugang
Niveau Qualität
klein
groß steigt
konstant (niedrig) klein
konstant (hoch) I II IV III
Abgang sinkt
sinkt
konstant (hoch)
groß steigt
konstant (niedrig)
Der Inhalt der Wanne repräsentiert das Niveau der Arbeitslosigkeit, die Temperatur des Wassers seine Qualität. Der Zulauf ist durch den Strom in die Arbeitslosigkeit gegeben, also im wesentlichen durch Entlassungen, der Ablauf entspre-
26 27
Vogt (1995), S. 172; vgl. Nickell (1988); Pissarides (1992); Blanchard/Diamond (1994). Vgl. dazu Franz (1994), S. 334ff.; Blanchard/Katz (1997); Landmann/Jerger (1999), S. 19ff. und S. 36ff.
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chend durch den Strom der Einstellungen (von weiteren Stromgrößen wie Berufsanfänger, Verrentungen etc. sei abgesehen). Die Relation der Zu- und Abgänge bestimmt den Wasserspiegel, d.h. den Bestand an Arbeitslosen. Ausgehend von Feld I nimmt in der Wirtschaftskrise zunächst die Freisetzung zu, womit in Feld II die Arbeitslosigkeit steigt. Ihre Stabilisierung auf hohem Niveau wird in Feld III dadurch erreicht, dass bei unveränderter Intensität der Freisetzungen nun auch der Strom aus der Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung wächst. Dies war in der Bundesrepublik nicht nur zu Anfang der 90er Jahre, sondern auch in früheren Wirtschaftskrisen zu beobachten (Abbildung 5).
Abb. 5: in Mio. Personen; Zugang in und Abgang aus registrierte(r) Arbeitslosigkeit (Linie bzw. Punkte) in Deutschland (früheres Bundesgebiet); Datenquelle: Sachverständigenrat Der steigende Abgang aus der Unterbeschäftigung in Zeiten der Wirtschaftskrise ist ein auf den ersten Blick überraschendes Phänomen, das nicht nur landläufigen Vorurteilen widerspricht, sondern auch im Gegensatz zum oben entwickelten Argument einer stockenden endogenen Wiederbeschäftigung zu stehen scheint. Aber letztlich verbirgt sich dahinter der Basiseffekt einer höheren Arbeitslosigkeit: Bei einem insgesamt größeren Bestand nehmen auch die Ströme des Labour Turnover zwar absolut zu, in Relation zum Bestand jedoch ab.28 Überwunden wird die Krise durch die Abbremsung des Freisetzungsprozesses in Feld IV; die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Stärke des Aufschwungprozesses entscheidet dann
28
Der Quotient Abgang/Arbeitslosigkeit sank zwischen 1973-75 von 5,9 auf 3,0, zwischen 1980-83 von 3,1 auf 1,6 und zwischen 1992-94 von 1,4 auf 1,3.
216
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darüber, ob die Beschäftigungsrate aus dem Pool der (offen und verdeckt) Arbeitslosen sich ebenfalls abflacht oder (wie zu Ende der 80er Jahre) hoch bleibt und eine nachhaltige Reduktion der Arbeitslosenquote bewirkt. Die durchschnittliche "Qualität" des Arbeitslosenbestandes, d.h. im Beispiel: die Temperatur des Wassers, hängt von der Verweildauer der Elemente in der Badewanne ab. Die Temperatur des Zulaufs ist generell hoch, weil die gerade Entlassenen noch über ihre Berufsqualifikation verfügen. Da in Feld I (bzw. Marktphase I) der Wasserstand niedrig ist und bleibt (Zulauf gleich Ablauf), hält sich auch die Temperatur in der Wanne hoch (Tabelle 1, Abbildung 6). Mit den steigenden Freisetzungen erhöht sich das Niveau der Unterbeschäftigung in Feld II. Damit dauert es im Durchschnitt länger, bis ein Arbeitsloser wieder eine Stellung findet; da das berufsrelevante Wissen und die allgemeine Qualifikation nicht beschäftigter Arbeitskräfte mit der Zeit verfällt, sinkt in dieser Marktphase die Qualität der Arbeitslosen.
Abb. 6:
Stilisierter Konjunkturverlauf am Arbeitsmarkt (Differenz zwischen Zu- und Abgang in Phase I nur aus darstellerischen Gründen positiv)
In Feld bzw. Phase III stabilisiert sich das Niveau der Arbeitslosigkeit, weil nun bedingt durch den geschilderten Basiseffekt - die Abgangsrate steigt. Da folglich die Verweildauer nicht weiter zunimmt, wird das Tempo des Qualifikationsverfalls gestoppt. Die durchschnittliche Leistungsfähigkeit der Arbeitslosen ist jedoch niedrig. Während der Überwindung der Beschäftigungskrise in Feld bzw.
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Phase IV wird der Zugang in die Arbeitslosigkeit gestoppt; der Wasserstand sinkt, damit steigt die Temperatur in der Badewanne wieder an. Parallel zur Beschäftigung nimmt auch die Qualität der aus dem Arbeitslosenpool rekrutierbaren Mitarbeiter zu. Diese sehr schematisch skizzierte Abhängigkeit der Qualifikation von der Verweildauer in der Arbeitslosigkeit kann nur einen Effekt auf den Qualifikationsdurchschnitt erfassen. Realiter streut jedoch die Verteilung der Dauer von Nichtbeschäftigungsphasen zwischen den einzelnen Personen sehr stark. Ein Indiz dafür ist die Schwankung des Anteils der Langzeitarbeitslosen an der gesamten Arbeitslosigkeit {Abbildung 7). Er beginnt erst in einer späten Phase des Aufschwungs zu sinken (nach 1978 bzw. 1988), wenn auch die Arbeitslosenquote allgemein deutlich zurückgeht. Dies zeigt eine beginnende Anspannung des Arbeitsmarktes an, wobei auch diejenigen (wieder) Chancen erhalten, die zuvor (vielleicht sogar prophylaktisch) ausgegrenzt wurden. Anders formuliert: Die steigende Beschäftigung bewirkt eine größere Flexibilität und Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt. Mit dem Einsetzen einer Wirtschaftskrise verringert sich der Anteil der Langzeitarbeitslosigkeit weiter, nun aber weil die Freisetzungen rasch zunehmen und die Zahl der Arbeitslosen mit einer (noch) kurzen Dauer der Nichtbeschäftigung das Bild dominiert. Im weiteren Verlauf der Wirtschaftskrise nimmt dann die Langzeitarbeitslosigkeit deutlich zu. Am Ende der Phase III wird somit der Qualifikationsverlust des gesamten Arbeitslosenpools (Abbildung 6) vor allem durch diese Problemgruppe repräsentiert. Diese Arbeitskräfte haben praktisch ihre Marktfähigkeit verloren, sie kommen als Konkurrenten der Beschäftigten nicht mehr in Frage. Es hat sich auch empirisch gezeigt, dass die Langzeitarbeitslosen kaum noch einen Einfluss auf die Lohnbildung haben.29 Ihr Anteil steigt dann oft noch weiter an, wenn schon eine allgemeine Erholung am Arbeitsmarkt eingesetzt hat.
29
Vgl. Hargreaves Heap ( 1980); Blanchard ( 1991 ).
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Strukturelle Arbeitslosigkeit
Langzeit-
10
40
8
30
6 20 4
10
2
0
0 1974
Abb. 7:
1978
1986
1990
1994
Arbeitslosenquote (linke Skala) und Anteil der Arbeitslosen mit einer Dauer der Arbeitslosigkeit von mehr als 12 Monaten an der Gesamtarbeitslosigkeit (rechte Skala) in Deutschland, grau unterlegt: Phasen II und III des stilisierten Konjunkturzyklus; Datenquelle: Sachverständigenrat, Bundesanstalt für Arbeit
Das vorstehend skizzierte Bild des Arbeitsmarktes bestätigt somit das schon aus der mikroökonomischen Analyse gewonnene Resultat: Die einzelwirtschaftlichen Beschäftigungs- und Entlassungsentscheidungen bei heterogenen Arbeitskräften und die Mechanismen einer endogenen Strukturierung des Arbeitsmarktes machen aus Beschäftigten und Arbeitslosen tendenziell "non-competing groups". Letztere sind gleichsam mit dem Moment der Entlassung (ein Stück weit) aus dem Marktsystem ausgegrenzt.30 Im Gegensatz zum Fall von Angebotsüberschüssen auf anderen Märkten ist somit der Preisunterbietungsmechanismus schon von den Aktionsspielräumen und Verhaltensweisen der Arbeitskräfte her nur schwach ausgeprägt. Folglich sind die Selbststabilisierungskräfte des Systems ungenügend. Allerdings ist zu betonen, dass selbst eine größere Flexibilität der Löhne und Preise aufgrund der makroökonomischen Ambivalenz des Realkasseneffektes keine marktendogene Vollbeschäftigungstendenz sichert.31 Dies ist jedoch hier nicht das Thema.
30
31
Letztlich hat auch die klassische Ökonomie mit dem Bevölkerungsgesetz einen derartigen Anpassungsmechanismus postuliert, indem Arbeitslose mit dem Verhungern aus dem System verschwinden. Vgl. dazu Tobin (1993).
Strukturelle A r b e i t s l o s i g k e i t
4
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Strukturelle Arbeitslosigkeit und Wirtschaftspolitik
Der Begriff "strukturelle Arbeitslosigkeit" ist strikt genommen unbrauchbar, weil er suggeriert, dass die Nichtbeschäftigung mikroökonomische, eben "strukturelle" Ursachen hat. Aber Diskrepanzen zwischen dem Qualifikationsprofil von Arbeitskräften und den Qualifikationsanforderungen von Arbeitsplätzen gibt es auch innerhalb des Beschäftigungssystems, wenn man so will: "strukturelle Beschäftigung", weil die Beschäftigung von qualifikations- und leistungsmäßig heterogenen Arbeitskräften bei einheitlichem Lohn eher die Regel als die Ausnahme sein dürfte. Gleich ob man einen Einheitsmarkt oder ein System von Teilarbeitsmärkten betrachtet: Stets lassen sich die Arbeitskräfte nach ihrer individuellen Produktivität geordnet vorstellen, während die effektive Nachfrage die Grenze zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit zieht. Ein flexibler, effizienter Allokationsmechanismus auf dem Arbeitsmarkt sorgt dann dafür, dass eine wie auch immer entstandene "Unordnung" in der leistungsmäßigen Reihung der Arbeitskräfte revidiert wird, indem ein Labour Turnover "gute" Arbeitslose in die Jobs und "schlechte" Beschäftigte in die Arbeitslosigkeit befördert. Flexibilisierungsstrategien der Arbeitsmarktpolitik verschärfen insoweit das Problem eher, als dass sie zu seiner Lösung beitragen. Eine "strukturelle Arbeitslosigkeit" ist unabhängig vom Stand der Nachfrage nicht definierbar; dieser Begriff verwechselt somit das mikroökonomische Problem der Effizienz (ein mangelndes Matching von Arbeitsplatzanforderung und Qualifikationsprofil) mit dem makroökonomischen Problem der Beschäftigung.32 Die Vorstellung, ein bestimmtes Ausmaß an Unterbeschäftigung sei angebotsseitig durch Eigenschaften und Merkmale der betreffenden Arbeitslosen zu erklären, ist somit methodisch verfehlt. In expansiven Phasen der Marktentwicklung werden bei allgemeiner Ressourcenknappheit natürlich auch "schlechte" Produktionsfaktoren eingesetzt; dies behindert die Produktivität und die realen ProKopf-Einkommen, aber nicht ihre Beschäftigung. Folglich kann die Qualität von Arbeitskräften auch keine Vorbedingung von Vollbeschäftigung sein. Es wäre ein Mythos zu glauben, in den 60er Jahren seien die Arbeitskräfte in der Bundesrepublik leistungsfähiger gewesen. Mismatch-Probleme gab es damals auch; sie mussten jedoch angesichts des hohen Nachfragewachstums "on the job" gelöst werden.
32
Vgl. Riese (1997).
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Strukturelle Arbeitslosigkeit
Die vorherrschende Meinung, dass die Makropolitik eine durch die strukturelle Arbeitslosenquote bzw. die NAIRU gegebene Grenze zu akzeptieren habe, ist demnach aus zwei Gründen zu kritisieren: • Zum einen fuhren die Prozesse am Arbeitsmarkt dazu, dass auch eine primär nachfragebedingte Unterbeschäftigung mit der Zeit die Charakteristika der "strukturellen Arbeitslosigkeit" aufweist. Tobins schon lange zurückliegende Bemerkung, es gebe keinen Grund anzunehmen, die "natürliche" Rate der Arbeitslosigkeit sei unabhängig von der allgemeinen Unterbeschäftigung in der Vorperiode, hat sich durch die neuere Forschung mehr und mehr bestätigt: Die NAIRU folgt in einer Art Random Walk der jeweils aktuellen Arbeitslosenrate.33 • Zum anderen lässt sich bei allgemein heterogenen Produktionsfaktoren von ihren Eigenschaften her keine Grenze zwischen nachfrage- und qualifikationsbedingter Arbeitslosigkeit ziehen; eine solche Abgrenzung von strukturell definierten Problemgruppen wäre willkürlich. Auch aus mikroökonomischen Gründen wird so verständlich, warum die NAIRU ein statistisches Artefakt ist. Wenn ein effizienter Arbeitsmarkt zu jedem Zeitpunkt die qualitativ besten Arbeitskräfte auf die Arbeitsplätze vermittelt, so ist jedes Beschäftigungsniveau ein Gleichgewicht in dem Sinne, dass eine Beschäftigungsausdehnung zwingend einen gewissen Produktivitätsabfall zur Folge hat, der sich in einem Preisanstieg niederschlägt. Unter diesen Bedingungen kann man sich fragen, wie überhaupt jemals ein Beschäftigungsanstieg - oder allgemeiner: ein Konjunkturaufschwung - ohne sofortige und akzelerierende Preissteigerungen stattfinden kann. Nachfragepolitik wäre niemals möglich, jede Unterbeschäftigung wäre "strukturell". Aber merkliche Konjunkturaufschwünge mit anhaltenden Beschäftigungsgewinnen - bei nur mäßiger Inflation - gab es und gibt es durchaus. Sie sind u.a. dadurch erklärbar, dass der von der sinkenden Grenzproduktivität heterogener Arbeit ausgehende Kostendruck durch die für die industrielle Produktionsweise typischen Skaleneffekte zumindest teilweise kompensiert wird. Die durch die Ressourcenausstattung und ihre Produktivität - scheinbar - gegebene Angebotsbeschränkung des gesamtwirtschaftlichen Prozesses wird gerade dadurch elastischer, dass man sie "auslastet": weil damit die Sach- und Humankapitalbildung angeregt wird. Dies war sicher eine Erklärung für den anhaltenden, mit monetärer Stabilität verbundenen Wirtschaftsaufschwung in den USA
33
Vgl. Tobin (1972); Stiglitz (1997); Landmann/Jerger (1999), S. 264ff.
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seit den 90er Jahren. Es muss sich zeigen, ob der eher pragmatisch orientierte Stil der amerikanischen Geldpolitik in Zukunft auch auf den Kurs der Europäischen Zentralbank abfärben wird. Jedenfalls macht es wenig Sinn, zunächst - und sei dies auch noch so gut begründet - durch eine monetäre Restriktion "strukturelle Arbeitslosigkeit" zu erzeugen und sodann die Bearbeitung dieses Problems den Parteien am Arbeitsmarkt zu überantworten. Ein "Bündnis für Arbeit" könnte die Aufgabe übernehmen, via Lohnzurückhaltung oder Lohnsubventionierung die unvermeidlichen Kostensteigerungen aufzuhalten, die bei einer Beschäftigungsexpansion unter den Rahmenbedingungen heterogener Arbeit früher oder später zu erwarten sind. Aber diese Rollenzuweisung kann nur dann auf Akzeptanz stoßen, wenn die Nachfrageexpansion zunächst mit monetären Mitteln in Gang gesetzt oder zumindest nicht verhindert wird.
222
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Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J . M . S c h e c h l e r ) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 0
Bedeutungswandel in der Agrarpolitik Werner Grosskopf
1
Zum Stellenwert der Agrarpolitik
Agrarpolitik als spezielle, rein sektorbezogene Wirtschaftspolitik hat eine lange historische Tradition von der Antike bis in unsere heutige moderne Zeit.1 Es gab und es gibt kein Land, in dem die Regierenden diesem Feld nicht besondere Aufmerksamkeit widmeten und widmen. Unabhängig vom Wirtschaftssystem und unabhängig vom Entwicklungsstand sind diesem Bereich der speziellen Wirtschaftspolitik eine eigenständige Verwaltung, selbständige Institutionen der Ausbildung und Forschung und eine besondere Politikbedeutung durch einen eigenen Haushalt zugeordnet. Die folgenden Ausfuhrungen wollen nun versuchen zu prüfen, welche generellen Gründe für die Etablierung und die Bedeutungszuordnung der Agrarpolitik als spezielle Wirtschaftspolitik angeführt werden können und welche heute noch als gültig für Mitteleuropa, stellvertretend für Industrieregionen, zutreffend sein können. Die Landwirtschaft ist ein zentraler Bereich politischer Einflussnahme. Wenn der landwirtschaftliche Anteil an der Beschäftigung oder am Bruttosozialprodukt insgesamt in Relation zu den Anteilen an Budgets, an öffentlichen Haushalten und an der Eingriffsintensität in diesem Sektor gesetzt wird, lässt sich dieses Phänomen sogar in Zahlen verdeutlichen. Es ist der Frage nachzugehen, welche stichhaltigen Gründe angeführt werden können, die es in einer Marktwirtschaft rechtfertigen, dass der landwirtschaftliche Sektor in einem so deutlichen Ausmaß staatlich beeinflusst, z.T. ja fast staatlich gelenkt wird. Dabei ist zu beobachten, dass in frühen Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung die landwirtschaftliche Produktion eine dominierende Stellung innerhalb des Wirtschaftsgeschehens hat. Sie wird dann im Laufe des Entwicklungsprozesses wechselnd stärker in den Dienst der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung gestellt, indem darauf hingewirkt wird, dass Agrarpreise und damit Nahrungsmittelpreise niedrig sein können, um die allgemeinen Löhne gering zu halten und
1
Vgl. Ingersent/Rayner ( 1 9 9 9 ) , S. 1-24.
228
Agrarpolitik
um Ressourcen aus der Landwirtschaft in den nichtlandwirtschaftlichen Bereich transferieren zu können. Der landwirtschaftliche Sektor erfährt aber auch oftmals im Entwicklungsprozess in hohem Maße Förderung und wirtschaftliche Unterstützung, weil er als der Wirtschaftsbereich angesehen wird, der zur Stabilisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, auch durch die ausreichende Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, beiträgt.2 Die sprunghafte Einordnung der Landwirtschaft in die Wirtschaftspläne der sozialistischen Staaten in den Jahren 1960 bis 1980 zeigte dieses Wechselspiel nur zu deutlich. So ist neben der Frage nach den Gründen für die politische Betonung auch die Frage der Ausrichtung, der Schwerpunktbildung und der Zielorientierung der Agrarpolitik im wirtschaftlichen Entwicklungsprozess anzusprechen.
2
Notwendigkeiten spezieller sektorspezifischer Wirtschaftspolitiken
Die Vertreter der Wohlfahrtstheorie sind sich einig3, dass in einer Marktwirtschaft insbesondere dann wirtschaftspolitische Eingriffe notwendig sind, wenn der Marktmechanismus nicht in der Lage ist, eine optimale Faktorallokation zu verwirklichen. Dabei werden folgende Punkte besonders herausgestellt: 1. Die Existenz von externen Effekten bedingt die Notwendigkeit für die Politik, diese Effekte zu kontrollieren. 2. Der Bedarf nach öffentlichen Gütern ist durch "Angebote des Staates" zu befriedigen. 3. Der Tendenz von Wirtschaftssubjekten, kurzfristig orientierte Entscheidungen zu treffen, die nicht in der langfristig orientierten Interessenlage der Gesellschaft insgesamt liegen, ist politisch zu begegnen. 4. Die Anpassungsfähigkeit der in einem Sektor (oder in einer Region) eingesetzten Produktionsfaktoren kann abweichend vom allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen, durchschnittlichen Verhalten deutlich eingeschränkt sein, so dass "Mobilitätshilfen" des Staates erforderlich sind. Zu diesen vier Gegebenheiten wirtschaftspolitischer Eingriffsnotwendigkeit ist für den landwirtschaftlichen Sektor Stellung zu nehmen, um hieraus möglicherweise
2 3
V g l . Schmitt ( 1 9 9 4 ) , S . 4 1 9 - 4 2 3 . Vgl. Herdzina(1999).
Agrarpolitik
229
eine Legitimation für agrarpolitisches Eingreifen generell und in Hinblick auf die Eingriffsintensität speziell ableiten zu können.
3
Die Existenz von externen Effekten
Bei einer deutlichen Divergenz zwischen privaten und sozialen Kosten oder Nutzen muss der Staat zur Verbesserung der Allokation der Produktionsfaktoren, immer unter der Zielsetzung der Maximierung des Sozialproduktes, eingreifen. Landwirtschaftliche Produktion ist einerseits sehr intensiv mit dem Einsatz von Produktionsfaktoren verbunden, die zu den natürlichen Ressourcen, den Umweltgütern, gezählt werden. Dieses gilt iur Boden und Wasser ebenso wie für die Luft. Im Vollzug landwirtschaftlicher Produktion können dabei sowohl externe Kosten als auch Nutzen auftreten. Als externe Kosten landwirtschaftlicher Produktion erkennbar wurden die Düngeund Pflanzenschutzausträge insbesondere in das Grundwasser. Aber auch die Verringerung der Artenvielfalt bei Tier und Pflanze, ausgelöst durch intensive Landbewirtschaftung, wird ebenso wie die Belastung durch Freisetzung klimarelevanter Gase als eindrucksvolles Beispiel externer Kosten angeführt. Hier entstehen neben den privaten Kosten der Produktion auch deutliche soziale Kosten. Eine staatliche Eingriffsnotwendigkeit ist die Folge, um eine Übernutzung der Produktionsfaktoren "Umweltgüter" zu verhindern.4 Bodenschutz, Wasserschutz und Naturschutz sind entsprechende Politikbereiche, die durch vielfältige Gesetze und politische Programme inhaltlich ausgestaltet die landwirtschaftliche Produktion lenken. Aber auch die Art der Gestaltung der Landschaft ist im Vergleich zur Nichtproduktion, zur Brache also, oder im Vergleich zu anderen Arten der Landschaftsgestaltung dann als externer Effekt, als Nutzen, zu interpretieren, wenn die Gesellschaft durch diese besondere Landschaftsgestalt Vorteile empfindet. So sind insbesondere sog. Grenzregionen, also Regionen mit einer geringen Bodenproduktivität, z.B. in Höhenlagen, in Überschwemmungsregionen oder in Trockengebieten, unter reinen Marktgegebenheiten möglicherweise nicht in der landwirtschaftlichen Produktion zu halten. Dies hätte zur Folge, dass sich das Landschaftsbild deutlich ändern würde und sich die Nutzen einer "schönen" Landschaft verringern würden. Auch in diesen Fällen sind zur Sicherung einer optimalen Allokation, agrarpolitische Eingriffe notwendig. So werden Programme zur
4
Vgl. die Ergebnisse des SFB 183, Stuttgart-Hohenheim 1994.
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Agrarpolitik
Sicherung der Agrarproduktion in von der Natur benachteiligten Regionen eingesetzt, und es wird an sogenannten Grenzstandorten mit Hilfe deutlicher Subventionen die bestehende Agrarproduktion konserviert. Aus dem Gegebensein deutlicher externer Effekte, die mit landwirtschaftlicher Produktion verbunden sind, ist also eine erste Basis für staatlichen Eingriff erkennbar. Je höher der wirtschaftliche Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft ist, je dichter besiedelt eine Region ist und je höher die Bodenproduktivität ist, um so ausgeprägter wird heute zur Verringerung externer Kosten und zur Verstärkung externer Nutzen Agrarpolitik betrieben. Mitteleuropa, Japan, Nordamerika, und dort insbesondere Kalifornien, haben eine entsprechende Politikorientierung aufgenommen.
4
Die Bedeutung der öffentlichen Güter
Der zweite Begründungsansatz geht von der Existenz öffentlicher Güter aus. Öffentliche Güter sind dabei definiert als nutzenstiftende Gegebenheiten, die nicht von Unternehmern erzeugt und angeboten werden, weil diese die mit der Erzeugung entstehenden Kosten nicht über Marktpreise abdecken können, da es die Besonderheit öffentlicher Güter ist, dass ein Ausschluss von der Nutzung nicht möglich ist. Hierzu gehören beispielsweise die innere und äußere Sicherheit ebenso wie die wirtschaftliche Stabilität. Wichtiges Element dieser drei beispielhaft genannten öffentlichen Güter ist eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung. Nahrungsmittel sind existenzielle Güter schlechthin. Eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist mit ein wichtiger Garant für gesellschaftliche Stabilität und innere Sicherheit. Auch die Unabhängigkeit von Nahrungsmittelimporten wurde zumindest in früheren Jahren als ein wichtiges Element der äußeren Sicherheit interpretiert. Um eine ausreichende Versorgung von qualitativ hochwertigen und gesunden Nahrungsmitteln garantieren zu können, werden Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen der Landwirtschaft im Sinne der Bereitstellung öffentlicher Güter bis heute, z.B. in China noch ganz ausgeprägt, begründet. Auch Marktstabilisierung wird als öffentliches Gut interpretiert, und damit wird entsprechende Politiknotwendigkeit ausgelöst. Die Notwendigkeit der Stabilisierung von Preisschwankungen und damit von Einkommensschwankungen, wird nicht nur im Hinblick auf die Einkommenslage der Landwirtschaft gesehen. Deutliche Preisschwankungen auf Nahrungsmittelmärkten können in sozial schwächeren Bevölkerungsschichten zu sozialen Problemen führen. Sie können auch, wenn Nahrungsmittelausgaben noch einen bedeutenden Anteil an den Ausgaben der Haushalte haben, bis hin zu konjunkturellen Schwankungen durch not-
Agrarpolitik
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wendig werdende Konsum- und Budgetverlagerungen der Haushalte führen, mit der Folge erschwerter Wirtschaftsplanung jedes Einzelnen und der Gefahr von Fehlinvestitionen, also von nichtoptimaler Nutzung der verfügbaren Produktionsfaktoren. Die Bereitstellung öffentlicher Güter wird immer wieder als Politikbegründung angeführt. Für eine Reihe von Entwicklungsländern mag diese Politikbasis auch noch gültig sein. Für die Mehrzahl der Industrieländer, eingebunden in den internationalen Agrarhandel, trägt diese Begründung heute kaum noch als Legitimation einer eingriffsintensiveren Agrarpolitik. Die Industrieländer sind in der Regel Agrarexportregionen geworden. Eine Ausnahme bildet Japan. Handelsverflechtungen sichern das öffentliche Gut Nahrungsmittelversorgung. Die Preisstabilität hat bei deutlich geringen Anteilen der Nahrungsmittelausgaben an den Haushaltseinkommen kaum noch Einfluss auf konjunkturelle Entwicklungen.
5
Ausgleich der Entscheidungsdifferenzen der individuellen, kurzfristigen zur gesellschaftlichen, langfristigen Sicht
Aus der Diskussion zur Zeitpräferenz ist bekannt, dass ein Unterschied zwischen individuellen und gesamtgesellschaftlichen und ebenso zwischen kurz- und langfristigen Präferenzen bestehen kann. Die Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen ist ein Beispiel, an dem die Unterschiedlichkeit zwischen kurzfristiger unternehmerischer Entscheidung und langfristiger gesellschaftlich notwendiger Entscheidung deutlich gemacht werden kann. Kurzfristig mag es für den einzelnen landwirtschaftlichen Betrieb sinnvoll sein, intensive Landwirtschaft zu betreiben, um Gewinne zu maximieren. Langfristig mag hierdurch Boden und Grundwasser so geschädigt sein, dass die Gesellschaft selbst mit sehr hohen Kosten kein reines Trinkwasser mehr verfügbar haben kann. Ein anderes Beispiel mag die Energieerzeugung aus Biomasse sein. Kurzfristig "rechnet" sich diese Art der Energieproduktion nicht für Unternehmen, und deshalb wird sie nicht durch Investitionen in Gang gesetzt. Langfristig kann sie für die Gesellschaft höchst sinnvoll sein und muss in einem solchen Fall durch wirtschaftspolitische Eingriffe gesteuert werden, indem z.B. vorsorgende Forschung und Entwicklung durch staatliche Förderung initiiert wird. Trotz des bekannten Phänomens unterschiedlicher individueller und gesellschaftlicher Zeitpräferenzen ist die Politikbegründung in diesen Fällen schwierig zu handhaben, da nicht davon ausgegangen werden sollte, dass grundsätzlich politi-
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Agrarpolitik
sehe Institutionen eine realistischere Zukunftssicht als Unternehmen und Haushalte haben. Politikeingriffe sollten somit keinesfalls in Märkte erfolgen, sondern sich ausschließlich auf die Initiierung und Förderung von Forschung beschränken.
6
Unterschiedliche Faktormobilitäten
Die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sind in einen ständigen Anpassungsprozess eingebunden. Das ist in heutiger Zeit so augenfällig geworden, dass unter Beachtung von Globalisierung, hohen technischen Fortschrittsraten und steigender Mobilität selbst auf den internationalen Arbeitsmärkten Beispiele hierfür wohl nicht angeführt werden müssen. Geringere Mobilität in einer sich wandelnden Wirtschaft bedeutet geringeren Wohlstand. Die Landwirtschaft ist ein Sektor, und dieses wiederum in allen Ländern der Welt, der sich in einem ständigen Anpassungsprozess der Schrumpfung befindet. Insbesondere nimmt die Zahl der Arbeitskräfte ab. Auch die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe geht im Zeitablauf zurück. Gleichzeitig verringert sich der Anteil am Sozialprodukt. Hierfür ist nicht nur die Nachfrageseite verantwortlich, an das Engeische Gesetz sei erinnert, sondern auch Einflüsse der Angebotsseite wirken in diesen Prozess hinein. Zum einen ist die technische Fortschrittsrate im Agrarsektor relativ hoch. Die Marktform des Polypols und der relativ freie Zugang zu Neuerungen, deren Verbreitung noch staatlich gefordert wird, führt zu schneller Angebotsausdehnung. Aufgrund der begrenzten Nachfrage fallen hierdurch die Agrarpreise, weltweit und im Zeitablauf beobachtbar, und es muss ein Einkommensdruck entstehen, wenn nicht in ausreichend schnellem Maße Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abwandern. 5 Hinzu kommt, dass Substitutionsbeziehungen zwischen eingesetztem Kapital, Arbeitskraft und Boden im Rahmen der Einführung technischer Fortschritte gegeben sind. Durch beide Einflussbereiche ist eine permanente, erhebliche Verringerung der in der Landwirtschaft eingesetzten Arbeitskräfte notwendig, soll das Arbeitseinkommen in der Landwirtschaft Schritt halten mit dem Einkommen anderer Sektoren. Für die in der landwirtschaftlichen Produktion eingesetzten Produktionsfaktoren ist jedoch festzustellen, dass sie im Vergleich zu Produktionsfaktoren anderer Wirtschaftssektoren deutlich weniger mobil sind. Dies zeigt sich auch im Verhältnis der Anteile der Landwirtschaft an den Gesamtbeschäftigten und am Bruttosozialprodukt.
5
Vgl. Koester (1976), S. 313-319.
Agrarpolitik
233
Der landwirtschaftliche Anteil an den Beschäftigten ist in fast allen Ländern deutlich höher als der Anteil am Bruttosozialprodukt. Tab. 1 : Anteile der Landwirtschaft an der Zahl der Beschäftigten und am Bruttosozialprodukt 1996 Deutschland Frankreich Italien EU (15) USA Japan
Anteil Beschäftigte
Anteil Bruttosozialprodukt
2,7 4,8 6,7 5,0 2,8 5,5
1,1 2,4 2,9 2,1 1,7 1,8
Quelle: SAEG, Brüssel 1999.
Die intersektoralen, landwirtschaftlichen Opportunitätskosten sind niedrig, da außerhalb der Landwirtschaft die dort eingesetzten Produktionsfaktoren, wenn überhaupt, dann nur zu geringen Entlohnungen Verwendung finden können. Landwirtschaftlicher Boden ist, an der gesamten Agrarfläche gemessen, nur mit einer geringen Nachfrage nach Bau- und Infrastrukturland außerhalb der landwirtschaftlichen Produktion einsetzbar. Landwirtschaftliche Arbeitskräfte sind sektorspezifisch ausgebildet und haben ihren Standort oftmals weit entfernt von außerlandwirtschaftlichen Beschäftigungsmöglichkeiten, so dass sie ihre Qualifikation nur im Agrarbereich voll zum Einsatz bringen können. Der außerlandwirtschaftliche Vergleichslohn ist somit oftmals der einer ungelernten Arbeitskraft abzüglich Mobilitätskosten. Und ebenso gilt für die investierten Kapitalgüter, Ställe, Vieh und Maschinen, dass sie außerhalb der Landwirtschaft kaum produktive Verwendung finden können. Hinzu kommt die in vielen Regionen vorherrschende Familienarbeitsverfassung, die zusätzlich nicht als mobilitätsfordernd einzuschätzen und durch tradierte Verhaltensmuster geprägt ist. Aus der Tatsache vergleichsweise eingeschränkter Mobilität der landwirtschaftlichen Produktionsfaktoren lassen sich zur Milderung der damit entstehenden Einkommens- und Sozialprobleme agrarpolitische Eingriffe mit sozialem Charakter erklären. Die Stützung der Agrareinkommen steht damit heute in Industrieländern an vorderster Stelle der Agrarpolitik. Aber auch die agrarpolitischen Versuche,
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Agrarpolitik
die Mobilität zu steigern, indem Mobilitätshilfen wie Vorruhestandsregelungen, Aufgabeprämien, Umschulungshilfen etc. eingesetzt werden, finden ihre Begründung in eingeschränkter Mobilität und damit in suboptimaler Faktoranpassung im Zeitverlauf. Damit darf allen der vier genannten Politikbegründungen bescheinigt werden, dass sie grundsätzlich zur Legitimation einer Agrarpolitik taugen. So muss eine sektorale Wirtschaftspolitik auf der Suche nach optimaler Faktorallokation versuchen, Politikansprüche der vier Felder versuchen in Einklang zu bringen. Im Entwicklungsprozess einer Wirtschaft stand als Politikbegründung zunächst sicherlich die Sicherung öffentlicher Güter im Vordergrund. Sie wurde in ihrer Bedeutung abgelöst durch die Beeinflussung der relativ geringen, sektoralen Faktormobilität, bevor die Notwendigkeit der Steuerung der externen Effekte und der Zeitpräferenzdifferenzen zur wichtigen Politikbegründung führten.
7
Rent seeking
Die zeitliche Entwicklung agrarpolitischen Geschehens und die Bedeutung der Agrarpolitik, auch am Haushaltsbudget gemessen, lässt sich neben den Notwendigkeiten der zuvor beschriebenen wirtschaftspolitischen Eingriffe auch durch den Ansatz des Rent seeking erklären. Hierunter ist der Vorgang zu verstehen, dass Wirtschaftssubjekte, seien es einzelne Personen oder Unternehmen, die ihnen offen stehenden legalen Möglichkeiten nutzen, um eine für sie günstige Einkommenssituation durch staatliche Umverteilung eines Teils des Bruttosozialproduktes zu schaffen. Im Gegensatz zum Profit seeking, also dem Streben nach Gewinn im marktwirtschaftlichen Wettbewerbsprozess, ist das Rent seeking ein Wettbewerb um politisch geschaffene Einkommensteile, um "Renten", also um Aktivitäten, die ausschließlich auf eine Umverteilung gerichtet sind. Die Landwirtschaft in zumindest allen Industriestaaten hat einen hohen Organisationsgrad erreicht, der es erlaubt, deutlich Einfluss auf das Politikgeschehen zu nehmen. 6 Landwirte sind in ihren Zielen relativ homogen und durch die Gegebenheit eines schrumpfenden Sektors bei eingeschränkter Mobilität in hohem Maße solidarisch. Dies bedingt ein einheitliches Wahlverhalten und die Bereitschaft, für gemeinsame Ziele auch öffentlich einzutreten. In Demokratien haben einzelne koordinierte Gruppen Wählermacht. Diese Macht wird eingesetzt, um Umverteilungsprozesse zugunsten dieser Gruppe zu steuern. Durch Einflussnahme der Interessenverbände auf den politischen Prozess sollen staatliche Maßnahmen durch-
6
Vgl. Hagedorn/Schmitt (1985), S. 250 ff.
Agrarpolitik
235
gesetzt werden, die die Chancen ihrer Verbandsmitglieder zur Einkommenserzielung durch Umverteilung verbessern. Haben die Rent seeking-Aktivitäten Erfolg, so sinkt die Wettbewerbsintensität auf den davon betroffenen Märkten. Konkurrenten, meistens die internationale Konkurrenz, werden fern gehalten. Es verringert sich die Notwendigkeit zur Anpassung der Produktionsgegebenheiten. Aufgrund der relativ einheitlichen Zielsetzung und der strukturellen Gegebenheiten gelingt es zumindest in Industrieländern, die Landwirtschaft in gleichgerichteten Interessengruppen zu organisieren. Trittbrettfahrerverhalten ist nur in geringem Maße gegeben. Die kollektive Betroffenheit einer intersektoralen Einkommensdisparität fuhrt zur Solidarisierung der Landwirte in ihrer Gruppe. Durch das Vorherrschen der Familienunternehmen in der landwirtschaftlichen Produktion ist ein zusätzliches Element der Ohnmacht am Markt und damit der Bereitschaft zur Solidarisierung gegeben. So ist als ein weiterer Grund zur Erklärung von Art und Gewicht der Agrarpolitik in Demokratien das erfolgreiche Rent seeking der Landwirtschaft anzuführen. Selbst wenn die anderen, zuvor genannten Politikbegründungen nicht tragen würden, könnte aus der gut organisierten politischen Verhaltensweise der Landwirte die Ausrichtung und Intensität der Agrarpolitik erklärt werden. Unterstützt wird das Rent seeking der Landwirtschaft durch das öffentliche Budgetwesen. 7 Der Prozess der Budgetaufstellung verläuft in der Regel von unten nach oben, d.h. von einzelnen Titeln einzelner Maßnahmen ausgehend. Erfolgsmaßstab der Verwaltung ist dabei die Sicherung von Zuwachsraten des Budgets. So ist eine "Pfadabhängigkeit" der Politik gegeben, die nur schwierig, d.h. in der Regel nur aus der Finanznot heraus, durchbrochen werden kann. Hinzu kommt, dass die Agrarpolitik im Laufe der Zeit ein dichtes Netz eigener Regelungen entwickelt hat, das für den nicht in der Landwirtschaft Stehenden kaum noch durchschaubar ist und somit auch von Außenstehenden mangels Sachkenntnis nicht in Frage gestellt werden kann. Damit sind verschiedene Einflüsse identifiziert, aus denen Bestehen, Intensität und Ausrichtung einer Agrarpolitik erklärt werden können. Zu prüfen ist, ob im Zeitablauf die Gewichte dieser Einflüsse wechselten und somit auch die Agrarpolitik ihr Gesicht verändert hat.
7
V g l . H a n s m e y e r / W i t t ( 1 9 9 6 ) , S. 184.
236
8
Agrarpolitik
Wandel der Agrarpolitik im Zeitablauf
Begründung und Ausrichtung der Agrarpolitik unterliegen im Laufe der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einem Wandel. Zielprioritäten und Maßnahmenschwerpunkte verschieben sich. So ist feststellbar, dass in vielen Ländern die Frage der Nahrungsmittelversorgung Wurzel der Entstehung einer selbständigen Agrarpolitik war. Es wurden dazu die Instrumente der Agrarstrukturpolitik, insbesondere die Bauernbefreiung, und der Agrarschutzpolitik, die Protektion gegen Importe und zusätzlich staatlich fixierte Preise, eingesetzt. Diese Ausrichtung erfuhr darüber hinaus durch die Bestrebung zur Stabilisierung landwirtschaftlicher Märkte staatliche Eingriffe direkt in das Marktgeschehen durch Lagerhaltung, Produktionslenkung und Außenhandelsverträge. Begleitet wurden diese agrarstruktur- und agrarmarktpolitischen Maßnahmen durch die staatliche Förderung von Ausbildung und Forschung in der Landwirtschaft. 8 Die Grundstruktur einer Agrarpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts war damit festgelegt. Diese Politik der Strukturentwicklung und der Markt- und Handelseingriffe war sowohl in Nordamerika als auch in Mitteleuropa bis in die 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts gegeben. Durch weltweit wirkende ökonomische Krisen und die damit verbundenen Erfahrungen und Ängste sowie durch einen zügigen Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft erhielt die Agrarpolitik dann eine zusätzliche "Abrundung", indem eine erhebliche direkte Förderung der Einkommen der in der Landwirtschaft Tätigen und eine Sicherung der Produktion mit aufgenommen wurde. Großbritannien führte das Deficiency Payment System und eine deutliche Steuerung der Nahrungsmittelimporte ein. Frankreich entwickelte staatliche Marktregime, um den Getreidepreis staatlich zu fixieren und den Außenhandel kontrollieren zu können. Deutschland wie Frankreich wollten die eigenen Landwirte vor dem internationalen Wettbewerb schützen und errichteten hohe Protektionsbarrieren. Selbst die USA führten 1933 mit dem Agricultural Adjustment Act entsprechende Möglichkeiten der staatlichen Preisstützung und der staatlichen Exportbeeinflussung ein. Zentrale Argumente waren schon damals, wie z.T. noch heute, dass die eigenen Landwirte im internationalen Wettbewerb nicht bestehen können, weil ungehemmte Importe die Markt- und Preissituationen prägten, und in Folge die Landwirte in einem schnellen Entwicklungsprozess keine ausreichende Mobilität aufweisen, und dass somit sozial nicht tragbare Einkommensdisparitäten und damit
8
Die Existenz der Universität Hohenheim geht somit auch auf eine agrarpolitische Entscheidung zurück.
237
Agrarpolitik
eine destabilisierende, soziale Problematik, insbesondere in ländlichen Räumen, ausgelöst würde. Diese als Protektionspolitik zu bezeichnende agrarpolitische Strömung der Industrieländer, die im Deutschen Reich schon zu Ende des 19. Jahrhunderts begann, hat sich bis heute im Grundsatz erhalten. Geändert haben sich allerdings die Begründungen und die Politikausrichtung. So sind an Beispielen der USAgrargesetzgebung ebenso wie am Bedeutungswandel der gemeinsamen EUAgrarpolitik die Verschiebungen zu erkennen. Budgetanteil ( % )
Abb. 1 :
EU-Agrarpolitik 1968 - 2008
Quelle: Eigene Darstellung
In beiden Fällen wird der Bedeutungswandel der Politikgrundlagen und die entsprechende Orientierung der Politikinstrumente deutlich. In den USA begann der Abbau der Protektionspolitik 1985, in der EU zeitverschoben um 1992. Der Versuch der Umstellung auf produktionsneutrale Einkommensbeihilfen wurde in den USA 1995 vorgenommen. Zu erwarten ist, dass die EU um 2002 ähnliche Politikschritte in ihrer gemeinsamen Agrarpolitik vorbereiten wird.
238
Agrarpolitik
Agricultural Adjustment Act ( A A A )
Gesetzgebung für „main farm subsidy programs" (MFSP)
I
I
.1933..
.1938..
.1949..
î AAA durch den Supreme Court außer Kraft gesetzt
Abb. 2:
URA-WTO Reduzierung der Exportsubvention
Beginn der Agrarreform Food Security Act (FSA)
1 .1981.
.1985.
Appropriations Act
! .1990..
î
î
Erhöhung der Subventionen und des Preisschutzes in außerordentlichem Umfang
Fortsetzung der Reform durch Food, Agricultural Conservation Trade Act (FACT)
.1994
1 1996
1998
2000
î Federal Agricultural Improvement and Reform Act (FAIR)
U.S. Agrarpolitik 1933 - 2000
Q u e l l e : E i g e n e Darstellung
Die Notwendigkeit zur Bereitstellung öffentlicher Güter hat an Argumentationskraft für die Ausrichtung der Agrarpolitik deutlich verloren. Sie findet sich noch in dem Bestreben, gesunde Nahrungsmittel verfügbar zu haben, und in der Zielsetzung einer flächendeckenden, landschaftserhaltenden Landbewirtschaftung.
9
Einige Schlussfolgerungen für die künftige Politikausrichtung
Direkte Markteingriffe, seien sie auf den Binnenmarkt oder auf die internationalen Märkte gerichtet, befinden sich auf dem Rückzug. Auch dieses gilt wiederum parallel für Nordamerika, die Europäische Union und Japan. Dieser Trend wird alle in die WTO eingebundenen Länder über kurz oder lang ebenso erreichen. Die Globalisierung hat der jeweiligen nationalen Agrarpolitik deutlich Eingriffsmöglichkeiten genommen. Sie wird reduziert auf eine direkte Einkommenseinwirkung
Agrarpolitik
239
für die in der Landwirtschaft Beschäftigten und auf die Gestaltung der Einkommensmöglichkeiten im Umfeld der Landwirtschaft, also im ländlichen Raum. Sie wird die Steuerung der externen Effekte mit der Einkommensstützung der in der Landwirtschaft Tätigen verknüpfen. Das Rent seeking-Phänomen wird zunehmend zu einem wichtigen Erklärungsansatz von Intensität und Ausrichtung der Agrarpolitik der Industrieländer in einem globalen Umfeld. Zentrale Aufgabe der Agrarpolitik ist es dabei, von der Hochpreispolitik und der Außenschutzpolitik auf eine weltmarktorientierte und weltmarktverträgliche Politik umzustellen. Wichtige Politikaufgabe ist, diesen Umstellungsprozess friktionsarm und schrittweise zu gestalten. Deutlich zurücktreten muss dabei die staatliche Beeinflussung der Agrareinkommen über die Agrarpreise. Da die Preisentwicklung eng an die Gegebenheiten der Überkapazitäten in der Landwirtschaft gebunden ist, wird im Strukturbereich ein entsprechender Politikansatz zu suchen sein. Zum anderen hat auch das außerlandwirtschaftliche Einkommen in der Vielzahl der Betriebe eine deutliche und einkommensstabilisierende Funktion erhalten, so dass die Einkommensproblematik, auf das Gesamteinkommen bezogen, geringer geworden ist. Ebenso ist der Strukturwandel bzw. ein sich beschleunigender Strukturwandel kein zentrales agrarpolitisches Problem, sondern stellt möglicherweise eine Lösung agrarpolitischer Probleme dar. Die immer wieder heraufbeschworenen Folgen eines deutlichen Strukturwandels, die Entleerung ländlicher Räume und das Brachfallen bisher bewirtschafteter Flächen, sind Argumentationsfelder, für die bisher in Mitteleuropa trotz intensiven Strukturwandels gravierende Beispiele nicht zu finden waren. Auch die Frage der Eigenkapitalausstattung landwirtschaftlicher Betriebe ist nicht mehr zentrales Grundanliegen agrarpolitischer Aktivität, und dies nicht nur, weil sie auch vom Konsumverhalten in einzelnen Betrieben abhängig ist. Wie in allen Bereichen der mittelständischen Wirtschaft, ist auch in der Landwirtschaft eine große Bandbreite in der Eigenkapitalausstattung der Betriebe beobachtbar. Und letztlich ist auch der Frage der Marktposition landwirtschaftlicher Betriebe nur wenig agrarpolitische Aufmerksamkeit zu widmen. Es mag einige wenige regionale Fälle geben, in denen Unternehmen des Agribusiness eine dominante Stellung gegenüber der Landwirtschaft eingenommen haben. Im europäischen Markt ist aber, insbesondere bei sich ändernden Strukturen in der Landwirtschaft, ein hoher Wettbewerb auch zwischen der Landwirtschaft und ihren Marktpartnern gegeben.
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Agrarpolitik
Besondere Aufmerksamkeit der Agrarpolitik hat hingegen nach wie vor der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und der externen Effekte der Landwirtschaftlichen Produktion zu gelten. Hier werden Zukunftsschwerpunkte liegen. In den Vordergrund rückt die Steuerung der externen Effekte. Dies gilt für Mitteleuropa ebenso wie für Nordamerika oder Japan. Hier werden Ausgleichszahlungen für das Bemühen der Landwirte, negative externe Effekte zu vermeiden, in umfangreichem Maße gewährt. Die Vermeidung externer Kosten im Zusammenhang mit landwirtschaftlicher Produktion, bzw. die Sicherung externer Nutzen, trat im Rahmen der allgemeinen Umweltdiskussion in den Vordergrund der Politikausrichtung. Seit etwa 30 Jahren spielt die Agrarumweltpolitik in Industriestaaten eine zunehmende Rolle. Zum Teil verkoppelt mit agrarumweltpolitischen Maßnahmen gewinnt dabei gegenwärtig die reine Agrareinkommenspolitik, losgelöst von Produktionsgegebenheiten, ebenso schrittweise an Gewicht. Sie wird begleitet von einer integrierten Politik für den Ländlichen Raum, die den Strukturwandel der Landwirtschaft durch Schaffung außerlandwirtschaftlicher Arbeitsplätze und einer wirtschaftsfreundlichen Infrastruktur in ländlichen Räumen auffangen und räumliche Entleerungstendenzen verhindern soll. Eine weitere zentrale Zukunftsaufgabe der Agrarpolitik ist es, Instabilitäten zu dämpfen ohne dabei eigene Instabilitäten auf den Weltmarkt zu "exportieren". Bekannt ist, dass die Nahrungsmittelnachfrage und das kurzfristige Angebot unelastisch sind. Stabilitätsschwankungen, die insbesondere aus Einflüssen der Naturgegebenheiten (Trockenheit, Hagel, Überschwemmung, Seuche) herrühren, müssen durch eine entsprechende Agrar-Versicherungspolitik gedämpft werden. Instabilitäten, die vom Weltmarkt ausgehen, sind zumindest in einer Übergangsphase für die in der Landwirtschaft Tätigen durch einkommensstabilisierende Maßnahmen auszugleichen. Dabei sind die Unterschiede in den landwirtschaftlichen Betrieben, nicht nur an Größe und Standort, sondern auch nach Betriebsleiterqualität und Kapitalausstattung bemessen, für eine Politik beachtenswert, aber zugleich auch schwierig für ihre Ausgestaltung. Nicht nur Abgrenzungskriterien, sondern auch gruppenspezifische Maßnahmen weisen eine hohe Problematik auf, so dass von einer sogenannten zielgruppenspezifischen Ausrichtung agrarpolitischer Maßnahmen eher abzuraten ist. Mitnahmeeffekte sind in Kauf zu nehmen. Die Nahrungsmittelsicherheit darf in der EU selbst wohl nicht mehr als ein Problem der Agrarpolitik eingeschätzt werden. Anders ist dieses möglicherweise längerfristig für die Welternährungssituation zu sehen. Politikaufgaben ergeben sich hieraus in Hinblick auf Unterstützung des Forschungsumfeldes und Vorbereitung der Betriebsstrukturen auf effiziente Produktion.
Agrarpolitik
241
Bedeutendes Gewicht gewinnt heute die direkte Einkommenspolitik, die unabhängig von der landwirtschaftlichen Produktion, zum Teil auch von den gegebenen Strukturen, zum Einsatz kommt und vom Grundgedanken eines Mindesteinkommens ausgeht. Sie ist sehr deutlich im Zusammenhang mit dem Phänomen des Rent seeking im Sinne eines Bestandsschutzes der Einkommenssicherung zu sehen. Unterstützt wird die Einkommenspolitik durch die regionale Förderpolitik, die die Schaffung außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze initiieren und die Mobilitätsmöglichkeit für aus der Landwirtschaft ausscheidende Arbeitskräfte verbessern helfen soll. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass für die künftige Agrarpolitik Fragen der Einkommensinstabilitäten in der Landwirtschaft, Fragen der Sicherung der Welternährung durch Schaffung wettbewerbsfähiger Strukturen und Fragen der Steuerung externer Effekte der landwirtschaftlichen Produktion Zentralfelder agrarpolitischer Aktionen in Industrieländern sein werden und müssen.
242
Agrarpolitik
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183 der Universität
Hohen-
Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2000
Globalisierung, Einkommensverteilung und ländliche Regionalentwicklung in Entwicklungsländern Franz Heidhues
1
Einführung
Das entwicklungspolitische Denken seit den 1950er Jahren hat mehrere Paradigmenwechsel durchlaufen, deren letzter durch die Globalisierung geprägt wird. Globalisierung bedeutet ein Zusammenwachsen von Produkt- und Faktormärkten sowie Produktionsstandorten mit einer Hinwendung zu Allokationsentscheidungen auf weltweiter Basis. Beschleunigter technischer Fortschritt, insbesondere im Transport-, Kommunikations- und Finanzwesen, haben Transaktionskosten erheblich reduziert und teilweise bedeutungslos werden lassen. Damit einher geht eine Tendenz zur Konzentration wirtschaftlicher Aktivitäten auf Wachstumspole in den großen Urbanen Zentren und eine Diversifizierung der Einkommensverteilung sowohl international als auch national. Gleichzeitig nimmt mit der Globalisierung das Risiko von Instabilität und Krisenanfälligkeit zu. Eine verstärkte Betonung der ländlichen Regionalentwicklung in der Entwicklungspolitik ist dringend geboten; sie wirkt der Bildung von Megametropolen mit all ihren infrastrukturellen, ökologischen und sozialen Problemen entgegen und stärkt die Pufferfunktion des ländlichen Raumes in Krisensituationen.
2
Paradigmenwechsel in der Entwicklungspolitik
In den ersten Dekaden der Nachkriegszeit war das entwicklungspolitische Denken in erster Linie von der Keynes'schen Sicht einer dominierenden Rolle des Staates in der Mobilisierung und Allokation von Ressourcen für wirtschaftliche Entwicklung geprägt. Märkte allein sah man nicht in der Lage, Investitionen nach entwicklungspolitischen Prioritäten auszurichten und vor allem nicht Vollbeschäftigung zu erreichen. Beobachtetes Markt- und Institutionenversagen, wie z.B. die Bildung wirtschaftlicher Macht und unzureichende Entwicklung von Infrastruktur und Institutionen, ließen den Ruf nach staatlichem Eingreifen laut werden. Wo und wie sollte der Staat aktiv werden? Drei Denkschulen mit jeweils unterschiedlicher Ausgangshypothese entwickelten Richtlinien, die in Entwicklungs-
244
Entwicklungspolitik
Strategien ihren Ausdruck fanden. Die erste geht auf die 'Prebisch-Singer-These' der sich verschlechternden Terms of Trade für Entwicklungsländer zurück. Der in der ToT-These zum Ausdruck kommende Pessimismus bezüglich des Entwicklungspotenzials von Primärgüterexporten führte zur starken Betonung von Importsubstitution als Entwicklungsrichtlinie. Eine zweite Denkrichtung geht auf Ragnar Nurkse zurück, der die Aufgabe des Staates darin sah, Marktversagen in Form des Auftretens von externen Effekten zu korrigieren. In dem von ihm konzipierten 'Balanced-Growth-Modell' ist staatliche Investitionsplanung und -lenkung erforderlich, um das Potenzial positiver horizontaler und vertikaler externer Effekte zu nutzen. Wirtschaftliches Wachstum wird als ein von mehreren Sektoren getragener und durch Multiplikator- und Akzeleratoreffekte sich gegenseitig stützender Prozess verstanden. Die Gegenposition formulierte A.O. Hirschman mit seinem Modell des 'Unbalanced Growth'. Er kritisierte das Konzept des ausgewogenen Wachstums als zu komplex und die Planungskapazität eines Entwicklungslandes überfordernde Strategie. Auch er betont die Notwendigkeit staatlichen Handelns, das im Gegensatz zum 'Balanced-Growth-Modell' gerade auf das Schaffen von Ungleichgewichten und Engpässen ausgerichtet sein muss. Solche Engpässe veranlassen unternehmerische Investitionsentscheidungen und lösen dadurch dynamische Aufhol- und Korrekturprozesse aus, die dann wirtschaftliche Entwicklung tragen. Das verbindende Element dieser Denkschulen und der auf sie aufbauenden Entwicklungsstrategien war eine ausgedehnte staatliche Investitionslenkung und Übernahme einer Reihe von Wirtschaftsaktivitäten durch den Staat oder parastaatliche Organisationen 1 . Überforderung des Staates, Ineffizienz und Korruption, die zu wachsenden Budget- und Zahlungsbilanzdefiziten und hohen Inflationsraten führten, haben zu einem Paradigmenwechsel gefuhrt, der Anfang der 1980er Jahre im Konzept der Strukturanpassung seinen Niederschlag fand. Abbau der dominierenden Rolle des Staates, Reduzierung von Subventionen und Budgetdefiziten, Kontrolle der Inflation, Privatisierung von staatlichen und parastaatlichen Unternehmen, Korrektur verzerrter Preise und Wechselkurse und Marktliberalisierung sind typische Komponenten der auch als "Washington Consensus" bezeichneten De-etatisierungsstrategie. Mit dem Konzept der Strukturanpassung, das auf Marktliberalisierung und "Öffnung setzt, war gleichzeitig eine ideale Voraussetzung für Globalisierung geschaffen. Ohne Zweifel hat die Liberalisierungsstrategie dynamische Wachs-
'
Singer (1997).
Entwicklungspolitik
245
tumskräfte freigesetzt und in den Ländern, die aufgrund ihrer Wettbewerbsfähigkeit aus der Öffnung der Märkte Nutzen ziehen konnten, enormes wirtschaftliches Wachstum ermöglicht. Eine weniger klar zu beantwortende Frage ist allerdings, ob die Globalisierung der Märkte auch geeignet ist, Armut und Hunger und Einkommensunterschiede international wie auch innerhalb von Ländern zu reduzieren. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass einige Entwicklungsländer mit dieser Strategie zu den Industrieländern aufschließen werden, eine erhebliche Zahl, insbesondere der armen Länder dagegen nicht. Es wird ebenfalls deutlich, dass sich regional Entwicklungsunterschiede innerhalb vieler Entwicklungsländer vergrößern. Wachstum tendiert dazu, sich auf die großen Urbanen Zentren zu konzentrieren, während ländliche Regionen, insbesondere ökologisch, infrastrukturell und ökonomisch benachteiligte Regionen zurückfallen. Aus diesen Gründen, aber auch aufgrund der größeren Instabilität und Krisenanfälligkeit wirtschaftlicher Entwicklung unter globalisierten Rahmenbedingungen, erwächst der Regionalentwicklung, der Klaus Herdzina einen erheblichen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit gewidmet hat, eine neue, für die Armutsbekämpfung zentrale Rolle. Gerade die Verkettung von Land-Stadtaktivitäten und ihre wechselseitige Vernetzung im Rahmen einer koordinierten Regionalentwicklung hat Klaus Herdzina immer wieder als Aufgabe der Regionalpolitik hervorgehoben 2 . Diese Fragen sind in der Konzipierung der neuen Entwicklungsansätze, die vor dem Hintergrund rasch wachsender Bevölkerung Ernährungssicherung und Beschäftigung bei gleichzeitigem Erhalt der natürlichen Ressourcen in den Vordergrund stellen, von hochaktueller Bedeutung.
3
Liberalisierung, wirtschaftliches Wachstum und Einkommensdivergenz
In den vergangenen drei Dekaden haben sich die realen Pro-Kopf-Einkommen der Entwicklungsländer im Durchschnitt verdoppelt. Sie haben damit eine erhebliche Verbesserung ihres Lebensstandards erzielen können. Allerdings ist bèi etwa gleichen Wachstumsraten in den Industrieländern der Abstand zwischen beiden Gruppen relativ gleich geblieben und hat absolut sogar zugenommen; Konvergenz, wie es die Faktorproportionentheorie erwarten lässt, hat offenbar nicht stattgefunden. Innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer gibt es unterschiedliche Tendenzen, die eher auf eine bipolare Entwicklung hindeuten. Die schnell-
2
Herdzina (1993) und (1996).
246
Entwicklungspolitik
wachsenden Erfolgsländer, wie Südkorea, Singapur, Thailand, Indonesien, Malaysia und Chile haben die Einkommensdifferenz zu den Industrieländern verringert, während gerade die armen Länder, allen voran die in Subsahara Afrika, noch weiter zurückgefallen sind. Die Pro-Kopf-Einkommen sind in Subsahara Afrika von 1985 bis 1995 sogar jährlich um 1,1 % gesunken 3 ; erst seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre hat sich der Abwärtstrend verlangsamt auf -0,4 % ProKopf-Wachstum 4 . Die bipolaren Entwicklungstendenzen werden sowohl in den Handelsbeziehungen als auch in den Kapitalströmen deutlich. Im internationalen Handel konnten die Entwicklungsländer insgesamt ihren Anteil von 23 % im Jahre 1985 auf 27 % im Jahre 1995 ausweiten. Dieser Anstieg geht auf eine erfolgreiche Industrialisierung und damit einhergehende Diversifizierung der Exportstruktur in einigen Entwicklungsländern zurück. Der Anteil der Verarbeitungsindustrien am Gesamtexport aller Entwicklungsländer wuchs von 28 % im Jahre 1975 auf 83 % zwei Dekaden später (vgl. Tab. 1). Tab. 1:
Exportstruktur von Entwicklungs- und Industrieländern 1975, 1985, 1995 (in % der gesamten Güterim- bzw. -exporte) Entwicklungsländer* Exporte
Importe 75 Primärprodukte
5,7
Industrieländer Importe 85
95
75
85
95
6,8
5,2
7,1
5,6
4,2
7,2 61,4 45,4 11,2 26,0 22,4
8,4
5,9
8,9
3,8
85
95
75
6,1
5,0 10.1
75
Exporte
85
95
7,4
5,7 10,2
Erdöl
15,9 19,9
Verarbeitete Produkte
78,4 74,0 87,8 28.2 47,2 83,0 63,8 70,8 86,4 87,0 85,5 92,0
•einschließlich Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan Quelle: IMF (1997, Table 16)
Allerdings verbirgt sich hinter dieser generell positiven Entwicklung eine wachsende regionale Ungleichheit. Die asiatischen und einige lateinamerikanische Länder haben sich erfolgreich in den Welthandel integriert, während Afrika zu-
3 4
World Bank (1997). World Bank (1999).
Entwicklungspolitik
247
nehmend zurückgefallen ist mit kontinuierlich und deutlich sinkendem Anteil am Welthandel seit 1960 (vgl. Abb. 1).
Abb.: 1: Entwicklung des Welthandels nach Entwicklungsländergruppen 1968 bis 1996 (Anteile in Prozent des Welthandels) Quelle: I M F ( 1 9 9 7 , Chart 33, verändert)
Ähnliche konzentrierte Entwicklungstrends zeigen die privaten internationalen Kapitalströme. Entwicklungsländer haben in den Jahren 1993 bis 1996 im Durchschnitt jährlich US $ 150 Milliarden an privatem Kapital anziehen können, etwa das Sechsfache des Niveaus der Jahre 1983 bis 19895. Der überwiegende Anteil davon waren Portfolio- und Direktinvestitionen, im Gegensatz zu den frühen 1980er Jahren, als noch Bankkredite die wichtigste Rolle spielten. Direktinvestitionen zeigten in den letzten Jahren eine besonders dynamische Entwicklung, wobei der überwiegende Teil in die schnell wachsenden Wirtschaften Asiens investiert wurde. Während Asien und Lateinamerika zwischen 1990 und 1996 jährlich fast US $ 100 Mrd. an privatem Kapital anziehen konnten, gingen weniger als U S $ 1 9 Mrd. an Afrika südlich der Sahara6, und dort wiederum vorwiegend an einige wenige Länder im südlichen Afrika.
5 6
IMF ( 1 9 9 7 ) . IMF ( 1 9 9 7 ) .
248
Entwicklungspolitik
Diese Entwicklungen machen deutlich, dass mit der vom "Washington Consensus" geprägten Entwicklungspolitik wirtschaftliche Konvergenz nicht zu erwarten ist. Einige der Entwicklungsländer stellen sich - zumindest bis zur Finanzkrise im Herbst 1997 - als spektakuläre Erfolgsfälle dar, wie z.B. Südkorea mit einer Verzehnfachung, Thailand mit einer Verfünffachung und Malaysia mit einer Vervierfachung des Pro-Kopf-Einkommens zwischen 1965 und 1995. Dagegen steht jedoch die Mehrheit der ärmeren Entwicklungsländer, die eher immer weiter zurückfallen. Eine Tendenz zu zunehmender Ungleichheit in der internationalen Einkommensverteilung zeigt auch eine Analyse des IMF, deren Ergebnis in Tabelle 2 zusammengefasst ist. Tab. 2:
Entwicklung der relativen Einkommen von 108 Entwicklungsländern 1965 bis 1995 (Anzahl der Länder in den jeweiligen Einkommensquintilen, zugeordnet nach dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen) 1. Quintil
2. Quintil
3. Quintil
4. Quintil
5 Quintil
1995
1995
1995
1995
1995
1. Quintil 1 9 6 5
50
1
1
2. Quintil 1965
27
6
3. Quintil 1965
7
6
1
1
5. Quintil 1965
3
2
17
4
Σ 1995
84
52 1
4. Quintil 1965
Σ 1965
34 1
15
1
2 5
1
2
108
Quelle: IMF (1997)
Die Zahlen in einer Zelle geben die Anzahl der Länder in dem jeweiligen Quintil im Jahre 1965 (Zeilen) und 1995 (Spalten) an. So zeigt z.B. die erste Zeile, dass von den 52 Ländern, die 1965 zum untersten Quintil gehörten, im Jahre 1995 noch 50 im untersten Quintil verblieben sind; ein Land ist bis 1995 ins zweite und eins ins dritte Quintil aufgestiegen. Die erste Spalte zeigt, dass von den 84 Ländern, die 1995 zum untersten Quintil gehörten, 50 schon im Jahre 1965 dieser Gruppe angehörten, während seit 1965 27 aus dem zweiten Quintil und sieben aus dem dritten Quintil abgestiegen sind.
Entwicklungspolitik
249
Von 108 in die Studie einbezogenen Entwicklungsländern sind im Jahre 1965 gerade 52 Länder im unteren Quintil angesiedelt; bis 1995 ist diese Gruppe auf 84 gestiegen. Das Mittelfeld ist dagegen schwächer geworden; während 1965 noch 51 Länder zu den zweiten, dritten und vierten Quintilen gehörten, waren es 1995 nur noch 22. Mit anderen Worten, die überwiegende Mehrheit der Entwicklungsländer (78 %) ist in den letzten 30 Jahren in dem untersten Einkommensquintil verblieben bzw. dorthin abgesunken. Darüber hinaus sind 1995 weniger Länder im mittleren Einkommensbereich zu finden, wobei der Trend zur Polarisierung seit Beginn der 1980er Jahre deutlicher zu werden scheint. Auf jeden Fall gibt es keine Anzeichen für eine Konvergenzbewegung. Die zunehmende Polarisierung in der internationalen Einkommensverteilung ist Gegenstand verschiedener neuerer Studien. Das Ausdünnen des mittleren Einkommensfeldes und die Bildung von Gruppen am unteren und oberen Ende des Spektrums hat Quah als das "twin peak phenomenon" bezeichnet 7 . Zu ähnlichen Ergebnissen kommen die Untersuchungen von Canova und Marcet (1995), Durlauf (1996), Ben-David (1994) und Ben-David und Rahman (1996).
4
Globalisierung und Regionalentwicklung
Mit dynamischen Wachstumsprozessen geht in den meisten Entwicklungsländern eine wachsende Kluft zwischen städtischen und ländlichen Einkommensniveaus einher. Die Einkommensunterschiede zwischen den rasch wachsenden Metropolen und den ländlichen Gebieten sind groß und nehmen zu. Die ländlichen Gebiete sind für die Städte die Quelle von Nahrung und natürlichen Ressourcen, aber sie sind gleichzeitig die Gebiete, wo Armut und Hunger am verbreitetsten sind. Typisch für ländliche Regionen sind niedrige Einkommen, geringe Breite des Produktionsspektrums, unterentwickelte physische und soziale Infrastruktur, Übernutzung natürlicher Ressourcen und Abwanderung. Häufig sind ländliche Gebiete heute zu Reproduktionsstandorten billiger Arbeitskräfte für städtische und externe Regionen geworden, deren wichtigste Einkommensquelle Rücküberweisungen der abgewanderten Familienangehörigen sind8. Gleichzeitig sind die Metropolen als Schnittstelle von internationalen Märkten und nationaler Wirtschaft durch für sie typische Merkmale gekennzeichnet: Er-
7 8
Quah (1996) und (1997). Douglass (2000).
250
Entwicklungspolitik
stickendes Verkehrschaos, Umweltverschmutzung, Slumentwicklung, Kriminalität sowie die Tendenz wachsender Gegensätze zwischen Arm und Reich und damit einhergehender sozialer Konflikte 9 . Dieser Problemkatalog verdeutlicht die außerordentliche Dringlichkeit, mit der die geschilderten Gegensätze zwischen Stadt und Land sowie Arm und Reich angegangen werden müssen. Wo sind mögliche Lösungsansätze zu finden? Die Antwort kann nur in dem Versuch liegen, den Wanderungssog in die Städte durch ländliche Entwicklung zu bremsen und dabei die Komplementaritäten zwischen Stadt und Land zu nutzen. Die von Kosten-Nutzen-Erwägungen getragene Argumentation, dass die Versorgung der Bevölkerung mit Infrastruktur und Dienstleistungen in großen Städten kostengünstiger sei und deshalb eine Konzentrierung der Bevölkerung in den Städten (noch angeregt durch Stadtentwicklungsprogramme) sinnvoll sei, lässt wichtige Kostenkomponenten außer Acht, insbesondere die zwar schwer messbaren, aber nichtsdestoweniger oft extrem hohen Umwelt- und sozialen Kosten. Es gibt zahlreiche Komplementaritäten zwischen ländlichen Regionen und städtischer Wirtschaft. Ländliche Produzenten benötigen städtische Märkte zur Vermarktung ihrer Produkte und zur Deckung ihrer Konsumwünsche nach höherwertigen und dauerhaften Konsumgütern. Zahlreiche Forschungsarbeiten belegen, dass steigende Einkommen im Agrarsektor einen entscheidenden Einfluss auf das Wachstum städtischer Märkte und Einkommen haben 10 . Diese Komplementaritäten finden in den Regionalentwicklungskonzepten der Entwicklungsländer zu wenig Beachtung. Stadt- und ländliche Entwicklungsplanung sind in der Regel konzeptionell und institutionell getrennt und daher nicht in der Lage, das Synergiepotenzial einer integrierten Stadt-Land-Entwicklung zu nutzen". Diese Dichotomie zwischen Stadt- und Land-Entwicklungsplanung wird oft noch verstärkt durch die Annahme, dass es genüge, den ländlichen Raum durch Straßen und andere Kommunikationsverbindungen an die Städte anzukoppeln, um dynamische Entwicklung im ländlichen Raum anzuregen. Diese Denkrichtung verkennt essentielle Notwendigkeiten ländlicher Entwicklung, insbesondere die Steigerung nachhaltiger landwirtschaftlicher Produktivität, den
9 10 11
Freitag ( 1998) und von Hauff/Michaelis (2000). Mellor (1995). Douglass (2000).
Entwicklungspolitik
251
Aufbau ländlicher Dienstleistungsbereiche und die Stärkung lokaler Institutionen und Infrastruktur 12 . Die zentrale Stellung landwirtschaftlicher Produktionssteigerung in einer Strategie ländlicher Entwicklung erhöht das Potenzial und die Notwendigkeit verstärkter Verkettung von Land- und Stadtentwicklung. Nachhaltige Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft erfordert eine zunehmende Integration in nationale und globale Märkte. Bauern benötigen verbessertes Saatgut und Zuchtmaterial, Dünger und Pflanzenschutzmittel, landwirtschaftliche Geräte und technologisches und ökonomisches Know-how. In der Vermarktung spielen Verarbeitung, Aufmachung und effizienter Transport eine wachsende Rolle und damit die Anbindung an urbane Fazilitäten. Bei zunehmender Landknappheit und Bevölkerungsdichte werden nicht-landwirtschaftliche Beschäftigung und Erwerbsquellen immer wichtiger. Diese Erfordernisse stellen ein erhebliches Potenzial dar, das zu nutzen für eine Land und Stadt integrierende Regionalentwicklung essentiell ist. Um diese Entwicklung ökologisch und sozio-ökonomisch nachhaltig zu gestalten, kommt es vor allem darauf an, die Polarisierung zwischen Arm und Reich zu verringern und die Armen am Prozess der landwirtschaftlichen Produktivitätssteigerung zu beteiligen. Dies bedeutet, auch für die Armen den Zugang zu Land und anderen natürlichen Ressourcen, zu Faktor- und Outputmärkten, zu technischem Wissen und sozialer und physischer Infrastruktur zu sichern und sie in der Bildung von Sozialkapital und Interessengruppen und der Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen zu unterstützen. Im einzelnen geht es darum: - vor allem Landlosen, Pächtern und Frauen Zugang zu Land, Wasser und anderen natürlichen Ressourcen zu verschaffen und dabei Rechtssicherheit und langfristige Nutzungsmöglichkeit zu sichern; - das ländliche Finanzwesen diesen Gruppen zu öffnen, wobei neben Kredit und Sparinstrumenten vor allem auch Versicherungsleistungen von Bedeutung sind; - technisches, betriebswirtschaftliches und Markt-Know-how auf breiter Basis zugänglich zu machen. Nicht selten ist dazu eine Umstrukturierung des Beratungssystems erforderlich. Neue Medien und Kommunikationsmöglichkeiten können Marktinformationen zu geringen Kosten auch in entlegene Regionen bringen, wie bei Bergvölkern im Norden Thailands zu beobachten ist. Auch
12
Heidhues (1997).
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Entwicklungspolitik
die Einbindung von Bauern mit ihrem lokalen Wissen in den Beratungsprozess ist notwendig, um problemrelevante und für die lokale Bevölkerung akzeptable Beratungsinhalte vermitteln zu können; - die überragende Bedeutung des Zugangs für Armutsgruppen zu Erziehungs-, Ausbildungs- und Gesundheitsinstitutionen ist durch zahlreiche Forschungsarbeiten bestätigt worden. Gerade die Untersuchungen zu Auswirkungen der Asienkrise haben die engen und sich selbst verstärkenden Teufelskreise von Armut, Unterbrechung des Schulbesuchs, verringerte Gesundheitsvorsorge, verminderte Produktivität, sich verschärfende soziale Konflikte und steigende Armut erneut bestätigt; - damit Arme ihre wenigen Ressourcen effektiver nutzen, sich besser artikulieren, ihre Interessen mit mehr Nachdruck vertreten und am politischen Entscheidungsprozess teilnehmen können, ist Gruppenbildung und Aufbau von Sozialkapital unerlässlich13. Gerade Nichtregierungsorganisationen haben in diesem Bereich komparative Vorteile unter Beweis gestellt. Beteiligung an regionalen Planungsgremien und Projektentscheidungen gehören ebenso dazu; - inwieweit Dezentralisierung der politischen Entscheidungen eine Verbesserung der Mitsprache von Armutsgruppen bewirkt, wird unterschiedlich beurteilt und hängt von der lokalen politischen und wirtschaftlichen Machtverteilung ab. Auf jeden Fall ist beobachtet worden, dass gerade bei dezentralen Strukturen lokale Machtverhältnisse stärker zur Geltung kommen und zum Nachteil der Armutsgruppen ausgenutzt werden können; - unabhängig von dezentralisierter oder zentralisierter politischer Struktur ist "good governance" fur Arme von entscheidender Bedeutung. "Good governance" beinhaltet einen verlässlichen und fairen rechtlichen Rahmen, gesicherten Zugang zum Rechtsprozess und Durchsetzbarkeit von Rechtspositionen. Es setzt ebenfalls Verantwortlichkeit, Transparenz und Rechenschaftslegung und damit eng zusammenhängend eine freie und unabhängige Presse voraus. Natürliche Ressourcenausstattung, ökologische, ökonomische und sozio-kulturelle Vielfalt bedingen, dass es zwischen Regionen große Variationen gibt. Eine Strategie der integrierten Stadt-Land-Entwicklung muss dieser Vielfalt gerecht werden und entsprechend flexibel gestaltet sein. Variabilität zwischen Regionen beinhaltet wiederum ein Potenzial für Arbeitsteilung, Austausch und Synergieef-
13
Dethier (1999).
Entwicklungspolitik
253
fekte, die es erforderlich machen, die einzelnen regionalen Konzepte auf höherer Ebene zu koordinieren.
5
Armutsreduzierende Regionalentwicklung - eine Aufgabe für den Staat?
Zweifellos hat die Politik des "Washington Consensus" gezeigt, dass dort, wo die Grundvoraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum gegeben sind, d.h. insbesondere wo ein breiter Zugang zu Schulen und Ausbildungseinrichtungen existiert, wo das Infrastruktursystem gut ausgebaut ist und wo der ordnungspolitische Rahmen das Funktionieren der Märkte garantiert, ein dynamischer Wachstumsprozess in Gang kommen kann. Die Erfahrungen haben aber ebenfalls deutlich gemacht, dass dort, wo die erforderlichen infrastrukturellen und institutionellen Voraussetzungen nicht gegeben sind (wie z.B. in vielen schwarzafrikanischen Ländern), Marktliberalisierung nicht ausreicht. Diese Erfahrungen geben wichtige Hinweise auf das, was für ein erfolgreiches, vor allem die Armen integrierendes Regionalentwicklungsmodell erforderlich ist. Mehrere der oben diskutierten Aufgaben einer armutsorientierten Regionalentwicklung können entweder nur durch staatliche Aktivität oder mit staatlicher Unterstützung angegangen werden. Der Ruf nach staatlichem Handeln muss die Frage nach dem "wo" und "wieviel" beantworten. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der staatliche Handlungsbedarf entsprechend des Entwicklungsstandes und der spezifischen Situation variiert. Mit anderen Worten, die Frage des "wo und wieviel Staat" bedarf ständiger Überprüfung entsprechend der gegebenen Umstände 14 . Für eine armutsorientierte Regionalentwicklung liegt die erste wichtige Aufgabe staatlichen Handelns in einer allen zugänglichen Versorgung mit grundlegender und weiterbildender Erziehung. Universeller Zugang zur Grundschule, besonders auch fur die Armen, ist elementare Vorbedingung für eine die ländlichen Räume einbindende Entwicklungsstrategie. Für die Reduzierung des Bevölkerungswachstums ist besonders entscheidend, dass auch die Mädchen in den Ausbildungsprozess integriert werden.
14
Stiglitz ( 1 9 9 7 ) .
254
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Die zweite entscheidende Aufgabe staatlicher Aktivität besteht in der Schaffung der physischen, sozialen und institutionellen Infrastruktur. Dies schließt ein den Bau eines adäquaten Straßen- und Kommunikationsnetzes, eines Basisgesundheitssystems sowie eines rechtlichen und regulatorischen Rahmens, innerhalb dessen wettbewerbliche Märkte funktionieren, die Armutsgruppen im ländlichen Raum an politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen, vor allem in der Regionalentwicklungsplanung und -Implementierung, beteiligt werden und ihre Eigentums- und anderen Rechte in fairen Verfahren durchsetzen können. Auch die Förderung von Dezentralisierung und lokaler Gruppenbildung kann für ein Mitwirken der Armen am Entwicklungsprozess entscheidend sein. Drittens erwächst der öffentlichen Hand eine wichtige Aufgabe in der Förderung des Innovationsprozesses im ländlichen Raum. Unterstützung von Wissenschaft und Forschung und die Regeln des Schutzes von intellektuellem Eigentum sind generell als öffentliche Aufgaben anerkannt. Für Entwicklungsländer kommt der Förderung der Generierung und Verbreitung von Innovationen als essentielle öffentliche Aufgabe besondere Bedeutung zu. Insbesondere Regionen mit hohem Bevölkerungswachstum und knapper natürlicher Ressourcenausstattung sind zur Sicherung der Ernährung ihrer Bevölkerung auf Produktivitätssteigerung im landwirtschaftlichen Bereich angewiesen. Bei zunehmender Landknappheit, die in vielen Ländern an der wachsenden Abholzung von Tropenwäldern, der ackerbaulichen Nutzung erosionsgefährdeter Hanglagen und Überweidung deutlich wird, bleibt keine andere Möglichkeit der landwirtschaftlichen Produktionssteigerung als die der Produktivitätssteigerung. Dies ist ohne aktive öffentliche Unterstützung der Agrarforschung und Förderung der Akzeptanz von Innovationen nicht möglich 15 . In Ländern, in denen die Ernährungssicherung gefährdet ist, gewinnt die Förderung der landwirtschaftlichen Innovationsentwicklung höchste Priorität. Viertens entsteht wichtiger Eingriffsbedarf in Entwicklungsländern im Umweltbereich, wo Marktversagen in Form externer Effekte seit langem bekannt ist. Für arme Regionen mit gefährdeter Ernährungssicherung können komplexe Zielkonflikte zwischen kurzfristiger Sicherung der Ernährung und langfristiger Erhaltung der natürlichen Ressourcen entstehen. Bei einer hohen Zeitpräferenzrate, die für Niedrigeinkommensländer charakteristisch ist, werden die Nutzen langfristiger Umweltinvestitionen stark abdiskontiert. Ohne Eingriff in die Investitionsprioritäten würde im langfristigen natürlichen Ressourcenschutz unterinvestiert.
15
Heidhues (1997).
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Eine integrierte, das Komplementaritätspotenzial nutzende Stadt-Land-Entwicklungsstrategie ist auf einen unterstützenden Staat angewiesen. Dabei ist entscheidend, dass staatliche Aktivitäten so ausgestaltet werden, dass sie den Markt nicht ersetzen, sondern zum besseren Funktionieren der Märkte beitragen. Herdzinas frühes Eintreten für das Konzept der staatlich unterstützten Regionalentwicklung16 hat für das Konzept einer armutsorientierten Regionalentwicklung in Entwicklungsländern neue Bedeutung erhalten.
16
Herdzina (1996).
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Nettokapitalexport = Arbeitsplatzexport? Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen am Beispiel der Metall- und Elektroindustrie im Raum Stuttgart Bernhard Holwegler und Hans-Michael
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Trautwein1
Einleitung
Die deutsche Zahlungsbilanz weist seit langem Überschüsse der ausfließenden über die einfließenden Direktinvestitionen aus. Diese Passivsalden werden häufig als Zeichen einer "Schwäche" des Produktionsstandorts Deutschland gedeutet, als Folgen von überhöhten Arbeitskosten und anderen Investitionshemmnissen, die zu Beschäftigungsverlusten führen. Abgesehen davon, daß die amtlichen Statistiken zur Unterschätzung der einfließenden Direktinvestitionen tendieren, sind derartige Gleichsetzungen von Nettokapitalexport und "Arbeitsplatzexport" fragwürdig.2 Die Salden der deutschen Handelsbilanz sind seit 1951 stets positiv; ihr Rückgang im Importboom der Wiedervereinigung 1990/91 ist gegen Ende der 90er Jahre durch neue Ausfuhrrekorde aufgehoben worden. Betrachtet man die Handelsüberschüsse als Ausweis einer wettbewerbsfähigen Industrieproduktion, macht es wenig Sinn, das saldenmechanische Gegengewicht der Nettokapitalexporte zum Standortproblem zu stilisieren. Außerdem enthält das Aggregat der Auslandsinvestitionen Kapitaltransfers, die Güterexporte unterstützen, Massenund Verbundvorteile nutzen helfen oder anderweitig zur Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland beitragen. Die Zahlungsbilanz erlaubt somit keine eindeutigen Rückschlüsse auf einen negativen Nettobeschäftigungseffekt der Direktinvestitionen. Dennoch liegt die Schlußfolgerung nahe, daß kostenorientierte Produktionsverlagerungen in das Ausland zu den massiven Beschäftigungseinbrü-
Dieser Aufsatz ist eine teils gekürzte, teils erweiterte Fassung unserer Studie, die 1998 in der Schriftenreihe des Promotionsschwerpunktes Makroökonomische Diagnosen und Therapien der Arbeitslosigkeit erschienen ist. Wir danken der Hans-Böckler-Stiftung für die finanzielle Förderung sowie Jörg Hofmann, zwei anonymen Gutachtern und unseren zahlreichen Interviewpartnern für wertvolle Hinweise und andere Unterstützung. Diese Gleichsetzung legt auch der Sachverständigenrat immer wieder nahe (SVR 1993, Tz. 392, SVR 1996, Tz. 72 und SVR 1997, Tz.97), obwohl er selbst auf Beschränkungen der Aussagekraft aggregierter Direktinvestitionsdaten hinweist. Zur Problematik der Erhebung und internationalen Vergleichbarkeit der Daten siehe Cantwell (1990), OECD (1996), Deutsche Bundesbank (1997) und Jost (1997).
260
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
chen beigetragen haben, die zwischen 1992 und 1997 selbst in "strukturstarken" Regionen Westdeutschlands zu beobachten waren. Die Zwillingshypothese des Arbeitsplatzexports (durch ausfließende Direktinvestitionen) und mangelnder Standortattraktivität (für einfließende Direktinvestitionen) läßt sich mit sektoral und regional eingegrenzten Untersuchungen überprüfen, in denen stärker nach Motiven und Beschäftigungseffekten von aus- und einfließenden Direktinvestitionen differenziert werden kann. Die hier untersuchte Metall- und Elektroindustrie im Raum Stuttgart eignet sich gut als Beispiel. Zum einen beruht die relativ große Wirtschaftskraft dieser Region in hohem Maße auf der örtlichen Konzentration und internationalen Ausrichtung der genannten Produktionsbereiche; insbesondere im Maschinenbau und im Straßenfahrzeugbau zählen Stuttgarter Unternehmen zum strategischen Kern der deutschen Exportindustrie. Zum anderen ist am Standort Stuttgart zwischen 1992 und 1997 etwa ein Viertel aller Stellen in der Metall- und Elektroindustrie abgebaut worden, während die Auslandsbeschäftigung in Unternehmen aus der Region leicht zugenommen hat. Die im folgenden dargestellte empirische Studie zeigt jedoch, daß sich aus dieser dramatisch anmutenden Entwicklung nicht ableiten läßt, daß die abgebauten Arbeitsplätze exportiert worden seien. Die gegenüber vergleichbaren Unternehmensbefragungen 3 engere regionale und sektorale Eingrenzung erleichtert die Identifikation von indirekten Beschäftigungseffekten von ausfließenden und einfließenden Direktinvestitionen, die sich aus der Vernetzung der Produktion in Ballungsräumen ergeben. Während die meisten Studien darauf abstellen, daß Standortvorteile die Richtung und das Volumen internationaler Kapitaltransfers bestimmen, kann durch die Einbeziehung solcher Agglomerationseffekte auch die gegenläufige Abhängigkeit der Standortvorteile von Direktinvestitionen verdeutlicht werden. Am Beispiel des Raums Stuttgart stellt sich die Frage, ob die Entwicklung der Direktinvestitionen und Beschäftigung die Erosion von Vorteilen der räumlichen Konzentration widerspiegelt - oder einen Prozeß der regionalen Spezialisierung, der langfristig Arbeitsplätze sichert. In Abschnitt 2 werden zunächst die relevanten Arten von Direktinvestitionen vorgestellt und gängige Methoden der Ermittlung ihrer Beschäftigungswirkungen diskutiert. In Abschnitt 3 werden die methodischen Ansatzpunkte und Datengrundlagen dieser Studie erläutert. In Abschnitt 4 erfolgt ein Vergleich der Beschäftigungsentwicklung in direktinvestierenden Unternehmen mit der Entwick-
3
Siehe z.B. Fikentscher/Moritz (1980), Beyfuß/Kitterer (1990), Beyfuß (1992), Köddermann/Wilhelm (1996), Lobbe et al. (1997), Henneberger/Vocke/Ziegler (1998) sowie Dohm et al. (1998).
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
261
lung in anderen Unternehmen. Die Abschnitte 5 und 6 enthalten jeweils die Ergebnisse einer Unternehmensbefragung zu den Motiven und Beschäftigungseffekten von ausfließenden bzw. einfließenden Direktinvestitionen. Im Schlußabschnitt werden mögliche Vorbehalte gegenüber der gewählten Untersuchungsmethode erörtert. In einer Festschrift darf der Bezug auf einschlägige Werke des Jubilars nicht fehlen. Daher möchten wir in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, daß die vorliegende Studie ein winzig kleines Mosaiksteinchen in der empirischen Belegsammlung für die zirkuläre Verknüpfung von wirtschaftlichem Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb bildet, deren theoretische Grundlagen Klaus Herdzina in seiner Habilitationsschrift (1981) herausgearbeitet hat. Desweiteren wird unsere Untersuchung des Stuttgarter Raumes einen weißen Flecken behandeln (wenn auch vielleicht nicht beseitigen), der selbst noch in jenem Vorschlag zur räumlichen Differenzierung Baden-Württembergs zu erkennen ist, den Klaus Herdzina im Jahre 1992 gemeinsam mit Joachim Genosko und Sabine StützleLeinmüller vorgelegt hat.4
2
Methoden zur Erfassung der Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
2.1
Systematik der Begriffe
Der Zusammenhang zwischen den finanzwirtschaftlichen Größen der Direktinvestitionen, die in die Zahlungsbilanz eingehen, und deren realwirtschaftlichen Wirkungen auf die Beschäftigung ist vielschichtig. Deutlich wird dies schon bei der Definition, Abgrenzung und Einteilung der Direktinvestitionen. Sie bilden eine spezielle Form des internationalen Kapitalverkehrs, die von Handelskrediten, Bankkrediten und Wertpapieranlagen zu unterscheiden ist. Nach maßgeblichen Definitionen des IMF (1993) und der OECD (1996) werden unter Direktinvestitionen dauerhafte Beteiligungen an Unternehmen im Ausland verstanden, mit denen eine Einflußnahme auf die unternehmerischen Entscheidungen verbunden ist. Das Kontrollmotiv ist in der statistischen Erfassung grenzüberschreitender Kapi-
4
Der weiße Flecken in der Mitte Baden-Württembergs ist besonders gut in Anlage 4.2 zu Genosko/Herdzina/Stützle-Leinmüller (1992) zu erkennen. Die dort eingetragenen Nummern 1,2,3,5,6 lassen vermuten, daß es sich für die Verfasser jener Studie nicht um eine terra incognita gehandelt hat, sondern lediglich um Landstriche, die den Merkmalen des Untersuchungsobjektes - eben dem ländlichen Raum - nicht entsprachen.
262
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
talbewegungen und Forderungsbestände allerdings nur mit einiger Willkür zu operationalisieren. Dies zeigen schon die unterschiedlichen Schwellenwerte der Kapitalbeteiligung, mit denen die Trennung nach Portfolio- und Direktinvestitionen in verschiedenen nationalen und internationalen Statistiken festgelegt worden ist.5 In der vorliegenden Studie konnte das Abgrenzungsproblem jedoch durch eine Vorerhebung im Rahmen der regionalen Beschäftigtenstatistik gelöst werden; die Frage nach geschäftspolitischer Kontrolle über bzw. durch ausländische Unternehmen ließ sich fur alle in dieser Statistik erfaßten Unternehmen eindeutig beantworten. 6 Direktinvestitionen treten in verschiedenen Formen auf. Neben dem Erwerb von Anteilen an ausländischen Unternehmen gibt es die Kooperation in Joint Ventures, die vollständige Übernahme oder die Neugründung von Tochterunternehmen. Direktinvestitionen können auch durch Sacheinlagen, Darlehen oder die Reinvestition von Gewinnen getätigt werden. Selbst in der Zusammenschau von Zahlungsbilanz-, Transfer- und Bestandsstatistiken ist es schwierig, diese Investitionsformen einheitlich und vollständig zu erfassen. Noch größer sind die Probleme bei mittelbaren Beteiligungen und bei außerhalb des Ursprungslandes aufgenommenen Finanzierungen ausländischer Tochterunternehmen. Auch bei vollständiger Information über den Umfang der Direktinvestitionen und ihrer Salden könnte eine Prognose ihrer Gesamtwirkung auf die Beschäftigung nicht ohne weiteres getroffen werden. Denn unter der Sammelbezeichnung der Direktinvestitionen verbergen sich vielfältige Unternehmensaktivitäten mit unterschiedlichen Motiven und Struktureffekten in bezug auf das Produktangebot, auf die Integration von Produktionsstufen und auf die räumliche Konzentration und Arbeitsteilung. Ihre Auswirkungen auf die Zahl der Arbeitsplätze in der Ursprungsregion bzw. in der Zielregion differieren nicht nur in der Größenordnung, sondern auch in den Vorzeichen (siehe Abb, 1). Hinzu kommt, daß die Beschäftigungseffekte von Direktinvestitionen häufig nur vermittelt auftreten und von gleichzeitigen Veränderungen der Produktionstechnik, Kapazitätsauslastung und Arbeitszeiten selbst dann kaum zu trennen sind, wenn diese die Entscheidung zur Direktinvestition nicht beeinflußt haben.
5
6
Der IMF geht davon aus, daß bei Besitz von mindestens 10% der Kapitalanteile bzw. der Stimmrechte an einem ausländischen Unternehmen ein signifikanter Einfluß auf das Management gegeben ist, womit automatisch auf das Kontrollmotiv zurückgeschlossen wird. Demgegenüber sprach die Deutsche Bundesbank bis 1997 erst dann von einer Direktinvestition, wenn die Beteiligung mindestens 20% des Nennkapitals erreicht. Für einen Vergleich unterschiedlicher nationaler Definitionen siehe Jost (1997). Zu den Einzelheiten siehe die nächsten Abschnitte.
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
Ursprungsregion
263
=>
=>
Motiv bzw. Struktureffekt der Direktinvestition
Direkter Beschäftigungseffekt
Exportförderung
+
-
+ Assoziierte Exporte
+
-
+
Zielregion StrukturefTekt der Direktinvestition Verdrängung von Inlandsproduktion Ergänzung zur Inlandsproduktion Verdrängung von Inlandsproduktion Ergänzung zur Inlandsproduktion
Erweiterung von Management( + ) + (-) und FuE-Aktivitäten + Exportsubstitution + Reimporte Indirekter Beschäftigungseffekt
Importsubstitution Exportsteigerungen
Rücktransfer von Gewinnen
Reinvestition von Gewinnen
Vertikale Folgeeffekte - vorwärtsgerichtet - rückwärtsgerichtet - absatzorientiert -- kostenorientiert Horizontale Folgeeffekte Nachzug von Konkurrenten Agglomerationseffekte
+ (-)
(-) +
0/+
0/ +
Spezialisierung (evtl. mit nach+ folgender Zuwanderung) - Abwanderung
Abb. 1 :
-
Vertikale Folgeeffekte - vorwärtsgerichtet - rückwärtsgerichtet - absatzorientiert ~ kostenorientiert Horizontale Folgeeffekte Zuzug von Nachzüglern Agglomerationseffekte - Verdrängung
+
- Spezialisierung /Zuwanderung
-/ + + -
Synergieeffekte
+
-
Hypothetische Beschäftigungseffekte von Direktinvestitionen
Es gibt im wesentlichen vier methodische Ansätze zur Ermittlung der Beschäftigungseffekte von Direktinvestitionen: Regressionsanalysen, Motivanalysen, komparativ-faktische Studien sowie kontrafaktuelle Vergleiche.7 Die jeweiligen Vorzüge und Schwächen dieser Methoden lassen sich in Verbindung mit der Systematik in Abb. 1 erläutern, in der positive (negative) Vorzeichen die Erwartung einer Zunahme (Abnahme) der Beschäftigung bezeichnen.8 Für die Zwecke der vorliegenden Studie dient die Unterscheidung nach Ursprungs- und Zielregionen sowohl der Wirkungsanalyse einzelner Investitionen als auch der Ermittlung von Nettobeschäftigungseffekten für einen bestimmten Raum, der hierbei einerseits
7 8
Vgl. Henneberger/Ziegler (1998), S. 554. Neben der oben zitierten Literatur siehe für Überblicke z.B. Dunning (1993), S. 362ff., und Tiiselmann (1998).
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
264
als Ursprungsregion ausfließender und andererseits als Zielregion einfließender Direktinvestitionen betrachtet wird. 2.2
Regressionsanalysen
Einen ersten Ansatz bilden Regressionsanalysen des Zusammenhangs von Direktinvestitionen und Exporten der Ursprungsregion bzw. Importen der Zielregion. Bei positiver Korrelation von Kapitalexport und Güter- und Dienstleistungsexporten im Ursprungsland wird im allgemeinen von einer komplementären Beziehung ausgegangen, in der Direktinvestitionen (ceteris paribus) absatzfördernde und daher auch beschäftigungsfördernde Wirkungen entfalten. Eine negative Korrelation deutet hingegen auf Substitutionseffekte von Produktionsverlagerungen in das Ausland hin, die in aller Regel mit dem Wegfall von Arbeitsplätzen im Ursprungsland verbunden sind. Analog hierzu können die Wirkungen von Direktinvestitionen auf die Inlandsproduktion im Zielland über die Korrelation mit der Importentwicklung analysiert werden; auch hier sind ergänzende oder verdrängende Effekte auf Produktion und Beschäftigung möglich. Die Mehrzahl der Regressionsanalysen deutet auf eine (schwach) komplementäre Beziehung zwischen Exporten und Direktinvestitionen und somit auf positive Nettobeschäfltigungseffekte für die Ursprungsregionen hin.9 Die Zahl von Studien zu den Struktureffekten von Direktinvestitionen in Zielregionen ist erheblich geringer; ihre Ergebnisse lassen keine eindeutige Tendenzaussage zu.10 Regressionsanalysen sind allerdings mit einigen Problemen behaftet. Abgesehen davon, daß Korrelationen keine direkten Schlüsse auf Kausalbeziehungen zulassen, ist in den meisten Fällen der hohe Aggregationsgrad der Daten zu bemängeln. Nur selten sind Datensätze verfügbar, die Aufschluß darüber geben können, ob und in welchem Maße neben der unmittelbaren Exportförderung (bzw. Exportsubstitution) in der Ursprungsregion assoziierte Exporte (bzw. Reimporte) zu verzeichnen sind. Auch die Synergieeffekte (Verbundvorteile) von Direktinvestitionen, z.B. bei der Konzentration und Erweiterung von Management- und FuEAktivitäten, bleiben in der Regel unterbelichtet. Diese Fragestellungen sind jedoch von Interesse, wenn Direktinvestitionen als Motor der Internationalisierung der Produktion betrachtet werden.
9
10
Siehe Andersen/Hainaut (1998) für einen aktuellen Überblick, aber auch Fikentscher/Moritz (1980), Bellack (1993), Jungmittag (1996) und Pfaffermayr (1996). Siehe z.B. Plum (1995).
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
2.3
265
Motivanalysen
Motivanalysen auf der Grundlage von Unternehmensbefragungen können in dieser Hinsicht weiterfuhren. Bei solchen Befragungen wird davon ausgegangen, daß unterschiedliche Motive von Auslandsengagements auch jeweils verschiedene Wirkungen auf die Beschäftigung haben.11 In der Regel wird aus der Reihung der Motivnennungen nach ihrer Häufigkeit und ihrem Gewicht auf die Nettobeschäftigungseffekte der Direktinvestitionstätigkeit geschlossen. Motivanalysen können allerdings nur erste Plausibilitätsüberlegungen bilden, da Absichten nicht mit Wirkungen gleichzusetzen sind und häufig eine Gemengelage von Motiven mit unterschiedlichen Konsequenzen fur die Beschäftigung gegeben ist. Gleichwohl besteht ein Vorteil von Motivanalysen darin, daß sie auch die indirekten Beschäftigungseffekte erfassen können, die im unteren Teil der Abb. 1 dargestellt sind. So liefern sie z.B. Aufschlüsse über den Charakter von vorwärtsgerichteten Folgeinvestitionen (auf nachgelagerten Produktionsstufen). In den Branchen des Verarbeitenden Gewerbes, die hier untersucht werden, beziehen sich diese vor allem auf Dienstleistungen, die nicht über die Grenzen handelbar sind, wie etwa Wartung, Reparatur und weitere Serviceleistungen. Da diese Investitionen von der Internationalisierungsform der "Kernaktivitäten" (Export oder Auslandsproduktion) weitgehend unabhängig sind, haben sie in der Regel keine Implikationen für die Inlandsbeschäftigung. Allerdings deuten Motivanalysen in zunehmendem Maße auf Tendenzen zur Externalisierung (outsourcing) und Internationalisierung von Dienstleistungen, die auf die Beschäftigung in der Ursprungsregion negativ, in der Zielregion positiv wirken können. Bei rückwärtsgerichteten Investitionen (auf vorgelagerten Produktionsstufen) sind die Beschäftigungseffekte noch stärker nach ihren Motiven zu differenzieren. Hier handelt es sich häufig um Direktinvestitionen von Zulieferern, die Endherstellern zur Wahrung der Kundennähe mit eigenen Fertigungsstätten in das Ausland folgen. Soweit diese Investitionen vornehmlich absatzorientiert sind und die eigenen und assoziierten Exporte aus der Ursprungsregion erhöhen, wirken sie dort der Tendenz nach positiv auf die Beschäftigung. Kostenorientierte Produktionsverlagerungen wirken hingegen negativ. Wenn Konkurrenten von Endherstellern und Zulieferern aufgrund der veränderten Wettbewerbssituation ebenfalls eine Internationalisierung der Produktion anstreben, können horizontale Folgeeffekte auf-
"
Motivanalysen sind in Studien der Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen weit verbreitet; siehe z.B. für Deutschland: Fikentscher/Moritz (1980), die Studien des IW und DIHT (Beyfuß/Kitterer 1990 und Beyfuß 1992), des RWI (Graskamp/Löbbe 1996 und Lobbe et al. 1997) und des IFO-Instituts (Köddermann/Wilhelm 1996), sowie für die Schweiz: Henneberger/Vocke/Ziegler (1998).
266
B e s c h ä f t i g u n g s w i r k u n g e n v o n Direktinvestitionen
treten, die in der Ursprungsregion eher negativ, in der Zielregion eher positiv sein dürften. Direktinvestitionen tragen nicht nur zur Internationalisierung, sondern häufig auch zur regionalen Spezialisierung der Produktion bei. In solchen Fällen können sowohl im Ursprungsland als auch im Zielland externe Größen- und Verbundvorteile der Produktion entstehen, welche die Beschäftigung in beiden Regionen erhöhen. Bei Abwanderung bzw. Verdrängung einer .kritischen Masse' örtlicher Produzenten ist entsprechend mit negativen Agglomerationseffekten zu rechnen. Diese indirekten Effekte, die aus den verfügbaren Datensätzen sektoraler und regionaler Statistiken häufig nur schwer und mit Verzögerungen herauszulesen sind, können im Prinzip durch Motivanalysen frühzeitig identifiziert werden.
2.4
Komparativ-faktische und kontrafaktuelle Methoden
Neben Regressions- und Motivanalysen bedienen sich empirische Studien der Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen häufig zweier weiterer Methoden, die am Ende der Wirkungskette ansetzen. Die komparativ-faktische Methode kontrastiert die Beschäftigungsentwicklung in Unternehmen, die im Ausland investieren, mit der Entwicklung in Unternehmen ohne Direktinvestitionen. So wird auf positive Beschäftigungseffekte geschlossen, wenn die Zuwachsraten in den Unternehmen mit Auslandsengagements über denen der Vergleichsgruppe liegen. Aus den Unterschieden in der Beschäftigungsentwicklung kann allerdings kaum auf einen eindeutigen Kausalzusammenhang geschlossen werden. International operierende Unternehmen können eine günstigere Beschäftigungsentwicklung aufweisen, weil sie Direktinvestitionen tätigen - oder aber auch, weil sie unabhängig von Direktinvestitionen erfolgreicher oder beschäftigungsintensiver arbeiten als die Unternehmen der Vergleichsgruppe. Mit der kontra/aktuellen Methode wird hingegen die tatsächliche Beschäftigungsentwicklung bei Vorliegen von Direktinvestitionen mit der fiktiven Entwicklung verglichen, die sich in denselben Unternehmen, Branchen oder Regionen ohne Direktinvestitionstätigkeit ergeben hätte. Zwar wird hier im Gegensatz zur komparativ-faktischen Methode eine identische Grundgesamtheit untersucht, die fiktive Beschäftigungsentwicklung kann jedoch nur über Alternativhypothesen erschlossen werden. Diese werden über Szenarien abgebildet, die z.B. unterschiedliche Mischungsverhältnisse der Exportförderung und Exportsubstitution darstellen. Entsprechende Modellrechnungen führen dann zu Urteilen über die Differenzen zwischen faktischer und fiktiver Beschäftigungsentwicklung. Naturgemäß sind die Ergebnisse der kontrafaktuellen Methode in hohem Grade abhängig von
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
267
der Wahl der jeweiligen Alternativhypothesen und deren zugrundeliegenden Annahmen. 12 Die Diskussion der gängigen Methoden zur Ermittlung der Beschäftigungseffekte von Direktinvestitionen zeigt, daß jeder der beschriebenen Ansätze Schwächen hat, daß aber mit einer Kombination der Ansätze durchaus eine Indizienkette gebildet werden kann. Im Idealfall stehen hinreichend konsistente, disaggregierte Daten über die laufenden Direktinvestitionen und die Beschäftigungsentwicklung zur Verfugung. Dieses Ideal ist zumindest in Deutschland derzeit kaum zu erreichen. Um so wichtiger ist es, bei der Operation mit lückenhaften Daten die gewählten Alternativhypothesen offenzulegen. Die getroffenen Annahmen über alternative Beschäftigungsentwicklungen ohne Direktinvestitionen beeinflussen schließlich nicht nur die Ergebnisse der kontrafaktuellen Methode, die diese Problematik immerhin direkt thematisiert. Auch die übrigen Methoden kommen nicht ohne Alternativhypothesen (und ceteris /?ar/¿>ws-Klauseln) aus. Doch auch wenn nur ein Teil der erforderlichen Daten verfugbar ist, lassen sich mit Kombinationen von Motivanalysen, komparativ-faktischen und kontrafaktuellen Methoden aussagekräftige Ergebnisse erzielen. Die vorliegende Studie bildet hierfür ein Beispiel.
3
Alternativhypothesen und Datengrundlagen
3.1
Vorgehensweise
Unserer Untersuchung der Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen in der Stuttgarter Metall- und Elektroindustrie liegt folgende Vorgehensweise zugrunde. Zunächst erfolgt ein Vergleich der Beschäftigungsentwicklung in Unternehmen mit Direktinvestitionen und in Unternehmen ohne Direktinvestitionen. Hierauf folgt eine Motivanalyse, durch die relevante Einzeleffekte ausfließender und einfließender Nettoinvestitionen identifiziert werden. In Verbindung mit kontrafaktuellen Alternativhypothesen führt die Motivanalyse schließlich zu einer Einschätzung der Nettobeschäftigungseffekte.
12
So kommen z.B. Henneberger/Vocke/Ziegler (1998) bei der Berechnung solcher Szenarien für die Schweiz zum Ergebnis negativer Nettobeschäftigungseffekte von Direktinvestitionen. Dies liegt vor allem an der restriktiven Annahme, daß exportkomplementäre Auslandsinvestitionen keine unmittelbar positiven Effekte auf Exporte und inländische Beschäftigung haben. Beschäftigungsfördernde Exportsteigerungen können in besagten Szenarien daher nur indirekt über die Produktion von inländischen Zulieferern erfolgen.
268
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
Die kontrafaktuellen Alternativhypothesen lassen sich weitgehend aus Abb. 1 ablesen. So impliziert beispielsweise das positive Vorzeichen bei exportfördernden Direktinvestitionen fur die Betrachtung des Raums Stuttgart als Ursprungsregion, daß die Beschäftigungsbilanz der Alternative 'keine Direktinvestitionen' ungünstiger wäre. Umgekehrt bedeutet das negative Vorzeichen bei (Güter-) Exportsubstitution, daß Produktionsverlagerungen mit dieser Intention einen Arbeitsplatzexport bewirken. Darüber hinaus ist hervorzuheben, daß hier einer weiten Auslegung des Begriffs der Beschäftigungseffekte gefolgt wird. Positive Effekte liegen nicht nur dann vor, wenn Direktinvestitionen mit einer Zunahme der Beschäftigung in den Betrieben der betreffenden Unternehmen im Raum Stuttgart verbunden sind, sondern auch dann, wenn sie zur Vermeidung oder Verringerung von Beschäftigungsrückgängen beitragen. Anders als in vielen vergleichbaren Studien werden somit z.B. Produktionsverlagerungen in ausländische Fertigungsstätten positive Effekte zugeschrieben, sofern sie zur Umgehung von Exporthemmnissen (z.B. local content-Regelungen) beitragen und Exporte von Vorprodukten und nachgelagerten Dienstleistungen induzieren. Gleiches gilt bei einfließenden Direktinvestitionen für den Fall, daß ausländische Unternehmen durch den Erwerb oder die Beteiligung an Unternehmen in der Region Arbeitsplätze erhalten, die ansonsten verloren gegangen wären.13 Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die Beschäftigungswirkungen in der langen Frist pfadabhängig sind. Die Investition in Produktionskapazitäten versetzt multinationale Unternehmen unabhängig von den ursprünglichen Motiven in die Lage, zu einem späteren Zeitpunkt die Produktion umzustrukturieren und beschäftigungswirksame Rationalisierungen oder Verlagerungen vorzunehmen. Anders als in vielen vergleichbaren Studien wurde in der Unternehmensbefragung im Rahmen der vorliegenden Untersuchung auch auf diesen Aspekt geachtet.
3.2
Datenquellen und Datenlage
Die vorliegende Untersuchung von Direktinvestitionen und Beschäftigung in der Metall- und Elektroindustrie des Raums Stuttgart basiert auf drei Datenquellen: 1. Auf einer Beschäftigtenstatistik, die von der Verwaltungsstelle Stuttgart der Industriegewerkschaft Metall fortlaufend für die von ihr betreuten Betriebe ge-
13
Hier könnte der Einwand erfolgen, daß bei Unterbleiben der Direktinvestitionen möglicherweise auch inländische Käufer die Arbeitsplätze erhalten hätten. Die Befragung der betreffenden Unternehmen im Rahmen der vorliegenden Studie führte jedoch zu dem Ergebnis, daß in keinem Fall solche alternativen Interessenten auf den Plan getreten waren.
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
269
führt wird und die etwa 80% der Gesamtbeschäftigung in der Metall- und Elektroindustrie erfaßt; 2. Auf einer Erhebung der IG Metall aus dem Sommer 1997, in deren Rahmen sämtliche im Raum Stuttgart ansässigen Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie ermittelt wurden, die in bedeutendem Umfang entweder Direktinvestitionen im Ausland getätigt haben oder durch ausländische Unternehmen kontrolliert werden;14 3. Auf einer Umfrage über Art, Umfang, Motive und Beschäftigungseffekte von Direktinvestitionen, die von den Verfassern im Zeitraum Dezember 1997 bis April 1998 unter den in (2) ermittelten Unternehmen durchgeführt wurde. Die räumliche Abgrenzung entspricht der Beschäftigtenstatistik aus (1); sie ist enger gefaßt als die Definition der Region Stuttgart, die das Statistische Landesamt verwendet. 15 Die sektorale Abgrenzung der Metall- und Elektroindustrie wurde wegen der langfristigen Vergleichbarkeit nach der bis 1994 geltenden SYPRO-Systematik vorgenommen. 16 Die Daten aus (1) erfaßten in jenem Jahr etwa 55% der Beschäftigten im Investitionsgüter produzierenden Gewerbe bzw. 16% der Gesamtzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Region; sie entsprachen etwa 45% der Gesamtbeschäftigung in der Stadt Stuttgart. Die Veränderungsraten der in (1) aufgeführten Beschäftigtenstatistik stimmten im Zeitraum 1980 bis 94 fast vollständig mit den amtlichen Daten für die investitionsgüterproduzierenden Betriebe in Region und Stadt überein. Die amtlichen Statistiken über Direktinvestitionen in Baden-Württemberg erlauben nur eine Aufgliederung nach Branchen, nicht aber eine Disaggregation auf die Region oder Stadt Stuttgart. Der Grad der Internationalisierung, den die Stuttgarter Metall- und Elektroindustrie im Raum Stuttgart erreicht hat, kann dennoch an-
14
15
16
Dabei wurden Niederlassungen und Vertretungen von Stuttgarter Unternehmen im Ausland und von ausländischen Unternehmen in Stuttgart vernachlässigt, soweit sie reine Vertriebs- und Serviceeinrichtungen mit geringfügiger zusätzlicher Beschäftigung (20 Beschäftigte und weniger) bilden. Der in dieser Studie untersuchte Raum Stuttgart bezeichnet nur die Stadt Stuttgart, den Kreis Böblingen sowie Teile der Kreise Ludwigsburg und Esslingen. Danach umfaßt die Metall- und Elektroindustrie folgende Wirtschaftszweige: Eisenschaffende Industrie; Nichteisen-Metallindustrie; Gießereien; Ziehereien, Kaltwalzwerke; Stahlverformung; Stahl-, Leichtmetallbau und Schienenfahrzeuge; Maschinenbau; Straßenfahrzeugbau; Reparatur von Kraftfahrzeugen; Schiffbau; Luft- und Raumfahrzeugbau; Elektrotechnik, Reparatur von Haushaltsgeräten; Feinmechanik, Optik, Herstellung von Uhren; Herstellung von Eisen-, Blech- und Metallwaren (EBM); Herstellung von Musikinstrumenten, Spielwaren etc.; Herstellung von Büromaschinen, ADV-Geräten und -Einrichtungen.
270
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
hand einiger Vergleichsdaten ermessen werden.17 Bei den Direktinvestitionen nahm Baden-Württemberg in der Untersuchungsperiode einen der vorderen Plätze unter den Bundesländern ein. Im Jahr 1994 verzeichnete das Land Anteile von etwa 14% des Investivver/wögms westdeutscher Unternehmen im Ausland (Platz 4) bzw. ausländischer Unternehmen in Westdeutschland (Platz 3). Im gleichen Jahr wies Baden-Württemberg unter allen Bundesländern die größte Summe an einfließenden und die viertgrößte Summe an ausfließenden Direktinvestitionen auf. Auch wenn der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an den Direktinvestitionsströmen im Zuge des Strukturwandels gegenüber den Dienstleistungen kontinuierlich gesunken ist, betrug der Anteil der drei Schlüsselbranchen "Maschinenbau", "Straßenfahrzeugbau" und "Elektrotechnik" im Durchschnitt der Jahre 1990 bis 95 mehr als 20%. In bezug auf die Investitionsbeträge ist bemerkenswert, daß sich fur diese Branchen in Baden-Württemberg keine signifikante Erhöhung der ausfließenden Direktinvestitionen feststellen ließ, obwohl die deutsche Wirtschaft im fraglichen Zeitraum starken Erhöhungen der Lohnnebenkosten und des Aussenwerts der DM ausgesetzt war. Die starke Exportorientierung der Industrieproduktion im Stuttgarter Raum zeigt sich daran, daß die Exportquoten des Verarbeitenden Gewerbes der Region mit einem Anteil von etwa 37% am Umsatz in den Jahren 1995/96 weit über den Durchschnittswerten für das Land (32,4%) und die Bundesrepublik (29,7%) lagen. Ziel der unter (3) genannten Unternehmensbefragung war festzustellen, wie sich die aus- und einfließenden Direktinvestitionen auf die Stellenzahl in der Metallund Elektroindustrie im Raum Stuttgart ausgewirkt haben. Die unter (2) genannte Erhebung hatte ergeben, daß sich 23 Stuttgarter Firmen (20 Konzerne) in den 80er und 90er Jahren durch Direktinvestitionen in bedeutendem Umfang im Ausland engagiert haben. Auf der anderen Seite werden 26 im Raum ansässige Firmen durch die gleiche Anzahl ausländischer Unternehmen kontrolliert. Diese 49 Unternehmen wurden mit der Umfrage (3) angesprochen. Dabei konnte eine Teilnahmequote von 92% erreicht werden. Die Befragung zielte im quantitativen Teil auf die Anzahl, Form und Höhe der Direktinvestitionen (Ströme und Bestände) sowie auf Umsatzzahlen, Investitionssummen, Exportquoten und Beschäftigtenzahlen. Im qualitativen Teil wurde nach den Motiven fur die Direktinvestitionen gefragt, bei auslandskontrollierten Unternehmen mit besonderem Akzent auf der Wahrnehmung von Agglomerationseffekten. Gesprächspartner waren Mitglieder von Geschäftsführungen, Stabsabteilungen, Aufsichtsräten und Betriebsräten in wechselnder Zusammensetzung. Aus
17
Zu den folgenden Angaben siehe NIW (1997), S. A-27, Landeszentralbank Baden-Württemberg (1994) sowie IMU (1997), S. 7.
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
271
der Beantwortung der Fragen im quantitativen Teil konnte leider keine Datenbasis gewonnen werden, die die Mindestanforderungen für Regressionsanalysen erfüllt hätte. Die gefragten Daten waren in vielen Fällen überhaupt nicht vorhanden; in anderen Fällen waren sie aufgrund unterschiedlicher sachlicher und zeitlicher Abgrenzungen nicht vergleichbar oder mit Informationssperren belegt. Gleichwohl konnte die im qualitativen Teil von (3) vorgenommene Motivanalyse in Verbindung mit der Auswertung der in (1) und (2) erhobenen Daten Anhaltspunkte dafür liefern, daß die ein- und ausfließenden Direktinvestitionen in der Stuttgarter Metall- und Elektroindustrie in den vergangenen Jahren per Saldo weniger Arbeitsplätze gekostet als gesichert haben. Der nächste Abschnitt enthält einen vergleichenden Überblick über die Beschäftigungsentwicklung. In den Abschnitten 5 und 6 werden die Motivmuster und typischen Szenarien der Direktinvestitionen und ihrer Beschäftigungseffekte aufgezeigt.
4
Vergleiche der Beschäftigungsentwicklung
4.1
Größen- und Branchenstruktur
Nach der hier verwendeten Beschäftigtenstatistik waren Mitte 1997 knapp 156.000 Arbeitnehmer in den erfaßten Betrieben der Metall- und Elektroindustrie im Raum Stuttgart beschäftigt. Davon arbeiteten 69,8% in Unternehmen mit ausfließenden Direktinvestitionen und 17,7% in Unternehmen mit einfließenden Direktinvestitionen. Einige dieser Unternehmen sind in beiden Kategorien vertreten, da sie in einen ausländischen Konzern eingebunden sind und Tochterunternehmen im Ausland besitzen. Auch nach der Bereinigung um entsprechende Doppelzählungen beträgt die Internationalisierungsquote (der Anteil der Unternehmen mit ein- oder ausfließenden Direktinvestitionen an der Gesamtbeschäftigung) in der Stuttgarter Metall- und Elektroindustrie knapp 80%. Unterteilt man die Unternehmen nach Größenklassen der Beschäftigung, so erhält man das erwartete Bild (siehe Tab. 1). Mit zunehmender Unternehmensgröße steigt der Anteil der Unternehmen mit Engagements im Ausland. Dementsprechend finden sich bei den einfließenden Direktinvestitionen die meisten (Tochter-)Unternehmen in der geringsten Größenklasse.
272
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
Tab. 1:
Größenstruktur und Beschäftigungsanteile direktinvestierender Unternehmen am 30. Juni 1997 Ausfließende Direktin vestition en
Unternehmensgröße (Arbeitnehmer)
Beschäf- Untertigte nehmen (Σ)
Zahl der Arbeitnehmer
Anteil an
Einfließende Direktin vestido nen Unternehmen
(Σ)
Zahl der Arbeitnehmer
Anteil an (Σ)
5.000
105.957
3
93.142
87,9%
2
14.253
13,5%
Insgesamt 155.964
23
108.933
69,8%
27
27.548
17,7%
Die Branchenstruktur der Direktinvestitionen ist in Tab. 2 dargestellt. Ausfließende bzw. einfließende Direktinvestitionen stehen hier für Beteiligungen, Übernahmen und Zweigniederlassungen, nicht aber für Direktinvestitionen im weiteren Sinne (reinvestierte Gewinne etc.). Gemessen am Beschäftigtenanteil der betreffenden Unternehmen liegt der Internationalisierungsgrad der Produktion in den meisten Branchen über 70%, wobei die relative Bedeutung von ein- und ausfließenden Direktinvestitionen von Branche zu Branche variiert. Der Zahl der Projekte nach werden über 40% der einfließenden Direktinvestitionen in der Elektroindustrie getätigt, bei einem Gesamtbeschäftigungsanteil der auslandskontrollierten Unternehmen von nur 7%. Bei den ausfließenden Direktinvestitionen sind die meisten Projekte im Maschinenbau und im Straßenfahrzeugbau zu verzeichnen. Die im Durchschnitt erheblich kleineren Unternehmen des Maschinenbaus, die Fertigungsstätten im Ausland unterhalten, stellen allerdings nur etwa 3% der Gesamtbeschäftigung, die Unternehmen im Straßenfahrzeugbau hingegen 44%. 18 Diese Branche, die die Region nicht nur in bezug auf die Beschäftigung dominiert, ist einseitig internationalisiert. Fast alle ortsansässigen Unternehmen des Straßenfahrzeugbaus tätigen Investitionen im Ausland, während einfließende Direktinvestitionen kaum eine Rolle spielen. Der Stahl- und Leichtmetallbau, der nur geringe Bedeutung für die Gesamtbeschäftigung hat, ist hingegen ein Beispiel für eine beidseitige Internationalisierung der
18
Die Zahl der Direktinvestitionsprojekte im Straßenfahrzeugbau ist geringer ist als die Projektzahl im Maschinenbau, die Investitionsjum/ne/j sind hingegen im Durchschnitt größer. Allerdings ließ sich die Differenz aufgrund der oben genannten Mängel in den Erhebungsdaten nicht genau beziffern.
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
273
Produktion. Die meisten Arbeitsplätze dieser Branche sind in auslandkontrollierten Unternehmen angesiedelt, die selbst Direktinvestitionen im Ausland tätigen. Tab. 2:
Branchenstruktur und Beschäftigungsanteile direktinvestierender Unternehmen im Jahr 1997
Branche (in Klammern: Anteil an der Gesamtbeschäftigung)
Ausfließende Direktinvestitionen Anteil an der Anteil an der BeschäftiZahl der DIgung in der Projekte Branche 85,5 % 5,3 %
einfließende Direktinvestitionen Anteil an der Anteil an der BeschäftiZahl der DIgung in der Projekte Branche 0,0 % 0,0 %
NE-Metallindustrie
(0,7 %)
Stahl-/Leichtmetallbau
(0,9 %)
5,3 %
70,6 %
7,7 %
86,2 %
(9,6 %)
26,3 %
30,8 %
17,9%
8,5 %
Straßenfahrzeugbau
(52,6 %)
21,0%
85,3 %
2,6 %
0,9 %
Elektroindustrie
(22,8 %)
15,8%
74,2 %
41,0%
31,6%
Büromaschinen, DV
(8,4 %)
0,0 %
0,0 %
23,1 %
94,1 %
Feinmechanik, Optik
(1,5 %)
21,0%
83,6 %
2,6 %
5,6 %
(1,2%)
5,3 %
73,1 %
5,1 %
19,8%
Maschinenbau
EBM-Waren
4.2
Vergleich zwischen Unternehmen mit und ohne ausfließende Direktinvestitionen
Neben der Querschnittsanalyse in Tab. 1 und 2 kann die Beschäftigungsentwicklung in der Metall- und Elektroindustrie in der Region Stuttgart durch Längsschnittanalysen dargestellt werden. Teilt man die Beschäftigungsstatistik in eine Gruppe der Unternehmen, die keine Direktinvestitionen im Ausland getätigt haben, und eine Gruppe der Unternehmen mit ausfließenden Direktinvestitionen, erhält man einen komparativ-faktischen Vergleich der Beschäftigungsentwicklung dieser beiden Gruppen. Abb. 2 zeigt die jährlichen Veränderungsraten der Beschäftigung im Zeitraum 1980 bis 97.
274
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
tri 1981
1982
1983
1984
1985
1988
j
, n \ i
_
H
13
1987
1988
• Unternehmen mit ausfließenden Direktinvestitionen
1989
1990
1991
1992
1993
1994
199S
1998
1997
ι — ι Unternehmen ohne ausfließende Direktinvestitionen
—Metall- und Elektroindustrie im Raum Stuttgart
Abb. 2:
Beschäftigung in Unternehmen mit und ohne ausfließende Direktinvestitionen, 1981-97 (jährliche Veränderungsraten in Prozent)
Sie zeigen zwar einen weitgehend parallelen Verlauf in den Unternehmen mit und solchen ohne ausfließende Direktinvestitionen auf. Doch hat sich die Beschäftigung in den direktinvestierenden Unternehmen mit der Ausnahme weniger Jahre günstiger entwickelt als in den Unternehmen ohne Auslandsengagement. 19 In der Krise 1992 bis 94, als in der Metall- und Elektroindustrie im Raum Stuttgart insgesamt etwa 45.000 Arbeitsplätze abgebaut wurden und sich die Arbeitslosenquoten der Region (von 3,5 auf 7%) verdoppelten, betrug der Beschäftigungsrückgang in direktinvestierenden Unternehmen etwa 20%, während die übrigen Unternehmen ihre Belegschaften um 26% verringerten. Zudem hat sich die Stellenzahl in den direktinvestierenden Unternehmen ab 1995 stabilisiert, während sie in den Unternehmen ohne Auslandsinvestitionen weiter gesunken ist. Diese Entwicklung scheint gegen die Hypothese des Arbeitsplatzexports zu sprechen, kann andererseits aber nicht einfach als Indiz für eine Dominanz der Absatzorientie-
19
Henneberger/Ziegler (1998) und Henneberger/Vocke/Ziegler (1998) bestätigen dieselbe Entwicklung für die schweizerische Maschinenindustrie in einem ähnlichen Zeitraum (1990-95). Auch Lobbe et al. (1996) finden ähnliche Ergebnisse.
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
275
rung gewertet werden, da die Analysemethode keine direkte Aussage über die Kausalität erlaubt. Der Vergleich der Entwicklung der Stellenzahlen an den unterschiedlichen Standorten der Unternehmen mit ausfließenden Direktinvestitionen (Abb. 3) zeigt wiederum ein anderes Bild. Danach haben die direktinvestierenden Unternehmen im Raum Stuttgart längerfristig Arbeitsplätze abgebaut, während die Beschäftigung im übrigen Inland und vor allem im Ausland ab 1994 wieder zunahm. Auf den ersten Blick scheinen diese Daten fur die Hypothese eines kostenbedingten Arbeitsplatzexportes zu sprechen, wobei allerdings angesichts der parallelen Entwicklung der Lohnstückkosten im Raum Stuttgart und im übrigen Deutschland rätselhaft bleiben muß, warum es in der Entwicklung der Stellenzahlen Diskrepanzen gab. Des Rätsels Lösung liegt in der Akquisitionspolitik der Stuttgarter Unternehmen, vor allem im Bereich von Zulieferfirmen im Fahrzeugbau: Die Zunahme der Stellenzahlen ist vor allem durch Übernahmen und nicht durch Produktionsverlagerungen zu erklären.
Abb. 3:
Beschäftigung an verschiedenen Standorten von Stuttgarter Unternehmen mit ausfließenden Direktinvestitionen, 1992-96 (Zahl der Beschäftigten)
276
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
Denn auch in den in- und ausländischen Tochterunternehmen sind zum Teil Arbeitsplätze wegrationalisiert worden. Über derartige Entwicklungen gibt die Motivanalyse (Abschnitt 5) näheren Aufschluß. 4.3
Vergleich zwischen Unternehmen mit und ohne einfließende Direktinvestitionen
Abb. 4 zeigt die Beschäftigungsentwicklung in Unternehmen mit und ohne einfließende Direktinvestitionen fur den Zeitraum 1980 bis 97. Die Beschäftigtenzahlen in den auslandskontrollierten Unternehmen nahmen in den 80er Jahren zwar etwas stärker zu als in den Unternehmen ohne einfließende Direktinvestitionen. Sie verzeichneten in den 90er Jahren aber auch einen stärkeren und länger anhaltenden Rückgang als in den übrigen Unternehmen. Dennoch kann man von Abb. 4 nicht ohne weiteres auf negative Beschäftigungseffekte einfließender Direktinvestitionen schließen.20 Entscheidendes Kriterium hierbei ist die Unterscheidung von (unmittelbar) additiven Direktinvestitionen (Neugründungen, greenfield investments) und substitutiven Übernahmen und Beteiligungen ausländischer Konzerne im Raum Stuttgart: Etwa 60% der betreffenden Beschäftigten sind Unternehmen zuzuordnen, die im Laufe des Betrachtungszeitraums von ausländischen Unternehmen übernommen worden sind. Etliche dieser Übernahmen betrafen Firmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Zählt man die 1997 noch bestehenden Stellen in diesen Firmen, sind durch die Engagements der ausländischen ,Mütter' etwa 4.500 Arbeitsplätze erhalten worden. Dies entspricht etwa der Hälfte der zwischen 1991 und 1994 abgebauten Stellen in allen auslandskontrollierten Unternehmen. Bei Berücksichtigung dieses ,Rettungseffekts' in der genannten Größenordnung beträgt der Rückgang der Beschäftigung in Unternehmen mit einfließenden Direktinvestitionen im selben Zeitraum nur zwei Drittel des Rückgangs in Unternehmen ohne einfließende Direktinvestitionen.21 Genaueren Aufschluß über den Rettungseffekt gibt die Motivanalyse in Abschnitt 6.
20
21
Hier gilt das umgekehrte Kausalitätsproblem wie bei ausfließenden Direktinvestitionen: Sind auslandskontrollierte Unternehmen weniger wettbewerbsfähig, weil sie Töchter ausländischer Konzerne sind oder sind sie auslandskontrolliert, weil sie weniger wettbewerbsfähig sind? Die weitere Argumentation tendiert zur zweiten Wirkungskette. Abhängig von der zeitlichen Perspektive und weiteren Annahmen kann der Nettobeschäftigungseffekt ausländischer Übernahmen allerdings auch niedriger angesetzt werden. Zum einen ist zu vermuten, daß alternativ auch inländische Investoren zur Rettung von einigen dieser Arbeitsplätze beigetragen hätten. Dagegen spricht jedoch, daß keiner der betroffenen Interviewpartner von einem interessierten inländischen Käufer berichtete. Zum anderen hat man gerade in der Stuttgarter Elektroindustrie die leidvolle Erfahrung gemacht, daß Arbeitsplätze in auslandskontrollierten Unternehmen
277
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
Unternehmen mit einfließenden Direktinvestitionen
•
Unternehmen ohne einfließende Direktinvestitionen
Metall- und Elektroindustrie im R a u m Stuttgart
Abb. 4:
Beschäftigung in Unternehmen mit und ohne einfließende Direktinvestitionen, 1981-97 (jährliche Veränderungsraten in Prozent)
Auf den ersten Blick liefern die komparativ-faktischen Vergleiche der Beschäftigungsentwicklung in den Unternehmen mit und ohne Direktinvestitionen also keine Anhaltspunkte für einen Nettoarbeitsplatzexport. Dennoch läßt der dramatische Stellenabbau in der ersten Hälfte der 90er Jahre einen starken Kostendruck vermuten, der viele inländische und auslandskontrollierte Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie im Stuttgarter Raum vor die Wahl stellte, vom Markt zu verschwinden, Arbeitsplätze wegzurationalisieren oder Produktion in das Ausland zu verlagern. Letzteres bedeutet entweder eine Zunahme der ausfließenden Direktinvestitionen oder eine Abnahme der einfließenden Direktinvestitionen. Im Rahmen der Motivanalyse, deren Ergebnisse in den folgenden Abschnitten dargestellt werden, wurde nach solchen Verlagerungsreaktionen gefragt.
aufgrund politischer Einflüsse einer stärkeren Gefährdung durch Umstrukturierungsmaßnahmen ausgesetzt sind als die Arbeitsplätze im Mutterland des Konzerns.
278
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
5
Motive und Beschäftigungswirkungen ausfließender Direktinvestitionen
5.1
Gewichtungen der Motive
Aufbauend auf der Struktur ähnlicher Erhebungen 22 umfaßte die Befragung von Unternehmen mit ausfließenden Direktinvestitionen 22 Einzelmotive in bezug auf Absatz, Beschaffung und spezifische Standortvorteile. Motive
Gewichtung
Erschließung neuer Märkte
2,00
Überwindung von Handelsbarrieren des Exports Niedrigere Lohn-/Lohnnebenkosten Sicherung bestehender Märkte Größe/Wachstumsdynamik des Auslandsmarktes Markt-/Kundenpfl ege
1,33
0,94
Staatliche Investitionsförderung
0,89
Höhere Flexibilität des Arbeitsmarktes Minderung des Wechselkursrisikos Niedrigere Steuerbelastung Bessere Infrastruktur im Ausland Reduktion der Transportkosten Höhere Renditen
0,73
Weniger administrative Hemmnisse
Abb. 5:
22
Motive
Gewichtung
Bessere Beschaffung von Vorleistungen und Rohstoffen Zugang zu öffentlichen Aufträgen
0,40
1,07
Kostenvorteile der Vorleistungs-/Rohstoffproduktion
0,33
1,00 1,00
Höhere Produktivität Folgeumzug bei Abwanderung von Kunden ins Ausland Kostenvorteile innerhalb der Absatzorganisation Überwindung von Handelsbarrieren des Imports Vervollständigung der Produktionspalette Kostendruck bisheriger Kunden Geringere Umweltbestimmungen Besseres FuE-Umfeld Know-How-Sicherung Bessere Qualifikation der Arbeitnehmer
0,27 0,27
0,67 0,60 0,57 0,53 0,53
0,40
0,20 0,20 0,13 0,13 0,13 0,07 0,07 0,00
0,47
Rangordnung der Motive für ausfließende Direktinvestitionen
Vgl. Fikentscher/Moritz (1980), Beyfuß/Kitterer (1990), Köddermann/Wilhelm k a m p / L ö b b e (1996) und Henneberger/Vocke/Ziegler (1998).
(1996),
Gras-
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
279
Zusätzlich waren offene Motivnennungen möglich. Die Motive waren nach ihrer relativen Bedeutung in drei Stufen zu gewichten. Abb. 5 zeigt die Verteilung der Motivnennungen, deren Zahl mit Punktwerten fur primäre (2), sekundäre (1) und keine (0) Bedeutung gewichtet und über die jeweilige Gesamtzahl der Nennungen normiert wurde. Auffällig ist, daß alle Unternehmen dem Motiv 'Erschließung neuer Märkte' größte Bedeutung beigemessen haben. Zudem finden sich unter den relevantesten sechs Motiven vier weitere aus dem Bereich der Absatzorientierung. Unter den zusätzlichen Motivnennungen wurde u.a. von sechs Zulieferunternehmen im Fahrzeugbau angegeben, daß sie ihren Abnehmern an deren ausländische Fertigungsstätten folgen mußten. Die Matrix der Einteilung nach primären und sekundären Motiven zeigt in Abb. 6 noch deutlicher das Übergewicht der absatzstrategischen Motive. Die dominanten Kombinationen liegen in der primären Orientierung auf ein Absatzmotiv unter besonderer Berücksichtigung eines Kostenmotivs oder Standortvorteils. Obwohl die Motivanalyse Mehrfachnennungen in beiden Kategorien geradezu herausforderte, tauchte die in der Öffentlichkeit vieldebattierte Kombination niedrigere Lohn (neben)kosten / höhere Flexibilität des Arbeitsmarktes (an ausländischen Standorten) bei weniger als 20% der direktinvestierenden Unternehmen auf. Beiden Motiven wurde meistens nur mittlere Bedeutung beigemessen. Im direkten Vergleich war das Motiv der Minderung von Wechselkursrisiken häufiger von ausschlaggebender Bedeutung. 23 5.2
Typische Szenarien
Im Rahmen der Motivanalyse wurden auch detaillierte Informationen zur Art und zu den Beschäftigungseffekten einzelner Auslandsinvestitionen gesammelt. Hierbei schälten sich typische Szenarien ausfließender Direktinvestitionen heraus, bei denen die Vorzeichen der Beschäftigungswirkungen nicht immer mit den in Abschnitt 2 dargestellten 'hypothetischen Effekten' übereinstimmten. In einigen Fällen trafen mehrere der in Abb. 1 kategorisierten Fälle zusammen. 24
23
24
Sein niedrigerer Rang in Abb. 7 ergibt sich daraus, daß es seltener als sekundäres Motiv genannt wurde. Für eine ausfuhrlichere Darstellung typischer Szenarien von Direktinvestitionsprojekten siehe Hol wegler/Trautwein (1998).
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
280
bis unter 1 0 % der Unternehmen
Ibis
Abb. 6:
unter 2 0 % der Unternehmen
I
bis unter 3 0 % der Unternehmen
mehr als 4 0 % der Unternehmen
bis unter 4 0 % der Unternehmen
Primäre und sekundäre Motive für ausfließende Direktinvestitionen
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
281
Über die häufige Angabe von exportfördernden Investitionen in internationale Vertriebs- und Servicenetze und deren positive Beschäftigungswirkungen braucht man hier keine weiteren Worte zu verlieren. Erwähnenswert ist vielmehr, daß viele Projekte, die man im allgemeinen unter den Kategorien "Exportsubstitution" und "Reimporte" einstufen würde, mit positiven Beschäftigungseffekten fur die Ursprungsregion Stuttgart verbunden wurden. Wie die betroffenen Unternehmen angaben, hätte die Alternative nicht in der Produktion am Ursprungsort, sondern im Verlust von Großkunden und Marktanteilen bestanden. Zudem handelte es sich häufig um Endproduktion im Ausland mit assoziierten Exporten von Vorprodukten aus Stuttgart oder um eine Auslagerung von Fertigungsstufen, die zur Konzentration der Kapazitäten in Stuttgart auf hochrentable Produktionsprozesse beigetragen hat. In diesem Zusammenhang lassen sich vier Szenarien mit (indirekt) positiven Beschäftigungseffekten ausmachen: 1. Handelshemmnisse. In Südamerika, Asien und Afrika gelten vielfach local cowfó/rt-Regelungen, nach denen die Höhe von Einfuhrzöllen oder Importkontingenten von den Anteilen der inländischen Produktionsleistung abhängt. Das Ausmaß der Produktionsverlagerung in solche Zielländer variiert zwischen CKD- und SKD-Montagen, bei denen das Endprodukt im Ursprungsland als Bausatz vorgefertigt wird, und der Parallelproduktion im Ausland, für deren Aufbau Investitionsgüter aus der Ursprungsregion bezogen werden. 2. Lokale Kundenpräferenzen. Nach Angaben einiger Unternehmen hat der Aspekt der Kundennähe zu Direktinvestitionen in parallele Produktion und flexible Endmontagen nach Kundenwünschen gefuhrt. Derartige Projekte betrafen ausschließlich Standorte in den USA, die gleichzeitig Vertriebs- und Servicefunktionen besitzen. 3. Lokale Einbindung von Zulieferern. Häufig verlangen Großunternehmen von ihren Zulieferern, daß sie sich in die Produktion vor Ort einbinden lassen. Diese Forderung kommt sowohl von inländischen Endherstellern, die ihre Produktion internationalisieren, als auch von ausländischen Unternehmen, die lokales Outsourcing betreiben. Aus der Organisation der Produktionsprozesse nach just in time- und just in sequence-Prinzipien entsteht für die Zulieferer die Notwendigkeit eines partiellen Standortwechsels, nach dem jedoch zumindest anfänglich noch ein großer Teil der Vorprodukte aus dem Ursprungsland bezogen wird.25
25
Geradezu idealtypisch skizziert Rentschier (1995) das Beispiel der Firma ZF, die Mercedes-Benz nach Tuscaloosa/USA gefolgt ist. Zu weiteren Trends der International isierung von Produktionsprozessen siehe auch Trautwein (2000).
282
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
4. Regionale Spezialisierung. Kostenorientierte Produktionsverlagerungen wirken in der Regel negativ auf die Beschäftigung in der Ursprungsregion (siehe Abb. 1). Die Unternehmensbefragung ergab jedoch, daß Beschäftigungsverluste im Raum Stuttgart fast ausschließlich für Investitionen im nahen Ausland (Ostfrankreich, Nordschweiz, Österreich) konzediert wurden. Insgesamt betrafen die kostenorientierten Verlagerungen überwiegend Fertigungsstufen, die durch hohe Kapitalintensität und/oder einen hohen Einsatz von gering qualifizierter Arbeit gekennzeichnet sind: Prozesse der Blech- und Kunststoffbearbeitung von Gehäusen und Teilkomponenten in Hochtechnologieprodukten, deren Endmontage im Raum Stuttgart verblieben ist, sowie einfache Endmontagen bei Verbleib der Produktion von technologisch avancierten Bauteilen im Stammhaus. 26 Dem Wegfall der entsprechenden Arbeitsplätze im Raum Stuttgart wurde häufig die langfristige Beschäftigungssicherung durch Erhöhungen der Produktivität und weitere Stärkungen der Wettbewerbsfähigkeit gegenübergestellt. Die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der befragten Unternehmen waren kaum von Verlagerungen in das Ausland betroffen. Zum Teil wurden sie sogar von ausländischen Tochterunternehmen nach Stuttgart verlagert. Da die Motive höhere Produktivität, besseres FuE-Umfeld und bessere Qualifikation der Arbeitnehmer fur Produktionsverlagerungen offenbar nur eine geringe oder gar keine Rolle spielten (siehe Abb. 5 und 6), kann man davon ausgehen, daß der Raum Stuttgart für hoch qualifizierte Tätigkeiten nach wie vor Standortvorteile besitzt, während Arbeitsplätze mit geringem Qualifikationsprofil stärker dem Risiko von Produktionsverlagerungen ausgesetzt sind.
26
Angesichts des hohen Lohnkostengefalles, das nach der Öffnung der osteuropäischen Staaten zu Beginn der 90er Jahre als Argument fur einen 'Arbeitsplatzexport' angeführt worden ist, mag es verwundern, daß Stuttgarter Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie lediglich fünf, zumeist kleine Fertigungsstätten in Osteuropa unterhalten.
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
283
6
Motive und Beschäftigungswirkungen einfließender Direktinvestitionen
6.1
Gewichtungen der Motive
D i e A n a l y s e der M o t i v e f ü r einfließende Direktinvestitionen w u r d e w e i t g e h e n d a n a l o g z u r B e f r a g u n g bei a u s f l i e ß e n d e n Direktinvestitionen d u r c h g e f ü h r t . 2 7 A l l e r d i n g s w u r d e direkter n a c h A g g l o m e r a t i o n s v o r t e i l e n g e f r a g t u n d d e m e n t s p r e c h e n d n a c h d e m R a u m Stuttgart u n d d e m übrigen Inland unterschieden. Abb. 7 zeigt die G e w i c h t u n g aller M o t i v e f ü r die G r u n d g e s a m t h e i t der b e f r a g t e n U n t e r n e h m e n in a u s l ä n d i s c h e m Besitz. Motive
Gewichtung
Erschließung neuer Märkte Qualifikation der Arbeitskräfte im Raum Stuttgart Nähe zu Zulieferern und Abnehmern im Raum Stuttgart Günstige Akquisition Markt- und Kundenpflege Qualifikation der Arbeitskräfte im Inland FuE-Umfeld im Raum Stuttgart Infrastruktur im Raum Stuttgart Know-how im Raum Stuttgart FuE-Umfeld im Inland Sicherung bestehender Märkte Größeund Wachstum des Inlandsmarktes Minderung des Wechselkursrisikos Flexibilität des Arbeitsmarktes im Inland Staatliche Investitionsförderung
1,83 0,87
A b b . 7:
27
0,83 0,74 0,70 0,70 0,65 0,65 0,53 0,40 0,35 0,30 0,20 0,15
Motive
Infrastruktur im Inland Regionalspezifische Kundenpräferenzen Zentrallage Stuttgarts in Europa
0,10 0,10
Zugang zu öffentlichen Aufträgen Lohn(neben)kosten Kostenvorteile der Vorleistungsproduktion Steuervorteile Administrative Effizienz Kostenvorteile im Absatz Uberwindung von Importbarrieren Reduktion von Transportkosten Bessere Beschaffung von Vorleistungen/Rohstoffen Höhe der Rendite Höhe der Produktivität
0,10 0,05 0,05
0,15
R a n g o r d n u n g der M o t i v e f ü r einfließende Direktinvestitionen
Siehe z.B. Beyfuß (1992).
Gewichtung
0,10
0,05 0,05 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00
284
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
Auch bei den einfließenden Direktinvestitionen hat das Ziel der Markterschließung größtes Gewicht. Die Dominanz der Absatzmotive ist geringer als bei den ausfließenden Direktinvestitionen, weil günstige Akquisitionsmöglichkeiten und Agglomerationsvorteile des Stuttgarter Raums das Engagement ausländischer Unternehmen ebenfalls spürbar beeinflußt haben. Zu erwähnen sind insbesondere: die Qualifikation der Arbeitskräfte, die Nähe zu Zulieferern und Abnehmern und das Forschungs- und Entwicklungsumfeld - Standortvorteile, die in bezug auf den Ballungsraum Stuttgart durchweg höher bewertet werden als in bezug auf Deutschland insgesamt. Das Gewicht, das den Agglomerationseffekten beigemessen wird, bildet einen signifikanten Unterschied zu vergleichbaren Unternehmensbefragungen, in denen dieser Aspekt unseres Wissens bislang kaum Beachtung gefunden hat. Im Vergleich zu den ausfließenden Direktinvestitionen zeigt die Matrix der primären und sekundären Motive (Abb. 8) eine geringere Konzentration der Kombinationen. Dies kann daran liegen, daß bei den einfließenden Direktinvestitionen die Auswahl mit vier zusätzlichen Motiven größer war. Dennoch ist eine klare Clusterbildung in den Kombinationen von Absatzmotiven und Agglomerationsvorteilen erkennbar.
6.2
Typische Szenarien
Die Detailinformationen zur Art und den Beschäftigungswirkungen einzelner einfließender Direktinvestitionen lassen sich nur in wenigen Fällen zu typischen Szenarien verallgemeinern. Wie oben dargestellt, spielten die Motive Kundennähe, Qualifikation der Arbeitnehmer, FuE-Umfeld und Infrastruktur eine große Rolle für die Entscheidung zur Ansiedlung bzw. zum Verbleib im Raum Stuttgart. Allerdings hat sich die Standortkonkurrenz in bezug auf einfließende Investitionen in Produktionskapazitäten nach Angaben der betreffenden Unternehmen in den 90er Jahren deutlich verschärft. Einige Unternehmen haben Teile der Produktion nach Süd- und Osteuropa sowie nach Südostasien ausgelagert und somit im Raum Stuttgart "desinvestiert". Die langfristigen Beschäftigungswirkungen der Übernahmen von Unternehmen durch ausländische Investoren sind differenziert zu betrachten. Sofern nur ein Wechsel der Besitzverhältnisse eintritt, sind diese Direktinvestitionsformen als beschäftigungsneutral einzustufen. Wie oben erwähnt, können positive Beschäftigungseffekte im Sinne einer (partiellen) Arbeitsplatzerhaltung für jene Übernahmen unterstellt werden, bei denen ein Mangel an Rentabilität und anderen Käufern ansonsten zur Stillegung gefuhrt hätte. Die Umfrage ergab, daß diese Gefahr bei 13 von 21 Übernahmen drohte. Da viele Übernahmen zur Markterschließung
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
285
Motive kosten-zstandortorientiert
Marktsicherung Martt-/Kundenpflege Kostenvorleile der Absatzorganisation Größe/Dynamik des Inlandsmarktes Überwindung von Einschränken Niedrigere lohrv /Lohnne benkosten Reduktion der Transportkosten Höhe der Renditen Höhe der Produktivität Steuervorteile Zugang zu öffentlichen Aufträgen Staatliche Investitionsförderung Infrastruktur im Inland Administrative Effizienz Bessere Qualifikation der Arbeitnehmer Flexibilität des Arbeitsmarktes
Minderung des WK-Risikos Marktsicherung Kostenvorteile der Beschaffung Überwindung von Importschranken bis unter 1 0 % der U n t e r n e h m e n bis unter 2 0 % der U n t e r n e h m e n
Abb. 8:
I
bis unter 3 0 % der U n t e r n e h m e n
^ m e h r als 4 0 % der U n t e r n e h m e n
bis unter 4 0 % der U n t e r n e h m e n
Primäre und sekundäre Motive fur einfließende Direktinvestitionen
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
286
für Importe aus dem Ursprungsland vorgenommen werden, sind spätere Stillegungen der erworbenen Töchter nicht auszuschließen, auch wenn dies naturgemäß (noch) in keinem der befragten Unternehmen der Fall gewesen ist. Gleichwohl ist dem ,Arbeitsplatzerhaltungseffekt gegenüberzustellen, daß in allen Unternehmen Umstrukturierungen stattgefunden haben, in denen die Produktion nach der Übernahme auf die "Kernkompetenzen" konzentriert wurde. Die entsprechenden Beschäftigungsverluste sind andererseits weitgehend vergleichbar mit dem Outsourcing und der Rationalisierung in Stuttgarter Unternehmen, in die keine Direktinvestitionen geflossen sind. Dennoch zeigen sich gerade am Fall der Übernahmen durch ausländische Investoren die grundlegenden Schwierigkeiten des kontrafaktischen Vergleichs, denen jede Abschätzung des Nettobeschäftigungseffekts von aus- und einfließenden Direktinvestitionen ausgesetzt ist. Auf die hiermit verbundenen Probleme und weitere mögliche Vorbehalte gegen die Ergebnisse der vorliegenden Studie wird im folgenden Schlußabschnitt eingegangen.
7
Schluß
Die Ergebnisse der vorliegenden Studie legen den Schluß nahe, daß die Hypothese eines negativen Nettobeschäftigungseffekts von Direktinvestitionen zumindest für einen Kernbereich der deutschen Exportindustrien, die Metall- und Elektroindustrie im Raum Stuttgart, abzulehnen ist. Auch wenn in den 90er Jahren ein massiver Stellenabbau zu verzeichnen war, kann die entsprechende Zunahme der Arbeitslosigkeit in der Region nicht mit einem Arbeitsplatzexport durch Kapitalabflüsse erklärt werden, die durch eine Standortschwäche ausgelöst worden wären. Die Indizien sprechen eher für einen positiven Gesamteinfluß von Direktinvestitionen auf die Beschäftigung. Dennoch sind abschließend einige Vorbehalte gegen die Methoden und Ergebnisse der Untersuchung anzusprechen. Der erste Vorbehalt betrifft das bereits angesprochene Problem des kontrafaktischen Vergleichs. Letztendlich hängt jede Beurteilung der Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen von der Alternativhypothese ab: Was wäre passiert, wenn die betreffende Direktinvestition unterblieben wäre? In dieser Studie ist einer großzügigen "dynamischen" Auslegung gefolgt worden, nach der man nicht nur bei einer Erhöhung der Stellenzahlen von positiven Beschäftigungswirkungen sprechen kann. Vielmehr sind z.B. selbst diejenigen Übernahmen durch ausländische Investoren als beschäftigungssichernd gewertet worden, in deren Folge Stellen abgebaut wurden. Entscheidend war, ob man davon ausgehen konnte, daß die erhaltenen Arbeitsplätze bei Unterbleiben der einfließenden Direktinvestition der Region gänzlich oder zu einem Teil verloren gegangen wären. Gleiches galt
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
287
für die Behauptung etlicher Interviewpartner, daß ihre Unternehmen durch Produktionsverlagerungen in das Ausland den Fortbestand von Arbeitsplätzen im Raum Stuttgart mittelbar und langfristig gesichert hätten. Angesichts der mangelnden Überprüfbarkeit der meisten gängigen Alternativhypothesen läßt sich bei passendem Zuschnitt des Bezugsrahmens noch fast jeder Stellenabbau damit rechtfertigen, daß er auf die eine oder andere Weise einige Arbeitsplätze erhält. Da nur selten Daten verfugbar sind, die eine halbwegs verläßliche Schätzung der Größenordnung von Beschäftigungseffekten zulassen, wird im Zweifelsfall kaum eine Studie dem Streit entgehen, ob "das Glas halb leer ist oder halb voll". Hier kann man kaum mehr tun, als die getroffenen Annahmen so weit wie möglich offenzulegen. Allerdings setzen sich qualitative Analysen im Stile der hier vorgenommenen Motiverhebung dem Anschlußvorbehalt der Einschätzungsproblematik aus. Es liegt nahe, daß viele Unternehmensvertreter geneigt sind, Direktinvestitionsprojekte ihres Hauses nach außen hin als Markterweiterungserfolge darzustellen und nicht als reine Kostensenkungsmaßnahmen, deren Beschäftigungswirkungen in der Belegschaft und der Region als unsozial empfunden werden könnten. In der vorliegenden Untersuchung wurden jedoch für alle befragten Unternehmen Einschätzungen von Vertretern des Betriebsrates oder der Gewerkschaften im Aufsichtsrat einbezogen. Interessanterweise wichen die Einschätzungen der Arbeitnehmerseite bei der Motivanalyse nur unerheblich von den Einschätzungen der Arbeitgeberseite ab. Dennoch sind positive Einschätzungsverzerrungen nicht vollkommen auszuschließen. Ein anderer positiver Bias besteht in der Würdigung der Agglomerationsvorteile durch auslandskontrollierte Unternehmen (Abschnitt 6) darin, daß mit der Umfrage nur Unternehmen erfaßt worden sind, die tatsächlich im Raum Stuttgart investiert haben, und somit keine Unternehmen, die dies wegen ungünstigerer Beurteilungen des Standortes unterlassen haben. Da die relevante Gesamtheit der "Nichtinvestoren" schwer ausfindig zu machen ist, kann man diese Verzerrung kaum vermeiden. Außerdem steht dem positiven Bias die negative Verzerrung der Nichtberücksichtigung sämtlicher Investitionsprojekte gegenüber, die ortsansässige Unternehmen nach reiflicher Abwägung gegen Auslandsalternativen im Raum Stuttgart getätigt haben. Durch die Vergleiche der Beschäftigungsentwicklung in Abschnitt 4 ist der Schluß nahegelegt worden, daß ausfließende Direktinvestitionen positiv auf die Beschäftigung wirken, weil die betreffenden Unternehmen im Raum Stuttgart eine stabilere und weniger negative Beschäftigungsentwicklung zu verzeichnen hatten als Unternehmen ohne Direktinvestitionen. Gegen diese Kausal interpreta-
288
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
tion könnte man einwenden, daß die Beschäftigung weniger vom Auslandsengagement abhängt als von anderen Faktoren, wie z.B. der Unternehmensgröße (als Näherungsgröße für langfristigen Investitionserfolg). Hierauf deutet auch die relativ ungünstige Beschäftigungsentwicklung bei den Unternehmen mit einfließenden Direktinvestitionen, die im Durchschnitt sehr viel kleiner sind. Daß zwischen Direktinvestitionen und Beschäftigung vielfach nur ein mittelbarer Zusammenhang besteht, soll keineswegs bestritten werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß etwa die Unternehmensgröße ihrerseits von Markterweiterungen abhängt, für deren Realisierung in vielen Fällen Direktinvestitionen notwendig sind.28 Gegen die dargestellte Dominanz der Absatzmotive bei ausfließenden Direktinvestitionen (Abschnitt 5) läßt sich der Vorbehalt geltend machen, daß die Zeitpfadabhängigkeit der Verwendung von Direktinvestitionsvermögen nicht hinreichend beachtet worden ist. In der Tat spielen Kostenaspekte in der genaueren Beschreibung einzelner Projekte eine verhältnismäßig große Rolle, obwohl kaum ein Unternehmen Kostensenkungen als primäres Investitionsmotiv angegeben hat. Nachdem in der Entscheidung fur den Aufbau oder die Übernahme eines Produktionsstandorts im Ausland Absatzmotive ausschlaggebend gewesen waren, traten in einigen Konzernen bei späteren Umstrukturierungen Kostenaspekte der Nutzung vorhandener Kapazitäten in den Vordergrund. Somit sind kostenbedingte Arbeitsplatzexporte in der Motivanalyse wahrscheinlich etwas unterbelichtet worden. Selbst wenn ein negativer Nettobeschäftigungseffekt von Direktinvestitionen nicht feststellbar ist, kann nicht ausgeschlossen werden, daß Direktinvestitionen als Disziplinierungsinstrument zur Einsparung von Arbeitsplätzen beitragen. Schließlich ist der große Beschäftigungseinbruch in den 90er Jahren ein Indiz für Kostensenkungen, die in vielen Fällen durch Rationalisierungen und flexiblere Lohn- und Arbeitszeitregelungen erreicht wurden, bei denen für die Belegschaften die Drohung einer Produktionsverlagerung in das Ausland im Hintergrund stand. In der Wahl der Unternehmen zwischen verschiedenen Kombinationen von Rationalisierung, Flexibilisierung und Internationalisierung der Produktion könnte man somit einen Teil der negativen Beschäftigungseffekte der Standortstärkung indirekt den Direktinvestitionen zuschreiben.
28
Zur ungünstigen Beschäftigungsentwicklung bei den Unternehmen mit einfließenden Direktinvestitionen (Abb.4) ist im übrigen anzumerken, daß die stark negativen Ausschläge ab 1992 fast vollständig durch die Entwicklung in einem einzigen Großunternehmen zu erklären sind. Der Stellenabbau im betreffenden Tochterunternehmen eines internationalen Büromaschinenherstellers war das Resultat einer Rentabilitätskrise und weltweiten 'Gesundschrumpfung' des Mutterkonzerns.
Beschäftigungswirkungen von Direktinvestitionen
289
Hieran könnte sich zu guter Letzt der Vorbehalt anschließen, daß die Metall- und Elektroindustrie im Raum Stuttgart für die temporären und anhaltenden Standortprobleme der deutschen Wirtschaft nicht repräsentativ sei. In anderen Sektoren und Regionen muß möglicherweise von größeren Beschäftigungsrisiken der Direktinvestitionstätigkeit ausgegangen werden. Die vorliegende Studie kann derartige Vermutungen nicht direkt widerlegen. Doch sie zeigt, daß regionale, sektorale und qualifikationsbezogene Differenzierungen in der Beurteilung von Direktinvestitionen notwendig sind. Zudem bestätigt sie die vieldiskutierte Beobachtung, daß Arbeitsplätze mit niedrigem Qualifikationsprofil am stärksten von Produktionsverlagerungen in das Ausland betroffen sind. Insgesamt aber deuten ihre Ergebnisse darauf hin, daß der Stellenabbau der frühen 90er Jahre weniger durch Direktinvestionen bedingt war als durch eine Kombination von konjunkturellen Nachfrageeinbrüchen und technischem Fortschritt. Entsprechend der "Absatzhypothese" können Prozesse der Internationalisierung und der regionalen Spezialisierung auf Entwicklungs- und Fertigungsstufen, die höhere Qualifikationen und Produktivitätsniveaus erfordern, kompensatorisch wirken und zur langfristigen Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen. 29 Bei allen Vorbehalten und einiger Vorsicht läßt sich aus der vorliegenden Studie also das Fazit ziehen, daß die Internationalisierung der Produktion an sich keine Bedrohung für die Arbeitsplätze im Kern der deutschen Exportindustrien darstellt.
29
Damit sind die Probleme der Freisetzung von gering qualifizierten Arbeitnehmern im Globalisierungsprozeß natürlich noch nicht gelöst; siehe hierzu beispielsweise Lindlar/Trabold (1998).
290
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Das Zentrale-Orte-Konzept. Einige theoretische und empirische Anmerkungen Joachim Genosko
1
Einführung
Das Zentrale-Orte-Konzept (ZOK) ist in den 50er und vor allem in den 60er Jahren zu einem wichtigen Baustein von Raumordnungskonzepten und zu einem der bedeutendsten Instrumente der Landes- und Regionalplanung geworden1. So hat die Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) 1968 eine Entschließung zu den zentralen Orten und ihren Verflechtungsbereichen verabschiedet, die bis heute Gültigkeit besitzt2. In dieser Entschließung wird eine vierfache Stufüng der zentralen Orte in Ober-, Mittel-, Unter- und Kleinzentren empfohlen. Dabei sollen die "Versorgungskerne ... soziale, kulturelle und wirtschaftliche Einrichtungen besitzen, die über die eigenen Einwohner hinaus die Bevölkerung des Verflechtungsbereiches versorgen. Jedes höhere Zentrum hat zugleich auch die Aufgaben der zentralen Orte niedrigerer Stufe". Den Unter- und Kleinzentren kommt dabei die Aufgabe der Grundversorgung zu, während die Mittelzentren einen "gehobenen Bedarf' und die Oberzentren einen "spezialisierten höheren Bedarf' decken sollen3. Dieser Stufung der zentralen Orte entspricht eine Hierarchisierung der Verflechtungsbereiche in Ober-, Mittel- und Nahbereiche, wobei letztere den Unter- und Kleinzentren zugeordnet sind4. In einer Reihe weiterer Entschließungen hat die MKRO in 1972 die besondere Bedeutung der Mittelzentren und der Mittelbereiche für die Versorgung der Bevölkerung betont und zugleich einen Katalog entwickelt, welche Ausstattung der Mittelzentren anzustreben sei. In 1983 widmet sich eine ergänzende Entschließung der MKRO der Ausweisung von Oberzentren und der Abgrenzung von Oberbereichen sowie einem Katalog typischer oberzentraler Einrichtungen. Sowohl in den Entschließungen zu den Mittelzentren wie auch in der Entschließung zu den Oberzentren wird Rekurs genommen auf Empfehlungen des Beirats für Raumordnung, der auf die Bedeutung der Zentralen Orte als Standorte für Gewerbe und Industrie hinweist. Die MKRO geht damit über die reine Versorgungsfünktion zentraler Orte hinaus, die noch 1968 ihre Entschließung geprägt hat und rückt jetzt die Rolle der Mittel- und
1 2 5 4
Blotevogel (1995), S. 1121. Michel (1995), S. 216. MKRO (1968), S. 7 ff. Blotevogel (1995), S. 1121.
294
Zentrale-Orte-Konzept
Oberzentren als Zentren regionaler Arbeitsmärkte und als Standorte höher- und hochwertiger Infrastruktur in das Blickfeld5. Eine durchaus gewichtige Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das Konzept der "ausgeglichenen Funktionsräume" 6 , welches davon ausgeht, dass der Mensch in seiner Wohnregion alle wichtigen Lebensbedingungen (Wohnen, Arbeiten, Erholen) in erreichbarer Entfernung und in einem Mindestumfang vorfindet 7 . Das eben in seinem Kern und mit einigen Erweiterungen skizzierte ZOK ist in jüngster Zeit wieder in die Diskussion geraten. Die Gründe hierfür sind mehrfacher Natur und reichen von der mehr oder minder nachdrücklichen Umsetzung dieses Konzeptes in den neuen Bundesländern bis hin zu den neuen wirtschaftlichen Herausforderungen an die Regionen, wie sie sich unter die Stichworte "Globalisierung" und "Standortwettbewerb" subsumieren lassen. Blotevogel8 hat fünf Argumente gegen das ZOK zusammengetragen: -
Zum ersten wird argumentiert, dass ZOK sei in der Praxis wirkungslos geblieben. Die tatsächlichen Planungen seien durch das ZOK so gut wie gar nicht beeinflusst worden.
-
Zweitens habe die mit dem ZOK verbundene Zentralisierung der Infrastruktur die nicht-zentralen Orte im ländlichen Raum veröden lassen.
-
Drittens sei gerade heute ein hierarchisches Zentrale-Orte-System obsolet geworden. Vielmehr sei die heutige Epoche des "Postfordismus" durch eine "flexible Spezialisierung" gekennzeichnet. An die Stelle der Hierarchie trete die Kooperation zwischen funktional spezialisierten Städten und Gemeinden.
-
Das ZOK sei starr und behindere deshalb die heute notwendige Flexibilität der Landes- und Regionalplanung. Die Landes- und Regionalplanungsbehörden haben nicht mehr traditionelle Planungsaufgaben zu erfüllen, sondern regionale Entwicklungsprozesse flexibel zu moderieren und konkrete Projekte zu managen.
-
Schließlich sei das ZOK aus wirtschaftspolitischer Sicht nicht nur sinnlos, sondern sogar hinderlich, denn das Konzept ziele letztlich auf eine Investitionslenkung ab. Eine Investitionslenkung beeinflusse aber die privatwirt-
s 6 1 8
Blotevogel (1995), S. 1122. Marx (1975). Brösse (1995), S. 745. Blotevogel (1996), S. 647 f.
Zentrale-Orte-Konzept
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schaftliche Investitionstätigkeit nachteilig und mindere die Allokationseffizienz. Vor dem Hintergrund dieser Einwände hat die Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) einen Ad hoc-Arbeitskreis zur Fortentwicklung des ZOK eingerichtet, der der MKRO wissenschaftliche Beratungshilfe leistet. Die Arbeitshypothese des Arbeitskreises lautet dabei, dass das ZOK zwar aufrechterhalten, aber zugleich modifiziert und weiterentwickelt werden soll. Der vorliegende Beitrag will holzschnittartig einige Überlegungen nachzeichnen, die bei den Beratungen des Arbeitskreises, dessen Arbeit noch nicht abgeschlossen ist, bislang von Relevanz waren. Zu diesem Zweck soll im nächsten Abschnitt zunächst die Zentrale-Orte-Theorie nach Christaller und Lösch dargestellt werden. Daran anschließend wird der Frage nachgegangen, wie das ZOK der deutschen Landes- und Raumplanung in der Realität aussieht bzw. wie es in der Praxis umgesetzt wird. Im vierten Abschnitt sollen zwei Argumente fur eine Neufundierung des ZOK beleuchtet werden. Im fünften Abschnitt wird geprüft, ob eine neue Definition des "Zentrale-OrteBegriffes" erforderlich ist. Der Beitrag endet mit dem üblichen Fazit und kurzen Ausblick.
2
Zur Theorie Zentraler Orte
2.1
Das Grundkonzept der Zentralen-Orte-Theorie
Mit ihren Veröffentlichungen "Die zentralen Orte in Süddeutschland" und "Die räumliche Ordnung der Wirtschaft" haben Christaller und Lösch 9 die Fundamente für die klassische Zentrale-Orte-Theorie gelegt10. Nach Christaller besteht die primäre Funktion der Stadt in der Versorgung ihres Hinterlandes (ihrer komplementären Region) mit (zentralen) Gütern und Dienstleistungen, die von Einzelhandelsgütern über Bankangebote bis zu Bildungs- und Freizeiteinrichtungen reichen können. Diese Dienstleistungen können in eine Rangordnung gebracht werden, aus der sich wiederum eine Hierarchie der Städte oder Zentren herleiten lässt". Christaller entwickelt dabei das Ergebnis seiner Theorie unter den folgenden wesentlichen Prämissen: Die Produzenten handeln als Gewinnmaximierer,
9
Christaller (1933); Lösch (1940). South, Boots (1999), S. 157f. " Richardson (1969), S. 157.
10
296
Zentrale-Orte-Konzept
die Konsumenten als Nutzenmaximierer. Topographisch handelt es sich um eine Ebene, die homogen in Bezug auf die Verfügbarkeit der Produktionsfaktoren ist. Hinsichtlich der Produktionsfaktoren wie der Vorprodukte haben wir es also mit Ubiquitäten zu tun. Ebenso sind Bevölkerung und Nachfrage gleichmäßig über den planen Raum verteilt12. Es gibt nun zwei Schlüsselkonzepte, die dafür verantwortlich sind, warum Güter und Dienste zentral angeboten werden: die kritische Nachfrageschwelle und die Reichweite eines Gutes. Die kritische Nachfrageschwelle (auch untere Grenze der Reichweite genannt) ist definiert als die Mindestnachfrage, die notwendig ist, damit ein Gut bzw. eine Dienstleistung überhaupt angeboten wird. Bei der Produktion von Gütern entstehen nämlich in der Regel Fixkosten, die erst bei einem gewissen Mindestabsatz gedeckt werden können. Die kritische Nachfrageschwelle soll des weiteren den Anbietern einen "normalen" Gewinn sichern. Die Reichweite i.e.S. (oder auch obere Grenze der Reichweite) ergibt sich daraus, dass die Konsumenten den Güterpreis einschließlich der Transportkosten zwischen dem zentralen Produktionsstandort und ihren Wohnstandorten zu tragen haben. Überschreitet diese Geldsumme einen gewissen Betrag, dann fällt die Nachfrage nach einem Gut (in der theoretischen Betrachtungsweise) augenblicklich auf Null. 2.2
Eine ökonomische Rekonstruktion der Theorie der Zentralen Orte
Christaller leitet mit seinen Überlegungen, wie oben erwähnt, eine Rangordnung der zentralen Orte ab, bei der die Standorte der Güter und Dienste mit der höchsten kritischen Nachfrageschwelle und der größten Reichweite an der Spitze stehen, die Standorte der Güter und Dienste mit der niedrigsten kritischen Nachfrageschwelle und der kürzesten Reichweite das Ende bilden. Lösch ergänzt die Christallerschen Darlegungen um die Form der Marktgebiete bzw. der Verflechtungsräume, die durch die jeweiligen zentralen Orte bedient werden. Im Zentrum seiner Überlegungen steht der sogenannte Löschsche Nachfragekegel 13 , der unter einer Reihe von vereinfachenden Annahmen, die weitgehend mit denen Christaliers identisch sind, kreisförmige Marktgebiete für die Produzenten bzw. ihre Standorte impliziert14. Ökonomisch betrachtet, bedeutet dies zweierlei: Zum einen existiert monopolistischer Wettbewerb, d.h. die Anbieter können innerhalb ihres Marktgebietes so agieren, als ob sie Monopolisten wären. Dies heißt allerdings nicht, dass sie völlig "willkürlich" ihre Preise setzen können, weil auch Monopo-
12 13 14
Maier/Tödtling (1995), S. 145 und 56. Richardson (1969), S. 69f. ebenda, S. 157ff.
Zentrale-Orte-Konzept
297
listen in ihrer Preissetzung von den eigenen Produktionskosten und von der Preiselastizität der Nachfrage abhängig sind. Zum anderen bedeuten kreisförmige Marktgebiete, dass es innerhalb eines Raumes Nischen mit Nachfragern gibt, die von den existierenden Anbietern nicht versorgt werden. Solche Nischen können insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen besetzt werden, was zu einer allmählichen Transformation der kreisförmigen zu hexagonalen Marktgebieten mit der bekannten Bienenwaben-Struktur fuhrt. Diese Marktgebiete können sich überlagern, wenn mehrere Güter (Waren und Dienste) angeboten werden15. Marktmorphologisch heißt dies, die monopolistische oder oligopolistische Konkurrenzsituation (ein bzw. wenige Anbieter, viele Nachfrager) wird durch die Situation des vollkommenen Wettbewerbs (viele Anbieter, viele Nachfrager) abgelöst. Betrachtet man das entlang der Versorgungsfunktion von Gemeinden und der Marktgebiete respektive des Marktmechanismus entworfene Zentrale-OrteSystem, so handelt es sich mit Blick auf die paretianische Wohlfahrtsökonomik um ein effizientes System. Das "ideale" Christaller/Lösch-System lässt sich nicht weiter "verbessern" in dem Sinne, dass eine andere räumliche Verteilung der zentralen Güter- und ihrer Orte, den Gewinn der Produzenten und den Nutzen der Konsumenten zusätzlich erhöhen könnte16. Zwar könnte eine Umgestaltung des Christaller/Lösch-Systems die ökonomische Situation einiger Akteure verbessern, dies aber nur zu Lasten und auf Kosten einer Verschlechterung der Situation anderer. Damit ist aber theoretisch eine Pareto-Verbesserung nicht mehr herleitbar, da uns nur ordinale, nicht aber kardinale Nutzenvergleiche möglich sind. Summarisch ausgedrückt, spiegelt das "ideale" Zentrale-Orte-System nach Christaller und Lösch das "first best"-Optimum wider. In der Realität wird man jedoch das "first best"-Optimum (Pareto-Optimum ohne Restriktionen) nicht erreichen, weil die obigen Annahmen des Christaller/LöschKonzepts empirisch nicht haltbar sind. Vielmehr wird man bestenfalls ein "second best"-Optimum (Pareto-Optimum mit Restriktionen) erreichen17. So wird das idealtypische Zentrale-Orte-System durch die Struktur der Transportnetze beeinflusst bzw. "verzerrt". Zentrale Orte können auch im Gefolge von Verwaltungsfunktionen entstehen, die nach anderen Prinzipien im Raum alloziiert werden als markt-
15 16
17
Maier/Tödtling (1995), S. 147ff. Diese Aussage gilt zumindest unter den Christaller-Lösch-Annahmen. Modifiziert man z.B. die Annahmen über die Präferenzen der Konsumenten, dann können sich Abweichungen von der regelmäßigen Hexagon-Struktur ergeben (South/Boots 1999, 169f.), die auch zu einer Pareto-Verbesserung fuhren. Tisdell (1972), S. 299ff.
298
Zentrale-Orte-Konzept
gängige Güter und Ressourcen. Ähnliches lässt sich auch aus Unterschieden in der wirtschaftlichen Entwicklung, in den Einkommensniveaus und Präferenzen sowie im Grad der Urbanisierung herleiten 18 . Insgesamt bedeutet dies aber noch keine Abkehr vom Grundsatz der Pareto-Effizienz, sondern lediglich eine Verschiebung vom "first best"- hin zum "second best"-Optimum.
3
Das Zentrale-Orte-Konzept der Raumplanung und Raumordnungspolitik19
3.1
Das ZOK in der praktischen Implementierung
Wie bereits eingangs ausgeführt, ist das ZOK seit Anfang an wesentlicher Bestandteil der Raumplanung und -Ordnung in Deutschland. Und trotz der zunehmenden Kritik an der landes- und regionalplanerischen Praxis der Ausweisung der zentralen Orte hat sich daran bis heute nichts geändert. Die zentralen Orte bzw. das Z O K sind weiterhin fest in den Gesetzen und Programmen der überörtlichen Raumplanung verankert. Auch das neue Raumordnungsgesetz (ROG) des Bundes spricht in § 2 explizit von einer Ausrichtung der Siedlungstätigkeit "auf ein System leistungsfähiger Zentraler Orte" und in § 7, Absatz 2 wird die Ausweisung von Zentralen Orten als ein Punkt genannt, der Gegenstand der von den Ländern zu erstellenden Raumordnungspläne zu sein hat. Allerdings zeigt eine jüngste Untersuchung auch, dass das ZOK in den verschiedenen Bundesländern durchaus unterschiedlich gehandhabt wird20. Dies beginnt mit der verwendeten Stufigkeit, für die in manchen Bundesländern statt der von der M K R O in 1968 vorgeschlagenen Vierstufigkeit nur eine Dreistufigkeit angesetzt wird, während in anderem Bundesländern Sonderformen eingeführt werden wie "Mögliche Oberzentren" oder "Mögliche Mittelzentren" oder "Mittelzentren mit Teilfunktionen eines Oberzentrums" usw., wodurch die ursprüngliche Vierstufigkeit deutlich erweitert wird. "Es wird offensichtlich in vielfaltiger Weise versucht, die verhältnismäßig starre Vorgabe der M K R O zur Stufigkeit des ZOS zu umgehen. Mit der Ausgestaltung des ZOS wurde versucht, den unterschiedli-
18 19 20
Richardson (1969), S. 159. Zu den folgenden Ausführungen vgl. Blotevogel (1999), S. 1 Iff. Stiens/Pick (1999).
Zentrale-Orte-Konzept
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chen geographischen Gegebenheiten in den einzelnen Bundesländern und den verschiedenen politischen Akzentuierungen Rechnung zu tragen"21. Ein anderer Punkt, der über die Bundesländer "streut", sind die Ausstattungskataloge für die zentralen Orte. Es gibt Bundesländer, in denen Mindestausstattungen verbindlich vorgeschrieben werden, in anderen Bundesländern hingegen werden Ausstattungskataloge entweder lediglich als eine "Orientierungsfunktion längerfristiger Natur" oder als gänzlich unverbindlich gesehen. Ähnliches gilt für die Einwohnermindestzahlen in den Verflechtungsbereichen der Zentralen Orte, die entweder völlig fehlen oder doch relativ stark schwanken22. Von besonderer Relevanz im Kontext dieses Beitrages ist die Frage, welche Stellung das ZOS als empirisches Steuerungsinstrument einnimmt. Dabei lässt sich feststellen, dass das ZOS in fast allen Ländern zur Steuerung der Vorhaben des großflächigen Einzelhandels und zur Steuerung in der Struktur- und Standortpolitik eingesetzt wird. Überwiegend entfaltet das ZOS eine steuernde Wirkung bei Maßnahmen der Siedlungsentwicklung, bei der Ausgestaltung des kommunalen Finanzausgleichs, bei der Steuerung des Fördermittel-Einsatzes und bei der Gemeindegebietsreform. Eher selten findet das ZOS als Steuerungsinstrument Verwendung bei Behördenverlagerungen und Konversionsmaßnahmen, bei Marktdurchdringungsstrategien, bei der Aufstellung von Stadtentwicklungskonzepten, bei der Unterbringung ausländischer Arbeiter oder Aussiedler oder bei Maßnahmen des Sozialen Wohnungsbaus23. "Insgesamt sind die deutschen Bundesländer fur die Beibehaltung des ZentraleOrte-Konzepts in der Form eines integrierten Bestandteils des Systems landesund regionalplanerischer Ziele und Instrumente. Doch werden Innovationen und eine Flexibilisierung der Anwendung in jedem Fall als Erfordernis angesehen"24. 3.2
Politik und Zentrale-Orte-System (ZOS): Ein Exkurs
Wie Stiens und Pick andeuten, wollen die Bundesländer mit dem ZOS auch politische Akzentuierungen setzen. Damit wird aber dem politischen "Opportunismus" bei der Auswahl und Einstufung der Kommunen als zentrale Orte die Tür geöffnet. Zu diesem Sachverhalt sollen exkursorisch einige Anmerkungen eingefugt werden.
21 22 23 24
ebenda, ebenda, ebenda, ebenda,
S. 4. S.4f. S. 7. S. 18.
Zentrale-Orte-Konzept
300
Aus den Ausfuhrungen in Abschnitt 2.2 lässt sich prima facie folgern, die raumordnerisch agierenden Politiker wählen das Christaller/Lösch-Konzept als ihre das Optimum darstellende Zielfunktion. Die Raumplaner unterstützen sie mit ihren Instrumenten, was zu einer Ziel-Mittel-Konstruktion fuhrt, wie sie wohl den Vorstellungen Max Webers entspräche. In der politischen Realität dürfte sich dieser Sachverhalt jedoch etwas anders darstellen. Im Politikprozess der Raumplanung werden im Rahmen der Entwicklungsprogramme der Länder die Orte unterschiedlicher Zentralität festgelegt. Von den Planungsbehörden wird dazu (bei idealtypischer Betrachtung) ein Entwurf nach objektiven Kriterien entwickelt, der in den Regional verbänden und -beiräten und mit den Fachbehörden diskutiert und versehen mit den Einwendungen und Anregungen der Landespolitik zur endgültigen Beschlussfassung vorgelegt wird. Der geschilderte Prozess, der teils parallel, teils konsekutiv abläuft, lässt sich als Prinzipal-Agenten Problem rekonstruieren, mit den Stimmbürgern als Prinzipalen und den Politikern als Agenten. Dadurch bleibt in einem solchen Prozess Platz fur opportunistisches Verhalten bzw. Handeln, welches definiert ist als "...selfinterest seeking with guile ..."2S. Warum können Teilnehmer am Prozess der "Nominierung" zentraler Orte eigennützig, also opportunistisch aus der Sicht der Prinzipal-Agenten-Beziehung, handeln? Eine mögliche Antwort hierfür bietet die "Neue Politische Ökonomie (NPÖ)"26. Die NPÖ geht davon aus, dass sich Politik auf einem politischen Markt vollzieht, auf dem die Politiker als stimmenmaximierende politische Unternehmer und die Wähler als nutzenmaximierende Stimmbürger agieren. Die Politiker unterbreiten den Wählern in Form von Programmen und/oder Einzelvorhaben politische Angebote. Die Wähler werden ihre Stimmen an das Angebot vergeben, das ceteris paribus ihren Bedürfhissen am besten gerecht wird und folglich ihren Nutzen optimiert. Vor dem eben skizzierten theoretischen Hintergrund lässt sich die Einstufung als Zentraler Ort bzw. die Einordnung in eine bestimmte Zentralitätsstufe als nutzenstiftender Akt interpretieren. Ein zentraler Ort zu sein, bedeutet zunächst für jede Gemeinde einen Imagegewinn. Zugleich handelt es sich um eine Art "Signal", das potenziellen Zuwanderern (Betriebe, Migranten) anzeigt, über welches Versorgungsniveau ein bestimmter Ort vermutlich verfügt.
25 26
Williamson (1985), S. 64. Schumpeter ( 1943), Downs ( 1968).
Zentrale-Orte-Konzept
301
Daneben ist die Aufnahme in das ZOS mit "handfesten" materiellen Vorteilen verbunden, die mit dem kommunalen Finanzausgleich beginnen27 und mit der bevorzugten Behandlung bei der Standort- und (regionalen wie sektoralen) Strukturpolitik enden28. Aufgrund dieser Ausfuhrungen überrascht es daher nicht, wenn Politiker auf der kommunalen wie auf der Landesebene versuchen, "ihre" Orte, sozusagen an objektiven Kriterien vorbei, in das ZOS zu "drücken", weil sie sich davon Stimmengewinne erhoffen. Aus der Theorie des "politischen Opportunismus" lässt sich demnach folgendes Fazit ziehen: Während die Raumplaner sich in ihrem Selbstverständnis einer optimalen (effizienten) Ordnung des Raumes verpflichtet fühlen, instrumentalisieren Politiker opportunistisch die Raumordnung für eigennützige Zwecke. Dass es sich hier nicht nur um theoretische "Gedankenspiele" handelt, wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Empirie wirft. Aus der Handhabung des ZOS in den Bundesländern lässt sich eine Art Kontinuum herauslesen, an dessen beiden Polen die Bundesländer Bayern und Schleswig-Holstein angesiedelt sind29. So wird für Bayern u.a. darauf hingewiesen, dass es neben der vierstufigen Gliederung in Ober-, Mittel, Unter- und Kleinzentren auch die "Zwischen- oder Sonderformen" der Möglichen Oberzentren und der Möglichen Mittelzentren gibt. Allein die Fortschreibung 1994 des Landesentwicklungsprogrammes (LEP) hat dazu geführt, dass in Bayern 16 neue Oberzentren ausgewiesen wurden. Und in der jetzt anstehenden Fortschreibung scheint man, überspitzt formuliert, dem Grundsatz zu folgen, "jeder Planungsregion ihr Oberzentrum". Es soll keineswegs bestritten werden, dass eine derartige Inflationierung von Ober- und Mittelzentren auch eine gewisse "Zukunftsfähigkeit" der zentralen Landes- und Raumplanung widerspiegelt. Gleichwohl ist ein "opportunistisches Verhalten" der Politik eher naheliegend, weil eine Einstufung als Ober- oder Mittelzentrum die angedeuteten materiellen Vorteile bringt. Oberzentren werden heute in Bayern bei der Struktur- und Standortpolitik bevorzugt, wenn man an die diversen "Zukunftsoffensiven" denkt (beispielsweise die Errichtung von Gründer- und Technologietransferzentren). Mittelzentren im ländlichen Raum, aber auch Oberzentren außerhalb der "klassischen" bayerischen Großstädte werden mit Behördenverlagerungen bedacht, sind zu IC-Haltebahnhöfen aufgestiegen oder werden als zukünftige ICE-Haltepunkte vorgesehen.
27 28 29
Hahne/von Rohr ( 1999), S. 131 ff. Stiens/Pick (1999), S. 7. Stiens/Pick (1998).
302
Zentrale-Orte-Konzept
Eine neuere empirische Untersuchung fur Bayern, die auf dem Christallerschen Zentralitätsmodell basiert, untermauert in gewisser Weise diese Interpretation30. Nach dieser Untersuchung sind acht Oberzentren auf Mögliche Oberzentren abzustufen, ein Mögliches Oberzentrum sogar zu einem Mittelzentrum sowie 12 Mittelzentren zu Möglichen Mittelzentren und 41 Mögliche Mittelzentren zu Unterzentren. Auf der anderen Seite handhabt, wie erwähnt, Schleswig-Holstein das ZOS sehr restriktiv31. Unter Berücksichtigung von "governance"-Überlegungen kann auch ein solcher Umgang mit dem ZOS als opportunistisch interpretiert werden, weil dadurch der Landespolitik ein eigennütziger Handlungs- und Steuerungsspielraum zu Lasten der Kommunen eingeräumt wird. Zwar spielen hier Ausstattungskriterien keine Rolle mehr, aber der Durchgriff der Zentrale auf die Gemeinden wird erleichtert und so der Landespolitik die Möglichkeit eröffnet, eigene Interessen durchzusetzen. Sind, wie oben festgestellt, Bayern und Schleswig-Holstein die Pole eines Kontinuums des Umgangs mit dem ZOS, dann liegt die Vermutung nahe, in den anderen Bundesländern unterliege das ZOS ebenso einer mehr oder minder opportunistischen "Manipulation". 3.3
Zentrale-Orte-Theorie versus Zentrale-Orte-Konzept
Wie die Ausführungen über die Zentrale-Orte-Theorie illustrieren, steht bei ihr die Versorgungsfunktion mit Einzelhandelsgütern und haushaltsorientierten Dienstleistungen der zentralen Orte gegenüber ihren Verflechtungsbereichen (Marktgebieten) im Mittelpunkt. Zwar haben Christaller und Lösch ihre Ansätze durchaus normativ verstanden dergestalt, dass es Aufgabe des Staates bzw. der Planer ist, falls Marktversagen existiert, das Christaller/Lösch-Idealmodell durch geeignete Maßnahmen in die Realität umzusetzen. Gleichwohl stehen jedoch die restriktiven Annahmen wie der statische Charakter der Theorie einer unmittelbaren Übertragbarkeit auf den realen Raum entgegen. Zudem haben sich der regionalökonomische Theorie-Kontext und der raumordnungspolitische Kontext auseinanderentwickelt, so dass der Begriff "Zentraler Ort" in beiden Kontexten nicht mehr dieselbe Semantik besitzt32.
30 31 32
Genosko/Schm idt ( 1997). Hahne/von Rohr (1999). Blotevogel (1995), S. 1120ff.
Zentrale-Orte-Konzept
303
Dem oben abgegrenzten Zentrale-Orte-Begriff der Theorie steht der "Zentrale Ort" im ZOK gegenüber. Letzterer unterscheidet sich von ersterem dadurch, -
dass Zentrale Orte im ZOK üblicherweise mit ganzen Gemeinden gleichgesetzt werden,
-
dass zusätzliche Aspekte, wie weite Bereiche der öffentlichen Infrastruktur und häufig auch die Arbeitsmarktfunktion (und damit indirekt der gesamte gewerbliche Sektor), in das Spektrum der zentralen Orte einbezogen werden sowie
-
dass Zentrale Orte mit raumplanerischen Zielen belegt werden, wobei die ursprünglich allein berücksichtigte Versorgungsfunktion um die Entwicklungsfunktion erweitert wurde.
Werden der theoretische und der raumordnerische Zentrale-Orte-Begriff nicht präziser gefasst, so droht bei zunehmender Abkoppelung des raumordnungspolitischen Zentrale-Orte-Begriffs von seiner Theorie-Grundlage eine inhaltliche Begriffsentleerung, die den "Zentralen Ort" dann nur noch als eine Gemeinde hinsichtlich ihrer allgemeinen raumplanerischen Funktion versteht 33 .
4
Eine "neue" Fundierung des Zentrale-Orte-Konzepts
4.1
Nachhaltigkeit
Spätestens seit der Rio-Konferenz von 1992 und im Gefolge der dort verabschiedeten Agenda 21 ist die "nachhaltige Entwicklung" zum Gegenstand einer breiten ökonomischen und ökologischen Diskussion geworden. Die zentrale Crux dieses Diskurses besteht darin, dass weitgehend unklar ist, was mit "nachhaltiger Entwicklung" eigentlich konkret gemeint ist. Ursprünglich stammt der Begriff der "Nachhaltigkeit" aus der deutschen Forstwirtschaft. "Er kennzeichnet dabei eine Art der Waldbewirtschaftung, bei der die Produktionskraft des Waldes oder des Waldstandortes und die jeweilige Holzernte so miteinander in Einklang gebracht werden, dass langfristig ein möglichst hoher
33
Zu den bisherigen Ausführungen vgl. Blotevogel (1999), S. 13ff.
Zentrale-Orte-Konzept
304
Holzertrag gewährleistet ist, Boden und Standort jedoch nicht beeinträchtigt werden"34. Nachdem insbesondere die empirische Untersuchung über die Handhabung des ZOK in den deutschen Bundesländern35, die oben formulierte Kritik am ZOK, aber auch die Gegenüberstellung des Zentrale-Orte-Begriffs von Theorie und praktischer Raumplanung gezeigt haben, dass das ZOK nicht ohne weiteres generell akzeptiert bzw. als "basic" der Raumordnung und -planung angesehen wird, stellt sich die Frage, ob der "Nachhaltigkeits-Begriff ' bzw. die "nachhaltige Entwicklung" einen Beitrag zur "Rettung" des ZOK leisten können. In diesem Kontext ist festzuhalten, dass "Nachhaltigkeit" und "nachhaltige Entwicklung" sowohl durch die Brundtland-Kommission, wie durch die oben erwähnte Agenda 21 zunächst vor dem Hintergrund einer globalen Umweltpolitik "definiert" worden sind. Angesichts der zunehmenden Belastung und Verschmutzung der Umwelt und zugleich einer wachsenden Verknappung der Ressourcen verlangen die Brundtland-Kommission wie die Agenda 21 eine Strategie, die die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Einklang mit der Erhaltung der Umwelt bringt36. Setzt man für unsere Zwecke "Nachhaltigkeit" der Einfachheit halber mit der "Erhaltung der Umwelt" gleich, dann lässt sich in der Tat das ZOK u.a. damit begründen. Das dem ZOK zugrundeliegende Modell zielt nämlich auf eine Siedlungsstruktur ab, die das Ziel der Versorgungsoptimierung verfolgt, wobei Versorgungsoptimierung auf eine Minimierung von Versorgungsfahrten hinausläuft. Anders ausgedrückt, ein Ziel des ZOK ist es, verkehrsvermeidende Siedlungsstrukturkonzepte zu schaffen37. "Gehärtet" wird dieses Argument noch dadurch, dass das raumordnerische ZOK auch eine Siedlungsstruktur anstrebt, welche Wohn- und Arbeitsstandorte miteinander verknüpft, d.h. "ausgeglichene Funktionsräume" schaffen will. Berücksichtigt man zusätzlich eine möglicherweise damit einhergehende geeignete öffentliche Infrastruktur-Ausstattung, dann spricht in der Tat einiges dafür, dass das ZOK dazu beitragen kann, "Nachhaltigkeit" im Sinne einer ökologisch orientierten Raumplanung zu fördern. Allerdings sollte nicht unterschlagen werden, dass eine nachhaltige regionale Wirtschaft, die auf die regionalen Ressourcen und ihre Nutzbarkeit abgestimmt sein muss, zu einem Konflikt zwischen der Versorgungs- und der Entwicklungsfunktion zentraler Orte führen kann38. Dies kann deswegen der Fall sein, weil eine 34 35 36 37 38
Haber (1995), S. 658. Stiens/Pick (1999). Haber (1995), S. 659. Blotevogel (1995), S. 1123. Haber (1995), S. 659.
Zentrale-Orte-Konzept
305
nachhaltige Versorgungsoptimierung nicht notwendigerweise eine nachhaltige Entwicklungsoptimierung zur Folge haben muss. 4.2
Stadtplanerische Aspekte
Die Innenstädte in Deutschland weisen, wie übrigens auch in anderen entwickelten Ländern, erhebliche Probleme auf. Sie werden zum einen durch innerstädtische Nebenzentren, zum anderen durch Fachmärkte und Einkaufszentren auf der "grünen Wiese" bedrängt. Außerdem verlieren die Innenstädte durch die zunehmende Filialisierung ihr je spezifisches Gesicht und werden immer ähnlicher. Schließlich gleichen sich die Angebote in den Subzentren denen der Innenstädte an und werden Innenstädte auf der "grünen Wiese" nachgebaut, indem die "Funktionskomplexe" der Innenstädte dupliziert werden39. Die eben beschriebenen Entwicklungen gefährden die Innenstädte und letztlich auch eine "gesunde" Stadtentwicklung. An die Stelle der "kompakten" Stadt tritt der Typus des zersiedelten "städtischen Raumes" mit all seinen negativen Externalitäten. Eine Rückbesinnung auf das ZOK könnte nun der Stadt- und der Stadtentwicklungsplanung neue Chancen einräumen. Wird dem "Zentralen Ort" bzw. dem ZOK bei der Raumplanung bzw. ihrer Umsetzung wieder ein höheres Gewicht eingeräumt, dann kann daraus zugleich ein "Anspruch" auf die Revitalisierung der Innenstädte abgeleitet werden, die folglich ihrer "alten" Funktion, nämlich Agglomerations- und Urbanisationsvorteile anzubieten, wieder besser gerecht werden könnten. Dies macht allerdings, wie im folgenden noch zu erläutern sein wird, vermutlich eine Neudefinition des Zentrale-Orte-Begriffes notwendig. Gleichzeitig bedarf es dazu neuer Instrumente der Landes- und Regionalplanung wie beispielsweise des landesplanerischen Vertrages, mit dem die Funktionszuordnung zwischen zentralen Orten gleicher und unterschiedlicher Hierarchiestufen präzisiert wird und mit dem die beteiligten Kommunen eine Selbstverpflichtung hinsichtlich der zu übernehmenden Aufgaben, aber auch hinsichtlich der zu betreibenden Stadtplanung eingehen40.
39 40
Friedrichs (1996), S.402f. Dittmeier (2000), S. 3.
306
5
Zentrale-Orte-Konzept
Eine Neuabgrenzung des Zentrale-Orte-Begriffs
Beim "traditionellen" ZOK wird, mit Ausnahme von Niedersachsen, die jeweilige Zentralitätsstufe auf eine ganze Gemeinde bezogen. Haben im Zuge der Gemeindegebietsreform Eingemeindungen stattgefunden, so wird die Zentralitätsstufe üblicherweise dem Hauptort zugeordnet. Bei Doppelzentren werden beide Kommunen in ihrer Gänze als Teil des Doppelzentrums betrachtet. Es lässt sich also zusammenfassend festhalten, dass zentrale Orte in der Regel gemeindescharf abgegrenzt werden. An den bisherigen Ausfuhrungen in diesem Beitrag wird aber deutlich, dass ein wesentlicher Schwachpunkt der Implementierung des ZOK an seiner prinzipiellen Orientierung am Territorialprinzip festzumachen ist41. Dies gilt zumindest für einen Teil der Argumente, die gegen das ZOK vorgebracht werden, wie etwa die "Zentralisierungs"-Hypothese, wonach die Konzentration auf zentrale Orte nichtzentrale Orte veröden lässt, oder der Hinweis auf den "fordistischen" Charakter des ZOK, der eine "postfordistische" Spezialisierung und Flexibilisierung nicht gestattet42. Ähnliches lässt sich über den Umstand sagen, dass viele Länder Sonder- und Zwischenformen der Stufigkeit des ZOK benutzen. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Falltypen unterscheiden: die transkommunalen Zentren und die interkommunalen Zentren. Beginnen wir mit letzteren. Bei diesem Typus von Zentren handelt es sich um Situationen, bei denen die Gemeindegröße eine innere Differenzierung der zentralörtlichen Funktionszuweisung erforderlich macht. Eine derartige zentralörtliche Planung wird in Sonderheit den Stadtkern als eigentlich zentralen Ort kennzeichnen, jedoch bei Bedarf zentralörtliche Funktionen auch Stadtrandkernen zuweisen. Die interkommunale Differenzierung dürfte mit Sicherheit nicht von der Raumplanung allein zu leisten sein. Hier wäre es durchaus vorstellbar, dass die Landesplanung lediglich die Notwendigkeit einer inneren Differenzierung konstatiert, die praktische Umsetzung der Differenzierung aber allein der kommunalen Planung überlässt43. Transkommunale Zentren entstehen, weil sich die Agglomeration über ihre Territorialgrenzen hinaus in den suburbanen Raum hinein erstreckt. Wenn darauf nicht oder nur unzureichend reagiert wird, dann entstehen die sekundären Versorgungsnetze außerhalb der Zentralen Orte, namentlich in den Bereichen Freizeit und Einzelhandel, die im Abschnitt 4.2 angedeutet worden sind. Eine Variante des
41 42 43
Geyer (2000), S. 1. Blotevogel (1996). Geyer (2000), S. 5.
Zentrale-Orte-Konzept
307
Typus "transkommunales Zentrum" könnte die landesplanerische Ausweisung eines zentralörtlichen Standortraumes sein, die über den eigentlichen zentralen Ort hinausgehend Teile von Umlandgemeinden abgrenzt, die gleichermaßen zentralörtliche Aufgaben übernehmen sollen. Die Landesplanung muss hier die zentralörtlichen Funktionen innerhalb des Standortraumes kleinräumig verteilen, wozu ein kleinräumiges Zentrenkonzept notwendig ist. Da von einer solchen Vorgehensweise z.B. auch Entscheidungen auf der Ebene der Bauleitplanung zu treffen sind, ist die Implementierung eines "zentralörtlichen Standortraumes" auf die Kooperation zwischen Landes- und Gemeindeplanung zwingend angewiesen. Da ein kleinräumiges Zentrenkonzept bereits Gegenstand eines Landesentwicklungsplanes bzw. -programmes sein muss, ist ein Instrument notwendig, welches Vereinbarungen zur Vorbereitung und Verwirklichung einschlägiger Raumordnungspläne ermöglicht. § 13 des Raumordnungsgesetz (ROG) bietet hierbei die Möglichkeit einer vertraglichen Lösung. Verträge werden aber wohl nur dann eingegangen, wenn alle Beteiligten einen Vorteil daraus ziehen. Der Vorteil für die Umlandgemeinden liegt auf der Hand: Sie erhalten, landesplanerisch legitimiert, das Recht, zentralörtliche Funktionen anzusiedeln. Für die Kernstadt bringt die Kooperation im "zentralörtlichen Standortraum" prima vista keine unmittelbaren Vorteile - eher das Gegenteil, weil möglicherweise ökonomisch attraktive, privatwirtschaftlich organisierte zentralörtliche Funktionen in die Umlandgemeinden abwandern. Allerdings ist ein "Vorteilsausgleich" für die Kernstadt im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs denkbar. Das kleinräumige Zentrenkonzept könnte der Kernstadt durch einen "Kooperationszuschlag" beim Finanzausgleich schmackhaft gemacht werden. M.a.W.: Für die Kernstadt findet wirtschaftstheoretisch ausgedrückt, eine pekuniäre Kompensation statt. Eine andere Variante des "transkommunalen Zentrums" könnte der Ausweis von Entlastungs- und Ergänzungszentren sein. Inhaltlich besteht kein wesentlicher Unterschied zur ersten Variante - lediglich die Vorgehensweise ist eine andere. Entlastungs- und Ergänzungszentren werden "von oben" durch die Landesplanung festgelegt44. In diesem Kontext wäre auch zu diskutieren, ob das deutsche ZOK nicht "nach oben" um die Kategorie der "Metropolregion" erweitert werden müsste. Zwar hat die MKRO in ihrem Raumordnungspolitischen Handlungsrahmen von 1995 sieben deutsche Metropolregionen (Berlin, Hamburg, München, Rhein-Main, MainRuhr, Stuttgart und Halle/Leipzig-Sachsendreieck) benannt, jedoch ausdrücklich
44
ebenda, S. 1-4.
308
Zentrale-Orte-Konzept
betont, dass es sich hier um keine eigene Zentrale-Orte-Kategorie handelt45. Allerdings gibt es gute Argumente dafür, den metropolitanen Standortraum als Erweiterung des ZOK zu installieren46. Der metropolitane Standortraum wäre jedoch weniger versorgungs-, sondern vielmehr entwicklungsorientiert und er wäre nicht als Ziel, sondern als Prozess der Landesplanung zu interpretieren47.
6
Fazit und Ausblick
In diesem Beitrag wurde der Versuch unternommen, einen Kernbestandteil der Landes- und Raumplanung, nämlich das ZOK, hinsichtlich seiner weiteren Brauchbarkeit und Notwendigkeit zu hinterfragen. Dies erscheint erforderlich zu sein, weil durchaus ernstzunehmende Stimmen aus Politik und Wissenschaft die "Haltbarkeit" des Konzepts in einer sich globalisierenden (Welt-)Wirtschafi bezweifeln. Gerade vor diesem Kritik-Hintergrund ist es zweckmäßig, das Christaller/Lösch-Modell wirtschaftstheoretisch zu rekonstruieren, um die theoretische Basis des ZOK anschlussfähig an eine wirtschaftswissenschaftliche Diskussion zu machen. Aus dem gleichen Grund wird die praktische Umsetzung des ZOK in den theoretischen Kontext der "Neuen Politischen Ökonomie" eingebettet. Insbesondere der letzte Zusammenhang macht deutlich, dass es durchaus gewichtige polit-ökonomische Begründungen gibt, das ZOK "opportunistisch zu manipulieren" und folglich anfällig für Kritik zu machen. Weitere Kritikpunkte am ZOK sind ebenfalls wirtschaftstheoretisch interpretierbar, wenn man Transaktionskosten in Rechnung stellt, die das ZOK verursacht. Allerdings fuhrt die wirtschaftstheoretische Betrachtungsweise auch zu einer möglichen Neufundierung des ZOK. Letztlich beruht nämlich diese Neufundierung auf den ökonomischen Argumenten der Vermeidbarkeit bzw. Internalisierung negativer externer Effekte sowie der effizienten Allokation der Ressourcen. Dies gilt auch für die stadtplanerischen Aspekte, die im Kern ebenfalls nichts anderes bedeuten als die Generierung positiver bzw. die Vermeidung negativer Externalitäten. "Kompakte" Städte reduzieren eine Reihe von sozialen Kosten bzw. schaffen soziale Nutzen, die von der Verhinderung sozialer Devianzen über die Schonung natürlicher Ressourcen bis hin zur Ästhetik reichen. Die "planungstheoretische" Verteidigung des ZOK verweist ebenfalls darauf, dass ein "Verzicht auf ein hierarchisches Ordnungsprinzip für Versorgungsstandorte" die Auflösung der Stadt und polyzentrische Siedlungsstrukturen (nach amerikanischem Muster)
45 46 47
Michel (1998), S.362ff. Blotevogel (1998), S. 38. ebenda, S. 87.
Zentrale-Orte-Konzept
309
nach sich zöge - letzteres vor allem auch deswegen, weil ein alternatives räumliches Ordnungsprinzip zum ZOK fehlt48. Um der Kritik entgegen wirken zu können, muss jedoch der Zentrale-Orte-Begriff mit neuem Inhalt gefüllt werden. Vor allem ist es notwendig, den "Zentralen Ort" von seiner Bindung an das Territorialprinzip zu lösen. Damit die Loslösung vom Territorialprinzip vonstatten gehen kann, müssen neue "vertragstheoretische" Instrumente in die Raumplanung eingeführt werden, wie sie die "Neue Institutionenökonomik" diskutiert49. Letztere Überlegungen machen es im übrigen auch möglich, dass ZOK an die heute herrschende Praxis einer diskursiven, auf Aushandlungsprozessen beruhenden Planungsphilosophie anzupassen50.
48 49 50
Deiters (1999). Richter/Furubotn (1999), insbesondere die Abschnitte V.4 - V.6. Gebhardt/Miosga (2000).
310
Zentrale-Orte-Konzept
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Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2000
Über das lange Warten auf den Aufschwung Ost Der Nordosten Deutschlands nach der Wende durch die theoretische Brille von Paul Krugman gesehen
Ulrich Schempp
1
Infant-country und Peripherisierung
Die Geschichte beginnt damit, dass der Aufschwung Ost schon untergraben war, ehe man überhaupt erst darauf zu warten begann. Vordergründig betrachtet könnte man dem Weltmarkt die Schuld in die Schuhe schieben, genau besehen war es aber die Tatsache, dass man die historische Welterfahrung ausgeblendet hatte. Die ostdeutsche Wirtschaft, gekennzeichnet durch eine schlagkräftige Struktur auf den RGW-"Märkten", war andererseits den wesentlich härteren Anforderungen des Weltmarktes in keiner Hinsicht gewachsen - eine schon unzählige Male in der Literatur geäußerte Feststellung. Die harte Infrastruktur war dimensional und qualitativ unterentwickelt und die weichen Faktoren wie Management- und Marketingfähigkeiten waren nicht ausgeprägt.1 Wirtschaftshistorisch gesehen haben sich solche fragilen Gebilde in aller Regel erst einmal für eine gewisse Entwicklungsperiode einen Schutzmantel - meist in Form von Zollbarrieren - umgelegt, um intern jene Basisfaktoren auszuprägen, die nötig sind, um im Weltmarkt bestehen zu können. "Wenn aber die Nation durch ein gutes Zollsystem die Errichtung und den kontinuierlichen Ausbau der Manufakturkräfte garantiert und sichert, so lässt sie nicht nur im Innern des Landes die erste, die größte, die nützlichste Arbeitsteilung, die Teilung zwischen Agrikultur und Industrie erstehen, sondern sie rüstet auch für die Zukunft diesen beiden Zweigen ein progressives Wachstum, da sie durch ihre Tätigkeit sich wechselseitig heben, und bietet ihnen die sicherste Garantie gegen jede Rückwärtsbewegung." Diese Gedanken sind verknüpft mit dem Namen Friedrich List,2 und der Deutsche Zollverein von 1834 sollte, Listschem Gedankengut folgend, zunächst einmal vor der übermächtigen englischen Konkurrenz schützen.
' 2
Vgl. beispielsweise Schoppen (1993). List (1931), Band 4, S. 187.
314
Aufschwung Ost
Andere Industriestaaten, die heute eine wichtige Rolle in der Weltwirtschaft spielen, haben ähnliche Phasen durchgemacht. Dieter Senghaas3 gibt hier zahlreiche Einblicke und Paul Krugman,4 auf dessen Ideen hier Bezug genommen wird, erläutert das Beispiel Kanadas vom Ende des letzten Jahrhunderts und schließt seine Analyse zum infant-country-Beispiel mit den Sätzen: "Canada is now strong enough industrially to accept free trade with the United States without fearing that it will be peripheralized .... It seems reasonable to argue that Canada's nationalistic policies were the key factor in creating this strength".5 Der ostdeutschen Wirtschaft konnte ein solcher Entwicklungsschutz durch die 1990 vorgenommene sofortige und nicht abgefederte EG- und Weltmarkteinbeziehung nicht zuteil werden. Das infant-country fiel unvermittelt ins kalte Wasser. Damit rückte der Aufschwung Ost in einen entfernteren Dunstkreis und die Peripherisierung nahm ihren Lauf. Hätte man die existierenden Betriebe, Industriekulturen und Verflechtungsstrukturen zum Beispiel durch eine - natürlich mit Auflagen vor allem hinsichtlich der Produktivitätsentwicklung gekoppelte - Lohnsubventionierung à la Akerlof et al6 zunächst erhalten können und unterstellen wir einmal, dass die Abwanderung großer Bevölkerungsschichten aus den neuen Ländern und hier ganz besonders aus dem Nordosten infolgedessen gemäßigter ausgefallen wäre, so hätte es um die Chancen auf eine eigenständige und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung Ostdeutschlands um einiges besser gestanden und die Anpassungsprozesse hätten vermutlich sanfter verlaufen können.7 Das gilt auch im Hinblick auf die Ausprägung von "cores" im Sinne von Paul Krugman, jenen Unternehmensballungen, die von Nachfragemassierung und Skaleneffekten profitieren, welche bei weiterer Raumstreuung nicht auftreten würden, und als deren Pendant in der modernen betriebswirtschaftlichen Theorie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit die "clusters" im Sinne von Porter8 zu sehen sind.9 Die Chancen, die ostdeutsche Wirtschaft um solche tragenden und richtungsweisenden Säulen zu arrangieren und vor allem dabei Teile historisch gewachsener Synergiepotenziale mit einzubinden, haben sich verflüchtigt. Das soll jedoch gewisse Perspektiven für die Zukunft nicht verhehlen, nur der Anpas-
3 4 5 6 7 8 9
Senghaas (1982). Krugman (1994), S. 90 ff. Hervorhebung durch den Autor, U.S., Krugman (1994), S. 92. Akerlof et al (1991). Schempp (1992). Porter (1990). Meckl/Rosenberg ( 1995).
Aufschwung Ost
315
sungspfad ist ein anderer. Die Perspektive des Nordostens heißt ohne Zweifel Generierung von Humankapital, hochtechnologienahe Dienstleistungen, Freizeitund Tourismusengagement, Verkehr und qualifizierte Landwirtschaft, aber der abrupte Sprung von einer Werftenstruktur zur Dienstleistungsdominanz ist ein großer und friktionsreicher. Für andere ostdeutsche Teilregionen mag der Sprung etwas kleiner sein.
2
Die Gedankenwelt Paul Krugmans
In seinem äußerst inspirierenden Buch "Geography and Trade" kreisen die Gedanken von Paul Krugman um mehrere Schlüsselfaktoren, die die Standortbedingungen für Produktionsstätten im Raum charakterisieren. Wie Krugman selbst hervorhebt, sind dies Ideen, die unter anderen Alfred Marshall, Gunnar Myrdal, Albert Hirschman und Nicholas Kaldor bekannt waren, allerdings bislang nie Eingang in die Hauptströmungen ökonomischen Denkens gefunden haben. 10 Zum einen existieren Raumüberwindungskosten, sagen wir Transportkosten fur Güter, die in W produziert werden und in O verkauft werden sollen. Zum anderen sind Skaleneffekte in der Herstellung zu verzeichnen; "...increasing returns are no longer something to be avoided or assumed away at all costs".11 Zunehmende Skalenerträge lassen es geraten erscheinen, nur in einer beschränkten Anzahl von Produktionsstätten Güter zu erzeugen und dadurch entsprechende Kostendegressionseffekte zu erzielen. Das Transportkostenargument legt indes nahe dort zu produzieren, wo große Massierungen von Kaufkraft auftreten und gute Zulieferbedingungen und SkillPotenziale in der Arbeitnehmerschaft bestehen, was im Normalfall dort der Fall ist, wo andere Produzenten ansässig sind. Dass das häufig auch Hersteller ein und derselben Produktpalette und Branche sind, lässt sich hier mit einem Seitenblick auf die Studien von Michael Porter12 einflechten. Und im Einklang mit Porter stellt Krugman eine Selbsterhaltung von einmal existierenden Agglomerationen fest.13 Verfolgen wir die Argumentation Krugmans anhand eines seiner abgewandelten Beispiele. 14 Angenommen, von der gesamten Manpower eines Landes mit den
10
Krugman (1994), S. 98. " Krugman (1994), S. 7. 12 Porter (1990). 13 Krugman (1994), S. 98. 14 Vgl. Krugman (1994), S. 14 ff.
316
Aufschwung Ost
beiden Regionen O und W arbeiten 40 % über die Regionen gleichverteilt, da sie an die Nutzung lokaler Ressourcenbestände (z.B. Land- und Forstwirtschaft, Fischereiwirtschaft, Urproduktion) gebunden sind. In der prinzipiell ortsungebundenen Industrie des Landes sollen 60 % der Arbeitskräfte arbeiten. Diese Industrie und die dazugehörige Bevölkerungsmassierung soll infolge historischer Prozesse in W angesiedelt sein. Die Gesamtnachfrage nach Industrieprodukten sei 10 Einheiten. Da nun entsprechend dem oben Gesagten 80 % der Bevölkerung in W und 20 % in O leben wird Region W 8 Einheiten Industriegüter absorbieren und O 2 Einheiten Industriegüter aus W beziehen, wenn sich die Industriegüternachfrage streng proportional zur Bevölkerung verhält. Um nachzuvollziehen, wie effizient und wie stabil diese Produktionsverteilung im Raum ist, sei im Einklang mit Paul Krugman angenommen, die Gesamtkosten einer Fabrikinstallation seien 4, die Transportkosten zwischen den Regionen pro Industriegütereinheit 1 und innerhalb der jeweiligen Region 0. Die Struktur der Ansiedlungs- und Transportkosten zeigt nachstehende Tabelle. W
WundO
Feste Installationskosten
4
8
Transportkosten
2
0
Summe
6
8
Kosten bei Produktion in Region Ψ Kostenarten
Ohne Zweifel ist es unter den bisher gesetzten Prämissen günstiger, nur in W zu produzieren und O unter Inkaufnahme der Transportkosten von 2 mitzuversorgen. Nehmen wir nun aber an, die Transportkosten betrügen 3 pro transportierter Industriegütereinheit; dann entstünden bei ausschließlicher Produktion in W zusätzliche Transportkosten in Höhe von 4, sodass sich die gesamten Transportkosten nunmehr auf 6 belaufen würden. Diesen Transportkosten stehen aber Neuinstallationskosten einer Fabrik in O in Höhe von 4 gegenüber!
Aufschwung Ost
317
W
WundO
Feste Installationskosten
4
8
Transportkosten
6
0
Summe
10
8
Kosten bei Produktion in Region Ψ Kostenarten
Es würde nun also c.p. lohnend sein, Industrieressourcen (Kapital, Arbeitskräfte) in O einzusetzen, um die (dann durch den Industriearbeiterzuzug ohnehin gewachsene!) lokale O-Nachfrage vor Ort billiger bedienen zu können. Daraus folgt Lektion 1: Hohe Transportkosten begünstigen mehrere Produktionsstandorte, also eine dezentrale Produktionsstruktur. Obiger Tabelle und den im Vorspann ausgeführten Hintergründen haften indes einige Implikationen an, die durch Paul Krugmans Brille gesehen äußerst bedeutsam sind: 1. Die in Region W faktisch konzentrierte Produktion beinhaltet Skalen- und Kostendegressionseffekte infolge der räumlichen Ein-Punkt-Produktion für das einzelne Unternehmen. 2. Die in Region W konzentrierte Bevölkerung hält dort Massenkaufkraft und Absatzpotenziale ebenso bereit wie - von der Arbeitsangebotsseite her betrachtet - Skill-Potenziale. Damit hat Region W aus input- wie aus outputorientierter Sichtweise Standortvorteile. 3. Die regional konzentrierte Industriekultur ist mit externen Effekten für die dort ansässigen Firmen verbunden, d.h. mit Synergiepotenzialen, die von Zulieferer· über Transport-, Forschungs- und Entwicklungs- bis hin zu Ausbildungssynergien reichen können. Michael Porter hat diese Synergien in seinem oben zitierten Werk analysiert, und Paul Krugman folgert: "Thus there will be both backward and forward linkages that provide an incentive to concentrate production". 15
15
Krugmann (1994), S. 51.
318
Aufschwung Ost
Lektion 2: Regionale Konzentrationen sind selbstverstärkend. Soweit zu den von Paul Krugman betonten Hauptkomponenten. Kehren wir nun aber ausdrücklich in die deutsche Realität der neunziger Jahre zurück, allerdings nicht ohne auf das Spannungsfeld zwischen den beiden Lektionen hinzuweisen, das sich jedoch verflüchtigt, je mehr sinkende Transportkosten Lektion 1 "aushebeln" und Lektion 2 zur klaren Dominanz verhelfen.
3
Regionale Dekonzentrationen sind selbstverstärkend
Ja, warum Lektion 2 eigentlich nicht andersherum formulieren? Die Geschichte Ostdeutschlands, ganz besonders der peripheren Teile, folgt dieser Variante und stützt letztlich Paul Krugmans Lektion, die oben mit der Nummer 2 gekennzeichnet wurde. Denn: Abzug in einer Region heißt Zuzug in einer anderen Region und dort weitere Konzentration. Die sogenannte Pestel-Studie16 hat für Mecklenburg-Vorpommern einen Rückgang der Bevölkerungszahl von 1988 bis 1999 von über 160.000 Personen auf knapp 1,8 Mio. Einwohner festgestellt, manche Städte wie Greifswald und Stralsund verloren im selben Zeitraum rund 10.000 ihrer einst 65 - 75.000 Einwohner. Einhergehend damit sind "... die extrem zurückgegangenen Geburtenzahlen .,."18 zu verzeichnen, die allerdings bisher nur einen kleineren Teil des Schrumpfungsprozesses erklären helfen; der größere Teil ist abwanderungsbedingt. Neueste Bevölkerungsschätzungen gehen fiir Mecklenburg-Vorpommern bis zum Jahr 2020 von einem Bevölkerungsrückgang auf ca. 1,6 Mio. Einwohner aus. Diese genannten Fakten und die nächstjährigen Erwartungen beinhalten rückläufige Käuferpotenziale und eine pessimistische Absatzentwicklung für die Zukunft. Ein denkbares Motiv für ein Vor-Ort-Produktionsengagement im Nordosten lahmt also: Das Absatzpotenzial. Hinzu kommt, dass der eingetretene Bevölkerungsverlust eine Abwanderung von Arbeitskräften und Fähigkeitsprofilen einschließt und damit ein Inputfaktor verloren ging. Das Arbeitsangebot schrumpfte, mit der Bevölkerung verschwanden
16 18
Eduard Pestel Institut für Systemforschung (1999). Eduard Pestel Institut für Systemforschung (1999), S. 64.
Aufschwung Ost
319
Leistungspotenziale, zumal sich der Fortzug auf die 20- bis 35-jährigen konzentrierte.19 Und all dies vollzog sich in einer Region, die von Bevölkerungs- und Unternehmensdichte sowie von der infrastrukturellen Ausstattung her betrachtet ohnehin wenig synergetische Momente erwarten lässt. Also erneute Fragezeichen fur standortsuchende und harte Bedingungen für ums Überleben kämpfende Unternehmen. Während so auf der einen Seite die Transportkosten von W nach O infolge der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit gesunken sind, verschwanden auf der anderen Seite mit vielen Leistungsträgern und Betrieben auch Lieferstrukturen und Beziehungsgeflechte und die langjährigen Abwanderungstendenzen hemmen die positiven Wirtschaftsimpulse im Nordosten. Die Synergien tummeln sich anderswo, und wer will es den abwandernden Menschen verübeln, wenn sie diesem Beispiel folgen!? Der Teufelskreis von Wirtschaftsschwäche und Abwanderung ist nach wie vor im Gange.
4
Perspektiven für die Zukunft
Was ist im Nordosten, durch die Brille von Paul Krugman gesehen, geschehen und was ist zu erwarten? Lektion 1 anwendend haben sinkende Transportkosten zu einem abnehmenden Anreiz für Vor-Ort-Produktionen geführt und der Verkehrswegeausbau lässt weiterhin sinkende Transportkosten erwarten. So ist es ökonomisch gesehen effizient, die in W bereits installierte hochproduktive Technik in ihren Synergiestrukturen zur Erzeugung auch der in O nachgefragten Güter zu nutzen und ansonsten über Verteiler- und Transportnetze zu agieren. Das aber impliziert einen Dienstleistungsdrall, insbesondere im Nordosten, der ohnehin durch tourismus- und freizeitwirtschaftliche Impulse geprägt ist. Allerdings lassen die besonders im Nordosten eingetretenen Entwicklungen daran zweifeln, ob sich das Vorauseilen des Dienstleistungssektors gegenüber den alten Bundesländern - im Bereich der sonstigen Dienstleistungen erreicht MecklenburgVorpommern gemessen am Arbeitsplatzanteil bereits das amerikanische Niveau, 20 - zu einem Dienstleistungsdiamanten im Sinne Michael Porters auf absehbare Zeit
"
20
Vgl. Eduard Pestel Institut für Systemforschung (1999), S. 19. Vgl. Eduard Pestel Institut fiir Systemforschung (1999), S. 43.
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Aufschwung Ost
fortentwickeln kann. Wie schreibt Paul Krugman in seinem Abschnitt über Dienstleistungen: "The important point is that the logic of localization remains similar ... small accidental events start a cumulative process in which the presence of a large number of firms and workers acts as an incentive for still more firms and workers to congregate at a particular location. The resulting pattern may be determined by underlying resources and technology at some very aggregative level; but at ground level there is a striking role for history and accident". 1 Alleine auf den Zufall zu vertrauen erscheint nicht opportun. Es lässt sich angesichts der gegebenen Verhältnisse vermuten, dass im Nordosten Deutschlands den Hochschulen und ihren Spill-overs und Impulswirkungen eine viel größere relative Bedeutung zukommt als anderswo. Hier existiert ein politischer Hebel, im übertragenen Sinne jene jungen Leute, die eben die Region verlassen haben, wenigstens temporär ins Land zurückzuholen, in der Hoffnung, dass gute Ideen geboren werden, fruchtbare Kooperationen entstehen und sich synergetische Module entwickeln.22 Für den Moment jedenfalls sind tragende Synergien nicht greifbar. Der Tourismus muss sich höherentwickeln, die Freizeitszene muss sich arrangieren, die Landwirtschaft muss sich qualitativ und tourismuskompatibel positionieren, und die Hochschulen haben eine zentrale Rolle beim Aufbau eines leistungsfähigen Beziehungsnetzes zu spielen. Und in vielen Fällen muss sich das Dienstleistungsverständnis des Dienstleistenden noch deutlich verbessern.
5
Schlussbemerkungen
Die zugegebenermaßen an vielen Stellen überspitzte und vereinfachte Abhandlung sollte mehreren Zielen dienen: 1. Sie sollte für den Nordosten Deutschlands die Deindustrialisierung als unumkehrbaren Prozess hervorkehren. 2. Sie sollte dem Weltmarktschock mit seinem Todesstoß für etablierte Strukturen positive Entwicklungsvisionen gegenüberstellen, die vielleicht erst durch dessen Radikalität hoffähig geworden sind.
21 22
Krugman (1994), S. 66 f. Vgl. Eduard Pestel Institut für Systemforschung (1999), S. 101.
Aufschwung Ost
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3. Sie sollte die inhaltliche Nähe von ökonomischer Theorie und Realität verdeutlichen, ein Anliegen, das dem mit diesem Band geehrten Jubilar schon immer besonders am Herzen lag; im Punkt 2 des Vorwortes zur 1. Auflage seines inzwischen in der 6. Auflage verkauften Lehrbuches "Einführung in die MikroÖkonomik" steht geschrieben: "In der Regel wird den Studierenden zu Beginn ihres Studiums gesagt, dass die Theorie die Realität erklären soll. Anschließend lernen sie dann eine Theorie kennen, welche die Realität nur sehr unzulänglich oder überhaupt nicht erklärt".23 Gerade in dieser Hinsicht erscheint die hier zugrunde gelegte Arbeit von Paul Krugman ein leuchtendes Gegenbeispiel. 24 Letztlich sei noch angemerkt: Keinesfalls intendiert ist eine Schelte an eventuellen politischen Versäumnissen der Verantwortlichen im Zuge der deutschen Einigung, da die Einmaligkeit der Situation und die Geschwindigkeit der historischen Entwicklung damals die wissenschaftlich-rationale Aufarbeitung "meilenweit abgehängt" hatte.
23 24
Herdzina (1999), S. V. Der Jubilar möge aber bitte verzeihen, dass in der Ausgestaltung des hier vorliegenden Beitrages nicht immer mit der ihm eigenen wissenschaftlichen Gründlichkeit und Strenge gearbeitet wurde.
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Aufschwung Ost
Literatur Akerlof, G. A./Rose, A. KJYellen, J./Hessenius, H. (1991), East Germany in from the Cold: The Economic Aftermath of Currency Union, in: Brooking Papers on Economic Activity, Januar, S. 1 ff. Eduard Pestel Institut für Systemforschung (1999), Bevölkerungs-, Wirtschaftsund Beschäftigungsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern bis zum Jahr 2010, Hannover. Herdzina, K. (1999), Einführung in die MikroÖkonomik, 6. Auflage, München. Krugman, P. (1994), Geography and Trade, 5. Auflage, Cambridge, Leuven und London. Liebig, M. (1996), Friedrich List und das "amerikanische System" der Wirtschaftspolitik, Kommentar in: List, F., Outlines of American Political Economy/Grundriss der amerikanischen politischen Ökonomie, (Neu herausgegeben) Wiesbaden, S. 154 ff. List, F. (1996), Werke, hier: Band 4, Berlin 1931, zitiert nach M. Liebig. Meckl, R./Rosenberg, C. (1995), Neue Ansätze zur Erklärung internationaler Wettbewerbsfähigkeit, Versuch einer Synthese zwischen volks- und betriebswirtschaftlicher Sichtweise, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 115.Jg., Heft 2, S. 211 ff. Porter, M.E. (1991), The Competitive Advantage of Nations, Free Press 1990, Deutsche Ausgabe: Nationale Wettbewerbsvorteile, München. Schempp, U. (1992), Optionen kurzfristiger Stabilisierungspolitik in den neuen Ländern, in: Rühl, C. (Hrsg.), Probleme der Einheit, Band 6, Konsolidierung des Binnenmarktes in den neuen Ländern, Marburg, S. 101 ff. Schoppen, W. (1993), Restrukturierung eines Kombinats, Sanierung aus eigener Kraft, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft (ZfB), Ergänzungsheft 1, S. 9 ff. Senghaas, D. (1982), Von Europa lernen, Entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen, Frankfurt am Main.
Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 0
Zum Verhältnis von Regionalwissenschaft und Bevölkerungswissenschaft: ein Erfahrungsbericht Gerhard Gröner
1
Ein Blick zurück: Verständigungs- und Koordinationsschwierigkeiten
Die Regionalwissenschaft befasst sich mit den vielfaltigen Ausprägungen regionaler Strukturen und Entwicklungen. Die Bevölkerungswissenschaft untersucht Bevölkerungsstrukturen und Bevölkerungsentwicklungen. Da die Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre Entwicklungstendenzen eine wesentliche Basis vieler regionaler Besonderheiten sind, folgt hieraus eine enge Verbundenheit zwischen Regionalwissenschaft und Demographie. Doch war eine gute Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Wissenschaften nicht immer gegeben. Vielmehr waren manche Missverständnisse und manche Unkenntnis um die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der jeweils anderen Seite auszuräumen. Einige Punkte seien nachfolgend, basierend oftmals auf Erfahrungen in der praktischen Zusammenarbeit, kurz angesprochen. Es wird häufig in seinen Auswirkungen nicht hinreichend klar gesehen, dass einer fundierten und historisch gut begründeten Theorie der Regionalwissenschaften nur Teilstücke und Teilaspekte einer Bevölkerungstheorie gegenüberstehen. Nach bemerkenswerten Anfangen - erinnert sei an den englischen Pastor Malthus - folgten interessante, aber meist nur punktuelle Ansätze einer Bevölkerungstheorie; in Deutschland insbesondere vertreten durch die Arbeiten von Mommsen, Mackenroth, Linde, Mackensen oder Khalatbari. In Deutschland kam erschwerend hinzu, dass im Dritten Reich einige Bevölkerungswissenschaftler der Einvernahme durch politische Ideologien nicht hinreichend widerstanden hatten. Mit dem Ende des Dritten Reiches fand sich daher die Bevölkerungswissenschaft in Deutschland in einer Krise: Sie war behaftet mit dem Verdacht, Teile der Ideologien des Nationalsozialismus toleriert zu haben. Der mühsame Wiederaufbau der Demographie in Deutschland geschah daher zunächst über strikt datenorientierte und damit politisch unproblematische Untersuchungen der Bevölkerungsstatistik. Dies wiederum führte dazu, dass Regionalwissenschaftler die Demographen vielfach als reine Datenlieferanten sahen. Sie nahmen nicht wahr, dass auf der Seite der Bevölkerungswissenschaft über die Daten hinaus weitergehende Erkenntnisse
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Regional- und Bevölkerungswissenschaft
erarbeitet worden waren, die für die Regionalwissenschaftler von Interesse hätten sein können. Andererseits nahmen auch die Bevölkerungswissenschaftler oftmals die Bedürfnisse der anderen Seite nicht wahr. Daher berücksichtigten die Aufbereitungen, Veröffentlichungen und Auswertungen der Daten nur in geringem Maße den Bedürfnissen der Regionalwissenschaft und Regionalplanung. Selbst wesentliche Grundstrukturen der Bevölkerung entsprachen sich in den Veröffentlichungen der verschiedenen Statistischen Landesämter nicht. So veröffentlichte das eine Landesamt die Altersgliederung in Fünfergruppen, das andere für verwaltungsbezogene Altersgruppen. Ebenso unterschiedlich war der Ausweis der Gliederung nach Geschlecht; hier wurden die Gesamtzahl und darunter die Männer ausgewiesen, dort die Zahlen der Männer und der Frauen etc. Die Gründe für dieses Vorgehen sind vielfältig. Die Statistik versuchte in ihren Veröffentlichungen bei stets kleiner finanzieller Ausstattung möglichst viele Bedürfnisse von Konsumenten zu befriedigen. In der Anmeldung und Durchsetzung ihrer Wünsche waren jedoch auf Landesebene die Fachressorts meist näher und stärker als die häufig unklaren oder gegenläufigen, auf viele Ressorts verteilten Wünsche der Regionalwissenschaftler und Regionalplaner. Mit der Zunahme der elektronischen Datenverarbeitung rückten Datenbanken in den Bereich der Möglichkeiten. Leider wurden die Chancen dieses Instruments in der Statistik zunächst nicht überall erkannt, so dass im ersten Schritt leistungsstarke Landesämter wie beispielsweise Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen unkoordiniert eigenständige Datenbanken aufbauten. Die Konzeptionen dieser Datenbanken waren durch die jeweiligen Landesinteressen bestimmt - und damit waren erneut die Strukturen dieser Datenbanken nicht immer vergleichbar. Die zunächst noch geringen Speicher- und Verarbeitungskapazitäten machten es zu dieser Zeit noch nicht möglich, alle wünschenswerten sachlichen und regionalen Untergliederungen vorzuhalten. In dieser Phase wurde auf Seiten der Regionalwissenschaft, der Regionalpolitik, der Raumordnung und Landesplanung erkannt, dass es notwendig war, sich auf einen Katalog benötigter Daten zu einigen, und diesen einstimmig zu vertreten. Ausfluss dieser Bestrebungen war beispielsweise der nach Empfehlungen der Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) beschlossene Datenkatalog, der einer Vereinheitlichung der regionalstatistischen Datenbasis dienen sollte und letztlich zu den Konzeptionen von "Statistik Regional" führte.
Regional- und B e v ö l k e r u n g s w i s s e n s c h a f t
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Die enorm gewachsenen Möglichkeiten der Datenverarbeitung ermöglichen heute vielfaltige regional und sachlich tiefe Untergliederungen. Trotzdem muss darauf hingewiesen werden, dass die Statistik keine Daten liefern kann, die sie nicht erhebt - schließlich benötigt die amtliche Statistik für jedwede Datenerhebung eine gesetzliche Grundlage. Auch halten es manche Regionalwissenschaftler für einen guten Weg, zunächst eine enorme Menge tief gegliederter Daten anzufordern, und danach erst zu überlegen, was sie in welcher Gliederung eigentlich benötigen. Hierbei besteht häufig das Problem, dass erst im Nachhinein erkannt wird, dass die vielen Daten auch hohe Kosten verursachen, dass man oft einen Tabellenstoß erhält, den man nicht überblickt und kaum zu bearbeiten vermag, und dass schließlich auf tiefer Ebene der Datenschutz manchem ehrgeizigen Untersuchungsvorhaben eine Grenze setzt. Diese anfänglichen Probleme in der Zusammenarbeit weichen indes zunehmend einem besseren Verständnis der gegenseitigen Möglichkeiten und Grenzen. In guter und auch oft persönlich fundierter Zusammenarbeit können schwerwiegende Probleme in Angriff genommen und einer guten Bearbeitung zugeführt werden. Hoher Verdienst bei dieser immer besseren Zusammenarbeit kommt der Akademie für Raumforschung und Landesplanung in Hannover (ARL) zu, die in Arbeitskreisen Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen zur Bearbeitung anstehender Probleme zusammenfuhrt und dadurch die Zusammenarbeit intensiviert. Auch die seinerzeitige Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung in Bad Godesberg (BfLR) hat bahnbrechende Arbeiten zu dieser Problematik beigetragen. Aus der Sicht eines Bevölkerungswissenschaftlers sehen jedoch Regionalwissenschaft und Regionalpolitik noch immer zu sehr die Bevölkerungswissenschaft und -statistik lediglich in der Rolle des Datenlieferanten. Der Regionalwissenschaftler gibt die Aufgabenstellung vor, während die Bevölkerungsstatistik aufgefordert ist, passende Daten zur Verfügung zu stellen. Doch noch nicht in ausreichendem Maße nehmen die Regionalwissenschaftler auch die Analysen und die daraus fließenden Erkenntnisse der Bevölkerungswissenschaft wahr - obwohl sich hieraus vielfach bemerkenswerte Anregungen für Regionalwissenschaft und Regionalpolitik ergeben. Ein interessantes, den Rahmen dieses kleinen Beitrags sprengendes Thema sind die Bevölkerungsprognosen. Die amtliche Statistik hat auf diesem Gebiet große Erfahrungen. Mit geschickten Modellansätzen und Variantenrechnungen ist es gelungen, die Auswirkungen der natürlichen Bevölkerungsbewegung (das heißt von Geburten und Sterbefällen) im Rahmen der Möglichkeiten einer Prognose in
326
Regional- und Bevölkerungswissenschaft
hohem Maße vorauszubestimmen. Bildungsplanung sowie Altenheim- und Pflegeheim-Planungen, gerade auch auf regionaler Ebene, profitieren von diesen Arbeiten, wenn es auch lange gedauert hat, bis zum Beispiel auf politischer Entscheidungsebene die Folgen immer höherer Lebenserwartung fur die Finanzierung der Kosten der Gesundheit und des Alters erkannt wurden. Eine gewichtige und einflussreiche Komponente der künftigen Bevölkerungsentwicklung, nämlich die Wanderungsbewegung, entzieht sich jedoch üblichen statistischen Prognoseverfahren. Unerwartete politische oder ökonomische Brüche - erinnert sei an den Fall der innerdeutschen Grenze - sind in ihren Auswirkungen sehr gravierend. Sie sind aber faktisch in längerfristige Prognosen nicht einzurechnen. Vorwürfe der Planer, die Bevölkerungsprognosen seien unzuverlässig, - wie sie etwa in den Jahren nach dem Fall der Mauer erhoben wurden - sind insofern unbegründet. Lehrreich ist ein weiteres Beispiel: In der zweiten Hälfte der 80er Jahre sahen die Regionalwissenschaftler, -politiker und -planer den Wohnungsmarkt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als ausgeglichen. Die Bevölkerungszahl hatte kaum mehr zugenommen und eine beachtliche Wohnungsbautätigkeit hatte zusätzliche Wohnungen zur Verfugung gestellt. Dann fiel im Herbst 1989 die Mauer - und unvermutet kam es in Westdeutschland zu einem Engpass in der Wohnungsversorgung; Turnhallen, Erholungsheime, Freizeitheime und ähnliches wurden als Notunterkünfte benötigt. Was war geschehen? Zwar hatte in den Jahren zuvor die Bevölkerungszahl kaum mehr zugenommen. Die Haushaltsgrößen waren aber - von den Nichtstatistikern wenig beachtet weiter abgesunken. Vor allem die Zahlen der Ein- und Zweipersonenhaushalte nahmen in hohem Maße zu. Damit wuchsen auch die Haushaltszahlen insgesamt deutlich an. Für den Bedarf an Wohnungen sollte aber nicht die Bevölkerungszahl Indikator sein, vielmehr muss hier die Zahl der Haushalte zugrundegelegt werden. Weiterhin ergab die im Zusammenhang mit der Volkszählung 1987 durchgeführte Wohnungszählung, dass Zehntausende von Wohnungen, die man nach aufsummierter Baufertigstellungsstatistik vorhanden glaubte, sozusagen statistisch verschwunden waren. So waren, dank günstiger steuerlicher Förderung, viele Einfamilienhäuser in den 70er und 80er Jahren mit Einliegerwohnung gebaut worden. In diese Einliegerwohnung zogen oft die Eltern oder ältere Verwandte. Im Laufe der folgenden Jahren starb der Bewohner der Einliegerwohnung. Die steuerliche Förderung war ausgelaufen und im Trend zu allgemein größeren Wohnflächen wurde die Einliegerwohnung in das Einfamilienhaus mit
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einbezogen. Bei der Wohnungszählung 1987 war in diesem Haus nur noch eine Wohnung vorhanden. Die Daten dieser Wohnungszählung waren noch nicht vollständig ausgewertet, als die damalige Bundesrepublik durch einen hohen Zustrom an Asylbewerbern überflutet wurde. Vor der Neufassung der Asylgesetze versuchten viele Ausländer, rasch noch in die Bundesrepublik zu gelangen. Durch diesen Zustrom wurden die bestehenden Unterkunftsmöglichkeiten bereits überlastet, manche Städte mussten ergänzend Hotels anmieten. Nach 1989 suchten Hunderttausende von Bürgern der ehemaligen DDR, die kein Vertrauen in eine rasche Besserung der Verhältnisse dort hatten, Arbeitsplatz und Wohnung in der "alten" Bundesrepublik. Mit großer Kraftanstrengung wurden diese Wohnungsprobleme gemeistert. Doch ist es immerhin rückblickend interessant, zu ergründen, wie es zu diesem Engpass kam.
2
Demographischer Strukturwandel: Eine Chance für die Kooperation von Bevölkerungs- und Regionalwissenschaft
Im zweiten Teil dieses Beitrags sei beispielhaft ein Problem angesprochen, das sich zunächst als demographisches Problem darstellt, das aber vermutlich für die künftige Struktur unserer Gesellschaft und damit auch für Regionalwissenschaft und Regionalplanung einige Bedeutung haben dürfte. Es handelt sich um die in den letzten Jahrzehnten zu beobachtenden Tendenzen bei den Eheschließungen und den Ehelösungen, bei letzteren besonders den Ehescheidungen. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland vielfach behördliche Einschränkungen der Eheschließungsfreiheit: Die Gemeinden verlangten vom künftigen Ehemann den Nachweis, dass er eine Familie zu versorgen in der Lage war, weil sie verhindern wollten, dass mittellose Familien später der gemeindlichen Armenfiirsorge zur Last fielen. Manche Personen konnten daher damals nicht heiraten. Sie blieben ihr Leben lang Knecht oder Geselle oder gingen ins Kloster. Diejenigen, die heiraten konnten, taten dies oftmals erst in höherem Alter, etwa wenn der Altbauer den Hof übergeben hatte. Mit dem Wegfall dieser Heiratshemmnisse schien es in Deutschland fast selbstverständlich, dass nahezu alle das Heiratsalter erreichende Personen heirateten und dass die überwiegende Zahl der Kinder im Rahmen einer Ehe auf die Welt kam. Allerdings blieb unterbewusst zunächst noch die Vorstellung erhalten, dass der Mann erst
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Regional- und Bevölkerungswissenschaft
heiraten sollte, wenn er eine Familie versorgen könne. Etwa ab 1960 begann jedoch auch diese Vorstellung zu bröckeln, auch Studenten oder noch in Ausbildung befindliche Personen heirateten. Das Alter der Volljährigkeit - mit dem Recht der Heirat auch ohne Zustimmung der Eltern - wurde auf 18 Jahre gesenkt. "Jung gefreit hat nie gereut" wurde damals häufig zitiert. Die Heiratshäufigkeiten stiegen an und das durchschnittliche Heiratsalter sank. Etwa seit 1970 ist nun eine gegenläufige Tendenz zu beobachten. Die Einstellung insbesondere der jungen Leute zu Heirat und Ehe hat sich geändert: Viele leben zunächst in einer Partnerschaft zusammen und heiraten erst später - oder gar nicht. Die Heiratsneigung ist aus vielschichtigen, häufig nicht klar erfassbaren Gründen deutlich zurückgegangen. Vor allem im jüngeren Alter, etwa bis zum Alter 25, sind die Heiratshäufigkeiten dramatisch abgesunken. Im mittleren Alter, etwa ab dem Alter 30, ist die Heiratsneigung nur wenig zurückgegangen oder hat sich stabilisiert, ohne dass dies die Abnahmen im jüngeren Alter ausgleichen würde. Tab. 1 :
Heiratshäufigkeiten nach Geschlecht und Altersgruppen sowie mittleres Heiratsalter in Baden-Württemberg (Heiratende je 1000 Nichtverheiratete der gleichen Altersgruppe) Altersgruppe von ... bis unter... Jahren
1970
15-20 20-25 25-30 30-35 35-40 40-45
7 107 162 112 68 57
Mittleres Heiratsalter1
28,3
Männer 1980 1997
1970
Frauen 1980
3 57 105 71 47 33
2 22 57 69 52 38
52 211 168 90 46 25
21 112 108 68 38 24
8 46 88 81 51 32
28,9
33,2
24,9
25,6
30,4
1997
'Mittleres Heiratsalter aller Heiratenden.
Die Tabelle 1 lässt für das Land Baden-Württemberg - in anderen Bundesländern sind die Tendenzen ähnlich, in Ostdeutschland und in Stadtstaaten eher noch deutlicher - bezeichnende Tendenzen erkennen. So sank von 1970 bis 1997 im Alter 20 bis unter 25 Jahre die Heiratshäufigkeit der Männer von 107 auf 22, bei
Regional- und Bevölkerungswissenschaft
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den Frauen von 211 auf 46 je 1000 Nichtverheiratete der entsprechenden Altersgruppe. Erst ab dem Alter 30 bis 35 ergibt sich eine gewisse Stabilisierung der Heiratshäufigkeiten. Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Heiratsneigung vor allem im jüngeren Alter sinkt, und eine zunehmende Zahl von Personen nicht heiratet. Die Personen, die heiraten, tun dies in deutlich höherem Alter, wodurch das mittlere Heiratsalter stark ansteigt. Tabelle 1 zeigt auch, dass im Durchschnitt im Jahr 1970 ein Mann mit 28 Jahren heiratete, im Jahr 1997 aber erst mit 33 Jahren. Bei den Frauen stieg im gleichen Zeitraum das mittlere Heiratsalter von 25 auf 30 Jahre an. Bei einem Mittelwert, der nur in einem begrenzten Bereich schwanken kann, ist dieser Anstieg um fünf Jahre eine sehr beträchtliche Veränderung. Auf der anderen Seite steigen die Zahlen der Ehelösungen an. Grundsätzlich kann eine Ehe durch Tod eines Partners oder durch gerichtliches Urteil gelöst werden. Bei den Ehelösungen durch Tod überwiegen solche durch Tod des Mannes, denn die Männer haben eine um rund sieben Jahre kürzere Lebenserwartung als die Frauen. Zudem ist der Mann in der Ehe im Durchschnitt etwa drei Jahre älter als seine Frau. Die Ehelösungen durch Tod sind mit der Entwicklung der Sterblichkeit verknüpft und ansonsten wenig beeinflussbar. Die Zahlen der Ehelösungen durch gerichtliches Urteil - es handelt sich nahezu ausschließlich um Ehescheidungen - sind in den letzten Jahrzehnten beinahe kontinuierlich angestiegen. Eine kurze Unterbrechung brachte die Einfuhrung des neuen Scheidungsrechts: Die Familiengerichte mussten sich erst in die neue Rechtsmaterie einarbeiten, und für wenige Monate ergaben sich daher geringere Scheidungszahlen. Doch danach steigen die Zahlen und Anteile der Ehescheidungen kontinuierlich weiter an. Derzeit ist damit zu rechnen, dass rund ein Drittel aller Ehen vor dem Scheidungsrichter endet. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Heiratsneigung zurückgegangen ist. Viele heiraten gar nicht, und diejenigen, die es tun, heiraten erst in deutlich höherem Alter. Auf der anderen Seite werden viele Ehen bereits nach wenigen Jahren wieder geschieden, und von den Geschiedenen heiratet lediglich rund die Hälfte erneut. In Baden-Württemberg überwiegt in den letzten Jahren, im Bundesgebiet bereits länger, die Zahl der Ehelösungen die der Eheschließungen. Auch wenn die Wanderungsbewegung hier nicht berücksichtigt werden kann, geht in der Tendenz die Zahl der bestehenden Ehen zurück. Die Ursachen dieser grundlegenden Verhaltensänderungen sind vielschichtig und oftmals nicht quantifizierbar. Vielen scheint der Dauercharakter, die Lebenslänglichkeit der Ehe überholt. So werden heute ein Zusammenleben von jungen Menschen ohne Hei-
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Regional- und Bevölkerungswissenschaft
rat und auch, dass daraus vielleicht Kinder erwachsen, weithin toleriert. Ein Indikator dafür ist der Anstieg des Anteils nichtehelich Geborener; er belief sich 1998 in Baden-Württemberg auf etwas über 13 %, in Deutschland auf 20 %, und in Mecklenburg-Vorpommern kamen sogar mehr Kinder außerhalb von Ehen auf die Welt als eheliche Kinder. Weitere Gründe für den Rückgang der Heiratshäufigkeit liegen in den längeren und qualifizierteren Ausbildungsgängen. Auch nach Abschluss der Ausbildung möchte und muss man, wie von Arbeitsmarkt und Gesellschaft gefordert, flexibel und offen sein für betriebliche und räumliche Veränderungen. Hinzu kommt ein insbesondere von Frauen geäußerter Wunsch nach Unabhängigkeit und ungehinderter Selbstverwirklichung. Viele frühere Aufgaben der Ehe sind heute von der Allgemeinheit, der Gesellschaft und vom Staat übernommen. Es besteht die Gefahr, dass die Ehe sich reduziert auf die Gemeinsamkeit von zwei Ehegatten, die sich lieben. Wenn jedoch durch die Anforderungen des Alltags und auseinanderlaufende persönliche oder berufliche Entwicklung der Ehegatten diese Grundlage schwindet, wird die Ehe in Frage gestellt. Viele junge Leute neigen wohl zu einer derartigen idealistischen Sicht; in zwei Drittel aller Fälle sind es die Frauen, die die Scheidung der Ehe beantragen. Die genannten Faktoren fuhren nun dazu, dass der Anteil der Verheirateten in der Bevölkerung abnimmt. Diese Entwicklung verdeutlicht für das Land BadenWürttemberg Tabelle 2. So ist im Alter 20 bis unter 25 Jahre der Anteil der Verheirateten von 1970 bis 1997 bei den Männern von 23 % auf 6 % und bei den Frauen von 53 % auf 16 % und damit auf rund ein Viertel zurückgegangen. In der nächsthöheren Altersgruppe 25 bis unter 30 Jahre sank von 1970 bis 1997 der Anteil der Verheirateten bei den Männern von 64 auf 24 und bei den Frauen von 81 % auf 43 % und damit auf rund die Hälfte. Erst in höherem Alter ergibt sich eine Stabilisierung, wobei leicht unterschiedliche Entwicklungen auf der Männerund Frauenseite auf Unregelmäßigkeiten unserer Altersgliederung und auf die Tatsache, dass Männer meist jüngere Frauen geheiratet haben, zurückgehen. Der dramatische Rückgang des Anteils der Verheirateten zeigt, dass immer weniger Personen in der festen Institution einer Ehe leben wollen, die manchmal als Fessel empfunden werden kann, die aber auch rechtliche und wirtschaftliche Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Andere Formen des Zusammenlebens mögen - vor allem in jungem und mittlerem Alter - beglückend und aufregend sein, sie bieten aber diese langfristige Verlässlichkeit nicht. Wenn man jung ist, vermag man immer wieder neue Beziehungen eingehen. Bei älteren, nicht mehr so
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Regional- und Bevölkerungswissenschaft
attraktiven und vielleicht auch gesundheitlich angeschlagenen Personen wird dies jedoch schwieriger. Tab. 2:
Verheiratetenquoten nach Altersgruppen und Geschlecht in BadenWürttemberg 1970 und 1997 Von der jeweiligen Altersgruppe waren verheiratet in %
Altersgruppe von... bis unter... Jahren
Männer Mai 1970
15-20
1
Frauen
Dez. 1997
Mai 1970
0
8
Dez. 1997 2
20-25
23
6
53
16
25-30
64
24
81
43
30-35
82
51
87
66
35-40
89
68
86
76
40-45
91
76
83
79
45-50
92
80
77
80
50-55
92
82
69
79
Die Folgen dieser Entwicklung - die von manchen Sozialforschern als eine beginnende "Entheiratung" der Bevölkerung bezeichnet wird, sind noch nicht hinreichend durchdacht und in ihren möglichen Konsequenzen nicht ausgelotet. Erinnert sei daran, dass in einer guten und verlässlichen Ehe die Partner sich finanziell und persönlich zur Seite stehen. Die finanzielle Notlage eines Ehepartners, ein Unfall oder eine schwere Erkrankung werden in den meisten Fällen, ohne dass ein Sozialamt oder Betreuungsinstitutionen eingeschaltet werden müssen, gut bewältigt. Ein komplizierter Beinbruch eines Alleinstehenden dagegen macht - auch wenn die medizinische Behandlung dies nicht mehr erfordern würde - einen stationären Aufenthalt in einer entsprechenden und teueren Institution erforderlich. In einer guten Ehe werden Gemeinschaftsaufgaben wie das Erziehen von Kindern oder auch das Erarbeiten von Wohnungseigentum mit vereinten Kräften meist gut gelöst. Auch vermag ein Ehepaar dank gegenseitiger Unterstützung bei Gebrechlichkeit oder leichter Behinderung das selbständige, eigenbestimmte Leben oftmals um Jahre länger aufrecht zu erhalten, als dies bei gleicher Beeinträchtigung Alleinstehende könnten. Bei Alleinstehenden - vor allem, wenn gesundheitliche Beeinträchtigungen einsetzen, besteht im Alter die Gefahr der Vereinsamung bis hin zur Vernachlässigung oder gar dem Selbstmord.
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Regional- und Bevölkerungswissenschaft
Natürlich mag man einwenden, dass auch eine gute Partnerschaft derartige Probleme zu bewältigen vermag. Dies ist nicht bestritten, doch zeigt sich immer wieder, dass in Krisenzeiten auch seit längerem bestehende Partnerschaften schneller zerbrechen als Ehen. Aus gesunkenen Heiratshäufigkeiten und gestiegenen Scheidungshäufigkeiten resultieren zurückgehende Zahlen von Ehen - die man bisher als den Grundbaustein unserer Gesellschaft bezeichnet hat. Die sich abzeichnenden Folgen sollten rechtzeitig bedacht werden. Die Auswirkungen auf unsere Systeme der sozialen Sicherung könnten gravierend sein Als eine der möglichen Folgen, die unter anderem Regionalwissenschaftlern, -Politikern und -planern Anlass zum Nachdenken geben sollten, wird der Bedarf an Betreuungsinstitutionen in erheblichem Maße zunehmen. Dies gilt sowohl für Zeiten der Genesung und Rehabilitation nach einer schweren Erkrankung als auch für das höheren Alter, wenn sich Alleinstehende nicht mehr selbst versorgen können bzw. die Familie diese Versorgung nicht leisten kann. Damit wird auch der Bedarf nach qualifizierten Arbeitskräften in diesem Bereich ebenso zunehmen wie der Bedarf an entsprechendem Wohnraum z.B. in Form von betreutem Wohnen.
Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2000
Industrielle Beziehungen in Deutschland: Das Beispiel der Unternehmensmitbestimmung - zugleich ein Blick auf Schweden und Österreich Olaf Schneider
"Industrielle Beziehungen", die wörtliche Übersetzung des im Angelsächsischen geläufigen Begriffes "industrial relations", sind gleichsam als ein Kunstwort ins Deutsche eingebürgert worden. Sie haben aber, anders als in den angelsächsischen Ländern, im deutschsprachigen Raum keineswegs eine eindeutige Verortung, etwa als eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin, gefunden 1 . Die industriellen Beziehungen kennzeichnen, sehr allgemein formuliert, die sozialen, vor allem jedoch die kollektiven Beziehungen in der Arbeitswelt. Sie stellen ein Organisations- und Institutionengeflecht dar, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zwischen Lohnarbeit und Kapital geschoben und ganz wesentlich zur Kanalisierung und Entschärfung von Konflikten zwischen den beiden Seiten beigetragen hat2. Im folgenden wird zunächst das deutsche Modell der industriellen Beziehungen skizziert, um dann als dessen zentrales Element die Mitbestimmung der Arbeitnehmer herauszugreifen 3 . Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei die Mitbestimmung auf der Unternehmensebene, also die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern an Entscheidungen im Aufsichtsorgan einer Unternehmung. Dem ländervergleichenden Interesse des Verfassers folgend, wird der Untersuchungsgegenstand fallweise etwas erweitert: Mal wird ein Blick auf die an das angelsächsische Boardsystem angelehnte schwedische Mitbestimmung geworfen, mal wird die dem deutschen Modell ähnelnde Mitbestimmung in Österreich gestreift.
1 2 3
Vgl. Müller-Jentsch ( 1999b), S. 7 f. Vgl. Mül 1er-Jentsch ( 1997), S. 22 ff. Die komprimierte Darstellung macht einige Vereinfachungen erforderlich. So beschränken sich beispielsweise die Ausfuhrungen zu den industriellen Beziehungen und im Anschluß daran zur Mitbestimmung ausschließlich auf den privaten Sektor.
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Unternehmensmitbestimmung
Ein Überblick: Das deutsche Modell der industriellen Beziehungen
Kennzeichnend für das System der industriellen Beziehungen in Deutschland und im großen und ganzen auch in Österreich - sind im wesentlichen fünf Prinzipien4: (1) In Deutschland besteht, im Gegensatz zu beispielsweise Großbritannien oder auch Schweden, das duale System der Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer5: Auf der Betriebsebene agiert der Betriebsrat im Rahmen der betrieblichen Mitbestimmung. Die Lohnverhandlungen dageben werden grundsätzlich nur von der jeweils zuständigen Gewerkschaft (Industrieprinzip) mit der entsprechenden Arbeitgeberorganisation gefuhrt: Noch dominiert dabei der Flächentarifvertrag, auch wenn dieser in den letzten Jahren, insbesondere in Ostdeutschland, an Boden verloren hat6. Der Betriebsrat ist also kein Akteur der Lohnpolitik: "Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein."7 Diese sog. Sperrwirkung eines Tarifvertrages kann jedoch dann aufgehoben werden, wenn ein Tarifvertrag ausdrücklich den Abschluß ergänzender Betriebsvereinbarungen zuläßt; dies zielt auf die Möglichkeit einer Besserstellung der Beschäftigten eines Betriebes, beispielsweise durch die Vereinbarung der Bezahlung von übertariflichen Löhnen, aber auch - via Öff-
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Vgl. auch Jacobi et al. (1998). Ein Überblick über die industriellen Beziehungen in Österreich findet sich bei Traxler (1998), zu den industriellen Beziehungen in Schweden siehe Kjellberg (1998). Im monistischen System werden die Arbeitnehmer ausschließlich durch die Gewerkschaften vertreten. So sind in Schweden anstelle eines Betriebsrates allein die betrieblichen Organisationen der Gewerkschaften in Form von gewerkschaftlichen Vetrauensleuten zur Vertretung der Interessen der Beschäftigten befugt. Diese Vertrauensleute nehmen - abgesichert durch das "Vertrauensmanngesetz" aus dem Jahr 1974, revidiert 1991 - Funktionen wahr, die in vielem mit den Aufgaben des deutschen Betriebsrates vergleichbar sind (vgl. Göransson 1997). In Westdeutschland wurden im privaten Sektor 1998 noch 48% aller Betriebe, auf die allerdings 68% aller Beschäftigten entfielen, von Flächentarifverträgen erfaßt. Die Vergleichszahlen für Ostdeutschland beliefen sich auf 26% bzw. 51%. Insgesamt waren rund 22 Millionen Arbeitnehmer in den Geltungsbereichen von Flächentarifverträgen beschäftigt. Die Zahl der Unternehmen, die einen Firmentarifvertrag abschließen - oftmals jedoch am entsprechenden Flächentarifvertrag orientiert -, betrug 1998 etwa 5.400; dort gab es rund 3 Millionen Beschäftigte. Zum Vergleich: In 60% der westdeutschen und sogar 80% der ostdeutschen Kleinstbetriebe mit bis zu 4 Beschäftigten befanden sich 1998 die Arbeitnehmer in einer "tarifvertragsfreien Zone", in der keine Tarifverträge gelten, sondern Einzelarbeitsverträge abgeschlossen werden (Vgl. Kohaut/Schnabel 1999; Tarifbericht 1999). §77 Absatz 3 Satz 1 - Betriebsverfassungsgesetz von 1972.
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nungs- und Härteklauseln - zu einer Unterschreitung von tarifvertraglichen Vereinbarungen 8 . Diese Dualität, also die rechtlich autonome Existenz der Betriebsräte neben den Gewerkschaften, wird in Deutschland überwiegend für richtig gehalten. In der Praxis wird sie jedoch weithin überspielt. Es gibt, "zum Teil am gesetzlichen Modell des Betriebsverfassungsgesetzes vorbei"9, ein umfassendes Netzwerk der Kooperation zwischen beiden Institutionen. Einige Beispiele: Rund 80% der Betriebsräte sind nicht nur gewerkschaftlich organisiert, sondern oftmals auch aktiv in den Gewerkschaften tätig. Die Gewerkschaften schulen die Betriebsratsmitglieder (und auch die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat); sie bilden insbesondere in den Klein- und Mittelbetrieben für die Betriebsratsarbeit einen wichtigen Rückhalt. (2) Die industriellen Beziehungen sind in Deutschland - wie auch in Östereich stark verrechtlicht. Ein Blick auf die betriebliche Mitbestimmung macht das besonders deutlich: In Deutschland besteht die "kodifizierte" Mitbestimmung in Form des Betriebsverfassungsgesetzes, in dem in insgesamt 132 Paragraphen die Rechte und Pflichten des Betriebsrates detailliert geregelt sind. In Schweden gibt es dagegen die auf das Ergebnis bezogen tendenziell offenere "verhandelte" Mitbestimmung 10 . Das dortige Mitbestimmungsgesetz (MBL)11 umfaßt lediglich 69 Paragraphen, wovon die meisten erst durch entsprechende Vereinbarungen mit den Gewerkschaften auf der Branchen-, vor allem aber auf der Unternehmensebene ihren konkreten Inhalt erfahren. (3) Die in erster Linie gesetzliche Regelung der industriellen Beziehungen hat dazu geführt, daß in Deutschland, ungleich stärker als in Schweden, zwischen den beiden Ebenen "Betrieb" und "Unternehmung" und damit zwischen der betrieblichen Mitbestimmung und der Unternehmensmitbestimmung unterschieden
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In der Praxis, nicht nur in Ostdeutschland, finden sich zahlreiche, wenn auch im einzelnen nur schwer dokumentierbare Beispiele für direkte Vereinbarungen zwischen Betrieb und Betriebsrat, mit denen zur Sicherung der Beschäftigung Arbeitszeit- und Entgeltregelungen von Flächentarifverträgen faktisch unterlaufen werden: Eine "wilde Deregulierung", die auf die stillschweigende Duldung durch die Gewerkschaften angewiesen ist (vgl. Oppolzer/Zachert 1998). Däubler (1998), S. 492. Vgl. Goldberg/Wolff (1980). Lag om medbestämmande i arbetslivet (MBL) von 1976 in der Fassung von 1997; siehe hierzu insbesondere Bergqvist et al. (1997) sowie Heilmann (1991).
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wird. Folglich ist die Mitbestimmung auf diesen zwei Ebenen in gänzlich unterschiedlichen Gesetzen geregelt12. Ein deutsch-schwedischer Mitbestimmungsvergleich hat diesen Unterschied besonders zu berücksichtigen. In Schweden räumt das Mitbestimmungsgesetz (MBL) den Gewerkschaften die Mitbestimmung auf allen Ebenen innerhalb einer Unternehmung ein, und damit können die Arbeitnehmervertreter selbst über unternehmenspolitisch relevante Fragen verhandeln. Die Aufsichtsratsmitbestimmung via LSA 13 hat demgegenüber - von den Gewerkschaften ausdrücklich gewollt - eher ergänzenden, informativen Charakter. In Deutschland hingegen hat gerade die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf der Unternehmensebene und die gesetzliche Ausgestaltung der Aufsichtsratsmitbestimmung - Forderung der Gewerkschaften nach paritätischer Mitbestimmung - einen viel größeren, symbolträchtigen Stellenwert. Im Hintergrund stehen konträre Positionen zu einer Demokratisierung der Wirtschaft. Diese Debatte ist heutzutage nahezu tot, sie ist aber in beiden Ländern in den 70er Jahren sehr heftig gefuhrt worden. Zugespitzt ausgedrückt könnte man sagen, daß die schwedischen Gewerkschaften die direkte Beteilung am Kapital via Arbeitnehmerfonds forderten, während in Deutschland die Gewerkschaften für die indirekte Beteiligung an Unternehmungen via paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat kämpften. (4) Die beiden Institutionen Betriebsrat und Gewerkschaft vertreten die Arbeitnehmer im Prinzip jeweils in ihrer Gesamtheit. Der Betriebsrat ist ein Repräsentativorgan. In den Betrieben, wo er existiert14, wird er alle vier Jahre von den Be-
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Hinzu kommt drittens die Mitbestimmung auf der "überbetrieblichen Ebene", die also oberhalb einer einzelnen Unternehmung bzw. eines einzelnen Konzerns angesiedelt ist; sie kann beispielsweise eine gesamte Branche, etwa in Form eines Flächentarifvertrages, oder sogar das ganze Land umfassen, beispielsweise in Form der gewerkschaftlichen Beteiligung an der "Konzertierten Aktion" oder am "Bündnis für Arbeit". Lag om styrelserepresentation for de anställda (LSA), Gesetz über die Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat aus dem Jahr 1976 in der Fassung von 1987. Dieses Gesetz ist zunächst einmal - so eine in Schweden bestehende Möglichkeit - drei Jahre lang "erprobt" worden. Nach der Auswertung der überwiegend positiven Erfahrungen ist es dann in einer etwas veränderten Form 1976 endgültig in Kraft getreten Hierzu zwei Anmerkungen: (1) Laut §1 Betriebsverfassungsgesetz ist ein Betrieb erst dann betriebsratsfähig, wenn dort mindestens fünf ständig wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt sind. (2) Die deutsche Wirtschaft setzt sich mehrheitlich aus kleinen und mittleren Unternehmen zusammen; in ihnen kommt ein Betriebsrat eher selten vor. Daraus resultiert, daß knapp 60% aller Arbeitnehmer des privaten Sektors in Betrieben ohne einen Betriebsrat beschäftigt sind. In nur etwa 10% aller betriebsratsfahigen Betriebe gibt es überhaupt einen Betriebsrat, selbst wenn beispielsweise in weit über 90% der Betriebe mit über 1.000 Beschäftigten ein Betriebsrat besteht (1998), vgl. Hassel/Kluge (1999), S. 173ff. Aus diesem Vertretungsdefizit erwachsen spürbare Legitimationsprobleme ftir die betriebliche Mitbestimmung (vgl. dazu Hassel/Kluge 1999).
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schäftigten gewählt und er besitzt bei einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von 70 bis 75% eine hohe Legitimation 15 . Bei den kollektiven Lohnverhandlungen auf der Branchen- oder der Firmenebene verhandeln die Gewerkschaften de jure zwar nur für ihre Mitglieder, und Sondervereinbarungen zugunsten gewerkschaftlich Organisierter sind grundsätzlich untersagt. Die Arbeitgeber übertragen aber die Ergebnisse eines Tarifvertrages auf alle Beschäftigten; damit hat ein Tarifvertrag Kollektivgutcharakter und die Attraktivität einer gewerkschaftlichen Mitgliedschaft wird geschmälert. (5) Die beiden Arbeitnehmervertretungen sind keineswegs fundamentale Oppositionsinstitutionen, sie haben vielmehr einen "intermediären" Charakter16. Der Betriebsrat ist sogar gesetzlich verpflichtet, das "Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs" zu verfolgen. Er unterliegt dem Gebot der "vertrauensvollen Zusammenarbeit" mit dem Arbeitgeber und hat Betätigungen zu unterlassen, durch die "der Frieden des Betriebes beeinträchtigt" wird. Daraus resultiert beispielsweise, daß die Institution Betriebsrat keine Arbeitskampfmaßnahmen ergreifen darf 17 . Das einzelne Betriebsratsmitglied kann jedoch sehr wohl an einem Streik, selbst in führender Rolle, teilnehmen. Auch die Gewerkschaften handeln in Deutschland weniger konfliktorientiert als in manchen anderen Ländern. Sie sind im allgemeinen kooperativ im Sinne der Sozialpartnerschaft, die sich in Deutschland in der Nachkriegszeit allmählich herausgebildet hat. Der mit den Institutionen Betriebsrat und Gewerkschaft verbundene soziale Frieden wird zuweilen sogar als ein spezieller Produktionsfaktor angesehen 18 . Die für Deutschland skizzierten Elemente der industriellen Beziehungen treffen auch für Österreich zu. Zugleich ist aber das österreichische Modell umfassender: (1) Österreich ist - im Rahmen der "Sozialpartnerschaft" - ungleich stärker korpo-
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Für die "leitenden Angestellten" (im allgemeinen zwischen 1 und 5% der Belegschaft) ist im Jahr 1989 auf Betreiben des damaligen kleinen Koalitionspartners, der FDP, und gegen den gemeinsamen Widerstand von Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften neben dem Betriebsrat gesetzlich ein "Sprecherausschuß" eingerichtet worden. 16 Vgl. insbesondere Müller-Jentsch (1999a). " Vgl. dazu §2 Absatz 1 und §74 Absatz 1 und 2 Betriebsverfassungsgesetz von 1972. " Ein Indikator für den "sozialen Frieden" ist das Ausmaß von Arbeitskämpfen. Die Zahl der Ausfalltage durch Streiks und Aussperrungen ist in Deutschland im allgemeinen niedrig; sie belief sich im Durchschnitt der Jahre 1990 bis 1997 auf 15 Tage j e 1.000 Beschäftigte. In Österreich sind Arbeitskämpfe traditionell kaum existent (5 Ausfalltage). In Schweden lag die Zahl zwar spürbar höher (59 Ausfalltage), trotzdem noch niedrig im Vergleich mit einer Reihe anderer Länder, etwa Finnland (200 Ausfalltage), Italien (184 Ausfalltage), Spanien (371 Ausfalltage). (Vgl. Zerche et al. (2000), S. 67ff.).
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ratistisch geprägt als Deutschland. Damit kommt dem soeben genannten "intermediären Charakter" eine noch größere Bedeutung als in Deutschland zu19. (2) Die Dualität von Betriebsrat und Gewerkschaft ist in Österreich komplexer. Jeder österreichische Arbeitnehmer ist beitragszahlendes Pflichtmitglied einer "Arbeiterkammer" 20 . Zwischen Arbeiterkammern und Gewerkschaften besteht eine eingespielte Rollenverteilung, die hier nur gestreift werden kann. Die Arbeiterkammern bieten ihren Mitgliedern eine breite Palette von Serviceleistungen an, z.B. Unterstützung vor dem Arbeitsgericht. Andererseits ergänzen sie die gewerkschaftliche Ausbildungspolitik - sie nehmen beispielsweise eine umfassende Schulung der Arbeitnehmervertreter wahr, die im Rahmen der Mitbestimmung auf der Unternehmensebene in den Aufsichtsräten tätig sind.
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Zur Einwicklung der Mitbestimmung in Deutschland - ein historischer Rückblick
Die Debatte um die Mitbestimmung hat in Deutschland eine lange Vorgeschichte21, auch wenn die Institutionalisierung und zugleich auch - ein Ergebnis vorwegnehmend - erfolgreiche Praktizierung der Mitbestimmung erst wesentlich später, nämlich in der Bundesrepublik Deutschland stattfand. Bereits um 1835, also in der im Vergleich zur Entwicklung Englands noch vorindustriellen Zeit, finden sich erste Vorschläge zur Einfuhrung von "Arbeitnehmerausschüssen". Solche Ideen einzelner bürgerlich-liberaler Denker waren ihrer Zeit weit voraus und blieben zunächst folgenlos. Im Zeichen der deutschen Revolution im Jahr 1848 wurde - wiederum von Bürgerlichen und Liberalen, nicht etwa von Fabrikarbeitern - viel weitergehende Mitbestimmungsforderungen erhoben, die im Rückblick als "die Wiege der konstitutionellen Fabrik" bezeichnet worden sind22. Neben zu schaffenden, paritätisch besetzten (!) Betriebsvertretungen war selbst von überbetrieblichen Fabrikräten und Kammern die Rede, womöglich hinauf bis auf die Reichsebene. Die Revolution scheiterte, der Gedanke einer Mitbestimmung im Sinne einer institutionellen Betriebsverfassung verschwand auf Jahrzehnte von der politischen Tagesordnung.
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Vgl. Traxler (1998). "Arbeiterkammer" ist die geläufige Kurzbezeichnung fur "Kammer für Arbeiter und Angestellte." Die Höhe der Beiträge zur Arbeiterkammer, die ein Arbeitnehmer zu zahlen hat. beträgt 0,5% des Bruttolohnes. Zur weiteren Darstellung vgl. insbesondere Bieber (1999) und Däubler (1998), S. 429ff. Vgl. Bieber (1999), S. 23.
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Von einigen wenigen Beispielen für eine freiwillig praktizierte Arbeiterbeteiligung abgesehen, folgte eine langanhaltende Phase der Polarisierung zwischen den im allgemeinen autokratisch-patriarchalischen Industriefabrikanten und den im Arbeitsleben nahezu rechtlosen Industriearbeitern. Der Herr-im-HauseStandpunkt prägte das Selbstverständnis der Industriellen. Sozialdemokratie und (freie) Gewerkschaften lehnten ebenfalls alle Mitbestimmungsideen - wie auch bis zur Jahrhundertwende den Abschluß von Tarifverträgen - zunächst ganz entschieden ab: Selbst ein System von obligatorischen Arbeiterausschüssen sei nur ein "Scheinsystem", sie bedeuteten "nichts weiter, als was Verfassungseinrichtungen auf politischem Gebiet bedeuten: Sie sind das scheinkonstitutionelle Feigenblatt, mit dem der Fabrikfeudalismus verdeckt werden soll" (August Bebel)23. Die Mitbestimmung tauchte - vom Sonderfall im Bergbau abgesehen 24 - erst wieder während des Ersten Weltkrieges auf und zwar als eine Strategie der Pazifizierung nach innen und zur Sicherung einer maximalen Rüstungsproduktion nach den riesigen Verlusten der Schlacht um Verdun. Ende 1916 wurde per Gesetz auf Druck der SPD, die seit 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag war - für alle kriegswichtigen Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten die Einrichtung von beratenden Arbeiterausschüssen sowie außerhalb der einzelnen Betriebe die Schaffung von paritätisch besetzten Schlichtungsausschüssen vorgeschrieben. Fortan waren die Arbeitgeber, die die neuen Regelungen vehement ablehnten, gezwungen, mit Gewerkschaftsvertretern zusammenzuarbeiten und sie damit als Vertreter der Arbeiterschaft zu akzeptieren25. Das Ende der autokratischen Betriebsverfassung war eingeläutet26. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches zeigte sich die Kapitalseite angesichts des Schreckenszenarios einer Räterepublik mit einer umfassenden Sozialisierung zunächst konzessionsbereit. Die Weimarer Reichsverfassung vom August 1919 schuf die Voraussetzung für die Einführung einer betrieblichen Mitbestimmung, die in einer überbetrieblichen Mitbestimmung ihre Fortsetzung finden
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Bebel in einer Rechtstagsrede, zit. bei Däubler (1998), S. 431. Däubler (ebenda) kennzeichnet diese Position als "eine in dieser Deutlichkeit beispielhafte Absage an jede Politik der Klassenversöhnung und Partnerschaft." Vgl. Bieber (1999), S. 50 f. Die tendenzielle Aufwertung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften war eingebettet in das berühmt-berüchtigte "Vaterländische Hilfsgesetz" vom 2.12.1916. Auch die Gewerkschaften taten sich, aus gänzlich anderen Gründen als die Arbeitgeber, mit der neuen Lage schwer. Zwar hatten die Arbeitnehmer einige Rechte erhalten, die Gewerkschaften sahen sich aber nunmehr zwangsweise eingebunden in ein Wirtschafts- und Staatssystem, von dem sie sich verbal immer nachdrücklich distanziert hatten (vgl. Däubler (1998), S. 432f.). Vgl. Bieber (1999), S. 70f.
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sollte27: Am Modell der Parität von Arbeit und Kapital orientiert, sollten Reichsarbeitsräte und Reichswirtschaftsräte geschaffen werden. Nachdem sich bereits im Sommer 1920 das politische Kräfteverhältnis spürbar nach rechts verändert hatte, war an eine Realisierung nicht mehr zu denken. Immerhin gelang es im Februar 1920, nach schweren Auseinandersetzungen im und außerhalb des Reichstages, das Betriebsrätegesetz zu verabschieden, das für alle Betriebe mit mehr als 20 Arbeitnehmern galt. In der Bezeichnung Betriebsrat klang, von Kritikern der Linken als Etikettenschwindel geschmäht, die gescheiterte Rätebewegung nach. Das Gesetz konzidierte dem an sich schwachen Betriebsrat - immerhin ein für alle Beschäftigten gemeinsamer Betriebsrat und nicht, wie in Österreich nahezu zeitgleich eingeführt und bis heute weiterhin bestehend, getrennt in Arbeiter- und Angestelltenbetriebsrat - zahlreiche, in der Praxis meist wertlose Beratungsrechte, aber auch eine Reihe von Mitbestimmungsrechten, z.B. bei der Verlängerung oder Verkürzung der regelmäßigen Arbeitszeit oder bei der Festsetzung von Akkordsätzen 28 . Die Institution Betriebsrat hatte, viel stärker als in ihrer heutigen Ausgestaltung, einen intermediären Charakter; man könnte sogar von einem "Doppelcharakter" 29 sprechen: Der Betriebsrat ist, so die gesetzliche Formulierung, "zur Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer ... dem Arbeitgeber gegenüber und zur Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke" zu bilden30. Spätestens mit der Einführung von Betriebsräten ist das duale System besiegelt worden, das seither für die industriellen Beziehungen in Deutschland kennzeichnend ist (vgl. dazu die damalige Diskussion in Schweden) 31 . Mit den neugeschaf27
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In der Verfassung des Deutschen Reichs ("Weimarer Verfassung") vom 11. August 1919 heißt es im Artikel 165 u.a.: "Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken." ... "Die Arbeiter erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten,... Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat". Vgl. Däubler (1998), S. 436f. Däubler (1998), S. 437. § 1 Betriebsrätegesetz, zit. bei Däubler (1998), S. 437. Die gegen Ende des Ersten Weltkrieges in anderen europäischen Ländern einsetzende revolutionäre Bewegung in der Arbeiterschaft, aktiv fur die Schaffung von Arbeiterräten, für Wirtschaftsdemokratie und Sozialisierung zu kämpfen, beeinflußte auch die Arbeiter in Schweden. Radikale Vorschläge allerdings, etwa zur spontanen Bildung von Arbeiterräten, fanden nahezu keinen Anklang. Die negative Einstellung gegenüber Arbeiter- und Betriebsräten wurde auch in der Folgezeit beibehalten. Teils wollte man kein Rätesystem à la Rußland, teils beurteilte man die im Ausland gesammelten Erfahrungen mit Betriebsräten, vor allem in Deutschland seit der Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes, ablehnend. Auch befürchtete die Gewerkschaftsseite, Arbeiter- und Betriebsräte
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fenen Betriebsräten entstanden aber keine gewerkschaftsunabhängigen Arbeitnehmervertretungen, die einzelnen Betriebsräte waren bald weitgehend organisatorisch, personell und auch finanzeil eng mit den Gewerkschaften verflochten 32 . Das Vermächtnis der Weimarer Republik hatte bei der Gestaltung der industriellen Beziehungen in der 1949 geschaffenen Bundesrepublik Deutschland Pate gestanden. So übernahm das 1952 von einer konservativen Bundestagsmehrheit verabschiedete "Betriebsverfassungsgesetz" ganze Passagen wörtlich aus dem alten Betriebsrätegesetz; inhaltlich blieb das Gesetz weit hinter den Vorstellungen der Gewerkschaften für einen Neubeginn zurück. Obgleich die Gewerkschaften gravierende Mängel beklagten, arrangierten sie sich in der Folgezeit mit diesem Gesetz33. Nicht mehr die prinzipielle Ablehnung, sondern der Ruf nach Reformen prägte die Diskussion. Ein beträchtlicher Teil der gewerkschaftlichen Vorschläge konnte dann 1972 durch das neue, bis heute gültige Betriebsverfassungsgesetz verwirklicht werden, das von der SPD/FDP-Regierung unter der Kanzlerschaft von Willy Brandt im Deutschen Bundestag eingebracht worden war. (Derzeit wird auf Betreiben der Gewerkschaften an einer erneuten Novellierung des Betriebsverfassungsgesetztes gearbeitet, teilweise im Wege des Versuches einer Konsensfindung zwischen Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften; andererseits bestehen sehr divergierende Interessenpositionen 34 ). Dem Thema dieses Aufsatzes entsprechend wird die Institution Betriebsrat im weiteren nicht näher dargestellt. In den einleitenden Ausführungen zu den industriellen Beziehungen in Deutschland ist der Betriebsrat als eine "intermediäre" Institution bezeichnet worden. Dies soll hier nochmals unterstrichen und damit auch das Spezifische des dualen deutschen Modells der industriellen Beziehungen verdeutlicht werden. "Rückblickend können wir die Entwicklung der Betriebsverfassung in Deutschland wie folgt resümieren: Im Laufe der Zeit haben die Akteure der industriellen Beziehungen es gelernt, mit der Institution des Betriebsrats umzugehen, das heißt
könnten zu Konkurrenzorganisationen werden, welche die bestehenden Gewerkschaftsorganisationen zersplittern könnten. 32 Vgl. Bieber (1999), S 90f. " Vgl. Däubler (1998), S. 443ff. 34 Zielsetzungen der Arbeitgeberseite ist es, die bestehende Betriebsverfassung zu "liberalisieren", u.a. durch eine Verringerung der Regulierungsdichte, mehr Spielraum für Betriebsvereinbarungen und eine spürbare Entmachtung der innerbetrieblichen Einigungsstellen zu Lasten des Betriebsrates. Die Gewerkschaften wollen vor allem die Bildung von Betriebsräten in Kleinbetrieben erleichtern, w o der Verbreitungsgrad von Betriebsräten nahezu minimal ist (vgl. Hassel/Kluge (1999), S. 173ff., siehe auch Fußnote 14).
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sie nach ihren Interessen und Zielen zu handhaben und zu modifizieren. Die Gewerkschaften mußten eine Betriebsvertretung akzeptieren, die nicht integrierter Teil ihrer Organisation ist; sie lernten, mit dieser Institution zu kooperieren und sie fur ihre Ziele zu nutzen. Die Unternehmer mußten hinnehmen, daß ein relevanter Teil traditioneller Managementvorrechte zu einer Arena gemeinsamer Entscheidungen gemacht wurde. Die durch Gesetz und soziale Machtverhältnisse gesetzten Faktoren zwangen das Management, seinen Führungsstil zu ändern und mit dem Betriebsrat zu kooperieren, während der Betriebsrat lernen mußte, seine Funktion der Interessenvertretung der Beschäftigten zu überschreiten und Mitverantwortung für Produktivität und wirtschaftlichen Erfolg des Betriebes zu akzeptieren, also co-managerielle Aufgaben zu übernehmen" 35 . (Die Rolle des Betriebsrates als Co-Manager wurde nicht zuletzt im ostdeutschen Transformationsprozeß deutlich36.) Abschließend soll nochmals der Blick zurückgeworfen und eine - zumindest aus deutscher Sicht - weitere elementare Schwäche der Mitbestimmung in der Weimarer Republik aufgezeigt werden, nämlich die geringe Möglichkeit der Arbeitnehmer, auf Entscheidungen Einfluß nehmen zu können, die auf der wohl wichtigsten, nämlich der Unternehmensebene, getroffen werden. Im Betriebsrätegesetz von 1920 wurde erstmalig in Deutschland den Arbeiternehmern eine Minderheitsvertretung im Aufsichtsrat zugebilligt. Eine Konkretisierung erfolgte dann im Aufsichtsratsgesetz von 1922, durchgesetzt gegen den erbitterten Widerstand der Industrie. Es räumte dem Betriebsrat das Recht ein, in den Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft maximal zwei Mitglieder entsenden zu können, ausgestattet mit dem formal gleichen Stimmrecht wie die übrigen Mitglieder. De facto verfügten die Arbeitnehmervertreter über wenig Einfluß. Die Kapitalseite unterlief, wo immer es möglich war, das Gesetz37: Mangelnde Information der Arbeitnehmervertreter, informelle Absprachen der Kapitalvertreter, geschickte Handhabung der Geschäftsordnung usw. Die entsandten Betriebsräte waren aber auch fachlich meist wenig kompetent und ihren "Kollegen" im Aufsichtsrat gesellschaftlich nicht gewachsen. Immerhin, ein erster Vorstoß in den unternehmenspolitischen Machtbereich war vollzogen.
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Müller-Jentsch (1997), S. 280. Siehe dazu Lang/Steger (1999). Vgl. Bieber (1999), S. 97.
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Zum Mitbestimmungsbegriff
Für die weitere Darstellung der deutschen Mitbestimmung, insbesondere auf der Unternehmensebene, ist es angebracht, den Begriff Mitbestimmung selbst näher zu erläutern. "Mitbestimmung" bedeutet - dem Wortsinn nach - das Gegenteil von "Alleinbestimmung". Der Begriff Mitbestimmung wird aber im deutschen (wie auch im schwedischen) Wortgebrauch in einem doppelten Sinn verwendet. Einmal ist Mitbestimmung ein Oberbegriff, eine Sammelbezeichnung für alle Arten einer institutionalisierten Beteiligung von Arbeitnehmern bzw. ihren Vertretern an Entscheidungen. Andererseits ist Mitbestimmung ein Terminus, mit dem eine ganz bestimmte Form der Teilhabe bezeichnet wird, nämlich die echte bzw. paritätische Mitbestimmung. Parität bedeutet, daß Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite gleichberechtigt an einer Beschlußfassung beteiligt sind. Da keine Seite von der anderen überstimmt werden kann, besteht ein konstruktiver Einigungsdruck. Für den Fall einer Nichteinigung muß eine Regelung vorgegeben sein, mit der diese Pattsituation aufgelöst werden kann. Das kann entweder durch die Einschaltung eines Dritten erfolgen - entsprechend dem Betriebsverfassungsgesetz von 1972 fallweise die Einigungsstelle (intern) oder das Arbeitsgericht (extern) - oder, wie noch darzustellen ist, die den Ausschlag gebende Stimme des "neutralen" Mitglieds im Aufsichtsrat (Montanmitbestimmung). Verwendet man, wie es der deutsche Gesetzgeber macht, den Begriff Mitbestimmung nur dann, wenn Parität gegeben ist, kann man alle schwächeren Formen der Teilhabe, also eine Unterparität, als "Mitwirkung" bezeichnen. (Eine Gesetzesbezeichnung wie in Schweden, "Lag om medbestämmande i arbetslivet", würde strenggenommen in Deutschland allein fur die Regelung einer paritätischen Konstellation zutreffen. 38 ) Das Recht auf Anhörung oder das Recht auf Beratung sind Beispiele für Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer. Im Falle einer Nichteinigung liegt das Entscheidungsrecht allein beim Arbeitgeber - das kann den zu treffenden Beschluß bereits präjudizieren.
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Ein Blick auf das schwedische Mitbestimmungsgesetz (MBL): In diesem Gesetz sind wohl einige Rechte der Gewerkschaften auf Anhörung, Information, Verhandlung usw., also Mitwirkungsrechte, geregelt. Es gibt aber im allgemeinen keine Regelung, die der Arbeitnehmerseite in konkret beschriebenen Fällen das Recht auf eine (paritätische) Mitbestimmung einräumt. Für den Gesetzgeber wäre es an sich adäquat gewesen, statt des Terminus Mitbestimmung (medbestämmande) einen anderen Begriff, beispielsweise Einflußnahmen (medinflytande) oder Beratung (samrâd) zu verwenden. Mit Bedacht ist aber die Bezeichnung Mitbestimmung gewählt worden; m.E. war es die Absicht des Gesetzgebers, den Arbeitnehmern via M B L auf lange Sicht eine wirkliche Mitbestimmung zu ermöglichen.
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Die Unternehmensmitbestimmung in Deutschland
Die Mitbestimmung auf der Unternehmensebene wird im weiteren, vor allem aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit mit Schweden, allein am Beispiel der Aktiengesellschaft dargestellt, auch wenn rein zahlenmäßig gesehen diese Rechtsform nur rund 3.000 Unternehmen und damit etwa 1% aller deutschen Kapitalgesellschaften betrifft 39 . Allerdings sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, beispielsweise Robert Bosch GmbH, alle deutschen Großunternehmen und Konzerne Aktiengesellschaften.
4.1
Akteure der Unternehmenspolitik: Die drei Organe einer mitbestimmten Aktiengesellschaft
Die Unternehmensmitbestimmung erstreckt sich in Deutschland ausschließlich auf Kapitalgesellschaften, und das auch üblicherweise erst ab einer bestimmten Größe der Belegschaft 40 . Bevor die einzelnen Modelle dieser Mitbestimmung präsentiert werden, sollen die drei Organe einer Aktiengesellschaft, nämlich Hauptversammlung, Vorstand und Aufsichtsrat skizziert werden. Damit soll, rechtlich-institutionell, das Spezifische der deutschen (und auch der österreichischen) Unternehmensverfassung deutlich gemacht werden: Die Zweiteilung der Unternehmensfuhrung in Leitung (Vorstand) und Überwachung (Aufsichtsrat). Hauptversammlung. Die Aktionäre treffen auf der Hauptversammlung alle grundlegend bestimmenden Entscheidungen, wie Wahl der Kapitalvertreter im Aufsichtsrat, Entlastung des Vorstandes und des Aufsichtsrates, Verwendung des Bilanzgewinns, Satzungsänderungen, Kapitalerhöhung, Änderung der Rechtsform (und damit möglicherweise Abschwächung oder sogar Abschaffung der Mitbestimmung), Fusion mit einer anderen Unternehmung, Verlegung des Firmensitzes ins Ausland usw. Vorstand. Der Vorstand leitet eigenverantwortlich die laufenden Geschäfte einer Aktiengesellschaft. Er ist ein Kollegialorgan, dessen einzelne Mitglieder relativ selbständig in ihren Ressorts handeln, ζ. B. Verkauf oder Entwicklung. Ein Mitglied des Vorstandes kann, wie noch zu zeigen ist, der "Arbeitsdirektor" sein.
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In Schweden ist die Situation genau umgekehrt: Dort sind nahezu alle Unternehmen, auch im öffentlichen Sektor, Aktiengesellschaften. Personengesellschaften, wie groß sie auch sein mögen, unterliegen nicht der Unternehmensmitbestimmung, sehr wohl gibt es aber auch dort im allgemeinen einen Betriebsrat.
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Aufsichtsrat. In einer mitbestimmten Unternehmung setzt sich der Aufsichtsrat aus Vertretern der Aktionäre und der Arbeitnehmer zusammen. Die Kapitalvertreter werden von der Hauptversammlung, die Arbeitnehmervertreter von den Arbeitnehmern gewählt41. Der Aufsichtsrat bestellt die Mitglieder des Vorstandes auf maximal fünf Jahre, wobei eine Wiederbestellung möglich ist. Der Aufsichtsrat kann den Vorstandsvorsitzenden ernennen. In der Praxis der Aufsichtsratspolitik nimmt der Aufsichtsratsvorsitzende eine überragende Position ein (de facto ist er immer ein Aktionärsvertreter). Die Hauptarbeit des Aufsichtsrates findet in der Regel nicht im Gremium, sondern in den Ausschüssen statt. Der Aufsichtsrat hat gegenüber dem Vorstand eine doppelte Kontrollfunktion 42 : (1) Er soll den Vorstand beraten (ex-ante-Kontrolle) und (2) den Vorstand überwachen (ex-post-Kontrolle). Hierzu kann zum Beispiel die von der Hauptversammlung beschlossene Unternehmenssatzung oder der Aufsichtsrat in seiner Satzung selbst festlegen, daß bestimmte Arten von Geschäften nur nach Zustimmung des Aufsichtsrats vorgenommen werden dürfen. Das kann beispielsweise ein Investitionsvorhaben sein, wenn sein Finanzierungsvolumen mehr als 50 Millionen DM beträgt. Der Vorstand wiederum hat die Verpflichtung, dem Aufsichtsrat über alle wesentlichen Unternehmensfragen zu berichten. Somit hängt die Qualität der Überwachung entscheidend davon ab, welche (informellen) Informationen der Aufsichtsrat aus der Unternehmung erhält, also von dem zu überwachenden Vorstand selbst (!) oder von anderen Stellen im Unternehmen.
4.2
Modelle der Unternehmensmitbestimmung
4.2.1
Die Montanmitbestimmung
Im Montansektor des Rhein-Ruhr-Gebietes (Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung) entstand bald nach Kriegsende in der Praxis auf der Basis von Betriebsvereinbarungen, also nicht auf der Grundlage einer gesetzlichen Vorschrift, und vor allem: auf Vorschlag der Arbeitgeberseite, eine paritätische Mitbestimmung auf der Unternehmensebene. Sie war das Ergebnis eines Zweckbündnisses, das in den Jahren 1946 und 1947 teilweise sehr widerstrebende Interessen von Arbeit
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Der Wahlmodus fur die Arbeitnehmervertreter ist je nach Mitbestimmungsmodell unterschiedlich und teilweise recht kompliziert; darauf wird im weiteren nicht eingegangen. Vgl. auch Auge-Dickhut (1999), S. 21 ff.
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und Kapital vereinte 43 : (1) Wiederaufbau zerstörter Produktionsanlagen und Wiederingangsetzung der Produktion. (2) Vermeidung drohender Absichten der Siegermächte zur Demontage und zur Zerschlagung der Konzerne. (3) Abwehr der von vielen politischen, gewerkschaftlichen und gesellschaftlichen Gruppen mit Nachdruck erhobenen Forderungen nach Sozialisierung der "Schlüsselindustrien". (4) Aufwertung des traditionell gewerkschaftsfeindlichen Unternehmertums der Schwerindustrie, das durch seine enge Verbindung mit den Nationalsozialisten politisch abgewirtschaftet hatte. Diese neugeschaffene Mitbestimmung bewirkte zunächst einmal eine sichtbare Machtverschiebung zugunsten der Arbeitnehmer. Die im September 1949 angetretene Bundesregierung mit Konrad Adenauer als Bundeskanzler steuerte jedoch einen restaurativen Kurs und wollte bereits 1950 die Montanmitbestimmung wieder abschaffen. Ein heftiger politischer Kampf um die Beibehaltung der Mitbestimmung entbrannte. Auf massiven Druck der Gewerkschaften gelang es dann 1951, das "Montanmitbestimmungsgesetz" mit großer Mehrheit im Deutschen Bundestag zu verabschieden; es gilt in allen Montanunternehmen mit über 1.000 Beschäftigten. Diese erfolgreiche Verteidigung eines vor-gesetzlichen Besitzstandes sollte, wie die weitere Entwicklung bis heute zeigt, der einzige wirkliche Erfolg der Gewerkschaften auf dem Gebiet der Mitbestimmung bleiben. Die Einzelheiten des Montanmitbestimmungsgesetzes sind recht kompliziert, seine drei wichtigsten Merkmale sind folgende: •
Kapital- und Arbeitnehmerseite entsenden gleichviel Mitglieder in den Aufsichtsrat, also jeweils 5 Mitglieder.
•
Darüber hinaus wird ein weiteres, "neutrales" Mitglied auf Vorschlag der Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder gewählt. Der "elfte Mann" muß also das Vertrauen beider Seiten besitzen. Er soll bei Meinungsverschiedenheiten im Vorfeld einer Entscheidung vermittelnd wirken. Im Falle einer Pattsituation (in der Praxis kommt es äußerst selten zu solch einer Zuspitzung) gibt seine Stimme den Ausschlag 44 .
•
Der Aufsichtsrat bestellt die Mitglieder des Vorstandes einer Unternehmung. Im Rahmen der Montanmitbestimmung kommt dabei der Arbeitnehmerseite
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Vgl. auch Däubler (1998), S. 726ff. Je nach Höhe des Aktienkapitals kann die Satzung einer Montanunternehmung festlegen, daß der Aufsichtsrat aus j e w e i l s 7 oder sogar 10 Vertretern der Kapital- und der Arbeitnehmerseite besteht. Dann ist der "Neutrale" das 15. bzw. das 21. Mitglied des Aufsichtsrates.
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Unternehmensmitbestimmung
347
eine recht starke Position zu: Der "Arbeitsdirektor" (ein Vorstandsmitglied, das in einem weitgefaßten Sinn für das Personal- und Sozialwesen zuständig ist) kann nicht gegen die Stimmen der Mehrheit der Arbeitnehmervertreter gewählt oder auch abberufen werden. Eine kritische Würdigung der Montanmitbestimmung soll anhand von sechs Punkten erfolgen: (1) Die Gewerkschaften "hatten gehofft, mit der Montanmitbestimmung den 'Einstieg' in eine wirtschaftsdemokratische Neuordnung geschafft zu haben" 45 . Tatsächlich verkörpert die Montanmitbestimmung einen nicht wiederholbaren Erfolg, der für die Gewerkschaften weiterhin einen außerordentlichen hohen Symbolwert besitzt. Bis heute ist die Montanmitbestimmung das gewerkschaftliche Referenzmodell für eine "echte" Mitbestimmung geblieben. (2) Näher betrachtet zeigt sich aber, daß die Montanmitbestimmung keineswegs eine echte, allenfalls eine Parität mit Abstrichen enthält46. Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wissen, daß sie letztlich am kürzeren Hebel sitzen und das macht sie, oft schon im Vorfeld von Entscheidungen, konzessionsbereit. Drei Beispiele hierfür: (1) Bei der Wahl des Vorstandes bestimmt die Arbeitnehmerseite im Endergebnis nur die Person des Arbeitsdirektors; die übrigen Vorstandsmitglieder werden von der Kapitalseite ausgesucht. (2) Der Aufsichtsratsvorsitzende wird in aller Regel von der Anteilseignerseite gestellt, ebenso die meisten Vorsitzenden der Aufsichtsratsausschüsse. (3) Falls sich die Mitglieder des Aufsichtsrates nicht auf das zusätzliche, neutrale Mitglied einigen können (Pattsituation), können die Kapitaleigner in der Hauptversammlung frei entscheiden, wen sie zum elften Mann wählen. Einer älteren Untersuchung zufolge herrscht jedoch in der Praxis Konsens darüber, daß die Arbeitnehmerseite, gleichsam als Kompensation für den "Verzicht" auf den Vorsitz im Aufsichtsrat, den "Neutralen" vorschlägt. Dieser muß natürlich auch auf der Kapitalseite auf Akzeptanz stoßen 47 . (3) Die Position des Arbeitsdirektors ist nicht unproblematisch: Der Arbeitsdirektor hat zu einer Aufwertung des Ressorts "Personal- und Sozialwesen" und damit der Arbeitnehmerinteressen geführt und den Informationsfluß zwischen
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Miiller-Jentsch (1999a), S. 290. Zur Gesamtkonzeption der Wirtschaftsdemokratie und den Stellenwert der Mitbestimmung in ihr siehe insbesondere Vilmar (1999). Vgl. Däub!er( 1998), S. 730f. Vgl. Müller-Jentsch (1997), S. 282f.
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Betriebsrat und Vorstand verbessert. Der Arbeitsdirektor ist sogar als "Schaltstelle der Zusammenarbeit mit Betriebsrat und Gewerkschaft" bezeichnet worden48. Allerdings ist der Arbeitsdirektor auch einem Entfremdungsprozeß und Loyalitätskonflikt ausgesetzt: "Einerseits erwarten die Arbeitnehmer von ihm eine eindeutige Vertretung ihrer Interessen ('Treuhänderfunktion'), andererseits hat er sich als Vorstandsmitglied für die Interessen des Unternehmens einzusetzen" 49 . (4) Immer wieder haben Unternehmen versucht, sich der Montanmitbestimmung zu entziehen und in schwächere Formen der Mitbestimmung "abzuwandern", beispielsweise durch Verlagerung des Umsatzschwerpunktes im Wege einer Fusionierung auf den Nicht-Montanbereich. Mehrfach, erstmalig bereits 1956, zuletzt 1988, ist der Gesetzgeber auf Druck der Gewerkschaften zur weiteren Sicherung der Montanmitbestimmung aktiv geworden50. Die faktische Relevanz dieser Form der Mitbestimmung hat dabei im Laufe der Jahre sichtlich abgenommen: Der Montanbereich, ehemals ein wirtschaftliches Machtzentrum, umfaßte Mitte der 50er Jahre etwa 110 Unternehmen; derzeit sind es in Westdeutschland weniger als 30 Unternehmen, auf die sich das Gesetz erstreckt. Nach der deutschen Einheit sind in Ostdeutschland knapp 20 Unternehmen dazugekommen. Insgesamt betrifft die Montanmitbestimmung mit etwa 400.000 Beschäftigten nur noch knapp 2% aller Arbeitnehmer in Deutschland (Stand 1996). (5) Die praktischen Erfolge der Montanmitbestimmung liegen wohl am stärksten im personellen und sozialen Bereich. "Der Sozialplan ist eine Erfindung der Montanindustrie, eine Pionierleistung, die freilich auch damit zusammenhängt, daß ... in weitem Umfang staatliche Beihilfen gewährt wurden"51. Die Montanmitbestimmung hat wesentlich dazu beigetragen, "daß der säkulare Umstrukturierungs- und Schrumpfungsprozeß der Krisenbranchen "Kohle und Stahl weitgehend ohne Massenentlassungen und stattdessen durch Abfederung über Sozial-
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Müller-Jentsch (1999), S. 294. Keller (1997), S. 117. Das Mitbestimmungsergänzungsgesetz von 1988 enthält folgende Regelung für einen Bestandsschutz: Die Montanmitbestimmung gilt in einem Konzern, solange der Anteil des Montanumsatzes nicht unter 20% fallt. Abweichend davon gilt die Montanmitbestimmung jedoch schon dann, wenn mindestens 2.000 Mitarbeiter im Montanbereich eines Konzerns beschäftigt sind. Umgekehrt gilt: Damit ein Unternehmen neu in den Geltungsbereich der Montanmitbestimmung fallt, muß der Umsatz aus dem Montanbereich 6 Jahre lang einen Anteil von über 50% am Gesamtumsatz haben. Däubler (1998), S. 737. Der Sozialplan ist später zu einem Kernstück des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972 geworden. Der Betriebsrat besitzt ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht auf Aufstellung eines Sozialplanes. Ein Sozialplan soll durch Abfindungszahlungen die wirtschaftlichen Nachteile von Arbeitnehmern durch Verlust des Arbeitsplatzes ausgleichen oder wenigstens mindern, wenn die Arbeitslosigkeit aus Betriebseinschränkungen, Stillegungen oder auch Rationalisierungsmaßnahmen resultiert.
Unternehmensmitbestimmung
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pläne und Frühpensionierungen vonstatten ging. Neben diesen positiven sozialen Folgen lassen sich auch keine negativen wirtschaftlichen Konsequenzen, z.B. fur die Investitionstätigkeit der Unternehmen oder die Dividendenpolitik, feststellen"52. (6) Die Montanmitbestimmung kann als ein "Lehrstück besonderer Art" gesehen werden. Sie entstand "nach dem Kriege als ein erster Schritt auf dem Wege einer umfassenden Demokratisierung der Wirtschaft", getragen von nahezu allen politischen und gesellschaftlichen Kräften. Nach ihrer gesetzlichen Institutionalisierung 1951 geriet sie jedoch "in die Rolle eines zwar allgemein anerkannten, nichtsdestoweniger isolierten Modellfalles" 53 . Die Montanmitbestimmung hat sich in der Praxis bewährt; sie hat keineswegs die Funktionsfähigkeit einer Unternehmung und das Rentabilitätsprinzip in Frage gestellt. Dies ist ihr wiederholt, nicht zuletzt von einer vielzitierten Sachverständigenkommission 1970 ausdrücklich bestätigt worden 54 . Es waren also keine sachlichen, sondern politische Gründe, die sich einer Übertragung dieser Art der Unternehmensmitbestimmung auf weitere Bereiche der Wirtschaft erfolgreich widersetzen konnten.
4.2.2
Die Drittelparität der Arbeitnehmer
Wie eben dargelegt, betrachteten die Gewerkschaften die gesetzliche Verankerung der Montanmitbestimmung im Jahr 1951 als ihren Erfolg. Sie hofften, dieses Mitbestimmungsmodell in der Folgezeit auf den übrigen Bereich der Wirtschaft übertragen zu können. Tatsächlich aber war der Zug für tiefergehende gesellschaftliche Reformen, insbesondere jene, die die Wirtschaftsordnung berührten, im Nachkriegsdeutschland bereits abgefahren. Das "Wirtschaftswunder" beherrschte zunehmend das Bild.
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Keller (1997), S. 117. Kittner (1996), S. 1062. 1970 legte eine 1968 von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission (nach ihrem Vorsitzenden "Biedenkopf-Kommission" genannt) ihren Bericht vor, der auf den Ergebnissen zahlreicher Anhörungen und schriftlichen Befragungen fußte. Die Kommission sollte durch Auswertung der Erfahrungen mit der Mitbestimmung und durch Ausarbeitung von Empfehlungen eine Grundlage für zukünftige gesetzliche Regelungen erarbeiten. Die Biedenkopf-Kommission, mehrheitlich mit konservativen Mitgliedern besetzt, votierte fur eine Ausweitung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer weit über den Rahmen der "Drittelparität" hinaus, ohne allerdings eine paritätische Lösung nach dem Montanmodell zu befürworten (vgl. Keller (1997), S. 117f.).
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1952 gelang es nur noch, das ziemlich schwache Betriebsverfassungsgesetz 55 im Parlament zu verabschieden. In ihm war, wie ein Anhängsel, zugleich auch die Mitbestimmung auf der Unternehmensebene geregelt. Diese Regelung knüpfte wiederum an die Unternehmensmitbestimmung aus der Weimarer Zeit an.56 Sie ist, mit Ausnahme der 1976 erfolgten Ausgliederung der Großunternehmen in das "Mitbestimmungsgesetz", bis heute in Kraft: In Aktiengesellschaften sind die Arbeitnehmer zu einem Drittel am Aufsichtsrat zu beteiligen ("Drittelparität"). Bei einer Minoritätsvertretung im Aufsichtsrat erstreckt sich die Aufgabe der Arbeitnehmervertreter, neben der Beteiligung an der Wahl und Kontrolle des Vorstandes, in erster Linie darauf, ihre Informationsbasis zu verbreitern. Die Arbeitnehmervertreter verfugen über vielfältige Möglichkeiten einer qualifizierten und konstruktiven Mitarbeit im Aufsichtsrat; im Konfliktfall werden sie überstimmt, falls es nicht vorab zu einem Tauschgeschäft oder gar einem "Kuhhandel" kommt 57 . Die Drittelparität ist daher als "Anhörungsrecht" bezeichnet worden, das folglich in der Einschätzung vieler Betriebsratsvorsitzender hinter ihrer Tätigkeit im Betriebsrat rangiere58. Vergleicht man die deutschen Mitbestimmungsmodelle mit dem schwedischen Unternehmensmitbestimmungsgesetz (LSA), zeigt sich, daß allenfalls die Drittelparität der schwedischen Regelung nahekommt. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, daß sich diese beiden Arten der Unternehmensmitbestimmung in der praktischen Anwendung nicht all zu sehr voneinander unterscheiden. Im schwedischen Gesetz ist als Zielsetzung sogar ausdrücklich von "Einsicht in und Einflußnahme auf die Unternehmenstätigkeit" die Rede. Dies könnte man sinngemäß auch der deutschen drittelparitätischen Mitbestimmung zuschreiben. Bei näherer Betrachtung werden jedoch einige merkliche Unterschiede sichtbar. Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Sie ist in Deutschland - im Gegensatz zur Einrichtung eines Betriebsrates - eine gesetzliche Mußvorschrift. In Schweden wird dagegen auf der betrieblichen Ebene von der oder den Gewerkschaften beschlossen, ob überhaupt Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat geschickt werden sollen. (Im vorliegenden Aufsatz ist der besseren Vergleichbar-
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Siehe oben S. 9. Siehe oben S. 10. Konfliktlösung durch ein Tauschgeschäft ist selbstverständlich kein Spezifikum der Drittelparität. Empirische Untersuchungen zu den übrigen Modellen der Mitbestimmung zeigen, daß man im Aufsichtsrat im allgemeinen um einen Konsens bemüht ist. Nur im Ausnahmefall, wenn es zu einer protokollierten Kampfabstimmung kommt, wird die Arbeitnehmerseite offen überstimmt. Vgl. Däubler (1998), S. 740f.
Unternehmensmitbestimmung
351
keit halber vom "Aufsichtsrat" die Rede, obwohl bei Übersetzungen ins Deutsche oftmals der Begriff "Verwaltungsrat" verwendet wird59.) Unternehmensgröße. In Deutschland beginnt die Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat im Regelfall erst ab einer Beschäftigtenzahl von über 50060. (Insgesamt, also einschließlich der Unternehmen in Form einer "Gesellschaft mit beschränkter Haftung", werden etwa 1 Million Arbeitnehmer von der Drittelparität erfaßt). In kleineren Unternehmen kommt allein, wenn überhaupt, das Betriebsverfassungsgesetz zur Anwendung. In Schweden beginnt die Unternehmensmitbestimmung bereits ab einer Größe von 25 Beschäftigten. Drittelparität. In Deutschland ist die Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat der mitbestimmungspflichtigen Unternehmen in Form der Drittelparität eine zwingende Vorschrift. Die Zahl der Arbeitnehmervertreter beträgt mindestens eins, sie kann je nach Höhe des Grundkapitals einer Aktiengesellschaft bis auf sieben steigen. In Schweden liegt dagegen, wie bereits erwähnt, das Recht ausschließlich bei der oder den zuständigen Gewerkschaften auf der betrieblichen Ebene, darüber zu entscheiden, ob überhaupt Vertreter der Arbeitnehmer in den Aufsichtsrat der entsprechenden Unternehmung entsendet werden sollen; auch ein Rückzug aus dem Aufsichtsrat ist denkbar. Üblicherweise werden zwei, in Unternehmen mit über 1.000 Mitarbeitern drei Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat geschickt. Die Zahl der Vertreter der Kapitalseite bestimmt alljährlich die Hauptversammlung aufs neue. In der Praxis ergibt sich meistens eine Relation, die über einer Viertel-, aber unter einer Drittelparität liegt.
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Das dem angelsächsischen Board-Modell ähnelnde Leitungsorgan einer schwedischen Aktiengesellschaft besteht aus dem Verwaltungsrat (styrelse), dem der Verwaltungsratsvorsitzende (styrelseordförande) vorsteht, und dem Geschäftsführenden Direktor (verkställande direktör), der aber ebenfalls Mitglied des Verwaltungsrates ist. Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 machte in seiner ursprünglichen Fassung, sieht man von der sogenannten Familienaktiengesellschaft ab, keine Mindestbeschäftigungszahl zur Voraussetzung für die drittelparitätische Mitbestimmungspflicht in einer Aktiengesellschaft. Der Verzicht des Gesetzgebers auf die Festlegung einer Mindestzahl von Mitarbeitern bezieht sich allerdings ausschließlich auf den verhältnismäßig selten vorkommenden Fall einer kleineren NichtFamilienaktiengesellschaft. Für die eindeutig dominierende Unternehmensform "Gesellschaft mit beschränkter Haftung" gilt, genauso wie für die Familienaktiengesellschaft, bis heute die Mindestzahl von 500 Beschäftigten. Mit dem Inkrafttreten des "Gesetz (es) für kleine Aktiengesellschaften und zur Dereguliering des Aktienrechts" 1994 hat sich die Lage für Aktiengesellschaften, die seitdem neu ins Handelsregister eingetragen werden, "verbessert": Nunmehr sind sie erst ab einer Mitarbeiterzahl von 500 mitbestimmungspflichtig. Dieser Verzicht auf die Mitbestimmung spielt aber, wie eine empirische Untersuchung belegt, für die Überlegungen, ob eine Aktiengesellschaft neu gegründet werden soll, eine eher untergeordnete Rolle (vgl. Schawilye et al. (1999)).
352
Unternehmensmitbestimmung
Das deutsche Aktiengesetz schließt "Stellvertreter" von Aufsichtsratsmitgliedern aus, läßt aber die Bestellung von "Ersatzmitgliedern" zu. Ein Ersatzmitglied wird dann ein ordentliches Mitglied, wenn der zu ersetzende Aktien- oder Arbeitnehmervertreter vor Ablauf seiner Amtszeit ausscheidet. In Schweden wird laut LSA für jedes Arbeitnehmermitglied im Aufsichtsrat ein Ersatzmitglied (suppléant) gewählt. Diese Ersatzmitglieder haben, anders als in Deutschland, bei Aufsichtsratssitzungen und auf der Hauptversammlung ein eigenes Anwesenheits- und sogar Rederecht 61 . Stellung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. In Deutschland sind die Vertreter der Arbeitnehmerseite gleichwertige Mitglieder des Aufsichtsrates. Sie haben die gleichen Aufgaben, Rechte und Pflichten und tragen die gleiche Verantwortung wie die Vertreter der Kapitalseite. Daher ist es - zumindest formalrechtlich gesehen - nicht möglich, bestimmte Themen nur unter Ausschluß der Arbeitnehmervertreter zu besprechen und entsprechende Beschlüsse dazu zu fassen. Die Rechtslage in Schweden sieht demgegenüber Ausnahmen von der Gleichwertigkeit vor. Um Loyalitätskonflikte zu vermeiden, enthält das LSA einige "Befangenheitsregeln": Die Arbeitnehmervertreter dürfen nicht an Sitzungen des Aufsichtsrates teilnehmen, auf denen Fragen behandelt werden, die sich insbesondere mit der Tarifpolitik und mit Arbeitskampfmaßnahmen befassen. Bei solchen Themen werden die Arbeitnehmervertreter, die ja von den Gewerkschaften entsandt werden, als Gegenpartei des Unternehmens angesehen 62 . Tantiemen für die Arbeitnehmervertreter. In Deutschland erhalten die Aufsichtsratsmitglieder eine spezielle Vergütung, die in Großunternehmen und vor allem auch für Aufsichtsratvorsitzende recht hoch sein kann63. Die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmervertreter sind jedoch laut Gewerkschaftssatzung verpflichtet, den größten Teil ihrer Tantiemen, die den Betrag von 6.000 DM übersteigen, an die Hans-Böckler-Stiftung abzuführen 64 . In Schweden hingegen erfolgt bei etwa zwei Drittel aller Arbeitnehmervertreter die Mitarbeit im Auf-
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In Schweden bestimmt alljährlich die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft, ob und wieviele "suppleanter" für die Aktionärsvertreter im Aufsichtsrat gewählt werden sollen. Häufig wird auf Ersatzmitglieder völlig verzichtet. Vgl. Lavén (1988), S. 104ff. Für 1993 wird im Bankensektor eine Aufsichtsratsvergütung von durchschnittlich 59.000 D M genannt. Dagegen belaufen sich die Tantiemen im Durchschnitt aller Branchen auf 37.000 D M (vgl. Auge-Dickhut (1999), S. 33f.). Die Hans-Böckler-Stiftung nimmt die Bildungs- und Forschungsaufgaben des D G B wahr. Ein Beispiel: In der Mitgliederzeitung der Gewerkschaft ÖTV wird jedes Jahr unter Namensnennung aufgelistetet, wer von den gewerkschaftlich organisierten Mandatsträgern seine Einnahmen satzungsgemäß abgeführt hat - und wer nicht.
Unternehmensmitbestimmung
353
sichtsrat "ehrenamtlich", die übrigen Vertreter der Arbeitnehmer erhalten irgendeine Art von Entgelt.65 Zum Vergleich ein Blick auf die Unternehmensmitbestimmung in Österreich. Dort ist in jeder Aktiengesellschaft, also unabhängig von der Zahl der Beschäftigten oder anderen Größenmerkmalen, der Aufsichtsrat obligatorisch drittelparitätisch zu besetzen. In Österreich spricht man hierbei folgerichtig nicht von Mitbestimmung, sondern von "Mitwirkung" bzw. "Imparität" im Aufsichtsrat 66 . Diese - aus deutscher Sichtweise schwache - Rolle der Arbeitnehmervertreter wird aber seitens der österreichischen Gewerkschaften im Grundsatz nicht in Frage gestellt67: "Dieses 'Ungleichgewicht' der Aufsichtsratsbesetzung entspricht unserem Wirtschaftssystem: Bestimmender Faktor unserer Wirtschaft ist das Kapital, wirtschaftliche Entscheidungen trifft der Unternehmer - die Arbeitnehmer haben Mitwirkungsrechte, mit deren Hilfe sie letztlich aber weder eine unternehmerische Maßnahme verhindern noch erzwingen können. Und trotzdem: Viele Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat üben mit Hilfe ihres betrieblichen Wissens, einer fundierten Ausbildung, hartnäckiger Argumentation und Durchsetzungskraft faktisch wesentlichen Einfluß auf die Unternehmenspolitik aus... Die Mitwirkung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat ist daher grundsätzlich als entscheidende Ergänzung zu den sonstigen betrieblichen Mitwirkungsrechten aus dem Untemehmensalltag nicht mehr wegzudenken" 68 . Auf den ersten Blick ähnelt die österreichische Drittelparität - wie viele andere rechtlichen Regelungen - dem deutschen Modell. Es gibt aber auch einige signifikante Abweichungen 69 : Jenseits der Drittelparität gibt es keine weiteren gesetzlichen Regelungen der Unternehmensmitbestimmung "und zwar nicht, weil die Gewerkschaften eine solche nicht wünschten oder nicht durchsetzen könnten, sondern eher deshalb,
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Immerhin beziehen rund 8% der Arbeitnehmervertreter Tantiemen in der gleichen Höhe wie die Vertreter der Aktionärsseite, vgl. Levinson et al. (1999), S. 136f. Vgl. Schwarz/Löschnigg (1997), S. 857 ff. Die Forderung nach einer paritätischen Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat ist zwar in den 70er Jahren von der Gewerkschaftsseite erhoben worden. Sie ist aber, trotz der damaligen SPÖAlleinregierung, von Bundeskanzler Bruno Kreisky nicht aufgegriffen worden, m. W. mit der Absicht, das österreichische Konsensmodell der "Sozialpartnerschaft" keiner Belastung aussetzen zu wollen. Gahleitner (1998), S. 2 f. Vgl. Strasser (1990), S. 367 ff.; Schwarz/Löschnigg (1997), S. 857 ff.; Gahleitner (1998).
354
Unternehmensmitbestimmung
weil die Mitbestimmung via Aufsichtsratsbeschickung nicht als effektiv genug angesichts der Eigentümerstrukturen angesehen wird..." 70 . Die Arbeitnehmervertreter, aus dem Kreis der Betriebsratsmitglieder kommend, haben im Aufsichtsrat im allgemeinen die gleichen Rechte und Pflichten wie die Vertreter der Kapitalseite. Wenn es aber um die Wahl bzw. Abwahl von Vorstandsmitgliedern, des Aufsichtsratsvorsitzenden sowie dessen ersten Stellvertreter geht, greift die "Aktionärsschutzklausel" bzw. die "doppelte Mehrheit": Zum einen muß der gesamte Aufsichtsrat mit der Mehrheit seiner Mitglieder zustimmen; zusätzlich ist - im gleichen Wahlgang - die Mehrheit der Vertreter der Anteilseigner erforderlich 71 . Bei der Verlagerung von Aufsichtsratskompetenzen in entscheidungsbefugte Ausschüsse haben die Arbeitnehmervertreter das Recht, dort ebenfalls zu einem Drittel vertreten zu sein. (In Deutschland ist es im Rahmen der Drittelparität zulässig, daß einzelne Ausschüsse auch ohne Beteiligung von Arbeitnehmervertretern gebildet werden können. Davon wird in der Praxis immer wieder Gebrauch gemacht 72 ). Die Vertreter der Anteilseigner, nicht aber die Arbeitnehmervertreter, erhalten für ihre Aufsichtsratsarbeit Tantiemen. Letztere üben, wie es auch in Schweden mehrheitlich gehandhabt wird, ihre Tätigkeit "ehrenamtlich" aus.
4.2.3
Die Mitbestimmung in den Großunternehmen
Rund zweieinhalb Jahrzehnte lang bildete die Montanmitbestimmung von 1951 (sowie das Montan-Mitbestimmungergänzungsgesetz in den Fassungen von 1956 bzw. 1971), vor allem aber die 1952 eingeführte Drittelparität die rechtliche Grundlage für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf der Unternehmensebene. Erst in der Phase einer Re-Politisierung, nicht nur der Gewerkschaften, Ende
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M i k l - H o r k e ( 1 9 9 1 ) , S. 2 6 4 . D e n k b a r ist f o l g e n d e Konstellation: Falls sich die Kapitalvertreter nicht e i n i g e n k ö n n e n , k o m m t den Arbeitnehmervertretern bei einheitlicher S t i m m a b g a b e e i n e relativ starke Position zu. U m Koalitionen z w i s c h e n der A r b e i t n e h m e r s e i t e und einer Minderheit von Kapitalvertretern a u s z u s c h l i e ß e n , ist die S t i m m e n m e h r h e i t der Vertreter der A n t e i l s e i g n e r bei den genannten P e r s o n a l e n t s c h e i d u n g e n z w i n g e n d erforderlich. Für D e u t s c h l a n d gilt: Es gibt k e i n e ausdrückliche g e s e t z l i c h e Vorschrift, daß in j e d e m A u s s c h u ß auch die A r b e i t n e h m e r s e i t e vertreten sein muß. U m g e k e h r t gilt allerdings, daß e s rechtlich nicht z u l ä s s i g ist, per U n t e r n e h m e n s - oder Aufsichtsratssatzung den A u s s c h l u ß der Arbeitnehmervertreter aus allen A u s s c h ü s s e n zu b e s c h l i e ß e n .
Unternehmensmitbestimmung
355
der 60er/Anfang der 70er Jahre, war die Zeit reif für einen Ausbau der Unternehmensmitbestimmung. Der Anstoß hierzu ging von den Gewerkschaften aus. Sie hatten bereits 1968 einen Gesetzentwurf vorgelegt, wonach die aus ihrer Sicht bewährte Montanmitbestimmung auf alle "Großunternehmen" übertragen werden sollte. Im Februar 1974 einigte sich die sozialliberale Bundesregierung auf den Entwurf eines Mitbestimmungsgesetzes. Der Gang der Gesetzgebung war kompliziert und langwierig. Zum einen kam es bereits im Vorfeld der parlamentarischen Beratung zu einer wahren "Modellinflation" 73 . Zum anderen waren die Positionen der beiden Regierungsparteien konträr und veränderten sich obendrein im Laufe der Debatte. Und schließlich war die Bundesregierung um einen Konsens bemüht; sie wollte tunlichst vermeiden, daß ein so brisantes Thema wie die Ausweitung der Unternehmensmitbestimmung gegen den Widerstand der Opposition im Parlament durchgedrückt würde. Im März 1976 verabschiedete dann der Deutsche Bundestag das "Mitbestimmungsgesetz" nahezu einstimmig. Es gilt als "Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses par excellence"74, enthält aber als "Kompromiß im Kompromiß" 75 erhebliche Abstriche gegenüber der Montanmitbestimmung. Die Wesensmerkmale des Mitbestimmungsgesetzes lassen sich wie folgt beschreiben76: •
Das Gesetz gilt - zwingend - für alle Aktiengesellschaften, die mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigen. (Die kleineren Aktiengesellschaften, die also zwischen 500 und 2.000 Beschäftigte haben, fallen, wie dargestellt, weiterhin in den Bereich der Drittelparität).
•
Der Aufsichtsrat ist paritätisch zusammengesetzt. Er umfaßt je sechs, acht oder sogar zehn Mitglieder der Anteilseigner und der Arbeitnehmer 77 .
•
Die Position des Neutralen gemäß Montanmitbestimmung gibt es im Mitbestimmungsgesetz nicht. Sollte es bei einer Abstimmung im Aufsichtsrat zu
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Däubler (1998), S. 743. Keller (1997), S. 121. Däubler (1998), S. 746. Wie bei der Darstellung der Montanmitbestimmung wird auch hier auf die Beschreibung des komplizierten Wahlverfahrens der Arbeitnehmervertreter für den Aufsichtsrat verzichtet. Ab 10.000 Beschäftigten setzt sich der Aufsichtsrat aus j e acht, ab 20.000 Beschäftigten aus j e zehn Mitgliedern der Kapital- und der Arbeitnehmerseite zusammen.
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einer Pattsituation kommen, verfügt der Aufsichtsratsvorsitzende bei einer zweiten Abstimmung über ein doppeltes Stimmrecht. •
Wie in der Montanmitbestimmung gibt es auch im Mitbestimmungsgesetz einen Arbeitsdirektor als gleichberechtigtes Mitglied des Vorstandes.
Wie bereits die Montanmitbestimmung, soll auch das Mitbestimmungsgesetz einer kritischen Würdigung unterzogen werden. (1) Formal gesehen ist der Aufsichtsrat paritätisch zusammengesetzt. Der Aufsichtsratsvorsitzende ist, gesetzlich keineswegs zwingend, als Folge der Wahlmodalität de facto immer ein Vertreter der Kapitalseite78. Er verfügt, wie bereits genannt, im Konfliktfall, also zur Auflösung einer Pattsituation, über das doppelte Stimmrecht. Damit verbleibt das Letztentscheidungsrecht auf der Seite der Anteilseigner. Der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende ist üblicherweise ein "starker" Arbeitnehmervertreter, z.B. der Vorsitzende des Betriebsrates oder des Gesamtbetriebsrates. Er kann auch ein externes Gewerkschaftsmitglied des Aufsichtsrates sein. Es gibt sogar Beispiele dafür, daß Vorsitzende von Gewerkschaften zum stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt worden sind79. Entscheidend jedoch ist: Der Stellvertreter des Aufsichtsratsvorsitzenden besitzt kein doppeltes Stimmrecht. (2) Das doppelte Stimmrecht suggeriert das Bild von Kampfabstimmungen im Aufsichtsrat. Die empirische Mitbestimmungsforschung zeigt dagegen - ein ähnlicher Befund gilt für die Montanmitbestimmung -, daß solche Situationen nur sehr selten eintreten: "Offene Konflikte werden durch vorklärende Gespräche zwischen dem Vorstand und den Arbeitnehmervertretern vermieden. Auch ansonsten sind häufige informelle Kontakte zwischen bestimmten Vertretern beider Seiten mit dem Ziel der Informationsgewinnung und Interessenabstimmung von erheblicher Bedeutung für die Aufsichtsratsarbeit. In solchen Vorbesprechungen werden Konflikte bereits vor den eigentlichen Sitzungen ausgeräumt und Kompromisse ausgehandelt;
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Wenn sich bei der Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden die Mitglieder des Aufsichtsrates im ersten Wahlgang nicht mit einer Zweidrittelmehrheit auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen können, dann wählt anschließend die Kapitalseite aus ihren Reihen den Vorsitzenden und die Arbeitnehmerseite dementsprechend den stellvertretenden Vorsitzenden des Aufsichtsrates. Ein jüngeres Beispiel, das allerdings den Montanbereich betrifft: Nach der Fusion zweier Ruhrkonzerne zum Thyssen-Krupp-Konzern mit insgesamt fast 180.000 Beschäftigten ist dort im April 1999 der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Dieter Schulte, zum stellvertretenden Vorsitzenden des Aufsichtsrates gewählt worden.
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die eigentliche Sitzung, die durch Vorabklärungen zudem verkürzt wird, dient nur noch der formalen Abstimmung, nicht aber kontroversen Debatten." 80 "Nach wie vor gilt, daß die große Mehrzahl der Entscheidungen mitbestimmter Aufsichtsräte einstimmig ergeht und der Vorsitzende nur selten von seinem Doppelstimmrecht Gebrauch macht. Auch die Arbeitnehmervertreter sind darauf bedacht, es möglichst nicht zu kontroversen Abstimmungen kommen zu lassen, weil sie wegen der fehlenden Parität von vornherein in der Verliererposition wären und ihre Verhandlungsfähigkeit im Vorfeld von Entscheidungen des Aufsichtsrats erhalten wollen. Vorständen und Anteilseignern dagegen liegt vor allem daran, für geplante Maßnahmen Konsens zu erreichen, um auf diese Weise ihre Umsetzung zu erleichtern."81 (3) Die Gewerkschaften kritisierten anfangs lautstark, daß von einer Parität schon allein deswegen nicht die Rede sein könnte, weil auf der Arbeitnehmerbank auch ein Vertreter der Leitenden Angesteilen säße82. Dort sei er aber fehlplaziert, da die "Leitenden" faktisch Arbeitgeberfunktionen ausübten und sich wohl kaum mit den Interessen der übrigen Arbeitnehmervertreter identifizieren könnten 83 . Es gibt einzelne spektakuläre Beispiele dafür, daß eine sich abzeichnende Pattsituation (und der Einsatz des doppelten Stimmrechts) dadurch abgewehrt wurde, daß der Vertreter der "Leitenden" bereits im ersten Wahlgang mit den Kapitalvertretern stimmte 84 . Insgesamt gesehen, zeigt die Praxis jedoch ein gänzlich anderes Bild: "Zu den stärksten Unterstützern des Mitbestimmungsgesetzes von 1976 gehören die Berufsverbände der Leitenden Angestellten. Die Vertreter der Leitenden Angestellten im Aufsichtsrat sind in der Mehrzahl der Fälle in die Arbeitnehmerbank integriert und werden dort, nicht zuletzt aufgrund ihres Sachverstands, auch zu Vorbesprechungen hinzugezogen. Hierin spiegeln sich auch die wachsenden Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitnehmervertreter. Gewerkschaftli-
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Keller (1997), S. 126. Kommission Mitbestimmung (1998), S. 103. Die Leitenden Angestellten sind oftmals rein rechnerisch überrepräsentiert, da die Gruppe der Wahlberechtigten, absolut oder relativ gesehen, sehr klein sein kann. A u f der betrieblichen Ebene hat man die Gruppe der "Leitenden" wegen möglicher Interessenkonflikte insoweit neutralisiert, daß sie nicht durch den Betriebsrat selbst, sondern allenfalls neben dem Betriebsrat durch den "Sprecherausschuß" repräsentiert werden (vgl. Fußnote 15). Eine solche Abstimmungskonstellation ergab sich in den 80er Jahren im Aufsichtsrat des DaimlerBenz-Konzernes bei der Wahl des Vorstandsvorsitzenden. Der - einige Jahre später dann doch gewählte - Kandidat, Edzard Reuter, fiel im ersten Anlauf nicht etwa wegen fehlender Qualifikation, sondern in erster Linie ob seiner "Nähe zur Sozialdemokratie" durch.
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che Befürchtungen, daß die Leitenden Angestellten sich in der Regel zur Anteilseignerseite rechnen würden, haben sich nicht bewahrheitet."85 (4) Scheinbar analog zur Montanmitbestimmung ist auch im Mitbestimmungsgesetz nahezu wortgleich der Arbeitsdirektor im Vorstand einer Aktiengesellschaft verankert: "Als gleichberechtigtes Mitglied des zur gesetzlichen Vertretung des Unternehmens befugten Organs wird ein Arbeitsdirektor bestellt". Im Gegensatz zur Montanmitbestimmung unterliegt der Arbeitsdirektor aber nicht, und das ist der gravierende Unterschied, einem speziellen Wahlmodus, der die Interessen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat schützt. (Zur Erinnerung: Laut Montan-Mitbestimmungsgesetz kann der Arbeitsdirektor nicht gegen die Mehrheit der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat gewählt oder auch abgewählt werden). "Im Endergebnis entscheidet daher die Kapitalseite allein, wer Arbeitsdirektor wird (und bleibt) und kann so dafür sorgen, daß keine ihr unerwünschten Entwicklungen im Personalsektor eintreten"86. "Zumeist schlägt die Arbeitgeberseite den Arbeitsdirektor vor, was nicht unbedingt im Einvernehmen mit, geschweige denn auf Initiative der Arbeitnehmervertreter geschieht; häufig war er früher Personalchef des Unternehmens. Offene Konflikte im Bestellungsverfahren treten gelegentlich bei der Präsentation externer Kandidaten auf, werden aber im Regelfall wegen ihrer Aussichtslosigkeit und in Anbetracht der notwendigen zukünftigen Kooperation von den Arbeitnehmervertretern vermieden" 87 . (5) Während der parlamentarischen Beratung und in den ersten Jahren nach der Verabschiedung des Mitbestimmungsgesetzes hat es in einem nicht unerheblichen Umfang, z.T. provokante Beispiele für eine "Flucht aus der Mitbestimmung" gegeben: Hauptsächlich durch Absenken der Beschäftigtenzahl unter 2.000, beispielsweise im Wege der Aufspaltung einer Unternehmung in mehrere kleinere, rechtlich selbständige Unternehmen, aber auch durch Umwandlung der Rechtsform 88 89. Mittlerweile ist das Mitbestimmungsgesetz seit über 20 Jahren in Kraft; die früheren ideologischen Debatten auf der Arbeitgeberseite "über die
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Kommission Mitbestimmung (1998), S. 96 f. Däubler (1998), S. 747. Keller (1997), S. 127. In diesem Aufsatz wird, wie oben dargelegt, vereinfachend von der Rechtsform der Aktiengesellschaft ausgegangen. Das deutsche Unternehmensrecht enthält indessen eine Reihe von Möglichkeiten, eine "mitbestimmungsfreie" Rechtsform einer Unternehmung zu wählen, in erster Linie in Form einer Personalgesellschaft. Vgl. Däubler (1998), S. 754 ff., Kittner (1996), S. 1033 f.
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Vereinbarkeit von Mitbestimmung mit Marktwirtschaft und Privateigentum haben sich erschöpft." 90 "Die Mitbestimmung im Aufsichtsrat ist zu einer fest etablierten Institution geworden... Jede realistische Perspektive einer Weiterentwicklung des deutschen Unternehmensrechts in Reaktion auf neue wirtschaftliche Verhältnisse muß sowohl von der Mitbestimmung als auch von der Unterscheidung von Aufsichtsrat und Vorstand als langfristig gegebenen Tatsache ausgehen".91
5
Die Unternehmensmitbestimmung in Deutschland: Ergebnisse und Schlußfolgerungen
5.1
Die paritätische Mitbestimmung - (k)ein Ausnahmefall
Die Montanmitbestimmung wird aus deutscher Sicht als die Verkörperung einer "echten" paritätischen Mitbestimmung betrachtet. Ihre drei tragenden Elemente (1) paritätische Zusammensetzung des Aufsichtsrates, (2) ein zusätzliches neutrales Mitglied, (3) der Arbeitsdirektor als ein vom Vertrauen der Arbeitnehmerseite getragenes Vorstandsmitglied - bilden bis heute das Referenzmodell der Gewerkschaften für eine Ausdehnung der Mitbestimmung auf der Unternehmensebene. Wie schon an anderer Stelle gezeigt, nimmt rein quantitativ gesehen die Montanmitbestimmung heutzutage eine Nischenstellung ein: Nur noch 45 Unternehmen mit etwa 400.000 Beschäftigten unterliegen dieser Mitbestimmung (Stand 1996)92. Solche Zahlen unterbewerten jedoch die gestalterische Kraft, die von der Montanmitbestimmung ausging und auch weiterhin auszugehen vermag: "Die Praxis der Montanmitbestimmung strahlte weit über die Montanindustrien hinaus und stärkte jenes Potential, das sich zum deutschen Konsensmodell der industriellen Beziehungen auskristallisierte."93 "In dem von den Gesetzen von 1951 und 1976 definierten Rahmen haben sich vielfältige Mitbestimmungskulturen herausgebildet, in denen unterschiedliche 90 91 92 93
K o m m i s s i o n M i t b e s t i m m u n g (1998), S. 31. K o m m i s s i o n M i t b e s t i m m u n g (1998), S. 95. Vgl. K o m m i s s i o n M i t b e s t i m m u n g (1998), S. 43 ff. Miiller-Jentsch (1999a), S. 294.
360
Unternehmensmitbestimmung
Branchen- und Unternehmenskulturen Ausdruck finden"94. Einige Beispiele hierfür: (1) In einer Reihe von Unternehmen, die dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 unterliegen, wird in der Praxis nicht viel anders verfahren als in Unternehmen der Montanindutrie95. (2) In der Montanindustrie gibt es Belege für freiwillige, also privatrechtliche Vereinbarungen über Mitbestimmungsrechte: Unternehmen und Gewerkschaften begannen schon früh damit, die vollständige oder annähernde Fortgeltung der Montanmitbestimmung in Fällen zu vereinbaren, in denen ein Unternehmen dieser nach dem Gesetz nicht mehr oder nicht mehr gänzlich unterlag96. (3) Auch in vielen ehemaligen öffentlichen "Regiebetrieben", d.h. Unternehmen ohne organisatorische und rechtliche Selbständigkeit, sind nach deren Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft, im allgemeinen in eine Aktiengesellschaft, Elemente der Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz oder selbst der Montanmitbestimmung oft auch dann eingerichtet worden, wenn dies nach dem Gesetz nicht erforderlich gewesen wäre97.
5.2
Die versteckte Minderheitsposition: Das Mitbestimmungsgesetz
Die ursprüngliche politische Absicht war es, eine Mitbestimmungslösung zu finden, die auf dem Grundsatz der "Gleichberechtigung und Gleichgewichtigkeit von Arbeitnehmern und Anteilseignern"98 in Großunternehmen beruht. Das 1976 beschlossene Mitbestimmungsgesetz schreibt zwar die paritätische Besetzung des Aufsichtsrates vor; es enthält aber, wie gezeigt, mehrere Vorschriften, die die Kapitalvertreter begünstigen. Dadurch wird der Arbeitnehmerbank de facto nur eine Scheinparität zugebilligt. Die Dimension dieser Unterparität wird unterschiedlich bewertet. Das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, hat 1979 in seiner vielbeachteten Entscheidung festgestellt99, daß das Mitbestimmungsgesetz keine Parität schaffe, sondern der Anteilseignerseite "ein leichtes Übergewicht" bewahre100.
94 55 96 97 98
99
Kommission Mitbestimmung (1998), S. 96. Vgl. ebenda, S. 96. Vgl. ebenda, S. 37 f. Vgl. ebenda, S. 38. Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner Regierungserklärung vom 17.05.1974 (zitiert bei Kittner (1996), S. 1030). Vorausgegangen war 1977 eine Klage von nahezu 40 Großunternehmen und Arbeitgeberverbänden gegen dieses Gesetz. Damit war wohl auch die Erwartung verbunden, das Gericht werde mit seiner Entscheidung zugleich den Spielraum fur zukünftige Mitbestimmungsaktivitäten des Gesetzgebers einschränken. Auch wurde spekuliert, das Gericht werde das Mitbestimmungsgesetz als noch verfas-
Unternehmensmitbestimmung
361
Eine ablehnende Position gegenüber dem Mitbestimmungsgesetz vertritt beispielsweise Wolfgang Däubler. Die Arbeitnehmer blieben vom Einfluß her in einer Minderheitsposition, die kaum über die Drittelparität hinausginge. Im Gegenteil: Der Schein der Parität berge, anders als die offene Minderheitsposition in Form der Drittelparität, die Gefahr in sich, "daß die Arbeitnehmervertreter von den Belegschaften mit Unternehmensentscheidungen identifiziert werden, die sie in Wahrheit gar nicht beeinflussen konnten."101. Däubler bezeichnet das Mitbestimmungsgesetz als eine Niederlage der gewerkschaftlichen Bemühungen um mehr Mitbestimmung. Diese sei aber von den Gewerkschaften mitherbeigeführt worden: Mangelndes Engagement und fehlende Aktivitäten von Gewerkschaften und Arbeitnehmern 102 , erklärbar auch durch die weltweite Rezession Mitte der 70er Jahre und die zunehmende Angst um die Arbeitsplätze103. Die quantitative Dimension der Mitbestimmung nach dem Gesetz von 1976 ist ungleich größer als nach dem Montan-Mitbestimmungsgesetz (Stand 1996)' 04 . Die Zahl der mitbestimmten Unternehmen liegt bei knapp 730 (1978 bis 1985 belief sie sich nahezu konstant auf etwa 480 Unternehmen) 105 . Die Zahl der dort Beschäftigten, hier ist man auf Schätzungen angewiesen, wird mit etwa 5,2 Millionen angenommen. Eine weitere Zahlenangabe: Die Aufsichtsratsmandate der Arbeitnehmervertreter summieren sich auf etwa 4.900; über 90% aller Arbeitnehmerrepräsentanten sind gewerkschaftlich organisiert. Die heutige gewerkschaftliche Position zur Unternehmensmitbestimmung kann thesenartig so umschrieben werden: (1) Die Montanmitbestimmung hat ob der
100
101 102
103 104 105
sungskonform, die bestehende Montanmitbestimmung aber als nicht mehr mit der Verfassung vereinbar ansehen. Das Prozeßziel der Kapitalseite wurde indessen so gut wie gar nicht erreicht (vgl. Däubler (1998), S. 748). Zitiert bei Däubler (1998), S. 748. Zum Urteil des Verfassungsgerichts vgl. Däubler (1998), S. 748 ff. Däubler (1998), S. 752. Um massiven Druck auf die von Konrad Adenauer geführte Bundesregierung auszuüben, die die praktizierte Montanmitbestimmung abschaffen wollte (vgl. oben S. 346), hatten sich an Rhein und Ruhr im November 1950 bzw. im Januar 1951 in zwei Urabstimmungen weit über 90% aller gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer in der Montanindustrie dafür ausgesprochen, zur gesetzlichen Absicherung der Montanmitbestimmung gegebenenfalls in einen Streik zu treten. Vgl. Däubler (1998), S. 752 ff. Vgl. Kommission Mitbestimmung (1998), S. 45ff. Die Ursachen für die starke Zunahme der Zahl der mitbestimmten Unternehmen seit Mitte der 80er Jahre - trotz einiger gegenläufiger Absetzbewegungen ("Flucht aus der Mitbestimmung") - sind vielfältig und auch nicht leicht erfaßbar. Größenwachstum von Unternehmen, Holdingbildungen, Privatisierung und Aufteilungen von ehemals staatlichen und kommunalen Unternehmen sind einige der Effekte, die zur Ausweitung der Anzahl der mitbestimmten Unternehmen beigetragen haben (vgl. Kommission Mitbestimmung (1998), S. 45 f f ) .
362
Unternehmensmitbestimmung
geschrumpften Bedeutung des Montansektors "ihren strategischen Stellenwert als Tor zur Wirtschaftsdemokratie eingebüßt". (2) Das Mitbestimmungsgesetz haben die Gewerkschaften anfangs abgelehnt, später haben sie sich mit ihm "arrangiert" 106 . (3) Die Bedeutung der Unternehmensmitbestimmung wird in der gewerkschaftlichen Mitbestimmungsdebatte mittlerweile recht nüchtern gesehen: "Ihr Stellenwert bestimmt sich heute aus dem Zusammenspiel mit der Betriebsverfassung und Tarifpolitik einerseits und mit den neuen Formen direkter Partizipation andererseits" 107 . Ein kurzer Blick nach Schweden: In Schweden sind die deutschen Ideen zur paritätischen Mitbestimmung und die praktischen Erfahrungen mit der Unternehmensmitbestimmung bei Gewerkschaften und nahezu allen politischen Parteien mehr oder weniger auf Desinteresse gestoßen. Allein die kleine "liberale Volkspartei" hat in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre mehrfach die Einfuhrung einer paritätischen Mitbestimmung vorgeschlagen, wohl auch in der Absicht, damit die zeitgleich geführte hitzige Debatte um die Arbeitnehmerfonds entschärfen zu können. Auch in der Wissenschaft hat die deutsche Mitbestimmung keinerlei Resonanz gefunden. Meines Wissens war es allein Gustav Lindencrona, ein den Liberalen nahestehender Jurist, der sich am deutschen Mitbestimmungsmodell orientiert hat. Er hat sich, inspiriert u. a. von den positiven deutschen Erfahrungen mit der Montanmitbestimmung 108 , für eine Änderung des schwedischen Board-Systems in Richtung auf das duale Systeme der deutschen Aktiengesellschaft sowie für die Einführung einer paritätischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf der Unternehmensebene ausgesprochen 109 .
5.3
Die offensichtliche Minderheitsposition: Die Drittelparität
Die Drittelparität fristet in Deutschland aus zweierlei Gründen eher ein Schattendasein: •
106 107 108
109
Sie ist - so die Sichtweise der deutschen Gewerkschaften - im Prinzip unzureichend, denn sie ermöglicht der Arbeitnehmerseite nicht viel mehr als ein Recht auf Information und Anhörung. Dennoch vermag selbst eine nur drittelparitätische Vertretung im Aufsichtsrat die Qualität der Mitbestimmung
Müller-Jentsch (1999a), S. 294. Müller-Jentsch (1997), S. 284. Lindencrona hat dabei vor allem den Bericht der Biedenkopf-Kommission zugrunde gelegt (vgl. Fußnote 54). Vgl. Lindencrona (1978).
Untemehmensmitbestimmung
363
auf der betrieblichen Ebene zu verbessern; dieses Argument trifft selbstverständlich erst recht auf die "paritätische" Regelung nach dem Mitbestimmungsgesetz zu: Die Untemehmensmitbestimmung "kann heute als eine die Betriebsverfassung ergänzende und verstärkende Institution angesehen werden... Da die Arbeitnehmerrepräsentation in den Aufsichtsräten meist in Personalunion von Vorsitzenden und geschäftsführenden Mitgliedern des Betriebsrats wahrgenommen wird, kann sie von ihnen als eine Verlängerung des Informationsund Kommunikationsnetzes nach oben für ihre Betriebspolitik sinnvoll genutzt werden" 110 . •
Ähnlich wie bei der Montanmitbestimmung ist auch bei der drittelparitätischen Mitbestimmung ihre Reichweite begrenzt. Zwar fallen schätzungsweise etwa 1.400 "kleinere" Unternehmen in den Geltungsbereich des Gesetzes, sie haben aber insgesamt nicht mehr als etwa 1 Million Beschäftigte 111 .
Die Zahl der Arbeitnehmer, die der Montanmitbestimmung und dem Mitbestimmungsgesetz unterliegen, beläuft sich auf etwa 5,6 Millionen, das entspricht rund 24,5% aller Arbeitnehmer im privaten Sektor (Stand 1996)112. Selbst bei Einbeziehung der Drittelparität werden nicht mehr als nur knapp 30% aller Arbeitnehmer auf der Unternehmensebene repräsentiert, m.a.W. für rund 70% aller privaten Beschäftigten existiert keinerlei Untemehmensmitbestimmung. Die Erklärung liegt in erster Linie darin, daß die Hürde für die jeweils obligatorische Vertretung der Arbeitnehmer recht hoch liegt (zur Erinnerung: Drittelparität ab 500, Montanmitbestimmung ab 1.000, Mitbestimmungsgesetz ab 2.000 Beschäftigten). In Schweden beginnt die Möglichkeit einer Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat bereits ab 25 Arbeitnehmern; in Finnland, um ein weiteres Beispiel zu nennen (dort gibt es allerdings nur eine Fünftelparität), ab einer Beschäftigtenzahl von 150. In Österreich ist in jeder Aktiengesellschaft der Aufsichtsrat obligatorisch, unabhängig von der Größe der Belegschaft, drittelparitätisch zu besetzen. Österreich hat einen im internationalen Vergleich recht kleinen Anteil an Unternehmen, die über 500 Beschäftigte haben113. So ist zu vermuten, daß in
1,1 112 113
Müller-Jentsch (1999a), S. 294f. Vgl. Keller (1997), S. 120. Kommission Mitbestimmung (1998), S. 53. Vgl. Traxler (1998), S. 252.
364
Unternehmensmitbestimmung
Österreich prozentual weit mehr Arbeitnehmer als in Deutschland von der Unternehmensmitbestimmung erfaßt werden.
5.4
Der Aufsichtsrat - richtiger Ansatzpunkt für die Mitbestimmung?
Die folgenden Überlegungen sind noch einmal auf den Aufsichtsrat gerichtet. An dieser Stelle interessiert aber nicht seine Zusammensetzung, sondern sein faktisches Gewicht im unternehmenspolitischen Entscheidungsprozeß. Kann der Aufsichtsrat tatsächlich "Aufsicht" ausüben? Man könnte die Frage auch so stellen: Ist der Aufsichtsrat neben den beiden anderen Organen einer Aktiengesellschaft, nämlich Vorstand und Hauptversammlung, ein starkes oder eher ein schwaches Unternehmensorgan? In der Praxis gibt es immer wieder Beispiele für spektakuläre Schieflagen und Zusammenbrüche von Unternehmen. Die Rolle des Sündenbockes wird dabei oftmals dem Aufsichtsrat zugeschoben, der einmal mehr versagt haben soll. Die Kritik wird auf die Frage zugespitzt: Wer kontrolliert die Kontrolleure?" 4 Ernüchternde Beispiele liefern aber auch die Gewerkschaften selbst. Sie haben in der jüngeren Vergangenheit schmerzhafte und kostspielige Erfahrungen mit dem Zusammenbruch und Verlust des ehemals gewerkschaftseigenen Unternehmenssektor gesammelt 115 . Wenn sich die Gewerkschaften als unfähig erwiesen haben, in ihrem eigenen Bereich eine effektive "Aufsicht" wahrzunehmen, was legitimiert sie bzw. Arbeitnehmertreter dazu, in den Aufsichtsräten des übrigen Unternehmensbereiches präsent zu sein? Modellhaft betrachtet, kommt dem Aufsichtsrat eine starke Position zu:" 6
114
Im Zusammenhang mit dem beinahe erfolgten Zusammenbruch des völlig überschuldeten Baukonzerns Phillip Holzmann Ende 1999 ist diese Problematik in aller Breite in den Medien diskutiert worden. Die immer wiederkehrende Frage lautete: "Wann tritt der Aufsichtsratsvorsitzende endlich zurück?" (Es sollte bis März 2000 dauern.) Der Aufsichtsratsvorsitzende ist vor allem deswegen so heftig ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, weil er gleichzeitig ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank und diese Bank wiederum Großaktionärin und Hauptkreditgeberin von Holzmann ist. Die Möglichkeit von Interessenkonflikten und einer qualitativen Verschlechterung der Aufsichtsratspolitik ist bei einer solchen Konstellation nicht von der Hand zu weisen. " 5 Für Deutschland ist insbesondere der Niedergang des Baukonzernes "Neue Heimat" und des Co opBereiches in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zu nennen, in dessen Folge die gewerkschaftseigene "Bank für Gemeinwirtschaft" bis auf einen Anteil von 25% verkauft werden mußte. Vergleichbare Kollapse hat es aber auch in Österreich und in Schweden gegeben. 116 Vgl. auch Auge-Dickhut (1999), S. 29ff.
Unternehmensmitbestimmung
365
Der Aufsichtsrat verfügt über die uneingeschränkte Personalzuständigkeit gegenüber dem Vorstand und damit auch über Sanktionsmöglichkeiten. Er bestellt die Mitglieder des Vorstandes und bestimmt die Höhe und Ausgestaltung der Vorstandsvergütung. Der Aufsichtsrat kann sogar den gesamten Vorstand oder einzelne Mitglieder vorzeitig abberufen, z.B. im Falle einer groben Pflichtverletzung. Beispiele hierfür gibt es durchaus. "Der Aufsichtsrat hat die Geschäftsführung zu überwachen", so der Wortlaut des deutschen Aktiengesetzes. Das beinhaltet zum einen eine eher formale ex postKontrolle. Zum anderen ist damit eine die Vorstandspolitik begleitende bzw. antizipierende Überwachung gemeint. Tatsächlich ist die Position des Aufsichtsrates gegenüber dem Vorstand, und damit auch der Stellenwert der Mitbestimmung, deutlich schwächer. Dies soll zumindest anhand einiger kritischer Anmerkungen illustriert werden. (1) Scheidet ein Mitglied des Vorstandes aus, ist es üblich, daß die übrigen Vorstandsmitglieder dem Aufsichtsrat ihren Wunschkandidaten für die Nachfolge präsentieren. In aller Regel stimmt der Aufsichtsrat diesem Vorschlag zu; faktisch besteht also im Vorstand ein Kooptationssystem. Legt ein Mitglied des Vorstands, insbesondere der Vorstandsvorsitzende, altershalber sein Amt nieder, wechselt es oftmals "auf die andere Seite", also in das Kontrollorgan Aufsichtsrat. Es kann sein, daß es dort dann den Vorsitz übernimmt. Vergleichbare Konstellationen können sich als Folge einer Fusionierung ergeben. (2) Wie effektiv der Aufsichtsrat seinem gesetzlichen Überwachungsauftrag gegenüber dem Vorstand nachkommt, hängt zum einen von seiner Größe117, vor allem aber ganz entscheidend vom Informationsangebot ab, das in der Praxis fast ausschließlich von dem zu Kontrollierenden, also vom Vorstand selbst stammt, aber auch von der individuellen bzw. kollektiven Nachfrage nach Informationen der Aufsichtsräte selbst. Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat sind in ihren Möglichkeiten zur Beschaffung von (in)formellen Informationen vom Vorstand oder weiteren Stellen im Unternehmen üblicherweise besonders benachteiligt.
117
Aufsichtsräte, die maximal 20 (Mitbestimmungsgesetz) bzw. 21 Mitglieder (Montanmitbestimmung) umfassen, werden vielfach als ein zu großes und damit wenig effizientes Gremium angesehen. Alle Überlegungen, einen Aufsichtsrat auf die "optimale" Größe von 8 bis 10 Mitgliedern zu reduzieren, laufen aber faktisch auf eine Gefährdung der traditionellen paritätischen Mitbestimmung hinaus.
366
Unternehmensmitbestimmung
"Die nachhaltige Kritik an den Überwachern deutscher Unternehmen setzt immer wieder auch und vor allem an der fehlenden, lückenhaften oder sogar falschen Information der Aufsichtsratsmitglieder an... Der Aufsichtsrat kann sich nicht darauf verlassen, daß der Vorstand ihn umfassend informiert. Der Vorstand besitzt Anreize, Informationen nicht oder verfälscht weiterzugeben; möglicherweise wird er aber auch ungenügend, falsch oder zu spät informiert."" 8 M.a.W. es besteht eine asymmetrische Informationsverteilung. 119 (3) Der Aufsichtsrat kann eine vorbeugende Kontrolle dadurch ausüben, daß er in seiner Satzung festlegt, daß bestimmte Geschäfte des Vorstandes nur mit Zustimmung des Aufsichtsrates erfolgen dürfen. In der Praxis gibt es jedoch genügend Beispiele dafür, daß "Unternehmen ihren Katalog zustimmungspflichtiger Geschäfte ausgedünnt haben"120. Dies führt zu einer inhaltlichen Entleerung der Beratungen des Aufsichtsrates und zu seiner beabsichtigten Selbstentmachtung. Der Siemens-Konzern liefert hierfür ein herausragendes Beispiel. Das österreichische Aktiengesetz enthält demgegenüber einen recht umfassenden Katalog zustimmungspflichtiger Geschäfte; er kann keinesfalls durch eventuelle Satzungsbeschlüsse reduziert werden. Einige Beispiele: Erwerb und Veräußerung von Beteiligungen an anderen Unternehmen, Aufnahme und Aufgabe von Geschäftszweigen und Produktionsarten, Investitionen sowie die Aufnahme von Krediten, die eine bestimmte Höhe überschreiten121. (4) Häufig wird der Aufsichtsrat bewußt sehr spät. d.h. erst zum Zeitpunkt der Beschlußfassung in einen Entscheidungsprozeß einbezogen. Er hat dann nur noch die Funktion, Entscheidungen des Vorstandes im nachherein zu legitimieren, nicht aber sie tatsächlich selbst zu treffen 122 . "Die Steuerungsfunktion des Aufsichtsrats im Entscheidungsprozeß der Unternehmenspolitik ist nur schwach ausgeprägt."123 Für einen ausländischen Betrachter der deutschen Unternehmensverfassung mag angesichts der genannten Kritikpunkte der Vorschlag naheliegen, das eigentlich nur in den beiden deutschssprachigen Ländern praktizierte duale System der Unternehmensverwaltung durch das weltweit vorherrschende monistische Board-
1,8 119 120 121 122 123
Theisen (1996a), S. 3. Vgl. Auge-Dickhut (1999). Kommission Mitbestimmung (1998), S. 103. Vgl. Gahleitner (1998), S. 14 ff. Vgl. Keller (1997), S. 126. Keller 1997, S. 126.
Unternehmensmitbestimmung
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System zu ersetzen. Dieses Board-System wird ab und an in Deutschland diskutiert, dabei richtet sich der Blick allerdings nicht auf Schweden oder andere Länder, sondern im allgemeinen allein auf die Situation in den USA124. Abgesehen von der Feststellung, daß auch das Board-System im konkreten Einzelfall keineswegs Mißmanagement, Unternehmenskrisen und -desaster verhindern kann, der Tenor ist übereinstimmend: Nicht ein radikaler Systemwechsel wird vorgeschlagen, das gewachsene duale System wird als bewahrenswert, zugleich auch als ausreichend reformfähig angesehen. "Keine Reform der Unternehmensverfassung, keine Reformierung der geltenden rechtlichen Vorschriften, sondern eher ein Umdenkungs- und Veränderungsprozeß bei den Personen der deutschen Aufsichtsräte ist zwingend und so rasch wie möglich notwendig." 125 "Die Unterscheidung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat im deutschen Aktienrecht wird auch auf längere Sicht nicht zugunsten eines Board-Systems verschwinden. In der Praxis wird der deutsche Aufsichtsrat damit weiterhin mindestens zwei teilweise widersprüchliche Anforderungen gleichzeitig zu genügen haben. Während er einerseits zunehmend als strategisches Instrument der Unternehmensleitung genutzt wird, wird er andererseits an der erfolgreichen Ausübung seiner Kontrollfunktion im Interesse von Anteilseignern, Arbeitnehmern und Öffentlichkeit gemessen. Zu erwarten steht, daß die beiden Funktionen in verschiedenen Unternehmen unterschiedlich gewichtet werden; sie können in Einzelfällen auch miteinander in Konflikt geraten. Die Mitbestimmung in ihrer heutigen Form ist mit jeder der beiden Funktionen vereinbar; die Spannungen zwischen ihnen werden durch die Mitbestimmung jedenfalls nicht verschärft." 126
5.5
Schlußbetrachtung: Wirtschaftliche Folgen der Mitbestimmung im Aufsichtsrat
Die bisherigen Darlegungen kreisten in erster Linie um die Mitbestimmung als "gesellschaftlicher Auftrag". Die Mitbestimmung wurde weniger als "ökonomische Ressource" 127 , als Bedingung für ökonomische Effizienz angesprochen. Einzelne Wirkungen der Mitbestimmung, die man den wirtschaftlichen Erträgen zurechnen kann, wurden jedoch bereits genannt, beispielsweise war vom intermedi-
124 125 126 127
Vgl. beispielsweise Potthoff (1996). Theisen (1996b), S. 320. Kommission Mitbestimmung (1998), S. 102. Das Begriffspaar "gesellschaftlicher Auftrag" und "ökonomische Ressource" ist in Anlehnung an Breisig (1999) verwendet worden.
368
Unternehmensmitbestimmung
ären Charakter und vom Co-Management des Betriebsrates die Rede. Die Mitbestimmung wurde als konsensstiftende Institution angesehen, auf der betrieblichen Ebene, im Aufsichtsrat; selbst zum "sozialen Frieden" in Deutschland als Faktor der Standortqualität wurde ein Bogen geschlagen. Nicht nur im deutschsprachigen Raum finden sich zum Für und Wider der Mitbestimmung Aussagen sonder Zahl. Viele kritische Fragen zur Mitbestimmung lassen sich komprimiert in einen Satz kleiden: "Wenn die Mitbestimmung tatsächlich die ihr zugeschriebenen Wohlfahrtsgewinne fur Arbeitnehmer und Anteilseigner hat, wieso wird sie dann nicht freiwillig vereinbart, sondern muß per Gesetz verordnet werden?" 128 Gibt es überhaupt empirisch belegbare, ökonomische "Erträge", die eindeutig und ausschließlich mit der Mitbestimmung in Verbindung gesetzt werden können? Es finden sich m. E. noch immer keine wissenschaftlich gesicherten Antworten auf die normative Frage, ob die Mitbestimmung gut oder schlecht sei129. Diese Feststellung trifft auch auf die Analyse der Mitbestimmung im Aufsichtsrat zu, bei der überdies, wie dargelegt worden ist, der Arbeitnehmerseite der schwächere Part zufällt. Es ist "nicht verwunderlich, daß die bisher durchgeführten empirischen Studien zur Evaluation der Wirkung der Mitbestimmungsgesetzgebung ein eher uneinheitliches Bild zu Tage fordern. Ökonometrische Untersuchungen bedingen Hypothesen über die Wirkungsweise ökonomischer Prozesse. Solange lediglich Vermutungen über solche Prozesse angestellt werden können, wirkt eine empirische Analyse wie das sprichwörtliche Suchen der Stecknadel im Heuhaufen. Bei unserem gegenwärtigen Kenntnisstand erscheint jedoch eine allgemeingültige Aussage zur ökonomischen Effizienz der Mitbestimmung nicht möglich. Vielmehr geht es darum, die Bedingungen zu identifizieren, unter denen die Mitbestimmung aus ökonomischer Sicht ein segensreiches Gut sein könnte."130 Vielleicht können die Ergebnisse einer in Schweden durchgeführten Untersuchung dazu beitragen, ökonomische Erträge der Mitbestimmung im Aufsichtsrat deutlicher sichtbar zu machen. Diese Untersuchung wurde 1998 von den beiden 128
129
130
Franz (1996, S. 246). Diese Argumentation knüpft im allgemeinen (bei Franz allerdings nicht expressiv verbis genannt) an die Property-Rights-Theorie an, derzufolge die Mitbestimmung vor allem wegen erhöhter Transaktionskosten und wegen der Übertragung von Verfligungsrechten an Arbeitnehmer, der keine adäquate Ausweitung der Verantwortung und Haftung gegenüberstünde, abzulehnen sei (vgl. Gotthold 1983). Vgl. beispielsweise Jirjahn (1998), insb. S. 267 ff., vor allem aber den im vorliegenden Aufsatz mehrfach zitierten Schlußbericht der "Kommission Mitbestimmung" (1998) sowie eine Reihe von der Kommission initiierter Expertenbeiträge. Junkes/Sadowski (1999), S. 84.
Unternehmensmitbestimmung
369
großen schwedischen Gewerkschaftorganisation, LO und PTK, beim Arbetslivsinstitutet131 in Stockholm in Auftrag gegeben mit der Zielsetzung, das 25 Jahre zuvor in Kraft getretene "Gesetz über die Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat"132 einer Evaluierung zu unterziehen. Die umfangreiche Datenerhebung und -auswertung wurde dabei dem schwedischen Statistischen Zentralamt übertragen.133 Hier ist vor allem der Teil der Studie von Interesse, der sich aus Unternehmenssicht mit dem Fragenkomplex "Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat - Belastung oder Ressource" befaßt. 134 Dazu wurde folgende Frage an die beiden Hauptakteure einer schwedischen Aktiengesellschaft, nämlich den Geschäftsführenden Direktor und den Aufsichtsratsvorsitzenden, gerichtet: "Was sind Ihre zusammengefaßten Erfahrungen mit Vor- und Nachteilen für das Unternehmen aus der Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat?" 135 61% der Geschäftsführenden Direktoren und sogar 69% der Aufsichtsratsvorsitzenden antworten mit "sehr positiv" oder "recht positiv", wobei die positiven Erfahrungen am stärksten im Bereich der Großunternehmen (über 500 Beschäftigte) festzustellen waren. "Negative" Erfahrungen hatten kaum 10% aller Befragten geäußert, von "sehr negativen" Erfahrungen war nur ganz vereinzelt die Rede. Der restliche Teil der Befragten gab an, gleich viele positive wie negative Erfahrungen gemacht zu haben. Worauf beruht im einzelnen der positive Eindruck, daß die Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat als eine Ressource anzusehen sei? Knapp zwei Drittel antworteten, das Zusammenarbeitsklima im Aufsichtsrat sei "gut" oder "sehr gut". Etwa 60% waren der Meinung, durch die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat würden "Beschlüsse des Aufsichtsrates besser bei den Mitarbeitern verankert"; etwa 50% vertraten die Ansicht, die Arbeitnehmermitwirkung im Aufsichtsrat würde "die Durchführung von schweren Beschlüssen erleichtern". Ein gleich großer Anteil meinte, daß über die Arbeitnehmervertretung "dem Aufsichtsrat tiefere Kenntnisse über das Unternehmen und dessen Beschäftigte zugeführt" würde. Es fielen aber auch negative Äußerungen. So waren beispielsweise rund 17% der Befragten der Ansicht, durch die Arbeitnehmervertre-
131 132 133
134 135
Die englischssprachige Bezeichnung lautet: National Institute for Working Life. Vgl. Fußnote 13. Insgesamt 708 Unternehmen mit einem mitbestimmten Aufsichtsrat, die mittels einer Zufallsstichprobe ausgewählt worden waren, erhielten Fragebögen zugeschickt. Vgl. im weiteren Levinson et al. (1999), S. 123ff. Die Rücklaufquote der Fragebögen war recht hoch: 65% der Geschäftsführenden Direktoren und 51% der Aufsichtsratsvorsitzenden antworteten.
370
Unternehmensmitbestimmung
tung würden "allzu viele belanglose Fragen aufgegriffen" und fast 40% meinten, das Risiko "von Informationslecks" würde zunehmen.
Untemehmensmitbestimmung
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Unternehmensmitbestimmung
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WETTBEWERB UND GLOBALISIERUNG
Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2000
Wettbewerbspolitik im Zeitalter der Globalisierung André
Schmidt
Für Klaus Herdzina gehört die Wettbewerbspolitik seit jeher zu den zentralen Anliegen seiner wissenschaftlichen Arbeit. Dies beweist unter anderem sein erfolgreiches Lehrbuch zur Wettbewerbspolitik, das mittlerweile in der fünften Auflage erschienen und für Studenten und Praktiker gleichermaßen aus der deutschsprachigen Literatur nicht mehr wegzudenken ist.1 Ein besonderes Verdienst Herdzinas ist darin zu sehen, dass er in seinen Arbeiten sein Augenmerk sowohl auf wettbewerbstheoretische als auch auf wettbewerbspolitische Aspekte gerichtet hat. Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik stehen für ihn nicht isoliert nebeneinander, sondern sind untrennbar miteinander verknüpft. Insbesondere in seinen wettbewerbstheoretischen Studien ging es ihm stets darum, die verschiedenen - oftmals sich widersprechenden - wettbewerbstheoretischen Grundkonzeptionen miteinzubeziehen und im Rahmen eines integrativen wettbewerbspolitischen Ansatzes zu berücksichtigen.2 Von daher erscheint es naheliegend, im vorliegenden Beitrag zur Ehrung des Jubilars die zukünftigen Herausforderungen, denen sich die Wettbewerbspolitik zu stellen hat, zu thematisieren. Dem aufmerksamen Beobachter der Gegenwart kann es nicht entgangen sein, dass sich auch die Wettbewerbspolitik mit neueren Entwicklungen konfrontiert sieht, auf die sie, so scheint es zumindest, noch nicht die genauen Antworten kennt. Plakativ werden diese Entwicklungen unter dem Terminus der Globalisierung zusammengefasst. Im folgenden Beitrag sollen die Anforderungen, die die Globalisierung an die Wettbewerbspolitik stellt, diskutiert werden. Dies soll vor allem auf der Basis wettbewerbstheoretischer Argumente erfolgen. Das heißt, im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht die Untersuchung der wettbewerbspolitischen Implikationen der verschiedenen wettbewerbstheoretischen Grundkonzeptionen und deren Übertragung auf das gegenwärtige Phänomen der Globalisierung. Es soll der Frage nachgegangen werden, welche Empfehlungen die wettbewerbstheoretischen Grundkonzeptionen an eine Wettbewerbspolitik in einer zunehmend integrierten Welt aussprechen würden.
1 2
Vgl. Herdzina, Klaus, Wettbewerbspolitik, 5. Aufl., Stuttgart 1999. Vgl. Herdzina, Klaus, Möglichkeiten und Grenzen einer wirtschaftstheoretischen Fundierung der Wettbewerbspolitik, Tübingen 1988.
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Wettbewerbspolitik
Im ersten Schritt sollen zunächst das Phänomen der Globalisierung und dessen Auswirkungen auf die Wettbewerbspolitik dargestellt werden. Sodann sind die Anforderungen an die Ordnungspolitik und somit auch an die Wettbewerbspolitik zu formulieren. Im zweiten Schritt erfolgt die bereits erwähnte Untersuchung der Aussagen der wettbewerbstheoretischen Grundkonzeptionen im Hinblick auf die Lösung der anstehenden Probleme. Im Ergebnis sollen dann Ansatzpunkte für die praktische Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik im Zeitalter der Globalisierung skizziert werden.
1
Die Globalisierung und ihre Auswirkungen auf die Wettbewerbspolitik
Die Globalisierung und die mit ihr verbundenen Phänomene sind verstärkt in das Zentrum des Interesses verschiedener Wissenschaftsdisziplinen gerückt. Nur die Ökonomen haben sich bisher in Zurückhaltung geübt, ist doch für sie der Vorgang der Globalisierung nichts wirklich Neues. Denn bereits seit 1776, dem Erscheinen von Adam Smiths "Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations", ist bekannt, dass Wohlstand auf Arbeitsteilung zurück zu führen ist, die sich ihrerseits über den Marktaustausch organisiert. Dennoch konnte sich auch die Zunft der Ökonomen dem allgemeinen Trend nicht entziehen und wendet sich nun verstärkt der thematischen Auseinandersetzung mit der Globalisierung zu. Der inflationäre Gebrauch des Terminus der Globalisierung macht dabei die theoretische Darstellung nicht einfacher. Denn zunächst ist festzustellen, dass eine einheitlich begriffliche Präzisierung der Globalisierung nicht existiert. Globalisierung steht vielmehr für einen aktuellen Trend, der den Modernisierungsprozess der Welt beschreibt. In einer Vielzahl von Beiträgen wird dabei der Begriff der Globalisierung bereits normativ bewertet, ist doch beispielsweise mit ihr das Ende der Handlungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Politiken3 unter der gleichzeitigen Dominanz eines an (kalten) Effizienzprinzipien orientierten Wettbewerbs der Staaten um mobile Produktionsfaktoren verbunden, wodurch der traditionelle Wohlfahrtsstaat in Gefahr gerät. Dieser Zustand der werturteilsgeladenen Vielfältigkeit ist insofern unbefriedigend, da eine Analyse stets die begriffliche und inhaltliche Präzisierung unter weitgehendem Verzicht einer Wertung des Untersuchungsgegenstandes voraussetzt.
3
Vgl. Scharpf Fritz W., Globalisierung als Beschränkung der Handlungsmöglichkeit nationalstaatlicher Politik, Diskussionspapier des Max-Planck-Instituts fur Gesellschaftsforschung, München 1997.
Wettbewerbspolitik
379
Aus ökonomischer Sicht beschreibt der Begriff der Globalisierung zunächst nichts anderes, als den Sachverhalt, dass die Märkte für Güter, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren zunehmend die Grenzen der Nationalstaaten überwinden. 4 Das heißt, der Verflechtungsgrad der nationalen Volkswirtschaften hat sich erhöht. Schon daran lässt sich erkennen, dass das, was man heute als Globalisierung bezeichnet, bereits ein altbekanntes Phänomen ist. In diesem Sinne verstanden, setzte die Globalisierung bereits vor fünfhundert Jahren mit der Entdeckung Amerikas und dem damit entstehenden interkontinentalen Handel ein. Was ist demnach neu an der gegenwärtigen Entwicklung? Neu an der gegenwärtigen Etappe der zunehmenden internationalen Verflechtung der Volkswirtschaften ist, dass sich dieser Prozess im Hinblick auf seine Dynamik und Stetigkeit gewandelt hat. Empirisch evident ist, dass sich sowohl die Geschwindigkeit als auch die Unstetigkeit (Diskontinuität), mit der dieser Prozess abläuft, erhöht haben. Daraus resultieren eine erhöhte Durchlässigkeit bzw. Auflösung bisheriger Grenzen, zunehmende wechselseitige, aber asymmetrische Abhängigkeiten, eine erhöhte Mobilität der Produktionsfaktoren sowie erhöhte Unsicherheit, da sich die Zukunft nicht mehr durch bloße Trendextrapolation vorhersehen lässt.5 Auf ökonomische Kriterien reduziert, lässt sich der Globalisierungsprozess empirisch anhand folgender weltwirtschaftlicher Aggregatdaten nachweisen: 6 • der internationale Handel wächst schneller als die globale Wertschöpfung; • die internationalen Direktinvestitionen wachsen schneller als der internationale Handel, und • die internationalen Finanzmärkte wachsen wiederum schneller als die Direktinvestitionen. Demnach beschreibt der Begriff der Globalisierung den Prozess der zunehmenden internationalen Verflechtung der Volkswirtschaften, der vor allem durch die dynamische Entwicklung des internationalen Handels, die Zunahme der internatio-
4
5
6
Vgl. Brose, Hanns-Georg, und Helmut Voelzkow, Globalisierung und institutioneller Wandel der Wirtschaft, in: Oies. (Hrsg.), Institutioneller Kontext wirtschaftlichen Handelns und Globalisierung, Marburg 1999, S. 9. Vgl. Steger, Ulrich (Hrsg.), Globalisierung gestalten: Szenarien für Markt, Politik und Gesellschaft, Berlin et al. 1999, S. 16 ff. Vgl. Dicken, Peter, Global Shift: The Internalization of Economic Activity, 2. Aufl., N e w York 1992; Keohane, Robert O., Helen Milner (Hrsg.), Internalization and Domestic Politics, Cambridge 1996; Hirst, Paul, Grahame Thompson, Globalization in Question, Cambridge 1996, sowie Lichtblau, Karl, Globalisierung und Strukturwandel, in: Fricke, Werner (Hrsg.), Globalisierung und institutionelle Reform, Bonn 1997, S. 43 ff.
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Wettbewerbspolitik
nalen Direktinvestitionen und das akzelerierende Wachstum der internationalen Finanzmärkte charakterisiert werden kann. Aus dieser Entwicklung ergeben sich für die Wettbewerbspolitik unmittelbare Konsequenzen. Zum einen lässt sich konstatieren, dass die Zahl der transnationalen Unternehmenszusammenschlüsse gestiegen ist7 und zum anderen kann die mit der Globalisierung einhergehende verbesserte Transparenz die Wahrscheinlichkeit für kollusives Marktverhalten auf hochkonzentrierten Märkten erhöhen. Andererseits muss darauf verwiesen werden, dass sich mit fortschreitender Globalisierung die Bedeutung des potenziellen Wettbewerbs erhöht hat. Damit kann sich die Existenz ausländischer Anbieter auf inländische Anbieter verhaltensbeschränkend und disziplinierend auswirken, wenn diese theoretisch jederzeit ins Inland liefern könnten. Somit ergeben sich auch neue Anforderungen an die Abgrenzung des räumlich relevanten Marktes. Allgemein wird unter Globalisierung in bezug auf die Wettbewerbspolitik die Zunahme der Unternehmenskonzentration durch transnationale Fusionen oder weltweites überproportionales internes Unternehmenswachstum verstanden. Im Mittelpunkt des Interesses steht vor allem die Wettbewerbspolitik gegenüber der gestiegenen Anzahl von Unternehmenszusammenschlüssen. Das heißt, es geht um die Frage, ob und wie die Fusionskontrolle auf die verstärkt beobachtbaren grenzüberschreitenden Zusammenschlüsse reagieren soll.
2
Ordnungspolitische Unbedenklichkeit
Betrachtet man zum Beispiel die bisherigen wettbewerbspolitischen Entscheidungen der Europäischen Kommission, so lässt sich feststellen, dass kaum eine der bisherigen Unternehmensfusionen untersagt oder nur unter restriktiven Auflagen genehmigt worden ist. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre wurden bisher nur elf Zusammenschlüsse untersagt. Es ist sicherlich richtig, dass die absolute Anzahl der Untersagungen noch keine eindeutige Interpretation im Hinblick auf die Wirksamkeit der Wettbewerbskontrolle zulässt, aber es ist unverkennbar, dass gegenwärtig eine allgemeine ordnungspolitische Unbedenklichkeit gegenüber dieser Entwicklung zu beobachten ist.
So hat sich beispielsweise die Zahl der Anmeldungen von Unternehmenszusammenschlüssen, die der Europäischen Fusionskontrolle unterliegen, im Zeitraum von 1992 bis 1998 nahezu vervierfacht. Vgl. Europäische Kommission, XXVIII. Bericht über die Wettbewerbspolitik 1998, Brüssel - Luxemburg 1999, S. 88.
Wettbewerbspolitik
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Dieser Nihilismus hat seine berechtigten Gründe. Transnationale Unternehmensfusionen werden als ein Ausdruck der zunehmenden Effizienzorientierung angesehen. Dank der Ausnutzung entstehender economies of scale werden die vorhandenen Ressourcen innerhalb der Industrie oder des Marktes optimal eingesetzt. Darüber hinaus versprechen fortschrittsoptimale Unternehmensgrößen eine bessere Generierung und Nutzung des technischen Fortschritts. Insofern sind die skizzierten Entwicklungen der Globalisierung ordnungspolitisch erwünscht. Wettbewerbspolitisch finden sich die Argumente für die beobachtbare Unbedenklichkeit vor allem darin, dass durch transnationale Zusammenschlüsse entstehende Marktmacht unter den Bedingungen der Globalisierung einer ständigen Erosion ausgesetzt sei, solange noch hinreichend Konkurrenz auf dem internationalen Markt auszumachen ist. Darüber hinaus fuhren die meisten der transnationalen Unternehmenszusammenschlüsse nur zu geringen Marktanteilsadditionen auf den sachlich relevanten Märkten, so dass sich in den wenigsten Fällen aggregierte Marktanteile von einem Drittel oder mehr ergeben.8 Damit können wettbewerbspolitische Bedenken sehr schnell relativiert werden, da Einzelmarktbeherrschung bei Marktanteilen von weniger als 39% nur in den seltensten Fällen vorkommt. Die geringen Marktanteilsadditionen haben ihre Ursache vor allem darin, dass bei der Bestimmung des sachlich relevanten Marktes unter Anwendung des Bedarfsmarktkonzeptes die wenigsten Fusionen als Zusammenschlüsse horizontaler Art anzusehen sind. 10 Vielmehr dominieren die zur Gruppe der konglomeraten Unternehmenszusammenschlüsse gehörenden Markterweiterungszusammenschlüsse, bei denen die beteiligten Unternehmen entweder gleichartige Produkte für räumlich getrennte Märkte (market extension merger) oder unterschiedliche Produkte, die jedoch eine gewisse Produktions- oder Absatzflexibilität aufweisen, für räumlich einheitliche oder zumindest sich überschneidende Märkte (product extension merger) herstellen." Oberflächlich betrachtet, könnte man daher sehr schnell zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Globalisierung keine Veranlassung für den Übergang zu einer restriktiveren Wettbewerbspolitik liefert und die skizzierte Entwicklung ordnungspolitisch weitgehend unbedenklich ist. Dabei darf jedoch nicht übersehen
8
Vgl. Weizsäcker, Carl Christian von , Logik der Globalisierung, Göttingen 1999, S. 56. Vgl. Jones, Christopher, F. Enrique González-Diaz, The EEC-Merger Regulation, London 1992, S. 132 ff. 10 Vgl. Schmidt, André, Megafusionen: Das Beispiel der Automobilindustrie - Für Beschäftigte, Zulieferer und Politik sind Fusionen hoch problematisch, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 82 (1999), S. 14 f. " Vgl. hierzu Schmidt, Ingo, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht: Eine Einfuhrung, 6. Auflage, Stuttgart 1999, S. 141 ff.
9
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Wettbewerbspolitik
werden, dass aus der Globalisierung auch zahlreiche Gefahren für die Erhaltung wettbewerblicher Strukturen resultieren. Denn mit dem Entstehen von weltweit operierenden Großunternehmen geht stets eine Bündelung von Macht einher und dort, wo wirtschaftliche Macht entsteht, ist die freiheitliche Wettbewerbsordnung in Gefahr. Im Mittelpunkt der Wettbewerbspolitik sollte stets die Bindung von Macht stehen. Denn der Wettbewerb stellt vor allem ein Mittel der Machtbegrenzung und -Verteilung dar und übernimmt die Rolle derjenigen Institution, in welcher die individuellen Freiheitsrechte zur Geltung kommen. 12 Aus dieser Perspektive heraus ergibt sich die Notwendigkeit zu einer kritischeren Betrachtungsweise in bezug auf die wettbewerbspolitische Beurteilung der mit der Globalisierung einhergehenden Unternehmenszusammenschlüsse. Dabei soll im folgenden vor allem aus der Sicht der verschiedenen wettbewerbstheoretischen Schulen überprüft werden, wie die Chancen und Risiken der Globalisierung für den Wettbewerb zu bewerten sind.
3
Das Dilemma der Wettbewerbstheorie
All diejenigen, die nun erwarten, dass die Wettbewerbstheorie in der Lage sei, für die Analyse der angesprochenen Fragestellungen einen konkordanten und konsistenten Rahmen zu liefern, werden sich in ihren Erwartungen getäuscht sehen. Denn wie so viele andere Wissenschaftsdisziplinen auch, leidet die Wettbewerbstheorie darunter, dass kein einheitliches theoretisches Geflecht über den Wettbewerb und seine Gestaltung existiert. Die Wettbewerbstheorie ist keine monistische Disziplin. Obwohl es in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung keinen Dissens darüber gibt, dass der Wettbewerb im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung die Funktion des zentralen Steuerungs- und Koordinationsmechanismus übernimmt, der die unzähligen Einzelpläne der Wirtschaftssubjekte miteinander in Abstimmung bringt, ist eine allgemeingültige und widerspruchsfreie Präzisierung des Begriffs des Wettbewerbs nur schwer möglich. 13 Niemand weiß genau, wie der mit Hilfe der Wettbewerbspolitik herbeizuführende Wettbewerb überhaupt aussehen soll. Denn der Wettbewerb und die mit ihm zusammenhängenden Prozesse repräsentieren ein komplexes Phänomen, das nicht durch irgendwelche Voraussagen spezifiziert werden kann. Die Theorie kann sich dabei stets nur auf die Beschreibung von Arten und Mustern (sog. Mustervorhersagen)
12
13
Vgl. Böhm, Franz, Demokratie und ökonomische Macht, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht, Bd. 1, Karlsruhe 1961, S. 3 ff., und Mestmäcker, Ernst-Joachim, Wirtschaftsordnung und Geschichtsgesetz, in: ORDOJahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 46 (1995), S. 12. Vgl. Herdzina, Klaus, Wettbewerbspolitik, op. cit., S. 10.
Wettbewerbspolitik
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beschränken. 14 Daraus ergibt sich jedoch für die Wettbewerbstheorie eine Dilemmasituation. Die Unmöglichkeit, das Phänomen Wettbewerb hinsichtlich seines Inhaltes, seiner Form und seiner Ausprägung zu spezifizieren, schafft in der theoretischen Auseinandersetzung Raum für normative Wertungen und Interpretationen. Daher muss es nicht verwundern, dass die wettbewerbstheoretische Diskussion teils widersprüchlich ist und häufig dogmatischen Charakter aufweist. Einer wirtschaftstheoretischen Fundierung der Wettbewerbspolitik sind daher enge Grenzen gesetzt. Damit ergibt sich jedoch auch das Problem, dass sich die Wettbewerbstheorie mit Politikempfehlungen nur in Zurückhaltung und Bescheidenheit üben kann. Auf der einen Seite erwarten Wirtschaftspolitiker klare Handlungsempfehlungen, die die Wettbewerbstheorie nicht ohne Einschränkungen geben kann. Auf der anderen Seite verfolgt die Wettbewerbstheorie auch den Anspruch, dem Wirtschaftspolitiker geeignete Kriterien zur Beurteilung von Marktsituationen zu liefern und ihm Instrumente aufzuzeigen, um Wettbewerbsprozesse in die gewünschte Richtung zu lenken.15 An dieser Situation hat sich auch nach Jahrzehnten der wettbewerbstheoretischen Forschung nichts geändert. Damit sind der vorliegenden Untersuchung enge Grenzen gesetzt. Wie noch zu zeigen sein wird, ergeben sich aus Sicht der verschiedenen vorgestellten wettbewerbstheoretischen Grundkonzeptionen unterschiedliche Empfehlungen für die Wirtschaftspolitik. Die teilweise auftretenden Inkonsistenzen der verschiedenen wettbewerbstheoretischen Ansätze setzen sich bei der Diskussion über die Globalisierung fort.
4
Wettbewerbstheoretische Konzeptionen und ihre Implikationen für die Wettbewerbspolitik im Zeitalter der Globalisierung
4.1
Uberblick über die wettbewerbstheoretischen Konzeptionen
In Analogie zur Theorie der Wirtschaftssysteme können die wettbewerbspolitischen Konzeptionen in Ideal- und Realtypen differenziert werden. 16 Entsprechend den zugrundeliegenden Zielfunktionen, der markttheoretischen Fundierung sowie
14 15
16
Vgl. Hayek, Friedrich August von, Die Theorie komplexer Phänomene, Tübingen 1972, S. 26 f. Vgl. Herdzina, Klaus, Möglichkeiten und Grenzen einer wirtschaftstheoretischen Fundierung der Wettbewerbspolitik, op. cit., S. 2. Vgl. Herdzina, Klaus, Möglichkeiten und Grenzen einer wirtschaftstheoretischen Fundierung der Wettbewerbspolitik, op. cit., S. 23.
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Wettbewerbspolitik
des wettbewerbspolitischen Programms im Hinblick auf Diagnose und Therapie des Marktgeschehens, lassen sich idealtypisch zwei wettbewerbspolitische Grundpositionen unterscheiden: der wohlfahrtsökonomische Ansatz und der systemtheoretische Ansatz, aus denen die realtypischen (beobachtbaren) wettbewerbspolitischen Konzeptionen hergeleitet werden können.
Abb. 1 : Idealtypen der Wettbewerbstheorie Quelle: Herdzina, Klaus, Wettbewerbspolitik, op. cit., S. 107.
Die Zuordnung der verschiedenen wettbewerbstheoretischen Konzeptionen zu den Idealtypen ist dabei nicht frei von erheblichen Schwierigkeiten. Denn es gibt realtypische Positionen, die sowohl Elemente des wohlfahrtsökonomischen Ansatzes als auch des systemorientierten Ansatzes in sich vereinigen. Besonders deutlich wird dieses beispielsweise bei der Einordnung der Konzeption der Chicago School. Obwohl die Chicago School hinsichtlich ihrer wettbewerbspolitischen Empfehlungen und ihrer strikten Ablehnung des Struktur-VerhaltenErgebnis-Paradigmas dem systemorientierten Ansatz recht nahe steht17, kann sie
"
Vgl. Paqué, Karl-Heinz,
H o w Far is Vienna From Chicago?, in: Kyklos 38 (1985), S. 4 1 2 ff.
Wettbewerbspolitik
385
dennoch aufgrund der Betonung des Ziels der Steigerung der Konsumentenwohlfahrt den wohlfahrtsökonomischen Ansätzen zugerechnet werden. Das heißt, die Zuordnung der einzelnen Realtypen zu den Idealtypen ist abhängig von dem gewählten Bewertungskriterium. In diesem Beitrag soll die Systematisierung der wettbewerbspolitischen Konzeptionen anhand der Zielsetzung erfolgen. Damit werden den wohlfahrtsökonomischen Ansätzen insbesondere die Harvard School, Kantzenbachs Konzept der optimalen Wettbewerbsintensität weiter Oligopole 18 sowie die Chicago School zugerechnet. Demgegenüber werden die Austrian School und das Konzept der Wettbewerbsfreiheit von Hoppmann dem systemorientierten Ansatz zugerechnet.19 Die hier verwendete Systematisierung erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Vollständigkeit. Unter Verwendung anderer Abgrenzungskriterien können sich abweichende Zuordnungen ergeben. 4.2
Folgen der Globalisierung für die Wettbewerbspolitik aus der Sicht der wohlfahrtsökonomischen Ansätze
4.2.1
Harvard School
Der wohlfahrtsökonomische Ansatz der Harvard School basiert im wesentlichen auf zwei Annahmen. Zum einem gehen ihre Vertreter20 von einem funktionalistischen bzw. ergebnisorientierten Wettbewerbsverständnis aus. Sie instrumentalisieren den Wettbewerb zur Erreichung ganz spezifischer Ziele, wie:21 • Erreichung statischer Effizienz, entsprechend dem Referenzmodell der vollständigen Konkurrenz (d.h. im Marktgleichgewicht gilt: Preis = Grenzkosten), • Erreichung dynamischer Effizienz (d.h. Generierung technischen Fortschritts), • Entstehung eines differenzierten Angebots entsprechend den Präferenzen der Konsumenten sowie • Erhöhung der Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Daten.
18
Der Ansatz von Kantzenbach ist als deutsche Variante des Struktur-Verhalten-Ergebnis-Paradigmas anzusehen. Vgl. Kantzenbach, Erhard, Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, 2. Aufl., Göttingen 1967. " Zur Unterscheidung und Typologisierung der einzelnen wettbewerbspolitischen Leitbilder vgl. auch Herdzina, Klaus, Zur historischen Entwicklung der Wettbewerbstheorie, in: ders. (Hrsg.), Wettbewerbstheorie, Köln 1975, S. 15 ff. 20 In erster Linie sind hier E. Mason, Joe S. Bain und Frederic M. Scherer zu nennen. 21 Vgl. Clark, John Maurice, Competition as a Dynamic Process, Washington, D.C. 1961, S. 63 ff.
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Wettbewerbspolitik
Zum anderen basiert das Wettbewerbskonzept der Harvard School auf dem von der industrieökonomischen Forschung entwickelten Marktstruktur-Marktverhalten-Marktergebnis-Paradigma. Das Struktur-Verhalten-Ergebnis-Paradigma bildet den analytischen Rahmen für das Wettbewerbskonzept der Harvard School. Im Rahmen der traditionellen Harvard School steht die These im Mittelpunkt, dass zwischen der vorliegenden Marktstruktur, dem Marktverhalten und dem Marktergebnis ein enger Kausalzusammenhang besteht. Der Marktstruktur können folgende Merkmale zugeordnet werden: 22 • Zahl der Anbieter und Nachfrager sowie ihre Marktanteile, • Produkthomogenität, Markttransparenz sowie Anpassungsgeschwindigkeit, • Höhe der Marktschranken, • Produktions- und Absatzflexibilität und • konjunkturelle Lage sowie Grad der Kapazitätsauslastung. Ferner können diese originären Marktstrukturkriterien noch um weitere ergänzt werden, wie: • Marktphase und Unternehmertypus, • interne Unternehmensstruktur, • Diversifikationsgrad sowie • personelle und finanzielle Verflechtungen. Das Marktverhalten umfasst dagegen alle Verhaltensweisen, die Ausdruck der unternehmerischen Entscheidungen sind und im Gegensatz zur Marktstruktur kurzfristig veränderbar sind.23 Hierzu gehören vor allem Art und Häufigkeit des Einsatzes der wettbewerblichen Aktionsparameter und die Neigung zu wettbewerbsbeschränkendem Verhalten.
22
23
Vgl. Bain, Joe S., Barriers to N e w Competition: Their Character and Consequences in Manufacturing Industries, Cambridge, Mass. 1956, S. 7 ff., sowie Kaysen, Carl, Donald F. Turner, Antitrust Policy: An Economic and Legal Analysis, Cambridge, Mass. 1959, S. 71 f. Vgl. Kaysen, Carl., Donald F. Turner, op. cit., S. 59 f.
Wettbewerbspo I ¡tik
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Die Marktergebnisse des unternehmerischen Verhaltens können durch verschiedene Dimensionen betrachtet und analysiert werden. Zu den wichtigsten Marktergebniskriterien gehören Preishöhe, Gewinnniveau, Qualität, Output, Kosten, technischer Fortschritt und Güterverfügbarkeit. Diese genannten Kriterien zur Beschreibung von Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnis können durch weitere Dimensionen ergänzt werden. Auch die Zuordnung ist nicht zwingend und kann je nach Autor und Untersuchungszweck variieren.24 Zu beachten ist hierbei vor allem, dass der Kausalverlauf Marktstruktur-Marktverhalten-Marktergebnis im Hinblick auf eine dynamische Wettbewerbsinterpretation nicht zwangsläufig nur in die eine Richtung ablaufen muss, sondern dass das gegenwärtige Marktergebnis die zukünftige Marktstruktur und das zukünftige Marktverhalten determiniert.25 Erst in den späteren Ansätzen der Harvard School fanden auch Rückkopplungen zwischen diesen Kriterien Berücksichtigung. 26 Im Zentrum einer am Struktur-Verhalten-Ergebnis-Paradigma orientierten Wettbewerbspolitik steht die geeignete Beeinflussung der Marktstruktur, um optimale - dem instrumentalistischen Verständnis von Wettbewerb entsprechende - Marktergebnisse hervorzubringen. Wettbewerbspolitik ist insoweit zu allererst Marktstrukturpolitik. Dabei wird vor allem von der sogenannten concentration-collusion doctrine ausgegangen, d. h., dass hohe Konzentrationsgrade bei gleichzeitigem Vorliegen hoher Marktzutrittsschranken kollusives Marktverhalten erleichtern würden. 27 Diese Erkenntnis wurde lange Zeit als empirisch evident angesehen und bestimmte maßgeblich die wettbewerbspolitischen Handlungsempfehlungen. 28 Jedoch wurde die Stringenz dieser These im Rahmen der moderneren Forschungen der Harvard School, nicht zuletzt auch aufgrund der Kritik seitens der Chicago School, im Zeitablauf erheblich relativiert. Insbesondere mittels der zunehmenden spieltheoretischen Fundierung der Marktstrukturbetrachtung konnte
24
25
26
27 28
Vgl. hierzu den guten Überblick bei Sosnick, Stephan H., Eine Kritik der Konzeption zum funktionsfähigen Wettbewerb, in: Poeche, Jürgen (Hrsg.), Das Konzept der "Workable Competition" in der angelsächsischen Literatur, Köln et al. 1970, S. 153 ff. Vgl. Herdzina, Klaus, Wirtschaftliches Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb, Berlin 1981, S. 239 und 248. Vgl. insbesondere Scherer, Frederic M , Industrial Market Structure and Economic Performance, 2. Aufl., Chicago 1980, S. 4. Vgl. Bain, Joe S., Industrial Organization, 2. Aufl., N e w York - London - Sydney 1968, S. 92 ff. Vgl. hierzu Weiss, Leonard W., The Concentration-Profit Relationship and Anti-Trust, in: Goldschmid, H.J., H. Mann und J. Fred Weston (Hrsg.), Industrial Concentration: The N e w Learning, Boston - London - Toronto 1974, S. 184 ff., sowie Kantzenbach, Erhard, Hermann H. Kallfaß, Das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, in: Cox, Helmut, Uwe Jens und Kurt Markert (Hrsg.), Handbuch des Wettbewerbs, München 1981, S. 117.
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Wettbewerbspolitik
gezeigt werden, dass Kollusion keineswegs ein wahrscheinliches Ergebnis oligopolistischer Marktstrukturen sein muss.29 Darüber hinaus sind hohe Konzentrationsgrade eine notwendige, jedoch keinesfalls eine hinreichende Bedingung für kollusives Marktverhalten. Vielmehr müssen zur Begünstigung der Kollusion weitere Marktstrukturbedingungen wie hohe Produkthomogenität, hohe Markttransparenz und hohe Marktzutrittsschranken bestehen; weiterhin hängt das Entstehen kollusiven Marktverhaltens auch von der Erfüllung der Symmetriebedingungen hinsichtlich der Gleichförmigkeit der Produktionsbedingungen sowie der finanziellen Ressourcen ab.30 Daher kann nicht ohne Einschränkungen vom Vorliegen konzentrierter Marktstrukturen auf kollusives Marktverhalten geschlossen werden. Das Verdienst des modernen industrieökonomischen Ansatzes der Harvard School ist vor allem darin zu sehen, dass die Bedingungskonstellationen, die kollusives Marktverhalten begünstigen oder nicht, theoretisch präzisiert worden sind. Vor diesem Hintergrund muss nun die angestrebte Bewertung der wettbewerbspolitischen Empfehlungen im Zeitalter der Globalisierung entsprechend der Harvard School erfolgen. Im Mittelpunkt steht hierbei nach wie vor die Marktstruktur. D.h., wettbewerbspolitischer Handlungsbedarf ist dann zu erkennen, wenn mit dem Globalisierungsprozess Marktstrukturveränderungen einhergehen, die zu einer Begünstigung kollusiven Marktverhaltens führen. Die Untersuchung der Marktstruktur setzt zunächst die Abgrenzung des relevanten Marktes voraus. Der für den Wettbewerbsprozess relevante Markt ist in zeitlicher, räumlicher und sachlicher Hinsicht abzugrenzen.31 Für die nachfolgende Diskussion ist insbesondere die durch die Globalisierung veränderte räumliche Marktabgrenzung von Interesse. Dies liegt in erster Linie daran, dass Globalisierung nichts anderes als fortschreitende Internationalisierung ökonomischer Transaktionen bedeutet, in deren Folge bisherige geographische Grenzen durch sinkende Transaktions- und Transportkosten ihre Bedeutung mehr und mehr verlieren. Demgegenüber spielt die zeitliche Marktabgrenzung in der wissenschaftlichen Diskussion nur eine untergeordnete Rolle, obwohl aufgrund des dynami-
29
30
31
Vgl. Schwalbach, Joachim, Stand und Entwicklung der Industrieökonomik, in: Neumann, Manfred, Unternehmensstrategie und Wettbewerb auf globalen Märkten und Thünen Vorlesung, Berlin 1993, S. 93 ff.; Shy, Oz, Industrial Organization: Theory and Applications, Cambridge, Mass., 1995, S. 115 f., und Tiróle, Jean, Industrieökonomik, 2. Aufl., München - Wien 1999, S.525 ff. Vgl. Schmidt, Ingo, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, op. cit., S. 121, sowie Kantzenbach, Erhard, Elke Keitmann und Reinald Krüger, Kollektive Marktbeherrschung: Neue Industrieökonomik und Erfahrungen aus der Europäischen Fusionskontrolle, Baden-Baden 1996, S. 39 ff. Vgl. Schmidt, Ingo, Relevanter Markt, Marktbeherrschung und Mißbrauch in § 22 GWB und Art. 86 EWGV, in: Wirtschaft und Wettbewerb 15 (1965) S. 454 ff.
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sehen Aspektes der Globalisierung auch sie zunehmend an Bedeutung gewinnen sollte. Bei der Abgrenzung des sachlich relevanten Marktes hat sich das Bedarfsmarktkonzept durchgesetzt. Nach diesem Konzept werden solche Güter dem gleichen sachlich relevanten Markt zugerechnet, die aus der Sicht der Marktgegenseite dazu geeignet sind, einen bestimmten gesellschaftlichen Bedarf zu decken. In den nachfolgenden Überlegungen wird davon ausgegangen, dass die Abgrenzung des sachlich relevanten Marktes von der Globalisierung weitgehend unberührt bleibt. Die Bestimmung des räumlich relevanten Marktes bereitet in der praktischen Anwendung erhebliche Schwierigkeiten.32 Allgemein wird aus ökonomischer Sicht der räumliche Markt eines Gutes als das geographische Gebiet angesehen, in dem sich durch Handel die Preise unter Berücksichtigung der Transportkosten einander angleichen. Zur Bestimmung des räumlich relevanten Marktes wurden verschiedene theoretische Konzeptionen und Indikatoren entwickelt.33 Im wesentlichen lassen sich drei verschiedene Konzeptionen unterscheiden. Als erstes sind die Tests auf uniforme und parallele Preisentwicklung zu nennen, die davon ausgehen, dass es in einem einheitlichen räumlich relevanten Markt zu einer Preisanpassung kommt. Dagegen gehen die Tests der Handelsströme davon aus, dass Arbitrageprozesse den Raum zu einem einheitlichen Markt vereinen, das heißt, von einem einheitlichen räumlich relevanten Markt ist dann auszugehen, wenn für den Preisbildungsprozess maßgebliche Mengen des betroffenen Gutes zwischen den verschiedenen Gebieten getauscht werden. Bei der dritten Konzeption handelt es sich um Tests der Preis-Mengen-Relation. Hier wird zum einen, in Anlehnung an das Konzept der externen Interdependenz von Triffin, zur Bestimmung des sachlich relevanten Marktes34 nicht auf die Angleichung der Preise abgestellt, sondern auf deren Interdependenz, die durch Arbitrageprozesse geschaffen wird; zum anderen werden sogenannte Preiserhöhungstests durchgeführt, mit deren Hilfe überprüft wird, ob in dem räumlich abgegrenzten Markt für einen hypothetischen Monopolisten ein gewinnträchtiger Preiserhöhungsspielraum besteht. Gemeinsam ist den hier dargestellten Konzeptionen zur Bestimmung des räumlich relevanten Marktes, dass vor allem die Kosten der Raum- und Grenzüberwindung 32
33
34
Vgl. Stigler, George J., Robert A. Sherwin, The Extent of the Market, in: Journal of Law and Economics 28 (1985), S. 555 ff. Vgl. hierzu Kallfaß, Hermmann H., Konzepte und Indikatoren zur Abgrenzung räumlicher Märkte in der europäischen Zusammenschlußkontrolle, in.1 Kruse, Jörn, Kurt Stockmann und Lothar Vollmer (Hrsg.), Wettbewerbspolitik im Spannungsfeld nationaler und internationaler Kartellrechtsordnungen: Festschrift für Ingo Schmidt zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 1997, S. 111 ff. und die dort angegebene Literatur. Vgl. Triffin, Robert, Monopolistic Competition and General Equilibrium Theory, Cambridge, Mass. 1940.
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Wettbewerbspolitik
von Bedeutung sind. Mit Blick auf die hier thematisierten Auswirkungen der Globalisierung bedeutet dies, dass - unabhängig von der gewählten Konzeption Globalisierung gleichbedeutend mit der Ausweitung des räumlich relevanten Marktes ist, da mit ihr eine Reduktion der Transaktions- und Raumüberwindungskosten verbunden ist, das heißt, im Extremfall ist bei der wettbewerbspolitischen Analyse vom Weltmarkt auszugehen. Dies bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die Marktstrukturüberlegungen. Geht man von größeren räumlich relevanten Märkten aus, dann folgt daraus, dass die Konzentration der bisher segmentierten Märkte abgenommen hat. Damit sinkt auch entsprechend der concentration-collusion doctrine die Wahrscheinlichkeit des Auftretens kollusiven Marktverhaltens und damit von Wettbewerbsbeschränkungen. Gleichzeitig nimmt auf globalisierten Märkten der potentielle Wettbewerbsdruck zu, so dass hier von einer weiteren Verhaltenskontrolle ausgegangen werden kann. Diese Argumentation ist auch Ursache dafür, dass aus dem Globalisierungsphänomen keine unmittelbaren wettbewerbspolitischen Konsequenzen gefordert werden. Doch an dieser Stelle sei zur Vorsicht geraten. So ist aus der neueren industrieökonomischen Forschung bekannt, dass andere Marktstrukturfaktoren wettbewerbsbeschränkendes Verhalten begünstigen können. Hierzu zählen vor allem Homogenität und Markttransparenz. Mit Blick auf die Markttransparenz lässt sich dabei feststellen, dass die Globalisierung und die mit ihr einhergehende Verwendung modernster Kommunikations- und Datennetze im Ergebnis dazu fuhrt, dass die Markttransparenz erheblich gesteigert wird. Dies bleibt ohne Folgen für den Wettbewerbsprozess, so lange weitgehend von polypolistischen Märkten ausgegangen wird. Die Antwort der Unternehmen auf die gesunkenen Marktanteile in vollständig oder teilweise globalisierten Märkten ist jedoch, im Wege von Zusammenschlüssen und Übernahmen oder Kooperationen den weltweiten Marktanteil wieder zu erhöhen. Die aktuelle Fusions- und Übernahmewelle zeigt dies nur allzu deutlich. Im Ergebnis nimmt durch diesen Prozess mittel- bis langfristig jedoch wiederum der Konzentrationsgrad zu. Diese Zunahme des Konzentrationsgrades in Verbindung mit der gestiegenen Markttransparenz kann auch auf globalisierten Märkten wettbewerbsbeschränkendes Verhalten begünstigen kann. Hier reduziert die Markttransparenz die Unkenntnis und Unsicherheit der Marktteilnehmer über das Verhalten der Konkurrenten, was die Gefahr kollusiven Marktverhaltens erheblich erhöht.35
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Zur Ambivalenz der Markttransparenz vgl. bereits Schmidt, Ingo, Markttransparenz als Voraussetzung für Wettbewerbsbeschränkungen, in: Wirtschaft und Wettbewerb 13 (1963), S. 97 ff.
Wettbewerbspolitik
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Darüber hinaus kann die Gefahr kollusiven Marktverhaltens auch erhöht werden, dass sich durch die Globalisierung die Symmetrie der Konkurrenten, insbesondere im Hinblick auf die Gleichförmigkeit der Produktionsbedingungen, erhöht. Mit der Reduktion von Mobilitätshemmnissen im Zuge der Globalisierung sinkt auch die Bedeutung, die unterschiedliche Standorte fur die Kostenstrukturen der Unternehmen haben. Der fortschreitende Globalisierungsprozess wird die bisher bestehenden Heterogenitäten in den Kostenstrukturen weiter abbauen. D.h., mit der Globalisierung ist unmittelbar auch eine Tendenz zur internationalen Angleichung der Kostenstrukturen der Unternehmen und Branchen verbunden. Damit nimmt jedoch ebenfalls die Gefahr kollusiven Marktverhaltens zu. Fasst man die Wirkungen der Globalisierung auf die Marktstruktur zusammen, so lassen sich folgende Entwicklungsmuster konstatieren. Zum einen fuhrt die Globalisierung zu einem Anwachsen des räumlich relevanten Marktes. Damit ist zunächst einmal eine abnehmende Konzentration verbunden. Gleichfalls nimmt die disziplinierende Wirkung des potentiellen Wettbewerbs durch sinkende Transaktions- und Raumüberwindungskosten zu. Diesen Entwicklungen ist jedoch gegenüberzustellen, dass die Unternehmen bestrebt sind, durch Übernahmen und Fusionen ihre Marktanteile auf globalisierten Märkten zu erhöhen, so dass die Konzentration mittel- bis langfristig wieder zunehmen wird. Gleichfalls nehmen mit fortschreitender Globalisierung Markttransparenz und Symmetrie zwischen den Unternehmen zu, was bei steigender Konzentration zu einer Begünstigung wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens führen kann. Vor diesem Hintergrund erscheint es überraschend, mit welcher Gelassenheit manche Vertreter der industrieökonomisch geprägten Harvard School dem zunehmenden Konzentrationsprozess gegenüberstehen. Eine konsequente Anwendung des Marktstruktur-MarktverhaltenMarktergebnis-Paradigmas würde durchaus Anlass zu einer größeren Sorgfalt geben. Der beobachtbare Konzentrationsprozess wird häufig auch mit dem Verweis auf eine zunehmende produktive Effizienz und die positiven Wirkungen der Generierung technischen Fortschritts legitimiert. Hierbei zeigt sich das generelle Dilemma des Wettbewerbskonzeptes der Harvard School. Die Harvard School instrumentalisiert den Wettbewerb zur Erreichung vielfaltiger Ziele. Dabei steht ihr wettbewerbspolitisches Konzept stets im Spannungsfeld zwischen der statischen Effizienz auf der einen und der dynamischen Effizienz auf der anderen Seite.36 Aus der Sicht der dynamischen Effizienz können Konzentrationsprozesse durchaus erwünscht sein, da sie es einerseits den Anbietern erlauben, umfangreiche und risikoträchtige Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen zu finanzieren und
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Vgl. Herdzina,
Klaus, Wettbewerbspolitik, op. cit., S. 37 ff.
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Wettbewerbspolitik
andererseits der Realisierung von economies of scale dienen.37 Inwieweit sich diese Argumentation als Begründung für die beobachtbare Unbedenklichkeit von Unternehmenszusammenschlüssen als tragfähig erweist, soll im Rahmen des nächsten Abschnitts, der das Wettbewerbskonzept der Chicago School thematisiert, diskutiert werden, da die Chicago School in ihrem Ansatz noch viel stärker Effizienzaspekte in den Mittelpunkt stellt. Was die Wirkungen der Konzentration auf die Generierung technischen Fortschritts betrifft, so sei an dieser Stelle nur darauf verwiesen, dass es industrieökonomisch bisher nicht erwiesen ist, dass höhere Konzentration sich unmittelbar positiv auf den technischen Fortschritt auswirkt. Dieser Zusammenhang der sogenannten Neo-Schumpeter-Hypothesen gilt keineswegs als empirisch ausreichend gesichert.38 Insbesondere sei darauf verwiesen, dass es häufig kleine und mittlere Unternehmen sind, die sich im Wettbewerbsprozess als besonders innovativ hervorgetan haben. Insofern sei vor der allzu pauschalen Annahme gewarnt, dass die Konzentration positive Wirkungen auf den technischen Fortschritt entfaltet. 4.2.2
Chicago School
Als wichtigste Vertreter der Chicago School und ihrer wettbewerbspolitischen Konzeption sind Brozen, Demsetz, Posner und Stigler zu nennen.39 Allgemein kann die Chicago School als Reaktion bzw. kritischer Gegenpol zu dem Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs der Harvard School aufgefasst werden.40 Wie diese konnte sie sich jedoch nicht von der wohlfahrtsökonomischen Ausrichtung der Wettbewerbstheorie und -politik lösen. Denn auch die Chicago School sieht es als die zentrale Aufgabe der Wettbewerbspolitik an, die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt zu maximieren. Normativ lehnt jedoch die Chicago School den Zielpluralismus der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs ab, und sieht in der Maximierung der Konsumentenwohlfahrt das alleinige Ziel der Wettbewerbspoli-
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Auf diesen Überlegungen basierend leitet Kantzenbach dann sein Leitbild der optimalen Wettbewerbsintensität weiter Oligopole ab. Vgl. Kantzenbach, Erhard, op. cit., S. 128 ff. Vgl. hierzu Schmidt, Ingo, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, op. cit., S. 105 ff. Vgl. zur historischen Entwicklung der Chicago School den Beitrag von Reder, Melvin W., Chicago Economics: Permanence and Change, in: Journal of Economic Literature 20 (1982), S. 33 ff. Vgl. Bork, Robert H., The Antitrust Paradox: A Policy at War with Itself, N e w York 1978, S. 3 ff.; Posner, Richard Α., The Chicago School of Antitrust Analysis, in: University of Pennsylvania Law Review 127 (1979), S. 925 ff., und Audretsch, DavidB., Divergent Views in Antitrust Economics, in: Antitrust Bulletin 33 (1988), S. 142 ff.
Wettbewerbspo 1 itik
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tik.41 Die Konsumentenwohlfahrt wird ausschließlich durch allokative und produktive Effizienz bestimmt. Die allokative Effizienz beschreibt die optimale Verteilung der gegeben Produktionsfaktoren auf die verschiedenen Verwendungsrichtungen. Das Kriterium der produktiven Effizienz sehen die Vertreter der Chicago School dann als erfüllt an, wenn Produktion und Bereitstellung von Gütern sowie Dienstleistungen den Wünschen der Konsumenten in jeder Hinsicht am besten entsprechen. Bork spricht in diesem Zusammenhang auch von der sogenannten kompetitiven Effizienz 42 . Diese Effizienz manifestiere sich am Unternehmenserfolg, da er ein Anzeichen dafür sei, dass ein Unternehmen die Konsumentenwünsche optimal erfülle. 43 Im Vordergrund stehen hierbei vor allem die Realisierung von economies of scale und scope. Hierin zeigt sich auch die sogenannte Survivor-Hypothese, mit deren Hilfe die neoklassische Preistheorie um evolutionäre Elemente ergänzt wird. Langfristig überlebt stets nur der Effizientere.44 Im Gegensatz zur Harvard School lehnt die Chicago School das deterministische Struktur-Verhalten-Ergebnis-Paradigma und damit auch die concentration collusion doctrine ab. Vielmehr stellt die Chicago School dem Wettbewerbskonzept der Harvard School die New-Learning-Hypothese gegenüber, wonach Konzentration wettbewerbspolitisch unproblematisch sei, da sie allein Ausdruck überlegener Effizienz sei, d.h., Konzentration determiniere demnach nicht die Marktergebnisse, sondern die Marktergebnisse in Form von allokativer und produktiver Effizienz würden die Konzentration determinieren. Methodisch geht die Chicago School von einem statischen Denkansatz aus, der auf der Gegenüberstellung der beiden Extremsituationen vollständige Konkurrenz und Monopol beruht. Die Vertreter der Chicago School sind der Ansicht, dass die aus den differenzierten Oligopolmodellen der Harvard School abgeleiteten Prognosen empirisch nicht von denen zu unterscheiden seien, welche aus den Extremmodellen erzeugt werden könnten.45 In der wettbewerbspolitischen Beurteilung gelangt daher die Chicago School zu anderen Ergebnissen. Einer aktiven gestalterischen Wettbewerbspolitik steht sie kritisch gegenüber, da sich optimale Unternehmensgrößen nur daran erkennen
41
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Zur Rolle der Konsumentenwohlfahrt im Wettbewerbskonzept der Chicago School vgl. Binder, Steffen, Die Idee der Konsumentensouveränität in der Wettbewerbstheorie: Teleokratische vs. nomokratische Auffassung, Frankfurt am Main et al. 1996, S. 264 ff. Vgl. Bork, Robert H., op. cit., S. 61 und 104 ff. Vgl. ebenda, S. 122. Vgl. auch Stigler, George. J., The Oranization of Industry, Homewood, 111., 1968, S. 73. Vgl. Posner, Richard Α., Antitrust Law: An Economic Perspective, Chicago - London 1976, S. 8 ff.
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Wettbewerbspolitik
lassen, wer sich am Markt durchsetzt. Das Bestreben nach Marktmacht wird zwar als negativ angesehen, da Marktmacht als solche immer mit allokativen Ineffizienzen verbunden ist, jedoch wird die stabile Existenz marktbeherrschender Stellungen vor allem durch den Verweis auf potenziellen Wettbewerb stark in Zweifel gezogen. Stabile Konzentrationsraten sind daher auch als Beweis dafür anzusehen, dass keine kollusive Verhaltensabstimmung erfolgt, da es sonst zu Dekonzentrationsprozessen infolge des Marktzutritts potenzieller Konkurrenten kommen würde. 4 Hier zeigt sich bereits, dass es sich bei der Markttheorie der Chicago School um eine schwache Form der später entwickelten contestabilityHypothese handelt. 47 Weitgehende Eingriffe in die Marktstruktur werden abgelehnt, so werden beispielsweise Unternehmensfusionen im Hinblick auf die Ausschöpfung von Effizienzvorteilen im allgemeinen nicht als wettbewerbsgefahrdend angesehen. Auch Eingriffe in das Marktverhalten - denen zwar wettbewerbspolitisch eine höhere Relevanz zugeordnet wird als Marktstruktureingriffen 48 - sollen nur dann erfolgen, wenn die wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen zu Ineffizienzen führen. Die wettbewerbspolitische Beurteilung des Globalisierungsprozesses in der Form der zunehmenden transnationalen Unternehmenszusammenschlüsse aus der Sicht der Chicago School wird zunächst wesentlich von der kritischen Einstellung gegenüber einer gestaltenden Wettbewerbspolitik bestimmt. Im Vergleich zum Konzept der Harvard School zeichnet sich der Ansatz der Chicago School im Hinblick auf das, was die Wettbewerbspolitik zu leisten vermag, durch ein höheres Maß an Bescheidenheit aus. Die Möglichkeiten der Wettbewerbspolitik werden viel zurückhaltender beurteilt. Im Mittelpunkt steht dabei die Auffassung, dass Konzentration an sich wettbewerbspolitisch unproblematisch sei. Sie ist vielmehr Ausdruck der überlegenen Effizienz. Damit würden insbesondere aus den Effizienz-Überlegungen der Chicago School keine unmittelbaren Anforderungen für die Wettbewerbspolitik im Zeitalter der Globalisierung erwachsen. Die gestiegene Zahl der transnationalen Unternehmenszusammenschlüsse wäre nur ein Beleg für das Effizienzstreben der Unternehmen. Die Schaffung größerer Un-
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Vgl. Brozen, Yale, Concentration and Profits: Does Concentration Matter?, in: The Antitrust Bulletin 16 (1971), S. 241 ff., und der s., The Concentration Collusion Doctrine, in: Antitrust Law Journal 46 (1977), S. 826 ff. Vgl. Gilbert, Richard J., The Role of Potential Competition in Industrial Organization, in: Journal of Economic Perspectives 3 (1989), S. 113 Zur Theorie der contestable markets vgl. Baumol, William J., John Ponzar, Robert D. Willig, Contestable Markets and the Theory oflndustry Structure, San Diego 1982. Vgl. Demsetz, Harold, Economics as a Guide to Antitrust Regulation, in: Journal of Law and Economics 19(1976), S. 383.
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ternehmenseinheiten sei unter der Zielsetzung der Maximierung der Konsumentenwohlfahrt erwünscht. Diese Argumentation setzt jedoch voraus, dass aus der Ausnutzung von economies of scale und scope produktive Effizienzsteigerungen resultieren, die etwaige Beeinträchtigungen der allokativen Effizienz aufgrund der zunehmenden Unternehmenskonzentration überkompensieren. 49 Inwieweit diese produktiven Effizienzsteigerungen auch tatsächlich realisiert werden, darf jedoch bezweifelt werden. Als Quelle dieser Effizienzsteigerungen wird an vorderster Stelle immer wieder die Realisierung von economies of scale genannt. Diese economies of scale können auf die verschiedensten Ursachen zurückzufuhren sein, so beispielsweise in den Bereichen Produktion, Absatz und Werbung, Management sowie Transport und Logistik.50 Diesen Effizienzvorteilen sind jedoch die Kosten, die ein Unternehmenszusammenschluss verursacht, sowie die Kosten aufgrund zunehmender organisationsinterner Ineffizienzen durch die wachsende Unternehmensgröße (sog. X-Ineffizienzen) 51 entgegenzuhalten. Darüber hinaus ist zu fragen, ob es sich bei den realisierten economies of scale weniger um reale als vielmehr um pekuniäre economies of scale aufgrund von Marktmacht handelt. Die Ausnutzung von pekuniären economies of scale bringt jedoch gesamtwirtschaftlich betrachtet keine Effizienzgewinne, da ihnen Verluste in gleicher Höhe auf der schwächeren Marktseite gegenüberstehen. Auch die Möglichkeiten der Ausnutzung von Synergievorteilen werden häufig überschätzt. Die Ursache dafür, dass sich Synergieeffekte zwar theoretisch herleiten, in der Realität jedoch nicht oder nur in geringem Umfang nachweisen lassen52, ist vor allem darin zu sehen, dass die Ausnutzung von Synergieeffekten erhöhte Anforderungen an die Managementkapazitäten der Unternehmen stellt.53 Die Ausnutzung von Synergieeffekten setzt voraus, dass die Unternehmen jeweils über geeignete Übertragungsmechanismen organisatorischer bzw. institutioneller
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Vgl. hierzu das trade-off Modell von Williamson, Oliver, Economics as an Antitrust Defense: The Welfare Tradeoffs, in: American Economic Review 58 (1968), S. 18 ff. Vgl. den Überblick bei Koutsoyiannis, Anne, Modern Microeconomics, 2. Aufl., London Basingstoke 1981, S. 127 ff. Vgl. Schmidt, Ingo, und André Schmidt, X-Ineffizienz, Lean Production und Wettbewerbsfähigkeit, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium 25 (1996), S. 65 ff. Vgl. den Überblick bei Mueller, Dennis C., Lessons from the United State's Antitrust History, in: International Journal of Industrial Organization 14 (1996), S. 429 ff. Vgl. Berg, Hartmut, Jens Müller, A u f der Suche nach den Wettbewerbsvorteilen konglomerater Diversifizierung: Zur Transformation der Daimler Benz AG vom Automobilproduzenten zum "integrierten Technologiekonzern", in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 40 (1995), S. 374.
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Wettbewerbspolitik
Art verfügen. 54 Störungen innerhalb dieser institutionellen Übertragungsmechanismen verhindern, dass sich das Wissen aller Organisationsmitglieder gleichmäßig auf alle Funktionsbereiche verteilt. Synergieeffekte setzen jedoch stets die Diffusion von technischem Wissen voraus. Gelingt es der Unternehmensführung nicht, geeignete Wissenstransfermechanismen zu implementieren, können auch keine nennenswerten Synergieeffekte erzielt werden. Zusammenfassend ist daher zu beachten, dass die Realisierung von Effizienzgewinnen bei transnationalen Unternehmensfusionen zwar theoretisch möglich, aber in der Realität keineswegs zwingend ist. Vor diesem Hintergrund sollten auch die empirischen Arbeiten gewertet werden, die zu dem Ergebnis kommen, dass ein Großteil der Unternehmensfusionen scheitert.55 Offensichtlich scheint die Realisierung von Effizienzgewinnen sich realiter schwieriger zu gestalten als theoretisch herzuleiten, so dass per se die Inkaufnahme von Wettbewerbsbeschränkungen aufgrund hypothetischer Effizienzvorteile nicht gerechtfertigt erscheint. Die einseitige Effizienzorientierung der Chicago School fuhrt im Ergebnis dazu, dass Unternehmenszusammenschlüsse im Rahmen des Globalisierungsprozesses als weitgehend unbedenklich angesehen werden. 56 Hierbei zeigt sich jedoch auch eine wesentliche Schwäche dieser wettbewerbstheoretischen Konzeption. Die Chicago School abstrahiert von der Existenz eines Freiheitsziels, womit das Machtproblem im Rahmen der Wettbewerbspolitik ausgeblendet wird. In der Wettbewerbspolitik, die ausschließlich dem Effizienzziel verpflichtet ist, findet sich kein Platz für die Berücksichtigung von Freiheitsaspekten. Dies ist insofern inkonsequent, als die Sicherung der wettbewerblichen Handlungs- und Entschließungsfreiheit eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass der Wettbewerbsprozess seine effizienzfordernde Wirkung auch zur Geltung bringen kann. Daher sollten in einer wettbewerbstheoretischen Analyse auch die freiheitsbeschränkenden Wirkungen der zunehmenden Unternehmenszusammenschlüsse im Rahmen der Globalisierung thematisiert werden. Aus diesem Grund ist das Konzept der Chicago School zur Beurteilung der Wettbewerbspolitik im Zeitalter der Globalisierung nur begrenzt geeignet. Die Auswirkungen des Globalisierungsprozesses und dessen Begleiterscheinungen sind im Rahmen des systemorientierten Ansatzes zu diskutieren, der die Sicherung und Erhaltung der Freiheit in den Mittelpunkt der Wettbewerbspolitik rückt.
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55 56
18. Sondergutachten: Zusammenschlußvorhaben der Daimler-Benz AG Vgl. Monopolkommission, mit der Messerschmitt-Bölkow-Blohm GmbH, Baden-Baden 1989, S. 65. Vgl. Kleinert, Jörn, und Henning Klodt, Megafusionen, Tübingen 2000. Vgl. hierzu auch Schmidt, Ingo, und Jan B. Rittaler, Die Chicago School of Antitrust Analysis: Wettbewerbstheoretische und -politische Analyse eines Credos, Baden-Baden 1986, S. 91 ff.
Wettbewerbspolitik
4.3
397
Folgen der Globalisierung für die Wettbewerbspolitik aus der Sicht des systemtheoretischen Ansatzes
Der systemtheoretische Ansatz wurde von Erich Hoppmann Ende der sechziger Jahre entwickelt. Dieser ist untrennbar mit der Austrian School verbunden. Zum besseren Verständnis des systemtheoretischen Ansatzes ist es daher erforderlich, in kurzer Form auf die Kernaussagen der Austrian School einzugehen. Grundlegend für die Austrian School ist, dass sie nicht von einer teleokratischen, sondern nomokratischen Konstituierung der Gesellschaft ausgeht. Die Möglichkeit der rationalen Konstituierung einer gesellschaftlichen Ordnung (i.S.v. Hayek gemachte Ordnung, Taxis) wird abgelehnt; an ihrer Stelle tritt die sogenannte gewachsene bzw. spontane Ordnung (Kosmos), die das Ergebnis der unzähligen unintendierten Handlungen von Menschen ist.57 Im Rahmen evolutionärer Selektionsprozesse bilden sich Regeln heraus, die eine wichtige Bedingung für das spontane Zustandekommen einer sozialen Ordnung sind. Von ihnen lassen sich die Individuen bei ihren Reaktionen auf die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens leiten. Sie sind nicht Folge von Befehl oder Zwang, sondern sie basieren auf Traditionen, Gewohnheiten und Überlieferungen. 58 Daher werden die gesellschaftlichen Ordnungen als sich selbst organisierende Systeme betrachtet, die endogen entstehen und sich selbst erhalten. Die Systeme stehen dabei nicht im Dienste exogen vorgegebener überindividueller Ziele, sondern sie dienen ausschließlich der Erfüllung der individuellen Ziele der Gesellschaftsmitglieder. Die Kontrollgewalt über eine solche Ordnung wird als überaus gering angesehen. Allenfalls kann über die bewusste Gestaltung von Verhaltensregeln und Rechtsnormen Einfluss auf den allgemeinen Charakter einer Ordnung ausgeübt werden. Die relationale Beziehung, d.h. die Anordnung und Struktur der einzelnen Elemente, kann jedoch nicht von außen gesteuert werden. Der Erfolg interventionistischer Eingriffe des Staates in eine solche spontane Ordnung wird daher als außerordentlich gering angesehen. Vielmehr bestünde die Gefahr, dass das gesamte Handlungssystem in seiner Funktionsfähigkeit gefährdet werden könnte.59 Evolutionäre Prozesse und die aus ihnen hervorgehende spontane Ordnung können sich jedoch nur dann entwickeln, wenn die Handlungs- und Entschließungsfreiheit eines jeden Individuums garantiert ist. Ausgehend vom persönlichen Freiheitsbegriff des englischen Liberalismus bezeichnet Freiheit einen Zustand, in
57
58 59
Vgl. Hayek, Friedrich August von, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 1: Regeln und Ordnung, 2. Aufl., Landsberg 1986, S. 36 f. Vgl. Hayek, Friedrich August von, Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl., Tübingen 1991, S. 78. Vgl. Hayek, Friedrich August von, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 1 : Regeln und Ordnung, op. cit., S. 64 f.
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Wettbewerbspolitik
dem jedes Individuum sein Wissen für seine persönlichen Ziele verwenden kann. Freiheit wird dabei negativ als die Abwesenheit von Zwang interpretiert. Das heißt, es kommt zu keiner Unterwerfung des Handelns einer Person durch den Willen einer anderen.60 Ausgangspunkt für die evolutionsökonomisch-systemtheoretische Perspektive ist der konstitutionelle Wissensmangel in einer jeden Gesellschaft. 61 Dieser Wissensmangel ist ubiquitär und kann niemals vollständig beseitigt werden. Damit rückt vor allem die Frage, wodurch dieser Wissensmangel vermindert werden kann, in den Mittelpunkt der theoretischen Auseinandersetzung. 62 Der Wettbewerb in der Form eines Wettbewerbs um besseres Wissen stellt denjenigen Mechanismus dar, mit dessen Hilfe in der Gesellschaft mehr Wissen genutzt wird als ein einzelner jemals besitzen kann. Gleichzeitig dient er der Erzielung individueller Zwecke, die in der Gesamtheit a priori nicht bekannt sind.63 Im Hayekschen Konzept des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren werden durch Wettbewerbsprozesse verstreute Teile des relevanten Wissens zugänglich. Mit Hilfe der Sicherung der persönlichen Handlungs- und Entschließungsfreiheit soll jedes Individuum dazu in die Lage versetzt werden, an den Wettbewerbsprozessen teilzunehmen, um damit am gesellschaftsweiten Wissenstransfer beteiligt zu werden. Im Rahmen der individuellen Freiheit besitzt jeder dann die Chance, sein vorhandenes Wissen zu nutzen, um mit neuen Handlungsweisen und Ideen experimentieren zu können. Zentrale Aufgabe des Rechts ist es daher, die individuelle Freiheit umfassend zu schützen. Die hier nur schemenhaft dargestellten Denkansätze der Austrian School, die auf den Annahmen der Unmöglichkeit der rationalen Konstituierung einer gesellschaftlichen Ordnung und der Unvollständigkeit des Wissens beruhen, bleiben nicht ohne Folgen für wettbewerbstheoretische Überlegungen. So implizieren die Grundannahmen der Austrian School eine radikale Abkehr vom wohlfahrtsökonomischen Ansatz, der von der Unvollständigkeit des Wissens abstrahiert. Denn die Wohlfahrtsökonomie konstruiert einen Satz von Bedingungen, bei deren Erfüllung die Annäherung an einen a priori definierten Idealzustand erreicht wird. Diese Betrachtungsweise lehnt die Austrian School strikt ab. Vielmehr ist der Wettbewerb ein offener Prozess, dessen Ergebnisse nicht genau vorausgesagt
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Vgl. Hayek, Friedrich August von, Die Verfassung der Freiheit, op. cit., S. 15, 27 f. und 161 ff. Vgl. hierzu den grundlegenden Aufsatz von Hayek, Friedrich August von, Wirtschaftstheorie und Wissen, in: ders. Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. Aufl., Salzburg 1976, S. 4 9 ff. Vgl. Hayek, Friedrich August von, Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft, in: ders., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, op. cit., S. 104. Vgl. Hayek, Friedrich August von, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: ders., Freiburger Studien: Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1969, S. 255.
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werden können. Demzufolge wendet sich die Austrian School auch gegen eine Instrumentalisierung des Wettbewerbs zur Erfüllung eines wie auch immer gearteten Zielkatalogs. Der Wettbewerb kann seine Entdeckungsfunktion nur dann entfalten, wenn die persönliche Handlungs- und Entschließungsfreiheit der Individuen umfassend garantiert und geschützt ist. Eine Einschränkung der persönlichen Ziele beispielsweise durch die Vorgabe gesamtgesellschaftlicher Zielgrößen würde den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren auslöschen. Mit der Vorgabe von Zielen wird zum einen das individuelle Handeln zur Erreichung überindividueller Ziele instrumentalisiert und zum anderen wird bereits vorweggenommen, was der Wettbewerb erst entdecken soll. Dann wäre jedoch der Wettbewerb eine höchst verschwenderische Methode zur Herbeiführung von Anpassungsprozessen.64 Damit wird ein genereller Zielkonflikt zwischen Wettbewerbsfreiheit und überindividuellen Zielen deutlich.65 In der konkreten Anwendung der Wettbewerbspolitik zeichnet sich der Ansatz der Austrian School durch ein hohes Maß an Bescheidenheit aus. Das Anspruchsniveau der staatlichen Wettbewerbspolitik wird erheblich abgesenkt.66 Unter den Annahmen, dass es sich bei Wettbewerbsprozessen um ein höchst komplexes Phänomen handelt und dass ein ubiquitärer Wissensmangel sowohl bei den Marktteilnehmern als auch bei den politisch handelnden Akteuren besteht, würde eine Wettbewerbspolitik, die den Wettbewerbsprozess rational gestalten wollte, ihre Erkenntnisgrenzen weit überschreiten. Es ist daher auch zwecklos, den Wettbewerb anhand von etwaigen Marktergebnissen beurteilen zu wollen, da sie allenfalls Zwischenergebnischarakter haben, die den Marktteilnehmern anzeigen, wie sie ihr zukünftiges Handeln auszurichten haben.67 Wettbewerb fungiert einzig und allein als Koordinationsmechanismus, der effiziente Transaktionen ermöglicht, die für alle Marktteilnehmer vorteilhaft sind, was bei freiwilligen Transaktionen grundsätzlich unterstellt werden kann.68 Diese Koordinationsfunktion gilt allgemein als gesichert, wenn die persönliche Freiheit der Wirtschaftssubjekte durch allgemeine Verhaltensregeln geschützt wird. Basierend auf den Aussagen der Austrian School entwickelte Erich Hoppmann das Konzept der Wettbewerbsfreiheit. Wettbewerbspolitik hat einzig und allein 64 65
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Vgl. Hayek, Friedrich August von, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, op. cit., S. 249. Vgl. Hoppmann, Erich, "Neue Wettbewerbspolitik": Vom Wettbewerb zur staatlichen Mikrosteuerung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 184 (1970), S. 403 f und 414 f. Vgl. Schmidtchen, Dieter, Wettbewerbspolitik als Aufgabe: Methodologische und systemtheoretische Grundlagen für eine Neuorientierung, Baden-Baden 1978, S. 19. Vgl. Schmidtchen, Dieter, Fehlurteile über das Konzept der Wettbewerbsfreiheit, in: ORDOJahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 39 (1988), S. 127. Vgl. Kirzner, Israel M , The Meaning of Market Process: Essays in the Development of Modern Austrian Economics, London - N e w York 1992, S. 184 ff.
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nur einem Ziel zu dienen, der Sicherung von Freiheit.69 Die Wettbewerbsfreiheit umfasst sowohl die Freiheit der Konkurrenten zu Vorstoß und Imitation (Parallelprozess) als auch die Auswahlfreiheit der Partner auf der Marktgegenseite (Austauschprozess). 70 Das Vorhandensein von Wettbewerbsfreiheit ist dabei eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für Wettbewerb. Hinzukommen muss noch eine entsprechende Wettbewerbsgesinnung der Marktakteure (spirit of competition), die durch Anreize und Androhen von Sanktionen leistungsfähige Markt- und Wettbewerbsprozesse initiiert. Grundlegend für das Wettbewerbsverständnis von Hoppmann ist die NonDilemma-These. Zwischen dem Freiheitsziel und den ökonomischen Wettbewerbsfunktionen besteht Zielharmonie, da freier Wettbewerb eine komplexe Ordnung darstellt, die das Marktsystem im Sinne eines Selbststeuerungssystems funktionsfähig macht und gleichzeitig gute, im einzelnen nicht genau vorhersehbare ökonomische Ergebnisse hervorbringt. Wettbewerbsfreiheit ist dann für alle Marktteilnehmer ökonomisch vorteilhaft. Jeder Marktteilnehmer erzielt einen individuellen ökonomischen Vorteil, wenn man sich auf der Marktgegenseite mittels besserer und billigerer Leistungen um seine Gunst bewirbt. 1 Zielkonflikte können sich nur dann ergeben, wenn der Wettbewerb als ein Instrument angesehen wird, das der Verwirklichung überindividueller ökonomischer Zwecke dient. Eine solche teleokratische Sicht lehnt jedoch Hoppmann in der Tradition der Austrian School strikt ab. Mit der Ausdehnung der ökonomischen Vorteilhaftigkeit des Wettbewerbs auf überindividuelle Wertigkeiten würde der Wettbewerb Gefahr laufen, zu einem reinen Instrument - welches der Erfüllung jeglicher gesellschaftspolitischer Entwicklungen dient - zu degenerieren. "Jede Neuformulierung dieser Zielfunktion kann dem Wettbewerbsbegriff einen neuen Inhalt geben."72 Eine solche Instrumentalisierung ist daher abzulehnen, eröffnet sie doch interventionistischen bzw. freiheitsbeschränkenden Bestrebungen unvorhersehbare Möglichkeiten. Hoppmann lehnt für die Wettbewerbspolitik den Kausalzusammenhang zwischen Struktur, Verhalten und Ergebnis ab. Die Wettbewerbspolitik habe lediglich die Aufgabe, zu gestalten. Sie könne die ökonomischen Resultate nur insoweit 69
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Vgl. Hoppmann, Erich, Soziale Marktwirtschaft oder Konstruktivistischer Interventionismus?: Zur Frage der Verfassungskonformität der wirtschaftspolitischen Konzeption einer "Neuen Wirtschaftspolitik", in: Tuchtfeldt, Egon (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft im Wandel, Freiburg 1973, S. 41 ff. Vgl. Hoppmann, Erich, Wettbewerb als Norm der Wettbewerbspolitik, in: ORDO-Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 18 (1967), S. 88 ff. Vgl. Hoppmann, Erich, Zum Problem einer wirtschaftspolitisch praktikablen Definition des Wettbewerbs, in: Schneider, Hans K. (Hrsg.), Grundlagen der Wettbewerbspolitik, Berlin 1968, S. 9 ff. und 14 ff. Ebenda, S. 20.
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verbessern, als diese auf eine unzureichende Ausgestaltung des wettbewerblichen Marktes zurückzuführen sind. Dagegen sei die Wettbewerbspolitik nicht in der Lage, per se gute Marktergebnisse herbeizuführen. 73 Daher könnten auch keine Optimalkonstellationen in den drei Kategorien von Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnis abgeleitet werden. Wettbewerb ist als ein offener Marktprozess anzusehen, der erwünschte ökonomische Wirkungen hervorbringt, wobei Wettbewerb und gute Marktergebnisse nicht als der letzte Zweck anzusehen sind. Vielmehr sind sie selbst wieder Mittel zu allgemeineren Zwecken. 74 Die genauen Verlaufsformen dieser wettbewerblichen Marktprozesse sind jedoch nicht vollständig prognostizierbar, so dass aufgrund von Erfahrungen allenfalls Mustervoraussagen in der Form formuliert werden können, dass bei Fehlen von Freiheitsbeschränkungen bessere Marktergebnisse Zustandekommen als bei Existenz von Freiheitsbeschränkungen. Im Mittelpunkt der wettbewerbspolitischen Implikationen des Konzepts der Wettbewerbsfreiheit steht demzufolge ein Verbot freiheitsbeschränkender Verhaltensweisen. Denn Freiheit ist nicht nur das Ziel der Wettbewerbspolitik, sondern zugleich auch eine Voraussetzung dafür, dass bessere Marktergebnisse Zustandekommen. Die Wettbewerbsfreiheit sieht Hoppmann immer dann in Gefahr, wenn die Handlungs- und Entschließungsfreiheit eines Wirtschaftssubjektes derart eingeschränkt wird, dass es nicht mehr seinen eigenen Plänen und Absichten folgen kann, sondern nur noch in den Dienst des Zwangausübenden gestellt wird.75 Aufgrund des konstitutionellen Wissensmangels, dem auch der Wettbewerbspolitiker ausgesetzt ist, lehnt Hoppmann die Anwendung einer "rule of reason" für die Wettbewerbspolitik ab.7 Vielmehr fordert er für die Wettbewerbspolitik die Verwendung von per se-Regeln, die bestimmte Handlungen unabhängig von den jeweils beobachtbaren Ergebnissen verbieten.77 Freiheitsbeschränkende Verhaltensweisen sind daher per se zu verbieten. Mit Blick auf die wettbewerbspolitische Beurteilung von Unternehmensfusionen plädiert Hoppmann konsequenterweise für die Anwendung des per se-Verbotes. Fusionen stellen für ihn eine Freiheitsbeschränkung dar, da die Substitutionsmög-
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Vgl. Hoppmann, Erich, Workable Competition als wettbewerbspolitisches Konzept, in: Besters, Hans (Hrsg.), Theoretische und institutionelle Grundlagen der Wirtschaftspolitik: Festschrift für Th. Wessels, Berlin 1967, S. 145 ff. Vgl. Ebenda, S. 151 f. Vgl. Hoppmann, Erich, Grundsätze marktwirtschaftlicher Wettbewerbspolitik, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, Baden-Baden 1988, S. 302, Vgl. Hoppmann, Erich, Workable Competition als wettbewerbspolitisches Konzept, op. cit., S. 181 ff. Vgl, Hoppmann, Erich, Volkswirtschaftliche und wirtschaftspolitische Bedeutung des Kartell- und Monopolrechts, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, op. cit., S. 324 ff.
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lichkeiten im Austauschprozess systematisch reduziert werden. 78 Überträgt man diese Schlussfolgerung auf die Wettbewerbspolitik im Zeitalter der Globalisierung, so ließe sich hier die Notwendigkeit eines per se-Verbotes von transnationalen Unternehmenszusammenschlüssen postulieren. In der aktuellen Diskussion über die wettbewerbspolitische Beurteilung der Unternehmensfiisionen im Zuge der Globalisierung haben sich einige Autoren, basierend auf den Argumentationsmustern des systemtheoretischen Ansatzes, gegen ein solches per se-Verbot ausgesprochen und fordern statt dessen eine per seErlaubnis für Fusionen. 79 Ausgangspunkt fìir diese Argumentation bildet die Annahme, dass das per se-Verbot von Fusionen nicht mit einer dynamischen Wettbewerbstheorie kompatibel erscheint.80 Fusionen werden als der Ausdruck des Willens zweier Vertragspartner angesehen, bisher eigenständige Unternehmen zu vereinen. Beide Akteure würden der Fusion nur dann zustimmen, wenn sie sich davon eine Verbesserung ihrer Nutzenpositionen versprechen. Wenn daher die bisherigen Unternehmenseigentümer erwarten, dass der Gegenwartswert aller in Zukunft erzielbaren Gewinne geringer ist als das Übernahmeangebot, dann ist es rational, das Unternehmen zu veräußern. Ein per se-Verbot hingegen bedeute eine weitreichende Einschränkung der individuellen Verfugungsrechte. Darüber hinaus würde ein per se-Verbot unter der Annahme des konstitutionellen Wissensmangels dazu fuhren, dass Teile subjektiven Wissens (hier die subjektiven Einschätzungen der Unternehmenseigner) im Marktprozess nicht mehr genutzt werden können, d. h., die Entdeckungsfunktion des Wettbewerbs, Unternehmen durch die Übernahme anderer Unternehmen leistungsfähiger zu machen, würde durch ein solches per se-Verbot in unzulässiger Weise eingeschränkt werden. Basierend auf dieser Argumentation wird Hoppmanns Forderung nach einem per se-Verbot in eine per se-Erlaubnis für Fusionen umgekehrt. 81 Die freiheitsbeschränkenden Wirkungen von Unternehmensfusionen wären ohnehin auf globalisierten Märkten mit dem Wegfall von Marktzutrittsschranken und der damit disziplinierenden Wirkung des potenziellen Wettbewerbs weitestgehend zu vernachlässigen, da die Anzahl der Entscheidungsträger im dynamischen Wettbewerbsprozess nicht mehr als konstant angesehen werden könnte.
78
Vgl. Hoppmann, Erich, Fusionskontrolle, Tübingen 1972, S. 66. Vgl. Voigt, Stefan, Die globale Entdeckung der Fusionen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3 1 . 0 7 . 1999, S. 15, und Erb, Thoralf et al., Konsequenzen der Globalisierung für die Wettbewerbspolitik, Frankfurt am Main et al. 2000, S. 103 ff. 80 Vgl. Erb, Thoralf, op. cit., S. 106. " Vgl. ebenda, S. 108.
79
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Auf den ersten Blick erscheint diese Argumentation nur logisch konsequent. Wenn die freiheitsbeschränkende Wirkung von Unternehmensfusionen im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr gegeben ist, so ist es nur zwingend, im Rahmen der Argumentation von Hoppmann jetzt für eine per se-Erlaubnis von Unternehmensfusionen zu plädieren. Gleichzeitig jedoch offenbart dieses neuere Argumentationsmuster eine wesentliche Schwäche des Ansatzes von Erich Hoppmann. Im Konzept der Wettbewerbsfreiheit steht zwar der Freiheitsgedanke im Mittelpunkt, gleichzeitig jedoch abstrahiert Hoppmann von den Problemen der Konzentration und der Macht. Hoppmann lehnt zur Begründung der Fusionskontrolle die Kriterien Unternehmenskonzentration und Machtbildung definitiv ab.82 So konstatiert Hoppmann, dass es nicht das Ziel der Wettbewerbspolitik sein darf, jede Machtentstehung zu verhindern und Macht an sich zu bekämpfen, da die Bildung und Erosion von Macht für Wettbewerbsprozesse konstituierend sei. Hiermit steht Hoppmann auch in Widerspruch zur Freiburger ordoliberalen Schule, die in der Verhinderung von Konzentration und Macht die zentrale Aufgabe des ordnungspolitischen Auftrags sieht.83 Dabei scheint Hoppmann zu vernachlässigen, dass das Entstehen von Macht Voraussetzung für Freiheitsbeschränkungen ist. Eine Beschränkung der individuellen Handlungs- und Entschließungsfreiheit setzt stets voraus, dass Macht existiert, denn ansonsten würde sich kein Individuum gezwungen sehen, sich dem Willen anderer Individuen unterzuordnen. Daher wäre es nur konsequent, wenn Hoppmann in seinem Ansatz auch die Bekämpfung des Entstehens von Macht als Grundlage zur Sicherung der Freiheit anerkennen würde. Aus dieser Argumentation kann daher der per se-Erlaubnis für Unternehmenszusammenschlüsse auf globalisierten Märkten nicht ohne Einschränkungen zugestimmt werden. Eine bedenkenlose Zustimmung würde voraussetzen, dass durch transnationale Unternehmenszusammenschlüsse keinerlei Machtkonzentration stattfindet, die freiheitsbeschränkend eingesetzt werden könnte. Wenn dies jedoch nicht der Fall ist, dann würde die angestrebte Freiheitssicherung sehr schnell ad absurdum geführt werden. Nun mag der Einwand berechtigt sein, dass es sich bei dem Begriff der Macht um einen höchst unbestimmten Terminus handelt.84 Denn die Existenz von Macht kann nicht a priori als wettbewerbsschädlich apostrophiert werden. Vielmehr ist Macht auch eine unabdingbare Voraussetzung für wirtschaftliches Handeln. 82
83
84
Vgl. Hoppmann, Erich, Marktmacht und Wettbewerb, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, op. cit., S. 338 ff. Vgl. hierzu insbesondere Röpke, Wilhelm, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Auflage, Bern Stuttgart 1979, S. 55 ff. Vgl. Herdzina, Klaus, Wettbewerbspolitik, op. cit., S. 82 f.
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Wenn hier das Entstehen von Macht durch transnationale Unternehmenszusammenschlüsse problematisiert wird, dann bezieht sich dies nur auf die Möglichkeiten der sogenannten restriktiven Macht, die den Handlungsspielraum der anderen Wirtschaftssubjekte nicht leistungsbedingt einschränkt. Diese Ausprägungen der Macht gilt es, durch eine an der Sicherung der Freiheit orientierte Wettbewerbspolitik zu verhindern. Daher ist zu fragen, ob nicht mit der gestiegenen Anzahl transnationaler Unternehmenszusammenschlüsse auch ein Machtzuwachs einhergeht, der dazu geeignet scheint, den Handlungsspielraum anderer Beteiligter nicht leistungsbedingt einzuschränken. Dabei geht es weniger um die Frage, ob das Entstehen marktbeherrschender Stellungen zu befürchten ist. Ein Unternehmen wird dann als marktbeherrschend angesehen, wenn es über einen vom Wettbewerb nicht hinreichend kontrollierten Verhaltensspielraum auf dem jeweils relevanten Markt verfügt. Das ist dann der Fall, wenn ein Unternehmen ohne große Rücksichtnahme auf Konkurrenten (horizontal) bzw. Lieferanten und Abnehmer (vertikal) handeln kann. Unter der Annahme globalisierter Märkte verliert dieses traditionelle Marktbeherrschungskriterium ohne Zweifel an Relevanz. Hierbei jedoch auf eine weitgehende wettbewerbspolitische Unbedenklichkeit zu schließen, würde bedeuten, dass man davon abstrahiert, dass aus den genannten Fusionen zwar nicht unbedingt marktbeherrschende Unternehmen entstehen; dafür jedoch entstehen Unternehmen, die man als marktmächtig in dem Sinne bezeichnen kann, als sie wesentlichen Einfluss auf die Verhaltensspielräume anderer Individuen nehmen können. Daraus resultieren Möglichkeiten für eine nicht leistungsbedingte Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit. Denn diese relative Marktstärke lässt sich nicht immer auf ein überlegenes Leistungsangebot zurückführen (dann wäre sie auch wettbewerbspolitisch vollkommen unbedenklich), sondern sie resultiert häufig aus der gesteigerten Finanzkraft, den Möglichkeiten zur Risikodiversifikation und Mischkalkulation durch interne Subventionierung.85 Aufgrund ihres geringeren Konkursrisikos können diese Unternehmen erhebliche Finanzierungsvorteile realisieren. Gleichzeitig sind sie in der Lage, aufgrund ihres Zuwachses an Verhandlungsmacht, Marktrisiken auf vorgelagerte Märkte zu überwälzen. Durch transnationale Unternehmenszusammenschlüsse entstehen Unternehmen, die über einen Ressourcenpool an Know-how, Humankapital und Finanzkapital verfügen. Diesen Pool können sie jederzeit zur wirksamen Abschreckung und Einschüchterung von Wettbewerbern einsetzen. Wettbewerblich besonders bedenklich ist hierbei vor allem die Möglichkeit zur Quersubventionierung. Das
85
Vgl. hierzu auch Kahl, Verena, Wettbewerbswirkungen konglomerater Unternehmenszusammenschlüsse, Göttingen 1992, S. 18 ff.
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heißt, dass Gewinne aus einem Marktsegment dazu verwendet werden, um beispielsweise in neue Marktsegmente einzudringen und etablierte Wettbewerber zu verdrängen. Damit wird die Selektionsfunktion des Wettbewerbs empfindlich gestört. Im Wettbewerbsprozess würden sich dann nicht mehr die Anbieter durchsetzen, die am effizientesten produzieren, sondern die, die über die größte Finanzkraft und die Möglichkeiten zur Quersubventionierung verfugen. Für kleine und mittelgroße innovative Anbieter besteht dann kaum noch die Möglichkeit, sich im Wettbewerbsprozess zu behaupten. Damit werden Marktstrukturen geschaffen, die auch die übrigen Anbieter dazu zwingen, mit anderen Unternehmen zu fusionieren, um langfristig gegen bereits fusionierte Konkurrenten bestehen zu können. Im Ergebnis bilden sich hochkonzentrierte Marktstrukturen heraus, die sich institutionell verfestigen. Eine solche Entwicklung lässt sich bereits auf einigen Märkten im Bereich der Automobilindustrie, der Pharmaindustrie und Computerindustrie sowie auch im Bereich der Banken empirisch nachweisen. Mit diesen Vorteilen geht auch eine gesteigerte Möglichkeit zur politischen Einflussnahme einher. Denn welcher Politiker wird gegen die Interessen eines Konzerns handeln, der mehrere tausend Arbeitsplätze weltweit bereitstellt und mit der Exit-Option droht, seine Produktion in andere Länder zu verlagern. Damit sei auf ein Problem hingewiesen, das überraschenderweise in der bisherigen ordnungspolitischen Diskussion über transnationale Unternehmensfusionen noch nicht tiefergehend analysiert wurde. Die aus den Fusionen hervorgehenden transnationalen Konzerne verfugen über erhebliche Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme. Damit liegen die ordnungspolitischen und auch wettbewerbspolitischen Gefahren der Großfusionen insbesondere an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft. Im aufgrund des Globalisierungsprozesses zunehmenden Institutionenwettbewerb 86 konkurrieren die verschiedenen Gebietskörperschaften um mobile Ressourcen. Daraus ergibt sich für die einzelnen Regierungen ein erhöhter Anreiz, Großunternehmen Vorzugsbedingungen in der Form der Gewährung von Steuererleichterungen oder Subventionen einzuräumen. Diese wirken sich jedoch wiederum wettbewerbsverfalschend für all diejenigen Unternehmen aus, die nicht weltweit agieren. Daher besteht die Gefahr, dass sich insbesondere aufgrund staatlicher Subventionspolitik der Zwang zu transnationalen Unternehmensfusionen ergibt. Mit dieser Argumentation soll deutlich werden, dass eine per se-Erlaubnis fur transnationale Unternehmenszusammenschlüsse auf der Basis der Argumente des systemtheoretischen Ansatzes durchaus problematisch ist. Sie abstrahiert von den Problemen zunehmender nicht leistungsbedingter Macht und verkennt, dass sich 86
Siehe auch den Beitrag von R. Clapham in diesem Band.
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daraus zahlreiche Freiheitsbeschränkungen ergeben, die dann den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren empfindlich stören können. Dies würde jedoch dem an der Sicherung der Freiheit orientierten systemtheoretischen Ansatz widersprechen.
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Ansatzpunkte für die Wettbewerbspolitik im Zeitalter der Globalisierung
Die bisherigen Ausführungen sollten deutlich werden lassen, dass sich aus wettbewerbstheoretischer Sicht kein einheitliches und widerspruchsfreies Bild über die Wirkungen transnationaler Unternehmenszusammenschlüsse im Zuge des Globalisierungsprozesses ableiten lässt. Damit sind einer umfassenden Ableitung konkreter Handlungsempfehlungen für die Wettbewerbspolitik von vornherein enge Grenzen gesetzt. Ein ubiquitäres Lösungskonzept, wie die Wettbewerbspolitik auf die angesprochenen Herausforderungen reagieren soll, kann somit nicht entwickelt werden. Dennoch sollen einige mögliche Ansatzpunkte für die Wettbewerbspolitik skizziert werden. Zunächst lässt sich konstatieren, dass die bisher beobachtbare ordnungs- und wettbewerbspolitische Zurückhaltung gegenüber den zunehmenden transnationalen Unternehmenszusammenschlüssen nicht geteilt werden kann. Sowohl auf der Basis der wohlfahrtsökonomischen Grundpositionen als auch auf der des systemtheoretischen Ansatzes lassen sich wettbewerbspolitische Bedenken fundiert begründen. Mittels des Struktur-Verhalten-Ergebnis-Paradigmas der Harvard School lässt sich zeigen, dass sich durch den Globalisierungsprozess Marktstrukturen herausbilden können, die Anreize zu kollusivem Marktverhalten schaffen. Aus der Sicht des systemtheoretischen Ansatzes sind es vor allem die von transnationalen Unternehmen ausgehenden freiheitsgefáhrdenden Wirkungen aufgrund des Zuwachses nicht leistungsbedingter Macht, die wettbewerbspolitischen Handlungsbedarf erkennen lassen. Nur aus dem wohlfahrtsökonomischen Ansatz der Chicago School lassen sich keine unmittelbaren wettbewerblichen Gefahren aus dem Globalisierungsprozess ableiten. Damit rückt nun die Frage nach den Kriterien, anhand derer transnationale Unternehmensfusionen wettbewerbspolitisch beurteilt werden sollen, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Ausgangspunkt soll dabei sein, dass die zentrale Aufgabe der Wettbewerbspolitik darin zu sehen ist, Beschränkungen der Wettbewerbsfreiheit zu ermitteln. Die Antwort auf die Frage nach den geeigneten Kriterien zur wettbewerbspolitischen Beurteilung ist insoweit problematisch, als es nicht möglich ist, Unternehmenszusammenschlüsse per se als freiheitsbeschränkend und damit wettbewerbsbeschränkend zu apostrophieren. Sowohl in der deutschen als
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auch europäischen Fusionskontrolle sind Unternehmenszusammenschlüsse dann zu untersagen, wenn sie eine marktbeherrschende Stellung begründen oder verstärken. Bei der Feststellung der Marktbeherrschung wird die Machtstellung der Fusion im Hinblick auf den räumlich und sachlich relevanten Markt überprüft. In diesem Sinn wird immer von einer Einzelmarktbetrachtung ausgegangen. Im Rahmen dieser Einzelmarktbetrachtung überprüft die Europäische Kommission im Europäischen-Fusionskontrollverfahren die Marktstärke der fusionierten Unternehmen aufgrund der sich ergebenden Marktanteilsadditionen, die Marktstärke der verbleibenden Wettbewerber im Hinblick auf Marktanteil, Finanzstärke, Technologie- und Produktionskapazitäten, die Struktur der Nachfragerseite sowie die Höhe der Marktschranken und die Stärke des potentiellen Wettbewerbs. 87 Damit finden innerhalb dieser Einzelmarktbetrachtung auch die Aspekte der wirtschaftlichen Macht und der Finanzstärke Berücksichtigung. Die Frage ist nur, ob diese Einzelmarktbetrachtung noch eine adäquate Beurteilung der durch transnationale Unternehmensfusionen entstehenden Großunternehmen ermöglicht. Vielmehr ist es in diesen Fällen erforderlich, eine übergreifende Gesamtschau durchzuführen, die stärker die Interdependenzen der jeweils durch den Zusammenschluss betroffenen Märkte berücksichtigt. Denn die im Moment beobachtbaren Großfusionen wirken sich nicht mehr nur auf einen Einzelmarkt aus, sondern tangieren auch eine Vielzahl von weiteren Märkten. 88 Im Ergebnis würde die Forderung nach einer Gesamtschau auf eine Absenkung des Eingreifkriteriums der Marktbeherrschung hinauslaufen. Es würde nicht mehr nur auf die Marktbeherrschung eines jeweiligen Einzelmarktes ankommen, sondern auch darauf, inwieweit der Zusammenschluss geeignet erscheint, den Wettbewerb in seiner Gesamtheit wesentlich zu beeinträchtigen. Diese Gesamtschau sollte vordringlich zum Ziel haben, die Möglichkeiten freiheitsgefährdenden Verhaltens aufgrund des Zuwachses nicht leistungsbedingter Macht zu identifizieren. 89 Hierbei sollten insbesondere verstärkt solche Kriterien Berücksichtigung finden, die es transnationalen Unternehmen ermöglichen, nicht leistungsbedingte Vorteile gegenüber nicht fusionierten Konkurrenten zu realisieren. Dazu gehören vor allem die Finanzkraft, die Zugänge zu den Absatz- und Beschaffungsmärkten sowie die Verflechtungen mit anderen Unternehmen. Darüber hinaus müssen die rechtlichen und tatsächlichen Schranken für den Marktzutritt überprüft werden. Im Mittelpunkt sollten dabei nicht die strukturellen Marktzu-
87
88
89
Vgl. Schmidt, Ingo, und André Schmidt, Europäische Wettbewerbspolitik: Eine Einführung, München 1997, S. 9 0 f. Vgl. hierzu bereits Monopolkommission, V. Hauptgutachten 1982/83: Ökonomische Kriterien für die Rechtsanwendung, Baden-Baden 1984, S. 195 ff. Siehe auch den Beitrag von F. Daumann in diesem Band.
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trittsschranken stehen, die im Rahmen des fortschreitenden Globalisierungsprozesses mehr und mehr an Bedeutung verlieren, sondern vor allem die strategischen Marktzutrittsschranken und die Fähigkeiten zu ihrer Errichtung. Bei der Bewertung der Kriterien sollte davon ausgegangen werden, dass es für das Entstehen von freiheitsgefahrdendem Verhalten bereits ausreichen kann, wenn nur eines der Kriterien im Vergleich zu den Wettbewerbern in überragendem Ausmaß erfüllt ist. Der Vorteil einer solchen Gesamtschau wäre, dass diese sich ohne größere Anpassungsmaßnahmen in die bereits bestehenden Fusionskontrollverfahren integrieren ließe. Das heißt, es wären keine Änderungen des materiellen Rechts erforderlich. Weiterhin ist darüber nachzudenken, mit welchen Instrumenten die Missbrauchsaufsicht im Hinblick auf die Erfassung des Behinderungsmissbrauchs wirkungsvoller ausgestaltet werden kann. Denn es ist davon auszugehen, dass die Missbrauchsaufsicht gegenüber den bereits entstandenen und den in Zukunft noch entstehenden transnationalen Großunternehmen eine immer wichtigere Rolle in der Wettbewerbspolitik einnehmen wird. Wie der aktuelle Fall Microsoft jedoch eindrucksvoll dokumentiert, sind solche Missbrauchsverfahren vor allem in der Rechtspraxis mit erheblichen Problemen behaftet. Denn auch die Missbrauchsaufsicht steht vor dem Problem, freiheitsbeschränkendes Verhalten nachzuweisen. Daher sollte darüber diskutiert werden, inwieweit insbesondere die Klage- und Anzeigerechte betroffener Unternehmen gestärkt und vor allem auch vereinfacht werden sollten. Auch hierfür bieten die bestehenden Kartellrechtsordnungen genügend Möglichkeiten für eine verfahrensrechtliche Verfeinerung. Darüber hinaus muss die Zusammenarbeit der verschiedenen nationalen Kartellbehörden weiterhin verbessert werden.90 Denn jedes Kartellrecht ist immer nur so gut, wie ihm auch durch geeignete institutionelle Lösungen zum Durchbruch verholfen wird. Damit muss nicht zwangsläufig die Forderung nach einem einheitlichen Weltkartellrecht oder gar Weltkartellamt verbunden sein. Vielmehr sollten zunächst auf der Ebene der WTO sogenannte Mindeststandards für die Fusionskontrolle und Missbrauchsaufsicht formuliert werden. Diese Mindeststandards hätten den Vorteil, dass eine Annäherung der jeweiligen Beurteilungskriterien, insbesondere bei der Marktabgrenzung und der Marktbeherrschung bzw. -stärke, erreicht werden könnte. Diese würden einen wesentlichen Beitrag zur Versachli-
90
Zu den Fragen einer internationalen Wettbewerbsordnung vgl. Fikentscher, Wolfgang, und Andreas Heinemann, Der "Draft International Antitrust Code" - Initiative fur ein Weltkartellrecht im Rahmen des GATT, in: Wirtschaft und Wettbewerb 44 (1994), S. 97 ff.; Fikentscher, Wolfgang und Ulrich Immenga (Hrsg.), Draft International Antitrust Code, Baden-Baden 1995, und Basedow, Jürgen, Weltkartellrecht: Ausgangslage und Ziele, Methoden und Grenzen der Vereinheitlichung des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen, Tübingen 1998.
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chung der Wettbewerbspolitik und deren Entpolitisierung leisten. Daraus ergibt sich ein konkreter Auftrag an die Ebene der Politik, hier auf die Schaffung geeigneter institutioneller Lösungen hinzuarbeiten.
6
Zusammenfassung
Die gegenwärtig beobachtbare ordnungs- und wettbewerbspolitische Zurückhaltung gegenüber den transnationalen Unternehmenszusammenschlüssen kann auf der Grundlage dieses Beitrags nicht geteilt werden. Überträgt man die Aussagen der verschiedenen wettbewerbstheoretischen Grundkonzeptionen auf das beschriebene Globalisierungsphänomen, lassen sich sowohl aus wohlfahrtsökonomischer als auch aus systemtheoretischer Sicht Gefahren für den Wettbewerb ableiten. Allerdings sind aufgrund der inhärenten Komplexität der Wettbewerbsprozesse den wirtschaftstheoretisch fundierten Antworten enge Grenzen gesetzt. Daher kann ein generelles Lösungskonzept für die Wettbewerbspolitik im Zeitalter der Globalisierung nicht erwartet werden. Im Mittelpunkt der Wettbewerbspolitik sollte stets die Sicherung der Wettbewerbsfreiheit stehen. Daher ergibt sich für die Wettbewerbspolitik der Auftrag, Beschränkungen der Wettbewerbsfreiheit - hier thematisiert vor dem Hintergrund des Globalisierungsprozesses - zu ermitteln und zu unterbinden. Dabei können im wesentlichen drei Ansatzpunkte für die Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik skizziert werden. Zum einen ist im Rahmen der Fusionskontrolle verstärkt der Übergang von der bisher dominierenden Einzelmarktbetrachtung zu einer Gesamtmarktbetrachtung erforderlich. Dies soll vor allem der Prävention freiheitsgefährdenden Verhaltens aufgrund des Zuwachses an nicht leistungsbedingter Macht dienen. Darüber hinaus sollte über eine Verbesserung der Missbrauchsaufsicht und der Zusammenarbeit der nationalen Kartellbehörden nachgedacht werden. A u f der Basis dieser Ansatzpunkte könnte eine verbesserte Wettbewerbskontrolle gegenüber den Großfusionen erzielt werden.
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Einführung
Zur Mitte der neunziger Jahre hat eine Fusionswelle eingesetzt, deren quantitatives Ausmaß frühere Wellen weit in den Schatten stellt. Das Transaktionsvolumen der weltweit erfassten Zusammenschlüsse und Übernahmen erreichte im Jahre 1998 mit 2,4 Bill. US-$ das Fünffache dessen, was in den frühen neunziger Jahren erreicht wurde. Erste Schätzungen für das Jahr 1999 liegen bei 3 Bill. US-$. Und das Jahr 1999 war kaum vorüber, als mit der Ankündigung der Fusionen von America Online (AOL) und Time Warner (Transaktionsvolumen: 180 Mrd. US-$) sowie von Vodafone Airtouch und Mannesmann (Transaktionsvolumen: 190 Mrd. US-$) neue Rekordniveaus bei einzelnen Fusionsfallen erzielt wurden. Internationale Megafusionen sind damit zur zentralen Herausforderung für die Wettbewerbspolitik der Gegenwart geworden. Die wettbewerbspolitischen Reaktionen auf die jüngste Fusionswelle sind zwiespältig. Einerseits wird darauf verwiesen, dass sich im Zuge von Globalisierung und Deregulierung in vielen Bereichen die relevanten Märkte von der nationalen in die internationale Dimension verschoben haben. Unternehmen aus Europa beispielsweise konkurrieren heute nicht nur mit anderen europäischen Unternehmen, sondern zunehmend mit Unternehmen aus geographisch weit entfernten, aufstrebenden Schwellenländern oder auch mit Kleinunternehmen aus der Nachbarschaft, denen das Internet das Tor zum Weltmarkt geöffnet hat. Vor diesem Hintergrund gelangt etwa der Bundesminister für Wirtschaft, Werner Müller, zu der Einschätzung, dass "die Gefahr, dass Fusionen zur Entstehung oder Verstärkung marktbeherrschender Stellungen führen, gemessen an der weltweit ständig steigenden Zahl von Zusammenschlüssen eher geringer geworden ist".1 Gegenwärtig noch teilt auch das Bundeskartellamt diese Einschätzung. In seinem jüngsten Tätigkeitsbericht ist zu lesen, dass "der Markterweiterungseffekt in seiner Wirkung auf die Wettbewerbsintensität bislang jedenfalls stärker ist als die Zunahme des Konzentrationsgrades als Folge der erhöhten Fusionsaktivität". 2
' 2
Müller (2000). Bundeskartellamt ( 1999).
418
Megafusionen
Allerdings weist das Kartellamt auf die Gefahren für den Wettbewerb hin, die sich bei einer Verstärkung der gegenwärtigen Fusionswelle und bei einer "Reoligopolisierung" der durch die Globalisierung aufgebrochenen Märkte ergeben könnten. Für Karel van Miert, den kürzlich aus dem Amt geschiedenen Wettbewerbskommissar der Europäischen Union, ist die Grenze zur Wettbewerbsbeeinträchtigung dagegen schon heute eindeutig überschritten. Er befürchtet, dass die Weltwirtschaft durch die Welle von Megafusionen Schritt für Schritt in ein System hineinrutscht, das in wichtigen Zweigen auf der Welt nur noch wenige Großunternehmen kennt. 3 Um die Degeneration der Marktwirtschaft zur "Machtwirtschaft" zu verhindern, müsse gegengesteuert werden mit einer verstärkten internationalen Kooperation von Wettbewerbsbehörden und mit der Festlegung international gültiger allgemeiner Wettbewerbsregeln. Vom Wirtschaftsministerium, dem Bundeskartellamt und der Europäischen Kommission, die als die drei entscheidenden Instanzen der deutschen Wettbewerbspolitik angesehen werden können, wird die weltweite Zunahme der Fusionstätigkeit also höchst unterschiedlich beurteilt. Die Frage, ob die aktuelle Fusionswelle eine Gefahr für den Wettbewerb auf den Weltmärkten darstellt oder nicht, wird auch in diesem Beitrag offen bleiben. Es soll auch nicht diskutiert werden, ob mögliche Effizienzgewinne, die durch Fusionen realisiert werden, mögliche Beeinträchtigung der Wettbewerbsintensität aufwiegen oder nicht. Denn wie auch immer diese Frage auf aggregiertem Niveau beantwortet wird, so werden die Kartellbehörden doch nie darauf verzichten können, jeden Einzelfall kritisch zu prüfen. Im übrigen kann bezweifelt werden, ob eine solche Güterabwägung überhaupt Aufgabe der Wettbewerbspolitik ist, denn in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung kommt dem Wettbewerb durchaus ein eigenständiger Wert zu4. Aus heutiger Sicht lautet die relevante Kernfrage im Bereich der internationalen Megafusionen, ob die nationale Wettbewerbspolitik einer Ergänzung durch eine internationale Wettbewerbspolitik bedarf oder ob darauf vertraut werden kann, dass grenzüberschreitende Wettbewerbsbeschränkungen durch internationale Anwendung nationalen Rechts sowie durch Kooperation nationaler Behörden hinreichend gesichert werden kann. Diese Frage wird in diesem Beitrag zunächst aus
3 4
Frankfurter Allgemeine Zeitung (8. September 1999). Für eine ausfuhrliche Diskussion der Begründungen und Zielsetzungen von Wettbewerbspolitik vgl. Herdzina (1999), S. 11-33.
Megafusionen
419
wettbewerbspolitischer Sicht (Abschnitt II) und anschließend aus handelspolitischer Sicht (Abschnitt III) beleuchtet. Im Schlußabschnitt IV wird ein konkreter Vorschlag dazu entwickelt, wie das Durchsetzungsproblem einer internationalen Wettbewerbspolitik gelöst werden könnte.
2
Konflikte um die effects doctrine
Die Frage, ob es ausreicht, nationale Wettbewerbsregeln auf grenzüberschreitende Wettbewerbsbeschränkungen anzuwenden, oder ob es einer supranationalen Wettbewerbspolitik bedarf, wird in der aktuellen wettbewerbspolitischen Diskussion kontrovers diskutiert.5 Verfechter des status quo verweisen darauf, dass es grundsätzlich schon heute ohne weiteres möglich sei, Wettbewerbsbeschränkungen, die im Ausland ihren Ursprung haben, aber auf die Inlandsmärkte ausstrahlen, mit der nationalen Wettbewerbspolitik in den Griff zu bekommen. Im Gegensatz zu vielen anderen Rechtsbereichen, in denen das Territorialprinzip gilt, wird im Wettbewerbsrecht ganz überwiegend die sogenannte effects doctrine (AusWirkungsprinzip) geltend gemacht: Nach der effects doctrine können Wettbewerbsbehörden gegen jegliche Art von Wettbewerbsbeschränkungen vorgehen, die sich auf den Wettbewerb in den jeweiligen Inlandsmärkten auswirken, unabhängig davon, in welchem Land die wettbewerbswidrige Handlung vollzogen wurde. Ob die effects doctrine tatsächlich eine hinreichende Grundlage bietet, um grenzüberschreitenden Wettbewerbsbeschränkungen zu begegnen, wird im folgenden anhand von insgesamt zwanzig Streitfallen, die in der wettbewerbsrechtlichen Literatur dokumentiert sind, überprüft (Tabelle 1). Die effects doctrine wurde erstmals von den Vereinigten Staaten geltend gemacht, und zwar in der richtungsweisenden Entscheidung des U.S. Supreme Court im Alcoa-Fall: Im Jahre 1945 verbot das Gericht ein Quotenkartell, das verschiedene ausländische Unternehmen für den U.S.-amerikanischen Aluminium-Markt in der Schweiz geschlossen hatten. Es wendete das Kartellverbot des Sherman Act, das bislang nur für inländische Kartelle geltend gemacht worden war, auf dieses Auslandskartell an und legte damit den Grundstein für die internationale Geltung nationalen
Für eine zugespitzte Darstellung der gegensätzlichen Argumente vgl. Möschel (1999) und Wolf (1999). Siehe auch Monopolkommission (1998), S. 351ff.; Hauser/Schoene (1994) sowie Freytag/ Zimmermann (1998) einerseits, sowie Immenga (1995), ders. (2000) und Basedow (1998) andererseits.
420
Megafusionen
Wettbewerbsrechts. 6 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat sich ebenfalls recht frühzeitig die effects doctrine zu eigen gemacht. Bereits in dem Teerfarben-Fall von 1969, der im Jahre 1972 abschließend vom Europäischen Gerichtshof entschieden wurde, verhängte die Kommission Bußgelder auch gegen schweizerische und britische Mitglieder eines Preiskartells, obwohl weder die Schweiz noch Großbritannien zu diesem Zeitpunkt Mitglieder der Europäischen Union waren. Der EuGH tat sich zunächst schwer, diesen Weg mitzugehen, und selbst im Jahre 1988, als es im Zellstoff-Fall um das Verbot eines Preiskartells von Unternehmen ging, die ausschließlich in Drittländern angesiedelt waren, hielt der EuGH formal noch am Territorialprinzip fest. Im Ergebnis bestätigte er allerdings die Verbotsentscheidung der Europäischen Kommission und machte sich damit implizit die effects doctrine zu eigen.7 Auch das Bundeskartellamt vertritt die effects doctrine. Wegweisend war der Fall Organische Pigmente, den der BGH im Jahre 1979 abschließend entschied und in dem es darum ging, die Anzeigepflicht in Deutschland für eine Fusion durchzusetzen, die zwischen zwei amerikanischen Unternehmen geschlossen worden war. Im Bayer/Firestone-Fall, der im Jahre 1980 vom Kammergericht Berlin endgültig entschieden wurde, setzte das Bundeskartellamt - gestützt auf die effects doctrine - das Verbot einer Fusion durch, die zwischen zwei französischen Tochtergesellschaften multinationaler Unternehmen geschlossen worden war. Am bekanntesten schließlich wurde die Philip Morris/Rothmans-Entscheidung des Kartellamtes, in der es die Fusion zwischen einem amerikanischen und einem britisch-südafrikanischen Unternehmen verbot. Diese Entscheidung wurde in der Öffentlichkeit zunächst eher mitleidig belächelt, da vorherzusehen war, dass sich die beiden internationalen Großkonzerne durch das wettbewerbspolitische Störfeuer aus Deutschland nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen würden. Immerhin erreichte das Kartellamt jedoch, dass sich Rothmans von einer deutschen Tochtergesellschaft trennte, so dass die Auswirkungen der Fusion auf die Marktanteile im deutschen Zigarettenmarkt vergleichsweise gering blieben.
6 7
Scherer/Ross (1990), S. 453ff. Behrens (1993).
421
Megafusionen
Tab. 1: Ausgewählte wettbewerbsrechtliche Fälle zur "Effects Doctrine" Entscheidungs instanz
Entscheidung
Alcoa
U.S. Supreme Court
Verbot eines in der Schweiz geschlossenen Quotenkartells ausländischer Aluminium-hersteller (U.S.-Behörden machen erstmals "effects doctrine" geltend)
1970
Ciba/Geigy
U.S. DoJ(e)
Auflagen für Fusion zweier Schweizer Unternehmen
3
1972
Teerfarben
EuGH(a)
Bußgeld gegen Preiskartell Mitglieder aus Drittländern
4
1979
Organische Pigmente
BGH(b)
Anzeigepflicht des Zusammenschlusses amerikanischer Unternehmen in Deutschland
5
1980
Bayer/ Firestone
KG Berlin(c)
Verbot der Fusion französischer Tochtergesellschaften und amerikanischer Unternehmen durch BkartA
6
1981
Uran
FTC(d)
Ermittlungsrecht amerikanischer Behörden im Ausland gegen ausländisches Preiskartell
7
1983
Philip Morris/ Rothmans
KG Berlin(c)
Verbot der Fusion eines amerikanischen und eines südafrikanischen Unternehmens durch BkartA
8
1985
IBM
U.S. DoJ(e)
Abwehr von EU-Auflagen zur Offenlegung von Produkt-standards
9
1985
Laker Airways
CFC(f)
Britische Fluglinie klagt gegen ruinöse Konkurrenz durch Fluglinien aus Drittländern vor U.S.Gericht
10
1988
Zellstoff
EuGH(a)
Verbot eines Exportkartells von Unternehmen aus Drittländern durch EG-KOM
11
1990
Mérieux/ Connaught
FTC(d)
Auflagen für Fusion von Unternehmen aus Drittländern
Lfd. Nr.
Jahr
1
1945
2
Fall
422
Megafusionen
noch Tab. 1 : Ausgewählte wettbewerbsrechtliche Fälle zur "Effects Doctrine" Entscheidungs instanz
Lfd. Nr.
Jahr
Fall
12
1991
de Havilland/ ATR
EG-KOM
13
1993
Hartford Fire Insurance
U.S. Supreme Court
14
1994
Faxpapier
15
1994
Plastikgeschirr
16
1995
17
1996
18
1996
British Telecom/ MCI Kimberley Clark/ Scott Paper British Airways/ American Airlines
Canadian Bureau of Competition Policy/ U.S. DoJ(e) Canadian Bureau of Competition Policy/ U.S. DoJ(e) EG-KOM
19
1997
Boeing/ McDonnell Douglas
EG-KOM
U.S. Department of Transportation
EG-KOM
Entscheidung Verbot der Fusion eines kanadischen und eines französischen Unternehmens Vorrang amerikanischer vor britischen Wettbewerbsregeln bei Geschäftsbeziehungen zwischen amerikanischen und britischen Unternehmen Ermittlung kanadischer Behörden in den USA und U.S.-amerikanischer Behörden in Kanada zur Aufdeckung eines Preiskartells Ermittlung kanadischer Behörden in den USA und U.S.-amerikanischer Behörden in Kanada zur Aufdeckung eines Preiskartells Untersagung eines Gebietskartells von britischen und amerikanischen Unternehmen Unterwerfung der Fusion amerikanischer Unternehmen unter europäische Fusionskontrolle Öffnung des britischen Marktes für amerikanische Fluglinien als Vorbedingung für Genehmigung einer strategischen Allianz mit britischer Beteiligung Auflagen für Fusion amerikanischer Unternehmen, die von der FTC(d) bereits ohne Auflagen genehmigt war Auflagen für Fusion amerikanischer Unternehmen
WorldCom/ EG-KOM/ U.S.DoJ(e) MCI (a) Europäischer Gerichtshof. - (b) Bundesgerichtshof. - (c) Kammergericht Berlin. - (d) Federal Trade Commission (Vereinigte Staaten). - (e) U.S. Department of Justice. - (f) Columbia Federal Court.
20
Quelle:
1998
Eigene Zusammenstellung nach verschiedenen Quellen
Megafusionen
423
Der Arm der nationalen Wettbewerbshüter reicht also keineswegs nur bis an die nationalen Grenzen. Die effects doctrine setzt sich in der internationalen Anwendung von Wettbewerbsrecht zunehmend durch. Ansatzweise findet sie sogar in jenen Ländern Akzeptanz, die selbst über keine nationale Wettbewerbspolitik verfugen. 8 Die konsequente Anwendung der effects doctrine kann allerdings nicht nur dazu beitragen, Probleme der internationalen Wettbewerbspolitik zu lösen, sondern sie kann selbst zum Auslöser internationaler Konflikte in der Wettbewerbspolitik werden. Wenn beispielsweise die Fusion zweier amerikanischer Unternehmen von den amerikanischen Wettbewerbsbehörden gutgeheißen, von den europäischen Behören allerdings kritisch gesehen wird, können das amerikanische Wettbewerbsrecht und das mittels der effects doctrine auf Nordamerika ausgedehnte europäische Wettbewerbsrecht miteinander in Konflikt geraten. Genau dieser Fall trat ein bei der Fusion der beiden amerikanischen Flugzeughersteller Boeing und McDonnell Douglas, die von der Federal Trade Commission im Jahre 1997 ohne Auflagen genehmigt wurde. Dabei war es kaum zu übersehen, dass durch diese Fusion die marktbeherrschende Stellung von Boeing nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten selbst nachhaltig gestärkt werden würde. Die großzügige Genehmigung der Fusion durch die Federal Trade Commission ist deshalb auch kaum anders zu erklären als mit dem industriepolitischen Argument, dass auf diesem Wege amerikanischen Flugzeugherstellern ein Vorteil gegenüber der europäischen Airbus-Industrie verschafft werden sollte, zumal sich die U.S.-Industrie durch staatliche Subventionen für den Airbus erheblich benachteiligt sah. Die Europäische Kommission leistete energischen Widerstand gegen die Fusion, konnte sie aber letztlich nicht verhindern. Zwar hätte sie die Möglichkeit gehabt, die Fusion zu verbieten und die beteiligten Unternehmen mit einem Bußgeld in Höhe von 10 vH des Gesamtumsatzes des neuen Konzerns zu belegen, aber damit hätte sie die Gefahr eines weitreichenden Handelskonfliktes mit den Vereinigten Staaten heraufbeschworen. So gab sie sich schließlich mit einigen kleineren Zugeständnissen zufrieden, nach denen beispielsweise Boeing auf den Exklusivvertrag mit Delta Airlines und American Airlines verzichtet, so dass dieser Kundenkreis künftig auch wieder der AirbusIndustrie offen steht.9
8 9
Basedow (1998), S. 21. Stehn (1997).
424
Megafusionen
Es ist fur den außenstehenden Beobachter nicht leicht, sich ein gesichertes Urteil darüber zu verschaffen, welche Rolle Konflikte zwischen Regierungsinstanzen in der internationalen Wettbewerbspolitik tatsächlich spielen. Nach außen wird jede der beteiligten Parteien darauf bedacht sein, den Eindruck des Einvernehmens nicht zu gefährden, um eventuelle Streitfragen in der Wettbewerbspolitik nicht eskalieren zu lassen und um die Lösung sachlicher Differenzen nicht durch diplomatische Verwicklungen zusätzlich zu erschweren. Dieses verständliche Bestreben der nationalen Wettbewerbsbehörden kann jedoch zu falschen wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen fuhren, wenn aus der nach außen zur Schau gestellten Einvernehmlichkeit der Schluss gezogen wird, dass in der tatsächlich praktizierten Wettbewerbspolitik überhaupt keine Probleme auftreten würden. Im Verhältnis zwischen den europäischen und U.S.-amerikanischen Wettbewerbsbehörden wird die wichtige Rolle der vertrauensvollen gegenseitigen Zusammenarbeit besonders stark betont. Grundlage dafür ist ein Abkommen aus dem Jahre 1991, in dem sich beide Seiten zu einer Politik der positive comity10 verpflichten. Bei dem Prinzip der comity geht es um die gegenseitige Amtshilfe zwischen wettbewerbspolitischen Behörden. Negative comity bedeutet dabei, dass sich die nationalen Behörden bei der Ausübung ihrer Tätigkeit insofern Zurückhaltung auferlegen, als dabei die Tätigkeitsbereiche der Wettbewerbsbehörden anderer Länder betroffen sein könnten. Die positive comity dagegen, wie sie im U.S.-EU-Abkommen festgeschrieben ist, geht einen Schritt weiter. Sie sieht den gegenseitigen Austausch nicht vertraulicher Informationen vor, und sie erlaubt es auch, die Wettbewerbsbehörde eines anderen Landes darum zu ersuchen, zusätzliche Ermittlungen aufzunehmen. Dieses Abkommen zur gegenseitigen Amtshilfe ist natürlich eingebunden in die jeweiligen nationalen Rechtssysteme. Beispielsweise wird die U.S.-Regierung keine Möglichkeit haben, die EUKommission zu Ermittlungen gegenüber europäischen Unternehmen zu veranlassen, wenn gegen diese Unternehmen kein Fusionsverfahren nach europäischem Recht eröffnet worden ist. So beschränkt sich die Anwendung des U.S.-EUAbkommens bislang vorrangig auf den Austausch bereits vorhandener Informationen in den jeweiligen Behörden, während die Aufnahme zusätzlicher Ermittlungen auf Betreiben ausländischer Wettbewerbsbehörden bislang nicht genutzt wurde."
10
Der Text dieses Abkommens, das im Jahre 1995 vom Ministerrat genehmigt wurde, ist abgedruckt in Basedow (1998), S. 171-177. " Basedow (1998), S. 35.
Megafusionen
425
Um beurteilen zu können, ob eine verstärkte internationale Kooperation im Sinne der positive comity ausreichend sein könnte, internationale Konflikte im Bereich der Wettbewerbspolitik unter Kontrolle zu halten, wurden die in Tabelle 1 aufgelisteten Fälle danach geordnet, inwieweit sie international Konfliktstoff boten und wie diese Konflikte gelöst wurden bzw. lösbar gewesen wären (Tabelle 2). Zwei vielzitierte Beispiele für das erste Feld dieser Tabelle bieten die Fälle Faxpapier und Plastikgeschirr. In beiden Fällen gelang es durch intensive Zusammenarbeit zwischen kanadischen und amerikanischen Wettbewerbsbehörden, Preiskartelle aufzudecken, die bei isolierter nationaler Vorgehensweise kaum nachweisbar gewesen wären. Als vorbildlich gilt auch die europäisch-amerikanische Kooperation beim Vorgehen gegen ein britisch-amerikanisches Kartell (British Telecom/MCI) sowie gegen eine Fusion zweier amerikanischer Unternehmen (Kimberley Clark/Scott). In Tabelle 2 sind die vier genannten Fälle denn auch unter die gemeinsame Überschrift gestellt worden, dass hier die potentiellen internationalen Konflikte mit Hilfe einer Kooperation im Sinne der positive comity gelöst worden sind. Darüber hinaus ist in dieser Rubrik die Fusion von WorldCom und MCI aufgenommen worden, bei der die europäischen und amerikanischen Wettbewerbsbehörden dem Vernehmen nach in besonders vorbildlicher Weise zusammengearbeitet haben. Problematisch an der Fusion dieser beiden TelekommunikationsUnternehmen war insbesondere ihre starke Stellung im Internet-Geschäft. Durch die Fusion wäre ihr Marktanteil beim Angebot von Internet-Zugängen und der Zusammenschaltung auf 50 vH gestiegen. Da das Internet keine nationalen Grenzen kennt, hätte sich diese Zunahme der Marktmacht sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa wettbewerbsmindernd ausgewirkt. Von daher hatten die Kommission der Europäischen Gemeinschaften und das amerikanische Justizministerium ein gemeinsames Anliegen. Gelöst wurde der Fall schließlich dadurch, dass MCI von der EU-Kommission auferlegt wurde, sein InternetGeschäft zu verkaufen. Dieser Entscheidung schloss sich das amerikanische Justizministerium wenig später an, und MCI verkaufte sein Internet-Geschäft für 1,75 Mrd. U.S.-$ an das Konkurrenzunternehmen Cable&Wireless. Ob der Fall WorldCom/MCI tatsächlich als Paradebeispiel des Konfliktlösungs-Potentials der bilateralen Kooperation gelten kann, mag allerdings bezweifelt werden. Von einem internationalen Konflikt, der durch positive comity gelöst worden wäre, konnte im Grunde keine Rede sein, da gar kein Konflikt vorlag.
426
Megafusionen
Tab. 2:
Internationale Konflikpotenziale bei ausgewählten wettbewerbsrechtlichen Fällen (a) Mit Kooperation lösbar
Mit Kooperation gelöst 14 15 16 17 20
Faxpapier Plastikgeschirr Brit. Telecom/MCI Kimberley Clark/Scott WorldCom/MCI
4 6
Konkurrierende nationale Normen 1 2 3 9 10 11 13 (a) Quelle:
Alcoa Ciba/Geigy Teerfarben Laker Airways Zellstoff Mérieux/Connaught
Organische Pigmente Uran
Konkurrierende Industriepolitik 5 8 8 12 18 19
Bayer/Firestone Philip Morris/Rothmans IBM de Havillande/ATR British Airways/American Airlines Boeing/McDonnell Douglas
Hartford Fire Insurance Die Nummerierung entspricht derjenigen aus Tabelle 1. Eigene Zusammenstellung nach Tabelle 1
Aufschlussreicher sind die Fälle Organische Pigmente und Uran, in denen es zu internationalen Konflikten kam, in denen die Konflikte aber vermutlich durch eine gegenseitige Amtshilfe vermeidbar gewesen wären. In dem bereits oben angesprochenen Fall der organischen Pigmente, in dem das Bundeskartellamt in Anwendung der effects doctrine auf die Anzeigepflicht einer amerikanischen Fusion in Deutschland pochte, war die U.S.-Regierung nur mühsam dazu zu bewegen, die Relevanz deutschen Kartellrechts für amerikanische Unternehmen zu akzeptieren. Wäre das U.S.-EU-Abkommen über die gegenseitige Anwendung des Wettbewerbsrechts schon damals in Kraft gewesen, hätte sich dieser Fall sicherlich einvernehmlich lösen lassen. Ähnliches gilt für den Uran-Fall, in dem die Ermittlungen der U.S.-Behörden gegen ein Preiskartell ausländischer UranLieferanten auf dem U.S.-Markt durch die Regierungen aus Kanada, Südafrika, Australien, Frankreich und insbesondere aus Großbritannien blockiert wurden. 12 Sicherlich hätte auch das U.S.-EU-Abkommen den amerikanischen Behörden nicht das Recht gegeben, eigenständige Ermittlungen auf europäischem Territorium durchzuführen (wie sie es in diesem Fall tatsächlich anstrebte), aber die amerikanische Seite hätte die Möglichkeit gehabt, im Rahmen der positive comity um
12
G r o ß m a n e t a l . (1998), S. 157; Rishikesh (1991).
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427
entsprechende Ermittlungen der europäischen Behörden zu ersuchen. Aus diesen Gründen sind die beiden genannten Fälle in der Tabelle 2 unter der Rubrik eingeordnet, in der internationale Konflikte mit verbesserter Kooperation hätten gelöst werden können. Die gegenseitige Amtshilfe läuft dagegen ins Leere, wenn sich die jeweils geltenden nationalen Wettbewerbsregeln widersprechen, so dass den beteiligten wettbewerbspolitischen Behörden gar nichts anderes übrig bleibt, als unterschiedliche Entscheidungen zu treffen. In diese Kategorie fallen beispielsweise der Alcoa-Fall sowie der Fall Ciba/Geigy, bei denen es jeweils um ein Marktverhalten ging, das nach Schweizer Recht zulässig, nach amerikanischem Recht dagegen verboten war. Gleiches gilt fur den bereits angesprochenen TeerfarbenFall, in dem es um ein Export-Kartell ging, an dem sich amerikanische Firmen aus Sicht der U.S.-Wettbewerbsbehörden völlig legal beteiligen durften, das aber in Europa, dem Zielland des Export-Kartells, einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln des EWG-Vertrags darstellte. Hier hätten die U.S.-Behörden also gar keine Amtshilfe für die europäischen Wettbewerbswächter leisten dürfen, da den betreffenden Firmen aus amerikanischer Sicht nichts vorzuwerfen war. Ähnliches gilt für den Zellstoff-Fall, in dem es ebenfalls um ein Export-Kartell ging, an dem wiederum U.S.-amerikanische Firmen beteiligt waren. Zum internationalen Konfliktfall entwickelte sich auch der Laker Airways-Fall. Nach dem Konkurs dieser britischen Fluglinie, die Anfang der achtziger Jahre für Aufsehen durch sehr preiswerte Transatlantikflüge gesorgt hatte, machten die Konkursverwalter geltend, dass Laker der ruinösen Konkurrenz (predatory pricing) verschiedener ausländischer Fluglinien, die mit eigenen Preissenkungen reagiert hatten, ausgesetzt gewesen sei. Die Klage wurde vor einem amerikanischen Gericht erhoben, da das britische Recht keinen Weg bot, um gegen ruinöses Preisverhalten vorgehen zu können. Das U.S.-Gericht erklärte sich für zuständig, da von den Preisverzerrungen viele U.S.-Bürger als Fluggäste betroffen seien, während die britische Regierung es den Laker-Vertretern per einstweiliger Verfügung verbot, Material für die Gerichtsverhandlung in den Vereinigten Staaten bereitzustellen.13 Dieser Konflikt, der sich über Jahre hinzog und in den zeitweilig sogar das britische Oberhaus involviert war, wäre allein durch gegenseitige Amtshilfe nicht lösbar gewesen, da der eigentliche Streit um die Frage ging, ob ruinöses Preisverhalten zu verbieten ist oder nicht.
13
Rishikesh (1991).
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Ein besonders zugespitzter Konflikt aus dieser Kategorie ergab sich in dem Hartford Fire Insurance-Fall. Diesem britischen Rückversicherungs-Unternehmen wurden vom U.S. Supreme Court bestimmte Vertragsbedingungen für in Großbritannien geschlossene Verträge untersagt, die nach britischem Recht zulässig, nach amerikanischem Recht dagegen verboten waren. Offiziell argumentierte der Supreme Court, von einem "true conflict" könne keine Rede sein, da die entsprechenden Vertragsbedingungen nach britischem Recht zwar nicht verboten, aber auch nicht zwingend vorgeschrieben seien. Hartford Fire Insurance sei es ohne weiteres möglich, sich in Einklang sowohl mit britischem als auch amerikanischem Recht zu bewegen, wenn es sich dem Richterspruch aus den Vereinigten Staaten unterwerfen würde. Tatsächlich verbirgt sich hinter dieser Entscheidung allerdings unverkennbar der Anspruch der amerikanischen Seite, das amerikanische Wettbewerbsrecht auch dann uneingeschränkt zur Geltung zu bringen, wenn es im Widerspruch zum Wettbewerbsrecht anderer Länder steht. Auch dieser Fall hätte also durch eine verstärkte gegenseitige Kooperation kaum gelöst werden können. 14 Der Versuch, amerikanische Rechtsnormen einseitig durchzusetzen, führte auch im Fall Mérieux/Connaught zum internationalen Konflikt. Die Federal Trade Commission belegte diese Fusion eines französischen mit einem kanadischen Unternehmen mit einer Reihe von Auflagen, die zunächst weder mit der französischen noch mit der kanadischen Regierung abgestimmt waren. Erst nach massivem Protest von kanadischer Seite fügte die Federal Trade Commission die Auflage hinzu, dass sich die fusionierenden Unternehmen auch mit den kanadischen Behörden abstimmen müssten. 15 Völlig wirkungslos wird die gegenseitige Amtshilfe schließlich in jenen Fällen, in denen die Regierungsbehörden verschiedener Länder zwar in der wettbewerbspolitischen Beurteilung der jeweiligen Fälle übereinstimmen, aber unterschiedliche industriepolitische Zielsetzungen verfolgen. Diese Fälle sind in Tabelle 2 in der Kategorie unten rechts aufgelistet. So konnte sich weder das deutsche Kartellamt im bereits erwähnten Bayer/Firestone-Fall gegen industriepolitische Zielsetzungen der französischen Regierung noch die EU-Kommission im ebenfalls bereits erwähnten Boeing/McDonnell Douglas-Fall gegen industriepolitische Vorstellungen der amerikanischen Regierung durchsetzen. 16 Verhindern
14 15 16
Großman (1998), S. 157f.; Basedow (1998), S. 25. Fox/Pietowski (1997); Waverman (1993). Die Bayer/Firestone-Entscheidung des Bundeskartellamtes wurde im Jahre 1980 vom Kammergericht Berlin aufgehoben, wobei als offizielle Begründung Verfahrensmängel dienten, tatsächlich
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konnte die Kommission dagegen die Fusion de Havilland/ATR, obwohl diese Fusion sowohl von kanadischer als auch von U.S.-amerikanischer Seite nachhaltig industriepolitisch befürwortet wurde.17 Gelegentlich treten sogar Fälle auf, in denen Fusionen zwar die wettbewerbspolitische Unbedenklichkeit attestiert wird, in denen industriepolitische Motive aber den Ausschlag dafür geben, die Fusion doch zu untersagen. Dabei handelt es sich allerdings regelmäßig um Fusionen, die nicht im Heimatland der Untersagungsbehörde, sondern im Ausland vollzogen werden sollen. Klassisches Beispiel dafür ist die von der britischen Regierung genehmigte strategische Allianz zwischen British Airways und American Airlines, gegen die es von U.S.-amerikanischer Seite industriepolitisch motivierte Bedenken gab. Sie versuchte, ihre Zustimmung zu dieser Allianz an die Bedingung zu knüpfen, den Flughafen Heathrow uneingeschränkt für amerikanische Fluglinien zu öffnen. Das Bestreben der britischen Regierung, das Prinzip der open skies im Gegenzug dann auch für britische Fluglinien auf amerikanischen Flughäfen zur Geltung zu bringen, wurde von amerikanischer Seite kategorisch abgelehnt. Verhindern konnte die amerikanische Seite das Entstehen der strategischen Allianz letztlich nicht, aber dieser Fall illustriert in besonders markanter Weise, welche Schärfe internationale Konflikte im Bereich der Wettbewerbspolitik annehmen können. Nicht leicht einzuordnen ist der IBM-Fall, in dem die EU-Kommission durchzusetzen versuchte, dass IBM neue Produktstandards für seine Rechenanlagen frühzeitig in Europa bekanntgibt, um europäischen Herstellern von Peripheriegeräten genügend Vorbereitungszeit zu gewähren, mit eigenen Geräten auf den Markt zu gehen. Verhindert werden sollte dadurch die Ausdehnung der marktbeherrschenden Stellung von IBM bei Computern in Europa auf Peripheriegeräte in Europa. Dieser Entscheidung widersprach nicht nur das Unternehmen, sondern auch das U.S.-Justizministerium, da es die Vorwürfe bereits selbst überprüft hätte und zu dem Schluss gekommen sei, dass IBM diese Auflage angesichts der scharfen Konkurrenz auf dem U.S.-Markt nicht zuzumuten sei. Gelöst wurde der Streit schließlich durch einen Kompromiss, bei dem sich im wesentlichen die amerikanische Seite durchsetzte. 18 Es kann vermutet werden, dass die U.S.-Regierung bei ihrer Entscheidung auch den industriepolitischen Nachteil für die amerikanische
17
18
aber die Furcht vor internationalen Konflikten zwischen der deutschen und französichen Regierung im Vordergrund gestanden haben dürfte. Vgl. Großman et al. (1998), S. 155. Der de Havilland/ATR-Fall war der erste, in dem es auf der Grundlage der im Jahre 1989 in Kraft getretenen EU-Fusionskontrollverordnung zu einem Fusionsverbot kam. Rishikesh (1991).
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Wirtschaft im Auge hatte, der sich aus einer Schwächung der Marktposition von IBM im europäischen Markt für Peripheriegeräte ergeben hätte. Insgesamt können die in Tabelle 1 und Tabelle 2 dokumentierten Fälle natürlich keine Repräsentativität beanspruchen, da ihre Auswahl im wesentlichen durch die in der Literatur verfügbaren Informationen bestimmt ist. Gleichwohl machen sie deutlich, dass internationale Konflikte um die Wettbewerbspolitik nicht lediglich eine theoretische Möglichkeit, sondern eine handfeste politische Realität darstellen. Dabei ist das Vertrauen in die internationale Kooperation als Konfliktlösungs-Mechanismus umso weniger gerechtfertigt, je gravierender die Konflikte sind. Die notwendige Internationalisierung der Wettbewerbspolitik lässt sich also durch eine Intensivierung der Kooperation zwischen nationalen Wettbewerbsbehörden allein nicht erreichen; hinzu kommen muss eine Koordination durch eine übergeordnete supranationale Instanz.
3
Wettbewerbspolitik als Fortentwicklung der Handelspolitik
Neben der oben dargestellten wettbewerbspolitischen Begründung für eine internationale Wettbewerbspolitik steht die handelspolitische Begründung. Sie basiert im Kern auf der zunehmenden Überschneidung und Verquickung wettbewerbspolitischer und handelspolitischer Fragen. Die klassische Handelspolitik, die sich auf den Abbau von Zöllen und anderen Grenzbarrieren des internationalen Handels konzentrierte, verliert mehr und mehr an Bedeutung. Die relevanten Handelsschranken liegen heute ganz überwiegend weit hinter der Grenze im Innern der jeweiligen Länder, d.h. auf den nationalen Märkten (behind the borderpractices). Wie offen ein Land für den internationalen Wettbewerb ist, hängt heute kaum noch davon ab, wie hoch die Hürden für den Handel an der Grenze sind, sondern wird entscheidend von der Offenheit der nationalen Märkte für heimische und ausländische Anbieter gleichermaßen bestimmt. In der internationalen Handelspolitik ist diese Schwerpunktverlagerung längst erkannt. Demenstprechend standen in der Uruguay-Runde des GATT, die von 1986 bis 1994 andauerte, derartige behind the border-practices ganz oben auf der Tagesordnung. In jener Handelsrunde wurde erstmals im Rahmen des GATT versucht, Handelshemmnisse in den Griff zu bekommen, die nicht an der Grenze,
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sondern im Innern der jeweiligen Länder ansetzen.19 So führte beispielsweise die Erkenntnis, dass der internationale Dienstleistungshandel essentiell auf die Niederlassungsfreiheit fur ausländische Tochtergesellschaften angewiesen ist, zur Aufnahme von Verhandlungen über das GATS-Abkommen zum Dienstleistungshandel (General Agreement on Trade and Services). Niederlassungsfreiheit auf ausländischen Märkten wiederum bedarf der Diskriminierungsfreiheit von Investitionen auf fremden Märkten, so dass in der Uruguay-Runde auch die sogenannten TRIMs auf der Tagesordnung standen (Trade-Related Investment Measures). Schließlich wurde auch ein gemeinsames Abkommen über die gegenseitige Anerkennung gewerblicher Schutzrechte geschlossen. Dieses TRIPs-Abkommen (Trade-Related Intellectual Property Rights) kann als der größte Durchbruch der Uruguay-Runde gelten, denn hier ist es erstmals gelungen, über die internationale Handelspolitik nachhaltig in die nationale Regulierung von Märkten hineinzuwirken. Gleichwohl war die Uruguay-Runde nicht mehr als ein Anfang, und die im Vergleich zu anderen GATT-Runden überdurchschnittlich lange Verhandlungsdauer von acht Jahren zeigt, wie schwierig es ist, über den handelspolitischen Umgang mit behind the border-practices internationales Einvernehmen zu erzielen. Da im Rahmen der Uruguay-Runde in diesem Bereich im Grunde mehr Fragen aufgeworfen als gelöst wurden, stehen GATS, TRIMs und TRIPs ohne Zweifel auch bei kommenden Handelsrunden erneut auf der Tagesordnung. Aus heutiger Sicht gibt es durchaus Chancen, neben der Handelspolitik auch im Bereich der Wettbewerbspolitik zu international einheitlichen Spielregeln zu gelangen. Ein neues Schlagwort dazu ist bereits geprägt: TRAPs (Trade-Related Antitrust Principles). Es wäre allerdings illusorisch, in diesem Bereich rasche Erfolge zu erwarten. Die Schwierigkeit liegt - wie bei der Behandlung anderer behind the border-practices auch - vor allem darin, dass viel tiefer in nationale Politiken und damit auch in nationale Souveränitätsrechte eingegriffen werden muss als bei dem Abbau von Handelsschranken an der Grenze. Wenn es überhaupt gelingen sollte, zu den TRAPs ein WTO-Abkommen zu erzielen, dann dürfte inhaltlich kaum mehr zu erreichen sein als ein erster Anfang, der den Weg weisen könnte für künftige Verhandlungsrunden. 20 Die wachsende Relevanz wettbewerbspolitischer Fragen für die Handelspolitik resultiert in erster Linie aus einem grundlegenden weltweiten Wandel von Pro19 20
Ostry (1995). Langhammer (1999).
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duktionsstrukturen, der schlagwortartig mit dem Begriff der Tertiarisierung umschrieben werden kann. Tertiarisierung bedeutet nicht, wie häufig vermutet, eine schlichte Verdrängung von Industriewaren durch Dienstleistungen, sondern vielmehr ein Vordringen von Dienstleistungen in sämtlichen Bereichen der Wirtschaft. 21 Wer heute beispielsweise ein EDV-Produkt erwirbt, wird feststellen, dass der Wert der damit verknüpften Software den Wert der Hardware oftmals um ein vielfaches übertrifft. Hier sind Industrieprodukt und Dienstleistungen zu einem untrennbaren Ganzen verschmolzen, wobei eine höhere Dienstleistungsintensität in aller Regel mit einer höheren Qualität des Produktes einhergeht. Wie erfolgreich ein modernes Industrieprodukt auf Auslandsmärkten abgesetzt werden kann, hängt immer mehr davon ab, inwieweit es gelingt, im Zielland ein leistungsfähiges Vertriebssystem aufzubauen, einen kundengerechten after salesService anbieten zu können oder auch die Produktgestaltung mit den Anbietern komplementärer Produkte abzustimmen. Wer etwa eine Werkzeugmaschine aus Deutschland nach Amerika exportieren will, wird wenig Erfolg haben, wenn diese Maschine nicht in die dort etablierten CAM- oder CIM-Systeme integriert werden kann. Und wer schottisches Teegebäck nach Deutschland exportieren will, muss Zugang zum System des Grünen Punktes erlangen, wenn er nicht vom Einzelhandel ausgelistet werden will. Um in Auslandsmärkte eindringen zu können, reicht es also längst nicht mehr aus, Zollschranken und ähnliche Barrieren an der Grenze zu überwinden. Immer wichtiger wird es, jenseits der Landesgrenzen innerhalb der Märkte des betreffenden Landes selbst Fuß zu fassen. Wenn dort gravierende Marktzutrittsschranken bestehen, kann es zu spürbaren Beeinträchtigungen des internationalen Handels kommen, die ihre Ursache nicht in der Handelspolitik, sondern in der unzureichenden Wettbewerbsintensität auf nationalen Märkten haben. Die Grenzen zwischen Handels- und Wettbewerbspolitik werden zunehmend unschärfer. 22 Wenn ein liberales Welthandelsregime aufrecht erhalten werden soll, fuhrt somit kein Weg daran vorbei, die internationale Handelsordnung durch eine internationale Wettbewerbsordnung zu flankieren und zu ergänzen.23 Wie wenig ausgeprägt die Neigung nationaler Regierungen ist, neben der Handelsfreiheit auch internationale Wettbewerbsfreiheit zu gewährleisten, zeigt sich etwa daran, dass Exportkartelle fast nirgendwo verboten sind, auch nicht in jenen
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Klodt/Maurer/Schimmelpfennig (1997). Zahlreiche Beispiele für internationale Kartelle und andere privatwirtschaftlich etablierte Wettbewerbsbeschränkungen, die zugleich die Handelsfreiheit beschränken, liefert W o l f f (1995). Siebert (1995).
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Ländern, die Kartelle auf dem heimischen Markt einer strengen Überwachung unterwerfen. 24 Darüber hinaus wird in der Handelspolitik reger Gebrauch gemacht von voluntary export restraints, orderly market arrangements, fair market value agreements, voluntary import expansions und anderen Vereinbarungen, die letztlich nichts anderes darstellen als lupenreine internationale Preis- und Mengenkartelle. Als eine zentrale Schwachstelle der internationalen Handelspolitik erweist sich zunehmend das Anti-Dumping. Immer stärker nutzen die verschiedensten WTOMitglieder die Möglichkeit, mit Hilfe von Anti-Dumping-Zöllen Handelsschranken gegen unliebsame Konkurrenten zu errichten.25 Dabei gilt in der Handelspolitik jede Preissetzung unterhalb der Durchschnittskosten als Dumping, während in der Industrieökonomik und in der Wettbewerbspolitik längst anerkannt ist, dass etwa auf Märkten mit Lernkurveneffekten die Hinnahme von betriebswirtschaftlichen Verlusten bei der Markteinführung neuer Produkte eine notwendige und durchaus wettbewerbskonforme Voraussetzung für die erfolgreiche Verdrängung technologisch älterer Produkte und für das Erzielen künftiger, lernkostenbedingter Kostenreduzierung sein kann. In der Wettbewerbspolitik gilt deshalb nicht jedes Zurückbleiben des Preises hinter den Durchschnittskosten als ruinöser Wettbewerb, sondern es wird sorgfaltig unterschieden zwischen wettbewerbsfordernden und wettbewerbsschädigenden Formen des Dumping. Eine konsequente nationale und internationale Wettbewerbspolitik würde somit die Anti-DumpingKlauseln in der Handelspolitik entbehrlich machen und damit eine empfindliche Lücke im bestehenden WTO-Regelwerk schließen.26 Offene wettbewerbspolitische Flanken gibt es auch in den GATS- und TRIPsAbkommen. - Im GATS findet sich, wie Basedow 27 es ausdrückt, lediglich eine "embryonale und unvollständige Regelung wettbewerbsrechtlicher Fragen". Die Verhandlungspartner haben sich nur darauf verständigen können, dass es außer des Monopolmissbrauchs überhaupt noch andere Verhaltensweisen gibt, die den
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In Deutschland ist die Freistellung der Exportkartelle vom allgemeinen Kartellverbot erst mit der sechsten GWB-Novelle im Jahre 1998 abgeschafft worden. Im europäischen Wettbewerbsrecht gibt es dazu keine gesetzliche Regelung, doch nach der Rechtsprechung des EuGH im BulkOil/Sun International-Fall aus dem Jahre 1986 müssen reine Exportkartelle als vereinbar mit dem EU-Recht gelten, vgl. Basedow (1998), S. 28. Vgl. z.B. Siebert/Klodt (1999), S. 130. Messerlin (1994); Hoekman/Mavroides (1996); Hoekman (1997). Basedow (1998), S. 45.
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Wettbewerb und damit den Dienstleistungsverkehr behindern können. Welches diese Verhaltensweisen sind und wie sie gegebenenfalls handels- und wettbewerbspolitisch zu behandeln sind, bleibt völlig offen. - Ähnlich ist die Situation im TRIPs. Zwar sind nach Art. 8 Abs. 2 dieses Abkommens Maßnahmen zur Abwehr missbräuchlicher Verwendung von Schutzrechten durch die Rechtsinhaber zulässig, aber es konnte kein Übereinkommen darüber erzielt werden, anhand welcher Kriterien die missbräuchliche Verwendung von Schutzrechten identifiziert werden könnte. Die Wirksamkeit des TRIPs-Abkommens ist durch diese offene Flanke ganz entschieden beeinträchtigt, da sich die verschiedenen Mitgliedsländer mehr oder weniger willkürlich darauf berufen können, bestimmte Maßnahmen gegen ausländische Schutzrechteinhaber würden der Abwehr missbräuchlichen Verhaltens dienen. 28 Aus all diesen Erwägungen heraus kann gefolgert werden, dass die internationale Handelspolitik, die anerkanntermaßen einen hohen Stellenwert genießt, ohne wettbewerbspolitische Flankierung zunehmend ausgehöhlt wird. Insofern kann die Etablierung einer internationalen Wettbewerbspolitik als konsequente und notwendige Fortentwicklung der Handelspolitik gelten. Damit ist zugleich eine erste Begründung gegeben, weshalb die WTO den angemessenen institutionellen Rahmen für eine internationale Wettbewerbspolitik darstellen würde. Eine zweite Begründung bietet der folgende Abschnitt.
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Perspektiven: Das Schwarze-Peter-Prinzip
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gab es eine Reihe von Ansätzen, wie eine eigenständige internationale Wettbewerbspolitik ausgestaltet werden könnte. Einer der umfassendsten Ansätze war das Kapitel 5 der Havanna-Charta von 1948, die aber nie ratifiziert wurde. Darüber hinaus gab es im Rahmen der UN sowie der OECD verschiedene Versuche, verbindliche Regeln für das Verhalten multinationaler Unternehmen festzulegen, die aber ebenfalls nie zu einer regelrechten Wettbewerbspolitik fortentwickelt wurden. In den neunziger Jahren erarbeitete eine Gruppe renommierter internationaler Experten am Max-Planck-
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Basedow (1998), S. 44f.
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Institut fur Internationales Recht in München ein neues Konzept, das sie als Draft International Antitrust Code im Juli 1993 der Öffentlichkeit vorstellten. 29 Bei der Erarbeitung des Code haben sich die Autoren von einer Reihe von Prinzipien leiten lassen, die durchaus wegweisenden Charakter haben: - Die Verpflichtung nationaler Wettbewerbsbehörden, bei ihren Entscheidungen dem Wettbewerb auf nationalen und internationalen Märkten den gleichen Stellenwert einzuräumen; - die Einigung der Vertragsparteien auf gewisse Mindeststandards der Wettbewerbspolitik; - die Beschränkung der Anwendbarkeit internationaler Wettbewerbsregeln auf grenzüberschreitend wirksame Wettbewerbsbeschränkungen; - die Einrichtung einer internationalen Wettbewerbsagentur, der das Recht eingeräumt wird, gegen die Nichtanwendung oder Verletzung vertraglich vereinbarter internationaler Regeln durch nationale Regierungen vor den Gerichten des betreffenden Landes Klage zu erheben. Die Reaktion auf diesen Vorschlag aus München war wesentlich durch den Eindruck geprägt, dass der Draft International Antitrust Code zwar prinzipiell die richtigen Ziele vorgäbe, dabei aber viel zu ehrgeizig sei und deshalb eine Umsetzung völlig unrealistisch sei.30 Diese Diskussion, an der sich damals auch das Institut fur Weltwirtschaft beteiligte,31 soll hier nicht erneut aufgegriffen werden. Statt dessen sollen einige Überlegungen dazu angestellt werden, mit welchen institutionellen Ansätzen die Realisierungschancen einer internationalen Wettbewerbspolitik verbessert werden können. Aus ökonomischer Sicht liegt das Grundproblem der Durchsetzung einer internationalen Wettbewerbspolitik darin, dass die Wettbewerbsfreiheit auf den Weltmärkten ein internationales öffentliches Gut darstellt, von dem auch jene Länder profitieren, die nichts zu seiner Erstellung beitragen. "Produziert" wird das öffentliche Gut letztlich durch die Bereitschaft der einzelnen Länder, Teilkompetenzen in der nationalen Wettbewerbspolitik zugunsten einer internationalen Wettbewerbspolitik aufzugeben. Die Qualität des öffentlichen Gutes wird kaum
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Der Text ist unter anderem abgedruckt als Anhang zu Fikentscher (1994). Hauser/Schoene (1994); Freytag/Zimmermann (1998); Trebilcock (1998). Klodt (1995).
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davon beeinflusst werden, ob tatsächlich alle Länder oder nur fast alle Länder zur Erstellung des öffentlichen Gutes beitragen. So hat jedes einzelne Land den Anreiz, sich als free rider zu verhalten und darauf zu vertrauen, dass andere Länder durch die Übertragung wettbewerbspolitischer Kompetenzen auf eine supranationale Institution die Wettbewerbsfreiheit auf den Weltmärkten sichern, ohne dass das betreffende Land selbst sich der internationalen Wettbewerbspolitik unterwirft. 32 Natürlich kann argumentiert werden, dass es für die Qualität des öffentlichen Gutes Wettbewerbsfreiheit auf den Weltmärkten sehr wohl einen Unterschied macht, ob große Länder wie etwa die Vereinigten Staaten an seiner Produktion beteiligt sind oder nicht. Doch auch für große Länder gibt es einen Anreiz zum free rider-Verhalten: Sie haben immer noch die Möglichkeit, fallweise zu entscheiden, ob sie durch entsprechende Anwendung ihrer nationalen wettbewerbspolitischen Instrumentarien zur Förderung der Wettbewerbsfreiheit auf den internationalen Märkten beitragen wollen oder nicht. Bei einer Unterwerfung unter eine internationale Wettbewerbspolitik würden sie diese Wahlmöglichkeit aufgeben. Wer souveräne nationale Regierungen dazu bringen will, ein internationales Abkommen zu unterzeichnen, wird ihnen ein Club-Gut bieten müssen, das nur von jenen Ländern genutzt werden kann, die Mitglied des Clubs sind.33 Ein solches Club-Gut könnte der Zugriff auf die Streitschlichtungsmechanismen der WTO darstellen. Die WTO verfügt über langjährige Erfahrungen mit der Streitschlichtung in internationalen Handelsfragen. Diese Erfahrungen könnten sicherlich ohne allzu großen Aufwand auf Streitfragen in der Wettbewerbspolitik übertragen werden. 34 Es kann vermutet werden, dass viele Regierungen nur allzu bereit wären, sich den Schiedssprüchen einer solchen Streitschlichtungsstelle zu unterwerfen, insbesondere dort, wo die wettbewerbspolitischen Konflikte auf unterschiedlichen indust-
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Vor einem ähnlichen Problem steht die internationale Klimapolitik, denn der Verzicht auf die Emission von Treibhausgasen kommt letztlich allen Ländern zugute, und der Beitrag jedes einzelnen Landes zur Reduzierung des Treibhauseffektes ist eher gering. Dies ist einer der wesentlichen Gründe dafür, weshalb die Einhaltung des Kyoto-Protokolls, dessen Abschluß als Meilenstein in der internationalen Klimapolitik gelten kann, aus heutiger Sicht kaum noch als realistisch angesehen werden kann. Zur Unterscheidung von öffentlichen Gütern und Club-Gütern vgl. z.B. Cornes/Sandler (1986). Ob dafür das WTO-Sekretariat um eine wettbewerbspolitische Abteilung erweitert werden müsste oder ob diese Abteilung den Namen "Weltkartellamt" tragen sollte, erscheint dabei von nachrangiger Bedeutung.
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riepolitischen Zielsetzungen der Kontrahenten beruhen. Die empirische Literatur zur Industriepolitik hat immer wieder gezeigt, dass nationale Regierungen industriepolitische Zielsetzungen in aller Regel nicht aus eigenem Interesse verfolgen, sondern in der Regel unter dem Druck privater Interessengruppen handeln. Insbesondere in der Nähe von Wahlterminen fallt es Regierungen immer wieder schwer, diesem Druck standzuhalten, auch wenn sie durch das Nachgeben gegenüber Partikularinteressen die gesamtwirtschaftlichen Wachstumschancen mindern und damit auf längere Sicht ihre Wiederwahlchancen eher beeinträchtigen. Wenn nun eine supranationale Instanz zur Verfügung steht, die sich den Schwarzen Peter zuschieben lässt, dann kann auf diese Weise eine Politik durchgesetzt werden, die auch den Zielen der nationalen Regierungen entspricht, die von diesen allein aber kaum gegen den Widerstand nationaler Interessengruppen durchgesetzt werden könnte.35 Zur Sicherung des internationalen Wettbewerbs ist es keineswegs erforderlich, dass sich sämtliche WTO-Partnerländer der Streitschlichtung in Wettbewerbsfragen unterwerfen. Die ganz überwiegende Mehrzahl der internationalen Fusionen findet zwischen wenigen Industrieländern statt. Insbesondere auf der Käuferseite treten Entwicklungsländer kaum in Erscheinung. Ein erster erfolgversprechender Schritt in Richtung auf die Etablierung einer internationalen Wettbewerbspolitik könnte somit schon dadurch getan werden, dass die Europäische Union unter dem Dach der WTO etwa mit den Vereinigten Staaten und anderen Ländern, zu denen bilaterale Vereinbarungen der kartellrechtlichen Zusammenarbeit bestehen, ein Abkommen zur Streitschlichtung wettbewerbspolitischer Konflikte schließt. Dafür müssten sich die Club-Mitglieder auf einige wettbewerbspolitische Grundsätze einigen, für deren Gestaltung der Draft International Antitrust Code durchaus Anhaltspunkte bieten kann. Zudem sollte der wettbewerbspolitische Club innerhalb der WTO als offener Club konstituiert sein, d.h. weiteren Ländern sollte jederzeit der Zutritt ermöglicht werden, wenn sie bereit sind, sich den wettbewerbspolitischen Statuten des Clubs zu unterwerfen. Das oft zitierte Argument, wettbewerbspolitische Ziele sollten im Rahmen der WTO nicht verfolgt werden, weil von U.S.-amerikanischer Seite mit erbittertem Widerstand zu rechnen sei, ist in diesem Zusammenhang wenig überzeugend.
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Nach diesem Schwarze-Peter-Prinzip funktioniert auch die Beihilfenaufsicht der Europäischen Union. Immer wieder ist es den Wettbewerbshütern aus Brüssel gelungen, nationale Subventionsprogramme, die unter dem Druck nationaler Interessengruppen aufgelegt worden waren, kräftig zurückzustutzen, womit sie nicht nur dem Wettbewerb im innergemeinschaftlichen Handel, sondern oftmals auch den jeweils betroffenen Regierungen gute Dienste erwiesen haben.
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Denn immerhin waren es die Vereinigten Staaten, die ihre Wettbewerbspolitik nie als isolierte Kartellpolitik, sondern als umfassende Antitrustpolitik verstanden haben. Im Rahmen des Sherman Act besteht schon seit dem Jahre 1904 eine Fusionskontrolle, während eine entsprechende Kontrolle in Deutschland erst im Jahre 1973 und in der Europäischen Union im Jahre 1989 eingeführt wurde. Es erscheint also keineswegs unrealistisch, auf gewisse Kurskorrekturen der amerikanischen Haltung in den kommenden Jahren zu setzen. Auf der Agenda der WTO ist die internationale Wettbewerbspolitik schon heute vertreten. Vorbereitungen dazu wurden von einer im Jahre 1996 gegründeten Working Group on the Interaction Between Trade and Competition Policy getroffen. Die Diskussionen konzentrieren sich bislang allerdings recht einseitig auf die Frage, welche Wettbewerbsregeln in eine internationale Vereinbarung aufgenommen werden sollten. Anders gewendet: Die Diskussionen kreisen derzeit darum, wie das öffentliche Gut ausgestaltet werden soll, das von der WTO produziert werden könnte. Die Verknüpfung des öffentlichen Gutes Wettbewerbsfreiheit auf den internationalen Märkten mit dem Club-Gut Streitschlichtungsverfahren der WTO wird bislang kaum wahrgenommen, obwohl sie den entscheidenden Hebel dafür darstellen könnte, nationale Regierungen dazu zu bewegen, der Abtretung von Souveränitätsrechten an eine supranationale wettbewerbspolitische Agentur zuzustimmen. 36 Wenn die Annahme zutrifft, dass wettbewerbswidrige nationale Politiken eher den Zielen von Interessengruppen als den eigenen Zielen von Regierungen entsprechen, dann könnte das Schwarze-Peter-Prinzip tatsächlich geeignet sein, das free-rider-Problem der internationalen Wettbewerbspolitik zu überwinden.
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Die Möglichkeit, das WTO-Streitschlichtungsverfahren auch in Wettbewerbsfragen einzusetzen, wird durchaus in der Literatur diskutiert (Graham/Richardson (1997); Hoekman (1997); Monopolkommission (1998); Immenga (2000)), aber es fehlt an Analysen dazu, inwieweit die Option des Rückgriffs auf dieses Instrument die Akzeptanz materieller internationaler Wettbewerbsregeln verbessern könnte.
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Kartellverbot in der Europäischen Union: Reformvorschläge aus institutionenökonomischer Sicht Hartwig Bartling und Hans Peter Seitel
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Problemstellung
Aufgrund einer kaum zu bewältigenden Verfahrensflut plant die Europäische Kommission, die Pflicht zur Anmeldung von Verträgen zwischen Wettbewerbern abzuschaffen. Dies würde bedeuten, dass Kartelle generell so lange praktiziert werden können, bis eine Wettbewerbsbeschränkung im Einzelfall nachträglich festgestellt ist. Für die - im folgenden vorgenommene - Beurteilung von institutionellen Verfahrensregelungen im Kartellrecht kommen ökonomische Maßstäbe in Frage. Die Verwirklichung des ökonomischen Prinzips erfordert, dass mit gegebenen Mitteln ein höchstmögliches Schutzniveau für den Wettbewerb erreicht wird (Maximumvariante des ökonomischen Prinzips) oder ein festgelegtes Niveau an Wettbewerbsschutz mit den geringsten Kosten verwirklicht ist (Minimumvariante des ökonomischen Prinzips). Zunächst sind das Grundkonzept der derzeitigen europäischen Kartellregelung sowie die geplanten Verfahrensänderungen erläutert (Kapitel 2). Danach ist diskutiert, wie sich eine hohe Effektivität des Wettbewerbsschutzes mit gegebenen Mitteln besser als durch das bisher praktizierte Kartellverbot sichern lässt (Kapitel 3). Anschließend werden analytische Beurteilungskriterien entwickelt, um das angestrebte Niveau an Wettbewerbsschutz mit hoher Effizienz durch geringe Kosten zu verwirklichen (Kapitel 4.1). Diese sind im Weiteren auf "Hard core"Kartelle und Verträge mit fraglichem Kartellverstoß angewandt (Kapitel 4.2 und 4.3). Ein Fazit rundet die Ausführungen ab.
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Derzeitiges Kartellverbot mit geplanter EU-Reform
Artikel 81 Absatz 1 des EG-Vertrages (EGV) verbietet alle Verträge zwischen Unternehmen, welche den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind (Zwischenstaatlichkeitsklausel) und zu einer Wettbewerbsbeschränkung führen. Die Zwischenstaatlichkeitsklausel wird wegen des Ziels der
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europäischen Marktintegration sehr weit ausgelegt, so dass die Mehrzahl aller in den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Aktionsparameterbindungen unter das europäische Kartellrecht fallt.1 Für die große Zahl an angemeldeten Verträgen ist darüber hinaus die vorherrschende Interpretation des Kriteriums "Wettbewerbsbeschränkung" ursächlich. Maßgeblich ist, ob ein Vertrag die wettbewerbliche Handlungsfreiheit der Beteiligten und gegebenenfalls Dritter beeinträchtigt. Da praktisch alle Verträge zwischen Wettbewerbern die Handlungsfreiheiten der Beteiligten einschränken oder die Marktposition von Dritten verändern, läuft die Regelung ökonomisch tendenziell auf ein Per-se-Verbot solcher Vereinbarungen hinaus. 2 Damit werden grundsätzlich auch Verträge von der Verbotsregelung erfasst, die eine neutrale oder positive Wirkung für das rivalisierende Verhalten auf den Märkten haben. Diese nur im formalen Sinn konsequente - und wettbewerbspolitisch letztlich überzogene - Rechtsauslegung wird durch die Möglichkeit der Freistellung vom Kartellverbot "korrigiert". Dazu müssen nach Artikel 81 Absatz 3 EGV vier Freistellungsvoraussetzungen kumulativ erfüllt sein: Der fragliche Vertrag dient der "Verbesserung der Warenerzeugung oder -Verteilung" bzw. der "Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts", die Verbraucher werden an dem "entstehenden Gewinn angemessen beteiligt", die beteiligten Unternehmen binden sich nicht stärker als unbedingt für diese Ziele nötig, und sie werden nicht in die Lage versetzt, den "Wettbewerb für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren auszuschalten". Zwar wird das Kriterium "Ausschaltung des Wettbewerbs" rivalitätsbezogen unter Berücksichtigung der konkreten Marktverhältnisse interpretiert. Da aber gleichzeitig spezielle industriepolitische Zielsetzungen wie die Förderung des technischen Fortschritts in den Freistellungsentscheidungen zu berücksichtigen sind, wird der Wettbewerbsschutz wiederum nur ungenau erreicht. Besonders problematisch ist dabei, dass die Kommission die vier getrennt einzuhaltenden Freistellungsvoraussetzungen nicht immer einzeln nacheinander prüft, sondern eine industriepolitisch beeinflusste Gesamtabwägung vornimmt. 3 Ein erwarteter großer "Pluspunkt" ζ. B. für den technischen Fortschritt reicht mitunter aus, einen "Minuspunkt" für den Wettbewerbsschutz zu kompensieren. Beispielsweise stellt die Kommission Forschungs- und Entwicklungskooperationen so gut wie immer vom Kartellverbot frei, selbst wenn sie das Forschungspotential eines gesamten Wirtschaftszweiges zusammenfassen. 4 Ins-
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Vgl. näher ζ. B. Gillessen (1998), S. 12 ff. Vgl. Axster (1997), S. 225 ff. Vgl. mit Beispielen Hossenfelder u. a. (1996), S. 23 ff. Vgl. Ziegler (1991), S. 107.
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besondere seit der Übertragung neuer wirtschaftspolitischer Aufgabenbereiche auf die Europäische Union (EU) durch den Vertrag von Maastricht wird darüber hinaus sogar die Berücksichtigung von umweit-, sozial- oder regionalpolitischen Zielen in kartellrechtlichen Freistellungsentscheidungen diskutiert. 5 So hat sich die Kommission darauf festgelegt, bei der Prüfung von Kartellverträgen Verbesserungen fur den Umweltschutz im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach Artikel 81 Absatz 3 EGV positiv zu bewerten, und es wurden bereits erste Freistellungsentscheidungen für wettbewerbsbeschränkende Verträge auf solche Umweltaspekte gestützt. 6 Verfahrensrechtlich hat die Kommission das "Monopol" für Freistellungen vom Kartellverbot inne. Danach dürfen nationale Behörden und Gerichte zwar Verstöße gegen das Kartellverbot feststellen, nicht aber Freistellungen vom Kartellverbot erteilen. Dies wird von den Unternehmen häufig in der Weise ausgenutzt, dass sie auf nationaler Ebene eingeleitete Ermittlungen zur Feststellung eines Kartellverstoßes durch einen Freistellungsantrag an die Kommission ins Leere laufen lassen (sog. Obstruktionsanmeldungen). Dadurch sind die Kartellverfahren weitgehend auf die europäische Ebene konzentriert. Aufgrund der beschränkten Kapazitäten der Kommission ist ein regelrechter Verfahrensstau entstanden. 7 Wettbewerbsbeschränkende Unternehmen können darauf hoffen, in der Flut der Anträge "unterzutauchen", und ihre solidarische Abstimmung lange Zeit praktizieren, weil ihnen die Anmeldung Bußgeldimmunität verleiht. Andere Antragsteller mit wettbewerblich unbedenklichen Verträgen müssen teils jahrelang auf einen rechtsverbindlichen Freistellungsbescheid warten. Vor allem werden die meisten Freistellungen ohne das vorgeschriebene förmliche Verfahren - und damit auch ohne ausdrückliche Entscheidung der Kommission - erteilt. Sie beruhen lediglich auf Verwaltungsschreiben der Generaldirektion für Wettbewerb ("comfort letter"). Diese Verfahrensverkürzung wirkt sich für die anmeldenden Unternehmen nachteilig aus, weil die formlos mitgeteilten Freistellungen rechtlich unverbindlich sind und einem Kartellverbot auf nationaler Ebene nicht entgegenstehen. Erst neuerdings vertritt die Kommission die Auffassung, dass sich das zentrale Anmelde- und Genehmigungssystem als ineffizient und überholt erwiesen hat.8
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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
die kritische Würdigung von Schmidt (1999), S. 436 f. E h l e ( 1999), S. 1196 ff. mit näheren Angaben Möschel ( 1999), S. 511. Europäische Kommission (o. J.), S. 21 ff.
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So komme es nur in sehr seltenen Fällen nach der Anmeldung eines Vertrages zu einer Verbotsentscheidung. Durch die Bearbeitung der Freistellungsanträge würden außerdem Behördenkapazitäten gebunden, die für die aktive Verfolgung von versteckten Kartellverstößen (also solchen ohne Anmeldung) fehlten. Die Kommission schlägt daher vor, die derzeitige Anmelde- und Freistellungsregelung durch ein abschreckendes Sanktionssystem zu ersetzen.9 Nach einem Wegfall der Anmeldepflicht können die Unternehmen selbst entscheiden, ob sie die Freistellungsbedingungen erfüllen und eine vertragliche Aktionsparameterbindung eingehen dürfen ("Prinzip der Selbstveranlagung"). Allerdings müssen sie damit rechnen, dass ihr Vertrag im nachhinein von einer Behörde (aufgrund einer Beschwerde oder von Amts wegen) oder von einem Zivilgericht (aufgrund einer Privatklage) auf seine Rechtmäßigkeit überprüft wird. Weiterhin will die Kommission auf ihr Freistellungsmonopol verzichten, so dass künftig auch die nationalen Behörden und Gerichte aufgegriffene Verträge sowohl verbieten als auch vom generellen Kartellverbot freistellen können. 10
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Effektiver Wettbewerbsschutz durch "Rule of Reason "-Prüfung
Um ein hohes Schutzniveau für den Wettbewerb mit gegebenen Mitteln zu verwirklichen (Maximumvariante des ökonomischen Prinzips), fragt es sich, ob die Tendenz zu Per-se-Verboten in Verbindung mit der Zulassung besonderer Rechtfertigungsgründe für Wettbewerbsbeschränkungen in den Freistellungsverfügungen im Rahmen des europäischen Kartellverbots hierfür geeignet ist. Die Tendenz zu Per-se-Verboten für Verträge zwischen Wettbewerbern hat den Vorteil, dass die verbotenen Verhaltensweisen - ohne irgendwelche Marktumstände zu berücksichtigen - "aus sich selbst heraus" eindeutig identifiziert werden. So wird den Belangen der Rechtssicherheit sowie der ökonomischen Rahmendatenkonstanz für die Wirtschaftseinheiten besonders stark entsprochen. In der Praxis war vor allem die amerikanische Antitrust-Rechtsprechung bemüht, zu
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Eine Ausnahmeregelung mit Anmeldungen ist für Produktions-Gemeinschaftsunternehmen vorgesehen, um den Beteiligten vor beabsichtigten Investitionen, die oft hoch sind, durch eine förmliche Freistellung Rechtssicherheit zu verschaffen. Für die Lösung von Zuständigkeitskonflikten sollen noch zu entwickelnde Regeln greifen, damit derjenige nationale Entscheidungsträger tätig wird, der für den Schutz des Wettbewerbs am besten geeignet ist. Vgl. Schaub/Dohms (1999), S. 1064.
Kartellverbot in der Europäischen Union
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Per-se-Verhaltensverboten zu kommen. Sie ist jedoch dabei nicht stehen geblieben. Als Dilemma hat sich erwiesen, dass sich die meisten Verhaltensweisen erst als Wettbewerbsbeschränkungen identifizieren lassen, wenn die besonderen Marktumstände, in denen sie wirken, mitberücksichtigt werden. Insofern ist die Reduzierung der Wettbewerbspolitik auf Verhaltensverbote nach Per-se-Kriterien für einen effektiven Wettbewerbsschutz nicht zielgenau genug. Einerseits bleiben teils Verträge erlaubt, obwohl sie in den speziellen Marktsituationen wettbewerbsbeschränkend sind. Andererseits fuhrt die schematische Beurteilung von Verträgen zwischen Wettbewerbern mitunter zu einer Beschneidung von Handlungsspielräumen, die zur Verbesserung von Wettbewerbsprozessen genutzt werden könnten. So haben Verträge zwischen kleinen und mittleren Anbietern unter Umständen eine neutrale oder rivalitätsstimulierende Wirkung, wenn sie diese Unternehmen im Wettbewerb mit überlegenen Marktführern fördern oder verfestigte marktbeherrschende Stellungen aufbrechen helfen (Aufholkartelle ohne Wettbewerbsbeschränkungen). Beispielsweise sind Forschungs- und Entwicklungskooperationen sowie Rationalisierungs- oder Einkaufsgemeinschaften gelegentlich wettbewerbspolitisch unproblematisch. In der europäischen Kartellverbotsregelung ist besonders nachteilig, dass die Tendenz zu Per-se-Tatbeständen mit der Freistellungspraxis aufgrund von Rechtfertigungstatbeständen für Wettbewerbsbeschränkungen kombiniert wird. Ausdrücklich soll in den Freistellungsentscheidungen mitunter ein Ausgleich zwischen den verschiedenen politischen Zielen der Gemeinschaft herbeigeführt werden. Allerdings ist es in Marktwirtschaften nicht hinnehmbar, dass Beschränkungen des wettbewerblichen Selbststeuerungsmechanismus eventuell wegen vordergründiger oder kurzfristig vorteilhafter Aspekte geduldet werden. Schließlich herrscht Einigkeit über die positiven Wirkungen, die vom Wettbewerb generell erwartet werden können. Deshalb ist der Wettbewerb zur dauerhaften Förderung der volkswirtschaftlichen Effizienz sowie der Freiheit zu schützen und kann nicht einfach zur Disposition gestellt werden. Für einen effektiven Wettbewerbsschutz eignet sich letztlich ein Kartellverbot nach dem maßgeblichen Kriterium einer Gefahrdung der Rivalität beim Aktionsparametereinsatz unter Würdigung der Marktumstände im konkreten Einzelfall ("Rule of Reason"-Beurteilung der Rivalitätsgefährdung). Dabei ist grundsätzlich eine Sicherheitsmarge vor dem kritischen Punkt des Umschlagens von der Riva-
Kartellverbot in der Europäischen Union
448
lität zur Solidarität beim Aktionsparametereinsatz zu berücksichtigen. 11 Ein solcher Wertungsspielraum ist im Rahmen eines juristischen Verfahrens noch am ehesten ein tragfáhiger Kompromiss zwischen einerseits Justiziabilität und Rechtssicherheit sowie andererseits dem Ziel hohen Wettbewerbsschutzes. Auf diese Weise erfolgt das Verbot von Kartellen in der Regel in wettbewerbspolitisch richtiger Weise, und es werden nicht aufgrund anderer Kriterien oft bestimmt falsche wettbewerbspolitische Entscheidungen getroffen. Daraus ergibt sich als Vorschlag, die industriepolitisch orientierten Freistellungsregeln des Artikel 81 Absatz 3 EGV ersatzlos zu streichen und auf die im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Berücksichtigung sonstiger politischer Ziele im Bereich der Wettbewerbspolitik zu verzichten. Das Kartellverbot des Artikel 81 Absatz 1 EGV wäre dann im Sinne einer "Rule of Reason"-Beurteilung der Rivalitätsgefährdung zu interpretieren. Alle Aktionsparameterbindungen zwischen Wettbewerbern müssten zwar zur Prüfung angemeldet werden (Aufgreifkriterium), aber nur die wettbewerbsbeschränkenden Verträge würden nach dem Eingreifkriterium eines konsequenten - und mit Sicherheitsmarge effektiv gewährleisteten - Rivalitätsschutzes verboten.
4
Effizienter Mitteleinsatz für die Durchsetzung des Kartellverbots
4.1
Analytische Grundlagen
Wenn das angestrebte Niveau an Wettbewerbsschutz mit dem kostengünstigsten Verfahren verwirklicht werden soll, dürften sich Kartellvereinbarungen für die Anbieter von vornherein nicht lohnen. Es ist dafür erforderlich, dass der Mehrerlös aus einem praktizierten Kartell (MKarte,|) kleiner ist als das als Sanktion zu verhängende Bußgeld (SBußgdd) multipliziert mit der Aufdeckungswahrscheinlichkeit (WAufdeckung): M ,•Kartell
II
Vgl. näher Bartling (1997), S. 17 ff.
S Bußgeld
Kartellverbot in der Europäischen Union
449
Wenn beispielsweise für Kartelle die Aufdeckungswahrscheinlichkeit ein Fünftel beträgt, wird die Abschreckung wirksam, wenn das Bußgeld 12 mehr als fünfmal höher ist als der Mehrerlös aus dem praktizierten Kartell.13 Unter Beachtung der Zeit wären an sich die Beträge je nach den Fälligkeitszeitpunkten abzuzinsen, d. h. genau genommen sind der Barwert des Bußgeldes und der Barwert des Mehrerlöses aus dem Kartell mit der Aufdeckungswahrscheinlichkeit gemäß obigem Kalkül in Beziehung zu setzen. Selbst wenn Interessierte an Kartellen solche präzisen Kalkulationen selten vornehmen, werden sie im Prinzip derartige Überlegungen anstellen oder sie halten sich - wegen genereller Rechtstreue - immer an das Kartellverbot. Im Ergebnis wären Wettbewerbsbeschränkungen durch Kartelle wegen prinzipieller Rechtstreue und ergänzend mittels Abschreckung wirkungsvoll verhindert. Fraglich ist, wie die Bußgeldhöhe mit dem Faktor Aufdeckungswahrscheinlichkeit und damit der Höhe staatlicher Aufwendungen am geeignetsten zu kombinieren ist. Bagatellbußgelder würden den Staat zwingen, unverhältnismäßig hohe Kosten für die Verfolgung von Kartellverstößen aufzuwenden, damit die Abschreckung gemäß obiger Ungleichung gewahrt bleibt. Sobald die Bußgeldhöhe nicht einmal den Mehrerlös durch ein Kartell erreicht, wäre aber selbst eine Aufdeckungswahrscheinlichkeit von 100 Prozent nicht ausreichend, um eine Abschreckungswirkung zu erzielen. Umgekehrt müssten die Bußgelder bei einer sehr niedrigen Aufdeckungswahrscheinlichkeit - beispielsweise in der Nähe von Null Prozent - auf drakonisch hohe Beträge festgelegt werden, damit die erforderliche Abschreckung bewirkt wird. Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass fur den Abschreckungseffekt nicht unmittelbar die objektiv verwirklichte Aufdeckungswahrscheinlichkeit für Kartelle, sondern die subjektive Aufdeckungswahrscheinlichkeit (WAufdeckung/subj ), mit der
12
13
Wie üblich ist angenommen, dass ein Kartellverstoß gesetzlich als Ordnungswidrigkeit - und nicht als Straftatbestand - eingestuft ist, so dass die Abschreckungswirkung bei gegebener Aufdeckungswahrscheinlichkeit nur auf der Höhe des Bußgeldes beruht und nicht durch die Verhängung von Kriminalstrafen - etwa in Form eines Freiheitsentzugs für die verantwortlichen natürlichen Personen - gesteigert wird. Durch die - in einigen Ländern mögliche - Verhängung von Bußgeldern gegen die Persönlichkeiten, die in den Unternehmen für die Kartellverstöße verantwortlich sind, lässt sich nur dann eine ergänzende Abschreckung erzielen, wenn die persönlichen Bußgelder nicht direkt oder indirekt von den Unternehmen übernommen werden. Vgl. auch Wils (1999), S. 139 ff. Zu einer spieltheoretischen Analyse unterschiedlicher Verfahrensregelungen zur Durchsetzung des Kartellverbots vgl. außerdem Hahn (1999). Für weitere Modellanalysen vgl. zudem Block u. a. (1981), S. 4 2 9 ff., sowie Besanko/Spulber (1989), S. 408 ff.
450
Kartellverbot in der Europäischen Union
die an einem Kartell Interessierten im Einzelfall rechnen, maßgeblich ist. Für die Abschreckung gilt dann die Ungleichung: MKarte|i
0 Vgl. O.V.: Reifenindustrie: Noch zu wenig Luft, in: Wirtschaftswoche, 13.11.1992.
470
Der deutsche Markt für PKW-Reifen
reits ein Marktanteil von 16 Prozent im Ersatzbereifungssegment zugesprochen." Diese Entwicklung zwang die etablierten Unternehmen zu entsprechenden Reaktionen, kurz: sie sahen sich veranlaßt, auch auf diesem Markt ihre Gewinnmarge zurückzunehmen. Damit brach die mit der oligopolistischen Verhaltensweise anvisierte Preisstrategie weitgehend zusammen, was eine automatische Verschlechterung der Voraussetzungen für die Subventionierung des Erstbereifungsmarktes bedeutete.
3
Konsequenzen für den Nicht-Preis-Wettbewerb
Wie aus dem vorangegangenen Abschnitt deutlich geworden sein sollte, spielte der Aktionsparameter Preis im Wettbewerbsprozeß auf dem Reifenmarkt lange Zeit keine aktive Rolle. Während die Preise im Erstausrüstungsmarkt durch die Marktmacht der Automobilhersteller auf ein nicht oder gerade kostendeckendes Niveau herunterkonkurriert wurden, gelang es den Reifenproduzenten im Ersatzbereifungsmarkt, den Preis oberhalb des Wettbewerbsniveaus einzufrieren, sprich: zu oligopolisieren. In beiden Fällen wurde der Preis nicht als Element des vorstoßenden Wettbewerbs eingesetzt. Die Markttheorie lehrt, daß dies jedoch keineswegs bedeutet, daß der Wettbewerb damit gänzlich zum Erliegen käme. Vielmehr werden in diesem Falle andere unternehmerische Aktionsparameter das Geschäft des Preises übernehmen. Die verstärkte Mobilisierung nicht-preislicher Aktionsparameter mit dem Ziel, die eigenen Produkte möglichst gut am Markt zu positionieren, war im Reifenmarkt also bereits gang und gäbe, als sich das Preisniveau auch auf dem Ersatzbereifungsmarkt zu verschlechtern begann. Im Zusammenspiel mit Nachfrageausfällen und auftretenden Überkapazitäten stellte diese Entwicklung die etablierten Reifenanbieter vor große Schwierigkeiten, da die überhöhten Preise auf dem Ersatzbereifungsmarkt für sie eine wichtige Geschäftsgrundlage bildeten. Um sich nach deren Fortfallen die nötigen Preisspielräume zu erarbeiten, mußten zunächst Kostensenkungspotentiale ausfindig gemacht werden. Diese versuchte man mit Hilfe von Fusionen, einer geeigneten Standortpolitik, Rationalisierungsinvestitionen sowie mit Kooperationen zu realisieren. Bevor auf diese produktionsbezogenen Aktionsparameter näher eingegangen wird, sollen jedoch Vertriebs- und produktpolitische Strategien als nichtpreisliche Aktionsparameter in Augenschein genommen werden.
11
Vgl. O.V.: Reifenindustrie: Weiter unter Druck, in: Wirtschaftswoche, 29.07.1994.
Der deutsche Markt für Pkw-Reifen
3.1
471
Vertriebspolitische Strategien
Ein Versuch, den Preisverfall im Ersatzbereifungsmarkt einzudämmen, bestand in Eingriffen auf der Handelsstufe. Auf den relativ geringen Informationsstand der Privatnachfrager ist bereits im Abschnitt 2 hingewiesen worden. Aus demselben Grund nimmt die Händlerstufe bei den Kaufentscheidungen im Ersatzbereifungsmarkt eine hervorgehobene Position ein.12 Die Nachfrager informieren sich oftmals erst beim Kauf und vertrauen auf das fachliche Urteil des Reifenhändlers. Damit erscheint es für die Reifenproduzenten vorteilhaft, die Händler in ihrer Beratungstätigkeit zu beeinflussen. Während dies zunächst indirekt über Schulungen, die Betreuung durch Außendienstler oder kleinere Zuwendungen geschah, ist seit Mitte der achtziger Jahre eine Vorwärtsintegration der Reifenproduzenten in die Handelsstufe zu beobachten. In einer herstellereigenen Verkaufsstelle wird in der Regel zwar auch die Güterpalette der Konkurrenz angeboten, über eine eingefärbte Beratung kommen jedoch hauptsächlich die Produkte des eigenen Unternehmens zum Verkauf. Damit kann im schärfer werdenden Wettbewerb nun direkt Einfluß auf die Kaufentscheidungen genommen werden. Außerdem lassen sich Billiganbieter so zumindest teilweise aus dem Fachhandel verbannen oder als im Preis-Leistungs-Verhältnis unterlegen darstellen. Die Vorwärtsintegration ist daher auch als Abwehrstrategie der etablierten Unternehmen gegen Neuanbieter aus dem asiatischen Raum anzusehen. Letztere sind damit gezwungen, andere Vertriebskanäle zu nutzen. Die Strategie der Vorwärtsintegration wurde schnell imitiert, so daß mittlerweile jeder der großen Anbieter über mindestens eine eigene Handelskette verfügt. Der Anteil der industrieabhängigen Reifenfachhändler ist seit 1992 von 18,1 Prozent auf 44,3 Prozent im Jahr 1999 angestiegen. Der Fachhandel bringt über 60 Prozent der Ersatzbereifung an den Endabnehmer.13 Neuerdings drängen jedoch auch die Automobilproduzenten in die Händlerstufe des Reifenmarktes vor, um dem Kunden eine Versorgung rund ums Auto bieten zu können. So will Ford im Jahr 2000 zum größten Reifenvermarkter der USA avancieren.14 Diese Entwicklung stellt für die Reifenhersteller ein großes Problem dar. Sie geben wiederum Marktmacht an die Automobilindustrie ab und verlieren mehr und mehr den Kontakt zu den Endnachfragern. Schließlich wird ihnen weitgehend die Möglichkeit genommen, über die Händlerstufe ein gewis-
12
Siehe hierzu Fußnote 6. 13 Vgl. B R V ( 1 9 9 9 ) , S . 12. 14 Vgl. Haddenbrock (1999), S. 43. Zudem hat Ford in Europa die Fast-Fit-Kette Kwik-Fit übernommen, Daimler-Chrysler wird mit ATU in Verbindung gebracht - vgl. Haddenbrock (1999a), S. 32.
Der deutsche Markt für PKW-Reifen
472
ses Preisniveau für die Endabnehmer aufrechtzuerhalten, so daß sich ihre Gewinnsituation tendenziell verschlechtern wird, sollte sich dieser Prozeß fortsetzen.
3.2
Produktpolitische Strategien
Der vorstoßende Wettbewerb über vertriebspolitische Strategien hat somit durch schnelle Imitation an Bedeutung verloren. Die betreffenden Aktionsparameter werden dementsprechend eher defensiv eingesetzt. Daher ist zu fragen, welche Aktionsparameter nun die vorherrschende Stellung im Wettbewerbsprozeß übernommen haben. Die Markttheorie sagt für einen in der Ausreifungsphase befindlichen Markt wie dem Reifenmarkt eine verstärkte produktpolitische Aktivität voraus. 15 Eine erste Bestätigung dieser Annahme bieten die in den vergangenen Jahren intensivierten Werbungsaktivitäten der Reifenanbieter.
3.2.1
Werbungspolitische Strategien
Die Werbeausgaben für das Produkt "Reifen" haben in Deutschland von 1995 bis 1998 um rund 13,5 Prozent zugenommen. Dies wird aus Tabelle 1 deutlich. Tab. 1 :
Werbeaufwendungen der Reifenindustrie in Deutschland
Jahr
1995
1996
1997
1998
Gesamt (Mill. DM)
143,5
148,1
150,9
162,9
Quelle: Nielsen Werbeforschung S+P, in: http://www.mediapilot.de/content/bri_tt43.htm, 29.02.2000.
Die Erfolgsaussichten von Werbemaßnahmen im Reifensektor sind in den letzten Jahren aufgrund des durch Michael Schumacher und andere Formel-1-Piloten in Deutschland ausgelösten Motorsportbooms immens gestiegen. Das Gut 'Reifen' erhält in der Medienberichterstattung nun eine ungeahnte Bedeutung zugesprochen, was es den Herstellern erleichtert, die Produktdifferenzierung eines bisher als eher homogen angesehenen Gutes ('schwarz und rund') durchzuführen. Durch die vielfältige Berichterstattung eröffnet sich zudem eine ganze Reihe neuartiger Präsentationsmöglichkeiten sowohl im redaktionellen Bereich von Presse und
15 Vgl. Heuß(1965), S. 62 ff.
Der deutsche Markt für Pkw-Reifen
473
Fernsehen als auch im Werbeumfeld. Somit läßt sich eine große Konsumentengruppe zielgerecht erreichen.
3.2.2
Produktdifferenzierung und -innovation
Zusätzliche Werbung wird vor allem im Hinblick auf verstärkte Produktdifferenzierung und -innovation nötig. Neue Produktvarianten müssen den Verbrauchern durch Werbeaktivitäten bekannt gemacht werden. Dabei ist die Reifenindustrie in dieser Hinsicht durchaus erfolgreich gewesen. Als Beispiele seien hier nur die Winterreifen und der Markt für Hochgeschwindigkeitsbereifung hervorgehoben.16 Vor allem die Nachfragesteigerung im Winterreifensegment ist beachtlich, wie aus Tabelle 2 hervorgeht. Tab. 2: Nachfrage nach Winterreifen in Deutschland Jahr Millionen Einheiten
1994
1995
1996
1997
1998
1999
8,2
9,8
12,5
13,6
14,8
17,0
Quellen: BRV, zitiert in: Düx (1999), S. 88, sowie für das Jahr 1999: BRV-Newsletter 1/2000, S. 1.
In Deutschland hat sich die Zahl der verkauften Winterreifen innerhalb von fünf Jahren mehr als verdoppelt. Mittlerweile wird eine Umrüstquote von 50 Prozent erreicht.17 Aber auch weltweit wächst der Markt fur Winterreifen. 18 Im Bereich der Hochgeschwindigkeitsreifen sind ebenfalls beachtliche Erfolge zu verzeichnen. In Deutschland ist ihr Anteil am Sommerreifenabsatz von 35 Prozent (1992) auf fast 50 Prozent (1998) gestiegen. In diesem Segment sind die Nachfrager zudem bereit, hohe Preisaufschläge zu zahlen, um beste Qualität zu erhalten. Die fortschreitende Marktsegmentierung erlaubt es auch den im Weltmaßstab relativ kleinen Unternehmen, profitable Nischen zu finden und sich am Markt zu behaupten. So hat sich der Reifenhersteller Pirelli einen Namen im Breitreifensegment gemacht, während Continental bei den Winterreifen Marktführer ist.
Auch im Bereich der Öko-Reifen wurden Fortschritte erzielt. Vgl. o.V.: Blauer Engel darf sich auf Reifen niederlassen, in: Frankfurter Rundschau, 27.10.1999. 17 Vgl. BRV (2000), S. 1. 18 Vgl. hierzu Knoedgen (1998).
474
Der deutsche Markt für PKW-Reifen
Weitere Produktdifferenzierungen in Form von Mehr-Marken-Strategien wurden nötig, um das Niedrigpreissegment nicht vollständig den Reifenimporteuren zu überlassen. So schufen die etablierten Reifenkonzerne neben ihren Aushängeschildern weitere Marken, um sich in jedem Marktsegment zu positionieren und die Zahlungsbereitschaft der Verbraucher mittels einer Preisdifferenzierung abschöpfen zu können. 19 Bei dieser Strategie, die eine stark ausgeweitete Produktpalette mit sich bringt, besteht für die etablierten Unternehmen allerdings die Gefahr, daß der Preiswettbewerb von den Billigreifen auf alle Segmente übergreift und die Grenzen zwischen Standard- und Prämiumprodukten verwischt werden. Das gestiegene Interesse der Konsumenten am Produkt 'Reifen' hat zudem dazu geführt, daß von den Reifenherstellern erwartet wird, regelmäßig mit neuen Produktvarianten auf den Markt zu kommen. Der Produktlebenszyklus ist von fünf bis zehn Jahren auf lediglich drei Jahre abgesunken. 20 Aus den Ausführungen sollte deutlich geworden sein, daß Produktdifferenzierung und Produktinnovation im Reifenmarkt eng beieinander liegen. Jedes im Verlaufe der Produktdifferenzierung neu entstehende Marktsegment stellt andere Ansprüche an die Produkteigenschaften. Die Qualität der Reifen sieht sich in immer kürzer werdenden Abständen einer Kontrolle durch die Verbraucher unterzogen. Dies gilt vor allem wegen der zunehmenden Ausbreitung von Produkttests und der Bedeutung, die ihnen die Nachfrager beimessen.21 Produktinnovation und Produktdifferenzierung müssen also Hand in Hand gehen, um den Anforderungen der Nachfrage gerecht werden zu können. Daraus ergibt sich aber gerade die Notwendigkeit einer intensiven Forschungsarbeit, um die am Markt geforderten Qualitätsverbesserungen und Produktvarianten zu ermöglichen. 3.2.3
Forschung und Entwicklung (F+E)
Dem Prozeß der Produktdifferenzierung und -innovation ist also der Bereich F+E vorgelagert. Wie zu erwarten stand, ist auch hier eine deutliche Verstärkung der Aktivitäten zu vermelden. 22 Weltweit gaben die Reifenproduzenten 1998 knapp sechs Milliarden DM in diesem Bereich aus. Gemessen am Anteil der Forschungsausgaben am Gesamtumsatz liegen Michelin und Continental mit fünf
19 Auf dem deutschen Markt befanden sich bereits 1994 nahezu 100 verschiedene Pkw-Reifenmarken. Auf die großen sechs Anbieter, Michelin, Goodyear, Continental, Pirelli, Bridgestone/Firestone und Sumitomo/Dunlop entfielen allein 20 - vgl. o.V. (1994), S. 22. 20 Vgl. Haddenbrock (1999a), S. 26 und o.V. (1997), S. 104. 21 Siehe hierzu Fußnote 6 sowie Düx (1999), S. 89. 22 Die nachfolgenden Ausfuhrungen beziehen sich hauptsächlich auf: o.V. (1999), S. 64 ff.
Der deutsche Markt für Pkw-Reifen
475
respektive vier Prozent an der Spitze der Großanbieter, im Durchschnitt wurden 2,8 Prozent aufgewendet. Dabei wird sowohl in die Reifentechnologie als auch in die Entwicklung neuartiger Produktionsanlagen investiert. Auf Prozeßinnovationen soll jedoch erst in Abschnitt 3.3.2 eingegangen werden, wenn die Produktivitätsentwicklung in der Reifenindustrie behandelt wird. Im Bereich der Produktforschung stehen vor allem die Aspekte Sicherheit (Straßenhaftung, Bremsqualität, Pannenlaufeigenschaften), Laufleistung und Umweltverträglichkeit (Lärmbelastung, Benzinverbrauch) im Mittelpunkt. Im Hinblick auf die stoffliche Zusammensetzung des Gutes 'Reifen' war der Einsatz von Silikon als Füllmittel die bedeutendste Weiterentwicklung der letzten Dekade. Es dauerte 15 Jahre, bis Michelin eine auf Silikon basierende Mischung entwickelt hatte, die den hohen Stabilitätsanforderungen bei der Reifenbelastung genügte. Den meisten Unternehmen gelang es in der Folge, mit ähnlichen Produkten nachzuziehen. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten erzielen die Silikon-Reifen im Hinblick auf Fahreigenschaften bei Schnee und Nässe sowie beim Laufwiderstand nunmehr bessere Werte als die herkömmlichen Produkte, bei Lärm und Abrieb sind sie gleichwertig. Noch sind diese Reifen dem Hochpreissegment vorbehalten, doch steht zu erwarten, daß sie sich in Zukunft auf breiter Ebene durchsetzen werden. In den vergangenen Jahren hat sich der Fokus der Forschungsarbeit jedoch auf ein anderes Gebiet verlegt. So sind die Reifenproduzenten bemüht, 'intelligente Reifen' zu entwickeln, die aktiver in das Gesamtsystem Automobil eingebunden werden sollen. Am weitesten faßt die Continental AG das Konzept der intelligenten Reifen - hier soll über den Einsatz von Computer-Chips ein Informationsaustausch zwischen Reifen-, Brems- und Stabilitätssystemen erreicht werden. Als ein erster bedeutender Schritt ist die 1997 von Goodyear gefaßte Entscheidung anzusehen, die sogenannten Pannenlaufreifen einem breiten Markt zugänglich zu machen. Auch wenn der Vorteil für Autofahrer und -hersteller durch das Einsparen eines Ersatzreifens auf der Hand liegt, ist auf die Markteinführung bis dato verzichtet worden. Als Gründe dafür sind vergleichsweise schlechte Laufeigenschaften, der hohe Preis und die mittlerweile extrem niedrige Pannenhäufigkeit zu nennen. Trotz einer gewissen Unzufriedenheit mit der Qualität dieser Reifen zogen die anderen Wettbewerber mit ähnlichen Produkten nach. 23 Die wohl meistversprechende Innovation gelang Michelin mit der Entwicklung eines Systems namens PAX, das eine vollkommene Neuerung darstellt, die allerdings
23 Vgl. dazu auch Mayer, Hans W.: Plattfuß verliert Schrecken, in: VDI Nachrichten, 04.06.1999.
Der deutsche Markt für PKW-Reifen
476
nicht mit den traditionellen Reifen- und Radsystemen kompatibel ist. Obwohl das System eine gute technische Qualität aufweist, es darüber hinaus wegen seiner geringen äußeren Dimensionen vielfältige technologische Möglichkeiten für die Automobildesigner bietet und damit prinzipiell das Rad der Zukunft darzustellen scheint, besteht die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Neuerung am Markt dennoch nicht durchsetzen wird. Für den Markterfolg ist der Zugang zur Erstausrüstung entscheidend, und die Automobilhersteller lassen sich nicht gern auf einen neuen Standard ein, der nur von einem Unternehmen getragen wird. Michelin versucht bereits, diese Situation durch eine Zusammenarbeit mit Pirelli und einen Ausstattungsvertrag mit Renault aufzubrechen, jedoch wird sich die anscheinend überlegene Technologie wohl nur dann am Markt durchsetzen, wenn wenigstens ein weiterer großer Reifenhersteller das System übernimmt. Goodyear läßt zwar erkennen, bereits an einem ähnlichen System zu arbeiten, aber selbst dann wäre eine Zusammenarbeit der Unternehmen nötig, um sich auf einen auch für die Automobilindustrie akzeptablen Standard zu einigen. Ein Wechsel zu einem neuen Rad-Reifen-System würde im Hinblick auf die Wettbewerbssituation ein noch stärkeres Absetzen der Großanbieter von den kleineren Unternehmen nach sich ziehen, da letztere kaum die finanziellen Mittel aufbringen können, um in diesem Bereich der Produktforschung aufschließen zu können.
3.3
Produktionspolitische Strategien
Insgesamt kann resümiert werden, daß der produktpolitische Wettbewerb, der bereits in den achtziger Jahren ein erhebliches Gewicht besaß, in den neunziger Jahren in deutlichem Umfange verstärkt worden ist. Nun ist es eine bekannte Tatsache, daß der Nicht-Preiswettbewerb im Gegensatz zur Preispolitik der Unternehmen nicht kostenlos erfolgt, sondern erhebliche Finanzmittel absorbiert.24 Ausgaben entstehen sowohl fur F+E als auch durch den Informationsbedarf auf Händler- und Verbraucherseite bei der Markteinführung. In diesem Kontext ist nun zu fragen, wie die Reifenhersteller diese Ausgaben angesichts der bereits geschilderten Preisentwicklung finanzieren konnten. Als Antwort hierauf sind insbesondere Kostensenkungsstrategien anzuführen, auf die in den folgenden Abschnitten eingegangen werden soll.
24
Freilich ist der Einsatz des Aktionsparameters 'Preis' nicht völlig kostenlos, doch fallen diese Kosten im Vergleich zu anderen Aktionsparametern kaum ins Gewicht.
Der deutsche Markt fur Pkw-Reifen
3.3.1
477
Kapazitäts- und Standortpolitik
Auf der Produktionsstufe stellte die Ausschaltung wenig produktiv arbeitender Kapazitäten eine geeignete Maßnahme dar, um dem Preisdruck auf dem Reifenmarkt zu begegnen und Überkapazitäten abzubauen. Infolge eines Mitte der achtziger Jahre einsetzenden Konzentrationsprozesses wurden reihenweise unrentable Produktionsstätten ausgemustert. Eine Vielzahl kleinerer und mittlerer Betriebe verschwand gänzlich vom Markt oder wurde von größeren Unternehmen aufgekauft. Die bedeutendsten Konzentrationsvorgänge gehen aus Tabelle 3 hervor. Tab. 3: Der Konzentrationsprozeß im Reifensektor 1985-1989 Jahr 1985
1987
1988
1989
Vorgang •
Continental (Deutschland) übernimmt Semperit (Österreich)
•
Sumitomo (Japan) kauft Dunlop (Großbritannien)
•
Continental kauft General Tyre (USA)
•
Uniroyal und BF Goodrich gehen zusammen (USA)
•
Bridgestone (Japan) kauft Firestone (USA)
•
Pirelli (Italien) kauft Armstrong (USA)
•
Michelin (F) kauft Uniroyal/Goodrich
Quellen: Griffiths, John: Survival o f the biggest, in: Financial Times, 15.12.1988 und o.V.: The tyre industry's costly obsession with size, in: The Economist, 08.06.1991.
Hinter diesen Vorgängen stand eine Reihe von Übernahmeschlachten, u.a. mußte sich Pirelli im Kampf um Firestone geschlagen geben. Zudem waren gescheiterte Übernahmeversuche (z.B. Continental durch Pirelli) und der Beginn großangelegter Kooperationen (Goodyear und Toyo [Japan] sowie Bridgestone und Bekaert [Belgien], beide 1989) zu verzeichnen. Es fallt auf, daß von den sechs größten Anbietern lediglich Goodyear (USA) nicht in den Konzentrationsprozeß eingriff. Dies liegt darin begründet, daß das Unternehmen selbst eine feindliche Übernahme abzuwehren hatte.25 Infolge des Konzentrationsprozesses ergab sich 25
Vgl. o.V.: The tyre industry's costly obsession with size, in: The Economist, 08.06.1991.
Der deutsche Markt für PKW-Reifen
478
eine Neuordnung des Weltmarktes, wie sich anhand der Daten in Tabelle 4 ablesen läßt. Tab. 4: Weltmarktanteile Pkw-Reifen Unternehmen
1985
1991
1998
1.
Goodyear
21,0
17,0
17,0
2.
Michelin
18,0
24,0
18,0
3.
Bridgestone
9,0
17,5
18,5
4.
Firestone
8,0
- zu Bridgestone -
—
5.
Uniroyal/Goodrich
7,0
- zu Michelin -
—
6.
Pirelli
6,0
6,0
4,0
7.
Continental
4,0
8,0
6,5
8.
Sumitomo
4,0
6,0
5,5
9.
General Tyre
4,0
- zu Continental -
10.
Yokohama (JPN)
3,0
4,0
3,5
11.
Übrige
16,0
17,5
27,0
—
Quellen: 1985: o.V.: The global tyre market, 1980s and beyond, in: Rubber and Plastics N e w s , 19.05.1986, S. 21; 1991: o.V.: Reifenindustrie: Verlustfahrt hält an, in: Wirtschaftswoche, 04.10.1991; 1998: Haddenbrock (1999a), S. 8.
Am Ende des Konzentrationsprozesses hatte Goodyear die Marktfuhrerschaft an den Michelin-Konzern verloren, der sich in den Folgejahren mit Bridgestone auf dieser Position abwechselte. In der zweiten Reihe konnten sich von ehemals sieben Anbietern lediglich vier behaupten. Insgesamt teilten sich 1991 sieben Unternehmen 82,5 Prozent des Weltmarktes (1985 vereinten zehn Anbieter 84 Prozent auf sich), die drei Marktführer konnten ihren Anteil von 48 auf 58,5 Prozent steigern.
Der deutsche Markt fur Pkw-Reifen
479
Ausgelöst wurde der Konzentrationsprozeß einerseits durch die Notwendigkeit, den Anforderungen eines globalisierten Marktes durch weltweite Präsenz gerecht zu werden und andererseits durch den Anreiz zum Ausnutzen von Synergie- bzw. Skaleneffekten, um sich mit den hieraus resultierenden Kostenvorteilen dem Wettbewerb mit den Billiganbietern besser stellen zu können. Dies gelang anfangs jedoch kaum, da die Akquisitionspolitik zunächst äußerst kostspielig war, während sich die erhofften Einsparungseffekte erst später einstellten. Zudem verschlechterte sich die Nachfragesituation Anfang der neunziger Jahre weiter. In dieser Phase begannen die Transformationsprozesse der ehemals sozialistischen Länder, was den Reifenanbietern die Möglichkeit eröffnete, über die Wahl geeigneter Produktionsstandorte eine Senkung der hohen Arbeitskosten herbeizuführen; ein wichtiger Vorgang, bedenkt man, daß in der traditionell arbeitsintensiven Reifenbranche bis zu 40 Prozent der Kosten auf den Faktor Arbeit entfallen. In Tabelle 5 sind die wichtigsten Akquisitionen der Reifenindustrie in den ehemaligen Ostblockstaaten nach 1990 zusammengefaßt. Tab. 5: Akquisitionen der Reifenindustrie in Osteuropa seit 1990 Unternehmen
Land
Sumitomo
Pneumant
Ehemalige DDR
Goodyear
Debica
Polen
Sava
Slowenien
Stomil
Polen
Taurus
Ungarn
Bridgestone
Stomil Poznan
Polen
Continental
Matador
Slowenien
Käufer
Michelin
Quellen: o.V. (1998), S. 55 und o.V. (1999a), S. 56
Neben dem Aufkauf von Produktionsstätten ergab sich eine ganze Reihe weiterer Beteiligungen und Kooperationen. Dabei profitierten die osteuropäischen Produzenten vom Know-How und der Finanzkraft der Global Players, während letztere den Zugang zu den neuen Märkten und die kostengünstige Produktion zu schätzen wußten. Die Produktionsstandorte in Osteuropa dienten zur Belieferung des
Der deutsche Markt für PKW-Reifen
480
gesamten europäischen Marktes. Wenngleich der Schwerpunkt des neuen Engagements in Osteuropa lag, blickte man bei der Suche nach günstigen Produktionsstandorten dennoch auch auf die südamerikanischen und asiatischen Märkte. Dabei übernahmen die südamerikanischen Standorte eine ähnliche Funktion für den nordamerikanischen Markt wie die osteuropäischen Produktionsstätten für das westliche Europa. In diesem Zusammenhang ist freilich zu beachten, daß die Automobilindustrie ebenso in diese Märkte vordrang, so daß das Vorgehen der Reifenhersteller auch vor dem Hintergrund einer strategischen Marktpositionierung zu sehen ist, und zwar mit dem Ziel, die bereits angesprochenen Fühlungsvorteile auch in den neuen Märkten wahrzunehmen. So fiel das starke Engagement von Goodyear in Polen mit beträchtlichen Investitionen in die polnische Fahrzeugindustrie zusammen. 26 Allerdings kann wegen hoher versunkener Kosten die Gefahr des nachvertraglichen Opportunismus (Hold-up) entstehen, wenn Reifenproduzenten einem Automobilhersteller an einen neuen Standort folgen. Dabei ist diese Gefahr jedoch immer vor dem Hintergrund der Wettbewerbssituation auf den Automobil· und Reifenmärkten zu sehen - sie muß sich also nicht grundsätzlich einstellen, vor allem dann nicht, wenn alternative Abnehmer zur Verfügung stehen. In einzelnen Fällen kann sich der Aufbau von Fühlungsvorteilen jedoch als ein zweischneidiges Schwert erweisen. Mit dem Konzentrationsprozeß ergab sich also eine Wanderung auf neue Märkte, verbunden mit maßvollen Akquisitionen und dem Aufbau eigener Fertigungsanlagen in den genannten Regionen. Im Hinblick auf die Weltmarktanteile läßt sich an den Daten in Tabelle 4 ablesen, daß Michelin im Verlauf dieser Entwicklung an Boden verloren hat. Zudem ist die Marktkonzentration in den letzten Jahren wieder ein wenig gesunken, was auf die steigenden Marktanteile der Billiganbieter zurückzufuhren ist. Besonders erfolgreich waren die südkoreanischen Produzenten Hankook und Kumho, die heute einen Weltmarktanteil von jeweils knapp zwei Prozent verbuchen können. 3.3.2
Prozeßinnovationen und Produktivitätssteigerungen
Die Neuordnung der Angebotsseite wurde von Bemühungen begleitet, die Produktivität in den Betrieben über Prozeßinnovationen, Materialverbesserungen
26 Vgl. o.V. (1994a), S. 11.
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sowie Arbeitszeitverlängerungen zu erhöhen. Den Unternehmen gelang es dabei, die Produktivität in den letzten zehn Jahren zu vervierfachen. Allerdings haben an diesem Fortschritt nahezu alle am Markt beteiligten Unternehmen teilgehabt, so daß kaum dauerhafte komparative Wettbewerbsvorteile entstanden sind.27 In diesem Abschnitt soll vor allem auf Neuerungen in der Produktionstechnologie eingegangen werden. In diesem Bereich hat sich in den vergangenen Jahren bereits einiges getan, es stehen jedoch weitere tiefe Einschnitte bevor. Ein zentrales Problem für die Reifenhersteller liegt seit jeher darin, daß eine extrem hohe Kapazitätsauslastung von rund 90 Prozent benötigt wird, um verlustfrei produzieren zu können. Oberhalb dieser Grenze wird die Produktion allerdings extrem profitabel. 28 Daher ist es seit jeher ein Hauptziel der Reifenunternehmen, nach Möglichkeit mit den niedrigsten Kosten zu produzieren. Die zunehmende Marktkonzentration spricht dafür, daß man sich lange Zeit auf die bei hoher Auslastung entstehenden economies of scale verlegt hat. Mittlerweile setzen die Unternehmen allerdings verstärkt auf Rationalisierungsinvestitionen und neue Fertigungsmethoden, um Arbeitskosten einzusparen. Ein Grund dafür ist in der zunehmenden Marktsegmentierung mit einer Vielzahl auch regional unterschiedlicher Produkte zu sehen. Diese erschwert die Realisierung von Größenvorteilen und läßt flexiblere, marktnahe Produktionsanlagen wünschenswert erscheinen. 29 Im Gegensatz zur Produktinnovation, bei der die Reifenproduzenten auf eine gewisse Kooperation angewiesen sein können, verfolgt jedes der großen Unternehmen bei der Entwicklung neuer Fertigungsanlagen eine eigene Strategie. Dies ergibt sich zwingend aus der Bedeutung einer kostengünstigen Produktion für die Stellung im Wettbewerb. Jeder einzelne Großanbieter hat bereits einige neue, d.h. flexiblere und vor allem arbeitssparende, Fertigungsanlagen in Betrieb genommen.30 Da sowohl die Forschung als auch der Aufbau neuer Produktionsstätten sehr kapitalintensiv sind, geht diese Entwicklung an kleineren Anbietern weitgehend vorbei. Die nunmehr weniger arbeitsintensive Fertigungsweise der Marktfuhrer verringert zudem den Kostenvorteil der Anbieter aus Billiglohnländern, so daß sich die Marktstellung der Großanbieter relativ gesehen verbessert. Dies kann sich zukünftig auch in höheren Marktanteilen widerspiegeln. Auf diesen Aspekt wird im Schlußkapitel noch einmal zurückzukommen sein.
27 Vgl. o.V. (1999), S. 75 f. 28 Die Notwendigkeit einer hohen Kapazitätsauslastung mag ein Grund für die auf dem Reifenmarkt häufig anzutreffenden Angebotsüberschüsse sein. 29 Vgl. o.V. (1999), S. 76. 30 Zu den Technologien der einzelnen Anbieter siehe o.V. (1999), S. 76 ff. und Jemain (1998).
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Die Investitionen in neue Produktionstechnologien waren gerade für die großen Unternehmen ein lebensnotwendiger Schritt. Allerdings stießen sie beim Übergang auf moderne Produktionsanlagen auf Widerstand in der Öffentlichkeit und damit auch in der Politik, da technischer Fortschritt im Reifensektor aufgrund der geringen Preiselastizität der Nachfrage gleichbedeutend mit der Freisetzung von Arbeitskräften ist.31 Die befürchteten Imageschäden mögen ein Grund dafür sein, daß die Reifenhersteller mit Werksschließungen bisher relativ zurückhaltend waren. Zudem begünstigte die Produktstrategie der Unternehmen eine Spezialisierung der Produktionsstätten und damit den Erhalt der Standorte in Ländern mit vergleichsweise hohen Arbeitskosten. 32 Insgesamt gelang es den Reifenherstellern auf diese Weise, Kostensenkungen zu realisieren und die Erlössituation auf dem Ersatzbereifungsmarkt trotz des weiter bestehenden Preisdrucks zu verbessern. Auch auf dem Erstausrüstungsmarkt trat eine gewisse Entspannung ein, so daß Continental für 1998 ankündigte, die Verlustzone in diesem Segment verlassen zu wollen.33 Freilich bedeuten diese Kostensenkungen nicht, daß man den Preis nun wieder als Aktionsparameter im vorstoßenden Wettbewerb einsetzen würde. Vielmehr werden Preise nach wie vor in eher reaktiver Weise angepaßt, um die im marktlichen Lernprozeß zwischen den Anbietern erreichte 'Geschäftsgrundlage' nicht zu zerstören.
3.3.3
Technologieaustausch und horizontale Kooperationen
Neben Unternehmenszusammenschlüssen sind in den vergangenen Jahren auch verstärkt Kooperationen zwischen Reifenanbietern zustande gekommen. Auf die Hintergründe der Zusammenarbeit von Michelin und Pirelli bei der Markteinführung von PAX wurde bereits in Abschnitt 3.2.3 eingegangen. Grundsätzlich besteht bei einer Zusammenarbeit im Forschungsbereich neben den Vorteilen von Wissenstransfers auch die Möglichkeit, das Risiko einzelner Unternehmen im Hinblick auf die immens hohen Forschungsinvestitionen auf mehrere Schultern zu verteilen. Investitionen im Forschungsbereich sind bekanntlich noch mehr als alle anderen mit unsicheren Erträgen verbunden. Dies gilt im Reifenmarkt um so mehr, als die Einführung einer Innovation am Markt nicht unabhängig von der
31 Dies gilt zumindest kurzfristig. A u f lange Sicht kann eine Rechtsverschiebung der Nachfragekurve wieder eine erhöhte Arbeitsnachfrage mit sich bringen. Vgl. dazu Fehl/Oberender (1999), S. 133 ff. 32 Dort werden hochtechnisierte Reifenvarianten, für deren Produktion zudem ein hohes Maß an Fachwissen benötigt wird, marktnah gefertigt, während die Herstellung von Standardprodukten in Niedriglohnländer verlagert wurde. Vgl. o.V. (1999a), S. 57. 33 Vgl. o.V. (1997), S. 102.
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Automobilindustrie vorgenommen werden kann, wie sich am Beispiel von PAX eindrücklich zeigt. Zudem erleichtert ein gemeinsames Vorgehen über eine größere Produktionsmenge die Amortisation und erhöht die Wahrscheinlichkeit, die neue Technik mittels einer starken Marktdurchdringung zum Standard erheben zu können, also gleichsam einen technologischen Pfad vorzugeben. In den vergangenen Jahren hat der Technologieaustausch in der Reifenindustrie weiter zugenommen. Während man sich lange Zeit auf eine Zusammenarbeit mit Tochter- oder Mutterfirmen beschränkte, wird nun auch mit Kunden und sogar mit Konkurrenten kooperiert. Grund dafür ist vor allem der Wunsch, Märkte gezielt nach Regionen und Produkten zu beliefern. Dabei erscheint es oftmals günstiger, technologische Hilfestellung zu gewähren und im Austausch das spezifische Wissen der anderen Unternehmen vor Ort zu nutzen, als einen unbekannten Markt vom Reißbrett aus zu betreten.34 An der Spitze dieser Bewegung, die jedoch die gesamte Reifenindustrie erfaßt hat, befindet sich Continental. Im Technologiebereich stehen allein 18 Kooperationspartner auf der Unternehmensliste - unter ihnen auch einige große Reifenhersteller. So forschen Continental und Pirelli im Bereich der Lkw-Reifen gemeinsam - eine Zusammenarbeit, die sich auch auf den Produktionsbereich ausgeweitet hat: Continental übernimmt einen Teil der Lkw-Reifen-Produktion für Pirelli. Michelin und Continental haben über ein gemeinsames Engagement in der Tschechischen Republik ebenfalls eine Kooperation außerhalb des Forschungsbereichs geschlossen. Diese beinhaltet unter anderem eine Zusammenarbeit im Niedrigpreissegment. Hinzu kommen technologische Verbindungen mit den japanischen Unternehmen Toyo und Yokohama auf dem US-amerikanischen Markt.35 Solche Kooperationen - auch zwischen den Großen der Reifenbranche - werden in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit noch häufiger auftreten, da es den Unternehmen infolge der starken Marktsegmentierung kaum möglich ist, in jeder Region mit speziellen Fertigungsanlagen vertreten zu sein. So kann es aus Unternehmenssicht sinnvoll werden, wechselseitig unausgelastete Kapazitäten zu nutzen. Damit wäre allerdings ein weiteres Zusammenrücken der Reifenanbieter verbunden, das in einen erneuten Konzentrationsprozeß einmünden könnte. Ein erstes Anzeichen hierfür ist die jüngste Allianz zwischen Goodyear und Sumitomo, die sich aufgrund einer Vielzahl von Kooperationen bereits länger angekündigt hatte.36 Damit stellt sich die Frage, ob vermehrte Kooperationen nicht nur eine Station auf dem Weg zu
34 Vgl. o.V. (1995), S. 30. 35 Vgl. o.V. (1998a), S. 36. 36 Vgl. o.V.: Goodyear meldet sich als Nummer 1 zurück, in: Börsen-Zeitung, 04.02.1999.
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einer weiteren Konzentration der Anbieterseite darstellen, und wie diese Prozesse aus Wettbewerbssicht zu beurteilen sind.
4
Kooperationen und Fusionen: Ausweg oder Problem?
Zunächst einmal deutet alles darauf hin, daß die Reifenproduzenten ihre Kostenseite infolge der Gewinnsituation, die mit der Oligopolisierung des Aktionsparameters Preis im Ersatzbereifungsmarkt einherging, lange Zeit vernachlässigt hatten. Die Unternehmen konnten der veränderten Marktsituation dann aber mittels einschneidender Maßnahmen dennoch Herr werden. Dies ist in erster Linie auf Innovationen, aber auch auf sinkende Kosten zurückzuführen, was aus Wettbewerbssicht zu begrüßen ist. Hierzu haben auch die Konzentrationsvorgänge beigetragen. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, daß der Konzentrationsprozeß in den achtziger Jahren selbst ausschließlich positiv zu sehen ist. Die erfreuliche Marktentwicklung ist nicht zuletzt den hohen Anforderungen der Nachfrager an die Produktqualität geschuldet, vor allem aber auf die erfolgreichen Neuanbieter, die mittels einer aggressiven Preispolitik schnell Marktanteile erobern konnten, zurückzufuhren. Primär dieser Druck aus zwei Richtungen zwang die etablierten Anbieter zu Innovationsanstrengungen, die trotz sinkender Preise Verbesserungen in der Produktqualität und eine Ausweitung der Produktpalette mit sich brachten. In den vergangenen Jahren kann durchaus davon gesprochen werden, daß die Anbieter des Reifenmarktes auch ohne weitere Großfusionen näher zusammengerückt sind. Dies mag ein Grund dafür sein, daß sich der Preiswettbewerb nach einer (durch das Auftreten von Billiganbietern bedingten) relativ turbulenten Phase wieder beruhigt hat. Mancherorts wurde bereits die Entstehung eines 'kartellähnlichen Nebeneinanders' der Reifenanbieter befürchtet.37 Das weitgehende Verschmelzen von Goodyear und Sumitomo zum weltweit größten Reifenhersteller wird diese vermeintliche Marktberuhigung mit Sicherheit für einige Zeit beendet haben.38 Gerade die Unternehmen der zweiten und dritten Reihe wie
37
Vgl. O.V.: Phase der Konsolidierung in der Reifenindustrie, in: Blick durch die Wirtschaft, 19.01.1998. 38 Zusammen verfügen die Unternehmen nun über einen Weltmarktanteil von 22,5 Prozent - siehe Tabelle 4. Damit verweisen sie Bridgestone und Michelin auf die Plätze zwei und drei. Auch in Europa schließen sie mit einem Marktanteil von rund 25 Prozent dicht zum Marktfuhrer Michelin auf. Weiterhin ging Pirelli 1999 eine strategische Allianz mit dem amerikanischen Produzenten Cooper Tyre ein, der über einen Weltmarktanteil von etwa zwei Prozent verfugt. Vgl. dazu Haddenbrock (1999b).
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Continental (wird mit Michelin und Bridgestone in Verbindung gebracht), Pirelli (ebenfalls Bridgestone) und die asiatischen Anbieter Yokohama, Toyo (beide Japan), Kumho und Hankook (beide Südkorea) stehen seitdem immer häufiger in der Übernahmediskussion.39 Aber auch Continental und Pirelli bieten Stoff für Fusionsphantasien.40 Für diese Unternehmen scheinen weitere Kooperationen unabdingbar zu sein, wenn sie auch in Zukunft ihre Eigenständigkeit bewahren wollen. Wie bereits angedeutet worden ist, können diese Kooperationen im Endeffekt jedoch gerade in eine Übernahme durch einen der Großkonzerne einmünden. Daher setzen Continental mit dem Bereich 'Automotive Systems' sowie Pirelli mit dem Kabel- und Kommunikationsgeschäft auf eine Diversifizierungsstrategie, um nicht vom Reifenmarkt allein abhängig zu sein.41 Grundsätzlich gilt, daß die verbliebenen Reifenhersteller ihre Anstrengungen im Kampf um das Überleben im Markt werden intensivieren müssen. Unter Wettbewerbsgesichtspunkten ist dies positiv zu beurteilen, da es der Gefahr einer Markterstarrung entgegenwirkt. Allerdings scheint eine weitere Marktkonzentration kaum abzuwenden zu sein, der Wille der Großanbieter zu neuen Unternehmenszusammenschlüssen oder weitgehenden Kooperationsvereinbarungen ist bereits deutlich zu erkennen.42 Deshalb ist mittelfristig mit dem Entstehen einer ähnlichen Konstellation wie vor der Fusion von Goodyear und Sumitomo zu rechnen - allerdings auf einem höheren Konzentrationsniveau. Es sei daran erinnert, daß diese Situation zunächst durch eine gewisse Wettbewerbsberuhigung gekennzeichnet war. Auch speziell für die deutsche Reifenlandschaft stehen in absehbarer Zeit Veränderungen ins Haus. Abgesehen von den Übernahmegerüchten um Continental ist die Schließung von Produktionsstätten lediglich eine Frage der Zeit. So gehören von den 16 in Deutschland verbliebenen Reifenfabriken allein sechs zum neuen Zusammenschluß Goodyear/Sumitomo, so daß Werksstillegungen kaum vermeidbar zu sein scheinen. Dann ist jedoch anzunehmen, daß andere Unternehmen dem Vorstoß des Marktführers folgen werden, um mit dem Hinweis auf Wettbewerbszwänge Schließungen auch gegen öffentlichen Widerstand durchzusetzen.
39 Zu den neuen Übernahmediskussionen vgl. zum Beispiel: o.V.: Allianz der Reifenriesen setzt Conti unter Druck, in: Handelsblatt, 04.02.1999 und o.V.: Tread carefully, in: The Economist, 06.02.1999. 40 Vgl. o.V.: Conti wirft Auge auf Pirelli, in: Börsenzeitung, 22.10.1999. 41 Bei Continental geht diese Strategie mit dem Ziel einher, sich vom Reifenhersteller zum Systemanbieter zu entwickeln. Dies spiegelt auch das Forschungsziel 'intelligente Reifen' wider. Ein Hauptschritt auf diesem Weg bestand 1998 im Kauf der Bremsen- und Chassis-Sparte der amerikanischen ITT, die mittlerweile unter dem Namen Continental Teves firmiert - vgl. o.V.: Weiche Umstrukturierung bei Continental, in: Neue Zürcher Zeitung, 06.04.2000. 42 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.03.2000: Holger Appel im Gespräch mit Edouard Michelin: In Asien gibt es eine attraktive Einkaufsliste.
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Davon könnte unter anderem das kostenintensive Continental-^erk in Hannover betroffen sein, vor allem weil das Unternehmen gewillt ist, den Anteil der Produktion in Billiglohnländern (Tschechien, Slowenien, Polen, Portugal) von jetzt bereits 25 Prozent auf 50 Prozent zu erhöhen.43 Im Hinblick auf die Diskussion über Markteintrittsbarrieren muß konstatiert werden, daß die hohe Kapitalintensität der Forschungsarbeit sowie die Kosten des Aufbaus neuer Produktionsstätten dazu führen, daß der Marktzutritt von wirklichen Neuanbietern recht unwahrscheinlich ist. Dies gilt zumindest für die relativ gesättigten Reifenmärkte der fuhrenden Wirtschaftsregionen. In noch expansionsfähigen Märkten (so in Afrika, Lateinamerika und in Teilen Asiens) sind jedoch auch für neue Anbieter Potentiale zu sehen. Allerdings ist auch hier eher mit einem Marktzutritt durch die weltweit führenden Unternehmen zu rechnen, sei es über den Aufbau eigener Produktionsstätten oder über Kooperationen mit bereits bestehenden Unternehmen. Auch wird es Herstellern aus Niedriglohnländern zukünftig schwerer fallen, die Marktstellung von Großanbietern durch Billigprodukte zu gefährden, nachdem letztere selbst auf eine Arbeitskosten sparende Produktion umgestellt haben. Spielraum gäbe es allenfalls bei Produkten im Hochpreissegment, wobei fraglich ist, ob der Reputationsaufbau der etablierten Anbieter im Hinblick auf die Produktqualität durch preiswertere Angebote unterlaufen werden kann. Die weitgehende Kontrolle der Vertriebskanäle dieses Marktsegments durch die Großproduzenten dürfte ein solches Vorhaben weiter erschweren. Grundsätzlich sind hierin jedoch keine künstlichen Markteintrittsschranken zu sehen, die aus Wettbewerbssicht zu beanstanden wären. Wie bereits ausgeführt worden ist, stellen Fusionen aus Unternehmenssicht ein mögliches Mittel dar, um Kostenersparnisse zu erzielen. Allerdings wird dabei oft vergessen, daß bei der Zusammenfuhrung zweier Unternehmen zunächst hohe Kosten anfallen, zu denen sich Probleme in der Organisation und im Management gesellen, weil die Zusammenarbeit innerhalb des neu geschaffenen Unternehmens in aller Regel nicht auf Anhieb reibungslos anläuft. Auch können Fusionen durch eine erhöhte Komplexität der Unternehmensstruktur zu einem gewissen Flexibilitätsverlust führen, was sich negativ auf die Steuerbarkeit des Unternehmens im Wettbewerbsprozeß auswirken kann. Wie die Probleme der Reifenanbieter nach Beendigung des Konzentrationsprozesses in den achtziger Jahren
43
Vgl. O.V.: Phase der Konsolidierung in der Reifenindustrie, in: Blick durch die Wirtschaft, 19.01.1998.
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zeigen, werden diese Faktoren von den Beteiligten oftmals unterschätzt. 44 Die positiven Aspekte von Fusionen bedürfen also auch aus Unternehmenssicht einer Relativierung. Für die Nachfrage bedeutet eine wachsende Marktkonzentration auf der Anbieterseite in der Regel eine Einschränkung ihrer Wahlmöglichkeiten. Damit steht die Frage im Raum, ob die geschilderten Entwicklungen aus evolutorischer Perspektive nicht bedenklich sind. Eine zunehmende Marktkonzentration steht in der Gefahr, daß das Wissensmanagement zu stark zentralisiert wird, so daß ein Verlust von Vielfalt auftreten kann. Sie ist im Hinblick auf die Schaffung und Verwertung neuen Wissens eher negativ zu bewerten. Dieser Wissensaspekt ist zentral, wenn man den Wettbewerb aus einer evolutorischen Perspektive betrachtet. Das läßt sich vor allem am Bereich Forschung und Entwicklung verdeutlichen. Eine größere Anzahl von Marktteilnehmern mit eigenen Forschungsabteilungen führt tendenziell dazu, daß in höherem Maße unterschiedliche Wege eingeschlagen werden und daher mehr Wissen aufgedeckt wird, so daß eine größere Prozeßund Produktvielfalt realisiert werden kann. Damit werden Pfade eingeschlagen, die bei stärker zentralisierter Forschung möglicherweise nicht entdeckt worden wären. Die Bewertung der Situation auf dem Reifenmarkt geschieht hier zweckmäßigerweise getrennt nach den Bereichen Produkt- und Prozeßinnovation. Im Bereich der Produktforschung wurde bereits auf die betriebswirtschaftlichen Vorteile von Kooperationen verwiesen. Die gemeinsame Durchführung von Forschungsinvestitionen kann jedoch auch für die gesamte Marktentwicklung vorteilhaft sein, wenn man anderenfalls auf die Vorhaben hätte verzichten müssen. Im Hinblick auf die innovativen Pannenlaufsysteme ist wegen der Abhängigkeit von der Automobilindustrie bei der Markteinführung eine Koordination der Marktteilnehmer auf das technologisch überlegene System (sei es PAX oder eine ähnliche Form) durchaus wünschenswert. Ist der Systemwechsel erfolgt, so wäre es allerdings aus Wettbewerbssicht vorteilhaft, wenn wieder zu einer dezentralen Forschung übergegangen werden würde. Ob dies tatsächlich geschieht, hängt im wesentlichen davon ab, wie lange und wie eng die Unternehmen kooperiert haben. Grundsätzlich sollte das Interesse an der Entwicklung und Vermarktung eigener Produktinnovationen der Fortsetzung eines Forschungsverbunds auf breiter Linie entgegenstehen.
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Dies mag ein weiterer Grund dafür sein, daß im Reifensektor in den vergangenen Jahren mehr auf Kooperation denn auf Unternehmenswachstum gesetzt wurde.
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Im Hinblick auf Prozeßinnovationen besteht der Wunsch nach Eigenständigkeit in vielleicht noch stärker ausgeprägter Weise. In diesem Bereich sind die Unternehmen sehr darauf bedacht, Einzelheiten über die Vorteile ihrer Fertigungstechnik geheim zu halten.45 Im Gegensatz zu Produktinnovationen ist eine Standardisierung der Fertigungsprozesse hier nicht nötig. Trotz eines vermehrten Technologieaustausches und der gegenseitigen Nutzung von Produktionskapazitäten ist nicht zu erwarten, daß sich dies in absehbarer Zeit ändert. Zu wichtig sind Vorsprünge bei den Produktionskosten für die Wettbewerbsposition, als daß hier Annäherungen oder gar Kooperationen in der Entwicklung möglich erscheinen. Prinzipiell besteht jedoch in beiden Forschungsbereichen die Gefahr, daß bei zunehmender Marktkonzentration durch eine tendenzielle Zentralisierung der Forschungsarbeit Wissen und damit Wahlmöglichkeiten verlorengehen. Weiterhin kann es infolge einer zunehmenden Anbieterkonzentration oder durch das Zusammenrücken der verbleibenden Produzenten über Kooperationen zu einer Oligopolisierung weiterer Wettbewerbsparameter am Markt kommen, so daß eine gewisse Markterstarrung zu befurchten steht. Bisher wurde dies durch den Druck der Automobilindustrie (und zuletzt auch der Verbraucher) auf der Nachfrageseite sowie durch die Konkurrenz von aggressiven Neuanbietern auf der Angebotsseite verhindert. Im Hinblick auf den Nachfragedruck könnten Konzentrationsprozesse im Reifensektor dazu fuhren, daß sich die Marktmacht zugunsten der Reifenproduzenten verändert. Allerdings sind auch die Konzentrationsprozesse im Automobilbereich noch nicht abgeschlossen und die Abhängigkeit des Gutes 'Reifen' vom Automobil ist so groß, daß die Reifenanbieter immer unter einem gewissen Anpassungs- und Leistungsdruck stehen werden. Dennoch wird es weiterhin von großer Bedeutung sein, wie es um die Wettbewerbsintensität auf der Angebotsseite bestellt ist. Die aggressiven Kleinanbieter, die in der Vergangenheit für viel Unruhe auf dem Markt sorgten, haben in den letzten Jahren an Boden verloren, da sie nicht über die finanziellen Mittel verfugen, um am Forschungswettlauf teilnehmen zu können. Zudem konnten die Großunternehmen die Kostenvorteile der Anbieter aus Niedriglohnländern ausgleichen. Einerseits fertigen sie mittlerweile selbst einen Großteil der Produktion in Ländern mit vergleichsweise niedrigen Löhnen, andererseits haben sie den Anteil der Arbeitskosten durch die Entwicklung hochproduktiver Anlagen gesenkt. Dazu verfügen sie weiterhin über den Vorteil, bestimmte Produktlinien in Großanlagen herstellen und dort economies of scale erzielen zu können. Diese Entwicklung stärkt die
45 Vgl. John Griffiths: Production changes prove to be well-kept secrets, in: Financial Times, 16.09.1999.
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Marktfuhrer, erhöht den Marktdruck auf die kleineren Anbieter und kann letztlich zu einer Abnahme der Anbieterzahl führen. Zusammen mit den Vorteilen der Großunternehmen auch in der Produktpolitik, der Zunahme der Kooperationen und der zu erwartenden Fortsetzung des Konzentrationsprozesses ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß der Preis oder auch andere Wettbewerbsparameter auf Sicht eingefroren bleiben oder werden. Der Wettbewerbsprozeß wird zwar auch dann durch bestimmte Aktionsparameter weiter vorangetrieben werden, die Automobilindustrie wird dabei eine wichtige 'Wächterfunktion' übernehmen, doch kann eine zu ausgeprägte Zentralisierung der Forschungs- und Entwicklungs-Aktivität dem 'Wettbewerb als Entdeckungsverfahren' (v. Hayek) einiges von seinem Schwung nehmen.
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Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2000
Über das Verhältnis von Innovatoren und Imitatoren in der Internet-Ökonomie Stephanie Hegner und Jürgen M. Schechler
Schon im Spiele der Kinder zeigen sich Ansätze zu einem differenzierenden Wettbewerb. Sie wollen schneller laufen als andere, höher springen als andere, oder vielmehr wollen sie auch nur mehr Puppen haben als andere. Sie wollen es nicht nur immer den anderen gleichtun, sie trachten häufig danach, sich von den anderen abzuheben. Auch der Bengel, der allen Spielgefährten zeigen will, dass er mehr Mut hat als sie oder stärker ist als sie, gehört hierher. Helmut Arndt1
1
Neue Einflüsse durch die Internet-Ökonomie
In den Vereinigten Staaten bekam der Internetkonzern Amazon.com, der inzwischen zum weltweit größten Buchvertrieb herangewachsen ist, in diesem Jahr ein Patent auf ein Provisionsmodell im Internet, das seit etwa fünf Jahren von sehr vielen kommerziellen Anbietern im Internet angewendet wird: Mit Hilfe von Hyperreferenzen, die auf den virtuellen Verkaufsraum von Amazon.com verweisen, können andere Serviceanbieter eine Provision bei erfolgtem Kauf erhalten.2 Dieses Prinzip - wie auch beispielsweise das Erkennen von Stammkunden, auf das Amazon.com ebenso das Patent hält - zu privatisieren, könnte einerseits die offene Entwicklung der Internet-Ökonomie behindern und andererseits wettbewerbsbehindernde Auswirkungen auf die unterschiedlichsten Märkte nach sich ziehen. Damit wird eine Wettbewerbsbeziehung zwischen Anbietern auf verschiedenen Märkten "künstlich" geschaffen, die nicht auf den vertriebenen Gütern oder den Nutzenvorstellungen der Nachfrager sondern lediglich auf der Vertriebsmethodik beruht. Hier wirkt das Patentrecht deplatziert und ist - was das eigentliche Ziel der
'
2
Arndt (1952), S. 36. Vgl. Hohensee (2000), S. 130. Internet-Nutzer können durch einen Mausklick an ihrem PC von einer beliebigen Internetseite auf die Angebote von Amazon.com gelangen, wobei Informationen über die "Webseite" als Provisionsgrundlage gespeichert werden.
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Wettbewerbspolitik angeht, eine optimale Allokation der Wirtschaftsgüter zu erzielen - äußerst kontraproduktiv. 3 An diesem Beispiel ist erkennbar, dass der (zeitlich begrenzte) Patentschutz als ein Instrument, das Innovationen und damit wirtschaftliche Entwicklung fördern und den Innovator (temporär) vor Imitatoren schützen soll, in der InternetÖkonomie zu suboptimalen Marktergebnissen fuhrt. Diese ambivalente Bewertung des Patentes steht mit dem Aufkommen neuer stylized facts in der InternetÖkonomie in Verbindung. Nicht nur die Modelldarstellung in der Wirtschaftstheorie ist bezüglich ihrer Bewertung von stylized facts abhängig und muss von Zeit zu Zeit auf ihre Aussagekraft hin überprüft werden. Ebenso gilt es, die Verwertbarkeit der wirtschaftspolitischen Implikationen, die aus diesen Modellen resultieren, im Zusammenhang mit dem Auftreten neuer stylized facts immer wieder in Frage zu stellen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet sich unsere Welt in einer historischen Phase des einerseits sich beschleunigenden und andererseits systemübergreifenden Strukturwandels: Gesellschaftlicher Wertewandel bzw. kulturelle Wertekonvergenz, technischer Fortschritt - insbesondere im Informations- und Kommunikationssektor - sowie die ökonomisch-strukturellen und gleichzeitig branchenübergreifenden Veränderungen durch strategische Neuausrichtungen einer Vielzahl von Wirtschaftsakteuren schaffen neue Tatsachen. Als Gesellschaftstheorie muss die Ökonomik sich diesen neuen Fakten stellen. Etablierte Theorien und Modelle gilt es hinsichtlich ihrer Aufgabenerfüllung kritisch zu untersuchen. Die wirtschaftswissenschaftlichen Theorien sehen ihre Aufgabe neben der Erklärung von Ursachen-Wirkungs-Zusammenhängen ökonomischer Variablen auch in der Beratung von verschiedenen Akteuren. 4 Beide Aufgaben stehen jedoch in einem engen Raum- und Zeitbezug. Bei entsprechenden Veränderungen von ökonomisch relevanten Rahmenbedingungen - wie oben in dieser extremen Form beschrieben - muss der Erfüllungsgrad der unterschiedlichen Aufgaben der Theorien überprüft werden. In Ansätzen werden diese neuen stylized facts und deren Auswirkungen auf die Ökonomie in der InternetÖkonomik diskutiert.
3
4
Im Gegensatz zu den U S A werden in der EU Patente lediglich in Ausnahmefällen für Software erteilt. Herdzina subsummiert die Beschreibung und Erklärung des Wirtschaftsgeschehens unter die explikative Aufgabe einer ökonomischen Theorie, während die Prognose des Wirtschaftsgeschehens und die Beratung verschiedener Akteure bei der Gestaltung des Wirtschaftsgeschehens als bedingungstheoretische Aufgabe gelten. Näheres hierzu bei Herdzina (1999a), S. 23 f.
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Im Rahmen dieses Beitrages in der Festschrift für Klaus Herdzina werden beispielhaft ein wettbewerbstheoretisches Modell und die daraus erwachsenden wettbewerbspolitischen Implikationen vor dem Hintergrund des Auftretens neuer stylized facts überprüft. Dabei besitzt der Beitrag nicht den Anspruch, eine abschließende Darstellung dieses Sachverhalts zu liefern, sondern will vielmehr eine weitergehende Diskussion über die theoretischen und politischen Auswirkungen der Internetökonomie anregen. Herdzina verwendet das auf Arndt und Clark 5 zurückgehende Modell der Marktstrukturphasen, um einerseits auf Mängel der einfachen Marktprozesstheorie hinsichtlich deren explikativer Aufgabe hinzuweisen,6 und andererseits im Rahmen der Diagnose der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs als Test des Marktverhaltens. 7 Darüber hinaus können die Schlussfolgerungen aus diesem Modell als Begründung für den (temporären) Patentschutz verwendet werden. Die Autoren stellen die These auf, dass sich die bisherigen Schlussfolgerungen aus diesem Modell - die Förderung der Innovatoren und deren besonderer Schutz durch Patente - heute nicht mehr uneingeschränkt halten lassen. Vielmehr sind es in der Internet-Ökonomie die Imitatoren, die von entscheidender Bedeutung für ein Funktionieren des Wettbewerbs sind. Nicht die Innovatoren, sondern die Imitatoren sind schutzbedürftig. Dem wiederkehrenden Eindruck des Politikversagens kann mit einer neu durchdachten Vorgehensweise sinnvoll begegnet werden, ohne die resignierende, teilweise religiös anmutende Anrufung der allheilenden Marktkräfte als Ersatz für gesellschaftlich legitimierte Zielsetzungen anwenden zu müssen. In diesem Beitrag werden zunächst die bisher diskutierten stylized facts anhand des Modells nach Arndt und Clark dargestellt. Daran anschließend werden die in der Internet-Ökonomie hinzukommenden stylized facts thematisiert und ihre Bedeutung analysiert. Aus der Anwendung der sich wandelnden stylized facts ergeben sich neue wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen und eine modifizierte Darstellung des Marktgleichgewichts.
5 6 7
Vgl. Arndt ( 1952) und Clark ( 1954). Vgl. Herdzina (1999a), S. 182 f. Vgl. Herdzina (1999b), S. 6 0 ff.
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Innovatoren und Imitatoren im Wettbewerbsprozess
Es besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass Wettbewerb als dynamischer Prozess charakterisiert werden kann,8 in dem sowohl Innovatoren als auch Imitatoren ihre spezifische Bedeutung besitzen. Der Wettbewerbsprozess setzt sich aus den Phasen des Vorstoßes eines einzelnen Marktteilnehmers - der Individualisierung bzw. Gewinndifferenzierung - und der Verfolgung durch einen oder mehrere Marktteilnehmer - der (Gewinn-) Nivellierung - zusammen. In diesen Phasen setzen die verschiedenen Akteure unterschiedliche Handlungsparameter ein.9 Die Handlungen der Akteure richten sich dabei auf die Zukunft, wobei die Marktergebnisse der Zukunft ungewiss sind.10 Wettbewerb kann demnach auch als Suchverfahren und Entdeckungsprozess angesehen werden." Mit dieser Betrachtungsweise des Wettbewerbs als ein dynamischer Prozess sind insbesondere die Namen Helmut Arndt und John Maurice Clark verbunden,12 die den Versuch unternommen haben, Schumpeters Innovationstheorie in die Wettbewerbstheorie zu integrieren.13 Ernst Heuß entwickelt etwa zehn Jahre später eine Theorie der Marktphasen, in der er die Zweiteilung der Schumpeterschen Unternehmertypen erweitert und die Nachfrageseite in die Betrachtung mit einbezieht.14
2.1
Das Modell der Marktstrukturphasen
Auslöser eines Wettbewerbsprozesses ist der Vorstoß eines dynamischen Unternehmers im Sinne Schumpeters.15 Die Vorstoßphase wird auch als "Wettbewerb der Bahnbrecher"16, "initiatory actions by a business unit"17 oder "individualisierende Phase"18 bezeichnet. Der Unternehmer, der über spezifische Charakterei8
Vgl. Herdzina (1975), S. 25 und Herdzina (1981), S. 253. Vgl. Arndt (1952), S. 35 und Herdzina (1975), S. 25. 10 Vgl. Cox/Hübener (1981), S. 5. " Vgl. v. Hayek (1968). 12 Vgl. Arndt (1952) und Clark (1954). 13 Vgl. Mantzavinos (1994), S. 27. 14 Vgl. Heuß (1965). 15 Ein Unternehmer ist nach Schumpeter nur derjenige, der neue Kombinationen durchsetzt. Er ist ein Verhaltenstypus, der seinen Charakter im Laufe der Zeit ändern kann. Vgl. Schumpeter (1964), S. 116 ff. Vergleiche hierzu auch den Beitrag von B. Blessin in diesem Band. 16 Arndt (1952), S. 35. 17 Clark (1954), S. 326. 18 Arndt (1976), S. 3.
9
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genschaften wie etwa Spontaneität, Initiative und Intuition verfügt, versucht durch seinen Vorstoß die Gleichheit unter den Marktteilnehmern zu beseitigen und eine Alleinstellung für sich zu erreichen. Dabei ist Motivation für diesen Vorstoß nicht nur das Gewinnstreben, sondern vielmehr der "Wille, ein privates Reich zu gründen", der "Siegerwille" und die "Freude am Gestalten" an sich.19 Er wird sich aufgrund größerer Fähigkeiten oder des besseren Einsatzes der gleichen Fähigkeiten gegenüber seinen Wettbewerbern einen Vorteil verschaffen und damit Differenzierungen herbeiführen. 20 Diese Differenzierung erreicht er, indem er als Innovator im Sinne Schumpeters auftritt und sich durch die Durchsetzung neuer Kombinationen von Produktionsfaktoren 21 von den anderen Marktteilnehmern absetzt. Der Unternehmer findet damit neue Wege zur Bedürfnisbefriedigung der Nachfrager. In diesem Zusammenhang bezeichnet Arndt den differenzierenden Wettbewerb als schöpferischen Wettbewerb. 22 Der Unternehmer kann nun aufgrund seines Vorstoßes und der Tatsache, dass er mehr leistet als die anderen Unternehmer, einen Pioniergewinn realisieren, da er ein temporäres (prozessuales) Leistungsmonopol geschaffen hat. Durch dieses Leistungsmonopol verfügt der dynamische Unternehmer temporär über wirtschaftliche Macht. 23 Die Sonderstellung und der Pioniergewinn sind der Anreiz für Unternehmer, in einer von Unsicherheit gekennzeichneten Situation einen solchen Vorstoß zu wagen und damit die wirtschaftliche Entwicklung voranzubringen. Für die Unternehmer ist dabei wichtig, dass sie die Sonderstellung über eine gewisse Zeit aufrecht erhalten können, um in dieser Zeit Extragewinne zu realisieren. Darüber hinaus ist der Pioniergewinn Anreiz für die Konkurrenten, die Neuerungen des dynamischen Unternehmers zu imitieren und in den Markt einzutreten, um an dem Gewinn des Leistungsmonopols teilzuhaben. Der Vorstoßphase folgt die Phase der Verfolgung, die auch als "Wettbewerb der Nachahmer" 4, "a complex of responses by those with whom it deals, and by rivals"25 oder als "nivellierende Phase"26 bezeichnet wird.
19 20 21
22 23 24 25 26
Vgl. Schumpeter (1964), S. 138. Vgl. Arndt (1952) S. 36. Schumpeter unterscheidet fünf Fälle der Durchsetzung neuer Kombinationen: 1. Herstellung eines neuen Gutes, 2. Einführung einer neuen Produktionsmethode, 3. Erschließung eines neuen Absatzmarktes, 4. Eroberung einer neuen Bezugsquelle von Rohstoffen oder Halbfabrikaten und 5. Durchführung einer Neuorganisation. Vgl. Schumpeter (1964), S. 100. Vgl. Arndt (1952), S. 37. Vgl. Arndt (1976), S. 3. Arndt (1952), S. 35. Clark (1954), S. 326. Arndt (1976), S. 3.
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In der Verfolgungsphase treten die von Schumpeter als "Wirte schlechtweg" 27 bezeichneten Imitatoren in den Markt ein. Sie imitieren die neuen Produkte und Verfahren des Innovators und wollen so an dessen Pioniergewinn teilhaben. Sie sorgen damit für eine rasche Verbreitung der Neuerung und potenzieren auf diese Weise den Wachstumsimpuls des dynamischen Unternehmers. 28 Damit wird die temporäre Monopolstellung des einzelnen Unternehmers nach und nach beseitigt und der Pioniergewinn, der erzielt werden konnte, wird durch die Konkurrenz auf Null reduziert. Die durch die Monopolstellung entstandene wirtschaftliche Macht des einzelnen Unternehmers wird ebenfalls wieder verschwinden. 29 Der Prozess der Imitation, des nivellierenden Wettbewerbs, hat sein Ende erreicht, wenn wieder eine Gleichheit der Unternehmen erreicht ist und alle Unterschiede beseitigt sind.30 Bisher wurden beide Teilprozesse unabhängig voneinander dargestellt. Von entscheidender Bedeutung ist jedoch, dass von einem Wettbewerbsprozess nur gesprochen werden kann, wenn beide Phasen bzw. Teilprozesse zu einem Prozess zusammenfinden. Denn beide Teilprozesse können langfristig nicht separat existieren, ansonsten zerstören sie sich selbst.31 Ein Vorstoß, bei dem die Imitation nicht einsetzt bzw. der Abstand zwischen Innovator und Imitatoren unüberbrückbar wird, wird letztendlich in einer dauerhaften Monopolstellung eines Unternehmers enden. Die Sonderstellung kann von anderen Unternehmern nicht mehr gefährdet werden, und der Monopolist erzielt dauerhaft Extragewinne. Es entsteht ein "Status der Macht" 32 , in dem alle Unternehmen von einem einzelnen abhängig sind. Setzt sich dagegen der Wettbewerb der Nachahmer gegenüber dem Wettbewerb der Bahnbrecher durch, wird es keinen Wettbewerb mehr geben, denn es bestehen keine Unterschiede mehr, die nivelliert werden können. Es entsteht eine unterschiedslose Masse. Wenn sich beide Prozesse allerdings ergänzen, können beide endlos andauern. 33 Der Wettbewerbsprozess und damit der Ablauf der beiden Phasen wird in der Abbildung 1 grafisch dargestellt. Ausgangspunkt ist das Isopol, in dem alle Marktteilnehmer gleich sind. Durch den Vorstoß eines einzelnen entsteht ein temporäres Monopol, das durch die Imitatoren wieder in den Zustand eines Isopols zurückgeführt wird. Dieser Prozess wird, spätestens wenn er sich wieder im Isopol befin-
27 28 29 30 31 32 33
Schumpeter (1964), S. 122. Vgl. Cox/Hübener ( 1981 ), S. 8. Vgl. Arndt (1976), S. 3 f. Vgl. Arndt (1952), S. 35 f. Vgl. Arndt (1952) S. 3 9 f. Arndt (1952) S. 38. Vgl. Arndt (1952), S. 38 f.
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det, von neuem angestoßen. Der "gesellschaftliche Prozess des Wettbewerbs" 34 setzt sich dann aus mehreren einzelnen Wettbewerbsprozessen zusammen, die sowohl aufeinander folgen als auch nebeneinander ablaufen.
Absolutes Monopol Prozessuales Monopol
•
Zeit
Prozessuales Isopol Absolutes Isopol Nivellierung
Abb. 1: Schema eines Wettbewerbsprozesses Quelle: in Anlehnung an Arndt (1952) und Herdzina (1999a)
Der Wettbewerb führt damit als Prozess die ständige Weiterentwicklung der Wirtschaft herbei, indem er die schöpferischen Kräfte zu neuen Entwicklungen und neuen Lösungen und die rezeptiven Kräfte zur Nachahmung anspornt. Durch diesen Mechanismus wird die Weiterentwicklung des Pioniers Allgemeinbesitz. 35 Es tritt eine Entwicklung ein, die Schumpeter als Prozess der Schöpferischen Zerstörung bezeichnet hat. 6 Neue Kombinationen von Produktionsfaktoren treten zunächst neben alte Kombinationen und verdrängen diese schließlich vom Markt. Innovative Unternehmer treten mit einem neuen Produkt am Markt auf und gründen neue Unternehmen, Wirte und immobile Unternehmer verschwinden vom Markt. 2.2
Das Modell der Marktphasen nach Ernst Heuß
Heuß greift auf die Zweiteilung der Unternehmertypen nach Schumpeter zurück, erweitert diese jedoch und unterscheidet vier Typen. Dabei bezeichnet er den
34 35 36
Arndt (1952), S. 41. Vgl. Arndt (1952), S. 45. Vgl. Schumpeter (1950), S. 138.
500
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Unternehmer im Schumpeterschen Sinne, der Innovationen realisiert, als Pionierunternehmer und teilt die Nichtpionierunternehmer in drei weitere Unterarten ein. Der spontan imitierende Unternehmer hat einige Eigenschaften, wie etwa Aufgeschlossenheit für Neues und ein hohes Maß an Beweglichkeit, mit dem Pionierunternehmer gemeinsam, und wird deshalb mit diesen auch in der Unterkategorie "initiative Unternehmer" zusammengefasst. Er dringt als einer der ersten Imitatoren in den neuen Markt ein, den der Pionierunternehmer geschaffen hat. Ihm folgen dann die "konservativen Unternehmer", zunächst der unter Druck reagierende Unternehmer, der sich lediglich an die Umwelt anzupassen versucht. Er akzeptiert Neuerungen rein defensiv. Der immobile Unternehmer ist dagegen nicht zu Neuerungen fáhig. Er ist lediglich in einer stationären Wirtschaft überlebensfähig. 37 Da diese Unterteilung der verschiedenen Unternehmertypen wie bei Schumpeter verhaltensorientiert ist, kann sich im Laufe der Zeit der Pionierunternehmer zu einem immobilen Unternehmer entwickeln. Ein Beispiel hierfür ist Henry Ford, der an seinem innovativen Erfolgsmodell Τ zu lange festhielt und so sein Unternehmen an den Rand des Ruins brachte. 38
Unternehmer
Nicht-Pionierunternehmer
Pionierunternehmer
Spontan imitierende Unternehmer
Innovationsneigung nimmt zu
Imitationsneigung nimmt ab
Abb. 2: Unternehmertypen Quelle: in Anlehnung an Heuß (1965)
37 38
Vgl. Heuß (1965), S. 9 f. Vgl. Heuß (1965), S. 11.
Unter Druck reagierende Unternehmer
Immobile Unternehmer
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Diese verschiedenen Unternehmertypen bezieht Heuß in seine Marktbetrachtung ein. Er bezeichnet den Markt, dessen Entwicklung sich in vier Phasen vollzieht, als "Spiegelbild zu dem in ihm wirkenden Unternehmer"39. Dabei werden als Einflussfaktoren auf die Marktprozesse aber nicht nur die Angebotsseite, sondern auch die Nachfrageseite betrachtet. Die erste Phase ist die Experimentierungsphase, in der ein neues Produkt geschaffen und auf den Markt gebracht wird. Zudem wird hier die Nachfrage für das Produkt kreiert, um eine Selbstentzündung der Nachfrage zu erreichen. Dem Pionierunternehmer stehen demnach auf der anderen Marktseite Pioniernachfrager gegenüber, die Neuem gegenüber aufgeschlossen sind.40 Der Markt tritt dann in die Expansionsphase ein, in der die Anstrengungen bezüglich der Nachfragekreierung fortgesetzt werden und in der eine hohe Wettbewerbsintensität herrscht. Auf Seiten der Anbieter finden durch die spontan imitierenden Unternehmer Rationalisierungen und Kostenreduktionen statt. Der Markt weist in dieser Phase sehr hohe Wachstumsraten auf.41 In der Ausreifiingsphase sind die Wachstumsraten dann rückläufig; die wichtigsten Absatzmärkte sind erschlossen, und das Produkt wird in Massenfertigung produziert. Dem unter Druck reagierenden Unternehmer verbleibt nur ein kleiner Handlungsspielraum.42 Zuletzt tritt der Markt in die Stagnations- und Rückbildungsphase ein, in der seine Entwicklung relativ hinter der allgemeinen ökonomischen Entwicklung zurückbleibt. In dieser Phase verdrängen bereits neue Produkte die alten Produkte. Die initiativen Unternehmer haben sich bereits einem neuen Markt zugewandt oder versuchen für das modifizierte Produkt nochmals neue Verwendungsmöglichkeiten zu finden, während auf dem Markt insbesondere immobile Unternehmer vorzufinden sind.43
2.3
Wettbewerbspolitische Schlussfolgerungen
Aus der zentralen Bedeutung der Innovationen und der Innovatoren für die wirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft wird die Schlussfolgerung gezogen, dass Innovatoren durch politische Maßnahmen zu schützen sind. Denn für Unternehmer wird als Motivation zur Realisierung von Innovationen als wesentlich angesehen, dass sie die durch einen Vorstoß errungene Monopolstellung zumindest über einen gewissen Zeitraum aufrecht erhalten können und diese nicht
w 40 41 42 43
Heuß (1965), S. 14. Vgl. Heuß (1965), S. Vgl. Heuß (1965), S. Vgl. Heuß (1965), S. Vgl. Heuß (1965), S.
30 41 62 85
ff. ff. ff. ff.
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durch unendlich schnelle Reaktionen der Imitatoren - wie sie von der Neoklassik angenommen werden - zunichte gemacht wird. Die Innovatoren benötigen den Pioniergewinn, den sie aufgrund der Monopolstellung erzielen, um die FuE- und Markteinfuhrungsinvestitionen zu amortisieren. Ohne diese Anreize werden Unternehmer nicht bereit sein, das Risiko einer Innovation auf sich zu nehmen - dynamischer Wettbewerb wird somit unterbunden. Als Schutz und Förderung der Innovatoren dient in erster Linie der Patentschutz, der zwar vorsieht, dass der Erfinder ein Mindestmaß seines Wissens der Allgemeinheit mitteilt, ihn jedoch dafür über einen gewissen Zeitraum vor Imitatoren schützt.44 Damit besteht der Anreiz für Unternehmer, trotz Unsicherheit und Risiko Innovationen zu tätigen. Wenn jedoch die Gewinnaussichten auch ohne Patentschutz einen hohen Investitionsanreiz bedeuten, würde dieser Schutz überflüssig werden.
3
Innovatoren und Imitatoren in der Internet-Ökonomie
3.1
Thesen und stylized facts
Die Notwendigkeit der Berücksichtigung neuer Phänomene in der Realität bedeutet nicht, dass konventionelle stylized facts durch neue ersetzt werden. Vielmehr ist eine Bedeutungsverschiebung zu beobachten. So ist unbestritten, dass beispielsweise Netzwerkeffekte bereits lange vor dem Aufkommen einer internetbasierten Kommunikation existierten.45 Doch es besteht eine eindeutige und stetige Verschiebung der Auswirkungen der unterschiedlichen stylized facts. Das European Communication Council (ECC) 46 hat zehn Thesen - teilweise als Handlungsanweisungen fur Unternehmen - zur Internet-Ökonomie 47 formuliert,
44 45
46
47
Vgl. Kaufer (1970), S. 11. Der Begriff Qwertynomics verdeutlicht dies: Erst mit weltweiten Kommunikations- und Koordinationsnetzen werden sich Wissenschaftler und Wirtschaftsakteure der Merkmale der modernen Ökonomie bewusst. Benannt wird dieses Bündel an Phänomenen jedoch mit der Tastaturanordnung, die bereits viele Jahrzehnte vor den modernen Informations- und Kommunikationstechnologien existierte. Das ECC hat die Aufgabe, "das weite Feld der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion zu sondieren und daraus diejenigen Trends und Themen herauszuarbeiten, die für die zukünftige Entwicklung der Medien- und Kommunikationsindustrien besonders wichtig sind". Vgl. Zerdick et al. (1999), S. 12. Der Begriff Internet-Ökonomie steht als Symbol fur die Verstärkung der neuen stylized facts, was aber nicht bedeutet, dass diese lediglich auf Transaktionen bzw. auf die Koordination von Internethandlungen anwendbar sind.
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aus denen die fur den vorliegenden Untersuchungsgegenstand wichtigsten vorgestellt und kurz erläutert werden: 48 •
Kritische Masse als Schlüsselfaktor der vernetzten Wirtschaft Immer häufiger ist der Nutzen eines Gutes positiv von der Verbreitung, der Netzwerkgröße und/oder der Standardzugehörigkeit abhängig. Daraus ergeben sich neue Entwicklungs- und Spielregeln, die auf Pfadabhängigkeit, kritischer Masse sowie lock in-Effekten beruhen. Dies verändert einerseits die strategische Zielsetzung der Anbieter und Nachfrager. Andererseits steigt der Nutzen und damit die Zahlungsbereitschaft für bestimmte Güter nicht mehr mit Zunahme des Knappheitsgrades. Es tritt das Gegenteil ein, der Nutzen und die Zahlungsbereitschaft sind mit zunehmender Knappheit rückläufig.
•
Kannibalisiere Dich selbst, bevor es jemand anderes tut. Die Erweiterung der technologischen Kommunikationsmöglichkeiten und die damit verbundene drastische Senkung der Transaktionskosten machen einzelne Glieder der Wertschöpfungskette überflüssig. Daher und auf Grund hoher Wettbewerbsintensität müssen betroffene Akteure strategische Neuausrichtungen formulieren und realisieren.
•
Wettbewerb und Kooperation durch Wertschöpfungsnetze Kommunikations- und Informationsnetze setzen einheitliche Standards und integrative Systemlösungen voraus, deren Einzelteile durch einen hohen Komplementaritätsgrad miteinander verbunden sind.49 Durch strategische Kooperationen der Anbieter dieser Komplementärgüter verwandelt sich ein Wettbewerb zwischen einzelnen Unternehmen zu einem Wettbewerb zwischen derartigen strategischen Allianzen bzw. Systemarchitekturen, die ihrerseits wiederum dem Gesetz der kritischen Masse unterliegen.
•
Gleichzeitigkeit von Kostensenkungs- und Differenzierungsstrategie Die Globalisierung - und damit Markterweiterung - ermöglicht der Anbieterseite einen zunehmenden Spezialisierungsgrad. Die damit einhergehenden Kostensenkungen sowie der o.g. Kooperationsbias zwischen den Unternehmen ermöglichen ihrerseits eine zunehmende Produktdifferenzierung. Der Differenzierungsstrategie eines Unternehmens stehen damit weniger Hemmnisse im Weg.
48
Vgl. Zerdick et al. (1999). Unter der Bezeichnung Wintel wird beispielsweise die Kooperation von Microsoft und Intel verstanden, die sich die komplementäre Beziehung ihrer Produkte für ihre Unternehmensziele zunutze gemacht haben.
49
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•
Produktdifferenzierung durch Versioning Die zunehmende Bedeutung von Informationsinhalten, Komplementaritäten und Standards führt dazu, dass Produkte (insbesondere Software und Hardware) nach ihrer Herstellungszeit unterschieden werden müssen, da ansonsten nutzenstiftende Anwendungen mit vermeintlichen Komplementärgütern nicht realisierbar sind. Dies erhöht den Grad der Produktdifferenzierung. Dazu kommt die Tatsache, dass mit Hilfe dieser Vorgehensweise die Produktlebenszyklen noch weiter verkürzt werden. Die notwendigen FuE-Aktivitäten werden dabei häufig und zum großen Teil von Pioniernachfragern vorgenommen. Sie erhalten eine kostenlose Beta-Version eines Produktes, das damit einem realitätsnahen Qualitätstest unterzogen wird.
•
Individualisierung der Massenmärkte Die modernen Informationstechnologien in Verbindung mit kundenorientierten Datenbanken ermöglichen den Unternehmen eine konfliktfreie Verknüpfung von Massenproduktion und One-to-One-Marketingmaßnahmen. Dies verstärkt darüber hinaus die Marktbeziehung zwischen Anbieter und Nachfrager.
Über die Thesen des ECC hinaus sind weitere neue stylized facts zu nennen: •
Gleichzeitige Netzwerkeffekte auf Angebots- und Nachfrageseite Die positiven Netzwerkexternalitäten existieren sowohl auf Nachfrager- als auch auf Anbieterseite. Hinzu kommt, dass sich beide Effekte gegenseitig verstärken. Die Ausweitung eines Netzwerks bedeutet für den Nachfrager einen höheren Nutzen, weil er dadurch zu einer immer größer werdenden Anzahl von Akteuren Kontakt aufnehmen kann. Gleichzeitig hängt die Attraktivität, Leistungen in einem Netzwerk oder Leistungsvoraussetzungen anzubieten, von dessen Größe ab.
•
Beschleunigte Gesellschaft oder die anhaltende Verkürzung der Produktlebenszyklen Ein charakteristisches Merkmal unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist mit Sicherheit die zunehmende Knappheit an Zeit. Dies betrifft alle Akteure eines Marktes. Ein möglicher Grund hierfür ist die steigende Diffussionsgeschwindigkeit neuer Produkte und Technologien. Dies hängt wiederum von der Funktionsfähigkeit von Netzwerken zur Informations- und Leistungsübermittlung ab. Während das Radio beispielsweise 38 Jahre gebraucht hat, um in den USA 50 Millionen Nutzer zu erreichen, hat das Internet dieses Ziel in nur fünf Jahren
Internet-Ökonomie
505
erreicht50. Unternehmens- bzw. Technologieerfolg hängt damit in zunehmendem Maße von der Schnelligkeit der Aktionen und Reaktionen der Akteure ab.
3.2
Müssen Innovationen weiterhin mit politischen Maßnahmen unterstützt werden?
Um die eingangs aufgestellte These der Schutzbedürftigkeit der Imitatoren in der Internet-Ökonomie - d.h. vor dem Hintergrund der genannten neuen stylized facts - zu untermauern, gilt es zu zeigen, dass von Seiten der Marktanbieter eine ausreichende Innovations-Neigung existiert, die nicht noch zusätzlich durch politische Maßnahmen gefördert werden muss. Auf der anderen Seite müssen für potenzielle Imitatoren hohe Handlungshürden nachgewiesen werden. Sollten sich beide Akteure diesen Bedingungen gegenübersehen, müssen die bisherigen politischen Implikationen überprüft werden. In der Realität existiert stets ein Anreiz für die Akteure, sich von anderen Akteuren zu unterscheiden - auch wenn die Motivation sehr unterschiedlich sein kann. Kinder - das zeigt uns Arndt auf - wollen dies ebenso wie die Wirtschaftsakteure beider Marktseiten. 51 Nur auf diese Weise lassen sich Pionierunternehmen im Sinne Schumpeters auf der einen und Pioniernachfrager im Sinne Heuß' auf der anderen Seite erklären. Lediglich neoklassische Marktgleichgewichts- und -prozessmodelle verstehen den Marktmechanismus als naturwissenschaftliches und nicht als gesellschaftliches Phänomen und ziehen trotzdem gleichzeitig Rückschlüsse auf menschliche Verhaltensweisen; insbesondere thematisieren sie den fehlenden Anreiz, technischen Fortschritt zu realisieren. Eine Schlussfolgerung aus dem oben dargestellten Modell ist, dass die Anbieter erst mittels wettbewerbspolitischer Anreize dieser Aufgabe nachkommen. Ein gewinnorientierter und rational handelnder Anbieter wird jedoch stets - auch in der Marktform des homogenen Polypols - einen Anreiz zum Verlassen dieser für ihn ungünstigen Marktsituation besitzen. Ohne näher auf mögliche Kritikpunkte an den neoklassischen Modellen der MikroÖkonomik einzugehen, stehen die zusätzlichen Innovationsanreize in einer Internet-Ökonomie im Vordergrund: •
50 51
Das Bewusstsein jedes Anbieters, dass Entwicklungen von Märkten mit Netzwerkeffekten das Ergebnis haben, dass sich letztlich ein Anbieter behaupten
Vgl. Zerdick et al. (1999), S. 143. Vgl. Arndt (1952), S. 36 und 43.
506
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kann, während seine Konkurrenten den Markt verlassen müssen, fuhrt zum Bestreben aller optimistisch eingestellten Akteure, dieser Monopolist zu sein. Dies erreicht er durch eine möglichst kundenorientierte Differenzierung seines Leistungsangebots bei gleichzeitiger Berücksichtigung etwaiger Standards oder Komplementärleistungen. •
Durch das Wegfallen einzelner Glieder in der Wertschöpfungskette verdichtet sich der Wettbewerb in den verbleibenden Produktionsstufen. Da diese zunehmende Wettbewerbsintensität mit einem organisatorischen, technologischen und sozialen Wandel korrespondiert, existiert keine Information darüber, welche unternehmerische Strategie in diesem neuen Umfeld optimal ist. Dies führt zu sehr differenzierten Unternehmensstrategien und Leistungsarchitekturen zwischen den Anbietern.
•
Die Notwendigkeit zur Leistungsdifferenzierung, die sich bereits im Versioning bemerkbar macht, wird verstärkt durch den zunehmenden Kostendruck in einem globalen Markt mit größerer Wettbewerbsintensität und die gleichzeitige Individualisierung der Massenmärkte, die durch die neuen Informationstechnologien möglich ist.
Das zentrale Merkmal der Internet-Ökonomie sind die vielfältigen Netzwerkeffekte der Güter bzw. Standards, die Arthur als erster zusammenhängend theoretisch aufgearbeitet hat. Während das neoklassische Paradigma davon ausgeht, dass Knappheit den Wert eines Gutes bestimmt, d.h. dass negative Feedbacks zwischen der Verbreitung eines Gutes und dessen Wert existieren, untersucht Arthur positive Feedbacks. Die Nachfrager sehen den Wert dieser Güter in erster Linie in ihrer Funktion als Zugangsbereiter zu einem Netzwerk. Mit zunehmender Ausbringungsmenge bzw. Netzwerkgröße, die gleichzeitig positiv mit dem Zeitablauf korreliert, steigt die individuelle Zahlungsbereitschaft für diese Güter.52 Aus diesen Eigenschaften und den vorangegangenen theoretischen Überlegungen von Arndt, Clark, Schumpeter und Heuß ergeben sich neue ökonomische Schlussfolgerungen, die teilweise dazu führen, grundsätzliche theoretische Fixa zu überdenken. Insbesondere müssen auf mikroökonomischer Ebene Lage und Charakteristika des Marktgleichgewichts neu analysiert werden.
52
Arthur (1989 und 1994) wendet diese evolutorische Marktentwicklung in erster Linie auf Technologien, bzw. Technologiestandards an. Zentrale Merkmale des Modells sind positive Netzwerkexternalitäten, historische Ereignisse, (ineffiziente) lock ins und die Existenz mehrerer möglicher Gleichgewichte. Siehe hierzu auch den Beitrag von H. Walter in diesem Band.
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3.3
507
Ein neues Marktmodell
Im folgenden Modell wird angenommen, dass sich die Nachfragekurve auf einem Markt von Gütern mit positiven Netzwerkexternalitäten aus den Marktnachfragekurven zweier Haushaltstypen zusammensetzt, die sich in einem Preis-MengenDiagramm (Abb. 3) analytisch trennen lässt. Die Abszisse stellt gleichzeitig mit der Absatz- bzw. Marktmenge des Gutes die Größe des Netzwerks und auch den Zeitablauf der Netzwerkausweitung dar. Die Nutzenschätzung ist kardinal.
Abb. 3: Nachfragekurve Die Pioniernachfrager im Heußschen Sinne (Npionier) messen dem Gut einen Wert bei, der unabhängig von den Netzeffekten ist. Damit entspricht Np¡onier dem normalen bzw. inversen Verlauf der Nachfragekurve. Sie ist damit preisabhängig. Dem gegenüber bewerten alle anderen Nachfrager (Netzwerk) das Gut nur nach seinem Nutzen hinsichtlich der Ermöglichung des Netzzuganges. Die Zahlungsbereitschaft ist umso höher je größer das Netzwerk ist. NNetzwerk ist somit preisund mengenabhängig. Aus den beiden Nachfragekurven NNetzwerk und NP¡on¡er ergibt sich die Marktnachfragekurve NGesamt. Anstatt einer horizontalen Aggregation der einzelnen Nachfragekurven werden in diesem Modell bei jeder Ausbringungsmenge nur die Nachfrager mit der höheren Zahlungsbereitschaft berück-
508
Internet-Ökonomie
sichtigt. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass eine dynamische Sichtweise vorliegt, die den Zeitaspekt in Form einer Netzwerkausweitung einschließt. Deshalb wird in beiden Mengenabschnitten von N Ges amt, die unterschiedliche Marktbzw. Netzwerkphasen darstellen, jeweils nur die höhere Zahlungsbereitschaft marktwirksam.
Abb. 4: Angebotskurve Abbildung 4 zeigt einen fur diesen Markt typischen Verlauf einer Marktangebotskurve Aoesamt- Ihr Verlauf erklärt sich in einer ersten Phase aus einer Zunahme an Grenzkosten bei steigender Ausbringungsmenge (AFuE), wenn verschiedene Versionsverbesserungen vorgenommen werden müssen (learning by using).53 Die letzte Phase der Marktangebotskurve stimmt mit den niedrigen variablen Grenzkosten überein (AKv)· Es wird angenommen, dass in der Internet-Ökonomie keine Kapazitätsprobleme existieren, was mit den Eigenschaften von Informationsgütern korrespondiert. Außerdem wird unterstellt, dass die Grenzkosten in diesem Bereich sehr niedrig sind, da die immateriellen Güter beliebig und kostengünstig kopierbar sind und die materiellen Güter hohe Massenproduktionsvorteile besit53
Güter, die Teil einer Systemarchitektur sind, zeigen häufig erst Komplementaritätsmängel, wenn die ersten negativen Rückmeldungen von den Nutzern kommen. Insbesondere in der Softwareindustrie werden bewusst sogenannte Beta-Versionen an Pioniernachfrager abgegeben, die zwar keine finanziellen Kosten aber doch einen erheblichen Zeitaufwand haben und ein Systemrisiko tragen.
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zen. Die "abgerundete" Übergangsphase des Kurvenverlaufs verdeutlicht die Tatsache, dass verschiedene Anbieter unterschiedlich rasch Komplementaritäts- und Funktionsmängel ausräumen können. Während modellkonsequent jeder einzelne Anbieter eine Sprungstelle in der einzelwirtschaftlichen Angebotsfunktion aufweist, ergibt sich für die Marktangebotskurve als horizontale Addition der einzelwirtschaftlichen Angebotskurven dieser Verlauf. Die Konsequenzen der modifizierten Funktionen von Angebot und Nachfrage für etwaige Marktgleichgewichtssituationen zeigt schließlich Abbildung 5. Die Kurvenkonstellation kann zwei Schnittpunkte S und Τ aufweisen. Der Punkt S bei einer Ausbringungsmenge von qi stellt ein stabiles Gleichgewicht dar: Wird die Ausbringungsmenge als zunächst einziger Handlungsparameter der Anbieterseite neben der Differenzierungsstrategie angenommen, was mit den Annahmen eines Polypols korrespondiert, so wird jede Situation, deren Ausbringungsmenge sich zwischen qi und q2 befindet, von einem Angebotsmengenüberschuss begleitet sein. Unterstellt man den Anbietern zunächst eine sehr kurzfristige Strategiewahl, bzw. Unkenntnis über den möglichen weiteren Verlauf des Marktprozesses bei einer Ausbringungsmengenerhöhung, dann reduziert die Anbieterseite ihr Angebot; Punkt S ist das Resultat.
Abb. 5: Marktgleichgewichte
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Der zweite Schnittpunkt von Angebots- und Nachfragekurve Τ stellt einerseits ein instabiles Gleichgewicht dar, andererseits existiert bei der Ausbringungsmenge q2 ein Schwellenwert fur diesen Marktprozess. Sollte die Ausbringungsmenge diesen Wert überschreiten, wird aufgrund der hohen Wertschätzung von Seiten der Nachfrager ein neues Gleichgewicht erst bei Marktsättigung erreicht werden. Welcher Preis zwischen der Angebots- und das Nachfragekurve dann letztlich zustande kommt, hängt in erster Linie von der Marktmacht des bzw. der Anbieter ab: Je geringer die Wettbewerbsintensität ist umso höher liegt der Preis. Diese Tatsache spielt jedoch im weiteren Verlauf der Argumentation eine untergeordnete Rolle. Die Frage konzentriert sich demnach auf die mögliche Strategie der Unternehmen, bzw. eines "schnellen" Unternehmens, die Subventionierungszone zwischen S und Τ zu überwinden, um ein langfristiges Gewinnziel realisieren zu können. Gleichzeitig können einzelne Unternehmen durch hohe Investitionen in die Marktanteilsgewinnung auf ein niedrigeres Kostenniveau kommen und somit eine Monopolstellung einnehmen. Ohne auf die möglichen betriebswirtschaftlichen Strategien näher eingehen zu wollen, zeigt dieses Modellergebnis eine eindeutige Tendenz zum Monopol, das aufgrund der hohen positiven Netzwerkexternalitäten in der letzten Phase die Grenze eines prozessualen Monopols deutlich überschritten hat. Die Folgen, die sich ab der Ausbringungsmenge q2 ergeben, sind mit denen des natürlichen Monopols vergleichbar.
3.4
Vernachlässigte Imitatoren?
Das Überschreiten der Grenze des prozessualen Monopols des Marktprozesses im Arndtschen Modell korrespondiert mit dem Erreichen der kritischen Masse in der Theorie von Arthur. Sobald die Netzwerkeffekte so stark geworden sind, dass der Markt mit seinen dezentralen Akteuren in diesem Technologie- oder Standardentwicklungsstrang "gefangen" ist, stellen sich mehrere Fragen: •
Wie kann man einen Markt aus einem lock in befreien, wenn sich dieser als allokativ ineffizient herausstellt?
•
Wie kann verhindert werden, dass der entstandene Monopolist seine Marktmacht auf Kosten der Marktgegenseite ausnutzt?
•
Wie kann verhindert werden, dass es aufgrund von fehlenden Anreizen zu einer technologischen Stagnation kommt?
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Dies sind keine hypothetisch-theoretischen Fragen mehr. Seit dem Fall Microsoft sind all diese Fragen aktuell. Dieser Fall zeigt in erheblichem Maße die Notwendigkeit der Imitatoren für einen befriedigenden Wettbewerbsprozess auf: Das Unternehmen Microsoft wurde im Jahr 1975 von Bill Gates und Paul Allen gegründet. Es entwickelte als Innovator auf verschiedenen Ebenen der PCSoftware Betriebssysteme, Entwicklungsumgebungen fur Programmiersprachen und Anwendungssoftware. Nahezu sämtliche Produkte besitzen Netzwerk- bzw. Standardeigenschaften, wie sie in der Internet-Ökonomie immer häufiger auftreten. Außerdem sind sie Bestandteil einer Systemarchitektur, so dass die Programme zusätzlich einen hohen Grad an Komplementarität zu Hardwarekomponenten aufweisen. Nach dem Schlüsseljahr 1993, das den Internetboom auslöste, trat Microsoft etwas zögerlich mit einem eigenen Internet-Browser auf den Markt. Um Marktanteile gegenüber dem Hauptkonkurrenten Netscape zu gewinnen, wurde der Browser programmtechnisch eng mit dem Betriebssystem verknüpft, was eine strategisch gewollte Intensivierung der Komplementaritätsbeziehung der beiden Güter bedeutete. Die Strategie war, die bereits auf der Ebene des Betriebssystems gewonnene Standardsetzungsposition auf den Browsermarkt zu transferieren. Die Nachfrageseite hat diesen "importierten lock in" aus individuellen Nutzenerwägungen akzeptiert. Doch bereits im Mai 1998 gingen die USBundesregierung sowie 20 Einzelstaaten der USA kartellrechtlich gegen das ihrer Meinung nach missbräuchliche Ausnutzen der Marktmacht von Microsoft vor. Gegenwärtig zeichnet sich eine gerichtlich veranlasste Aufspaltung des Unternehmens ab. Am Fall Microsoft können die drei oben aufgeworfenen Fragen, bzw. die zunehmende Bedeutung von Imitatoren für den Wettbewerb aufgezeigt werden: •
Nach Meinung einer Vielzahl an Programmierexperten sind die Produkte von Microsoft nicht die effizientesten. Sowohl was die Stabilität der Betriebssysteme als auch der Speicherbedarf der Anwendungssoftware anbelangt, existieren weitaus bessere Lösungen. Trotzdem scheint der Technologieeffekt nicht auszureichen, um einen dezentralen Lösungswechsel realisieren zu können, um im Arthurschen Modelljargon zu argumentieren. Grundsätzlich existiert eine Tendenz zu natürlichen Monopolen in der Internet-Ökonomie. Starke lock in-Effekte aufgrund positiver Netzwerkexternalitäten machen eine Ablösung des Monopols jedoch sehr viel schwieriger als bei natürlichen Monopolen, die lediglich auf Massenproduktionsvorteilen beruhen. Imitatoren können diese Ineffizienz beheben. Ein Angebot von Produkten, die sich teilweise von denen des Innovators unterscheiden und dennoch die Netzwerkfunktion erfüllen, kann bezüglich anderer Merkmale effizienter sein. Ins-
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besondere wenn mehrere vergleichbare Produkte existieren, kann die Nachfragerseite die allokativ effiziente Lösung auswählen. •
Microsoft nutzte seine Marktmacht aus, indem es Betriebssystem und Browser miteinander koppelte. Auch hier zeigt sich, dass ein Innovator durch seine unternehmerische Zielsetzung stets die Tendenz hat, entsprechenden Missbrauch zu betreiben und die Netzwerkeffekte verschiedener Produkte zu koppeln, was eine Intensivierung der Bedeutung der neuen stylized facts zur Folge hat. Konkurrenz auf dem Betriebssystem-Markt hätte dies verhindern können. Wettbewerb existiert jedoch für einen Innovator nur von Seiten der Imitatoren. Doch deren Marktzutrittsschranken sind äußerst hoch. Die kritische Masse ist durch die erhöhte Diffusionsgeschwindigkeit rasch erreicht. Außerdem verursachen vielfältige und interdependente Netzwerkeffekte einen starken lock inEffekt.
•
Das Unternehmen Microsoft zeigt ebenso deutlich, wie es gleichzeitig auf dem Markt, auf dem es bereits eine Monopolstellung erreicht hat, technologisch keine Weiterentwicklung betreibt, während es auf wettbewerblichen Märkten technischen Fortschritt realisiert. Seit Beginn der 1990er Jahre wurden Standardanwendungsprogramme wie beispielsweise Word for Windows im Kern kaum mehr weiterentwickelt. Versioning war hierbei lediglich eine Strategie, den Markt abzuschöpfen. Auf dem Browsermarkt dagegen herrschte lange Zeit ein wettbewerbsintensives Dyopol. Die Akteure Netscape und Microsoft verbesserten und erweiterten ihre Produkte ständig: Kaum war eine neue (verbesserte) Version des Browsers auf dem Markt, gab es bereits eine Beta-Version der nächsten Generation. Auch wenn auf diesem Markt Microsoft eher der Imitator ist, so zeigt sich hierbei die hohe Relevanz desselben fur die Fortschrittsfunktion des Wettbewerbs.
Grundsätzlich sind demnach Imitatoren im Rahmen der veränderten Bedingungen der Internet-Ökonomie der Garant für einen Wettbewerb, der verhindert, dass unterschiedliche ökonomische, insbesondere langfristige Ziele in einer Volkswirtschaft nicht erreicht werden können.
Internet-Ökonomie
4
Fazit
4.1
Theoretische Schlussfolgerungen
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Wir haben gezeigt: Prinzipiell existieren in der Internet-Ökonomie ausreichend Anreize bzw. Zwänge zur Innovation. Die Gefahr jedoch, die kritische Masse hinsichtlich Marktanteil zu erreichen, bzw. dass ein Unternehmen den Punkt Τ (vgl. Abb. 5) erreicht oder ein absolutes Monopol entsteht, ist sehr hoch. Damit erhöht sich ebenso die Wahrscheinlichkeit der ineffizienten lock ins und der Absenz von Wettbewerb mit allen Konsequenzen. Beide Zustände sind nicht im Interesse einer Wirtschaftspolitik, die Allokations-, Fortschritts-, Verteilungs- und Freiheitsziele hat. Zwar bedeutet das Erreichen der kritischen Masse kurzfristig ein maximales Nutzenniveau auf Nachfragerseite, jedoch bedeutet diese Situation hohe Marktzutrittsschranken fur potenzielle Newcomer. Damit ist der potenzielle Wettbewerb faktisch unterbunden, was die Gefahr des Marktmachtmissbrauchs erhöht und die Fortschrittsfunktion des Wettbewerbs verhindert. Generell kann hier von einem Marktversagen gesprochen werden; ein allokativ optimales Ergebnis wird ohne wirtschaftspolitisches Eingreifen nicht erreicht.
4.2
Politische Implikationen
Eine Möglichkeit, absolute Monopole zu verhindern, ist der Schutz bzw. die Förderung von Imitatoren. Dadurch bewegt sich die Marktstruktur zwischen den Modellgrenzen des prozessualen Isopols und des prozessualen Monopols. Dabei ist zu beachten, dass dem Marktversagen die Gefahr des Politikversagens gegenübersteht: Zum einen muss zunächst die Frage nach den Bewertungskriterien bzw. Indikatoren einer derartigen Entwicklung gelöst werden, was zum Teil mit großem Bedarf an Know-how verbunden ist. Zum anderen sind die Fragen zu klären, wann, wie und bei wem einzugreifen ist.54 Die Frage des "Wann" ist wiederum mit zwei verschiedenen Aspekten verknüpft: Erstens; soll diskret oder regelgebunden eingegriffen werden? Zweitens; wann ist die kritische Masse erreicht? Letzteres hängt in der New Economy nicht nur von technologischen sondern ebenso von sozialen und standardbezogenen Effekten 54
Im aktuellen Hauptgutachten wird die Monopolkommission auf die veränderten Tatbestände einer Internet-Ökonomie eingehen: Insbesondere wird die Gefahr erkannt, dass es durch den Netzcharakter in verschiedenen Bereichen rascher zur Herausbildung marktstarker Unternehmen kommen kann.
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ab. Außerdem ist zu befurchten, dass das Informations- und Wirkungs-Lag bei der rasanten Marktentwicklung eine große Rolle spielt, wenn politische Maßnahmen eventuell zu spät greifen und damit u.U. wirkungslos sind. Verschärft wird dieses Problem, wenn die Notwendigkeit einer Prognose besteht. Diese existiert sehr wahrscheinlich in nahezu allen Fällen. Gerade weil es sich in diesen sensiblen Entscheidungssituationen um Neues handelt, ist eine Vergleichbarkeit in den seltensten Fällen gegeben. Die Frage des "Wen" konzentriert sich auf die Wahl der Alternativen Innovator oder Imitator: Soll der Imitator subventioniert werden - oder gar der Innovator sanktioniert werden? Aus unserem Verständnis der Leistungsgerechtigkeit scheinen beide Maßnahmenkategorien überspitzt - wenn nicht gar mit unserem Werteverständnis unvereinbar. Trotzdem sind es logische Konsequenzen aus der oben dargelegten Argumentationskette. Selbst wenn diese "Hürde" genommen ist, stellt sich die Frage, wie eine Bestrafung eines Innovators mit dem gesellschaftlichen Freiheitsziel einer Marktwirtschaft vereinbar ist, ohne dabei zahlreiche andere Gesetze - auch auf Verfassungsebene - zu verletzen. Vergleichsweise einfach sind die Überlegungen zu einer Förderung der Imitatoren. Hierzu bedarf es insbesondere einer zeitlich anpassungsfähigen Definition der Bereiche bzw. Sektoren, in welchen die Gefahr eines absoluten Monopols existiert, einer Überprüfung der potenziellen Leistungsfähigkeit der Imitatoren und einer Entscheidung über die Form und das Ausmaß der Förderung. Hierbei befinden sich die politischen Entscheidungsträger stets auf einer Gratwanderung, denn ein gegenwärtiger Imitator kann eventuell mit verbesserten Startbedingungen ein zukünftiger Innovator sein, der wiederum gebremst werden muss. Die problematischste Frage ist und bleibt jedoch die Methodik des politischen Eingreifens. Sowohl Arndt und Clark als auch Herdzina konstatieren gleichermaßen, dass das Vorstoß- und Verfolgungsverhalten in gleichem Maße fur den Wettbewerbsprozess von Bedeutung sind. Der kreative, agierende Akteur ist in langfristiger bzw. dynamischer Perspektive dafür verantwortlich, dass mit Hilfe von Produktund/oder Prozessinnovation sowohl dem Allokationsziel als auch dem Wohlfahrtsziel Rechnung getragen wird. Die Imitatoren verhindern durch ihre Reaktion eine absolute Monopolstellung des Pionierunternehmers. Sie realisieren damit das Allokations- und Verteilungsziel in kurzfristiger Hinsicht.
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Der Gesetzgeber zog in der Vergangenheit die Schlussfolgerung, dass der Innovator schützenswert ist. Die Existenz des Patentschutzes zeigt diese Neigung deutlich. Diese wettbewerbsrechtliche Maßnahme stellt einen ökonomischen Anreiz für Unternehmen dar, Inventionen in Innovationen umzusetzen. Damit wird dem Markt in dieser Hinsicht ein Versagen unterstellt. Im eingangs erwähnten Fall von Amazon.com haben wir jedoch gesehen, dass hier der Patentschutz eher Politikversagen denn Marktversagen ist.
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Literatur Arndt, H. (1952), Schöpferischer Wettbewerb und klassenlose Gesellschaft, Berlin Arndt, H. (1976), Kapitalismus, Sozialismus, Konzentration und Konkurrenz, Tübingen Arthur, W.B. (1989), Competing Technologies, Increasing Returns, and Lock-In by Historical Events, in: Economic Journal, 99, S. 116-131 Arthur, W.B. (1994), Increasing Returns, and Path Dependence in the Economy, Ann Arbor Clark, J.M. (1954), Competition and the Objectives of Government Policy, in: Chamberlin, E.H. (Hrsg.), Monopoly and Competition and their regulation, London, S. 324-328, wiederabgedruckt in: Herdzina, K. (Hrsg), Wettbewerbstheorie, Köln 1975, S. 269-274 Cox, H./Hübener, H. (1981), Wettbewerb. Eine Einführung in die Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, in: Cox, H./Jens, U./Markert, K. (Hrsg.), Handbuch des Wettbewerbs, München, S. 3-48 v. Hayek, F.Α. (1968), Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kiel Herdzina, K. (1975), Einleitung - Zur historischen Entwicklung der Wettbewerbstheorie, in: Herdzina, K. (Hrsg.), Wettbewerbstheorie, Köln, S. 15-28. Herdzina, K. (1981), Wirtschaftliches Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb, Berlin Herdzina, K. (1999a), Einführung in die MikroÖkonomik, 6.Aufl., München Herdzina, K. (1999b), Wettbewerbspolitik, 5. Aufl., Stuttgart Heuß, E. (1965), Allgemeine Markttheorie, Tübingen Hohensee, M. (2000), Patente gegen Wettbewerb, in: Wirtschaftswoche Nr. 13; 23.3.2000, S. 130 Kaufer, E. (1970), Patente, Wettbewerb und technischer Fortschritt, Bad Homburg
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Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2000
Funktionsbeeinträchtigungen des Arbeitsmarktes und internationale Herausforderungen Egon Görgens
1
Der ungeräumte Arbeitsmarkt
In einer marktwirtschaftlichen Ordnung fällt Märkten die Aufgabe zu, Bedingungen herauszufinden, die Angebot und Nachfrage ausgleichen. Entscheidende Voraussetzung hierfür ist die Flexibilität von Mengen und Preisen. Konkret bedeutet dies beispielsweise, dass Nachfragerückgänge oder Preiserhöhungen bei kurz-fristig nicht substituierbaren Gütern unter Wettbewerbsbedingungen dazu fuhren, dass die hiervon betroffenen Besitzer von Produktionsfaktoren ihre Einkommensansprüche absolut oder relativ zurückschrauben müssen. Flexible Preisreaktionen reduzieren zum einen das Ausmaß mengenmäßiger Anpassungslasten und bewirken zum anderen über Änderungen der relativen Preise eine Reallokation der Produktionsfaktoren. Sind die Preise infolge mangelnden Wettbewerbsdrucks hingegen nicht flexibel, wird der Druck auf Güter- und Faktormengen stärker; Arbeitslosigkeit und/oder Kapitalabbau sind die Folge. Gewiss hängt die Art der Verarbeitung von Datenänderungen in einem marktwirtschaftlichen System von einer Reihe zusätzlicher Bedingungen ab. Unternehmen könnten etwa versuchen, die Anpassungslasten über Güterpreiserhöhungen auf die Konsumenten abzuwälzen; die unmittelbaren Folgen für den Auslastungsgrad der Produktionsfaktoren hängen dann maßgeblich vom Verhalten der monetären Instanzen ab. Auch fehlende Einkommensabstriche der Arbeitnehmer müssen nicht notwendigerweise zu Arbeitslosigkeit führen, sofern Umverteilungsspielräume zu Lasten der Kapitaleigentümer genutzt werden können. Doch auch solche Modifikationen marktwirtschaftlicher Anpassungsprozesse ändern nichts an dem Grundsachverhalt, dass die Beeinträchtigung des marktwirtschaftlichen Koordinationsmechanismus durch Preisstarrheiten (nach unten) Mengenänderungen bewirkt, die sich auf dem Arbeitsmarkt in der Arbeitslosenquote niederschlagen. Gegenüber der hier implizit angedeuteten These, dass eine wichtige Ursache der Nichtbewältigung der Arbeitsmarktprobleme in der Beeinträchtigung des marktwirtschaftlichen Koordinationsverfahrens zu sehen und diese wiederum maßgeblich auf die Aushöhlung marktlicher Funktionsbedingungen zurückzuführen ist,
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Ungeräumter Arbeitsmarkt
wird nicht selten eine Sonderstellung des Arbeitsmarktes reklamiert.1 Das Angebots-Nachfrage-Schema sei zwar ein geeignetes Instrumentarium zur Analyse des Gütermarktes, auf Arbeitsmärkte sei es hingegen, infolge "struktureller Abhängigkeit der Arbeitnehmer von den echten Arbeitsplatzeigentümern" 2 , nicht anwendbar. Die bekannten Folgen von Wettbewerbsbeschränkungen auf Gütermärkten etwa durch Preiskartelle oder staatliche Regulierungen und Interventionen könnten deshalb auch nicht auf Arbeitsmärkte übertragen werden. Selbstverständlich ist Arbeitskraft kein beliebiges Gut, da die Träger der Arbeitsleistungen Menschen sind, deren Entscheidungen von vielfaltigen Handlungseinflüssen und Zielvorstellungen gesteuert werden. Die dadurch wahrscheinliche Komplexität verhaltensrelevanter Faktoren mag Einschränkungen begründen, schließt jedoch nicht grundsätzlich aus, dass die Markttheorie auch Phänomene des Arbeitsmarktes zutreffend erklärt. Wenn ein Kartell den Preis eines Gutes anhebt, geht die Nachfrage zurück, und die Kapazitäten der Kartellmitglieder werden nicht ausgelastet. Das Ausmaß des Nachfragerückgangs und der Unterauslastung der Kapazitäten ist zudem davon abhängig, inwieweit die Nachfrager auf Substitute ausweichen können. Es ist nicht einsichtig, warum solche Zusammenhänge nicht analog für den Arbeitsmarkt gelten sollen. Wenn das Preiskartell der Tarifparteien am Arbeitsmarkt den Lohn über das markträumende Niveau anhebt, entsteht Arbeitslosigkeit. Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit hängt neben dem primären Nachfrageeffekt zusätzlich noch vom Substitutionseffekt infolge veränderter Faktorpreisrelationen zugunsten des Faktors Kapital ab. In welch großem Umfang die Markträumungsfunktion seit Mitte der siebziger Jahre in Deutschland - und vielen anderen Ländern - nicht erfüllt ist, soll nur mit wenigen Daten zur jüngsten Entwicklung in Erinnerung gerufen werden. Im Jahre 1991 waren 2,6 Mio. Personen als arbeitslos gemeldet, 1998 lautete die Zahl 4,3 Mio. - und für 1999 ist mit keiner wesentlich geringeren Zahl zu rechnen. Dies bedeutet einen Anstieg der Arbeitslosenquote (registrierte Arbeitslose in Prozent aller Erwerbspersonen) von 6,7% (1991) auf 11,1%. Hinter diesen gesamtdeutschen Durchschnittsziffern verbergen sich erhebliche Unterschiede zwischen den neuen und alten Bundesländern, und zwar aktuell 18,2% in den neuen und 9,4% in den alten Bundesländern. 3 Die Misere am Arbeitsmarkt wird noch unterstrichen durch die sogenannte Stille Reserve. (Diese besteht - laut Definition des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be-
1 2 3
Rothschild (1986), S. 434; Hardes (1988), S. 59; Hickel (1989), S. 16 ff. Hickel (1989), S. 21. Zu den statistischen Daten siehe Bundesanstalt für Arbeit (1999), S. 16-19.
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rufsforschung - aus den Personen, die nicht arbeitslos gemeldet sind, aber unter gegebenen oder günstigeren Bedingungen arbeiten möchten.) Die Zahl dieser Personen hat sich nach Schätzungen des IAB 4 seit 1991 nahezu verdoppelt und wird für 1998 mit 1,5 Mio. angegeben. In den neuen Bundesländern belief sich die Zahl auf über 400.000. Nimmt man noch die rund 700.000 Personen hinzu, die 1998 durch arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen (Bildungsmaßnahmen, Vorruhestand u.a.) aufgefangen wurden, würde sich die (fiktive) Arbeitslosenzahl in Deutschland insgesamt auf 6,9 Mio. erhöhen, was einer Arbeitslosenquote von über 17,0% entspräche. Hiermit soll nicht gesagt werden, dass diese Arbeitslosenquote die statistisch eigentlich richtige wäre. Die ergänzenden Schätzungen erscheinen jedoch als Gegengewicht zu gelegentlichen Behauptungen geeignet, die offizielle Arbeitslosenquote würde das tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit wesentlich überzeichnen. Die globalen Zahlen verdecken selbstverständlich unterschiedliche Betroffenheiten (z.B. von Frauen, Ausländern, älteren Arbeitnehmern). Erwähnt sei hier nur eine qualitative Dimension, die die sklerotischen Verhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt unterstreicht, die Langzeitarbeitslosigkeit (ein Jahr oder länger arbeitslos). Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit 5 waren 1998 1,52 Mio. Personen länger als ein Jahr arbeitslos, was einen Anteil an der Gesamtzahl der Arbeitslosen von 36% ausmacht. Im Jahr 1992 waren es noch 750.000 Personen und ihr Arbeitslosenanteil belief sich auf 25%. Nimmt man nur die Entwicklung in Westdeutschland, so hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen von 1980 (rund 106.000 Personen) bis 1998 verzehnfacht. 6 Es bedarf keiner näheren Erläuterung, dass es für die Beschaffenheit des Arbeitsmarktes einen fundamentalen Unterschied macht, ob etwa 1 Mio. Personen dauerhaft oder nur wenige Monate arbeitslos sind. Dass diese hohe Arbeitslosigkeit und der wachsende Sockel von Langzeitarbeitslosen - wie es scheint - heftige Unmutsäußerungen nur bei neuen "Rekorden" hervorrufen, ist ein erstaunliches Phänomen. Vor fünfundzwanzig Jahren hätte man sich Arbeitslosigkeit von über 3 Mio. Personen in Westdeutschland ohne gravierende gesellschaftliche Unruhen wohl kaum vorstellen können. Der sukzessive Anstieg der Arbeitslosigkeit wird aber nahezu klaglos hingenommen; wesentliche Korrekturen an den Funktionsbedingungen des Arbeitsmarktes werden nicht ergriffen, und dass sich diese Bedingungen noch zunehmend verschlechtern könnten, wird nicht zur Kenntnis genommen. Offenbar ist der Leidensdruck noch nicht
4 s 6
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) (1996), S. 25 und (1999), S. 28. Bundesanstalt fur Arbeit (1999), S. 56 und S. 155. Zu den Daten siehe Bundesanstalt für Arbeit ( 1999), S. 56.
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hoch genug. Neben Gewöhnungseffekten dürfte für die Ruhe eine Rolle spielen, dass immerhin bald 90% der Erwerbspersonen beschäftigt sind. Die Outsider sind gegenüber den Insidern nicht nur eine relativ kleine Minderheit, sondern sie verschaffen den Insidern noch einen Einkommensvorteil dadurch, dass sie nicht am Tarifverhandlungstisch sitzen. Ein weiterer wichtiger Grund für die gesellschaftliche Ruhe ist im sozialen Netz zu sehen, das bislang gehalten hat. Diese sozialpolitisch vielleicht günstigen, unter beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten aber keineswegs zweifelsfrei als positiv anzusehenden Ausgangsbedingungen des Arbeitsmarktes können nicht fortgeschrieben werden. Die bei Beibehaltung des Systems absehbaren Belastungen schon allein als Folge des demographischen Wandels werden sich schließlich in den Arbeitskosten niederschlagen und können in einen Teufelskreis von Arbeitslosigkeit und Beitragserhöhungen einmünden. Geänderte Ausgangsbedingungen werden auch von der außenwirtschaftlichen Seite bewirkt. Diese sind nicht grundsätzlich neu, doch werden sich die hieraus resultierenden Anpassungsprobleme infolge der Europäischen Währungsunion, der möglichen Erweiterung um mittel-ost-europäische Länder sowie der weltweit zunehmenden Vernetzung verschärfen.
2
Arbeitslosigkeit als Folge ausgehöhlter Funktionsbedingungen des Arbeitsmarktes
Da angesichts der über zweieinhalb Jahrzehnte fortdauernden, treppenförmigen Zunahme der Arbeitslosigkeit konjunkturelle Faktoren als maßgebliche Ursache entfallen, stehen neben strukturellen Diskrepanzen Arbeitskosten und deren Beeinflussung durch die Tarifparteien im Vordergrund der Diskussion. Deren Beschäftigungsbedeutung soll nicht bestritten werden, doch sind für die Misere am Arbeitsmarkt weder die Tarifparteien allein verantwortlich, noch ist im alleinigen Ansatz bei den Arbeitskosten eine Lösung des Beschäftigungsproblems zu sehen. Wenn etwa im Zuge verstärkter weltwirtschaftlicher Integration Schwellenländer zunehmend in angestammte Märkte der Industrieländer einzudringen versuchen, ist den hierdurch bedingten Beschäftigungsproblemen primär mit verbesserten Leistungen/Produkten zu begegnen anstatt mit Lohnsenkungen und/oder Entlassungen. In Umkehrung der als beschäftigungspolitische Daumenregel ja nicht unvernünftigen produktivitätsorientierten Lohnpolitik ließe sich eine lohn- und beschäftigungsorientierte Produktivitätspolitik als Maxime formulieren, die Spielräume für Lohn- und Beschäftigungserhöhungen eröffnet. Diese Perspektive sollte jedenfalls nicht aus dem Auge verloren werden.
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Die Beschäftigungsrelevanz der Handlungsergebnisse der Tarifparteien bleibt selbstverständlich gewichtig. Mit ihren Vereinbarungen über die (realen) Arbeitskosten haben sie die quantitativ wichtigste Kostendeterminante des Beschäftigungsniveaus in der Hand. Dies gilt selbst für den Fall, dass die Tarifparteien die Arbeitslosigkeit nicht verursacht haben. Angesichts der Arbeitsmarktsituation sind deshalb Aussagen wie, die Tarifautonomie habe sich bewährt 7 , erstaunlich. Die autonomen Tarifparteien haben offenkundig nicht die zur Bewältigung der Beschäftigungsprobleme erforderlichen Beschäftigungsbedingungen ausgehandelt. Auf die Rolle der Tarifparteien soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 8 Dass die Institution der Tarifautonomie ein grundsätzlich untaugliches Instrument zur Bewältigung von Arbeitsmarktproblemen sein soll, kann schwerlich gesagt werden; denn offenbar waren Phasen der Vollbeschäftigung und sogar Überbeschäftigung bei im Kern gleichbleibender rechtlicher Ausgestaltung möglich. In Deutschland dürften vielmehr vielfaltige institutionelle Bedingungen sowie rechtliche, wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen insbesondere seit Mitte der sechziger Jahre die beschäfitigungssichernde Anpassungsfähigkeit der Arbeitsmärkte an geänderte Angebots- und Nachfragebedingungen unterminiert und damit zur (dauerhaften) Arbeitslosigkeit maßgeblich beigetragen haben. Die tiefere Ursache für die beschäftigungsschädlichen Wirkungen besteht darin, dass elementare marktwirtschaftliche Funktionsbedingungen und die in diesem System üblichen Rückkopplungseffekte vernachlässigt wurden. Die allgemeine Ausgangshypothese lautet also: Die Einbettung des Arbeitsmarktes in den gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang beziehungsweise der Arbeitsmarktordnung in die Wirtschafts- und Sozialordnung wurde nicht hinreichend berücksichtigt. Die Nichtbeachtung dieser Interdependenzen (der Ordnung) ist nicht nur für die Fehlsteuerungen verantwortlich, die zur hohen Dauerarbeitslosigkeit führten, sondern erhöht noch den Problemdruck der aktuellen europa- und weltweiten Entwicklungen. Das verstärkte Herauslösen des Arbeitsmarktes (der Arbeitsmärkte) aus der für die Marktwirtschaft konstitutiven Wettbewerbsordnung soll anhand einiger Beispiele aufgezeigt und in seiner Beschäftigungsbedeutung in den letzten Jahrzehnten zu verdeutlichen versucht werden. Um die Bedeutung des Herauslösens abzuschätzen, sei daran erinnert, dass die Tarifautonomie unkonditioniert ist, die Tarifparteien also Arbeitsbedingungen aushandeln, ohne dass sie - wie etwa (früher)
7 8
Reimann (1997), S. 418. Vgl. Görgens (1997), S. 385 ff.
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Ungeräumter Arbeitsmarkt
die Deutsche Bundesbank oder die Europäische Zentralbank auf das Ziel Preisniveaustabilität - auf ein Stabilitäts- und Beschäftigungsziel fixiert wären oder für Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt vermögenswirksam einstehen miissten. 2.1
Geld- und fiskalpolitische Nachfragesteuerung
Eine prominente Rolle im beschäftigungspolitischen Verständnis nimmt weiterhin die Nachfragesteuerung ein. Sofortiges Gegensteuern bei einem konjunkturellen Nachfrageeinbruch kann eine geeignete beschäftigungspolitische Strategie sein, um keynesianische Arbeitslosigkeit nicht durch Verfestigungstendenzen in klassische Arbeitslosigkeit übergehen zu lassen. Der Erfolg wird jedoch vereitelt, wenn die geld- und fiskalpolitische Nachfragestützung von den Tarifparteien als Lohnerhöhungsspielraum genutzt wird. Ein solches Verhalten wird begünstigt, wenn der Staat die Tarifparteien aus den für eine Marktwirtschaft konstitutiven Bindungen, konkret also aus der Beschäftigungsverantwortung entlässt und die Vollbeschäftigungsverpflichtung selbst übernimmt, wie dies in Deutschland im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 bekanntlich geschehen ist.9 "Vollbeschäftigung" als wirtschaftspolitisches Ziel ist selbstverständlich keine Erfindung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, sondern gehörte bereits vorher zu den unverzichtbaren Bedingungen der Sozialen Marktwirtschaft. Mit seiner prozesspolitischen Orientierung, Beschäftigungspolitik als Aufgabe des Demand Managements zu begreifen, stellt es jedoch eine Kehrtwendung zum wirtschaftspolitischen Verständnis Erhards dar, der Ordnungspolitik als vorrangiges Problemlösungsverfahren ansah. Vollbeschäftigung ist aus dieser Sicht nicht durch aktive Beschäftigungspolitik, sondern als Ergebnis einer auf langfristige Kapitalbildungsprozesse einwirkenden Ordnungspolitik anzustreben.10
2.1.1
Ernüchternde Bilanz
Ohne hier auf die grundsätzliche beschäftigungspolitische Sinnhaftigkeit diskre tionärer Nachfragesteuerung eingehen zu wollen, die "stilisierten Fakten" zur jüngeren Beschäftigungsentwicklung in Deutschland unterstreichen die Skepsis. Die
9
10
Im § 3 StabWG ist zwar vorgesehen, daß die Bundesregierung im Fall der Gefahrdung eines der wirtschaftspolitische Ziele den Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmensverbänden Orientierungsdaten für ein gleichzeitiges, abgestimmtes Verhalten (konzertierte Aktion) zur Verfügung stellt. Da die Tarifautonomie nicht angetastet werden sollte, blieben die Orientierungsdaten aber völlig unverbindlich und hatten nicht einmal den Charakter von Lohnleitlinien, Schlesinger (1977), S. 505. Wünsche (1994), S. 164.
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zuweilen hochgepriesene Phase der deutschen Wirtschaftspolitik seit Ende der sechziger bis Anfang der achtziger Jahre als die einer der aktiven Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik mit nachfragestützenden beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischen Sonderprogrammen' 1 war über alles gesehen in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands eine Phase mit Rekorden bei den Zuwachsraten der Nominallöhne und der Lohnstückkosten sowie bei der Erhöhung der Arbeitslosenquote.12 Dass der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit "erst" Mitte der siebziger Jahre einsetzte, ist der vorausgegangenen Überbeschäftigung - 1969/70 standen 160.000 Arbeitslosen 770.000 offene Stellen gegenüber13 - und dem Polster in Form der angewachsenen Lohndrift, das die Unternehmen Anfang der siebziger Jahre auf nahezu Null abbauten 14 , zu verdanken. Hinzu kam die drastische Ausdehnung der Beschäftigung beim Staat. Während von 1970 bis 1975 die Beschäftigung insgesamt um 1% wuchs, betrug der Beschäftigungsanstieg beim Staat mit zusätzlichen 600.000 Personen 20%.' Die bereits deutlichen Beschäftigungsprobleme im Marktbereich wurden hierdurch überdeckt und von der Öffentlichkeit zunächst kaum wahrgenommen. Gewiss gingen für die Beschäftigungsproblematik wichtige Anstöße von außenwirtschaftlichen Einflüssen aus (Ölkrise Ende 1973), die außerhalb des Einflussbereichs der Tarifparteien lagen. Deren eklatantes Fehlverhalten - der Staat war als unmittelbar verantwortlicher Verhandlungspartner Mitinitiator - ist jedoch angesichts der mit der staatlichen Globalsteuerung durchbrochenen ordnungspolitischen Aufgabenzuweisung durchaus konsequent. Insbesondere in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wurde eine Fülle sogenannter Beschäftigungsprogramme auf den Weg gebracht. Die Deutsche Bundesbank akkommodierte sie mit 10%igen Geldmengenzuwachsraten, um dann Anfang der achtziger Jahre das geldpolitische Ruder herumzuwerfen und mit einer Halbierung der Geldmengenzuwachsrate einen Restriktionskurs einzuschlagen 16 , der in einer Stabilisierungskrise endete. Der 1983 eingeschlagene Versuch eines Konsolidierungskurses und der Rückführung von Staatsquote und Inflationsrate, der von Kritikern wie Engelen-Kefer 17 1 2 3 4 5 6 7
Engelen-Kefer ( 1995), S. 432 ff. Görgens (1997), S. 406. Sachverständigenrat ( 1997), S. 317. Franz (1991), S. 265. Sachverständigenrat ( 1997), S. 3 21. Deutsche Bundesbank (1995), S. 82. Engelen-Kefer (1995), S. 457 f.
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als Verteilungsänderung zugunsten der Unternehmen, Sozialabbau, Erosion von Normalarbeitsverhältnissen und Rückzug des Staates aus seiner Beschäftigungsverantwortung charakterisiert wird, hatte nicht die befürchteten Beschäftigungseinbrüche zur Folge. Zwar sank bis 1990 die Arbeitslosenquote nur mäßig, doch immerhin ging Ende der achtziger Jahre die Langzeitarbeitslosigkeit zurück, und die Beschäftigung stieg in dieser Zeit um fast 2 Mio. Personen. Außer makropolitischer Stabilisierung wurde in dieser Phase auch ordnungspolitisch eine Rückbesinnung auf die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft versucht: Die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und Unternehmen, Rückführung von Subventionen und Staatsquote, Abbau hoheitlicher Beschränkungen der Gewerbe- und Vertragsfreiheit. 18 Anfang der neunziger Jahre setzte mit der Wiedervereinigung erneut eine Kehrtwende ein. Diese politische Umbruchphase war gewiss schwierig, doch wie weit man in der Exkulpation politischer Fehleinschätzungen und des durch die Politik begünstigten Fehlverhaltens der Tarifparteien auch gehen mag, der gewaltige Nachfrageschub durch den Wiedervereinigungsboom hat - von den besonderen Problemen in den neuen Bundesländern sei abgesehen - (auch) in Westdeutschland keine nachhaltig positiven Beschäftigungseffekte hinterlassen.
2.1.2
Ein neuer Anlauf
Gegenüber den hier vertretenen Zweifeln an dauerhafter Beschäftigungswirksamkeit der Nachfragesteuerung wird in jüngerer Zeit nicht selten der Deutschen Bundesbank ein erhebliches Verschulden der Arbeitslosigkeit in Deutschland und - über die Bindung der Geldpolitik von Mitgliedsländern der Europäischen Union an die der Bundesbank - auch anderer europäischer Länder zugewiesen. Die Europäische Zentralbank sah sich um die Jahreswende 1998/99 und Anfang 1999 ähnlichen Pressionen ausgesetzt. Als empirische Stütze wird auf den statistisch engen negativen Zusammenhang zwischen Investitionsquote und Arbeitslosenquote hingewiesen 19 und fur die beschäftigungspolitisch "zu niedrigen" Investitionsquoten eine zu restriktive Geldpolitik verantwortlich gemacht. Heises These, dass "die Entwicklung des Arbeitsvolumens zu über 80 v. H. [...] durch die Entwicklung der Investitionstätigkeit bestimmt (wird)"20 ist jedoch Vorbehalten ausgesetzt, weil für von seiner Untersuchungsperiode (1970 bis 1992) abweichende Zeiträume die Zusammenhänge weitaus weniger eng sind, unterschiedliche Verläufe hinsichtlich Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit vor-
18 19 20
Schüller (1993), S. 1915. Heise (1996), S. 202; (1997) und S. 765 f. Heise (1997), S. 765.
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liegen und schließlich im internationalen Querschnitt der OECD-Länder für 1990 und 1995 Arbeitslosenquoten nur zu 26% mit unterschiedlichen Investitionsquoten "erklärt" werden können.21 Auch der zweite Teil seiner Hypothese einer "über lange Zeiträume der achtziger Jahre [...] übermäßig restriktiven Geldpolitik"22, ist fraglich. Es trifft zwar zu, dass die Bundesbank 1980 den Diskontsatz (Heises Maßstab) drastisch erhöhte und das Niveau von über 7% auch in den beiden folgenden Jahren beibehielt. Für den Rest der achtziger Jahre bewegte er sich aber zwischen 3% und 4%. Ob man die hohen nominalen Diskontsätze Anfang der achtziger Jahre, die real jedoch nur 1,5% bis 2% bedeuteten, als Ausdruck langdauernder, übermäßig restriktiver Geldpolitik bezeichnen will, sei dahingestellt. Zutreffender wäre es, für die Phase Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre von einem konjunktur- und beschäftigungspolitisch orientierten geldpolitischen Wechselbad zu sprechen. Mit der Behauptung der geldpolitisch bedingten Investitions- und Beschäftigungsschwäche eng verwandt ist eine in jüngerer Zeit insbesondere von Akerlof/ Dickens/Perry 23 und anderen verfochtene These einer Wachstums- und Beschäftigungsbeeinträchtigung durch "zu starke" Inflationsbekämpfung. 24 Es handelt sich hier allerdings nicht um die Befürwortung eines diskretionären Nachfrageaktionismus und auch nicht um die einfache Wiederbelebung der alten PhillipsKurven-Diskussion eines (langfristigen) trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit. Es geht vielmehr darum, ob die (in den Industrieländern) in den letzten Jahren bereits realisierten niedrigen Inflationsraten von 3% und weniger geldpolitisch noch weiter nach unten gedrückt werden sollen. Lohnt sich die Beseitigung dieser Restinflation? Dem "grease-effect" im Sinne von Anpassungserleichterungen bei niedrigen Inflationsraten wird ein inflationsbedingter "sandeffect" in Form von Produktions- und Beschäftigungseinbußen gegenübergestellt.25 Akerlof et al. behaupten nun, dass der "grease-effect" dominiert, geldpolitisch ermöglichte mäßige Inflationsraten mithin ein geeignetes Schmiermittel seien, um die negativen Beschäftigungskonsequenzen nach unten starrer Nominallöhne nicht auf die Reallöhne durchschlagen zu lassen.
21 22 23 24
25
Görgens (1999a), S. 163. Heise (1996), S. 202. Akerlof/Dickens/Perry (1996). Ob die leicht inflationär wirkende geldpolitische Schaffung eines ständigen Nachfrageüberhangs ein geeignetes wachstumspolitisches Instrument sein könnte, wurde bereits Anfang der sechziger Jahre intensiv diskutiert. Vergleiche hierzu E. Dürr (1977), S. 198 f. Eingehend hierzu Thuy ( 1998).
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Ob die Phillips-Kurve im Bereich niedriger Inflationsraten tatsächlich nach rechts abknickt und ob die Nicht-Linearitäts-These zutrifft, dass die Kosten einer Inflationsrate von 3% deutlich niedriger seien als ein Drittel der Kosten einer Inflationsrate von 9%, sei zunächst dahingestellt. Diese Überlegungen bilden jedenfalls den theoretischen Hintergrund der von Krugman, aber auch noch Modigliani und Tobin in Deutschland vorgetragenen Kritik an der Deutschen Bundesbank - und in ihrem Gefolge an anderen europäischen Zentralbanken -, mit ihrer "zu restriktiven" Geldpolitik die Funktionsbedingungen des Arbeitsmarktes zu beeinträchtigen, so dass die (Beschäftigungs-) Kosten der Preisstabilität mittlerweile die (Beschäftigungskosten) der (niedrigen) Inflationsraten überstiegen. Die weniger harte geldpolitische Linie in den USA, die mit dem Wechsel vom Geldmengenziel zu einer stärkeren Anlehnung an ein Inflationsziel verbunden wird, habe maßgeblichen Anteil an den dortigen Beschäftigungserfolgen. 26 Ist vor diesem Hintergrund die europäische Diskussion über die dauerhafte Einhaltung der Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrags und die Rolle, die der Europäischen Zentralbank hierbei zufällt, nicht reichlich antiquiert? Gegenüber einer voreiligen Rezeption der "neuen" Botschaft ist Vorsicht geboten. © Selbst wenn für die USA die positive Beschäftigungsbedeutung niedriger Inflationsraten empirisch fundiert sein sollte, muss das nicht unbedingt für andere Länder gelten. Tödter und Ziebarth 27 haben Schätzungen vorgelegt, wonach eine Senkung der durchschnittlichen Inflationsrate in Deutschland von 3,3% (1991 und 1995) um zwei Prozentpunkte mit einem (permanenten) Zugewinn in Höhe von 1,4% des Bruttoinlandsprodukts verbunden ist. Dieser positive Saldo lässt zumindest die allgemeine Übernahme US-amerikanischer Befunde in Zweifel ziehen. ©Ohne hier auf die Diskussion Geldmengen- versus Inflationsziel näher eingehen zu wollen, die US-amerikanischen Kritiker scheinen das geldpolitische Konzept der Deutschen Bundesbank und der Europäischen Zentralbank nur unzureichend zu kennen. Offenbar wird übersehen, dass in der Geldmengenvorgabe außer der Veränderung des Produktionspotentials und der trendmäßigen Kassenhaltung eine Inflationsmarge eingebaut ist. Eine Null-Inflation, die von den Kritikern als Ziel suggeriert wird, ist mithin im Geldmengenkonzept gar nicht enthalten. (Die Europäische Zentralbank legt derzeit für den Referenzwert des Geldmengenwachstums von 4,5% einen Anstieg des Verbraucherpreisindex von bis zu 2% zugrunde). Wenn die tatsächliche Inflationsrate die einkal-
26 27
Kritisch hierzu Thuy (1998). Tödter und Ziebarth (1997).
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kulierte Inflationsmarge unterschreitet, entsteht zudem über die reale Geldmenge ein expansiver Nachfrageeffekt. Im übrigen zeigt sich, dass die Zielgröße der europäischen Zentralbanken, die ein Inflationsziel verfolgen beziehungsweise verfolgten, der Inflationsmarge der Zentralbanken mit einem Geldmengenziel praktisch entspricht.28 ®Thuy 2 9 warnt schließlich vor der Übertragbarkeit auf europäische Arbeitsmarktverhältnisse. In der Tat erscheint es wenig wahrscheinlich, dass in den vergleichsweise zentralen europäischen TarifVerhandlungen niedrige Inflationsraten - auch wenn sie niedrig sind - "übersehen" würden. Die stärkere Integration des US-amerikanischen Arbeitsmarktes in die marktwirtschaftliche Ordnung darf als wesentliche Funktionsbedingung und damit auch des Beschäftigungserfolges nicht außer acht gelassen werden. Vielleicht ist in den US-amerikanischen Arbeitsmarktbedingungen sogar die maßgebliche Ursache für den gleichzeitigen Tiefstand von Inflationsrate (2,0%) und Arbeitslosenquote (4,8%) im Jahre 1998 zu sehen. 2.2
"Entmarktung" des Arbeitsmarktes
Erweist sich schon die Globalsteuerung als Beschäftigungspolitik selbst für den Fall ursachengerechten Einsatzes als problematisch, wenn das Konterkarieren durch die Tarifparteien nicht verhindert wird, so gilt die mangelnde Beschäftigungskonformität verstärkt für viele sozial- und strukturpolitisch intendierte Maßnahmen, die auf direktem Weg oder über Veränderung der Beschäftigungsverantwortlichkeiten auf indirektem Weg die Arbeitskosten erhöhen. 2.2.1
Arbeitsmarktregulierungen und Lohnschere
Wichtige rechtliche Regelungen, die die Arbeitskosten erhöhten und/oder die Flexibilität des Arbeitsmarktes beeinträchtigen können, wurden vor allem in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre und danach erlassen beziehungsweise verschärft. Zu dieser "Entmarktung" 30 zählt eine Fülle von Gesetzen, Verordnungen und Durchführungsbestimmungen des staatlichen Arbeitsschutzes, insbesondere in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, die mit einem "zunehmenden Interven-
28 29 30
Görgens/Ruckriegel/Seitz (1999), S. 83. Thuy (1998). Dichmann (1989), S. 37.
530
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tionismus [...] und mit einer aufwendigen Bürokratisierung der Arbeitswelt verbunden ist".31 Bedeutende Änderungen erfuhr z.B. das Betriebsverfassungsgesetz. Danach hat sich "die Stellung der Gewerkschaften im Betrieb wesentlich verändert und ist nicht mehr durch das im Gesetz von 1952 erkennbare Bestreben gekennzeichnet, den betrieblichen Bereich betiebsexterner Verbandsvertretern und Organisationen möglichst zu verschließen". 32 Die Montan-Mitbestimmung von 1950 wurde 1976 in erheblichem Umfang auf andere Wirtschaftsbereiche ausgeweitet.33 Zu erwähnen ist weiterhin die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von 1969 und im gleichen Jahr die neue Fassung des Kündigungsschutzgesetzes, dem "der Gedanke des allgemeinen Bestandsschutzes fur unbefristet abgeschlossene Arbeitsverhältnisse zugrunde" liegt.34 Hinzu kommt, dass nach B. Rüthers 35 die Interpretation arbeitsrechtlicher Vorschriften in der rechtswissenschaftlichen Literatur sowie die arbeitsgerichtliche Entscheidungspraxis häufig verkennen, dass diese Normen für alle gelten, also für Arbeitsplatzbesitzer, Arbeitslose und Arbeitgeber. Statt dessen würden sie als "Zweckmonopol des Sozialschutzes für Arbeitnehmer" 36 gedeutet. Solche Arbeitsmarktregulierungen schlagen sich schließlich in den Arbeitskosten nieder, wirken als Flexibilitätshemmnis und Einstellungsbarriere und tragen so zur Arbeitslosigkeit bei. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass diese Regulierungen den sozialen Frieden begünstigt und dadurch positive Produktivitätswirkungen ausgelöst haben. Dem sind jedoch zum einen mögliche Produktivitätsbeeinträchtigungen gegenüberzustellen, die durch ein verbreitetes Anspruchsdenken als mentale Folge sozialstaatlicher Wohltaten entstanden sind. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die (zunächst) friedenstiftenden Regulierungen über negative Arbeitsmarktfolgen destabilisierend wirken und damit auf längere Sicht den sozialen Frieden beeinträchtigen könnten.37 Eine weitere Problematik ergibt sich daraus, dass viele dieser Regulierungen sich bei den Arbeitnehmern nicht erkennbar einkommenswirksam niederschlagen und deshalb auch kaum zur Lohnzurückhaltung ermuntern. Sie tragen daher dazu bei,
31 32 33
34 35 36 37
Kath (1999), S. 491. Lampert (1995), S. 235. Die aus institutionenökonomischer Sicht hierdurch begründete Aushöhlung der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie, da den Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmerseite keine vermögenswirksamen Haftungsverpflichtungen entsprechen, wurde von den Arbeitgeberverbänden beim Bundesverfassungsgericht vergeblich reklamiert. Lampert (1995), S 231. Rüthers (1996), S. 38 ff. Rüthers (1996), S. 39. Dichmann (1989), S. 38.
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dass ein Keil zwischen Arbeitskosten einerseits und Lohneinkommen andererseits getrieben wird, der der aus den Unterschieden zwischen Produzentenreallohn und Konsumentenreallohn resultierenden Lohnschere ähnlich ist. Die sogenannte Lohnschere misst das Verhältnis zwischen Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit einschließlich Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung und Nettolohn- und -gehaltssumme. Die Nettogröße enthält weder Sozialbeiträge (der Arbeitgeber und Arbeitnehmer) noch Lohnsteuer. In der Lohnschere schlagen sich also Änderungen der Beitragssätze zur staatlichen Arbeitslosen-, Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung ebenso nieder wie Änderungen steuerlicher Beund Entlastungen. Für den Zeitraum von 1960 bis 1995 lässt sich eine deutliche Lohnschere ab 1973 konstatieren; danach hat sie sich trotz zeitweiliger Rückbildung in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zunehmend geöffnet. Ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu können38, einige markante Phänomene seien gleichwohl erwähnt: ©von 1973 bis 1995 stieg der Konsumentenreallohn je Beschäftigten um 14%, der Produzentenreallohn hingegen um 38%. Dem geringen Anstieg des verfugbaren Einkommens der Arbeitnehmer stand also eine vergleichsweise kräftige Erhöhung der Arbeitskosten gegenüber. Auf kompetitiven Arbeitsmärkten könnte es so etwas auf längere Sicht kaum geben, da arbeitskostenbedingte Arbeitslosigkeit Lohn- und/oder Nebenkostensenkungen bewirken würde. Die Realität sieht freilich anders aus. Schon aus existentiellen Gründen müssen Gewerkschaften bestrebt sein, z.B. steuerbedingte Einkommenseinbußen ihrer Mitglieder ebenso abzuwehren wie etwa die Überwälzung von höheren Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung auf die Arbeitnehmer. ©Lohnschere und Arbeitslosenquote sind hoch korreliert (r2 = 0,93); ebenfalls sehr hoch ist der (negative) Zusammenhang zwischen Lohnschere und Bruttoinvestitionsquote (r2 = 0,83). Der von Heise gefundene und von ihm der Bundesbank angelastete negative Zusammenhang zwischen Investitionsquote und Arbeitslosenquote könnte hier eine Erklärung finden. Je weniger die Löhne auf nicht-lohn-bedingte Arbeitskostenerhöhungen kompensierend reagieren, desto größer die Lohnschere und die Arbeitslosigkeit. Die Lohnschere dämpft Investitionstätigkeit und Beschäftigung. Nach Untersuchungen Tyrväinens 9 für verschiedene OECD-Länder scheint die diesbezügliche "Lohnrobustheit" in Deutschland am stärksten ausgeprägt zu sein. Er findet für Deutschland eine
38 39
Vgl. Görgens (1999a). Tyrväinen (1995).
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Reallohnelastizität von Eins, was bedeutet, dass Erhöhungen der sogenannten Wedge-Faktoren (z.B. der Sozialbeiträge), die den Keil zwischen Produzentenund Konsumentenreallohn bestimmen, voll auf die Arbeitskosten durchschlagen und nicht durch Lohnkonzessionen partiell aufgefangen werden. Zugleich ist in Tyrväinens Länderstichprobe der lohndämpfende Effekt der Arbeitslosigkeit in Deutschland am geringsten. Die Problematik der Lohnschere verdeutlicht mithin eine weitere Facette der Funktionsbedingungen des Arbeitsmarktes: Politische Vorgaben für die Tarifparteien 40 engen den vollbeschäftigungskonformen Verteilungsspielraum erheblich ein. Wenn zur Aufrechterhaltung des Wohlfahrtsstaates bei gleichzeitiger Vermeidung von Arbeitslosigkeit die Tarifparteien Lohnvereinbarungen treffen müssten, die möglicherweise ex post eine Senkung des Konsumentenreallohns bedeuten, ergeben sich für Gewerkschaften erhebliche Verbandsprobleme. Sollen staatliche Sozialleistungen nicht gekürzt werden, erlaubt der gesamtwirtschaftliche Verfügungsrahmen jedoch keine andere Lösung. Andernfalls läuft der Wohlfahrtsstaat in eine Falle. Steigende Sozialbeiträge treiben die Arbeitskosten in die Höhe und beeinträchtigen Wachstum und Beschäftigung. Erhöhungen der Sozialleistungen, der Sozialbeiträge sind die Folge etc.41
2.2.2
Arbeitsförderungsgesetz und Strukturpolitik
Reklamiert das StabWG die Zuständigkeit des Staates für die Lösung des beschäftigungspolitischen Niveauproblems, ist das Arbeitsförderungesetz als arbeitsmarktbezogenes strukturpolitisches Komplement anzusehen.42 Sein wesentlicher Akzent liegt in der Zukunftsorientierung der Arbeitsmarktpolitik. Vorbeugende Maßnahmen zur Schaffung und Umstrukturierung von Arbeitsplätzen sollen Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt in quantitativer und qualitativer Hinsicht gar nicht erst entstehen lassen. Eine verzahnte und gestufte Berufs-, Arbeits- und Bildungsberatung dient der Vermeidung von Mismatch-Arbeitslosigkeit und ist zugleich als Beitrag zur Verhinderung "unterwertiger Beschäftigung" anzusehen. Wirkungsanalysen stellen die beschäftigungspolitische Zweckmäßigkeit der aktiven Arbeitsmarktpolitik jedoch nachhaltig in Zweifel. 43 Verwiesen sei nur auf das
40
41 42 43
Zu berücksichtigen ist, daß es neben - den hier thematisierten - gesetzlichen Personalzusatzkosten noch tarifliche und betriebliche Personalzusatzkosten existieren, die nicht in den Konsumentenreallohn eingehen und immerhin rund 55% der gesamten Personalzusatzkosten ausmachen (Kroker (1997), S. 215). Für letztere Personalzusatzkosten sind die Tarifparteien verantwortlich. Kroker (1997), S. 218. Lampert/Engelberger/Schüle ( 1991 ), S. 164 f. Vgl. Görgens (1996).
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mögliche Wechselspiel zwischen aktiver Arbeitsmarktpolitik und Tarifpolitik im Sinne einer "Entlastung" der Tarifparteien, das die Frage nahelegt, ob man der aktiven Arbeitsmarktpolitik mehr aufbürden soll als sozialpolitische Hilfestellungen, sie also nicht drastisch zurückschneiden sollte. Die Funktionsbedingungen des Arbeitsmarktes werden nicht unerheblich von einer neben Stab WG und AFG dritten Säule der durch die Große Koalition (196669) betriebenen arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen "Rundumversorgung" berührt, der Strukturpolitik. Grundlage bilden die Grundsätze der sektoralen Strukturpolitik von 1966 und deren Erweiterung um die regionale Dimension von 1968. Diese haben keinen Gesetzescharakter, gleichwohl sollen sie bis heute die Strukturpolitik der Bundesregierung(en) bestimmen. Zwar wird der Primat der Marktlösung von Strukturproblemen betont; die marktliche Bewältigung gilt jedoch unter dem Vorbehalt der Vermeidung "unerwünschter volkswirtschaftlicher und sozialpolitischer Konsequenzen". 44 Das Gewicht dieser Ausnahmeregelung wird deutlich in den Subventionsberichten der Bundesregierung. Für 1997 werden von den Finanzhilfen und Steuervergünstigungen des Bundes für Wirtschaftszweige selbst rund 45% als Erhaltungshilfen ausgewiesen 45 . Da die offiziellen Anpassungshilfen, deren Anteil rund 44% beträgt, in nicht geringem Umfang de facto Erhaltungsmaßnahmen darstellen, ist die Dominanz marktwidriger Strukturkonservierung durch die praktische Strukturpolitik wahrscheinlich. Hiermit wird aber in den interdependenten Prozess von Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb eingegriffen. 46 Die Wachstums- und letztlich auch Beschäftigungsbeeinträchtigung als Folge der Wettbewerbsbeschränkung, der Diskriminierung nicht subventionierter/protegierter Bereiche und deren finanzielle Belastungen, die nicht auszuschließende Interventionsspirale auf nationaler und internationaler Ebene u.a.m. sind ebenso hinreichend bekannt wie der Stellenwert der "Erhaltung von Arbeitsplätzen" in der öffentlichen Diskussion angesichts branchenmäßiger oder regionaler Strukturänderungen. Die Protektion lässt sich um so eher durchsetzen, je mehr Wählerstimmen mobilisiert werden können, je höher die Unternehmenskonzentration ist und je stärker Regionen monostrukturiert sind.47 Da Erhaltungsmaßnahmen für die geförderten Unternehmen und die dort Beschäftigten wie eine Quasi-Versicherung wirken, verleiten sie die Arbeitsmarktverbände geradezu zu einem Moral-hazard-Verhalten mit der Folge einer (noch) geringeren Reagibilität der Reallöhne auf Arbeitsmarktungleichgewichte. "Vor
44 45 46 47
Schlecht (1968), S. 45. Bundestagsdrucksache 13/8420 (1997), S. 24. Vgl. grundlegend hierzu Herdzina (1981), S. 278 ff. Dönges/Schmidt et al. (1988), S. 142 f.
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allem die nach Branchen und Regionen organisierte Tarifautonomie in Deutschland wirkt sich im Strukturwandel als eine latente Beschäftigungsgefahr aus".48 Die negativen Beschäftigungsfolgen für die betroffenen Branchen und Regionen ergeben sich "erst" auf mittlere und längere Sicht, da die Protektion nicht dauerhaft durchgehalten werden kann und bei ihrem Fortfall die nicht angepassten Arbeitskosten auf der einen Seite und die Absatzprobleme auf der anderen Seite voll auf die Beschäftigung durchschlagen. Die Arbeitslosigkeit fallt um so größer aus, je weniger die Tarifparteien darauf hinwirken, dass die Löhne in den schrumpfenden Branchen nach unten angepasst werden können und je stärker sie die Löhne in den Wachstumsbranchen nach oben drücken. Sind die von der Nachfragentwicklung begünstigten Branchen etwa arbeitsintensive Dienstleistungen mit geringen produktivitätsbedingten Lohnerhöhungsspielräumen, werden die Strukturanpassungsprobleme größer, und die Arbeitslosigkeit wird weiter verschärft.
3
Das veränderte internationale Umfeld
Da die andauernd hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland - und in anderen europäischen Ländern - vor allem ein institutionelles Problem ist und die institutionellen Inflexibilitäten maßgeblich durch rechtliche, wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen begünstigt wurden, 49 stellt sich die Frage nach möglichen Arbeitsmarktreformen im Gefolge des geänderten internationalen Umfeldes. Die weltweite Dimension der Globalisierung sei hier verkürzt auf einige mutmaßliche Arbeitsmarktkonsequenzen der Europäischen Währungsunion (EWU). Wird die EWU eine Verbesserung der Funktionsbedingungen im Sinne von mehr Arbeitsmarktflexibilität erzwingen? Die Diskussion bezieht sich vor allem auf drei interdependente Fragestellungen: - Wird die EWU die - weiterhin nationale - Tarifpolitik disziplinieren? - Ist die EWU ein Beschäftigungsmotor oder ein Beschäftigungshindernis? - Werden durch mögliche Anpassungszwänge der EWU Arbeitsmarktreformen auf den Weg gebracht?
48 49
Knappe (1997), S. 513. Siehe auch die Ausführungen von J. Pätzold über mögliche Folgen einer strukturkonservierenden Wirtschaftspolitik in diesem Band.
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3.1
535
Disziplinierung der Tarifpolitik?
Die Disziplinierungserwartung gründet vor allem auf eine konsequente Stabilisierungspolitik des Eurosystems und den Ausschluss innereuropäischer Solidarhaftung für Staatsschulden. Da die monetären Bedingungen für den gemeinsamen Währungsraum einheitlich sind, werden die beschäftigungspolitischen Verantwortlichkeiten transparenter. Unter solchen Bedingungen können die negativen Beschäftigungsfolgen überzogener Lohnabschlüsse oder sonstiger Arbeitskosten nicht mehr externalisiert werden. Da die Tarifparteien dies wissen und auch nominale Wechselkursänderungen zur Kompensation - international wettbewerbsrelevanter - Arbeitskosten entfallen, werden sie von vornherein Zurückhaltung praktizieren. Der Fortfall von Wechselkursänderungen hat zudem den Vorteil, dass stabilitäts- und beschäftigungskonformes Verhalten nicht durch Aufwertung "bestraft" wird. Die Disziplinierung der EWU ist freilich daran gebunden, dass die im MaastrichtVertrag vorgegebene Stabilitätszielsetzung in die Realität umgesetzt wird. Während regionale Gewerkschaften kaum genügend Einfluss auf den Kurs des Eurosystems ausüben können, wäre dies für die Gesamtheit der Gewerkschaften der EWU-Mitgliedsländer schon eher vorstellbar. Die Lohnfindungssysteme, Handlungsfähigkeiten und die jeweiligen Interessenlagen sind jedoch (noch) zu heterogen, als dass ein europäisches Lohnkartell absehbar wäre.50 Angesichts dieser Anpassungsbedingungen überrascht es nicht, dass die Zustimmung der (Mehrheit der) deutschen Gewerkschaften begleitet wird von der - auch von politischer Seite unterstützten - Forderung nach Beseitigung des "Sozialdumpings" und der Institutionalisierung einer Sozialunion. Bei solchen Vorgaben könnten allerdings die grundsätzlich möglichen Beschäftigungsvorteile der EWU kompensiert oder gar überkompensiert werden.
3.2
EWU als Beschäftigungsmotor oder Beschäftigungshindernis?
Die Wettbewerbsintensivierung infolge verstärkter grenzüberschreitender Preistransparenz kann insgesamt als Wachstums- und beschäftigungsgünstig angesehen werden, selbst wenn auf kurze Sicht der Rationalisierungsdruck die positiven Beschäftigungswirkungen in Grenzen halten dürfte. Beschäftigungsfordernd dürfte auch der Fortfall von Transaktionskosten infolge der gemeinsamen Währung sein. Im Kern unstrittig sind auch die positiven Wachstums- und Beschäftigungseffekte durch Beseitigung der Wechselkursunsicherheit beziehungsweise Fortfall der
50
Görgens (1993), S. 229 f.
536
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Kurssicherungskosten. Positiv einzuschätzen ist auch eine konsequente Verfolgung der Preisstabilität durch das Eurosystem, die, inflationsbedingte Fehlentscheidungen vermeidend, wachstumsgünstig wirkt. Zudem werden geldpolitisch begründete Stabilitätserwartungen auf das Zinsniveau am Kapitalmarkt drücken, was die Investitionstätigkeit begünstigt.51 Relativierend müssen jedoch die Beschäftigungsrisiken gegenübergestellt werden. Wenn in verschiedenen EU-Mitgliedsländern an der tradierten Lohn- und Preispolitik festgehalten wird, würde eine restriktive Geldpolitik negative Beschäftigungskonsequenzen nach sich ziehen, wodurch der Druck auf das Eurosystem verstärkt wird. Da dieses nicht von "deutschen Wählern" kontrolliert und auch nicht unbedingt von inflationsbewussten Europa-Bürgern gestützt wird, könnte Nachgiebigkeit die Folge sein. In dem Maße wie die Geldpolitik letztlich für beschäftigungspolitische Zwecke eingesetzt wird, sinkt die beschäftigungspolitische Verantwortlichkeit der Tarifparteien. Zwar ist eine unmittelbare Finanzierung von Staatshaushaltsdefiziten durch das Eurosystem unzulässig; indirekt kann dies gleichwohl geschehen. Wenn ein Land etwa aus beschäftigungspolitischen Gründen staatliche Ausgabenprogramme via Schuldenaufnahme am europäischen Kapitalmarkt finanziert, werden die Zinseffekte zu einem großen Teil externalisiert. Dies kann schließlich zu einem allgemeinen Druck der Mitgliedsländer auf das Eurosystem fuhren. Wiederum wäre die Disziplinierungsfunktion der EWU infrage gestellt. In die gleiche Richtung wirkten faktische Finanzausgleichsmaßnahmen zugunsten weniger stabilitätsorientierter Mitgliedsländer via Struktur- und Kohäsionsfonds. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass zu den fiskalischen Konvergenzkriterien "eine befriedigende Beschäftigungslage als fünftes Konvergenzkriterium ... implizit mit in den Maastrichter Forderungskatalog aufgenommen und gegen die Erfüllung der fiskalischen Kriterien abgewogen (wird)".52 Nicht auszuschließen sind auch von der Produktivitätsentwicklung nicht gedeckte Lohnangleichungstendenzen mit negativen Beschäftigungseffekten in den Niedriglohnländern. Die Transparenz des Euro begünstigt "Lohndemonstrationseffekte", die um so eher in eine Angleichung einmünden, je eher auf die erwähnten Finanzierungsmechanismen vertraut werden kann. Auf diese Weise landen die finanziellen Belastungen ebenso wie die der als Wettbewerbsbarriere gedachten Sozialunion in der Form erhöhter Transferzahlungen bei den (reicheren) Hoch-
51 52
Görgens (1999b), S. 521. Kösters/Belke (1998), S. 20.
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537
lohnländern und dämpfen die Beschäftigung. 53 Auch wenn auf längere Sicht die Stabilitätsorientierung obsiegen mag, darf man den politischen Reiz temporärer Zugewinne nicht unterschätzen. 3.3
EWU und Arbeitsmarktreformen
Sollte sich die Skepsis als übertrieben erweisen und durch die EWU gar Arbeitsmarktreformen auf den Weg gebracht werden? Ist nicht damit zu rechnen, dass mit dem Fortfall der nationalen Geldpolitik und Wechselkurspolitik auch der (europäische) Wettbewerb zwischen den Arbeitsmarktinstitutionen intensiviert wird? Ob Wechselkursänderungen in der Vergangenheit tatsächlich die arbeitsmarktpolitische Bedeutung hatten, die ihrem Fortfall in der Diskussion heute implizit zugewiesen wird, sei dahingestellt.54 Insbesondere bei der doch wohl vorherrschenden nicht-konjunkturellen Arbeitslosigkeit55 sollte die Bedeutung solcher Korrekturmechanismen nicht überschätzt werden. Ob es zu Arbeitsmarktreformen kommt, ist nicht unabhängig vom Niveau der Arbeitslosigkeit. Sollten die positiven Beschäftigungswirkungen der EWU überwiegen, nimmt der Reformdruck ab et vice versa. Entscheidend ist aber, ob die Politiker, die Inflexibilität begünstigende Maßnahmen im Dienste der Wählerstimmenmaximierung betrieben haben, einen wählerwirksamen Anreiz haben, sie zurückzunehmen. Konkret: Wie sieht der Wählerstimmen-Saldo aus Zugewinn infolge niedrigerer Arbeitslosenquoten (Grenznutzen) und möglichen Abwanderungen etwa infolge sinkender oder weniger steigender Reallöhne von Insidern oder von Einschränkungen des Kündigungsschutzes und der Lohnersatzleistungen (Grenzkosten) aus? Die spezielle EWU-Relevanz ergibt sich daraus, dass nationale Alleingänge mit dem Ziel niedriger Arbeitslosen- und Inflationsraten unter der Ägide gemeinsamer Geldpolitik nicht voll internalisiert werden können. Sollte das Eurosystem gar ein implizites Beschäftigungsziel verfolgen und zur Kaschierung der Beschäftigungsfolgen reformunwilliger Mitgliedsländer mit einer unionsweiten Erhöhung der Inflationsrate reagieren, wird insoweit Reformunwilligkeit externalisiert. Ein Reformantrieb aus der EWU heraus erscheint deshalb gering. Zudem enthält auch der Maastrichter Vertrag keine Regel, die den Tarifparteien explizit beschäftigungspolitische Verantwortung zuweist.
53 54
55
Görgens (1999b), S. 524. Zu Recht warnen Kösters/Belke (1998, S. 35) vor einer Überbewertung des Wechselkursarguments, da Wechselkurse kurz- bis mittelfristig viel signifikanter auf Finanzmarktschocks als auf Änderungen der (realen) Fundamentalfaktoren reagieren. Die Bedeutung des Verlusts dieses Instruments des Arbeitsmarktpuffers ist entsprechend zu relativieren. OECD (1998), S. 173 f.
538
Ungeräumter Arbeitsmarkt
Die arbeitsmarktordnungspolitischen Reformen müssen von den einzelnen Mitgliedsländern der EWU selbst in Angriff genommen werden. Wie soll das aber geschehen, wenn die Folgen fehlender Bemühungen über ein eventuell konzessionsbereites Eurosystem partiell externalisiert werden können. Für ArbeitsmarktOptimismus erscheint in diesem Falle wenig Anlass. Im Falle konsequenter Stabilitätspolitik könnte allerdings ein verstärkter Reformdruck dann entstehen, wenn Länder wie die Niederlande, Österreich, Irland, Portugal und Großbritannien, deren Arbeitsmarktflexibilität relativ zu den übrigen EU-Ländern hoch ist56, sich auch auf längere Sicht als Gewinner der Anpassungsprozesse erweisen.
S6
Dohse/Krieger-Boden/Soltwedel (1999), S. 57.
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539
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Wachstum, Strukturwandel, Wettbewerb (hrsg. von H. Walter, S. Hegner, J. M. Schechler) © Lucius & Lucius, Stuttgart 2000
Ansatzpunkte für eine ökonomische Diagnose des Systemwettbewerbs zwischen Staaten Ronald Clapham
1
Problemstellung
Welche Vorgänge und Sachverhalte man als Systemwettbewerb zwischen Staaten bezeichnen kann, bedarf weiterhin der Klärung. Zur Beschreibung des Phänomens wird häufig auch von institutionellem Wettbewerb, von Regulierungswettbewerb (regulatory federalism), von Wettbewerb zwischen staatlichen Rechts- und Verwaltungsordnungen (competition among jurisdictions, interjurisdictional com petiton), von Standortwettbewerb oder - in der Finanzwissenschaft - von fiscal federalism gesprochen. 1 Ökonomen befassen sich mit institutionellem Wettbewerb, um dessen Leistungsfähigkeit für eine produktive und wachsende Marktwirtschaft zu erforschen. Damit interessiert man sich für Regeln, die den Zwei-Ebenen-Wettbewerb 2 - nämlich einerseits zwischen den Rechts- und Verwaltungsordnungen der Staaten und andererseits zwischen den Unternehmen - verbinden. Systemwettbewerb zu beschreiben und zu erklären, stößt aus methodischen Gründen auf erhebliche Schwierigkeiten.3 Eine im folgenden aufgezeigte analytische Möglichkeit, diese Erscheinungsform des Wettbewerbs genauer zu erfassen, ist, empirisch bewährte Diagnoseansätze der Wettbewerbspolitik anzuwenden. Ausgegangen wird von der Arbeitshypothese, dass der Wettbewerb zwischen Staaten grundsätzlich mit den gleichen analytischen Instrumenten zu erfassen ist, wie sie für den Wettbewerb zwischen Unternehmen entwickelt worden sind. Das ökonomische Tausch- und Wettbewerbsprinzip lässt sich auch auf andere soziale Beziehungen anwenden: Zwischen zwei Aggregaten (Anbieter und Nachfrager) kommt es zu Tauschströmen (Leistung und Gegenleistung), wobei verschiedene Steuerungsmittel (z.B. Geld, Wahlstimmen, Steuerleistungen) verwendet werden. Das "ökonomische" Kalkül liegt jeweils in der Verbindung rationaler Entscheidung und sozialem Tausch.
1 2 3
Vgl. Streit/Wohlgemuth (1999), S. 7; vgl. auch Oates (1999), S. 1120 ff. Koenig (1998), S. 513. "Die Idee des institutionellen Wettbewerbs ist aber alles andere als klar formuliert. Der Versuch, sich mit den vielfaltigen und zum Teil auf widersprüchliche Weise miteinander verknüpften Ansätzen zurechtzufinden, gestaltet sich schwierig und mühselig", Apolte (1999a), S. 3.
544
Systemwettbewerb
Allerdings werden in der wissenschaftlichen Wettbewerbspolitik bis heute unterschiedliche Gegebenheiten als Wettbewerb bezeichnet.4 Eine einheitliche, allgemein akzeptierte Wettbewerbsdefinition gibt es also nicht. Dennoch lassen sich einige Vorgänge und Sachverhalte, die in verschiedenen wettbewerbspolitischen Ansätzen diskutiert werden, in eine Systematik einfügen. Sie ordnet wettbewerbliches Marktgeschehen nach Voraussetzungen, Prozessen bzw. Verhaltensweisen und Wirkungen. Um Systemwettbewerb als eine neuartige Wettbewerbsform besser erklären zu können, ist es zweckmäßig, zunächst zu überprüfen, ob nicht die Verwendung von Kenntnissen über wettbewerbliche Ursachen, Abläufe und Ergebnisse auf Märkten fur private Güter bereits weiterfuhrt. Dabei wird sich auch zeigen, inwieweit es möglich ist, bei institutionellem Wettbewerb in Analogie zum wirtschaftlichen Wettbewerb bei privaten Gütern zu argumentieren. 5 Im folgenden wird das Phänomen Systemwettbewerb untersucht für den Fall des internationalen Wettbewerbs zwischen staatlichen Rechts- und Verwaltungsordnungen (Jurisdiktionen), die die Leistung "institutionelle Regelung" anbieten. Es handelt sich um horizontalen Wettbewerb zwischen gleichen Regierungsebenen, wie er zwischen Staaten mit offenen Volkswirtschaften - wie auch zwischen den Mitgliedstaaten der EU - zu beobachten ist. Es geht um einen Wettbewerb der Staaten, den man nach der Hypothese vom methodologischen Individualismus ausdrücken kann als "Wettbewerb zwischen Ländern, die durch ihre Politiker vertreten werden". 6 Letztlich konkurrieren also im Wettbewerb der Staaten die Politiker in ihrer Funktion als Vertreter eines Staates. Ansatzpunkte für die folgende wirtschaftliche Diagnose des Systemwettbewerbs zwischen Staaten sind die in der Wettbewerbstheorie und -politik verwendeten Unterscheidungen nach Voraussetzungen, Prozessen und Wirkungen wettbewerblichen Marktgeschehens: 7 Von wettbewerblichen Marktprozessen in einem relevanten Markt soll gesprochen werden, wenn (1) bestimmte Konstellationen bestehen, die man als Voraussetzungen für das Eintreten gewünschter Verhaltensweisen, Prozesse und Wirkungen vermutet, z.B. bestimmte Marktstrukturen oder die Existenz von Wettbewerbsfreiheit; (2) bestimmte Prozessabläufe bzw. bestimmtes Marktverhalten vorliegen; (3) bestimmte Wirkungen, d.h. Marktergebnisse entstehen.
4 5 6 7
Vgl. zu der kritischen Auseinandersetzung mit den einzelnen Ansätzen Herdzina (1999), S. 5 ff. Vgl. zu den Bedenken Kiwit/Voigt (1998), S. 319 und 323 ff.; Hüther (1999), S. 96. Gerken (1999), S. 6. Vgl. Herdzina (1999), S. 10 f.
Systemwettbewerb
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In den folgenden Abschnitten wird der Systemwettbewerb unter diesen Aspekten positiv-wissenschaftlich beschrieben und analysiert.
2
Marktstruktur und Marktabgrenzung bei Systemwettbewerb
Die Marktstruktur ist im wesentlichen durch wenige Merkmale charakterisiert, die zunächst für den Fall des Systemwettbewerbs beschrieben werden sollen. Die abschließende Diagnose der Marktstruktur erfordert dann allerdings, zu klären, welcher Markt hier untersucht werden soll, d.h. welches der sogenannte relevante Markt ist. Marktstrukturmerkmale sind: Zahl der Anbieter und Nachfrager sowie deren Marktanteile, Grad der Produkthomogenität und der Markttransparenz, Höhe der Marktschranken. Anbieter der institutionellen Regelung ist der Staat. Diese Bezeichnung des Anbieters wird im folgenden verwendet, wenn auch - wie oben ausgeführt - die Handlungen von Politikern vorgenommen werden. Die angebotenen Leistungen haben den Charakter eines öffentlichen Gutes, da von der Leistungsnutzung niemand ausgeschlossen ist. Unter dem Aspekt des Wettbewerbs der Staaten werden diese Leistungen zum Vorteil des einzelnen Staates für Dritte erbracht, die aufgrund ihrer Mobilität zwischen verschiedenen Staaten wählen können.8 Im Fall des Zentralstaates in einer geschlossenen Volkswirtschaft liegt ein Angebotsmonopol vor; der Staat handelt als Optionsfixierer, der den Preis (hier: die Höhe der Steuerleistung) und die Menge (hier: Regelungsumfang und -qualität) festlegt, und der den Optionsempfangern auf der anderen Marktseite nur die Wahlmöglichkeit der Annahme oder der Ablehnung des Angebotes lässt. In einem Bundesstaat kann das öffentliche Gut von den föderalen Gebietskörperschaften angeboten werden, so dass der Oligopolfall besteht. Hier kann es zu horizontalem Wettbewerb der politischen Anbieter auf föderaler Ebene kommen (vgl. kompetitiver Föderalismus). In der offenen Volkswirtschaft, die im folgenden immer unterstellt wird, besteht Wettbewerb zwischen den tatsächlichen (und potentiellen) staatlichen Anbietern auf zentraler oder - je nach verfassungsmäßiger Kompetenz - föderaler Ebene, d.h. oligopolistische Anbieterstrukturen liegen vor. Die internationale Koordination oder die Harmonisierung der nationalen Regelungen würde ein hoheitliches Ordnungskartell der beteiligten Staaten schaffen; es käme zu einem kartellierten Angebot.
Vgl. Gerken (1999), S. 6.
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Systemwettbewerb
Nachfrager nach der öffentlichen Leistung in Form von institutionellen Regelungen sind private Wirtschaftsteilnehmer, welche die Regeln zu einer Reduzierung ihrer Transaktionskosten nutzen wollen. Zunächst soll offenbleiben, ob für die Nachfrager eine selektive Institutionenauswahl überhaupt möglich ist oder ob komplette Regelsysteme eines Staaten gewählt werden müssen. Die inländischen Nachfrager sind die mobilen Marktteilnehmer, also diejenigen, die nach der Hirschman'sehen Systematik die Option der Abwanderung haben.9 Nachfrager sind zum einen die Besitzer von Kapital und Arbeit, die ihren Standort tatsächlich auswählen können, und zum anderen diejenigen Privathaushalte und Unternehmen, die internationale Güter und Dienstleistungen kaufen können. Die größte Bedeutung hat der Produktionsfaktor mobiles Kapital, und zwar in Form von Realkapital und Finanzkapital.10 Die Mobilität des Faktors Arbeit auf zwischenstaatlicher Ebene ist dagegen eine Ausnahmeerscheinung. Die Rolle der Güter- und Dienstleistungsnachfrage im Systemwettbewerb wird in der Literatur bisher häufig zu wenig beachtet. Das Untersuchungsobjekt wäre jedoch zu eng abgegrenzt, wenn man den institutionellen Wettbewerb auf öffentliche "SteuerLeistungs-Pakete" beschränken würde. Die Gegenleistung der inländischen Nachfrager nach dem öffentlichen Gut ist in ökonomischer Hinsicht die Nicht-Abwanderung aus dem Kompetenzgebiet des Staates. Die mobilen Faktoren Kapital und Arbeit und die Güter- und Dienstleistungsnachfrage verbleiben also am nationalen Standort und tragen damit zur Entstehung des Bruttoinlandsproduktes bei. Das erhält und schafft im Inland gesamtwirtschaftliche Nachfrage, Beschäftigung und Einkommen und vergrößert so die Steuerquellen, die zur Finanzierung des angebotenen Kollektivgutes herangezogen werden können. Als Gegenleistung der inländischen Nachfrager fast ausschließlich die Steuerleistungen zu beachten, entspricht der ursprünglichen Sichtweise des Systemwettbewerbs als fiskalischen Föderalismus und stellt darauf ab, dass sogenannte politische Transaktionskosten zu tragen sind. Darunter versteht man "die Kosten der Entwicklung, Erhaltung und Veränderung der formalen und informellen politischen Ordnung eines Systems" und "die Betriebskosten eines Gemeinwesens."11 Jedoch besteht die Gegenleistung der nicht abwandernden Nachfrager auch in volkswirtschaftlich relevanten Beiträgen wie Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen, Produkt- und Verfahrensinnovationen u.a.
'
Die Option des Widerspruchs, die nach Hirschman eine große Bedeutung fur den Wettbewerb in ökonomischen, sozialen oder politischen Systemen hat, wird im folgenden bei der Diagnose des Systemwettbewerbs aus Gründen der Vereinfachung ausgeklammert. Hirschman (1970), S. 30 ff. 10 Vgl. Gerken (1999), S. 18 f. " Richter/Furubotn (1996), S. 45 ff., insb. S. 54-55.
Systemwettbewerb
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Zusätzlich gibt es ausländische Nachfrager, die für die Nutzung des nationalen öffentlichen Gutes als ökonomische Gegenleistung die Zuwanderung von Kapital, Arbeit und Güter- und Dienstleistungsnachfrage erbringen und damit positive wirtschaftliche Effekte im Anbieterland ermöglichen. Die Nachfragestruktur ist meist polypolistisch. Wenn allerdings Interessengruppen ihre Sonderinteressen durch die Nachfrage nach speziellen Regeln durchsetzen wollen, also der Grad der Nachfragekonzentration zunimmt, dann können auch oligopolistische Nachfragestrukturen entstehen. Die angebotene Leistung lässt sich als immobiles öffentliches Gut in Form allgemeiner institutioneller Regelungen, d.h. als eine formale (oder sogenannte äußere) Institution charakterisieren. Entsprechend der Wirtschaftsverfassung eines Staates gibt es solche Regelungen in zahlreichen Gestaltungsbereichen, z.B. in der Eigentums-, Unternehmens-, Produktions-, Markt- und Sozialverfassung.12 Diese institutionellen Regelungen sind ein wesentlicher Teil der Standortbedingungen für die Wirtschaft. Für den staatlichen Anbieter handelt es sich um ein sehr komplexes Gut, denn es beinhaltet hoheitliche Kompetenzen der Regelung, Planung, Entscheidung, Verwaltung, Durchfuhrung, Finanzierung und Kontrolle. Für die privaten Nachfrager ist in jedem Einzelfall klärungsbedürftig, ob es sich wie auf den Produktmärkten - um ein einzelnes, selektiv nachfragbares Gut handelt oder ob Güterbündel gewählt werden müssen. So kann der mobile Faktor Kapital eine günstigere steuerliche Regelung im Ausland wahrnehmen, jedoch müssten bei einer Direktinvestition z.B. auch arbeits- und sozialpolitische Regelungen im Investitionsland befolgt werden. Insofern entscheiden Wirtschaftsteilnehmer mit mobilem Kapital nach Kosten und Nutzen eines ganzen Bündels staatlicher Regelungen, die in einem komplementären Zusammenhang stehen.13 Bei hoher Kapitalmobilität sind daher die institutionellen Regelungen in komplementären Politikfeldern wie Arbeitsmarktpolitik, soziale Sicherung und Umverteilung und Infrastrukturpolitik von besonderer Bedeutung.14 Der Homogenitätsgrad der angebotenen Leistung nimmt vermutlich ab, je mehr Anbieter das öffentliche Gut in Konkurrenz zueinander offerieren. Das Leistungsangebot für die einzelnen sachlichen Regelungsgebiete kann variieren, so dass man von Produktdifferenzierung sprechen kann.
12 13 14
Vgl. Cassel (1988), S.314-317. Zu den damit verbundenen analytischen Problemen vgl. Streit/Kiwit (1999), S. 16. Vgl. A p o l t e ( 1 9 9 9 ) , S. 26 ff.
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Die Markttransparenz betreffend der institutionellen Regelungen ist im Fall der geschlossenen Volkswirtschaft mit Zentralstaat am größten, da man unterstellen kann, dass der Inhalt und die Wirkungsmechanismen der einzelnen Regelsetzungen den Nachfragern relativ gut bekannt sind. Im Fall der offenen Volkswirtschaft mit mehreren staatlichen Anbietern ist die Markttransparenz unvollständiger und deren Verbesserung mit steigenden Informationskosten verbunden. Die Markttransparenz des Anbieters - also der politischen Entscheidungsträger kann aufgrund kognitiver Grenzen gering sein. Denn sofern Abwanderung und Widerspruch überhaupt erkennbar sind, müssen diese Aktionen von den politischen Akteuren interpretiert werden, z.B. ob sie durch einen isolierten institutionellen Aspekt ausgelöst worden sind.15 Marktschranken bestehen für die mobilen Nachfrager dann, wenn sie keinen ungehinderten Zugang zu dem substituierbaren öffentlichen Gut haben. Das ist dann der Fall, wenn die internationale Mobilität von Kapital und Arbeit und der Güterund Dienstleistungsimport behindert werden. Marktzutrittsschranken mit dieser Wirkung lassen sich empirisch ermitteln. Für die staatlichen Anbieter können ebenfalls Marktschranken existieren, die sie daran hindern, ihre konkurrierende institutionelle Regelung fìir das Ausland anzubieten. Dieser Fall liegt vor, wenn bei Produktvorschriften das Bestimmungslandprinzip gilt. So lag die grundsätzliche Bedeutung des Cassis-de-Dijon-Urteils des Europäischen Gerichtshofs von 1979 darin, mit der Einführung des Ursprungslandprinzips die Anerkennung der Zulassungsregeln anderer Mitgliedstaaten für die Verkehrsfähigkeit des Produktes im Binnenmarkt durchgesetzt zu haben. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von produktbezogenen Schutzregulierungen hat die Offenheit der Gütermärkte in der EU erhöht. Die abschließende Diagnose der Marktstruktur bei Systemwettbewerb setzt voraus, dass der sogenannte relevante Markt abgegrenzt ist. Folgt man bei der Marktabgrenzung dem Substitutionskonzept (bzw. dem Bedarfsmarktkonzept), dann muss man das tatsächliche Nachfrageverhalten der inländischen Wirtschaftsakteure ermitteln. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass die privaten Nachfrager langfristig versuchen, auf vorteilhaftere Substitute auszuweichen. Wettbewerbliche Marktergebnisse entstehen daher nur langfristig. Sie sind abhängig von der Höhe der Substitutionskosten, die von sachlichen, zeitlichen, persönlichen und räumlichen Substitutionshemmnissen verursacht werden. Sie müssen jeweils für
15
Zu dieser Grenze des Systemwettbewerbs vgl. Monopolkommission (1998), S. 19.
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die mobilen Produktionsfaktoren und die internationale Güter- und Dienstleistungsnachfrage ermittelt werden.16 Aufgrund der Standortgebundenheit der öffentlichen Leistung könnte man zunächst annehmen, der relevante Markt sei räumlich klar abgegrenzt. Dies trifft aber nur für einen Teil der staatlichen Regelungen zu, bei anderen geht die räumliche Reichweite der öffentlichen Leistung über das Kompetenzgebiet der Jurisdiktion hinaus. Aus der Sicht mobiler Nachfrager kann das angebotene nationale Gut substituiert werden, wenn die mobilen Faktoren Kapital und Arbeit ihren Standort wechseln und damit eine andere institutionelle Regelung wählen. Die inländischen Güternachfrager können auf ausländische Güter mit anderen Produkt- bzw. Produktionsvorschriften ausweichen und so die nationalen Regelungen substituieren. Im Fall der offenen Volkswirtschaften weitet sich somit der relevante Markt aus, es entsteht eine Substitutionskonkurrenz von institutionellen Regelungen mehrerer staatlicher Anbieter.
3
Marktprozess und Marktverhalten im Wettbewerb der Systeme
Systemwettbewerb der Staaten entwickelt sich im Zeitablauf, also in Marktprozessen. Diese entstehen aus bestimmten Verhaltensweisen der staatlichen Anbieter und der privaten Nachfrager. Es wird unterstellt, dass alle Entscheidungsträger auf der Grundlage der Kosten-Nutzen-Kalkulation rational handeln. Bei den politischen Anbietern von Regelungen lassen sich dann die Motive für die Entstehung und den Wandel von Regeln (choice of rules) und bei den privaten Nachfragern von Regelungen die Ursachen für die Entscheidung für bestimmte Institutionen (choice within rules) erfassen.17 Die staatlichen Konkurrenten in offenen Volkswirtschaften kann man nach der Hoppmann'sehen Grundstruktur wettbewerblicher Marktprozesse dem Parallelprozess zuordnen. Sie agieren in diesem politischen Wettbewerb mit Vorstoß und Verfolgung hinsichtlich institutioneller Lösungen. An diesem wettbewerblichen Parallelprozess sind aktuelle und neue Anbieter beteiligt. In der EU ist beispielsweise durch die Erweiterungen seit 1973 die Anzahl der konkurrierenden Anbieter von den sechs Gründerstaaten auf fünfzehn Staaten erhöht worden. Ähnliches ist als Folge der anstehenden Osterweiterung zu erwarten. Für die Nachfrager erhöht sich mit der Zahl der Anbieter und den damit normalerweise
16 17
Vgl. Kiwit/Voigt(1998), S. 330 ff. Vgl. Leipold(1991), S. 19.
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verbundenen Innovationen und Imitationen die Auswahlfreiheit zwischen institutionellen Regelungen, d.h. der Austauschprozess wird wettbewerblicher. Die ökonomische Diagnose des Systemwettbewerbs stößt bei der Erklärung von Marktprozessen und -verhalten auf einige Schwierigkeiten. Wettbewerbliche Marktprozesse lassen sich nicht in allen Fällen durch Verweis auf Innovationen und Imitationen adäquat beschreiben.18 Vorstoß und Verfolgung können durch Wettbewerbsfreiheit beschränkende Verhaltensweisen verursacht werden, bzw. sie können unterbleiben, etwa mangels Anpassungs- und Fortschrittsmöglichkeiten in einem Sachgebiet. So könnte es sein, dass keine uneingeschränkt freie Setzung von neuen Regelungen für den Staat möglich ist, da sowohl die Interdependenz der äußeren Institutionen untereinander als auch die Interdependenz äußerer und innerer Institutionen zu beachten sind.19 Auch die Versuche in der Wettbewerbsliteratur, das Marktverhalten durch die Systematisierung und Normierung von wettbewerbsfördernden Verhaltensweisen zu klassifizieren, erwiesen sich wegen der Vielzahl von Verhaltensmöglichkeiten als problematisch. Eine vertretbare Vorgehensweise ist: Man bildet Fallgruppen von wettbewerbsbeschränkendem Verhalten, das - nach heutigem weitgehenden Konsens - prinzipiell wettbewerbsbeschränkenden Charakter hat, und zwar in der Regel unabhängig von den marktstrukturellen Bedingungen. Das betrifft drei Verhaltenstypen: 20 kollektives Marktverhalten (insbesondere Absprachen), Bindungen und Behinderungen. Angewendet in der Diagnose des Systemwettbewerbs würde kollektives verhalten dann vorliegen, wenn die staatlichen Anbieter der Regelung
Markt-
- eine internationale Koordination oder Harmonisierung - bis hin zur völligen Vereinheitlichung der inhaltlichen Regelung - vornehmen oder - Gebietsabsprachen treffen, so dass Regelungen regional verbindlich gemacht werden; beispielsweise könnte es Behinderungen geben für den freien Kapitalverkehr, die Niederlassungsfreiheit und den freien Güter- und Dienstleistungsverkehr. Wettbewerbsbeschränkendes Marktverhalten kann der Staat durch Bindungen herbeiführen, die den Handlungsspielraum der gebundenen privaten Akteure und ihrer potentiellen Vertragspartner einengen. Die Bindung kann zum einen durch
18 19 20
Vgl. H e r d z i n a ( 1 9 9 9 ) , S . 62. Zum Einfluss der Pfadabhängigkeit vgl. Kiwit/Voigt (1998), S. 332 f. Vgl. Herdzina (1999), S. 63 und insb. S. 139 ff.
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Inhaltsbindungen und zum anderen durch Abschlussbindungen erfolgen. Eine Inhaltsbindung im Systemwettbewerb wäre zu diagnostizieren, wenn der Inhalt von Verträgen der Gebundenen mit Dritten durch Vorschriften über die Anwendung national geltender Regeln festgelegt wird. Dies ist beispielsweise der Fall bei dem deutschen Entsendegesetz (1995), das für grenzüberschreitende Dienstleistungen in bestimmten Branchen die ausländischen Arbeitgeber verpflichtet, ihren in Deutschland tätigen Arbeitnehmern einen Mindestlohn zu zahlen; dieser muss nach dem für allgemeinverbindlich erklärten deutschen Tarifvertrag der untersten Lohngruppe entsprechen. Diese Regelung müssen deutsche Bauunternehmen in Arbeitsverträgen mit ausländischen Arbeitnehmern beachten. Der Vertragsabschluss selbst kann vom Staat beeinflusst bzw. verhindert werden. Das betrifft Fälle, in denen der Staat als der Bindende zum Beispiel den Vertragspartner oder das Vertragsgebiet vorschreibt; dies könnte bei der verbindlichen Vorgabe der Einhaltung von Qualitätsnormen der Fall sein. Solche Abschlussbindungen haben bereits Merkmale der Behinderung des Wettbewerbs. Behinderungen des Marktverhaltens werden vor allem dadurch charakterisiert, dass die Betroffenen die Beschränkungen ihres Handlungsspielraumes unfreiwillig hinnehmen müssen.21 Wettbewerbspolitisch von Bedeutung sind dann Behinderungspolitiken, die andere Marktteilnehmer unangemessen behindern, d.h. der Behinderungsmissbrauch. Von horizontalen Behinderungspraktiken im Systemwettbewerb ist dann auszugehen, wenn ein Staat versucht, in Hinblick auf institutionelle Regelungen die aktuelle und potenzielle Konkurrenz seitens anderer Staaten zurückzudrängen oder zu verdrängen. So könnte man unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes den relevanten Markt für die privaten Nachfrager durch Normvorschriften und Erlaubnisvorbehalte fur Lebensmittel einengen (Behinderung infolge Marktschließung). Den inländischen Wirtschaftsteilnehmern wird so die Abwanderung aus dem Geltungsbereich der nationalen institutionellen Regelungen erschwert bzw. untersagt. Wenn infolge solcher Regelungen die Mobilität für die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit und für die internationale Güter- und Dienstleistungsnachfrage unangemessen behindert werden, dann kann sich der Prozess des Systemwettbewerbs nicht entwickeln. Auch vertikale Behinderungspraktiken könnten bei Systemwettbewerb vorliegen. So kann ein Staat versuchen, inländische Wirtschaftsteilnehmer zu einem Wohlverhalten zu veranlassen oder sogar in eine Situation der Abhängigkeit zu brin-
21
Vgl. Herdzina (1999), S.157 u. S. 166 ff.
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gen. Eine Möglichkeit für den Staat, Wirtschaftsteilnehmer zur Nicht-Abwanderung zu veranlassen, ist, selektiv bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige zu begünstigen. Das beinhaltet aus ökonomischer Sicht häufig Preisnachlässe (Rabatte) auf Standortsteuern und wird durch Maßnahmen erreicht wie zum Beispiel günstige steuerliche Abschreibungsregeln, vorteilhafte Auslegung von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen, selektive Anwendung von Regulierungen.22
4
Wirkungen des Systemwettbewerbs zwischen Staaten
In den meisten neoklassisch fundierten Beiträgen zum Systemwettbewerb wird direkt auf dessen Funktionsfähigkeit abgestellt. Als gewünschte Wirkungen werden vor allem die Verbesserung der individuellen Wohlfahrt, die stärkere Berücksichtigung der Bürgerpräferenzen und die Effizienzsteigerung genannt. Diese Argumentationslinie sieht den Wettbewerb der Jurisdiktionen als einen effizienzsteigernden Mechanismus, der eine "disziplinierende" Funktion im öffentlichen Sektor hat.23 Eine zweite Argumentationslinie sieht dagegen den Wettbewerb der Staaten - insbesondere den Steuerwettbewerb - als Ursache für das suboptimale Niveau öffentlicher Güter. Die möglichen unterschiedlichen Wohlfahrtseffekte des institutionellen Wettbewerbs sind nach wie vor Gegenstand theoretischer Debatten, zugleich besteht Bedarf an weiteren empirischen Untersuchungen. 24 Im folgenden soll der Diagnoseansatz nicht von der normativ-wissenschaftlichen, inhaltlichen Bewertung des Systemwettbewerbs ausgehen, sondern es wird versucht, die Funktionsweise in positiv-wissenschaftlicher Sichtweise mit Hilfe von Marktergebniskriterien zu erfassen, die bei wirtschaftlichem Wettbewerb angewendet werden. Vier Wettbewerbsfunktionen stehen im Mittelpunkt des Interesses, nämlich drei ökonomische Funktionen und die Freiheitsfunktion: 25 -
hohe Anpassungsflexibilität des Angebots an Nachfrageänderungen,
-
hohe Fortschrittsrate,
-
Fehlen funktionsloser Einkommen,
-
wirtschaftliche Freiheit.
22 23 24 25
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Koenig/Kühling (1999), S. 517 f. zuerst bei Tiebout (1956). Oates (1999), S. 1137. H e r d z i n a ( 1 9 9 9 ) , S . 52 f.
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Da keine verlässliche theoretische Basis vorhanden ist, um die beobachtbaren Marktergebnisse mit hypothetischen Wettbewerbsergebnissen zu vergleichen und dann den Grad der Funktionsfahigkeit des Wettbewerbs zu bewerten, wird folgende Vorgehensweise gewählt: Ist bei den vier genannten Wettbewerbsfunktionen in ihrer Anwendung auf den Systemwettbewerb eine größere Zahl zufriedenstellender Marktergebnisse feststellbar, dann lassen sich diese - allerdings nur in Verbindung mit den Marktstruktur- und Marktverhaltensaussagen - als Hinweise auf einen funktionsfähigen Wettbewerb der Systeme verwenden.26 Zur Anpassungsfunktion: Die Anpassungsflexibilität des staatlichen Angebots an Regelungen lässt sich diagnostisch abgrenzen von innovativen und imitativen Regeländerungen. Sie beinhaltet die Fälle, in denen es um die verbesserte Durchsetzung bereits bestehender institutioneller Regelungen geht. Die Durchsetzungskomponente - gestützt auf das staatliche Gewaltmonopol - ist ein Merkmal äußerer Institutionen.27 Beispiele für die so interpretierte Anpassungsflexibilität im Systemwettbewerb sind die verbesserte Durchsetzung von Umweltschutznormen und von sozialpolitischen Regelungen (etwa die Verhinderung illegaler Beschäftigung). Es lässt sich feststellen, ob ein Staat überhaupt und in welcher zeitlichen Abfolge institutionelle Regelungen für einen relevanten Markt anpasst. Man kann dies im Länder- und Zeitvergleich darstellen. Damit würde sich die ökonomische Diagnose nicht unmittelbar mit den sogenannten "Meta-Institutionen" des institutionellen Wettbewerbs befassen, die in einem Staat die allgemeinen Rahmenbedingungen für den von Politikern zu fuhrenden Systemwettbewerb zwischen Ländern abstecken.28 Jedoch lassen die empirisch beobachtbaren Anpassungen einzelner Regelungen mittelbare Aussagen darüber zu, welchen politischen Handlungsspielraum die bestehenden "Meta-Institutionen" geben. Zur Fortschrittsfunktion: Änderungen bei den bisherigen Regelungen in einem Staat lassen sich grob nach Innovationen und Imitationen unterscheiden. Bessere öffentliche Leistungen in Form von institutionellen Regelungen sollen die ökonomischen Markttransaktionen erleichtern. Die Entdeckung besserer Regelungen wie auch die Nachahmung von in anderen Staaten entwickelten Regeln können durch den politischen Wettbewerb im demokratischen Zentralstaat (bzw. Bundesstaat) und durch den inter-
26 27 28
Ähnlich Herdzina (1999), S. 58. Vgl. Kiwit/Voigt(1998), S. 313 f. Vgl. Kiwit/Voigt (1998), S. 324.
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nationalen Wettbewerb seitens anderer Staaten angeregt werden. Ob die institutionelle Neuerung in einem Staat eine Anpassung an Regelungen ist, die in anderen Gebietskörperschaften entdeckt wurden (Konvergenzprozess), oder ob es sich um eine neue Ausprägung nationaler Spezialisierung handelt (Diversifizierungsprozess), kann im Einzelfall festgestellt werden. Das Beispiel der Niederlande zeigt, dass Regelungen fur den Arbeitsmarkt mit größerer Flexibilität und schneller als in anderen EU-Mitgliedstaaten verändert worden sind. Solche Veränderungen nationaler Regulierungssysteme sind aus Sicht anderer EU-Mitgliedstaaten und der EU-Kommission praktisch auswertbare Experimente bei der konkurrierenden Suche nach effizienteren Lösungen.29 Die Orientierung an den konkreten Problemlösungen in anderen Staaten "durch den Austausch bester Verfahren" wird von der Kommission der EG auch im Bericht über die Funktionsweise der gemeinschaftlichen Güter- und Kapitalmärkte empfohlen, um das günstigste wettbewerbsfähige und ordnungspolitische Umfeld bereitzustellen.30 Die innovative Anpassung von Regeln an neue ökonomische Probleme und an veränderte Präferenzen der Nachfrager ist für die politischen Anbieter durch den internationalen Wettbewerb um mobile Produktionsfaktoren und kaufkräftige Nachfrage dringender geworden. Die Fortschrittsfunktion des Systemwettbewerbs wird in der Literatur häufig nur normativ-wissenschaftlich geprüft. Dies geschieht dann, wenn beispielsweise der horizontale Wettbewerb zwischen Staaten mit dem Argument kritisiert wird, es käme zu allokativen Störungen mit einem suboptimalen Output an öffentlichen Gütern. Damit ist der Fall des Wettbewerbsversagens angesprochen.31 Es wird auf die Möglichkeit des gegenseitigen Herunterkonkurrierens der Regelungen auf ein Nullniveau verwiesen (vgl. Race-to-the-bottom-Argument). Diese Bedenken werden sehr häufig in bezug auf das Angebot staatlicher Dienstleistungen und das Niveau der Umweltschutznormen diskutiert.32 Dagegen folgt die Diagnose des Systemwettbewerbs mittels der Fortschrittsfunktion der wissenschaftstheoretischen Auffassung, dass auch der institutionelle Wettbewerb ein Such- und Entdeckungsverfahren ist. Damit gibt man die Annahme im neoklassischen Wettbewerbsmodell auf, der Staat habe das Wissen über die notwendigen Regelungen für effiziente Wirtschaftspolitik. Eben wegen
29
30 31 32
Vgl. zum Erkennen der innovativen Kräfte des Systemwettbewerbs das Grünbuch der Kommission zur Konvergenz der Kommunikationsbranchen, in: Koenig (1998), S. 513. Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2000), insb. S. 16. Vgl. Sinn (1990). Vgl. Oates (1999), S. 1134 ff.
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der Begrenztheit des Wissens ist institutioneller Wettbewerb das angemessene Problemlösungsverfahren. Zur Verteilungsfunktion: Der Grundgedanke, durch Wettbewerb bei der Herstellung privater Güter funktionslose, d.h. nicht-leistungsbezogene Einkommen zu verhindern, lässt sich auf die Bereitstellung öffentlicher Leistungen übertragen. Bei Systemwettbewerb ginge es dann darum, das Ausmaß der Anwendung des fiskalischen Äquivalenzprinzips zu diagnostizieren. Die Steuerzahlung soll dem Vorteil entsprechen, den die Wirtschaftsteilnehmer aus der in Anspruch genommenen Staatsleistung erhalten. Der Kosten-Nutzen-Vergleich einer staatlichen Regelung soll durch institutionellen Wettbewerb angeregt werden, um "leistungslose" Staatseinnahmen zu verhindern. Die Anwendung des fiskalischen Äquivalenzprinzips stößt jedoch bei offenen Märkten auf Probleme. Wenn inländische Nachfrager ausländische Produkte kaufen, weil deren staatlich kontrollierte Qualitätsnormen ihren Präferenzen besser entsprechen, dann nutzen sie die institutionelle Regelung im Ausland, ohne finanziell angemessen an deren Errichtung und Erhaltung beteiligt zu sein. Die räumliche Reichweite des öffentlichen Gutes stimmt hier nicht mit dem Kompetenzgebiet der Gebietskörperschaft überein, die dieses Gut anbietet. Gebietsfremde Nutznießer leisten also keinen angemessenen Deckungsbeitrag. Zur Freiheitsfunktion: Neben den ökonomischen Funktionen wettbewerblicher Marktprozesse wird die Freiheitsfunktion angeführt, die je nach dem vertretenen wettbewerbspolitischen Leitbild dominiert (vgl. systemtheoretischer Ansatz) oder komplementär (vgl. wohlfahrtsökonomischer Ansatz) verwendet wird.33 Bei allen Schwierigkeiten der Konkretisierung und Operationalisierung der Freiheitsfunktion des Wettbewerbs lässt sich das Ausmaß der Freiheit im Systemwettbewerb doch ermitteln. Dazu kann man auf den Handlungsspielraum bzw. die Wahlmöglichkeiten der Marktteilnehmer abstellen und nach deren unangemessener bzw. unbilliger Einengung forschen. Welche Freiheitsbindungen könnten bei Systemwettbewerb zwischen Staaten vorliegen? Bei den hier relevanten künstlichen - und damit grundsätzlich korrigierbaren - Behinderungen wird zwischen nicht-willkürlichen und willkürlichen Behinderungen unterschieden. Zu den nicht-willkürlichen Behinderungen des Handlungsspielraums gehören der Mangel an Markttransparenz und an Mobilität. 33
Vgl. Herdzina (1999), S. 106 ff.
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Für die Arbeitnehmer sind die Möglichkeiten, vorteilhafte institutionelle Regelungen an anderen Standorten tatsächlich zu nutzen, wegen mangelnder Mobilität und geringer arbeitsmarktrelevanter Markttransparenz erheblich beschränkt. Die faktische Abwanderung oder Zuwanderung dürfte daher eher der Ausnahmefall sein. Der Faktor Kapital ist weitgehend mobil, und die Markttransparenz wird durch die modernen Informations- und Kommunikationssysteme verbessert. Tatsächliche (und potenzielle) Abwanderung und Zuwanderung haben international bei Real- und Finanzkapital zugenommen. Die Nachfrage der Privathaushalte und Unternehmen nach internationalen Gütern trifft auf relativ wenige nicht-willkürliche Beschränkungen. Die Handlungsmöglichkeiten erweitern sich wegen der sinkenden Transaktionskosten, wie beispielsweise durch konvertible Währungen bzw. einheitliche Währung und abnehmende Informations- und Kommunikationskosten (vgl. E-Commerce). Bei der Diagnose der willkürlichen Behinderungen des Systemwettbewerbs müsste man nach nicht-leistungsbedingten, also unbilligen Beschränkungen des Handlungsspielraums anderer Wettbewerbsteilnehmer suchen, die eindeutig als Beschränkungen der Wettbewerbsfreiheit zu identifizieren sind. Staatlich veranlasste oder praktizierte Beschränkungen sind beispielsweise Harmonisierungskartelle bei Regelungen, verbindliche nationale Normen für Herstellungsverfahren und Produkte u.a. Solche Rechtsregeln schaffen restriktive Nebenbedingungen für das Handeln der Wirtschaftssubjekte. Die Wirtschaftswissenschaft kann dazu beitragen, die ökonomischen Folgen solcher staatlichen Regelsetzungen im einzelnen aufzuzeigen, d.h. Folgenprognose und Folgenbewertung rechtlicher Steuerungsinstrumente zu erstellen.34
5
Schlussbemerkungen
Um das Phänomen des Systemwettbewerbs zwischen Staaten als eigene Wettbewerbsform genauer zu erfassen, erweisen sich die bekannten Diagnoseansätze der Wettbewerbspolitik in vielem als brauchbar. Die Analyse der Voraussetzungen, Prozesse bzw. Verhaltensweisen und Wirkungen wettbewerblichen Geschehens ist auch hier hilfreich und weiterführend. Die Diagnose der Marktstruktur zusammen mit der Abgrenzung des relevanten Marktes für das öffentliche Gut in Form einer institutionellen Regelung können
34
Zu Vorschlägen, den Forschungsgegenstand der Rechtswissenschaft von einer "Rechtsprechungswissenschaft" zu einer Wissenschaft vom Recht zu erweitern vgl. Eidenmüller (1995), S. 3 und S. 397 ff.
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aufzeigen, welche Konstellationen nach allen Erfahrungen wettbewerbsbeschränkende Vorgänge bewirken. Regelungskartelle der Staaten, geringe Markttransparenz sowie Behinderungen der internationalen Mobilität von Kapital und Arbeit sowie von Güter- und Dienstleistungsnachfrage sind solche Sachverhalte. Bei der Diagnose des Marktverhaltens der staatlichen Anbieter kann man Fallgruppen von wettbewerbsbeschränkendem Verhalten heranziehen, die prinzipiell nicht mit funktionsfähigem Wettbewerb vereinbar sind. Hierzu zählen Fälle von kollektivem Marktverhalten (insbesondere Absprachen), Inhalts- und Abschlussbindungen sowie horizontale und vertikale staatliche Behinderungspraktiken. Einige Wirkungen des Systemwettbewerbs lassen sich in Analogie zu den Anpassungs-, Fortschritts- und Verteilungsfunktionen des ökonomischen Wettbewerbs und der Freiheitsfunktion sehr differenziert diagnostizieren. So ist bei den Freiheitsbindungen die Unterscheidung von willkürlichen und nicht-willkürlichen Behinderungen der Handlungsmöglichkeiten der privaten Marktteilnehmer wichtig, denn von den Möglichkeiten, den Freiheitsgrad der Faktor- und Nachfragemobilität zu erhöhen, hängt die Intensität des institutionellen Wettbewerbs ab.
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Zur Ausgestaltung freiheitssichernder Regeln Frank Daumann
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Problemstellung
Die zunehmende Abkehr von einer mechanistischen Betrachtung des Phänomens Wettbewerb und die Thematisierung dieses Phänomens als eines evolutorischen Prozesses führte zu einer erneuten Belebung der als bereits abgeschlossen angesehenen Diskussion um die Ordnungskonformität staatlichen Handelns in weitgehend liberalen sozialen Systemen 1 . Um einen Maßstab für die Zulässigkeit und für die Ausgestaltung staatlichen Handelns zu gewinnen, wird oftmals auf die libertäre2 Ordnungskonzeption F.A.v. Hayeks zurückgegriffen, um daraus Anhaltspunkte für ein evolutorisches Ordnungskonformitätskriterium zu gewinnen. In diesem Ordnungsentwurf sowie im wettbewerbspolitischen Leitbild der Wettbewerbsfreiheit, das wiederum nachhaltig durch die Gedankengänge Hayeks beeinflusst wurde, nimmt die Existenz eines Regelwerks, das bestimmte freiheitssichernde Eigenschaften aufzuweisen hat, einen zentralen Stellenwert ein. Der maßgebliche Verfechter des neuklassischen Konzepts der Wettbewerbsfreiheit beschränkt sich darauf, Regeln zur Sicherung der Wettbewerbsfreiheit zu fordern, die sich vor allem durch die Attribute "allgemein" und "gewiss" auszeichnen3, eine Konkretisierung der Eigenschaften bleibt Hoppmann jedoch weitgehend schuldig. Hayek hingegen hat sich in zahlreichen Schriften mit eben dieser Problematik auseinandergesetzt. Ziel dieser Abhandlung soll es sein, die Konzeption freiheitssichernder Regeln darzustellen, die damit verbundenen Schwächen aufzuzeigen und mögliche Verbesserungsansätze zu diskutieren.
1
2 3
Vgl. hierzu insbesondere Röpke (1942), S. 258 f., Dohrendorf (1952), Thalheim (1957), Watrin (1957), Tuchtfeldt (1960), Seraphim (1963), S. 313 ff. und Gutmann (1986). Zum Begriff "libertär" vgl. Zintl (1983), S. 148 f. Siehe Hoppmann (1967), S. 85 f., ders. (1968), S. 36 f., ders. (1974), S. 14, ders. (1992), S. 4 f.
562
Freiheitssichernde Regeln
2
Präliminarien einer libertären Ordnungskonzeption
2.1
Anthropologische Spezifika
Ausgangspunkt einer libertären Ordnungskonzeption ist ein Menschenbild, das sich vor allem durch die individuelle Verschiedenartigkeit in zahlreichen Aspekten auszeichnet: Individuen haben eine unterschiedliche Ressourcenausstattung. Diese Ressourcen bestehen nicht nur in materiellen Gütern, sondern umfassen ebenso Rechte4, immaterielle Güter, übertragbare Mittel sowie an das Individuum gebundene und auf diese Weise unveräußerliche Fähigkeiten und Fertigkeiten5. Schlichtweg sind Ressourcen "alle Aspekte menschlicher Lebenssituationen, die unter dem Gesichtspunkt einer zu treffenden Entscheidung einer Bewertung unterliegen"6. Somit wird unter dem Begriff "Ressource" all das subsumiert, "was ein Akteur zur Beeinflussung seiner - physischen und sozialen - Umwelt einsetzen kann"7. Die Ressourcen der Individuen sind somit zudem durch ihre Begrenztheit charakterisiert. Trotz dieser Heterogenität lässt sich ein universelles Charakteristikum aller Individuen identifizieren: das Streben nach Verbesserung der individuellen Lage und der individuellen Lebensbedingungen8. Konkretisiert wird dieser Impetus durch die individuellen Bedürfnisse, deren Befriedigung das Individuum unterschiedliche Nutzwerte beimisst9, wodurch sich zwangsläufig Unterschiede zwischen den Bedürfnissen und damit zwischen den Präferenzstrukturen der Individuen ergeben. Die unterschiedliche Ressourcenausstattung, die verschiedenen Präferenzstrukturen und das individuelle Streben nach Verbesserung der eigenen Situation bilden die Grundlage menschlichen Handelns. Dieses Handeln wird außerdem durch eine selektive und durch subjektive Theorien geleitete Wahrnehmung der tatsächlichen
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5 6 7 8 9
Aus Property Rights-theoretischer Sicht ist mit dem Eigentum an materiellen Gütern zwangsläufig das Innehaben bestimmter Rechte verbunden. Insbesondere zählen dazu das Entscheidungsrecht über die Verwendung und Veränderung des Gutes (usus, abusus), die Verantwortung für die Folgen der Entscheidung der Güterverwendung (usus fructus) sowie das Recht, diese Rechte zu übertragen (Alchian 1977). Coleman (1974/75), S. 758, 760, ders. (1979), S. 25, ders. (1991), S. 33 ff. Albert (1978), S. 165. Vanberg (1982), S. 11. Smith (1974), S. 382, Ferguson (1923), S. 7, 13, Hume (1973), S. 238 f. Coleman (1978), S. 80 ff.
Freiheitssichernde Regeln
563
Gegebenheiten10 und die Ungewissheit über das Eintreten zukünftiger Umweltzustände, also durch mehr oder minder zutreffende Erwartungen geprägt". 2.2
Das Handlungsmodell
Abb. 1: Das Handlungsmodell Der Individualität menschlicher Handlungsträger wird durch ein spezifisches Handlungsmodell Rechnung getragen, das Ausfluss eines methodischen Individualismus12 ist. Ein beliebiges Individuum I, das sich durch die Spezifität der Ausprägungen der Eigenschaftskategorien E t bis En auszeichnet, kann in verschiedene Situationen S kommen, in denen es eine Handlungsalternative A ausüben kann. Diese wahrgenommene Handlungsalternative kann wiederum zu unterschiedlichen Handlungsergebnissen HE führen. Das tatsächliche Handlungsergebnis beeinflusst wieder die Eigenschaften des Individuums.
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Siehe Hayek (1952), S. 143. Vgl. auch Witt (1987), S. 127 ff., der die psychologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens umfassend darstellt. " Hayek (1969d), S. 171, ders. (1976b), S. 103 f., S. 121, spricht in diesem Zusammenhang von "konstitutioneller Unwissenheit". 12 Vgl. hierzu den Überblicksartikel von Meran (1979).
564
Freiheitssichernde Regeln
Die oben bezeichneten anthropologischen Spezifika zeichnen sich nun dadurch aus, dass Individuen hinsichtlich der Eigenschaftskategorien Ei bis E n unterschiedliche Ausprägungsbündel aufweisen.
3
Die Konzeption freiheitssichernder Regeln bei Hayek
Nachdem nun die Präliminarien einer libertären Ordnungskonzeption dargelegt wurden, soll im folgenden Hayeks Forderung nach individueller Freiheit und das Instrumentarium, mit dem dieses Ziel erreicht werden soll, erläutert werden. 3.1
Die Forderung nach individueller Freiheit
Vor dem Hintergrund eines derartigen Menschenbildes erscheint ein normativer Individualismus nur als folgerichtig. Durch diese Verortung auf normativer Ebene erlangt das Postulat der maximalen Freiheit des Individuums höchste Priorität13. Individuelle Freiheit bedeutet, dass der einzelne in der Lage ist, ohne Rücksicht auf die Ziele anderer zu handeln unbeachtlich seiner faktischen Möglichkeiten, diesen Spielraum auch zu füllen 14 . Dies setzt zwangsläufig voraus, dass ein derartiger Spielraum - die Privatsphäre15 - vorhanden ist, in dessen Grenzen das Individuum nach eigenen Zielen entscheiden und handeln kann und der somit allenfalls durch ein Minimum an intentionalem, durch andere Individuen ausgeübten Zwang beeinträchtigt wird 16 . Da in jeder Gesellschaft eine Vielzahl von Individuen aufeinander trifft, ja das Phänomen Gesellschaft sich gerade durch diesen Sachverhalt konstituiert, führt eine unbegrenzte Freiheit des einzelnen notgedrungen zu einer Eingrenzung der Freiheit anderer Individuen17. Individuelle Freiheit darf somit nicht als totale Freiheit, sondern muss als Gegenüberfreiheit interpretiert werden, die - wird das Postulat maximaler individueller Freiheit berücksichtigt - allen Individuen in glei-
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Nach Zeitler (1995), S. 161 ff., gibt es bei Hayek nicht nur eine normative Grundlage für die Forderung nach individueller Freiheit; vielmehr finden sich bei Hayek noch Ansätze einer epistemologischen Begründung. Individuelle Freiheit ist deshalb notwendig, damit das dezentral bei den Individuen vorhandene Wissen auch genutzt werden kann. Zudem lassen sich in Hayeks Argumentation auch Indizien fur ein instrumentelles Verständnis der individuellen Freiheit ausmachen: So ist Freiheit Vorbedingung, dass Individuen ihre Ziele realisieren können. Hayek (1983), S. 21 ff. Hayek (1980), S. 147 ff. Hayek (1983), S. 14. Zum Paradoxon der Freiheit siehe Popper (1980a), S. 156 ff., Anm. 4 und 6 zu Kapitel 7, ders. (1980b), S. 58, 153 f.
Freiheitssichernde Regeln
565
chem Umfang zugestanden wird18. Eine gleichmäßige Zuordnung der individuellen Freiheit bedeutet die Untersagung von Privilegien für bestimmte, willkürlich ausgewählte Gruppen und der Diskriminierung bestimmter, willkürlich ausgewählter Gruppen und Einzelpersonen 19 . Damit erhält das Phänomen Zwang seine inhaltliche Verortung: Unter Zwang versteht Hayek "... eine solche Veränderung der Umgebung oder der Umstände eines Menschen durch jemand anderen ..., daß dieser, um größere Übel zu vermeiden, nicht nach seinem eigenen zusammenhängenden Plan, sondern im Dienste der Zwecke des anderen handeln muß."20 Somit zeichnet sich das Phänomen Zwang 21 nach Hayek 22 im wesentlichen durch zwei Charakteristika aus, nämlich durch 1. die Androhung negativer Sanktionen, die darauf gerichtet ist, 2. beim Bedrohten ein bestimmtes Verhalten zu erreichen23. Zur Zuordnung größtmöglicher individueller Freiheitsspielräume bedarf es nun einer Rechtsordnung, die sicherstellt, dass das Individuum weitgehend seine eigenen Ziele verfolgen kann24. Zugleich muss die Rechtsordnung die Freiheit des
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Hayek (1979), S. 22. Hayek (1983), S. 186. Hayek (1983), S. 27. Hayek (1983), S. 161, bemüht daher bei der Definition des Begriffs "Zwang" die Unterscheidung zwischen Zwang durch Umstände ("compulsion") und Zwang durch Menschen ("coercion"). Hayek (1983), S. 162. Kritische Einwände zu Hayeks Definition des Begriffs "Zwang" finden sich beispielsweise bei Rothbard (1980) und Viner (1961). Insbesondere ist vor allem die Ansicht Hayeks (1983), S. 166 ff., der Staat dürfe nur zur Vermeidung schweren durch andere Individuen ausgeübten Zwangs eingreifen, Gegenstand der Kritik. So bleibt Hayek eine Konkretisierung der unterschiedlichen Grade des Zwangs schuldig (Viner (1961), S. 231), weswegen sich der Zeitpunkt, ab dem staatliches Eingreifen zu rechtfertigen ist, nicht bestimmen lässt (Hoy (1984), S. 20). Vgl. auch Hayek (1979), S. 23. Eine besonders fruchtbare Darlegung des Phänomens der individuellen Freiheit findet sich bei Bouillon (1997), S. 79 ff. Individuelle Freiheit ist danach stets in einem Beziehungsgeflecht von Individuen zu verstehen, die in der Lage sind, zu handeln. Bouillons Freiheitsdefinition beruht auf einer analytischen Trennung von Entscheidungssituationen: Erhält ein Individuum ein Angebot, so kann es hinsichtlich dieses Angebotes entscheiden, ob es (a) das Angebot überhaupt in Erwägung zieht (Metawahl) und (b) bei einer positiven Metawah! welche inhaltliche Alternative des Angebots es wahrnehmen möchte (Objektwahl). Treten Meta- und Objektwahl simultan auf, so spricht Bouillon von einer Doppelwahl. Individuelle Freiheit konstituiert sich nach Bouillon in Anlehnung an Hayek als Abwesenheit von Zwang, wobei dieser Zwang von Dritten ausgeübt wird und wobei ohne diesen Zwang der Freiheitsspielraum des Gezwungenen nicht verändert würde. Zwang setzt dabei die Existenz von Eigentumsrechten voraus, die es dem Zwingenden ermöglichen, den Gezwungenen bewusst, also mit einer Zielsetzung, von der Nutzung bestimmter Güter auszuschließen. Dabei definiert Bouillon Zwang als das erwartete Auftreten von besonderen künstlichen Kosten ("Folgekosten") in Form einer Einengung des individuellen Handlungsspielraums, die sich daraus ergeben, dass der Gezwungene eine negative Metawahl bei einem Angebot trifft. Nach Bouillon verfugt eine Person somit dann über individuelle Freiheit, "solange sie - in eine
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Freiheitssichernde Regein
einzelnen so einschränken, dass der Freiheitsspielraum allen Individuen eine äquivalente Nutzung ermöglicht. Nach Hayek ist, um für alle Individuen äquivalent ausgestaltete Freiheitsspielräume zu gewährleisten, ein Bündel von Regeln notwendig, die bestimmten Anforderungen genügen25. 3.2
Konkretisierung der freiheitssichernden Regeln
Hayek unterscheidet zwischen einer Regel mit Gesetzescharakter (allgemeine Regel gerechten Verhaltens oder nomos) und dem Befehl (Thesis); letzterer zeichnet sich dadurch aus, dass er "... nur auf bestimmte Personen anwendbar ist oder den Zwecken der Herrschenden dient."26. Damit die Rechtsordnung ein Maximum an individueller Freiheit gewährleisten kann, muss sie aus Regeln mit Gesetzescharakter und nicht aus Befehlen bestehen. Sie muss die "... Individualsphären vor äußerem Zugriff, vor gezieltem Zwang ..." schützen27. Derartige Regeln sind universal, offen, abstrakt, gewiss und widerspruchsfrei auszugestalten.
3.2.1
Universalität
Hayeks Überlegungen gehen von der Verflochtenheit menschlichen Handelns aus28. Demzufolge müssen auch die Regeln des Regelwerkes an den Handlungen der Individuen anknüpfen. Bei der Ausgestaltung einer Regel lassen sich nun Anwendungsbereich und Regelungsinhalt unterscheiden29. Dabei umfasst der Anwendungsbereich im dargestellten Handlungsmodell die Kategorie Indivi-
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29
Doppelwahlsituation gestellt - eine negative Metawahl treffen darf, ohne dabei künstliche Folgekosten Dritter, die sich auf ihren privaten Handlungsspielraum auswirken, erwarten zu müssen." (Im Original kursiv). Siehe hierzu auch Bouillon (1995). Hayeks Überlegungen in diesem Zusammenhang sind maßgeblich durch Kant sowie die schottischen Moralphilosophen geprägt (Hayek (1969d), S. 178, ders. (1969c), S. 114 ff., ders. (1969f), ders. (1979), S. 11 f., ders. (1976a), S. 12, ders. (1983), S. 207 f f , Gray (1995), S. 4 ff., S. 56 ff., Kukathas (1989), Streit (1992b), S. 15 ff.). Hayek (1969e), S. 212; siehe weiterhin Hayek (1969a), S. 49 ff., ders. (1969c), S. 112 f., ders. (1969d), S. 177 f., ders. (1983), S. 180 ff. Zintl (1983), S. 167. So heißt es bei Hayek (1969c), S. 114: "... Gerechtigkeit kann nur sinnvoll auf menschliche Handlungen bezogen werden und nicht auf einen Zustand als solchen, es sei denn, es würde klargemacht, ob er durch jemanden bewußt herbeigeführt wurde oder hätte herbeigeführt werden können ...". Eine auf dieser Unterscheidung basierende inhaltliche Ausfüllung der Forderung nach Universalität der Regeln findet sich bei Popper (1980a), S. 130. Nach Popper muss eine gleichmäßige Verteilung der Eingrenzung der individuellen Freiheit auf alle Individuen einhergehen mit einer gleichen Behandlung vor dem Gesetz durch unabhängige und unparteiische Gerichtshöfe; zudem dürfen durch das Gesetz näher spezifizierte Personen oder Personenzusammenschlüsse weder bevorzugt noch benachteiligt werden. Mackie (1983), S. 108, differenziert zwischen formalen und inhaltlichen Kriterien bei der Universalität von Regeln.
Freiheitssichernde Regeln
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duum. Der Regelungsinhalt bezieht sich hingegen auf die Kategorie Situation sowie auf die Handlungsalternativen und die Handlungsergebnisse. Mit der Forderung nach Universalität der Regeln sind entsprechende Folgen fur den Anwendungsbereich in personeller, zeitlicher und räumlicher Hinsicht verbunden30: Die Regel muss der Forderung nach personeller Indifferenz genügen. Die Regel ist auf alle Individuen anzuwenden31. Personelle Indifferenz bedeutet somit, dass der Anwendungsbereich sich nicht auf bestimmte Personen oder Gruppen beschränkt32. Insofern kongruiert Universalität mit dem Postulat der Isonomie, der Gleichheit vor dem Gesetz33. Die Forderung nach personeller Indifferenz bewirkt somit, dass die Regel unabhängig von ihrem Inhalt universell auf sämtliche Individuen ohne Ansehen ihres Standes, ihrer Religion, ihrer Hautfarbe etc., also ohne Berücksichtigung der individuellen Ausprägungen der Eigenschaftskategorien Ei bis En anzuwenden ist. Der Regelinhalt selbst kann durchaus eine nach unterschiedlichen personellen Kriterien differenzierte Behandlung der Individuen vorsehen. Insofern genügt beispielsweise eine Subventionierung von Binnenschiffern dem Kriterium der personellen Indifferenz, da die Regel auf alle Individuen angewandt wird, obgleich sich der Regelinhalt nur auf Individuen, die ein Binnenschifffahrtsgewerbe betreiben, bezieht. Zeitliche Konkretisierung und räumliche Indifferenz runden schließlich den Forderungskatalog ab, der nach Hayek an den Anwendungsbereich einer Regel zu stellen ist. In diesem Zusammenhang bedeutet die zeitliche Konkretisierung, dass die Regel für die Zukunft gelten muss und eine Rückwirkung ausgeschlossen ist34. Eine Vermeidung der Ungleichbehandlung wird weiterhin durch die uneinge-
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In der Terminologie Mackies (1983), S. 105, handelt es sich hierbei im wesentlichen um die "Irrelevanz numerischer Unterschiede". Die "Irrelevanz numerischer Unterschiede" besagt, dass Individuen gleich zu behandeln sind, es sei denn, es besteht ein qualitativer Unterschied, der eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt. Hayek (1979), S. 25. Hayek (1983), S. 185, ders. (1981a), S. 58, ders. (1969e), S. 211 f. Der Gerechtigkeitsbegriff findet somit eine Ausfüllung im Sinne formaler Gleichheit respektive im Sinne der Verhaltens- oder prozeduralen Gerechtigkeit. Vgl. hierzu insbesondere Streit (1988), S. 41 f., ders. (1991), S. 213 ff. und Hayek (1969c), S. 114 ff. Die Forderung nach formaler Gleichheit erweist sich zugleich als unvereinbar mit jeglichem Ansinnen nach materieller Gleichstellung (Hayek (1969c), S. 117 ff., ders. (1981a), S. 93 ff., ders. (1979), S. 30 ff., ders. (1983), S. 105 ff.). Hayek (1983), S. 270.
568
Freiheitssichernde Regeln
schränkte räumliche Gültigkeit der Regeln garantiert, wodurch der Forderung nach räumlicher Indifferenz Rechnung getragen wird35. Regeln, die die Anforderungen der personellen und räumlichen Indifferenz sowie der zeitlichen Konkretisierung erfüllen, gewähren den Individuen eine formelle Gleichbehandlung, also im engeren Sinne "Gleichheit vor dem Gesetz". Damit bleiben jedoch nach wie vor Differenzierungen nach individuellen und situativen Eigenschaftskategorien möglich. Eine Subventionierung der Stahlindustrie, in deren Genuss nur die Produzenten eines ausgewählten Landstrichs kommen, ist mit den bisherigen Forderungen problemlos vereinbar. Diese Eigenschaften allein werden jedoch von Hayek als noch nicht ausreichend erachtet. Deswegen stellt er weitere Forderungen an den Regelungsinhalt. Hayek will die Isonomie durch eine partielle situative Indifferenz ergänzt wissen. Eine Regel ist demnach so auszugestalten, dass keine konkreten Umstände anzuführen sind, die die Anwendbarkeit der Regel begrenzen; vielmehr darf sie sich nur "auf solche Bedingungen ..., die jederzeit und überall auftreten können ,.."36 beziehen. Die Regel muss somit für eine unbekannte Anzahl von Fällen geschaffen sein37. Hayek 3 spricht in diesem Zusammenhang von "objektiven Umständen". Im Rahmen des Handlungsmodells bedeutet dies, dass die Regel abhängig von den Situationen, in denen sich ein Individuum befinden kann und die sich durch die entsprechenden Ausprägungen der Eigenschaftskategorien Sj bis sm exakt identifizieren lassen, ausgestaltet werden kann. Die bisherigen Kriterien würde beispielsweise eine Subvention aller in Not geratenen Unternehmen erfüllen. Weiterhin ergänzt Hayek die formelle Seite der personellen Indifferenz um materielle Aspekte: Bei freiheitssichernden Regeln ist auszuschließen, dass "deren prinzipielle Auswirkung auf einzelne identifizierbare Individuen oder Gruppen beabsichtigt oder bekannt wäre ,.."39. Eine implizite Differenzierung nach individuellen Eigenschaftskategorien kann demzufolge dann vorgenommen werden, wenn die Regel nicht deshalb geschaffen wird, damit die mit ihr verbundenen Auswirkungen benennbare Individuen positiv oder negativ betreffen. Neben der impliziten Differenzierung erlaubt Hayek auch eine explizite Differenzierung nach individuellen Eigenschaftskategorien: Freiheitssichernde Regel dür35
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Vgl. Hayek (1983), S. 270. Kritisch äußert sich hierzu Leoni (1961), S. 72 f., der sich gegen eine Zentralisierung des Rechts wendet. Im Mittelpunkt der Überlegungen Leonis steht jedoch das Gewohnheitsrecht. Hayek (1983), S. 181. Hayek (1981b), S. 152. Hayek (1969e), S. 211. Hayek (1981b), S. 152.
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fen im Regelinhalt eine Unterscheidung nach Klassen von Individuen bemühen 40 . Bei der expliziten Differenzierung muss jedoch sichergestellt werden, dass eine mehrheitliche Zustimmung über die zu treffende Unterscheidung sowohl auf Seiten der Einbezogenen als auch auf Seiten der Ausgeschlossenen besteht41. Damit lassen sich Regeln, die Hayeks Universalitätskriterium erfüllen, wie folgt charakterisieren: 1. Die Anwendung der Regeln erfolgt unabhängig von individuellen Eigenschaftskategorien sowie örtlicher Gegebenheit und ist in Hinsicht auf die Anwendungsdauer konkretisiert. 2. Die Regel kann eine Differenzierung nach nicht einmaligen situativen Merkmalen vorsehen etwa in der Form: Wenn ein Individuum sich in der Situation Si befindet, hat es die Handlungsalternative Ai auszuüben. 3. Der Regelinhalt darf eine implizite Differenzierung nach individuellen Merkmalen nur dann vornehmen, wenn damit nicht die grundsätzlichen Auswirkungen auf einzelne benennbare Individuen beabsichtigt ist. 4. Der Regelinhalt kann eine explizite Differenzierung nach individuellen Eigenschaftskategorien vorsehen. Dabei muss eine mehrheitliche Zustimmung sowohl der eingeschlossenen als auch der ausgeschlossenen Gruppe vorliegen. 3.2.2
Offenheit
Die Offenheit einer Regel wird dadurch erreicht, dass nicht bestimmte Handlungen vorgeschrieben, sondern dass Handlungen verboten werden, die einen Eingriff in die individuelle Freiheit anderer zur Folge hätten42. In der Terminologie des Handlungsmodells konkretisiert sich die Forderung nach Offenheit durch das Verbot, eine Handlungsalternative A auszuüben, die genau spezifiziert ist. Zwar wird dadurch der Freiheitsbereich des einzelnen eingeschränkt, innerhalb dieses persönlichen Freiheitsspielraumes kann der einzelne jedoch unter Maßgabe der eigenen Zielvorstellungen eine Auswahl aus zumindest formal denkbaren ver-
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"Ein Gesetz kann vollkommen allgemein sein, indem es nur formale Eigenschaften der darin vorkommenden Personen erwähnt, und doch fur verschiedene Klassen von Menschen verschiedene Vorkehrung treffen ..." (Hayek (1983), S. 272). Hayek (1983), S. 186. Hayek (1980), S. 165, ders. (1981b), S. 139 f., ders. (1979), S. 25. Hayek (1969c), S. 113, ders. (1983), S. 172 f f , ders. (1981a), S. 59, lässt jedoch von dieser Anforderung Ausnahmen zu, die beispielsweise die Erste Hilfe, die Wehrpflicht und die Besteuerung betreffen.
570
Freiheitssichernde Regeln
schiedenen Handlungsalternativen treffen. Werden hingegen konkrete Handlungen vorgeschrieben, so verliert die Regel ihren zweckfreien Charakter und ordnet die Handlungen des einzelnen in den Dienst vermeintlich übergeordneter Ziele ein. Eine Handlungsanweisung im Sinne eines Befehls lässt sich jedoch bei einer begrenzten Anzahl an Handlungsalternativen leicht als Handlungsverbot tarnen und wird somit dem Kriterium der Offenheit aus rein formalen Gesichtspunkten gerecht. Das Universalitätsprinzip verhindert jedoch eine weitgehende Einschränkung eines derartigen Spielraums für Willkür. Zudem darf das Offenheitserfordernis nicht rein formal, sondern muss inhaltlich interpretiert werden. 3.2.3
Abstraktheit
Nach Hayek müssen die Regeln für eine unbekannte Anzahl von Fällen und Personen in der Zukunft anwendbar sein43. Um dies leisten zu können, muss die Regel abstrakt sein; ansonsten wäre sie nicht auf eine unbekannte Anzahl künftiger Fälle anwendbar 44 . Der Regelinhalt darf sich demzufolge weder auf einen einzelnen konkreten Sachverhalt richten, noch dürfen Eigennamen in der Regel genannt werden 45 . Folgerichtig lässt sich die Forderung nach Abstraktheit, die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für den Gesetzescharakter einer Regel ist, als Konsequenz des Universalitätsprinzips auf semantischer Ebene interpretieren. Deutlich wird das Erfordernis der Abstraktheit beispielsweise an § 1 UWG: "Wer im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Handlungen vornimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen, kann auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen werden." Das abstrakte Verbot von Handlungen wider die guten Sitten erfasst eine Vielzahl von zukünftigen Handlungsalternativen. Untersagt man jedoch konkrete Handlungsalternativen, also gestaltet man die Regelung weniger abstrakt aus, werden Umgehungsmöglichkeiten nicht erfasst und die Regel ist nicht mehr für eine unbekannte Zahl zukünftiger Fälle anwendbar 46 .
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Hayek (1983), S. 270, ders. (1981b), S. 152. Hayek (1969d), S. 177, ders. (1983), S. 200, ders. (1980), S. 136 f. Hayek (1983), S. 247. Daumann/Hösch (1998).
Freiheitssichernde Regeln
3.2.4
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Gewissheit
Nach Hayek'' 7 muss das Regelwerk so gestaltet sein, dass die Regeln bzw. deren Inhalt zu den Daten gehören, die das Individuum "... in Verbindung mit seiner Kenntnis der besonderen Umstände von Ort und Zeit als Grundlage für seine Entscheidung gebrauchen kann." Damit kommt die Forderung nach Gewissheit des Regelwerks und somit nach Rechtssicherheit zum Ausdruck. Rechtssicherheit bezieht sich dabei sowohl auf den Regelinhalt und auf den Anwendungsbereich als auch auf die zeitliche Dimension: In diesem Zusammenhang muss in Rechnung gestellt werden, dass menschliches Handeln auf Erwartungen beruht. Ein Ausloten des nachhaltig gültigen individuellen Freiheitsspielraums und auf diese Weise eine Erleichterung der Erwartungsbildung setzen voraus, dass zum einen zu unterlassende Handlungen eindeutig als solche bestimmt sind und dass zum anderen die Anwendung des Regelwerks ohne Ausnahmen erfolgt 48 . Insofern korrespondiert die Forderung nach Gewissheit zwangsläufig mit dem Universalitätsprinzip. Ist der Inhalt des Regelwerks gewiss und wird es ohne Einschränkungen angewendet, dann empfindet das Individuum das Regelwerk gleichsam als "natürliches Hindernis"49. Gewissheit im Bereich des Regel inhalts und des Anwendungsbereichs gewährleistet, dass das Regelwerk als sichere Grundlage in die Pläne der einzelnen Individuen eingeht und auf diesem Weg zweckgerichtetes Handeln erst ermöglicht50. Insofern geht das Kriterium der Gewissheit über Hayeks Universalitätsprinzip hinaus, denn eine Regel, die im Anwendungsbereich und im Regelinhalt gewiss ist, lässt keine Ermessensspielräume offen bzw. ordnet keine Entscheidungsspielräume bei der Anwendung der Regel auf Grundlage eines anderen zusätzlichen Kriteriums zu. Eine Regel würde beispielsweise dann zumindest dem Hayekschen Universalitätskriterium entsprechen, wenn sie ein Verbot einer bestimmten Handlung zum Gegenstand hat, von diesem Verbot aber Ausnahmen gemacht werden können, wenn der konkrete Sachverhalt bestimmten Kriterien genügt. Diese Regel wäre aber nicht gewiss, da erst in einem konkreten Anwendungsfall
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Hayek (1981b), S. 183. Vgl. Hayek (1983), S. 190, 270 ff. In diesem Zusammenhang sei auf die Bedeutung des Austauschprinzips für die Stabilisierung des Verhaltens der Individuen hingewiesen. Sobald einzelne Handlungen in der Erwartung ausgeführt werden, dass Dritte ebenso handeln, liegen bereits Ansätze einer Regel vor (Hume (1973), S. 266 ff.). Hayek (1983), S. 172. Vgl. Hayek (1983), S. 184, 191, ders. (1980), S. 137. Vgl. auch die Literatur zur Rechtssicherheit bei Hayek (1983), S. 270, Fn. 13.
572
Freiheitssichernde Regeln
zu prüfen wäre, ob die Voraussetzungen für eine Ausnahme von dieser Regel gegeben sind51. Gewissheit im Bereich des Regelinhalts und des Anwendungsbereichs bleibt jedoch dann ohne Bedeutung, wenn die Dauer der Gültigkeit der Regeln unbekannt ist oder wenn das Regelwerk einer hohen Dynamik ausgesetzt ist. Demzufolge ergänzt die Forderung nach unbeschränkter zeitlicher Gültigkeit nur konsequent die beiden anderen Rechtssicherheitskomponenten. Nun lässt sich jedoch nicht von der Hand weisen, dass sich in einer sich entwickelnden Gesellschaft - wobei hier aus ontologischer Sicht damit nicht das Eingeständnis der Existenz einer übergeordneten Seinsgegebenheit verbunden sein soll - Anpassungserfordernisse für das Regelwerk ergeben. Insofern lässt sich eine unbeschränkte Gültigkeit des gesamten Regelwerks niemals erreichen, sondern muss von vornherein ideellen Wert haben. Hayek bescheidet sich daher auch mit der Forderung nach Unterlassung vermeidbarer Ungewissheit 52 . Dieser Anforderung wird genüge getan, wenn eine Konkretisierung der Gültigkeitsdauer der Regel vorgenommen wird, wie dies bereits im Rahmen der Forderung nach Universalität verlangt wird. Das Regelwerk stellt eine äußere Institution53 dar; sofern es der Forderung nach Gewissheit genügt, erlaubt es den Individuen, bestimmte zukünftige Folgen ihres Handelns auszuschließen und damit die Ungewissheit in gewissem Umfang zu reduzieren 54 . 3.2.5
Widerspruchsfreiheit
Rechtssicherheit muss dort leere Programmatik bleiben, wo die Widerspruchsfreiheit des Regelwerks nicht vorhanden ist. So fuhren Widersprüche zwischen den einzelnen Regeln des Regelwerkes dazu, dass Unsicherheiten bei den Folgen
51
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Im Wettbewerbsrecht lässt sich dieser Unterschied gut verdeutlichen. So existieren teilweise per seVerbote (beispielsweise im Rahmen der Behandlung des Missbrauchs der marktbeherrschenden Stellung) neben dem rule of reason-Ansatz (ζ. Β. bei der Fusionskontrolle). Während die per seVerbote dem Kriterium der Gewissheit genügen - eine bestimmte, konkretisierte Handlung ist untersagt - wird bei der rule of reason eine Einzelfallbetrachtung angestellt, wobei das Kriterium "drohende wesentliche Wettbewerbsbeeinträchtigung bzw. Erlangen/Verstärken einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne des § 22 GWB" Anwendung findet (Sangmeister (1975), Streit (1992a), S. 688). Siehe Hayek (1981a), S. 170. Die Vermeidung einer zu hohen Rechtsdynamik findet sich auch in Euckens (1990), S. 287 f., holistischem Ansatz der Ordnungspolitik; vor allem in der Forderung nach Konstanz der Wirtschaftspolitik wird dies deutlich. Zum Begriff "äußere Institution" siehe Lachmann (1963), S. 66 f. und Schüller (1983), S. 149 ff. Damit ist zugleich eine Verminderung der Transaktionskosten verbunden (Posner (1972), S. 65 ff., Kunz (1985), S. 3). Ein Überblick über die Wirkung von Institutionen auf die Transaktionskosten findet sich bei Streit und Wegner (1989), S. 190 ff.
Freiheitssichemde Regeln
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konkreter in Aussicht genommener Handlungen entstehen. Ein Verlust an Gewissheit ist die Konsequenz. Das Regeigefuge muss daher konsistent, d.h. inhaltlich und vom Anwendungsbereich auf einander abgestimmt sein55, so dass die Regeln nicht miteinander konfligieren 56 . Eine bestimmte Handlung darf daher nicht in Abhängigkeit von der angewandten Regel unterschiedliche Handlungsfolgen zeitigen. Nur bei einem konsistenten Regelwerk wird der Zusammenhang zwischen Handlung und deren Auswirkungen für den Handelnden offenkundig, der zur Erleichterung der Erwartungsbildung und damit zur notwendigen Reduzierung der Ungewissheit beiträgt. Neben seiner Bedeutung fur die Gewissheit des Regeigefuges erweist sich das Erfordernis der Widerspruchsfreiheit vor allem für eine intendierte Weiterentwicklung des Regelwerks als unabdingbar57. Damit sind die Eigenschaften, denen eine freiheitssichernde Regel nach Hayek zu genügen hat, umrissen.
4
Unzulänglichkeiten der Konzeption Hayeks
An Hayeks Konzept freiheitssichernder Regeln wird in mancherlei Hinsicht Kritik geübt. Lässt man die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von willkürlichen Zwang unberücksichtigt, so werden der Konzeption vor allem die folgenden drei Mängel vorgeworfen: 1. Die Anwendung von Hayeks Universalitätskritierum biete keinen wirksamen Schutz gegen symmetrische Beschneidungen der Freiheit. 2. Das Universalitätskritierum sei aufgrund der realiter unterschiedlichen Betroffenheit der Individuen nicht in der Lage, Diskriminierungen und Privilegierungen zu unterbinden. 3. Der Trade-off zwischen Gewissheit und Abstraktheit erscheine als nicht lösbar und offenbare die mangelnde Praktikabilität des Ansatzes.
55 56 57
Vgl. auch Hayeks (1981a), S. 42, Definition des Begriffs "Konsistenz". Hayek (1969c), S. 114 f., ders. (1969b), S. 104 f. Vgl. Popper (1974), S. 47 ff., 51 ff., ders. (1980a), S. 213 ff. und die dortigen Anmerkungen. Zur evolutorischen Genese des Regelwerks, der in diesem Zusammenhang keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll, vgl. Ferguson (1923), S. 171, Hayek (1969b), S. 102 ff. und Popper (1974), S. 52, ders. (1980b), S. 118.
574
Freiheitssichernde Regeln
4.1
Freiheitsbeschränkung trotz Universalität
In der einschlägigen Literatur wird bemängelt, dass die Forderung nach Universalität nicht die in sie gesteckten Erwartungen erfüllen würde, größtmögliche individuelle Freiheitsspielräume zu garantieren. Nach Robbins 58 und Rees59 reicht Hayeks Kriterium der Universalität nicht aus, um starke Einschränkungen der individuellen Freiheit zu verhindern. So wird angeführt, dass sich umfangreicher Zwang selbst durch allgemeine Gesetze ausüben lasse. Tatsächlich kann die individuelle Freiheit - ungeachtet der Problematik der Diskriminierung - durch allgemeine Gesetze, die dem Hayekschen Universalitätskriterium genügen, zunehmend eingeschränkt werden. So erfüllt paradoxerweise das Verbot, Handel zu betreiben, durchaus Hayeks Kriterium der Universalität und auch die übrigen Anforderungen, die Hayek an freiheitssichernde Regeln stellt: Im Anwendungsbereich ist den Anforderungen der personellen und räumlichen Indifferenz genüge getan, da weder Eigennamen noch räumliche Begrenzungen angeführt werden, die den Geltungsbereich der Regel einschränken. Ebenso lässt sich die Geltungsdauer exakt spezifizieren. Zudem wird die Regel den Anforderungen der partiellen situativen Indifferenz gerecht. Eine Unterscheidung nach Klassen wird nicht bemüht; auch kann davon ausgegangen werden, dass die prinzipielle Auswirkung auf einzelne identifizierbare Individuen nicht beabsichtigt oder bekannt ist. Weiterhin genügt eine derartige Regel durchaus der Forderung nach Offenheit: So wird eine bestimmte Handlungsalternative des Individuums untersagt; alle anderen Handlungsalternativen bleiben unberührt. Auch erscheinen die restlichen Anforderungen Hayeks als erfüllt. Durch eine Vielzahl derartiger Regeln lasse sich nun der individuelle Freiheitsspielraum so stark einengen, dass der Zielsetzung - größtmögliche individuelle Freiheitsspielräume zu konstituieren - keinesfalls mehr entsprochen werde. Ungeachtet der Auswirkungen auf die individuelle Freiheit im Sinne der Abwesenheit von willkürlichem, intentionalen Zwang lässt sich nicht bestreiten, dass eine Vielzahl von Regeln den Hayekschen Kriterien genügt.
58 39
Robbins (1961), S. 69. Rees (1963), S. 355.
Freiheitssichernde Regeln
4.2
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Diskriminierung und Privilegierung trotz Universalität
In der Literatur wird weiterhin moniert, dass die Möglichkeit einer impliziten Differenzierung nach individuellen Merkmalen Diskriminierungen bzw. Privilegierungen einzelner Gruppen oder Personen erlaube, zumal das Kriterium "fehlende Absicht, Wirkungen auf benennbare Individuen zu erzielen" nicht wirksam umzusetzen sei. So sind von allgemein gültigen Regeln, die sich keiner expliziten Differenzierung nach individuellen Merkmalen bedienen, durchaus nur bestimmte benennbare Personengruppen betroffen 60 . Beispielsweise gelte das Verbot, am Sonntag Sport zu treiben, für die gesamte Bevölkerung, diskriminiere jedoch in einem vornehmlich durch Protestanten bewohnten Land andere, eindeutig benennbare Konfessionsgruppen und Glaubensgemeinschaften 61 . Insofern ließen sich durch vermeintlich freiheitssichernde Regeln, die sicherlich auch die sonstigen Anforderungen erfüllen würden, einzelne Bevölkerungsgruppen gezielt diskriminieren oder auch privilegieren. Die Zulässigkeit einer expliziten Differenzierung nach individuellen Merkmalen, also die Bildung von Personenklassen, innerhalb derer eine Gleichbehandlung erfolgen soll, würde es erlauben, die Gestaltung der Klassen so zu wählen, dass eine Regel dermaßen ausdifferenziert werde, dass sie den Charakter der Universalität vollständig einbüßt 62 . Zur Beseitigung dieser Problematik fordert Hayek" den Test der mehrheitlichen Zustimmung innerhalb der Personenklassen. Dieser Test wird jedoch zum einen wegen der Problematik, die Personenklassen exakt abzugrenzen 64 , und wegen des Problems eines absoluten Vetorechts einzelner Klassen 65 als nicht zufriedenstellend erachtet 66 . Letzteres würde beispielsweise dazu fuhren, dass die Mafia sich erfolgreich gegen die Einfuhrung eines Gesetzes zur Bekämpfung organisierten Brigantentums wehren könnte 67 . Hayeks Kritierien erwiesen sich aus diesem Grunde als ungenügend, um Diskriminierungen und Privilegierungen zu unterbinden.
60
61 62
63 64 65 66 67
Siehe hierzu vor allem Barry (1979), S. 93, Baumgarth (1978), Crespigny (1975), S. 64, Hamowy (1971), S. 363, Robbins (1961), S. 69, Shenfield (1961), S. 57 und Watkins (1961), S. 39. Barry (1979), S. 92 f. Diese Gefahr sieht auch Hayek (1983), S. 272. Vgl. auch Hamowy (1971), S. 364 f., Leoni (1961), S. 64 ff., 68 f. und Bouillon (1997), S. 70 f. Hayek (1983), S. 186. Hamowy (1971), S. 361 f. Brittan (1980), S. 39 f., Watkins (1961), S. 40. Als weiterer Kritikpunkt werden organisatorische Probleme angeführt (Zeitler (1995), S. 227 ff.). Brittan (1980), S. 39 f.
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Freiheitssichernde Regeln
Tatsächlich erlauben Hayeks Forderungen, die an freiheitssichernde Regeln zu stellen sind, Differenzierungen nach individuellen Kriterien. Insofern ist der Vorwurf der Diskriminierung einzelner Personengruppen im Sinne einer immanenten Kritik abzulehnen. Was jedoch Hayek im Zusammenhang mit der expliziten Differenzierung weitgehend schuldig bleibt, ist entweder eine Konkretisierung der individuellen Merkmale, nach denen eine Differenzierung des Regelinhalts nach Personengruppen vorgenommen werden kann, oder zumindest die Darstellung eines Verfahrens, mit denen derartige Merkmale zuverlässig gewonnen werden können. Sinngemäß gleiches wird bei der impliziten Differenzierung vermisst: Weder eine Konkretisierung noch ein Verfahren zur Konkretisierung der Kombinationen aus situativen Eigenschaftskategorien und zu untersagenden Handlungsalternativen wird bei Hayek benannt68. 4.3
Der Widerspruch zwischen Gewissheit und Abstraktheit
Zwischen dem Erfordernis der Abstraktheit, also der semantischen Universalität, und dem der inhaltlichen Gewissheit besteht ein Spannungsverhältnis 69 : Je abstrakter Regeln semantisch gefasst sind, desto größer sind die Interpretationsspielräume, die sich für das Individuum bei der Anwendung der Regel offenbaren. Für das Individuum besteht damit nur ein unzureichendes Maß an Sicherheit, ob nun eine bestimmte Handlungsalternative Ai untersagt oder eben erlaubt ist. Abstrakte Regeln verhindern somit ansatzweise die inhaltliche Gewissheit und eröffnen auch Ermessensspielräume für die Exekutive 70 , wodurch willkürlicher Zwang auf Individuen ausgeübt werden kann. Die Ausgestaltung der Privatsphäre wird damit zumindest teilweise der staatlichen Disposition überantwortet. Der Widerspruch zwischen dem Erfordernis der Abstraktheit und dem der Gewissheit besteht zum Teil nur scheinbar: Abstraktheit und zeitliche Gewissheit erweisen sich als komplementär. Inhaltlich gewisse Regeln, durch die also die zu unterlassende Verhaltensweise hinreichend konkretisiert ist, unterliegen der Gefahr der "Überalterung". Mit anderen Worten: Verändern die Individuen ihre Verhaltensweisen derart, dass sie zwar nicht mehr der entsprechenden Regel zuwiderlaufen, dass sie aber bei teleologischer Auslegung dieser Regel darunter zu
68
69 70
Dies ist jedoch auch nicht zu erwarten gewesen, da Hayek nicht von einer konstruktivistischen Setzung der Regeln ausgeht, sondern von einem evolutorischen Entwicklungsprozess. Regeln bilden sich demzufolge im Laufe der Zeit heraus und werden durch den Gesetzgeber "entdeckt". Vgl. etwa Hayek (1969d). Okruch(1998), S. 128. Zeitler (1995), S. 219.
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subsumieren wären, dann ergibt sich ein zusätzlicher Handlungsbedarf, der durch eine neue Regel ausgefüllt werden muss. Insofern entsteht eine höhere Rechtsdynamik, die das Prinzip der Gewissheit in zeitlicher Hinsicht verletzt. Das Spannungsverhältnis zwischen Abstraktheit und inhaltlicher Gewissheit lässt sich jedoch nicht leugnen: Um inhaltliche Gewissheit zu erlangen, müssen die verbotenen Handlungsalternativen konkretisiert sein. Mit zunehmender Konkretisierung wird die Regel gewisser. Im gleichen Zuge wird jedoch darauf verzichtet, Umgehungsmöglichkeiten zu erfassen, was eine abstrakte Formulierung wiederum erlauben würde.
5
Lösungsmöglichkeiten
Hayeks Kriterien erweisen sich offenbar als unzureichend, um den Individuen größtmögliche individuelle Freiheitsspielräume zu sichern. Eine Lösung der ersten beiden Kritikpunkte erfordert, die partielle situative Indifferenz, die explizite und implizite Differenzierung sowie die zu untersagenden Handlungsalternativen zu konkretisieren oder ein Verfahren vorzustellen, das deren Konkretisierung erlaubt. Eine Konkretisierung des Regelinhalts lässt sich durch höhere qualitative Anforderungen an den Regelungsinhalt vornehmen. Hierzu sollen die Forderung nach Symmetrie der Handlungsspielräume und die Forderung nach moralischer Neutralität eingeführt werden. Eine Regel bezieht sich auf Handlungen, die die Beziehungen zwischen mindestens zwei Individuen betreffen. Die Symmetrie der Handlungsspielräume verlangt nun, dass "man einer schon gebilligten Handlungsmaxime zustimmen kann, wenn es darum geht, daß diese Maxime das Verhalten der anderen uns gegenüber bestimmt ..."71. Die Handlungsspielräume der einzelnen Individuen sind also durch die Regeln äquivalent zu gestalten, wobei das Ausmaß dieser Spielräume durch
71
Gray (1995), S. 64. Gray spricht in diesem Zusammenhang vom "Erfordernis der Unparteilichkeit zwischen Handelnden". Für den einzelnen ist es somit nicht möglich, dass er aufgrund der Ausgestaltung der Regel in Zukunft eine Privilegierung respektive eine Diskriminierung erfahren wird. Nach Mackie (1983), S. 114, handelt es sich hierbei um die zweite Stufe der Universalisierung: "Sich selbst in die Lage des anderen versetzen." Der Test im Rahmen der zweiten Stufe der Universalisierbarkeit besteht darin, "daß man sich in die Lage des anderen versetzt und sich fragt, ob man auch in diesem Fall, daß man selbst der Betroffene ist, zu den Handlungsanweisungen stehen würde." "Unterschiede [zwischen den Personen; Einfügung des Verfassers] sind dann relevant, wenn sie sich von jedem Standpunkt aus als relevant erweisen." (Mackie (1983), S. 116). Siehe hierzu auch Bouillon (1997), S. 63 f.
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das Wertgefüge und die Wertvorstellungen eines bestimmten Individuums festgelegt wird. Legt man Hayeks Kriterien zugrunde, würde ein Verbot von Mischehen als allgemeine Regel gelten können: Da eine explizite Differenzierung nach der individuellen Eigenschaftskategorie Konfession erfolgt, müsste die Regel den Mehrheitstest bestehen. Geht man davon aus, dass die Mehrheit der Angehörigen beider beteiligten Konfessionsgruppen einem derartigen Verbot zustimmen würde, wären nun Hayeks Anforderungen zur Gänze erfüllt. Ein derartiges Verbot impliziert jedoch zugleich eine konkrete Moralvorstellung, die von den zur Mischehe bereiten Personen nicht unbedingt geteilt wird. Ein Verbot von Mischehen zwischen verschiedenen Konfessionsgruppen wäre nach der Symmetrie der Handlungsspielräume dann zu legitimieren, wenn der Betrachter - sobald er einem Partner der anderen Konfessionsgruppe zugeneigt ist - das Verbot auch gegen sich gelten lassen würde. Dies setzt jedoch voraus, dass die dem Verbot zugrundeliegende Moralvorstellung von allen Individuen geteilt wird. Die Symmetrie der Handlungsspielräume reicht nun insofern als alleiniges Kriterium für die Universalität nicht aus, da Unterschiede in den Präferenzen und bei den Wertvorstellungen der Individuen anzunehmen sind. Eine Symmetrie der Handlungsspielräume im oben genannten Sinne würde somit zu einer sehr starken Einengung der individuellen Freiheit vor allem bei den Individuen fuhren, die stark abweichende Präferenzen und Wertvorstellungen aufweisen. Die Forderung nach moralischer Neutralität bedeutet, dass die Regeln nicht nach konkreten individuellen Präferenzen und Wertvorstellungen ausgestaltet sind, sondern ihre Ausgestaltung Handeln nach unterschiedlichen Präferenzen und Wertvorstellungen erlaubt72. In einer Welt mit stark unterschiedlichen Wertvorstellungen werden sich jedoch kaum Regeln finden lassen, die vollständig dem Erfordernis der moralischen Neutralität gerecht werden. Insofern kommt dieser dritten Stufe der Universalität vornehmlich ein ideeller Charakter zu; Ziel muss es jedoch nach wie vor sein, diesem Kriterium so weit wie möglich gerecht zu werden. Bei Mackie 73 wird dem Prinzip der moralischen Neutralität entsprochen, wenn der Regelinhalt sich durch "einen annehmbaren Kompromiß zwischen den verschiedenen vorfindlichen Standpunkten ..." auszeichnet. Mit dem Prinzip der
72
73
Nach Mackie (1983), S. 117 f., erfordert moralische Neutralität, also die dritte Stufe der Universalisierung, "die unterschiedlichen Vorlieben und konkurrierenden Ideale [zu; Einfügung des Verfassers] berücksichtigen". Mackie (1983), S. 118.
Freiheitssichernde Regeln
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moralischen Neutralität wird das Hayeksche Universalitätskriterium um vertragstheoretische Elemente erweitert. Ein "annehmbarer Kompromiß" setzt im Prinzip einen hypothetischen Vertrag, also hypothetische Einstimmigkeit voraus74. Mit der Forderung nach Symmetrie der Handlungsspielräume und nach moralischer Neutralität wird die Kongruenz der individuellen Freiheitsspielräume sichergestellt und eine Konkretisierung der zur Differenzierung verwendbaren situativen und individuellen Eigenschaftskategorien sowie eine inhaltliche Bestimmung der zu untersagenden Handlungsalternativen vorgenommen. Gleichwohl muss eingeräumt werden, dass eine Umsetzung des Prinzips der moralischen Neutralität aus praktischen Gründen erhebliche Schwierigkeiten bereiten dürfte. Durch die Erweiterung des Universalitätsprinzips um diese beiden Qualitätsanforderungen wird zugleich verhindert, dass die individuelle Freiheit durch vermeintlich allgemeine Regeln zu stark eingeschränkt wird. Beide Erfordernisse gewähren aufgrund ihres hohen Qualitätsanspruchs an den Regelinhalt einen wirksamen Schutz gegen einen ausufernden Erlass allgemeiner Regeln, da die Anzahl potenzieller Regelinhalte, die eben diese Kriterien erfüllen, denkbar gering ausfällt. Wenn sich die Wertvorstellungen der Individuen sehr ähneln oder zueinander kongruent sind, wird dadurch zugleich ein großes Ausmaß an individueller Freiheit gesichert. Bestehen jedoch unterschiedliche und teilweise konfligierende Wertvorstellungen findet sich kein annehmbarer Kompromiss für die Ausgestaltung mancher freiheitssichernder Regeln. Dieses Fehlen von Regeln kann jedoch Spielräume für die Ausübung willkürlichen, individuellen Zwangs eröffnen. Ein Maximum an individueller Freiheit ist damit nicht mehr gewährleistet. Die Konkretisierung der partiellen situativen Indifferenz, der individuellen Eigenschaftskategorien, nach denen eine explizite und implizite Differenzierung vorgenommen werden kann, sowie der zu untersagenden Handlungsalternativen kann auf Grundlage des normativen Individualismus durch vertragstheoretische Elemente gelöst werden. Damit wird jedoch der Hayeksche Bezugsrahmen vollständig ersetzt. Dies soll im folgenden nicht weiter diskutiert werden. Das Spannungsverhältnis zwischen inhaltlicher Gewissheit und Abstraktheit lässt sich entweder durch eine teleologische Auslegung beseitigen75, wodurch jedoch der Jurisdiktion große und auch willkürlich nutzbare Ermessensspielräume einge-
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75
Vgl. zur Unterscheidung zwischen Urvertrag, implizitem Vertrag und hypothetischem Ballestrem (1983). Daumann/Hösch (1998), S. 508.
Vertrag
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räumt werden. Oder man reduziert den Anspruch an die Abstraktheit zugunsten der Gewissheit. Tatsache ist, dass Abstraktheit kein absolutes Kriterium ist, sondern ein Kriterium, bei dem verschiedene Grade unterschieden werden können. In Hayeks Anforderungskatalog müssen die Regeln semantisch so ausgestaltet sein, dass sie auf eine unbekannte Anzahl künftiger Fälle anwendbar sind. Dies wird durch eine abstrakte Semantik erreicht. Die Abstraktheit kann demzufolge soweit ausgedehnt werden, wie es den Individuen möglich ist, mittels ihrer kognitiven Fähigkeiten den Telos einer Regelung zu erfassen 76 . Da jedoch die kognitiven Fähigkeiten der Individuen sich stark unterscheiden, dürfte ein derartiges Bemühen zu keinem Ergebnis führen. Zumindest lässt sich damit kein optimaler Grad an Abstraktheit ermitteln. Da sich die Semantik im Laufe der Zeit verändert, erscheint es durchaus als sinnvoll, den Anspruch an die Abstraktheit zurückzunehmen. Vollständig befriedigend lässt sich jedoch dieser Problemkreis nicht lösen. Damit sind die wesentlichen Ansatzpunkte aufgezeigt worden, die einer Weiterentwicklung des Hayekschen Anforderungskatalogs in Richtung auf ein verwertbares Ordnungskonformitätskriterium dienen können.
6
Ergebnis
Aus einem Menschenbild, das die Unterschiedlichkeit individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten betont, leitet Hayek die Forderung nach individueller Freiheit als Abwesenheit willkürlichen Zwangs ab. Hayek will ein Höchstmaß an individueller Freiheit durch freiheitssichernde Regeln gewährleistet wissen. Sein Werk liefert zahlreiche Ansatzpunkte für die Ausgestaltung freiheitssichernder Regeln. So müssen derartige Regeln den Erfordernissen der Universalität, Offenheit, Abstraktheit, Gewissheit und Widerspruchsfreiheit genügen. Trotzdem reichen Hayeks Anforderungen an freiheitssichernde Regeln nicht aus, um ein Maximum an individueller Freiheit zu garantieren sowie die Zulässigkeit von Differenzierungen zu konkretisieren. Zudem besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Erfordernis der Abstraktheit und der Gewissheit. Durch höhere Anforderungen an das Universalitätserfordernis, namentlich durch die Symmetrie der Handlungsspielräume sowie durch die moralische Neutralität,
76
Als fruchtbare Grundlage einer derartigen Überlegung erweist sich der auf der Lerntheorie Skinners basierende verhaltenstheoretische Ansatz. Vgl. Homans (1972) und Opp (1973).
Freiheitssichernde Regeln
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werden die ersten beiden Problembereiche ansatzweise bereinigt. Gleichwohl muss eingeräumt werden, dass die Beachtung des Kriteriums der moralischen Neutralität durchaus Probleme bereiten kann, da ein "annehmbarer Kompromiß" zwischen konfligierenden Wertvorstellungen schwierig zu finden sein dürfte. Aus diesem Grund liegt ein vollständiger Verzicht auf eine derartige umstrittene Regelung nahe. Während das Spannungsverhältnis zwischen Abstraktheit und Gewissheit in bezug auf die zeitliche Gewissheit ein Scheinproblem ist, besteht zwischen Abstraktheit und inhaltlicher Gewissheit ein nur ansatzweise auflösbarer Widerspruch. Weder die teleologische Auslegung noch die Rücknahme des Erfordernisses der Abstraktheit erscheinen als vollständig befriedigende Lösungen.
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Tuchtfeldt, Egon (1960), Zur Frage der Systemkonformität wirtschaftspolitischer Maßnahmen, in: Hans-Jürgen Seraphim (Hrsg.), Zur Grundlegung wirtschaftspolitischer Konzeptionen, Berlin, S. 203 - 238. Vanberg, Viktor (1982), Markt und Organisation. Individualistische Sozialtheorie und das Problem korporativen Handelns, Tübingen. Viner, Jacob (1961), Hayek on Freedom and Coercion, in: Southern Economic Journal, Band 27, S. 230 - 236. Watkins, John W. N. (1961), Philosophy, in: Arthur Seidon (Hrsg.), Agenda for a Free Society, London, S. 31 - 49. Watrin, Christian (1957), Zur Diskussion um das Problem der Marktkonformität, in: Wirtschaftspolitische Chronik, 1. Jg., S. 47-61. Witt, Ulrich (1987), Individualistische Grundlagen der evolutorischen Ökonomik, Tübingen. Zeitler, Christoph (1995), Spontane Ordnung, Freiheit und Recht. Zur politischen Philosophie von Friedrich August von Hayek, Frankfurt/M. u. a. Zintl, Reinhard (1983), Individualistische Theorien und die Ordnung der Gesellschaft. Untersuchungen zur politischen Theorie von James M. Buchanan und Friedrich A. v. Hayek, Berlin.
ANHANG
Verzeichnis der Autoren Professor Dr. Hartwig Bartling Universität Mainz Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik Saarstraße 21, 55122 Mainz Dr. Bernd Blessin Leiter Personalreferat Süd-West Gerling Konzern, Mannheim Otto-Beck-Straße 36, 68765 Mannheim Professor Dr. Ronald Clapham Universität-Gesamthochschule Siegen Lehrstuhl fur Wirtschaftswissenschaft und Didaktik der Wirtschaftslehre Hölderlinstraße 3, 57068 Siegen Privatdozent Dr. Frank Daumann Universität Bayreuth Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie 95440 Bayreuth Martin Dietz Philipps-Universität Marburg Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie I Universitätsstraße 24, 35032 Marburg Professor Dr. Ulrich Fehl Philipps-Universität Marburg Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie I Universitätsstraße 24, 35032 Marburg Professor Dr. Hans-Dieter Feser Universität Kaiserslautern Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik I Gottlieb-Daimler-Straße, 67663 Kaiserslautern
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Autorenverzeichnis
Professor Dr. Joachim Genosko Katholische Universität Eichstätt Wirtschaftswissenschaftlicher Fakultät Ingolstadt Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschafts- und Sozialpolitik Auf der Schanz 49, 85049 Ingolstadt Professor Dr. Egon Görgens Universität Bayreuth Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre II (Wirtschaftspolitik) 95440 Bayreuth Professor Dr. Gerhard Gröner Gaußstraße 73, 70193 Stuttgart Professor Dr. Werner Grosskopf Universität Hohenheim Institut für Agrarpolitik und Landwirtschaftliche Marktlehre Lehrstuhl für Agrarpolitik 70593 Stuttgart Professor Dr. Harald Hagemann Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie I 70593 Stuttgart Stephanie Hegner Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre Fachgebiet Wirtschaftstheorie II 70593 Stuttgart Professor Dr. Franz Heidhues Universität Hohenheim Institut für Agrar- und Sozialökonomie in den Tropen und Subtropen Lehrstuhl für Landwirtschaftliche Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik 70593 Stuttgart
Autorenverzeichnis
Bernhard Holwegler Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie I 70593 Stuttgart Professor Dr. Henning Klodt Universität Kiel Institut für Weltwirtschaft Leiter der Forschungsabteilung I Wachstum, Strukturpolitik und internationale Arbeitsteilung Düsternbrooker W e g 120, 24105 Kiel Dr. Karin Knottenbauer Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie I 70593 Stuttgart Dr. Bernd Nolte Mitglied des Vorstandes UDF Consulting A G Gänsheidestraße 59, 70184 Stuttgart Professor Dr. Jürgen Pätzold Ministerialdirigent Ministerium für Umwelt und Verkehr Kernerplatz 9, 70182 Stuttgart Jürgen M . Schechler Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre Fachgebiet Wirtschaftstheorie II 70593 Suttgart Dr. Olaf Schneider Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik 70593 Stuttgart
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Autorenverzeichnis
Dr. Hans Peter Seitel Universität Mainz Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik Saarstraße 21, 55122 Mainz Dr. Stephan Seiter Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie I 70593 Stuttgart Professor Dr. Heinz-Peter Spahn Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik 70593 Stuttgart Professor Dr. Ulrich Schempp Rektor der Fachhochschule Stralsund Zur Schwedenschanze 15, 18435 Stralsund Dr. André Schmidt Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre Lehrstuhl für MikroÖkonomie, insbesondere Industrieökonomie 70593 Stuttgart Professor Dr. Hans-Michael Trautwein Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Institut für Volkswirtschaftslehre II Lehrstuhl für Internationale Wirtschaftsbeziehungen Postfach 2503, 26111 Oldenburg Professor Dr. Helmut Walter Universität Hohenheim Institut für Volkswirtschaftslehre Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie I 70593 Stuttgart
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Klaus Herdzina Bücher und Gutachten Konzept und Voraussetzungen des funktionsfähigen Wettbewerbs - Eine Auseinandersetzung mit den Hauptthesen der jüngeren Wettbewerbstheorie, Dissertation Köln 1970 Wettbewerbstheorie; Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 77, Köln 1975 Wirtschaftliches Wachstum, Strukturwandel Oeconomicae, Bd. 7, Berlin 1981
und Wettbewerb,
Quaestiones
Wettbewerbspolitik, Stuttgart 1984, 5. Aufl. Stuttgart 1999 Möglichkeiten und Grenzen einer wirtschaftstheoretischen Fundierung der Wettbewerbspolitik; Diskussionsbeiträge aus dem Institut für Volkswirtschaftslehre Nr. 33/1987, Hohenheim 1987; ferner erschienen in: Vorträge und Aufsätze des Walter-Eucken-Instituts 116, Tübingen 1988 Einfuhrung in die MikroÖkonomik, München 1989, 6. Aufl. München 1999 Räumliche Differenzierung des ländlichen Raumes in Baden-Württemberg für Raumordnung und Landesplanung. Gutachten für das Innenministerium BadenWürttemberg (Koautoren: J. Genosko und S. Stützle), Stuttgart 1991 Der ländliche Raum im Europa der 90er Jahre, Stuttgart 1993 (Hrsg. gemeinsam mit W. Grosskopf) Regionalentwicklung und Strukturwandel - Problemlagen und Entwicklungschancen im Zollernalbkreis, (Koautor B. Nolte), Forschungsbeiträge aus der Europäischen Forschungsstelle Ländlicher Raum 1994-2, Hohenheim 1994 Regionalentwicklung und Strukturwandel - Problemlagen und Entwicklungschancen in der Region Neckar - Alb (Koautor B. Nolte), Forschungsbeiträge aus der Europäischen Forschungsstelle Ländlicher Raum 1995-2, Hohenheim 1995 Die Entwicklung einer zieladäquaten Infrastruktur für die Raumkategorien des ländlichen Raumes (Koautor B. Nolte), Forschungsbeiträge aus der Europäischen Forschungsstelle Ländlicher Raum 1995-3, Hohenheim 1995
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Schriftenverzeichnis
Strategische Unternehmensfuhrung als Erfolgsfaktor im Wettbewerb (Koautor B. Blessin), Forschungsbeiträge aus der Europäischen Forschungsstelle Ländlicher Raum 1996-1, Hohenheim 1996 Innovation im Handwerk - Mit neuen Produkten und Leistungen die Zukunft meistern - Gutachten im Auftrag der Handwerkskammer Reutlingen (Koautoren B. Nolte, S. Hegner), Reutlingen 1996 Innovationen im Mittelstand - Strategisches Management, Finanzierung, Kooperation (Hrsg. gemeinsam mit W. Grosskopf, B. Blessin, M. Würthner), Stuttgart 1997 Aufsätze und kleinere Abhandlungen Oligopolistische Interdependenz, funktionsfähiger Wettbewerb und Wettbewerbsvoraussetzungen, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaften, Bd. 24, 1973, S. 55-84 Marktstruktur und Wettbewerb - Zum formalen Aufbau einer Definition des funktionsfähigen Wettbewerbs, in: Zeitschrift fur Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 93. Jg., 1973, S. 267-284 Zur historischen Entwicklung der Wettbewerbstheorie, in: Herdzina, K. (Hrsg.), Wettbewerbstheorie, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 77, Köln 1975, S. 15-28 Die Monopolkommission, in: Das Wirtschaftsstudium, 14. Jg., 1985, S. 232-233 Marktentwicklung und Wettbewerbsverhalten, in: Bombach, G./Gahlen, B./Ott, A.E. (Hrsg.), Industrieökonomik: Theorie und Empirie, Tübingen 1985, S. 105120 Fusionskontrolle, in: Das Wirtschaftsstudium, 14. Jg., 1985, S. 402-403 Die Gossenschen Gesetze, in: Das Wirtschaftsstudium, 15. Jg., 1986, S. 275-277 Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik - Stand und Entwicklungstendenzen, in: Wirtschaftsdienst, 66. Jg., Nr. 10/1986, S. 525-532
Schriftenverzeichnis
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Zukunftschancen des Einzelhandels. Statement in: Schuster, F./Teufel, E. (Hrsg.), "Zukunftschancen des Einzelhandels", Institut für Kommunalwissenschaften der Konrad-Adenauer-Stiftung, Melle 1986, S.57 Grundzüge
der deutschen Wettbewerbspolitik,
in: Das
Wirtschaftsstudium,
17. Jg., 1988, WISU-Studienblatt 7/88 Bemerkungen zur wettbewerbspolitischen Konzeption des G W B , in: Andreae, C.-A./Kirchhoff, J./Pfeiffer, G. (Hrsg.), Wettbewerb als Herausforderung und Chance, Festschrift für Werner Benisch, Köln - Berlin - Bonn - München 1989, S. 3-15 Marktstruktur und dynamischer Wettbewerb - Theoretische Grundlagen der Schumpeter - Hypothesen, in: Gahlen, B. (Hrsg.), Marktstruktur und gesamtwirtschaftliche Entwicklung, Berlin u. a., 1990, S. 175-180 Einhundert Jahre Antitrust in den U S A - Grundzüge und Entwicklungstrends, in: Das Wirtschaftsstudium, 19. Jg., 1990, S. 518-523 Ein Vorschlag zur räumlichen Differenzierung Baden-Württembergs. Diskussionsbeiträge aus dem Institut fur Volkswirtschaftslehre (Koautoren: J. Genosko und S. Stützle), Nr. 67/1992, Stuttgart 1992 Abgrenzung und Differenzierung des ländlichen Raumes in Baden-Württemberg (Koautoren: J. Genosko und S. Stützle), in: Raumforschung und Raumordnung, 50. Jg, 1992, S. 59-66 Die zentralen Regelungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, in: Das Wirtschaftsstudium, 22. Jg, 1993, WISU-Studienblatt 1/93 Alternative Ansätze zur Abgrenzung und Differenzierung ländlicher Räume, in: Grosskopf, W./Herdzina, K. (Hrsg.), Der ländliche Raum im Europa der 90er Jahre, Stuttgart 1993, S. 25-47 Regionale Disparitäten, ländliche Räume und Ansatzpunkte einer integrierten Regionalpolitik, in: Europäischer Forschungsschwerpunkt Ländlicher Raum, Diskussionsbeiträge Nr. 1/1993 Das klassische Ertragsgesetz, in: Das Wirtschaftsstudium. 22. Jg. 1993, S. 999-
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Probleme und Ansätze zur Neuabgrenzung des Ländlichen Raumes. Europäischer Forschungsschwerpunkt Ländlicher Raum, Diskussionsbeiträge Nr. 4/1994 Innovation - Infrastructure for Rural Economic Regions: Conception and Practice of Technology Transfer (Koautor Β. Nolte), in: TU und Sprint (Hrsg.), Technology Transfer Practice in Europe - Experiences of the Last Ten Years and Developments to the Year 2000, Luxemburg 1994, S. 75-88 Ländliche Räume - Problemlagen und Ansatzpunkte der Regionalpolitik, in: Ridinger, R./Steinröx, M. (Hrsg.), Regionale Wirtschaftsförderung in der Praxis, Köln 1995, S. 119-138 Technological Change, Innovation Infrastructure und Technology Transfer Networks (Koautor B. Nolte), in: Industry and Higher Education, Vol. 9, 1995, S. 85-94 Baden-Württemberg im Strukturwandel der achtziger und neunziger Jahre: Defizite und Potentiale (Koautor B. Nolte), in: ASU/BJU - News, XII. Jahrgang, Nr. 3, Juni 1995, S. 4-8 Zur Problematik der Abgrenzung des relevanten Marktes mit Hilfe der Clusteranalyse - Das Beispiel des Automobilmarktes in Deutschland (Koautoren P.-U. Blank, S. Stützle-Leinmüller) Diskussionsbeiträge aus dem Institut für Volkswirtschaftslehre Nr. 111/1995, Stuttgart 1995 Entwicklungsperspektiven des ländlichen Raumes, in: Welche Zukunft hat das Dorf? Die Entwicklung des ländlichen Raumes - Mainauer Gespräche, Band 13, Mainau 1997, S. 67-79 Beiträge über P.F. Drucker, W. Fellner, K. Forchheimer, B.F. Hoselitz, in: Hagemann, H./Krohn, C.-D. (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, München 1999 Das neue Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, in: Das Wirtschafitsstudium, 28 Jg., 1999, S. 1608-1613
von Klaus Herdzina liegt in aktueller Neuauflage vor:
Wettbewerbspolitik 5., vollständig überarbeitete Auflage 1999.XVI/267 S„ 9 Abb. u. 15 Übers, kt. DM DM 34,80 / öS 254,- / sFr 31,50 (Grundwissen der Ökonomik, Volkswirtschaftslehre) (UTB) ISBN 3-8252-1294-7
Gegenüber der ersten Auflage dieses Lehrbuches im Jahre 1983 waren in den folgenden Auflagen verschiedene Ergänzungen und inhaltliche Erweiterungen vorgenommen worden. Insbesondere waren die wichtigsten Regelungen der europäischen und der US-amerikanischen Wettbewerbspolitik aufgenommen worden, es waren die zwischenzeitlichen Gesetzesnovellierungen eingearbeitet worden, und es waren 45 Thesen und 65 Kontrollfragen zur Lern- und Verständniskontrolle formuliert worden. An der bewährten Grundkonzeption des Lehrbuches konnte jeweils festgehalten werden. Das ist auch bei der 5. Auflage so. Aufbau und Konzeption des Lehrbuches haben sich nicht geändert. Gravierende inhaltliche Ergänzungen und Erweiterungen wurden aber dadurch notwendig, daß am 1.1.1999 die sechste Novelle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) in Kraft getreten ist. Diese Novelle hat die umfassendste Reform des GWB seit seiner Verabschiedung im Jahr 1957 gebracht. Es wurden einmal diverse materielle Änderungen vorgenommen, zum anderen wurde der gesamte Gesetzestext neu geordnet und gestrafft. Dabei wurden nicht nur die Bezeichnungen einzelner Teile und Abschnitte des Gesetzes verändert, sondern auch die Bezeichnungen sämtlicher Paragraphen. Um dem Rechnung zu tragen, werden in der 5. Auflage immer dort, wo es notwendig erscheint, neben den neuen Sachverhalten und Paragraphen des GWB auch die Sachverhalte und Paragraphen des GWB in der alten Fassung (GWB a.F.) dargestellt. Dies gilt für den Text und für die diversen Übersichten.
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Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft
Sammelband der Gutachten von 1987 bis 1997 Herausgegeben vom Bundesministerium für Wirtschaft 1998. XVI, 555 S„ Ln. DM 148,(ISBN 3-8282-0054-0) Vor 50 Jahren tagte zum erstenmal der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft — er ist damit das älteste Gremium der unabhängigen wissenschaftlichen Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland. Das über 50 Jahre kumulierte Werk des Wissenschaftlichen Beirats ist beeindruckend. Es umfaßt 117 Gutachten zu einem breiten Spektrum wirtschaftspolitischer Fragestellungen. Die Veröffentlichung dieser Gutachten in größeren Sammelwerken wird mit dem vorliegenden Zehnjahresband fortgesetzt. Er enthält insgesamt 22 Gutachten aus den Jahren 1987 bis 1997,die bei aller thematischen Verschiedenheit zweierlei gemeinsam haben: Zum einen reflektieren sie zeitnah die grundsätzlichen Herausforderungen an die Wirtschaftspolitik. Zum anderen sind sie geprägt von hohem wissenschaftlichem Niveau und marktwirtschaftlichem Grundverständnis; Eigenschaften, die für die Arbeiten des Beirats von Anfang an kennzeichnend sind. Zentrale Themen der Gutachten des Zeitraums 87 — 97 sind dabei Fragen im Zusammenhang mit der Vereinigung Deutschlands und zum zweiten die Fortentwicklungen in der Europäischen Union sowie mehrere Gutachten zum Arbeitsmarkt und zur Langzeitarbeitslosigkeit. Die Gutachten des Sammelbandes sind zu großen Teilen auch heute noch von hoher Aktualität — die Zusammenfassung im Zehnjahresband eine wichtige Dokumentation und leichtzugängliche Informationsquelle.
Stuttgart