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German Pages 180 [168] Year 2023
Edzard Ernst
Vorsicht Heilpraktiker Eine kritische Analyse
Vorsicht Heilpraktiker
Edzard Ernst
Vorsicht Heilpraktiker Eine kritische Analyse
Edzard Ernst Cambridge, UK
ISBN 978-3-662-66741-5 ISBN 978-3-662-66742-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. © Fotonachweis Umschlag: shutterstock/yellow-ginkgo-leaf-on-white-background Planung/Lektorat: Caroline Strunz Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Für Danielle
Einleitung
Wer in Deutschland krank ist und deshalb professionellen Beistand benötigt, der hat die Wahl, entweder einen Arzt oder einen Heilpraktiker zu konsultieren. • Der Arzt hat studiert und besitzt eine Approbation; der Heilpraktiker ist staatlich anerkannt und hat eine amtsärztliche Prüfung bestanden. • Der Arzt ist meist in Eile, während der Heilpraktiker sich Zeit nimmt und empathisch auf seinen Patienten eingeht. • Der Arzt verschreibt meist ein mit Nebenwirkungen belastetes Medikament, während der Heilpraktiker die sanften Methoden der Alternativmedizin bevorzugt. An wen soll sich der Kranke also wenden? Heilpraktiker oder Arzt? Viele Menschen sind durch die Existenz dieser medizinischen Parallelwelten verwirrt. Nicht wenige entscheiden sich schließlich für die vermeintlich natürliche, empathische, altbewährte Medizin der Heilpraktiker. Die staatliche Anerkennung gibt ihnen das nötige Vertrauen, dort gut aufgehoben zu sein. Die weitreichenden Befugnisse, die der Heilpraktiker per Gesetz hat, sowie die Übernahme der Kosten durch viele Krankenkassen, sind dazu angetan, dieses Vertrauen weiter zu stärken. „Wir Heilpraktiker sind in Politik und
Zur besseren Lesbarkeit (und Vereinfachung des Sprachduktus) wird hier nur eine Form der Geschlechter verwendet, nämlich die männliche. Dabei sind stets alle geschlechtlichen Identitäten mitgemeint.
VII
VIII Einleitung
Gesellschaft anerkannt und respektiert“1, meint Elvira Bierbach selbstbewusst, die Herausgeberin eines Standardlehrbuchs für Heilpraktiker. Die erste Konsultation unseres exemplarischen Patienten mit dem Behandler seiner Wahl verläuft vielversprechend. Der Heilpraktiker geht auf den Patienten verständnisvoll ein, nimmt sich für die Erstkonsultation meist eine ganze Stunde Zeit, gibt plausibel erscheinende Erklärungen, ist entschlossen, das Leiden an der Wurzel zu packen, verspricht die Selbstheilungskräfte des Patienten mit natürlichen Verfahren anzuregen und beruft sich auf ein kolossales Erfahrungsgut. Es scheint fast so, als sei die Entscheidung unseres Patienten, einen Heilpraktiker zu konsultieren, durchaus richtig gewesen. Ich habe da jedoch ganz erhebliche Bedenken. Heilpraktiker sind vielleicht in Politik und Gesellschaft anerkannt, aus medizinischen, wissenschaftlichen oder ethischen Perspektiven sind sie jedoch hoch problematisch. In diesem Buch werde ich im Detail darstellen und mit Fakten belegen, warum. Der Anspruch der staatlichen Anerkennung gibt zweifelsohne den Anschein, dass Heilpraktiker angemessen ausgebildet und medizinisch kompetent sind. In Wirklichkeit existiert keine geregelte Ausbildung, und mit der Kompetenz ist es nicht weit her. Die amtsärztliche Prüfung, die alle Heilpraktiker ablegen müssen, ist nichts weiter als ein Test, der sicherstellen soll, dass keine Gefahr für die Allgemeinheit besteht. Die Vorstellungen vieler Heilpraktiker bezüglich der Funktion des menschlichen Körpers stehen oft im Widerspruch zu den bekannten Fakten. Die Mehrzahl der heilpraktikertypischen Diagnostik ist nicht valide. Die Krankheitsbilder, die Heilpraktiker diagnostizieren, beruhen oft auf wenig mehr als auf einem naiven Wunschdenken. Die Behandlungsweisen, die Heilpraktiker einsetzen, sind entweder widerlegt oder nicht belegt wirksam. Dass Heilpraktiker somit eine Gefahr darstellen für jeden, der ernsthaft krank ist, steht für mich außer Frage. Und selbst wenn Heilpraktiker nicht offensichtlichen Schaden anrichten, so bieten sie doch fast nie das optimal Mögliche an. Meiner Meinung nach haben Patienten das Anrecht, die jeweils wirksamste Behandlung für ihre Leiden zu erhalten. Konsumenten sollten über gesundheitlich relevante Fakten nicht in die Irre geführt werden. Nur wer gut informiert ist, wird richtige Entscheidungen bezüglich seiner Gesundheit treffen können.
1 Naturheilpraxis heute: Lehrbuch und Atlas – Bierbach, Elvira, Hübner, Heike, Rintelen, Henriette – Amazon.de: Bücher
Einleitung IX
Mein Buch liefert diese Information im Klartext und ohne Umschweife. Es soll Sie von einer gefährlichen Fehleinschätzung des Heilpraktikerberufs bewahren. Medizinische Parallelwelten mit dem radikal divergierenden Qualitätsstandard – Arzt/Heilpraktiker – sind nicht im Interesse des Patienten und erscheinen für eine aufgeklärte Gesellschaft schlichtweg unakzeptabel.
Inhaltsverzeichnis
1 Geschichte 1 2
Die gegenwärtige Situation 7 2.1 Wichtige Fakten 7 2.2 Das Selbstverständnis des heutigen Heilpraktikers 9 2.3 Gründe für die Beliebtheit des Heilpraktikers 12 2.4 Die Heilpraktikerlobby 13 2.5 Heilpraktiker außerhalb Deutschlands 15 2.6 Deutschlands berühmtester Heilpraktiker 15
3
Berufsvoraussetzungen und rechtliche Grundlagen 19 3.1 Das Heilpraktikergesetz 20 3.2 Das Patientenrechtegesetz (PRG) 26
4
Ausbildung und Prüfung 29 4.1 Die Ausbildung der Heilpraktiker 29 4.2 Die amtsärztliche Prüfung 33
5
Das Standardlehrbuch 41
6
Die Ethik der Heilpraktiker 51 6.1 Wichtige Prinzipien der Medizinischen Ethik 51 6.1.1 Aufklärung des Patienten 51 6.1.2 Vernachlässigung 53
XI
XII Inhaltsverzeichnis
6.2
6.1.3 Kompetenz 53 6.1.4 Die Wahrheit 53 Der Eid des Heilpraktikers 54
7
Glaubensbekenntnisse der Heilpraktiker 59 7.1 Unsere Verfahren sind wirksam 59 7.2 Unsere Behandlungen sind risikofrei 60 7.3 Unsere Verfahren sind natürlich 62 7.4 Wir behandeln den ganzen Menschen 63 7.5 Unsere Verfahren sind altbewährt 63 7.6 Wir packen die Ursachen einer Krankheit an der Wurzel 64 7.7 Wir sind menschlicher 65 7.8 Unsere Behandlungsweisen fördern die Selbstheilungskräfte 66 7.9 Wer heilt, hat Recht 68 7.10 Selbstverteidigung der Heilpraktiker 70 7.11 Angriff ist die beste Verteidigung 71
8
Werbung durch Heilpraktiker 73
9
Kritik an der „Schulmedizin“ 79 9.1 Das Arzt-Patienten-Verhältnis 80 9.2 Enttäuschung über Heilsversprechen 81 9.3 Risiken der konventionellen Medizin 82 9.4 Konspirative Tendenzen 83 9.5 Scheuklappen 83
10 Befugnisse, Pflichten und Aufsicht 85 10.1 Befugnisse 85 10.1.1 Patientenbetreuung 86 10.1.2 Lehre 87 10.1.3 Forschung 87 10.2 Pflichten 88 10.2.1 Die Schweigepflicht 88 10.2.2 Aufklärungspflichten 88 10.2.3 Dokumentations- und Aufbewahrungspflicht 89 10.2.4 Fortbildungspflicht 90 10.3 Aufsicht 93
Inhaltsverzeichnis XIII
11 Welche Leiden behandeln Heilpraktiker? 95 11.1 Das Spektrum der Diagnosen 95 11.2 Kinderheilkunde 101 11.3 Diagnosen, die (fast) nur Heilpraktiker stellen 102 12 Diagnostische Verfahren der Heilpraktiker 105 12.1 Konventionelle Diagnostik 106 12.1.1 Körperliche Untersuchung 106 12.1.2 Labordiagnostik 107 12.2 Alternative Diagnostik 108 12.2.1 Angewandte Kinesiologie 109 12.2.2 Antlitzdiagnose 110 12.2.3 Irisdiagnostik 110 12.2.4 Dunkelfeldmikroskopie 110 12.2.5 Pulsdiagnose 111 12.2.6 Vega-Test 111 12.2.7 Zungendiagnose 112 13 Therapeutische Verfahren der Heilpraktiker 115 13.1 Akupunktur 118 13.2 Aromatherapie 119 13.3 Bach-Blütentherapie 120 13.4 Bioresonanz 120 13.5 Chiropraktik 121 13.6 Eigenbluttherapie 122 13.7 Entschlackung/Detox 122 13.8 Energetisches Heilung 123 13.9 Entspannungstherapien 123 13.10 Homöopathie 124 13.11 Nahrungsergänzungsmittel 125 13.12 Neuraltherapie 126 13.13 Orthomolekulare Medizin 127 13.14 Osteopathie 128 13.15 Pflanzenheilkunde 129 13.16 Reflexzonenmassage 130 13.17 Schröpfen 131 13.18 Traditionelle Chinesische Medizin 131
XIV Inhaltsverzeichnis
14 Sektorale Heilpraktiker 133 14.1 Heilpraktiker auf dem Gebiet der Psychotherapie 134 14.2 Heilpraktiker auf dem Gebiet der Physiotherapie 136 14.3 Heilpraktiker auf dem Gebiet der Podologie 136 14.4 Heilpraktiker auf dem Gebiet der Logopädie 137 14.5 Tierheilpraktiker 137 15 Gefahren durch Heilpraktiker 139 15.1 Direkte Gefahren 139 15.2 Indirekte Gefahren 141 15.3 Kosten 144 15.4 Unterminierung des rationalen Denkens 145 15.5 Beschwerden 147 16 Blick in die Zukunft 149 16.1 Abschaffungslösung 150 16.2 Kompetenzlösung 150 Anhang 155 Glossar 159
1 Geschichte
Zusammenfassung In diesem Kapitel wird die Geschichte der Laienheiler in Deutschland skizziert. Vor der Schaffung von akademischen Medizinschulen waren alle Heilkundigen im Grunde Laienheiler. Erst danach trennte sich die Heilkunde auf in akademische Mediziner und naturheilkundliche Laien. Beide existierten fast kontinuierlich nebeneinander bis im Dritten Reich die Kurierfreiheit abgeschafft wurde und alle Laienheiler unter dem neugeschaffenen Berufsstand des Heilpraktikers gleichgeschaltet wurden. Die Anordnung der Nazis, den Heilpraktiker rasch aussterben zu lassen, wurde nach dem Krieg gerichtlich aufgehoben. Somit stand der weiteren Verbreitung des Heilpraktiker Berufs in Deutschland nichts mehr im Weg. Schlüsselwörter Akademische Medizin · Naturheilkunde · Laienheiler Kurierfreiheit · Drittes Reich
·
Laut dem Bund Deutscher Heilpraktiker basiert der Berufsstand des Heilpraktikers auf einer langen Tradition, die bis ins Mittelalter reicht und namhafte Vorbilder aufweist1:
1 BDH:
Bund Deutscher Heilpraktiker e. V. (bdh-online.de)
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_1
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• Äbtissin Hildegard von Bingen als bedeutendste Vertreterin der Klostermedizin, deren Heilkunde aber auch von tiefer Mystik durchdrungen war. • Paracelsus als Vertreter einer universellen und breitgefächerten heilkundlichen Tätigkeit über die Alchemie bis zur Spagyrik. • Bauer Vincenz Prießnitz als Begründer der Wasserheilkunde und Erfinder des heute noch hochgeschätzten Prießnitzwickels. • Fuhrmann Johann Schroth als Vertreter des Heilfastens und der Diätetik mit seiner Schrothkur. • Pfarrer Sebastian Kneipp, der für die Erneuerung und Erweiterung der Wasserheilkunde sowie für eine gesunde Lebensweise steht. • Pastor Emanuel Felke, der wegen seiner Lehmbäder den Beinamen „Lehmpastor“ erhielt. Ihn kann man in besonderer Weise wegen seiner breitgefächerten naturheilkundlichen Tätigkeit als Vater der Heilpraktiker ansehen. Seine Schwerpunkte lagen auf so Heilpraktiker-typischen Verfahren wie Augendiagnose, Pflanzenheilkunde und Homöopathie, aus der er erstmalig auch ein Komplexmittelsystem entwickelte. Viele Jahrhunderte lang waren Heilkundige vor allem begabte Laien, die sich mit naturheilkundlichen Methoden gut auskannten. Das änderte sich erst, als im 12. Jahrhundert die ersten akademischen Medizinschulen Europas gegründet wurden. Diese Innovation führte dann zu einer zunehmenden Trennung zwischen naturheilkundlichen Laien einerseits und akademischen Medizinern andererseits. Erste Berufsverbote für nicht ärztliche Heilkundige wurden bereits im 14. Jahrhundert ausgesprochen. Im Zeitalter der Aufklärung, also Ende des 17. Jahrhunderts, setzte sich schließlich auch in der Heilkunde eine mehr wissenschaftliche Denkweise durch. Die Trennung zwischen Laienheilern und studierten Ärzten verschärfte sich dadurch noch weiter. Gelegentlich kam es zu regelrechten Wortgefechten. In der Deutschen Medizinischen Wochenschrift erschien 1880 z. B. ein Beitrag, der davon sprach, dass die Homöopathie dazu beigetragen habe, „jeder anderen Art von Medizinal-Schwindel Tür und Tor zu öffnen“. Die Deutsche Homöopathische Zeitung veröffentlichte daraufhin eine Replik mit dem Titel „An die Gewehre“.2 Im Jahr 1851 wurde in Preußen erstmals das Kurierverbot ausgesprochen, wonach nur approbierte Ärzte die Heilkunde ausüben durften. Diese damals recht kontroverse Maßnahme wurde jedoch bereits zwei Jahre später wieder
2 Geschichte der alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute : Jütte, Robert: Amazon.de: Bücher
1 Geschichte 3
aufgehoben. 1869 wurde so zu dem Geburtsjahr der sogenannten Kurierfreiheit: Der Reichstag des Norddeutschen Bundes war davon ausgegangen, dass „heilkundliche“ Leistungen anderer Personen nicht verboten werden müssten, denn „das Volk bedürfe nach seiner Bildungsstufe gängelnder Maßnahmen nicht, sondern werde selbst zwischen einem wissenschaftlich ausgebildeten Arzt und einem Kurpfuscher zu unterscheiden wissen; ein Vertrauen gerade zu den approbierten Ärzten dürfe nicht aufgezwungen werden; die Freiheit werde der beste Regulator sein“.3 Zu bedenken ist hier allerdings, dass es damals wenig grundlegende Unterschiede gab zwischen akademischen Ärzten und Kurpfuschern, denn auch der universitären Medizin standen zu diesem Zeitpunkt noch kaum wirklich wirksame Behandlungsformen zur Verfügung. In der Folgezeit bildeten sich sodann zahlreiche Gruppierungen von Heilkundigen aller Art: Homöopathen, Magnetopathen, Kräuterheilkundige, etc. Naturheilkunde wurde zu dieser Zeit überaus populär. Das Buch des Naturheilers Friedrich Eduard Bilz „Das neue Naturheilverfahren“ erreichte 1890 z. B. seine 100. Auflage. Naturheiler lehnten chemische Arzneimittel ab und setzten auf die heilenden Kräfte von Pflanzen, Licht, Luft, Wasser, Wärme, Nahrung, Bewegung und Ruhe. Der Zulauf der Bevölkerung war enorm. Anfang des 20. Jahrhunderts praktizierten in Deutschland über 20.000 Laienheiler. Dieser Grad der Beliebtheit hatte vor allem zwei Gründe. Erstens waren Laienheiler erschwinglicher als die studierten Ärzte, und zweitens hatte die damalige akademische Medizin immer noch herzlich wenig zu bieten. Oft waren ihre Behandlungen gefährlicher, als die Krankheiten, die sie zu behandeln vorgaben. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, dass in Deutschland jeder, der sich zum Heilen berufen fühlte, seine Dienste anbieten konnte, egal ob er nun eine anerkannte medizinische Ausbildung genossen hatte oder nicht. Diese Situation änderte sich nach Hitlers Machtergreifung dramatisch. Jetzt war „Gleichschaltung“ – die gewaltsame Umformung von Staat und Gesellschaft mit dem Ziel der absoluten Kontrolle jedes einzelnen – angesagt. Und dazu gehörte auch die Kontrolle über die verwirrende Vielfalt der Laienheiler. Die Nazis erreichten dies, indem sie kurzerhand anboten, alle damals praktizierenden nicht ärztlichen Heiler unter dem Titel „Heilpraktiker“ zu registrieren und offiziell anzuerkennen. Im Februar 1939
3 NS-Regelungen
prägen das Heilpraktikerrecht (lto.de)
4 E. Ernst
trat das Heilpraktikergesetz – die Anordnung über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung – in Kraft. Anträge auf Erlaubnis mussten bis zum 1. April 1939 vorliegen; nach dieser Frist wurden keine Genehmigungen mehr erteilt. Somit war der Heilpraktiker also erschaffen und zugleich zum Aussterben verurteilt worden. Die Kurierfreiheit wurde mit dem Heilpraktikergesetz erneut abgeschafft, d. h. es durften im Dritten Reich nur zugelassene Heilpraktiker und approbierte Ärzte die Heilkunde ausüben. Das Schicksal des Heilpraktikers schien besiegelt; Reichsärzteführer Gerhard Wagner hatte bereits 1937 betont: „Ich habe in einer Besprechung im Ministerium kürzlich zum Ausdruck gebracht, dass es eine Unmöglichkeit ist, dass der Staat zunächst einmal den Ärztestand hat, für dessen Ausbildung er viel Geld ausgibt, und danach noch einen zweiten Stand zu schaffen, der in kleiner Schulmedizin macht.“4 Auf den ersten Blick könnte man die offizielle Anerkennung der Laienheiler als eine Aufwertung werten. Bei nüchterner Betrachtung erkennt man jedoch rasch, dass das Gesetz in Wahrheit die Abschaffung der Laienheiler festsetzte. Es sah nämlich vor, dass fortan keine weiteren Heilpraktiker mehr auszubilden waren. Ausbildungsstätten für Heilpraktiker wurden schlichtweg verboten. Der Berufsstand war binnen einer Generation zum Aussterben verurteilt. Joseph Goebbels bezeichnete es daher als die Wiege und das Grab des Heilpraktikertums.5 Der Eindruck, dass die Nazis somit die Naturheilkunde unterdrücken wollten, wäre jedoch falsch; im Gegenteil, sie wollten sie fördern. Im Zuge der von offizieller Seite propagierten „Neuen Deutschen Heilkunde“ sollten die Naturheilweisen im vollen Umfang in der konventionellen Medizin aufgehen. Nach Vollendung dieses Prozesses sollte der Heilpraktiker irrelevant geworden sein. Mit anderen Worten, das deutsche Volk sollte seine Naturheilkunde fürderhin von approbierten Ärzten erhalten. Aber es kam dann doch ganz anders. Nach Kriegsende gelang es den Heilpraktikern, den entscheidenden Passus des Heilpraktikergesetzes als verfassungswidrig erklären zu lassen. Das entscheidende Wort zur Rettung des Berufsstands der Heilpraktiker sprach das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 24. Januar 1957: Nicht zu beanstanden seien zwar die
4 Wie
das Dritte Reich den Heilpraktiker-Beruf abschaffen wollte und dafür das Heilpraktiker-Gesetz von 1939 auf Ärztewunsch schuf – Heilpraktiker-Newsblog.dex 5 Ernst E. (1997). Heilpraktiker – ein deutsches Phänomen. Welche Rechte und Pflichten haben Heilpraktiker? [Healing practitioner–a German phenomenon. What are the rights and responsibilities of healing practitioners?]. Fortschritte der Medizin, 115(4), 38–41.
1 Geschichte 5
Regelungen des Heilpraktikergesetzes und der Durchführungsverordnungen, die verlangten, dass vom Antragsteller keine sittlichen, strafrechtlichen Gefahren für die Volksgesundheit ausgingen. Als „völlige Berufssperre“ nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei aber die Frist, wonach der Antrag auf Erlaubnis bis zum 1. April 1939 vorliegen musste. Das Bundesverwaltungsgericht erkannte somit die Tätigkeit des Heilpraktikers als freien Beruf in der Bundesrepublik Deutschland an. Die Weichen für den heutigen Boom des Heilpraktikerbusiness waren damit gestellt.
2 Die gegenwärtige Situation
Zusammenfassung In diesem Kapitel werden zunächst einige wichtige Fakten zum Heilpraktikerberuf dargestellt. Sodann wird das Selbstverständnis der Heilpraktiker erörtert und die Gründe für die derzeitige Beliebtheit des Heilpraktikerwesens diskutiert. Anschließend wird die Lobbyarbeit der Heilpraktiker benannt und die Situation außerhalb Deutschlands erklärt. Schließlich wird kurz auf Deutschlands wohl einzigen berühmten Heilpraktiker eingegangen. Schlüsselwörter Lobbyarbeit · Schweiz · Österreich · Manfred Köhnlechner
2.1 Wichtige Fakten Im Jahr 2018 wurden 45.000 Praxen von Heilpraktikern registriert, die insgesamt über 85.000 Personen beschäftigten.1 Zuverlässige Zahlen über die derzeitige Anzahl der Heilpraktiker in Deutschland existieren jedoch nicht. MedWatch kommt auf eine Zahl von knapp 100.000 Heilpraktiker, was deutlich mehr als die Zahl der Allgemeinärzte wäre. Das Verhältnis von Männern zu Frauen ist etwa 4:1. Das Bundesgesundheitsministerium teilte im Jahr 2022 mit, man plane „die Ausschreibung eines empirischen Gutachtens, in dem es unter anderem um die Erhebung von Zahlen geht.“ 1 Heilpraktiker
– Wikipedia
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_2
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Hierfür bleibe allerdings der Abschluss der laufenden Haushaltsberatungen abzuwarten. Ferner betätigte im gleichen Jahr der Bund Deutscher Heilpraktiker, dass keine validen Zahlen vorlägen. Zudem unterscheide nach Kenntnis des Verbandes die Statistik nicht zwischen Berufsausübenden mit und ohne sektoraler Heilpraktikerzulassung (Kap. 15).2 Ohne Zweifel hat sich das deutsche Heilpraktikertum zu einem bedeutenden Wirtschaftszeig entwickelt. Gegenwärtig erwirtschaften Heilpraktiker einen bundesweiten Umsatz von jährlich 1,2 Mrd. Euro. Mit 82.000 € pro Praxis ist ihr Wirtschaftszweig laut Auswertung des Statistischen Bundesamts fast ebenso umsatzstark wie Kosmetiksalons oder Bestattungsinstitute.3 Mindestens jeder dritte Deutsche hat schon einmal einen Heilpraktiker konsultiert. Eine verblüffende Statistik zeigt, dass Heilpraktiker etwa 50 Mio. Patientenkontakte pro Jahr wahrnehmen, während diese Zahl bei den rund 55.000 Allgemeinmedizinern bei etwa 350 Mio. liegt.4 Die enorme Differenz der Patientenkontakte pro Behandler, die sich aus diesen Zahlen ergibt, hat mindestens zwei Gründe: Erstens sind wesentlich mehr Heilpraktiker als Ärzte nicht vollzeitig beschäftigt, und zweitens ist der durchschnittliche Patientenkontakt bei einem Heilpraktiker deutlich länger als bei einem Arzt. Die Kosten für die Behandlungen durch einen Heilpraktiker basieren auf einem Behandlungsvertrag mit dem Patienten, der frei vereinbar ist. Es existiert zwar eine Gebührenordnung, sie ist jedoch veraltet und nicht bindend. Mit anderen Worten, jeder Heilpraktiker kann das Honorar für die erbrachten Leistungen selbst bestimmen. Ein Heilpraktiker kann mit wenigen Einschränkungen (Kap. 11) die Methoden einsetzen, die er verwenden will und beherrscht. Es besteht also nahezu unbeschränkte Therapiefreiheit. In aller Regel verwendet ein Heilpraktiker eine Palette alternativmedizinischer Verfahren wie z. B. Homöopathie, Pflanzenheilkunde, und Traditionelle Chinesische Medizin (Kap. 14). Daneben kommt auch eine Reihe von alternativen diagnostischen Methoden zum Einsatz (Kap. 13). Neben dem allgemeinen Heilpraktiker gibt es heute auch Spezialisierungen: z. B. Heilpraktiker für Psychotherapie (Kap. 15). Dies sind geschützte Berufsbezeichnungen für Therapeuten, die nach dem Heilpraktikergesetz die staat-
2 Heilpraktiker:
Wer seid ihr und wenn ja, wie viele? - MedWatch Medizinische Parallelwelten (medwatch.de) 4 Der Sinn und Unsinn von Heilpraktikern, verständlich erklärt (krautreporter.de) 3 Heilpraktikerschulen:
2 Die gegenwärtige Situation 9
liche Erlaubnis erworben haben, Heilkunde beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie auszuüben, ohne über eine Approbation zu verfügen. Es existieren derzeit folgende Heilpraktikerverbände, die die Interessen ihrer Mitglieder vertreten und zum Großteil im „Dachverband Deutscher Heilpraktiker Verbände“ organisiert sind: • Allgemeiner Deutscher Heilpraktikerverband e. V. (ADHV) • Arbeitsgemeinschaft Anthroposophischer Heilpraktiker-Berufsverband (AGAHP) • Berufsverband Deutsche Naturheilkunde e. V. (BDN) • Bund Deutscher Heilpraktiker e. V. (BDH) • Bund Deutscher Heilpraktiker und Naturheilkundiger e. V. (BDHN) • Fachverband Deutscher Heilpraktiker e. V. (FDH) • Freie Heilpraktiker e. V. (FH) • Freier Verband Deutscher Heilpraktiker e. V. (FVDH) • Union Deutscher Heilpraktiker e. V. (UDH) • Verband Deutscher Heilpraktiker e. V. (VDH) • Verband Heilpraktiker Deutschland e. V. (VHD) • Verband Unabhängiger Heilpraktiker e. V. (VUH) • Vereinigung Christlicher Heilpraktiker (VCHP)
2.2 Das Selbstverständnis des heutigen Heilpraktikers Der Bund Deutscher Heilpraktiker hat 1996 zu dem Selbstverständnis des Heilpraktikers ein aufschlussreiches Dokument5 erstellt, von dem ich im Folgenden einige Passagen zitieren und kommentieren möchte (meine Kommentare finden sich in Kursivschrift jeweils unter den zitierten Passagen): • „Der Heilpraktiker übt die Heilkunde berufsmäßig und eigenverantwortlich aus. Seine Tätigkeit zur Feststellung, Linderung und Heilung von Krankheiten gründet auf Vorstellungen und Verfahren aus der Tradition der Naturheilkunde, die in Diagnostik und Therapie zu allen Zeiten nach dem Ganzheitsprinzip vorging, weil sie sich an den Gesetzmäßigkeiten
5 Berufsbild-Heilpraktiker_2015_210x297_20150814.pdf
(bdh-online.de)
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der Natur sowie der inneren Natur des Menschen orientierte. Damit ist die Naturheilkunde des Heilpraktikers grundsätzlich unabhängig von Zeitströmungen, Systemzwängen oder dem jeweils herrschenden Wissenschaftsbild, wiewohl der Heilpraktiker wissenschaftlich gesicherte Forschungsergebnisse und Erkenntnisse in seiner Tätigkeit selbstverständlich berücksichtigt.“ Die Naturheilkunde hat kein Monopol auf Ganzheitlichkeit; jede gute Medizin ist ganzheitlich. Hier wird impliziert, dass die konventionelle Medizin den genannten Zwängen unterliegt. In Wahrheit ist die evidenzbasierte Medizin jedoch allen Verfahren gegenüber offen, die belegen können, dass sie mehr Nutzen als Schaden bringen. • „Der Heilpraktiker stellt … nicht nur die Krankheit als einen objektiven Tatbestand fest, sondern richtet sein Augenmerk auch auf die Gesamtperson des Kranken, die für die Erkenntnisse über den Krankheitsverlauf auch prognostisch in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt.“ Das Gleiche gilt auch für approbierte Ärzte. Die „Gesamtperson des Kranken“ steht im Mittelpunkt jeder guten Medizin. • „Neben anamnestischen und klinischen Daten zieht der Heilpraktiker zur Erkenntnisgewinnung der gestörten Integrität eines Kranken … die Beurteilung von Konstitution, Temperament, Disposition und Diathese mit heran. Dabei kommen die typischen qualitativ beurteilenden naturheilkundlichen Diagnoseverfahren, wie z. B. die Augendiagnose, die Pulsdiagnose, oder auch bioenergetische Verfahren zum Einsatz.“ Die hier genannten diagnostischen Methoden sind nicht valide, d. h. sie können nicht zuverlässig zwischen gesund und krank differenzieren. Ihr Einsatz führt zwangsläufig zu Fehldiagnosen (Kap. 13). • „Der Heilpraktiker regt bei seiner Behandlung stets die natürlichen Selbstheilungskräfte an. Der Vielfältigkeit neuer diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten, die diesem Ziel dienen und Eingang in das Behandlungsspektrum des Heilpraktikers finden können, sind auch in der Zukunft keine Grenzen gesetzt. Entscheidend ist allein, ob Verfahren der Theorie der Naturheilkunde entsprechen und lege artis nach den Regeln der Kunst angewendet werden können.“
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Jede Therapie baut auf die Selbstheilungskräfte des Körpers (Kap. 8). Entscheidend sollte vor allem sein, ob ein Verfahren nachweislich mehr Nutzen als Schaden bringt. • „Der Heilpraktiker hat in erster Linie die Aufgabe, die individuellen gesundheitlichen Bedürfnisse der Bürger, über das Angebot der offiziellen medizinischen Bedarfsdeckung des Gesundheitswesens hinaus, ergänzend und alternativ zu erfüllen. Damit erfüllt er auch eine gesellschaftliche Aufgabe: Er verhindert in den ihm eigenen Bereichen gesundheitlicher Versorgung eine unserer demokratisch pluralistischen Gesellschaft unangemessene Monopolstellung der institutionalisierten Medizin und bildet praktisch eine Regulativfunktion, in dem durch sein Wirken nicht nur die Therapiefreiheit sinnvoll gewahrt wird, sondern auch die Wahlfreiheit des Bürgers nach einem von ihm persönlich bevorzugten Therapeuten. Diese soziologische Funktion erfüllt der Heilpraktiker als eigenständiger Behandler unabhängig davon, ob einige seiner Therapien die wissenschaftliche Anerkennung erlangen und/oder Eingang in die allgemeine Medizin finden.“ Die Wahlfreiheit des Bürgers erfordert aber auch eine objektive Information über die jeweilige Evidenz; ansonsten degradiert sie zur Beliebigkeit, die nicht im Interesse des Patienten sein kann. Wissenschaftliche Anerkennung ist weniger wichtig als der Nachweis, dass ein Verfahren mehr Nutzen als Schaden bewirkt. • „Der Heilpraktiker hat die Pflege der Tradition dieses wichtigen Kulturgutes unseres Volkes übernommen und hält dieses bis auf den heutigen Tag in Theorie und Praxis lebendig, besonders in Bereichen, die von der offiziellen Medizin dogmatisch verdrängt oder ignoriert werden.“ Die „offizielle Medizin“ ist alles andere als dogmatisch. Sie ist evidenzbasiert und entwickelt sich kontinuierlich. Naturheilweisen sind dagegen dogmatisch immun gegen Fortschritte und neue Erkenntnisse (Siehe weiter unten in diesem Abschnitt). • „In unserem Kulturkreis fußt die Heilkunde, auf die sich der Heilpraktiker bis heute beruft, auf den Säftelehren des griechischen Altertums, die sich im Wesentlichen über das Mittelalter bis in die Humoralpathologie der Neuzeit erhalten haben. Dieses Vorstellungsmodell, in das von Beginn an die Pflanzenheilkunde integriert war, erwies sich als äußerst erfolgreich.“
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Die Säftelehre ist seit etwa 200 Jahren obsolet und nicht mit den heutigen Kenntnissen vereinbar. Sie trotzdem auch heute noch zu propagieren kommt einem Dogma gleich. • „Die Homöopathie Hahnemanns, die in der wissenschaftlichen Medizin praktisch keinen Stellenwert hatte, wurde von Anfang an von … naturheilkundlich orientierten Heilkundigen anerkannt und in ihre heilkundliche Tätigkeit integriert, was ihr wesentlich zu der heutigen Verbreitung und Popularität verhalf.“ Wie wir im Kap. 14 sehen werden, ist die Homöopathie heute eine weitestgehend widerlegte Heilmethode, die auf unplausiblen Annahmen beruht. Sie trotzdem auch heute noch zu propagieren zeigt einen hohen Grad der Wissenschaftsverachtung und kann nicht im Interesse des Kranken sein. Dieser kurze Exkurs zeigt, dass das Selbstverständnis des Heilpraktikers zum Großteil auf angreifbaren, überholten, oder gar faktisch unrichtigen Vorstellungen beruht.
2.3 Gründe für die Beliebtheit des Heilpraktikers Für die Beliebtheit von Heilpraktikern führt Anousch Mueller in ihrem Buch folgende Gründe an6: • • • •
Ihre Praxen sind nett eingerichtete „Wohlfühlorte“. Die Therapeuten sind gute Zuhörer und talentierte Erzähler. Ihre Erfolgsformel lautet „Magie statt Technokratie“. Patienten mit Beschwerden, aber ohne ärztliche Diagnose, fühlen sich gut aufgehoben. • Befragung und Berührung durch den Heilpraktiker gibt dem Patienten ein gutes Gefühl. • Bei allen Therapien der Heilpraktikern ist der Placebo-Effekt entscheidend. • Der Placebo-Effekt wird durch überzogene Heilsversprechungen maximiert.
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Der oft gepriesene ganzheitliche Ansatz ist sicherlich ein weiterer Grund dafür, dass viele Menschen einen Heilpraktiker aufsuchen. Heilpraktiker behaupten, nicht nur einzelne Symptome zu behandeln, sondern den Menschen als Ganzes zu sehen. Dass diese Behauptung so nicht stimmt, wissen unkritische Patienten meist nicht (Kap. 8). Auch der Zeitfaktor erscheint mir hier wichtig zu sein. Während ein Arzt in Deutschland für einen Patienten durchschnittlich acht Minuten Zeit hat, dauert das Erstgespräch beim Heilpraktiker, die sogenannte Erstanamnese, rund eine Stunde. Dennoch ist kaum zu leugnen, dass das Thema Heilpraktiker in der Öffentlichkeit äußerst kontrovers diskutiert wird. Inzwischen gibt es eine wachsende Anzahl von Menschen, die sich durchaus negativ über Heilpraktiker äußern (Tab. 2.1).
2.4 Die Heilpraktikerlobby Ein weiterer Grund für die Beliebtheit der Heilpraktiker ist wohl auch eine äußerst aktive Lobbyarbeit, die auf politischer Ebene die Interessen der Heilpraktiker vertritt und eine positive Meinung zu diesem Beruf schafft. Einige Beispiele sollen dies erläutern: Im Jahr 1987 meinte die damalige Gesundheitsministerin Rita Suessmuth bezugnehmend auf Heilpraktiker: „Eine offene, dem Pluralismus verpflichtete Gesellschaft braucht auch im Gesundheitswesen das Nebeneinander verschiedener Behandlungsmethoden und Heilberufe.“7 „Die meisten Heilpraktiker führen ihren Beruf sehr verantwortungsbewusst aus. Daher muss die Existenzgrundlage dieser freien und selbstständigen Heilpraktiker gesichert bleiben“, meinte vor wenigen Jahren Karin Maag, gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag.8 Schließlich spricht auch die Rede des Bundestagsabgeordneten Alexander Krauß vom 25.11.2020 für sich; hier einige Auszüge: „Von dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die 47.000 Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker in diesem Land, die eine wertvolle Arbeit leisten… Ich finde, der Heilpraktikerberuf ist eine Bereicherung für unser Gesundheitswesen, den ich nicht missen möchte. Die Zahl der Heilpraktiker*innen steigt
7 Heilpraktiker:
Politik mit der „Natur“ (aerzteblatt.de) Gesundheitspolitiker stellen bisherige Form infrage - WELT
8 Heilpraktiker-Wesen:
14 E. Ernst Tab. 2.1 Einige zufällig ausgewählte, wörtlich zitierte, kritische Tweets zum Thema Heilpraktiker (publiziert im Jahr 2022). MS = Multiple Sklerose; HP = Heilpraktiker; EBM = evidence-based medicine • Wir wissen nicht nur nicht, wie viele Heilpraktiker es gibt, sondern auch nicht, welchen Schaden sie tatsächlich anrichten, wie viele Menschen durch sie gestorben sind. • Heilpraktiker ist kein Beruf, sondern die Lizenz zur Quacksalberei. • Wie schön der Beruf #Heilpraktiker doch ist…. Man darf auf Basis eines Nazigesetzes von 1936 – ohne irgendetwas zu wissen oder zu können – Leute totschwurbeln. Und das sogar ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. • Wie Heilpraktiker einen Krebspatienten behandeln… da kommt einem die Galle hoch, wenn man das nur liest. Homöopathie ist natürlich auch dabei, aber noch viel anderer Mist. • Ich bin ja immer überraschter, dass sich noch kein Heilpraktiker damit brüstete, die Impfung homöopathisch ausgeleitet, COVID19 erfolgreich innerhalb von 10 Tagen homöopathisch behandelt und nach Erstverschlimmerung auf Basis der aktivierten Selbstheilungskräfte kuriert zu haben. • Seien wir ehrlich: Ein Gesundheitssystem, das zur Entlastung auf Heilpraktiker zurückgreift, ist auf mehreren Ebenen gleichzeitig am Arsch. • Mandantin hat Mammakarzinom. Lässt sich ausschließlich durch Heilpraktiker behandeln. Sie „befeldet“ täglich ihre „Zellen“ mit einem Gerät, das monatlich eine Leihgebühr von 600 € kostet. Bin sehr entsetzt. • Immobile Patientin, vor 20 Jahren MS-Diagnose, wurde nie behandelt, weil ihr ein Heilpraktiker erzählte, sie habe nur eine „Amalgan-Allergie“. • Ich habe letztes Jahr meinen Heilpraktiker nach einer Empfehlung für einen guten Hausarzt gefragt. Er sagte mir, dass er noch vor ein paar Jahren mir hätte zehn empfehlen können. Heute nicht mehr einen einzigen. „… die wollen heute alle nur noch das große Geld verdienen …“. • Mandantin, 62 Jahre. Hat vor 5 Monaten einen Knoten in einer Brust bemerkt. War damals schon in Behandlung bei einer Heilpraktikerin. Diese meinte nach „Messung“ mit irgendeinem Gerät, von dem Knoten ginge „keine negative Energie“ aus. Er sei „bestimmt nicht bösartig“. • Haben wir leider fast jeden Tag in der Praxis. HP bringen Menschen um. • Für praktisch jede Form der nicht ärztlichen Unterstützung gibt’s Leute, die qua Ausbildung mehr Ahnung haben als „Heilpraktiker“: Ernährungsberater, Physios, Sporttrainer, Psychologen, Paartherapeuten, Karriereberater, Juristen, Steuerberater, Anlageberater etc. • Schritt 1: Heilpraktiker_innen abschaffen, alle, ab heute. Keine Prüfungen mehr. Ausübungserlaubnis entziehen. Schritt 2: Allen Menschen aus diesen Bereichen eine legitime Ausbildung im medizinischen Sektor vorschlagen und sie bei der Platzsuche unterstützen. Fertig. Ja zur EBM. • Hatte gerade beim Spazieren mit dem Hund den Zulassungstest für Heilpraktiker für Psychotherapie gemacht: ~ 85 % der Punkte. Dass Leute damit so viel Geld verdienen, ist echt ein trauriges Bild. • Heilpraktikerhandeln ist nur in den seltensten Fällen justiziabel. Das hier wird der HP *so* natürlich nie gesagt haben, du liebe Güte, das wäre ja total verantwortungslos. Da muss der Patient was missverstanden haben. Wenn’s schief geht, ist bei HP immer Pat. schuld. • Jeder „Heilpraktiker“, „Wellnesstherapeut“ und ähnlicher Hochstapler darf sich mit Diplomen schmücken, die er, mangels Studium, ja gar nicht führen DARF.
2 Die gegenwärtige Situation 15
von Jahr zu Jahr, und das spricht eben auch für ein gewisses Patientenvertrauen. Heilpraktiker haben pro Tag 128.000 Patientenkontakte. Wenn man sich die Altersgruppe der 50- bis 65-Jährigen mal anschaut, dann ist diese Gruppe zur Hälfte schon mal beim Heilpraktiker gewesen und es spricht dafür, dass es viele Menschen gibt, die Hilfe beim Heilpraktiker suchen.“9
2.5 Heilpraktiker außerhalb Deutschlands In der Schweiz gibt es seit 2015 staatlich anerkannte und diplomierte Naturheilpraktiker, ein Beruf, der dem deutschen Heilpraktiker eng verwandt ist. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass Naturheilpraktiker insgesamt sieben Module absolvieren müssen, die unter anderem eine medizinische Grundausbildung sowie therapeutische Fähigkeiten vermitteln. Unter Anleitung eines akkreditierten Mentors sind zudem über einen Zeitraum von zwei Jahren 400 Behandlungsstunden mit direktem Patientenbezug vorgesehen. Schließlich muss eine sechsstündige Abschlussprüfung bestanden werden. Erst wenn diese absolviert ist, verleihen die akkreditierten Ausbildungsinstitute das Diplom. Die Kosten für die Ausbildung zum Naturheilpraktiker belaufen sich auf rund 37.000 €. Somit ist die Ausbildung deutlich besser geregelt, als die der deutschen Heilpraktiker (Kap. 5). In Österreich sind Heilpraktiker verboten. In den meisten nicht deutschsprachigen Ländern gibt es ebenfalls Laienbehandler. Im Unterschied zum deutschen Heilpraktiker sind diese jedoch meist Therapeuten, die sich auf ein alternativmedizinisches Verfahren konzentrieren. So kennt man in Großbritannien z. B. Akupunkteure, Chiropraktiker, Geistheiler, Homöopathen, Osteopathen, Phytotherapeuten, etc., die alle nicht Medizin studiert haben und somit als Laienbehandler einzustufen sind.
2.6 Deutschlands berühmtester Heilpraktiker Berühmtheiten gibt es unter den fast 50.000 Heilpraktikern erstaunlicherweise fast keine – zumindest nicht im positiven Sinn. Die einzige Ausnahme war vielleicht Manfred Köhnlechner, dessen ungewöhnliche Laufbahn hier kurz skizziert sei.
9 Heilpraktiker
- Heilpraktiker in Deutschland (heilpraktiker-in-deutschland.de)
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Nach einer steilen Karriere als Generalbevollmächtigter der Bertelsmann-Gruppe wurde Köhnlechner in den 1970er-Jahren zum Medienstar. Im kostspieligen Selbststudium lernte Köhnlechner zwei Jahre lang für die Heilpraktikerprüfung. Daneben erlernte er im Privatunterricht Akupunktur, Neuraltherapie, Homöopathie, Ozon-Sauerstoff-Therapie und andere alternative Verfahren; 1972 eröffnete er schließlich seine eigene Praxis. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten; 1974 behandelte er live im Fernsehen die Schauspielerin Trude Herr. Daraufhin setzte ein solcher Ansturm auf seine Praxis ein, dass Köhnlechner sie bald zwei Ärzten anvertraute und sich ganz seinen Publikationen und der PR widmete. Insgesamt erschienen rund 30 Bücher zu allen nur erdenklichen Themen (Tab. 2.2) und zahllose Zeitungs- und Magazinartikel unter seinem Namen. 1985 gründete er die „Manfred-Köhnlechner-Stiftung zur Förderung biologischnaturheilkundlicher Verfahren“. Es dauerte jedoch nicht lange bis Köhnlechner sich mehr und mehr von seiner eigenen Zunft distanzierte. Schließlich forderte er sogar, dass auch Tab. 2.2 Titel und Publikationsjahr einiger Bücher des Heilpraktikers Manfred Köhnlechner • Die machbaren Wunder, 1974 • Erfolgsmethoden bei Erkrankungen der Haut, 1975 • Erfolgsmethoden bei Durchblutungsstörungen, 1975 • Erfolgsmethoden bei Kopfschmerz, 1975 • Vermeidbare Operationen, 1976 • Erfolgsmethoden bei Augenleiden, 1976 • Handbuch der Naturheilkunde, 1975 • Man stirbt nicht im August, 1976 • Erfolgsmethoden bei Magen-, Darm-, Galle, und Leberleiden, 1976 • Die chronischen Krankheiten, 1977 • Gesundheit mit Köhnlechner, 1978 • Die Managerdiät, 1979 • Leben ohne Schmerz: Hoffnung für Millionen 1981 • Alkohol. Droge Nr1 1982 • Köhnlechners Gesundheitslexikon 1989 • Köhnlechners Krebs Diät 1990 • Mutter ist der beste Arzt 1990 • Die sieben Säulen der Gesundheit 1991 • Erfolgsmethoden gegen die Krankheiten unserer Zeit 1993 • Die Heilkräfte des Weins 1997 • Hilfe bei Krebs 1998 • Lebenskraft durch Knoblauchtherapie 1999 • Die Natur hilft – Mit Diäten für jede Jahreszeit 2000
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Naturheilkunde in die Hände akademisch ausgebildeter Ärzte gehören sollte. In den letzten Lebensjahren fokussierte sich Köhnlechner auf das Thema Krebs und förderte wissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiet. Köhnlechner starb am 10. April 2002 im Alter von 76 Jahren an Krebs. Köhnlechners einzigartige Geschichte hat, wie ich finde, einige recht beachtliche Züge. Sie zeigt u. a., dass die Heilpraktikerprüfung keine solide Basis für eine erfolgreiche Praxis darstellt. Für sich selbst löste Köhnlechner das Problem, indem er ausgiebig im Privatunterricht von Experten lernte. Die Geschichte impliziert ferner, dass selbst ein über alle Maßen beflissener Heilpraktiker rasch an seine Grenzen stoßen muss; Köhnlechner stellt daher Ärzte ein. Er dokumentierte somit, dass Medizin in die Hände von Medizinern gehört; er sagte das sogar völlig unverblümt und verdarb es sich so mit seiner Heilpraktikerzunft. Deutschlands berühmtester Heilpraktiker war ganz offenbar nicht davon überzeugt, dass seine Berufskollegen einen Segen für die Volksgesundheit darstellen – im Gegenteil, es scheint fast so, als sei ihm schließlich bewusst geworden, das Heilpraktiker allzu oft wenig mehr als eine gefährliche Kompetenzanmaßung darstellen.
3 Berufsvoraussetzungen und rechtliche Grundlagen
Zusammenfassung In diesem Kapitel werden das Heilpraktiker- und das Patientenrechtegesetz, die die rechtlichen Grundlagen für die Tätigkeit eines Heilpraktikers liefern, dargelegt. Ferner werden die sich daraus ergebenden Voraussetzungen, die jemand erfüllen muss, wenn er Heilpraktiker werden will, diskutiert. Schlüsselwörter Gesetz · Patientenrechte · Rechtliche Grundlagen Um Heilpraktiker zu werden benötigt man keine Ausbildung in der Heilkunde und auch keine praktische Erfahrung im Umgang mit Kranken (Kap. 8). Das klingt zunächst einmal unverständlich und nahezu unglaubhaft; es ist aber dennoch wahr. Was also sind die Voraussetzungen für den Heilpraktikerberuf? Im Wesentlichen muss man eine amtsärztliche Überprüfung ablegen (Kap. 5). Und um sich zu dieser Prüfung zu stellen, muss man nur minimale Kriterien erfüllen: • Man muss mindestens 25 Jahre alt sein. • Man muss einen Hauptschulabschluss nachweisen. • Man muss ein aktuelles ärztliches Zeugnis über geistige, gesundheitliche und sittliche Eignung zur Berufsausübung vorlegen. • Man muss ein aktuelles amtliches Führungszeugnis ohne Vorstrafeneintrag vorweisen. • Personen, die nicht deutsche Staatsbürger sind, benötigen ferner eine Aufenthaltsgenehmigung. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_3
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Nachweise einer theoretischen oder praktischen Ausbildung in der Heilkunde, Mitgliedschaft in einer Berufskammer, abgeleistete Fortbildungen oder die Kenntnis einer Berufsordnung sind dagegen nicht erforderlich. Ist die Prüfung erst einmal bestanden, so wird die Zulassungsurkunde ausgestellt. Sie gilt ohne zeitliche Beschränkung für die gesamte Bundesrepublik. Mit anderen Worten, direkt nach der Prüfung beim Amtsarzt ist man dann berechtigt, die gesamte Heilkunde auszuüben, mit nur sehr wenigen Einschränkungen (Kap. 11). Das trifft selbst dann zu, wenn der frischgebackene Heilpraktiker noch nie in seinem Leben einem Patienten gegenüberstand.
3.1 Das Heilpraktikergesetz Die rechtliche Grundlage dafür ist das Heilpraktikergesetz von 19391: Erste Durchführungsverordnung zum Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz)
Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis HeilprGDV 1 Ausfertigungsdatum: 18.02.1939 Vollzitat: „Erste Durchführungsverordnung zum Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2122-2-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, die zuletzt durch Artikel 17f iVm Artikel 18 Absatz 4 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3191) geändert worden ist“ Stand: Zuletzt geändert durch Art. 17 f. iVm Art. 18 Abs. 4 G v. 23.12.2016 I 3191 Bek. v. 9.1.2018 I 126 mWv 22.3.2018 (Nr. 3) ist berücksichtigt
1 HeilprG - Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (gesetze-im-internet.de) Zugriff: Februar 2023
3 Berufsvoraussetzungen und rechtliche Grundlagen 21
Näheres zur Standangabe finden Sie im Menü unter Hinweise
Fußnote (+++ Textnachweis Geltung ab: 1.5.1975 +++)
Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis Eingangsformel Auf Grund § 7 des Gesetzes über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) vom 17. Februar 1939 (Reichsgesetzbl. I S. 251) wird verordnet: Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis §1
Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis §2
(1) Die Erlaubnis wird nicht erteilt, a) wenn der Antragsteller das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, b) wenn er nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, c) (weggefallen) d) wenn er nicht mindestens abgeschlossene Volksschulbildung nachweisen kann, e) (weggefallen) f ) wenn sich aus Tatsachen ergibt, daß ihm die … sittliche Zuverlässigkeit fehlt, insbesondere, wenn schwere strafrechtliche oder sittliche Verfehlungen vorliegen, g) wenn er in gesundheitlicher Hinsicht zur Ausübung des Berufs ungeeignet ist, h) wenn mit Sicherheit anzunehmen ist, daß er die Heilkunde neben einem anderen Beruf ausüben wird, i) wenn sich aus einer Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers durch das Gesundheitsamt, die auf der Grundlage von Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärtern durchgeführt wurde, ergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Betreffenden eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung oder für die ihn aufsuchenden Patientinnen und Patienten bedeuten würde.
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Das Bundesministerium für Gesundheit macht Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärtern bis spätestens zum 31. Dezember 2017 im Bundesanzeiger bekannt. Bei der Erarbeitung der Leitlinien sind die Länder zu beteiligen. (2) Fußnote § 2 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b: Nach Maßgabe der Entscheidungsformel mit Art. 2 Abs. 1 GG (100–1) unvereinbar und nichtig gem. BVerfGE v. 10.5.1988 I 1587 (1 BvR 482/84). Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis §3
(1) Über den Antrag entscheidet die untere Verwaltungsbehörde im Benehmen mit dem Gesundheitsamt. (2) Der Bescheid ist dem Antragsteller, … und der zuständigen Ärztekammer zuzustellen; das Gesundheitsamt erhält Abschrift des Bescheides. Der ablehnende Bescheid ist mit Gründen zu versehen. (3) Gegen den Bescheid können der Antragsteller … und die zuständige Ärztekammer binnen zwei Wochen Beschwerde einlegen. Über diese entscheidet die höhere Verwaltungsbehörde nach Anhörung eines Gutachterausschusses (§ 4). Fußnote § 3 Abs. 3: IdF d. § 2 V v. 3.7.1941 I 368; Kursivdruck gem. § 77 Abs. 1 VwGO 340–1 durch §§ 68 ff. VwGO ersetzt, jetzt Widerspruch innerhalb eines Monats bei der erlassenden Behörde. Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis §4
(1) Der Gutachterausschuß besteht aus einem Vorsitzenden, der weder Arzt noch Heilpraktiker sein darf, aus zwei Ärzten sowie aus zwei Heilpraktikern. Die Mitglieder des Ausschusses werden vom Reichsminister des Innern … für die Dauer von zwei Jahren berufen. Die Landesregierungen werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung die zuständige Behörde abweichend von Satz 2 zu bestimmen. Sie können diese Ermächtigung auf oberste Landesbehörden übertragen.
3 Berufsvoraussetzungen und rechtliche Grundlagen 23
(2) Für mehrere Bezirke höherer Verwaltungsbehörden kann ein gemeinsamer Gutachterausschuß gebildet werden. Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis §5
– Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis §6
– Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis §7
(1) Die Erlaubnis ist durch die höhere Verwaltungsbehörde zurückzunehmen, wenn nachträglich Tatsachen eintreten oder bekannt werden, die eine Versagung der Erlaubnis nach § 2 Abs. 1 rechtfertigen würden. Die Landesregierungen werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung die zuständige Behörde abweichend von Satz 1 zu bestimmen. Sie können diese Ermächtigung auf oberste Landesbehörden übertragen. (2) (3) Vor Zurücknahme der Erlaubnis nach Absatz 1 ist der Gutachte rausschuß (§ 4) zu hören. (4) Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis §§ 8 und 9 (weggefallen)
– Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis § 10
(1) Anträge auf Zulassung zum Studium der Medizin gemäß § 2 Abs. 2 des Gesetzes sind an die für den Wohnort des Antragstellers zuständige höhere Verwaltungsbehörde einzureichen. (2) Die Antragsteller dürfen das 30. Lebensjahr noch nicht überschritten haben.
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(3) Die höhere Verwaltungsbehörde prüft, ob die Voraussetzungen des § 2 der Verordnung erfüllt sind, und hört zu dem Antrag den Gutachterausschuß (§ 4). (4) Nach Abschluß der Ermittlungen legt sie den Antrag mit dem Gutachten dem Reichsminister des Innern vor, der … gegebenenfalls den Antrag an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung weiterleitet. Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis § 11
(1) Höhere Verwaltungsbehörde im Sinne dieser Verordnung ist in Preußen, Bayern … der Regierungspräsident, in Berlin der Polizeipräsident, … im Saarland der Reichskommissar für das Saarland und im übrigen die oberste Landesbehörde. (2) Untere Verwaltungsbehörde im Sinne dieser Verordnung ist in Gemeinden mit staatlicher Polizeiverwaltung die staatliche Polizeibehörde, im übrigen in Stadtkreisen der Oberbürgermeister, in Landkreisen der Landrat. (3) Fußnote § 11 Abs. 2: Kursivdruck vgl. jetzt die Gemeinde- u. Kreisordnungen der Länder. Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis §§ 12 und 14 (weggefallen)
– Das Original von 1939 untersagte die Ausbildung von Heilpraktikernachwuchs: „Es ist verboten, Ausbildungsstätten für Personen, die sich der Ausübung der Heilkunde im Sinne dieses Gesetzes widmen wollen, einzurichten oder sie zu unterhalten.“ Ursprünglich wurde den Antragstellern nur eine Frist bis zum 1. April 1939 eingeräumt, um sich zur Erlaubniserteilung anzumelden. 1952 wurden diese Einschränkungen dann als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar aufgehoben. Seitdem bildet das Heilpraktikergesetz die rechtliche Grundlage für die Ausübung des Heilpraktikerberufs.
3 Berufsvoraussetzungen und rechtliche Grundlagen 25
Das Heilpraktikergesetz wurde seit seiner Veröffentlichung nur geringfügig geändert – zuletzt 2016. Damals wurden folgende Änderungen des Heilpraktikergesetzes und der Durchführungsverordnung vorgenommen: Artikel 17e Änderung des Heilpraktikergesetzes § 2 Absatz 1 des Heilpraktikergesetzes in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2122-2, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 15 des Gesetzes vom 23. Oktober 2001 (BGBl. I S. 2702) geändert worden ist, wird wie folgt gefasst: „(1) Wer die Heilkunde, ohne als Arzt bestallt zu sein, bisher berufsmäßig nicht ausgeübt hat, kann eine Erlaubnis nach § 1 in Zukunft nach Maßgabe der gemäß § 7 erlassenen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erhalten, die insbesondere Vorgaben hinsichtlich Kenntnissen und Fähigkeiten als Bestandteil der Entscheidung über die Erteilung der Erlaubnis enthalten sollen.“ Durchführungsverordnung zum Heilpraktikergesetz Artikel 17f Änderung der Ersten Durchführungsverordnung zum Heilpraktikergesetz § 2 Absatz 1 der Ersten Durchführungsverordnung zum Heilpraktikergesetz in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2122-2-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, die zuletzt durch Artikel 2 der Verordnung vom 4. Dezember 2002 (BGBl. I S. 4456) geändert worden ist, wird wie folgt geändert: „i) wenn sich aus einer Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers durch das Gesundheitsamt, die auf der Grundlage von Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärtern durchgeführt wurde, ergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Betreffenden eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung oder für die ihn aufsuchenden Patientinnen und Patienten bedeuten würde.“ Die folgenden Sätze werden angefügt: „Das Bundesministerium für Gesundheit macht Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärtern bis spätestens zum 31. Dezember 2017 im Bundesanzeiger bekannt. Bei der Erarbeitung der Leitlinien sind die Länder zu beteiligen.“ Der Artikel 17f Nummer 1 tritt drei Monate nach Bekanntmachung der Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärtern in Kraft. Das Bundesministerium für Gesundheit gibt den Tag des Inkrafttretens im Bundesgesetzblatt bekannt.
Im Klartext sieht das Gesetz heute also etwa Folgendes vor: 1. Die Ausübung der Heilkunde bedarf einer Erlaubnis durch einen Amtsarzt. 2. Heilpraktiker müssen einen festen Praxissitz haben.
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3. Bei Missachtung droht eine Freiheits- oder Geldstrafe. 4. Zum Erlangen der Erlaubnis zur Ausübung des Heilpraktikerberufs sind erforderlich: • Vollendung des 25. Lebensjahres • Hauptschulabschluss • Abwesenheit von Vorstrafen • gesundheitliche Fähigkeit den Beruf auszuüben 5. Nicht erforderlich ist der Nachweis einer irgendwie gearteten medizinischen Ausbildung. 6. Nicht erforderlich ist ferner der Nachweis von Erfahrung in der Behandlung von Kranken. 7. Heilpraktiker sollen keine Gefahr für die Volksgesundheit oder den einzelnen Patienten darstellen. Wie dieser Anspruch praktisch umgesetzt werden soll bleibt allerdings unklar. 8. Die schriftliche, bundesweit einheitliche Prüfung ist abzulegen. 9. Eine mündliche Prüfung erfolgt vor einem Amtsarzt und mindestens einem Heilpraktiker als Beisitzer. Dass die heute nach wie vor gültigen Regelungen nicht ausreichen, um kompetente Krankenbehandler zu schaffen, liegt auf der Hand. Dass sie im Gegenteil dazu angetan sind, die Volksgesundheit zu gefährden, ist kaum zu bestreiten. Es scheint, als hätte der Gesetzgeber im Dritten Reich sich um Einzelheiten kaum gekümmert; schließlich war ihm klar, dass das Gesetz keinen Bestand haben und binnen weniger Jahre obsolet werden sollte. Das Heilpraktikergesetz war also gedacht als ein Abschaffungsgesetz; dass es später in das Gegenteil verkehrt wurde, war nicht geplant, erklärt aber seine zahlreichen Schwächen, die letztlich die Hauptursache für die Unzulänglichkeiten des Heilpraktikerkonzepts, so wie es sich heute darstellt, ausmachen. In den folgenden Kapiteln werden wir diese Unzulänglichkeiten noch im Detail erörtern.
3.2 Das Patientenrechtegesetz (PRG) Die aktuelle Version des Patientenrechtegesetzes stammt aus dem Jahr 2013. Die Reform des Gesetzes zielte darauf ab, Patienten aktiver am Behandlungsprozess teilhaben zu lassen und ihnen mehr Selbstbestimmung einzuräumen. Im Einzelnen regelt das Gesetz:
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• die Form und den Inhalt des Behandlungsvertrags (nach § 630a BGB), • die auf den Behandlungsvertrag anwendbaren Vorschriften (nach § 630b BGB), • die Sorgfaltspflicht (nach § 630a Abs. 2), • die Informations- und Aufklärungspflicht (nach §§ 630c, sog. Sicherungsaufklärung), • die Einwilligung (nach § 630d BGB), • die Dokumentation (nach §§ 630 f. BGB), • die Einsichtnahme (nach §§ 630 g BGB), • die Schweigepflicht, • den Umgang mit Behandlungsfehlern, Beweiserleichterungen für den Patienten (nach § 630h BRG). Neu kamen 2013 Regelungen wie die Rechtslage eines Behandlungsvertrages hinzu, der seitdem ein spezifischer Dienstvertrag für die Tätigkeit von Heilpraktikern ist. Die Sicherungsaufklärung legt fest, dass alle Patienten in für sie jeweils verständlicher Art über den Verlauf der Behandlung zu informieren sind. Diagnosen, voraussichtliche Gesundheitsentwicklung, Therapiemaßnahmen und die beabsichtigte Therapie sind zu erläutern. Hierzu gehört auch eine Eingriffs- und Risikoaufklärung. Die Dokumentation muss lesbar und verständlich geführt werden und sollte zeitnah nach der Behandlung erfolgen. Hier müssen Beobachtungen, Behandlungen, Methoden und Änderungen im Verlauf etc. festgehalten werden. Die Patientenakte muss nach $ 630 f. 3 BGB 10 Jahre lang sicher aufbewahrt werden. Eine Einsichtnahme des Patienten muss gewährleistet sein. Durch die Dokumentation müssen Heilpraktiker nachweisen können, welche Therapien, Diagnosen und Methoden erfolgten. Aus meiner Sicht wirft das Gesetz viele Fragen auf. Wie kann ein Heilpraktiker z. B. eine gültige Einwilligung von seinem Patienten für eine Behandlung einholen, die unwirksam ist (Kap. 14)? Er müsste nämlich diesen Umstand klar darstellen, was wiederum den Patienten veranlassen würde, die Therapie abzulehnen. Offen bleibt auch, wie diese Anordnungen zu kontrollieren sind (Kap. 16). Man kann beispielsweise argumentieren, dass ein erhebliches Risiko für Patienten darin besteht, dass Heilpraktiker selten oder sogar niemals die optimale, evidenzbasierte Therapie verabreichen und somit Patienten einen erheblichen Schaden nehmen können (Kap. 7). In den folgenden Kapiteln werden wir diese Probleme noch vertiefen.
4 Ausbildung und Prüfung
Zusammenfassung In diesem Kapitel wird auf die Frage eingegangen, wie gut die derzeitige Ausbildung der Heilpraktiker ist und welche Kenntnisse sie vermittelt. Sodann wird zu der amtsärztlichen Prüfung Stellung genommen, die jeder Heilpraktiker ablegen muss. Bei kritischer Evaluation zeigt sich, dass die Ausbildung nicht wirklich einheitlich geregelt und in den meisten Fällen höchst unzulänglich ist. Die Heilpraktikerprüfung ist nicht in der Lage sicher zu stellen, dass ein Absolvent keine Gefahr für Patienten darstellt. Schlüsselwörter Ausbildung · Schule · Lehrplan · Prüfung · Amtsarzt Leitlinie
·
4.1 Die Ausbildung der Heilpraktiker Wie bereits erwähnt, gibt es keine irgendwie geregelte Ausbildung für Heilpraktiker. Das bedeutet, dass jeder, der diesen Beruf ergreifen will, sich das nötige Wissen, um die Prüfung zu bestehen (siehe unten unter 4.2), so aneignen kann, wie er will. Prinzipiell bieten sich folgende Optionen: • Keine dezidierte Vorbereitung (mit etwas Vorbildung und ein wenig Glück mag es gelingen, die Prüfung auch ohne zu bestehen) • Lernen aus einem der vielen Bücher, die zu diesem Zweck auf dem Markt sind (Kap. 6) © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_4
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• Belegen eines Fernkurses • Besuch einer Heilpraktikerschule Gänzlich auf eine Ausbildung zu verzichten ist wohl nur dann eine reale Option, wenn man vorher in einem Heilberuf tätig war und daher die nötigen Basiskenntnisse bereits besitzt. Da die Prüfungsfragen keine hohen Ansprüche stellen (siehe unten unter 4.2), ist es z. B. denkbar oder sogar wahrscheinlich, dass beispielsweise eine voll ausgebildete Krankenschwester die Heilpraktikerprüfung auch ohne weitere Vorbereitung besteht. Das Erwerben der nötigen Kenntnisse ausschließlich aus Büchern ist eine Möglichkeit, die viele Bewerber wahrnehmen. Es gibt Dutzende von einschlägigen Lehrbüchern und Kompendien mit möglichen Prüfungsfragen, deren Studium das Bestehen der Heilpraktikerprüfung realistisch erscheinen lassen (Kap. 6). Fernkurse sind beliebt, da sie in der Regel relativ preisgünstig sind und erlauben, während der Vorbereitungszeit weiterhin berufstätig zu bleiben. Der Besuch einer Heilpraktikerschule wird allgemein als der beste Weg zum Heilpraktikerdiplom angepriesen. Zu bedenken ist jedoch, dass es ganz erhebliche Qualitätsunterschiede unter den zahlreichen Schulen gibt. Da Heilpraktikerschulen private Einrichtungen sind, haben staatliche Stellen keinen Einblick in und keinen Einfluss auf die Inhalte, die dort gelehrt werden. Es ist zu unterscheiden zwischen Teilzeit- und Vollzeitlehrplänen sowie zwischen Kursen, die in wenigen Monaten absolviert werden können, und solchen, die drei Jahre oder länger dauern. Ferner existieren deutliche inhaltliche Unterschiede im Lehrplan und in der Didaktik. Es gibt bis heute keine staatlichen Regelungen für Heilpraktikerschulen, sodass kein bundesweit einheitlicher Standard existiert. Einige wenige Schulen bieten auch Praktika an, in denen der Student simulierten oder echten Patientenkontakt hat. Im Jahr 2021 führte ein deutsches Forscherteam eine Untersuchung durch mit dem Ziel, die Lehrinhalte von Heilpraktikerschulen zu evaluieren. Insgesamt wurden 165 Heilpraktikerschulen gefunden. Die Ausbildungsprogramme dieser Institute umfassten in der Präsenzlehre im Mittel 7,4 Wochenstunden für durchschnittlich 27,1 Monate. Kursteilnehmende absolvierten im Mittel 600 Ausbildungsstunden. (Zum Vergleich: Ein Studium der Humanmedizin dauert durchschnittlich 12,9 Semester. Bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,9 h umfasst allein die Vorlesungszeit – exklusive aller Praktika in den Semesterferien – schon 15.000 Ausbildungsstunden). Da Heilpraktikeranwärter zunächst eine Prüfung vor dem Gesundheitsamt ablegen müssen (siehe unten unter 4.2), in der ausschließlich
4 Ausbildung und Prüfung 31
konventionelles medizinisches Wissen getestet wird, konzentriert sich das Ausbildungsangebot stark auf diese Inhalte. Mit anderen Worten, alternative Behandlungsmethoden – also diejenigen Dinge, die den Heilpraktikeralltag maßgeblich bestimmen – sind nur selten Bestandteil der Ausbildung. Obwohl Heilpraktikerverbände Ausbildungsrichtlinien vorgeben, werden diese von 83 % der Schulen nicht erfüllt. Die Autoren zogen folgenden Schluss: „Patienten und Behandelnde sollten sich der mangelnden Ausbildung und der daraus entstehenden Risiken wie körperlichen Schäden, verspäteter Therapie und Arzneimittelinteraktionen bewusst sein. Daher könnte die Abschaffung des Heilpraktikerberufs ein sinnvoller Schritt sein.“1 Die Kosten für den Besuch einer Heilpraktikerschule variieren je nach Studienform und liegen zwischen 2000 und rund 12.000 €. Zu diesen Ausgaben kommen dann die Prüfungsgebühren und zusätzliche Kosten für Lernmaterialien hinzu. Die Lehrpläne der Schulen variieren stark. Hier nur zwei willkürlich ausgewählte Beispiele: Beispiel Nr 1:2 • Kenntnisse über menschliche Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie • allgemeine Krankheitslehre, Pathologie und Psychopathologie • klinische Befunderhebung und Untersuchung • kleine Eingriffe wie Injektionen und Blutabnahmen • Erkennung und Erstversorgung von Notfällen • Anwendungsbereiche, Wirkung, Grenzen, Risiken von diagnostischen und therapeutischen Naturheilkundemaßnahmen • Berufs- und Gesetzeskunde • Praxishygiene, Desinfektion und Sterilisation Beispiel Nr 2:3 • Bewegungsapparat • Herz • Kreislaufsystem und Gefäßapparat
1 Hoffmeister,
L., Huebner, J., Keinki, C., & Muenstedt, K. (2021). Education of non-medical practitioners in Germany-an analysis of course subjects of specialized schools. Ausbildung von Heilpraktikern in Deutschland – Analyse der Ausbildungsinhalte von Heilpraktikerschulen. Wiener medizinische Wochenschrift (1946), https://doi.org/10.1007/s10354-021-00896-w. Advance online publication. 2 Heilpraktiker/in: Ausbildung, Berufsbild und Gehalt | Karriere (praktischarzt.de) 3 Lehrinhalte – Heilpraktiker Bildungsstätte Bayreuth (heilpraktiker-bildungsstaette.de)
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• Das Blut – lymphatisches System • Verdauungstrakt • Stoffwechsel • Leber – Galle – Bauchspeicheldrüse • Endokrinologie (Hormonlehre) • Harnapparat • Geschlechtsorgane • Atmungssystem • Nervensystem • Auge – Ohr – Haut • Psychische Erkrankungen • Neurologie • Infektionskrankheiten • Heilpraktikergesetz • Pädiatrie • Intensive Vorbereitung auf die amtsärztliche Überprüfung durch das Gesundheitsamt Der letztgenannte Punkt erscheint besonders bedeutsam, denn die meisten Heilpraktikerschulen haben nicht etwa das Ziel, den Anwärter auf seinen Beruf, sondern ihn lediglich auf die amtsärztliche Prüfung vorzubereiten. Da diese kein medizinisches Können oder Wissen prüft, sondern nur feststellen soll, dass der Kandidat keine Gefahr darstellt (siehe unten unter 4.2), werden vor allem Inhalte vermittelt, die prüfungsrelevant sind. Die Folge der meist unzulänglichen Ausbildung der Heilpraktiker ist ein oft höchst gefährliches Halbwissen (Tab. 4.1). Tab. 4.1 Der Dunning-Kruger-Effekt • Ein kognitiver Bias, der als Dunning-Kruger-Effekt bekannt ist, hat erhebliche Bedeutung für Heilpraktiker und alle anderen Personen mit Halbwissen. • Er besagt, dass, je weniger jemand weiß, desto weniger ist er in der Lage, zu erkennen, wie wenig er weiß, und desto weniger wahrscheinlich ist es, dass er seine eigenen Grenzen erkennt. • Erst nach einem deutlich eingehenderen Studium erkennt man, wie wenig man wirklich weiß. • Der Dunning-Kruger-Effekt bewirkt, dass das Selbstvertrauen von Heilpraktikern überhöht ist. • Heilpraktiker glauben demzufolge, dass sie ebenso kompetent oder gar kompetenter sind als andere Behandler. • Anders ausgedrückt: Unwissen und Inkompetenz verhindern das Erkennen von Unwissen und Inkompetenz.
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4.2 Die amtsärztliche Prüfung Die amtsärztliche Prüfung ist obligatorisch für jeden Heilpraktiker. Sie besteht aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil. Letzterer wird von einem Gremium abgenommen, das aus einem Amtsarzt als Vorsitzender und mindestens einem Heilpraktiker als Beisitzer besteht. Die Beisitzer sind für den Amtsarzt lediglich in beratender Funktion tätig. Seit 2017 existieren bundesweite Heilpraktikerüberprüfungsleitlinien4. Die Kosten für die amtsärztliche Prüfung belaufen sich je nach Bundesland auf 400 bis 500 €. Die schriftliche Prüfung findet zweimal im Jahr zu bundesweit einheitlichen Terminen statt. Sie besteht aus 60 Multiple-Choice-Fragen, von denen mindestens 75 % richtig zu beantworten sind. Die Dauer des Tests beträgt zwei Stunden. Der mündliche Teil der Prüfung folgt einer bestandenen schriftlichen Prüfung. Er soll nicht länger als 60 min dauern. Bis zu vier antragstellende Personen können gemeinsam überprüft werden. Die Heilpraktikerüberprüfungsleitlinien von 2017 machen folgende Vorgaben: „Ziel der Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten der antragstellenden Person ist es, festzustellen, ob von ihrer Tätigkeit bei der Ausübung von Heilkunde eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung im Allgemeinen oder die Patientinnen und Patienten im Besonderen ausgehen kann. Dementsprechend ist bei den nachfolgenden Gegenständen der Überprüfung insbesondere darauf zu achten, dass die antragstellende Person die Grenzen ihrer persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten kennt, sich der Gefahren im Falle ihrer Überschreitung bewusst und bereit ist, ihr berufliches Handeln danach auszurichten. 1.1 Rechtliche Rahmenbedingungen 1.1.1 Die antragstellende Person kennt das Gesundheitssystem in Deutschland in seinen wesentlichen Strukturen und weiß um die Stellung des Heilpraktikerberufs in diesem System. 1.1.2 Die antragstellende Person kennt die für die Ausübung des Heilpraktikerberufs relevanten Rechtsvorschriften aus dem Straf- und Zivilrecht sowie aus anderen einschlägigen Rechtsgebieten, insbesondere das Heilpraktikergesetz, das Patientenrechtegesetz, das Heilmittelwerbegesetz und das Gesetz gegen den unlauteren
4 Suchergebnis
– Bundesanzeiger
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ettbewerb und ist in der Lage, ihr Handeln im Interesse des W Patientenschutzes nach diesen Regelungen auszurichten. 1.1.3 Die antragstellende Person kennt die medizinrechtlichen Grenzen sowie Grenzen und Gefahren allgemein üblicher diagnostischer und therapeutischer Methoden bei der Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten aufgrund von Arztvorbehalten insbesondere im Bereich des Infektionsschutzes, im Arzneimittel- oder Medizinprodukterecht und ist in der Lage, ihr Handeln nach diesen Regelungen auszurichten. 1.1.4 Die antragstellende Person kann ihre eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten zutreffend einschätzen; sie weiß insbesondere über die Grenzen ihrer Fähigkeiten auch mit Blick auf ihre haftungsrechtlichen Verantwortlichkeiten Bescheid. 1.2 Qualitätssicherung 1.2.1 Der antragstellenden Person sind die Grundregeln der Hygiene einschließlich Desinfektions- und Sterilisationsmaßnahmen bekannt; sie ist in der Lage, diese bei der Ausübung des Berufs zu beachten. 1.2.2 Die antragstellende Person ist sich der Bedeutung von Qualitätsmanagement und Dokumentation bei der Berufsausübung bewusst; sie ist in der Lage, diese Kenntnisse bei der Ausübung des Berufs zu beachten. 1.3 Notfallsituationen Die antragstellende Person ist in der Lage, Notfallsituationen oder lebensbedrohliche Zustände zu erkennen und eine angemessene Erstversorgung sicherzustellen. 1.4 Kommunikation 1.4.1 Die antragstellende Person verfügt über die für eine Ausübung des Heilpraktikerberufs notwendigen Kenntnisse in der medizinischen Fachterminologie. 1.4.2 Die antragstellende Person kann aufgrund dieser Kenntnisse angemessen mit Patientinnen und Patienten aller Altersgruppen kommunizieren und interagieren. 1.4.3 Die antragstellende Person ist im Rahmen ihrer Stellung im Gesundheitssystem in der Lage, sich mit anderen Berufsgruppen und Institutionen im Gesundheitswesen fachbezogen zu verständigen.
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1.5 Medizinische Kenntnisse 1.5.1 Die antragstellende Person verfügt über die zur Ausübung des Heilpraktikerberufs notwendigen Kenntnisse der Anatomie, pathologischen Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie sowie Pharmakologie. 1.5.2 Die antragstellende Person verfügt über die zur Ausübung des Heilpraktikerberufs notwendigen Kenntnisse der allgemeinen Krankheitslehre sowie akuter und chronischer Schmerzzustände. 1.5.3 Die antragstellende Person verfügt über die zur Ausübung des Heilpraktikerberufs notwendigen Kenntnisse zur Erkennung und Behandlung von physischen und psychischen Erkrankungen bei Patientinnen und Patienten aller Altersgruppen, insbesondere in den Bereichen von • Erkrankungen des Herzes, Kreislaufs und der Atmung– Erkrankungen des Stoffwechsels und des Verdauungsapparats • immunologischen, allergologischen und rheumatischen Erkrankungen • endokrinologischen Erkrankungen • hämatologischen und onkologischen Erkrankungen–Infektionskrankheiten–gynäkologischen Erkrankungen • pädiatrischen Erkrankungen • Schwangerschaftsbeschwerden • neurologischen Erkrankungen • dermatologischen Erkrankungen • geriatrischen Erkrankungen • psychischen Erkrankungen • Erkrankungen des Bewegungsapparats • urologischen Erkrankungen • ophtalmologischen Erkrankungen • Erkrankungen des Halses, der Nase und der Ohren. 1.6 Anwendungsorientierte medizinische Kenntnisse 1.6.1 Die antragstellende Person ist in der Lage, ärztliche Befunde und Befunde anderer Berufsgruppen einschließlich der in den Befunden enthaltenen Laborwerte zu verstehen, zu bewerten und diese Bewertung im Rahmen der eigenen Berufsausübung angemessen zu berücksichtigen. 1.6.2 Die antragstellende Person ist in der Lage, eine vollständige und umfassende Anamnese einschließlich eines psychopathologischen Befundes zu erheben und dem Heilpraktikerberuf angemessene Methoden der Patientenuntersuchung anzuwenden.
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1.6.3 Die antragstellende Person ist unter Anwendung ihrer medizinischen Kenntnisse, unter Einbeziehung vorliegender Befunde, gestützt auf ihre Anamnese und im Bewusstsein der Grenzen ihrer diagnostischen und therapeutischen Methoden sowie möglicher Kontraindikationen in der Lage, eine berufsbezogene Diagnose zu stellen, aus der sie einen Behandlungsvorschlag herleitet, der keine Gefährdung der Patientengesundheit erwarten lässt. 1.6.4 Die antragstellende Person ist insbesondere dann, wenn der Behandlungsvorschlag die Anwendung invasiver Maßnahmen beinhaltet, in der Lage zu zeigen, dass sie diese Maßnahmen ohne Gefährdung der Patientengesundheit anwenden kann. 1.6.5 Enthält der Behandlungsvorschlag der antragstellenden Person Maßnahmen, die den alternativen Therapieformen zuzurechnen sind, erklärt sie die vorgeschlagenen Maßnahmen und ist auf Nachfrage in der Lage zu zeigen, dass sie diese ohne Gefährdung der Patientengesundheit anwenden kann. Wird eine sogenannte sektorale Heilpraktikererlaubnis beantragt, haben sich die in Nummer 1 genannten Inhalte der Überprüfung gezielt darauf zu erstrecken, ob von der Ausübung der Heilkunde durch den Betroffenen eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung oder für die ihn aufsuchenden Patientinnen und Patienten in dem sektoralen Bereich ausgeht, für den die Heilpraktikererlaubnis beantragt wird. Dabei ist insbesondere auch zu überprüfen, ob die antragstellende Person in der Lage ist, die Krankheiten, Leiden oder sonstigen Körperschäden aus dem für die sektorale Heilpraktikererlaubnis einschlägigen Bereich von den Krankheiten, Leiden oder sonstigen Körperschäden zu unterscheiden, die außerhalb dieses Bereichs liegen. Verfügt die antragstellende Person über eine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung in einem für die sektorale Heilpraktikererlaubnis einschlägigen bundesgesetzlich geregelten Heilberuf, kann die Überprüfung auf Kenntnisse und Fähigkeiten beschränkt werden, mit denen die antragstellende Person zeigt, dass sie in der Lage ist, die Lücke zwischen der vorhandenen Berufsqualifikation und der eigenverantwortlichen Ausübung von Heilkunde zu schließen, wobei diese Beschränkung insbesondere in einem Verzicht auf einen schriftlichen Teil der Überprüfung zum Ausdruck kommen kann. Der zur Durchführung der Überprüfung bestimmte Arzt entscheidet nach Abschluss der mündlich-praktischen Überprüfung über das Ergebnis des mündlich-praktischen Teils der Überprüfung. Er berät sich dabei mit den an der Überprüfung beteiligten Personen. Die Überprüfung ist bestanden, wenn in der schriftlichen Prüfung mindestens 75 % der Fragen richtig beantwortet wurden und die Leistung der antragstellenden Person in der mündlichen Prüfung keine Mängel aufweist“. ____________
4 Ausbildung und Prüfung 37
Dass in den Leitlinien das medizinische Fachwissen und die praktischen Fähigkeiten erst zuletzt genannt werden ist wohl kein Zufall. Ferner fällt auf, dass nicht geprüft wird, welche alternativen und von Heilpraktikern geschätzten Verfahren evidenzbasiert oder nebenwirkungsbelastet sind und welche nicht. Das primäre Ziel ist, wie gesagt, lediglich festzustellen, ob von der Tätigkeit des Heilpraktikers bei der Ausübung von Heilkunde eine Gefahr ausgehen kann. Die Prüfungsfragen werden publiziert, um Nachkommenden die Vorbereitung zu erleichtern. Sie sind fast durchweg einfach gehalten und auch mit nur oberflächlichen Kenntnissen leicht beantwortbar (Tab. 4.2). Insgesamt sind die Formulierungen in den Heilpraktikerüberprüfungsleitlinien wachsweich und lassen enormen Spielraum in der Auslegung. Die Erlaubnis zur Ausübung des Heilpraktikerberufs darf nur dann verweigert werden, falls sich bei der Prüfung ergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Antragsteller eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung oder für seine Patienten bedeuten würde. Vonseiten der Heilpraktiker wird oft bestritten, dass die Prüfung nur relativ oberflächliche Kenntnisse erfordert. Sie weisen gerne auf die hohen Durchfallquoten hin, die zwar je nach Gesundheitsamt stark variieren, im Durchschnitt jedoch bei etwa 50 % liegen. Sie sind aber in Wahrheit eher der Ausdruck der unzureichenden Vorbereitung vieler Anwärter, als ein Indiz für das hohe Niveau der erforderlichen Kenntnisse. Entscheidend ist es jedenfalls, zu bedenken, dass die Prüfung so oft wiederholt werden kann, bis auch der Letzte sie besteht.
38 E. Ernst Tab. 4.2 Beispiele von Prüfungsfragen aus dem Jahr 20215 Aussagenkombination – Welche der folgenden Aussagen zu allgemeinen Heilpraktikererlaubnis trifft (treffen) zu? 1. Die Erlaubnis berechtigt zur Ausübung der Heilkunde im Umherziehen 2. Voraussetzung für die Erteilung der Erlaubnis ist eine Berufsausbildung und das Bestehen einer Fachprüfung 3. Die Erlaubnis wird nicht erteilt, wenn schwere strafrechtliche Verfehlungen vorliegen 4. Die Erlaubnis wird nicht erteilt, wenn die sittliche Zuverlässigkeit fehlt 5. Die Erlaubnis gilt nur in dem Bundesland, in dem sie erteilt wurde A) Nur die Aussage 3 ist richtig C) Nur die Aussagen 1, 3 und 4 sind richtig E) Nur die Aussagen 1, 2, 4 und 5 sind richtig B) Nur die Aussagen 3 und 4 sind richtig D) Nur die Aussagen 2, 3 und 4 sind richtig Aussagenkombination – Welche der folgenden Aussagen treffen zu? Typische Risiken für die Entstehung einer tiefen Beinvenenthrombose sind: 1. Exsikkose 2. Bluthochdruck 3. Immobilisation 4. Arteriosklerose 5. Langstreckenflüge E) Alle Aussagen sind richtig A) Nur die Aussagen 3 und 5 sind richtig B) Nur die Aussagen 1, 2 und 5 sind richtig D) Nur die Aussagen 2, 3 und 4 sind richtig C) Nur die Aussagen 1, 3 und 5 sind richtig Aussagenkombination – Welche der folgenden Aussagen treffen zu? Therapeutische Maßnahmen bei einem ischämischen Schlaganfall sind: 1. Lysetherapie bei einem thrombotischen Verschluss einer Hirnarterie 2. Regulation des Blutzuckers 3. Sofortige Blutdrucksenkung auf hypotone Blutdruckwerte 4. Thromboseprophylaxe bei Bettlägerigkeit 5. Frühzeitige krankengymnastische Therapie (Fortsetzung)
5 Heilpraktikerprüfung
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4 Ausbildung und Prüfung 39 Tab. 4.2 (Fortsetzung) B) Nur die Aussagen 1, 2 und 4 sind richtig C) Nur die Aussagen 1, 3 und 5 sind richtig D) Nur die Aussagen 1, 2, 4 und 5 sind richtig A) Nur die Aussagen 2 und 5 sind richtig E) Alle Aussagen sind richtig
5 Das Standardlehrbuch
Zusammenfassung In diesem Kapitel wird der Inhalt des vielleicht bestetablierten Lehrbuchs der Heilpraktiker kritisch beleuchtet. Es zeigt sich, dass es durchaus nicht frei von Fehlinformation ist. Selbst die wenigen Heilpraktiker, die dieses relativ umfangreiche Werk mit seinen konkreten Empfehlungen eingehend studieren und seinen Inhalt genau beherzigen, werden somit in die Irre geführt und keine effektive Heilkunde betreiben können. Schlüsselwörter Lehrbuch · Therapie · Indikation · Pseudowissenschaft Derzeit werden zahlreiche Lehrbücher unterschiedlicher Qualität für Heilpraktiker angeboten (Tab. 5.1). Das umfangreichste und wohl auch bestetablierten „Standardwerk“ mit über 1500 Seiten, etwa 1300 Abbildungen und mehr als 30 Autoren ist ein Buch mit dem Titel „Naturheilpraxis Heute“1. Der Umfang mag viele beindrucken, ist aber unschwer zu relativieren, wenn man bedenkt, dass der medizinische Inhalt, der in diesem Buch abgehandelt wird – Krankheitslehre, Diagnose und Therapie – in einem Standardwerk der konventionellen Medizin, dem
1 Naturheilpraxis
heute: Lehrbuch und Atlas – Bierbach, Elvira, Hübner, Heike, Rintelen, Henriette – Amazon.de: Bücher
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_5
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42 E. Ernst Tab. 5.1 Titel und Erscheinungsdatum einiger weiterer Lehrbücher für Heilpraktiker • Schriftliche Prüfungsfragen für Heilpraktiker: 2017–2022 (2022) • Intensivtraining Anatomie und Physiologie für Heilpraktiker (2022) • Arzneimittelwissen für Heilpraktiker (2021) • Differenzialdiagnose für Heilpraktiker (2021) • Trainingsfälle für die Heilpraktikerprüfung (2020) • EMDR für Heilpraktiker (2020) • Lehrbuch Heilpraktiker für Psychotherapie (2019) • Lexikon Heilpraktiker für Psychotherapie (2019) • Leitfaden Heilpraktiker-Prüfungswissen (2019) • Lernkarten Laborwerte für Heilpraktiker (2019) • Checklisten Krankheitslehre (2019) • Die Heilpraktiker-Akademie (2018) • Heilpraktiker Kompaktwissen (2012)
„Oxford Textbook of Medicine“2 (zu dem ich ein Kapitel beitragen durfte), etwa 6000 Seiten einnimmt. „Naturheilpraxis Heute“ wird vom Verlag mit folgenden Worten beworben: „Seit mehr als einem Jahrzehnt begleitet ‚Naturheilpraxis heute‘ Heilpraktiker in Ausbildung, Prüfung und Praxis. Das beliebte Standardwerk überzeugt durch die einzigartige Kombination von schulmedizinischen und naturheilkundlichen Diagnose- und Therapiemethoden. Übersichtlich aufgebaut, klar strukturiert und mit zahlreichen Tabellen und Abbildungen, ist es Ihr verlässlicher Begleiter durch die Fülle des Lernstoffs und ein kompaktes Nachschlagewerk auch für die Praxis.“
Meines Wissens genießt kein Lehrbuch für Heilpraktiker einen besseren Ruf. Das Buch (mir liegt die 2. Auflage vor) erlaubt mir, einige Krankheitsbilder exemplarisch nachzuschlagen und die dort empfohlenen Therapien auf der Basis der Evidenz kritisch zu bewerten. So entsteht vielleicht ein Bild darüber, wie zuverlässig die vermeidliche „Elite“ der Heilpraktiker (denn nur die Elite der Heilpraktiker wird sich wohl die Mühe gemacht haben, dieses Lehrbuch in Gänze zu studieren) Kranke behandelt. Folgende alternative Heilmethoden werden auf rund 50 Seiten im Detail diskutiert:
2 Oxford Textbook of Medicine: Firth, John, Conlon, Christopher, Cox, Timothy: Amazon.co.uk: Books
5 Das Standardlehrbuch 43
• Ab- und Ausleitungsverfahren (Ascherverfahren) • Aderlass • Akupunktur • Akupressur • Angewandte Kinesiologie • Anthroposophische Medizin • Aromatherapie • Atemtherapie • Ayurveda • Bach-Blütentherapie • Baunscheidtverfahren • Biochemie nach Schüßler • Bioresonanztherapie • Blutegeltherapie • Cantharidenpflaster • Chirotherapie • Edelsteintherapie • Eigenbluttherapie • Eigenharntherapie • Elektro- und Strahlentherapie • Ernährungstherapie • Heilfasten • Hildegardmedizin • Homöopathie • Hydrotherapie • Kraniosakrale Osteopathie • Lasertherapie • Manuelle Therapie • Mikrobiologische Therapie • Mayr Kur • Moxibustion • Neuraltherapie • Ohrakupunktur • Ordnungstherapie • Orthomolekulare Medizin • Osteopathie • Ozontherapie • Phytotherapie • Reflexzonentherapie
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• Reflexzonentherapie am Fuß • Rödern • Sauerstofftherapien • Schröpfen • Segmenttherapie • Shiatsu • Spagyrik • Tibetische Medizin • Traditionelle chinesische Medizin • Tui-Na-Massage Diese Liste ist beeindruckend, aber zugleich auch verwirrend und besorgniserregend, vor allem wenn man bedenkt, dass in diesem Buch selbst völlig unbewiesene oder widerlegte Methoden ohne jede Kritik oder Evidenz vorgestellt werden. Indikationen der diversen Behandlungsformen werden nur sehr vage formuliert und bleiben oft gänzlich unbenannt. Im Kap. 14 werden wir einige der Verfahren genauer unter die Lupe nehmen. Hier daher nur der knappe Vermerk, dass nur sehr wenige Therapieformen in dieser Liste auch nur annähernd evidenzbasiert sind. Im folgenden Abschnitt habe ich einige Krankheiten exemplarisch herausgegriffen und aufgelistet, welche alternative Therapie ein Heilpraktiker bei der Behandlung der jeweiligen Erkrankungen gemäß den Aussagen dieses Buches einsetzen soll. Dem stelle ich anschließend ein evidenzbasiertes Urteil (in Kursivschrift) über die Sinnhaftigkeit der jeweiligen Verfahren gegenüber. Bei koronarer Herzkrankheit wird angeraten: • Bach-Blütentherapie • Ernährungstherapie • Homöopathie • Manuelle Therapie • Neuraltherapie • Ordnungstherapie • Orthomolekulare Therapie • Physikalische Therapie • Traditionelle Chinesische Medizin Die Ursache einer koronaren Herzkrankheit sind arteriosklerotische Gefäßveränderungen der Arterien des Herzens. Folge ist häufig ein Herzinfarkt, der nicht
5 Das Standardlehrbuch 45
selten tödlich endet. Eine effektive Therapie ist daher ungemein wichtig und in vielen Fällen lebensrettend. Mit Ausnahme der Ernährungstherapie ist keine der o. g. Behandlungen bei der koronaren Herzkrankheit von ausreichend belegter Wirksamkeit. Zur Behandlung der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit wird empfohlen: • Ab- und Ausleitungsverfahren • Ernährungstherapie • Homöopathie • Ordnungstherapie • Orthomolekulare Therapie • Physikalische Therapie • Phytotherapie • Sauerstofftherapie Die periphere arterielle Verschlusskrankheit beruht ebenfalls auf arteriosklerotischen Gefäßveränderungen, die bei dieser Erkrankung jedoch in den unteren Extremitäten lokalisiert ist. Sie endet unbehandelt oft mit Amputation der betroffenen Extremität. Die konventionelle Medizin hat effektive Maßnahmen zur Verfügung (z. B. Gefäßchirurgie, Medikamente), die einen solchen Ausgang meist verhindern können. Mit Ausnahme der physikalischen Therapie (Gehtraining) sind die oben gelisteten Behandlungen nicht nachweislich wirksam. Bei Hypertonie werden in dem Buch folgende alternative Therapien empfohlen: • Ab- und Ausleitungsverfahren • Ernährungstherapie • Homöopathie • Ordnungstherapie • Physikalische Therapie • Phytotherapie • Traditionelle chinesische Medizin Die Hypertonie, also der Bluthochdruck, ist ein wichtiger Risikofaktor für Herzinfarkt und Schlaganfall. Daher sollte er stets adäquat behandelt werden. Dafür stehen in der konventionellen Medizin z. B. zahlreiche, gut verträgliche Medikamente zu Verfügung. Ernährungstherapie, physikalische Therapie und
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Phytotherapie können bedingt wirksam sein. Die anderen in der Liste genannten Behandlungsformen sind nicht evidenzbasiert. Bei Asthma werden in dem Buch folgende Therapien angeraten: • Ab- und Ausleitungsverfahren • Eigenbluttherapie • Ernährungstherapie • Homöopathie • Mikrobiologische Therapie • Neuraltherapie • Ordnungstherapie • Physikalische Therapie • Phytotherapie • Traditionelle Chinesische Therapie Asthma wird durch eine Verengung der Atemwege verursacht und kann bei unzureichender Behandlung gelegentlich sogar tödlich enden. Es stehen mehrere konventionelle Optionen zu Verfügung, die das Asthma zwar nicht heilen können, jedoch erwiesenermaßen symptomatisch wirksam sind. Außer einigen wenigen Phytotherapeutika sind die hier aufgelisteten Verfahren nicht nachweislich effektiv. Zur Behandlung der Psoriasis werden die folgenden Therapien empfohlen: • Eigenbluttherapie • Enzymtherapie • Ernährungstherapie • Homöopathie • Mikrobiologische Therapie • Ordnungstherapie • Orthomolekulare Therapie • Physikalische Therapie • Phytotherapie • Traditionelle Chinesische Therapie Die Psoriasis oder Schuppenflechte ist eine vererbte Autoimmunerkrankung, die oft mit chronischem Leidensdruck einhergeht. Mit modernen Mitteln ist sie heute meist gut in den Griff zu bekommen. Mit Ausnahme der physikalischen Therapie (Sonnenbäder) sind die oben genannten Verfahren nicht nachweislich wirksam.
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Bei einer Gastritis werden folgende alternative Verfahren empfohlen: • Biochemie nach Schüßler • Ernährungstherapie • Homöopathie • Ordnungstherapie • Physikalische Therapie • Phytotherapie Die Gastritis ist eine Entzündung der Magenschleimhaut. Sie kann vielfältige Ursachen haben; häufig liegt eine bakterielle Infektion zugrunde, die oft mit Antibiotika behandelt werden muss . Ernährungstherapie und Phytotherapie können bedingt wirksam sein. Die anderen genannten Verfahren sind nicht evidenzbasiert. Bei einer Mittelohrentzündung werden in dem Buch folgende Therapien angeraten: • Ab- und Ausleitungsverfahren • Ernährungstherapie • Homöopathie • Mikrobiologische Therapie • Physikalische Therapie • Phytotherapie • Traditionelle Chinesische Therapie Die Mittelohrentzündung ist eine nicht ungefährliche, schmerzhafte, meist bakterielle Infektion, die die konventionelle Medizin heute effektiv behandeln kann. Oft sind Kinder betroffen. Die Wirksamkeit der hier angeführten Verfahren ist nicht belegt. Gegen Depression werden folgende Verfahren empfohlen: • Ab- und Ausleitungsverfahren • Schüßler-Salze • Ernährungstherapie • Homöopathie • Ordnungstherapie • Orthomolekulare Therapie • Physikalische Therapie • Phytotherapie • Traditionelle Chinesische Medizin
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Depressionen sind wegen der Suizidgefahr lebensbedrohlich. Mit Ausnahme der Phytotherapie (Johanniskraut ist effektiv bei leichten bis mittelschweren Depressionen) sind die genannten Behandlungsformen nicht nachweislich wirksam. Das Standardwerk enthält natürlich auch einiges zu den diagnostischen Methoden, die ein Heilpraktiker anwenden sollte. Folgende „naturheilkundliche Diagnostik“ wird im Detail behandelt: • Angewandte Kinesiologie • Antlitzdiagnose • Bioresonanz • Elektroakupunktur nach Voll • Irisdiagnose • Pulsdiagnose • Reflexzonendiagnose • Segmentdiagnose • Zungendiagnose Das Buch gibt so gut wie keine Auskunft darüber, welchen Beitrag diese Verfahren zur Diagnose der o. g. Erkrankungen leisten sollen. Zu einigen hier gelisteten Methoden gibt es keine Untersuchungen, die ihre Validität belegen würden. Mit anderen Worten, sie sind nicht zuverlässig und führen zu falschen Diagnosen. Diejenigen der genannten Techniken, die wissenschaftlich untersucht wurden, werden im Kap. 13 diskutiert. Hier daher nur der Hinweis, dass keines der o. g. diagnostischen Verfahren evidenzbasiert ist. Insgesamt ist das Standardlehrbuch also mehr als enttäuschend. Es ist voll mit Fehlinformationen, die den Heilpraktiker zwangsläufig in die Irre leiten müssen. Selbst die bizarrsten Methoden werden so hingestellt, als seien sie bestens belegt. Es fehlt jede kritische Stellungnahme zu unbewiesenen Verfahren. Die Buchautoren zitieren ausgiebig Literatur, was dem Leser den Anschein erweckt, als sei ihr Text ausreichend mit soliden Daten untermauert. Bei genauerem Hinschauen stellt man jedoch fest, dass die Literaturzitate sich fast ausnahmslos nicht auf wissenschaftliche Untersuchungen, sondern auf Abhandlungen beziehen, die meist noch weniger kritisch als das Lehrbuch sind. Schließlich ist nicht zu übersehen, dass dieses Buch weniger eine wissenschaftsorientierte Heilkunde als eine bizarre Pseudowissenschaft vermittelt (Tab. 5.2).
5 Das Standardlehrbuch 49 Tab. 5.2 Sechs Charakteristika der Pseudowissenschaft • Ignorieren der etablierten wissenschaftlichen Kenntnisse und Prinzipien, z. B. ein Mittel kann Wirkungen auslösen, obschon es hoch verdünnt und somit frei von aktiven Inhaltsstoffen ist. • Irreführung durch Einsatz wissenschaftlich klingender Bezeichnungen, z. B. Heranziehen von Quantenmechanik zur Erklärung der Wirksamkeit alternativer Verfahren. • Ablehnung von anerkannten wissenschaftlichen Standards, z. B. propagierte Heilsansprüche müssen belegt sein. • Behauptungen, unterdrückt zu werden, z. B. die Pharmaindustrie verhindert, dass Konsumenten über die Wirksamkeit alternativer Behandlungsformen erfahren. • Insistenz auf unbewiesenen Schlussfolgerungen, z. B. Neuraltherapie wirkt, weil dies die Erfahrung zeigt, selbst wenn keine belastbare Evidenz existiert. • Anomalien als Beweise hinstellen, z. B. die wenigen solide erscheinenden Homöopathiestudien, die ein positives Ergebnis erbrachten, werden als Beweis für ihre Wirksamkeit interpretiert, während die Gesamtschau der Evidenz unbeachtet bleibt.
Das Fazit ist somit eher ernüchternd: Selbst diejenigen Heilpraktiker, die das „Standardwerk“ eingehend studiert haben, sind kaum gerüstet, eine verantwortungsvolle Medizin zu praktizieren. Das Gesetz mag vorsehen, dass Heilpraktiker keine Gefahr für Patienten darstellen (Kap. 4), die Realität scheint jedoch anders auszusehen.
6 Die Ethik der Heilpraktiker
Zusammenfassung Jede Form der Heilkunde unterliegt gewissen ethischen Regeln. Dass hier Heilpraktiker keine Ausnahme bilden dürfen, liegt auf der Hand. Dieses Kapitel widmet sich diesem Thema. Die medizinische Ethik beinhaltet Verhaltensmaßregeln, die vor allem dem Schutz des Patienten dienen sollen. Es werden einige elementare Grundlagen der medizinischen Ethik erläutert und dargestellt, warum es für Heilpraktiker kaum möglich ist, diese Regeln zu befolgen. Schlüsselwörter Ethik · Informed consent · Kompetenz
6.1 Wichtige Prinzipien der Medizinischen Ethik Medizinische Ethik besteht aus Regeln, die unsere Handlungen im Gesundheitswesen bestimmen (Tab. 6.1). Sie gelten unbestreitbar für alle Bereiche der Heilkunde, also auch für Heilpraktiker. Allen ethischen Prinzipien voran steht natürlich das Gebot, Patienten keinen Schaden zuzufügen. Hierzu werde ich im Kap. 16 noch ausführlicher berichten.
6.1.1 Aufklärung des Patienten Die Aufklärung des Patienten ist eine wesentliche Voraussetzung für jede Art von Gesundheitsversorgung. Die informierte Einwilligung („informed © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_6
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52 E. Ernst Tab. 6.1 Die vier ethischen Grundprinzipien der Heilkunde Patientenautonomie Jeder Patient hat das Recht zu entscheiden, was mit ihm geschieht. Der Behandler hat die Pflicht, die Autonomie des Patienten zu respektieren. Er muss seine Patienten ausreichend über die Krankheit, die möglichen Behandlungen und ihre Folgen informieren. Das begrenzte Wissen eines Heilpraktikers macht das jedoch oft unmöglich. Schadensvermeidung Der Behandler soll dem Patienten keinen Schaden zufügen. Im Fall der Therapie durch einen Heilpraktiker ist ein Schaden jedoch immer dann unvermeidbar, wenn unwirksame Behandlungsformen oder nicht valide diagnostische Verfahren zum Einsatz kommen. Handeln zum Wohle des Patienten Der Behandler muss stets das Wohl seiner Patienten voranstellen. Immer wenn Heilpraktiker unwirksame Methoden einsetzen, handeln sie nicht in diesem Sinn. Gerechtigkeit Jeder Patient hat das Recht, mit der jeweils wirksamsten Therapie behandelt zu werden, die heute für sein Leiden zu Verfügung steht. Der Einsatz der suboptimalen Methoden der Heilpraktiker widerspricht somit dem Gerechtigkeitsprinzip.
consent“) erfordert, dass der Behandler den Patienten umfassend über die Situation informiert. Unter anderem können die folgenden Informationen erforderlich sein: • • • • •
die Art der Erkrankung, ihre Prognose, die Evidenz für die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Behandlung, die Risiken der vorgeschlagenen Behandlung, Information über andere Optionen.
Die Zustimmung eines Patienten kann je nach Situation entweder schriftlich oder mündlich erteilt werden. Eine nicht eingeholte Einwilligung nach Aufklärung ist nicht nur unethisch, sondern auch rechtswidrig. Von Heilpraktikern wird die Aufklärung jedoch oft vernachlässigt. Dafür gibt es verschiedene Gründe: 1. Heilpraktiker sind in der Regel nicht ausreichend in medizinischer Ethik unterrichtet. 2. Es gibt keine angemessene Kontrolle des Vorgehens der Heilpraktiker. 3. Heilpraktiker haben erhebliche Interessenkonflikte und könnten die Patientenaufklärung als eine kommerzielle Bedrohung auffassen. Falls ein
6 Die Ethik der Heilpraktiker 53
Heilpraktiker beispielsweise seinen Patienten wahrheitsgemäß darüber aufklärt, dass seine Methoden nicht evidenzbasiert sind, wird dieser die Behandlung wohl ablehnen, was das Einkommen des Heilpraktikers schmälern würde und somit nicht in seinem Interesse wäre. 4. Aufgrund ihrer inadäquaten Ausbildung (Kap. 5) ist es den meisten Heilpraktikern nicht möglich, die o. g. Information anzubieten.
6.1.2 Vernachlässigung Immer wenn ein Patient nicht die jeweils wirksamste Therapie für eine ernste Erkrankung erhält, werden seine Interessen vernachlässigt. Da die Wirksamkeit von vielen alternativen Verfahren nicht belegt ist (Kap. 14), muss eine Behandlung durch einen Heilpraktiker häufig eine medizinische Vernachlässigung darstellen.
6.1.3 Kompetenz In der Heilkunde ist ein Mangel an Kompetenz immer auch ein schwerwiegendes ethisches Problem. Alle Krankenbehandler haben die ethische Pflicht, kompetent zu sein in dem, was sie tun, denn Inkompetenz gefährdet das Wohl des Patienten. Angesichts ihrer oft unzureichenden Ausbildung (Kap. 5) muss angenommen werden, dass eine mangelnde Kompetenz im Heilpraktikerwesen sicherlich kein seltenes Phänomen ist.
6.1.4 Die Wahrheit Wir alle sind der Wahrheit verpflichtet. Im Gesundheitswesen wird diese moralische Verpflichtung zu einem ethischen Imperativ. Dem Patienten nicht die Wahrheit zu sagen ist dazu angetan, ihn in die Irre zu führen, was zweifelsohne erheblichen Schaden anrichten kann. Wie wir in den folgenden Kapiteln noch wiederholt sehen werden, ist die Wahrheit im Bereich des Heilpraktikerberufs wohl eher ein flexibler Begriff. Einige Unwahrheiten mögen vielleicht trivial sein, andere sind es jedoch ganz sicher nicht. Halbwahrheiten und Unwahrheiten finden sich im Überfluss in den Texten von Heilpraktikern. Die erste Internetseite1 einer
1 Therapien
– Naturheilpraxis (naturheilpraxis-elmerich.de)
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deutschen Heilpraktikerin, die bei einer Google-Suche auf meinem Bildschirm erschien, mag dies verdeutlichen: Die Entsäuerung des Körpers ist eine Basistherapie der naturheilkundlichen Behandlung. Aufgrund unserer heutigen modernen Lebensweise – zu viel süß, Wurst, Käse, Snacks, Koffein, Nikotin, Alkohol, Fertiggerichte, zu viel Stress – ist die Entgiftungskapazität unseres Körpers häufig überlastet. Und so kann er aus eigener Kraft die Säuren nicht mehr ausscheiden. Grundvoraussetzungen wie Bewegung, Sonnenlicht, Mikronährstoffe, Wasser, Entspannung und vor allem eine basische Ernährung fehlen. Kann unser Körper das Zuviel an Säuren und Schlacken nicht mehr ausscheiden, werden diese im Zwischenzellgewebe deponiert. Dies führ zu: • Übergewicht • Unreine Haut • Haarausfall • Brüchige Fingernägel • Gelenk- und Muskelbeschwerden • Müdigkeit • Kopfschmerzen und vieles mehr
Die Annahmen, dass unser Körper übersäuert ist, dass er dadurch krank wird, dass eine Entsäuerung mit den Methoden der Heilpraktiker möglich ist, dass dadurch die aufgelisteten Probleme gelöst werden können, sind alle schlichtweg unrichtig.
6.2 Der Eid des Heilpraktikers Der „Eid des Heilpraktikers“? Das klingt ja fast wie der Eid des Hippokrates! Auf der Suche nach den ethischen Grundsätzen der Heilpraktiker findet man tatsächlich den „Eid des Heilpraktikers“ vom „Heilpraktiker Berufs-Bund“2: „Ganz im Sinne eines Eides erklären die Heilpraktiker verbindlich: Die erteilte Erlaubnis zur selbständigen Ausübung der Heilkunde verpflichtet, keine Gefahr für die Volksgesundheit, d. h. Gefahr für den
2 Heilpraktiker-Ethikrichtlinie und Heilpraktikereid – Heilpraktiker Berufs-Bund (heilpraktiker-berufsbund.de)
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Patienten, zu sein, keine Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen, die dem Patienten schaden würden. Hieraus und aus der hohen Verantwortung gegenüber den sich den Heilpraktikern anvertrauenden Menschen ergibt sich die selbstverständliche Verpflichtung, jeglichen Schaden von denselben fernzuhalten. Oberstes Gebot des Handelns ist die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit der sich anvertrauenden Patienten. Den Beruf üben die Heilpraktiker stets mit größter Gewissenhaftigkeit und Würde aus. Alle anvertrauten Geheimnisse werden die Heilpraktiker immer wahren.“
Deutlich ausführlicher (und etwas seriöser) sind die „Ethischen Rahmenrichtlinien des Fachverbandes Deutscher Heilpraktiker e. V. (FDH) und der Union Deutscher Heilpraktiker Bundesverband e. V. (UDH)“3. Hier fünf kurze Passagen aus diesem Dokument, die ich für bemerkenswert halte: • Die Ethikerklärung bestimmt die Grundsätze und Regeln, zu deren Wahrung sich Mitglieder von FDH und UDH bei der Ausübung ihres Berufes verpflichten. • Mitglieder von FDH und UDH unterlassen alles, was Patienten und Patientinnen schadet oder schaden könnte. • Eine Ausnutzung des Vertrauens, der Unwissenheit, der Leichtgläubigkeit oder der Hilflosigkeit von Patienten und Patientinnen … ist abzulehnen, auch wenn sie der Anwendung diagnostischer oder therapeutischer Methoden dienen. • Zu jeder Behandlung benötigen Heilpraktiker die Einwilligung durch den Patient oder der Patientin. Der Einwilligung hat grundsätzlich die erforderliche Aufklärung im persönlichen Gespräch vorauszugehen. Die Aufklärungspflicht bezieht sich u. a. auf Kosten, Dauer, Häufigkeit, Ziel, Wirkungsmöglichkeit, mögliche Nebenwirkungen sowie Alternativen zur vorgeschlagenen Therapie. • Heilpraktiker beenden eine Behandlung, wenn a) im gegenseitigen Einverständnis die Therapie als abgeschlossen angesehen wird b) die Grenzen der fachlichen Kompetenz und/oder ihrer Belastbarkeit angekommen ist c) deutlich wird, dass der Patient die Behandlung nicht länger braucht, davon nicht profitiert, sie nicht mehr will oder durch eine Fortführung Schaden erleiden würde.
3 Microsoft
Word – Rahmen RiLi 2010 (udh-bundesverband.de)
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Zum 1. Punkt Wie wir gleich sehen werden, ist die Wahrung dieser Grundsätze kaum zu realisieren. Zum 2. Punkt Wir haben im Kap. 6 gesehen, dass laut Standardlehrbuch ernste Erkrankungen von Heilpraktikern mit oft bizarren, nicht belegt wirksamen oder gar erwiesenermaßen unwirksamen Methoden behandelt werden sollen. Es ist unvermeidbar, dass ein solches Vorgehen Schaden anrichten kann. Zum 3. Punkt Dass ein solches Vorgehen zudem auch einer Ausnutzung des Vertrauens, der Unwissenheit, der Leichtgläubigkeit oder der Hilflosigkeit von Patienten entspricht, ist ebenfalls kaum zu bezweifeln. Zum 4. Punkt Wie bereits betont, ist die Aufklärung des Patienten ein essenzieller ethischer Grundsatz. Zu bedenken ist hier jedoch, dass eine komplette Aufklärung durch einen Heilpraktiker nur schwer möglich ist. Es erscheint z. B. unwahrscheinlich, dass ein Heilpraktiker, der ein nicht evidenzbasiertes Verfahren einsetzen will, dem Patienten erklärt, dass es keine ausreichenden Belege für seine Therapie gibt. Ferner ist ein Heilpraktiker aufgrund seiner meist inadäquaten Ausbildung nicht wirklich in der Lage, einem Patienten zu erklären, welche medizinischen Optionen bei seiner Krankheit existieren, und welche Heilungschancen diese bieten. Zum 5. Punkt Es ist kaum denkbar, dass ein Heilpraktiker, der eine ineffektive Therapie einleitet, diese sodann beendet, weil sie wirkungslos ist. Das wäre widersinnig und würde ihm zudem einen finanziellen Schaden zufügen. Was tatsächlich passiert, sieht völlig anders aus; in aller Regel sucht ein Heilpraktiker nach Erklärungen, die seine Behandlungsweise selbst dann rechtfertigen, wenn sie ohne Erfolg bleiben (Tab. 6.2). Etische Richtlinien sind, so scheint es mir, prinzipiell nur dann durchsetzbar, wenn ein wichtiger Grundsatz der medizinischen Ethik bedacht wird: Ein Patient hat das Recht auf die jeweils effektivste Behandlung seiner Krankheit. Wie wir im Kap. 14 noch näher diskutieren werden, ist das nur sehr selten eine Behandlungsweise aus dem therapeutischen Repertoire des
6 Die Ethik der Heilpraktiker 57 Tab. 6.2 Häufige Argumente von Heilpraktikern bei Therapieversagern Falls keine Besserung der Symptomatik eintritt, existieren viele Möglichkeiten, eine unwirksame Therapie dennoch als wirksam hinzustellen, z. B.: • Was Sie gerade durchmachen nennt sich ‚Erstverschlimmerung‘ und ist ein Zeichen dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind. • Ohne meine Behandlung wären Sie noch viel schlimmer dran. • Sie haben meine Therapieanordnung wohl nicht genau genug befolgt. • Gut Ding will Weile haben. • Sie haben sicher schulmedizinische Mittel eingenommen, die die Wirkung meiner Behandlung behindern. • Sie sind viel zu spät in meine Behandlung gekommen. • In jedem Fall dürfen wir jetzt nicht aufgeben, sondern müssen weiter machen.
Heilpraktikers. Das bedeutet aber auch, dass das Ausüben des Heilpraktikerberufs unter Beachtung essenzieller ethischer Prinzipien nur schwer vorstellbar ist. Anders ausgedrückt, Heilpraktiker haben sehr häufig keine andere Wahl, als die medizinische Ethik mit Füßen zu treten.
7 Glaubensbekenntnisse der Heilpraktiker
Zusammenfassung In diesem Kapitel werden wir uns mit einigen Annahmen beschäftigen, von denen die meisten Heilpraktiker zutiefst überzeugt sind. Sodann wird aufgezeigt, dass diese Glaubensbekenntnisse zumeist auf Missverständnissen oder Wunschdenken beruhen und somit unbegründet sind. Abschließend werden noch einige Argumente, die Heilpraktiker gerne verwenden, kritisch beleuchtet. Schlüsselwörter Wirksamkeit · Risiken · Holismus Wenn man sich mit Heilpraktikern unterhält oder ihre Internetseiten studiert, wird einem bald klar, dass die meisten von ihnen gewissen Überzeugungen folgen (Tab. 7.1). Im Folgenden werde ich die wichtigsten dieser „Glaubensbekenntnisse“ kurz darstellen und unter die Lupe nehmen.
7.1 Unsere Verfahren sind wirksam Es wird wohl kaum einen Behandler geben, der nicht fest daran glaubt, dass sein Vorgehen richtig und hilfreich ist. Heilpraktiker sind da sicher keine Ausnahme. Aber Glaube allein genügt nicht, denn Glaube ist keine Evidenz. Im Zeitalter der evidenzbasierten Medizin sollten Patienten erwarten können, dass sie mit Verfahren behandelt werden, die belegbar wirksam sind. Wie wir im Kap. 14 noch im Detail erörtern werden, ist das © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_7
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60 E. Ernst Tab. 7.1 Einige weitere Thesen, die bei Heilpraktikern häufig anzutreffen sind 1. Konventionelle Behandlungen sind gefährlich 2. Herkömmliche Ärzte sind unwissend 3. Naturheilmittel sind per definitionem gut 4. Erfahrung ist wichtiger als Evidenz 5. Die Wissenschaft ist auf dem Holzweg; was wir brauchen, ist ein Paradigmenwechsel 6. Selbst Nobelpreisträger und andere VIPs unterstützen das Heilpraktikerwesen 7. Die Wissenschaft ist noch nicht weit genug fortgeschritten, um zu verstehen, wie die alternativen Verfahren der Heilpraktiker funktionieren 8. Alternative Therapien wirken sogar bei Tieren und können daher keine Placebos sein 9. Heilpraktiker denken im Gegensatz zu Ärzten patientenzentriert 10. Schulmediziner unterdrücken das Heilpraktikerwesen, weil sie sonst weniger verdienen würden 11. Heilpraktiker brauchen kein Überwachungssystem für unerwünschte Wirkungen, weil ihre Therapien von Natur aus unbedenklich sind 12. Heilpraktiker behandeln Patienten und nicht Diagnosen 13. Das Heilpraktikerwesen könnte uns allen eine Menge Geld sparen 14. Es gibt kein Gesundheitsproblem, das Heilpraktiker nicht heilen können 15. Die Schulmedizin hat die tieferen Gründe, warum Menschen krank werden, nicht verstanden und sollte von Heilpraktikern lernen
bei den allermeisten der alternativen Behandlungsformen, die Heilpraktiker routinemäßig einsetzen, nicht der Fall.
7.2 Unsere Behandlungen sind risikofrei Der Glaube, dass alternative Verfahren risikofrei seien, ist weit verbreitet. Jeder, der sich einmal die Internetseiten von Heilpraktikern anschaut oder Artikel von Heilpraktikern liest, wird mit dieser Botschaft bombardiert. Alternative Medizin ist sanft, harmlos und angenehm – ganz im Gegensatz zur konventionellen Medizin; so oder so ähnlich lauten die Botschaften, die dort vermittelt werden. Leider stimmen sie jedoch nicht ganz. In den nächsten Kapiteln dieses Buchs werden wir sehen, dass fast alle alternativen Therapien direkte unerwünschte Wirkungen haben können. Um nur einige kurz zu nennen: • Akupunktur kann Infektionen und Organverletzungen verursachen. • Alternative Ernährungsformen können zur Unterernährung führen. • Aromatherapie kann allergische Reaktionen hervorrufen.
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• Chiropraktische und osteopathische Wirbelsäulenmanipulationen können einen Schlaganfall verursachen. • Darmspülungen können eine Perforation des Dickdarms zur Folge haben. • Pflanzliche Heilmittel können Leberschäden verursachen oder mit verschreibungspflichtigen Medikamenten interagieren. In der konventionellen Medizin gibt es seit Jahrzehnten effektive Mechanismen zur Überwachung der unerwünschten Wirkungen von Arzneimitteln, sodass adäquate Maßnahmen ergriffen werden können, sobald schwerwiegende Probleme bekannt werden. Im Bereich der alternativen Medizin existiert nichts dergleichen. So kommt es, dass derzeit nur wenig diesbezügliche Daten zu Verfügung stehen. Die wenigen Berichte, die veröffentlicht werden, stellen mit ziemlicher Sicherheit nur die Spitze eines viel größeren Eisbergs dar. So kommt es, dass unser Wissen zu diesem komplexen Thema mehr auf Anekdoten als auf systematischer Forschung beruht. Ferner sind indirekte Risiken einer Heilpraktikerbehandlung zu bedenken (Kap. 16). Dies sind Risiken, die nicht durch die Behandlung an sich verursacht werden, sondern im Kontext einer Therapie entstehen. Wenn beispielsweise eine völlig harmlose, aber unwirksame Behandlung eine lebensrettende Intervention ersetzt, wird der Einsatz der harmlosen Therapie lebensbedrohlich. Heilpraktiker behaupten gerne, dass diese Situation kaum je eintritt. Leider ist auch diese Annahme nicht wahr. Es steht außer Frage, dass die indirekten Risiken einer Behandlung durch Heilpraktiker bedeutsamer sind, als die oft nur geringen direkten Gefahren. Sie können verschiedene Formen annehmen. Manche Heilpraktiker raten z. B. Eltern von einer Impfung ihrer Kinder ab. Konkrete Beispiele finden sich auch in dem, was ich bereits im Kap. 6 ausgeführt habe: • Wenn ein Heilpraktiker eine koronare Herzerkrankung mit Bach-Blüten behandelt, dann ist nicht das Mittel selbst, sondern der Heilpraktiker die Gefahr. • Wenn er eine periphere arterielle Verschlusskrankheit mit Homöopathika behandelt, dann ist nicht das Mittel selbst, sondern der Heilpraktiker die Gefahr. • Wenn er eine Hypertonie mit Ab- und Ausleitungsverfahren behandelt, dann ist nicht die Therapie selbst, sondern der Heilpraktiker die Gefahr. • Wenn er ein Asthma mit Eigenbluttherapie behandelt, dann ist nicht die Therapie selbst, sondern der Heilpraktiker die Gefahr. • Wenn er eine Psoriasis mit Enzymtherapie behandelt, dann ist nicht das Mittel selbst, sondern der Heilpraktiker die Gefahr.
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• Wenn er eine Gastritis mit Schuessler-Salzen behandelt, dann ist nicht das Mittel selbst, sondern der Heilpraktiker die Gefahr. • Wenn er eine Mittelohrentzündung mit Ernährungstherapie behandelt, dann ist nicht die Diät, sondern der Heilpraktiker die Gefahr. • Wenn er eine Depression mit orthomolekularer Medizin behandelt, dann ist nicht das Mittel selbst, sondern der Heilpraktiker die Gefahr. Diese Bedenken sind durchaus nicht nur theoretischer Natur. Im Gegenteil, es gibt viel zu viele Fälle, in denen auf diese Weise Patienten von Heilpraktikern geschädigt wurden oder gar ihr Leben verloren haben. Dass sie oft nicht bekannt werden, liegt an dem Fehlen eines adäquaten Monitorings, was bedeutet, dass wir meist auf Berichte angewiesen sind, die mehr oder weniger zufällig von der Presse aufgegriffen werden (Anhang 1).
7.3 Unsere Verfahren sind natürlich Heilpraktiker erscheinen vielen Verbrauchern nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sie eine Naturmedizin propagieren. Sie verwenden Naturprodukte, setzen natürliche Kräfte als Heilmittel ein und widmen sich der natürlichen Behandlung ihrer Patienten. Diese Annahmen sind so tief in unseren Köpfen verwurzelt, dass nur wenige von uns sie jemals infrage stellen. Wenn wir jedoch einmal rational darüber nachdenken, kommen erhebliche Zweifel auf: • Was ist natürlich daran, Nadeln in den Körper eines Patienten zu stechen, wie es beim Akupunktieren passiert? • Was ist natürlich daran, Wirbelsäulengelenke aus ihrem physiologischen Bewegungsbereich zu zwingen, wie es chirotherapeutisch arbeitende Heilpraktiker tun? • Was ist natürlich daran, Substanzen endlos zu verdünnen, bis kein Molekül mehr in einem Heilmittel vorhanden ist, wie es homöopathische Heilpraktiker tun? • Was ist natürlich daran, ein Lokalanästhetikum in den Körper zu injizieren, wie es die Praktiker der Neuraltherapie tun? Die Antwort ist einfach: Nichts! Einige alternative Therapien mögen insofern natürlich sein, als dass sie die von der Natur bereitgestellten Mittel einsetzen, aber viele andere sind eindeutig überhaupt nicht natürlich und verwenden dieses Etikett vor allem deshalb, weil es gut für das Geschäft ist. Sobald wir den Werbetrick rationalisieren, verliert der Reiz der Natürlichkeit seinen Glanz.
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7.4 Wir behandeln den ganzen Menschen Heilpraktiker betonen gerne, dass sie im Gegensatz zu Ärzten ganzheitlich ausgerichtet sind. Für die meisten Verbraucher klingt das sehr attraktiv. Bei genauerem Hinsehen müssen wir jedoch feststellen, dass nur wenige Konzepte in der Heilkunde häufiger missbraucht werden als das der Ganzheitlichkeit. Ganzheitlichkeit bedeutet, den Patienten als ganzes menschliches Wesen mit Geist, Körper und Seele zu betrachten. Ein ganzheitlicher Ansatz ist in der Gesundheitsfürsorge unbestreitbar positiv. Aber Holismus ist nicht ein Monopol der Heilpraktiker. Die Ganzheitlichkeit gehört zu jeder Art der Gesundheitsversorgung, sie ist ein wesentliches Merkmal jeder Form einer guten Medizin. Ohne sie ist jede Art der Heilkunde schlicht und einfach mangelhaft. Das bahnbrechende Werk von Michael Balint, „Der Arzt, der Patient und seine Krankheit“, das 1957 erstmals veröffentlicht wurde, ist eine Erinnerung daran, dass der Patient als Ganzes und nicht als Diagnose verstanden werden muss. Der ganzheitliche Ansatz in der Medizin existierte also bereits lange bevor es Heilpraktiker gab. Heute wird er von den Berufsverbänden der konventionellen Medizin nachdrücklich befürwortet. Heilpraktiker sehen dies jedoch meist anders und behaupten, dass sie die Ganzheitlichkeit gepachtet haben und die einzigen Behandler seien, die ganzheitlich praktizieren.
7.5 Unsere Verfahren sind altbewährt Wir alle neigen dazu, etablierten Methoden mehr zu vertrauen als neuen Entwicklungen. Die Idee dabei ist, dass, wenn etwas viele Jahrzehnte überlebt hat, es in Ordnung sein muss – ansonsten wäre es ja schon längst verworfen worden. Bis zu einem gewissen Grad ergibt das sogar Sinn. Und weil es vernünftig und attraktiv erscheint, wenden es Heilpraktiker gerne auf ihr Gewerbe an, indem sie betonen: • • • • •
Die Akupunktur hat eine Geschichte von 2000 Jahren. Kräutermedizin wurde in allen alten Kulturen verwendet. Die Homöopathie hat bereits mehr als 200 Jahre überlebt. Chiropraktik und Osteopathie sind über 120 Jahre alt. Die Naturheilkunde hat uralte Wurzeln, etc.
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Es ist sicher nicht falsch, das Alter und die Geschichte einer Behandlung zu erklären. Problematisch ist jedoch, wenn eine lange Vorgeschichte als Beweis dafür angeführt wird, dass die Behandlung wirksam und nebenwirkungsfrei sei. Aber genau das passiert jeden Tag im Heilpraktikerwesen. Die Vorstellung, dass eine lange Geschichte wissenschaftliche Evidenz ersetzen kann, ist nicht nur falsch, sie kann auch gefährlich sein. Es gibt viele historische Beispiele, die dies belegen. Der Aderlass wurde in vielen Kulturen über Hunderte von Jahren hinweg eingesetzt. Heute wissen wir, dass er nicht nur die Kranken nicht heilte, sondern auch den Tod von Millionen von Menschen beschleunigte. Beispiele wie Aderlass, Quecksilberkuren, Trepanation usw. zeigen, dass unser Vertrauen in das Altbewährte falsch ist: Eine Behandlung, die eine lange Vorgeschichte hat, ist nicht unbedingt wirksam (oder unbedenklich) – sie könnte sogar gefährlich sein.
7.6 Wir packen die Ursachen einer Krankheit an der Wurzel Heilpraktiker meinen oft, dass sie – und nur sie – die Grundursachen einer Krankheit behandeln. Die Behauptung wird regelmäßig mit einer so tiefen Überzeugung ausgesprochen, dass es kaum Zweifel daran geben kann, dass sie voll und ganz daran glauben. Häufig wird zudem impliziert, dass in der konventionellen Medizin lediglich Symptome behandelt werden. Verbraucher werden so von der konventionellen Medizin abgeschreckt, während der Heilpraktiker in einem positiven Licht erscheint. Die Vorstellung, dass Heilpraktiker die tieferen Ursachen von Krankheiten behandeln, basiert auf ihrem meist bizarren Verständnis der Krankheitslehre. • Wenn ein akupunkturanbietender Heilpraktiker davon überzeugt ist, dass jede Krankheit Ausdruck eines Ungleichgewichts der Lebenskräfte, Yin und Yang, ist und dass das Nadeln von Akupunkturpunkten diese Kräfte wieder ins Gleichgewicht bringt und damit die Gesundheit wiederherstellt, so wird er automatisch davon ausgehen, dass er die Ursachen jeder Erkrankung behandelt. • Wenn ein chiropraktikanbietender Heilpraktiker glaubt, dass alle Krankheiten auf „Subluxationen“ der Wirbelsäule zurückzuführen sind, muss es ihm logisch erscheinen, dass die Manipulation der Wirbelsäule gleich-
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bedeutend ist mit der Behandlung der Grundursache der Beschwerden, an denen sein Patient leidet. • Wenn ein homöopathieanbietender Heilpraktiker glaubt, dass der Zustand seines Patienten auf ein Defizit an Lebensenergie zurückzuführen ist, geht er davon aus, dass die Stärkung der Lebensenergie durch Homöopathika die Ursache der Krankheit an der Wurzel packt. Es gibt jedoch ein offensichtliches Problem mit der Annahme, dass Heilpraktiker die Grundursache einer Erkrankung behandeln. Denken Sie an eine Erkrankung wie z. B. Migräne; wenn akupunktur-, chirotherapie- oder homöopathieanbietende Heilpraktiker alle davon ausgehen, dass sie die Ursache behandeln, während diese Ursache bei jedem andere Wurzeln hat, so können unmöglich alle Recht haben. Es kann nur eine Grundursache geben, aber in der alternativen Medizin gibt es in der Regel ebenso viele verschiedene Grundursachen wie alternative Behandlungsformen. Doch nehmen wir einfach einmal an, dass alle zu Recht glauben, ihre Interventionen gegen die Ursache einer Krankheit zu richten. Eine erfolgreiche Behandlung der Ursache kann nur bedeuten, dass die fragliche Therapie das vorliegende Problem vollständig heilt. Wenn wir die Ursache einer Krankheit abschaffen, würden wir erwarten, dass die Krankheit auch langfristig verschwindet. Aber gibt es alternative Behandlungen, die eine Krankheit vollständig heilen? Ich habe diese Frage schon oft mit Heilpraktikern und anderen alternativen Behandlern diskutiert, aber bisher habe ich noch keine einzige gefunden. Selbst die am besten belegten alternativen Therapien sind nicht kausal, sondern von Natur aus symptomatisch. Das pflanzliche Heilmittel Johanniskraut z. B. ist bei leichten bis mittleren Depressionen wirksam; aber selbst diese evidenzbasierte alternative Therapie ist keine kausale Behandlung. Die Vorstellung, dass Heilpraktiker die Ursachen von Krankheit erfolgreich angehen, ist also ein Mythos. Sie mag zwar ein hervorragender Werbeslogan sein, gleichzeitig fehlt ihr jedoch jegliche faktische Grundlage.
7.7 Wir sind menschlicher Viele Konsumenten empfinden die moderne Medizin als zu technisch, unpersönlich oder sogar herzlos; ebenso haben sie den Eindruck, dass es vielen konventionellen Ärzten an Mitgefühl und Einfühlungsvermögen
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mangelt. Heilpraktiker hingegen haben den Ruf, menschlicher, engagierter und mitfühlender zu sein. Diese Vorstellung zieht verständlicherweise viele Patienten an. Eine normale Konsultation bei einem Hausarzt dauert oft weniger als 10 min. Dieser Zeitmangel frustriert die Patienten zutiefst, da er selten genug Gelegenheit bietet, eine empathische und konstruktive therapeutische Beziehung aufzubauen. Zudem scheinen viele Ärzte bei solch kurzen Konsultationen mehr auf ihren Computer zu achten als auf die Person vor ihnen. Am Ende fühlen sich viele Patienten mit einem Rezept abgefertigt, noch ehe sie all ihre Probleme, Sorgen und Ängste äußern konnten. Die Situation ist anders, wenn sie einen Heilpraktiker konsultieren. Hier kann eine Konsultation eine Stunde oder länger dauern und es bleibt genügend Zeit, um über alles zu sprechen, was für den Patienten wichtig sein könnte. Heilpraktiker hören geduldig zu, zeigen Verständnis und Einfühlungsvermögen, bieten scheinbar plausible Erklärungen für die Symptome an und besprechen ihren therapeutischen Ansatz ausführlich mit ihren Patienten. Der Patient fühlt sich dadurch als Partner in seiner Behandlung und als einzigartiges Individuum betreut. Es ist daher nicht überraschend, dass Patienten die Qualität der therapeutischen Beziehung zu ihrem Heilpraktiker oft deutlich höher einschätzen als die zu ihrem Arzt. Für viele von ihnen ist die Behandlung an sich von untergeordneter Bedeutung, während die Zeit, das Verständnis und die emotionale Stütze das ist, was sie brauchen, um mit ihrer Krankheit fertig zu werden.
7.8 Unsere Behandlungsweisen fördern die Selbstheilungskräfte Die Selbstheilungskraft des Körpers ist seine Fähigkeit, sich auch ohne äußere Hilfe von vielen gesundheitlichen Störungen zu befreien. Sie ist die Basis für nahezu jede therapeutische Maßnahme, egal ob sie nun konventioneller oder alternativer Natur ist. Heilpraktiker legen großen Wert auf die Selbstheilungskräfte, der Bund Deutscher Heilpraktiker z. B. meint dazu Folgendes1:
1 Berufsbild-Heilpraktiker_2015_210×297_20150814.pdf
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„Der Heilpraktiker regt bei seiner Behandlung stets die natürlichen Selbstheilungskräfte an. Der Vielfältigkeit neuer diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten, die diesem Ziel dienen und Eingang in das Behandlungsspektrum des Heilpraktikers finden können, sind auch in der Zukunft keine Grenzen gesetzt. Entscheidend ist allein, ob Verfahren der Theorie der Naturheilkunde entsprechen und lege artis nach den Regeln der Kunst angewendet werden können.“
Die Behauptung, dass Heilpraktiker die Selbstheilungskräfte anregen, während Ärzte sie sträflich vernachlässigen, mag zwar werbewirksam sein, sie ist jedoch so sicher nicht richtig. Konventionelle Mediziner wissen sehr wohl, dass viele ihrer Therapien ohne die Selbstheilungskräfte des Körpers zum Scheitern verurteilt wären. Ein Chirurg z. B. kann einen entzündeten Blinddarm entfernen; er weiß jedoch sehr gut, dass nach dem Vernähen der Wunde die Selbstheilungskräfte notwendig sind, um den Erfolg der Operation zu sichern. Daher versucht er, diese so gut es geht zu fördern, beispielsweise indem er Bettruhe verordnet und postoperative Symptome reduziert. Heilpraktiker meinen dennoch oft, sie hätten so etwas wie ein Monopol auf die Selbstheilungskräfte. Der Heilpraktiker Hans-Josef Fritschi bringt die Selbstheilungskräfte mit dem Konzept des inneren und äußeren Arztes von Paracelsus in Verbindung, indem er schreibt: „Der innere Arzt steht für die Selbstheilungskräfte, die einen kranken Organismus durch von innen angestoßene Prozesse wieder gesund machen können. Im äußeren Arzt lassen sich die Maßnahmen erkennen, die eine Heilung auf kausale Weise durch gezielte und gewollte Interventionen von außen erreichen können.“2 Mit anderen Worten, Heilpraktiker führen die Wirkungsweise ihrer Behandlungen nicht zuletzt in Ermangelung spezifischer Erklärungen auf die Selbstheilungskräfte des Körpers zurück. • Der Wirkmechanismus der Akupunktur ist auch heute noch unklar, also behaupten Heilpraktiker, dass Akupunktur heilt, indem sie die Selbstheilungskräfte stimuliert. • Der Wirkmechanismus der Homöopathie ist unbekannt, also behaupten Heilpraktiker, dass Homöopathie heilt, indem sie die Selbstheilungskräfte stimuliert.
2 Alternativloses
Heilen: Welche Medizin wir bekommen, wenn Globuli & Co. verschwunden sind: Fritschi, Hans-Josef: Amazon.de: Bücher
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• Der Wirkmechanismus des Schröpfens ist unklar, also behaupten Heilpraktiker, dass Schröpfen heilt, indem es die Selbstheilungskräfte stimuliert. • Etc. Somit ergibt sich hier ein entscheidender Unterschied zwischen den Denkweisen: Der Heilpraktiker sieht in den Selbstheilungskräften eine ganz wesentlichen Mechanismus, vermittels dem seine Behandlungen ihre Wirkung entfalten. Der Arzt versteht die Selbstheilungskräfte dagegen als ein Phänomen, auf dem seine Therapien aufbauen. Beiden gemeinsam ist, dass sie die Selbstheilungskräfte wertschätzen. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass Heilpraktiker außer den Selbstheilungskräften wenig anzubieten haben, während Ärzte neben diesen auch spezifisch wirksame Therapien – also Behandlungsweisen, die neben den Selbstheilungskräften noch weitere Wirkungen entfalten – anbieten können. Es stellt sich zudem die Frage, ob die Stimulation der Selbstheilungskräfte, so wie sie von Heilpraktikern propagiert wird, mehr als eine leere Worthülse ist. Anders ausgedrückt: Bewirkt die Förderung der Selbstheilungskräfte tatsächlich das, was Heilpraktiker versprechen? Diese Frage lässt sich letztlich nur am Therapieerfolg ablesen. Falls das staenige Betonen der Selbstheilungskräfte mehr als nur Wunschdenken sein soll, so sollte sich natürlich nach einer therapeutischen Stimulation der Selbstheilungskräfte eine klar erkennbare und belegbare Besserung des behandelten Leidens abzeichnen. Das ist jedoch bei den von Heilpraktikern bevorzugten Behandlungsweisen eher selten der Fall (Kap. 14). Das bedeutet letztlich, dass der Anspruch „Wir fördern die Selbstheilungskräfte des Körpers“ mehr auf dem Wunschdenken derer beruht, die ihn aussprechen, als auf Evidenz.
7.9 Wer heilt, hat Recht Unter all den „Glaubensbekenntnissen“ ist der Satz „Wer heilt, hat Recht“ mit Abstand der wichtigste. Für Heilpraktiker ist er zu einem veritablen Mantra geworden. Der Satz „Wer heilt, hat recht“ geht angeblich auf Samuel Hahnemann, dem Erfinder der Homöopathie (Kap. 14), zurück. Er impliziert, dass in der Medizin die klinische Erfahrung wichtiger sei als jede wissenschaftliche Evaluation der Wirksamkeit einer Behandlungsform, diese sogar als überflüssig entlarvt. Wenn ein Heilpraktiker mit seiner Therapie hilft, dann ist das Beweis genug, dass diese Therapie effektiv ist, selbst wenn es sich
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bei dem Verfahren um einen ausgemachten Unfug handelt. Mit anderen Worten, wenn ein Heilpraktiker eine Anzahl von zufriedenen Patienten vorweisen kann, dann entkräftet diese Tatsache bereits jede Zweifel an der Richtigkeit seiner Behandlungsweise. Hier lohnt es sich, etwas genauer hinzuschauen. Was passiert eigentlich, wenn ein Patient eine „Heilung“ erfährt? • Ein Patient konsultiert wegen eines gesundheitlichen Problems (z. B. Schmerzen) einen Heilpraktiker. • Dieser hört sich die Krankengeschichte an, führt diverse Untersuchungen durch, stellt eine Diagnose und verabreicht eine Therapie. • Die Behandlung läuft für den vorgeschriebenen Zeitraum, und dann stellen Heilpraktiker und Patient gemeinsam fest, dass sich die Beschwerden deutlich gebessert haben oder gar verschwunden sind. Die Annahme liegt nun auf der Hand, dass diese „Heilung“ nicht nur in einem zeitlichen, sondern auch in einem kausalen Zusammenhang mit der applizierten Therapie steht. Korrelation ist jedoch kein Beleg für einen Kausalzusammenhang. Wenn kurz vor Sonnenaufgang der Hahn kräht, dann bedeutet das nicht, dass sein Krähen die Sonne aufgehen ließ, auch wenn der Vorgang noch so regelmäßig zu beobachten ist. Wenn ein Patient nach einer Therapie eine Besserung angibt, dann heißt das nicht zwangsläufig, dass die Therapie die Besserung verursacht hat. Das vermeintliche Resultat jeder Behandlung setzt sich nämlich aus zahlreichen Faktoren zusammen, und der eigentliche Therapieeffekt ist dabei nur ein Element von vielen. Die beteiligten Phänomene sind leicht zu differenzieren: • der natürliche Krankheitsverlauf (viele Krankheiten werden von alleine besser, auch ohne Behandlung), • der Placebo-Effekt (das Ritual einer Behandlung kann positive Auswirkungen haben, allein schon, weil wir solche erhoffen), • die Therapeut-Patient-Beziehung (Empathie, Mitgefühl und Verständnis beeinflussen ein Leiden positiv), • die Regression zur Mitte (Ausreißer tendieren dazu, sich bei erneuter Messung in Richtung Mittelwert zu bewegen). Zweifelsohne kann auch die Therapie selbst zum Erfolg beitragen. Aber selbst bei völligem Fehlen eines therapeutischen Effekts ist aufgrund der
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o. g. Faktoren eine „Heilung“ oder Symptomverbesserung nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Was bedeutet das alles in Bezug auf die Annahme „Wer heilt, hat recht“? Hat ein Heilpraktiker recht, nur weil er Dutzende von dankbaren Patienten vorweisen kann? Wohl eher nicht! Zum einen existieren immer auch Patienten, die nicht „geheilt“ wurden. Unser oft sehr selektives Gedächtnis lässt diese Fehlschläge gerne unter den Tisch fallen. Zum anderen hat der Heilpraktiker nicht nur nicht recht, sondern sogar unrecht, falls vermeintliche therapeutische „Erfolge“ nicht auf den Wirkungen seiner Therapie beruhen, sondern auf dem Zusammenspiel der o. g. Faktoren. Für den Patienten ist dies aber letztlich belanglos; das wird zumindest von Heilpraktikern häufig behauptet. Für den leidenden Patienten zählt nur die Tatsache, dass seine Beschwerden gebessert wurden. Aber selbst diese Annahme stimmt so nicht ganz. Denn eine wirksame und gut applizierte und effektive Therapie generiert stets spezifische Therapieeffekte und Kontexteffekte. Mit anderen Worten: Ein Heilpraktiker bringt seine Patienten um einen wichtigen Teil der möglichen „Heilung“, wenn er statt einer effektiven Behandlung eine Scheintherapie verabreicht und so nur Kontexteffekte, aber keine spezifischen Effekte wirksam werden. Das Dogma der Heilpraktiker „Wer heilt, hat recht“ entpuppt sich somit als ein Scheinargument. In Wirklichkeit hat nur derjenige recht, der die jeweils bestmögliche Behandlung verabreicht – und das ist nun einmal eine Therapie, die durch solide Evidenz gestützt wird.
7.10 Selbstverteidigung der Heilpraktiker Wer mit Heilpraktikern diskutiert, wird in fast stereotypischer Weise eine Reihe von Argumenten zu hören bekommen, die sich direkt oder indirekt aus ihren Glaubensbekenntnissen ableiten und mit denen sie meinen, ihren Beruf verteidigen zu können. Hier habe ich exemplarisch fünf der häufigsten dieser Argumente in bewusst provokativer Form zusammengefasst und stelle ihnen meine ebenso provokativen Antworten (in Kursivschrift) gegenüber: 1. Zur Bewertung der Wirksamkeit einer Therapie müssen mehrere Formen der Evidenz berücksichtigt werden. Dazu gehören nicht nur wissenschaftliche Studien, sondern auch Rückmeldungen von Patienten und die klinische Erfahrung von Heilpraktikern. Rückmeldungen von Patienten und die klinische Erfahrung von Heilpraktikern können sicherlich
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interessante Hinweise liefern, sie sind jedoch für einen Wirksamkeitsnachweis prinzipiell ungeeignet. 2. Für viele konventionelle Therapien gibt es auch keine schlüssige Evidenz. Das stimmt; die evidenzbasierte Medizin ist ein Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist, an dem aber intensiv gearbeitet wird. Solange das so ist, sollten wir uns in der Praxis auf Verfahren konzentrieren, die bereits gut belegt sind. 3. Die Abschaffung aller nicht evidenzbasierten Verfahren würde den Patienten zahlreiche wertvolle Behandlungsweisen wegnehmen. Die Vermeidung von nicht evidenzbasierten Behandlungsweisen würde die Gesundheitsversorgung verbessern und die Kosten senken. Sie ist somit ein ethischer Imperativ. 4. Überall auf der Welt gibt es Heiler, die alternativmedizinische Therapien in ihre tägliche Praxis integrieren. Sie würden diese Behandlungsweisen nicht anwenden, wenn sie nicht sehen würden, dass ihre Patienten davon profitieren. Erfahrungen sind höchst unzuverlässig und kein Wirksamkeitsnachweis. Deswegen sind klinische Studien unabdingbar. 5. Heilpraktiker gehören Standesorganisationen an, die von ihren Mitgliedern erwarten, dass sie die höchsten professionellen Standards in Bezug auf Ausbildung und Praxis einhalten. Selbst die höchsten professionellen Standards von Unsinn können zu nichts anderem als Unsinn führen.
7.11 Angriff ist die beste Verteidigung Unter diesem Motto vertreten die meisten Heilpraktiker Thesen, die direkte oder indirekte Angriffe auf die konventionelle Medizin darstellen. Hier seien einige davon exemplarisch herausgegriffen2: • Die Schulmedizin ist zu sehr gewinnorientiert. • Sie ist eine Apparatemedizin ohne Mitgefühl. • In der Schulmedizin sind Patienten nur Nummern, die am Fließband abgefertigt werden. • In der Schulmedizin passieren zu viele Fehler, die dann regelmäßig unter den Tisch gekehrt werden. • „Big Pharma“ dominiert alles in der Schulmedizin. • In der Schulmedizin herrscht ein „Schwarz-weiß“-Denken vor, das der menschlichen Natur nicht gerecht wird.
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• Evidenzbasierte Medizin ist eine rationalistische Einheitsmedizin. • Die Schulmedizin unterbindet den medizinischen Pluralismus. • Statistisches Wissen erlaubt keine Schlüsse auf das Individuum. An diesen Vorwürfen mag einiges richtig sein (Kap. 10). Ich habe sicher nicht vor, die konventionelle Medizin zu verteidigen. Ganz im Gegenteil, ich bin der Meinung, dass sie unbedingt verbessert werden sollte. In der Verfolgung dieses Ziels ist es jedoch wenig hilfreich, die heutige Medizin mit etwas zu ersetzen oder ergänzen, was ihr über alle Maßen unterlegen ist. Anders ausgedrückt, die Kritik an der konventionellen Medizin ist oft berechtigt, sie wertet jedoch nicht den Stand der Heilpraktiker auf.
8 Werbung durch Heilpraktiker
Zusammenfassung Dieses Kapitel befasst sich mit dem Heilmittelwerbegesetz, in dem geregelt ist, was die Werbeaussagen der Heilpraktiker beinhalten dürfen und was nicht. Anhand von einigen Beispielen wird aufgezeigt, dass die Anordnungen dieses Gesetzes offensichtlich kaum kontrolliert und daher von vielen Heilpraktikern regelmäßig missachtet werden. Schlüsselwörter Werbung · Gesetz · Konsumentenschutz · Heilsversprechen Wie alle Heilberufe unterliegt auch der Heilpraktiker dem Heilmittelwerbegesetz1, das die Verbraucher vor zweifelhafter oder unlauterer Werbung schützen soll. So sind z. B. Heilsversprechen und Garantien bezüglich einer Symptombesserung oder Nebenwirkungsfreiheit nicht erlaubt. Generell ist jede unwahre oder irreführende Werbung verboten (siehe weiter unten in diesem Abschnitt). Falls die Wirksamkeit einer Therapie umstritten oder nicht erwiesen ist, muss in der diesbezüglichen Werbung also darauf hingewiesen werden. Alle Werbeaussagen sollten faktisch richtig sein; das betrifft nicht zuletzt etwaige akademische Titel und Namen beziehungsweise die Beschreibung oder Ausstattung der Praxis. Werbung, die sich an die Ängste von Patienten richtet, um sie so zu einer Therapie zu bewegen, ist untersagt.
1 HWG
– Gesetz über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens (gesetze-im-internet.de).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_8
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Die einzelnen Heilpraktikerverbände regeln in ihren jeweiligen Berufsordnungen ebenfalls diverse Werbemöglichkeiten. Hier gibt es Unterschiede je nach Verband; einige Werbemaßnahmen sind jedoch nach dem Heilmittelwerbegesetz immer unzulässig2: • Heilpraktiker dürfen nicht mit homöopathischen Mitteln werben. • Unwirksame Behandlungsweisen dürfen nicht beworben werden. • Werbung, die sich an Kinder unter 14 Jahren richtet, ist untersagt. • Werbung mit wissenschaftlichen Gutachten, Zeugnissen oder fachlichen Veröffentlichungen ist nicht erlaubt. • Werbung für Fernbehandlung ist untersagt. • Werbung mit Bildern von pathologisch veränderten Körperteilen ist verboten, falls sie missbräuchlich, abstoßend oder irreführend wirken könnten. • Mit Krankengeschichten darf nicht geworben werden, wenn diese missbräuchlich, abstoßend oder irreführend sind und daraus eine falsche Selbstdiagnose resultieren kann. • Bekannte Personen zu benennen, um zum Heilmittelgebrauch anzuregen, ist nicht erlaubt. • Damit zu werben, dass die „normale“ Gesundheit beeinträchtigt wird, wenn man eine Therapie nicht anwendet, ist unzulässig. • Mit Dank- oder Empfehlungsschreiben zu werben, wenn diese missbräuchlich, abstoßend oder irreführend sein können, ist verboten. • Heilpraktiker dürfen nicht mit Behauptungen werben, dass die Wirkung eines Heilmittels oder einer Behandlung einer anderen entspricht oder dieser überlegen ist. • Werbung, die sich auf meldepflichtige Krankheiten oder Erreger, bösartige Neubildungen, Suchtkrankheiten (außer Nikotin) oder krankhafte Komplikationen der Schwangerschaft, Entbindung oder des Wochenbetts bezieht, ist verboten. • Irreführende oder unfaire Vergleiche mit anderen Heilpraktikern sind untersagt. • Vergleichende Werbung ist nur erlaubt, wenn sie fair ist. • Jede Art Werbung muss der Wahrheit entsprechen, klar verständlich formuliert sein und darf nicht irreführen.
2 Werbung
als Heilpraktiker: Was ist erlaubt? (shore.com).
8 Werbung durch Heilpraktiker 75
Von entscheidender Bedeutung für Heilpraktiker ist insbesondere der Paragraph 3 des Heilpraktikerwerbegesetzes: Unzulässig ist eine irreführende Werbung. Eine Irreführung liegt insbesondere dann vor, 1. wenn Arzneimitteln, Verfahren, Behandlungen, Gegenständen oder anderen Mitteln eine therapeutische Wirksamkeit oder Wirkungen beigelegt werden, die sie nicht haben, 2. wenn fälschlich der Eindruck erweckt wird, daß a) ein Erfolg mit Sicherheit erwartet werden kann, b) bei bestimmungsgemäßem oder längerem Gebrauch keine schädlichen Wirkungen eintreten, c) die Werbung nicht zu Zwecken des Wettbewerbs veranstaltet wird, 3. wenn unwahre oder zur Täuschung geeignete Angaben a) über die Zusammensetzung oder Beschaffenheit von Arzneimitteln, Gegenständen oder anderen Mitteln oder über die Art und Weise der Verfahren oder Behandlungen oder b) über die Person, Vorbildung, Befähigung oder Erfolge des Herstellers, Erfinders oder der für sie tätigen oder tätig gewesenen Personen gemacht werden. Das Heilmittelwerbegesetz erlaubt Heilpraktikern also Werbung nur in recht engen Grenzen, was im Sinne des Konsumentenschutzes durchaus richtig erscheint. Die Frage ist jedoch, wie dieses Gesetz vollzogen wird. Gibt es Hinweise dafür, dass sich Heilpraktiker tatsächlich an diese Regelungen halten? Während der Monate, die ich an diesem Buch gearbeitet habe, hatte ich Gelegenheit, ungezählte Internetseiten von Heilpraktikern zu studieren. Ich kann ehrlich sagen, dass mir dabei keine einzige untergekommen ist, die den o. g. Anordnungen entsprechen. Am weitaus häufigsten wird wohl dagegen verstoßen, dass Verfahren nicht beworben werden dürfen, deren Wirksamkeit umstritten oder nicht erwiesen ist, ohne dass darauf hingewiesen wird. In Folgenden seien einige Werbeaussagen wörtlich zitiert (bewusst ohne Quellenangaben), die die o. g. Anordnungen ganz offensichtlich nicht befolgen und die Situation gut charakterisieren:
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• Die Heilpilze werden vor allem zur begleiteten Therapie von Erkrankungen eingesetzt, denn sie aktivieren die Selbstheilungskräfte des Körpers. Vitalpilze regeln effektiv die sogenannte Homöostase. Darunter versteht man das Gleichgewicht von im Körper ständig ablaufenden Prozessen wie dem Mineralstoff-, Enzym-, Hormon-, Wasser-, Elektrolytund Immunzellengleichgewicht. Vitalpilze und Heilpilze wirken ausgleichend, d. h., sie können bei einem Menschen mit Bluthochdruck diesen senken, bei einem anderen mit niedrigem Druck diesen erhöhen. • Craniosacrale Therapie: Im Bereich von Schädel-,Kreuzbein und Rückenmark z. B. zur Behandlung von Kopfschmerzen und Tinnitus. • Viscerale Osteopathie: Im Bereich des Organsystems z. B. zur Behandlung arterieller und venöser Abflussstörungen Darmverklebungen und Zwerchfellbehandlungen. • R.E.S.E.T. ist eine Behandlungsmethode zum Entspannen der Kiefermuskeln. Durch gezielte Berührungen werden die Kiefergelenke wieder in Balance gebracht… Indikatoren: Zähneknirschen, Beißen, Schwindel, Nackenbeschwerden, Tinnitus, nach Zahnbehandlungen u. Kieferorthopädischen Behandlungen. • Besonders bewährt hat sich der Einsatz von Bioresonanz bei: Akute und chronische allergische Erkrankungen wie Hautausschläge, Asthma und Heuschnupfen, Neurodermitis, Akute und chronische Entzündun¬gen, wie z. B. der Magenschleimh¬aut, des Dünn- und Dickdarmes, Erkrankungen der inneren Organe, Migräne /Schmerzzustände aller Art, Verletzungen / Narbenstörfelder, Belastungen mit Schadstoffen, Erregern oder Giften, Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises. • Energetik: Die Berührung dieser Punkte am Kopf bewirkt eine Entspannung der in diesem Bereich aktiven Gehirnfrequenzen und führt somit zur Entspannung des Menschen. Diese Entspannung kann zur Auflösung der jeweiligen Energieblockaden, Energiekurzschlüssen etc führen. Diese Behandlung wird je nach Bedarf auch mit Körperprozessen unterstützt und verstärkt. Energetische Behandlung dienen immer der körperlichen und geistigen Entspannung und gesundheitlichen Verbesserung. • Intravenöse Oxyvenierung, Einsatzbereich: Durchblutungsstörung, Gedächtnisstörung, Allergien, Schlaganfallfolgen, Heuschnupfen, Migräne, Bluthochdruck, Herzinfarktfolgen ,vor Bypass Operationen, Neurodermitis, Psoriasis, Hörsturz, Schwindel, Tinnitus, chronische Otitiden, chronische Ekzeme, chronische Sinusitis, Potenzstörungen, Erschöpfungs-
8 Werbung durch Heilpraktiker 77
zustände, trockene Makuladegeneration, Schlafstörungen ,chronische Harnwegsinfekte, Nieren u. Leberschwäche, Polyneuropathien, Wasseransammlung in den Beinen, begleitend bei Chemo-Strahlentherapie. • Die Indikationsliste für die EDTA-Chelat-Behandlung umfasst: Alle arteriosklerotischen Gefäßerkrankungen (wie oben beschrieben), Arthritis, Rheuma, Chronisches Müdigkeitssyndrom (CFS), Fibromyalgie, Potenzstörungen, Makulargeneration, Diabet. Retinopathie, Ausleitung von Giften bei Alkoholismus, Drogenkonsum und nach Chemotherapie. Bei „unheilbaren“ Augenerkrankungen können sich Patienten durch die EDTA-Chelat-Therapie berechtigte Hoffnung auf Besserung ihrer Sehfähigkeit haben. Es bedarf wohl keiner weiteren Erläuterungen, um zu begreifen, dass in diesen exemplarischen Texten sehr spezifische und oft weitreichende Heilsversprechen für bestimmte Verfahren gemacht werden. Da keines der genannten Behandlungsformen evidenzbasiert ist3, besteht hier wohl eindeutig der Sachverhalt der Irreführung. Ähnliches finden wir, wenn wir einmal auf Twitter nachschauen, was Heilpraktiker dort publizieren (Tab. 8.1). Es muss betont werden, dass die hier zitierten Beispiele eine rein zufällige Auswahl darstellen. Sie sind jedoch durchaus typisch für die derzeitige Werbung von Heilpraktikern. Jeden, der dies bezweifelt, lade ich ein, selbst im Internet oder auf Twitter nachzuschauen. Die Frage, ob das Heilmittelwerbegesetz eine Irreführung des Konsumenten effektiv verhindern könnte, lässt sich kaum beantworten. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Das Gesetz wird derzeit ganz offensichtlich nicht, beziehungsweise nicht im vollen Umfang auf diese Berufsgruppe angewendet. Aus meiner Sicht wäre es jedoch höchste Zeit, dass der Gesetzgeber sich an seine Pflichten erinnert und Verbraucher effektiv vor der weit verbreiteten Irreführung durch die Werbung von Heilpraktikern schützt.
3 Alternative
Medicine: A Critical Assessment of 150 Modalities eBook: Ernst, Edzard: Amazon.co.uk: Kindle Store.
78 E. Ernst Tab. 8.1 Einige rezente Tweets von Heilpraktikern • Kaufen Sie bei mir die neuesten homöopathischen Produkte gegen die CoronaPlage und besuchen Sie unsere Naturheilpraxis im schönen Freiburg im Breisgau, alle Leistungen exklusiv auf Privatrechnung, versteht sich. • Ich habe schon einige Patienten darauf hingewiesen, dass ihr derzeitiger gesundheitlicher Zustand erst nach der Impfung aufgetreten ist. Einige wachen gerade erschreckt auf. Erfahrungen aus meiner Naturheilpraxis, Schwerpunkt Schmerztherapie. • In meiner Naturheilpraxis beim blutig Schröpfen. Bei frisch geboosterten Patienten ist Gelee im Schröpfkopf. Vollkommen anders, als ich das aus 20 Berufsjahren kenne. • Impfen ist Privatsache. So einfach ist das. Kein Zwang. Kein Druck. Kein Ausschluss. Sie entscheiden. Frei! Lassen Sie sich von einem guten! Arzt beraten – nicht von einem ängstlichen oder geldgierigen. Auf Politiker sollten Sie nicht hören. Deren Interessen sind oft andere. • Jetzt neu in der Naturheilpraxis … – Natürliche Faltenbehandlung mit Hyaluronsäure! • Heilpraktiker Naturheilpraxis für Klassische Homöopathie. • Naturheilpraxis … Blutegeltherapie – Bioresonanztherapie – Kryolipolyse. • In meiner Naturheilpraxis biete ich die rhythmische Organeinreibung an. • Naturheilpraxis … Blutegeltherapie – Bioresonanztherapie – Akupunktur – Cellulite-Behandlung – Raucherentwöhnung. • Mesotherapie – Biolifting – Kryolipolyse … – Faltenbehandlung Gesicht durch Biolifting – Microneedling – kann zu jugendlichem Aussehen verhelfen. • Coaching für private und berufliche Lebensveränderungen – Naturheilpraxis. • EFT – Emotional Freedom Techniques – Naturheilpraxis. • Bestes Heilmittel für Depressionen – Nützliche Tipps und Ratschläge, Depressionskuren.
9 Kritik an der „Schulmedizin“
Zusammenfassung In diesem Kapitel wird die häufig geäußerte Kritik der Heilpraktiker an der „Schulmedizin“ beleuchtet. Eine kritische Analyse zeigt, dass die konventionelle Medizin tatsächlich keineswegs frei von Schwächen ist. Kritik ist also nicht nur berechtigt, sondern im Sinne einer Verbesserung der Heilkunde dringend notwendig. Heilpraktiker neigen jedoch dazu, die Schwächen der konventionellen Medizin zu übertreiben, wohl nicht zuletzt in der Hoffnung, auf diese Weise Patienten anzuwerben. Schlüsselwörter Schulmedizin · Fortschritt · Heilsversprechen · Konspiration Heilpraktiker lieben den Terminus „Schulmedizin“. Der Begriff steht für die Art der Heilkunde, die an medizinischen Fakultäten gelehrt wird. In einer 1831 veröffentlichten Schrift mit dem Titel „Die Allöopathie, Ein Wort der Warnung an Kranke jeder Art“ warnt Hahnemann, der Erfinder der Homöopathie (Kap. 14), vor den Ärzten sowie der Arzneikunst „alter Schule“.1 Der Begriff „Schulmedizin“ wurde erstmals 1876 vom homöopathisch orientierten Arzt Franz Fischer (1817–1878) aus Weingarten, Württemberg, in den Homöopathischen Monatsblättern, der Mitgliedszeitung des Laienvereins „Hahnemannia“, verwendet. In der Folgezeit avancierte der Terminus „Schulmedizin“ zum Kampfbegriff aller Anhänger der Naturheilbewegung gegen die wissenschaftlich ausgerichtete Heilkunde.
1 Schulmedizin–Wikipedia
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_9
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Im Dritten Reich verwendeten antisemitisch eingestellte Kritiker der naturwissenschaftlichen Medizin in den 1930er-Jahren den Terminus „verjudete Schulmedizin“, um so jüdische Ärzte auszugrenzen und die „Neue Deutsche Heilkunde“ zu propagieren (Kap. 1). Heute wird von Heilpraktikern der Begriff „Schulmedizin“ regelmäßig anstelle von konventioneller oder wissenschaftlicher Medizin gebraucht, wenn es darum geht, letztere zu kritisieren. Obschon es sich dabei um einen Versuch der Verunglimpfung handelt, muss betont werden, dass Kritik am heutigen Medizinbetrieb nicht nur angebracht, sondern willkommen ist. Nur wenn wir konstruktive Kritik üben, werden wir die Medizin von morgen effektiv verbessern können. Im Folgenden seien einige der offensichtlichsten Mängel der modernen Medizin, die sowohl Heilpraktiker wie auch ihre Patienten besonders häufig beanstanden, kurz angesprochen.
9.1 Das Arzt-Patienten-Verhältnis Viele Menschen empfinden den heutigen Medizinbetrieb als zu technisiert, zu unpersönlich oder sogar als herzlos. Sie haben den Eindruck, dass es zu vielen Ärzten an Mitgefühl und Einfühlungsvermögen mangelt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass für den Aufbau eines guten Arzt-Patienten-Verhältnisses ausreichend Zeit benötigt wird und dass diese Zeit im ärztlichen Alltag oft nicht zur Verfügung steht. Eine Konsultation bei einem Allgemeinmediziner dauert im Durchschnitt nicht einmal zehn Minuten. Dieser Zeitmangel verhindert, dass ein empathisches Verhältnis zwischen Arzt und Patient aufgebaut wird. Hinzu kommt, dass viele Ärzte während dieser kurzen Konsultation ihrem Computer mehr Aufmerksamkeit schenken als dem Menschen, der ihnen gegenüber sitzt. Letztendlich fühlen sich viele Patienten mit einem Rezept abgespeist, ohne all ihre Probleme, Sorgen und Ängste angesprochen zu haben. Ein Besuch bei einem Heilpraktiker sieht dagegen völlig anders aus. Hier kann eine Konsultation eine Stunde oder länger dauern, Zeit genug, um über alle Dinge in Ruhe zu sprechen, die für den Patienten wichtig sein könnten. Der Heilpraktiker hört geduldig zu, zeigt Empathie und Verständnis, bietet scheinbar plausible Erklärungen für die Symptome an und bespricht therapeutische Maßnahmen mit seinem Patienten. Diese bekommen so das Gefühl, als gleichberechtigter Partner in der Fürsorge
9 Kritik an der „Schulmedizin“ 81
um ihre Gesundheit involviert zu sein und als Individuen ganzheitlich versorgt zu werden. Es erstaunt deshalb nicht, dass Patienten die Qualität des therapeutischen Verhältnisses zu ihrem Heilpraktiker oft deutlich besser bewerten als das zu ihrem Hausarzt.
9.2 Enttäuschung über Heilsversprechen Jahrzehntelang wurden optimistische Prognosen darüber abgegeben, was die konventionelle Medizin in Kürze zu leisten im Stande sein wird. In der Bevölkerung wurde so die Hoffnung geweckt, es bräche nun bald ein Zeitalter der allgemeinen Gesundheit an. Leider sieht die Realität jedoch oft ganz anders aus: • Das Leiden vieler chronisch Kranker hat sich kaum gebessert. • Ihre Lebensqualität ist unverändert schlecht. • Ihre Hoffnung auf Heilung wurde bitter enttäuscht. • Viele moderne Behandlungsmethoden verursachen schwere Nebenwirkungen. • Ehemals beschwerdefreie Personen werden durch die konventionelle Medizin zu Patienten mit Beschwerden. Nehmen wir beispielsweise an, ein völlig symptomfreier Patient konsultiert seinen Arzt, der zu hohe Cholesterinwerte feststellt und ein cholesterinsenkendes Medikament verschreibt. Der Patient nimmt es brav ein und leidet alsbald unter Nebenwirkungen, z. B. Muskelschmerzen oder Leberproblemen. Aus einem gesunden ist so vermittels einer modernen Therapie ein kranker Mensch geworden. Viele Patienten sind enttäuscht über das, was sie – zu Recht oder zu Unrecht – als die nicht eingelösten Versprechungen der konventionellen Medizin wahrnehmen. Also sehen sie sich nach anderen Lösungen für ihre Probleme um und finden diese oft beim Heilpraktiker. Auf den Einwand, es bestünden doch erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit der dort verordneten Heilmittel, reagieren sie nur mit einem Achselzucken. Die moderne Medizin hat ihnen wenig geholfen; der Heilpraktiker dagegen bietet ihnen zumindest Zeit, Mitgefühl und Zuwendung. Selbst wenn die vom Heilpraktiker verordnete Therapie dann nur eine geringe oder gar keine Wirkung haben sollte, wären allein schon diese Faktoren ausreichend, um ihr Wohlbefinden zu steigern.
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9.3 Risiken der konventionellen Medizin Die konventionelle Medizin hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. Unzählige Therapien wurden entwickelt und mit vielen lassen sich Krankheiten heilen bzw. ihre Symptome lindern. Jedoch ist keine dieser Behandlungen frei von Nebenwirkungen. Zu den Risiken der modernen Medizin gehören unter anderem: • • • •
die Nebenwirkungen von Medikamenten (siehe unter 9.2), Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Verfahren, Komplikationen nach Eingriffen, ärztliche Kunstfehler. In seinem 1977 erschienenen Buch „Die Nemesis der Medizin: von den Grenzen des Gesundheitswesens“ hat Ivan Illich drei Kategorien von Risiken definiert, die das moderne Gesundheitswesen mit sich bringt:
• Als klinische Iatrogenesis bezeichnet er die Schädigungen, die Patienten durch unwirksame, nebenwirkungsbelastete und falsche Behandlungen zugefügt werden. • Der Begriff soziale Iatrogenesis beschreibt, wie unser Leben immer mehr von der Medizin bestimmt wird. Die Arzneimittelindustrie erzeugt eine unrealistische Nachfrage nach Gesundheit, und diese fordert immer mehr Behandlungen von Beschwerden, die eigentlich gar keiner Behandlung bedürfen. Die Folgen dieser Medikalisierung unseres Lebens sind unnötige Diagnosen und unnötige Therapien. • Bei der kulturellen Iatrogenesis schließlich geht es um die Zerstörung traditioneller Werte, um unser Verständnis von Krankheit, Leiden und Tod sowie um die Art und Weise, wie wir damit umgehen. Viele Menschen nehmen diese Probleme wahr und lehnen sich gegen die auch heute noch hochaktuelle „Nemesis der Medizin“ auf. Diese Einstellung führt sie dann zum Heilpraktiker, überzeugt davon, dass natürliche Heilmittel sanft und weitgehend frei von Nebenwirkungen seien. Die Erwartungen, Ängste und Annahmen dieser Menschen mögen oft irrig oder falsch sein, doch es lässt sich schwerlich leugnen, dass sie tief empfundenen Emotionen entspringen.
9 Kritik an der „Schulmedizin“ 83
9.4 Konspirative Tendenzen Bei aller berechtigten Kritik an der konventionellen Medizin ist es aber auch unübersehbar, dass Heilpraktiker dazu neigen, die Schwächen der konventionellen Heilkunde zu übertreiben, um so die „Schulmedizin“ schlecht zu machen. Hierfür gibt es zahllose Beispiele; hier eines von einem Heilpraktiker, der offenbar Patienten von konventionellen kardiologischen Behandlungen abrät: „Über die Alternative in der Herzmedizin seit über 100 Jahren – von der Schulmedizin erbittert unterdrückt, von der Pharmaindustrie gnadenlos bekämpft! Informativ Besseres zum Thema Herzschwäche, Schlaganfall u.a. gibt es nicht! Begreifen Sie durch dieses Video, wie Sie – mit Wissen und Billigung der Bundespolitik! – aus Gewinnsucht durch die Schulmedizin belogen werden! Begreifen Sie durch dieses Video, wie viele deshalb schon unnötig gestorben sind und noch sterben werden! Vielleicht auch Sie! Dabei gibt es das Mittel seit über einem Jahrhundert in der Apotheke!“2
Verschwörerische Tendenzen sind zweifelsohne bei vielen Heilpraktikern zu erkennen. Konspiratives Verhalten ist typisch für Gruppen, die sich unterdrückt fühlen und wird als Mittel eingesetzt, bestimmte Ziele zu erreichen.3 Im Falle der Heilpraktiker ist das Ziel oft, die „Schulmedizin“ anzuprangern. Psychologisch liegt es nahe, hier eine Art Minderwertigkeitskomplex zu vermuten, den Heilpraktiker nicht selten gegenüber der konventionellen Medizin zu haben scheinen.
9.5 Scheuklappen Ärzten wird häufig vorgeworfen, dass sie gegenüber alternativen Behandlungsformen nicht offen genug sind. Viele Heilpraktiker meinen sogar, dass sie Scheuklappen auf haben, die ihnen die Sicht versperren, und dass nur sie wirklich offen sind bezüglich unkonventioneller Methoden. Einige wichtige Kriterien, die für einen offenen Geist sprechen, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
2 KRANKHEITEN:
Hinweise zu verschied.Therapien: Homöopathie bei Impfschäden, Borreliose, Borna- und Hantavirus, MRSA (melhorn.de). 3 Konspiration–Wikipedia
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• Abwesenheit von Interessenkonflikten, • Integrität, • Ehrlichkeit, • Vermeidung von zweierlei Maß, • Fähigkeit, Ansichten entsprechend der Beweislage zu korrigieren, • nicht an Absurditäten festhalten, • Verschwörungstheorien ablehnen, • Fähigkeit, einen konstruktiven Dialog mit Menschen zu führen, die andere Ansichten vertreten, • Vermeidung von Trug- und Fehlschlüssen, • Bereitschaft, dazuzulernen. Sicher gibt es Menschen mit Scheuklappen in allen Berufen, so auch unter den Ärzten. Dennoch würde ich meinen, dass sich die konventionelle Medizin generell durch eine weit größere Offenheit auszeichnet, als das im Heilpraktikerwesen der Fall ist. Denken wir vielleicht nur daran, wie oft sich schon die Ansichten der Ärzteschaft gemäß der Evidenzlage geändert haben und wie dogmatisch Heilpraktiker selbst an den bizarrsten Vorstellungen festhalten. Kaum jemand wird behaupten, die konventionelle Medizin sei perfekt. Im Gegenteil, ihre Schwächen sind oft ebenso unübersehbar wie schwerwiegend. Sie sollten Anlass sein, uns in dem Bemühen zu stärken, die Heilkunde zum Wohl leidender Patienten zu verbessern. Wenn also Heilpraktiker konstruktive Kritik an dem heutigen Medizinbetrieb üben, so ist das uneingeschränkt zu begrüßen. Wenn ihre Kritik jedoch dazu dient, Werbung für Business zu betreiben und vielleicht sogar Patienten von effektiven Verfahren abzuraten, so ist das dem Patientenwohl eher unzuträglich.
10 Befugnisse, Pflichten und Aufsicht
Zusammenfassung In diesem Kapitel werden die sehr weitreichenden Befugnisse den Pflichten der Heilpraktiker gegenübergestellt. Sodann wird der Frage nachgegangen, ob eine effektive Aufsicht über Heilpraktiker existiert. Es zeigt sich, das die Befugnisse zu weitreichend und die Aufsicht zu unzureichend ist. Schlüsselwörter Befugnisse · Lehre · Forschung · Pflichten · Fortbildung Trotz der nicht geregelten theoretischen Ausbildung und der weitestgehend fehlenden praktischen Erfahrung eines frischgebackenen Heilpraktikers (Kap. 5) sind seine Befugnisse verblüffend weitreichend. Unmittelbar nach Ablegung der Heilpraktikerprüfung darf ein Heilpraktiker zeitlebens nahezu alle Leiden behandeln.
10.1 Befugnisse Im Prinzip darf ein Heilpraktiker nichts behaupten, was nicht stimmt. Behauptet er z. B., dass eine bestimmte Therapie wirkt, so muss die Wirksamkeit wissenschaftlich belegt sein, d. h. der Heilpraktiker muss mit wissenschaftlichen Studienergebnissen beweisen können, dass seine Aussage wissenschaftlich belegt ist (Kap. 9). Da kaum eine alternativmedizinische Behandlungsform diesen Ansprüchen gerecht wird (Kap. 14), dürfen Heilpraktiker keine Heilsversprechen abgeben. Heilmittel, deren Wirksamkeit © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_10
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nicht belegt sind, dürfen daher nicht in Zusammenhang mit Anwendungsgebieten genannt werden.
10.1.1 Patientenbetreuung Das Gesetz verpflichtet Heilpraktiker ferner, einen festen Praxissitz anzugeben; die Ausübung der Heilkunde im Umherziehen wäre eine Ordnungswidrigkeit. Sofern der Heilpraktiker einen festen Praxissitz hat, sind Hausbesuche bei Patienten jedoch zulässig. Sind diese Bedingungen erfüllt, so ist der Heilpraktiker berechtigt, die Heilkunde auszuüben. Dabei sind seine Befugnisse weitreichend. Er kann eigenständig Diagnosen stellen und darf fast alle Krankheiten eigenverantwortlich behandeln, unabhängig davon, ob er darin Erfahrung vorweisen kann oder nicht. Er darf Injektionen geben und Infusionen legen und psychotherapeutische Methoden einsetzen. Er kann auf diese Weise sogar Kinder und Kleinkinder betreuen. Eine Überweisung von einem Arzt ist nicht erforderlich. Ausnahmen sind bestimmte Infektionskrankheiten, die Heilpraktiker nicht behandeln dürfen, wie zum Beispiel Botulismus, Cholera, Diphtherie, Masern, akute Virushepatitis und Geschlechtskrankheiten. Das Arzneimittelgesetz verbietet Heilpraktikern, verschreibungspflichtige Medikamente oder Betäubungsmittel zu verschreiben. Doch potenziell gefährliche Substanzen, die nicht den Status einer Arznei haben, dürfen Heilpraktiker sehr wohl verabreichen, sogar per Injektion – so wie der Heilpraktiker Klaus R., nach dessen Behandlung drei Patienten verstarben.1 Heilpraktikern ist es jedoch gesetzlich verboten: • Geburtshilfe zu leisten (therapeutische Begleitung während einer Schwangerschaft ist dagegen erlaubt), • Zahnheilkunde auszuüben, • Straftaten zu untersuchen, • den Tod festzustellen, • eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auszustellen, • Gutachten zu medizinischen Sachverhalten im öffentlichen Interesse anzufertigen, • Reha-Maßnahmen verordnen,
1 Heilpraktiker
in Deutschland: So gefährlich sind sie – der große stern-Report | STERN.de.
10 Befugnisse, Pflichten und Aufsicht 87
• Bluttransfusionen, Transplantationen und Kastrationen durchzuführen, • radioaktive Diagnostika einzusetzen, • bildgebende Diagnostik selbst durchzuführen (solche Untersuchungen anzuordnen ist dagegen erlaubt). Selbst nach ernsten Zwischenfällen müssen sich Heilpraktiker nur selten vor Gericht verantworten. „Es gibt eine hohe Dunkelziffer“, sagt die Medizinrechtlerin Maia Steinert. Wenige der geschädigten Patienten gehen rechtlich gegen ihren Heilpraktiker vor. „Patienten schämen sich, wenn sie entdecken, dass sie betrogen wurden. Sie denken, sie seien selbst schuld. Oder sie sterben im Glauben, das Richtige getan zu haben.“ 1 So ist es zu erklären, dass nur relative wenige Behandlungsfehler von Heilpraktikern aktenkundig werden (Kap. 16).
10.1.2 Lehre Das Gesetz erlaubt Heilpraktikern zudem auch zu unterrichten. An Heilpraktikerschulen sind Heilpraktiker dementsprechend häufig an der Lehre beteiligt, auch wenn viele Fächer oft von besser ausgebildeten Experten übernommen werden. Ferner sind einige Heilpraktiker Mitautoren von Lehrbüchern für ihre Zunft. Das im Kap. 6 besprochene Lehrbuch wurde von einer Vielzahl von Autoren verfasst, von denen fast alle Heilpraktiker sind. Schließlich unterrichten Heilpraktiker häufig auch in Kursen der Volkshochschule. Eine Untersuchung fand, dass deutsche Volkshochschulen 2020/2021 insgesamt 502 Kurse zu alternativmedizinischen Themen abhielten. Von denjenigen Kursen, bei denen sich der Beruf des Referenten eindeutig feststellen ließ, wurden 36,4 % von Heilpraktikern geleitet.2 Wenn man davon ausgeht, dass Heilpraktiker meist ein nicht ungefährliches Halbwissen besitzen, so ist dieser Prozentsatz sicherlich besorgniserregend.
10.1.3 Forschung Das Gesetz erlaubt Heilpraktikern auch zu forschen. Dennoch liegt die Aktivität der Heilpraktiker auf diesem Gebiet nahezu bei Null. Zwar wird
2 Ott,
K. U., Keinki, C., Kaesmann, L., & Huebner, J. (2022). Education of complementary and alternative medicine in adult education centers in Germany: a web-based survey. Wiener medizinische Wochenschrift (1946), 10.1007/s10354-022-00.951-0. Advance online publication.
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in Deutschland zu heilpraktikerrelevanten Verfahren nicht gerade wenig geforscht – meine Recherche in ‚Medline‘, der größten Datenbank für medizinische Publikationen, ergab, dass über 1500 Arbeiten zur Alternativmedizin aus Deutschland stammen –, jedoch ist der Beitrag der Heilpraktiker hierzu vernachlässigbar gering. Wenn man bedenkt, dass bei den meisten Verfahren, die Heilpraktiker einsetzen, ein Wirksamkeitsnachweis aussteht, ist dieses Manko nur schwer verständlich. Die Vermutung liegt dementsprechend nahe, dass Heilpraktiker der Forschung keine oder nur sehr wenig Bedeutung zumessen. Falls das so ist, muss man sich natürlich fragen, wie sich Heilpraktiker einen Fortschritt ohne Forschung vorstellen.
10.2 Pflichten Für den Heilpraktiker gelten Pflichten wie die Informationspflicht, die Pflicht, eine Einwilligung des Patienten vor jeder Behandlung einzuholen, die Aufklärungspflicht, die Dokumentationspflicht und das Recht des Patienten zur Einsichtnahme in seine Patientenakte.3
10.2.1 Die Schweigepflicht Heilpraktiker sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Das bedeutet, Patienten können bei einer unbefugten Offenbarung von persönlichen (Gesundheits-)Daten privatrechtliche Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche gegen Heilpraktiker geltend machen. Ausnahmen von der Schweigepflicht können sich aus einer gesetzlich angeordneten Offenbarungspflicht ergeben, z. B. aus dem Infektionsschutzgesetz.
10.2.2 Aufklärungspflichten Invasive medizinische Eingriffe (z. B. Injektionen) erfüllen den Tatbestand einer Körperverletzung; sie sind nur nach einer Einwilligung des Patienten gerechtfertigt. Eine ordnungsgemäße Einwilligung setzt voraus, dass der Patient zuvor umfassend aufgeklärt wurde. Dem Patienten sind Wesen, Bedeutung und Tragweite der Behandlung zu schildern (Kap. 7). Der
3 Gesetzliche
Rechte und Pflichten eines Heilpraktikers (deutsche-heilpraktikerschule.de).
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Behandler muss zwingend im anzuwendenden Verfahren ausgebildet sein. Andernfalls könnte ein heilkundlicher Eingriff eine Körperverletzung darstellen, welche auch Schadensersatzansprüche nach sich ziehen kann. Dies gilt selbst dann, wenn die Behandlung nach den Regeln der medizinischen Kunst erfolgt und erfolgreich verläuft. Die Aufklärung hat persönlich und verständlich zu erfolgen. Aus dem Behandlungsvertrag mit dem Patienten folgt, dass der Heilpraktiker den Patienten auch über die wirtschaftlichen Folgen der Behandlung umfassend aufklären muss. Andernfalls kann sich der Patient weigern, zu bezahlen. Heilpraktiker müssen zudem ihre Patienten darüber informieren, dass deren gesetzliche Krankenversicherungen die Kosten einer Behandlung durch Heilpraktiker in aller Regel nicht übernehmen. Diese Aufklärung ist möglichst schriftlich zu dokumentieren.
10.2.3 Dokumentations- und Aufbewahrungspflicht Eine adäquate Dokumentation über alle Feststellungen des Krankheitsverlaufs eines Patienten ist verpflichtend. Dies betrifft z. B. die Krankengeschichte, die erhobenen Befunde, die Diagnose sowie die getroffenen Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen. Die Dokumentation dient einerseits als Gedächtnisstütze für den Heilpraktiker selbst. Sie soll aber andererseits auch den Nachweis einer fachgerechten Behandlung ermöglichen. Der Patient hat das Recht, seine Krankenakte einzusehen. Ist die Dokumentation fehlerhaft, widersprüchlich oder unvollständig, führt das – sollte es später zu einer Auseinandersetzung kommen – zu einer Beweiserleichterung zugunsten des Patienten. Eine ordnungsgemäße Patientenkartei sollte folgende Punkte beinhalten: • Name, Anschrift, Geburtsdatum des Patienten, • Beruf, falls therapeutisch relevant, • Daten aller Konsultationen, • Krankengeschichte, • alle erhobenen Befunde, • Diagnosen, • Symptome, • Art der Behandlung, • Verlauf der Behandlung, • aufgetretene Komplikationen,
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• • • • •
relevante Äußerungen des Patienten, Begründung der Therapiewahl, Gegenstand und Inhalte der Aufklärung inklusive Sicherungsaufklärung, Einwilligungen des Patienten, besondere Risiken wie z. B. Ansteckungsgefahren.
10.2.4 Fortbildungspflicht Heilpraktiker sollten dafür sorgen, dass ihre fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem aktuellen Stand sind. Ein regelmäßiges Selbststudium über die Fortschritte in der Heilkunde, insbesondere über neue Erkenntnisse von Nutzen und Risiken der von Heilpraktikern angewendeten Heilverfahren, wird empfohlen. Ob und wie Heilpraktiker sich tatsächlich fortbilden wird jedoch nicht kontrolliert. Es wird derzeit eine Unmenge von Fortbildungskursen für Heilpraktiker angeboten. Sie beziehen sich meist auf spezifische Krankheitsbilder oder auf Behandlungsmethoden. Zwei Beispiele sollen ausreichen. Beispiel Nr 14: Kinesio-Tape - praxisorientiertes myofasziales Tape-Konzept Das praxisorientierte myofasziale Tape-Konzept nach Thomas Mummert baut auf dem Wissen aus Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie im arthro-tendo-myotischen System auf. Primär geht es um das Erkennen pathomechanischer Störungen und deren begleitender Therapie mittels des Anlegens von Tapes auf Gelenke, Muskulatur und fasziale Strukturen. Durch die spezifischen Wirkungen der Tapes soll der physiologische Heilungsprozess unterstützt, die betroffene Struktur entlastet und optimal im Bewegungsablauf wieder integriert werden. Die Unterstützung der neurogenen Entzündung und der Proliferation im Heilungsprozess bei gleichzeitigem Erhalt der physiologischen Bewegungsmöglichkeiten über das Tape können sowohl akute als auch chronische Schmerzmuster verringert und Bewegungsdefizite dauerhaft beseitigt werden. Weiterhin führt eine effektive Anlage der Tapes zu einer Verbesserung der neuromuskulären Ansteuerung im myofaszialen System, welches sich in einer höheren Bewegungsqualität und -quantität und somit einer höheren Leistungsbereitschaft des Gewebes zeigt.
4 Kinesio-Tape
Grundkurs | ZiFF-Fortbildungen.
10 Befugnisse, Pflichten und Aufsicht 91
Beispiel Nr 25: Dieses Seminar liefert Ihnen eine Einschätzung und Bewertung der wichtigsten und gebräuchlichsten Methoden der Naturheilkunde hinsichtlich ihrer Anwendungsbereiche und Möglichkeiten. Damit werden Sie in der Auswahl Ihrer Verfahren sicher und in der Behandlung erfolgreich. Inhalte: • Akupunktur • Klassische Homöopathie • Ausleitungs- und Umstimmungsverfahren Schröpfen Aderlass Blutegel Baunscheidtverfahren Cantharidenpflaster Eigenblutbehandlung Misteltherapie Purgation • Neuraltherapie • Manuelle physikalische Therapien Therapie nach Dorn Therapie nach Breuß Massagetechniken Reflexzonentherapie: Fußreflexzonentherapie, Kolonmassage • Phytotherapie • Ernährungslehre • Potenzierte Arzneien • Biochemische Arzneimittel • Bach-Blütentherapie • Spagyrik • Physikalische Therapie
Was hier aus meiner Sicht ganz besonders beeindruckt ist die Tatsache, dass kaum eines der o. g. Verfahren evidenzbasiert ist. Krass ausgedrückt, in den genannten Kursen wird den Teilnehmern jede Menge Unsinn beigebracht. Insgesamt sind solche Fortbildungen gekennzeichnet durch ein meist kritikloses Anpreisen der verschiedenen Methoden, die bei H eilpraktikern beliebt sind. Ernsthafte Versuche, sich mit der jeweiligen Evidenz auseinanderzusetzten, fehlen in aller Regel.
5 Wirkung
und Bewertung alternativer Behandlungsmethoden (fortbildung24.com).
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Da Fortbildung häufig vermittels Heimstudium vorgenommen wird, ist es lohnenswert, auch einen Blick auf die einschlägigen Zeitschriften zu werfen. Es existieren heute zahlreiche Journale, die sich speziell an Heilpraktiker wenden; zu den am besten etablierten Zeitschriften gehören: • Co Med • Deutsche Heilpraktiker-Zeitschrift • Der Heilpraktiker • Naturheilkunde Journal • Naturheilpraxis • Paracelsus Magazin • Wir Heilpraktiker Keine dieser Zeitschriften publiziert regelmäßig Artikel, die auch nur im entferntesten an evidenzbasierte Fortbildung erinnern (Kap. 15). Sie sind voll mit Arbeiten zur Standespolitik, Praxisführung, Fallberichten, etc. und besitzen kein internationales Ansehen. Schließlich sollten bezüglich Fortbildung diverse Kongresse nicht vergessen werden. Sie finden mit großer Regelmäßigkeit statt und erfreuen sich bei Heilpraktikern beachtlicher Beliebtheit. Ich selbst hatte wiederhohl die Ehre, dort vorzutragen und war stets beeindruckt von der völligen Abwesenheit kritischen Denkens oder evidenzbasierter Analysen. Als Beispiel seien hier nur die 80. Berliner Heilpraktiker-Tage vom Oktober 2022 genannt. Im Programm fallen u. a. folgende Vorträge und Seminare auf6: • Die unterdrückte 150 MHz-Technologie. Schwingungsmedizin und Zellmembranspannung • Vergiftung – Entgiftung als Herausforderung in unserer Zeit. Entgiftungsphysiologie, Laborparameter an Patientenbeispielen und augendiagnostische Hinweise mit gezielter pflanzlicher Therapie • Messung des „Kraftwerks Zelle“ als Grundlage der holistischen Betrachtung von Gesundheit • Chronische Erkrankungen mit Bachblüten begleiten • Atem aktiviert Selbstheilungskräfte • Schüßler-Salze und Komplexe der Biochemie zur Stärkung der Mitte – ideale Kombinationen für Magen, Darm und die Verdauungsdrüsen
6 80_berlinerheilpraktikertage_web.pdf
(samuel-hahnemann-schule.de).
10 Befugnisse, Pflichten und Aufsicht 93
• Ruhe in der Mitte – Ruhe im Vegetativen und im Kopf • Homöosiniatrie • Homöopathisch – naturheilkundliche Hilfen bei Depressionen Wie wir in den folgenden Kapiteln noch vertiefen werden, handelt es sich bei diesen Themen nicht um belegte Verfahren. Heilpraktikerkongresse sind demnach nicht geeignet, fundiertes Wissen zu vermitteln, sondern neigen eher dazu, die Teilnehmer in ihren pseudowissenschaftlichen Annahmen zu bestätigen. Es muss nochmals betont werden, dass angesichts der unzureichenden Ausbildung der Heilpraktiker (Kap. 5) ihre Befugnisse zweifelsohne sehr weit gesteckt sind. Daneben ergeben sich aber auch zahlreiche Pflichten, die Heilpraktiker zu erfüllen haben. Meines Wissens existieren keine Untersuchungen zu der Frage, wie viele Heilpraktiker diese Pflichten tatsächlich auch wahrnehmen. Da es diesbezüglich keine Kontrollen gibt, ist zu befürchten, dass die Pflichten der Heilpraktiker nicht selten vernachlässigt werden.
10.3 Aufsicht Laut Gesetz muessen Heilpraktiker durch die jeweilig zuständigen Gesundheitsämter beaufsichtigt werden. Die Hauptaufgabe wird dabei in der infektionshygienischen Überwachung gesehen. Sie wird nicht zuletzt wegen fehlender Ressourcen meist nur dann durchgeführt, wenn ein konkreter Anlass, wie z. B. eine Beschwerde, vorliegt. Ob die eingesetzten Methoden effektiv sind oder im Gegenteil justiziable Behandlungsfehler darstellen, wird nicht überprüft. „Wir sind keine Ermittlungsbehörden, die Einzelfälle recherchieren und dann juristisch aufarbeiten können“, meinte beispielsweise Dr. Frank Renken, Leiter des Gesundheitsamtes der Stadt Dortmund.7 Der Leiter des Gesundheitsamtes Berlin-Reinickendorf, Dr. Patrick Larscheid, fasste 2019 im Gespräch mit MedWatch die begrenzten Aufsichtskompetenzen wie folgt zusammen: „Ich habe keine Möglichkeit, die Qualität der Behandlung zu beurteilen. Ich darf eine Praxis nicht deshalb zumachen, weil ich der Ansicht bin, dass diese Verfahren alle unsinnig sind oder Patienten gefährdet sind.“7
7 Heilpraktiker:
Wer seid ihr und wenn ja, wie viele? – MedWatch.
94 E. Ernst
Einige Amtsärzte teilten MedWatch mit, dass sie sich schwer damit tun, Praxen bezüglich nicht wissenschaftlich belegter Diagnostik- und Therapieverfahren zu kontrollieren. „Die Aufsicht bei den Gesundheitsämtern ist nicht angemessen. Wir sind für Heilberufe zuständig und sehen nur solche Berufe als Heilberufe an, deren Heilwirkung evidenzbasiert nachgewiesen wurde“, schreibt etwa das Gesundheitsamt des Kreises Düren.7 Das Landratsamt Schwarzwald-Baar-Kreis (Gesundheitsamt) formulierte es vielleicht noch deutlicher: „Da es sich beim Heilpraktikerwesen nicht um eine evidenzbasierte Medizin handelt, macht eine Qualitätssicherung durch Überwachung, analog zu den Ärztekammern für Ärztinnen und Ärzte, aus unserer Sicht keinen Sinn.“7 Und der Leiter des Gesundheitsamtes der Stadt Münster, Dr. Norbert Schulze Kalthoff meinte: „Es bedarf keiner Neuregelung der Zuständigkeiten, sondern vielmehr einer Neuregelung des Heilpraktikerwesens insgesamt (einschließlich der Ausbildung und Prüfung) und seiner aufsichtsrechtlichen Grundlagen, um hier eine rechtssichere und definierte Aufsicht zu ermöglichen“. Im Klartext heißt das ganz offensichtlich, dass heute eine effektive Kontrolle der Heilpraktiker nicht existiert.
11 Welche Leiden behandeln Heilpraktiker?
Zusammenfassung In diesem Kapitel wird hinterfragt, welche Probleme Heilpraktiker häufig behandeln. Es zeigt sich, dass fast alle in der Medizin bekannten Erkrankungen und Symptome in ihre mutmaßliche Kompetenz fallen. Dazu gehören durchaus auch lebensbedrohliche Krankheiten. Daneben existieren auch Diagnosen, die von Heilpraktikern häufig gestellt werden, die jedoch in der konventionellen Medizin so gut wie unbekannt sind oder nur selten auftauchen. Schlüsselwörter Diagnose · Medikalisierung · Trugschluss
11.1 Das Spektrum der Diagnosen Heilpraktiker dürfen mit wenigen Ausnahmen alle Erkrankungen und Symptome behandeln. Angesichts der nicht geregelten und meist unzureichenden Ausbildung der Heilpraktiker (Kap. 5) ist dieser Umstand besorgniserregend. Wie sehr manche Heilpraktiker ihre Kompetenz überschätzen, indem sie sich zutrauen, selbst ernste oder gar lebensbedrohliche Erkrankungen zu heilen, verdeutlichen beispielhaft die folgenden Zitate von Heilpraktikern: • „Was kann ein Heilpraktiker behandeln? Stellt man diese Frage einem Heilpraktiker, wird er vermutlich antworten: grundsätzlich alles. So ist der Anspruch von Heilpraktikern derselbe wie der eines Schulmediziners: die © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_11
95
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Behandlung von Krankheiten aller Art. Daher gibt es zunächst kaum ein Leiden, mit dem man sich nicht zum Heilpraktiker trauen kann. Neben akuten Erkrankungen behandeln Heilpraktiker somit auch chronische Krankheiten wie beispielsweise Allergien, Gicht, Rheuma, Arthritis oder andere Stoffwechselerkrankungen. Auch Bewegungsstörungen oder psychische Leiden können Heilpraktiker behandeln und dabei mitunter erstaunliche Behandlungsergebnisse vorweisen. Erfolge können sie zudem auch bei manchen Krebsleiden erzielen – ohne Chemotherapie oder Bestrahlung, wie sie in der Schulmedizin zum Einsatz kommen … Schließlich ist der Heilpraktiker … jedoch eine gute erste Alternative gegenüber einem Schulmediziner, wenn man unklare Symptome hat oder beispielsweise Medikamentengaben noch vermeiden will.“1 • „Darüber hinaus zielt die Arbeit von Heilpraktikern stets darauf ab, die Selbstheilungskräfte des Körpers zu aktivieren. Damit können sie auch diverse organische Störungen sowie Autoimmunkrankheiten heilen. Darunter fallen vor allem Allergien mit Heuschnupfen und Asthma, aber auch Morbus Crohn und Zöliakie als Darmerkrankungen, Sarkoidose (Lungenkrankheit), Hashimoto bei Störungen der Schilddrüsenfunktion sowie Schuppenflechte und sogar Multiple Sklerose.“2 • „Die Schulmedizin hat bis heute nicht verstanden oder nicht verstehen wollen, dass nicht die einzelnen Symptome die Krankheit sind, sondern der Mensch in seiner Ganzheit von Körper, Geist und Seele krank ist. So beschränkt sich die Schulmedizin im Wesentlichen darauf, Symptome zu bekämpfen. Dabei sind diese oft Reaktionen des Körpers, mit denen er versucht, das verlorene Gleichgewicht wieder herzustellen. In der Heilpraktiker-Praxis … befasse ich mich mit Ursachen und Auslösern von Krankheiten. Darüber hinaus wird alles dafür getan, den Gesundheitszustand des Patienten so zu verbessern, dass sein Organismus wieder in der Lage ist, Heilungsprozesse einzuleiten. Der Innere Arzt wird aktiviert.“3 • „Akute Erkrankungen lassen sich homöopathisch gut behandeln, da sich die akuten Symptome in der Regel intensiv und deutlich darstellen und meist eine Beschwerde als Hauptsymptom im Vordergrund des
1 Was
kann ein Heilpraktiker behandeln? – Blogger Lounge (blogger-lounge.de). behandelt ein Heilpraktiker? – ProMed (promed-ev.de). 3 Akute & chronische Erkrankungen – Heilpraktiker-Praxis-Muenster. 2 Was
11 Welche Leiden behandeln Heilpraktiker? 97
rankheitsbildes steht. Dieses Hauptsymptom muss dabei aber so genau K und differenziert wie möglich erfasst werden.“4 • „Energieteilchen nennt man Photonen, die sehr wichtig für eine gesunde Zellentwicklung sind. Wenn Zellen geschädigt sind, geraten die Photonen der Zellen aus dem Gleichgewicht und man wird anfällig für Krankheiten. Die Photonenbehandlung ermöglicht es uns, den Energiehaushalt, den Stoffwechsel sowie die Regeneration der erkrankten Zellen positiv zu beeinflussen. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, die Photonentherapie zur Behandlung aller Erkrankungen einzusetzen.“5 Die tiefe Unwissenheit, grenzenlose Anmaßung von Kompetenz und gelegentlich zynische Arroganz, die aus diesen Zeilen spricht, ist bedrückend. Es scheint fast so, als seien viele Heilpraktiker hin und her gerissen zwischen Unkenntnis, Ablehnung der konventionellen Medizin, Wissenschaftsverleugnung, und Pseudowissenschaft. Wenn wir recherchieren, welche Leiden Heilpraktiker tatsächlich am häufigsten therapieren, so stoßen wir auf höchst widersprüchliche Aussagen. Eine Befragung aus dem Jahr 2017 z. B. zeigt, dass 68 % aller Heilpraktiker unspezifische Probleme, 68 % Schmerzen aller Art, 64 % psychologische Leiden und 54 % Symptome am Bewegungsapparat behandeln.6 Eine YouGov-Befragung aus dem gleichen Jahr7 eruierte, bei welchen Beschwerden deutsche Konsumenten einen Heilpraktiker konsultieren würden. Hier die Ergebnisse: • • • • • • •
Kopfschmerzen/Migräne 38 % Rückenschmerzen 35 % Magen-/Darmbeschwerden 32 % Hautprobleme 32 % Zigarettenentzug 25 % Psychische Probleme 24 % Ernste Erkrankungen 10 %
4 Akute
Krankheiten – Homöopathie – Online-Kurse (heilpraktikerkurse.de). und Behandlung (woessner-heilpraktiker.de). 6 Kattge, S., Goetz, K., Glassen, K., & Steinhäuser, J. (2017). Job Profile of Non-Medical Practitioners: A Cross- Sectional Study from the Health Service Perspective. Complementary medicine research, 24(5), 285–289. 7 „Warum gibt es überhaupt noch Heilpraktiker_“ – DocCheck.pdf. 5 Therapie
98 E. Ernst Tab. 11.1 Diagnosen, die gemäß zufällig ausgewählter Internetseiten von 7 Heilpraktikern Schwerpunkte darstellen • Allergien, hormonelle Störungen, Schmerzen, Schwermetallbelastung • Burnout, energetische Blockaden, Intoxikationen mit Umweltgiften, Sanierung des Schlafplatzes, strukturelle Probleme, Vitamin- und Mikronährstoff- Mangelzustände • Diabetes, Heuschnupfen, Laktoseintoleranz, Leaky Gut Syndrom, Magenbeschwerden, Migräne, Neurodermitis, Reizdarm, Sodbrennen • Darmbeschwerden, endokrinologische Probleme, Menopause, Stoffwechselstörungen, Unfruchtbarkeit • Blockaden im Bewegungsapparat, Darmprobleme, Intoxikationen, Lebensmittelunverträglichkeiten, Pilzbefall, Übergewicht • Atemwegserkrankungen, Beschwerden am Bewegungsapparat, Durchblutungsstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, hormonelle Störungen, Schmerzen, Verdauungsprobleme • Burnout, Darmprobleme, hormonelle Störungen, Kinderwunsch, Mangelernährung, Menopause, Stress
Wenn wir dagegen uns anschauen, welches Spektrum einzelne Heilpraktiker auf ihren Internetseiten benennen, so finden wir, dass es kaum ein Leiden gibt, welches sie nicht vorgeben, effektiv behandeln zu können (Tab 11.1). Diese Annahme wird ferner bestätigt durch das im Kap. 6 erörterte Standardlehrbuch der Heilpraktiker, das eine breite Palette selbst lebensbedrohender Diagnosen beinhaltet. Am Beispiel Krebs wird das vielleicht am deutlichsten. Lassen Sie mich einige Passagen aus der Internetseite eines deutschen Heilpraktikers8 zitieren und meine Kommentare dazu hinzufügen: „In den Köpfen der meisten Menschen bedeutet eine Krebsdiagnose auch heute noch ein Todesurteil und geht oft einher mit einem psychischen Schock und/oder Gefühlen von Angst, Machtlosigkeit und Verzweiflung. Auf den ersten Blick scheint diese Reaktion berechtigt zu sein, da die schulmedizinischen Therapien keinen lebensverlängernden Effekt haben (im Gegenteil). Einer australischen Studie zufolge beträgt die 5 Jahres Überlebensrate von Krebspatienten, die sich einer Chemotherapie unterziehen im Durchschnitt gerade mal 2,2 % (untersucht wurden 227935 Fälle innerhalb 20 Jahre in Australien und den USA).“
Die Aussage, dass konventionelle Therapien keinen lebensverlängernden Effekt haben, ist unhaltbar. Da der Autor seine australische Studie nicht ordentlich
8 Behandlungsmethoden
– Heilpraktiker Patrick Kessler (naturheilpraxis-lightshape.de).
11 Welche Leiden behandeln Heilpraktiker? 99
zitiert, ist es nicht möglich, diese zu finden. Fest steht jedoch, dass Medline (die größte Datenbank medizinischer Publikationen) nicht nur eine, sondern über 600.000 Arbeiten zur Überlebensrate von Krebspatienten auflistet. Sie führen im Detail aus, dass sich (je nach Krebsart und Krebsstadium) die Überlebenschancen durch die moderne onkologische Therapie ganz erheblich verbessert haben. „Wagt man hingegen einen Blick über den Tellerrand jenseits selbst gesteckter schulmedizinischer Grenzen, stellt man schnell fest, dass es trotz der stetig wachsenden Zahl an Krebserkrankungen keinen Grund zur Panik gibt, da es bereits seit einiger Zeit eine stille Revolution in der Krebs Medizin gegeben hat.“
Der Autor scheint Hahnemanns Schimpfwort „Schulmedizin“ zu lieben. Er irrt sich allerdings, wenn er behauptet, dass die Zahl der Krebserkrankungen stetig steigt. Auch hierbei kommt es sehr darauf an, von welcher Art Krebs wir sprechen. Hier z. B. ist die Schlussfolgerung von nur einer der zahlreichen Analysen zu diesem Thema: „Bei Hirntumoren, Lungenkrebs, akuter myeloischer Leukämie sowie Dickdarm- und Enddarmkrebs sind Überlebensfortschritte zu verzeichnen.“9 Ferner würde ich meinen, dass eine „stille Revolution“ in der Onkologie wohl eher unwahrscheinlich ist. Es handelt sich nämlich um einen Bereich der Medizin, in dem mit Recht jeder Fortschritt auch in der Laienpresse lautstark gefeiert wird. „Es ist möglich Tumorzellen wieder in den Zustand einer gesunden Zelle zurückzuführen (Dr. Thalberg hat dies wissenschaftlich nachgewiesen und die Studie wurde 2003 in der deutschen Zeitschrift für Onkologie veröffentlicht), oder durch Wiederherstellung der Immunantwort den Körper in die Lage zu versetzen, den Tumor aufzulösen, sodass es möglich ist das Krebsgeschehen binnen weniger Monate zu heilen.“
Die Arbeit von Thalberg ist in Medline nicht auffindbar. Das liegt vielleicht daran, dass die Deutsche Zeitschrift für Onkologie ein Journal für „komplementäre und integrative Ansätze für die Praxis“ ist, das seriöse Krebsforscher nicht einmal mit der Kneifzange anfassen würden.10 Von dieser Zeitschrift einen echten Durchbruch zu erwarten, zeugt von einer grenzenlosen Naivität.
9 Lewis
DR, Siembida EJ, Seibel NL, Smith AW, Mariotto AB. Survival outcomes for cancer types with the highest death rates for adolescents and young adults, 1975–2016. Cancer. 2021 Nov 15;127(22):4277–4286. https://doi.org/10.1002/cncr.33793. Epub 2021 Jul 26. PMID: 34.308.557. 10 Über die Deutsche Zeitschrift für Onkologie – Haug Verlag (thieme.de).
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„Auf diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht meine biologische Krebstherapie, die darauf abzielt sowohl die Mitochondrienfunktion, als auch die Immunbalance (TH1-TH2) wieder herzustellen und den Körper zu entgiften. Dabei bediene ich mich z. B. der Mykotherapie (Heilpilze), als auch orthomolekularen Präparaten mit Inhaltsstoffen wie z. B. Glutathion, Curcumin, OPC, Humulon, Chlorophyll, Alginsäure, Salvestrole, Sulforaphan u. v. a. (die für den jeweiligen Fall am stimmigsten biologische Therapie wird im Gespräch ermittelt, bzw. radioästhetisch oder kinesiologisch ausgetestet).“
Der Autor behauptet hier, dass durch Heilpilze und orthomolekulare Medizin Krebs geheilt werden kann. Ich habe die Evidenz hierzu genau evaluiert und kann versichern, dass diese Aussage schlichtweg falsch ist.11 Um genau zu sein, es gibt keine einzige alternative Therapie, die irgendeinen Krebs heilen könnte.12 Der Autor übertrifft selbst diesen Unsinn, indem er darauf hinweist, dass er die optimale Behandlung durch Pendeln oder Kinesiologie ermittelt. Abschließend sei noch betont, dass das von mir gewählte Beispiel durchaus kein Einzelfall ist; im Gegenteil, wenn Sie im Internet auch nur 10 min lang suchen, so finden Sie sicher ein Dutzend ähnlich erschreckender Texte von Heilpraktikern. Zu bemerken ist zudem, dass Heilpraktiker nicht selten wenig von herkömmlichen Diagnosen halten und behaupten, ihre ganzheitliche Vorgehensweise mache diese überflüssig. Hier nur ein Beispiel13: „So finden Sie hier keine Krankheitsbezeichnungen oder Beschwerden, mit denen Sie zu verschiedenen Fachärzten gehen würden, jedoch werden Sie überrascht sein, welche Zusammenhänge sich ergeben können, wenn die Sichtweise von symptomorientiert auf ursächlich umgestellt wird. So kann es z. B. vorkommen, dass Sie eine Sehschwäche erwähnen und es sich nach meinen Diagnoseverfahren herausstellt, dass eine Leberschwäche hierfür ursächlich ist und behandelt werden sollte oder eine Beinlängendifferenz u. a. zu Hämorrhoiden oder einer Depression geführt haben könnte.“
Diese Ausführungen sprechen für die rege Fantasie des Autors, aber leider auch gegen seine Fachkenntnisse. Es liegt auf der Hand, dass es für oft verzweifelte Patienten nicht einfach ist, zu differenzieren, was hier ausgemachter Unsinn und was evidenzbasierte Medizin ist. 11 So-Called Alternative Medicine (SCAM) for Cancer: Amazon.co.uk: Ernst, Edzard: 9.783.030. 741.570: Books. 12 Critical thoughts on alternative therapies for cancer patients (edzardernst.com). 13 Therapien & Diagnosen – Heilpraktiker Praxis Taufertshöfer – alternative Intensivtherapien (rainertaufertshoefer-heilpraktiker.de).
11 Welche Leiden behandeln Heilpraktiker? 101
11.2 Kinderheilkunde Wenn wir uns fragen, welche Altersgruppen von Heilpraktikern behandelt werden, so ist die Antwort einfach: Alle! Dass die Kompetenzanmaßung der Heilpraktiker insbesondere für Kinder eine Gefahr darstellen kann, ist offensichtlich. Die Internetseite Heilpraktiker.de geht sogar soweit, dass sie „Kinderheilpraktiker/in – Fachberater/in für naturgemäße Kinderheilkunde“ anpreist14: „Im Kindesalter werden die Weichen gestellt für ein Leben in Gesundheit und Glück oder für ein Leben, belastet mit gesundheitlichen und psychischen Problemen. Der auf den kindlichen Patienten spezialisierte Heilpraktiker erkennt Gesundheitsbelastungen frühzeitig und setzt seine nebenwirkungsfreie, naturkonforme und ganzheitliche Therapie gegen die zunehmende Flut belastender Einflüsse ein. Das rechtzeitige Erfassen und Einordnen von kindlichem Fehlverhalten ist genauso wichtig wie eine ursachenbezogene, nebenwirkungsfreie und naturkonforme Therapie.“
Auf einer anderen, zufällig ausgewählten Internetseite findet sich folgender Text einer deutschen Heilpraktikerin15: „Als ausgebildete Kinderheilpraktikerin und nun auch Großmutter ist es mir eine Herzensangelegenheit, Ihr Kind in seinem Sein und Werden aus naturheilkundlicher Sicht zu begleiten und Sie als Eltern hierbei kompetent zu beraten und zu unterstützen.“
Die Paracelsus Heilpraktikerschulen bieten etliche Kurse an für Heilpraktiker, die Kinder behandeln wollen, z. B.: • Homöopathie in der Kinderheilkunde – die Behandlung spezifischer Erkrankungen im Kindesalter • Spagyrische Rezepturen in der Kinderheilkunde • Ernährung in der Kinderheilkunde • Schüßler-Salze in der Kinderheilkunde • Kinderheilpraktiker/in – Fachberater/in für naturgemäße Kinderheilkunde
14 Kinderheilpraktiker/in
– Heilpraktiker. | Heilpraktikerin – Praxis für Naturheilkunde und GesundheitsInformation Leipzig (gregorheilpraktiker.de). 15 Kinder
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Tatsächlich haben heute zahlreiche Heilpraktiker einen Schwerpunkt in der Behandlung von Kindern. Geworben wird vor allem mit der natürlichen und sanften Therapie der Heilpraktiker und der Behauptung, dass die konventionelle Kinderheilkunde dem Kind nur Schaden antue. Vergessen wird jedoch stets, zu erwähnen, dass die bevorzugten Therapieformen der Heilpraktiker nicht nachweislich wirksam sind (Kap. 14), dass sie zudem durchaus nicht frei von Nebenwirkungen sind (Kap. 13) und dass Heilpraktiker hoffnungslos überfordert sind, wenn es darum geht, kranke Kinder optimal zu versorgen. Studiert man die Angebote vieler Heilpraktiker in der Kinderheilkunde genau, muss man sich oft sogar fragen, wo hier die Grenze zwischen Therapie und Kindesmisshandlung liegt.
11.3 Diagnosen, die (fast) nur Heilpraktiker stellen „Das ist übrigens der bedeutende Unterschied zwischen Arzt und Heilpraktiker. Ein Arzt versucht Erkrankungen auszuschließen, der Heilpraktiker hingegen dichtet dem Patienten oftmals noch Störungen an“, meint Anousch Mueller in ihrer kritischen Analyse des Heilpraktikerberufs.16 Das geht häufig so weit, dass Diagnosen, die Heilpraktiker mit großer Regelmäßigkeit stellen, in der konventionellen Medizin höchst selten, völlig unbekannt oder nicht existent sind. Hier einige Beispiele: • Autointoxikation • Darmverpilzung • Energetische Dysbalance • Geburtstrauma • Gestörter Energiefluss • Impffolgen • Immunschwäche • Innere Blockaden • Leaky Gut Syndrom • Nahrungsmittelintoleranz • Störfelder
16 Unheilpraktiker: Wie Heilpraktiker mit unserer Gesundheit spielen eBook: Mueller, Anousch: Amazon.de: Kindle Store.
11 Welche Leiden behandeln Heilpraktiker? 103
• Subluxation der Wirbelsäule • Übersäuerung • Ungleichgewicht der Darmflora • Vitaminmangel Dass diese Zustände sehr selten oder gar nicht existent sind, stört die meisten Heilpraktiker wenig. Ich nehme an, dass sie überzeugt sind, richtig zu diagnostizieren; schließlich lernen sie diesen Unsinn in den Kursen und Fortbildungen, die ihnen angeboten werden, und sogar in den Lehrbüchern, mit denen sie sich auf die amtsärztliche Überprüfung vorbereiten (Kap. 6). Eine Subluxation der Wirbelsäule ist beispielsweise ein Fantasiegebilde von D.D. Palmer, dem Erfinder der Chiropraktik. Er propagierte vor rund 120 Jahren, dass 95 % aller Erkrankungen des Menschen auf Subluxationen zurückzuführen seien, die den Energiefluss im Körper behindern. Nach diesen Subluxationen wurde jahrzehntelang gefahndet, aber man konnte sie niemals verifizieren. Heute glauben (außer Chiropraktik anbietende Heilpraktiker) nur noch wenige dogmatisch ausgerichtete Chiropraktiker an dieses Phantom.17 Das Thema Störfeld ist ein weiteres Beispiel aus der obigen Liste. Auf einer Internetseite einer Heilpraktikerin finden wir hierzu folgende Erklärung18: „EIN STÖRFELD – WAS IST DAS? Jeder Körper verträgt viele verschiedene Reize, die vorübergehend stören, wie eine Erkältung oder ein aufgeschlagenes Knie, Verspannungen im Bereich der Schulter oder Schadstoffe aus der Umwelt. Schon vom ersten Tag an beginnt auch die Heilung, die unterschiedlich lange dauern kann und das körperliche Gleichgewicht kehrt zurück. Gibt es ein Störfeld im Körper, so wird der Heilungsprozess verlangsamt oder verhindert. Dies können z. B. veränderte Zähne oder Narben sein, die mit ihrer Fernwirkung in den Körper hinein durch bakterielle, toxische, chemische und mechanische Reize an einem anderen Organ Schmerzen oder Entzündungen hervorrufen können. Die Betrachtung der Meridiane ist eine Untersuchungsmöglichkeit, um zu erkennen, ob ein Organ und/oder dessen Funktion durch ein vorgeschaltetes
17 Chiropractic: Not All That It’s Cracked Up to Be: Amazon.co.uk: Ernst, Edzard: 9.783.030.531.171: Books. 18 STÖRFELDDIAGNOSTIK – Heilpraktikerin (krause-heilpraktikerin.de).
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Störfeld beeinflusst und eingeschränkt wird. So gehören die Schneidezähne zum Nieren- und Blasensystem. Eine Irritation in diesem Zahnbereich kann die Ursache für eine Blasenschwäche sein. An dieser Stelle überlegen wir – gemeinsam mit Ihrem behandelnden Zahnarzt – wie eine ‚Entstörung‘ dieses Zahnbereiches vorgenommen werden kann. Jede Narbe kann zu Blockaden, die gesundheitliche Beeinträchtigungen hervorrufen, führen. Eine Narbenentstörung kann unter anderem eine Linderung von psychischen Beschwerden (z. B. Ängsten), Schweißausbrüchen unklarer Ursache oder kalten Händen und Füßen bewirken. Ich arbeite mit neuraltherapeutischen Verfahren, begleitet von einer Gesprächstherapie, um eine zügige Entlastung zu erreichen.“
Störfelder sind reine Fantasiegebilde der Anhänger der Neuraltherapie. Ihre Existenz oder ihr Einfluss auf Krankheitsprozesse ist nie nachgewiesen worden. Meridiane, also Leitungsbahnen, in denen laut der Vorstellung der Traditionellen Chinesischen Medizin die Lebensenergie fließen soll, existieren ebenfalls nicht. Die genannten Zuordnungen von z. B. Schneidezähnen und Nieren sind gleichermaßen Unsinn. Neuraltherapie ist eine unbelegte Behandlungsweise (Kap. 14). Der Vorteil von Diagnosen, die ein Patient gar nicht hat, so könnte man etwas zynisch schlussfolgern, ist offensichtlich. Er liegt darin, dass sie für den Heilpraktiker den Anlass darstellen, eine längere Serie von Behandlungen einzuleiten. Schließlich verkündet er, dass das Problem (das wohlgemerkt niemals existierte) bereinigt und der Patient nunmehr wieder gesund sei. Somit sind alle bestens bedient: der Patient, der Heilpraktiker sowie sein Bankkonto.
12 Diagnostische Verfahren der Heilpraktiker
Zusammenfassung In diesem Kapitel werden die diagnostischen Methoden diskutiert, die Heilpraktiker häufig verwenden. Dies sind vor allem die körperlichen Untersuchungsmethoden der konventionellen Heilkunde, die jedoch in den meisten Heilpraktikerschulen nur unzureichend vermittelt werden. Hinzu kommt oft eine kostenaufwendige Labordiagnostik, deren Aussagekraft fraglich erscheint. Schließlich existiert eine Reihe von alternativen Diagnoseverfahren, die durchweg nicht valide sind und somit eine Gefahr für den Patienten darstellen. Schlüsselwörter Diagnostik · Krankheit · Untersuchungsmethode · Test Symptom
·
Im Prinzip kann ein Heilpraktiker nahezu alle diagnostischen Methoden einsetzen, die er kennt und beherrscht. Es ist kein Geheimnis, dass Heilpraktiker auch dort Leiden diagnostizieren, wo keine sind. So wird rasch • aus einem verdorbenen Magen eine Darmverpilzung, • aus etwas Müdigkeit eine energetische Dysbalance, • aus einem banalen Infekt eine Immunschwäche, • aus etwas Völlegefühl eine Nahrungsmittelintoleranz, • aus Nacken- oder Rückenschmerzen eine Subluxation der Wirbelsäule, • etc.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_12
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Wenn jemand mit einer Befindlichkeitsstörung, z. B. Abgeschlagenheit, zum Arzt geht, wird dieser als erstes bedrohliche Ursachen des Symptoms ausschließen und sodann den Patienten beruhigen, ihm erklären, dass er nicht wirklich krank ist und ihm Rat erteilen, was er selbst tun kann, um sich besser zu fühlen. Viele Patienten meinen dann vielleicht, dass ihr Arzt sie nicht ernst genommen habe und sie konsultieren einen Heilpraktiker. Dieser hat viel mehr Zeit und kann somit besser auf den Patienten eingehen. Er wird vielleicht einige Tests (siehe unter 12.2) durchführen und dann in aller Regel eine Diagnose stellen (z. B. Autointoxikation), die er über einen längeren Zeitraum beispielsweise mit einer Detox-Kur behandelt. Der Patient gewinnt somit den Eindruck, dass der Heilpraktiker in jeder Beziehung kompetenter als der Arzt ist. Was hier jedoch in Wirklichkeit passiert, ist etwas ganz anderes: Der Arzt ist darauf bedacht, eine Trivialität nicht zu medikalisieren, den Patienten nicht zu ängstigen und Kosten zu minimieren, während der Heilpraktiker das genaue Gegenteil betreibt. Wie bereits erwähnt, hat, Anousch Mueller in ihrem Buch1 diese Situation gut erfasst: „Das ist übrigens der bedeutende Unterschied zwischen Arzt und Heilpraktiker. Ein Arzt versucht Erkrankungen auszuschließen, der Heilpraktiker hingegen dichtet dem Patienten oftmals noch Störungen an.“
12.1 Konventionelle Diagnostik Heilpraktiker dürfen die meisten diagnostischen Methoden der konventionellen Medizin verwenden. Aufwendige apparative Diagnostik kommt allerdings eher selten zum Einsatz.
12.1.1 Körperliche Untersuchung Eine körperliche Untersuchung kann zahlreiche Techniken umfassen, z. B.: • Auskultation der Lunge, des Herzens und der Halsschlagadern • Palpation der inneren Organe im abdominellen Bereich • Inspektion von Körperregionen
1 Unheilpraktiker: Wie Heilpraktiker mit unserer Gesundheit spielen eBook: Mueller, Anousch: Amazon.de: Kindle Store
12 Diagnostische Verfahren der Heilpraktiker 107
• Riechen von Körperausdünstungen • Perkussion der Lunge und des Abdomens • Fühlen des arteriellen Pulses an diversen Lokalisationen • Beweglichkeitsprüfung von Gelenken • Prüfung von Reflexen • Blutdruckmessung Diese Techniken erlernen Ärzte während des Studiums in diversen Kursen am Krankenbett. Da selbst diejenigen Heilpraktiker, die eine Heilpraktikerschule besucht haben, meist keine praktische Ausbildung am Krankenbett genossen haben (Kap. 5), erscheint es fragwürdig, dass die meisten Heilpraktiker diese zum Teil diffizilen Methoden beherrschen und aus ihnen die richtigen Schlüsse ziehen können.
12.1.2 Labordiagnostik Viele Heilpraktiker betreiben ausgiebigste und lukrative Labordiagnostik. Die Laborgemeinschaft für ganzheitliche Medizin2 wurde beispielsweise von Heilpraktikern für Heilpraktiker 1999 gegründet. Geleitet wird sie von drei Betriebswissenschaftlern. Die Arbeit wird von mehreren Medizinischtechnischen Assistentinnen gemacht. Einen Facharzt für Labormedizin gibt es dort nicht. Heilpraktiker aus ganz Deutschland können für etwa 200 € Anteile am Labor erwerben und das Ganze dann als selbsterbrachte Leistung im ausgelagerten Teil der Praxis abrechnen, egal ob die Praxis in Hamburg oder Berchtesgaden liegt. Das Labor berechnet für ein Profil rund 50 €, dass dann für rund 200–300 € dem Patienten in Rechnung gestellt werden kann. Angeboten wird neben den aus der konventionellen Medizin bekannten Blutanalysen eine sehr breite und exotische Palette der Labordiagnostik, z. B. Mikronährstoffdiagnostik, Pregnenolon, Kynurenin und IDO-Aktivität, Melatonin im Speichel, totale oxidative Kapazität und ein AdrenalinStress-Index, Jodsättigungstests oder Tumormarker. Weitere Beispiele für fragwürdige Analysen sind beispielsweise: • IgG-Testverfahren zur Diagnostik einer Allergie oder Überempfindlichkeit auf Nahrungsmittel • Urinuntersuchungen auf angebliche toxische Metallbelastungen
2 Home
– LgM (lgm-hh.de)
108 E. Ernst Tab. 12.1 Heilpraktikertypische diagnostische Verfahren, die in zufällig ausgewählten Internetseiten von 7 Heilpraktikern genannt wurden. TCM ; VNS • Antlitzdiagnose, Bioresonanz, Irisdiagnose, Spenglersan-Test, Stuhldiagnostik • Armlängenreflex nach Raphael van Asche, Histaminintoleranz im Blut, Pulsdiagnose • Arzneimitteltestung, Global-Diagnostics-Messung, TCM (Traditionelle Chinesische Medizin)-Diagnostik • Bioenergetisches Analysesystem, Dunkelfeldmikroskopie, individuelle Stoffwechseloptimierung • Bioelektronische Meridianmessung, Ortho-Bionomy, Testung auf Lebensmittelunverträglichkeiten, VNS (vegetatives Nervensystem)-Analyse • Bioelektrische Funktionsdiagnostik, Pulsdiagnose, Segmentdiagnose, SpenglersanKolloid-Test • Bio-Impedanz-Analyse, Neuro-Balance-Profil, Test auf Nahrungsmittelunverträglichkeiten, VNS-Analyse
• Lymphozytentransformationstests, die insbesondere in der Borreliendiagnostik eingesetzt werden, um angeblich „chronische Borrelienbelastungen“, die sich dem Immunsystem durch „Einkapselungen“ entziehen würden, festzustellen. Auffallend ist, wie viele der angebotenen Tests von fragwürdiger Validität sind. Als einfacher Arzt mit sechs Jahren Studium kennt man sich da kaum aus, und ich würde bezweifeln, dass Heilpraktiker hier kompetenter sind.
12.2 Alternative Diagnostik Zudem werden von Heilpraktikern zahlreiche diagnostische Verfahren angewendet, die in der konventionellen Medizin weniger bekannt, gänzlich unbekannt oder obsolet sind (Tab. 12.1). Konsumenten werden dabei mit hoch wissenschaftlich erscheinenden Texten verwirrt, die dem Laien den Anschein geben, als handle es sich hier um valide Diagnostik. Hier nur eines von vielen Beispielen3: „Die biophysikalische Medizin arbeitet mit elektromagnetischen Wellen (= Schwingungen = Frequenzen) und mit Partikeln (= Quanten = Photonen), also mit beiden Erscheinungsformen von Energie. Werden die körpereigenen Frequenzstrukturen durch körperinterne oder körperexterne Quellen gestört, 3 Diagnostik – Praxis für Naturheilkunde & Hypnose in Passau und München (heilpraktiker-scherer. com)
12 Diagnostische Verfahren der Heilpraktiker 109
so tritt, wenn die körpereigene Regulation die Störungen nicht ausgleichen kann, Krankheit auf. Umgekehrt kann die Zufuhr „passender“ Wellen die Störungen beseitigen und Heilung bewirken. Mit dem Global Diagnostics wurde ein einzigartiges physikalisches Mess-, Analyse- und Behandlungssystem geschaffen, das den bioenergetischen Status physiologischer und pathologischer Körperfunktionen und -strukturen messen, auswerten, bildgebend darstellen und auf der Basis der ausgewerteten Daten den Patienten sofort mit automatisch errechneten Programmen behandeln kann (= Vitalfeldtherapie). Vor allem bei chronischen Krankheiten ist es in meiner Heilpraktikerpraxis bei der Diagnose eine unersetzbare Hilfe, weil es nicht nur einen Überblick über die körperlichen Zusammenhänge einer Krankheit verschafft, sondern auch Blockaden, Belastungen mit Toxinen (z. B. Schwermetallbelastungen, Viren, Parasiten), Mikronährstoffmängel, Unverträglichkeiten, Störfelder (z. B. Zahnherde), Immunstatus, vegetative Adaptionsfähigkeit, Zellzustand, Energiestatus und Regulationsfähigkeit des Körpers anzeigt.“
Den allermeisten Konsumenten (und vielen Heilpraktikern) fehlt die Sachkenntnis, um zu erkennen, dass sich hinter diesem pseudowissenschaftlichen Jargon wenig mehr als leere Worthülsen und Unsinn verbergen. Im Folgenden seien einige der diagnostischen Methoden kurz aufgeführt, die bei Heilpraktikern besonders beliebt sind (zur Bioresonanz wird im Kap. 13 noch etwas ausführlicher Stellung genommen).
12.2.1 Angewandte Kinesiologie Die angewandte Kinesiologie wurde 1964 von George J. Goodheart, Jr. (1918–2008), einem US-amerikanischen Chiropraktiker, entwickelt. Die Methode soll angeblich subtile Signale über manuelle Muskeltests erfassen, die das energetische Gleichgewicht des Körpers widerspiegeln. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass man durch die manuelle Beurteilung der betreffenden Muskelgruppe eine Antwort auf die Frage erhalten kann, ob ein bestimmtes Mittel, z. B. ein Homöopathikum, für den betreffenden Patienten indiziert ist. Diese Annahmen sind jedoch nicht plausibel. Die einzige systematische Übersichtsarbeit zur angewandten Kinesiologie umfasst 22 Originalstudien und kam zu dem Schluss, dass „es keine ausreichende Evidenz gibt für die diagnostische Zuverlässigkeit der Kinesiologie“.4 4 Hall,
S., Lewith, G., Brien, S., & Little, P. (2008). A review of the literature in applied and specialised kinesiology. Forschende Komplementarmedizin (2006), 15(1), 40–46.
110 E. Ernst
12.2.2 Antlitzdiagnose Bei der Antlitzdiagnose werden Körpersignale beurteilt, die angeblich auf Krankheiten und Organschwächen hindeuten. Schüßler und seine Anhänger setzten die Antlitzdiagnose für die Auswahl der optimalen Schüßler-Salze (Kap. 14) ein. Bei dem Verfahren geht es vermeintlich darum, Mineralstoffmangel im Körper festzustellen. Wenn ein Heilpraktiker anhand der Antlitzzeichen erkannt hat, welche Mangelzustände vorliegen, werden die entsprechenden Schüßler-Salze ausgewählt, die Heilung angeblich versprechen. Der Methode mangelt es an Plausibilität. Da sie niemals wissenschaftlich überprüft wurde, kann sie nicht als valides diagnostisches Verfahren eingestuft werden.
12.2.3 Irisdiagnostik Die Irisdiagnostik wurde Ende des 19. Jahrhunderts von einem ungarischen Homöopathen erfunden. Sie beruht auf der Annahme, dass Pigmentierungen an bestimmten Stellen der Regenbogenhaut (Iris) Hinweise auf die Gesundheit innerer Organe geben. Verfechter dieses Verfahrens glauben, dass die Iris ein „Spiegel unseres Körpers“ ist. Diese Annahmen stehen nicht im Einklang mit unseren Kenntnissen bezüglich Anatomie oder Physiologie und sind daher nicht plausibel. Mehrere Studien haben die Validität der Iridologie getestet und eine systematische Durchsicht dieser Daten kam zu dem Schluss, dass „die Gültigkeit der Irisdiagnostik nicht durch wissenschaftliche Studien gestützt wird. Patienten und Therapeuten sollte von der Anwendung dieser Methode abgeraten werden“.5
12.2.4 Dunkelfeldmikroskopie Bei dieser Technik wird ein Blutstropfen unter einem Dunkelfeldmikroskop betrachtet. Der Patient kann so seine Blutzellen vergrößert auf einem Bildschirm sehen und erhält alle möglichen Erklärungen für die dort beobachteten Phänomene. Manche Laien beeindruckt dies. Heilpraktiker verwenden die Methode zur Diagnose einer Vielzahl von Erkrankungen. Die Methode basiert auf der Annahme, dass die sichtbaren Phänomene
5 Ernst
E. (1999). Iridology: A systematic review. Forschende Komplementarmedizin, 6(1), 7–9.
12 Diagnostische Verfahren der Heilpraktiker 111
von frischem Blut (z. B. Erythrozytenaggregation) spezifische Hinweise auf bestimmte Krankheiten liefern. Diese Annahme ist nicht plausibel. Die Ergebnisse der beiden einzigen Studien deuten darauf hin, dass die Methode nicht zuverlässig ist..6,7
12.2.5 Pulsdiagnose Die Pulsdiagnose ist ein Verfahren der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), um die Ursache einer Krankheit durch das Fühlen des Pulses eines Patienten zu erkennen. Konventionelle Ärzte fühlen den Puls, um die Regelmäßigkeit und Frequenz des Herzschlags zu überprüfen. Heilpraktiker, die TCM-Diagnostik betreiben, wollen dagegen andere Qualitäten des Pulses spüren und glauben, dass sie Informationen über den Gesundheitszustand eines Patienten liefern. Die Methode ist jedoch nicht plausibel. In einer Studie wurde die Zuverlässigkeit der Pulsdiagnose getestet, indem mehrere erfahrene Kliniker die gleichen Patienten diagnostizieren ließen und ihre Ergebnisse verglichen wurden. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass „die Interobserver-Reliabilität bei der Erstellung einer Pulsdiagnose bei Schlaganfallpatienten nicht besonders hoch ist, wenn sie objektiv quantifiziert wird. Es sind zusätzliche Forschungsarbeiten erforderlich, um diesen Mangel an Zuverlässigkeit für verschiedene Teile der Pulsdiagnose zu verringern.“8
12.2.6 Vega-Test Der Vega-Test ist mit der Bioresonanz eng verwandt (Kap. 14). Ursprünglich wurde er als Hilfe bei der Verschreibung homöopathischer Mittel entwickelt. Er basiert auf der Annahme, dass Änderungen der elektrischen
6 El-Safadi,
S., Tinneberg, H. R., von Georgi, R., Münstedt, K., & Brück, F. (2005). Erlaubt die Dunkelfeldmikroskopie nach Enderlein die Diagnose von Krebs? Eine prospektive Studie [Does dark field microscopy according to Enderlein allow for cancer diagnosis? A prospective study]. Forschende Komplementarmedizin und klassische Naturheilkunde = Research in complementary and natural classical medicine, 12(3), 148–151. 7 Teut, M., Lüdtke, R., & Warning, A. (2006). Reliability of Enderlein’s darkfield analysis of live blood. Alternative therapies in health and medicine, 12(4), 36–41. 8 Ko, M. M., Park, T. Y., Lee, J. A., Choi, T. Y., Kang, B. K., & Lee, M. S. (2013). Interobserver reliability of pulse diagnosis using Traditional Korean Medicine for stroke patients. Journal of alternative and complementary medicine (New York, N.Y.), 19(1), 29–34.
112 E. Ernst
Impedanz der Haut an Akupunkturpunkten als Reaktion auf Substanzen auftreten, die in einen elektrischen Stromkreislauf eingebracht werden. Die derzeit einzige belastbare Studie zum Vega-Test kam zu dem Schluss, dass er „nicht zur Diagnose von Umweltallergien verwendet werden kann“.9 Mehrere medizinische Gremien raten daher von der Verwendung des VegaTests ab.
12.2.7 Zungendiagnose Die Zungendiagnose ist ebenfalls ein Verfahren der TCM. Sie unterscheidet sich grundlegend von den diagnostischen Hinweisen, die konventionelle Ärzte durch die Untersuchung der Zunge ihrer Patienten erhalten. Heilpraktiker, die TCM-Diagnostik betreiben, inspizieren die Zunge der Patienten, um Eigenschaften wie Farbe, Beschichtung, Form, Vorhandensein oder Fehlen von Rissen zu beurteilen. Sie verwenden auch Karten, auf denen bestimmte Bereiche der Zunge spezifischen Organen des Körpers zugeordnet sind. Aus diesen Informationen meinen sie, diagnostische Hinweise ableiten zu können. Die Annahmen, die der Zungendiagnose zugrunde liegen, widersprechen unserem derzeitigen Wissen über Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie usw. Mit anderen Worten, sie sind nicht plausibel. Es gibt keine belastbare Evidenz dafür, dass die Zungendiagnose eine Krankheit zuverlässig identifizieren kann.10,11,12 Insgesamt ergibt sich also zu den alternativen Diagnoseverfahren der Heilpraktiker ein sehr enttäuschendes Bild. Keines davon ist valide, was heißt, dass diese Methoden zwangsläufig zu falsch-positiven oder falsch-negativen Diagnosen führen. Bei einer falsch-positiven Diagnose stellt ein Heilpraktiker eine Krankheit fest, die der Patient in Wirklichkeit gar nicht hat (siehe unter 12.1). Das führt dann zu unnützen, teuren und vielleicht sogar
9 Lewith, G. T., Kenyon, J. N., Broomfield, J., Prescott, P., Goddard, J., & Holgate, S. T. (2001). Is electrodermal testing as effective as skin prick tests for diagnosing allergies? A double blind, randomised block design study. BMJ (Clinical research ed.), 322(7279), 131–134. 10 Liu, Q., Yue, X. Q., & Ling, C. Q. (2003). Zhong xi yi jie he xue bao = Journal of Chinese integrative medicine, 1(1), 66–70. 11 Yue, X. Q., & Liu, Q. (2004). Zhong xi yi jie he xue bao = Journal of Chinese integrative medicine, 2(5), 326–329. 12 Wei, B. G., Shen, L. S., Wang, Y. Q., Wang, Y. G., Wang, A. M., & Zhao, Z. X. (2002). Zhongguo yi liao qi xie za zhi = Chinese journal of medical instrumentation, 26(3), 164–169.
12 Diagnostische Verfahren der Heilpraktiker 113
nebenwirkungsbelasteten Behandlungen. Eine falsch-negative Diagnose bedeutet, dass der Heilpraktiker dem Patienten mitteilt, er sei gesund, wenn er in Wirklichkeit an einer unerkannten Krankheit leidet. Das kann natürlich sehr ernste Folgen haben; im schlimmsten Fall kostet das dem Patienten sein Leben.
13 Therapeutische Verfahren der Heilpraktiker
Zusammenfassung In diesem Kapitel werden die alternativen Behandlungsweisen erörtert, die von Heilpraktikern bevorzugt werden. Dabei wird besonderer Wert auf die Evidenz zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der einzelnen Therapieformen gelegt. Schließlich wird versucht, eine Beurteilung der jeweiligen Nutzen-Risiko-Bilanz abzugeben. Schlüsselwörter Therapie · Pseudowissenschaft · Wissenschaft · Evidenz Wirksamkeitsnachweis
·
Wie bereits mehrmals betont, reichen die Befugnisse der Heilpraktiker (trotz fehlender Kompetenz) nahezu so weit wie die von approbierten Ärzten. Das heißt u. a., dass sie viele Behandlungsweisen der konventionellen Medizin verwenden können. Ausnahmen sind vor allem verschreibungspflichtige Medikamente (Kap. 11). Der Schwerpunkt der Heilpraktiker liegt jedoch ganz sicher nicht bei konventionellen Behandlungsweisen, sondern bei den Verfahren der Alternativmedizin. Hiervon gibt es eine fast unüberschaubare Menge, und für den Laien ist es oft unmöglich, hier die Spreu vom Weizen zu trennen (Tab. 13.1). Angaben darüber, welche dieser Therapieformen am meisten eingesetzt werden, variieren stark. Die Präferenzen hängen von individuellen Vorlieben und von Zeitströmungen ab, man denke nur an die zahlreichen Ernährungsformen, die zur Gewichtsreduktion angepriesen werden (Tab. 13.2). Eine Onlineumfrage des Heilpraktikerverbands aus dem Jahr © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_13
115
116 E. Ernst Tab. 13.1 Einige Kennzeichen dubioser Behandlungsweisen Das sicherste Merkmal für eine fragwürdige Therapie ist das Fehlen eines Wirksamkeitsnachweises, was jedoch für den Laien oft nicht einfach zu erkennen ist. In solchen Fällen können einige weitere Warnsignale hilfreich sein • Die Therapie geht auf einen einzelnen „Erfinder“ zurück, der wie ein Guru verehrt wird; z. B. Bach (Bach-Blütentherapie), Hahnemann (Homöopathie), Kneipp (Kneipp-Therapie), Huneke (Neuraltherapie), Palmer (Chirotherapie), Still (Osteopathie) • Die Behandlung wird von Heilpraktikern als ein Allheilmittel empfohlen, das gegen fast alle Leiden wirksam sein soll • Die Therapie soll ihr Leiden an der Wurzel packen • Die Therapie wird von VIPs beworben, in der Presse angepriesen und über Bücher oder das Internet vermarktet, aber es finden sich kaum Studien in der medizinischen Fachliteratur • Falls klinische Studien existieren, sind sie fadenscheinig, werden aber dennoch von den Befürwortern als solide Evidenz hingestellt • Die Therapie ist zwar nicht wissenschaftlich belegt, wird aber durch lange Erfahrung und zahlreiche Fallberichte gestützt • Die Therapie wirkt angeblich vermittels einer der folgenden Mechanismen: Detox, Immunstimulierung, Quantenmechanik, Energietransfer • Die Befürworter der Methode verwenden eine wissenschaftlich klingende Terminologie, während sie gleichzeitig eine zutiefst antiwissenschaftliche Haltung an den Tag legen • Die Werbung bedient sich verschiedener Verschwörungstheorien, z. B. der Vorstellung, dass die etablierte Medizin die Methode unterdrückt, weil sie Angst hat vor einer derart wirksamen Konkurrenz
2017 benennt die 10 zu diesem Zeitpunkt beliebtesten Behandlungsweisen der Heilpraktiker1: • Akupunktur • Entgiften/Entschlacken • Homöopathie • Schmerztherapie • Allergiebehandlung • Schröpfen • Gesundheits- und Präventionsberatung • Injektionstechniken • Ausleitungsverfahren • Ernährungstherapie
1 Microsoft
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13 Therapeutische Verfahren der Heilpraktiker 117 Tab. 13.2 Beispiele von Diäten, die zum Abnehmen empfohlen werden • Apfelessig-Diät • Atkins-Diät • Ayurveda-Diät • Brigitte-Diät • Fasten • Fatburner-Diät • Formula-Diäten • Hollywood-Diät • Ideal-Diät • Intermittierendes Fasten • Kartoffel-Diät • Kohlsuppen-Diät • Low-Fat-Diät • Makrobiotic • Markert-Diät • Max-Planck-Diät • Mayo-Diät • Mayr-Kur • Mentales Schlankheitstraining • Mittelmeer-Diät • Montignac-Methode • One-Day-Diät • Optifast 52 • Paleo-Diät • Pritkin-Diät • Rohkost-Diät • Schalttage • Schroth-Kur • South-Beach-Diät • Susan-Powter-Diät • Trennkost • Weight Watchers
Im Folgenden seien einige Methoden angesprochen, die weitgehend unabhängig von Modeströmungen im therapeutischen Repertoire der meisten Heilpraktiker zu finden sind. Ich beziehe mich dabei wo immer möglich auf die jeweils methodisch besten klinischen Studien (Tab. 13.3). Bei der jeweils abschließenden Beurteilung der Nutzen-Risiko-Bilanz ist zu beachten, dass diese selbst bei harmlosen Behandlungsformen natürlich nicht positiv ausfallen kann, wenn die Wirksamkeit der betreffenden Therapie nicht belegt ist.
118 E. Ernst Tab. 13.3 Einige wichtige Kennzeichen verlässlicher klinischer Studien • Der Autor kommt aus einer angesehenen Institution • Der Artikel wurde in einer angesehenen Zeitschrift veröffentlicht • Es wurde eine klare Forschungsfrage formuliert • Vollständige Beschreibung der verwendeten Methoden, sodass ein unabhängiger Forscher die Studie wiederholen könnte • Randomisierung der Studienteilnehmer in Versuchs- und Kontrollgruppen • Verwendung eines Placebos in der Kontrollgruppe, falls möglich • Verblindung der Patienten, falls möglich • Verblindung der Prüfer, einschließlich der Kliniker, die die Behandlungen durchführen • Klare Definition eines primären Endpunkts • Ausreichend große Stichprobengröße • Angemessene statistische Analysen • Klare Darstellung der Daten, sodass sie von unabhängiger Seite überprüfbar ist • Diskussion, die die Studie in den Kontext aller wichtigen früheren Arbeiten auf diesem Gebiet stellt • Selbstkritische Analyse des Studiendesigns, der Durchführung und der Interpretation der Ergebnisse • Vorsichtige Schlussfolgerungen, die sich streng an den vorgelegten Daten orientieren • Offenlegung von Genehmigungen einer Ethikkommission und des „informed consent“, • Vollständige Offenlegung der Finanzierung der Studie • Vollständige Offenlegung von Interessenkonflikten der Autoren • Aktuelles Literaturverzeichnis, das auch Studien enthält, die den Ergebnissen der Autoren widersprechen
13.1 Akupunktur Es existieren zahlreiche unterschiedliche Varianten der Akupunktur. Die gebräuchlichste Methode ist die Nadelung von Akupunkturpunkten. Die Stimulation von diesen Arealen soll aber auch mittels Wärme, elektrischen Strömen, Ultraschall, Druck, Bienenstichen, Injektionen, Laser, Farbe, etc. möglich sein. Ferner gibt es die Körperakupunktur, die Ohrakupunktur, Zungenakupunktur, etc. Heilpraktiker, die Traditionelle chinesische Akupunktur betreiben, stützen ihre Praxis auf die taoistische Philosophie des Gleichgewichts zwischen zwei Lebenskräften, Yin und Yang. Im Gegensatz dazu fußt die „westliche“ Akupunktur auf neurophysiologischen Grundlagen. Gemäß der traditionellen Auffassung ist die Akupunktur bei praktisch allen Krankheiten der Menschheit nützlich. Nach Ansicht „westlicher“ Akupunkteure ist sie dagegen vor allem bei chronischen Schmerzen wirksam.
13 Therapeutische Verfahren der Heilpraktiker 119
Die meisten klinischen Studien zur Akupunktur stammen aus China und mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass nahezu 100 % davon positiv sind.2 Das bedeutet, dass die Validität dieser Studien infrage gestellt werden muss. Eine kritische Prüfung der Evidenz kommt zu dem Schluss, dass nur sehr wenige Indikationen der Akupunktur tatsächlich gut belegt sind. Nach den Kriterien der Cochrane Collaboration sind dies sogar nur zwei:3 • Prävention des Spannungskopfschmerzes • Prävention der Migräne. Die Akupunktur wird oft als risikofrei hingestellt. Leichte Nebenwirkungen der Akupunktur treten jedoch bei etwa 10 % aller Patienten auf. Auch schwerwiegende Komplikationen sind bekannt: Akupunkturnadeln können z. B. lebenswichtige Organe wie die Lunge oder das Herz verletzen und sie können Infektionen in den Körper einbringen, z. B. Hepatitis. Etwa 100 Todesfälle sind nach Akupunktur dokumentiert.4 Ob die Nutzen-RisikoBilanz der Akupunktur positiv ausfällt, ist derzeit noch unklar.
13.2 Aromatherapie Bei der Aromatherapie werden in der Regel verdünnte ätherische Öle vermittels einer sanften Massage auf die Körperoberfläche appliziert. Die entspannende Wirkung der Aromatherapie geht wohl auf die Massage zurück und hat nur wenig mit einer spezifischen Wirkung der verwendeten ätherischen Öle zu tun. Eine Zusammenfassung der klinischen Studien zur Aromatherapie ergab, dass „die Effekte der Aromatherapie wahrscheinlich nicht ausreichen, um für die Behandlung von Angstzuständen in Frage zu kommen. Die Hypothese, dass sie bei anderen Indikation wirksam ist, wird durch die Ergebnisse belastbarer klinischer Studien nicht gestützt“.5 Die Aromatherapie wird oft als nebenwirkungsfrei hingestellt, diese Annahme ist jedoch nicht ganz richtig. Eine Zusammenfassung der zur Verfügung stehenden Daten kam zu dem Schluss, dass „die Aromatherapie das 2 Tang,
J. L., Zhan, S. Y., & Ernst, E. (1999). Review of randomised controlled trials of traditional Chinese medicine. BMJ (Clinical research ed.), 319(7203), 160–161. 3 Acupuncture: an update of the most reliable evidence – PART 3 (edzardernst.com) 4 Ernst E. (2006). Acupuncture–a critical analysis. Journal of internal medicine, 259(2), 125–137. 5 Cooke, B., & Ernst, E. (2000). Aromatherapy: a systematic review. The British journal of general practice: the journal of the Royal College of General Practitioners, 50(455), 493–496.
120 E. Ernst
Potenzial hat, unerwünschte Wirkungen zu verursachen, von denen einige schwerwiegend sind. Ihre Häufigkeit ist nicht bekannt.“6 Die NutzenRisiko-Bilanz der Aromatherapie fällt somit nicht positiv aus.
13.3 Bach-Blütentherapie Die Bach-Blütentherapie ist in vielerlei Hinsicht mit der Homöopathie (siehe Abschn. 13.10) verwandt. Bach-Blüten werden hergestellt, indem frisch gepflückte Blumen oder andere Pflanzenteile in Wasser gelegt werden, das anschließend mit Alkohol gemischt, mit Wasser verduennt, abgefüllt und verkauft wird. Ebenso wie Homöopathika enthalten sie keine therapeutischen Konzentrationen von aktiven Inhaltsstoffen. Dr. Edward Bach entwickelte 38 verschiedene Blütenmittel, von denen jedes einem emotionalen Zustand entsprechen soll, den er für die Ursache aller Krankheiten hielt. Das beliebte „Rescue Remedy“ ist ein Kombinationspräparat aus fünf verschiedenen Bach-Blüten, das vor allem gegen Stress und verwandte Zustände empfohlen wird. Eine Zusammenfassung aller sieben Studien zur Bach-Blütentherapie kam zu dem Schluss, dass „die zuverlässigsten klinischen Studien keine Unterschiede zwischen Blütenmitteln und Placebos zeigen“.7 Die Kosten einer Langzeittherapie sind erheblich. Die Nutzen-Risiko-Bilanz der Bach-Blütentherapie kann somit nicht positiv ausfallen.
13.4 Bioresonanz Die Bioresonanz basiert auf der Vorstellung, dass man mit elektromagnetischen Wellen Krankheiten diagnostizieren und auf zellulärer Ebene beeinflussen kann. Bioresonanzgeräte bestehen im Wesentlichen aus einem elektronischen Schaltkreis, der die Leitfähigkeit der Haut misst. Der Annahme, dass mittels Bioresonanz eine Reihe von Krankheiten einschließlich Allergien, Magen-Darm-Erkrankungen und Suchtkrankheiten
6 Posadzki, P., Alotaibi, A., & Ernst, E. (2012). Adverse effects of aromatherapy: a systematic review of case reports and case series. The International journal of risk & safety in medicine, 24(3), 147–161. 7 Ernst E. (2010). Bach flower remedies: a systematic review of randomised clinical trials. Swiss medical weekly, 140, w13079.
13 Therapeutische Verfahren der Heilpraktiker 121
diagnostizierbar und heilbar ist, fehlt jede Plausibilität. Die diagnostische Zuverlässigkeit sowie die therapeutische Wirksamkeit der Bioresonanz sind nicht erwiesen.8,9 Die Nutzen-Risiko-Bilanz kann somit nicht positiv ausfallen.
13.5 Chiropraktik Die Chiropraktik wurde von Daniel David Palmer (1845–1913) entdeckt, der behauptete, dass 95 % der Krankheiten auf Subluxationen von Wirbelsäulengelenken zurückzuführen seien. Subluxationen wurden somit zum Eckpfeiler der chiropraktischen „Philosophie“ (Kap. 13). Doch Subluxationen, wie sie von Chiropraktikern verstanden werden, gibt es gar nicht.10 Dennoch diagnostizieren Chiropraktiker bei fast 100 % aller Menschen Subluxationen – selbst bei Personen, die völlig symptomfrei sind – und nahezu alle Patienten, die einen chiropraktisch arbeitenden Heilpraktiker aufsuchen, erhalten Wirbelsäulenmanipulationen. Die Evidenz, dass chiropraktische Wirbelsäulenmanipulationen über Placebo hinaus wirksam sind, ist für Wirbelsäulenprobleme wie Rückenund Nackenschmerzen schwach und für alle anderen Erkrankungen negativ.11 Wirbelsäulenmanipulationen verursachen bei etwa 50 % aller Patienten leichte bis mäßige Nebenwirkungen, z. B. Schmerzen. Darüber hinaus sind auch schwerwiegende Komplikationen bekannt, die z. B. zu einem Schlaganfall und sogar zum Tod führen können. Angesichts des beträchtlichen Schadenspotenzials ist die Nutzen-Risiko-Bilanz der Chiropraktik negativ.12
8 Kleine-Tebbe,
J., & Herold, D. A. (2010). Ungeeignete Testverfahren in der Allergologie [Inappropriate test methods in allergy]. Der Hautarzt; Zeitschrift fur Dermatologie, Venerologie, und verwandte Gebiete, 61(11), 961–966. 9 Schöni, M. H., Nikolaizik, W. H., & Schöni-Affolter, F. (1997). Efficacy trial of bioresonance in children with atopic dermatitis. International archives of allergy and immunology, 112(3), 238–246. 10 Mirtz, T. A., Morgan, L., Wyatt, L. H., & Greene, L. (2009). An epidemiological examination of the subluxation construct using Hill’s criteria of causation. Chiropractic & osteopathy, 17, 13. 11 Ernst E. (2008). Chiropractic: a critical evaluation. Journal of pain and symptom management, 35(5), 544–562. 12 Chiropractic: Not All That It’s Cracked Up to Be: Amazon.co.uk: Ernst, Edzard: 9.783.030.531.171: Books
122 E. Ernst
13.6 Eigenbluttherapie Die Eigenbluttherapie (EBT) ist die Behandlung eines Patienten mit seinem eigenem Blut. Bei der EBT wird eine kleine Menge Blut aus einer Vene entnommen und anschließend intramuskulär injiziert. Heilpraktiker verwenden die EBT oft zur Behandlung einer Vielzahl von Erkrankungen. Die Methode soll u. a. die Infektionsresistenz durch eine Stimulation der zellvermittelten Immunabwehr erhöhen. Es gibt kaum Studien zur EBT. Erste Hinweise existieren, dass EBT bei Ekzemen und verwandten Erkrankungen wirksam sein könnte.13,14 Die Nutzen-Risiko-Bilanz der EBT ist somit derzeit noch ungewiss.
13.7 Entschlackung/Detox Der Glaube, dass unser Körper voller Giftstoffe sei, die unsere Gesundheit bedrohen, ist bei Heilpraktikern extrem weit verbreitet. Diese Giftstoffe stammen angeblich aus dem körpereigenen Stoffwechsel, aus der Umwelt, aus Medikamenten oder aus unserer Nahrung. Heilpraktiker nehmen an, dass diverse alternative Behandlungsweisen dem Körper helfen, diese Giftstoffe zu eliminieren und so die Gesundheit wieder herzustellen. Die Natur der fraglichen Toxine wird dabei fast nie benannt und es ist daher nicht leicht festzustellen, ob die jeweiligen entschlackenden Maßnahmen erfolgreich sind. Die Annahme, dass sich einige Giftstoffe in unserem Körper anhäufen können, ist natürlich richtig. Allerdings wird dieses Phänomen von Heilpraktikern meist grenzenlos übertrieben. Die Behauptung, dass die zur Entschlackung eingesetzten Behandlungsweisen Giftstoffe aus unserem Körper beseitigen ist dagegen nicht belegt. Unser Körper verfügt über potente Mechanismen, um dies aus eigener Kraft zu erreichen, und es gibt keine belastbare Evidenz dafür, dass alternative Behandlungen diese Prozesse
13 Asefi, M., & Augustin, M. (1999). Regulationstherapie: Behandlung mit unspezifischen Reizen in der Dermatologie aus traditioneller und moderner Sicht [Regulative therapy: treatment with nonspecific stimulants in dermatology in traditional and modern perspectives]. Forschende Komplementarmedizin, 6 Suppl 2, 9–13. 14 Pittler, M. H., Armstrong, N. C., Cox, A., Collier, P. M., Hart, A., & Ernst, E. (2003). Randomized, double-blind, placebo-controlled trial of autologous blood therapy for atopic dermatitis. The British journal of dermatology, 148(2), 307–313.
13 Therapeutische Verfahren der Heilpraktiker 123
unterstützen. Eine Analyse kam zu dem Schluss, dass „die Förderung alternativer Detox-Behandlungen Therapeuten ein Einkommen verschaffen kann, aber das Potenzial hat, Patienten und Verbrauchern Schaden zuzufügen“.15 Die Nutzen-Risiko-Bilanz von Detox ist somit negativ.
13.8 Energetisches Heilung Energetisches Heilen ist ein Überbegriff für eine Reihe von paranormalen Verfahren, die auf der Annahme beruhen, dass eine mystische „Energie“ existiert, die zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden kann. Beispiele sind Fernheilung, Gesundbeten, Quantenheilung, Reiki und Therapeutic Touch. Die dabei postulierte „Energie“ ist nicht messbar und unterscheidet sich somit grundlegend von dem in der Physik verstandenen Energiebegriff. Sie bezieht sich auf eine Art Lebenskraft wie z. B. Chi in der traditionellen chinesischen Medizin oder Prana in der ayurvedischen Medizin. Methodisch belastbare Studien zeigen nicht, dass die Verfahren über einen PlaceboEffekt hinaus wirksam sind.16 Ihre Nutzen-Risiko-Bilanz fällt somit nicht positiv aus.
13.9 Entspannungstherapien Entspannungstherapie ist ein Überbegriff für Behandlungen, die überwiegend auf einer Entspannungsreaktion des vegetativen Nervensystems beruhen. Herbert Benson postulierte, dass „viele psychiatrische und somatische stressbedingte Erkrankungen nur manifeste Variationen einer neurologischen Überempfindlichkeit und daraus resultierender pathogener Erregung sind. Stressbedingte Erkrankungen werden daher als Störungen der Erregung betrachtet. Aus dieser Neuformulierung … geht eine neurologische Begründung für die klinische Anwendung der ‚Entspannungsreaktion‘ bei der Behandlung von stressbedingten Erkrankungen hervor“.17
15 Ernst
E. (2012). Alternative detox. British medical bulletin, 101, 33–38. E. (2003). Distant healing–an „update“ of a systematic review. Wiener klinische Wochenschrift, 115(7–8), 241–245. 17 Everly, G. S., Jr, & Benson, H. (1989). Disorders of arousal and the relaxation response: speculations on the nature and treatment of stress-related diseases. International journal of psychosomatics: official publication of the International Psychosomatics Institute, 36(1–4), 15–21. 16 Ernst
124 E. Ernst
Zu den messbaren Auswirkungen einer Entspannungsreaktion auf den Körper gehören z. B. die Abnahme von Herzfrequenz, Sauerstoffverbrauch, Atemfrequenz und Hirnwellenaktivität. Entspannungstherapien werden als begleitende Behandlung von Schmerzen, Angstzuständen und verwandten Störungen empfohlen. Die Wirksamkeit von Entspannung ist belegt und Nebenwirkungen sind kaum zu erwarten. Somit ist die Nutzen-Risiko-Bilanz von Entspannungstherapien positiv.
13.10 Homöopathie Die Homöopathie geht auf den deutschen Arzt Samuel Hahnemann (1755– 1843) zurück. Die konventionellen Behandlungen zu seiner Zeit waren oft gefährlicher als die Krankheit, die sie heilen sollten. Folglich erwies sich die nebenwirkungsarme Homöopathie gegenüber der konventionellen Medizin als überlegen und Hahnemanns Erfindung war ein rascher, weltweiter Erfolg.18 Homöopathika können auf Pflanzen, aber auch jedem anderen Material basieren. Sie sind in der Regel so hoch verdünnt, dass sie kein einziges Molekül der auf der Flasche beworbenen Substanz enthalten. Die am häufigsten verwendete Verdünnung (Homöopathen nennen sie „Potenzen“) ist eine „C30“; eine C30-Potenz wurde 30 Mal im Verhältnis 1:100 verdünnt. Das bedeutet, dass ein Tropfen des Ausgangsmaterials in 1.000.000 .000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000. 000.000.000.000 Tropfen Verdünnungsmittel (normalerweise ein WasserAlkohol-Gemisch) aufgelöst wird – und das entspricht weniger als einem Molekül der Ausgangssubstanz auf alle Moleküle des Universums. Homöopathen behaupten, dass ihre Heilmittel vermittels einer „Energie“ oder „Lebenskraft“ wirken und dass der Prozess der Herstellung der homöopathischen Verdünnungen (bei jedem Verdünnungsschritt werden die Mischungen kräftig geschüttelt) diese „Energie“ von der einen zur nächsten Verdünnung überträgt. Sie glauben ferner, dass der Prozess des Verdünnens und Schüttelns, den sie als Potenzierung bezeichnen, das Homöopathikum nicht weniger wirksam, sondern potenter macht. Homöopathische Heilmittel werden meist nach dem Ähnlichkeitsprinzip verschrieben: Wenn ein Patient beispielsweise unter tränenden Augen leidet, kann ein Homöopath
18 https://www.hive.co.uk/Product/Professor-Edzard-Ernst/Homeopathy---The-Undiluted-Facts--
Including-A-Comprehensive-A-Z-Lexicon/19719982
13 Therapeutische Verfahren der Heilpraktiker 125
ein Mittel aus Zwiebeln verschreiben, weil Zwiebeln unsere Augen tränen lassen. Die Annahmen der Homöopathie widersprechen den bekannten Naturgesetzen und sind somit nicht plausibel. Heute existieren über 600 klinische Studien zur Homöopathie. Die Gesamtheit der belastbaren Untersuchungen zeigt nicht, dass homöopathische Mittel mehr als Placebos sind.19 Dennoch geht es zweifellos vielen Patienten nach der Einnahme homöopathischer Mittel besser. Dieser Effekt beruht jedoch nicht auf dem Homöopathikum, sondern ist das Ergebnis einer einfühlsamen, mitfühlenden HeilpraktikerPatienten-Beziehung, eines Placebo-Effekts und anderer Faktoren, die oft als „Kontexteffekte“ bezeichnet werden.20 Die Nutzen-Risiko-Bilanz der Homöopathie fällt somit nicht positiv aus.
13.11 Nahrungsergänzungsmittel Nahrungsergänzungsmittel können diverse Inhaltsstoffe enthalten, z. B. Mineralien, Vitamine, Pflanzen oder Tierprodukte. Die Heilsversprechen, die für sie aufgestellt werden, reichen je nach Inhaltsstoff von der Gewichtsabnahme bis zur Verjüngung und von der Behebung einer erektilen Dysfunktion bis zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.21 Nahrungsergänzungsmittel werden als natürlich und nebenwirkungsfrei beworben, was jedoch oft nicht zutrifft. Beispiele für einige der derzeit beliebtesten Nahrungsergänzungsmittel sind: • Kalzium • Echinacea • Fischöl • Ginseng • Glucosamin • Chondroitin
19 Ernst E. (2002). A systematic review of systematic reviews of homeopathy. British journal of clinical pharmacology, 54(6), 577–582. https://doi.org/10.1046/j.1365-2125. 20 Brien, S., Lachance, L., Prescott, P., McDermott, C., & Lewith, G. (2011). Homeopathy has clinical benefits in rheumatoid arthritis patients that are attributable to the consultation process but not the homeopathic remedy: a randomized controlled clinical trial. Rheumatology (Oxford, England), 50(6), 1070–1082. 21 Cohen, P. A., & Ernst, E. (2010). Safety of herbal supplements: a guide for cardiologists. Cardiovascular therapeutics, 28(4), 246–253.
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• Knoblauch • Vitamin D • Johanniskraut • Sägepalme • Ginkgo • Grüner Tee Einige Nahrungsergänzungsmittel sind zweifellos wirksam. Ein Beispiel ist das Johanniskraut, ein Phytotherapeutikum, das nachweislich gegen Depressionen hilft.22 Bei vielen anderen Nahrungsergänzungsmitteln fehlen jedoch belastbare Wirksamkeitsnachweise. Eine allgemeingültige Aussage über die NutzenRisiko-Bilanz von Nahrungsergänzungsmitteln ist daher nicht möglich.
13.12 Neuraltherapie Die Neuraltherapie wurde 1925 von den Gebrüdern Huneke erfunden. Sie glaubten, entdeckt zu haben, dass die subkutane Injektion eines Lokalanästhetikums in sogenannte Störfelder zu einer sofortigen Gesundung führt. Solche Störfelder können angeblich in Narben, Zähnen, inneren Organen oder an anderen Stellen gefunden werden (Kap. 13).23 Die Ursachen sind angeblich vielfältig: • Infektionen, • emotionales Trauma, • jede Art von Operation, Unfälle, • tiefe Wunden, • Biopsien, • Entbindungen, • zahnärztliche Eingriffe, • Impfungen, • Verbrennungen, • Tätowierungen, • Etc.
22 Linde,
K., Berner, M. M., & Kriston, L. (2008). St John’s wort for major depression. The Cochrane database of systematic reviews, 2008(4), CD000448. 23 http://www.neuraltherapybook.com/NTdefined.php
13 Therapeutische Verfahren der Heilpraktiker 127
Eine einzige Injektion soll die Störung inaktivieren und damit eine sofortige Wirkung auf ein entferntes Organ haben, was Huneke als „Sekundenphänomen“ bezeichnete. Es gibt nur wenige Studien zur Neuraltherapie. Eine Zusammenfassung der verfügbaren Evidenz zeigt, dass sowohl die Plausibilität wie auch die Wirksamkeit der Methode fraglich sind.24 Die Risiken der Neuraltherapie inkludieren eine Punktion lebenswichtiger Organe, Infektionen und allergischer Reaktionen auf das Lokalanästhetikum. Die Nutzen-RisikoBilanz der Neuraltherapie ist somit nicht positiv.
13.13 Orthomolekulare Medizin Die Orthomolekulare Medizin besteht aus einer hochdosierten Vitamintherapie, die von Linus Pauling (1901–1994) propagiert wurde.25 Im Jahr 1968 veröffentlichte Pauling einen Artikel, in dem er postulierte, dass „die Funktion des Gehirns durch die molekularen Konzentrationen vieler Substanzen, die normalerweise im Gehirn vorhanden sind, beeinflusst wird. Die für eine Person optimale Konzentration dieser Substanzen kann sich stark von den Konzentrationen unterscheiden, die durch die normale Ernährung und die genetische Maschinerie des Menschen bereitgestellt werden. Biochemische und genetische Argumente stützen die Hypothese, dass die orthomolekulare Therapie, die Bereitstellung der optimalen Konzentrationen wichtiger normaler Bestandteile des Gehirns für den einzelnen Menschen, die bevorzugte Behandlung für viele psychisch kranke Patienten sein könnte.“26 Die heutigen Vertreter der orthomolekularen Medizin gehen davon aus, dass ein optimales Ernährungsumfeld im Körper eine Voraussetzung für gute Gesundheit ist und dass die meisten Krankheiten auf Ernährungsmängeln beruhen. Die optimale Behandlung soll demnach aus der Korrektur von Ungleichgewichten oder Mängeln durch den Einsatz hoher Dosen von
24 Ernst,
E., & Fialka, V. (1994). Die Neuraltherapie im Licht neuerer Daten [Neural therapy in the light of recent data]. Fortschritte der Medizin, 112(31), 433–434. 25 Weiss K. J. (2017). Linus Pauling, Ph.D. (1901–1994): From Chemical Bond to Civilization. The American journal of psychiatry, 174(6), 518–519. 26 Pauling L. (1968). Orthomolecular psychiatry. Varying the concentrations of substances normally present in the human body may control mental disease. Science (New York, N.Y.), 160(3825), 265–271.
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Vitaminen, Mineralien, Aminosäuren, Spurenelementen und Fettsäuren bestehen. Diese Annahmen sind jedoch wenig plausibel und es existieren keine überzeugenden Belege dafür, dass die orthomolekulare Medizin wirksam ist. Ihre Nutzen-Risiko-Bilanz ist somit nicht positiv.
13.14 Osteopathie Die Osteopathie ist eine Form der manuellen Therapie, die vor über 120 Jahren von dem Amerikaner Andrew Taylor Still erfunden wurde. Sie gleicht in einigen Aspekten der Chiropraktik (siehe Abschn. 13.5). Ein wichtiger Unterschied besteht allerdings darin, dass Heilpraktiker, die Osteopathie anbieten, weniger häufig jene Techniken verwenden, die mit schwerwiegenden Nebenwirkungen verbunden sind (Kap. 15). Die Annahmen, die der Osteopathie zugrunde liegen, sind aber dennoch nicht plausibel. Für Rückenschmerzen ist die Evidenz ermutigend, aber letztlich nicht schlüssig positiv.27 Eine Zusammenfassung der Datenlage ergab, dass keine überzeugenden Belege für die Wirksamkeit der Osteopathie als Behandlung von Schmerzen des Bewegungsapparats vorliegen.28 Für andere Leiden ist die Evidenz sogar noch weniger überzeugend. Eine weitere Übersicht kam zu dem Schluss, dass die Wirksamkeit der Osteopathie bei pädiatrischen Erkrankungen aufgrund der geringen methodischen Qualität der Primärstudien nicht belegt ist.29 Auch wenn die Nebenwirkungen nach Osteopathie seltener sind als bei chiropraktischen Behandlungen, wurden schwere Komplikationen berichtet. Kontraindikationen betreffen in erster Linie Erkrankungen, die das Blutungsrisiko erhöhen oder die Knochen-, Sehnen-, Band- oder Gelenkintegrität
27 Licciardone, J. C., Brimhall, A. K., & King, L. N. (2005). Osteopathic manipulative treatment for low back pain: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. BMC musculoskeletal disorders, 6, 43. 28 Posadzki, P., & Ernst, E. (2011). Osteopathy for musculoskeletal pain patients: a systematic review of randomized controlled trials. Clinical rheumatology, 30(2), 285–291. 29 Posadzki, P., Kyaw, B. M., Dziedzic, A., & Ernst, E. (2022). Osteopathic Manipulative Treatment for Pediatric Conditions: An Update of Systematic Review and Meta-Analysis. Journal of clinical medicine, 11(15), 4455.
13 Therapeutische Verfahren der Heilpraktiker 129
beeinträchtigen.30 Angesichts dieser Datenlage kann die Nutzen-RisikoBilanz nicht positiv ausfallen.
13.15 Pflanzenheilkunde Bei der Pflanzenheilkunde ist es sinnvoll, zwischen einer rationalen Phytotherapie und der traditionellen Kräutermedizin zu unterscheiden. Rationale Phytotherapie bezeichnet die Anwendung eines pflanzlichen Heilmittels für einen bestimmten Zustand, z. B. Johanniskraut bei Depressionen (siehe Abschn. 13.11). Sie ist somit der konventionellen Pharmakotherapie ähnlich. Viele unserer modernen Medikamente wurden ursprünglich aus Pflanzen gewonnen. Solche Medikamente (z. B. Aspirin, Taxol, Morphin) enthalten einen einzigen, gut definierten, umfassend erforschten Wirkstoff. Phytotherapeutika basieren dagegen auf ganzen Pflanzenteilen und enthalten in der Regel eine Vielzahl pharmakologisch aktiver Inhaltsstoffe. Es kann daher schwierig oder sogar unmöglich sein, zu definieren, welcher Bestandteil für welche pharmakologische Aktivität verantwortlich ist. Bei der traditionellen Kräutermedizin individualisiert der Heilpraktiker ein buntes Gemisch aus mehreren Pflanzen gemäß der individuellen Charakteristika des einzelnen Patienten. Wenn er beispielsweise an Depressionen leidet, so verschreibt der Heilpraktiker eine Mischung aus mehreren Heilkräutern, und dieses Gemisch enthält vielleicht nicht einmal das Johanniskraut, das einzige Phytotherapeutikum, das bei dieser Indikation ausreichen belegt ist. Der weltweit größte Anteil der Pflanzenheilkunde gehört in diese Kategorie, z. B. Ayurvedische Medizin, Chinesische Pflanzenheilkunde, Kampo-Medizin, Tibetanische Pflanzenheilkunde. Oft wird behautet, dass sich die individualisierte Kräutermedizin nicht in klinischen Studien überprüfen ließe; diese Annahme ist jedoch falsch. Eine Übersicht zu den vorhandenen Studien zeigte allerdings, dass die Wirksamkeit dieser Variante der Pflanzenheilkunde nicht nachgewiesen ist.31
30 Jonas C. (2018). Musculoskeletal Therapies: Osteopathic Manipulative Treatment. FP essentials, 470, 11–15. 31 Guo, R., Canter, P. H., & Ernst, E. (2007). A systematic review of randomised clinical trials of individualised herbal medicine in any indication. Postgraduate medical journal, 83(984), 633–637.
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Die weit verbreitete Vorstellung, dass pflanzliche Heilmittel natürlich und daher nebenwirkungsfrei seien, ist leider nicht zutreffend. Da Pflanzen pharmakologisch aktive Inhaltsstoffe enthalten, können sie sowohl wirksam wie auch schädlich sein. Pflanzliche Arzneimittel können beispielsweise Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten eingehen. Zum Beispiel interagiert Johanniskraut (eines der am besten untersuchten pflanzlichen Mittel in dieser Hinsicht) mit etwa der Hälfte aller Medikamente. Es gibt Tausende von verschiedenen pflanzlichen Heilmitteln; Verallgemeinerungen sind daher problematisch. Einige sind gut erforscht, andere nicht; einige sind wirksam, andere nicht; einige sind gefährlich, andere nicht.32 Während die Nutzen-Risiko-Bilanz der rationalen Phytotherapie somit in Einzelfällen positiv ausfällt, ist das bei der traditionellen Kräuterheilkunde nicht der Fall.
13.16 Reflexzonenmassage Die Reflexzonentherapie ist eine manuelle Technik, bei der Druck auf die Fußsohle des Patienten ausgeübt wird. Sie soll ihre Wurzeln in alten Kulturen haben. Ihre heutige Popularität geht auf den US-amerikanischen Arzt William Fitzgerald zurück, der Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt haben will, dass der menschliche Körper in 10 Zonen unterteilt ist, von denen jede auf der Fußsohle dargestellt wird.33 Heilpraktiker orientieren sich an Karten der Fußsohle, auf denen alle Organe des Körpers dargestellt sind. Durch das Massieren bestimmter Areale, von denen angenommen wird, dass sie spezifische Organe repräsentieren, glauben Heilpraktiker, die Funktion dieser Organe positiv beeinflussen zu können. Diese Annahmen widersprechen jedoch unseren derzeitigen Kenntnissen über Anatomie und Physiologie und sind somit nicht plausibel. Die Reflexzonenmassage wurde bei verschiedenen Erkrankungen klinisch erprobt, darunter Diabetes, prämenstruelles Syndrom, Krebs, Multiple Sklerose und Demenz. Die meisten dieser Studien sind jedoch von schlechter Qualität. Eine systematische Übersicht kam zu dem Schluss, dass „die Evidenz nicht überzeugend zeigt, dass die Reflexologie eine wirksame
32 Ernst E. (2005). The efficacy of herbal medicine–an overview. Fundamental & clinical pharmacology, 19(4), 405–409. 33 http://www.reflexologyinstitute.com/reflex_fitzgerald.php
13 Therapeutische Verfahren der Heilpraktiker 131
Behandlung für irgendeine Krankheit ist“.34 Die Nutzen-Risiko-Bilanz ist daher nicht positiv.
13.17 Schröpfen Das Schröpfen ist eine Therapie, die es bereits in mehreren alten Kulturen gab. Sie wurde vor kurzem populär, als US-Olympioniken Schröpfmarken auf ihren Körpern zeigten und behauptet wurde, dass Schröpfen die körperliche Leistungsfähigkeit verbessert. Es gibt zwei verschiedene Formen: unblutiges und blutiges Schröpfen. Beim blutigen Schröpfen wird die Haut mit einem scharfen Instrument verletzt und dann eine Schröpfglocke mit Unterdruck angelegt, um Blut aus der Wunde zu saugen. Es kann somit als eine Form des Aderlasses angesehen werden. Beim unblutigen Schröpfen entfällt die Verletzung der Haut und es wird lediglich ein Saugnapf über die unverletzte Haut gelegt. Das Vakuum erzeugt dann ein subkutanes Hämatom, das die typischen kreisrunden Blutergüsse hinterlässt, die mehrere Tage lang sichtbar bleiben. Während das unblutige Schröpfen praktisch risikofrei ist, kann das blutige Schröpfen zu Infektionen und dauerhaften Narbenbildungen führen. Es existieren inzwischen zahlreiche klinische Studien zum Schröpfen. Ihre methodische Qualität ist meist mangelhaft und in der Gesamtschau zeigen sie nicht, dass das Verfahren bei irgend einem Leiden effektiv ist.35 Die Nutzen-Risiko-Bilanz ist somit nicht positiv.
13.18 Traditionelle Chinesische Medizin Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) ist der Oberbegriff für die im alten China historisch verwendeten Modalitäten. Er ist ein Konstrukt von Mao Zedong, der diese Methoden in einen Topf warf und den „Barfußdoktor“ schuf, und so die TCM in ganz China verbreitete – nicht
34 Ernst, E., Posadzki, P., & Lee, M. S. (2011). Reflexology: an update of a systematic review of randomised clinical trials. Maturitas, 68(2), 116–120. 35 Lee, M. S., Kim, J. I., & Ernst, E. (2011). Is cupping an effective treatment? An overview of systematic reviews. Journal of acupuncture and meridian studies, 4(1), 1–4.
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etwa, weil er an ihren Nutzen glaubte, sondern weil Ärzte fehlten und so zumindest ein Anschein von Gesundheitsfürsorge entstand. Die TCM umfasst viele therapeutische und einige diagnostische Modalitäten, z. B.: • Akupunktur (siehe Abschn. 13.1) • Gua sha36 • Pflanzenheilkunde (siehe Abschn. 13.1) • Pulsdiagnose (Kap. 13) • Qigong35 • Shiatsu35 • Tai Chi 35 • Zungendiagnose (Kap. 13) • Tui Na35 Die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der TCM kann somit nicht verallgemeinernd bewertet werden, jede Methode bedarf ihrer spezifischen Evaluation. Zusammenfassend muss bemerkt werden, dass eine Analyse der therapeutischen Verfahren, die Heilpraktiker gerne anwenden, zu ernüchternden Ergebnissen kommt. Die große Mehrzahl dieser Methoden ist nicht evidenzbasiert. Das bedeutet letztlich, dass Patienten, die einen Heilpraktiker konsultieren, meist nicht mit der jeweils wirksamsten Behandlung ihres Leidens versorgt werden.
36 Alternative Medicine: A Critical Assessment of 202 Modalities (Copernicus Books): Amazon.co.uk: Ernst, Edzard: 9.783.031.107.092: Books
14 Sektorale Heilpraktiker
Zusammenfassung In diesem Kapitel werden die heute existierenden sektoralen Heilpraktiker, also Heilpraktiker in einem spezifischen Indikationsbereich, angesprochen. Der Weg zum sektoralen Heilpraktiker steht vor allem solchen Personen offen, die auf dem entsprechenden Gebiet bereits eine Ausbildung absolviert haben. Ihre Tätigkeit ist auf das jeweilige Fachgebiet beschränkt. Die Lizenz zum sektoralen Heilpraktiker kann für den Therapeuten erhebliche finanzielle Vorteile bringen. Schlüsselwörter Gesetz · Psychotherapie · Physiotherapie · Podologie Logopädie · Tierheilkunde
·
Das Bundesverwaltungsgericht entschied 1993, dass es unter bestimmten Voraussetzungen gestattet ist, eine auf das Gebiet der heilkundlichen Psychotherapie beschränkte Erlaubnis zu erhalten. Im Jahr 2009 wurde dann für Heilpraktiker die Zulassung der auf die Physiotherapie beschränkten Heilerlaubnis eingeführt. In einigen Bundesländern gibt es zusätzlich noch die Möglichkeit, die Heilerlaubnis für die Ausübung der Podologie, also die medizinische Fußpflege, zu erlangen. Ferner ist 2019 per Gerichtsbeschluss noch der Heilpraktiker für Logopädie hinzugekommen. Somit gibt es heute vier offiziell anerkannte Heilpraktikerberufe mit einer sogenannten „sektoralen“ Heilerlaubnis: • Heilpraktiker auf dem Gebiet der Psychotherapie • Heilpraktiker auf dem Gebiet der Physiotherapie © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_14
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• Heilpraktiker auf dem Gebiet der Podologie • Heilpraktiker auf dem Gebiet der Logopädie
14.1 Heilpraktiker auf dem Gebiet der Psychotherapie Ein Heilpraktiker auf dem Gebiet der Psychotherapie ist lediglich befugt, seelisch-emotionale Probleme und Störungen zu behandeln. Hierzu kann er nicht verschreibungspflichtige Medikamente bzw. Nahrungsergänzungsstoffe oder Homöopathika, aber alle psychotherapeutischen Verfahren einsetzen. Um eine Berufserlaubnis zu erhalten muss ein Anwärter die üblichen Bedingungen für Heilpraktiker erfüllen (Kap. 4). Die amtsärztliche Prüfung für diesen sogenannten „kleinen Heilpraktiker“ ist sogar noch einfacher als die für den normalen Heilpraktiker (Kap. 5), denn sie konzentriert sich nur auf psychotherapeutische Grundkenntnisse. Erfahrungen mit psychotherapeutischen Behandlungsweisen werden nicht vorausgesetzt. Die Leistungen werden nicht mit den gesetzlichen, jedoch von manchen privaten Krankenkassen übernommen. Die meisten Heilpraktiker für Psychotherapie setzen bizarre Behandlungsformen ein, die weit davon entfernt sind, evidenzbasiert zu sein. Hier nur zwei Beispiele1: • Neurogenes Zittern nach David Berceli. Ich habe den Zertifizierungsprozess abgeschlossen und darf nun als TRE®-Provider tätig sein. Die Übungen können zunächst durchgeführt werden, um Körperspannungen abzubauen. Mit dem Zittern wird spürbar, dass wir mit dem Körper auf eine ganz neue Weise ins Gespräch kommen können. Dieser natürliche Prozess wird auch in der Psychotherapie genutzt, um über das Nervensystem Blockaden und traumabedingte Schutzmechanismen abzubauen. • Quantenresonanzmagnetanalyse. Psychische Themen stehen auch oft im Zusammenhang mit körperlichen Situationen. Mit der QuantenResonanz-Magnet-Analyse kann diese Situation bildlich verdeutlicht werden. Für die Anwendung des Geräts habe ich mich mit einer Schulung
1 Stephan Löbbert Heilpraktiker für Psychotherapie | Heilpraktiker für Psychotherapie, Stephan Löbbert, Dippoldiswalde (heilpraktiker-fuer-psychotherapie.net)
14 Sektorale Heilpraktiker 135
bei der VDM-Academy GmbH, 6044 Udligenswil, Schweiz, qualifiziert. Die Analyse stellt keine körperliche Befunderhebung dar, sondern gibt Hinweise, wie gesundheitliche Themen miteinander im Zusammenhang stehen. Während echte Psychotherapeuten gehalten sind, nur anerkannte Verfahren einzusetzen, koennen Heilpraktiker für Psychotherapie auch Methoden in Diagnostik und Therapie verwenden, die dieses Kriterium nicht erfüllen.2 In Deutschland dürfen derzeit drei nicht approbierte Berufsgruppen psychotherapeutisch behandeln und in ihrer Berufsbezeichnung, z. B. auf dem Praxisschild, das Wort „Psychotherapie“ benutzen: • Diplom-Psychologen mit Heilkundeerlaubnis • Heilpraktiker auf dem Gebiet der Psychotherapie • Heilpraktiker (Kap. 11) Um die Verwirrung komplett zu machen, kann die Berufsbezeichnung eines Heilpraktikers auf dem Gebiet der Psychotherapie wir folgt lauten: • • • • • • • •
Heilpraktiker für Psychotherapie Heilpraktiker für Psychotherapie nach dem Heilpraktikergesetz Heilpraktiker, begrenzt auf das Gebiet der Psychotherapie Heilpraktiker für den Bereich Psychotherapie Psychotherapeutischer Heilpraktiker Heilpraktiker Psychotherapie Kleiner Heilpraktiker Psychotherapeutischer Heilpraktiker
In Anbetracht der Tatsache, dass bereits die Ausbildung zum normalen Heilpraktiker unzulänglich ist, erscheint die zum Heilpraktiker für Psychotherapie erst recht inadäquat. Wenn man bedenkt, dass viele psychische Leiden wegen der Suizidgefahr lebensgefährdend sind, so ist aus meiner Sicht die Einführung des Heilpraktiker auf dem Gebiet der Psychotherapie unverständlich und unverantwortlich.
2 Unheilpraktiker:
Wie Heilpraktiker mit unserer Gesundheit spielen eBook: Mueller, Anousch: Amazon.de: Kindle Store
136 E. Ernst
14.2 Heilpraktiker auf dem Gebiet der Physiotherapie Der Heilpraktiker für Physiotherapie ist ausschließlich Personen vorbehalten, die im Besitz einer Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung Physiotherapeut sind. Sie müssen sich auf physiotherapeutische Methoden beschränken und sind nicht berechtigt, Osteopathie, Homöopathie, Akupunktur oder andere naturheilkundliche Verfahren einzusetzen. Um die Erlaubnis zu erhalten muss ein Anwärter die üblichen Bedingungen für Heilpraktiker erfüllen (Kap. 4). Die amtsärztliche Prüfung ist entsprechend einfacher, denn sie konzentriert sich auf physiotherapeutische Grundkenntnisse. Ein Betroffener fasst die Vorteile für den Heilpraktiker für Physiotherapie wie folgt zusammen3: „Normalerweise ist der erste Gang des Patienten zum Arzt, der dann ein Rezept für den Physiotherapeuten ausstellt. Durch die Zusatzqualifikation des sektoralen Heilpraktikers (Physiotherapie) wird die Krankheitsdiagnose vom Physiotherapeuten vorgenommen. Diagnose, Rezept und Therapie finden also unter einem Dach statt. So spart man sich den Weg zum Arzt und Sie kommen bei akuten Beschwerden direkt in die Physiotherapie Praxis. Ist die Befundlage unklar, wird der Patient natürlich trotzdem zu einem Facharzt weiter geleitet, um das Krankheitsbild weiter abzuklären.” Im Klartext: Der Heilpraktiker für Physiotherapie ist ein Physiotherapeut, der den Umweg über den Arzt umgehen will. Er kann so erheblich mehr verdienen; allerdings wird die Therapie ohne Verordnung vom Arzt nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Zudem besteht natürlich die Gefahr, dass ernste Erkrankungen, die ein Arzt erkannt hätte, vom Heilpraktiker für Physiotherapie nicht oder nicht rechtzeitig diagnostiziert werden.
14.3 Heilpraktiker auf dem Gebiet der Podologie Der Heilpraktiker für Podologie, den es nur in einigen Bundesländern gibt, darf die Heilkunde lediglich beschränkt auf das Gebiet der Podologie ausüben. Er darf selbstständig und ohne Verordnung eines Arztes
3 Was
ist ein Sektoraler Heilpraktiker - (ativo-physiotherapie.de)
14 Sektorale Heilpraktiker 137
Erkrankungen der Füße diagnostizieren, auf dem Gebiet der Podologie behandeln und frei verkäufliche Medikamente zur Behandlung speziell dieser Erkrankungen rezeptieren, was einem herkömmlichen Podologen nicht erlaubt ist. Um die Erlaubnis zu erhalten, muss ein Anwärter die üblichen Bedingungen für Heilpraktiker erfüllen (Kap. 4). Die amtsärztliche Prüfung ist entsprechend einfacher, denn sie konzentriert sich auf podologische Grundkenntnisse. Erfahrungen mit podologischen Behandlungsweisen werden allerdings nicht vorausgesetzt.
14.4 Heilpraktiker auf dem Gebiet der Logopädie Seit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Oktober 2019 können ausgebildete Logopäden und gleichwertige Sprachtherapeuten die Erlaubnis zum sektoralen Heilpraktiker für Logopädie beantragen. Das Gericht hat entschieden, dass dieser Personenkreis eine Erlaubnis zur eigenverantwortlichen Ausübung der Heilkunde nach dem Heilpraktikergesetz begrenzt auf den Bereich der Logopädie erhalten kann. Für die Erlaubniserteilung muss der Antragsteller lediglich eine eingeschränkte Kenntnisüberprüfung bestehen.4 Heilpraktiker für Logopädie können eigene Diagnosen stellen und ohne eine ärztliche Überweisung Patienten behandeln. Es besteht zudem die Möglichkeit, die erbrachten Leistungen mit den privaten Kassen abzurechnen. Allerdings beschränkt sich die Tätigkeit auf den Bereich der Logopädie.5
14.5 Tierheilpraktiker Tierheilpraktiker behandeln Tiere mit alternativen Verfahren. Es handelt sich nicht um einen offiziell anerkannten Beruf. Es ist keine Erlaubnis, keine Ausbildung und keine Prüfung notwendig. Es existieren Ausbildungswege, diese sind jedoch nicht obligatorisch. Hier ein Beispiel eines Fernlehrgangs für Tierheilpraktiker6:
4 Logopäden
haben Anspruch auf sektoralen Heilpraktiker – openPR Logopädie Kurse, HP Logo Ausbildung, HP Logo Schulungsinhalte (eag-seminare.de) 6 Wir vermissen Sie! (laudius.de) 5 Heilpraktiker
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„Teilnahmevoraussetzungen Spezielle Vorkenntnisse sind nicht notwendig. Studienmaterial Sie erhalten 24 Lernhefte, umfangreiches Videomaterial, 9 Podcasts, nehmen an jeweils 4 Online-Seminaren & Präsenztagen teil und erhalten das Lehrbuch ‚Anatomie und Physiologie der Haustiere‘. Lehrgangsbeginn Jederzeit – 4 Wochen kostenlos testen Lehrgangsdauer 20 Monate Regelstudiendauer bei einer wöchentlichen Bearbeitungszeit von 8 Stunden. Wir bieten Ihnen jedoch die Möglichkeit, schneller oder langsamer vorzugehen. Die Regelstudienzeit kann bei langsamerem Vorgehen um 36 Monate kostenlos überschritten werden. Studienabschluss Laudius-Zeugnis (Tierheilpraktiker/-in) Erfolgreiche Bearbeitung Einsendeaufgaben, Modulabschlussprüfungen, Zwischenprüfungen, Teilnahme an den Online-Seminaren, Teilnahme an 2 Präsenztagen, mündliche Abschlussarbeit. Laudius-Zertifikat (gepr. Tierheilpraktiker/-in) Zusätzlich zu den Anforderungen für das Zeugnis die erfolgreiche Teilnahme am Praxisprüfungsteil, bestehend aus Facharbeit, mündliche Prüfung und Praxisprüfung. Mit sowohl Zeugnis als auch Zertifikat haben Sie die Möglichkeit eine berufliche Tätigkeit als Tierheilpraktiker/-in auszuüben, selbständig oder angestellt zu sein.“
Derzeit kann sich in Deutschland jeder – auch ohne jede Ausbildung oder Erfahrung – Tierheilpraktiker nennen und mit dieser Berufsbezeichnung als Gewerbetreibender tätig werden. In einigen Bundesländern bedarf es hierzu einer Anzeige beim zuständigen Veterinäramt und bei der Arzneimittelüberwachungsstelle. Die Zahl der in Deutschland tätigen Tierheilpraktiker soll nur knapp unterhalb der der Tierärzte liegen. Insgesamt ergibt sich also für die diversen sektoralen Heilpraktiker nicht gerade ein ermutigendes Bild. Das Ungleichgewicht zwischen medizinischer Kompetenz und gesetzmäßiger Befugnis ist beim normalen Heilpraktiker bereits unbestreitbar patientengefährdend. Bei den sektoralen Heilpraktikern erscheint es noch deutlich bedenklicher. Anders ausgedrückt, die Kompetenzüberschreitung im Heilpraktikerwesen ist beim sektoralen Heilpraktiker wohl am deutlichsten.
15 Gefahren durch Heilpraktiker
Zusammenfassung In diesem Kapitel wird auf die Risiken eingegangen, denen ein Patient sich aussetzt, wenn er sich in die Hände eines Heilpraktikers begibt. Dabei erscheint es sinnvoll zwischen direkten und indirekten Risiken zu unterscheiden. Sodann wird auf finanzielle Risiken hingewiesen und diskutiert, inwieweit Heilpraktiker das rationale Denken unterminieren mögen. Schließlich wird erörtert, warum es trotz allem relativ selten Beschwerden gegen Heilpraktiker gibt. Schlüsselwörter Risiko · Unbedenklichkeit · Kosten · Rationales Denken · Evidenzbasierte Medizin Die Risiken, die vom Heilpraktikerwesen ausgehen, sind äußerst vielfältig (Tab. 15.1). Einige der offensichtlichsten Gefahren seien hier kurz erörtert.
15.1 Direkte Gefahren In Kap. 13 haben wir bereits die Gefahren diskutiert, denen sich Patienten aussetzen, wenn ein Heilpraktiker seine diagnostischen Techniken verwendet. Da praktisch alle Methoden, die in diesem Kapitel genannt wurden, nicht valide sind, sind diese Gefahren sicher nicht unerheblich. Sie bestehen darin, dass entweder falsch-positive oder falsch-negative Diagnosen gestellt werden. Eine falsch-positive Diagnose bedeutet, dass dem Patienten mitgeteilt wird, er leide an einer Erkrankung, die er in Wirklichkeit gar nicht hat. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_15
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140 E. Ernst Tab. 15.1 Gefahren, die von Heilpraktikern ausgehen können 1. Direkte Risiken aufgrund unerwünschter Wirkungen der Therapie selbst, z. B. Toxizität eines pflanzlichen Mittels, Schlaganfall nach chiropraktischer Manipulation, Pneumothorax nach Akupunktur; 2. Direkte Risiken durch Interaktionen der alternativen Behandlung mit ärztlich verschriebenen Therapien 3. Direkte Risiken durch Kontamination alternativer Mittel mit toxischen Substanzen, z. B. Schwermetalle in Ayurvedischen Präparaten 4. Direkte Risiken durch die Anwendung falscher oder nicht valider Diagnoseverfahren 5. Direkte Risiken durch die Verwendung von Tieren gefährdeter Arten in der Traditionellen Chinesischen Medizin 6. Indirekte Risiken durch inkompetente Beratung, z. B. die Empfehlung, nicht zu impfen oder verschriebene Medikamente abzusetzen 7. Indirekte Risiken durch die Verwendung von alternativen Behandlungen anstelle einer wirksamen Therapie für ein ernstes Leiden 8. Medikalisierung trivialer Befindlichkeitsstörungen 9. Finanzieller Schaden aufgrund der Kosten alternativer Verfahren 10. Schaden durch die Unterminierung der evidenzbasierten Medizin 11. Schaden durch die Unterminierung des rationalen Denkens in der Gesellschaft im Allgemeinen 12. Schaden durch Behinderung des medizinischen Fortschritts und der Forschung
Neben der Sorge, die eine solche Nachricht zwangsläufig verursacht, sind in aller Regel auch erhebliche Kosten die Folge; denn der Heilpraktiker wird natürlich dazu raten, der von ihm gestellten Diagnose eine Behandlung folgen zu lassen. Meist bedeutet das dann eine längere Therapieserie, die nicht nur überflüssig, sondern auch teuer ist und vielleicht auch Nebenwirkungen verursacht. Eine falsch-negative Diagnose ist potenziell sogar noch gefährlicher. Sie bedeutet, dass die diagnostischen Verfahren dem Heilpraktiker anzeigen, dass keine Krankheit vorliegt, selbst wenn das in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Beispielsweise kann so einem Patienten mit Bauchschmerzen mitgeteilt werden, er sei völlig gesund. Monate später wird dann von einem Arzt ein Magengeschwür oder gar eine Krebserkrankung festgestellt. Die falschnegative Diagnose hat dem Patienten in einem solchen Fall also wertvolle Zeit gekostet. Im schlimmsten Fall führt das dazu, dass seine Erkrankung nun zu weit fortgeschritten ist, um noch heilbar zu sein. Im Kap. 14 haben wir die Gefahren aufgeführt, die mit den von Heilpraktikern bevorzugten Behandlungsweisen verbunden sind. Sie beinhalten z. B. folgende Nebenwirkungen: • Akupunktur: Verletzung lebenswichtiger Organe, Infektionen • Aromatherapie: allergische Reaktionen
15 Gefahren durch Heilpraktiker 141
• • • •
Chiropraktik: Schlaganfall, unter Umständen mit Todesfolge Neuraltherapie: allergische Reaktionen Phytotherapie: Leberschäden Schröpfen: Blutergüsse, Infektionen
15.2 Indirekte Gefahren Neben diesen direkten Gefahren existieren indirekte Risiken, die meines Erachtens von deutlich größerer Bedeutung sind. Sie beziehen sich nicht direkt auf die von dem Heilpraktiker eingesetzten Verfahren, sondern auf den Heilpraktiker selbst. Der Rat eines Heilpraktikers, der inkompetent ist oder seine Grenzen nicht kennt, kann lebensgefährlich sein. Hier sind die Möglichkeiten leider nahezu unerschöpflich; Gefahr ist im Verzug immer, wenn Heilpraktiker: • Patienten raten, ärztlich verschriebene Medikamente abzusetzen (z. B. weil sie nach Ansicht des Heilpraktikers Nebenwirkungen haben, nutzlos sind oder die Wirkung von Homöopathika behindern), • sich gegen Impfungen aussprechen, • ihre Methoden als wirksamer hinstellen als evidenzbasierte Verfahren der konventionellen Medizin, • unrealistische Heilsversprechen abgeben. In Zeiten der Pandemie hat das Thema Impfen natürlich einen ganz besonderen Stellenwert erhalten (Tab. 15.2). Anousch Mueller berichtet in ihrem Buch über eigene Erfahrungen in ihrer Rolle als Heilpraktikerschülerin zum Thema Impfen: „Ganz massiv wurde in den Seminaren Impfangst geschürt. Es wurde behauptet, Heilpraktiker verfügten über Wahrheiten, von denen die meisten Menschen die Augen verschlössen. Daher sei es auch Aufgabe von Heilpraktikern aufklärerisch tätig zu sein… Ich werde nie vergessen, wie die Dozentin im Seminar ‚Kinder in der Naturheilpraxis‘ die Stimme versagte, als sie anfing, über Impfungen zu sprechen. Das Thema empörte sie derart, dass ihr Luft und Worte wegblieben. Als sie sich wieder gefangen hatte, begann sie mit ihrer Triade. Es sei unbegreiflich, dass so kleine, reine Wesen mutwillig mit Krankheitserregern verseucht würden. Das erfülle den Tatbestand der Körperverletzung…“1 1 Unheilpraktiker:
Wie Heilpraktiker mit unserer Gesundheit spielen eBook: Mueller, Anousch: Amazon.de: Kindle Store
142 E. Ernst Tab. 15.2 Häufige Argumente, mit denen Heilpraktiker versuchen, ihre Patienten gegen das Impfen einzunehmen • Ich bin nicht gegen das Impfen, ich plädiere lediglich für ungefährliche Impfstoffe • Impfstoffe haben schlimme Nebenwirkungen • Impfstoffe sollten 100 % nebenwirkungsfrei sein • Es ist unbewiesen, dass dieser Impfstoff unbedenklich ist • Das Impfen hat Infektionskrankheiten nicht beseitigt • Impfstoffe sind nicht natürlich • Nur Sie sind der Experte für Ihr eigenes Kind • Galileo hat man zunächst auch nicht geglaubt • Die Wissenschaft hat sich schon so oft geirrt • So viele ungeimpfte Menschen können einfach nicht falsch liegen • Ärzte stecken in der Tasche der Pharmaindustrie • Schauen Sie sich nur die vielen Probleme an, die nach einer Impfung aufgetreten sind
Wer meint, dass so etwas eher eine Seltenheit darstellt, dem seien hier nur drei Zitate von Betroffenen aus der Fernsehsendung „Kontraste“2 in Erinnerung gebracht: • „Die Heilpraktikerin hat gesagt, es gibt nur dann einen Heilungserfolg, wenn ich die schulmedizinischen Medikamente absetze und ihre Alternativmedizin, Globulis, anwende.“ • „Am gesündesten für den Krebspatienten ist, er meidet den Schulmediziner.“ • „[Appendizitis] behandele ich homöopathisch. Überhaupt kein Problem. Am nächsten Tag geht der Patient arbeiten.“ Klaus Wischmann, Fachverband der Heilpraktiker Bremen, meinte in der o.g. Sendung dazu: „Wir haben faktisch keine Möglichkeit, Kollegen, die ihre Grenzen überschreiten, aus diesem Beruf zu entfernen. Die Mitgliedschaft in unseren Verbänden ist freiwillig, die Verbände haben die Form eines eingetragenen Vereines…“ Die meisten Heilpraktiker bestreiten jedoch, dass die Gefahr groß ist. Gerne ziehen sie zu ihrer Verteidigung den Umstand heran, dass die Versicherungsprämien für Heilpraktiker deutlich niedriger als die für Ärzte
2 Gefährliche
Heilpraktiker – Keine Kontrolle, keine Sanktionen | rbb (rbb-online.de)
15 Gefahren durch Heilpraktiker 143
sind: „Die Gefahrenlage ist definitiv sehr gering! Die Anzahl der Schadensfälle ist dermaßen minimal, dass ‚Die Continentale‘ nicht einmal einen eigenen Punkt in der Schadenstatistik für Heilpraktiker-Risiken vorsieht. Bei anderen Versicherern sieht es ähnlich aus. Weder bei manuellen Therapieverfahren wie Chiropraktik oder Osteopathie, noch bei invasiven wie Akupunktur oder Injektionen gibt es nennenswerte Schäden.”3 Ein Gutachten, das im Auftrag des ‚Beruf- und Fachverband Freie Heilpraktiker‘ 2020 erstellt wurde, scheint diese Situation zu bestätigen.4 Es impliziert, dass nur 0,3 % aller in Deutschland gemeldeten Behandlungsfehler zulasten der Heilpraktiker gehen. Die Gründe für die relative geringe Anzahl von registrierten Fällen eines Fehlverhaltens von Heilpraktikern sind jedoch eher komplex: • Dr. Jan Leidel, Leiter des Gesundheitsamts Köln, sagte in der o.g. Sendung dazu Folgendes: „Wir haben oftmals das Problem, dass Heilpraktiker die Behauptung ihrer Patienten abstreiten und das als Missverständnis herausstellen. Der Patient hat das nicht richtig verstanden, das stimmt gar nicht. Und dann wird es für uns schwierig, weil man natürlich auch hier im Zweifel für den Angeklagten entscheiden muss.“ • Die Medizinrechtlerin Maia Steinert meinte dazu: „Patienten schämen sich, wenn sie entdecken, dass sie betrogen wurden. Sie denken, sie seien selbst schuld. Oder sie sterben im Glauben, das Richtige getan zu haben.“5 • Hinzu kommt, dass ernsthaft Kranke meist zum Arzt und nicht zum Heilpraktiker gehen. Somit haben Heilpraktiker es häufig mit nicht schwer erkrankten Personen zu tun, bei denen dann natürlich auch seltener Probleme auftauchen. • Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass die von Heilpraktikern eingesetzten Verfahren im Vergleich zu denen der Ärzte natürlich eher harmlos (und unwirksam) sind.
3 Gefahren
durch Heilpraktiker – Praxis für ganzheitliche Medizin und Chiropraktik (timtheuerkorn. com) 4 *Stat. Gutachten zur Untersuchung von Behandlungsfehlern im Heilpraktikerberuf (freieheilpraktiker. com) 5 Heilpraktiker in Deutschland: So gefährlich sind sie – der große stern-Report | STERN.de
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15.3 Kosten Eine weitere Gefahr einer Behandlung durch Heilpraktiker sind natürlich die dadurch entstehenden Kosten. In dem Gebührenverzeichnis für Heilpraktiker von 19856 steht Folgendes zu lesen: „Nach § 611 BGB ist die Höhe der Vergütung der freien Vereinbarung zwischen Heilpraktiker und Patient überlassen. Wenn beim Zustandekommen des Behandlungsvertrages über eine Vergütung nicht gesprochen wurde, so gilt sie doch nach § 612 BGB als vereinbart. Ist in Ermangelung einer Taxe die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, so ist die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen (612, Abs. 2). Die Höhe der üblichen Vergütung resultiert aus der Bestimmung der Leistung nach billigem Ermessen (315 BGB). Die Gewährung der Vergütung ist nicht von einem Heilerfolg abhängig, es besteht jedoch für den Heilpraktiker die Verpflichtung zu einer gewissenhaften Behandlung unter Beachtung der Aufklärungs- und Sorgfaltspflicht. In einer unter den in der Bundesrepublik Deutschland niedergelassenen Heilpraktikern durchgeführten Umfrage wurde die Höhe des durchschnittlich festgestellten Honorarrahmens ermittelt. Die Auswertung der ermittelten Honorare fand ihren Niederschlag im Gebührenverzeichnis für Heilpraktiker (GebüH). Das GebüH ist also keine Gebührentaxe, sondern ein Verzeichnis der durchschnittlich üblichen Vergütungen, welches als Berechnungshilfe bei der Rechnungserstellung dient. Sofern die Höhe des Honorars vor der Behandlung nicht ausdrücklich vereinbart wurde, kann der Patient davon ausgehen, daß sie sich im Rahmen der im GebüH enthaltenen Beträge bewegt.“
Die in dem Gebührenverzeichnis aufgelisteten Tarife sind nicht unerheblich. Hier einige Beispiele: • • • • •
27.2 Skarifikation der Haut € 5,50 bis 10,50 27.3 Setzen von Schröpfköpfen, unblutig € 5,20 bis 8,00 27.4 Setzen von Schröpfköpfen, blutig € 10,50 bis 20,50 27.5 Schröpfkopfmassage einschließl. Gleitmittel € 5,20 bis 10,50 27.6 Anwendung großer Saugapparate für ganze Extremitäten € 10,50 bis 26,00 • 27.7 Setzen von Fontanellen € 5,20 bis 15,50 21 • 27.8 Setzen von Cantharidenblasen € 5,20 bis 10,50
6 Gebüh.pdf
(heilpraktiker-berufs-bund.de)
15 Gefahren durch Heilpraktiker 145
• • • •
27.9 Reinektion des Blaseninhalts € 5,20 bis 10,50 (aus Ziffer 27.8) 27.10 Anwendung von Pustulantien € 5,20 bis 10,50 27.11 Baunscheidtieren € 10,30 bis 20,50 27.12 Biersche Stauung € 5,20 bis 8,00
Da das Gebührenverzeichnis heute veraltet und sowieso nicht bindend ist, liegen die Rechnungen der Heilpraktiker heute deutlich höher. Wenn man dann noch bedenkt, dass keines der oben gelisteten Verfahren nachweislich wirksam ist, so kommt man zu dem Schluss, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis von Behandlungen durch Heilpraktiker nicht positiv ist und die Kosten eine unnütze Belastung für das Bankguthaben des Patienten darstellt.
15.4 Unterminierung des rationalen Denkens Die Gefahr, dass Heilpraktiker das rationale Denken unterminieren, ist kaum von der Hand zu weisen. Aus meiner Sicht ist sie bedeutsamer als alle o.g. Risiken, und daher möchte ich sie hier auch gesondert behandeln. Wann immer Heilpraktiker Vorstellungen propagieren, die mit der Realität nicht im Einklang sind, wird rationales Denken unterminiert. Hierfür existieren zahllose Belege und es wäre ein Leichtes, aus den vielen bizarren und allzu oft dilettantischen Texten von Heilpraktikern zu zitieren. Der Fairness halber sei jedoch die derzeit vielleicht etablierteste Heilpraktikerschule angeführt. Die Paracelsus Heilpraktikerschulen werben mit folgendem Statement: „Seit über 46 Jahren sind die Paracelsus Heilpraktikerschulen Europas Ausbildungsinstitut Nr. 1 für Heilpraktiker, Osteopathen, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologische Berater, Tierheilpraktiker sowie für die Bereiche Beauty und Wellness, alternative Heilverfahren und Prävention.“7 Selbst wenn man diese werbewirksame Selbstdarstellung vielleicht etwas relativieren muss, so steht doch fest, dass diese Schulen gut etabliert sind und somit wohl keine für Heilpraktiker unüblichen Ansichten vertreten. Daher ist es umso verblüffender, in der Institut-eigenen Zeitschrift Artikel zu finden, die jedem rationalen Denken zuwider laufen. Hier ist ein kurzer Auszug aus einem Artikel, der u. a. zur Funktion der Nieren Stellung nimmt8:
7 Paracelsus, 8 The
die Heilpraktikerschulen -Traumberuf wird Wirklichkeit Power of 3 in der Tierheilkunde – Ausgabe 3/2021 – Paracelsus Magazin
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„Das Gefühl, das zur Niere gehört, ist die Angst. Sie ist überlebenswichtig, wenn es um die Entscheidung geht, zu kämpfen oder zu flüchten. Gibt es jedoch keine Wahlmöglichkeit, schlägt sich das irgendwann in den Organen, u.a. im Urogenitaltrakt, nieder. Eine geschwächte Nieren-Energie liegt fast immer vor, wenn sich ein Lebewesen nie richtig von einer Krankheit erholen kann, wenn kein Raum für Regeneration bleibt.“
Ein weiterer Artikel beschäftigt sich mit Tiertelepathie9. Hier ein kurzer Auszug: „Der englische Biologe Dr. Rupert Sheldrake erklärt das Funktionieren von Telepathie mithilfe der morphogenetischen Felder. Hierbei handelt es sich um Kraftfelder, die alles miteinander verbinden. Die Quantenphysik geht heute davon aus, dass im morphogenetischen Bewusstseinsfeld, welches unseren Planeten umspannt, alle Gedanken und Emotionen elektromagnetische Schwingungen verursachen und somit dort gespeichert sind. Das bedeutet, dass all unsere Gedanken, Emotionen, Wünsche und Sehnsüchte im Raum schweben und jeder mit jedem in Verbindung treten kann. Das morphogenetische Feld entspricht am ehesten dem, was wir in der westlichen Tradition Seele nennen. Die Seele verbindet unsichtbar lebende Wesen miteinander, vergleichbar mit einem magnetischen Feld. Für die Verbindung von Mensch und Tier bedeutet das, auch wenn sie räumlich getrennt sind, bleiben sie in enger Verbindung, sodass das Tier, mitunter auch der Mensch, fühlen kann, wenn eine Veränderung beim anderen eintritt, er stirbt oder sich in Gefahr befindet.“
Im gleichen Heft finden wir auch einen Artikel zur elektro-magnetischen Interferenz (EMI)10. Hier wieder ein Auszug: Es wird immer wichtiger, Informationen über meine persönliche direkte Energie-Umwelt zu erhalten. Kenne ich das EMI-Potenzial meines Schlafortes, meines Wohnbereiches und meines Arbeitsplatzes, sind Rückschlüsse auf Stressmerkmale oder Krankheitssymptome möglich. Dies bedeutet, dass ich das physikalische Umfeld sowohl differenziert als auch komplex ermitteln muss. Das Aufspüren von Wasseradern oder Kreuzungspunkten reicht in der heutigen Zeit nicht mehr aus. Stromfelder und Funkstrahlung sind die ursächlichen Faktoren von EMI-Potenzialen. Der klassische Rutengänger ist hier überfordert.
9 Tiertelepathie 10 Wie
– Mit Tieren kommunizieren – Ausgabe 3/2010 – Paracelsus Magazin krank macht uns Elektrosmog? - Ausgabe 3/2010 – Paracelsus Magazin
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Dass mit derartigem Unsinn das rationale Denken untergraben wird ist wohl kaum zu bezweifeln. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den weisen Spruch von Voltaire: „Diejenigen, die dich dazu bringen können, Absurditäten zu glauben, können dich dazu bringen, Gräueltaten zu begehen.“
15.5 Beschwerden Die bei den Gesundheitsämtern von MedWatch abgefragte Anzahl der Beschwerden über Heilpraktiker bewegte sich deutschlandweit auf einem niedrigen Niveau. Bei den allermeisten Aufsichtsbehörden gingen in diesem Zeitraum gar keine Beschwerden ein. MedWatch bietet hierfür folgende Erklärungen an, die aus meiner Sicht durchaus zutreffen11: Ein Grund ist, dass Betroffene die eigene Krankheitsgeschichte und die enttäuschte Hoffnung auf Heilung verständlicherweise ungern Dritten offenbaren. Dies gilt erst recht, wenn sich diese Hoffnung im Nachhinein als blauäugig erweist. Wie Fachanwalt für Medizinrecht und Facharzt für Allgemeinmedizin Prof. Dr. Alexander Ehlers im Interview mit MedWatch zum Heilpraktikergutachten berichtete, gingen selbst geschädigte Patienten sehr oft nicht gegen Behandelnde vor, und zwar aus Angst vor dem Vorwurf: „Wie konnten Sie überhaupt glauben, dass so etwas zum Ziel führt?” … Die Aufklärung kann dort nicht funktionieren, wo Behandelnde zwischen der Gesundheit ihrer Patient:innen oder ihrer eigenen wirtschaftlichen Existenz abwägen. Dieses Dilemma lässt sich nur dort auflösen, wo wirksame Therapie und Einnahmequelle nicht auseinanderfallen. Dies wäre dann der Fall, wenn Heilpraktiker:innen entweder ausschließlich evidenzbasierte Methoden anwenden würden oder – im Falle nicht evidenzbasierter Methoden – ausgeschlossen wäre, dass Patient:innen unmittelbar (durch die Behandlung selbst) oder mittelbar (durch die Unterlassung wirksamer Methoden) zu Schaden kommen. Es dürfte niemand bezweifeln wollen, dass in Heilpraktikerpraxen aktuell nicht ausschließlich Evidenzmedizin zum Einsatz kommt. Wie es um die unmittelbaren und mittelbaren Gesundheitsgefahren der stattdessen durchgeführten Behandlungen steht, können wir dem hoffentlich bald durch das Bundesgesundheitsministerium veröffentlichten empirischen Gutachten entnehmen.
11 Heilpraktiker:
Wer seid ihr und wenn ja, wie viele? - MedWatch
16 Blick in die Zukunft
Die in diesem Buch angestellten Analysen des Berufstands des Heilpraktikers lassen kaum Zweifel darüber aufkommen, dass die heutige Situation nicht akzeptabel ist. • Niemand kann heute verlässliche Daten über die Zahl der Heilpraktiker in Deutschland liefern. • Die Ausbildung der Heilpraktiker ist hoffnungslos unzulänglich. • Die weitreichenden Befugnisse der Heilpraktiker stehen in keinem Verhältnis zu ihrer mangelnden Kompetenz. • Dieses Missverhältnis stellt eine ernste Gefahr für Patienten dar. • Diese Gefahr wird dadurch noch erhöht, dass eine effektive Kontrolle der Tätigkeit der Heilpraktiker nicht stattfindet. • Bestehende Gesetze, wie z. B. das Heilmittelwerbegesetz, werden auf Heilpraktiker fast nie angewendet. • Die meisten Heilpraktiker führen uns ungehindert mit unhaltbaren Heilsversprechen in die Irre. • Die Bundesregierung scheint ein über das andere Mal eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Heilpraktikerproblematik auf die lange Bank zu schieben. Die hauptsächliche Ursache für diese missliche Situation liegt im Heilpraktikergesetz begründet. Dass dieses Gesetz inadäquat ist, sollte niemanden verwundern. Schließlich war es niemals dazu gedacht, Jahrzehnte zu überdauern. Heute ist es ganz unbestreitbar obsolet. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2_16
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Im Jahr 2016 haben sich deshalb Experten aus diversen Fachbereichen im „Münsteraner Kreis“ zusammengefunden, um zu beraten, welche Möglichkeiten existieren, diesbezüglich Fortschritte zu machen. Es erscheint mir wichtig, zu betonen, dass der Kreis sich durchaus nicht nur aus Medizinern zusammensetzte; vertreten waren u. a. Ethiker, Philosophen, Wissenschaftler und Juristen. Nach reiflichen Überlegungen haben wir 2018 ein Memorandum zum Thema Heilpraktiker publiziert.1 Darin schlagen wir zwei Optionen vor, die die Lage verbessern könnten.
16.1 Abschaffungslösung Diese Option bestünde darin, den Beruf des Heilpraktikers gänzlich zu streichen. Als Vorbild könnte dabei die Neustrukturierung der bundesdeutschen Zahnheilkunde im Jahr 1952 dienen. Damals wurde der Beruf „Dentist” (Zahntechniker mit nicht akademischer Weiterbildung) zugunsten des akademisch ausgebildeten Zahnarztes abgeschafft. Eine Streichung des Heilpraktikerberufs hätte den Vorteil, die Qualitätslücke in der Parallelstruktur aus ärztlicher Gesundheitsversorgung einerseits und gefahrenabwehrkontrolliertem Heilpraktikerwesen andererseits zu schließen.
16.2 Kompetenzlösung Diese Option setzt an die Stelle des bisherigen Heilpraktikers den „FachHeilpraktiker“ mit wissenschaftsorientierter Ausbildung und staatlicher Prüfung. Staatlich anerkannter Fach-Heilpraktiker sollte nur werden können, wer bereits eine Ausbildung in einem der speziellen nicht akademischen Heilberufe absolviert hat. Das beträfe eine Reihe von Gesundheitsfachberufen, wie z. B. Ergotherapeuten, Gesundheits- und Krankenpfleger, Logopäden oder Physiotherapeuten. Personen mit solchen Ausbildungen sollten auf Fachhochschulniveau eine zusätzliche, fachspezifische Ausbildung erhalten können, die sie zum Fach-Heilpraktiker für ihren Bereich qualifiziert. Diese Ausbildung kann als einen ihrer Teilbereiche den wissenschaftlich fundierten Umgang mit alternativen Verfahren enthalten und zudem einen deutlichen Schwerpunkt auf Kommunikation und Empathie legen. Die Fähigkeit, diese Verfahren ebenso 1 Münsteraner Memorandum Heilpraktiker – Münsteraner-Kreis (muensteraner-kreis.de). Zugriff: Feb 2023
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kritisch wie jede wissenschaftsorientierte Methode zu reflektieren, sollte durch eine solide wissenschaftstheoretische Ausbildung gefördert werden. Somit würden Fach-Heilpraktiker fachspezifische Befugnisse erhalten, die über die jetzigen Befugnisse der jeweiligen Heilberufe hinausgehen, aber in ihrem fachlichen Zuständigkeitsbereich verblieben. Die zusätzlichen Qualifikationen und Befugnisse sollten sich in der jeweiligen Berufsbezeichnung niederschlagen. Unsere Vorschläge brachten sodann eine bundesweite Diskussion in Gang und man befasste sich nun auch auf politischer Ebene mit dem Heilpraktikerproblem. Die Gesundheitsminister aller Bundesländer beschlossen, eine Reform anzugehen. 2017 publizierte die Gesundheitsministerkonferenz (GMK) folgendes Statement: „Das unzureichend regulierte Heilpraktikerwesen mit seiner umfassenden Heilkundebefugnis steht unverändert in der Kritik. Das Heilpraktikergesetz kann dem heutigen Anspruch an den Gesundheitsschutz der Patienten nicht mehr gerecht werden. Für Heilpraktiker besteht weder eine verbindliche Ausbildung noch eine einheitliche Berufsordnung, während an andere Gesundheitsberufe hohe Qualifikationsanforderungen gestellt werden. Daher sieht die GMK hier eine zwingende Reformbedürftigkeit und bittet das BMG eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzurichten, die eine grundlegende Reform prüfen und erarbeiten soll.“2
Die Hamburger Senatorin für Gesundheit, Cornelia Prüfer-Storcks, die diese Initiative maßgeblich vorangetrieben hatte, meinte dazu: „Wir sehen es als kritisch an, dass einige Tätigkeiten zwar den Heilpraktikern untersagt sind, aber es noch eine Fülle von Tätigkeiten gibt, die zugelassen sind“.3 2021 wurde dann ein Rechtsgutachten angefertigt, das klären sollte, „ob und welchen rechtlichen Gestaltungsspielraum der Bundesgesetzgeber im Falle einer Reform des Heilpraktikerrechts hätte“.4 Es folgte im August 2021 eine Stellungnahme der Heilpraktikerverbände, aus der ich hier einige mir wichtig erscheinende Passagen zitiere: „Der im Gutachten verwendete Begriff ‚Alternativheilkunde‘ ist problematisch. Die von Heilpraktikern angebotenen Heilverfahren sind nicht dazu bestimmt,
2 91.
Gesundheitsministerkonferenz fordert stärkere Patientenorientierung in der Gesundheitsversorgung | Arbeit.Gesundheit.Soziales (mags.nrw) 3 Gesundheitsminister planen Heilpraktiker-Reform – MedWatch 4 Rechtsgutachten zum Heilpraktikerrecht – Bundesgesundheitsministerium
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die ärztliche Medizin zu ersetzen. Sie stellen keine ‚Alternative‘, sondern eine Ergänzung zur Schulmedizin dar. Der Begriff der ‚Alternative‘ ist vom Sinngehalt zunehmend negativ konnotiert. Es bedarf einer Diskussion, welche Begrifflichkeit zukünftig verwendet werden sollte. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Heilpraktiker über den Bereich der Naturheilkunde hinaus tätig werden. Ein Vorschlag könnte lauten: ‚Traditionelle und komplementäre Medizin‘. Ohne wissenschaftliche Evidenz der Heilverfahren ist die Normierung verbindlicher Prüfungsstandards für deren korrekte Ausführung problematisch. Fachliche Ausbildungsregelungen für den Heilpraktikerberuf, die sich an der grundsätzlich umfassenden Befugnis zur Vornahme medizinischer Handlungen orientieren würden, riefen die Gefahr hervor, den Heilpraktikerberuf in einen ‚Mini‘-Arzt zu transformieren. [Es ist] zu bedenken, ob nicht ein allzu restriktives und an der Schulmedizin ausgerichtetes Medizinrecht, das die komplementäre Heilkunde/ Alternativheilkunde oder Heilpraktiker ausschließen würde, gesellschaftlich unbeabsichtigte Reaktionen auslösen könnte. … das aktuelle Rechtsgutachten [kommt] zu dem Schluss, dass eine Abschaffung des Heilpraktikerberufs verfassungsrechtlich nicht möglich ist… Die Frage, ob eine Abschaffung des Heilpraktikerberufs verfassungsrechtlich zulässig wäre, ist damit abschließend beantwortet. Das Verbot komplementärer/alternativheilkundlicher Methoden, die unschädlich sind, steht dem Staat nicht zu. Es ist weder der Schutz der körperlichen Unversehrtheit noch der Patientenschutz als verfassungsrechtlich legitimer Zweck denkbar, wenn Patienten trotz Aufklärung diese Maßnahmen wünschen. Der Gedanke des Patientenschutzes darf nicht zu einer Bevormundung des Patienten oder eines ‚Schutzes vor sich selbst‘ führen. Die rechtliche Beschränkung auf den Bereich der komplementären Heilkunde/Alternativheilkunde würde einen schwerwiegenden und nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Berufsfreiheit der Heilpraktiker darstellen. Aus diesen Gründen muss die Heilpraktikererlaubnis auch zukünftig mit der umfassenden Befugnis zur Heilkundeausübung verknüpft bleiben. Heilpraktiker üben gegenwärtig auch schulmedizinisch/wissenschaftlich anerkannte Tätigkeiten aus. Insbesondere dann, wenn Ärzte diese Methoden nicht oder kaum anbieten. Zu nennen sind bspw. die Hypnosetherapie, Ernährungstherapien, Infusionstherapien (u. a. mit Vitaminen) oder die Auswertung von Laboruntersuchungen. … die Heilpraktikererlaubnis [muss] auch zukünftig mit der umfassenden Befugnis zur Heilkundeausübung verknüpft bleiben. Sie kann lediglich durch konkrete Arztvorbehalte in Teilbereichen eingeschränkt werden.“
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Diese Zeilen zeugen meines Erachtens von einer tief verwurzelten Uneinsichtigkeit und fehlenden Bereitschaft zu einer kooperativen Verbesserung der Situation vonseiten der Heilpraktiker. Daher erscheint es mir unwahrscheinlich, dass in absehbarer Zukunft eine Lösung der Heilpraktikerproblematik gefunden werden kann, die von allen Seiten akzeptierbar ist. Dennoch, so finde ich, sind weitere Verzögerungen wegen der unleugbaren Gefahr, die von der in diesem Buch wiederholt belegten Kompetenzanmaßung der Heilpraktiker ausgeht, unverantwortlich. Somit sprechen die Umstände recht eindeutig für die o. g. Abschaffungslösung. Mit anderen Worten, im Sinne des Fortschritts und der Patientensicherheit könnte die Beendigung des Berufs des Heilpraktikers die wohl zielführendste Lösung darstellen.
Anhang
Fallberichte An dieser Stelle erlaube ich mir, einige rezente Vorfälle aufzulisten, die exemplarisch darstellen, welche Gefahren von Heilpraktikern ausgehen können. Januar 2022 Eine Heilpraktikerin wirbt damit, dass sie Impfschäden nach CoronaImpfungen homöopathisch behandeln kann.1 Februar 2022 Ein „arte“-Film stellt dar, wie durch das Vertrauen auf einen Heilpraktiker die Krebsbehandlung einer Frau hinausgezögert wurde.2 März 2020 Ein Journalist beschreibt, wie eine Heilpraktikerin mit unsinnigen Methoden, z. B. Kochen von Patientenurin, Diagnosen stellt.3 Mai 2021 Eine beliebte Internetseite von Heilpraktikern spielt die potenziellen Nebenwirkungen der Corona-Impfung hoch.4 Juli 2021 1Diese
Nebenwirkungen nach einer Biontech-Impfung sind bisher bekannt – Heilpraxis (heilpraxisnet. de) 2arte: Hilfe vom Heilpraktiker – Gefahr oder alternative Medizin? | gwup | die skeptiker 3Heilpraktiker: Eine Praxis, viel Placebo | ZEIT Arbeit 4Diese Nebenwirkungen nach einer Biontech-Impfung sind bisher bekannt – Heilpraxis (heilpraxisnet. de) © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 E. Ernst, Vorsicht Heilpraktiker, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66742-2
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156 Anhang
Ein Heilpraktiker warnt ohne schlüssige Argumente vor der CoronaImpfung.5 November 2021 Ich beschreibe auf meinem Blog, wie ein Heilpraktiker für seine biologische Krebstherapie wirbt, die u. a. aus Mykotherapie (Heilpilze) als auch orthomolekularen Präparaten mit Inhaltsstoffen wie z. B. Glutathion, Curcumin, OPC, Humulon, Chlorophyll, Alginsäure, Salvestrole, Sulforaphan besteht.6 November 2021 Es wurde berichtet, dass im Kreis Rosenheim die Corona-Impfraten bei nur 58 % liegen und dass dieses Defizit mit der hohen Dichte von Heilpraktikern in Zusammenhang steht, die die Tendenz haben, ihren Patienten vom Impfen abzuraten.7 März 2021 Eine an Krebs erkrankte Patientin brach auf Anraten ihrer Heilpraktikerin ihre Strahlen- und Chemotherapie ab und ließ sich mit Präparaten aus Schlangengift behandeln. Die Patientin verstarb alsbald an ihrem Leiden. Nach dem Tod der Patientin wurde die Heilpraktikerin zur Zahlung eines Schmerzensgelds verurteilt.8 März 2018 Obschon für Heilpraktiker jede Form der Werbung für eine Krebstherapie unzulässig ist, ergibt eine Online-Recherche, dass 282 Heilpraktiker dennoch Krebstherapie anbieten.9 April 2017 Die Zeitschrift Stern dokumentiert, wie ein Heilpraktiker mit unsinnigen Methoden Krebs diagnostiziert.10 August 2016 Ein Heilpraktiker behandelt Krebspatienten mit einer alternativen Methode, an der mindestens drei seiner Patienten versterben. Der
5Homöopathie und Corona: Heilpraktiker aus Soest spricht sich deutlich für die Corona-Impfung aus (soester-anzeiger.de) 6Heilpraktiker sind brandgefährlich (publikum.net) 7Rosenheim: Die Triage findet im Stillen statt | ZEIT ONLINE 8München: Heilpraktikerin muss nach Krebstod Schmerzensgeld zahlen - WELT 9Der Münsteraner Kreis kritisiert erneut die Krebsbehandlung durch Heilpraktiker | gwup | die skeptiker 10Heilpraktiker in Deutschland: So gefährlich sind sie - der große stern-Report | STERN.de
Anhang 157
eilpraktiker wird daraufhin wegen fahrlässiger Tötung von drei KrebsH patienten zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.11 Die o.g. Vorfälle stellen eine rein zufällige Auswahl dar, die nicht den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Es existiert kein System, das Zwischenfälle nach Heilpraktikerkonsultationen systematisch registriert. Daher begrenzen sich diesbezügliche Recherchen zumeist auf die wenigen Zeitungsberichte zu diesem Thema. Sicher ist, dass sich Heilpraktiker selbst nach Todesfällen nur selten vor Gericht verantworten müssen und dass es eine hohe Dunkelziffer gibt.
11https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/104653/Bewaehrungsstrafe-fuer-Heilpraktiker-nach-Tod-
von-Krebspatienten
Glossar
Adjuvante Therapie Behandlung,
die zusätzlich zu anderen Maßnahmen durchgeführt wird. Amtsarzt Mediziner, der auf einer amtlichen Stelle der Gesundheitsverwaltung oder einer Gesundheitsbehörde tätig ist. Anamnese oder Erstgespräch; die systematische Erfassung aller Informationen zur medizinisch relevanten Vorgeschichte eines Patienten. Aromatherapie Behandlung, bei deren Anwendung ätherische Öle zum Einsatz kommen, für gewöhnlich in Kombination mit einer leichten Massage. Seltener werden die Öle auch nur inhaliert. Arzneimittelinteraktionen Wechselwirkungen zwischen mehreren gleichzeitig eingenommenen Medikamenten; diese können dann die Wirkung eines der Mittel verstärken oder abschwächen. Ätherisches Öl leicht flüchtiges Stoffgemisch, das vermittels Wasserdampfdestillation, Extraktion oder Auspressen von Pflanzen oder Pflanzenteilen gewonnen wird und in der Aromatherapie eingesetzt wird. Autoimmunerkrankung Leiden, das durch die Intoleranz des Immunsystems gegenüber körpereigenen Stoffen entsteht. Chronische Erkrankung ist eine Krankheit oder Symptomatik, die für mehrere, für gewöhnlich drei Monate oder länger auftritt. Dogma Aussage, die absolute und unwiderrufliche Gültigkeit besitzt. Doppelblind Begriff aus dem Bereich klinischer Studien, der besagt, dass weder die teilnehmenden Patienten noch die Forscher wissen, wer der Kontroll- oder der Versuchsgruppe zugeordnet wurde. Empathie Bewusstsein für die Gefühle und Emotionen anderer Menschen. Empathie ist eine Grundvoraussetzung für emotionale Intelligenz, durch die eine Verbindung zum Anderen ermöglicht wird.
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160 Glossar Energie Kapazität,
Arbeit auszuführen; Energie wird in der Einheit Joule gemessen. Energie existiert in verschiedenen Formen wie Wärme, kinetische oder mechanische Energie, Licht, potenzielle oder elektrische Energie. Von Heilpraktikern wird der Begriff oft für die Lebenskraft des Patienten verwendet. Evidenzbasierte Medizin (EBM) Kombination der besten verfügbaren Forschungsdaten mit klinischer Erfahrung und dem Patientenwohl. EBM basiert auf drei wesentlichen Faktoren: der externen Evidenz, idealerweise durch systematische Reviews, der Erfahrung des Klinikers und den Wünschen des Patienten. Fallbericht eine Veröffentlichung, die alle relevanten Details eines einzelnen, typischerweise außergewöhnlichen medizinischen Falls enthält. Hygiene ist die Gesamtheit aller Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens sowie zur Vermeidung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten und Epidemien. Kausalzusammenhang besteht immer dann, wenn eine Therapie ursächlich (kausal) für einen Effekt ist. Kompetenzanmaßung bezeichnet das unberechtigte Bestehen darauf, genügend Wissen und Erfahrung zu besitzen, um berufsbezogene Aufgaben den Anforderungen gemäß selbstständig, eigenverantwortlich und situationsgerecht bewältigen zu können. Konditionierung (auch klassische oder pawlowsche Konditionierung) ist ein unterbewusster Lerneffekt, bei dem eine bestimmte Reaktion auf einen unbedingten Reiz als Reaktion auf einen bis dahin neutralen Reiz hervorgerufen wird. Erreicht wird dies durch die Kombination des neutralen mit dem unbedingten Reiz. Kontexteffekte in der Medizin sind Effekte, die nicht auf der Behandlung per se, sondern auf den Kontext der therapeutischen Situation beruhen, z. B. Placebo Effekte. Kontraindikation (auch Gegenanzeige) ist ein Umstand, der die Anwendung einer bestimmten Therapieform ausschließt oder einschränkt. Kontrollgruppe bezeichnet eine Gruppe von Patienten in einer kontrollierten klinischen Studie, die eine Behandlung (oft ein Placebo) erhalten, mit dem die experimentelle Therapie dann verglichen wird. Kontrollierte klinische Studie eine Untersuchung, bei der die teilnehmenden Patienten in zwei oder mehr Gruppen eingeteilt werden und verschiedene Behandlungsmaßnahmen erhalten, deren Effekte dann verglichen werden. Korrelation beschreibt die statistische Beziehung zwischen zwei Messgrößen. Kritisches Denken oder kritische Evaluation ist ein Prozess, bei dem durch Beobachtung, Erfahrung, Überlegung, Argumentation und/oder Kommunikation erworbene Informationen begriffen, angewandt, analysiert, zusammengefasst und/oder ausgewertet werden. Kurierfreiheit ist das Recht, auch ohne entsprechende Vorbildung, Heilkunde ausüben zu dürfen.
Glossar 161 Lebensqualität beschreibt
den Zustand des Wohlbefindens eines Menschen. Sie kann durch verschiedene Faktoren gemessen und beispielsweise durch Fragebögen, wie den SF36 erhoben werden. Im Bereich der Alternativmedizin wird der Faktor der Lebensqualität oft dazu genutzt, den Erfolg einer Behandlungsmethode einzuschätzen. In klinischen Studien wird er häufig als Zielparameter festgelegt. Leitlinien sind systematisch entwickelte Empfehlungen, die Ärzte und Patienten bei der Entscheidung über die angemessene Behandlung einer Krankheit unterstützen. Manual Therapie ist eine Behandlungsform, die der Therapeut mit den Händen durchführt. Beispiele hierfür sind Chiropraktik, Massage, Osteopathie, Shiatsu und die Bowen Technik. Medikalisierung bezeichnet den Prozess, bei dem Lebensbereiche in den Fokus systematischer medizinischer Verantwortung rücken, die vorher außerhalb der Medizin standen. Medline die größte Datenbank für medizinische Publikationen. Münsteraner Kreis ist ein interdisziplinärer Zusammenschluss von Experten, der für eine konsequente Evidenzbasierung innerhalb des öffentlichen Gesundheitswesens und der freien Heilberufe eintritt. Naturheilverfahren (Naturheilkunde) sind therapeutische Maßnahmen, die sich natürlicher Grundlagen bedienen (beispielsweise Pflanzen, Hitze, Kälte, Wasser und Elektrizität), um die Selbstheilungskräfte des Körpers anzuregen. Natürlicher Krankheitsverlauf Heilungsfortschritt einer Erkrankung, der sich auch ohne eine Behandlung einstellt. Neue Deutsche Heilkunde war die im Dritten Reich propagierte Zusammenführung von alternativer und konventioneller Medizin, die insbesondere von Rudolf Hess betrieben wurde, aber letztlich Schiffbruch erlitt. Osteopathie ist eine manuelle Therapie, bei der unter anderem die Wirbelsäule und andere Gelenke manipuliert werden. Auch die Weichteilmobilisation wird in der Osteopathie praktiziert. Panazee eine Therapie, mit der jede erdenkliche Krankheit kuriert werden kann. Ein solches Allheilmittel existiert in der Realität nicht. Paracelsus (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim) war ein einflussreicher Alchemist, Arzt, und Philosoph der Renaissance. Pathophysiologie ist die Lehre von den krankhaften Lebensvorgängen in lebendeigen Organismen. Patientenrechtegesetz ist ein Gesetz, mit dem die Bundesregierung die Position der Patientinnen und Patienten gegenüber Leistungserbringern und Krankenkassen zu stärken sucht. Physiologie ist die Lehre von den normalen Lebensvorgängen in lebendigen Organismen. Placebo eine inaktive Behandlungsform, die per se keine Wirkung besitzt, jedoch durch den Placeboeffekt (Wirkerwartung) als wirksam erscheinen kann.
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Die Wirkerwartung beruht auf Konditionierung und den Erwartungen der Patienten. Plausibilität bezieht sich auf die Frage, ob es für beobachtete oder angenommene Phänomene eine logische Erklärung gibt. Die Plausibilität einer Therapieform hängt davon ab, ob ihre Wirkmechanismen vor dem Hintergrund der belegbaren Fakten und wissenschaftlichen Grundsätze erklärbar sind. Pluralismus in der Medizin ist die Bezeichnung für die Situation, in der ein Patient bei der Auswahl eines Behandlungssystems mehrere Wahlmöglichkeiten hat. Pseudowissenschaft ist die Imitation echter Wissenschaft ohne tatsächliche wissenschaftliche Qualitäten. Randomisierte kontrollierte Studie (engl. randomised controlled trial, RCT) ist eine kontrollierte klinische Studie, bei der die teilnehmenden Patienten randomisiert (nach dem Zufallsprinzip) in eine Versuchs- und eine Kontrollgruppe eingeteilt werden. Randomisierung wird im Rahmen kontrollierter Studien vorgenommen. Das bedeutet, dass die gesamte Gruppe der Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen unterteilt wird, beispielsweise durch Würfeln. Dieses Verfahren hat zur Folge, dass die beiden Untergruppen in Bezug auf alle bekannten und auch unbekannten Charakteristika vergleichbar sind. Reflexzonenmassage ist eine Therapie, bei dem manueller Druck auf bestimmte Punkte des Körpers ausgeübt wird. Häufig befinden sich die Druckpunkte an den Füßen, sollen angeblich mit den inneren Organen korrespondieren und ihre Stimulation positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Regression zur Mitte beschreibt ein Phänomen, bei dem sich extreme Werte in Laufe der Zeit wieder normalisieren. Patienten konsultieren Therapeuten meist dann, wenn sie sich in einer Extremsituation befinden (beispielsweise unter starken Schmerzen leiden). Durch die Regression zur Mitte ist es wahrscheinlich, dass sie sich beim nächsten Termin bereits besser fühlen. Diese Verbesserung der Symptome tritt unabhängig von etwaigen Behandlungs- oder Placebo Effekten auf. Daher zählt die Regression zur Mitte zu den Faktoren, die eine unwirksame Therapie als wirksam erscheinen lassen können. Schröpfen ist eine Therapie, dessen Wurzeln in verschiedenen Kulturen zu finden sind. Beim trockenen Schröpfen werden eine oder mehrere Schröpfgläser mittels Vakuums auf die unversehrte Haut aufgesetzt. Das Vakuum ist meist stark genug, um einen Bluterguss hervorzurufen. Beim Nass-Schröpfen (oder blutigen Schröpfen) wird die Haut eingeritzt, bevor die Schröpfgläser mit einem Vakuum aufgesetzt werden. Dadurch wird das Blut aus der Wunde in das Glas gesaugt. Signifikanz wird in der Forschung in zwei unterschiedlichen Kontexten verwendet. Die statistische Signifikanz beschreibt die Wahrscheinlichkeit, mit der das jeweilige Forschungsergebnis auf einen Zufall zurückzuführen ist. Oft wird sie durch den p-Wert dargestellt (Überschreitungswahrscheinlichkeit, Signifikanzwert, von probability, engl. für Wahrscheinlichkeit). Ein p-Wert von 0,05 der statistischen Signifikanz zeigt an, dass das Ergebnis mit einer Wahrscheinlichkeit
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von 5 zu 100 auf einen Zufall zurückzuführen ist. Die klinische Signifikanz beschreibt die Wahrscheinlichkeit, mit der ein klinisches Resultat im klinischen Kontext relevant ist. So könnte eine Studie beispielsweise zeigen, dass durch eine homöopathische Behandlung der systolische Blutdruck um 3 mmHg gesenkt wurde. Dieses Resultat mag zwar unter Umständen statistisch signifikant sein, doch nur wenige Experten würden es als klinisch signifikant einstufen. Skeptiker eine Person, die es gewohnt ist, Vorstellungen in Zweifel zu ziehen, welche die meisten Menschen als gegeben hinnehmen. Spezifischer Effekt die Wirkung, welche durch die Therapie selbst verursacht wird, statt durch den Placeboeffekt oder andere unspezifische Effekte. Symptom ist ein Anzeichen einer Krankheit. Heilpraktiker werfen der konventionellen Medizin oft vor, nur Symptome und keine Ursachen zu behandeln. Symptomatische Behandlung lindert die Symptome (Anzeichen) einer Erkrankung, ohne deren Ursache zu behandeln. Systematic Review (systematische Übersichtsarbeit) ist eine kritische Auswertung der Gesamtheit der verfügbaren Daten zu einer bestimmten Forschungsfrage. Solche Reviews minimieren das Risiko eines Bias, das jeder einzelnen Studie inhärent ist. Theorie das Ergebnis von abstraktem Denken in Bezug auf allgemeingültige Erklärungen für die Zusammenhänge der Natur. Eine Theorie bietet ein Erklärungssystem für eine Reihe von Beobachtungen. Aus der Annahme von Erklärungen folgen verschiedene Hypothesen, die überprüft werden können, um eine Theorie entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. Therapiefreiheit bezeichnet einen Grundsatz, nach dem einem Behandler aufgrund seiner fachlichen Kompetenz grundsätzlich die freie Wahl der Behandlungsmethode zusteht. Unspezifische Effekte sind Phänomene, die klinische Ergebnisse beeinflussen können, jedoch nicht auf die Behandlung selbst zurückzuführen sind. Die bekannteste Form eines unspezifischen Effekts ist der Placeboeffekt. Verblindung ist ein Begriff, der im Zusammenhang mit klinischen Studien die Vorgehensweise beschreibt, die Studienteilnehmer nicht darüber in Kenntnis zu setzen, welche der Patienten der Versuchs- oder der Kontrollgruppe zugeordnet werden. Verschwörungstheorie der Versuch bezeichnet, etwas durch das zielgerichtete, konspirative Wirken einer Gruppe von Akteuren zu einem oftmals il legalen oder illegitimen Zweck. Vital-Energie ist das metaphysische Konzept einer Kraft, die angeblich alle Organismen belebt. Vitalismus bezeichnet die metaphysische Vorstellung, dass das Leben von einer Vitalenergie oder Lebenskraft abhängt, die sich von chemischen, physischen oder anderen Prinzipien unterscheidet. Dieses Konzept findet sich häufig im Bereich der Alternativmedizin, beispielsweise im chinesischen Tai-Chi, in der antiken griechischen Vorstellung des Pneuma und im indischen Prana. Gemein ist diesen
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Konzepten die Annahme, dass eine metaphysische Kraft alle lebenden Wesen animiert. Wirksamkeit (engl. effectiveness) einer Behandlungsmaßnahme bezieht sich auf die medizinische Wirkung, welche durch die Therapie (und nicht durch andere Faktoren, wie beispielsweise den Placeboeffekt) unter Alltagsbedingungen erzielt wird. Wissenschaft ist die Identifizierung, Beschreibung, Beobachtung, experimentelle Untersuchung und theoretische Erklärung von Phänomenen. Siehe hierzu auch Pseudowissenschaft.