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German Pages 356 Year 2014
Lutz Ellrich Vorführen und Verführen
Lutz Ellrich (Prof. Dr.) lehrt Medienwissenschaft an der Universität Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind allgemeine Medienund Kommunikationstheorie, Computersoziologie und Konfliktforschung.
Lutz Ellrich
Vorführen und Verführen Vom antiken Theater zum Internetportal – Orientierungsangebote in alten und neuen Medien
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Inhalt
Vorwort | 7
ASPEKTE DES THEATRALEN I: M ETAPHERN , DENKFIGUREN , U RSPRUNGSFRAGEN 1. 2. 3.
Die Welt als Theater | 11 Theatralität und Souveränität | 33 Ethnographie des Theaters: Carl Niessens „Handbuch der Theaterwissenschaft“ | 57
ASPEKTE DES THEATRALEN II: G ATTUNGS -DIFFERENZEN UND B LICK-REGIME 4. 5. 6.
7.
Die Tragikomödie des Skandals. Der Ausbruch des Spiels in die Zeit bei Thomas Bernhard | 71 Von der normativen zur post-normativen Komik | 107 Do it again Baubo! Aufgeführter Feminismus. Kommentare und Materialien zu Sonja Breuers Theaterstück RehVue en Verre | 125 Theatralität, Kampf und Spiel bei Plessner und Kafka | 143
G RENZEN DES SICHTBAREN UND S AGBAREN 8.
Die Krise der Repräsentation: Armes Theater vs. Medienspektakel | 169 9. Dramen der Wirtschaft | 181 10. Das Erbe des Kaufmanns von Venedig. Über die Un/Berechenbarkeit des Schlimmsten | 197 11. Latenzschutz und Literatur | 205
BILDER UND D ISKURSE: F OTOGRAFIE , F ILM , F ERNSEHEN, D IGITALE MEDIEN 12. Einbildung, Täuschung, Realität. Zur imaginativen Komponente der Fotografie | 219 13. Tricks in der Matrix oder Der abgefilmte Cyberspace | 247 14. Das Gute, das Böse, der Sex. Beobachtungen des Begehrens im TV-Container | 267
15. Liebeskommunikation in Datenlandschaften | 285 16. Sammeln, Sichten, Suchen. Von der traditionellen zur digitalen Bibliothek | 305 Literaturverzeichnis | 313 Nachweise | 343 Register | 345
VORWORT Die Medienwissenschaft verdankt ihren Nimbus dem geradezu heiligen Versprechen, jeglichen Glauben an die Neutralität funktionierender Vermittlungsinstanzen und Übertragungstechniken zu zerstören. Dass die Einlösung dieses Versprechens weitgehend gelungen ist, lässt sich heute schwerlich bestreiten. Inzwischen werden die ‚sinnkonstituierenden Kräfte’ der Medien allgemein anerkannt. Erkenntnisse, die vor fast 50 Jahren eine Krise der traditionellen Geisteswissenschaft auslösten, sind zu Gemeinplätzen geworden. Wie die Medien ihre konstitutiven Leistungen vollbringen, ist aber durchaus nicht klar. Auf die Beantwortung dieser schwierigen Wie-Frage hat die Medienwissenschaft keine bündige, schon gar keine konsensfähige Antwort gefunden. Sie hat allerdings eine Strategie erarbeitet, um ihre grundlegende Intuition in ein langlebiges Forschungsprogramm zu verwandeln. Dessen Credo heißt „Intermedialität“ und lässt sich durch drei Thesen erläutern: (1) Noch so detaillierte und tiefschürfende Analysen der Besonderheiten von Einzelmedien sind unzureichend. (2) Die Forschung muss sich auch und gerade den medialen Interdependenzen widmen. (3) Nur so kann die junge Disziplin Medienwissenschaft der entstandenen Sachlage und den eigenen Ansprüchen gerecht werden. Für die Avantgarde des Fachs besteht kein Zweifel: Die herrschenden Verhältnisse zeichnen sich durch kommunikations- bzw. informationstechnische Netzwerke und Hybridbildungen aus. Deshalb liegt in deren Untersuchung die entscheidende Herausforderung. Allerdings sind intermediale Prozesse und wirkmächtige Medienverbünde äußerst komplexe Forschungsobjekte. Um sie adäquat zu erfassen, kann sich das Fach – bei aller Liebe zur Heterogenität von Ansätzen und Perspektiven – nicht mit einer Vielzahl von Diagnosen zufrieden geben, die sich weder methodisch noch begrifflich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Erforderlich sind taugliche Schlüsselkategorien, die eine Gesamtschau auf das Ineinandergreifen der Medien erlauben und zugleich hinreichend sensibel bleiben für spezifische mediale Eigenarten. Dass die interessantesten terminologischen Vorschläge, die diese Leistung erbringen könnten, zunächst besondere Qualitäten von Einzelmedien aufgreifen und dann generalisieren, ist erstaunlich und wenig vertrauenserweckend. Dennoch lässt sich der merkwürdige Umstand plausibilisieren. Zumindest gilt das für die beiden attraktivsten Konzepte, mit denen die Medienwissenschaft heute ihre heuristischen Qualitäten zu beweisen sucht. Gemeint sind die Begriffspaare Theatralität/Theatralisierung und Digitalität/Digitalisierung.1 Das erste Begriffspaar wird mit Blick auf ein altes, evolutionär fast schon abgehängtes Medium gewonnen, dessen medialer Charakter sich im Übrigen keineswegs von selbst versteht. 2 Das zweite bezieht sich 1 2
Konzepte mit vergleichbarer heuristischer Kraft haben die Theorien des Buchdrucks, der Fotografie, des Radios, des Films, des Fernsehens nicht hervorgebracht. Siehe etwa das dezidierte und oft zitierte Statement von Joachim Fiebach: „Das Theater-Ereignis ist […] eine grundsätzlich andere Realität als ein Medien-Ereignis. […] Die gleichsam erdverhaftete Körperlichkeit, die die Tätigkeit im Theater bestimmt,
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auf die eminenten Leistungen des Computers, der als universell programmierbare semiotische Maschine gilt, die im Prinzip alles berechnen kann, was überhaupt berechenbar ist. Zudem verfügt das Medium Computer über ein doppeltes Integrationspotenzial: Erstens lässt es sich in jedes andere Medium buchstäblich einbauen, zweitens vermag es beliebige Produkte der übrigen Medien in seine eigene ‚digitale Sprache’ zu übersetzen. Für den Einsatz beider Begriffspaare lassen sich gute Gründe anführen: Wer Theatralität bzw. Theatralisierung zum Grundbegriff einer umfassenden Medientheorie erklärt, kann auf die rasante Ausbreitung jener penetranten Erlebnis- und Spektakelkultur verweisen, die kaum einen Bereich der Gegenwartsgesellschaft verschont (vgl. Willems 2009). Wer hingegen einen markanten Begriff für die Tiefenstruktur und Operationsweise des Computers entwickelt und als Basiskategorie empfiehlt, kann auf die heutige informationstechnisch vernetzte Weltgesellschaft Bezug nehmen, welche zwar den so genannten „Digital Divide“ hervorbringt, aber letztlich keine ‚computerfreien’ Bereiche duldet. Wer dann auch noch den Versuch unternimmt, Theatralität und Digitalität in ein und dasselbe Forschungsdesign unterzubringen, liefert fast zwangsläufig Impulse, die für künftige Forschungen relevant sein dürften. Vor der Durchführung derart ambitionierter Vorhaben, die über Studien zum theatralen Selbstdarstellen und Beobachten in Chats oder anderen computerbasierten Aktionsfeldern weit hinausgehen3, müssen freilich die Möglichkeiten und Grenzen des Theatralitätsbegriffs geklärt werden. Zu berücksichtigen sind zunächst Ansätze, die eine kulturtheoretische Überdehnung des Begriffs verhindern möchten, indem sie die Leistungen des aktuellen Theaters als vielgestaltige Institution betonen. Diese Engführung des Theatralitätsbegriffs beruft sich auf die unbestreitbare Tatsache, „dass die Bühne seit dem Beginn der Medienüberkreuzung zum bevorzugten Schauplatz für intermediale Experimente […] und somit auch zur ‚Initiationsarena’ für die theoretische Auseinandersetzung“ (Moninger 2004, 9) geworden ist. Aus diesem Grunde kann man das Theater „als plurimediales Medium“ (Meyer 2004, 55) betrachten oder seine Re-Inthronisierung als „Leitmedium“ (Moninger 2004, 7) anregen. Solche Bekundungen übergehen jedoch einen wichtigen Punkt: Für eine breit angelegte medienwissenschaftliche Forschung ist ein Grundbegriff unergiebig, der durch eine übermäßige Betonung der „unmittelbare[n] Aufführungspraxis“ (Pranz 2009, 30) die medialen Prozesse der Transformation und Distanzierung in den Hintergrund rückt. Dieser berechtigte Einspruch gegen die allzu hohe Wertschätzung theatraler Unmittelbarkeit schmälert freilich nicht im Geringsten die Leistungen der Theatermetapher als solcher (vgl. Kapitel 1). Gerade in einer Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Entscheidern und Betroffenen (vgl. Luhmann 1991, 111ff.) ständig tiefer und zugleich immer weniger sichtbar wird, sind Gedankenexperimente und praktische Übungen, die mit der Rollendifferenz Akteur/Zuschauer arbeiten, unverzichtbar. Es ist daher sinnvoll, die zahlreichen Facetten des Theatralen auszu-
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schafft eine wesentlich andere kommunikative Situation und vermittelt andere Erfahrungen als Mediatisierungen. […] Unter diesen Umständen könnte Theater eine vielleicht unersetzliche gesellschaftliche Funktion erhalten – als unmittelbare interpersonale Tätigkeit, als Gesellung lebendiger Körper, die kommunizieren, ohne dass sich Apparate zwischen sie setzen.“ (1998, 167 und 162) Sebastian Pranz’ Buch über „die Theatralität digitaler Medien“ (2009), das die Schwächen des Begriffspaars Theatralität/Theatralisierung durch seine Einbettung ins Frame-Modell von Goffman zu beheben sucht, lässt sich als Vorübung für derartige Projekte betrachten.
VORWORT | 9
leuchten, ehe vorschnell grundbegriffliche Alternativen gesucht oder die wenig fruchtbaren Debatten zwischen technikzentrierten und kulturalistischen Ansätzen der Medienforschung fortgeschrieben werden. Ein großer Teil der in diesem Band versammelten Studien widmet sich daher (noch einmal) den ‚theatralen’ Phänomenen. Es geht um Metaphern, ergiebige Kontrastbegriffe, Diskurstypen, Gattungsdifferenzen, konkrete Aufführungen, Skandalisierungspraktiken, geeignete und ungeeignete Sujets, Verfahren der Latentisierung und Offenbarung etc. Deshalb wird in den Abschnitten Aspekte des Theatralen I & II sowie Grenzen des Sichtbaren und Sagbaren ein breites Spektrum an Untersuchungsgegenständen in den Blick genommen: theoretische Abhandlungen ebenso wie Dramentexte und Romane, Inszenierungen ebenso wie Performances. Die Erkundung des theatralen Feldes dient aber nicht allein der Klärung kategorialer Fragen, sie verschiebt auch die Relevanzgesichtspunkte der Medienforschung. Zum einen lenkt sie die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass mediale Darstellungsweisen durchweg mit teils impliziten, teils expliziten Orientierungsofferten verknüpft sind, die entweder als strenge Gebote eines neuartigen Über-Ichs oder als verführerische An-Gebote zur freien Auswahl verstanden werden können und entsprechend unterschiedliche Verhaltensweisen zur Folge haben. Die Betrachtung klassischer Gattungsdifferenzen und der für sie geltenden Definitionsmerkmale erscheint dann zum Beispiel in verändertem Licht und ermöglicht eine ebenso fruchtbare wie streitaffine Verbindung mit aktuellen Strömungen in der Sozialphilosophie (vgl. Kapitel 5). Zum anderen liefert die intensive Beschäftigung mit Theatralität Aufschlüsse über das problematische Verhältnis von Sachbezug und medialer Selbstreferenz. Während bei Marshall McLuhan die medialen Inhalte noch als bloße Köder galten, die von den unsichtbaren, eigentlichen Prägekräften der Medien ablenken, gelangt eine an theatralen Phänomenen geschulte Analyse zu der Einsicht, dass heute die ‚Eigentheatralität’ von Medien als jenes Lockmittel gedeutet werden kann, das von den wirklich wichtigen Sachverhalten und Problemen wegführt. Das Mediale muss längst nicht mehr von genialen Wissenschaftlern und Künstlern durch ausgeklügelte Denkfiguren oder ästhetische Installationen freigelegt werden. Es ist auch für ‚normale’ Nutzer kaum noch zu übersehen. Die Präsentation der Medien hat inzwischen eine ostentativ selbstreferenzielle Form angenommen, die bedenklich ist. Unter diesen Bedingungen gewinnt die Umlenkung der Aufmerksamkeit hin zu den Sachverhalten, die die Medien vorstellen und darstellen, an Gewicht. Hier lauert aber auch eine neue Art der Verführung: Allzu leicht geraten gerade jene Wissenschaftler, die beklagen, dass im Zuge der allgemeinen Medialisierung die Problemreferenz zunehmend durch eine inszenierte Selbstreferenz ersetzt wird, in den Sog spektakulärer und dramatischer Ereignisse und vernachlässigen darüber die schleichenden, vermeintlich banalen oder nebensächlichen Prozesse. Studien über die mediale Repräsentation des 11. September, über die Folterbilder von Abu Ghraib, über die öffentlich vorgetragenen Argumente für eine Legalisierung der Folter, über die Missbrauchsdebatte, über den Streit um Nutzen und Schaden der Sarazin-Thesen, über Illegalität und Legitimität der WikiLeaksEnthüllungen etc. sind zweifellos notwendig und lehrreich4; denn sie können, soweit sie gelingen, die Verstrickung der Medien in die Gegenstände ihrer Darbietungen aufzeigen. Man darf angesichts dieser Reizthemen aber nicht die kaum 4
Auch ich habe mich gerade in jüngster Zeit der Auseinandersetzung mit spektakulären Themen nicht enthalten können. Vgl. Ellrich/Maye/Meteling 2009, 312ff., ferner Ellrich 2010 und 2011.
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merklichen und nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse ignorieren, welche ohne Beteiligung der Medien überhaupt nicht möglich wären. Ich denke dabei in erster Linie an die allmähliche Ablösung von Handlungsorientierungen, die sich auf Normen beziehen, durch Profile und Selbstentwürfe, die unter Rekurs auf medial erstellte Datenlandschaften gewonnen werden (vgl. insbes. Kapitel 5, 14 und 15). Der Umbau sozialer Orientierungsmuster kommt bei der Betrachtung spektakulärer Stoffe und Fälle weit weniger zum Vorschein als bei der genauen Analyse gängiger TV-Formate (z.B. Doku-Soaps, Casting-Shows) oder rasch akzeptierter Weisen der Computernutzung (z.B. Dating-Praktiken im Netz). Ziel meiner mal hier, mal dort ansetzenden Überlegungen ist es nicht, Theatralität oder Theater auf Umwegen „als Paradigma der Moderne“ (Balme 2003) zu erweisen. Es geht auch nicht in erster Linie darum, die ‚Eigen-Theatralität’ anderer Medien wie Fotografie, Film, Fernsehen etc. herauszuarbeiten. Ich möchte vielmehr Sachbezüge, die durch ihre Theatralisierung zugleich betont und verdeckt werden, so herauspräparieren, dass ihre Relevanz erkennbar wird. Dazu ist es u.a. erforderlich, die mediale Erzeugung eines unabweisbaren Realitätseindrucks (Evidenz) und die Produktion von Bedeutung zu unterscheiden. Kein Medium liefert für ein solches Unterfangen ergiebigeres Material als die Fotografie. Denn an ihr lässt sich – gleichsam propädeutisch – vorführen, unter welchen Bedingungen Botschaften und Sinnofferten, die die Bilder enthalten, wichtiger werden als jegliche Referenzgarantie. Kapitel 12, das sich dem imaginativen Potenzial der Fotografie widmet, besitzt im Gang der Argumentation daher auch eine Sonderstellung.5 Es bildet nicht umsonst den Auftakt zu einer Reihe exemplarischer Mikro-Analysen. Diese gelten zunächst bestimmten einzelnen Produkten oder Formaten der MedienTrias Film, Fernsehen, Computer und schließlich dem seltsamen Hybridmedium Bibliothek, das heute archaische mit avancierten Speicher- und Abruftechniken kombiniert. Insgesamt ist es das Ziel der hier vorgelegten Studien (die thematische Breite anstreben, aber Systematik meiden), etabliertes Fachwissen über die konstitutiven Kräfte der Medien mit der Erforschung konkreter, als besonders wichtig erachteter Gegenstände (Komik und Tragik, Scham und Schuld, Sicherheit und Freiheit, Begehren und Selbsttäuschung, Wirtschaftskrise und politische Souveränität) zu verknüpfen. Ob dieses hochgesteckte Ziel wenigstens ab und an erreicht worden ist, mögen die Leser und Leserinnen entscheiden. Ein Anschlussband, der sich in Arbeit befindet, soll in ähnlicher Manier diverse Arten der Beschreibung, Einschätzung und Nutzung der Computertechnik zum Thema haben. Für stimulierende Gespräche zur Sache danke ich – neben vielen anderen, zu denen natürlich eine Anzahl reger StudentInnen gehört – besonders Christiane Funken, Lisa Wolfson, Nambowa Mugalu, Birgit Kanngießer, John Seidler, Marko Pustisek, Christoph Menke, Clemens Stepina und dem stets ansprechbaren Klaus Neugebauer.
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Das Bild auf dem Cover deutet es an. Ich danke Walde Huth für die Genehmigung, das Foto „Ambre“ zu verwenden, und Horst Gläser für die Umschlagsgestaltung. Zur Interpretation des Fotos siehe S. 233.
A SPEKTE
DES
T HEATRALEN I:
M ETAPHERN , D E NKF IGUREN , U RS PR UN GSFRA GE N
1. D I E W E L T
ALS
THEATER
„Das Theater ist der einzige Ort auf der Welt und das umfassende Mittel, das uns noch verbleibt, den Organismus direkt zu erreichen und in den Zeiten der Neurose und der niedrigen Sinnlichkeit wie derjenigen, in der wir gründeln, diese niedrige Sinnlichkeit durch körperliche Mittel zu attackieren, denen sie nicht widerstehen wird.“ Antonin Artaud
I. „Theater heute“ – zwei Beispiele „Teheraner Theater. Irans Präsident lässt britische Soldaten frei und inszeniert sich geschickt als gnädiger Führer“, so lautet die Überschrift eines Artikels von Thomas Avenarius in der Süddeutschen Zeitung vom 5./6. April 2007 (Rubrik: „Meinung“). Und gleich der erste Satz des Textes greift tief in die Kiste der Bühnenmetaphorik: „Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad ist der ungekrönte König des tragikomischen Polit-Theaters. Die Art, wie er die Freilassung der 15 festgehaltenen britischen Marinesoldaten bekanntgab, war ebenso grotesk wie meisterlich.“ Nach dieser Beschreibung des Spektakels muss man nicht lange auf den journalistischen Vorstoß in die Arkanzonen der Machtpolitik warten: „Hinter den Kulissen von Ahmadinedschads politischem Komödienstadel, bei dem die einstige Weltmacht Großbritannien blamiert auf der Bühne stand, scheint aber ein Geschäft gemacht worden zu sein.“ Und auch der moralische Abbinder, den die obligatorische Frage einleitet, darf nicht fehlen: „War alles Teil eines abgekarteten Spiels? [...] Erkennbar ist nur, dass die im Atomstreit unter Druck stehende Islamische Republik einmal mehr ihre Position verteidigt und das Gesicht gewahrt hat. Die Briten haben das nicht.“ (Avenarius 2007, 4) Der Ausdruck „Theater“ markiert hier offenbar eine verwerfliche politische Handlungsweise, deren Ziel darin liegt, in allen Ehren ein fragwürdiges Agreement
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zu treffen, während diejenigen, die zum Mittun gezwungen sind, gute Miene zum bösen Spiel machen müssen. Völlig überflüssig wird solch journalistische Aufklärungsarbeit, wenn die Täter ihre angewandten Künste gar nicht bemänteln, sondern – nachträglich natürlich – im Brustton der ethischen Überzeugung Bekenntnisse zum Besten geben, die davon künden, wie gleichermaßen stolz sie auf ihre Maskerade und das anschließende Selbstenthüllungstheater sind. So geschehen in einem Pressegespräch des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller (CDU) im März 2002. Unversehens verwandelte sich ein parlamentarisch eher normaler Vorgang oppositioneller Stellungnahme1 in ein Erregungsspektakel, das kurz den Verdacht der puren Heuchelei erweckte, um gleich darauf den Heiligenschein einer höheren Legitimität zu erhalten, die den nüchternen Prozeduren des reinen Legalismus ihre demokratische Unschuld nahm. Was hatte sich zugetragen? An sich nichts Bemerkenswertes: Die CDU-Fraktion hatte eine Gesetzesvorlage der regierenden Koalition mit Ausrufen und Kommentaren quittiert, die wahrhaftige Entrüstung zu bezeugen schienen. Nun aber stellte sich etwas anderes heraus. Peter Müller bekannte: „Die Empörung hatten wir verabredet. Das war Theater, aber legitimes Theater.“ Auf Nachfragen blieb der versierte Mediendemokrat Auskünfte nicht schuldig: „Sind Politiker Schauspieler? Antwort: Ja. Ja! Politik ist Theater. Wer kommunizieren will, darf wenig informieren. Wenn das so ist, dann müssen sie Nachrichten produzieren, und ohne Theater keine Nachricht. Und je mehr Theater, umso größer die Chance, dass eine Nachricht entsteht.“2
Müller bewegt sich – wie man sieht – auf der Höhe all jener Medientheorien, die die knappe Ressource der Aufmerksamkeit ins rechte Licht setzen. Unter diesen Bedingungen erhält der Ausdruck „Theater“ eine doppelte Bedeutung: Zum einen signalisiert die Vokabel „Theater“ (und das war immer schon so) Verstellung und Vortäuschung, zum anderen weist sie darauf hin, dass der Gebrauch bestimmter Reizmittel nicht allein unumgänglich, sondern sogar moralisch geboten ist. Heute nämlich – so lautet Müllers These – kann man das Gute, zumindest das Gute für alle Mitglieder einer wert- und wehrhaften Leitkultur, nur dann noch befördern, wenn man bereit ist, auch und gerade spektakuläre Formen der Erregung und Bindung von Aufmerksamkeit zum Einsatz zu bringen. „Theatralität“ wird somit zum Schlüsselwort von Realpolitikern, die das Wertvolle und Praktikable zu verbinden wissen und jede Lagebestimmung zur Selbstlegitimation nutzen. Auch unter den gewöhnlichen Zuschauern, über deren Neigungen und Rezeptionsweisen sich besagte Amtsträger anscheinend gar keine Illusionen machen wollen, erfreut sich die Theatermetapher großer Beliebtheit. Doch ihre Bedeutung hat zumeist eine pejorative Schlagseite: Betrachtet man die Alltagskommunikation, so zeigt sich, dass das Wort „Theater“ häufig in Formulierungen auftaucht, die Müllers Rede vom „legitimen Theater“ der Politik als recht gewagte sprachliche Figur 1 2
Nämlich die Abstimmung über das Einwanderungsgesetz im Deutschen Bundestag; vgl. auch Klein 2003; Marx 2005. Müller ist sich seiner Sache erstaunlich sicher. Mit keinem Wort erwähnt er andere oder bessere Formen des Agenda-Settings. Er macht sich nicht einmal die rhetorische Mühe, wortreich und gefühlvoll darüber zu klagen, dass der Zwang zur theatralischen Darstellung politischer Themen die politische Kompetenz zur wirksamen Lösung von Problemen beeinträchtigen könnte.
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erscheinen lassen. Die Wohn- und Fernsehzimmer sind Bühnen, auf denen Sätze fallen wie diese: „Was soll dieses Affentheater?“ oder „Schluss mit dem Theater!“ Derartige Sprechakte gelten den notorischen Unaufrichtigkeiten und Maskeraden, die in den zwischenmenschlichen und mehr noch intergeschlechtlichen Beziehungsdramen eine erhebliche Rolle spielen. Dienen sie aber auch als Kommentare, mit denen man dem ‚Theater der Politik’3 Einhalt gebieten möchte? Angesichts der verwendeten Beispiele dürfte eines gewiss sein: Nichts erleichtert den Übergang von der Privatsphäre zum Feld der Öffentlichkeit so sehr wie der Theaterbegriff. Doch die Vehemenz des anti-theatralischen Affekts leidet unter dem Wechsel des Schauplatzes. Wo die Politik sich selbst mit reinem Gewissen als Show präsentiert und die Aufdeckung persönlicher Verfehlungen als höchste Form der Einsicht in die Betriebsgeheimnisse der Machtausübung erscheint, dort bekommt das heftige Verlangen nach dem Abbruch der Vorstellung selbst etwas Theatralisches. Man beruhigt sich daher rasch und genießt wohl oder übel den Umstand, dass die Politik im Medienzeitalter nicht langweilig wird. Die aufgeführten Dramen sind oft genug zugkräftig. Denn „in diesem Theater der Enthüllungen und Entrüstungen gibt es Skandalopfer, Sündenfälle und charismatische Errettungen.“ (Benkel 2007, 425) Unter rein ‚theatralischen’ Gesichtspunkten kann man daher nicht klagen. Wollte man diesen Gebrauch der Theatermetapher allerdings zum alleinigen Maßstab machen, würde man entscheidende Entwicklungen übersehen, die jene ‚Semantiken’4 nehmen, mit deren Hilfe Gesellschaften sich selbst – und das heißt ihre strukturelle Beschaffenheit und ihre dynamischen Aspekte – zu beobachten versuchen. So hat die Kulturwissenschaft die einseitige Verwendung des Theaterbegriffs im heutigen (privaten und öffentlichen) Alltag zwar zur Kenntnis genommen, aber dennoch nicht darauf verzichtet, mit Blick auf die Theatermetapher Denkfiguren zu entwerfen, die für eine angemessene Diagnose der spätmodernen Medien- und Erlebnisgesellschaft unverzichtbar sind. Man denke nur an die breit angelegten Forschungsprojekte, in deren Titeln die Worte „Theatralität“, „Performanz“, „Inszenierung“ etc. auftauchen.5 Die Erträge dieser Studien sind beachtlich und kaum zu überschätzen. Sie liefern mit ihren diskursanalytischen Sichtungen jedoch auch Indizien dafür, dass nicht allein „Inszenierung“ oder „Performanz“ als semantische Flagschiffe der Gegenwart fungieren. Eine wichtige Rolle spielt derzeit auch die Vokabel „Management“.6 Der äußerst ‚griffige’ Ausdruck „Management“ (der sich auf das sog. ‚Selbst’ ebenso anwenden lässt wie auf beliebige Organisationen – vom so genannten „Qualitätsmanagement“ ganz zu schweigen) bezeichnet Haltungen und Handlungen, die zwar inszenatorische und performative Aspekte umfassen, den Fokus der Aufmerksamkeit aber auf Rationalität, Kontrolle und Erfolg legen, während Metaphern, welche im Assoziationsfeld des Theatermodells ihre Bedeutung entbinden, stets den Zusammenhang von Unverfügbarkeit und Freiheit in den Blick rücken. Diese Differenz stellt auch die Weichen für die nächsten begrifflichen Anschlüsse: „Inszenierung“ und „Performanz“ verweisen auf Vokabeln wie ‚Körperlichkeit’ und ‚Präsenz’; „Management“ hingegen auf Modewor3 4 5 6
Vgl. Münkler 2001; Klein 2003; Tänzler 2005; Warstat 2005. Vgl. Luhmann 1980/1981/1989/1995; Ellrich 1995. Vgl. u.a. Burns 1972; Willems/Jurga 1998; Fischer-Lichte 2000-2003; Wirth 2002; (siehe auch das folgende Kapitel „Theatralität und Souveränität“). 1994 gewinnt Ralf Konersmann den Eindruck, dass „Authentizität“ sich zum kulturellen Frontbegriff entwickelt, und kommentiert diese Mode entsprechend bissig: „In der Inszenierung und Beglaubigung von Authentizität, wie sie heute im Zeichen universaler Medienvermittlung durch das magische Prädikat ‚live’ hergestellt wird, erreicht das theatralische Moment seinen Gipfelpunkt.“ (1994, 86)
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te wie ‚Networking’, ‚Empowerment’, ‚Normalisierung’ und ‚Flexibilität’. Wo beide Aspekte zusammenschießen – etwa im ‚Test-Theater’ der Assessment-Center (vgl. Horn 2002) – kommt die Spätmoderne ganz zu sich selbst.
II. Kurze lückenhafte Geschichte d e r T h e at e r m e t a p he r 7 Als Kunstform und soziale Institution (mit festen Aufführungsstätten, Finanzierungssystemen, Terminplänen und Beurteilungsgremien) entsteht das abendländische Theater im Griechenland des 6. und 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Ob es die Handlungsmuster religiöser Kulte nur erweitert und transformiert oder einen Bruch mit den rituellen Praktiken einer überlebten Gesellschaft vollzieht, lässt sich anhand der schwierigen Quellenlage mit hinreichender Sicherheit nicht entscheiden.8 Dass es im Zuge der Theaterkrise der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zu einer Besinnung auf die rituellen bzw. religiösen Wurzeln des Theaters und zu einer Begeisterung für ethnologisch inspirierte Performance-Konzepte kommt, ist kein Beleg für die Säkularisierungsthese, die von der Kontinuität basaler Weltbezüge, Themen und Darstellungsweisen ausgeht. In unserem Zusammenhang besitzt die Aufklärung des Entstehungsprozesses des Theaters nur einen nachrangigen Charakter. Wichtig ist vielmehr, dass die Idee des Welttheaters erstaunlich früh Anklang und Verbreitung findet. Schon bei Homer ist – wie Walter Benjamin bemerkt9 – „die Menschheit ein Schauobjekt für die Olympischen Götter“. Und auch Platon10 beschreibt die Menschen als „künstlich ersonnene Spielzeuge der Götter“, als Geschöpfe, die vor dem olympischen Publikum in vorgeschriebenen Rollen agieren und nur wenig Eigeninitiative besitzen. Wie „Marionetten“ werden sie – so heißt es – durch ein System von Fäden, die den Sehnen eines Körpers entsprechen, bewegt. Platon sucht ein leicht verständliches Bild für das im Menschen waltende Zusammenspiel von affektiven Zwängen und vernünftigen Einsichten, die das Denken und Handeln bestimmen. Die Fäden der Marionette stehen für die Leidenschaften, die den Menschen mal in diese, mal in jene Richtung zerren. An sie ist der Mensch aber nicht vollständig gefesselt; denn er vermag Halt zu finden am „goldenen und heiligen Leitseil“ der „Überlegung“, das in den Ideen verankert und in den Gesetzen verkörpert ist. Geistesgeschichtlich weit folgenreicher als die Marionettenparabel ist freilich Platons Kritik der „Theatrokratie“ qua „Demokratie“ 7
Die Theatermetapher hat eine überaus bewegte und umfängliche Geschichte: „Ganz auffallend ist [...] die ‚Wanderschaft’ der Theatermetaphern durch die unterschiedlichsten Diskursfelder.“ (Schramm 1996, 243) Aus diesem Grunde lasse ich im Folgenden nur einige Positionen Revue passieren. Dabei kann ich mich auf mehrere vorzügliche Studien zur ‚historischen Semantik’ stützen (Curtius 1948; Sofer 1956; Demandt 1979; Barish 1981; Heers 1986; Konersmann 1994; Schramm 1996; Gonzales Garcia 1996; Münz 1998; Euringer 2000; Zimmermann 2001; Puchner 2006; Kolesch 2007), in denen einerseits der Bedeutungswandel und andererseits die unterschiedliche soziale Funktion bzw. die von Epoche zu Epoche, von Autor zu Autor sich ändernde Orientierungsleistung der Theatermetapher analysiert werden. Dass ich versuche, etwas andere Schwerpunkte zu setzen, versteht sich von selbst. 8 Auch die Erforschung der Genese des Theaters führt mithin zur Streitfrage: Säkularisierung oder Paradigmenwechsel; vgl. die exemplarischen Debatten zum Status der Neuzeit (Blumenberg 1966) und zum Kunstbild (Belting 1990). 9 Benjamin 1981 [1936], 44; vgl. Münkler 2001, 153. 10 Vgl. Demandt 1979; Konersmann 1994, 95f.; Langbehn 2007, 444.
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gewesen. Dem Theater wird vorgeworfen, dass es die Aufmerksamkeit vom Handeln auf das Nachahmen, Darstellen und Betrachten verlege12 und dadurch einer „verderblichen Pöbelherrschaft“ den Weg bereite, also eine Form der politischen Machtausübung begünstige, in der letztlich nur noch das „Theaterpublikum“ regiert.13 Aristoteles ersetzt diese teils affirmative, teils kritische Verwendung des Theatermodells in seiner Poetik durch eine Wirkungsanalyse, die völlig andere Akzente betont. Die Gefahren der Mimesis verwandeln sich unter der Perspektive seiner geradezu homöopathischen Heilkundephilosophie in Chancen zur Gesundung und Immunisierung gegen schädliche Stoffe. In scharfem Kontrast zur sokratischplatonischen Position legitimiert Aristoteles die Neugierde ebenso wie den Nachahmungstrieb als natürliche Eigenschaften des Menschen. Ein nach allen Regeln der Kunst hergestelltes Theaterstück, das in erster Linie Handlungen14 nachahmt, kann daher als Medium dienen, mit dessen Hilfe prekäre Affekte (in der Tragödie phobos und eleos15) beim Rezipienten zugleich erzeugt und durch die ästhetische Formgebung auch wieder aufgelöst werden. Der Name für dieses eigentümliche Zusammenspiel von Erregung und Emotions-Abfuhr ist Katharsis16 (und hat bis heute – trotz etlicher Widerlegungsversuche der mit ihm verbundenen Annahmen – seine Faszination im Umkreis der Medienwirkungsforschung nicht gänzlich verloren). Bemerkenswert bleibt, dass Aristoteles einer kritischen Debatte mit Platons Theatrokratie-Phobie ausweicht. Wahrscheinlich sind ihm die Einwände seines Vordenkers gegen die Demokratie nicht unsympathisch. Also zieht er dem Theater seinen Stachel auf Umwegen: Indem er die These vertritt, dass dessen Wirkung keine Frucht der Aufführungssituation sei, nicht aus der Kopräsenz von Schauspielern und Betrachtern resultiere, sondern sich auch bei schlichter Lektüre des Textes einstelle, verneigt sich Aristoteles nicht nur (gut kaschiert) vor Platon, er betreibt auch die Loslösung der Theatermetapher von der konkreten Bühnendarbietung. Diese Befreiung aus den Fängen institutioneller Realitäten bildet eine der wesentlichen Voraussetzungen für ihre grandiose Karriere17, die sich am Erfolg der Leitformel des theatrum mundi ablesen lässt. 11 Vgl. Barish 1981, 5ff.; Tänzler 2005, 136ff.; Rancière 2005, 36f.; Rebentisch 2006, 74f. 12 Diese Einwände sind bekanntlich in eine generelle Kritik der mimetischen Fähigkeiten des Menschen eingebettet. Das Theater treibt die Täuschung, die jede Darstellung impliziert, auf die Spitze, weil es Handlungen und Sprechakte nicht durch anders geartete Symbole repräsentiert, sondern gerade durch (reale) Handlungen und Sprechakte nachahmt. Die ästhetische Transformation, welche durch Stilisierungen sprachlicher Äußerungen und Gesten sowie durch die zeitliche Verdichtung des Geschehens vorgenommen wird, fällt demgegenüber nicht ins Gewicht. 13 Vgl. Platon, Nomoi 644 und 701a. Dass hier Kernargumente der Kritik einer zur „Spektakelgesellschaft“ verkommenen Mediendemokratie entwickelt werden, ist unübersehbar und entsprechend häufig kommentiert worden. 14 Zum Verhältnis von Handlung und (Vor-)spielen vgl. Menke 2005 und Stepina 2007. 15 Lessing übersetzte verharmlosend: „Furcht“ und „Mitleid“. Inzwischen hat sich – nicht zuletzt unter dem Einfluss von Schadewaldt – die Übersetzung „Jammer“ und „Schauder“ durchgesetzt. 16 Was genau Aristoteles hiermit gemeint hat und wie der psychische Vorgang erklärt werden muss, ist (aufgrund der fragmentarischen Überlieferung) nach wie vor strittig. Deswegen sind immer neue Deutungen (vgl. z.B. Cavell 1976 und Blumenberg 1997), auf die ich noch zu sprechen komme, möglich. 17 Die Theatermetapher findet sich u.a. bei Marc Aurel, Cicero, Sueton, Augustus und Plotin.
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Wahrscheinlich wird der Ausdruck theatrum mundi zum ersten Mal von Johannes von Salisbury im 12. Jahrhundert (unter Rekurs auf antike Texte) benutzt18, um Standort und Wert des Menschen in der diesseitigen Welt zu charakterisieren. Zu seiner Akzeptanz dürfte auch die Verbreitung der Werke von Platon und Plotin Entscheidendes beigetragen haben. Durch die Auslegung der einschlägigen Theatergleichnisse, die sich dort auffinden lassen, erhält die bündige Formel den Nimbus der Klassizität. Grundsätzliche Bedenken gegen das Theater erweisen sich nun als durchaus vereinbar mit Denkfiguren, die den weltgeschichtlichen Zusammenhang als großes Theaterspiel modellieren. Inzwischen haben sich freilich auch Formen des geistlichen Spiels entwickelt, die sich trotz der mittelalterlichen Verbannung des Theaters aus dem öffentlichen Raum etablieren, weil sie der Stärkung des christlichen Glaubens dienen: Die latent häretischen Kräfte, welche das Theater (der alten Lehre zufolge) als Spektakel entfesseln kann, werden in Gestalt des Antichristen explizit zum Gegenstand der Bühnenhandlung gemacht und am Ende demonstrativ niedergerungen.19 Auch die Jedermann-Spiele, die im Laufe des 15. Jahrhunderts viel Zuspruch finden, erhalten den Segen der Kirche; denn ihre integrativen Effekte sind deutlich höher als ihre subversiven Potenziale. Der Rechtgläubigkeit drohen ganz andere Gefahren: Hexen, radikale Sektierer und all jene Protestanten, deren anti-theatralische Einstellung die katholischen Aversionen gegen abgründige Bühnenkünste weit in den Schatten stellen. Folglich büßt jede generelle Verwerfung des Theaters als „Blendwerk des Teufels“ (Tertulian)20 ihre regulative Macht ein. Günstigere soziokulturelle Rahmenbedingungen für eine extensive Nutzung des theatrum-mundi-Modells lassen sich kaum vorstellen. Worin aber bestehen die besonderen sinnstiftenden Eigenschaften des Modells in einer historischen Übergangsphase, die vom Ausgang des Mittelalters bis zum Beginn der Neuzeit reicht? Helmar Schramm gibt Auskunft: Das „’Theater’ mit seinen konstituierenden Elementen, wie Maske, Kostüm, Rollenspiel, vor allem aber auch die Relation Bühne-Publikum, stand den Versuchen, sich in einem traumatisch verschlungenen Irrgarten disparater Erfahrungsfragmente und Glaubensprinzipien zu bewegen, als ein distanzgewährendes Orientierungsmodell zu Diensten.“ (Schramm 1996, 51) Über den Umfang des in der frühen Neuzeit bestehenden Orientierungsbedarfs und die Findigkeit derer, die die Grenzen der bereitliegenden Konzepte erkennen und sprengen, dürfte folgender Vergleich einige Aufschlüsse liefern. Das theatrum-mundi-Modell weist Gott die Position des Spielleiters zu. Er fungiert als Regisseur des christlichen Welttheaters, in dem Mysterien-, Oster- und Weihnachtsspiele ihren festen Platz gefunden haben. Wenn es angemessen ist, die ganze Welt als Theater zu verstehen, als Schein, der eine höhere transzendente Sphäre des wahren Seins reflektiert bzw. als notwendige Ergänzung in den Blick rückt, dann ist es auch legitim, die Menschwerdung Gottes durch eine irdische Form des Spiels zu repräsentieren. Dass man aber mit Gott ‚spielt’, dass er selbst (bzw. seine Existenz) gleichsam virtualisiert und zur theatralischen Disposition gestellt wird, dies ist im theatrum-mundi-Modell nicht vorgesehen. Im Gegenteil: hier ist Gott der absolute Fixpunkt aller Bestimmungen. Er definiert die Rollen, die die Menschen zu spielen haben (er gewährt die Freiräume, die die jeweiligen Scripts enthalten) und er beurteilt abschließend die Qualität ihrer Darbietungen. Umso bemerkenswerter ist es, dass zwei tiefreligiöse Denker, die nach nützlichen Regeln für das mensch18 Siehe Curtius 1948, 149; Demandt 1979, 347; Langbehn 2007, 444. 19 Ein schönes Beispiel liefert das Mysterienspiel „Ludus de Antichristo“, das im Umfeld der „Carmina Burana“ (ca. 1230) anzusiedeln ist (vgl. Demandt 1979, 346). 20 Siehe Metzler Lexikon Theatertheorie 2005, 296.
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che Verhalten in einer Welt voller Nöte und Bedrängnisse suchen, eine pragmatische ‚Philosophie des Als Ob’21 entworfen haben. Ähnlich wie Erasmus von Rotterdam im Lob der Torheit (1511) bezieht sich auch Martin Luther auf die verbreitete Vorstellung eines christlichen Welttheaters22 und beschreibt (z.B. 1524) mit seinen gewohnt saftigen Formulierungen den „Lauf der Welt“ als „Gottes Mummerey, darunter er sich verbirgt“, um „seltsam und wunderbar“ zu regieren und zu rumoren. Die ganze profane Geschichte erscheint als ein „Puppenspiel Gottes“ und die Helden, die in ihr Großes vollbringen, als Gottes „Larven“.23 Solche Wendungen bewegen sich ersichtlich noch im Rahmen der etablierten WelttheaterMetaphorik. Innovativ hingegen ist der Vorschlag, den der Reformator, dem die weltliche Obrigkeit bekanntlich mehr Respekt einflößt als die kirchliche, am 6. Dezember 1538 präsentiert. Im Kontext von Überlegungen zur protestantischen Glaubensfestigkeit, die angesichts der Pest auf eine harte Probe gestellt wird, kommt er zu dem Schluss, dass ein jeder auf sich selbst „trauen und faren“ 24 muss. Noch drastischer fällt ein Rat aus, den er ohne Umschweife der weltlichen Obrigkeit erteilt: Sie solle alles tun, was zu ihrem Amt gehört und „sich eben stellen, alls were keyn Gott da und müsten sich selbs erretten und selb regiren“ 25. Luther hegt (so dürfen wir vermuten) nicht den geringsten Zweifel an der Existenz Gottes; dennoch hält er es für ratsam, irdischen Problemen mit der Ausblendung Gottes zu begegnen, also mit der Unterstellung oder Fiktion, er sei nicht vorhanden. Die notorische Losung: „ein’ feste Burg ist unser Gott, ein’ gute Wehr und Waffen“, wird damit für alltagsweltliche Belange kassiert. Gottes „mummerey“ erweist der Mensch folglich am ehesten seine Reverenz, indem er seinen unerschütterlichen Glauben hinter der Maske des praktischen Atheisten verbirgt. Ganz anders argumentiert etwa einhundert Jahre später Blaise Pascal. Die Existenz Gottes gehört nicht mehr zu den Gewissheiten, die dem Leben Wert und Stabilität verleihen. Aber gerade unter diesen Bedingungen sei es – so notiert Pascal – „vernünftig, sich (anhand der Regel der Teilung) um das Ungewisse zu bemühen“ (Pascal 1972, 127; Fragment 234), und dies besagt, einen vernünftigen Umgang mit den Grenzen der Vernunft zu pflegen. „Nehmen wir an: Gott ist oder er ist nicht. Wofür werden wir uns entscheiden? Die Vernunft kann hier nichts bestimmen: ein unendliches Chaos trennt uns. Am äußersten Rande dieser unendlichen Entfernung spielt man ein Spiel, wo Kreuz oder Schrift fallen. Worauf werden Sie setzen? [...] Wägen wir Gewinn und Verlust für den Fall, daß wir auf Kreuz setzen, daß Gott ist. Schätzen wir diese beiden Möglichkeiten ab. Wenn Sie gewinnen, gewinnen Sie alles, wenn Sie verlieren, verlieren Sie nichts. Setzen Sie also, ohne zu zögern, darauf, daß er ist.“ (Pascal 1972, 122f.; Fragment 233)
21 So lautet der Titel eines Buches von Hans Vaihinger von 1911. Dessen sogenannter ‚Fiktionalismus’ transformiert Kants Begriff der ‚regulativen Ideen’ zu einer Methode des Denkens, die die Effizienz der Wissensermittlung steigern soll. 22 Der berühmte Streit, den beide über die Freiheit des Willens (1524/1525) führten, hat diesen gemeinsamen metaphorischen Bodenschatz offenbar nicht zerstören können. Zu Erasmus vgl. Konersmann 1994, 109f.; Euringer 2000, 48ff. 23 Vgl. Gonzales Garcia 1996, 91f. sowie von Matt 2006, 236. 24 Vgl. Blumenberg, der diese Stelle als Indiz für die „Neuzeitlichkeit der Reduktion als Verlust der Bezugsfiguren von Zuverlässigkeit“ (1997, 66) deutet und hier die Vorzeichen einer menschlichen Selbstbehauptung gewahrt, mit der die Gattung auf den Schwund transzendenter Deckungen antwortet. 25 Luther, zitiert nach von Matt 2006, 237.
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Aber wird Gott sich auf dieses Spiel einlassen? Wird er sich von den Skeptikern, die – verführt durch einen reizvollen intellektuellen Kalkül – ihren Glauben nur vorspielen, beeindrucken lassen wie von reuigen Sündern? Wird er denjenigen, die auf ihn wetten, den Gewinn des ewigen paradiesischen Lebens auszahlen? Nimmt das Theater des Glaubens der religiösen Gesinnung, die es in Szene setzt, denn nicht jede Bedeutung? Pascal selbst betont, dass der Glaube, der allein aus dem „Äußerlichen“ – hinknien, mit den Lippen beten usw. – „Hilfe“ erwartet, bloßer „Aberglaube“ sei. Bei einem Glauben, der zählt, „muß sich das Äußerliche dem Inneren (notwendig) vereinen“. Die rein strategisch motivierte Darstellung ritueller Handlungen, die nicht vom Willen getragen ist, das äußerliche Getue mit „der innerlichen Hingabe“ zu verknüpfen, ist nur ein Zeichen von „Hochmut“ (Pascal 1972, 133; Fragment 250). Pascals Wette scheint also (ohne die Schaffung bestimmter Voraussetzungen) nicht zu funktionieren. Doch es gibt eine Lösung des Problems, die durchaus vergleichbar ist mit Münchhausens Methode, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Pascal entwickelt nämlich eine „paradoxe und geradezu häretische ‚Theatertheorie’ zur Entstehung von religiösem Glauben“. (Pfaller 2002, 256)26 Dieser ‚Schachzug’ ist umso bemerkenswerter, als Pascal im Kielwasser der „Bekenntnisse“ des Augustinus, die „Zerstreuungen“, welche das gewöhnliche Theater bietet, „für das christliche Leben“ als äußerst „gefährlich“ erachtet. (Pascal 1972, 24f., Fragment 11) Die Maßnahmen, die Pascal zur Erweckung des Glaubens vorschlägt, sind einerseits die unabdingbaren Ergänzungen zum Kalkül der Wette und andererseits Teil seiner Überlegungen zur Rechtfertigung des Scheins und zur Akzeptanz der Gewohnheit:27 „Ihr wollt zum Glauben gelangen [...]; Lernt von denjenigen usw., die wie ihr gebunden waren [...]; befolgt die Art, in der sie begonnen haben. Das heißt, sie handelten in allem so, als glaubten sie, sie gebrauchten Weihwasser, ließen Messen lesen usw. Ganz natürlich wird Euch eben das gleiche zum Glauben führen.“ (Pascal 1997, 230; Nichteingeordnete Papiere, Serie II, 418/233)
Luthers Strategie besteht darin, die religiösen Gewissheiten im realen Leben nicht übermäßig zu strapazieren, sie keinem extremen Belastungstest zu unterwerfen. Das Spiel mit der Unterstellung, dass Gott nicht vorhanden ist, schirmt den Bezirk letzter Garantien gleichsam vor inflationären Einbrüchen ab. Pascal hingegen geht es darum, unter Bedingungen der Unsicherheit lebensnotwendige Gewissheiten zu beschaffen, und er verlässt sich dabei auf die Mechanismen der symbolischen Kausalität, um in das komplexe und intransparente Verhältnis zwischen inneren Zuständen und äußeren Zeichen gezielt eingreifen zu können. Pascal beutet aus guten Gründen (u.a. die religiöse Abfederung des schmerzreichen und absurden Lebens) das verfügbare Wissen um die Logik der Verstellung aus. Wer nämlich anderen (und das heißt ggf. auch Gott) etwas vorspielt, mithin Zeichen verwendet, die als sichere Anzeichen für eine innere Regung oder Meinung gelten, muss damit rechnen (oder darf darauf hoffen), dass der simulierte Zustand sich in eine authentische Befindlichkeit verwandelt; zumindest aber setzt sich jemand, der ein solches Schauspiel aufführt, dem Risiko aus, am Ende zwischen
26 Pfaller arbeitet nicht allein Pascals Konzept der symbolischen Kausalität heraus, er liefert auch eine affekttheoretische Erklärung ihrer Prämissen, auf die ich hier nur verweisen kann (vgl. ebd., 257ff.). 27 Vgl. hierzu auch Blumenberg 1947; Ellrich 1988.
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der eigenen Person und der Maske , die er zum Zwecke der Täuschung gewählt hat, selbst nicht mehr unterscheiden zu können. La Rochefoucauld hat in seiner Maxime 119 von 166529 diese Dialektik auf den Begriff gebracht: „Wir sind so sehr gewöhnt, uns vor anderen zu verstellen, daß wir es zuletzt vor uns selber tun.“30 Hier wird nicht allein die Macht der symbolischen Kausalität beschworen, sondern auch unterschwellig davor gewarnt, sich ihr in der Hoffnung, man könne sie kalkuliert einsetzen, anzuvertrauen. Pascals Versuch, das ans Magische grenzende Potenzial dieses Phänomens für einen guten Zweck zu nutzen, gerät ins Zwielicht, aus dem es erst Hollywoods Screwball Comedies herausgeleiten. Diese Lustspiele über die Produktion von ‚echten’ Liebesgefühlen durch die äußerliche Imitation kultureller Liebescodes verharmlosen die symbolische Kausalität zu einem nur vermeintlich dubiosen Hilfsmittel, welches dafür Sorge trägt, dass am Ende die richtigen Paare sich finden und die falschen Bindungen in letzter Sekunde gelöst werden. 31 Der Realitätskern der ‚Als-Ob-Handlungen’ und die Scheinhaftigkeit des wirklichen Tuns sind aber nicht nur Themen, um die sich religiöse Denker, Verfasser von Verhaltenslehren und hintersinnige Sozialphilosophen des 16. und 17. Jahrhunderts kümmern. Das Verhältnis zwischen Empfindungen und äußeren, körperlichen Zeichen oder Merkmalen ist ein zentrales Thema der Schauspieltheorien des 18. Jahrhunderts. So gelangt etwa Lessing 1754 im Zuge seiner Kritik an Rémond de Sainte Albines Schrift Le Comédien von 1747 zu der These, dass bestimmte innere Zustände durch den mimetischen Einsatz adäquater körperlicher Zeichen erzeugt werden. „Die Empfindung entsteht [...] als Folge der regelgeleiteten Hervorbringung der sie ausdrückenden kinesischen (und paralinguistischen) Zeichen.“ (Fischer-Lichte 1983, 110) Auch Diderots berühmtes „Paradox des Schauspielers“32 – demzufolge innere Zustände durch äußere Anzeichen am besten von einem Akteur dargestellt werden können, der diese Zustände nicht aufweist – partizipiert an dieser Idee. Sogar Kant, der in seiner Ethik gegen jede Art der Lüge und Verstellung zu Felde zieht, weil sie dem kategorischen Imperativ nicht gehorchen, zeigt sich (unter der Rubrik: „Von dem erlaubten moralischen Schein“) nachsichtig, sobald er die Macht der symbolischen Kausalität in Rechnung stellen kann: Höflichkeitserweise zum Beispiel „sind zwar nicht eben immer Wahrheit [...], aber sie betrügen darum doch auch nicht [...], weil diese anfänglich leeren Zeichen des Wohlwollens und der Achtung nach und nach zu wirklichen Gesinnungen dieser Art hinleiten.“ (Kant 1964 [1798], 444) Weitere Varianten und Einsatzmöglichkeiten der Idee vom Umschlag vorgespiegelter in reale Empfindungen ließen sich anführen und für eine Diskursgeschichte auswerten, die auch auf aktuelles Material nicht verzichten muss.33 Das Problem der symbolischen Kausalität34 ist freilich nur einer der zahlreichen Aspekte, die das theatrum-mundi-Modell bündelt. In den gut einhundert Jahren, die zwischen Luthers und Pascals Empfehlungen liegen, erreicht die Welttheater-Figur den Höhepunkt ihrer kultursemantischen Kar28 Darin liegt eine gewisse Ironie der Begriffsgeschichte; denn die lat. Vokabel ‚Persona’ bedeutet ‚Maske’. 29 1662 stirbt Pascal, 1669 erscheinen die Pensées aus dem Nachlass. 30 Vgl. hierzu Schramm 1996, 186. 31 Freilich wird auch in manchen Screwball Comedies die absolute Beliebigkeit der Paarbildung vorgeführt. 32 Der Text entsteht zwischen 1769 und 1778, wird aber erst 1830 publiziert. 33 Vgl. dazu Pfaller 2005. 34 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch John Lockes Konzept des Lernens durch Täuschung (1693); vgl. Schramm 1996, 226ff.; 2005, 57f.
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riere. Zugleich umfasst diese Zeitspanne auch eine Phase der intensiven Reflexion über die Kunst der Verstellung in der höfischen und der im Entstehen begriffenen bürgerlichen Gesellschaft: 1528 erscheinen der Hofmann von Baldassare Castiglione und 1647 Baltasar Graciáns Handorakel sowie ab 1651 sein Roman Criticon, der das einschlägige Kapitel El gran teatro del universo enthält.35 Zu den Höhenkammautoren, die die Reichweite und Bedeutungstiefe der Metapher ausloten, gehören neben Montaigne insbesondere die Stückeschreiber Shakespeare und Calderon, welche den skeptischen Überlegungen des Gascogners36 dramatische Veranschaulichungen an die Seite stellen. Berühmt ist der Spruch „Totus mundus agit histrionem“, der den Eingang des Globe Theatre schmückt, und nicht minder berühmt die häufig zitierte Rede des Jaques aus As you like it von 1599: “All the world’s a stage, / And all the men and women merely players: / They have their exits and their entrances; / And one man in his time plays many parts, / His acts being seven ages.” (Akt II, Szene 7) „Die ganze Welt ist eine Bühne, / Und alle Männer und Frauen sind nur Spieler. / Die haben ihren Abgang, ihren Auftritt; / Und mit der Zeit spielt ein Mann viele Rollen, / denn seine Akte sind die sieben Alter.“ (übers. Erich Fried)
Bei Shakespeare wird die Bühnen-Metapher selbst zum Bühnen-Material, dessen Funktion und Bedeutung auf dem Spiel steht. Eine direkte Projektion der realen gesellschaftlichen Verhaltensmuster auf die Rollenverteilung in den Stücken erscheint fraglich und die theatrale Verwendung der Metapher lässt ihren buchstäblichen Sinn geradezu schillern: Einerseits wird unterstrichen, dass die soziale Welt in hierarchisch angeordnete Stände eingeteilt ist, dass jeder Mensch überdies eine fixe Geschlechtsrolle besitzt und seine Zugehörigkeit zu bestimmten Alterskohorten nicht verleugnen kann; andererseits wird vorgeführt, wie die traditionellen Einteilungen und Zuschreibungen ins Wanken geraten und auch Alter oder Geschlecht ihre ontologischen Qualitäten einbüßen.37 Die theatrum-mundi-Metapher verliert so ihren metaphysischen Status38, sie erweist sich vielmehr als subjektive Hilfskonstruktion verunsicherter Akteure, die auf der ‚Weltbühne’ nach Halt suchen und sich an vermeintlich festgeschriebene Rollen klammern. Shakespeares Stücke zeigen eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, und Gestalten, die sich selber Trost zusprechen, indem sie sich einreden, dass man die Rollen, die man zu spielen hat, zwar nicht aussuchen, aber immerhin gut oder schlecht spielen kann und deshalb auf Lob oder Gnade eines göttlichen Zuschauers hoffen darf. Zu erkennen ist nun, warum die Metapher so attraktiv ist: Sie suggeriert den Individuen, dass sie in einen kosmischen Gesamtplan eingebunden sind und dennoch über Spielräume verfügen, in denen sie sich bewähren und vor anderen auszeichnen können. 35 Zu Castiglione siehe Burke 1996, zu Gracián: Schramm 1996, 183ff. und Lethen 1994. 36 Zu Montaigne siehe Ellrich 1988; Konersmann 1994, 100ff.; Schramm 1996, 110ff.; Euringer 2000, 140ff. 37 Vgl. Greenblatt 1990. 38 Dass die Welttheater-Metapher bereits Anfang des 17. Jahrhunderts zum Gemeinplatz verkommen war, zeigt die satirische Behandlung, die Cervantes ihr im Don Quijote (1605-1613), also noch zu Shakespeares Lebzeiten, angedeihen lässt. Als Don Quichote das Geschehen im Theater und den Wandel der Welt in Zusammenhang bringt, kommentiert Sancho: „Ein prächtiger Vergleich! Zwar ist er nicht so neu, daß ich ihn nicht schon zu öfteren und verschiedenen Malen gehört hätte, gerade wie den Vergleich mit dem Schachspiel.“ (Cervantes 1988, 628)
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Calderón und mit ihm viele weitere Autoren der Barockzeit39 richten ihr Augenmerk nicht – wie Shakespeare – in erster Linie auf das Phänomen der Unsicherheit des Lebens oder auf die Wankelmütigkeit der Fortuna. Sie setzen an die Stelle der quälenden Unsicherheit vielmehr eine düstere Gewissheit: die Nichtigkeit und Wertlosigkeit der Welt. Dem Theater und seiner Leitmetaphorik kommen dabei – so etwa in Das große Welttheater von ca. 1635 – die Aufgabe zu, Vergänglichkeit und Eitelkeit der vom Menschen begehrten Dinge mit allem verfügbaren ästhetischen Nachdruck sichtbar zu machen und zugleich eine göttliche Sphäre jenseits der irdischen Erscheinungen in den Blick der Zuschauer zu rücken. 40 Diese Art, den Topos des theatrum mundi zu seinem „Höhepunkt“ zu führen, ist – wie Gonzáles García betont – ein strategisches Element der „Gegenreformation“ und dient „der Legitimierung des Absolutismus“. Als ein profanes Pendant zu Calderóns Fronleichnamspiel lässt sich Luis Vélez de Gueverras Der hinkende Teufel von 1641 betrachten. Hier wird die theologisch motivierte Depotenzierung der Welt durch die „Kritik an dem Schein, der Heuchelei und der kollektiven Täuschung“ (Gonzáles García 1996, 95) des gesellschaftlichen Lebens ergänzt bzw. ersetzt. Während bei Calderón der allmächtige Gott die Fäden zieht und seine Machinationen mit Wohlgefallen betrachtet, treibt bei Vélez de Gueverra der Teufel als Urform des Soziologen sein entlarvendes Unwesen.41 Um die Mitte des 18. Jahrhunderts, welche auch als ‚Sattelzeit’ die besondere Beachtung der Historiker gefunden hat, verliert die theatrum-mundi-Metapher ihre Faszinationskraft. Man bedient sich ihrer immer noch bei Gelegenheit, verwendet aber nun eher die einzelnen Theatergattungen als Modelle für basale Konflikte und probate Lösungsmuster oder modelt sie – wie Schelling – radikal geschichtsphilosophisch um. Bei Kant etwa ist 1793 im Kontext einer Debatte über die Fortschrittsidee von „Trauerspiel“ und „Possenspiel“ die Rede. Hegel und Marx werden später „Tragödie“, „Komödie“ und „Farce“ zu typischen Verlaufmustern geschichtlicher Vorgänge erklären.42 Für die semantische Erschlaffung (oder völlige Überdehnung) der Metapher gibt es Gründe: „Die unüberschaubare Vielfalt der durch Arbeitsteilung entstandenen Aufgaben läßt den Appell an eine übergreifende, jedem einzelnen seinen Platz in einer sinnerfüllten Gesamtordnung zuweisenden Instanz nicht mehr zu, und statt eine vorgezeichnete Rolle anzunehmen und nach Vermögen auszufüllen, sieht sich das Individuum nun darauf verwiesen,
39 Vgl. hierzu insbesondere Alewyn 1998 [1948], der einen Zusammenhang von Welttheater-Metaphorik, Aufführungspraktiken und einer epochalen barocken Festkultur herstellt. 40 Vgl. das Statement von Dietrich Schwanitz aus seiner kaum beachteten Habilitationsschrift: „Die konventionelle Theatermetapher von der Welt als Bühne [...] supponiert den Sinn des Schauspiels als den Sinn der Welt: dieser kann von den Mitspielern zwar oft nicht verstanden werden, er eröffnet sich aber dem Zuschauer dieses größten aller Spektakel: Gott. In der konventionellen Theatermetapher findet auf diese Weise der verwirrte Mensch als Schauspieler einer ihm selbst dunklen Rolle den Sinn des Ganzen durch die Partizipation an der Perspektive des göttlichen Zuschauers (oder Theaterdirektors). Darin liegt der Trost der Theatermetapher.“ (1977, 296f.) 41 Anfang des 18. Jahrhunderts hat Alain René Lesage (Der hinkende Teufel von 1707) dieses Konzept aufgegriffen und den Teufel als Instanz beschrieben, welche den desillusionierenden Blick hinter die Kulissen nicht nur erlaubt, sondern allen wissbegierigen Kunden als tiefste und letzte Wahrheit verkauft. 42 Man denke nur an so berühmte Texte wie den Hegelschen Naturrechtsaufsatz (1803) oder den Achtzehnten Brumaire (1852) von Marx.
22 | VORFÜHREN UND VERFÜHREN schwer integrierbare Anforderungen zu einer in der Regel einseitig beschränkten, die ambitionierten Ansprüche des citoyen durchaus unterbietenden Identität zusammenzuführen.“ (Konersmann 1994, 130)
Rousseau hat in dieser prekären Umbruchsituation entschieden Position bezogen. Er verurteilt das Theater als eine regressive, die aristokratische Falschheit und Intriganz ins bürgerliche Leben übertragende Einrichtung und verwirft die Welttheater-Metapher als diagnostisch untaugliches Konstrukt. Sein Gegenprogramm setzt auf das Verlangen nach individueller Authentizität und die Kultur der Gemeinschaftsbildung, welcher kollektive Feste43 mehr entsprechen als Aufführungen im städtischen Theater, das die höfischen Stätten künstlicher Lustbarkeiten und affektierter Zuschaustellungen bloß nachäfft. Empfindlich reagiert er deshalb nicht allein auf abwegige Pläne für Theaterbauten, sondern auch auf doppeldeutige theatrale Darstellungen von Authentizität, in denen – wie bei Molières Menschenfeind – das Wahrhaftigkeitsideal zwar kraftvoll in Szene gesetzt wird, aber auch als ein narzisstisches Theater der Echtheit entlarvt wird. Alceste übt zu Recht Kritik an einer von Heuchelei und Klatsch verseuchten Gesellschaft, zugleich macht sein Verhalten deutlich, dass er die eigene Wahrheitsliebe mehr liebt als die Wahrheit. Seine Aufrichtigkeit ist obsessiv und hybrid und erreicht einen Punkt, „an dem die Wahrheit dadurch verdunkelt wird, dass der selbstbezogene Wille die Vernunft überwältigt.“ (Trilling 1980, 25) Um die sozial eingespielten Praktiken, mit denen andere bewusst hintergangen und getäuscht werden, bloßstellen und anklagen zu können, muss Alceste sich selbst über seine wahren Motive täuschen. Und dies ist letztlich, wie Molière vorführt, ein schlechtes Geschäft. Gegen das ersichtliche Laster der Fremdtäuschung hat Alceste ein anderes, das viel schwerer zu erkennende und zu therapierende Laster der Selbstverkennung eingetauscht. Sein Projekt gerät auf offener Szene in die Krise. Ernüchternde Führungen hinter die Kulissen und Fassaden sind überflüssig. Als Alceste der korrupten Gesellschaft und seiner innig geliebten Célimène den Rücken kehrt, verlässt daher nicht nur eine komische, sondern auch eine tragische Figur die Bühne. Diese subtile Dialektik, die weit mehr über die Mechanismen theatraler Effektivität sagt als der klassische Vorwurf der Unterhaltsamkeit, geht Rousseau natürlich zu weit. Im Brief an d’Alembert fertigt er daher sowohl die Pläne zum Bau eines Theaters in Genf ab als auch den Bauplan des Molièreschen Stückes, dessen Spitzen – wie Enzensbergers Bearbeitung aus dem Jahre 1979 zeigt – auch in der Spätmoderne noch nicht gänzlich abgestumpft sind. Rousseaus Kampf ist freilich ein Kampf gegen Windmühlen. Denn erstens erweist sich das Theater als eine robuste soziale Institution, die von der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft getrost subventioniert werden kann, weil sich ihre subversiven Energien in Gestalt von Skandalen, Flops, Intendantenkrisen etc. zumeist für das soziale ‚Containment’ nutzen lassen. Und zweitens steht die Theatermetapher nicht mehr im Brennpunkt der Kämpfe um die kulturelle Hegemonie. Im 19. Jahrhundert verliert das Theatermodell (und mit ihm seine welterschließende Kraft, die es zu entfalten verspricht) weiter an Boden. Andere Metaphern – die Maschine, der Organismus, der Fortschritt – drängen es in den Hintergrund.44 43 Noch Robespierres exzentrischer Glaube an die Form des Festes als Konstitutionsakt und Ausdruck gesellschaftlicher Einmütigkeit geht auf Rousseaus Plädoyer zurück. Vgl. Trilling 1980, 72. 44 Bei genauer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass die neuen Leitbilder oft nur bestimmte Aspekte des Welttheater-Modells aufgreifen und ‚umschminken’. So wird
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Aber auch gegen die Form der Metapher schlechthin, gegen die figurale Qualität der Sprache als unverzichtbares Orientierungsmittel wendet sich der Zeitgeist. Das kognitive Generalschema, auf das sich die Erwartungen richten, heißt: Begriff. Hegel ist der philosophische Hohepriester dieser Wende, die sich schon mit der frühneuzeitlichen Kritik der Rhetorik anbahnt. Die Mehrdeutigkeit der Metaphern, ihr Irritationspotenzial, ihre semantische Fülle, ihre beständige Inanspruchnahme der Anschaulichkeit, all dies löst Unbehagen aus und soll durch Konzepte der Präzision, Eindeutigkeit und Operationalisierbarkeit überwunden und in einem abgezirkelten Bereich für religiöse, ästhetische oder auch erotische Erbauung unter Artenschutz und Kuratel gestellt werden. Die Romantiker versuchen, sich diesem positivistischen Sog entgegenzustemmen. Sie experimentieren mit neuen Liebescodes und schaurigen Todesbildern, sie transformieren wissenschaftliche Modethemen – wie Automaten und Elektrizität – in obskure Phantasmen und erzeugen doch nur Parallelwelten zu den Herrschaftszonen des Begriffs. Nietzsche hingegen gibt seinen Einsprüchen eine ganz andere Färbung. Er behauptet, dass die Begriffe erstarrte Metaphern sind, und versucht zu zeigen, dass der Wille zur Wahrheit selbst nur eine „Figur im Maskenzug“ der Erkenntnis ist, die durch ihre „Vereindeutigungen“ das „Ziel der Welterklärung verfehlen muss.“ (Konersmann 1994, 94) Solche Invektiven45 ändern aber nichts daran, dass sich mit der topologischen Ordnung der Moderne auch die Beobachtungsstrategien gewandelt haben. Die starke Fixierung auf den Blick der Anderen und die Dauerbeobachtung durch den Allmächtigen weichen einem primären Objektbezug. Man arbeitet sich nun an den Gegenständen buchstäblich ab. Labor, Fabrik und Kontor sind die Orte, an denen die Erfindungen gemacht und die Werte geschöpft werden. Hof, Theater und Salon verwandeln sich in Schauplätze, die man bei Bedarf pflegt und betritt, aber nicht ins Zentrum des Handelns oder Bewährens stellt. Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert etabliert sich die Soziologie als Wissenschaft, deren Aufgabe darin besteht, Chancen und Gefahren des modernen Lebens auf adäquate Begriffe zu bringen. Wie jede neue Disziplin muss auch die Soziologie eine eigene Semantik entwickeln und schlachtet zu diesem Zwecke den metaphorischen Schatz des Theatermodells rücksichtslos aus: Einerseits nutzt sie das Plot-Muster der Tragödie, um die Krise der Moderne zu erfassen (Simmel, Weber), andererseits entwickelt sie mit dem Rollenkonzept eine Denkfigur, die sowohl den Grad der subjektiven Entfremdung als auch die Reflexions- und Handlungsspielräume der Individuen zu bestimmen vermag (Simmel, Mead, Linton, Parsons, Plessner, Dahrendorf, Goffman, Popitz).46 Die fachinterne Auseinandersetzung um etwa die Heilsplan-Dramaturgie, die die theatrum-mundi-Metapher impliziert, im Begriff ‚Fortschritt’ beibehalten. 45 Zu beachten sind auch weitere Beispiele für die teils unterschwellige, teils offene Ausbeutung der Theatermetaphorik: Erwähnung verdienen die sarkastischen Sentenzen in Die Nachtwachen des Bonaventura (1804), Büchners melancholische (1835) und Heines spöttische (1843) Verwendungsweisen, schließlich auch Schopenhauers (1819) pessimistische Tiraden, die mit ihren Theatermetaphern die barocke Entwertung des irdischen Daseins durch den Verzicht auf jeglichen religiösen Trost noch überbieten: Obschon das Leben keinen vernünftigen Sinn ergibt, unterliegt es einer fatalen Determination. Damit aber noch nicht genug. Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts greift – implizit oder explizit – auf theater-affine Erzählfiguren zurück (Michelet auf die Romanze, Ranke auf die Komödie, Tocqueville auf die Tragödie und Burckhardt auf die Satire); vgl. dazu White 1973. 46 Vgl. u.a. Dahrendorf 1958/1967; Gerhardt 1971; Rapp 1973; Hitzler 1992. Allerdings sind die Bedenken im Fach nicht zu überhören: „Die Analogie zwischen dem verdich-
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den heuristischen Wert der Theateranalogie im Allgemeinen und des Rollenbegriffs im Besonderen hält bis auf den heutigen Tag an. Zu den interessantesten Einwänden gehören zweifellos die Thesen von Richard Sennett. In einem vieldiskutierten Buch über Verfall und Ende des öffentlichen Lebens (1974) präsentiert er folgendes Argument: „Abstrakt lassen sich Gesellschaft und die gesellschaftlichen Beziehungen zwar immer noch mit Metaphern aus der Theaterwelt beschreiben; aber die Menschen haben aufgehört, selbst etwas darzustellen.“ (Sennett 1983, 395) Und dies bedeutet: Die Darstellung des Politischen in der öffentlichen Welt nach den strengen Regeln eines theatralen Rollenspiels wird abgelöst durch die „Verkörperung von Gefühlszuständen“ (ebd.)47, die das Siegel der Echtheit tragen sollen. Leichtfertig verzichtet man auf die seelischen Schonbezüge, die sich im sozialen Umgang48 bewährt haben, und strebt authentische Präsentationen des wahren Ichs an. Aber das angestrengte Bemühen, der „Pathologie des Rollenverhaltens“ zu entgehen und „das Leiden an der Gesellschaft“49 zu beseitigen, mündet nur in verschärften normativen Erwartungen, für die Sennett die einprägsame Formel „Tyrannei der Intimität“ bereithält.50 Ein völlig anderes Bild ergeben die Analysen, mit denen Murray Edelman bereits 1964 Aufsehen erregt hat. Jene privaten Authentizitätsansprüche, die Sennett als Abkehr vom bürgerlichen Verhaltenstheater deutet51, sind für Edelman nur irreführende Interpretationen einer gesellschaftlichen Entwicklung, die das Arsenal demokratischer Selbststeuerung zu Versatzstücken ritueller Vorführungen degradiert. Politische Akteure, so lautet sein Befund, verwenden zunehmend theatrale Mittel und führen Pseudohandlungen aus, mit denen dem Volk vorgegaukelt werde, dass man sich um seine Nöte und Sorgen kümmere, während in Wirklichkeit in erster Linie die Interessen mächtiger Gruppen Beachtung fänden. Gelingen könne diese Strategie der Ersetzung tatsächlicher Politik durch Symbolpolitik und ‚Politainment’ allerdings nur deshalb, weil fast alle gesellschaftlichen Kreise inzwischen ein affirmatives Verhältnis zu Inszenierung, Spiel und wechselseitiger Beobachtung im Hinblick auf effektvolle Selbstdarstellung besäßen.
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teten und objektiven Verhaltensmuster der Person des Dramas und den gesellschaftlich gesetzten Normen positionsbezogenen Sozialverhaltens liegt nahe“, schreibt Dahrendorf, um anschließend die Gefahr der Analogie zu betonen: „Das Bild des Schauspielers kann, auf die Gesellschaft übertragen, irreführen.“ (1967, 139) Vgl. Schatz/Nieland 2005, 165. Ähnlich wie Plessner geht Sennett davon aus, dass Masken „zum Wesen der Zivilisiertheit“ gehören, „unverfälschte Geselligkeit“ ermöglichen und „die Menschen voreinander schützen.“ (1983, 335) Vgl. den signifikanten Titel der Studie von Dreitzel 1968. Zum Vergleich: Weitaus radikaler fällt kurz nach dem Ersten Weltkrieg Karl Kraus’ Urteil über Hugo von Hofmannsthals und Max Reinhardts Wiederbelebung der theatrum mundi-Figur aus. Kraus (1922, 1) bezeichnet Das große Salzburger Welttheater als „großen Welttheaterschwindel“. Die Welt könne zwar noch auf dem Theater dargestellt werden (dafür sprechen immerhin Die letzten Tage der Menschheit), aber nicht als Theater. Denn dies hieße, sich auf „das Leid der Kreatur einen gottgefälligen Vers“ machen; vgl. Konersmann 1994, 166. Habermas (1990, 17) diagnostiziert bei Sennett eine Vermischung der rationalen Qualitäten bürgerlicher Öffentlichkeit mit den überlebten Gestalten einer aristokratischen Öffentlichkeit, die auf die Repräsentation einer fraglos gültigen Macht zielt. Aus seiner Warte hat Sennett die Lektion von Goethes Wilhelm Meister versäumt und beklagt daher das Scheitern der „theatralischen Sendung“, statt die massenmedialen Gefährdungen zu erkennen, denen die diskursiven Errungenschaften der Moderne ausgesetzt sind.
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Die systemkritischen Implikationen dieser Bestandsaufnahme haben zwar – wie sich leicht nachvollziehen lässt – in den Kulturwissenschaften nicht überall Zuspruch gefunden (schließlich lösen Anklagen, die konkrete Institutionen betreffen, weit mehr Unbehagen aus als nostalgische Klagen über verlorene Zustände). Doch haben zahlreiche Nachfolgestudien nicht allein Edelmans Diagnose der theatralen Verfassung demokratischer Politik bestätigt, sondern sind in fast allen Bereichen der Gesellschaft auf das inkriminierte Phänomen ‚Theatralität’ 52 gestoßen, ohne allerdings sogleich negative Urteile zu fällen und/oder praktische Alternativen anzubieten.
III. Die aktuelle Situation: T he a tr al i t ä t , D e m o k r a t i e , Z e u g e n s c h a f t Wenn Theatralität zu einem ubiquitären Phänomen wird, das im Alltag, im Beruf, in der Politik, in der Wissenschaft sowie in den Medien53 anzutreffen ist, und wenn darüber hinaus der Verdacht aufkommt, dass sich die Wirklichkeit in eine Art Hyperrealität verwandelt, in der alles als eine Simulation erscheint, die kein Original mehr kennt, dann erhält (so darf man vermuten) die Institution Theater einen neuen Status. Sie erweist sich als Ort, an dem die Theatralität der sozialen Welt reflektiert wird oder zumindest reflektiert werden kann.54 Daran ändert auch die Einsicht nichts, dass wir heute mit einem Prozess konfrontiert sind, der sich als „das endgültige Verschwinden der herkömmlichen Theaterkunst“ (Schramm 1996, 11) beschreiben lässt. Insbesondere für das Verständnis der gegenwärtigen Rolle demokratischer Politik scheint die Theater-Erfahrung äußerst relevant zu sein. Welch beachtlicher Bedarf zur Klärung dessen besteht, was politische Repräsentation und politisch wirksame Kommunikation unter den gegenwärtigen Bedingungen sind und wie beides noch sinnvoll gelingen kann, zeigen die eingangs herangezogenen Beispiele für den Einsatz der Theater-Metapher. Wird nämlich Theater als wirkliche Aufführung vollzogen und nicht bloß als Metapher aufgerufen, kann es von Illusionen befreien und falsche Erwartungen auflösen, die im Kontext der Politik immer wieder (und eben auch gegenwärtig) auftreten. Zu diesen problematischen, ja gefährlichen Vorstellungen zählt der neue Gemeinschaftsmythos, der den Kult des Unmittelbaren wiederauferstehen lässt, ebenso wie die Annahme, dass eine medial zur Darstellung gebrachte Politik die wahren, sachlichen Eigenschaften der Politik verfehlen muss, weil durch Massenpresse und Fernsehen zwangsläufig die Logik politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung einer spektakulären Medienlogik unterworfen wird.55 Das Theater, welches sich mit jeder Aufführung eindrücklich im Hier und Jetzt situiert, macht deutlich, dass die gemeinsame Gegenwart, ohne deren Herstellung das gezeigte Geschehen gar nicht ablaufen könnte, von konstitutiven Differenzen durchzogen ist, eben jenen Differenzen, die auch
52 Ich weise noch einmal auf die Publikationen der Berliner Forschungsprojekte hin: Fischer-Lichte 2000-2003. 53 Dass die Ausbreitung von Theatralität nicht nur in den medialen Produkten vor sich geht und dort ersichtlich ist, sondern wesentlich durch die Medien forciert wird, bedarf wohl kaum noch der Erwähnung, soll jedoch auch nicht ungesagt bleiben. 54 Vgl. Menke 2005; 2006. 55 Vgl. Meyer 1994; 2001. Zur Kritik dieser Position siehe Menke 2006 und das folgende Kapitel „Theatralität und Souveränität“.
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in der Sphäre des Politischen nur um den Preis von Illusionen dem Blick zu entziehen sind. Juliane Rebentisch hat dies eigens zum Thema eines bemerkenswerten Aufsatzes über „Demokratie und Theater“ gemacht. Dort heißt es: Den „Volkswillen“, auf dessen möglicher und wirklicher Bildung das Projekt der Demokratie beruht, „gibt es niemals jenseits seiner politischen Repräsentation [und] der damit zugleich etablierten Trennung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, Regierenden und Regierten; es gibt ihn folglich niemals jenseits von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Das Theater macht diesen Zusammenhang explizit, indem es im Spiel die Trennungen exponiert, die jedem politischen Repräsentationsverhältnis zugrunde liegen: zum einen die Trennung zwischen Person und Rolle – die Repräsentation des Volkes hat in der Politik wie auf dem Theater immer zwei Körper; zum anderen die Trennung zwischen Akteuren und Publikum.“ (Rebentisch 2006, 76)
Diese Bestimmung der zentralen „Funktion“ des Theaters in einer Epoche der rückhaltlosen „Globalisierung“, in der sich die „Frage nach der Konstitution des demos der Demokratie“ (ebd., 80) mit besonderem Nachdruck stellt, lässt aber doch, so möchte man einwenden, spezifische Eigenheiten des Theaters gänzlich außer Betracht. Entsteht denn nicht gerade im Rahmen der ästhetischen Form des Theaterspiels eine Kraft, die immer auch gegen die genannten Differenzen (Person/Rolle, Akteur/Zuschauer) arbeitet und eine symbiotische Atmosphäre schafft, die für alle Beteiligten – zumindest für die Dauer der Aufführung – spürbar ist? Rückt also im Theater nicht die Idee einer sozialen Einheit in so greifbare Nähe, dass man sich dem Identifizierungssog, der hier seine Wirkung zeigt, nur mithilfe von ausgeklügelten Abwehrstrategien entziehen kann? Es ist sicher kein Zufall, dass die bedeutendsten Theorien der Schauspielkunst um das heikle Problem der Identifikation von Person und Rolle kreisen und dass die gründlichsten Überlegungen zu politisch wirksamen Darstellungsweisen zwischen den Polen der affektiven Verschmelzung und der kognitiven Distanz hin und her pendeln. Keine andere Kunstform scheint derart verführerische Potenziale zu bergen und eigendynamische Prozesse in Gang zu setzen wie das Theater. Nirgends sonst werden solch pedantische Programme zur Vermeidung von Irrtümern oder zur Erschließung latenter Energiequellen entworfen und in die Tat umgesetzt. Wie lässt sich dies erklären? Mit seinen historisch-phänomenologischen Betrachtungen sucht Hans-Thies Lehmann nach einer Antwort: „Das Theater hat seinen Ursprung im Ritus und bewahrte stets etwas vom rituellen Akt. Den Gang ins Theater umgibt als gesellschaftliches Ereignis, als das er, im Vergleich mit dem Kinobesuch, noch immer empfunden wird, der Abglanz einer rituellen Aura.“ Was die besondere Wirkung einer Aufführung ausmacht, kann man sich daher anhand „einer rezeptionspsychologischen Überlegung“ klar machen: „Das gemeinsame Band der Theatersituation [drängt] dem Publikum unausweichlich eine Art Komplizenschaft auf. Nicht zuletzt, weil die im Theaterhaus Versammelten, Spieler und Zuschauer, wie in einem Ritus vereint sind, wird der Zuschauer zum Komplizen der symbolischen Entblößungen, Beleidigungen, Mordtaten auf der Bühne, wird durch seine Einfühlung in das gemeinsame symbolische Überschreiten der Normen hineingezogen.“ (Lehmann 2005, 35f.)56 56 Vgl. auch Lehmann 2002, 97f.
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Allein schon die Theatersituation, die „Kopräsenz von Akteuren und Besuchern“, führt also – nach Lehmann – dazu, dass sich die Zuschauer „als potentiell Involvierte erfahren.“ (Lehmann 2002, 47)57 Diese merkwürdige Erfahrung, in ein Geschehen involviert zu sein, das man doch nur aus der sicheren Distanz eines Betrachters wahrnimmt, der einen mehr oder minder behaglichen Sitzplatz einnimmt, lässt sich freilich nicht allein mit der Kopräsenz von Spieler und Zuschauer und auch nicht hinreichend mit den rituellen Wurzeln des Theaters erklären. Es bedarf eines weiteren wirkmächtigen Faktors. Dabei handelt es sich aber nicht um die Produktion von Affekten, die das Band zwischen Akteuren und Betrachtern knüpft, sondern um eine spezifische Art des Wissens, ja des Mit- und Mehrwissens, das den Bund stiftet. Im Anschluss an Goffman und Dürrenmatt hat Dietrich Schwanitz auf diesen Punkt hingewiesen und zugleich versucht, ein konstitutives Element des Dramas überhaupt herauszuarbeiten: Gewöhnliche Kommunikationen zwischen Menschen ergeben noch keine dramatische Situation58 im strengen Sinne. „Es muß etwas hinzukommen, was ihre Rede besonders dramatisch, doppelbödig macht.“ (Dürrenmatt 1966, 111f., vgl. Schwanitz 1977, 33) Und dies geschieht durch die Präsentation einer „Hinterbühneninformation“, die mit dem impliziten oder expliziten Wissen, das die „Darstellung“ fundiert, nicht übereinstimmt. (Schwanitz 1977, 32)59 Wenn die Zuschauer etwas Entscheidendes erfahren, was nicht allen Akteuren auf der Bühne bekannt ist (z.B. Bedrohungen wahrnehmen können), verlieren sie ihre Neutralität und werden zu Beteiligten, die in der einen oder anderen Weise Partei ergreifen.60 Unversehens sind sie Teil einer Intrige. „Die Hineinnahme des realen Theaterpublikums in die Verschwörung wird zur Folge haben, daß dieses den Verschwörern gegenüber mit Sympathie für den Vertrauensbeweis reagiert ohne Rücksicht darauf, wie schurkenhaft die Verschwörer tatsächlich zu sein scheinen. Das ist der Grund für die bisher unzureichend erklärte Tatsache, daß das Publikum mit Sympathie auf Schurken reagiert.“ (Schwanitz 1977, 34)61
57 Siehe hierzu auch Walter Benjamins These: „Der einzigartige Wert des ‚echten’ Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte. Diese mag so vermittelt sein wie sie will, sie ist auch noch in den profansten Formen des Schönheitsdienstes als säkularisiertes Ritual erkennbar.“ (1981 [1936], 16) 58 Die Erzeugung einer dramatischen Situation kann auch in einem schwächeren Sinne verstanden werden. Dann ist damit nur gemeint, dass etwas auf die Bühne gebracht wird und allein dadurch schon aus dem alltäglichen Geschehen herausgehoben ist. „This sense of ‚dramatize’ highlights the fact that art is putting something into a frame, a particular context or stage that sets the work apart from the ordinary stream of life and thus marks it as art.“ (Shusterman 2002, 233) 59 Der Umstand, dass diese Konstellation auch in vielen Alltagssituationen gegeben ist, hat Erving Goffman, dessen Modell Schwanitz hier verwendet, dazu veranlasst, mit der Analogie von Theaterspiel und Interaktion zu operieren. Vgl. Goffman 1969 sowie die Interpretationen von Rapp 1973 und Willems 2007. 60 In diesem Zusammenhang lässt sich die typische Reaktion von kleinen Kindern anführen, die (z.B. im Kasperletheater) durch Rufe und Geschrei Bühnenfiguren auf eine drohende Gefahr hinweisen wollen. 61 Dem versucht auch Lehmann in seiner Analyse Rechnung zu tragen. Im Anschluss an die oben zitierte – in den Publikationen von 2002 und 2005 identische – Stelle heißt es: „Man denke daran, wie Shakespeares RICHARD III. das Publikum, das seine Verbrechen fasziniert verfolgt, immer wieder wie verständnisinnige Mitverschwörer ins Vertrauen zieht.“ (Lehmann 2002, 98)
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Entscheidend ist also, dass es auf der Bühne selbst zur Differenz von „Hinterbühneninformation und Darstellung“ kommt. Das Publikum paktiert dann (verführt durch sein Mehr-Wissen) mit bestimmten – moralisch fragwürdigen – Bühnenfiguren. Suggestiv wirkt nicht das quasi-rituelle Gesamtarrangement (wie Lehmann es nahe legt), sondern die faszinierende ethische Suspension62, die das Band zwischen den Zuschauern und bestimmten Figuren knüpft. Freilich geht es auch Lehmann um die Analyse des „Tabubruchs“ (Lehmann 2005, 35)63, mit dem das Theater spielt, ja um das Interesse am Theater, das daraus resultiert, dass man dem Tabubruch unter Bedingungen zuschauen will, die die entstehende Komplizenschaft sozial relativ ungefährlich, aber eben nicht vollständig harmlos machen. Wenn die Überlegungen von Lehmann und Schwanitz triftig sind, so arbeitet das Theater – soweit es sich primär mit der Herstellung dramatischer Situationen befasst – gegen ein zentrales Motiv der Abendländischen Kulturproduktion an: „Der Zuschauer ist nämlich definiert durch die Kunst sich herauszuhalten. Deshalb genießt er die Anstrengungen der dramatisch-szenischen Akteure, ihn hereinzuziehen, als vergebliche. Gerade wenn ihm am meisten zugemutet wird, befreit er sich durch den rettenden Gedanken: Es ist nur Theater.“ (Blumenberg 1997, 93)
Folgt man dieser These, so erweist sich das Theater nicht als Medium der Komplizenschaft, sondern als Institution, die bei der Produktion eines Zuschauers, der sich heraushalten kann, bemerkenswert erfolgreich ist. Trifft Rousseaus Analyse also doch den Kern der Sache? Gibt es denn einen tauglicheren Ort zur Erzeugung von Immunität gegenüber Ereignissen, die vor den eigenen Augen (und innerhalb des eigenen Aktionsradius) geschehen? Wird nicht im Theater unter Bedingungen physischer Nähe die Kunst zur Distanznahme, zum Unbeteiligtsein eingeübt und von Mal zu Mal überprüft? Und macht das Theater – im Unterschied zur Integrationsleistung, die das Fest64 vollbringt – aus allen Anwesenden nicht auch Abwesende? Die Suche nach den charakteristischen Merkmalen des Theaters führt offenbar zu zwei gegensätzlichen Bestimmungen. Weitere Überlegungen sind also nötig. Hilfreich ist ein Aufsatz, in dem Lehmann seine These, dass theatrale Komplizenschaft durch Rekurs auf ihre rituellen Wurzeln zu erklären sei, relativiert. Genutzt wird hier die instruktive Unterscheidung zwischen dem klassischen dramatischen und dem postdramatischen Theater: Das „dramatische Prinzip“ habe dafür gesorgt, dass das Bühnenspiel von der Realität gesondert blieb. Denn unter seiner ästhetischen Herrschaft beziehe der Zuschauer das dramatische Geschehen nicht „zuerst
62 Mit Gehlen könnte man von der entlastenden Funktion sprechen, die mit der ästhetisch produzierten ‚Auszeit’ der Moral einhergeht. 63 Lehmann betont den Unterschied zwischen Ritus und Theater: Riten sollen dazu dienen, die Werte der Gesellschaft zu bestätigen und Konflikten vorzubeugen. Das Theater, das sich vom Ritus emanzipiert und doch von seinen Faszinationskräften zehrt, zeichnet sich dadurch aus, dass die „Verletzung geltender Normen hier besonders heftige Reaktionen hervorruft.“ (ebd.) 64 Nietzsches Konzept des dionysischen Theaters, „das nur einen kollektiven Akteur kennt – die Kultgemeinde – und nur einen Modus des Partizipierens – den genussvoll durchlittenen, sinnlichen Exzess in der hemmungslosen Selbstauslieferung an die Triebkräfte der Natur“ (Matala de Mazza 2000, 284), beruht auf der gleichen Differenz. Während bei Nietzsche das Theater des Euripides als Antipode zum festlichen Theater fungiert, nimmt bei Rousseau diese Funktionsstelle das vom Hof in die bürgerliche Stadt gewanderte Theater ein.
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auf (s)eine Welt“, sondern auf „den fiktiven Kosmos des Dramas“. Erst im postdramatischen Theater werde „die Wahrnehmung auf den realen und mentalen Raum des Theaterereignisses selbst“ gelenkt. Es trete jetzt mithin „diejenige Sphäre in den Vordergrund, die die ästhetische Figuration des Spiels unausweichlich mit der außerästhetischen Wirklichkeit teilt: das Reale, die Praxis, die Situation des Theaters“. Und das Fazit der Analyse lautet: „Dringt das Reale der ‚Umwelt’ des Spiels in dieses ein65 – durch Adressierung des Zuschauers, Rückwendung seiner Aufmerksamkeit auf die eigene Situation, das eigene Befinden, die eigene Beziehung zum Spiel –, so wird der Zuschauer nolens volens Teil des Theatervorgangs, Zeuge.“ (Lehmann 2006, 174f. )66
Mit dem Hinweis auf die ‚Zeugenschaft’ des Zuschauers im postdramatischen Theater stößt Lehmann ins Zentrum der aktuellen Diskussion um den diagnostischen Wert und den sozialen Leitbildcharakter des Theaters vor. Zugleich erreicht er den Punkt, an dem sich entscheidet, welche Bedeutung dem alten, aber niemals veralteten Begriff der ‚Katharsis’ heute noch zukommt. In einem brillanten Text, der erst aus dem Nachlass publiziert wurde, hat Hans Blumenberg die Funktion der antiken Katharsis neu interpretiert und dem modernen Begehren nach kathartischer Entlastung gegenübergestellt. Aristoteles’ Programm einer theatralischen Reinigung zielt – wie Blumenberg betont – nicht auf eine unmittelbare Beteilung des Zuschauers am hier und jetzt ablaufenden Bühnengeschehen, sondern auf seine „nachträgliche Selbstimmunisierung.“ (Matala de Mazza 2000, 285) Es geht um die ästhetisch ermöglichte Einsicht, dass man die „mythischen Schrecknisse“, die den Stoff der Tragödie bilden, definitiv hinter sich gelassen und überwunden hat. Die Polis hat den Weg vom Chaos zur Ordnung beschritten und die Bürger registrieren dies im Theater mit tiefer Erleichterung. Katharsis ist „ein Aufatmen“ (Blumenberg 1997, 96), das im Theater kollektiv vollzogen wird und in der „mehr oder weniger frenetischen Äußerung von Beifall oder Mißfallen“ (ebd., 93) seinen Ausdruck findet. In der Moderne freilich ist – nach Blumenberg – solch ein „Fertigwerden“ mit einer grausigen Vorgeschichte nicht mehr möglich. Durch Bühnenspektakel, die dem Betrachter immer die „schlichte Freiheit“ geben, zu verweilen oder wegzugehen, lässt sich „keine Katharsis am Ende“ bewerkstelligen. Die Existenz des Theaters gab einst den Bürgern der Polis die Gewissheit, dass sie den entscheidenden zivilisatorischen Schritt der Distanzierung getan haben und sich deshalb im Theater einer künstlichen Wiederbelebung jener längst bewältigten Mächte ohne Gefahr aussetzen können. In der Moderne gibt das Theater den schaulustigen Besuchern etwas anderes zu verstehen: Es führt ihnen vor Augen, dass sie noch gar keine Zuschauer im eigentlichen Sinne sind, dass sie sich mithin auf die kulturell erworbene Indifferenz, die sie gegenüber den urtümlichen Drohungen auf Abstand bringt, nicht verlassen können. Katharsis wird damit zur ungeheuerlichen Aufgabe, zum Dauerproblem, dessen Lösung nicht absehbar ist. Und alle, die sich der Aufgabe annehmen, sind – ohne sonderlich große Aussicht auf Erfolg – zur harten, stetigen Arbeit am ‚Zuschauer-Werden’ verurteilt. Das Theater als Institution zeigt uns demnach die Spannung auf, die in der Moderne zwischen zwei Modi des Weltbezugs besteht: 1. dem ebenso unausweichlichen 65 Als paradigmatische Beschreibung „de[s] Einbruch[s] der Zeit in das Spiel“ darf Carl Schmitts Hamlet oder Hekuba (1956) gelten. 66 Wir können also festhalten: Das klassische dramatische Theater hat den Bezug zum Ritus gekappt, während das postdramatische Theater diesen Bezug wieder herstellt.
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wie unerträglichen Zustand des Betroffenseins und 2. dem Verlangen, die überlebensnotwendige Fähigkeit zur Distanznahme auszubilden und je nach konkretem Bedarf (kontrolliert) einzusetzen. ‚Zeugenschaft’ ist dafür die angemessene Metapher; denn sie markiert das Problem in seiner ganzen Schärfe und weist darauf hin, dass die Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken, die mit dem Medium Theater gewöhnlich verbunden sind, keineswegs per se zu einem besseren Verständnis der ‚conditio humana’ unter Bedingungen der Gegenwart führen. Stanley Cavell hat mit Nachdruck auf diese zweideutige ‚Natur’ des Theaters hingewiesen. Anders als Blumenberg sieht er im theatralen Ringen um eine Zuschauerrolle, die das distanzierte, ggf. sogar genießerische Betrachten leidender Bühnenfiguren ermöglicht, den gefährlichen Zug der dramatischen Kunst. Als Ursache für die heiklen Effekte des szenischen Spiels macht Cavell die unhintergehbare Trennung zwischen der dargestellten Handlung bzw. den agierenden Personen auf der einen Seite und den Zuschauern auf der anderen Seite (der Bühnenrampe) aus.67 Das Gift des Voyeurismus und der Hang zum ästhetischen Vergnügen an einer ludischen Virtuosität, die sich selbst genügt, sind keine zufälligen, äußerlichen Zugaben; sie entstammen vielmehr dieser strukturellen Gegebenheit. Und nur große Stücke (zum Beispiel Shakespeares King Lear oder Becketts Endgame)68 und strenge Inszenierungen können die theatrale Grundkonstellation von ihrem ‚Makel’ reinigen und so die gebotene Katharsis einleiten. Gerade in den spezifischen Merkmalen, die (wie oben erläutert) Schwanitz als wesentliche Elemente der „dramatischen Situation“ bzw. des „dramatischen Dialogs“ herausgearbeitet hat, liegt für Cavell eines der zentralen Probleme. Die sogenannte „Hinterbühneninformation“, über die das Publikum verfügt, und das damit gegebene Mehrwissen des Zuschauers führen fast automatisch zu voyeuristischen Einstellungen und Formen einer falschen Komplizenschaft. Allein theatrale Arrangements, die dafür sorgen, dass das Publikum nicht mehr weiß als die Spielfiguren, lassen zwischen den Akteuren und ihren Betrachtern eine vollkommen präsentische Beziehung entstehen, in der ästhetische Gesichtspunkte durch ethische ergänzt und ggf. sogar überlagert werden. Das potenzielle Vergnügen am Intrigenplan und seiner szenischen Ausführung finden dann keine Ansatzpunkte. Beide, Darsteller und Zuschauer, müssen also – trotz der scharfen Rollen- und Funktionsdifferenz, die die Bühnenrampe (als räumliche Grenze) schafft – in das Zeitfeld der Gegenwart eintreten, damit echte Empathie entsteht. Erst dann ist die Voraussetzung gegeben, dass der Zuschauer sich in einen wahrhaften Zeugen des Geschehens verwandeln kann. Im Unterschied zu Blumenberg macht Cavell die ursprüngliche Katharsis, die das Theater ermöglicht, nicht von einer Perspektive abhängig, welche dem Betrachter (zumindest in der Antike) die Gunst gewährt, das Drama gleichsam im Lichte der Nachträglichkeit zu erleben. Moderne Katharsis wird daher bei Cavell auch nicht (im Sinne Blumenbergs) zum ebenso unaufgebbaren wie unerfüllbaren Projekt, sondern zur Reinigung von aller banalen Schaulust und jener sündigen Mitwisserschaft, die der Identifikation mit dem Intriganten vorausgeht. Ein Zuschauer, der diese Katharsis-Erfahrung macht, wird sich zugleich der schmerzlichen Tatsache bewusst, dass er in das Drama unter keinen Umständen eingreifen und die Lage der Bühnenfiguren nicht beeinflussen kann. Er begreift vielmehr, dass er im Theater grundsätzlich zur Passivität verurteilt ist. Alles was ihm zu tun bleibt, 67 Spielformen, die diese Trennung aufzuheben suchen (wie zum Beispiel das Lehrstück, in dem streng genommen alle Zuschauer auch Darsteller sein müssen, oder die Performancekunst), geben sich – aus der Warte Cavells – Illusionen hin. 68 Beiden Texten widmet Cavell (1976) ausführliche Studien.
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besteht – nach Cavell – darin, Zeugnis vom Geschick der gespielten Figuren abzulegen und das Leiden an der eigenen Passivität zu bekunden. Blumenbergs kulturhistorische Rekonstruktion, „wie man Zuschauer wird“ (1997, 93ff.), indem man Distanz zum Leiden der Anderen gewinnt oder permanent zu gewinnen sucht, ist unvollständig ohne die Gegenthese, die Cavell verficht: Zuschauer sein bedeutet, gegen die theatralische Verführung zur distanzierenden Betrachtung immun zu werden und das unvermeidliche Leiden an der Zuschauerposition anzuerkennen. Dem Theater kommt im Kontext dieser Einsicht eine entscheidende Rolle zu; denn es ist der einzige Ort, an dem (mithilfe geeigneter Dramen) die verfängliche Kraft des Voyeurismus gebrochen und die pur ästhetische Einstellung, von deren Wert die autonome Kunst der Moderne soviel Aufhebens gemacht hat, durch eine ethische Haltung abgelöst werden kann.69 Dass die Passion der Passivität aber nicht das letzte Wort über den Versuch ist, die Welt theatralisch zu erschließen, zeigen Performances, die den Zuschauer nicht zur moralisch gehaltvollen Resignation vor dem Faktum einer unabdingbaren Differenz führen wollen, sondern die Differenz selbst zur Disposition stellen. Der Zuschauer soll nicht allein die Erfahrung machen, dass er doch in das Bühnengeschehen eingreifen kann, er soll auch den Eindruck gewinnen, dass dies ggf. auch moralisch geboten ist. Marina Abramović’ Performance Lips of Thomas, in deren Verlauf die Künstlerin sich selbst in eine gesundheitsgefährdende Lage bringt, liefert ein gutes Beispiel für den ambitionierten Versuch, sensationsgierige oder abgebrühte Betrachter ästhetischer Prozesse in existenziell betroffene Zeugen zu verwandeln, die zum (inszenierten und dennoch echten) Leiden einer Person jetzt und hier Stellung nehmen müssen. Jeder Zuschauer sieht sich nämlich mit der Frage konfrontiert, ob er die Tortur durch energische Hilfeleistungen beenden oder (als zahlender Kunstkonsument) in der distanzierten Haltung ästhetischer Reflexion verharren soll.70 Diese eigentümliche Qual der Wahl ließe sich vielleicht nur durch den Aufschrei mildern: ‚Was soll das ganze Theater?’
69 Vgl. hierzu die vorzügliche Cavell-Lektüre und -Kritik bei Rebentisch 2003, 25-42. 70 Siehe Fischer-Lichte (2004, 9ff.) und Kapitel 8 „Die Krise der Repräsentation“.
2. T H E A T R A L I T Ä T
UND
SOUVERÄNITÄT
I. Das Konzept der Theatralität „Theatralität“ gilt in Fachkreisen als wichtiger Term der Kulturwissenschaft. Für einige AutorInnen ist er sogar der aktuelle „Schlüsselbegriff“1 des eigenartigen Disziplinverbundes. Das Feld der Untersuchungsgegenstände, die sich mit seiner Hilfe beleuchten lassen, reicht von den „Bühnen des Lebensstils“ (Neckel 2000) und den Formen der individuellen Selbst- bzw. Identitätsdarstellung (Hahn/ Willems 1998) über die „Inszenierung des Politischen“ im Fernsehzeitalter (Meyer/Ontrup 1998)2 und das „urbanistische Theater“ des gegenwärtigen Städtebaus (Schilling 1994) bis hin zur semiotischen Verfassung des Internets (Brenda 1991; Sandbothe 1998; Funken 2001b, Pranz 2009). Der forschungsstrategische Rückgriff auf das „Modell des Theaters“3 und die für das Theater charakteristischen Weisen des Redens, Handelns und Repräsentierens ist mit einer Reihe hochgespannter Erwartungen verbunden. Das Vorgehen soll die gesellschaftliche und individuelle Konstruiertheit der Wirklichkeit, die Erzeugung von Aufmerksamkeit und Disziplin (Foucault 1976; van Dülmen 1985; Crary 2002), die Entstehung, Stabilisierung und Modifikation von Erwartungsmustern (Goffman 1969), den Umgang mit Krisensituationen (Turner 1989) und nicht zuletzt die Spannungsbögen zwischen absichtsvollem Tun und unverfügbaren Geschehnissen, ja zwischen simulierten und authentischen Zuständen verdeutlichen. Leitend ist die Vorstellung, dass der Begriff ‚Theatralität’ wie kaum ein anderer dazu geeignet ist, Themen und Materialien für eine vergleichende Kulturanalyse aufzubereiten, die historische und systematische Zusammenhänge freilegt. Zweifellos geht es bei einem solchen Verfahren nicht primär „um das spezifisch künstlerische oder dominant ästhetische Ereignis Theater“, sondern um „jene Vorgänge sozio-kultureller und politischer Kommunikation, für die darstellerische Tätigkeiten eine wesentliche Rolle spielen.“ (Fiebach 1996, 9) Aber selbst unter dieser erweiterten Perspektive bleibt das Theater Ausgangspunkt der Analyse. Es wird als eine soziale Einrichtung aufgefasst, mit deren Hilfe frühere Gesellschaften 1
2 3
Fischer-Lichte spricht diese Funktion dem Inszenierungsbegriff zu, der „in seiner Reichweite (zwar) eingeschränkter ist als der Begriff Theatralität“, aber „den Aspekt eines kreativen und transformierenden Umgangs des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt“ (1998, 89) betont und deshalb in den gegenwärtigen Diskussionen vorherrscht. In einem späteren Aufsatz vermerkt die Autorin allerdings, dass „mit ‚Theatralität’ [...] ein Paradigma in die Geistes- und Sozialwissenschaften eingeführt (ist), das ihre Neudefinition als Kulturwissenschaften in besonderer Weise akzentuiert.“ (2001, 1) Vielfach werden beide Begriffe synonym verwendet; so etwa in Willems einschlägiger Arbeit „Inszenierungsgesellschaft? Zum Theater als Modell, zur Theatralität von Praxis“ (1998). Auf die Differenz der Begriffe komme ich zurück. Vgl. hierzu auch die mittlerweile schon klassische Studie von Edelman 1971 [1964]; ferner Meyer 1992; Ontrup 1998; Meyer/Ontrup/Schicha 2000. Vgl. u.a. Willems 1998, 25ff.; Meyer 1998, 127.
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sich ihre zentralen Probleme buchstäblich vor Augen geführt und in eine reflektierbare Form gegossen haben.4 Auch wenn das Theater heute diese Position eingebüßt hat, lässt es sich noch als ein Modell nutzen, welches erhebliche Erkenntnis- und Lernchancen bietet. Das heuristische Potenzial des Begriffs ‚Theatralität’ kann freilich nur dann ausgeschöpft werden, wenn man den Ausdruck nicht vorschnell überdehnt und trivialisiert5, sondern zunächst die eigentümliche Leistung der Darstellungsform Theater herausarbeitet. Dies ist auf zwei unterschiedliche Weisen möglich: einmal im Hinblick auf die theatrale Erzeugung bestimmter Wahrnehmungsweisen, etwa die Ausrichtung des Blicks oder die Konstitution eines visuellen Raums (de Kerckhove 1995, 71ff.)6 und die damit einhergehende Entwicklung psychischer Kontrolltechniken (Crary 2002, 197ff.), zum anderen in Hinsicht auf die im Theater vorgeführten und manifestierten Probleme der Repräsentation. Beide Aspekte stehen durchaus in einem systematischen Zusammenhang, sind aber analytisch zu trennen. Besonders die Untersuchung des zweiten Aspekts kann (wie noch zu zeigen ist) als Test für die Leistungsfähigkeit des Theater-Modells betrachtet werden, das bestimmte Instruktionen, Vorgaben und Einschränkungen impliziert, die sich sowohl auf den Gegenstand (1) als auch die Methode (2) der Forschung beziehen. (1) Für die Untersuchungen kommen nur Objekte in Frage, bei denen es sinnvoll und erhellend ist, topologische Merkmale, technisch-mediale Voraussetzungen und performative Eigenschaften so zu verbinden, dass ein Feld agierender Personen erschlossen wird. Es ist wichtig, diese Konditionen im Blick zu behalten, um die Reichweite des Theatralitäts-Konzepts nicht zu überschätzen7 und andere Möglichkeiten der Analyse von ‚kulturellem Kapital’ nicht aus den Augen zu verlieren. (2) Zu den methodischen Implikationen des Ansatzes zählt die Anweisung, ein handlungstheoretisches Verfahren zu wählen, das Interaktionen von Personen im Hinblick auf Motive, Erwartungen, Wünsche, Emotionen etc. betrachtet und gegenläufige oder sog. emergente Effekte intentionalen Handelns (z.B. die vieldiskutierte tragische Ironie8) aus Akteurskonstellationen ableitet und nicht als vorgängige anonyme System- oder Struktureigenschaften verbucht.9 Als Akteure in diesem Sinne gelten handlungsfähige und verantwortliche10 Individuen oder Gruppen, deren Macht oder Einfluss11 nur in Relation zu einem Publikum zu bestimmen ist, das aus verführbaren oder mündigen, hypnotisierten oder kritischen, bewundernden oder spöttischen, faszinierten oder gelangweilten, gerührten oder apathischen Personen besteht, die zu den medialen Darbietungen der Primär-Akteure (auf welche Weise 4
Zur Explikation dieser These anhand des griechischen Theaters siehe z.B. Nussbaum 1986; Lehmann 1991; Menke 1996a. 5 Ein Beispiel für eine solche Überdehnung ist die vage Formel „Dramaturgie des Sozialen.“ (Hager/Schwengel 1996, 267) 6 Zur Kritik dieses ambitionierten Versuchs vgl. Fiebach 1996, 60f. 7 Als Beispiel, auf das ich noch zu sprechen komme, ließe sich die zurzeit umlaufende Theorie der „Aufmerksamkeitseliten“ anführen. 8 Vgl. die ausgezeichneten Analysen bei Menke 1996a, 114f., 144ff., 186ff. 9 Man kann folglich das Theater-Modell als einen Versuch betrachten, eine handlungstheoretische Alternative zur Systemtheorie anzubieten. Dies geschieht aber gerade nicht im Kielwasser von Jürgen Habermas, der Handlungs- und Systemtheorie zusammenführt, indem er soziale Bereiche differenziert und sie bestimmten Forschungsmethoden zuweist: die Lebenswelt der Handlungstheorie, administrative Macht und Geld der Systemtheorie. 10 Die Verantwortung wird (vom Publikum) zugeschrieben oder vom Akteur selbst reklamiert und muss daher keiner empirisch nachweisbaren Kausalkette entsprechen. 11 Zur Unterscheidung vgl. Parsons 1980, 57ff.
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auch immer) Stellung beziehen müssen. Theatralitäts-Charakter (um nicht zu sagen: theatralischen Charakter) besitzen diese Darbietungen, wenn das Präsentierte oder die Sich-Präsentierenden als Repräsentationen von etwas im konkreten, raumzeitlich fixierten Vorgang Abwesendem verstehbar sind, zugleich aber auch eine potenzielle oder aktuelle Spannung zwischen Präsentation und Repräsentation deutlich machen, so dass die Wahrnehmung des Geschehens stets dazu auffordert, hier und jetzt12 ein Urteil zu fällen, eine Entscheidung (zwischen Akzeptanz und Verwerfung) zu treffen. Dass die Kategorie ‚Theatralität’ bzw. ‚Theatricality’ sich anbietet, um genau die genannten Aspekte zu bündeln, liegt an ihrer besonderen Stellung in einem semantischen Feld, das Worte wie Inszenierung, Performance, Spektakel, Ereignis, Aufführung, Darstellung, Sichtbarkeit, Öffentlichkeit, Wahrnehmung, Körperlichkeit etc. umfasst. Im aktuellen Gebrauch der AutorInnen hat sich die Kategorie ‚Theatralität’ als Ausdruck erwiesen, der das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Gesichtspunkten hält, vor Einseitigkeiten oder Überdeterminierungen bewahrt und durch akademische Kommunikationsprozesse inzwischen auch soweit gefiltert ist, dass die pejorativen Konnotationen des Wortes ‚Theater’ bzw. die affirmativen des Wortes ‚Inszenierung’ (vgl. Fischer-Lichte 1998, 84ff.) ihre forschungsstrategische Relevanz verloren haben. Dennoch führt gerade die Differenz zwischen ‚Inszenierung’ und ‚Theater’ auf eine wichtige Spur, die historische und systematische Aufschlüsse liefert. Denn der Begriff ‚Theatralität’ macht zwar seit etwa zwanzig Jahren eine steile Karriere13, steht aber noch im Schatten des Terms ‚Inszenierung’, den seit Mitte der achtziger Jahre zahlreiche Publikationen aus diversen geisteswissenschaftlichen Disziplinen im Titel führen. Diese Hochkonjunktur des Inszenierungsbegriffs „erinnert in mancher Hinsicht an die Akkumulation von Titeln, die mit den Begriffen ‚Theatrum’ und ‚Theater’ operieren, wie sie im 17. Jahrhundert zu beobachten ist.“ (FischerLichte 1998, 81) Es handelt sich dabei freilich um eine Parallele, deren Signifikanz nicht allein durch den Hinweis auf die eklatante Häufung von Worten mit ähnlichen Bedeutungen ausgelotet werden kann. Ulrich Port hat vor übereilten begriffsgeschichtlichen Kurzschlüssen gewarnt und die These vertreten, dass „in unserem Jahrhundert kein topisches Analogon zum Theatrum mundi resp. Theatrum vitae humanae14 des 17. Jahrhunderts existiert.“ (2001, 227) Der komparatistische Versuch, Brücken zwischen dem Barock und der Spätmoderne zu schlagen, gerate in eine terminologische „Verlegenheit“, die man nur beheben könne, wenn man Begriffe „in Anschlag“ bringe, deren „operative[r]“ Status nicht verleugnet werde. Port selbst rekonstruiert mit entsprechend geschärftem Risikobewusstsein Warburgs Konzept des „Pathos“, das sich „als eine spezifizierte Form von ‚Theatralität’“ (ebd.) verstehen lässt. Damit liefert er Material zur Überprüfung der bekannten Diagnose Walter Benjamins, die Korrespondenzen zwischen dem 17. und frühen 20. Jahrhundert feststellt, weil „heute wie damals [...] das Werben um ein neues Pathos“ (ebd.) stattfinde. Ports methodische Behutsamkeit verdient sicherlich Respekt, führt aber zu einer Analysestrategie, die Erkenntnisgewinne verschenkt. 12 Ein wesentliches Merkmal des Theaters ist (von Proben einmal abgesehen) die Gleichzeitigkeit von ästhetischer Produktion und Rezeption: „Im Unterschied zu allen Künsten des Objekts und der medialen Vermittlung findet hier [im Theater] sowohl der ästhetische Akt selbst (das Spiel), als auch der Akt der Rezeption (der Theaterbesuch) als reales Tun in einem Hier und Jetzt statt.“ (Lehmann 1999, 12) 13 Vgl. Burns 1972; Greenblatt 1990; Schramm 1990; 1996; Fischer-Lichte 2001. 14 Siehe hierzu die Arbeit von Gonzáles Garcia über „die Metapher des ‚Theatrum mundi’“ und „das Barock als theatralisierte Gesellschaft“ (1996, 87f., 92ff.).
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Denn der entscheidende Unterschied zwischen Barock und Moderne wird erst dann sichtbar, wenn man die Fülle der Entsprechungen zur Geltung bringt. Zu den auffälligsten Merkmalen, die beide Epochen teilen, gehören die Formen des Spektakels, die das öffentliche Leben bestimmen. Als einer der ersten hat Guy Debord auf diese Übereinstimmung hingewiesen und seine Beobachtungen zur These von der Rückkehr des Barock in die heutige Gesellschaft zugespitzt (vgl. 1978, 105f).15 Die visuelle Theatralität und die gesellschaftlich zentrale Aufgabe der Repräsentation werden als diejenigen Phänomene betrachtet, die sowohl für das 17. als auch für das 20. Jahrhundert charakteristisch sind. Auf diese Weise kommen Modelle ins Spiel, die den modernen Prozess der Ausdifferenzierung einzelner funktionsspezifischer Subsysteme in Rechnung stellen und zugleich die ‚spektakuläre’ Vermittlungslogik16 von Ökonomie, Politik, bürgerlicher Öffentlichkeit und Ästhetik betonen. Eine noch präzisere und interessantere Vorstellung von den Gemeinsamkeiten beider Epochen lässt sich gewinnen, sobald in Betracht gezogen wird, dass nicht nur das 17. sondern auch das 20. Jahrhundert mit Problemen konfrontiert sind, die als „Krise der Repräsentation“ bestimmt werden können. Worin genau diese Krise besteht, ist allerdings strittig. Erika Fischer-Lichte hat eine zeichentheoretische Interpretation vorschlagen, die Elemente aus Foucaults Ordnung der Dinge verwendet: Im 17. Jahrhundert zerfällt die Lehre von den Ähnlichkeiten17, „aber ein neuer Begriff der Repräsentation ist noch nicht in Sicht.“ (2001, 7) Die Darstellungsweisen auf den Theaterbühnen und die offensive Theatralisierung des öffentlichen Raums durch die jeweiligen Machthaber sind Praktiken, in denen die Krise sich manifestiert, aber auch Wege zu ihrer Überwindung gesucht werden. Erst mit der Etablierung des dualistischen, referenziellen Zeichenbegriffs (im 18. Jahrhundert), zu dessen Akzeptanz und Übernahme das bürgerliche Theater durch die Transformation tendenziell aller performativer Funktionen in bedeutungsbildende einen wichtigen Beitrag leistet, verliert die Krise ihre Virulenz. Aber im 20. Jahrhundert bricht sie erneut aus. Die eindeutigen Relationen zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem (zwischen Signifikant und Signifikat) verlieren ihre Stabilität, und die Subjekte, die die Zeichenrelation kontrollieren und ggf. durch die Erfahrung intersubjektiver Konsense absichern sollen, geraten in den Sog einer Dezentrierung, die nur durch die Wiederkehr performativer Handlungspotenziale abgemildert werden kann.18 Wird der Zusammenhang zwischen Theatralität und Repräsentationskrise in dieser Form zeichentheoretisch rekonstruiert und eine Entwicklung von rituellmagischen Praktiken der Ähnlichkeit über die binäre Codierung von Sinn und Referenz hin zu einer Revitalisierung performativer und ereignishafter Darstellungs15 Vgl. Moser (2001, 281ff.), der diese These aufgreift, entfaltet und mit einer Analyse des Films The Truman Show verbindet: „The Truman Show als Theatrum Mundi“ (ebd., 293ff.); siehe ferner Crary (2002, 64f.), der Debords Analysen der Spektakelgesellschaft mit Foucaults Überwachen und Strafen (1976) vergleicht, und schließlich Burke (1993, 258ff.), der „die Kontinuität von bestimmten Mythen und Symbolen der abendländischen Gesellschaft“ hervorhebt.. 16 Man könnte in diesem Zusammenhang davon sprechen, dass die Spektakel-Theorie ein Modell für die „strukturelle Kopplung“ der Subsysteme anbietet, die Luhmanns (1997, 776ff.) in vieler Hinsicht unbefriedigende Analyse der prekären Beziehungen zwischen den einzelnen Funktionssystemen zu verbessern hilft. Vgl. Ellrich 2000a, 115ff. und Menke 2000b, 90ff. 17 Vgl. Foucault 1966/1971, 46ff.; Burke 1993, 171ff.; Fischer-Lichte 2001, 7f. 18 Vgl. Fischer-Lichte 2001, 12f.
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und Verhaltensmustern angenommen, so liegt es nahe, den Unterschied zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert in der eigentümlichen Leistung der theatralen Symbolisierung zu suchen. Während die Performanz im Barock dazu dient, Darstellung und Dargestelltes zwar nach-magisch, aber ebenso bestandsfest wie die überkommenen kultischen Handlungen zu verknüpften, und sich dabei zugunsten der referentiellen Funktion buchstäblich aufzehrt, hat die performative Ablösung der klassischen Referenzgarantien in der späten Moderne einen anderen Zweck. Die Darstellung soll nun nicht mehr auf ein Abwesendes verweisen, um es als Vermitteltes präsent zu machen, sondern geradewegs sein, was sie bezeichnet.20 Diese Art des performativ erschlossenen Seins, das sich regelrecht ereignet 21, erhebt aber nicht etwa den Anspruch, als ‚echt’ oder ‚authentisch’ zu gelten; es besitzt nur noch den Status einer Wirklichkeit, die neben anderen inszenierten Wirklichkeiten besteht: „Während [im 17. Jahrhundert] die Unterscheidung zwischen Sein und Schein grundlegend war, wird sie im 20. Jahrhundert hinfällig. Damit wird auch die für unsere Kultur so typische und traditionell fraglos gültige Entgegensetzung der positiv besetzten Begriffe Wahrheit, Wirklichkeit, Authentizität mit den negativ besetzten Schein, Simulation, Simulakrum fragwürdig, wenn nicht gar funktionslos. Ein solcher Umbruch, der bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingesetzt hat, wird heute vor allem durch die neuen Medien vorangetrieben. Medienwirklichkeit absorbiert immer mehr Lebenswelt. Mediale Simulationen, sogenannte virtuelle Realitäten, konkurrieren als mögliche Welten mit der empirischen Welt. Das Simulakrum wird zum Erfahrungsraum, und der mediale Schein erweist sich als eine der vielen Stufen von Scheinbarkeit, in die sich die traditionell als Gegensatz zum Schein erfahrene und definierte Wirklichkeit aufgelöst hat. Die neuen Medien tragen so wesentlich zur Theatralisierung unserer Alltagswelt bei, indem sie nur noch den Zugang zu einer inszenierten Wirklichkeit offen halten.“ (Fischer-Lichte 2001, 14)
Gegen diese Bestandsaufnahme lassen sich jedoch erhebliche Einwände geltend machen.22 Denn der Wert des Theater-Modells liegt darin, genau das Problem, das Fischer-Lichte mit ihrer scharfen These über die Differenz zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert eher beseitigt als löst, in der Schwebe zu halten. Das wird 19 Diese Verschiebung lässt sich z.B. an der veränderten Theaterpraxis aufzeigen: „Der heutige Zeichengebrauch im Theater verschiebt die semiotische Dimension, die darauf beruht, dass den verschiedenen theatralen Zeichen jeweils eine spezifische Bedeutung zugewiesen werden kann, zugunsten der performativen Dimension von Theater. Dabei rückt der Körper in seiner Materialität, Gestikulation und Stimmlichkeit ins Zentrum des Bühnengeschehens. Hinzu kommt die Beteiligung des Publikums, das nicht bloß Theater sieht, sondern zu interaktiver Teilnahme am Geschehen aufgefordert wird.“ (Fleig 2000, 89) 20 Fischer-Lichte zitiert als Beleg für ihre Rekonstruktion der ‚performativen Wende’ einen Text von Boris Armatov aus dem Jahre 1922, in dem hervorgehoben wird, dass der Schauspieler neuen Typs nicht mehr „den Anschein erweckt“, dies oder jenes (z.B. „kühn“ oder „scharfsinnig“) zu sein, sondern „es tatsächlich“ (2001, 13) ist. 21 Vgl. hierzu Mersch (2002, 157ff.), der unter Rekurs auf Fischer-Lichtes Arbeiten über Performativität eine Ereignis-Theorie vorlegt, und Phelan (1993; 1998), die ein Konzept der absoluten Präsenz verficht. Zur Kritik solcher Beschwörungen der Präsenz siehe Auslander 1999. 22 Argumente gegen die Auflösung des Scheinbegriffs hat Meyer (1992) zusammengetragen, die aktuelle Bedeutung von Authentizitätsbedürfnissen zeigen MüllerDoohm/Neumann-Braun 1995, 17ff.
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deutlich, wenn man der zeichentheoretischen Engführung der Repräsentationskrise ausweicht und die Verbindung von Barock und Spätmoderne eher mit Hilfe eines Konzepts zu erläutern sucht, welches Repräsentation und Souveränität aufeinander bezieht und Eckdaten für eine Entwicklungsgeschichte der Souveränität liefert, aus deren Warte das Verhältnis von Präsenz und Repräsentation wesentlich komplexere Formen annimmt als aus der Perspektive des von Fischer-Lichte favorisierten Ansatzes.
I I . R e p r ä se n t a t i o n u n d S o u v e r ä n i t ä t Ausgangspunkt dieses Alternativentwurfs ist der besondere Status des Theaters im 16. und 17. Jahrhundert: „Das Theater“ ist nämlich „der Ort [...], an dem sich die Frage nach der Repräsentation – nach ihrer Möglichkeit, ihrer Ordnung, ihren Grenzen – am nachhaltigsten stellt. Ja, mehr noch, das Theater ist der Ort, an dem am nachhaltigsten die Frage nach der Repräsentation der Souveränität gestellt wird.“ (Menke 1998, 77) Auf den ersten Blick erscheint die Repräsentation der Souveränität im 16. und 17. Jahrhundert als Phänomen, das sich einem funktionierenden Zusammenspiel zwischen der Theater-Bühne im engeren Sinne und der „theatralischen Zelebrierung der königlichen Herrschaft“ verdankt. Die „Poetik der [...] Macht“ überschneidet sich – wie Stephen Greenblatt behauptet – „in entscheidender Hinsicht mit einer Poetik des Theaters.“23 In beiden Bereichen werden die angestrebten Effekte durch die Erzeugung einer „privilegierten Sichtbarkeit“24 erreicht. Sowohl in der Welt der realen Machtpolitik als auch „im Theater muß das Publikum durch die sichtbare Präsenz der Monarchin [oder des Monarchen] mächtig erregt und in respektvoller Distanz25 gehalten werden.“ (Greenblatt 1990, 64) Ohne Schwierigkeiten lässt sich diesem Hinweis auf die offensichtliche Verbindung von Theatermacht und Machttheater die Angabe einer Regel hinzufügen, die das Verhältnis von Aufwand und Wirkung der Inszenierung26 bestimmt: „Die öffentliche und politische ‚Repräsentation’ bestand [...] in der theatralischen Darstellung der Macht, und je prunkvoller diese Darstellung der Macht war, desto größer war die Macht des Königs und sein Prestige dem Volk gegenüber.“ (Gonzáles Garcia 1996, 93) Dass Herrscher überhaupt auf derartige Spektakel angewiesen sind, wird gewöhnlich mit spezifischen Schwächen der bestehenden politischen Ordnungsform erklärt. Köni23 Greenblatt bezieht sich hier auf Arbeiten von Clifford Geertz über den „Theaterstaat“ 1980, 98ff.; 1983, 121ff.; vgl. dazu Ellrich 1999a, 191ff., 231f. 24 Dass uns heute diese „Sichtbarkeit der Macht im 17. Jahrhundert“ blendet und zu falschen theoretischen Schlüssen verleitet, gibt Campe (auf dessen Thesen ich noch zurückkomme) zu bedenken (1995, 55). 25 Zur Bedeutung dieser Distanz vgl. Burke (1993, 264) sowie Soeffner (1992, 196ff.). Beide Autoren diagnostizieren das Verschwinden der souveränen Distanz in der modernen Mediengesellschaft. Soeffner verknüpft zudem die Distanz mit Aura und Charisma, den Distanzverlust hingegen mit Populismus: „Der Charismatiker hat eine Gefolgschaft – der Populist ein Publikum.“ (ebd., 197) Siehe ferner Bohrer, der in seinen Studien zur „Ästhetik des Staates“ vom „kühlen Symbolismus der Souveränität“ (1988, 81) spricht und sie als eine im gegenwärtigen Medienzeitalter „selten gewordene, fast schon aristokratische Geste“ (ebd.) bezeichnet. 26 Dass nicht erst im 20., sondern bereits im 17. Jahrhundert „spontan erscheinende Aktionen bisweilen außerordentlich sorgfältig geplant und inszeniert“ wurden (Burke 1993, 259), ist hinreichend belegt.
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ge oder Königinnen (wie z.B. Elisabeth I.), die „ohne stehendes Heer, ohne hochentwickelte Bürokratie, ohne nennenswerte Polizeitruppen“ regieren müssen, haben gar keine andere Wahl, als ihre faktische Macht auf theatralische Formen der Repräsentation von Macht zu gründen. Sie herrschen nur, weil und solange sie „über die Ausübung der Einbildungskraft gebieten und daraus Gewinn ziehen.“ (Greenblatt 1990, 64) Greenblatts funktionale Analyse, die unverzichtbare ordnungspolitische Leistungen ins Feld führt, kann durch Überlegungen ergänzt werden, die ebenfalls die kompensatorischen Effekte der Theatralisierung betreffen, aber andere Schwerpunkte setzten. So hat etwa Peter Burke die forcierte Theatralisierung im Barock als (nur bedingt erfolgreiche) Antwort auf die „Krise der Repräsentation“ (1993, 169) gedeutet27, die ihrerseits aus einer „intellektuellen Revolution“ (ebd., 175) resultiert, in deren Verlauf die symbolischen Mittel, die zur „Präsentation des Monarchen“ eingesetzt werden, ihren Nimbus einbüßen. Die rhetorische Figur der „Analogie“, die eine „objektive Gleichsetzung“ des irdischen Herrschers mit dem Sonnenkönig bewerkstelligt, erscheint nur noch als „subjektive Metapher“. Mit dem „Aufstieg der Nüchternheit“ verliert „der Symbolismus“ generell „seine Unbefangenheit.“ (ebd.) In einer „zunehmend säkularisierten Welt“ wird die Suche nach Strategien, die das Bild des „geheiligte(n) König(s)“ (ebd., 177) bewahren und den Herrscher als eine Person hinstellen, die Gott repräsentiert, zum gravierenden Problem, das schließlich durch den Wechsel der repräsentierten Größe – an die Stelle von „Gott“ tritt die „Nation“ (ebd., 261) – gelöst wird. Einen anderen Weg schlägt Andreas Kablitz ein. Er interpretiert die vielzitierte ‚Repräsentationskrise’ als Krise traditioneller Verhaltensnormen und Sinnofferten. Dies führt zu einer historischen Vordatierung der ganzen Problemlage. Denn bereits im Mittelalter verfallen die bisher gültigen „Legitimationen der Macht“. Souveränität ruht nicht länger in sich selbst, sondern ist auf „Selbstinszenierung oder Selbstdarstellung“ des Machthabers angewiesen. „Das Tun des Fürsten (verlangt) nach einer Äußerlichkeit [...], die auch des Publikums nicht entbehren kann.“ Indem der Fürst sich zur Schau stellt, folgt er „eine(r) „Strategie, die darauf zielt, den Kategorien der überkommenen Ethik der Macht eine Substanz zu garantieren, die sie an sich selbst nicht mehr besitzt.“ (1996, 532) Worin diese Garantie letztlich besteht, zeigt sich „an der Unverzichtbarkeit der ammirazione der Untertanen für den Herrscher. Admiratio, das ist zum einen die Bewunderung, in der sich die gloria als Außergewöhnlichkeitsbezeugung realisiert. Ammirazione aber entwickelt zugleich noch einmal ihr Potenzial als eine species timoris, die mit dem Eingeständnis eigener Unterlegenheit einhergeht und deshalb die Macht zugleich stützt.“ (ebd., 560) Über derartige Kompensationstheorien, die immer schon die Wirksamkeit der hinreichend stark dosierten theatralischen Mittel unterstellen, wird man nur hinausgelangen können, wenn man die theatrale Form der Repräsentation näher untersucht und nach der ‚Eigenlogik’ ihrer Leistung fragt. Bei den ersten Schritten in diese Richtung gewinnt man freilich rasch den Eindruck, dass der Repräsentationsbegriff zu schillernd ist, um das Untersuchungsobjekt Theatralität zu erhellen. Rüdiger Campe sieht sich sogar veranlasst, den heiklen Begriff ganz bei Seite zu schieben. Die von Burke und anderen angeführte Krise der Repräsentation wird zu deren „Verblassen“ (1995, 56) umgedeutet und als Indiz dafür genommen, dass Repräsentation nur noch den „Proszeniumsrahmen“ einer „Schaubühne“ abgibt, auf 27 Darin ist ihm, wie bereits angedeutet, Erika Fischer-Lichte gefolgt. Durch eine „tiefgreifende Theatralisierung“, deren Kern das „Vexierspiel zwischen Sein und Schein“ ist, soll die Krise überwunden werden (2001, 9).
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der andere und neuartige Phänomene zum Vorschein kommen. Konzentriert man die Aufmerksamkeit der Analyse auf Repräsentation, so wird – laut Campe – das Entscheidende übersehen: Das Theater des Barock zeigt, was die zeitgenössische Theorie der Souveränität bzw. des Staates voraussetzen muss, aber nicht begrifflich explizieren kann. Die Dramen des 17. Jahrhunderts „öffnen [...] die in der Theorie vorausgesetzte Macht- und Kommunikationsordnung.“ (ebd., 70) Erst im „Vollzug auf der Bühne [...] löst (sich) ein theologisches Geheimnis oder ein theoretisches Paradox.“ (ebd., 61) Die ambitionierte These, auf die das close reading der alten Texte und Bühnenanweisungen hinausläuft, lautet mithin: „Drama und Oper decken die Aporien politischer Theorien als Aporien politischen Handelns auf und zeigen dabei, was politische Theorie in dieser Form nicht denken kann: Der Monarch sichert seine Souveränität im theatralischen Handeln.“ (Schäfer 2001, 110) Weshalb dieses Handeln erfolgreich ist, worin die genannte Sicherung liegt, bleibt aber noch unklar. Die Auskunft, dass die Semantik des Souveränitätsbegriffs im Lichte einer Untersuchung, die theatrale Vorgänge ins Visier nimmt, der „Performanz des Begriffs“ (Campe 1995, 60) Platz macht, reicht allein als Erklärung nicht aus. Der empfohlene Übergang vom Sagen zum Zeigen wird nur attraktiv sein, wenn zuvor das Sagbare ausgeschöpft worden ist. Armin Schäfer, der sich explizit auf Campes Studie beruft, schlägt deshalb vor, hinter der Krise der Repräsentation die potenzielle Krise der Macht wahrzunehmen, die auch und gerade einen Fürsten bedroht, der – allem Anschein nach – das selbstgesetzte Recht nach Gutdünken suspendieren kann und für seine Untertanen absolut unberechenbar ist. „Jeder Herrscher bedarf der Handlanger [...] Wegen dieser Abhängigkeit [...] ist der Monarch auch der permanenten Rivalität am Hofe ausgesetzt, hinter der die latente Gefahr einer Erhebung des Volkes lauert. Urszene der barocken Dramatik ist die Intrige. (..) Bedroht eine Intrige den Souverän, erzwingt sie den Ausnahmezustand, in dem wiederum der Souverän sich als Souverän erweisen muß.“ (Schäfer 2001, 110f.)
Ein solcher erzwungener Beweis der Souveränität kann (nach Schäfer) am besten dadurch erbracht werden, dass der Fürst seine basale Abhängigkeit und Gefährdung zugleich akzeptiert und durch Selbstinszenierung den Blicken entzieht. Indem er eine „Theatralik der clementia“ (ebd., 124) entfaltet, verzichtet er partiell auf den Einsatz der ihm zur Verfügung stehenden Macht, übt gleichsam eine Art „Zivilisierung von Gewalt“ (ebd., 101) und operiert durch seine nicht vorhersehbaren Akte der Milde und Gnade in einer gloriosen Sphäre jenseits der von ihm selbst erlassenen Gesetze.28 Diese Mischung „machiavellistische(r) und pastorale(r) Herrschaftstechniken“ mag eine Gipfelleistung theatraler Souveränitätssicherung darstellen, die die „moderne Machttechnik [...] vorbereitet“ (ebd., 102), ihre Bestimmung aber lässt noch keine Rückschlüsse auf die eigentümliche Performanz zu, welche ja für die (theoretisch nicht zureichend erfassbare) Souveränität des Fürsten charakteristisch sein soll. Lohensteins Theaterstücke, auf die sich Schäfer bezieht, demonstrieren, dass das ostentative Spiel mit der clementia die Macht steigert, weil es den Verzicht auf ihre uneingeschränkte Ausübung in das Spektrum möglicher Entscheidungen einfügt und doch die Unsicherheit über die künftige Entscheidung nicht behebt. Die virtuose Kommunikation über Begnadigungsoptionen, die zum Beispiel ein Drama wie Cleopatra vorführt, gibt auf der Bühne eine von keiner Theorie vorgesehene Lektion über die Effekte der realen politischen Theatralik. Das Drama erteilt seine Lehre freilich nicht durch eine kunstvolle Spiegelung der 28 Zum Verhältnis von Gnade und Souveränität vgl. auch Menke 2000b, 167ff.
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wirklichen Vorgänge, deren Wesenszüge – befreit von allem Beiwerk – im ästhetischen Vollzug plötzlich hervortreten, sondern gerade durch eine „Spiegelverkehrung“: Die „virtuelle Realität des Schauspiels“ setzt nämlich die „reale Virtualität“ jener Begründungsakte in Szene, denen die Souveränität sich verdankt (Campe 1995, 71, vgl. Schäfer 2001, 112). Aber auch dann, wenn diese komplexe These (deren Diskussion ich aufschiebe) zutrifft, blendet sie eine wichtige Seite des barocken Theaters aus: Die Schauspiele führen nämlich vor, wie gefährdet jede Form von Souveränität ist, die sich theatraler Mittel der Selbstversicherung bedient. Um diese Schwierigkeit zu erkennen, muss allerdings der Repräsentationsbegriff erneut in die Debatte gezogen werden. Die von Campe herausgestellte und problematisierte Mehrdeutigkeit des Begriffs (1995, 56f.) ist ja hinlänglich bekannt und immer wieder thematisiert worden. Sie allein liefert noch keinen zureichenden Grund, den Begriff preiszugeben. Im Gegenteil, sie kann Anstoß für den Versuch sein, eine Klärung herbeizuführen. Vielleicht hängen die im Begriff zusammengefassten verschiedenen Repräsentationsmodi von den Bedingungen ab, unter denen das Repräsentierte jeweils ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.
I I I . P r o b l e m e d e r Re p r ä s e n t a t i o n Carlo Ginzburg hat die genannten terminologischen Schwierigkeiten zum Anlass genommen, um „unsere trügerische Vertrautheit mit Worten wie ‚Repräsentation’ zu zerstören“29. Anhand von historischem Material, das auch in Ernst Kantorowicz’ Buch The King’s Two Bodies benutzt wird, versucht er, eine Erklärung dafür zu geben, warum die Repräsentation königlicher Souveränität im christlichen Abendland (wenigstens zeitweise) so erstaunlich erfolgreich sein konnte. Darüber hinaus erinnert er unter Rekurs auf Ernst Gombrich daran, dass zwar unterschiedliche Repräsentationsweisen mit demselben Ausdruck bezeichnet werden, aber dennoch ein deutliches Ungleichgewicht zwischen den semantischen Aspekten herrscht. Zunächst verweist Ginzburg auf die „Mehrdeutigkeit“ des Begriffs, die seinen Erfolg eher begünstigt als behindert hat. „Einerseits steht ‚Repräsentation’ für die vergegenwärtigte Wirklichkeit und evoziert daher Abwesendes; andererseits macht sie die vergegenwärtigte Wirklichkeit sichtbar und suggeriert folglich Gegenwart. Dieser Gegensatz ließe sich aber leicht umkehren: im ersten Fall ist die Repräsentation gegenwärtig, wenn auch nur als Surrogat, im zweiten ruft sie dagegen die abwesende Wirklichkeit, die sie repräsentieren will, ins Gedächtnis.“ (Ginzburg 1999, 97)
Aber nicht diese „Wechselspiele“ sind für Ginzburg als Ausgangspunkt seiner Überlegungen interessant, sondern die notorische „Bedeutungsschwankung zwischen Substitution und mimetischer Evokation“ (ebd.), die den Begriff Repräsentation bestimmt.30 Der Erfolg jener symbolischen Akte, auf die der Begriff referiert, 29 So heißt es in der ersten Fassung des Textes (1991), die Ginzburg für die Buchpublikation (1999) gestrafft und modifiziert hat. 30 Ernst Kantorowicz hat diese Differenz, soweit sie sich auf Symbole bezieht, die bei Begräbnissen französischer und englischer Herrscher eine Rolle spielen, mit der juristischen Theorie der „zwei Körper des Königs“ in Verbindung gebracht. Während das Symbol mit dem mimetischen Anspruch auf Amt und Institution (des unvergänglichen
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hängt jedoch davon ab, dass die Bedeutung mit dem höheren Abstraktionsgrad ein Übergewicht erlangt. Die Substitutionsleistung muss den Nachbildungswunsch in den Hintergrund drängen. Erst wenn diese Voraussetzung geschaffen ist, können religiöse Gedankenfiguren entwickelt werden, die für die Unanfechtbarkeit von Repräsentationen sorgen. Die grundsätzliche Frage, ob Repräsentationen eher depotenzierende oder auratisierende Effekte zeitigen, verwandelt Ginzburg in die Frage nach den kulturspezifischen Deutungsmustern, die dafür sorgen, dass die Darstellung höchster Macht oder Herrlichkeit gelingt und nicht zur Krise führt. Um seine Sicht zu profilieren, zitiert Ginzburg einen Text von Jean-Pierre Vernant, der sich mit religiösen Zeichen innerhalb des griechischen Kulturkreises beschäftigt: „Das religiöse Zeichen [...] zielt nicht nur darauf ab, im Geist des Menschen die heilige Macht zu evozieren, auf die es zurückgeht, es will vielmehr immer auch eine echte Kommunikation mit ihr herstellen, sie in der Welt der Menschen gegenwärtig werden lassen. Doch indem es auf diese Weise eine Art Brücke zum Göttlichen zu schlagen versucht, muß es zugleich die Distanz verdeutlichen, die Inkommensurabilität zwischen der heiligen Macht und allem, was sie, notwendigerweise [!] unzulänglich, in den Augen der Menschen sichtbar macht.“ (Vernant 1966, 255f., zitiert nach Ginzburg 1999, 105)
Vernant greift zwar ein Beispiel aus der griechischen Antike auf, möchte aber den Blick auf „universelle Merkmale des Zeichens“ lenken. Ginzburg hingegen versucht nachzuweisen, dass die aufgezeigte Schwäche der Repräsentation keineswegs unvermeidlich ist, sondern durch jenes besondere Modell göttlicher Anwesenheit überwunden werden kann, das auf dem christlichen Abendmahl beruht. Das „Dogma der Transsubstantiation“ liefert nicht allein die entscheidenden Argumente für die Kritik an Idolen und Reliquien, die Gott selbst oder die Leitfiguren seiner Gefolgschaft (z.B. die Märtyrer) bloß vertreten, sondern zielt auf „Präsenz im stärksten Wortsinne. Die Präsenz Christi in der Hostie ist [...] eine Superpräsenz. Ihr gegenüber muß jede Evokation oder Manifestation des Heiligen – Reliquien, Bilder – verblassen, jedenfalls in der Theorie. (In der Praxis verlaufen die Dinge anders.)“ (ebd., 112) Diese Einschränkung ändert freilich nichts am zentralen Befund: „Aufgrund der realen, konkreten, körperlichen Gegenwart Christi im Sakrament konnte sich zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert jener außergewöhnliche [...] Gegenstand entwickeln und schließlich zum konkreten Symbol der Abstraktion des Staates werden: das Repräsentation genannte Bildnis des Königs.“ (ebd., 113) Ginzburgs Behauptung ist anspruchsvoll und kühn. Das lässt sich allein schon daran ablesen, dass Carl Schmitt, für den bekanntlich „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre [...] säkularisierte theologische Begriffe“ sind (1985a, 49), in seinen Ausführungen zum Repräsentationsbegriff auf eine derartige Erklärung verzichtet hat. Immerhin beseitigt Schmitt die wohlbekannten Mehrdeutigkeiten des Begriffs mit Entschiedenheit und gibt zugleich Kriterien für das Feld des überhaupt Repräsentierbaren an: „Repräsentation ist kein normativer Vorgang, kein Verfahren und keine Prozedur, sondern etwas Existentielles. Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen. Die Dialektik des Begriffes liegt dar-
Königtums) hinweist, steht das Symbol, das den „Wunsch der Nachahmung“ unbefriedigt lässt, für den sterblichen Leib des Königs als Individuum. Vgl. Kantorowicz 1992, 422f.; Ginzburg 1999, 98 sowie Braungart 2001.
THEATRALITÄT UND SOUVERÄNITÄT | 43 in, daß das Unsichtbare als abwesend vorausgesetzt und doch gleichzeitig anwesend gemacht wird. Das ist nicht mit irgendwelchen beliebigen Arten des Seins möglich, sondern setzt eine besondere Art Sein voraus. Etwas Totes, etwas Minderwertiges oder Wertloses, etwas Niedriges, kann nicht repräsentiert werden. Ihm fehlt die gesteigerte Art Sein, die einer Heraushebung in das öffentliche Sein, einer Existenz, fähig ist. Worte wie Größe, Hoheit, Majestät, Ruhm und Ehre suchen diese Besonderheit gesteigerten und repräsentationsfähigen Seins zu treffen.“ (Schmitt 1928, 209f.)
Trotz dieser Entscheidung für eine klare Definition hat Schmitt die Probleme nicht übersehen, die mit der symbolischen Erzeugung der Anwesenheit eines Abwesenden gerade dann verbunden sind, wenn dem Abwesenden durch die eingesetzten Zeichen eine besondere, gesteigerte Dignität zugesprochen werden soll. Schmitt weist nämlich ausdrücklich darauf hin, dass es bereits im 17. Jahrhundert Versuche gibt, die „repräsentativen Qualitäten“, die mit dem „Pathos von gloire und honneur“ verknüpft sind, „zu disqualifizieren und die Repräsentation selbst als bloßes ‚Theater’ zu entlarven, indem [man] der Repräsentation des Fürsten und seines Hofes die demokratisch mit sich selbst identische Präsenz des homogenen Volkes entgegenstellt.“ (1932, 13) Damit hat Schmitt auch die Pole benannt, zwischen denen die Souveränität des Herrschers bzw. der herrschenden Institution31 angesiedelt ist: einerseits die „mit sich selbst identische Präsenz“, andererseits die inszenierte Repräsentation der höchsten Macht, welche stets in den Verdacht geraten kann, ‚bloßes Theater’ zu sein. Gegen diesen Verdacht vermag sich der Souverän nur durch zwei Strategien zu immunisieren: er muss sich entweder jeder Re-Präsentation enthalten oder eine Form der Darstellung finden, die seine Position nicht allein unangetastet lässt, sondern durch Zugewinne an Legitimität sogar verstärkt. Wie aber ist eine solche auratisierende, ihren Gegenstand aufwertende Darstellung möglich? Und ist sie unter Rückgriff auf theatrale Konzepte der Repräsentation jemals (oder allenfalls unter den historischen Bedingungen des 16. und 17. Jahrhunderts) gelungen? Gilt die Behauptung: „Wann immer etwas als heilig, erhaben und unantastbar Angesehenes auf der Bühne erscheint, wird seine Bedeutungsmacht aufs Spiel gesetzt“ (Primavesi 2001, 158)32 generell?
31 Hierbei ist zu beachten, dass sich nach Schmitt die Souveränität durch ein „persönliches Befehlsrecht“ (1985a, 40) auszeichnet. Denn die „Frage nach der Zuständigkeit“ (ebd., 46) kann nur mit dem Hinweis auf eine „individuelle Person oder [...] konkrete Instanz“ (ebd., 42) beantwortet werden. Den Zusammenhang von Institution, Repräsentation, Personalisierung und Verkörperung hat Karl-Siegbert Rehberg pointiert dargelegt: „Funktionierende institutionelle Formen stellen Möglichkeiten der Repräsentation ebenso sicher wie Inszenierungen der Präsenz. Beispielsweise müssen Herrscher multilokal verfügbar sein, so dass ihre Anwesenheit institutionell gesichert werden kann – selbst noch bei Abwesenheit, in effigie sogar noch nach deren Ableben. Repräsentation setzt Personifizierung voraus und suggeriert eine Einheit des Anwesenden mit dem Abwesenden, des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen und Zukünftigen. ‚Verkörperung’ ist die Form der Symbolisierung, die hier geleistet wird.“ (2001, 203) 32 Primavesi analysiert das Theater als „Schauplatz seiner eigenen Krise, einer Krise der Repräsentation und Interpretation.“ (2001, 177) Anhand von modernen Aufführungen antiker Stücke zeigt er, dass das Theater gerade „die Idee der Performance als eines reinen, unmittelbaren Vollzugs von Gegenwart und Gemeinschaft ad absurdum führen“ (ebd., 178) kann.
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IV. Das Theater und die depotenzierte S o u v e r än i t ä t Einen energischen Versuch, diese Fragen zu beantworten, hat Christoph Menke in zwei Aufsätzen (1998; 2002) unternommen. Menke begreift das „bürgerliche Theater (seit Shakespeare) und die städtische Oper (seit Monteverdi)“ als „ein neues Medium, das die sich repräsentierende Souveränität in eine unheilbare Krise stürzt.“ (2002, 2) Das Theater ist nämlich ein zentrales Element des revolutionären Prozesses, der den Übergang vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft ins Werk setzt. Durch die „demokratische Revolution“ wird – so die These – nicht bloß der Machthaber ausgetauscht, also das Volk an die Stelle des Königs platziert, sondern der Souveränität als solcher eine andere Form gegeben. Es kommt zur semantischen Umcodierung des Souveränitätsbegriffs, die auf eine (buchstäblich) ‚dramatische’ Entwertung letzter und höchster Entscheidungsgewalt herausläuft. Das Konzept der liberal-demokratischen Gesellschaft depotenziert die traditionelle Souveränität, weil es die Überzeugung vermitteln kann, dass die besitz-individualistisch geprägte Marktgesellschaft als politische Spitze keine derart unwiderstehliche, bindungslose Gewalt mehr benötigt. Allerdings beginnt die Arbeit an der Entmythisierung und Herabsetzung der überkommenen Souveränität nicht sogleich mit einer direkten Kritik des unbegrenzten Handlungspotenzials, das man dem traditionellen Machthaber zuschreibt. Vielmehr nimmt die Operation einen Umweg. Sie unterminiert die Souveränität, indem sie dafür sorgt, dass „das Problem ihrer Repräsentation neu gestellt und gesehen wird.“ (ebd.) Und dies wiederum geschieht – laut Menke – „zunächst weder theoretisch noch praktisch, sondern ästhetisch.“ (ebd.) Damit geht Menke nicht allein auf Distanz zu Theorien, die in der Ablösung des Königs durch das Volk keine qualitative Änderung der Souveränität erkennen können, er bereitet auch den Boden für eine alternative Einschätzung der gegenwärtig viel beklagten und angeklagten „Theatralisierung des Politischen.“ (ebd.) Um den depotenzierenden Effekt der theatralen Darstellung zu erläutern, unterscheidet Menke im Anschluss an Kantorowicz (1992, 50) zwischen einer realistischen und einer nominalistischen Auffassung der Repräsentation. „Realistisch ist eine Auffassung, in der dem Souverän ‚transzendente Realität, objektive Wahrheit und gottähnliche Existenz’ zukommt. Ihr gegenüber ist jede Repräsentation sekundär oder wiederholend: die Repräsentation verdoppelt eine Realität (der Souveränität), die unabhängig von ihr schon da und gegeben ist.“ Demgegenüber zeigt die nominalistische Art der Repräsentation, dass die transzendente Realität des Souveräns „statt vorausgesetzt zu werden, aus der ‚empirischen’ Realität hervorgehen, dass sie aus ihr gemacht werden soll.“ (Menke 2002, 7) Sobald Theater und Oper aus den höfischen Zusammenhängen heraustreten, in die sie bei Ludwig XIV. (jedenfalls in der ersten Phase seiner Regentschaft) noch eingebunden waren und ihre repräsentative Funktion reibungslos erfüllten33, findet eine „zugleich mediale wie politische Revolution“ statt. Nun kann sich der König nicht länger auf eine verbürgte außerweltliche Macht beziehen, er muss sich vielmehr im Verlauf der repräsentativen Handlung „zum Souverän erst machen, indem er sich vor den kritischen Augen des neu entstehenden Publikums als Souverän präsentiert – indem er, in der doppelten Bedeutung dieses Ausdrucks, vor dem Publikum ‚sich produziert’.“ (ebd.) 33 Wenn der König Apoll oder Herkules auf der Bühne darstellte, so wurden „diese Analogien [...] nicht als menschliche Konstruktionen betrachtet, sondern als objektiv gegebene Parallelen, als Realität.“ (Burke 1993, 173)
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Die spezifische Repräsentationskrise, die das Theater auslöst, scheint auf einem bisher nicht vorhandenen Anspruch des Publikums zu beruhen: Während die vormals vollzogenen Akte der Repräsentation zum Gelingen führten, weil sie eine abwesende, aber unbefragt gültige Realität durch symbolische Verweise bloß wiedergaben, ist das repräsentative Geschehen nun mit der „Erwartung“ der Zuschauer „konfrontiert, den Souverän gegenwärtig zu sehen, den Souverän gegenwärtig haben zu wollen.“ (Menke 1998, 74) Um diesem Anspruch zu genügen, muss der König „sich hier und jetzt zum König mach[en]. Auf dem Theater wird sichtbar, wie das geht: der König muss den König spielen.“ (ebd., 75) Damit aber zersetzt er zwangsläufig genau die Macht, die er in Szene setzen will. „Dass der Souverän auftritt, ist ein Widerspruch in sich.“ (ebd., 84) Denn als ein Akteur, der sich selbst vor den Augen der anderen, die ihn gleichsam (kunst-)kritisch beobachten, herstellt, zerstört der König die ihn legitimierende, ermächtigende Vorstellung von Souveränität. Bei dieser Vorstellung handelt es sich zwar von vornherein um ein phantasmatisches Konstrukt, aber gleichwohl (oder gerade deshalb) hat es gewirkt und war gegen den Vergleich mit den empirischen Prozessen der Machtgewinnung und erhaltung34 praktisch immun. Erst die theatrale Darbietung – so Menke – legt die unhaltbare Struktur des Phantasmas frei und löst auf diese Weise eine Reflexion über das Modell traditioneller Souveränität aus, der es nicht gewachsen ist.35 Nimmt man das Phantasma beim Wort, so zehrt die Macht des Herrschers, der Gott oder eine transzendente Realität repräsentiert, von „vermittlungsloser, identitärer Souveränität.“ (2002, 10)36 Nicht nur hängen die Entscheidungen des Trägers souveräner Macht nur von ihm selbst, seinem reinen Belieben ab, sondern der Regent erlaubt sich auch dort eine „Sichselbstgleichheit aller einfachster Art [...], wo für alle anderen Hindernisse auftreten und Entzweiungen aufbrechen müssen“. So hat er es zum Beispiel auch nicht nötig, seine Leidenschaften einer Prüfung durch die Vernunft zu unterziehen, was wiederum damit zusammenhängt, dass er „nicht der ‚äußeren’ Entzweiung [...] zwischen Absicht und Vollzug (und daher Ergebnis) der Handlung ausgesetzt ist. Etwas zu wollen, heißt bei ihm schon, dass es getan wird. [...] Leidenschaften, Absichten, Ergebnisse – diese drei Elemente des Handelns, die bei gewöhnlichen Akteuren von beständiger Entzweiung bedroht sind, fallen im souveränen Vollzug differenzlos in eins. Der Souverän ‚handelt’ im strengen Sinne nicht.“ (ebd., 4)
34 Vgl. die oben zitierte Passage von Armin Schäfer (2001, 110), in der auf die realen Abhängigkeiten und Gefahren der Souveränität und die ständig drohenden Intrigen hingewiesen wird. 35 Menkes Überlegungen implizieren also nicht die Annahme, dass die traditionelle Souveränität so funktioniert hat, wie es das Phantasma behauptet, sondern nur die Annahme, dass der Begriff der traditionellen Souveränität die Abhängigkeit und Begrenztheit des Souveräns nicht angemessen thematisieren kann. 36 Vgl. hierzu auch die berühmte Formulierung von Joseph de Maistre: „Auf welche Art auch immer man die Souveränität definiert und festlegt, sie ist immer unteilbar, unantastbar und absolut. [...] Die höchste Autorität kann sich ebenso wenig verändern wie veräußert werden: sie zu begrenzen heißt, sie zu zerstören. Es ist unsinnig, dass der Herrscher einen Vorgesetzten anerkennen soll.“ (2000, 75) Wegen dieses Absolutheitsanspruchs, der im Begriff der Souveränität enthalten ist, kann man auch folgende Bestimmung vorschlagen: „Souveränität meint: Bewusstsein fortbestehender Differenz zwischen dem gesetzlich Erlaubbaren und dem existentiell Geforderten.“ (Menke 2000b, 179)
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Auf der Bühne jedoch wird der Souverän unvermeidlich zum direkten Akteur. Denn im Drama findet der „Auftritt der (Selber-)Handelnden“ (Menke 1998, 82) statt. Wer hier bestehen will, muss sich den Gesetzen des Theaters anpassen. Unter den Bedingungen dramatischer Darstellung kann der Souverän nur erfolgreich sein, wenn er sich in einen „Virtuosen“ verwandelt, der „um die Anerkennung des Publikums buhlt.“ (Menke 2002, 6) Daraus ergeben sich allerdings Folgen, die unwiderruflich sind: Mit dem öffentlich dargebotenen Spiel des Souveräns werden „zugleich auch die Kräfte und Mechanismen sichtbar, die ihn zum Souverän machen.“ (Menke 1998, 84) Und genau diese theatrale Entblößung führt zur Auflösung der traditionellen Souveränität, soweit sie durch das Phantasma einer unvermittelten höchsten Macht gestiftet ist. Mit der Abdankung des feudalen Souveräns, den das Theater „erzwungen hat, wird die Bühne aber nicht abgebrochen.“ (Menke 2002, 2) Es entsteht vielmehr eine neue Form der Macht, die der Logik theatraler Repräsentation gehorcht: „Der ästhetisch inszenierte Sturz der königlichen Souveränität bedeutet den Beginn einer anderen, demokratischen Souveränität, der des Volkes. Der Souverän, der sich vor dem Publikum dazu erst machen muss, hat damit schon anerkannt, dass er seine Macht der Anerkennung durch ein Publikum verdankt, das eben dadurch, durch die Macht der An- oder Aberkennung von Macht, zum eigentlichen Machthaber oder Souverän geworden ist.“ (ebd., 9)
Das Theater stiftet mithin die Einsicht in die erhebliche Differenz von traditioneller und demokratischer Souveränität. „Diese Einsicht besteht in dem Bewusstsein, keine Macht über die Repräsentation der Macht zu haben. Eine demokratische Souveränität kann als depotenzierte die theatrale Verselbständigung ihrer Repräsentation nicht verhindern (wollen). Die theatrale Gefährdung demokratischer Souveränität ist eine Bedingung demokratischer Souveränität.“ (ebd., 11) Wenn diese These zutrifft, so verlieren theoretische Positionen, die in der „Theatralisierung demokratischer Politik eine Korruption, eine Verfälschung dessen, was die Demokratie wahrhaft ist“ (ebd., 10), sehen, ihr Gewicht. Denn die scheinbare Schwäche einer auf die Zustimmung des Publikums angewiesenen Herrschaftsform lässt sich unter Bedingungen der depotenzierten Souveränität nicht durch den Rückgriff auf substanzielle Gehalte ‚echter Demokratie’ korrigieren. Auch und gerade das Modell der Selbstrepräsentation des Volkes37 durch eine frei gewählte Regierung impliziert die Trennung von Akteuren auf der politischen Bühne und einem urteilswilligen und urteilsbegierigen Publikum. Darüber hinaus lässt sich das für demokratische Herrschaftsformen konstitutive Schau-Interesse nicht völlig von den Elementen der notorischen „Schaulust“ reinigen, welche stets die Gefahr in sich birgt, dass das „Auge [und] nicht das verständige Urteil“ (ebd.) über die Qualität der politischen Repräsentanten entscheidet. Eine emphatische Verteidigung der ‚wahrhaften’ Demokratie, die mit „Appelle[n] an republikanische Tugenden oder vernünftige Pro-
37 „Das demokratietheoretisch gezeichnete Bild der Politik ist [...] das eines Kreislaufs von Repräsentationen: Die Repräsentationen vor uns, die wir beurteilen, sind Repräsentationen von uns, die wir hervorgebracht haben. Diesen Kreislauf sieht aber gerade die neuzeitliche Demokratietheorie beständig bedroht: eben durchs Theater.“ (Menke 2002, 9) Zur ‚antitheatralischen’ Einstellung, die seit Rousseau sprichwörtlich ist, vgl. Barish 1981 und Vogl 1995, 33.
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zeduren“ arbeitet , verkennt die theatralische Basis demokratischer Souveränität und hängt „insgeheim noch dem Phantasma absoluter Souveränität an.“ (ebd., 10f.) Das bedeutet: Jede interne Kritik der Demokratie ist nur anspruchs- und sinnvoll, wenn sie deren theatrale Bedingungen berücksichtigt. Vordringlichste Aufgabe der kritischen Theorie kann daher nicht die Reduzierung inszenatorischer Formen der Politik (zugunsten eines von medialen Zugaben gesäuberten Face-to-faceDiskurses) sein, sondern nur der Versuch, „die Inszenierung transparenter zu machen.“ (ebd., 11)39
V . P r ä se n z u n d A u r a d e s P o l i t i s c h e n Eine Möglichkeit, dieses Programm zu erfüllen, könnte in der Differenzierung demokratischer Repräsentationsformen bestehen. Hier ließe sich zum Beispiel HansGeorg Soeffners Vorschlag, charismatische und populistische Theatralik zu unterscheiden, verwenden (1992, 177ff.). Der Distanzen aufhebende und Szenen der Verschmelzung von Politiker und Masse erstrebende Populismus markiert eine Gefahr für die Demokratie, vor der nicht einmal die theatrale Vermittlung des Politischen schützen kann. Es handelt sich hier um eine medial vermittelte Unmittelbarkeit, über deren Struktur Carl Schmitts Konzept des demokratischen Umschlags von Repräsentation in Präsenz Auskunft erteilt. Schmitt schwebt eine identitäre, auf völkischer Homogenität40 beruhende Gesellschaft vor, in der „diktatorische und zäsaristische Methoden nicht nur von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare Äußerungen demokratischer Substanz und Kraft sein können.“ (1985b, 23) Die Theatralik einer solchen Präsenz von Souveränität, die stets den Ausnahmezustand als potenzielles Kriterium der eigenen Legitimität anvisiert, hat sich von allen depotenzierenden Effekten befreit. Sie steigert vielmehr durch die Produktion einer auratischen Sphäre, die den Machthaber förmlich einhüllt, den Effekt der souveränen Epiphanie. Der Auftritt des Souveräns ist hier gerade nicht der theatrale Vollzug seiner Abdankung, wie Menke (1998, 75) darlegt, sondern die authentische Wiederholung seiner Investitur. Die eigentümliche Depotenzierung, die die modernen Repräsentationsweisen der Macht zu bewirken scheinen, werden von Schmitt zwar nicht verkannt. Er rechnet sie aber dem Geist des Liberalismus zu, der „das öffentliche Leben zu einem Schauspiel verkehrt und das Politische zur Unterhaltung reduziert“ (Kennedy 1988, 246) habe. Aus dieser Sicht bringt die Theatralisierung der Politik – ebenso wie etwa die moderne Rechtslehre Hans Kelsens (vgl. Schmitt 1985a, 29ff.) – das Kernproblem der Souveränität zum Verschwinden. Hans-Georg Flickinger diagnostiziert dementsprechend eine „Verkürzung des neuzeitlichen politischen Souveränitätsbegriffs“, die die „Nichtthematisierbarkeit politischer Ordnungsstiftung im modernen Selbstverständnis demokratisch-parlamentarischer Gemeinwesen“ (1990, 77) zur Folge hat. Die theatralische Depotenzierung der Souveränität erscheint hier als ein Akt der Verschleierung eines Phänomens, das Flickinger als „unvordenklichen Grund politischer Ordnungsstiftung“ (ebd.) bezeichnet. Wenn nämlich, so lautet sein Argument, die demokrati38 Mit solchen Appellen soll der Verfall der demokratischen Öffentlichkeit aufgehalten und ein Zustand verhindert werden, in dem nur noch der politische Event-Charakter und nicht mehr der Austausch divergierender Argumente zählt. 39 Diese Strategie erläutert Menke mit Bezug auf ein Projekt von Diedrich Diederichsen. 40 „Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“ (Schmitt 1985b, 14)
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sche Souveränität ihre eigene Herabsetzung inszeniert und sich von der Gunst des sich selbst repräsentierenden und zugleich von ihren Repräsentanten durch die Bühnenrampe getrennten Publikums abhängig macht, so ist dies eine „Souveränitätsbindung“, die ihrerseits auf einer „Entscheidung“ beruht, die „ein souveräner Ordnungsstifter getroffen haben muß.“ (ebd., 77) Der öffentliche Akt, mit dem der neue demokratische Souverän vor kritischen Zuschauern ‚sich produziert’, macht die notwendigen Voraussetzungen, die er in Anspruch nimmt, unsichtbar. Dies liege, so Flickinger, aber nicht allein an der theatralen Struktur des Vorgangs, sondern an einer falschen Wahrnehmung jenes von der modernen Demokratietheorie immer wieder beschworenen Systems „horizontaler Selbstverpflichtungen“, das an die Stelle der vormals „vertikalen Konstruktion der Abtretung von Macht“ (Rödel 1989, 134) getreten sein soll. Carl Schmitts Theorie liefere (bei aller Fragwürdigkeit mancher Thesen) eine heilsame Korrektur naiver Auffassungen von Demokratie, die nicht akzeptieren wollen, dass zur „inneren Logik des Politischen immer auch ein nicht rational aufzulösendes Element konstitutiv hinzu [gehört]; es ist deren Bedingung der Möglichkeit.“ (Flickinger 1990, 78) Genau dieses tranzendentale Fundament von Souveränität wird nun aber – wie Rüdiger Campe (1995) zu zeigen versucht – im Theater des Barock zum Vorschein gebracht. Ähnlich wie Schmitt und Flickinger und anders als Menke geht Campe davon aus, dass die Tiefenstruktur jener politischen Souveränität, die sich im 16. und 17. Jahrhundert bildete und zum Gegenstand von Theorie (Bodin, Althusius, Hobbes), Oper (Busenello/Monteverdi41) und Theater (Racine, Lohenstein) wurde, auch heute noch das politische Leben bestimmt. Campe unterstellt, dass traditionelle und moderne Souveränität gleichermaßen auf dem durch kein Gesetz eingeschränkten Befehlsrecht über Leben und Tod beruhen42 und dass diese „absolute Macht“ aus einer basalen „Zeremonie ihrer Einräumung“ hervorgeht, die paradox verfasst ist. Die Paradoxie entsteht, weil der erwählte Machthaber mit dem Akt der Machtübernahme dem Wunsch derer entspricht, die er sich gefügig macht, indem er ihre Aufforderung oder ihr Geschenk nur unter der Bedingung akzeptiert, dass er ganz nach eigenem Belieben Tötungsbefehle aussprechen und ihre Befolgung erwarten darf. „Der Tötungsbefehl ist die Gegenaufforderung, die alle anderen sei’s vorangehenden oder folgenden kommunikativen oder vertraglichen Bindungen unterläuft.“ (1995, 59) Dieser erste Befehl, der den Tod verlangt, ist – nach Campe – „in der Theorie des Staates“ (die zum Beispiel Hobbes entwirft) „schon vorausgesetzt.“ (ebd., 61) Das Theater verfügt, anders als die Theorie, die die „namenlose und unerhörte Gewalt“ des ersten Befehls ins Vorbegriffliche abdrängen muss, über Mittel, um eine solche Gewalt im Bühnenraum zu manifestieren. Aufführungen, die das leisten, kreisen freilich nicht um das Problem der gelingenden oder scheiternden Repräsentation, sondern stellen die Urszene der Souveränität vor Augen: „Wenn man von der Repräsentation her eine Verbindung zwischen Staatsrecht und Trauerspiel gesehen hat, dachte man meist an eine mehr oder minder bruchlose Umsetzung. Der Begriff der Verkörperung wird danach auf der Bühne dargestellt. Mit Zeremonie und Schauspiel der Souveränität ist dagegen eine Verschiebung gemeint. Im zeremoniellen 41 Auf die Oper Incoronazione di Poppea (1642) bezieht sich auch Menkes Analyse (2002, 3ff.). 42 Diese These hat Giorgio Agamben in seinem Buch Homo sacer (2002) nachdrücklich in Erinnerung gebracht, auf neuartige Weise hergeleitet und mit Debords Theorie der Spektakelgesellschaft verknüpft.
THEATRALITÄT UND SOUVERÄNITÄT | 49 Agieren ereignet sich die geschenkte Gewalt des souveränen Worts. Zeremoniös kann man dieses Sprachschauspiel erst in seinem Vollzug nennen, in dem ein theologisches Geheimnis oder ein theoretisches Paradox sich löst. Dieser Vollzug kann sich auf der Bühne, in einer erneuten Verschiebung, wiederholen.“ (Campe 1995, 61)
Der Status des Wiederholungsaktes, der sich als performatives Geschehen auf der Bühne ereignen soll, bleibt hier allerdings unklar. Campe fasst ihn als ein repräsentationsloses Vorkommnis auf und verweist auf Walter Benjamins Figur der souveränen Entscheidung, die nicht die Verbindung zu einer transzendenten Macht herstellt, sondern bloß die „Naturverfallenheit des Historischen“ bezeugt.43 Aber der Umstand, dass die Manifestation der höchsten Autorität sich nur als Wiederholungsakt, mithin als etwas Sekundäres ereignen kann, ist gerade das überdeutliche Zeichen für den unhintergehbaren Bezug auf eine vorgegebene transzendente Setzung.44 Allein schon die performative Struktur der Wiederholung unterwirft den souveränen Befehl der dualistischen Logik von Repräsentationen, die alles Einmalige, das doch der Ereignisbegriff beschwören soll, grundsätzlich in Frage stellt. Campe diskutiert diese Schwierigkeit nicht, weil er offenbar annimmt, dass die als „Verschiebung“ gedachte Anordnung von Wiederholungen (ebd., 70) gegen sie gefeit ist. Denn die Verschiebung, deren Resultat auf der Bühne zu besichtigen ist, hat den Charakter einer „Spiegelverkehrung.“ (ebd., 71) Das Schauspiel errichtet eine ästhetische Scheinwelt, eine „virtuelle Realität“ (ebd.), in der dasjenige, was in der wirklichen Realität unterstellt wird, aber weder theoretisch 45 noch alltagssprachlich beim Namen zu nennen ist, ans Licht kommt. Allein die performative Fassung des Begriffs der Souveränität vermag den Zuschauern eine Vorstellung davon zu vermitteln, dass das „Monstrum der Souveränität [...] sowohl von Anfang an da wie auch in dauerndem Entstehen (ist).“ (ebd., 68) Zu diesem Schluss gelangt Campe, weil er streng unterscheidet zwischen der sichtbaren Theatralik einer realen politischen Autorität46, die ihre eigenen Grundlagen und Voraussetzungen den Blicken entzieht, und den Bühnenereignissen, in denen die paradoxe Erzeugung von Souveränität auf mannigfaltige Weise (ebd., 70) durchgespielt werden kann. Die Schaubühne klärt das Publikum auf, aber sie fällt damit noch kein Urteil über die direkten oder indirekten Folgen jener Theatralisierung der Politik, die – nach Auskunft so vieler Forscher – für das 17. und das 20. Jahrhundert typisch sein soll. Menkes Frage, ob die medial in Szene gesetzte Macht durch ihre Darbietung eine Depotenzierung oder Steigerung erfährt, wird bei Campe nicht explizit formuliert und beantwortet. Während Menke von der Theatralik der Schaubühne auf die 43 In Benjamins Buch über den Ursprung des deutschen Trauerspiels tritt „nicht der Fürst auf, der in der Geschichte Christus repräsentiert, sondern der Souverän, dessen diktatorische Entscheidung das ‚Weltlich-Despotische’, Geschichte ohne Eschatologie und repräsentatio repräsentiert.“ (Campe 1995, 56) Diese Konstruktion markiert auch die deutliche Differenz zwischen Benjamin und Schmitt, der als Propagandist der „eigentlich katholischen Verschärfung“ nie die transzendente Deckung des Souveräns in Frage gestellt hat. 44 Vgl. hierzu auch Menkes Ausführungen zur Repräsentation (1998, 73f., 2002, 7f.). 45 Bodin beschreibt zwar ausführlich die Zeremonie der paradoxen Einsetzung des Souveräns (anhand der Wahl des Tartarenkönigs), subsumiert diese Narration aber dann unter den Begriff einer Schenkung, die nicht erwidert werden muss. Vgl. Campe 1995, 59f. 46 Mit der These, dass „uns heute die Sichtbarkeit der Macht im 17. Jahrhundert [...] blendet“ und auf die falsche Fährte der Repräsentationstheorie setzt, startet Campe (1995, 55) seine Analyse.
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Theatralik der demokratischen Politik schließt und einen differenzierten Souveränitätsbegriff entwickelt, beschreibt Campe, der die Verschränkung von Repräsentation und Souveränität in Abrede stellt, auf der Basis eines einheitlichen, quasi transhistorischen Souveränitätskonzepts (und darin stimmt er mit Schmitt überein) zwei Arten der dramatischen Kunst: das schale „Theater der Repräsentation“ und das lehrreiche „Schauspiel der Souveränität.“ (1995, 56) Aus diesem Konzept lassen sich freilich zwei Thesen ableiten, die auf die Depotenzierungsproblematik verweisen: 1. Die reale Symbolpolitik jenseits des Theaters ist insoweit erfolgreich, als es ihr gelingt, einen Schein (von Repräsentation) zu errichten, der die Ursprünge der Souveränität verdeckt. 2. Mit der Demonstration der Souveränitätsparadoxie auf der Bühne wird die Logik höchster Autorität zwar entblößt, aber keine Alternative angegeben. Da weder die mögliche Abschaffung noch die historisch vollzogene Modifikation von Souveränität (im traditionellen Sinne) in Aussicht gestellt wird, muss sie als ein gesellschaftlich notwendiges Übel akzeptiert werden. Beide (impliziten) Thesen zeigen noch einmal die Relevanz der Frage nach den Mechanismen theatraler Steigerung bzw. Depotenzierung. Während die Funktionsweise der Depotenzierung durch Menkes Analysen deutlich geworden sein dürfte, besteht bezüglich der theatralen Erhöhung (oder der kompensatorischen Wahrung) des Machtniveaus, die ja in den oben genannten Arbeiten von Geertz, Greenblatt, Burke, Gonzáles García, Kablitz, Schäfer und Fischer-Lichte behauptet wurde, weiterhin Klärungsbedarf. Nach Carl Schmitt geschieht die „Verbürgung und Steigerung der Souveränität in Akten direkt eingreifender, die Normalität durchbrechender Macht.“ (Menke 1998, 76) Der Souverän reagiert nicht bloß auf den Ausnahmezustand, er schafft sich selbst durch die Definition dieses Zustands die Voraussetzung für sein ostentatives Handeln, das die Kraft zur Entscheidung „unmittelbar gegenwärtig“ (ebd.) macht. Im Normalzustand liegt die Souveränität gleichsam brach, bildet ein bloßes Potenzial. Erst durch die Auseinandersetzung mit dem Bruch der geltenden Regeln und der faktischen Regelmäßigkeiten gewinnt sie – so Schmitts These – Selbstgewissheit und Evidenz. Aber die Theatralik solcher Aktionen47, die taktische Kühle und existenzielles Pathos zusammenführen, ist kein Garant für den angestrebten Mehrwert an Macht, der nur in Entscheidung und Eingriff realisierbar sein soll. Das ostentative Erscheinungsbild des Souveräns ist zu nah mit der Aktion verknüpft und zerfällt, wenn diese scheitert oder leer läuft. Schmitts Konzept bedarf deshalb einer Korrektur. Funktional ist Theatralik nämlich nur dann, wenn sie gerade an die Stelle von Entscheidungen und Eingriffen tritt. Eine effektive Theatralisierung der Politik ermöglicht die Verzögerung und mitunter sogar die Aussetzung von definitiven, nicht mehr zu revidierenden Taten der politischen Exekutive. Gelungen ist die Repräsentation von Souveränität, wenn das gebotene Spektakel (durch den Einsatz von Personen, welche hier und jetzt vor ihrem Publikum auftreten) die Präsenz entschiedenen Vorgehens demonstriert, indem es folgenreiches Handeln zugunsten einer künftigen, vermittelten Gegenwart vertagt. Politische Theatralik beugt damit möglichen Machteinbußen vor, die oft genug aus dem riskanten Zugriff auf letzte Mittel (wie etwa Gewalt) resultieren.
47 Menke hat auf Schmitts exemplarische Verknüpfung von souveränem Eingriff und Theaterspiel in dessen Arbeit über Hamlet und Hekuba hingewiesen. Souveränität zeigt sich hier darin, dass sie ein Tabu über die im Theater vorzeigbaren Handlungen verhängt. Wenn und soweit diese Form der Zensur spürbar und sichtbar wird, ist das Theater „der Ort gelingender Repräsentation des Souveräns.“ (Menke 1998, 76)
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Um die Wirkung theatraler Vorgänge im Bereich der Politik beurteilen zu können, ist also zuvor die irreführende Konstellation von Repräsentation und Präsenz, die Schmitts Souveränitätstheorie nahe legt, zu verabschieden. Erst dann wird klar, dass Depotenzierung von Souveränität durch theatrale Mittel nicht nur die Erzeugung einer auf die Gunst des Publikums angewiesenen, mithin relativen Macht, sondern auch die Transformation der politischen Akzeptanzmotive bei den Zuschauern bedeutet. Die Depotenzierung und die mit ihr verbundene ostentative Selbstzurücknahme der Macht erweist sich als eine spezifische Form der Steigerung: Das theatrale Herabstufen von Souveränität erhöht nämlich die Bereitschaft, die erkennbare Präsentation bloß vorgespielter Einstellungen und Handlungen als Darstellung eminenter Handlungspotenziale zu würdigen, die nur anwachsen können, solange sie nicht durch spontane und exzessive Aktionen vergeudet werden. Inszenierte Betriebsamkeit und Entschlossenheit erscheinen nun als überzeugende Alternativen zu Handlungen, deren Unberechenbarkeit mehr Furcht einflößt als die Vorstellung von einer Macht, die sich aufspart und durch souveräne Zurückhaltung gedeiht. Welche Mittel geeignet sind, um diese Spezialeffekte zu erzielen, lässt sich nicht generell bestimmen. Die Erfolge von Pomp (Geertz 1980; Burke 1993), Pathos (Port 2001, 251) und großen Gesten ( Henke 1995, 50) sind von den jeweiligen historischen Situationen abhängig. Das gleiche gilt für die Faszinations- und Bindungskräfte von Echtheitsbeweisen einerseits, raffinierten Maskeraden andererseits. Ob die deutliche Ausstellung der eingesetzten Verfahren und Tricks Bewunderung auslöst oder den Manipulationsverdacht weckt, ist von Dispositionen des Publikums abhängig, die durch theatrale Mechanismen beeinflusst, aber nicht total determiniert werden können.48 Bei der „Choreographie der Herrschaft“ beruhen die Effekte nicht erst in der Moderne, sondern bereits in früheren Epochen auf einer „verdichteten Künstlichkeit.“ (Rehberg 2001, 203f.) Gemeint ist damit „nicht die bürgerlich verbreitete und moralisch aufgeladene Differenz von ‚bloß Vorgespieltem’ und einer (protestantisch-innerlichen) Authentizität der ‚wahren Person’, sondern die Steigerung des Dramatischen in actu“. Bereits im Mittelalter gibt es, wie Rehberg im Anschluss an Untersuchungen von Gerd Althoff bemerkt, Formen von Theatralität, die als „rational durchkalkulierte Handlungsabläufe“ und „genau ausgehandelte Emotionsdarstellungen“, mithin als „inszenierte Magie“ (ebd., 204) beschrieben werden können. Die theatralisch bewirkte Steigerung oder Stabilisierung von politischer Autorität, die sich ggf. in einer Legitimationskrise befindet, ist deshalb nicht grundsätzlich davon abhängig, dass die ästhetischen, rhetorischen und technischen Verfahren, mit denen die Präsenz des Souveräns dargestellt wird, für die Zuschauer unsichtbar sind. Der Glanz der Vorführung muss keineswegs per se als Abglanz einer transzendenten Realität erscheinen. Die Inszenierung kann auch als Inszenierung überwältigen. Gerade moderne Formen der Repräsentation von Souveränität machen sich diese Möglichkeit zu Nutze. Auch der hier und jetzt auf der politischen Bühne erschaffene Medien-Körper des Souveräns erhält eine Art Substanz, die nicht auf die Anerkennung des faszinierten Publikums reduzierbar ist, sondern im medialen Arrangement selbst wurzelt. Es wirkt durch seine immanente Realität, die den Betrachtern den Eindruck vermittelt, dass die Souveränität ganz und gar für das Publikum durchsichtig wird, sobald sie die Art und Weise ihres ‚Gemachtseins’ be48 Vgl. hierzu die These von Rüdiger Ontrup: „Die Vorstellung von Souveränität und Verantwortlichkeit handlungsmächtiger Regisseursubjekte, die die wichtigsten Fäden in Händen halten und uns dabei auch täuschen und manipulieren, ist einer der machtvollsten Effekte der Massenmedien selbst.“ (1998, 21)
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reitwillig und über jeden Manipulationsverdacht sich erhaben zeigend vor Augen führt. Der Transparenzeffekt (und das hat nichts mit der von Fischer-Lichte diagnostizierten Aufhebung der Differenz Sein und Schein zu tun) löst unter diesen Bedingungen medialer Selbstpräsentation den Anschein einer transzendenten Deckung ab.
V I . D i e s i c h t b a r e u n d d i e l at e n t e M ac h t Um die besondere Funktion dieses Transparenzeffektes näher zu bestimmen, muss ein theoretisches Modell herangezogen werden, das das Problem der Sichtbarkeit von Machtmechanismen und Machthabern in einer Weise thematisiert, die erheblich von den bislang diskutierten Ansätzen abweicht. Die Vertreter dieses Konzepts gehen zwar (ebenso wie etwa Menke) von einer Umstrukturierung der Souveränität in der frühen Moderne (seit dem 18. Jahrhundert) aus, sie unterstellen aber weder eine depotenzierte Souveränität noch eine weitgehende Abhängigkeit der demokratischen Exekutive von der Anerkennungsmacht ihres medial (in-)formierten Publikums. Der hier diagnostizierte Wandel bezieht sich daher nicht auf den Übergang von einer traditionellen Souveränität, die ‚realistischer’ Repräsentationen bedarf, zu einer demokratischen Souveränität, die mit ‚nominalistischen’ Repräsentationen auskommt, sondern meint die Ersetzung der spektakulären souveränen Macht durch die Disziplinar- oder Schriftmacht: „Die traditionelle Macht ist diejenige, die sich sehen läßt, die sich zeigt, die sich kundtut und die die Quelle ihrer Kraft gerade in der Bewegung ihrer Äußerung findet. Jene aber, an denen sich die Macht entfaltet, bleiben im Dunkeln; sie empfangen nur soviel Licht von der Macht, wie diese ihnen zugesteht: den Widerschein eines Augenblicks. Ganz anders die Disziplinarmacht: sie setzt sich durch, indem sie sich unsichtbar macht, während sie den Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt.“ (Foucault 1976, 241) Diese Form der Machtausübung „stellt die Individuen in ein Netz des Schreibens und der Schrift; sie überhäuft sie und erfaßt sie und fixiert sie mit einer Unmasse von Dokumenten.“ (ebd., 243)49
Mit dem Wandel der Repräsentationsweisen von Macht, der sich an der Verschiebung des Sichtbaren und Unsichtbaren ablesen lässt, geht demnach eine Transformation der Machtinteressen und Machtpraktiken einher. Während der Souverän (wie ihn Antike, Mittelalter und Barock imaginieren) seine Stellung auf eine ‚negative’ Macht, nämlich das „doppelte Recht über Leben und Tod als Kriegsmacht und Strafinstanz“ gründet, zeichnet sich die Disziplinar- oder Schriftmacht durch ‚positive’ Verfahren aus, „die das Leben bis zum Körper des Einzelnen bewirtschafte(n)“. So entsteht ein neuer, bio-politisch geformter „Gesellschaftskörper, [...] der vom corpus mysticum mittelalterlicher Souveränität weit entfernt ist.“ (Vismann 1998, 140) Die Machtapparate kümmern sich nicht mehr primär um das Hohe und Wertvolle, das sie in feierlichen Akten der Repräsentation dem Volk offenbaren, sie richten nun ihre Aufmerksamkeit auch und gerade auf das Minderwertige und Singuläre; und der „einzelne Fall“ wird „um so intensiver“ erfasst und erforscht, 49 Vgl. auch Foucault 1999, 45ff.; ferner: Balke 1997, 61f. und Ernst 1998, 198ff. Bei dieser analytisch fruchtbaren Unterscheidung zweier Formen der Macht sollte aber nicht das „Inspektionssystem“ vergessen werden, über das auch schon die traditionelle theatrale Macht (jedenfalls im Frankreich des 17. Jahrhunderts) verfügte, vgl. dazu Grawert-May 1980, 132f.
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„je ‚niedriger’ er in sozialer (der Arbeiter), medizinischer (der Kranke), pädagogischer (das Kind), psychologischer (der Wahnsinnige) oder juristischer (der Kriminelle) Hinsicht eingestuft wird.“ (Balke 1997, 61) Trotz dieser einschneidenden Veränderungen der Machtmechanismen gerät – wie Foucault bemerkt – die Vorstellung von einer sich in theatralischen Selbstdarstellungen zugleich verschwendenden und regenerierenden Souveränität, die die Gesellschaft von einem erhöhten, zentralen und deutlich erkennbaren Ort her lenkt, keineswegs außer Mode. Die Theorie der Souveränität bleibt im 18. und 19. Jahrhundert weiterhin attraktiv, denn sie dient einerseits zur „Kritik der Monarchie und aller Hindernisse, die sich der Entwicklung der Disziplinargesellschaft in den Weg“ stellen, und sie ist andererseits ein probates Mittel, das die „Verfahrensweisen“ der neuen, „nicht-souveränen“ Gestalt der Macht wirksam „verschleiert.“ (Foucault 1999, 47) Welchen Wert diese Verschleierungsthese besitzt, lässt sich erst ermessen, wenn man in Betracht zieht, dass im Zuge des 20. Jahrhunderts nicht nur die Theorie der Souveränität einen Aufschwung erlebt, sondern auch die theatralische Selbstinszenierung der Politik Formen annimmt, welche den Eindruck erwecken, dass die alte Kultur des Spektakels zurückgekehrt ist und die Herrschenden sich weniger denn je verbergen können und wollen.50 Neue Sichtbarkeit und Theatralität der Macht – entscheidend gefördert durch das Medium Fernsehen – gelten zumeist als emanzipatorische, wenn auch in mancher (z.B. moralischer) Hinsicht fragwürdige und hypertrophe Elemente moderner Massen-Demokratien. Nur gelegentlich bestimmt man sie als Phänomene, die ein falsches Bild der wirklichen Verhältnisse liefern, weil die faktische Macht ganz andere „Register“ (Ernst 1998, 202) zieht. Dem Publikum wird – so heißt es gewöhnlich – durch die entfesselten Medien nicht nur wie einst die Vorderbühne präsentiert, sondern endlich Einblick in die obskuren Räume der Hinterbühne gewährt.51 Das Geheime und Private gerät ans Licht der Öffentlichkeit. Und Personen, die hohe Ämter bekleiden oder künftig bekleiden wollen, ‚produzieren sich’ (um die Metapher aus Menkes Beschreibung der ‚Theaterkönige’ aufzugreifen) ohne Unterlass vor Zuschauern, Wählern und professionellen Beobachtern aus der Medienbranche.52 Auf diese (vermeintlich evidenten) Sachverhalte haben mit erstaunlicher Eilfertigkeit zahlreiche Soziologen und Politologen reagiert und den Versuch unternommen, eine zeitgemäße Elitetheorie zu entwickeln. Das vormals oft kritisierte, aber nicht zwingend widerlegte Konzept der latenten „power elite“ (Mills 1956) wird endgültig zum alten Eisen geworfen. Man geht jetzt davon aus, dass die Machteliten zu Aufmerksamkeitseliten und die klassischen Führungskader zur medienfixierten Polit-Prominenz mutiert sind.53 Die Theatralität demokratischer Herrschaftsformen lässt offenbar nicht allein beim gewöhnlichen Publikum, sondern auch unter wissenschaftlichen Beobachtern die Meinung aufkommen, dass der Regierungsapparat transparent geworden ist. Solche modischen Ideen über Sichtbarkeit und mediale Abhängigkeit der Machthaber verlieren allerdings durch die Befunde neuerer empirischer Untersuchungen an Plausibilität. In den „Schaltzentralen politischer Kommunikation“ agieren nämlich Personen, die ihre Arbeit „in einer legi50 Siehe dazu die näheren Ausführungen bei Ellrich 1999a, 230ff. 51 Vgl. Meyrowitz 1985, dessen Argumenten sogar Habermas (1990, 48f.) im neuen Vorwort zu seiner berühmten Öffentlichkeitsstudie von 1962 zumindest teilweise beipflichtet. 52 Dieser oft beklagte Zustand hat sowohl ironische (Hitzler 1991) als auch bierernste (Schröder 2002) Apologeten gefunden. 53 Vgl. die ausführliche Darstellung dieser Position bei Ellrich 2002a.
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timatorischen Grauzone“ (Tenscher 2000, 15) verrichten, das Licht der Medienpräsenz scheuen und keinerlei Aufmerksamkeit erregen wollen. Ähnliche Verhaltensweisen und Einstellungen sind (von wenigen Stars – wie etwa Bill Gates – abgesehen) unter den Mitgliedern jener sogenannten Cyberelite verbreitet, deren Produkte die künftigen Strukturen der Kommunikation in den Bereichen Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Kultur maßgeblich prägen werden.54 Angesichts der vorliegenden Studien über ‚latente’ Eliten liegt der Gedanke nahe, dass die „Theatralität von Machtrepräsentationen“ (Ernst 1998, 202) wesentliche Aspekte der bestehenden politischen Verhältnisse derart unkenntlich macht, dass nur das Theater selbst die medialen Prozesse der Aus- und Überblendung zu korrigieren vermag: zum Beispiel durch eine gar nicht beabsichtigte Präsentation der Bühnen-Maschinerie, die souveränes Verhalten überhaupt erst ermöglicht55, oder durch die „theatralische Präsentation der Leere“, die „die Medien kultureller Sinnvermittlung“ mit ihrer Überproduktion an Bildern auszufüllen suchen (so in Christoph Marthalers Inszenierung Goethes Faust Wurzel aus 1+2). 56 Wenn man die unterschiedlichen Argumente und Forschungsergebnisse, die innerhalb der laufenden Debatten und Diskurse über Theatralität vorgelegt wurden, miteinander vergleicht und eine Art Zwischenbilanz zu ziehen versucht, so wird man wohl am ehesten folgendes entwicklungsgeschichtliche Modell favorisieren: Im 16. und 17. Jahrhundert gleicht die theatralische Selbstinszenierung des Souveräns faktische Machtdefizite aus. Im 18. und 19. Jahrhundert geht diese Form der politischen Performanz zurück, weil inzwischen effektivere Mittel zur Ausübung sozialer Kontrolle und zur Eindämmung von Legitimationskrisen verfügbar sind. Als Flankenschutz wird allerdings eine hochartifizielle Staatsrechts-Semantik kultiviert, die um das Phantasma der Souveränität kreist. Im 20. Jahrhundert, das in erster Linie durch Bevölkerungsexpansion, ökonomische Krisen und technische Innovationen bestimmt ist, entstehen auf der Basis der Medienevolution neue Formen der politischen Theatralik, die zum Doppelcharakter der modernen demokratischen Souveränität passen. Denn die Souveränität teilt sich nun in eine repräsentierbare und eine nicht repräsentierbare Sphäre. Während dort coram publico eine ungebremste Dynamik der Entblößung und Belichtung herrscht, werden hier die ent-
54 Vgl. Ellrich, 2000b; 2001; 2002a, 2006a. 55 So zu besichtigen in Botho Strauß’ Ithaka, vgl. Menke (1998, 77ff.). 56 Vgl. Müller-Doohm/Neumann-Braun 1995. Beide Autoren geben zudem Foucaults Verschleierungsthese eine interessante Wendung. Sie versuchen nämlich zu erklären, wie die Disziplinar- oder Schriftmacht buchstäblich von der Bildfläche verschwindet: Die „globale Visualisierungstendenz hängt aufs engste mit der epochalen Expansion elektronischer Medien zusammen, deren Entwicklungslogik darin besteht, Wörter und Texte in digitale Bildzeichen zu transformieren. Die Wirklichkeit erscheint als Wirklichkeit autonomer Bilder mit der ihr eigenen suggestiven Kraft“. Der Inszenierungscharakter der Bilder, „das Synthetische der Bilddarstellungen (wird) geleugnet“. Es herrscht der „Authentizitätseindruck visueller Präsentationen“. Aufgerichtet wird ein „machtvolle(r) Schein visueller Symbolismen, die Artefakte von besonderer Anschaulichkeit sind und aus diesem Grund als Reproduktionen von Realität schlechthin gelten.“ Aber die Archive und ihre Normalisierungskräfte lösen sich deshalb nicht auf: „hinter der Sichtbarkeit der Bildkultur, durch die Wirksamkeit der optischen Simultaneität gleichsam verhüllt“, liegt „ein Außerbildliches [...]: die Textualität der Schriftkultur. Sie verschwindet im Visualisierungsprozeß, weshalb Bilder nur den Schein der Transparenz erzeugen, der durch den ‚Mechanismus der Repräsentation’ entsteht.“ (Müller-Doohm/Neumann-Braun 1995, 17ff.) Zur Möglichkeit, die Macht der Bilder zu brechen, siehe Ellrich 1996, 571.
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scheidenden Machtmechanismen und das relevante Führungspersonal latent gehalten. Sind die hier angestellten Überlegungen – zumindest in ihren Grundzügen – haltbar, so ließen sich folgende Thesen formulieren: 1. Eine zeitgemäße Kulturwissenschaft hat die Aufgabe, genau jene Mechanismen zu untersuchen, welche die Entwertung, Steigerung, Modifikation und Kaschierung von gesellschaftlicher Souveränität durch massenmediale Konstrukte bewirken. 2. Die medientheoretische Zuspitzung des Begriffs ‚Theatralität’ dient nicht der thematischen Ausrichtung des heterogenen Gebildes ‚Kulturwissenschaft’, sondern leistet einen relevanten Beitrag zur Theorie der demokratischen Öffentlichkeit57, die sich heute im Spannungsfeld zwischen Spektakelkultur und neuer Arkanpolitik zu bewähren hat.58
57 Zur medialen Prägung der gegenwärtigen Formen von Öffentlichkeit vgl. insbesondere Wenzel 2001. 58 Vgl. Ellrich/Maye/Meteling 2009.
3. E T H N O G R A P H I E D E S T H E A T E R S : C A R L N I E S S E N S „H A N D B U C H D E R T H E A T E R -W I S S E N S C H A F T “ Viele ethnologische Werke, die zu den Klassikern der Disziplin gehören, enthalten Theorien, die inzwischen widerlegt sind, und Ideen, die unter Kennern als fragwürdige Spekulationen gelten. Wer diese Bücher heute noch zur Hand nimmt, will sich offenbar nicht mit dem ‚state of the art’ vertraut machen, sondern etwas ganz anderes wissen und ggf. zum Vorschein bringen. Verschiedene Motive können dabei im Spiel sein: zum Beispiel ideologiekritische Absichten oder fachhistorische Interessen, vielleicht auch der Wunsch herauszufinden, in welchem Umfang die Darstellung des erforschten Gegenstandes durch (falsche) Theorien beeinträchtigt wird, oder gar das pure Gefallen an einer überbordenden Materialfülle und stofflichen Vielfalt, wie sie in aktuellen Publikationen, die den Gesetzen der ‚lean production’ zu gehorchen scheinen, nur noch selten anzutreffen sind. Eine solche Fokussierung auf das Material bei gleichzeitiger Ausblendung veralteter theoretischer Modelle ist charakteristisch für die heute gepflegte Lektüre bedeutender Klassiker. Das gilt nicht allein für Frazers The Golden Bough (1890-1915), dessen evolutionistisches Programm sich erledigt hat, sondern auch für Lévi-Strauss’ vierbändige Mythologiques (1964-1971), deren Strukturkonzept aus der Mode gekommen ist. Man könnte glauben, dass Carl Niessen diese Entwicklung geahnt und deshalb in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem Fortschritt der Wissenschaft die entsprechende Askese geübt hat. Sein dreibändiges Handbuch der Theaterwissenschaft1, welches zu 80% aus völkerkundlichen Daten und Beschreibungen besteht, enthält einige Kernthesen, aber ansonsten erstaunlich, oder (wenn man so will) erfrischend wenig Theorie. Der Autor scheint Aussagen, die nach Gesetzen der Logik zu Theorien verknüpft werden, und Kriterienkataloge, mit deren Hilfe man den behaupteten Wahrheitsgehalt der Aussagen überprüfen kann, nicht recht über den Weg zu trauen. Was ihn anzutreiben scheint, ist seine kaum zu bändigende Sammelleidenschaft, die keine kategorialen Unterschiede zwischen den extrem heterogenen Fundstücken macht.2 Niessens ausgeprägte Fähigkeit, Assoziationsketten zu
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Ich zitiere aus dem Handbuch im Folgenden ohne weitere Angabe; die römische Ziffer gibt den Band an, die arabische die Seite. Niessen rechtfertigte sein Vorgehen mit der „Totalität der Betrachtung“ (I, 549), die er anstrebt. Wie eine solche Gesamtschau ins Werk zu setzen ist, soll freilich nicht allein das Handbuch exemplarisch vorführen, sondern auch das von Niessen gegründete Kölner Theatermuseum (ab 1955 in Schloss Wahn). Hier realisierte er – zumindest in Ansätzen – seinen Wunsch, alle möglichen greifbaren Utensilien, Dokumente, Kostüme, Masken, die von einstigen theatralischen Ereignissen Zeugnis ablegen, vor Verfall und Vergessen zu bewahren. – Ohnehin hat die Theaterwissenschaft, seiner Ansicht nach, die zentrale Aufgabe, durch Sammlungen, Dokumentationen, Ausstellungen, Kataloge etc. dem mangelnden „Verewigungsdrang“ der Bühnen (vgl. Niessen 1952, 270) entgegen zu wirken und den ephemeren Charakter der raum-zeitlich situierten
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bilden und metonymische Verbindungen herzustellen, führt oft zu ebenso verblüffenden wie irritierenden Assemblagen. Lesefrüchte aus diversen Epochen und Kulturkreisen werden auf kleinstem Raum zusammengedrängt oder gar zu einem hermeneutischen Cocktail verrührt, der jeden Genießer vor die Frage stellt, ob er hier nach verborgenen Korrespondenzen suchen oder sich einfach der schieren Freude am Arbiträren und Hybriden anheim geben soll.3 Dieses Verfahren wirkte, zumal es am Ende ein monströses Opus von 1900 Seiten ergab, seinerzeit unseriös und hypertroph. In den Augen der Philologen und Historiker war es ein Ausbruch von unbekümmertem Dilettantismus. Vielleicht bewegte die mangelnde positive Resonanz Niessen schließlich dazu, das auf zehn Bände angelegte Unternehmen4 abzubrechen. Immerhin triumphierte er auf der Ebene des Buchtitels über seinen alten Rivalen Kindermann. 5 Dessen auf das Jahr 1943 zurückgehendes (angesichts der historischen Umstände reichlich ambitioniertes) Vorhaben, ein Handbuch der Theaterwissenschaft6 herauszugeben, das Beiträge der Fachprominenz zu allen forschungsrelevanten Gebieten und Fragen versammeln sollte, wurde nämlich nicht realisiert. Stattdessen erschien Niessens monomanisches Werk, das sich um Handbuchkonventionen nicht scherte und auf Koautoren völlig verzichtete. Zweifellos eine enorme Provokation, die an die Wiener Adresse ging. Doch gegen Kindermanns bereits publizierte Theatergeschichte der Goethezeit (1948) und die später folgende Theatergeschichte Europas (1957ff.) konnte Niessen in Hinblick auf Systematik und pointierte Präsentation des Stoffes nichts annähernd Gleichwertiges aufbieten. Heute, nach den postmodernen Lockerungsübungen und den theoretischen Experimenten mit einem extrem weiten Kulturbegriff, den die Ethnologie unter dem Stichwort Writing Cultures7 etablierte, hat sich der Wind gedreht. Man findet Geschmack an der Verknüpfung und Mischung des Nicht-Kompatiblen und Befremdlichen. Während Kindermanns berühmte Nachkriegsbücher – ganz unabhängig von der Einstellung zum politischen Sündenregister des selbstgerechten und unbußfertigen Autors – ihren Nimbus verloren haben, darf Niessen, der als ehemaliger SA-Mann auch nicht gerade ‚unbelastet’ ist, wiederentdeckt werden als Vorreiter einer Theaterwissenschaft, die sich der per-
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Aufführung durch die Errichtung von Theatermuseen zu kompensieren. Die heute verfügbaren Speichermedien hätten Niessen wahrscheinlich in Entzücken versetzt. Christopher Balme führt in seinem kurzen Kommentar zu Niessens Handbuch die willkürlich herausgegriffene Seite 548 aus dem 1. Band an, die eine kribbelbunte Mischung unterschiedlicher Phänomene präsentiert (Balme 1999, 176). Laut Subskriptions-Einladung der Verlagsanstalt Heinr. & J. Lechte (den Hinweis verdanke ich Sabine Herder): Bd. I: Ursprung und Geltung der dramatischen Kunst. Daseinsrecht und Methoden; Bd. II: Peripherie des Theaters, Bd. III: Der Kern des Theaters: Die Seele des Schauspielers; Bd. IV: Der Stil der Schauspielkunst / Der Komiker. Körpernahe Mittel der Inszenierung; Bd. V: Die äußere Inszenierung / Die organisatorische Verfassung / Das Publikum / Soziale Probleme; Bd. VI: Die Beziehung der Theaterwissenschaft zu anderen Disziplinen; Bd. VII: Artistik / Schattenund Puppen-Spiel. Realien des Theaters; Bd. VIII/IX: Die Bildbeispiele; Bd. X: Kritische Bibliographie. Mechthild Kirsch erwähnt, dass es „in den letzten Kriegsjahren [...] einen juristischen Konflikt mit Kindermann um den Titel Handbuch der Theaterwissenschaft gegeben haben (muß).“ (Kirsch 1992, 36) Näheres konnte sie allerdings nicht ermitteln. Während die Pläne zu Kindermanns Handbuch inzwischen aufgefunden und ausgestellt wurden (siehe Peter 2009, 49), konnte im umfangreichen und nur teilweise erfassten Nachlass von Niessen bisher keine Skizze zum gesamten Handbuch-Projekt entdeckt werden. Siehe Clifford/Marcus 1986; Ellrich 1999a.
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formativen Wende verschrieben hat und das postdramatische Theater feiert. Schon Mitte der 1980er Jahre wies der 1989 verstorbene Paul Stefanek auf das Handbuch als „vielfach unterschätzte(s) Materialwerk“ hin, das im Lichte der aktuellen Debatten über das Verhältnis zwischen Ritual und Theater „neu“ gelesen werden sollte.8 Stefaneks Anregung wurde freilich in der Fachwelt nicht aufgegriffen. Es gab keine Niessen-Renaissance. Wer sich für den Zusammenhang von Theater und Ethnographie bzw. rituellen Praktiken, performativen Ereignissen und dramatischer Kunst interessierte, hielt sich an die Schriften von Artaud, Grotowski, Brook, Turner, Schechner und Fiebach. Woran liegt das? Vielleicht lässt sich diese Frage beantworten, wenn man sich das Projekt, das Niessen von Anfang an verfolgte, noch einmal vergegenwärtigt. Bereits 1924 forderte Niessen eine fundamentale „Erneuerung des Theaters.“ (1971a, 128) Um diesen seinerzeit nicht übermäßig originellen Aufruf, der sich in eine ganze Serie ähnlicher Aktionen einreihte9, zu profilieren, setzte sich Niessen zunächst einmal von den „Theaterreformen“(ebd.) ab, die Anfang des 20. Jahrhunderts propagiert, in Angriff genommen oder gar durchgeführt wurden. Alle bisherigen Bemühungen, so lautete Niessens These, seien jedoch „am wesenhaften Kern des theatralischen Kunstwerks vorbeigelaufen.“ (ebd.) Man habe nämlich die Schauspieler, „die dem Bühnenraum erst Daseinswert geben“ (ebd.), aus dem Blick verloren. Das war angesichts der breit gefächerten und stürmischen Debatte über ‚Natur’ und soziale Funktion der Schauspielkunst eine reichlich merkwürdige Behauptung, die sich nur nachvollziehen lässt, wenn man ihre Quelle in Betracht zieht. Niessen rekurrierte nämlich auf Hermann Reichs damals sehr populäres, wenn auch umstrittenes Buch „Der Mimus“ (Reich 1903) und ging mit Reich davon aus, dass ein „mimischer Urtrieb“10 existiert, der auf vielfältige Weise in menschlichen Handlungen zur Geltung kommt und letztlich auch für die Herausbildung einer hochentwickelten Darstellungskunst verantwortlich ist.11 Entscheidend für Niessens Konzept des Theatralischen war die zusätzliche Annahme, dass dieser „Urtrieb“ – trotz seines fundamentalen Charakters – im Laufe der Geschichte blockiert oder unkenntlich gemacht wurde. Die Frage, ob man unter diesen Umständen überhaupt noch sinnvoll von einem „Urtrieb“ sprechen kann, kam Niessen nicht in den Sinn. Für ihn war ausgemacht, dass „die Quelle der Schauspielkunst verschüttet“ worden ist, weil die „Reformatoren“ des Theaters „die Literatur in den Vordergrund“ geschoben und die Herrschaft des Textes über die Aufführung, der Sprache über das Register der körperlichen Ausdrucksweisen errichtet haben. Dass es überhaupt zu einer solchen Verkehrung der wahren Verhältnisse, mithin zu ei8
Stefanek 1992, 234. Stefanek selbst belässt es allerdings bei diesem Hinweis. Sein imponierender Text „Vom Ritual zum Theater“ enthält kein einziges Niessen-Zitat. 9 Man denke nur an Jarry, Craig, Reinhardt, Stanislawski, Tairow, den jungen Brecht etc. 10 Vgl. hierzu auch die einschlägige Formulierung aus dem Handbuch: „Alles wirkliche Verstehen des Theaters muß mit der Erkenntnis beginnen, dass mit dem Dasein des Menschen selbst gesetzte und nicht weiter zu erklärende ästhetische Grundtriebe [verbunden] sind, die zu Mimus und Theater führen.“ (I, 470) Niessen mahnt allerdings zur Vorsicht: „Das Apriorische der Kunsttriebe muß [...] richtig verstanden werden: [...] Das apriori bedeutet nur, dass es die ganze fernere Entwicklung bestimmt. [...] Es hat [...] aber selbst seine Entwicklung durchgemacht, bis es sein (vererbbares) Wirkpotential erreicht, das wir [...] ‚Kunsttrieb’ nennen.“ (I, 471) 11 Reichs Methode war für Niessen allerdings nicht maßgebend; denn Reich stützte sich nur auf überlieferte Texte und konzentrierte sich in erster Linie auf die besonderen Gattungsaspekte antiker Darstellungsformen.
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nem Sieg des Sekundären über das Urtümliche und Ursprüngliche hat kommen können, erklärte Niessen mit den Schwächen der „Träger blutvoller, aus dem Spieltrieb gequollener Darstellungskunst.“ (ebd.) Diese waren offenbar nicht dazu imstande, sich gegen die Verfechter einer textorientierten Kultur durchzusetzen. So entstand ein Theater, das Schriftsteller und Philologen dominierten: „Die Schauspielkunst wurde eine ‚Magd’ der Literatur, hörte auf ‚freie’ Kunst zu sein, an deren Schwelle das Spiel steht und nicht der ‚einwandfreie Volksbildungstext’.“ (ebd.) Niessen machte jedoch aus dieser Not eine Tugend. Denn die abartige historische Situation rief in seinen Augen die Kräfte der Rettung auf den Plan. Das eigentliche, aber in seiner Bedeutung verkannte Theater des ungebändigten Körperausdrucks und des freien Spiels benötigte einen Advokaten, der seine Rechte vertrat und ihm wieder zu Ansehen und Geltung verhalf. Diese schwierige Aufgabe sollte eine neu zu formierende Theaterwissenschaft übernehmen, die sich von den akademisch etablierten Fächern, welche sich bislang für das Theater zuständig erklärt hatten, emanzipiert und dennoch einen anerkannten universitären Platz innerhalb der philosophischen Fakultät erobert. Das war ein ausgesprochen ambitioniertes Programm. Denn derartige Institutionalisierungsprozesse führen in der Regel nur dann zum Erfolg, wenn die neu zu schaffende Disziplin entweder einen neuen Forschungsgegenstand oder eine zuvor unbekannte Methode vorweisen kann und überdies unter den bestehenden Fächern Verbündete zu rekrutieren vermag, die sich durch den akademischen Novizen auf ihren angestammten Feldern nicht bedroht fühlen. Niessen gehörte zu jener Gruppe von Gründungsvätern der Theaterwissenschaft, der es gelang, nicht nur einen neuen Gegenstand (die soziokulturellen Voraussetzungen und den ästhetischen Eigensinn des Aufführungsgeschehens) zu kreieren, sondern auch in der Völkerkunde den geeigneten Kooperationspartner bei der Untersuchung der weltweit anzutreffenden theatralischen Phänomene zu finden. Niessens Sonderstellung liegt nicht darin, dass er Elemente des Theaters, die heute unter dem Begriff des Performativen subsumiert werden, energisch herausarbeitete. Dies geschieht bei Max Herrmann weit eindrücklicher und nachhaltiger.12 Auch die Frage nach dem Ursprung des Theaters ist nicht signifikant für Niessens Forschungspraxis. Denn auch zahlreiche andere Theaterwissenschaftler haben sich auf dieses Thema kapriziert und höchst divergierende Vorschläge unterbreitet.13 Niessens Einzigartigkeit beruht hingegen auf der Art, mit der er das völkerkundliche Material präsentiert, das die wenigen Kernthesen, die er letztlich vertritt, absichern soll. Die Ethnologie, auf die sich Niessen berief, war ein etabliertes Fach und wies bereits vor dem Ersten Weltkrieg einen Kanon ‚klassischer’ Texte auf, an dem man sich orientieren konnte. Autoren wie Morgan, Tyler, Bastian, Smith, Frazer, Boas, 12 Vgl. Fischer-Lichte 2004, bes. 43ff. 13 Vgl. hierzu Kotte 2005, 223ff. Kotte legt dar, warum die Ursprungsfrage heute gemieden wird (ebd., 224), macht aber auch deutlich, dass diese Frage zu Erklärungen führt, die in den meisten Fällen „überlegenswert“ sind (ebd., 227). Freilich teilen alle Autoren, die Kotte heranzieht, fragwürdige entwicklungsgeschichtliche Vorstellungen. Und dies, obschon Durkheim bereits 1912 klar gemacht hatte, dass der Ursprung nicht als absoluter Anfang gedacht werden könne, sondern nur als einfachster sozialer Zustand verstanden werden dürfe (Durkheim 1981, 26). Freilich erweist sich auch dieser – vergleichsweise aufgeklärte Ansatz – als beschränkt, sobald die soziale Komplexität sogenannter primitiver Zivilisationen entdeckt und beschrieben wird (siehe Lévi-Strauss 1968).
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Graebner, van Gennep u.a. waren auch außerhalb der Disziplin bekannt, und ihre teilweise höchst kontroversen Thesen hatten zu Debatten geführt, die auch in anderen wissenschaftlichen Bereichen ihren Niederschlag fanden. Durkheim z.B. unterfütterte sein Konzept der modernen, von Anomie bedrohten Gesellschaft mit einer Theorie der elementaren Formen des religiösen Lebens (1912), und Freud bediente sich bei seiner psychoanalytischen Rekonstruktion der Menschheitsentwicklung (Totem und Tabu von 1913) aus dem reichhaltigen Fundus der Ethnologie. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden die bedeutenden Studien von Lowie, Malinowski, Radcliff-Brown, Mauss, Lévy-Bruhl, Mead, Thurnwald, Preuß, Benedict, Leiris, Bateson, Lips14; dann zwischen 1938 und 1947 die wichtigen Arbeiten von EvansPritchard, Fortes, Griaule und Lévi-Strauss – alles Texte, die Niessen in seinem Handbuch noch hätte berücksichtigen bzw. verwerten können. Niessen traf freilich eine sehr dezidierte Auswahl. Das passende Material suchte er sich zumeist bei Autoren der zweiten Linie zusammen. Zu den bekannteren Forschern, auf die er zurückgriff, zählen Leo Frobenius (Erlebte Erdteile, 7 Bde, 1925-1929; Kulturgeschichte Afrikas von 1933)15 und Paul Schebesta (u.a. Vollblutneger und Halbzwerge von 1934). Als Selektionskriterium für die geeignete Choreografie der ethnographischen Belege diente Niessen die oben bereits erwähnte These, dass der Mensch von einem mimetischen Urtrieb beherrscht wird, der ihn dazu zwingt, sich „in eine andere Daseinsschicht hinein zu verwandeln“. (Niessen 1971b, 12)16 Bei diesem Drang handelt es sich anscheinend um ein diffuses, weder an spezifische Anlässe, noch an zeitliche Phasen gebundenes Bedürfnis, „das enge persönliche Dasein und Ich zu erweitern“. Schärfere Konturen gewinnt die Rede von „angeborenen dynamischen, ästhetischen Urtrieben“, wenn man weniger die „mimische Nötigung“ (ebd.) betont, die mit ihnen verbunden ist, sondern die psychischen und physischen Schubkräfte, die hier zur Entfaltung kommen, als Vermögen begreift, die unter Kontrolle gebracht und zu bestimmten Zwecken eingesetzt werden können. Denn nur so lässt sich die leichte Funktionalisierbarkeit der Urtriebe durch magische bzw. kultische Praktiken erklären. Niessens Beschreibung schwankt zwischen Formulierungen, die eher Instinkten und Reflexen angemessen wären, und Ausdrücken, die den plastischen Charakter der ästhetischen Antriebe, die nicht an Auslösereize und vorab fixierte Ziele gebunden sind, herausstellen. Diese terminologische Ambivalenz ist wohl keiner sprachlichen Nachlässigkeit geschuldet; vielmehr resultiert sie aus Niessens Versuch, einen basalen Ritus zu konstruieren, der gleichsam eine Brücke schlägt zwischen den reinen ästhetischen Trieben und den magischen Praktiken, die stets einen bestimmten Zweck verfolgen. Der spezifische Umgang des ‚primitiven Menschen’ mit dem Tod – und das heißt konkret mit den erlegten Beutetieren, den gestorbenen Familien- und Stammesangehörigen sowie den getöteten Feinden – lieferte Niessen hierzu die Argumente: Die Reaktion der Betroffenen ist spontan und zugleich derart auf gestalterische Ausformung und Musterbildung angelegt, 14 Leider konnte ich nicht herausfinden, in welcher Beziehung der SA-Mann Niessen zu dem Sozialdemokraten Julius E. Lips stand, der zeitweise das Rautenstrauch-JoestMuseum in Köln leitete, an der dortigen Universität außerordentlicher Professor war und sich nach seiner erzwungenen Emigration mit dem Buch The Savage hits back, or the white man through native eyes (1937) einen Namen machte. 15 Frobenius, eine äußerst schillernde Figur, war wohl deshalb für Niessen so wichtig, weil er „das Leben in seiner Ursprünglichkeit“ darstellen wollte und nach den „lebendigen Urformen“ suchte (Streck 2001, 118). 16 Zum Phänomen der Verwandlung in frühen Kulturen vgl. die vorzüglichen Analysen in Elias Canettis Buch Masse und Macht (1960, 373ff.).
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dass sie unter den Verhaltenweisen des Menschen einen Sonderstatus zu besitzen scheint: „Der primitive Mensch besiegt die Angst vor den Toten [...] dadurch, daß er sich in ihre Gestalt maskiert, sie durch Annahme der gleichen Erscheinung eines Revenant in seine Gewalt bringt und sie, was sein Hauptanliegen ist, sichtbar verabschiedet.“ (Niessen 1971b, 12)
Kraft des mimetischen Bezugs auf die Toten entsteht eine Art der Stellvertretung, die kein starres spirituelles Double erzeugt, sondern eine dynamische Repräsentation, die unzählige Variationen ermöglicht. Diese Konstellation führte Niessen unweigerlich zu einem sehr dehnbaren RitusKonzept, das zu den definitorischen Engführungen der Durkheim-Schule Abstand hielt. Die Vorteile eines solchen Ansatzes für die Theaterwissenschaft liegen auf der Hand: Wenn man unter Riten, Handlungsweisen versteht, die in höchst unterschiedlichen Mischverhältnissen feste und flexible Elemente aufweisen und gerade deshalb zur situativen Bewältigung von existentiellen Grundproblemen und zur Verarbeitung traumatisierender Erfahrungen dienen17, dann verringern sich deutlich die Schwierigkeiten, die mit der These, dass sich das Drama schrittweise aus rituellen Praktiken entwickelt hat, verknüpft sind. Weil Niessen sich auf die Orientierungsleistung seiner extrem vagen Leitbegriffe verließ, konnte er sich im Wesentlichen darauf beschränken, immer wieder gewisse äußerliche Ähnlichkeiten, die rituelle Handlungen und Inszenierungen von ‚Kunstdramen’ aufweisen, zu betonen, und so den Eindruck erwecken, es gäbe zwischen beiden Praktiken einen fließenden historischen Übergang, der sich als bloßer Säkularisierungsprozess adäquat deuten lasse. Niessen fühlte daher auch gar keine Nötigung, zwischen der Darstellung des Ritus im Drama und dem Vollzug des Ritus durch das Drama zu unterscheiden18 oder gar zu erwägen, dass die Dramenform als solche möglicherweise sogar einen entschiedenen Bruch mit der Welt der Riten (und Mythen) intendierte.19 Lange vor der ‚performativen Wende’ der Kulturwissenschaften, die sich hochreflektierten Diskursen verdankte, steuerte Niessen, von einer bemerkenswerten epistemologischen Naivität geleitet, in gera-
17 Victor Turner wird später einen Begriff des Rituals in die Debatte bringen, der eine vergleichbare Pointe besitzt (The Ritual Process, 1969). Für die heutige Theaterwissenschaft, die sich mit den theatralen Aspekten von Ritualen bzw. mit der rituellen Substanz aktueller Theaterformen beschäftigt, ist Turners Buch von kaum zu überschätzender Bedeutung. Turner analysiert die symbolische Struktur und die soziale Funktion (bzw. Wirkungsweise) von Ritualen am Beispiel der Fruchtbarkeitsriten der Ndembu. Zentral für Turner ist die Dialektik zwischen institutionellen, d.h. normativ vor-bestimmten Verhaltensweisen (Strukturen) und jenen gemeinschaftlichen Kräften, die in den Lücken, an den Rändern und unterhalb der Struktur entstehen, um erstarrte Verhältnisse durch Störung, Turbulenz, Kritik, Reflexion etc. immer wieder aufzubrechen und schließlich neue Strukturen zu bilden. 18 Und dies, obschon Connop Thirlwall (1833) und Arnold Hug (1872) längst gezeigt haben, dass die attische Tragödie (seit Sophokles) mit Formen des Doppelsinns arbeitet, die den Vollzug und die Beobachtung/Reflexion von dargestellten Handlungen bzw. Sprechakten auf der Bühne auseinander ziehen, ja geradezu Abgründe zwischen ihnen aufreißen. 19 Vgl. hierzu Hans Blumenbergs grundsätzliche Kritik des Säkularisierungsbegriffs (1966) sowie die Deutung der attischen Tragödie als Überwindung einer mythischen Weltsicht (1997, 62-78).
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dezu postmoderne Gewässer. Er hatte offenbar bemerkt, dass Darstellung und Vollzug im mimetischen Ritual zwar nicht verschmelzen, aber doch zu einer unzertrennlichen (allenfalls analytisch zu differenzierenden) Gemeinschaft verwachsen. Und er zog aus dieser Wahrnehmung, die ihm das ethnologische Material förmlich aufzudrängen schien, die Konsequenzen: Er inszenierte das Handbuch als Auftritt des puren authentischen Stoffs in seiner ganzen Fülle und Ubiquität. Die avantgardistische Literaturwissenschaft der 1940er und 1950er Jahre unterzog sich derweil Differenzierungsbemühungen und methodischen Strapazen, die Niessen, wenn er sie rezipiert haben sollte, wahrscheinlich gekünstelt vorgekommen sind. Die neue kritische Szene um Burke und Frye war offen für Frazers Thesen und die Spekulationen der Cambridge School20, hielt aber Distanz zu deren evolutionistischen Auffassungen.21 So unterschied Frye im Zuge seiner Analyse der Beziehung zwischen Ritus und Drama präzise die Aspekte „Inhalt und Form“, ohne damit auch Aussagen über das Verhältnis von „Quelle und Ableitung“ zu treffen.22 Derartige Arbeit am Begriff war Niessen völlig fremd. Er machte sich auch keine Mühe, das Verhältnis von Riten und Mythen exakt zu bestimmen, obschon die ganze Anlage seines Werkes, das den Vorrang der Aufführung gegenüber dem Text zur Geltung bringt, darauf hinweist, dass er der von Smith (1989/1994), Frazer (1890-1915) und Durkheim (1912) vertretenen These, Riten gingen den Mythen historisch und logisch voraus23, zustimmt. Fassen wir die bisherigen Befunde zusammen: Niessens Begriff eines basalen Ritus kombiniert starke soziale Funktionalität mit großer semiotischer Offenheit, mimetische Reflexe mit gestalterischen Freiheiten, unerbittliche Zwänge mit den Möglichkeitsofferten des ästhetischen Spiels. Das Konzept droht unter der Last dieser Spannung zu kollabieren, aber seine interne Logik ist zweifellos attraktiv. Wenn man annimmt, dass der mimetische Urtrieb sich überhaupt nur dadurch manifestieren kann, dass er sich auf eine erste Stufe ritueller bzw. kultischer Handlungen begibt, lässt sich die Schrittfolge, die schließlich zur Entstehung des Kunsttheaters führt, als eine Bewegung verstehen, die mit einfachen kategorialen Mitteln zu rekonstruieren ist. Auch auf dieser ersten Stufe müssen nämlich die Eigenschaften des Urtriebes – Nachahmungszwang und ästhetischer Möglichkeitssinn – nicht nur erhalten bleiben, sondern auch weiterentwickelt werden. Um sein Modell durch ein schlagendes Beispiel plausibel zu machen, griff Niessen – wie oben erläutert – auf die menschlichen Praktiken zur Bewältigung der Todeserfahrung zurück. Hier lag seiner Ansicht nach eine Extremerfahrung vor, deren mimetische Reproduktion
20 Einer der bekanntesten Texte dieser Schule ist Gilbert Murrays Abhandlung Excursus on the Ritual Forms Preserved in Greek Tragedy (1912), in der eine direkte Verbindung zwischen dem universellen Ritus, den James Frazer in The Golden Bough konstruiert hat, und der attischen Tragödie hergestellt wird. Vgl. hierzu auch Schlesier 1994, insbes. 123-192 und 307-328. 21 Vgl. Kenneth Burkes 1941 gelieferte Klarstellung, dass seine „Betrachtungsweise“, aus deren Warte das „Ritualdrama als Urform“ erscheint, „gar nicht auf historische oder genetische Denkweise[n] gegründet ist“, sondern nur „eine Formel (calculus), ein Vokabular oder eine Gruppe von Konstanten“ für Analysezwecke liefert (1966, 101f.). 22 „Für den Literaturkritiker ist der Ritus der Inhalt der dramatischen Handlung, nicht ihre Quelle oder ihr Ursprung. The Golden Bough ist vom Standpunkt der literarischen Kritik her gesehen ein Essay über den Inhalt des naiven Dramas, d.h. er rekonstruiert einen archetypischen Ritus, von dem die strukturellen und gattungsmäßigen Prinzipien des Dramas logisch, nicht chronologisch abgeleitet werden können.“ (Frye 1964, 112f.) 23 Vgl. auch die Formulierung des Problems bei Oppitz (1975, 184f.).
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unmittelbar als Akt der Loslösung und Befreiung einzuleuchten scheint. Denn nur die reflexartige Nachahmung von Toten (toten Menschen oder Tieren) bringt den Tod als bestürzendes und unbegreifliches Phänomen auf Distanz. Niessens Idee von ästhetischer Freiheit beruht also auf der Konstruktion eines Entlastungsvorgangs, ohne den die Entwicklung von Kultur nicht denkbar ist. Diese These prägt – wie es scheint – das ganze Design des Handbuchs. Nichtsdestotrotz bleibt die Prominenz der Totenkulte in Niessens Werk ein Problem – und dies ganz unabhängig von den oben explizierten Schwierigkeiten, den Grundbegriff des Urtriebes und des basalen Ritus zu bestimmen. Denn die ausgebreiteten (wenn auch strategisch selegierten) Materialien lassen sich nicht in diesen engen Interpretationsrahmen sperren. Dass der Tod in den frühen Kulturen zu den bedeutsamsten Phänomenen gehört und rituell bearbeitet werden muss, ist unbestritten. Die Leiche stellt, wie Gehlen drastisch formuliert hat, ein „Appelldatum“ ersten Ranges dar. (1971, 97)24 Auch dass die Todeserfahrung zur Produktion ästhetisch belangvoller Artefakte anregen kann, ist nicht von der Hand zu weisen. Der tote Körper, so darf man mit Hans Belting vermuten, erscheint als Abbild des Menschen. Die Leiche ist nicht mehr Körper, sondern nur noch ein Bild, das dem Lebenden ähnelt. Auf dieses ‚Urbild’ antwortet der Mensch mit einem ‚zweiten’ Bild: „Im Bildermachen wurde man aktiv, um der Todeserfahrung nicht länger passiv ausgeliefert zu sein.“ (2001, 145f.) Mit solchen Hinweisen ließe sich Niessens Präferenz nicht nur begriffsstrategisch, sondern auch inhaltlich ein Stück weit verständlich machen. Totenkulte haben eine hohe Faszinationskraft (vgl. Assmann 2002) und vermögen die Aufmerksamkeit der Beobachter anscheinend weit mehr zu fesseln als andere rituelle Praktiken. Soweit kann man Niessen entgegenkommen. Aber wie man es auch dreht und wendet, alle seriösen ethnologischen Analysen sprechen dafür, dass sich Struktur und Funktion von Totenkulten nur im Kontext von Fruchtbarkeits- und Initiationsriten oder von Vorstellungen über den Zusammenhang von Tod und (Wieder-)Geburt erschließen lassen. Die Beispiele bei so unterschiedlichen Autoren wie Frazer25, Frobenius und Turner sprechen eine deutliche Sprache. Auch Fiebach redet in diesem Punkt Klartext: In seiner Studie „zur Theorie und Geschichte von Theater in Afrika“ untersucht er den Zusammenhang von Riten und Darstellungen, die als Kunst zu betrachten sind, und kommt mit Blick auf Niessen zu dem Ergebnis, dass 24 Gehlen weist auf die „Unzahl schreckenerregender Fratzen und Masken“ hin, „die man nur aus der Erfahrung im Todeskampf verzerrter Gesichter verstehen kann“. „Die Darstellung des im Todeskampf erstarrten Gesichtes“ deutet er „als eine hohe moralische Leistung“; denn man griff damit „der eigenen Angst in den Rachen“ und „machte ihren Gegenstand fest.“ (1971, 97) 25 Niessen setzt sich explizit von Frazer ab und kritisiert die „eingewurzelte Meinung, daß sich aus Fruchtbarkeitsriten das Drama gebildet“ habe (II, 1). Im Kontext seiner Bemerkungen zur „Nachbarschaft von Tod und Fruchtbarkeit“ spricht er auch von der „Überbewertung der Fruchtbarkeitsriten“ (II, 480). Im Gegenzug betont Niessen die „Bedeutung des Totenkultes für die Genesis des Dramas“ (II, 11) und erklärt, „daß im Totenkult die Keime zum Drama aufsprießen: der sich mit dem Wort gattende Mimus. Es gilt also zunächst zu beglaubigen, daß ausgerechnet der Totenkult die Menschen enthemmt und ihnen die Zunge lockert, während wir Modernen es gewohnt sind, so zum Schweigen zu erstarren, wie die wiederkehrende Alkestis des Euripides.“ (II, 256) Diese These ist allerdings wenig überzeugend. Denn das vorhandene ethnologische Material gibt kaum Anlass zu der Vermutung, das Phänomen des Todes entlocke den Menschen wortreichere Kommentare als Fruchtbarkeit und Erotik. Auch der Vergleich moderner Einstellungen mit dem Schweigen der Alkestis (einer antiken mythischen Figur) ist eher irreführend als erhellend.
ETHNOGRAFIE DES THEATERS | 65 „frühere Versuche, den Ursprung des Theaters oder genauer der Theaterkunst aus einer ganz bestimmten Praxis (Totenrituale, Initiationen oder Schamanentätigkeit) ausschließlich herzuleiten, (…) bereits im Ansatz verfehlt (scheinen).“ (Fiebach 1986, 155)26
Solch deutliche, wenn auch vorsichtig formulierte Worte könnten dazu anregen, nach latenten Motiven für Niessens Vorliebe zu suchen. Waren die starken Thesen über die zentrale Rolle der Totenkulte für die Genese des Kunsttheaters vielleicht nur eine Konzession an den Zeitgeist, von dem sich Niessen auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht völlig lösen konnte? Bekanntlich spielten Totenkulte im Dritten Reich eine wichtige Rolle.27 Man muss sich allerdings davor hüten, diesen Faktor zu überschätzen: Zwar feierte die faschistische Ideologie den Tod als Entschlackung, und die männliche Bereitschaft, für das Vaterland zu sterben, galt als Zeichen der Zugehörigkeit zur völkischen Gemeinschaft. Dennoch war der Totenkult (z.B. die Verehrung toter Helden) nur Teil einer biopolitischen Strategie der quantitativen und qualitativen Steigerung des Lebens. Vielleicht konnte sich Niessen mit dieser Seite des Nationalsozialismus nicht recht anfreunden, weil ihm die Vorstellung einer staatlichen Souveränität, die sich durch das „alte Recht, sterben zu machen und leben zu lassen“, auszeichnet, weit mehr behagte als das Szenario einer modernen Biomacht, welche nicht primär auf den Tod zielt, sondern auf die Steigerung und Vervielfältigung des Lebens und daher durch die „Macht, leben zu machen und in den Tod zu stoßen“ (Foucault 1977, 165), definiert ist. Sollte diese Mutmaßung ein Körnchen Wahrheit enthalten, so ließe sich das behördliche Verbot der Aufführung des Alten Kölner Spiels von Jedermann, die Niessen durch eigene finanzielle Mittel in die Wege zu leiten suchte, unter Umständen darauf zurückführen, dass in seiner Textfassung und Inszenierung dieser biopolitische Optimismus und Optimierungskult zu kurz kamen.28 Niessen selbst hat freilich im Handbuch seinen Versuch, das „asiatische und griechische Drama aus dem Toten- und Ahnenkult“ (II, 64) herzuleiten, indirekt relativiert. Denn er entwirft ein Drei-Stadien-Modell der Kunstentwicklung, das sich an die Konzepte anlehnt, die im deutschen Idealismus propagiert wurden. Hegel hatte die Entwicklung des Geistes als eine Bewegung beschrieben, die auf der Ebene der Unmittelbarkeit einsetzt, dann die Stufe der Reflexion betritt, um schließlich die Sphäre einer zweiten, nämlich reflektierten Unmittelbarkeit zu erreichen. Genau diese Schrittfolge veranschaulicht auch Kleists berühmter Aufsatz „über das Marionettentheater“ von 1810, auf den sich Niessen ausdrücklich bezieht. „Am Anfang“ steht für Niessen demnach eine in ihrer Freiheit unbeschränkte Kunst, die dann „von der Magie eingefangen“ wird und erst „nach dem Abstreifen der kultischen Bindung [...] zu einer zweiten Freiheit durchdringen“ (I, 488) kann. Die Kunst gelange folglich allein durch den Prozess einer „progressiven kultischen Ent-
26 Vgl. ebd. auch Anm. 62, 399. 27 Vgl. Reichel 1991; siehe insbes. die Abschnitte: „Lebensfeier, Volksfest und Totenkult“ (209-231) sowie „Deutsches Schauspiel“ (336-345). Vgl. ferner Saul Friedländer (1984, 15), der die „Koexistenz von Machtanbetung und Sehnsucht nach apokalyptischer Auslöschung aller Macht“ analysiert. 28 In seinem Vorwort zu Jaspar von Genneps Das alte Kölner Spiel von Jedermann vom „Frühjahr 1954“ gibt Niessen an, dass die Aufführung des Dramas, dessen Bearbeitung er als „Totenopfer“ für seine im 1. Weltkrieg gefallenen Freunde betrachtet, „auf Betreiben der SS verboten [wurde], da es dem ‚heutigen Lebensgefühl’ nicht mehr entspräche.“ (Gennep 1954, 5)
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leerung und Säkularisierung“ (I, 517) zu jener „vollen spielerischen Freiheit“ (I, 488)29, die ihr Wesen ausmache.30 Wenn es zutrifft, dass die „Entleerung“ des Kultus und die Aufzehrung der „magischen Kräfte“ (I, 517) notwendige Bedingungen dafür sind, dass die ästhetischen Grundtriebe im Kunstdrama zur vollen Entfaltung gelangen, dann können weder die Totenrituale noch alle übrigen rituellen Praktiken, die der Sphäre des Kultischen und Magischen zugehören, im strengen Sinne als Ursprung des Dramas bezeichnet werden. Sie bilden allenfalls eine Zwischenstufe der ästhetischen Entfremdung und funktional erforderlichen Indienstnahme, die der mimetische Urtrieb auf seiner Bahn zu durchlaufen bzw. zu überwinden hat. Niessen selbst legt eine solche Deutung nahe, wenn er behauptet, dass der „Kult lediglich einem autochtonen ästhetischen Trieb nützt, nicht aber den Mimus, das Dromenon und das Drama wirklich zeugt.“ (Niessen 1971b, 13) Vor diesem Hintergrund wird dann auch die Verwerfung des „kultischen Dramas“ verständlich. Energisch verwahrte sich Niessen bereits im 1. Band des Handbuchs (1949) gegen die Annahme, seine Darstellung der „magischen Strahlkraft auch entwickelter Dramen“ könne als Plädoyer für das „kultische Drama“ (I, 517) gelesen werden. Unmissverständlich stellte er klar, dass er derartigen Formen des Theaters mit „kritischer Skepsis“ begegne und „die Autonomie des Mimischen verteidige.“ (I, 517) Nicht weniger deutlich fiel dann 1956 die Bemerkung zur „verbreiteten Phrase vom ‚Kultischen Drama’“ (Niessen 1971b, 13) aus. Beide Äußerungen wirken allerdings äußerst bemüht und sind nicht ganz glaubhaft. Man wird kaum fehlgehen, wenn man sie als nachträgliche Versuche der Distanzierung von den sogenannten „Thing-Spielen“ liest, die Niessen zwar nicht erfunden, die er aber durch den Akt der Namensgebung unweigerlich abgesegnet und propagiert hat.31 In mancher Hinsicht bleibt Niessens Position ambivalent. So ist seine Befürwortung des Säkularisierungsprozesses (als Prozess, der die ästhetischen Urtriebe aus den Fängen der Magie befreit) nicht ungebrochen. Angesichts malayischer Beschwörungspraktiken, die er höchst emphatisch darstellt, überkommt ihn „ein tiefes Bedauern, daß das Theater solcher magischer Wirkungen verlustig ging.“ (I, 514) Es erhebt sich also die Frage, ob Niessen das Drei-Stadien-Modell und die damit verknüpfte Distanzierung vom ‚kultischen Drama’ erst nach dem Zweiten Weltkrieg in das Manuskript des Handbuchs, dessen Hauptteil bereits vor 1945 entstand, eingefügt hat. Dafür spricht zumindest die marginale Position, an der das Stadienmodell auftaucht – nämlich im Kleingedruckten. Die Verteidigung einer kultischen, mit völkerkundlichen Begriffen explizierten Theater-Kunst wäre unmittelbar nach dem Krieg taktisch nicht besonders klug gewesen. Ohnehin hatten Ruf und Rang der deutschen Völkerkunde Schaden genommen. Dass die Disziplin tief 29 Niessen betont ausdrücklich, dass sein Verständnis von ästhetischer Freiheit nichts mit Kants Begriff des „interesselosen Wohlgefallens“ zu tun habe. Wer diese „verfehlte Maxime“ retten wolle, bekunde damit nur „den weltfremden gelehrten Idealismus lebensferner Tugendbolde.“ (I, 477) 30 Allerdings bringe der Säkularisierungsprozess auch „Fermente der Decomposition“ mit sich. (I, 488) Niessen erläutert diese These allerdings nicht. Gemeint ist wahrscheinlich, dass auf dem Niveau des freien ästhetischen Spiels unweigerlich die Ordnungsgewinne, die für Rituale und Kulte charakteristisch sind, preisgegeben werden. – Erstaunlich ist auch, dass Niessen in diesem Zusammenhang keine grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von ästhetischem Reiz und biologischer Reproduktion angestellt hat. Vgl. hierzu die Diskussion der Theorien von Darwin und Freud bei Winfried Menninghaus 2003, 66ff., 199ff. 31 Siehe Eichberg u.a. 1977, 214; ferner Reichl 1988.
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in die rassistische Politik der NSDAP verstrickt war, ließ sich trotz entsprechender Anstrengungen der Fachvertreter nicht völlig vertuschen (vgl. Fischer 1990). Zudem hatte „eine Reihe berühmter nichtdeutscher Ethnologen – nicht nur James Frazer [sondern auch Malinowski, L.E.] – vor der ‚politischen Magie’, dem schamanischen Faschismus der ‚kranken Deutschen’ des Nationalsozialismus gewarnt.“ (Hauschild 1995, 35) Das blieb nicht ohne Folgen: ‚Kult’ und ‚Magie’ gehörten nun zu den Begriffen, die man in affirmativem Sinne nur unter Vorbehalt verwenden konnte. Damit kehren wir zurück zu der Ausgangsfrage: Warum gibt es keine NiessenRenaissance in der deutschen Theaterwissenschaft, obschon sich das Handbuch als Vorbote des postmodernen Diskurses betrachten lässt? Gewiss, der heutige Leser genießt das freie Spiel der Assoziationen, die seltene Unbekümmertheit im Umgang mit dem Material, ja sogar die offensichtlich neurotische Unersättlichkeit eines Autors, der als somnambuler Sammler und akademischer Anarchist seine Beutestücke präsentiert. Aber immer wieder wird die großzügige Geneigtheit, die man Text und Autor entgegenbringt, auf eine harte Probe gestellt. Über die pathetische und blumige Ausdrucksweise mag man noch hinwegsehen, weil sie dem sprachlichen Habitus der Epoche geschuldet ist. Stärker ins Gewicht fallen schon Wendungen und Begriffe, die dem nationalsozialistischen Jargon zugehören.32 So ist etwa von „Zuchtwahl“ (I, 477), von frühen Lebensformen, die als „gesunde Basis konserviert bleiben“ (I, 118), vom „menschlich Minderwertigen“ (I, 126) oder gar von „der mangelnden dramatischen Potenz des Negers“ (I, 519) die Rede.33 Es fällt schwer, solche Formulierungen als bloße ‚Ausrutscher’ oder Unbedachtheiten und nicht als verräterische Indizien für den unbezähmbaren Hang zur „Lingua Tertii Imperii“34 zu verbuchen. Mit viel Wohlwollen lassen sie sich als Akte der Anpassungen an den Zeitgeist deuten, deren Tilgung nach 1945 unterblieb. Weit interessanter als diese Verwendung problematischer Begriffe ist jedoch Niessens Versuch, am Begriff einer sauberen oder reinen Ästhetik festzuhalten und das verzweigte Rhizom des eigenen Textes durch scharfe Schnitte gegen perverse Wucherungen und parasitären Befall zu schützen: So soll beispielsweise die Tatsache, dass der kunstversessene römische Kaiser Nero – „in Tierhaut vermummt“ – „Knaben und Mädchen nackt an Pfähle binden ließ“ und dann zerfleischte, in keiner Beziehung zu den „ästhetischen Urtrieben“ (also den existentiellen Zwängen, „sich in eine andere Daseinsschicht hinein zu verwandeln“35) stehen, sondern einen „atavistischen Rückfall in die Dämonie der Verwandlung“ (I, 521) darstellen. Anders als die Protagonisten der Postmoderne schreckte Niessen offenbar vor dem Phänomen der Ambivalenz zurück, obschon sein ganzes Unternehmen hier seinen 32 Ein Akteneintrag vom 11. 2. 1920 könnte Aufschluss über Niessens Grundeinstellung in Rassefragen geben: „In Rücksicht auf wiederholte Beschwerden über verletzende Äußerungen – antisemitischer Natur – des Privatdozenten Dr. Nießen [sic!] in seiner öffentlichen Vorlesung beauftragt der Senat [der Universität Köln] Herrn Prof. Dr. Schröer, auf Dr. Niessen durch entsprechenden Hinweis und Rat einzuwirken.“ (Senats-Protokoll I., Zug.27/PI, 75f.) Diese Information verdanke ich den Nachforschungen von Nora Probst. 33 Gerade diese Formulierung weckt Zweifel an der Ernsthaftigkeit der These, dass eine völkerkundlich orientierte Theaterwissenschaft das „Verstehen der anderen Völker zu wecken“ vermag und überdies deutlich machen kann, „wie verwandt der Kern aller Menschen ist.“ (I, XXIII) Vgl. hierzu auch Balme 1999, 176. 34 Vgl. Klemperer 1957. 35 Ich erinnere an die oben bereits zitierte Formulierung (Niessen 1971b, 12).
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Fluchtpunkt besitzt. Niessen imaginierte ästhetische Urtriebe, die sich nicht nur von magischen Praktiken funktionalisieren, sondern auch noch durch eine ausschließlich auf Texte fixierte Literaturwissenschaft in die Latenz drücken lassen. Genau diese zugleich starken und schwachen Energiequellen, die verschüttet und verkannt sind, wollte Niessen freilegen, um sie in ihr angestammtes Recht zu setzen. An den Kunsttrieben kommen aber – nachdem sie endlich entdeckt sind – Aspekte zum Vorschein, die Niessen nicht ins vorgefasste Bild passten und daher als regressive und atavistische Elemente denunziert werden mussten. Wieso konnte Niessen nicht einräumen, dass die mimetischen Grundtriebe, die er freigelegt hat, von Grund auf ambivalent sind? Oder anders gefragt: Wie war es möglich, dass jemand, der die Ästhetisierung der Politik im Dritten Reich hautnah erlebt hatte, eine derart naive und einseitige Auffassung von jenen Kräften vertrat, die er als ästhetische Urtriebe bezeichnete? Der verleugneten Ambivalenz des Grundtriebes entspricht – und vielleicht kommen wir mithilfe dieser Analogie dem Kern des Problems näher – Niessens eigenes Oszillieren zwischen Opportunismus und Abweichungslust. Nirgends wird diese Gesinnungsschizophrenie deutlicher als im Begleittext zu der von ihm betreuten Ausstellung Brecht auf der Bühne, die im Jahre 1959 auf Schloss Wahn stattfand. Brecht war nach seinem umstrittenen Brief an das Politbüro der SED am 17. Juni 1953 in der Bundesrepublik eine Art ‚persona non grata’. Das Verbot der KPD in Westdeutschland und die anschließende strafrechtliche Verfolgung ihrer Mitglieder lagen zum Zeitpunkt der Ausstellung nur drei Jahre zurück. Wer unter diesen historischen Bedingungen dem Theater Brechts eine Ausstellung widmete und ausführlich kommentierte, setzte ein Zeichen seiner politischen Souveränität. Wenn dies ein ehemaliges Mitglied der Sturmabteilung tat, so entbehrte das nicht einer gewissen Ironie. Der subversive Impuls des Projekts war schwerlich zu übersehen. Aber Niessen spielte nicht den reuigen Sünder oder alerten Dandy, der Arnold Bronnen imitiert, sondern brachte in seiner Auseinandersetzung mit Brechts politischer Position sein eigenes Engagement für die Nazis zum Verschwinden. „Keine Weltanschauung ist unduldsamer und ausschließender als der Kommunismus“ (Niessen 1959, 6), hieß es im Katalog. Das eigene Bekenntnis zum Faschismus wurde so zu einem minderschweren Fehltritt herabgestuft und der hier vorgenommene implizite Vergleich zwischen Stalin und Hitler konnte durch den expliziten Vergleich zwischen einer verwerflichen politischen Ideologie und einem bedeutenden künstlerischen Werk verdrängt werden: Niessen destillierte die ästhetische Qualität der Stücke regelrecht ab von Brechts politischer Einstellung: „Daß er sich dem geistigen Zwang beugte und manches sacrificium intellectus brachte, wirft natürlich Schatten auf sein geistiges Bild, dem es nicht an Widersprüchen fehlt. (…) Aber wir dürfen hier kein Totengericht halten, wie der Dichter selbst es über Lukullus anstellen ließ. Nicht seine Charakterstärke steht in dieser Ausstellung zur Debatte, sondern die Stärke seiner alarmierenden (sic!) Anregung für das Theater der Welt“. (ebd.)
Die Botschaft des Kommentars war eindeutig: Brecht stiftet erhebliche ästhetische Unruhe, und allein aus diesem Grunde muss er auch im Westen aufgeführt werden. Eine politische Ansteckungsgefahr aber geht – wie Niessen längst klargelegt hat – nicht von ihm aus: „Wer ein rechter Demokrat ist, braucht die Erschütterung seiner Weltsicht nicht zu fürchten, weil er ja im Voraus weiß, was ihn unter Umständen
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erwartet.“ (ebd., 3) Niessen pries hier die Tauglichkeit einer Immunisierungsstrategie, die er dem Ansturm einer ‚alarmierenden’ Theaterkunst ausgesetzt sah. Klammheimlich gab er damit zu verstehen, dass gerade Brechts pädagogische und pastorale Stücke unter der Schale ihrer „so menschliche(n) und weise(n)“ (ebd., 34) Botschaft die Wiederkehr der vermeintlich entschwundenen Magie betreiben. Was die heutigen Leser an dieser Prosa stört, ist nicht der Umstand, dass die Sätze etwas anderes sagen als sie meinen. Ein solcher Befund gehört seit den Analysen von Jacques Derrida und Paul de Man eher zu den Qualitätsmerkmalen großer Texte als zu den Indikatoren intellektueller oder moralischer Schwäche. Enttäuschend und ermüdend ist die fehlende Raffinesse der Kompositionen. Es reicht nicht mehr aus, dass das voluminöse Handbuch etwas anderes praktiziert als es predigt, dass die Brecht-Ausstellung etwas anderes zeigt als der Katalog insinuiert, um unsere Aufmerksamkeit zu wecken und zu binden. Anhand der Arbeiten von Carl Niessen kann man lernen, dass auch Exzesse der Dekonstruktion mitunter Patina ansetzen.
36 Niessen reiht sich hier ohne Hemmungen unter die „rechte[n] Demokraten“ ein und kann es im selben Atemzuge nicht unterlassen, über Brechts frühes Stück Im Dickicht der Städte zu notieren: „Diese ‚durcheinandergewühlten Lichter und Finsternisse’ wurden zum symbolischen Ausdruck des Ringens einer verschimmelnden Zivilisation und ihrer ‚gelben Gefahr’, die in demütiger Haltung leise auftrat“. (1959, 3) – Sprechen so aufrechte oder „rechte Demokraten“?
A SPEKTE
DES
T HEATRALEN II:
G ATTU NGS -D IFF ER ENZ EN UND B LI CK -R EGIME
4. D I E T R A G I K O M Ö D I E D E S S K A N D A L S . DER AUSBRUCH DES SPIELS IN DIE ZEIT THOMAS BERNHARD
BEI
Tragödie und Komödie sind ästhetische Modelle, mit denen seit der Antike zwei gesellschaftlich zentrale Formen des Konflikts und der Konfliktlösung zum Thema gemacht und im handlungsentlasteten Medium der Kunst reflektiert werden. Beide Modelle faszinieren nicht allein durch die Präsentation bestimmter Grundformen des Streits, der soziale Gebilde (z.B. Familie oder Staat) erfassen und gefährden kann, sondern auch durch die Art, wie Akteure, die unmittelbar am Konfliktgeschehen beteiligt sind, zu Personen, die sich nur mittelbar betroffen fühlen, in ein Verhältnis gesetzt werden. Texte und Aufführungen, die unter den gattungspoetischen Bezeichnungen ‚Tragödie’ und ‚Komödie’ firmieren, zeigen, dass menschliche Blindheit und Einsicht davon abhängen, wie stark die Subjekte in die Konflikte verstrickt sind und dem wachsenden Polarisierungssog, den diese entwickeln, erliegen. Blindheit und Einsicht erscheinen als variable Größen, die sich im Laufe des Geschehens ändern. Alle Personen kommen in den Rollen der Selbst- und Fremdbeobachter zu einer Sprache, die nicht nur befreiende Distanz gewährt, sondern auch tödliche Fallen stellt.1 Keiner entgeht dem Zwang, die eigene Haltung zum Konflikt in Worte zu fassen, mit denen er sich immer auch um Kopf und Kragen, Ehre und Ansehen, Macht und Vermögen reden kann. Nur die Zuschauer des tragischen oder komischen Spiels, die sich außerhalb des eindeutig markierten Bühnenraums befinden, dürfen sich während der zeitlich begrenzten Handlung als schweigende Beobachter betätigen, um in dieser privilegierten Position das zu lernen, was die Akteure des Dramas versäumen oder sich nur unter hohen Kosten aneignen können. Beobachten und Lernen bilden einen funktionalen Zusammenhang, der auf drei Stufen mit jeweils unterschiedlichen Reflexionspotenzialen hergestellt wird: auf der ersten Stufe sind die Helden des Dramas, auf der zweiten die Mitglieder des Chors bzw. die Nebenfiguren und auf der dritten die Zuschauer angesiedelt. Tragödie und Komödie präsentieren also diverse, klar zu trennende Modi der Be-
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Zum Sprechen der Helden, das die tragische Ironie entfaltet, siehe die Analyse bei Menke 1996a, 99f.
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obachtung und Beurteilung bestimmter Konfliktsorten, die sich nach Ursache, Entwicklungsdynamik und Lösungstechnik differenzieren lassen. In der Tragödie werden unausweichliche Konflikte dargestellt, in denen Akteure mit gleichrangigen rechtlichen oder moralischen Ansprüchen aufeinander treffen. Schuldlos schuldig werden die handelnden Personen trotz der unbestreitbaren Gültigkeit ihres Standpunktes, weil sie weder kognitiv noch emotional in der Lage sind, auch die Rechtmäßigkeit der ihnen entgegengesetzten Position zu verstehen und zu berücksichtigen. Die Subjekte reagieren auf die paradoxe Situation, dass selbst das Unbestreitbare umstritten sein kann, nicht mit Verstörung und Handlungsverzicht, sondern mit forcierter Aktivität. Sie müssen sich, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, durch ihr Reden und Tun beweisen.2 Jeder Widerstand, auf den sie treffen, steigert nur ihre Kräfte. Zug um Gegenzug gewinnt die Auseinandersetzung an Schärfe. Kein Weg führt an der Kollision der unnachgiebigen Parteien vorbei. Solche Dilemmata lassen sich nicht durch rationales Abwägen und den zwanglosen Zwang des besseren Arguments auflösen, sondern nur durch den Untergang der Kontrahenten oder die rituelle Opferung eines unbeteiligten Dritten, der zum Sündenbock erklärt wird. In der Komödie gelangen Zerwürfnisse, Unstimmigkeiten und Krisen zur Darstellung, die gemessen am jeweils erreichten Stand kultureller Entwicklung entweder irrelevant sind oder sich in Bereichen abspielen, deren Erschütterung und turbulente Aufmischung den Bestand der sozialen Ordnung nicht ernsthaft gefährden können. Derartige Dissonanzen lassen sich beheben, indem die törichten oder eigensinnigen Subjekte, die gegen vernünftige Institutionen oder normenkonforme Abläufe opponieren, einer drastischen Kur unterzogen werden. Das Spektrum der Therapieformen, die in den einschlägigen Komödien zum Vergnügen der Betrachter Anwendung finden, reicht von handfester Prügel über Akte der Beschämung bis hin zum permissiv-pädagogischen Spiel-im-Spiel, mit dessen Hilfe die Konfliktverursacher auf ihre eigenen Defizite gestoßen und zur Selbstkorrektur aufgefordert oder handfest gezwungen werden.3 In der Komödie wird das querulierende Subjekt mit einem Bild des eigenen Ich konfrontiert, das genau jene Verzerrungen und Entstellungen aufweist, die es zuvor auf die Mitmenschen oder die es umgebende Welt projiziert hatte und nun als Anteile seines eigenen Charakters erkennen muss. Mit dem komischen Helden „geht vor, was man eine transzendentale Erfahrung nennen könnte: die dramatis persona stellt ihre bisherige Weltkonstitution in den Status einer Nichtgeltung, fiktionalisiert sie, um in entscheidenden Punkten neue Verhaltenssemantiken zu übernehmen.“ (ebd.)4 2
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Aus der Perspektive der neuzeitlichen Subjektphilosophie erscheinen „Freiheit und Bindung, Wille und Entscheidung“ als diejenigen Eigenschaften, die vorhanden sein müssen, damit ein Mensch überhaupt in tragische Verwicklungen geraten kann (vgl. Szondi 1978, 16). Vgl. hierzu Simon 2001, 51. Simon versucht die Differenz zwischen Komödie und Tragödie durch die unterschiedlichen Funktionen von Handlung und Sprache in beiden Gattungen zu erläutern: Während in der Komödie die Fabelführung zur Lösung des Konflikts führt, dient in der Tragödie „die Handlung zur Vertiefung des Konflikts. Als mögliche Lösungsinstanz bietet die Tragödie keine Handlungsführung, sondern die Sprache an, sofern sie sich, nach Walter Benjamin, im Zustand des reinen tragischen Ausdrucks befindet“. Diese These ist überraschend, weil sie die tragischen Handlungselemente Untergang und Opfer, die durch die Sprechakte der Helden hervorgetrieben werden, völlig ignoriert. Dennoch liefert Simon eine sehr plastische Beschreibung des tragischen Redens: „Tragödienhelden reflektieren ihr Handeln, indem sie es in eine autonome Sprache
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Tragödien und Komödien sind Handlungsmuster.5 Sie liefern Konzepte zur Beurteilung, Einteilung und Lösung von Konflikten. In beiden Gattungen stehen Probleme im Zentrum der Aufmerksamkeit, die nur behoben werden können, wenn es gelingt, die Art des jeweils anstehenden Problems richtig zu bestimmen. Ohne zutreffende Diagnose, ob es sich um echte oder scheinbare, gravierende oder nebensächliche Probleme handelt, lässt sich die angemessene Therapie nicht herausfinden, die je nach Fall im Verlachen oder Beklagen blind agierender Personen, im Einüben von Gelassenheit oder Entbinden starker Affekte (wie Jammer und Schauder, Furcht und Mitleid), im Reflexions- oder Resignationstraining, im Umsturz der Verhältnisse oder im Pflegen uralter Opferkulte liegen mag.6 Doch Tragödien und Komödien teilen nicht allein die Orientierung an Problemen, die unter Anleitung der Kunst reflektiert, richtig zugeordnet, zum Verschwinden gebracht und – falls dies nicht möglich ist – ausgehalten werden sollen. Sie stimmen bei aller Differenz der gestalteten Reflexionstypen und präsentierten Therapieangebote in einem weiteren Punkt überein. Sie lenken nämlich den Blick des Zuschauers auf eine besonders merkwürdige Art der Problemgenese: „Das Tragische und das Komische haben [...] eine gemeinsame Struktur: beides sind – Sophokles’ Ödipus- und Aristophanes’ Sokrates-Figur zeigen das exemplarisch – Formen
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übersetzen. Sie reden von Schicksal, Schuld, Charakter, Verhängnis, Tugend, Tat und Täter, und sie verallgemeinern ihre Konflikte in die Gnomik apodiktischer Sinnsprüche. In der Tragödie erhebt sich die Metasprache über die Ebene der Handlung. Ihre Allgemeinheit subsumiert die Konkretheit der individuellen Anteile eines jeden Konflikts unter den Zwang der begrifflichen Fügung. Tragödienhelden reflektieren in einer autonomen Sprache ihre Handlungsalternativen und reden sich doch nur umso tiefer in die Notwendigkeit des Tragischen hinein. Anders der Komödienheld. Seine Sprache erreicht diese Ebene der Autonomie nicht, und insofern ist seine Fähigkeit, den Konflikt in die reine Schärfe seines Gegensatzes zu treiben, beschränkt. Aber im Gegenzug bleibt die konkrete Sprache der Komödie handlungsgebunden. Sie leiht der Handlungsführung als in sich reflektierte Intelligenz, was ihr an expliziter und autonomer Selbstreflexivität abgeht.“ (ebd., 52) Vgl. hierzu auch die Theorien von Northrop Frye (1957) und Hayden White (1973). Frye und White vertreten die These, dass die abendländische Kultur vier basale Plotmuster oder Archetypen der Weltbeschreibungen entwickelt hat, mit denen alle sozialen Strukturen und historischen Prozesse klassifiziert und gedeutet werden (vgl. Ellrich 1999a, 241ff., 311ff.). Zu Tragödie und Komödie kommen noch Romanze und Satire hinzu. Das Kategorienpaar Tragödie/Komödie hat in der okzidentalen Geistesgeschichte allerdings eine wesentlich steilere semantische Karriere gemacht als das Paar Romanze/Satire. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass es ‚weltimmanente’ Problemlösungskonzepte (z.B. Opfertod und Hochzeit) bietet und das erforderliche Maß an Weltüberwindung oder Weltdistanzierung vergleichsweise gering ansetzt. Fasst man Tragödie und Komödie als Plotmuster auf, so wird die Verbindung zwischen bestimmten Affekten (z.B. Freude, Lust, Vergnügen, Trauer, Schmerz, Entsetzen) oder leiblichen Reaktionsweisen (z.B. Lachen, Weinen) und den gattungspoetischen Einteilungen gelockert. Dies ist besonders relevant für die Analyse der Komödie. Während die Tragödie seit Aristoteles als „geschlossene Handlung“ gilt, die einen tragischen Verlauf darstellt, erscheint die Komödie – insofern sie „Charaktere, die zum Lachen anregen“, zum Gegenstand hat – als Serie komischer Situationen, die keine klar strukturierte Handlung ergeben (vgl. Simon 2001, 47). Die Komödie zerfällt dann in eine Ansammlung witziger oder komischer Augenblicke und die von Rainer Warning so genannte „anderweitige Handlung“, die auch einen ernsten Anstrich haben kann (vgl. Arntzen 1968). Diese Schwierigkeit, die als Erblast der aristotelischen Definitionen zu betrachten ist, entfällt mit der Plotmuster-Theorie. Auf die Funktion des Lachens und der Komik komme ich zurück.
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der Selbstunterlaufung.“ (Menke 2000b, 152) Mit dieser Figur lässt sich erklären, warum bestimmte Probleme so überaus hartnäckig sind und stets wiederkehren. Von der Antike bis zur Gegenwart neigen (trotz der erheblichen sozialen Veränderungen) Subjekte dazu, die Schwierigkeiten, in die sie geraten, nicht den eigenen Handlungen oder Unterlassungen, sondern externen Faktoren zuzurechnen. Kaum etwas ist für weltoffene und aktive Individuen irritierender als die Tatsache, dass das Handeln Wirkungen zeitigen kann, die den subjektiven Intentionen ihrer Träger zuwiderlaufen. Tragödien und Komödien bieten einen Lernstoff, der (zumindest in dieser Hinsicht) bislang nicht veraltet ist. Radikalisiert wird dieses pädagogische Programm, wenn die tragische und die komische Demonstration von Fällen, in denen ein Subjekt die eigenen Absichten und Entwürfe unterläuft, kombiniert werden. Dabei geht es nicht um die Verwischung oder Aufhebung der Differenz zwischen Tragik und Komik7 durch ein besonders raffiniertes ästhetisches Verfahren. Ob eine Sache glimpflich oder verheerend ausgeht, wird nicht gleichgültig, wenn ein Betrachter die Perspektiven, die Komödie und Tragödie einnehmen, in einer lehrreichen Hin- und Her-Bewegung wechselt. ‚Tragikomische’ Darstellungen, die dieses Changieren ermöglichen, ohne eine der beiden Seiten zu privilegieren oder die Schärfe der Differenz abzumildern, zeigen etwas, das sich selbst den Boden unter den Füßen wegzieht, also keinen Bestand hat und darauf auch keinen ernsthaften Anspruch erheben kann. Sie zeigen aber nicht nur einen zwangsläufigen Untergang, sondern auch einen dritten Weg zwischen notwendiger Katastrophe und geglückter Befreiung. Tragikomisch ist „eine Struktur [...], die, empfinde man sie nun als tragisch oder komisch, unhaltbar ist: die Struktur nämlich eines Selbstwiderspruchs, der sich nicht auflösen, sondern nur vermeiden läßt.“ (Menke 2000b, 152)8 Tragikomödien lehren, wenn sie gelingen, die Kunst des Vermeidens. Thomas Bernhards Romane, Erzählungen, Stücke sind Preis- und Klagelieder, die das Unhaltbare zum Gegenstand haben. Ihre redseligen Figuren werben bei ihren realen Beobachtern um Furcht und Mitleid und nehmen diese Werbung im Nu wieder zurück. Die möglichen Affekte des Zuschauers/Lesers werden in reflektierte Gefühle eines fingierten Autors für seine fingierten Werke umgebogen: „Sehen Sie mein Theater der Furchtsamkeit? Der Unselbständigkeit Gottes? [...] Ich habe Mitleid mit dieser Tragödie, mit dieser Komödie, ich habe kein Mitleid mit dieser Tragödie, Komödie, mit dieser von mir erfundenen Komödientragödie. [...] Ein solches Schauspiel ist ein Produkt der Lächerlichkeit, der göttlichen Lächerlichkeit, ein solches Schauspiel, sehen Sie, müssen Sie wissen, ist nichts als Gelächter.“ (Bernhard 1963, 189f.)9
Wer diese und andere Passagen vor Augen hat, wird Ulrich Profitlichs These verstehen, dass Bernhards Gebrauch der Worte Tragödie und Komödie „weit entfernt
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Ich verwende hier zunächst einen weiten Komik-Begriff, der sowohl das komödienspezifische Handlungsmuster als auch die menschliche Reaktion des Lachens, die durch bestimmte Anlässe verursacht wird, umfasst. Später werde ich beides differenzieren. Vgl. auch die Angaben zu komödientheoretischen Problemen mit dem Phänomen Komik bei Arntzen, Warning und Simon. Menke erläutert hier den Begriff des Tragikomischen anhand von Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France. In diesem Text wird die Revolution als „monstrous tragicomic scene“ bezeichnet. Der ungewöhnliche Ausdruck „Komödientragödie“ markiert die Abweichung von der üblichen Vokabel „Tragikomödie“, zeigt aber nicht, worin diese Differenz besteht, sondern stellt es dem Leser anheim, die textuelle Arbeit am Begriff mitzuvollziehen.
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(ist) von den hochstilisierten Definitionen des Idealismus. [...] Tragisch bedeutet meist kaum anderes als ‚unerträglich’, ‚entsetzlich’, wobei der Gedanke an den theatralischen Ursprung des Begriffs immer mitschwingt“ 10, und komisch, so darf man den peniblen Germanisten ergänzen, meint nur noch ‚lächerlich’, wobei der Bezug auf Umgangssprache und Alltagsklatsch schwer zu überhören ist. Der zitierte Text vergegenwärtigt das Absolute als unselbständigen Gott und beschreitet den Weg von der Erhabenheit des Allmächtigen zur Lächerlichkeit eines theatralischen deus ex machina. Diese offensichtliche semantische Entleerung muss freilich nicht unbedingt ein Anzeichen für mangelnde ästhetische Kraft des Autors Bernhard sein, sondern lässt sich auch als Reflex der historischen Situation interpretieren. Denn (so Arnold Heidsieck) „wo das Tragische und das rein Komische sich als geschichtlich nicht mehr möglich (erweisen, tritt) an ihre Stelle das ‚Tragikomische’“. Durch die Verbindung der beiden Elemente ergibt sich zwangsläufig eine Bedeutungsänderung der Begriffe: „Das Tragische hat sich hier zum Furchtbaren, das Komische zum Lächerlichen verhärtet.“ (Heidsieck 1969, 82.) Bernhards Wortgebrauch scheint diesen Befund zu ratifizieren. Die Vokabeln ‚furchtbar’ und ‚lächerlich’ finden sich in seinen Texten weit häufiger als die konventionellen Unterscheidungen tragisch/komisch bzw. Komödie/Tragödie.11 Dennoch bleibt die profane sprachliche Ausdruckswelt des ‚Tragikomischen’ den Sinnzusammenhängen der alten Kategorien verhaftet; ihre Kombination oder gar Vermischung transzendiert nicht völlig die überkommenen Fragen und Problemlagen.12 Dargestellt wird nämlich „eine übergesellschaftliche Heteronomie des Menschen, eine unaufhebbare Determiniertheit der gesellschaftlichen Vorgänge. [...] In allem Tragikomischen [...] resultiert der lächerlich-schlimme Zustand des einzelnen wie der Gesellschaft aus einem quasi metaphysischen sinnlosen Schicksal, er bleibt unaufhebbar.“ (Heidsieck 1969, 82)13
10 Profitlich 1998, 297f.; vgl. auch ders. 1999, 327. 11 Der Austausch der Begriffe unter der Vorspiegelung, es handele sich um Synonyme, wird in folgenden Sätzen vollzogen: „Das Tragische ist ja nicht / daß mein Bruder tot ist / daß wir zurückgeblieben sind ist das Fürchterliche.“ (Bernhard 1989, 91, Heldenplatz) „Ich dachte nicht an die Tragödie, sondern an das Kunstwerk, an das Großartige der Aufbahrung, nicht an ihre tatsächliche Furchtbarkeit.“ (Bernhard 1986, 324f., Auslöschung) 12 Im Unterschied zu Profitlich nimmt Herwig Walitsch an, daß Bernhards Ausdruck „das ‚Fürchterliche’ auf den Begriff des Tragischen abhebt, wie ihn die idealistische (und klassizistische Ästhetik) Hegels kennt.“ (1992, 61) Dies trifft sicher zu, aber daraus darf nicht geschlossen werden, dass die „antinomischen Begriffe ‚fürchterlich’ – ‚lächerlich’ [...] stellvertretend für ‚tragisch’ und ‚komisch’ stehen.“ (ebd., 62) Denn die von Bernhard behandelten Folgen der Bedeutungsverschiebung sind entscheidend. 13 Heidsieck versucht im Übrigen zu zeigen, dass die „moderne Gestalt des Absurden“ diese quasi metaphysischen Annahmen der tragikomischen „Weltbetrachtung“ übernimmt. Die „groteske Form“ hingegen „schließt Tragik, Komik wie auch Tragikomik ganz aus“ und geht auch zum Absurden auf Distanz. Absurd erscheinen Leben und Welt, wenn Sinnlosigkeit oder Negativität zu allgemeinen und unabänderlichen Eigenschaften des Daseins geraten. Die groteske Darstellung zeigt demgegenüber jeweils konkrete, von Menschen produzierte Deformationen auf, die in einem Atemzug Entsetzen und Gelächter auslösen.
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Das Projekt der Moderne, das sich die Über- oder Verwindung der Metaphysik14 zum Ziel setzte, ist (aus dieser Perspektive) auf halbem Wege stecken geblieben. Die angeschlagene, aber unbesiegte Metaphysik hat sich als Quasi-Metaphysik erhalten. Bernhards Texte machen die Transformation der klassischen Deutungsmuster menschlichen Handelns und Erlebens zum Thema. Die Bedeutungsverschiebung der Kategorienpaare ‚tragisch/komisch’ bzw. ‚Tragödie/Komödie’ wird allerdings nicht als historisch bereits vollzogene und abgeschlossene Bestimmung in Szene gesetzt und ratifiziert, sondern als aktuelles semantisches Gefecht um den Sinn der Worte und Unterscheidungen ausgetragen. Zur Darstellung gelangt der dramatische Auszehrungsprozess, in dem Gehalt und Gewicht der alten Kategorien dahinschwinden, und zugleich wird vorgeführt, wie die Sehnsucht nach tragischen Konstellationen und komischen Perspektiven die kaum mehr handelnden, fast nur noch sprechenden Personen heimsucht und quält.15 Durch die Komik soll das pure Überleben zur souveränen Beherrschung der Alltagsbedrängnisse erhoben16, durch die Tragik der Tod davor bewahrt werden, zum kläglichen oder belanglosen Ende herunterzukommen.17 In beiden Fällen erweist sich die Demontage der hehren Begriffe als Voraussetzung ihrer imaginativen Wiederbelebung mit Hilfe von rhetorischen Kniffen, die sich jedoch leicht blamieren können. Komik und Tragik bzw. ihre ästhetischen Reflexionsmuster Komödie und Tragödie sind (in der Moderne) zu höchst anspruchsvollen Programmen geworden, deren Umsetzung stets vom Scheitern bedroht, wenn nicht gar (grundsätzlich) zum Scheitern verurteilt ist. Aber 14 Mit Heideggers missratener „Verwindung“ der Metaphysik hat sich Bernhard mehrfach – implizit und explizit – auseinandergesetzt, z.B. in Die Korrektur (1975) und Alte Meister (1985). 15 Die Diagnose, Bernhard trachte danach, „nicht nur die Konturen tragikomischer Ereignisse, sondern die Kategorien selbst aufzulösen“, ist daher irreführend (Klug 1991, 96). Es geht auch nicht einfach darum, Schopenhauers Befund literarisch zu verdoppeln: „So muß, als ob das Schicksal zum Jammer unseres Daseyns noch den Spott fügen gewollt, unser Leben alle Wehen des Trauerspiels enthalten, und wir dabei doch nicht ein Mal die Würde tragischer Personen behaupten können, sondern, im breiten Detail des Lebens, unumgänglich läppische Lustspielcharaktere seyn.“ (Schopenhauer 1977a, 403) Selbstverständlich liegt es nahe, eine Sentenz aus Alte Meister mit Schopenhauers Kernthese über das Leben als Trauerspiel und Lustspiel zu parallelisieren: „Das Leben jedes Einzelnen ist, wenn man es im Ganzen und allgemeinen übersieht und nur die bedeutsamsten Züge heraushebt, eigentlich immer ein Trauerspiel; aber im Einzelnen durchgegangen, hat es den Charakter des Lustspiels. Denn das Treiben und Plagen des Tages, die rastlose Neckerei des Augenblicks, das Wünschen und Fürchten der Woche, die Unfälle jeder Stunde, mittels des stets auf Schabernack bedachten Zufalls, sind lauter Komödienscenen. Aber die nie erfüllten Wünsche, das vereitelte Streben, die vom Schicksal unbarmherzig zertretenen Hoffnungen, die unsäligen Irrthümer des ganzen Lebens, mit dem steigenden Leiden und Tode am Schlusse, geben immer ein Trauerspiel.“ (Ebd.) „Was denken und was reden wir alles und glauben wir sind kompetent und sind es doch nicht, das ist die Komödie, und wenn wir fragen, wie soll es weitergehn? Ist es die Tragödie.“ (Bernhard 1985, 308) 16 Z.B. durch das von Bernhard perfektionierte urkomische Verfahren der Übertreibung, das dazu dient, „die Existenz auszuhalten, [...] sie zu ermöglichen.“ (Bernhard 1986, 611, Auslöschung) 17 Vgl. etwa die folgende Passage: „Am liebsten möchte ich im Wald sterben, war auch ein Ausspruch von ihm, dachte ich jetzt, aber der Wunsch ist ihm nicht erfüllt worden, er ist den heute tagtäglichen Tod gestorben, den ihm genau entgegengesetzten, wie Millionen, ganz wie der heute moderne Mensch, ganz einfach in einem Augenblick des Unkonzentriertseins auf der Straße“ (Bernhard 1986, 509, Auslöschung)
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jedes Misslingen auf diesem heiklen Terrain bietet den Gescheiterten auch wieder die Möglichkeit, sich wie Münchhausen am Schopfe lakonischer Sätze aus dem Sumpf unerfüllbarer Ambitionen zu ziehen. Professor Robert (Heldenplatz) räsoniert zum Beispiel ernüchtert: „Wir stellen uns ganz darauf ein / daß wir zuerst sterben und bleiben übrig.“ (Bernhard 1989, 76) Der normative Anspruch auf einen tragischen Untergang ist hier zur akzeptierten kognitiven Erwartung eines vorzeitigen Todes zurückgenommen worden, auf deren Erfüllung man nicht zählen darf. Und der Wunsch, die Zumutungen des Daseins (ohne Verminderung der „Lust am Denken“18) zu überwinden, wird nicht mehr durch komische Reduktion aller Probleme auf ihren unwesentlichen Kern erfüllt, sondern durch ein schicksalhaftes Ausleseverfahren, das das begehrende Subjekt selbst in einen übrig gebliebenen Rest verwandelt, der nur wegen seiner Geringfügigkeit aufbewahrt und am Leben erhalten wird. Die Denkfiguren des Tragischen und Komischen selbst sind am Ende des rasanten okzidentalen Modernisierungsprozesses, der (nach Bernhard) nicht im offenen Faschismus, sondern in dem „unter der Oberfläche [...] schon längst wieder an (die) Macht“ (Bernhard 1989, 77) gelangten Faschismus kulminiert, regelrecht „übrig“ geblieben. Sie ragen wie Reste einer kulturellen Vorwelt in die Gegenwart hinein und treiben ihr Unwesen zwischen den Zeilen der Diskurse, mit denen die spätmodernen Subjekte ihre Probleme beschreiben.19 Tragikomödien sind also Darstellungen eines Übergangs: Metaphysische Sinnfiguren, Normen und Werte, absolute Ansprüche auf Glück, Würde, Unversehrtheit, Gerechtigkeit, Authentizität, Autonomie etc. haben ihre fraglose Gültigkeit zwar eingebüßt, sind aber noch nicht zum alten Eisen einer unzeitgemäßen Ethik geworfen worden. Alternative Formen der Orientierung stehen bereits zur Verfügung, haben sich aber noch nicht allgemein durchgesetzt. Vorstellungen über das Notwendige, Angemessene, Richtige konkurrieren (sei es tragisch oder komisch) mit den Konzepten des kalkulierbaren Zufalls, der statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeit, des puren, prinzipienlosen Situationsmanagements. Verhängnis und Unglück, Versöhnung und Erfüllung gelten als abgegriffene und problematische, aber noch nicht als völlig überflüssige Kategorien. Rationale Techniken wie Prävention und Schadensregulierung verwandeln tragische Untergänge in Unfälle und Pannen, gegen die sich ein ‚normaler’ Bürger angemessen versichert. Juristisch einklagbare und bezifferbare Mengen an Lastenausgleich und Schmerzensgeld rauben der abendländischen Opferlogik, die das tragische Gleichgewicht der kämpfenden Parteien durch mythische Schuldfiktionen behebt 20, ihre soziale Funktion. Diesem vielfach diagnostizierten Niedergang der Tragik21 korrespondiert die Krise der Komik22. An die Stelle komischer Produktion und Tilgungen von Irritation, Chaos und Gefahr sind die Events der Spaßkultur getreten. Und doch bleibt die Sehnsucht nach der alten Schärfe und Tiefe, nach Unerbittlichkeit und Opferbereitschaft23, nach souveräner Heiterkeit und einer durch langen Zwist geadelte, gleichsam mit Sicherheitsgarantien versehenen Eintracht. 18 Vgl. das poetische Programm des Moritz Meister aus Über allen Gipfeln ist Ruh: „Das Tragische habe ich so herausgearbeitet / daß es die Lust am Denken nicht verdirbt.“ (Bernhard 1988, 250) 19 Zu den aktuellen Versuchen, den Begriff der Tragik zu revitalisieren vgl. Menke, 1996a, 242-298; Bude 1993, 267-281; Ellrich 1999c; Gephart 2001, 105-125. 20 Vgl. Girard 1987; siehe dazu auch Ellrich 1999b. 21 Vgl. Steiner 1962. 22 Vgl. Zijderfeld 1974. 23 Vgl. exemplarisch Strauß 1993.
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Thomas Bernhards schlichte, provokativ schlichte Frage: „Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?“ (1979, 84) setzt daher weitläufige Reflexionsprozesse in Gang. Diese Frage reduziert die Komplexität der modernen Welt zunächst auf eine fundamentale Unterscheidung, deren Einheit ungenannt bleibt, und löst damit unweigerlich eine Kette von Beobachtungsoperationen aus, deren Ziel es ist, diese verborgene Einheit der Differenz in den Blick zu nehmen. Gesucht wird ein Standpunkt, von dem aus überhaupt entschieden werden könnte, ob es sich bei der Ausgangsfrage um eine heute noch entscheidbare oder um eine in ihrer Unentscheidbarkeit hinzunehmende Problembeschreibung handelt. Doch selbst der mögliche Befund, dass wir hier – angeleitet durch ein ästhetisches Suchprogramm – auf etwas Unentscheidbares stoßen, wäre kein letztes Wort. Das künstlerische Experiment ist vielleicht bloß der geeignete Weg, um uns auf eine besonders wichtige ethische Konstellation aufmerksam zu machen. Der Umstand, dass wir eine Alternative, vor die wir uns gestellt sehen, als unentscheidbare Frage erkennen, lässt sich durchaus als ethischer Imperativ deuten: ‚Triff eine Entscheidung’. Denn nur Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können von den Beobachtern in Eigenverantwortung entschieden werden.24 Bevor aber die Entscheidung zwischen den zwei Seiten einer Differenz getroffen und als ethischer Akt übernommen werden kann, muss freilich die Operation des Beobachtens, die stets auf ein Unterscheiden mit Entscheidungszwang herausläuft, bewusst vollzogen und als folgenreiche Tat akzeptiert werden. Die Einheit der Unterscheidung (z.B. von Komödie und Tragödie) ist nämlich nichts anderes als der Beobachter, der diese Unterscheidung trifft. Doch der Beobachter muss die Position, zu der er verurteilt ist, nicht annehmen und die Unterscheidungen, die er verwendet, nicht als eigene Leistung begreifen. Er kann die Unterscheidungsarbeit, die er verrichtet, auch von sich weisen und extern zurechnen, z.B. fremden Akteuren und Sprechern, dem Unbewussten, das sich in Symbolen und Symptomen manifestiert, der anonymen Prozessualität der Sprache oder gar den Dingen und Ereignissen, die aus sich selbst heraus Bedeutungen generieren und sie den anwesenden Subjekten aufdrängen. Wer die oben zitierte Frage nach Komödie und Tragödie so unumwunden aufwirft, bringt sich selbst ostentativ als Beobachter-Einheit der Unterscheidung ins Spiel und signalisiert seine (sei es ästhetische, sei es ethische) Bereitschaft, identifiziert zu werden und als Objekt eines Experimentes zu dienen, das die Logik des Beobachtens mit Hilfe der Unterscheidung Komödie/Tragödie entfaltet. Mit diesem Schritt ist der mutwillige Beobachter allerdings nicht gefeit gegen die Möglichkeit, dass die Einheit der Unterscheidung von Komödie und Tragödie durch keinen kompakten, den Beobachter von allen Leiden des Differenzierens erlösenden Begriff ge(währ)leistet wird, sondern durch die bereits angesprochene Figur der Tragikomödie, die entweder bloß ein Titel für eine unabgeschlossene Auseinandersetzung über historisch-semantische Verschiebungen ist oder die gesuchte Einheit beider Grundbegriffe als Operation der „Selbstunterlaufung“ präsentiert.25 Geständnisse, die die Nische des Beobachters fremden Blicken zugänglich machen, buhlen (wie andere Geständnisse auch) rhetorisch um Nachsicht, aber sie liefern keine Garantie dafür, dass der Sprecher am Ende nicht das Nachsehen hat. 24 Vgl. von Foerster 1993. 25 Adornos Bescheid, auf die moderne Situation reagiere nur ein Bewusstsein adäquat, das „die gesamte Alternative von Ernst und Heiter nicht mehr zulässt und auch nicht das Gemisch Tragikomik“ (1981, 605), liefert ein zu einfaches Bild. Dass gerade Samuel Becketts Endspiel als Beispiel einer modernen Tragödie gelesen werden kann, zeigt überzeugend Menke (2000a, 92f.), vgl. auch Menke (2000c, 25ff.).
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Dieses Risiko tragen einige von Bernhards prominentesten Romanfiguren offenbar mit unterschwelligem Behagen. Atzbacher etwa bekennt in Alte Meister gleich zu Beginn des Romans sein reges Interesse an einer spezifischen Form der Beobachtung, die es ihm erlaubt, Reger „einmal von einem möglichst idealen Winkel aus ungestört beobachten zu können.“ (Bernhard 1985, 7) Das Objekt der Beobachtung ist die notwendige Bedingung jeder Beobachtung, aber auch eine potenzielle Störquelle, die den eigensinnigen, selbstbezüglichen Verlauf der Beobachtung mit Gegenbeobachtungen (und Gegenbezeichnungen) unterbrechen kann. Man muss daher für eine geeignete Versuchsanordnung sorgen, die die Beobachtung von vornherein in die Regie einer strengen Selbstbeobachtung nimmt. Murau stellt in Auslöschung entsprechende Überlegungen an: „Wir müssen die Menschen dann beobachten, wenn sie nicht wissen, daß sie unser Beobachtungsopfer sind, habe ich gedacht. [...] Das Betrachten oder Beobachten, wenn der Betrachtete oder der Beobachtete nicht weiß, daß er beobachtet wird, ist eines der größten Vergnügen. Es ist allerdings, wie ich dachte, gleichzeitig eine völlig unerlaubte Kunst, der wir uns aber nicht entziehen können, wenn wir auf ihren Geschmack gekommen sind.“ (Bernhard 1989, 318, 325)
Noch weiter als Murau geht der Ich-Erzähler in Holzfällen (1984)26: „Wir lernen viel, wenn wir Leute von hinten beobachten, die nicht wissen, daß wir sie beobachten und solange als möglich in dieser rücksichtslosen und infamen Beobachtung nicht ansprechen, dachte ich auf dem Ohrensessel, wenn wir uns noch dazu beherrschen können, sie überhaupt nicht anzusprechen, sondern die Fähigkeit haben, uns ganz einfach umzudrehen und von ihnen im wahrsten Sinne des Wortes abzugehen. [...] Diese Beobachtungsvorgangsweise ist genauso für Menschen anzuwenden, die wir lieben, wie für die, die wir hassen.“ (27)
Und der Erzähler, der nicht zögert, die eigenen Operationen mit negativen moralischen Bewertungen zu versehen, beobachtet schließlich, dass auch er beobachtet wird. Dennoch versucht er, eine Trennlinie zwischen der Beobachtung und der Rückbeobachtung zu ziehen: „Sie sahen: ich bin ihr Beobachter, der widerwärtige Mensch, der [...] im Schutze des Halbdunkels [...] sein ekelhaftes Spiel treibt“, das darauf abzielt, seine Beobachtungsobjekte „auseinanderzunehmen“. Aber die Anklage wird sofort durch eine Rechtfertigung relativiert: „ich hatte immer einen Milderungsgrund; ich nahm mich selbst noch viel mehr auseinander, verschonte mich nie, zerlegte mich selbst bei jeder Gelegenheit in alle Bestandteile.“ (83) Schon diese wenigen expliziten Hinweise auf Darstellung und Reflexion von Beobachtungspositionen machen deutlich, dass Bernhard in seinen Texten sowohl gestaffelte als auch rekursiv vernetzte Formen der Observation thematisiert, die mit bestimmten Konfliktentfesselungs- und Konfliktvermeidungskompetenzen verknüpft sind. Beobachten vollzieht sich dabei eben nicht allein als minutiös dargestellter visueller Akt fingierter Personen, sondern als sprachlicher Prozess, in dem fortlaufend unterschieden und entschieden wird. Pausenlos tauchen Differenzen auf, die sich zu weiteren Differenzen in Beziehung setzen. Jede verbale Operation zerlegt die Welt und trifft eine Wahl zwischen den einzelnen Teilen. Die Markierungen geschehen Zug um Zug, als müsse ein ungeheurer Problemdruck bewältigt 26 Alle Seitenangaben aus diesem Buch künftig im Text.
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werden, der doch von Entscheidung zu Entscheidung nur ansteigt. Jede Artikulation erzeugt, schürt, verschiebt einen Konflikt zwischen den produzierten Bestimmungen. Sinn und Gegensinn geraten aneinander, reiben sich und führen doch schon im nächsten Augenblick über Abgründe hinweg nur noch ein Ferngespräch miteinander. Angesichts solcher ästhetischer Darstellungsweisen muss es als verlockend erscheinen, die gegenwärtig avancierteste Theorie begrifflichen Beobachtens (nämlich die Systemtheorie Niklas Luhmanns) mit einer Evolutionstheorie der literarischen Gattungen strukturell zu koppeln. Bianca Theisen hat dieses Unternehmen gewagt.27 Sie greift die konstruktivistischen Modelle der Beobachtung erster, zweiter und dritter Ordnung auf und parallelisiert sie mit der Gattungstriade Tragödie, Komödie und Narration. Jede Beobachtung erzeugt nach Luhmann, weil sie zugleich eine Distinktion und eine Bezeichnung ist, einen blinden Fleck. Mit der Option für eine Seite der Unterscheidung wird die andere Seite bzw. die Einheit der Differenz unsichtbar gemacht.28 Die unvermeidliche Abdunkelung kann aber durch eine weitere Unterscheidung sichtbar gemacht werden; freilich nur um den Preis, dass auch sie erneut einen blinden Fleck erzeugt, der sich nun seinerseits nur durch eine zusätzliche Unterscheidung ins Visier nehmen lässt. Theisen schlägt vor, die Tragödie als Beobachtung erster Ordnung zu betrachten, weil in dieser Form des Dramas einseitige Standpunkte, die blind für alles Übrige sind, miteinander in Konflikt geraten.29 Demgegenüber lasse sich die Komödie als fortgeschrittene Beobachtungstechnik auffassen, denn sie etabliere die mit tragischen Ergebnissen aus dem Beobachtungsvorgang ausgeschlossene Multiperspektivität nicht allein als etwas operativ Erreichbares, sondern auch als etwas für alle Beteiligten höchst Gedeihliches. Die Komödie und der auch zwangsläufig (tragischerweise?) von ihr hervorgebrachte blinde Fleck könne dann in einer narrativen Rekonstruktion der Iterationsbewegung beobachtet und kenntlich gemacht werden.30 Womit natürlich kein Ende erreicht ist; denn die dunkle Stelle narrativer 27 Siehe Theisen 1996, 533-559. 28 Eine Ausnahme bilden die sog. Schemata, bei denen die beiden Seiten der Differenz zugleich ins Blickfeld kommen. Zu den Problemen von Luhmanns Konzept vgl. Ellrich 1999c, 161ff., sowie Ellrich 1999a, 157ff. 29 „The object of comedy […] is the paradox of form in tragedy”; Theisen 1996, 541. Auch Simon gelangt zu der These: “Komödie ist Beobachtung von Tragödie. Genauer: In der Tragödie beobachtet die tragödienspezifische Metasprache die Konflikte der Objektsprache in verallgemeinernder Weise. In der Komödie beobachtet die durch Metahandlung immanent reflexive Objektsprache in konkretisierender Weise die konfliktträchtige Metasprache der Tragödie.“ (Simon 2001, 55) 30 Theisen verweist darauf, dass Bernhard dieses „third level of observation“ in seiner Kurzgeschichte Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? erreicht hat. (1996, 542) „Comedy […] emerges from tragedy and overcomes it because … it can reflect on the contradictions in which tragedy remains trapped.“ „If tragedy arouses passions, comedy turns to understanding and demands the freedom to stand reflective and sovereign above all things rather than passionately mourning for them. […] Comedy […] emerges from tragedy and overcomes it because […] it can reflect on the contradictions in which tragedy remains trapped.” (ebd., 543) Doch worin besteht der blinde Fleck der Komödie? Dies wird weder in Bernhards Erzählung, noch in Theisens Lektüre gesagt. Vielleicht im blinden Glauben an reflexive Souveränität und Distanz, vielleicht in der naiven Überzeugung, die Leidenschaften ließen sich durch Reflexion überwinden? – Wichtig ist, dass die Erzählung zunächst die Unentschiedenheit thematisiert („Für mich ist es interessant, einmal nicht zu wissen, was gespielt wird. Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?“), um dann mit einer definitiven, aber unbegrün-
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Reihung – so ließe sich der Ansatz bernhardesk fortspinnen – wartet nur auf die korrektive Belichtung durch Literaturtheorie, deren unumgängliche Nutz- und Sinnlosigkeit, ja sogar Schädlichkeit wiederum in einer auf tragische Konstellationen versessenen und ihre Abwesenheit gleichzeitig beklagenden Metabetrachtung31 aufgewiesen wird und durch das beklemmend einseitige Ritual purer Selbstreferenz so gründlich zu begründen sein dürfte, dass sich der paradoxe Boden der Beobachtung erster Ordnung wieder grausend-heimatlich öffnet. Theisens Überlegungen münden in die These ein, dass Bernhard die traditionellen Gattungen ‚Tragödie’ und ‚Komödie’ von allen historisch obsolet gewordenen inhaltlichen Bestimmungen reinigt. Kategorien wie Schuld, Verhängnis, Katastrophe, Depotenzierung, Lächerlichkeit, Erlösung, Rettung werden ebenso über Bord geworfen wie die Konzepte, mit denen die Fachleute gewöhnlich die Funktionen der ‚tragischen’ oder ‚komischen’ Darstellungsweisen bezeichnen, nämlich: Katharsis, Trost, Verklärung, Ermahnung, Erschütterung, Entlastung, Triebabfuhr, soziale Integration, Transzendierung des Alltags usw. In brillanter Manier beschreibt Theisen die Sprachfiguren, mit deren Hilfe komplexe Beziehungen zwischen den Äußerungen der sich observierenden und bestimmenden Personen (z.B. Reger und Atzbacher in Alte Meister) jeweils zustande kommen. So gelingt es ihr, die Auflösung der Subjekte in Reflexionsstrukturen mit temporalen und topologischen Aspekten Schritt für Schritt nachzuzeichnen. Theisen vernachlässigt darüber jedoch den Umstand, dass Bernhards Texte das gesamte Designations- und Konnotationsfeld der Kategorien ‚Tragödie’ und ‚Komödie’ durchmessen und nicht allein die mit ihnen verbundenen Beobachtungsweisen in eine nummerierbare Ordnung bringen. Dies lässt sich exemplarisch an dem Roman Holzfällen zeigen, denn hier sind alle klassischen Motive tragödientypischer Konfliktsucht und -eskalation sowie komödientypischer Konfliktrelativierung und überwindung auf engstem Raum versammelt. Von vornherein und im Nachhinein deutet der sich und seine Umwelt beobachtende und beschreibende Held seine Handlungen als Teil eines schicksalhaften tragischen Zusammenhangs, dem er gar nicht entrinnen kann. Dabei weiß er genau, dass die entscheidende Begegnung, die er vermeiden möchte, durch den eigenen Entschluss, „auf dem Graben mehrere Male hin und her zu gehen“, zustande kommen „muß.“ (8) Der Erzähler besitzt im Verlaufe des ganzen Geschehens jederzeit die Option, sich zu entziehen, also eben jene Flucht zu ergreifen, die nach Lacan 32 für die Komödie charakteristisch ist, dennoch steht er unter dem selbst aufgerichteten Bann der Notwendigkeit: „es war nicht zu ändern.“ (84) Immer wieder begibt er sich in Situationen, die den Anschein erwecken, als habe er „keine Möglichkeit mehr [...] zu entkommen.“ (239) Der Gedanke, dass er das Opfer einer „widerwärtigen Fatalität“ ist, lässt ihn nicht los, obschon er sich zugleich vergegenwärtigt, deten Entscheidung zu schließen: „Und heute abend, das sage ich Ihnen wird in dem Theater da drüben, ob Sie es glauben oder nicht, eine Komödie gespielt. Tatsächlich eine Komödie.“ (Bernhard 1979, 84, 89) In einem weiteren Text zur Komödientheorie hat Theisen das „third level of observation“ nicht mehr als Charakteristikum der Narration, sondern als Effekt der Komödie gefaßt: „Bernhards Komödien [hinterlassen] jene ‚Art geistiger Verlegenheit’, die Valéry einem Beobachter dritten Grades zugesprochen hat, der gar nicht weiß, daß er ein Beobachter dritten Grades sein könnte, wenn er nicht so blind wäre.“ (Theisen 2001, 104) 31 Wie sie exemplarisch Steiner in seinem Buch Real Presences (1989) bietet. 32 „Was uns an der Komödie befriedigt, [...] [ist] nicht so sehr der Triumph des Lebens [...] als vielmehr dessen Flucht, daß also das Leben davongleitet, sich entzieht, dahinflieht, allem entwischt, was sich ihm an Schranken entgegensetzt.“ (Lacan1996, 374)
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wie „unsinnig der Gedanke ist.“ (81) In die „Schicksalsfalle“ (159), der er früher einmal, wie er glaubt, unter großen Mühen entronnen ist, tappt er, als sich die Gelegenheit bietet, sehenden Auges hinein. „Wie eine heilsame Kur“ (169) genießt er die Initiationsrituale, in denen ihn die anderen zum Opfer machen. Durch die Identifikation mit der Opferrolle sucht der Erzähler die obligatorische Katharsis. Aber stattdessen stößt er auf die tragische Ironie, dass man gerade von denjenigen Kräften „erdrückt“ werden kann, die man „selbst geschaffen“ hat (137f.). Diese Einsicht entspringt allerdings einer Fremdbeobachtung33 und verwandelt sich erst allmählich in das Ergebnis der unerbittlichen Selbstanalyse. Zunächst scheint nämlich die Beobachterrolle einen Ausweg aus der beständig wahrgenommenen „Ausweglosigkeit“ (207) zu eröffnen. Beobachten heißt ja, eine distanzierte, dem Objektfeld nicht integrierte Position zu beziehen. Und so gelangt der erregte und sich dennoch dauernd aus seinem Erregungszustand herausreflektierende Berichterstatter auch zu der Meinung, er habe das fatale Geschehen, dem er sich wider die eigenen Intentionen auslieferte, „zwar beobachtet, tatsächlich daran aber nicht teilgenommen.“ (265) Genau diese Annahme wird im Laufe der Ereignisse als pure Illusion entlarvt. Mit jeder minutiös aufgezeichneten Beobachtung verstrickt sich das beobachtende Subjekt tiefer in den verhängnisvollen Prozess und wird zum Spiegelbild jenes „Tragöden“ (116)34, der von den zum „künstlerischen Abendessen“ (7) versammelten Personen so sehnsüchtig erwartet wird, obschon der Beobachter im Ohrensessel eine vollwertige Zweitbesetzung wäre. Die klassische Tragödien-Semantik erschöpft sich aber nicht in der Beschwörung unvermeidlicher Katastrophen und Selbstvernichtungen, sondern zielt auf eine besondere Fallhöhe, die allein dann erreicht wird, wenn Subjekte, die eine berechtigte Sache vertreten, sich selbst ins Unrecht setzen und so ihren Sturz einleiten. Dass es in Holzfällen um Konflikte geht, bei denen der Einsatz nichts Geringeres als das „Höchste“ (95, 204) ist, unterliegt keinem Zweifel. Weder der Erzähler, der sich an der eigenen Inauthentizität weidet (105), noch der Burgschauspieler, der seine längst habitualisierte Künstlichkeit durch die Rückkehr zur echten Natur überwinden will (301), lassen sich davon abbringen. Sie erheben Ansprüche und reklamieren Rechte, die sie so lange steigern, bis etwas „merkwürdig AltPhilosophisches [...] zum Vorschein“ kommt (304). Erst auf solchen Gipfelpunkten einer nostalgisch verklärten Metaphysik des Guten und Gerechten, welche das „höchste Glück“ gewähren, erlangt die einsetzende „Lebenskatastrophe“ (266) wahrhaft tragische Dimensionen. Im unausweichlichen Sturz verkehrt sich dann der Glaube an das „Recht“ in die völlige Dementierung aller legitimen Ansprüche: „Niemand hat irgendein Recht, dachte ich. Die Welt, alles ist die Ungerechtigkeit.“ (163) Aber die verabsolutierte Ungerechtigkeit ist nur die Kehrseite eines verabsolutierten Rechts, das das tragische Scheitern 35 zwangsläufig nach sich zieht. 33 Die Person, die sich durch ihr eigenes Handeln zugrunde gerichtet hat, ist für den Erzähler auch „schuld“ (137) daran, dass er den „gegen“ sich selbst gerichteten unfassbaren Entschluß, der als „Kurzschluß“ (81) bezeichnet wird, überhaupt fassen konnte. 34 Der Burgtheaterschauspieler selbst betrachtet seine Karriere als „Opferschicksal“ (185). 35 Dieses Scheitern kann auch die ästhetische Darstellung des tragischen Gehaltes ereilen. Im Burgtheater etwa wird das Tragische zu einem leicht konsumierbaren Sujet, das manche Betrachter dazu anregt, „immer wieder“ zu sagen, „wie gut“ die schauspielerische Leistung des Helden „ihnen [...] gefallen habe.“ (116) Hier bleibt jene „Erschütterung“ gänzlich aus, die Heiner Müller von der Tragödie gefordert hat, um der verbreiteten „Ausflucht“ in die „Heiterkeit“ ein Ende zu bereiten. Vgl. Profitlich 1999, 298.
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Neben diesen Szenarien, die die Konzepte der klassischen Tragödie aufrufen, stehen unvermittelt und nicht weniger eindrücklich die basalen Topoi der Komödie. Bernhard zeigt in Holzfällen ebenso die tumultuarische Widerspenstigkeit und Wildheit dieser Gattung wie ihren Wertekosmos, der das unverbrüchliche Versprechen enthält, die entfesselte Unvernunft immer wieder zu bändigen. Mit großer, mitunter verblüffender Selbstverständlichkeit benutzt Bernhard Bauelemente und Begriffe, die nur im Plotmuster der ‚alten’ Komödie, das auf die Wiederherstellung „vernünftiger Zustände einer geordneten kulturellen Welt hin perspektiviert“ (Stierle 1976, 260) ist, überhaupt Sinn machen. Der Spott, der Hohn, die Ironie, der Sarkasmus, die erbarmungslosen Mechanismen der Zerlegung und Selbstzerlegung sind Ingredienzen einer Betrachtungsweise, die letztlich durch den Glauben an ein akzeptierbares Normengefüge getragen wird. Der Angriff gilt denen, die sich gegen diese höhere Ordnung vergehen. Sie werden als lächerliche Gestalten, als armselige, groteske, haltlose Figuren denunziert und dem Gelächter der Leser ausgeliefert. Die Suada des Erzählers ist durchdrungen von dem Wissen, dass es „notwendige Spielregeln“ (147) gibt, die gültig bleiben, obschon sie permanent verletzt werden, dass „etwas Zureichendes“ (313) existiert, dessen Kern unantastbar ist, obschon es laufend – auch durch die eigene Person – unterboten wird.36 Gegen die Faktizität der Normbrüche und Abweichungen setzt er die Idee der Geltung. Er pocht auf die Werte „Anstand“ (296) und „Hochachtung“ (297), auf „Mut“, „Kraft“ und „Wahrheitsliebe“ (167) und letztlich sogar auf das humane Gebot der „Schonung“ (292).37 In Holzfällen wird nun nicht allein der die Komödie konstituierende Normenkosmos entfaltet, sondern auch der Triumph gestaltet, den die Vernunft schließlich über Chaos, moralischen Verfall und menschliche Dummheit erringt. Dieser Sieg ereignet sich freilich in einer Bewegung, die das Gleichgewicht von Tragödie und Komödie, das Bernhards Roman vorführt, nicht antastet. Die komödientypische Versöhnungsgeste der „Umarmung“ (vgl. 318) und die tragödientypische „Vernichtung“ des Höchsten, die der Erzähler durch seine Heuchelei vollzieht, halten sich am Ende die Waage.38 Die Bedeutung der schönen Geste wird von der Selbstdenunziation des Erzählers nicht wirklich geschmälert. Mit Hegel könnte man sagen, dass die Umarmung sittlich ist, während die nachträgliche Kritik, die das reale Verhalten zu zersetzen sucht, nur den berechtigten, aber beschränkten „Kammerdiener der Moral“ spielt. Den Sieg der Komödie beschreibt Bernhard daher auch als Niederlage. Der Tragödie wird ihr Anspruch auf das letzte Wort in der Auseinandersetzung gar nicht genommen. Zu ihrem Anteil an der umstrittenen Beute ge36 Vgl. z.B. die Aussage: „Wir sind überhaupt nicht besser, als diese Leute, die wir andauernd nur als unerträgliche und widerliche Leute empfinden.“ (316) 37 Vgl. dazu auch folgende Feststellung: „Wir dürfen in einen Menschen, zu welchem wir ein ideales Verhältnis haben, nicht mehr eindringen, als wir schon eingedrungen sind, sonst zerstören wir dieses ideale Verhältnis.“ (Bernhard 1985, 206) Hier deutet sich allerdings ein potenziell tragischer Konflikt zwischen der Maxime der Authentizität, die stets zur schonungslosen Zerlegung der eigenen und fremden Psyche führt (83), und dem Gebot der Schonung an. Helmuth Plessner hat schon 1924 auf die Gefahr hingewiesen, dass „alles Psychische, das sich nackt hervorwagt, es mag so echt gefühlt, gewollt, gedacht sein, wie es will, [...] das Risiko der Lächerlichkeit“ trägt (1981, 70). Christoph Menke wiederum vertritt die These, dass die Tragik des modernen Individuums im unausweichlichen Konflikt zwischen Authentizität und Autonomie (im Sinne einer öffentlichen Gerechtigkeit) liegt (1996a, 268ff). 38 Bernhard selbst hat dies in einem Interview mit der Formulierung „Umarmung und Vernichtung“ eigens betont (Fleischmann 1991, 169).
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langt die Komödie durch den Wechsel des Kampfplatzes. Die Komödie wählt – wie schon mit Verweis auf Lacan gesagt – den lichten Rausch der Flucht: „[...] ich lief und lief und dachte, daß ich, wie allem Fürchterlichen, auch diesem fürchterlichen sogenannten künstlerischen Abendessen in der Grenzgasse entkommen bin und daß ich über dieses künstlerische Abendessen [...] schreiben werde.“ (321)39 Die unvermeidliche Vernichtung und das notwendige Opfer werden anerkannt und nur mit der unbezwinglichen Idee einer Wiedergeburt im Medium der Schrift konfrontiert. Bringt man mit Bernhards Vernichtungsvirtuosen Murau das Rettungsmotiv der komischen Katharsis auf die griffige Formel: „das Alte auflösen, um es am Ende ganz und gar auslöschen zu können für das Neue“ (Bernhard 1986, 211f.), dann heißt dies im Rahmen der Strukturen, die die Beobachtung des „sogenannten künstlerischen Abendessens“ freilegt, dass der nieder-geschriebene Text das unaufhaltsame Vernichtungsgeschehen nur ‚umarmen’ kann, indem er es durch Worte wiederholt und ästhetisch erneuert. Welche skandalösen Probleme sich daraus ergeben, werden wir noch sehen. Stellt man die Motivkomplexe Tragödie und Komödie ins Zentrum der Lektüre, so wirkt Holzfällen wie eine eigensinnige Replik auf all jene philosophischen, soziologischen, kunst- und literaturwissenschaftlichen Theorien, die die Schwierigkeiten beider Gattungen unter den Bedingungen der Moderne hervorgehoben haben. Der Text spielt die Literatur rücksichtslos gegen die Theorie aus, er testet die überkommenen Denkfiguren im konkreten Gebrauch. Bernhards namenloser Held ergreift alle sich bietenden Möglichkeiten zur Subversion und zur Revitalisierung einer normativ aufgeladenen Sprache, deren Angemessenheit allein durch theoretische Reflexion weder überzeugend erwiesen noch überzeugend in Abrede gestellt werden kann. Die fragwürdig gewordene Unterscheidung von Komödie und Tragödie wird in Holzfällen mit anderen nicht minder fragwürdigen Unterscheidungen – wie z.B. scheinbar/wirklich (166), schön/hässlich (271), natürlich/künstlich (301) – vernetzt.40 So entsteht ein diskursives Gebilde, das sich selbst trägt, indem es die Reflexion auf die eigene Unhaltbarkeit zum Medium der Reproduktion macht. Während die Theorien sagen können, dass eine Semantik, die mit den aufgezählten Unterscheidungen arbeitet, dem sozialstrukturellen Entwicklungsstand nicht gerecht wird, zeigt die Wortkunst, wie Bernhard sie ausübt, dass wir zwar berechtigte Zweifel an bestimmten Begriffen hegen, aber noch nicht über neue Konzepte verfügen, die die alten ohne Einbuße an Erkenntnis ersetzen können. Nur im Prozess des sprachlichen Durcharbeitens werden also die Argumente, die die Theorien gegen die Plotmuster Tragödie und Komödie vorgebracht haben, zu diskursiven Eingriffen, die praktische Relevanz besitzen. Bernhards Verfahren ähnelt dem Vorgehen, das die ‚Dekonstruktion’ benutzt, um ein abgenutztes Vokabular, das sich ohne sozialstrukturelle Deckung am Leben erhält, durch radikalisierte Gebrauchsweisen auszuzehren und so den Weg für neue Terminologien freizumachen. Werfen wir einen kurzen Blick auf das diskursive Material, das Bernhard verarbeitet: 39 Die Flucht ist bei Bernhard stets auch ein Akt der Um- und Neuorientierung. Sie setzt daher in einem „entscheidenden Augenblick“ ein. In Holzfällen werden zahlreiche derartige Momente beschrieben (20, 24, 98, 181, 220, 309, 313, 321). Vgl. ferner die emphatische Darstellung jenes „entscheidenden Augenblicks“, in dem Bernhard sich gegen den Tod und „für den [Weg] des Lebens entschieden“ hat (Bernhard 1987, 17, Der Atem. Eine Entscheidung). 40 Ein großartiges Beispiel für diese Verknüpfung liefert folgender Satz über einen vermeintlich tragischen Konflikt: „Es kommt zur Katastrophe, dachte ich, wenn der Natürliche auf den Künstlichen trifft.“ (Bernhard 1986, 338, Auslöschung)
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Im Zuge der neuzeitlichen Aufklärungseuphorie wird die Tragödie als überholte Weltbeschreibung verabschiedet. Notwendige Konflikte, in denen etwas Gutes und Gerechtes zu Grunde geht, erscheinen als Kennzeichen prä-rationaler Zeitalter. Die moderne Reflexion hat sich zu dem Standpunkt durchgerungen: „War die Sache gut, dann ihr Untergang nicht notwendig; war der Untergang notwendig, dann die Sache nicht gut.“ (Menke 2000a, 86) Hegel behauptet, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit einen Grad an Vernunft erreicht habe, der nur noch komische Konflikte zulasse, in denen um Nichtigkeiten gestritten und letztlich ein versöhnlicher Ausgang erreicht werde. Jeder gravierende Zwist sei durch Einsatz der institutionalisierten Rationalität zu entscheiden. Daher bestehe der „allgemeine Boden für die tragische Handlung“ (Hegel 1969, 539) nicht länger. Katastrophen brächen über Individuen nur noch als kontingente Ereignisse herein. Der Begriff ‚Verhängnis’ gehöre ins Arsenal der historisch erledigten Denkbestimmungen. Hegel widerruft mit solchen Thesen freilich eine von ihm selbst im sog. „Naturrechtsaufsatz“ gelieferte Theorie der Moderne. Dort ist noch von einem unumgänglichen tragischen Opfer an das „Unorganische“ (Hegel 1970, 495) die Rede. Damit wird der Preis des Fortschritts in einer alten gattungspoetischen Währung taxiert. Auch die Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ weist Spuren dieser Diagnose auf. Die auf dem Egoismus von Privatleuten basierende kapitalistische Wirtschaftsordnung tritt als unsittliche Sphäre in Erscheinung, die von den sittlichen Instanzen Familie und Staat umgeben und allein deshalb akzeptierbar ist. Hegels abschließendes Urteil über den erreichten Weltzustand lautet daher: Die Vernünftigkeit der Moderne besteht in der Versöhnung mit der notwendigen Entzweiung.41 Was hier entworfen wird, ist eine Komödie, die ihr Gegenstück, die Tragödie, deren strukturelle Determinanten sie nicht völlig eliminieren kann, in sich aufhebt. Hegels Konzept, das den Optimismus der entfesselten Industriegesellschaft metaphysisch absegnet, hält sich noch gegen die eher ästhetisch und existentialistisch motivierten Angriffe, die zunächst von den Romantikern, dann von Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard vorgetragen werden. Für Ingenieure und Beamte (das Kern-Personal der Hegelschen WeltgeistDramaturgie) bleibt das ausgehende 19. Jahrhundert eine Komödie, für die Mehrheit der Künstler hat es sich schon in eine Tragödie verwandelt. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts lassen sich die frühen Vertreter der Soziologie durch die Selbstverherrlichung einer wirklich gewordenen Vernunft nicht mehr blenden. Sie paktieren mit der avancierten Kunst 42 und legen die tragische Grundstruktur der modernen Gesellschaft frei, die Hegels philosophische Begriffskomödie nur kaschiert hatte. Noch vor dem ersten Weltkrieg beschreibt Georg Simmel, wie die subjektive Kultur des Geistes mit der objektiven Kultur der Artefakte in einen tragischen Konflikt gerät. 1919 zeigt Max Weber auf, dass die Entwicklungslogik der okzidentalen Gesellschaft zwangsläufig zu einer Situation führt, in der rational unschlichtbare Kämpfe zwischen Parteien ausbrechen, die differierende religiöse, ethische und politische Ansichten vertreten. Damit befindet sich Max Weber im ideologischen Trend. Die tragische Weltsicht ist Mode geworden.43 1923 generalisiert und trivialisiert Ludwig Marcuse die soziologischen Be41 Vgl. hierzu Ritter (1965) und die hierzu passende Interpretation des Lachens (1974, 62-92). Das Lachen drückt die „geheime Zugehörigkeit des Nichtigen zum Dasein“ aus (1974, 76): „Wo das Nichtige nicht mehr als zum Leben positiv dazugehörig begriffen werden kann, da hört es auf, lächerlich zu sein.“ (ebd., 83) 42 Vgl. Lepenies 1985. 43 Einspruch gegen diese Mode erheben die Vertreter der ‚neuen Sachlichkeit’ und des sozialrevolutionären Optimismus. Döblin (auf den ich noch zu sprechen komme) und
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funde zu einer umfassenden Kulturtheorie des Tragischen: „Wir leben in der Welt der Tragödie.“ (Marcuse 1923, 189) Der „frohen Tragödie“, die „den einzelnen Mißlaut in der großen Harmonie auflöst“ (wie etwa bei Schiller), setzt Marcuse die „echte“ Tragödie entgegen, die erst in der Moderne zum Zuge kommt: „Die christlich-humanistische Tragödie befreite den Menschen vom Leid durch die Gewißheit der schließlichen Erlösung. Die antike Tragödie entlastete den Menschen durch seine Einbeziehung in einen universalen, wenn auch tragischen Weltsinn. Die moderne Tragödie ist nur noch ein Schrei der Kreatur; nicht Überwindung, nicht Abschwächung des Leids: nur Verdichtung und Formulierung, als letzte, einzig noch mögliche Reaktion.“ (Marcuse 1923, 180)
Marcuse hebt die Symmetrie von Tragödie und Komödie auf. Die komödientypische Identifizierung und Entfaltung untragischer Konflikte werden zu einer psychohygienischen Strategie erklärt. Während die Tragödie zur Wahrheit vordringt, mildert die Komödie nur den Schmerz, den die Erkenntnis erzeugt: „Was unterscheidet die Tragödie von der Komödie? Die seelische Entfernung des dichtenden Zuschauers. Das Weltereignis bleibt immer dasselbe. Nur löst sich der Komödiendichter energischer von ihm ab. Er jongliert mit ihm wie mit einem Fremdkörper. Er betrachtet es aus einer Sternenferne, die es ungefährlich macht. Und alle Gefahr, die mit dem Opernglas betrachtet wird, wirkt putzig.“ (ebd., 101)
Derart apodiktische Behauptungen über den Wahrheitsgehalt der Tragödie und die therapeutische Funktion der Komödie machen auch nach dem zweiten Weltkrieg noch einmal die Runde44, verschwinden dann aber aus dem Diskurs. Soziologen, Kultur- und Literaturwissenschaftler üben zumeist kategoriale Zurückhaltung. Selbst die Kritische Theorie Adornos, die die „Dialektik der Aufklärung“, die abendländische „Logik des Zerfalls“ und den „Bann“ des falschen Lebens beschwört, verzichtet auf die heiklen Begriffe, mit denen eine Sinnhaftigkeit der Welt behauptet werde, die nach Auschwitz endgültig dahin sei. 1954 hält Dürrenmatt seine berühmte Rede „Theaterprobleme“, in der er zeitdiagnostische Aussagen mit gattungspoetischen Konsequenzen verbindet. Die Probleme der Gegenwart könnten – so seine These – nicht mehr als Tragödie repräsentiert werden. Unsere Welt sei „unüberschaubar anonym, bürokratisch geworden“ und daher nicht mehr mit den klassischen Figuren des unvermeidbaren Konflikts, des notwendigen Untergangs, der schuldlosen Schuld etc. zu fassen:
Brecht zählen zu den literarischen Protagonisten der anti-tragischen Position. Auch Thomas Mann verabschiedet schon 1926 die alten Kategorien: „Denn ganz allgemein und wesentlich scheint mir die Errungenschaft des modernen Kunstgeistes darin zu bestehen, daß er die Kategorien des Tragischen und des Komischen [...] nicht mehr kennt und das Leben als Tragikomödie sieht.“ (Brecht 1968, 267) 44 Zum Wahrheitsgehalt der Tragödie vgl. Schneider (1946/47, 23-33) und Jaspers (1947, 915-960) sowie Jaspers 1952. „Die Gespaltenheit des Wahrseins oder die Nichteinheit der Wahrheit ist ein Grundpfad des tragischen Wissens.“ (Schneider, 1946/47, 29) Der tragische Held „siegt im Scheitern“. „In Sieg und Niederlage, im Prozeß einer Lösung stiftet sich eine neue [...] Ordnung, die nun zunächst für dieses tragische Wissen Geltung hat.“ (ebd., 25) Adornos berühmte Invektiven gegen die existentialistische Affirmation des Tragischen besitzen hier ihren Referenzpunkt.
DIE TRAGIKOMÖDIE DES SKANDALS | 87 „Die Tragödie setzt Schuld, Maß, Not, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. [...] Uns kommt nur noch die Komödie bei.“ (Dürrenmatt 1966, 119)
Die Komödie erhält bei Dürrenmatt die Aufgabe, der „gesichtslosen Welt“ wieder eine „Gestalt“ zu verleihen, wird aber zugleich zum Plotmuster erklärt, dass die „schlimmst-mögliche Wendung“ einer Geschichte präsentieren soll. Auf diese hintergründige Weise bringt Dürrenmatt „das Tragische“ wieder ins Spiel, aber gerade nicht als substantiellen Gehalt der Tragödie, sondern als paradoxen Effekt der Komödie: „Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervorbringen als einen schrecklichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund.“ (ebd., 122f., 193) 1958 erregt Eugène Ionesco mit Aussagen voller Widersprüche Aufsehen. „Ich für meine Person habe den Unterschied, der zwischen dem Komischen und dem Tragischen bestehen soll, nie begriffen“, meint er jovial, um anschließend die unbegriffene Differenz zu erläutern: „Da das Komische die unmittelbare Erkenntnis des Absurden ist, scheint es mir eher geeignet, Verzweifelung zu erregen, als das Tragische.“ (Ionesco 1962, 260) 1961 wendet sich George Steiner in seinem Buch Death of Tragedy vehement und pauschal gegen eine Kultur, der der Sinn für Tragik abhanden gekommen sei, weil sie sich daran gewöhnt habe, die „säkularisierten Heilsversprechen der modernen Vernunft“ (Menke 1996b, 210) 45 für bare Münze zu nehmen. Steiners Analyse ist aber nicht als elegische Besinnung auf das Unwiederbringliche gedacht, sondern als Einspruch, der das falsche Bewusstsein der Zeitgenossen durch ästhetische Kuren verändern soll. Diese knappen Hinweise mögen ausreichen, um den Stand des Diskurses zu markieren, auf den Thomas Bernhard sich bezieht, als er – nach der Flucht aus der Lampersbergschen Obhut – seine ersten wichtigen Texte verfasst. Von vornherein konstruiert er eine fiktionale Welt, deren Personal unaufhörlich über das Tragische und das Komische des Lebens sowie die Schwierigkeit, beides angemessen zu bestimmen, nachdenkt oder spricht.46 Der ästhetische Rahmen, in dem diese innerliterarische Befragung stattfindet, präsentiert sich selbst als Forum zur Prüfung der Darstellungspotenziale, über die die traditionellen Gattungen noch verfügen. Bernhard schafft eine experimentelle Anordnung, die ihm die Möglichkeit gibt, die Plotmuster von Tragödie und Komödie so zu verbinden, dass mehr entsteht als eine Parallelführung von Handlungssträngen oder typischen Redeweisen. Die Motive und Figuren, mit denen die ‚klassischen’ Tragödien und Komödien arbeiten, sollen nicht aufgelöst oder verschmolzen, sondern intensiviert werden. Wie eine Reihe anderer krisenbewusster Autoren verwendet Bernhard ästhetische Strategien, die den Sinn für tragödien- oder komödientypische Konflikte steigern und nicht abschwächen.47 Die ästhetische Hybridform der Tragikomödie zeichnet einerseits die 45 Die Defizite von Steiners Ansatz zeigt Menke durch einen Vergleich mit Carl Schmitts Position auf. 46 Dürrenmatts Forderung, „das Tragische aus der Komödie heraus zu erzielen“, dreht z.B. der Dichter Moritz Meister in Über allen Gipfeln ist Ruh zu der Maxime um: „die Komödie entstehen lassen aus der Tragödie.“ (Bernhard 1988, 250) 47 Vgl. hierzu die Studie von Karl S. Guthke Die moderne Tragikomödie (1968). Guthke zeigt überzeugend, wie die Kombination der Gattungen ihre ursprünglichen Intentionen verstärkt. Dieser verblüffende Effekt verführt Guthke zu der These, dass in der gelungenen Tragikomödie beide Gattungen „eins werden.“ (ebd., 76) Aber damit unterminiert er seine eigenen differenzierenden Darlegungen. Es ist deswegen zutreffender, von der „Kopräsenz des Tragischen und des Komischen“ in der Tragikomödie zu
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Entleerung der kardinalen Begriffe von Tragödie und Komödie nach und macht andererseits deutlich, dass damit eine Intensivierung tragischer und komischer Affekte und Effekte verbunden ist. Warum es gerade zu einer solch paradoxen Kombination von Entleerung und Intensivierung kommt, lässt sich nur ergründen, wenn man sich das Kernproblem beider Gattungen vor Augen führt, welches zugleich als Kernproblem der Gegenwartsgesellschaft angesehen werden kann. Tragödie und Komödie befinden sich in einer Krise, weil ihre normativen Grundlagen48 im Laufe der Moderne abgetragen worden sind.49 Das Gute und das Gerechte verlieren ihr klares Profil. Sie erscheinen nicht länger als objektive Entitäten, auf die sich das Handeln als Legitimationsgrundlage stützen kann. Die Lage wird kompliziert: Einerseits schwindet die Geltungskraft des Guten, das im Prinzip für alle verbindlich ist, andererseits entstehen immer mehr partikulare Werte, die ihre Geltungsdefizite durch gesteigerte Ansprüche auszugleichen suchen. Dadurch büßen Konflikte zwar ihre metaphysische Substanz ein, aber sie werden ubiquitär und theatralisch. Die Spätmoderne ist das Zeitalter der Einheit von permanentem Kampf und Medienspektakel. Es grassieren Konflikte, über deren notwendiges oder zufälliges Auftreten ebenso wenig sichere Aussagen zu treffen sind wie über den verbliebenen normativen Gehalt der Streitpunkte, um die sich die Auseinandersetzungen drehen. Ob etwas Gutes dem unverdienten Untergang geweiht ist oder bloß ein törichter Widerstand gebrochen wird, lässt sich nicht mehr sicher bestimmen. Die verflachte Rede vom Fürchterlichen und Lächerlichen signalisiert den Verlust der kategorialen Eindeutigkeit, die Tragödie und Komödie noch in Reinkultur vorführen. Zugleich weisen diese sprachlichen Schablonen in ihrer hysterischen Rhetorik auf den nach wie vor bestehenden, wenn nicht gar gestiegenen Orientierungsbedarf hin. Durch das tragikomische Spiel wird gezeigt, dass die fehlende normative Sicherheit und die zerfallene Rigidität der Differenzen keine Spielräume der Freiheit schaffen, sondern Panik und Sucht auslösen. Hier gibt es keine wohlbegründeten Urteile über die Situation, keine klar geschiedenen Ausdrucksformen der Klage und der Freude50, hier finden sich vielmehr übertriebene Bekundungen des unbefriedigten Wunsches nach tragischer oder komischer Absolution. Wo Notwendigkeit und Vernunft im Kostüm von Kontingenz und nachträglicher Rationalisierung erscheinen, verwandelt sich die Sprache von Tragödie und Komödie in eine Rhetorik der Sehnsucht. Bernhard gestaltet diesen verbalen Aufwand, der das nicht mehr Mögliche, aber noch nicht Verwundene durch Leerformeln sprechen (Schultze/Unger 2000, 5). Schultze und Unger setzen sich explizit von Guthkes Integrationsthese ab. 48 Auf die normativen Implikationen der Gattungen hat Christoph Menke besonders nachdrücklich hingewiesen: „Tragische Konflikte gibt es nur, wo es normative Orientierungen gibt.“ (1996b, 222) 49 Wie weit dieser Erosionsprozess geführt hat, ist unter den Fachleuten umstritten. Manche diagnostizieren eine vollständige Zerstörung, andere nur eine Erschütterung (vgl. hierzu Ellrich 2001, 2007). 50 In der tragödientypischen Klage klingt die Akzeptanz des Unabänderlichen an und die komödientypische Freude ist zumeist Schadenfreude über das Lehrgeld, das die unvernünftigen Streithähne am Ende entrichten müssen. Die Feier des Einverständnisses, die beide Gattungen zelebrieren, hat immer wieder Anlass zu erbitterter Kritik oder exaltierter Sehnsucht geliefert, die dann ihrerseits tragische oder komische Züge annehmen kann. Adornos ohnmächtige Rebellion gegen einen gesellschaftlich produzierten Bedarf an Sinnstiftung um jeden Preis ist berechtigt, muss aber notwendig scheitern. Strauß’ emphatischer Aufruf zur Einnahme einer Haltung, die die Subjekte befähigt, das Unerträgliche auszuhalten, ist von komischer Irrelevanz, denn er wendet sich scheinbar gegen den Zeitgeist und ratifiziert doch nur dessen Orientierungssucht.
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kompensiert, mit äußerster Akribie. Gegenstand der ästhetischen Darstellung ist nicht das tragische oder komische Geschehen selbst, sondern der tragische oder komische Wille zur Macht des Tragischen oder Komischen. An die Stelle der Handlung tritt der Sprechakt. Bernhard lenkt die Aufmerksamkeit seiner Leser/Zuschauer auf die Spannung, die zwischen den Sprecher-Intentionen und den eingesetzten rhetorischen Mitteln besteht. Im Zentrum der Texte stehen die unendlich einfallsreichen Manöver, mit denen die Helden sich selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Zu beobachten ist, wie der Wille zur Komödie tragische und der Wille zur Tragödie komische Züge annimmt. Das Verlangen nach den Werten, die die Komödie zwar auf Umwegen, aber deshalb umso nachhaltiger zur Geltung bringt, manifestiert sich besonders deutlich in dem Urteil, etwas sei „lächerlich“. Dieser Sprechakt, den Bernhards Protagonisten beharrlich äußern, soll subjektive Souveränität gegenüber Problemen und Konflikten bekunden, Störungen und Irritationen für nichtig erklären und die Gültigkeit einer Ordnung bekräftigen, die sich über alles Irrelevante hinwegzusetzen vermag. Aber durch ihr wortreiches Pochen auf Überlegenheit bewirken die Helden das Gegenteil. Das unablässige abschätzige Bezeichnen und Verwerfen des Lächerlichen produziert tragische Effekte, denn es schafft keine unantastbare Position, wahrt keine Distanz zu den Streitigkeiten, sondern führt geradewegs und zwangsläufig in die ruinösen Konflikte hinein: Die Verstrickung wird total. Vom Willen zur Komödie bleibt am Ende nur die leere Nichtigkeitserklärung, die den Objekten eine ungeheure Bedeutung verleiht. Nicht anders ergeht es dem Begehren, das sich auf den tragischen Fall aus großer Höhe oder die heldenhaft ertragene unausweichliche Katastrophe richtet. Die individuellen Desaster sollen edle Züge annehmen, Schuld identifizierbar und zurechenbar sein, vermeidbare Fehler, Pannen und Unfälle als Geschehnisse erscheinen, für die mächtige Personen oder Institutionen verantwortlich sind. Viele Helden Bernhards laborieren an dieser Sucht, das Banale zum schmerzhaft Großartigen zu verklären, und müssen die Erfahrung machen, dass ihre schier übermenschlichen Anstrengungen vergeblich sind. Auf dem erregenden Weg zu den tragischen Höhe- und Wendepunkten werden sie nach und nach von der Lächerlichkeit eingeholt. Diesen beiden Grundtypen der Komikmanie, die z.B. den Erzähler in Holzfällen erfasst hat, und der Tragikgier, welche z.B. Reger in Alte Meister an den Tag legt, können durch weitere Formen wie den Komikabwehrwahn (von Wertheimer in Der Untergeher) oder das Tragikverweigerungsbestreben (von Auersberger in Holzfällen) ergänzt und verfeinert werden. Die Tragikabwehr wird nirgends plastischer vorgeführt als in Döblins Roman Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine. Deshalb möchte ich rasch einen Blick auf Döblins subversive Skizze werfen, die den Vergleich mit Bernhards virtuoser Technik intentionaler Verkehrungen zweifellos aushält. Wadzek erklärt geradeheraus: „Tragödien sich anzusehen ist eine Lächerlichkeit. Es ist geschmacklos.“ (Döblin 1982 [1918], 305) Aber schon mit diesen Urteilen gerät er auf die schiefe Bahn einer Argumentation, die genauso unhaltbar ist wie die Position aller tragikomischen Helden. Denn Wadzek bringt das Gebot der Scham ins Spiel, bei dessen Befolgung er sich selbst bloßstellt: „Das Publikum sollte man nicht an peinliche, schlechte Sachen gewöhnen. Das Publikum sollte sich sagen, daß es sich nicht schickt anzusehen, wie ein Mensch oder mehrere Menschen etwas nicht können. Ja, nicht können. Der Held kann immer nicht. Irgendetwas kann er immer nicht, ohne angeblich, wie man sagt, sein Herz zu zerbrechen. Wen geht das et-
90 | VORFÜHREN UND VERFÜHREN was an? Über solche Dinge schweigt man. Es ist ein Manko, ein Gebrechen, ein Laster. Ich habe verbogene Zehen und zeige es auch nicht.“ (ebd.)
Wadzek ersetzt die schamlose Demonstration des Gebrechens durch den verbalen Hinweis auf einen kleinen Defekt und verwickelt sich damit in einen performativen Widerspruch. Er bricht das eigene Schweigegebot und offenbart ein Manko, von dem er annimmt, dass es kultivierte tragische Reflexe auslösen würde, wenn jedermann sehen könnte, was jetzt nur durch Worte aufgerufen wird. Dabei streicht er, ohne es zu bemerken, den Lohn des komödiantischen Umgangs mit Defekten und Lastern ein. Durch das Vorzeigen des Gebrechens allein lässt sich die Gier nach tragischen Emphasen nämlich nicht befriedigen. Der entblößte Makel dient viel eher als Anlass für ein kompensatorisches, im günstigsten Fall befreiendes Lachen. Diese Ansicht hat jedenfalls Thomas Bernhard zum Besten gegeben: „Das Scherzmaterial ist ja immer da, wo’s nötig ist, wo ein Mangel ist, irgendeine geistige oder körperliche Verkrüppelung. [...] Darüber lachen die Leut’, immer über Mängel und fürchterliche Gebrechen.“ (Fleischmann 1991, 38f.) Im ersten Anlauf ist Wadzeks Tragödienkritik also gescheitert. Es handelt sich eher um eine heimliche Affirmation tragischer Verwicklungen, die nebenher auch noch den Mehrwert der Komödie erwirtschaften. Weil das mehr als peinlich ist, zielt der zweite Angriffsversuch direkt aufs Herz der Tragödie. Wadzek verhöhnt die Gradlinigkeit des tragischen Helden. Damit greift er nicht mehr auf die Scham als Schutzmechanismus geltender Normen zurück, sondern denunziert eine gesinnungsmoralische Haltung, die keinen praktischen Nutzen fürs Individuum abwirft. Dass ein tragischer Held wie Shakespeares Macbeth an seinem Nicht-Können, Nicht-anders-Können zugrunde geht, macht ihn in Wadzeks Augen zu einer fragwürdigen Figur, deren Bewunderung nur Schaden anrichtet. „Besonders Kinder: was sollen sie sich dabei denken?“ Allerdings hat Wadzek als Virtuose der ‚Selbstunterlaufung’ seine Tochter Herta ins Theater „hingeschickt“. Die pädagogische Absicht ist offensichtlich: „Sie soll es sich ansehen.“ (Döblin 1982, 305) Immerhin ist Herta bereits von der Tragödien-Ideologie infiziert. Dies belegt ihre Äußerung: „Das Schicksal steht über unserem Haus. Agamemnon ist nichts gegen uns.“ (ebd., 40) Doch nach der vorsätzlichen Tat bereut Wadzek sofort seine erzieherische Maßnahme: „Es tut mir leid. Nicht gerade wegen dieses Stückes, sondern überhaupt. [...] Was lernt ein Kind wie Herta von Macbeth? Ich kenne das Stück nicht mehr genau; aber sie redet sich sicher ein, es sei etwas Gutes, solcher Art zu sein. Oder sich nicht von seinem Vorsatz abbringen zu lassen. Mitten durch, gerade durch. Und dann Geheul. Applaus über den tragischen Charakter. Schlängeln ist viel wichtiger.“ (ebd.)
So räsoniert der vermeintlich mit allen Wassern der schnöden Realität gewaschene und über die Tragik erhabene Wadzek. Während Reger inbrünstig nach Tragik verlangt und den aussichtslosen Kampf mit den irdisch-österreichischen Schicksalsmächten Kirche und Staat aufnimmt, will sich Wadzek von seinem wirtschaftlichen Konkurrenten Rommel um keinen Preis zum tragischen Helden stempeln lassen. Aber gerade durch seine Vermeidungsstrategie landet er – auf den Spuren von Ödipus Rex und Richter Adam – genau dort, wo er partout nicht hin will. Zum Schluss wird er das lächerliche Opfer seiner Anlage zum tragischen Helden, die er zwanghaft verleugnet. Er redet mit den Zungen der Bühnengestalten, deren Part er bis zuletzt nicht spielen will. Während der vermeintlich komischen Flucht nach
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Amerika, mit der er auf die ökonomische Niederlage reagiert, entfahren ihm fatale Sinnsprüche: „Im Leben kommt immer eins schlimmer als das andere“ oder „Das ist nun das Ende“. Pathetisch versichert Wadzek, „die Maschine“ des Schiffes, das ihn in die neue Heimat trägt, „sei Blut von unserem Blut. Sie – erlöse“. Die unumgängliche Frage, ob die Maschine uns von allen Übeln oder (wie die Tragödie) von allen zwanghaften Erlösungsideen erlöst51, bleibt zunächst unbeantwortet. Doch schon bald darauf bemerkt Wadzek, „durch seine füllende Sicherheit hindurch, daß er inwendig durchlöchert (ist), daß eine leere weiße Stelle durch seine Brust“ geht. Er fühlt, „daß ein Stück Kraft von ihm genommen“ ist. „Kein Schmerz“ stellt sich ein. Aber die Einsicht ins eigene Innere lässt Wadzek nicht mehr los, und so denkt er, als er unter einem Tisch nach den Symbolen absoluter Leichtigkeit, nach „Blumenflocken“, sucht, „jäh an seine Verstümmelung, seine unheimliche, von keinem gesehene Durchlöcherung“. Der letzte Satz, den sein Mund wie von selbst entäußert: „Es funktioniert alles“, ratifiziert die längst eingetretene Katastrophe. 52 Der Vergleich mit Döblins Konstruktion eines figuren-internen Gegensinns ist aufschlussreich, weil er deutlich macht, dass eine Analyse der tragikomischen Selbstunterminierung, die en passant immer auch einen signifikanten Mangel freilegt, lückenhaft bleibt, solange der Status des Lachens nicht geklärt ist. Lachen fungiert in Bernhards Texten als Gelenkstelle zwischen Tragödie und Komödie. Denn einerseits vergegenwärtigt es gerade in der reflexartigen Köperreaktion den drohenden Untergang, und andererseits zeigt es eine faktische Kraft des Normativen an, die den Menschen das Gefühl der Überlegenheit schenkt. Diese unaufhebbare Zweideutigkeit ist auch für das „philosophische Lachprogramm“ charakteristisch, das Bernhard in einem hinreißend ironischen Selbstkommentar als Schlüssel zum eigenen Werk ausgegeben hat. Die Texte, so heißt es hier, bestehen aus „ernste(n) Sätzen“ und „Lachsätzen“, wobei die ernsten Sätze keinem anderem Zweck dienen, als „die Lachsätze zusammen(zu)halten“: „Das Ernste ist der Kitt für das Lachprogramm“. Doch dieses philosophische Lachprogramm, das dem Publikum als Anweisung zum richtigen Lesen serviert wird, macht sich selbst allen Ernstes lächerlich. Es verballhornt die Pflicht zum Kommentar, der jeder ambitionierte Autor glaubt genügen zu müssen. Die bekannte Behauptung ästhetischer Theorien, dass moderne Kunst kommentarbedürftig ist, wird zum Anlass genommen, um der Figur des tragikomischen Selbstunterlaufens eine geradezu perfekte Fassung zu geben. Bernhard präsentiert sich zunächst als Anhänger der „großen Spaßmacher in der Geschichte: Schopenhauer, Kant, also (der) Allerernstesten im Grunde“, zu denen auch noch „Pascal [...] auf seine katholisch-mysteriöse-religiöse Art [...] gehört“. Von den „großen Lachphilosophen“ unterscheidet Bernhard sodann „die Schwächeren, die zweite Kategorie“, die „nur das wiederkäuen, was diese Spaßphilosophen vorgeschrieben haben“. (Fleischmann 1991, 43f.) Mit durchtriebenem Witz schmuggelt Bernhard hier Schopenhauers Ausdruck „Spaaßphilosophie“ in den eigenen Text ein, ohne dem unkundigen Leser zu verraten, dass Schopenhauer diese Art der Philosophie als feige „Kathederphilosophie“ (1977b, 191) abfertigt, die die bestehenden Verhältnisse affirmiert und die Suche nach Wahrheit nicht ernst genug nimmt. Spaßhaft ist eine derartige opportunistische Geisteshaltung in Schopenhauers Augen, weil sie hohe Ansprüche nur verkündet und nicht einlöst, weil sie auftretenden Schwierigkeiten nicht standhält, sondern den Weg des ge51 So die Formulierung von Botho Strauß (1987, 208). Strauß’ Fazit lautet: „Wir werden nicht tapferer dadurch, daß wir die Tragödie nicht zu sehen kriegen.“ (ebd.) 52 Döblin 1982, 308, 317, 331, 332, 334, 335, 336.
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ringsten Widerstandes wählt. Spaß- oder Kathederphilosophie produziert für Schopenhauer nichts anderes als ein Entlastungs- und Anpassungsdenken, das sich mit der institutionalisierten Macht arrangiert und deren Interesse an Verfügung und Kontrolle teilt. Es ist unübersehbar: durch den Rekurs auf Schopenhauer hat sich Bernhards philosophisches Lachprogramm unter der Hand in ein wirksames Konzept der Selbstdementierung verwandelt.53 Freilich können auch Bernhard-Leser, die sich von der Mühe entlasten, Schopenhauers Sentenzen im Original zu studieren, das Debakel des Lachprogramms verfolgen. Als ein veritables Stück Kathederphilosophie entpuppt es sich nämlich allein schon dadurch, dass es als Programm formuliert ist. In dieser zielgerichteten, systematischen Form hat es die Aufgabe, den Akt des Lachens unter Kontrolle zu bringen. Das Unverfügbare soll beherrscht und durch ein Programm (sei dies nun die Hegelsche Vernunft oder die QuasiMetaphysik des Absurden) gesteuert werden. Zu welch lächerlichen Konsequenzen ein derartiges Ansinnen führt, sobald es ernst genommen wird, beschreibt Bernhard in einem kleinen Text aus Der Stimmenimitator. Dort greift ein allwissender Theater-Autor zur Waffe, um all jene Zuschauer zu erschießen, die an den „falschen Stellen“ lachen. (Bernhard 1978a, 119f.) Der süße ‚apollinische Wahn’54, ein Autor könne die Stellen, an denen gelacht werden muss, von den Stellen, an denen nicht gelacht werden darf, unterscheiden und sei daher göttlich befugt, für die Erhaltung der normativen Text-Ordnung mit unmittelbar schlagender Gewalt zu sorgen, lässt sich wohl nicht dichter und tragikomischer ins Bild setzen.55 Das Lachen spottet der philosophischen Programme, die sich seiner im Dienste höherer Interessen (sei es der Entlastung, sei es der Provokation) annehmen. Es lässt sich nicht beherrschen, sondern nur beobachten. Der tragikomische Erzähler in Holzfällen hat dies intuitiv erkannt und registriert nur noch die verschiedenen Erscheinungsformen des Lachens56, ohne es unter einen einzigen Begriff, der Wesen und Funktion kontextfrei bestimmt, zu subsumieren. So unterscheidet und bezeichnet der Beobachter im Ohrensessel folgende Phänomene: ein Gelächter, „das gleich auch alle anderen zu einem eigenen Gelächter herausfordert“ (190); ein „Gelächter“ über eigene Äußerungen, die einen „gewisse(n) komödiantische(n) Witz“ bekunden (197); ein „mehr oder weniger vernichtendes [...] Lächeln“ (220); ein „schallendes Auflachen“, das „hohl, dumm und stumpfsinnig“ ist (265), und schließlich ein Lachen, das die „Empfänglichkeit für alles Schöne“, die „Gabe [...], immerfort auch das Schöne zu sehen“, ausdrückt (271), eine Gabe freilich, über die ihr Besitzer oder ihre Besitzerin nicht intentional verfügen kann („Joana [...] hatte lachen wollen, es gelang ihr nicht“ (72)), und deren lebenspraktischer Wert keineswegs garantiert ist („diese Gabe hat ihr nichts genützt“ (271)).57 53 Verschärft wird der vorgeführte Dementierungsprozess noch zusätzlich durch Bernhards Hinweis, dass er Schopenhauer „ja von vornherein nicht ernst nehmen“ könne, weil er ein „Lach-Philosoph“ sei, während „die Leut’ das alles tragisch ernst [nehmen].“ (Fleischmann 1991, 44) 54 Zu dieser Form des Wahns vgl. Pfabigan 1999. 55 Zugleich liefert Bernhard eine köstlich verdrehte Allegorie der Gefahren, die das Lachen in sich birgt. 56 Er nimmt ein breiteres Spektrum in den Blick als Becketts Watt, der sein Interesse von vornherein einschränkt: „Von allen Arten zu lachen [...] verdienen [...] nur drei unsere Aufmerksamkeit, nämlich das bittere, das falsche und das freudlose.“ (Beckett 1970 [1953], 48f.) 57 Derartige Beispiel-Serien lassen sich selbstverständlich auch in anderen Werken Bernhards finden.
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Dass das Lachen sich weder konditionieren noch zweckgebunden abrufen lässt, macht seine Beobachtung jedoch nicht zu einer überflüssigen, nur unnötige Verwirrung stiftenden Angelegenheit. Denn gerade wegen seiner Vielfältigkeit dient es in Bernhards Texten als Einheit jener fundamentalen Unterscheidung von Komödie und Tragödie, an der die ästhetische Darstellung von Konfliktstoffen sich abarbeiten muss. Das enorme Spektrum des Lachens wird durch diese Engführung nicht etwa reduziert, vielmehr vergegenwärtigt jeder einzelne Akt des Lachens eine unverfügbare und unaufhebbare Differenz zwischen Entlastung und Zumutung oder (metaphysik-näher ausgedrückt) zwischen Erlösung und Verdammnis. Artifiziell hergestellte Lachanlässe werden bei Bernhard nicht mehr automatisch der Komödie zugeordnet58, sondern nehmen eine gattungsübergreifende Rolle ein. Das Komische, das das Lachen auslöst, operiert als eigenständige Größe, die die tragödienoder komödienspezifische Pointe einer Handlung von Fall zu Fall verstärken oder relativieren kann. Bernhard erreicht damit in seiner poetischen Praxis eine radikalere Position als die avancierte Komödientheorie. Diese geht zwar davon aus, dass sich die Komödienhandlung nicht auf die Reihung szenisch erzeugter Lachanlässe – also die serielle Produktion von Komik – reduzieren lässt59, nimmt aber an, dass die Komödie als Plotstruktur besonders „komikaffin“ (Simon 2001, 57) ist. Komödie und Komik gehören zwar unterschiedlichen Phänomenbereichen an; die Komödie ist ein umfassendes Handlungsschema, in dem die Unvernunft zunächst entfesselt und dann in die Bahnen der Vernunft geleitet wird, die Komik hingegen nur ein flüchtiges, isolierbares Ereignis, das zum (wie auch immer gearteten) Lachen reizt.60 Dennoch gelten Komödie und Komik aufgrund einer bestimmten „formalen Eigenart“ (Simon 2001, 58), die für beide charakteristisch ist, als kompatibel: Zum Erfolg führt die Konfliktlösungsstrategie der Komödie, weil der streitbare Held im Laufe des Geschehens meist schlagartig auf Distanz zu seiner eigenen Weltsicht gebracht wird.61 Eben diese heilsame Distanz zählt man gewöhnlich auch zu den Voraussetzungen des Lachens, das der Welt mit „einer gewissen Empfindungslosigkeit“, mit „einer vorübergehenden Anästhesie des Herzens” (Bergson 1988 [1900], 14f.) begegnet. Dass Akte der Distanzierung, die immer auch den Boden für Prozesse der Reflexion bereiten, Komödie und Komik miteinander verbinden, ist schwerlich in Abrede zu stellen. Allerdings bleibt hier ein Aspekt des Lachens unterbelichtet, der sich als Kontrollverlust, als leib-seelische Erschütterung, als zwanghafter Reflex beschreiben lässt62 – allesamt Signale für die Nähe zur Katast-
58 Das hindert Bernhard jedoch nicht daran, Figuren zu erschaffen, die diese zum Scheitern verurteilte Ansicht vertreten: „Jetzt kommt die Düsternis/Jetzt kommt die Finsternis/Die Finsternis [...] Es ist nicht zum Lachen/es ist nichts zum Lachen/Nichts/Lachen/Es ist nichts zum Lachen/Es ist keine Komödie/Wer lacht da/Wer hat jetzt gelacht.“ (Bernhard 1983b, 48f.) 59 Vgl. insbesondere Rainer Warnings Konzept der „anderweitigen Handlung“, die als neutrale Folie nur eine „Ermöglichungsstruktur“ für die Implementierung komischer Situationen bereitstellt (Warning 1976, 286, 291). 60 Ob die lebensweltliche und die fiktional erzeugte Komik „dieselbe Struktur“ haben, ist unter Fachleuten umstritten. Zu den Positionen von Stierle und Warning vgl. Preisendanz/Warning 1967, 372-379. 61 Vgl. hierzu auch Dürrenmatts lakonische Thesen: „Die Tragödie überwindet die Distanz. [...] Die Komödie schafft Distanz.“ (1966, 121) 62 Plessner hat das Lachen „als Verlust der Beherrschung im Ganzen“, als Reaktion auf eine „unbeantwortbare Lage“ definiert. Das Lachen findet eine Antwort, „wo es nichts mehr zu antworten gibt“. Wenn die geistigen Rezepte versagen, antwortet der Körper. Nur auf diese Weise vermag der Mensch auch noch „in der Katastrophe“ zu trium-
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rophe, die das Lachen auch dort wahrt, wo es nur das enthemmte Gefühl des Sieges über die unvernünftigen Widersacher auszudrücken scheint. Ein „Lachprogramm“, das das Plotmuster Komödie als opferlose, relativ schmerzfreie Konfliktlösungsform empfehlen würde, weil die Komödie uns lehrt, wie man sich der Körpersprache des Lachens bedient, um das letztlich Irrelevante auszugrenzen und zu Grunde zu richten – ein solches Programm wäre nicht reflektiert, sondern naiv.63 Denn das Lachen, das Bernhard in seinen Texten beschreibt und mit seinen Texten unter Zuschauern und Lesern hervorruft, ist ein vielgestaltiges Lachen, welches oft genug den Streit zwischen Komödie und Tragödie entfesselt. Wird in dieser Weise gelacht, dann ist noch nicht entschieden, ob das Be- oder Verlachte sich wirklich am Ende als das Überwundene erweist, als das Unberechtigte und Läppische, dem nur für kurze Zeit – wie im Karneval – das Regiment überlassen wurde. Im Lachen zittert Angst und Unsicherheit nach. Es ist Ausdruck der Krise, die ebenso zum Untergang der guten wie zur Demontage der unberechtigten Sache führen kann. Das Lachen ist bei Bernhard daher ebenso tragödien- wie komödienaffin. Es ist das Medium, das aus den beiden klassischen Gattungen eine dritte Gattung hervortreibt, wenn neben den alten Konflikten mit ihren typischen Lösungsformen ein zusätzlicher Konflikt darüber entbrennt, ob die normativen Grundlagen von Tragödie und Komödie die aktuellen sozialen Prozesse überhaupt noch tragen. Die Tragikomödie entsteht, sobald die Botschaft der Komödie (Viel Lärm um Nichts!) und die Botschaft der Tragödie (Kein sozialer Friede ohne heroisches Opfer!) an Überzeugungskraft verlieren. Auch die Tragikomödie kreist um die verschiedenen Spielarten des Untergangs, modifiziert aber deren Status. Sie lenkt (wie oben bereits bemerkt) zunächst die Aufmerksamkeit auf die selbst produzierten Desaster und nimmt allen Untergangsszenarien den Nimbus notwendiger Abläufe. Besteht die Tragödie darauf, dass die Aufopferung der guten oder gerechten Sache sich nicht vermeiden lässt, und die Komödie darauf, dass das Debakel der Unvernunft von vornherein sicher ist, so spielt die Tragikomödie mit dem Gedanken, dass all jene Verwicklungen und Konflikte, Triumphe und Katastrophen, von denen die alten Modelle handeln, bloß zufällig64 sein könnten. Wir dürfen dann auf der Bühne erleben, wie die Helden mitunter am Leben bleiben, statt sich ordnungsgemäß selbst auszuschalten, und wie die Törichten leichte Siege davontragen, statt sich gründlich zu blamieren.65 Wir begreifen, dass dies wahrscheinlich den Tatsachen entspricht, aber gleichwohl eine unerträgliche Zumutung darstellt. Der Wunsch nach den alten Mustern und Unterscheidungen
phieren, „von ihr Abstand zu nehmen und sich zu lösen.“ ( Plessner 1982a [1940], 274, 276) 63 „Die komische Erfahrung ist ekstatisch [...] orgiastisch. [...] Sie gibt jegliche ernsthafte Anmaßung der Lächerlichkeit preis – auch die des Heiligen. Insofern ist die Komik aller öffentlichen Ordnung gefährlich. Sie muß unter Kontrolle gebracht werden und in eine Art Freigehege gesperrt werden. Man könnte sagen, daß die Komödie auf dem Theater schon eine solche Eingrenzung des komischen Erlebens ist, eine Ritualisierung in gesellschaftlich akzeptablen Formen.“ (Berger 1998, 20) Genau diese Art der Einhegung und Entschärfung will Bernhard überwinden. 64 Vgl. hierzu auch Dürrenmatts These, dass die „schlimmst-mögliche Wendung“ durch „Zufall“ eintritt (1966, 193). 65 Zum tragikomischen Unterlaufen gehören also auch Prozesse, in denen die Plotmuster Erwartungen erzeugen, die sie nicht erfüllen. Dass solche Enttäuschungen die Erwartungen dann steigern, gehört zur strukturellen Ironie der Tragikomödie.
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lässt sich nicht abschütteln und wird erfolgreich durch das aufrichtige und unbegründete Bekenntnis zu Lust und Not des Entscheidens befriedigt. Diese vertrackte Lage parodiert Bernhard in einer weiteren kleinen Geschichte vom wahrhaftigen und allwissenden Autor, der beim Publikum ankommt, „weil er im Gegensatz zu seinen erfolglosen Kollegen ehrlich genug (ist), seine Komödien immer als Tragödien und seine Tragödien immer als Komödien auszugeben.“ (Bernhard 1978a, 117f.) Der Autor weiß offenbar genau, ob er das notwendige Debakel des Wahren, Guten und Schönen oder ob er die zwar verzögerte, aber von vornherein garantierte Abweisung eines unsinnigen Anspruchs darstellt. Zudem verfügt er auch noch über die Gabe, das Publikum durch seine Ehrlichkeit hinters Licht zu führen. Diese von Bernhard 1978 erfundene Person ist nicht auf der Suche nach einem Autor, der in einem vorgeblich autobiographischen Statement verkündet, er habe nach der Produktion von „hundertprozentig(en)“ Komödien bzw. Tragödien schließlich eine Theaterform entwickelt, bei der „nicht mehr erkennbar“ ist, ob es sich um „eine Tragödie oder eine Komödie“ (Bernhard 1976, 159) handelt. Der anonyme allwissende Autor im Text lässt sich vom berühmten Autor des Textes nicht beeindrucken. Er weiß anscheinend auch, dass Erkenntnisdefizite kompensiert werden können. Der Entscheidungsnotstand ist nämlich zur Not auch durch den dauernden Wechsel der unterschiedenen Seiten zu beheben. So bleibt die Differenz gewahrt, ohne dass der Beobachter sich festlegen muss. „Man kann von einem Augenblick auf den anderen aus der Tragödie (in der man ist) in das Lustspiel eintreten (in dem man ist), umgekehrt jederzeit aus dem Lustspiel (in dem man ist) in die Tragödie (in der man ist).“ (Bernhard 1978b, 87)66 Hier entsteht der betörende Eindruck, dass sich die traditionellen Handlungsschemata in subjektive Gesichtspunkte verwandeln, die sich nach Belieben austauschen lassen. Die präsentierte Gleichrangigkeit der gattungspoetischen Bezirke, in denen „man“ sich als handelnde Person befindet, wird allerdings feinsinnig in Frage gestellt durch das semantische Ungleichgewicht der Begriffe. Als Leser gerät „man“ unweigerlich in die Rolle eines externen Beobachters, der aus dem Spiel der wechselnden Positionen entlassen ist, um die Asymmetrie zu bemerken, die den sich selbst kommentierenden Akteuren im Spiel entgeht. Während nämlich die Komödie zum „Lustspiel“ herabgesetzt wird, kann sich die Tragödie gegen die Entwertung zum Trauerspiel behaupten. Der Satz über die jederzeit gegebene gattungspoetische Ein- bzw. Austrittsmöglichkeit unterläuft durch eine geschickte Bedeutungsverschiebung seine eigene Pointe; er praktiziert etwas anderes, als er behauptet, und erfüllt eben deshalb um so entschiedener die zentrale Aufgabe der ‚Tragikomödie’, Mechanismen des Selbstunterlaufens in Gang zu setzen. Diese Bewegung ebnet (um es noch einmal zu betonen) die bestehenden Unterschiede der Gattungen nicht ein, sie treibt vielmehr die Plotmuster Komödie und Tragödie in einen innerästhetischen Konflikt hinein, dessen Ausgang noch offen ist. Die Schieflage von „Lustspiel“ und „Tragödie“, die die zitierte Passage herstellt, liefert freilich ein Indiz, das etwas über die Art und Reichweite des Streits aussagt. Es handelt sich hier nicht um einen Konflikt zwischen zwei Beobachtungsweisen, denn auf diesem Felde erwiese sich die Komödie durch ihr höher entwickeltes Reflexionspotenzial als die überlegene Gattung67, sondern um einen Konflikt zwischen Komödie und Tragödie im Rahmen der ästhetischen Form, die 66 Vgl. auch die Interpretation dieser Stelle bei Theisen (1996, 538f.) und Menke (2000c, 22). 67 In diesem Zusammenhang sei noch einmal an die oben diskutierten Analysen von Theisen und Simon erinnert.
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die Tragödie ausfüllt. Der unentschiedene Kampf tobt zwischen der Tragödie als Reproduktion eines (vergangenen oder stets möglichen) tragischen Geschehens in der realen Welt und der Tragödie als Spiel, das seinen Betrachtern Lust bereitet. In beobachtungstheoretischer Perspektive nimmt also die Komödie, in konflikttheoretischer die Tragödie die überlegene Position ein.68 Was in diesem internen Streit der Gattungen zum Vorschein kommt, ist das problematische Verhältnis zwischen Ästhetik und Ethik. Schon die Bedeutungsverschiebung des Tragischen und Komischen hin zum Fürchterlichen und Lächerlichen signalisiert ja nicht allein eine Krise jener sozialen Normen, deren Geltung die Plotmuster Tragödie und Komödie voraussetzen; die auffällige semantische Modifikation ist selbst eine erste, wenn auch sehr diffuse Reaktion auf die schwierige Beziehung, die die autonom gewordene, moderne Kunst zur ethisch-politischen Sphäre unterhält, von der sie sich weitgehend emanzipiert hat. Die Selbstständigkeit bzw. Freiheit der Kunst ist (dort, wo sie sich tatsächlich etabliert) allerdings nicht nur ihre eigene Leistung, die mit bestimmten Vorstellungen von Kreativität, Originalität und technischer Perfektion69 verknüpft ist, sondern auch das Ergebnis einer gesellschaftlich sanktionierten und gesetzlich anerkannten Freigabe, welche stets der Drohung ausgesetzt ist, in Zeiten sozialer Destabilisierung widerrufen zu werden. Abgesehen von dieser Dauergefahr, mit der die Kunst leben muss, hat die ästhetische Autonomie beträchtliche Folgen für den Status derjenigen Objekte oder Praktiken, die der neu geschaffenen Sphäre zugehören. Eine aus den kultischen und politischen Zusammenhängen entlassene Kunst wird als Spiel betrachtet, das zwar die Reflexionspotenziale der Gesellschaft erweitern kann, aber vornehmlich den unter Bedingungen der Moderne ansteigenden Entlastungsbedarf stillt.70 Der auffällige Mangel an Ernst, der die autonome Kunst charakterisiert, lässt sich kompensieren, indem der selbständige ästhetische Bereich als etwas Höheres verstanden und gegen den Ernst und die Banalität des Lebens ausgespielt wird.71 Eine solche „Überbietungsästhetik“ (Seel 1985, 46), die von Schiller bis zu Heidegger und Adorno namhafte Vertreter gefunden hat, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die emanzipierte Kunst gemeinhin mit dem Attribut der Realitätsferne versehen wird. Für die beiden Gattungen Tragödie und Komödie ist dies von besonderer Bedeutung, denn sie beziehen sich explizit auf normative Strukturen in der Realität. Als autonome Kunstwerke geraten sie unter den Verdacht, einerseits den tragischen Gehalt, andererseits die Geltungskraft der herrschenden Vernunft regelrecht zu ver-
68 Bernhard entwirft eine ganz andere Asymmetrie von Komödie und Tragödie als etwa Peter Berger, der ohne Hemmungen den Stand der Theorie unterbietet: „Die Komödie [setzt] eine Gegenwelt zur Welt des Alltags. [...] Das tut natürlich auch die Tragödie, doch ließe sich argumentieren, daß die Doppelung der Komödie radikaler ist. Die Tragödie beruht schließlich stets auf den Wirklichkeiten der menschlichen Existenz. Insofern muß das theatralisch notwendige Sich-Einlassen des Publikums auf die Illusion [...] bei der Komödie radikaler sein. Der tragische Held wird schuldig, seine Versuche das Schicksal abzuwenden, sind zum Scheitern verurteilt, die Folgen seiner Handlungsweise verkehren sich ironisch, und am Ende stirbt er in der Regel.“ Dieser tragische Spannungsbogen lässt sich – nach Berger – in der Wirklichkeit des menschlichen Lebens nachweisen. „Im Gegensatz hierzu ist der komische Held ewig unschuldig, er triumphiert über alle Hindernisse. [...] Um sich auf diese Gegenwelt einzulassen, bedarf es gewiß einer viel radikaleren Epoché.“ (Berger 1998, 96) 69 Vgl. speziell zu diesem Themenkomplex Thomas Bernhards Romane Frost, Der Untergeher und Alte Meister. 70 Vgl. Gehlen 1960. 71 Vgl. Schmitt 1956, 49.
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spielen. Carl Schmitt hat dies mit Blick auf die Tragödie nachdrücklich herausgestellt. „Im Spiel (liegt) die grundsätzliche Negation des Ernstfalles. [...] Die Tragik hört auf, wo das Spiel beginnt, auch wenn dieses Spiel ein Spiel zum Weinen ist. [...] je origineller die Erfindung, je durchdachter die Konstruktion, je vollkommener das Spielwerk, umso sicherer die Zerstörung der Tragik selbst.“ (Schmitt 1956, 42, 47)72
Für die Komödie gilt Ähnliches; denn auch sie negiert als konsequentes Spiel zwei reale Phänomene: Einerseits löst sie die (vordergründige) Ernsthaftigkeit bestimmter, belangloser Konflikte durch ihr Spiel auf und dient damit einem guten sozialen Zweck, andererseits kann sie ihr Spiel aber auch so weit treiben, dass am Ende die Übereinstimmung von faktischer und normativer Versöhnung zerstört wird.73 Das Spiel der Komödie destruiert vermöge seiner ästhetischen Darstellungsweisen zwar nicht prinzipiell den realen Gehalt, wie dies (jedenfalls in Carl Schmitts Deutung) die Tragödie tut, aber es ist potenziell dazu in der Lage. Bernhard Greiner hat hingegen die These vertreten, dass diese Gefahr nicht ernstlich besteht: „Droht [...] das Spiel [...] im Sinne grotesker oder absoluter Komik in die Auflösung jeder Position zu münden, so gibt die Komödie als institutionalisiertes theatralisches Geschehen einen Halt durch ihr charakteristisches Moment, den Spielcharakter [...] vorzuzeigen, was aber heißt, den Spieler in seiner körperlichen Präsenz, damit in seiner konturierten, Grenzen anerkennenden Wirklichkeit in Erinnerung zu bringen.“ (Greiner 1992, 124)
Da „die Doppelung von gespielter Bedeutung und bedeutendem Spiel“ in den ästhetischen Ausdrucksformen der Komödie immer präsent sei, bleibe ihr Spiel integraler Bestandteil der institutionell gesicherten Realität und könne diese allenfalls punktuell im Exzess des Lachens negieren. Der in jeder Komödie eingeleitete „Prozess der Auflösung der komischen Welt in radikale Ambiguität“ werde durch die eigentümliche Entfiktionalisierung des Geschehens, die direkte Referenz auf den menschlichen Körper, unterbrochen. Die Komödie könne – so Greiner – die sozial etablierte Vernunft gar nicht ‚verspielen’, weil sie die „Wirklichkeit der Spieler“ (ebd.) ins Spiel hineinnehme und so die problematischen Folgen der ästhetischen Autonomie abfange. Thomas Bernhard ignoriert diesen Ausweg, den die Komödientheorie dem Praktiker weist. Er erfasst das Problem der ästhetischen Autonomie mit poetischen Konstruktionen, die die Asymmetrie von Tragödie und Komödie illustrieren, ohne zu unterstellen, dass die Komödie, soweit sie zur Aufführung gelangt und gezielt mit der „Manifestation“ (ebd.) physisch vorhandener Personen arbeitet, irgendeine Art von Sicherheitsgarantie liefert. Gegen die Möglichkeit, dass die Kunst in ihrem 72 Vgl. hierzu auch die Interpretation bei Menke (1996b, 210f.) sowie die Weiterführung des Ansatzes in einem späteren Text: „Die ästhetische Erfahrung des Spiels löst auf, was alle ethische Erfahrung, zumal die der Tragik, zur Voraussetzung hat: den Ernst ethischer Ansprüche und korrespondierender Verpflichtungen.“ (2000c, 19) 73 Goethe hat die These aufgestellt, dass das Ziel der Komödie „sich nur durch eine absolute moralische Gleichgültigkeit erreichen“ lässt. Freilich kann Goethe die normativen Implikationen des Plotmusters nur ignorieren, weil er die Gefährlichkeit der Komödie entschärft. Zum „schöne[n] Ziel der Komödie“ wird nämlich „geistreiche Heiterkeit und Freiheit des Gemüts“ und nicht etwa Chaos und Revolte bestimmt. (Goethe 1970, 70)
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Vollzug die eigenen intendierten Gehalte (z.B. tragischen Untergang und komische Sanierung) radikal zersetzt, gibt es keinen Schutz. Den Schlüsselsatz legt Bernhard 1985 seiner letzten großen Figur in den Mund74: „Natürlich gibt es Erscheinungen in der Welt, in der Natur, wie Sie wollen, die wir nicht lächerlich machen können, aber in der Kunst kann alles lächerlich gemacht werden.“ (Bernhard 1985, 118) Reger, der Protagonist aus Alte Meister, leitet mit dieser These die Unterminierung der „Komödie“75 ein, in deren Mittelpunkt er steht. Er kleidet hier sein Begehren, das den tragischen Sturz umkreist, in das Gewand einer Behauptung, die die Grenze zwischen der wirklichen Welt und der Kunst festlegt. Während in der realen Welt die Unterscheidung zwischen relevanten und belanglosen Phänomenen nicht nur möglich, sondern auch selbstverständlich ist, macht diese Differenz im Bereich der Kunst keinen Sinn. Denn hier können alle Objekte um ihre realweltliche Dignität gebracht werden. Kein Ding oder Ereignis, das jenseits der ästhetischen Sphäre seinen angestammten, gleichsam „natürlichen“ Ort hat, ist den besonderen Darstellungsmitteln, über die die Kunst und vielleicht nur die Kunst verfügt, gewachsen. Auch diejenigen „Erscheinungen“, deren Ernst und Bedeutsamkeit außer Zweifel steht, weil sie gegen die lebensweltlichen Praktiken der Relativierung gefeit sind, setzen sich, sobald sie zu Gegenständen der ästhetischen Darstellung werden, der Gefahr aus, in das Räderwerk einer radikalen Depotenzierung zu geraten. Dies gilt auch und gerade für die reale Tragik. Zwar behauptet Reger nicht wie Carl Schmitt, dass „tragisches Geschehen und Erfindung [...] sich gegenseitig aus(schließen)“ (1956, 51), aber er legt die Schwachstelle der Kunst frei. Indem er sich darauf konzentriert, durch unermüdliches Beobachten die Fehler und Unvollkommenheiten der Alten Meister sichtbar zu machen, versucht er in Wirklichkeit jene „Erscheinungen in der Welt“ zu ermitteln, die nicht lächerlich gemacht, nicht zur quantité négligeable erklärt werden können. Reger sucht das „Unverspielbare“. (ebd., 42) Er bringt eine Wunschmaschine ins sprachliche Laufen, die auf ein hohes Ziel zusteuert: den tragischen Ernst, der sich nur im Zusammenhang mit einem Lachen gewinnen lässt, das nicht auf der Bühne oder im Zuschauerraum angesiedelt ist, sondern seinen „Sitz im Leben“ (Warning 1976, 317)76 hat. Damit ratifiziert Reger am Ende Schmitts These, nach der „die geschichtliche Wirklichkeit [...] stärker (ist) als jede Ästhetik, stärker auch als das genialste Subjekt“. (1956, 31) Nur „der Einbruch der Zeit in das Spiel“ kann also den ästhetischen Konstruktionen Substanz verleihen. Thomas Bernhard wählt das im doppelten Sinne hybride Plotmuster „Komödientragödie“, weil es die literarische Form par excellence ist, in der sich das ethische Problem ästhetischer Darstellungen so zuspitzen lässt, dass die Unmöglichkeit innerästhetischer Lösungen erkennbar wird. Die tragikomische Darstellung hat zwei Aufgaben: Sie macht zunächst darauf aufmerksam, dass die Frage, ob eine Komödie oder eine Tragödie (also ein unschlichtbarer Konflikt zwischen legitimen Positionen oder ein behebbares Gezänk um Nichtigkeiten) vorliegt, gar keine ästhetische, sondern eine ethisch-politische Frage ist, und sie zeigt sodann mit ihrer hochgezüchteten Choreographie paradoxer Figuren, dass die moderne Entwicklung einen Punkt erreicht hat, an dem diese Frage als ethisch-politische gar nicht mehr
74 Da der 1986 erschienene Roman Auslöschung bereits 1981/82 entstanden ist, kann der kolossale Murau diese Rolle nicht beanspruchen. 75 So lautet die von Bernhard gewählte Gattungsbezeichnung. 1987 wird dann das Stück Elisabeth II mit dem Untertitel Keine Komödie versehen. 76 Zur Kritik an diesem Ausdruck vgl. Lohr 1987, 32.
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gestellt wird. Die Kunst, die das Problem erkennt, ohne es lösen zu können, muss einen Weg finden, um ihre Frage als ästhetische zu formulieren und eine außerästhetische Antwort zu erzwingen. Der tragikomische Prozess der Selbstunterlaufung ist eine Bewegung, die ästhetisch zwar angestoßen, aber nicht vollendet werden kann; denn er geht über in die Selbstunterlaufung der Kunst. Wenn die Zeit es versäumt, den „Einbruch in das Spiel“ (Schmitt) zu vollziehen, so hat das Spiel keine andere Wahl, als den Ausbruch in die Zeit vorzubereiten und im ‚entscheidenden Augenblick’ zu wagen. Dies lässt sich auf zwei unterschiedliche Weisen bewerkstelligen: 1. durch den Abstieg in eine vormoderne mythische Zeit, welche den signifikanten Mangel an Ernst, der für das autonome Spiel typisch ist, nicht kennt; Kraft performativer Strenge, die dem spielerischen Geschehen den Charakter eines ebenso faszinierenden wie erschreckenden Rituals verleiht78, soll sich das artifizielle Gebilde in jenes kultische Ereignis zurückverwandeln, das es früher einmal gewesen ist; 2. durch den kunstvoll provozierten Skandal, der die Gegenwart nicht nur nicht scheut, sondern gerade die Aktualität des inszenierten Vorfalls für das temporale Medium hält, in die das Spiel eintaucht, um seinen Ernst zu beweisen. Wer die subversive Logik der Tragikomödie ohne Rücksicht auf ästhetische Verluste nachvollzieht, muss den Skandal als mögliche Folge in Betracht ziehen, aber er muss sich, wenn er ihn schließlich als etwas Unvermeidliches heraufbeschworen hat, nicht unbedingt hinter sein Werk stellen, das durchaus von allein zu stehen vermag, falls es über das erforderliche Eigengewicht verfügt. Der Autor hat verschiedene Optionen. Er kann jede Auskunft konsequent unterlassen; und wenn er spricht, so kann er die Absicht oder den Wunsch, einen Skandal auszulösen, emphatisch bekennen79 oder ironisch (z.B. mit gespielter Naivität) bestreiten. Thomas Bernhards Aussage: „Ich bin kein Skandalautor. Was ich von meinen Lesern ver-
77 Aus diesem Grunde ist Botho Strauß’ Ruf nach einer Kunst der Tragödie auch durchaus verständlich. 78 Diesen Weg hat Antonin Artauds mit seinem Theater der Grausamkeit eingeschlagen, das eine „nicht umkehrbare, absolute Determination [...], eine Unterwerfung unter die Notwendigkeit“ präsentieren möchte (1969 [1938], 110). Regisseure wie Grotowski, Barba und Schechner sind ihm darin gefolgt. Botho Strauß hält sogar dafür, dass in einer Zeit, der das Sensorium für tragische Konflikte abhanden gekommen ist, allein das Theater als ernstes Spiel dieses Bewusstsein revitalisieren könne: „Jede Tragödie ist [...] eine aufsässige Handlung, ein kaum verhohlener Frevel. Sie findet nur auf dem Theater statt. In keiner anderen Kunst. Und schon gar nicht in den Wirklichkeiten. Deren Katastrophen streifen nicht einmal unser kultisches Bedürfnis nach Tragödie, die erlöst von allen zwanghaften Erlösungsideen.“ (Strauß 1987, 208) 79 Viele moderne Autoren sind, wie Sartre launig bemerkt, „weit davon entfernt, den Skandal zu scheuen; sie wollen ihn bewußt provozieren, denn der Skandal soll eine gewisse Enthemmung herbeiführen. Ich glaube, Beckett hat für alle gesprochen, als er am Tag, da sein Stück Warten auf Godot im Theater Generalprobe hatte und er im Saal stürmisch Beifall klatschen hörte, sich sagte: Mein Gott, man muß sich getäuscht haben, das ist nicht möglich, sie klatschen Beifall! Denn tatsächlich erklären alle diese Autoren, ob sie nun an das Imaginäre glauben oder an die Realität, daß die Zustimmung erst nach dem Skandal erfolgen darf.“ (Sartre 1971, 147)
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lange ist etwas ganz anderes“ (Dreissinger 1992, 121)80, hat niemand sonderlich ernst genommen und der Sprecher am wenigsten.81 Neben Heldenplatz, Bernhards letztem Werk, ist der Roman Holzfällen wohl sein ambitioniertester Versuch, den Ausbruch des Spiels in die Zeit zu wagen. Das Unterfangen gelingt, der Skandal ist geradezu perfekt.82 Die in Österreich verfügbaren Exemplare des Buches werden am 28. 8. 1984 unmittelbar nach der Auslieferung auf Beschluss des Wiener Landgerichts beschlagnahmt. Damit entspricht das Gericht einem Eilantrag der Eheleute Maja und Gerhard Lampersberg (vormals Lampersberger), die Bernhard und den Suhrkamp Verlag wegen übler Nachrede und Beleidigung verklagen. Bernhard schlägt postwendend zurück und untersagt den Verkauf seiner Bücher in Österreich auf die Dauer des gesetzlichen Urheberrechtes. Die sich daran anschließenden Debatten in den Medien, die juristischen Schriftwechsel, die Interviews mit den unmittelbar Betroffenen, ihren Freunden und Kollegen sind gut dokumentiert und ausgiebig kommentiert worden. Im Dezember 1984 wird die Verfügung des Erstgerichts durch eine Revisionskammer aufgehoben. Die Kläger erhalten von Rechts wegen den Bescheid, dass ihnen „ein gewisses Verständnis für die den beleidigenden Äußerungen zugrunde liegende geistige Auseinandersetzung zugemutet werden kann“. Lampersberg verzichtet nach einer – wie es heißt – ‚außergerichtlichen Einigung’ auf die Fortsetzung des Rechtsstreits und zieht die Klage zurück. Bernhard kassiert daraufhin sein Auslieferungsverbot, das Jahre später nach den Querelen um Heldenplatz im Testament des Autors eine mehr als komische Wiederauferstehung feiert. Holzfällen wird zum Skandal, weil es die Themen Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Schein und Sein, Missbrauch und Verrat anhand eines fiktiven Figurenarsenals abhandelt, das einem Kreis realer, amtlich registrierter und verfassungsrechtlich in ihrer Menschenwürde geschützter Personen zum Verwechseln ähnlich sieht.83 Der eminent manierierte Text inszeniert die Spannung zwischen Ästhetik und Ethik84, zwischen einem haltlosen Spiel und einer notwendig gewordenen Authentizität als Konflikt, der im ästhetischen Spiel selbst ausbricht. „Künstlichkeit“ wird mit „Anschein“ (164), „Wahrheit“ mit „Wirklichkeit“ identifiziert (105), und die Feststellung des Erzählers, „nur ein vorgespieltes Leben“ zu haben, läuft auf 80 Sätze wie „Ich schreibe, um zu provozieren. Wo wäre sonst die Freude am Schreiben?“ (ebd., 122) oder „Ich meine alles, was meine Figuren sagen. Jede Made läuft aus meinem Mund“ (ebd., 157), machen dem sich selbst dementierenden Skandalautor alle Ehre. 81 Die Aussage „Wie gut, daß wir immer eine ironische Betrachtungsweise gehabt haben, so ernst uns immer alles gewesen ist“ (Bernhard 1976, 135, Der Keller), kann als Kommentar gelesen werden. Im Übrigen ist die Unschuldskomödie leicht zu durchschauen und lässt sich unter Bezug auf Personen aus Bernhards Büchern auf den Punkt bringen: „In der Attacke spielte er [Th. B.] den grausamen Glenn Gould, der ungerührt ‚todbringende’ oder zumindest lächerlichmachende Benennungen aussprach, als Attackierter war er der kranke, verwirrte und Mitleid erregende Rudolf aus Beton.“ (Pfabigan 1999, 360) 82 Zum Ablauf des Skandals vgl. Schindlecker 1987, 7-12; Pfabigan 1999, 359-385; Bentz 2000, 55-70. Zu Bernhards Provokationskultur insgesamt siehe SchmidtDengler 1986, 93-106. 83 Bernhard kommentiert: „Herr Lampersberg, der früher Lampersberger geheißen hat und in den letzten Jahren, wie ich weiß, jedenfalls teilentmündigt gewesen ist, sieht in meinem Buch Ähnlichkeiten mit sich selbst. Das ist seine Sache.“ Zitiert nach Dittmar 1991, 141. 84 Zum erheblichen Einfluss Kierkegaards auf Bernhard siehe Klug 1991, 59-112. Die zentrale Rolle des Ernstes bei Kierkegaard beleuchtet Theunissen 1958.
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die Forderung heraus, ein „tatsächliches, wirkliches“, ernsthaftes Leben zu führen (105f.). Für Bernhard ist die ästhetische Sphäre, die sich zum eigenständigen, ausdifferenzierten Gesellschaftssystem in der Gesellschaft entwickelt hat 85, nicht länger ein Ort der „Freiheit inmitten der Unfreiheit“ (Adorno 1981, 600), sondern überbietet noch die sozialen Zwänge, denen sie sich glaubt entwunden zu haben. Die Autonomie der modernen Kunst hat fatale Konsequenzen: sie erzeugt automatisch heillos überzogene Ansprüche an den Künstler und verführt ihn dazu, sich in eine persönlichkeitsdeformierende und mitunter sogar tödliche „Ausweglosigkeit [...] hineinzuspielen“. (Bernhard 1983a, 10) Um diesen Sog zu entkräften, hat die ‚Kunstwelt’ eine erstaunlich erfolgreiche Strategie entwickelt.86 So wird auf der einen Seite die Reinheit, Erhabenheit und Unantastbarkeit der ästhetischen Erfahrung (mit Werken, Darbietungen oder Konzepten) proklamiert und auf der anderen Seite den Produzenten dieser intensiven Erfahrung die Gelegenheit geboten, sich als gewissenlos heitere oder melancholisch lamentierende Parasiten von Staat und Industrie zu gebärden. Freiheit und Eigensinn der modernen Kunst bedeuten dann, dass radikale und hermetische Werke mit korrupten und alerten Künstlern in ein und derselben Sphäre friedlich koexistieren können. Die Inszenierung des echten Skandals – die Bernhard im Auge hat – folgt einer anderen Logik. Sie bietet der autonomen Kunst die Möglichkeit, mit der ernsten und gefährlichen Wirklichkeit in Kontakt zu kommen. Die Kunstproduzenten werden nicht zur Anbiederung genötigt oder verführt, sondern allein auf die Idee gebracht, absolut kompromisslos zu sein und sich dann als unbescholtene Toren zu geben, die vor Gericht auf den rechtlich gewährten Spielraum ästhetischer Ausdrucksformen oder die formalen Prinzipien einer Schönheit pochen, deren Verfechter das Gute und Wahre mit wahrhaft gutem Gewissen ignorieren dürfen. 87 Während der gerichtlichen Auseinandersetzung um heikle Passagen in Die Ursache hatte Bernhards Anwalt die exemplarische Position vertreten, dass dessen Texte „keine außersprachliche Wirklichkeit widerspiegeln, sondern Wirklichkeiten entstehen lassen und alles in Sprache Gefaßte gelogen, künstlich und also Kunst ist.“ (Dittmar 1982, 81) Die Ironie dieser juristischen Stellungnahme ist durch ästhetische Konstruktionen selbst kaum zu überbieten. Ihre Unhaltbarkeit hat geradezu tragikomische Züge. Denn mit dem Ausdruck „künstlich“ wird Bernhards Werk in einer fiktiven Welt angesiedelt, in der die Begriffe Wahrheit und Lüge keinen Sinn besitzen. Hier gibt es nicht mehr die eine Wirklichkeit, sondern neue, andere, plurale „Wirklichkeiten“, mit eigenen Gesetzen, die über irdische Regeln erhaben sind. Ehe dieses autonome Reich der Kunst, das die Codes von Moral, Politik und Wissenschaft ignoriert, aber Fuß fassen kann, wird es durch die Behauptung, „alles in [literarische!] „Sprache Gefaßte“ sei „gelogen“, auch schon untergraben. Von Lüge kann schließlich überhaupt nur dort die Rede sein, wo Wahrheitsansprüche erhoben werden. Die Selbstdekonstruktion seines rechtlichen Beistands und Vertreters vollendet Bernhard, wenn er als Autor gar keinen Hehl daraus macht, dass die Darstellung der Wahrheit das Ziel seiner poetischen Anstrengungen ist. Und diese Mühen entspringen, wie er erläutert, keiner privaten Marotte, sondern gehorchen 85 Vgl. Luhmann 1995c. 86 Für Bernhard ist Österreich die Brut- und Perfektionierungsstätte dieser in seinen Augen perfiden Strategie. 87 Arthur Danto diskutiert diese fragwürdige Argumentationsstrategie anhand eines Prozesses „gegen das Contemporary Art Institute in Cincinatti wegen der Ausstellung von Mapplethorpe-Fotografien“. Dort beschreibt ein Sachverständiger der Verteidigung „einen in einen Penis eingeführten Finger als ‚ein zentriertes Bild, eine äußerst symmetrische, sehr geordnete klassische Komposition’.“ (1996, 206)
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der allgemeinen Forderung, „ein Schriftsteller [solle] ein Beschreiber authentischer Sachen sein“. (Fleischmann 1991, 183)88 Die ‚ehrbeleidigenden’ Aussagen in Holzfällen verteidigt Bernhard sogar mit dem entwaffnenden Hinweis: „Das ist doch nur die Wahrheit! Die Leute machen ja lauter Grauslichkeiten und glauben, sie können das Jahrzehnte fortsetzen, im Rücken, das geht halt nicht.“ (Dreissinger 1992, 116) Gleichzeitig wird aber auch die Schwäche einer bloß literarisch repräsentierten Wahrheit beklagt: „Im Grund’ sind die Leut’ viel grausiger als man je beschreiben kann.“ (ebd., 117) Dieser Satz aus einem Interview findet alsbald – leicht modifiziert – Eingang ins literarische Werk: „Was die Schriftsteller schreiben, ist ja nichts gegen die Wirklichkeit.“ (Bernhard 1989, 66) Dass der Ausbruch des Spiels in die Zeit es nicht nur darauf anlegt, solche Rückimporte zu ermöglichen, sondern auch ein Echo bildet auf den immer schon wirksamen, aber kaschierten Einbruch der Zeit in das Spiel, dies zeigt Bernhards Umgang mit dem wohl brisantesten Thema, das Holzfällen anschlägt: den bis in die sexuelle Sphäre reichenden Missbrauch des Künstlers durch seinen Mäzen. Befreiung und Abhängigkeit, Lust und Erniedrigung bilden hier ein verhängnisvolles und tiefkomisches Geflecht, dessen Motivfäden Bernhard weit ausspannt, verknotet, verwirrt, kappt und als lose Enden in den Sprachraum hineinhängen lässt. Je radikaler der Sinn des Gesagten ausfällt, umso virtuoser ist Bernhards Inszenierung von Intertextualität. Auf dem besten Weg zum Höhepunkt der „Erregung“ folgen die Sprechakte des Erzählers plötzlich einer neuen Melodie. Die Kette der Nichtigkeitserklärungen reißt ab. Unversehens geht der scheinbar unbeteiligte Beobachter im Ohrensessel in die Falle, die der Burgschauspieler seinen Zuhörern stellt. Das profane Abendessen wird zum Schauplatz einer Epiphanie. Für wenige entscheidende Augenblicke verliert das künstliche Gehabe des Schmierenkomödianten die ihm zugesprochene Lächerlichkeit. Sein Lob des Natürlichen hebt ihn aus dem Kreis der Banausen und Schmarotzer, der Epigonen und Opportunisten hinaus. Die Natur, die der Burgschauspieler preist, ist aber nicht das Einfache und Unteilbare, das durch unmittelbare Anschauung überwältigt. Sie tritt vielmehr als dreifaltige Formation in Erscheinung und gewährt ihren Betrachtern eine gesteigerte Erfahrung des Daseins, die sich nur durch die magische Wortfolge „Wald, Hochwald, Holzfällen“ (303, 304, 308) zum Ausdruck bringen lässt. Der Erzähler ist wie gebannt von dieser Trias. Der „Wald“ wird zuerst zum „Hochwald“ potenziert und dann auf der dritten Stufe verwandelt sich der natürliche Stoff, die Substanz des menschlichen Glücks, in einen subjektiven menschlichen Akt, der den Wald umlegt und niederstreckt, hackt und zersägt. Auf dem Gipfelpunkt der Andacht bleibt vom Wald nur Holz übrig – geschlagenes, gefälltes Holz. Und der Erzähler findet allem Anschein nach Gefallen an diesem Vorgang, der seinen Gegenstand nicht weniger herabsetzt als die von ihm wieder und wieder ausgeübte „vernichtende Kraft eines ridicule, das den Gegner in seinem innersten Selbstgefühl demütigt.“ (Jauß 1997, 182) Das hier vom Burgschauspieler gepriesene und vom Erzähler affirmierte Fällen des Waldes gleicht jenem hörbaren, aber nicht sichtbaren Geschehen, mit dem Bernhards Theaterstück Jagdgesellschaft schließt:
88 Bernhard macht also nicht einmal im Ansatz den ‚überbietungsästhetischen’ Versuch, die Kunst im Bereich einer höheren Wahrheit anzusiedeln. Prousts Ausweg ist in Bernhards Augen verbaut. „Das wahre Leben, das endliche entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur.“ (Proust 1964, 308) Dieser – vom apollinischen Wahn diktierte – Satz verdient nur noch wegen seiner Unhaltbarkeit Interesse.
DIE TRAGIKOMÖDIE DES SKANDALS | 103 „Stille – Hacken und Sägen fangen an, den Wald niederzulegen, immer intensiver, immer lauter SCHRIFTSTELLER Hören Sie gnädige Frau / Hören Sie GENERALIN Die Holzfäller SCHRIFTSTELLER Wie gut sie arbeiten Ende“ (Bernhard 1983b, 249)
Wie in Tschechows Drama Der Kirschgarten bleibt der monströse Vorgang selbst verborgen. Die allzu offensichtliche literarische Anspielung gilt Ereignissen, die nicht sichtbar sind, aber durch die semantische Überdetermination indirekter Verweise ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Die Worte „Holzfällen“ und „Holzfäller“ benennt etwas Unsägliches, das durch die Bezugnahme auf einen anderen Text und Kontext leicht zu entschlüsseln ist: In Amras erzählt K. von den homosexuellen Praktiken der Waldarbeiter: „[...] der älteste und der jüngste [...] Holzfäller schlafen, nicht nur in der Nacht, miteinander.“ (1988 [1964], 76f.) Und an der entscheidenden Stelle heißt es dann: „Die Wunde, die der alte Holzfäller dem jungen zugefügt hat, schmerzt den jungen immer dann am furchtbarsten, wenn der alte bei dem jungen in Wirklichkeit eintritt, in sein Gehirn eintritt, in den nach allen Seiten offenen Vorhof seines Gehirns.“ (ebd., 83) Jeder Leser, der von findigen Rezensenten auf die Spur gesetzt wird, die Bernhard gelegt hat, erkennt in Lampersberg rasch den „alten Holzfäller“, „den geile[n] Schriftstellerverschlinger“ (269), der die literarischen Novizen, die er fördert, in sein Bett und damit in eine Falle lockt (vgl. 158, 268), aus der sie sich dann – wie Thomas Bernhard – durch die zum richtigen Zeitpunkt ergriffene Flucht jählings befreien oder – wie etwa Peter Turrini und H. C. Artmann – durch die moderate Rhetorik lebenslänglicher Anhänglichkeit herauswinden müssen. Bernhard konnte sich natürlich „ausrechnen“, dass er die Eheleute Lampersberg und ihre berühmten Zöglinge Turrini und Artmann89 mit diesen Sätzen, die den Titel des Romans drastisch erläutern, einfach „treffen muß.“ (8) Für die Falle, die Lampersberger dem jungen Thomas Bernhard im richtigen Augenblick90 gestellt hat, revanchiert sich dieser 25 Jahre später mit einer Medienfalle, in die Lampersberger mit vollendeter Naivität hineintappt: „Der lächerliche Auersberger, der [...] im Fernsehen als wirklicher Lampersberg auftrat und genau den Quatsch von sich gab, den der wirkliche Lampersberg als Auersberger im Buch von sich gibt.“ (Lüdke 1985) Lampersberg ergreift die Gelegenheit, um all jene apodiktischen Nichtigkeitsurteile und Lächerlichkeitserklärungen, mit denen der Erzähler in „Holzfällen“ aufwartet91, aus dem Räderwerk der Selbstunterlaufung, in das Bernhard sein überdrehtes Depotenzierungsvokabular hineingeworfen hat, zu lösen und so das im Roman sich unaufhörlich selbst lächerlich machende Lächerlichmachen mit dem Signum des Ernstes zu versehen. „Ich lasse mich nicht von einem Proleten so – krrr abmurksen“92, ver-
89 Beide haben Bernhards Verhalten daher auch scharf kritisiert. 90 Die Widmung des frühen Gedichtbandes In hora mortis (1958) lautet: „Meinem einzigen und wirklichen Freund G.L., dem ich im richtigen Augenblick begegnet bin.“ (Zur Rhetorik des entscheidenden Zeitpunkts siehe Holzfällen, 20, 24, 98, 181, 220, 309, 313, 321 und Der Atem, 17). In der zweiten Auflage (1987) hat Bernhard diese Widmung kommentarlos getilgt. In Wittgensteins Neffe (1982, 135) ist noch von dem „genialen und [...] verrückten Komponisten Lampersberg“ die Rede. 91 Vgl. z.B. 31, 38, 79, 100, 108, 119, 142, 146, 184, 246, 254. 92 Zitiert nach Schindlecker 1987, 38.
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kündet Lampersberg lauthals und liefert dann eine Selbstvernichtungsnummer ab, deren wirkliche Tragikomik „stärker [ist] als jede Ästhetik.“ (Schmitt 1956, 31) Die penetrante Wirklichkeit, die Bernhard durch sein Skandalbuch auf den Plan ruft, hat manchen empfindsamen Lesern den Kunstgenuss, den doch ein jeder Bernhardtext nebenher auch verspricht, fast gänzlich ruiniert: Der Einbruch der Zeit ins Spiel, den Bernhard provoziert, macht – so jammert die mitunter im ohrenlosen Le-Corbusier-Fernseh-Sessel verweilende professionelle Literaturbeobachterin Sigrid Löffler – den „Text augenblicklich so gut wie unlesbar“. Lampersberg hat, vom bekennenden Bosheits-Sympathisanten93 Bernhard animiert, mit seiner nicht nur vorhersehbaren, sondern auch herbeigewünschten Klage „die Literaturverabredung“ gebrochen. Jedem noch so unbefangenen Leser wird „ein literaturzersetzender Erkennnisdienstblick aufgenötigt“. Die „sprachlich entworfene Welt des Schriftstellers Thomas Bernhard [ist] augenblicks entwertet“. Es ist ein Skandal, genauer ein Meta-Skandal: „Rechtlich verunglimpfbare Privatpersonen“ aus der „Wirklichkeit [...] zwängen sich [...] in ihrer penetranten Leibhaftigkeit in die Sehweise des Lesers hinein“ und verderben die Lektüre (Löffler 1984). 94 Gegen derartige Vorstellungen vom ungestörten Konsum möglichst abgründiger, aber in den soliden Käfig der Fiktionalität eingesperrter Texte eröffnet Bernhard einen veritablen Vernichtungsfeldzug. Der Skandal soll die Leser in zwei Lager spalten. Aber nicht in die empörten Gegner und die vergnügten Befürworter der skandalisierenden Offensive (das wäre zu banal), sondern in solche, denen der gezielte Stich ihre ekelhaft gute Laune verdirbt, und jene anderen, auf die der scharfe Witz des Vorstoßes wie ein lebensnotwendiges Tonikum wirkt. Mit seinen Komödientragödien, denen die künstlichen Grenzen der Kunst nicht heilig sind, will Bernhard die einen be- und die anderen entlasten. Während allen, die unbeschwert ihre Geschäfte betreiben, lebensvergällende Giftstoffe verabreicht werden, erhalten diejenigen, die am Dasein verzweifeln, tröstliche Gaben. Wer an den herrschenden Zuständen leidet, soll zum erlösenden Lachen gebracht, wem hingegen das Bestehende mitsamt seiner Partyfröhlichkeit und Pseudocoolness behagt, soll verstört und erschüttert, beschämt und gepeinigt werden. Und die Verzweifelten, die ja nicht moralisch besser, sondern nur zufällig unglücklicher sind als die Saturierten, dürfen sich – Bernhard gesteht es ihnen großmütig zu – daran weiden. Zum Höhe- und Wendepunkt des gattungspoetischen Arrangements „Komödientragödie“ gerät der Skandal, weil sein Initiator bereit ist, sich auf das Medienspektakel, das er hervorruft, ganz und gar einzulassen. Ohnehin nähert sich Bernhard in Darstellungsmethode und Themenwahl generell den modernen Massenmedien an. Allein schon das Arsenal der Übertreibungs-, Vereinfachungs- und Diffamierungstechniken sowie das signifikante Quantum an beschriebenen Verbrechen, Katastrophen und Unglücken machen das deutlich. Bernhard führt allerdings nicht nur vor, wie das Tragische und das Komische zum Fürchterlichen und Lächerlichen mutieren, sondern er zeigt auch die Form auf, die diese beiden Basisphänomene der Tragikomödie durch die mediale Präsentation annehmen. „Das Fürchterliche unseres Unglücks ist ja längst von seinem Sensationellen abgelöst worden.“ (Bernhard 1986, 484) Indem die Medien vorwiegend Ereignisse darbieten, die neu und extrem, überraschend und aufreizend sind, machen sie die alte Frage nach dem Relevanten und 93 „Das, was man am meisten liebt, ist eigentlich die Bosheit.“ (Fleischmann 1991, 179) 94 Man könnte auf den Gedanken kommen, Löffler persifliere eine bestimmte, rundheraus reinliche Literaturhege. Aber welche ironisch aufgelegte Autorin hätte schon „so gut wie unlesbar“ geschrieben. Diese Hintertür ist verräterisch.
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dem Irrelevanten, die von Tragödie, Komödie und Tragikomödie in unterschiedlicher Weise gestellt und beantwortet werden, obsolet. Zwischen dem Bedeutsamen und dem Belanglosen, dem Notwendigen und dem Zufälligen gibt es nun keine substanzielle Differenz mehr. Was heute wichtig ist, hat morgen schon sein Gewicht verloren. Relevanz wird zu einer ephemeren Qualität, die nur an Erscheinungen haftet, die überraschend aufblitzen und nach einer kurzen Fernseh- und PresseKarriere, in der sie hohe Aufmerksamkeit genießen, wieder verschwinden. Diese Transformation selbst ist freilich nichts Zufälliges, sie ist nur möglich, weil sie einen Bedarf deckt, der unter Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft zwangsläufig entsteht: „Der Abschaum ist das Sensationelle und dieses Sensationelle ist lebensnotwendig.“ (Bernhard 1989, 70) Wenn Bernhard Skandale anzettelt, betreibt er das Geschäft der Sensationsmacherei, und er weiß genau, was er tut. Er unterwirft die Kunst einem Experiment, bei dem sie den Inszenierungsformen des Sensationellen angeglichen wird, um das Sensationelle zu hinterfragen. Bernhard stiftet uns an zur Reflexion auf Sinn und Funktion des Sensationellen und eröffnet so die Chance (und mehr als eine Chance kann es nicht sein), dass die substanzielle Not, die uns in die Arme der Medien treibt, sich als eine Illusion erweist, auf die wir zur Not verzichten können. Die Tragikomödie des Skandals entfesselt ein ernstes Spiel mit unseren Nöten, bei dem wir irgendwann vielleicht herausfinden, welche Nöte wir selbst erschaffen haben und welche wir hinnehmen müssen. Der provozierte Skandal ist also nicht allein ein Versuch, die Kunst von dem Makel zu befreien, sie verspiele alles Ernsthafte, Substanzielle und Relevante, sondern zudem ein Versuch, dieses Verlangen nach Substanz, das allzu leicht hypertrophe Züge annimmt, einzudämmen. Im Durchbruch aus der ästhetischen Sonderwelt geht die Kunst zwar über sich hinaus, aber sie nimmt sich auch zurück, liefert sich aus und akzeptiert diesen Kontrollverlust. Jeder noch so kalkulierte Skandalisierungsversuch kann nämlich scheitern. Die grässlich schöne Bescherung kann auf ein apathisches oder desinteressiertes, ein albernes oder bloß klatschsüchtiges Publikum stoßen. Garantien sind auch und gerade von der Wirklichkeit jenseits des Spiels nicht zu erwarten. Der Ernst, den der Skandal erreicht, entpuppt sich mitunter als falscher Ernst. Und auch das Lachen, das er auslöst, erweist sich oft genug als Element der etablierten Spaßkultur, die die lärmenden Feste der Verdrängung feiert, und eben nicht als ein Zeichen für die Ausgelassenheit einer Vernunft, die alle Absolutheitsansprüche hat fahren lassen. Diese Unwägbarkeiten sind in Texten wie Holzfällen und Heldenplatz stets präsent. Der Skandal, den Bernhard bewirkt und über sich und alle Betroffenen ergehen lässt, ist deshalb nicht nur eine Anmaßung, er parodiert und korrigiert auch die Selbstüberhebung der Kunst. Denn die ästhetischen Machtansprüche werden durch den Zugriff auf die externen Bezirke, in denen die Wahrheit von Aussagen und die Richtigkeit von Normen zur Debatte stehen, zugleich wahnhaft überzogen und „befreiend unterboten“. 95 Hinter vorgehaltener Hand verkündet die Tragikomödie des Skandals eine nüchterne Botschaft: Probleme und Konflikte, die sich nicht auflösen lassen, soll man tunlichst vermeiden! Dies ist – wie sich denken lässt – keine Anleitung zum Quietismus, sondern ein Aufruf, sich den erregenden Seiten des Daseins zu stellen, ohne ihnen gänzlich zu verfallen. Um nämlich die tragikomische Kunst des Vermeidens zu erlernen, muss der Prozess einer Erregung, der uns erfasst, aber auch
95 Ich greife hier eine treffende Formulierung aus Martin Seels Interpretation der Korrektur auf (1986, 420-432, 429).
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wieder freigibt, durchlaufen werden. Und die Aufgabe der Kunst besteht darin, sich aufzuopfern, damit wir in genau diese und keine andere Erregung geraten.
5. V O N
D E R N O R M AT I V E N
Z U R P O S T - N O R MA T I V E N
KOMIK
I. Definitionen und Kriterien Komik und Tragik – im Leben wie in der Kunst – gehen aus Problemen hervor, in die Menschen geraten, solange sie sich in ihrem Handeln und Erleben nach Normen und Werten richten. Lionel Abel hat für diesen Tatbestand eine lakonische Formel gefunden: “Tragedy […] presents us with the very conflict, pitting the wrong against the wrong, […] or even the bad against the bad. […] comedy presents us with what is essentially a fallacious argument against some false position.” (2002, 200)
Freilich ist auch in der Komödie, wie Abel hinzufügt, das Gute und Richtige gegenwärtig, aber es steht hier nicht im Zentrum der Handlung: Entweder wird es durch eine Art von „Raisonneur“ (ebd., 208f.) vertreten, der als passive Figur das Geschehen mit vernünftigen Kommentaren begleitet, oder es bildet den unzerstörbaren normativen Rahmen für eine turbulente Handlung, die aus Glücksüberforderungen, gescheiterten Plänen, tölpelhaften Intrigen, bizarren Verwechslungen etc. besteht und am Ende zur Restauration der zwischenzeitlich aufgehobenen Ordnung führt. Abels Diagnose legt folgenden Schluss nahe: Wenn Normen und Werte aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen ihre handlungsorientierende Kraft einbüßen und durch alternative Orientierungskonzepte abgelöst werden, dann schwindet der Sinn für das Tragische und Komische, dann büßen auch die Gattungen der Tragödie und Komödie ihre ästhetische Attraktivität ein und es schlägt die Stunde für Darstellungsweisen, welche die tragischen und komischen Potenziale trans- und post-normativer Handlungsorientierungen ausloten. Die offensichtlichen Veränderungen, denen das Komische und Tragische 1 gegenwärtig ausgesetzt sind, lassen sich – so jedenfalls meine These – nur mit Blick auf Prozesse erfassen, in deren Verlauf spätmoderne Gesellschaften jene Schwelle überschreiten, die eine normativ grundierte von einer para- oder post-normativen und das heißt: von einer primär normalistisch geprägten Sozialordnung2 trennt. 1
2
Zu beachten ist, dass sich die Begriffe Komik bzw. Komödie nicht von ihren Gegenbegriffen Tragik bzw. Tragödie trennen lassen. Ändert sich das Konzept von Tragik, so bleibt das nicht ohne Auswirkungen auf die Vorstellung von Komik und umgekehrt. Überdies darf nicht vergessen werden, dass die Tragödie lange als die ethisch und ästhetisch höherwertige Gattung angesehen wurde. Erst im Theater der Renaissance emanzipierte sich die Komödie zu einer gleichrangigen Darstellungsweise und konnte mit der Tragödie ‚Mischehen’ eingehen, die die Potenziale beider Gattungen (vgl. etwa Shakespeares Measure for Measure) zur vollen Entfaltung brachten. Vgl. ausführlich Link 1996; Ellrich 2001; 2007.
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Um die Frage zu beantworten, ob sich damit das Tragische und Komische in Gebilde verwandeln, an denen die Zeichen des Verfalls deutlich hervortreten, oder ob neue signifikante Gestalten beider Erfahrungs- und Sichtweisen entstehen, muss man sich zuvor Klarheit über die normative Einbettung des Tragischen und des Komischen verschaffen. Zur Bewältigung dieser Aufgabe leistet Christoph Menkes Studie über die Gegenwart der Tragödie (2005) einen wichtigen Beitrag. Menke versucht nämlich zu zeigen, dass der „Erfahrungsgehalt“ der klassischen Tragödie auch heute noch gültig ist, weil unser aller Handeln und Urteilen nach wie vor durch normative Strukturen und damit unabweisbar auch durch die „’tragische Ironie’ der Praxis“ (Menke 2005, 7)3 bestimmt wird. Besonders ertragreich ist diese Theorie aufgrund ihrer zugleich historischen und systematischen Anlage. Menke vertritt die These, dass die zentrale Problematik, welche die klassische Tragödie als ästhetische Darstellungs- und Reflexionsform umkreist, im tragik-affinen Charakter des moralisch-rechtlichen Urteils gründet4, genauer gesagt: in der latenten Exzessivität des Urteils, deren verheerende Folgen die alten Stücke ans Licht bringen. Das aktuelle Drama hingegen drängt die Urteilsproblematik, obschon sie weiterhin virulent ist, aus dem Blickfeld der Zeitgenossen. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken jetzt vielmehr die zum Scheitern verurteilten Anstrengungen, gegenüber den geltenden normativen Orientierungen eine spielerische Distanz, einen theatralen Freiraum experimenteller Praxis zu gewinnen. Zum Hauptthema der gegenwärtigen Tragödie avanciert die Dialektik von „Versprechen und Ohnmacht des Spiels.“ (Menke 2005, 134) Damit verortet sich die Tragödie der Gegenwart im Spannungsfeld von Recht und Ästhetik. Sie fällt ein dezidiertes Urteil über die verborgenen Gefahren des Spiels und muss sich darauf einstellen, dass ihr die Komödie (im Leben wie auf der Theaterbühne) eine angemessene Antwort erteilt.
I I . I n h a l t e u n d F o r m e n d e s Re c h t s a u s t r a g i s c h e r u n d k o m i s c h e r P e r sp e k t i v e Das Recht lässt sich als derjenige Teil normenorientierter Praktiken verstehen, der für die Erzeugung und Stabilisierung einer komplexen sozialen Ordnung unverzichtbar ist. Um seine Funktion adäquat zu erfüllen, ergänzt das Recht die erzieherischen Prozeduren zur Verinnerlichung von Verhaltensnormen durch externe Mechanismen (u.a. öffentliche Bekanntmachungen der Gesetze und spezifische Sanktionsdrohungen5), die dafür sorgen sollen, dass die geltenden Regeln in hinreichendem Maße beachtet werden. Da die antiken Tragödien soziale Kernprobleme thematisieren und reflektieren, gehören Rechtsprobleme zu ihren Hauptgegenständen. Die Zuschauer werden – geschützt durch den ästhetischen Rahmen der Darstellung
3 4
5
Vgl. Menke 2005, 63ff. Siehe auch unten Abschnitt IV. Dieser Befund deckt sich mit einer Behauptung von Ronald Peacock: „Tragödie und Komödie (beziehen) sich nicht auf Dinge oder Ereignisse, sondern auf Urteile – ganz bestimmte Weisen, Dinge oder Ereignisse anzusehen –, die vom Moralgefühl abhängen.“ (1971, 335) Als Gegenposition vgl. die Ansicht von Northrop Frye: „Die Tragödie entzieht sich [...] ebenso der Antithese von moralischer Verantwortlichkeit und willkürlichem Schicksal wie jener von Gut und Böse.“ (Frye 1964 [1954], 214) Die rechtlich angedrohten Strafen richten sich primär auf den Körper und beschränken sich nicht auf moralische Sanktionen wie Ächtung oder Beschämung.
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– zu Beteiligten und Betroffenen gemacht. Sie erleben sich als Mitglieder einer Gesellschaft, deren Ordnung in zwei Hinsichten problematisch ist: Erstens kann der Inhalt von Gesetzen strittig sein. Eine potentiell tragische Zuspitzung erfährt die Ausein andersetzung um den Inhalt von Gesetzen immer dann, wenn die strittigen Inhalte unvereinbar sind und dennoch durch gleichermaßen überzeugende Argumente begründet werden. Besonders heftig fällt der Streit in sozialstrukturellen Umbruchs- und Krisensituationen aus. So können sich zum Beispiel die Anhänger alter Satzungen auf die Geltungsmacht der Tradition berufen, während die Verfechter des neuen Rechts auf dessen hier und jetzt unverzichtbare Ordnungsleistung verweisen. Der tragische Konflikt zwischen Kreon und Antigone (in Sophokles’ Stück) lässt sich im Anschluss an Hegel als derartiger Streit um den Inhalt des Gesetzes verstehen: traditionelles Familienrecht steht gegen funktionales Staatsrecht.6 Zweitens kann die Form (bzw. das Verfahren) der Erzeugung oder Anwendung von Gesetzen problematisch sein. In Aischylos’ Drama Die Eumeniden, das den Schluss der dreiteiligen Orestie7 bildet, wird die Einrichtung eines rechtsförmigen Gremiums zur Lösung von Konflikten dargestellt. Alle Urteile dieses Gerichtshofs beruhen auf Mehrheitsentscheidungen, die eine vernünftige und gerechte Spruchpraxis garantieren sollen. Doch Aischylos macht deutlich, wie prekär dieses Verfahren ist: Nur die Intervention der Göttin Athene kann (beim Gleichstand der abgegebenen Stimmen) eine Entscheidung herbeiführen, die die Mächte der Rache in urbane Schutzmächte verwandelt. Die Ausübung des Rechts erscheint als riskante Praxis, die von schwankenden Mehrheiten, rhetorischen Künsten, externen Eingriffen etc. abhängt und keineswegs davor gefeit ist, in die alten (priesterlichen) Rituale der Streitschlichtung und Verurteilung (Verdammung, Verfluchung) zurückzufallen.8 Sophokles verschärft im König Ödipus diese kritische Darstellung des Rechts beträchtlich. Er legt die problematische Struktur des Urteilens frei und bedient sich dabei einer verblüffenden Darstellungsmethode: nämlich der tragischen Ironie. Das ist lange nicht erkannt und entsprechend gewürdigt worden. Tragik und Ironie galten als unvereinbare Phänomene, weil man Ironie unter die probaten Mittel der Komödie einreihte. Seit Connop Thirlwalls bahnbrechender Studie On the irony of Sophocles von 1833 hat sich das Verlangen nach solch einer Zuordnung deutlich verringert.9 Der Blick auf die attische Tragödie von Rechtsinhalt und Rechtsform (auf unvermeidliche Wertekonflikte im ersten und die tragische Ironie des Handelns im zweiten Fall) liefert allerdings nur ein unvollständiges Bild vom Normbewusstsein der Griechen und dessen ästhetischer Reflexion im Drama. Um eine angemessene Vorstellung zu gewinnen, muss man die Rechts-Darstellungen der Komödie hinzu ziehen. Diese Forderung leuchtet allein schon aufgrund der zeitlichen Nähe der 6 7 8
9
Auch der Streit zwischen Zeus und Prometheus (vgl. Aischylos’ Der gefesselte Prometheus) lässt sich als ein Streit um die inhaltliche Gültigkeit von Geboten betrachten. Das abschließende Satyrspiel ist nicht erhalten. Hermann Cohen hat das anders gesehen. Für ihn markiert die Etablierung des Rechts bereits das Ende der Gattung ‚Tragödie’. Alle späteren Tragödien wiederholen nur noch dieses Grundmuster: „Der tragische Held braucht nicht seines natürlichen Todes zu sterben; [...] er steht wieder auf in Wiederholung seines Falles; und wenn es selbst nicht die Schwester wäre, die den Bruder repetierte. Die Stoffe selbst ändern durch ihre Wiederholung nichts an der unerschöpflichen Originalität dieser dramatischen Einheit.“ (Cohen 1912, 85f.) Siehe allerdings Heinz Budes Versuch (1999), die mentale Differenz zwischen DDRund BRD-Bürgern durch den Tragik-Ironie-Kontrast zu bestimmen.
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Stücke ein. Die musterhaften Werke Antigone und König Ödipus entstanden 442 und 425, die Komödien des Aristophanes ab 425 v. Chr.; insbesondere der Abstand zwischen König Ödipus (in dem das Scheitern der Subjektivierung des Rechts dargestellt wird) und den Rechtssatiren des Aristophanes in den Wolken von 423 und den Wespen von 422 v. Chr. ist relativ gering. Um Aufschlüsse über die ‚normative Logik’ von Tragödie und Komödie zu erhalten, ist erneut die Differenz von Rechtsinhalt und Rechtsform zu beachten: Wie verfährt nun die Komödie (im Unterschied zur Tragödie) mit WertKollisionen, das heißt mit inhaltlichen Bestimmungen, die den Stoff für eine rechtsförmige Konfliktverarbeitung bilden? Die Antwort ist einfach: Die Komödie transformiert die Werte in Interessen. Es liegt nahe, diesen Vorgang als Herabsetzung der Werte zu deuten. Ein griffiges Beispiel liefert die Komödie Lysistrate (411); denn sie bildet gleichsam das Gegenstück zur Antigone (442). Die kontrastierenden Rechtsansprüche von Staat und Familie erscheinen hier einerseits als Interesse der Männer an Kriegsspielen und militärisch abgestützter Macht, das durch Werte wie Vaterlandsliebe, Ehre und Tapferkeit nur dürftig kaschiert wird, und andererseits als Interesse der Frauen an Frieden, häuslicher Eintracht und Aufmerksamkeit. Das gemeinsame Interesse an Sexualität spielt in diesem Konflikt die Rolle eines realistischen Fundamentes, in dem Kompromisse verankert werden können. Damit zeigt die Komödie zweierlei: (1) wenn man die Perspektive wechselt und Werte in Interessen übersetzt, so wird der Stoff des Streits in eine Form gebracht, die weitaus mehr Möglichkeiten für Kompromisse eröffnet als ein Streit um Werte und Prinzipien; (2) wenn man den Wert des Streites mit dem Streitwert der Auseinandersetzung vergleicht, so kann man erkennen, dass bestimmte Konflikte sich nicht lohnen, weil der Streitaufwand höher ist als die Relevanz des strittigen Sachverhaltes. Sind die Auskünfte der Komödie über die Probleme der Rechtsform ebenso klar wie ihre Lehren über eine angemessene Einschätzung der Rechtsinhalte? In welchem Sinne verändert sich das Verhältnis von Tragödie und Komödie, sobald die Verfahren der Ermittlung und Beurteilung von Normbrüchen zum Gegenstand dramatischer Darstellung werden? Die Tragödie der Rechtsform besteht – so die pointierte These von Menke – in der scheiternden Subjektivierung des Rechts: Im Prozess des Scheiterns gelangt die „Wahrheit über das Urteilen“ zum Vorschein. Diese Wahrheit erschließt sich in der „tragischen Erfahrung“ der „Nicht-Subjektivierbarkeit des Urteilens“, die die Akteure nicht nur über ihre Missdeutung des Rechts belehrt, sondern ihnen auch vor Augen führt, welche „Folgen“ die Fehleinschätzungen rechtlicher Mittel für „Urteilende wie Beurteilte“ (Menke 2005, 69) hat. Was genau ist damit gemeint? Mit der ‚ursprünglichen’ Etablierung rechtlicher Regelungen und Verfahren kommen neue und effizientere Mittel der Steuerung des Handelns und der Lösung von Konflikten zum Einsatz. Phänomene wie Blutrache, rituelle Sühnepraktiken, Orakelsprüche etc. werden durch rationale Möglichkeiten zur Herstellung und Stabilisierung sozialer Ordnung abgelöst. Die Griechen verstehen die Einsetzung und Wahrung des Rechts als Akte großer Stifterfiguren wie Lykurg (ca. 820), Drakon (620) und Solon (594).10 Das Recht erscheint nicht als anonyme Struktur, sondern als eine Gabe, die – obschon göttlichen Ursprungs – immer auch die Initiative her10 Im Kontext dieser Gestalten werden die geradezu manischen Bemühungen des Ödipus, alle rechtlichen Kompetenzen und Aufgaben an sich zu ziehen, verständlich. Sophokles’ Stück zeigt anhand der Ödipus-Figur, dass die mythische Zeit der Stiftergestalten endgültig vorbei ist.
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vorragender Einzelner bekundet. Es ist daher keineswegs per se abwegig, wenn die Instanz, welche damit befasst ist, Vorgänge zu untersuchen, Tatbestände festzustellen, Zeugen zu verhören, Entscheidungen zu treffen, Urteile zu fällen und zu vollstrecken, als ‚Subjekt’ vorgestellt wird, das diese verschiedenen Aktivitäten, als Teile eines Ganzen begreift, dessen Einheit unbedingt gewahrt werden muss. Dass hier ein Problem verborgen liegt, zeigt Sophokles’ König Ödipus, indem das Stück vorführt, wie die subjektive Verfügung, ja Instrumentalisierung der rechtlichen Mittel, den Akteur dazu bringt, die Voraussetzungen seiner Handlungen auszublenden.11 Sogar das eigentlich schon überwundene Rechtsmittel des Fluchs glaubt Ödipus unbeschadet anwenden zu können, weil er es kraft seiner subjektiven Inanspruchnahme in ein kontrollierbares Element der Rechtspraxis verwandelt. Ödipus, der sich (laut Hölderlin) zugleich als Bürger und Priester in Szene setzt, funktionalisiert den Fluch, um das Rechtsverfahren zu beschleunigen. Damit verkennt er – und dies ließe sich als die Lehre der Tragödie auffassen –, dass „alles rechtliche Urteilen auf den nicht-offiziellen Gebrauch seiner normativen Standards in einer narrativen Urteilspraxis angewiesen ist“. Ödipus ignoriert die „irreduzible Objektivität des Urteilens“, deren „Macht“ sich am Ende gegen ihn kehrt. (Menke 2005, 73) Was kann man – wenn Menkes Interpretation zutreffend ist – aus der Tragödie lernen? Enthält sie vielleicht sogar ein latentes Problemlösungsprogramm? Ob überhaupt und ggf. in welchem Umfang der attischen Tragödie ein pädagogischtherapeutischer Gehalt zugeschrieben werden kann, ist nicht leicht zu entscheiden (vgl. Höffe 2001).12 Immerhin lässt sich feststellen, dass Sophokles folgende Frage in den Raum stellt: Wie kann man die Hybris der Subjektivität eindämmen und zugleich die objektiven Voraussetzungen des Rechts in die Prozeduren seiner Erzeugung und Anwendung einholen? Die Rechtspraxis der griechischen Polis liefert – so will es zumindest auf den ersten Blick scheinen – eine sehr klare Antwort: Zunächst einmal muss die Subjektivität förmlich ‚aufgeteilt’ werden. (Das heißt: die verschiedenen Handlungen im Rechtsprozess, speziell die Aufgaben der Tatbestandsermittlung und Aburteilung sind zu trennen.) Sodann müssen die Mitglieder der Gesellschaft als Angehörige einer gemeinsamen Kultur in die Rechtspraxis integriert werden. Potentiell Betroffene sind als Beteiligte anzuerkennen, sollten aber auch dazu erzogen und motiviert werden, Rollen zu übernehmen, die sie aus dem konfliktbeladenen Alltag herausheben und zu einer Haltung der Neutralität befähigen. Dies kann dadurch gelingen, dass die Macht, Urteile zu sprechen und zu überprüfen, an möglichst viele Personen vergeben wird, die sich wechselseitig beobachten und kontrollieren. Mehrheitsentscheidungen bzw. Abstimmungen (dies zeigt schon die Errichtung des Areopag) erscheinen hier als die probaten Mittel, um gerechte und akzeptierbare Urteile zu erreichen. 11 Menke erläutert die einzelnen Aspekte der Subjektivierung folgendermaßen: „Erstens muss vor das Urteil eine Untersuchung des Falles treten, Beschreibung und Bewertung (durch Anwendung einer allgemeinen Regel) werden getrennt. Zweitens muß das zu sühnende Unheil als eine Tat verstanden werden, die aus subjektiven Perspektiven von Täter und Opfer zu betrachten ist. Drittens muß ein Subjekt des Urteilens eingesetzt werden, das in doppelter Weise als dessen Autor wirkt: indem es die Urteilsregel formuliert und anwendet.“ Kurz gesagt: „Das Urteilen ist eine subjektive Stellungnahme zu Tatsachen; es berücksichtigt subjektive Perspektiven; es ist der selbstbestimmte Akt des Subjekts.“ (Menke 2005, 70) 12 Menke stellt die pädagogisch-therapeuthische Funktion der Tragödie in Abrede (2005, 93ff.). Diese These verliert aber an Überzeugungskraft, sobald man die attischen Tragödien und Komödien im Zusammenhang betrachtet.
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Aristophanes zeigt nun in seinen Komödien, dass diese Strategien zur Vermeidung der ‚Tragödie des Urteilens’ ihrerseits Probleme erzeugen, wenn auch keine tragischen Katastrophen hervorrufen: 1. kommt es zu einer Überlastung des Rechts als Instrument der Konfliktlösung. 2. erweisen sich die juristische Verhandlung, der Austausch von Argumenten, das Verhör etc. als merkwürdig lustvolle und hochgradig beeinflussbare Angelegenheiten; es grassiert eine regelrechte Prozessleidenschaft und der Einsatz von versierten Profis macht Schule. 3. ist ein erheblicher Anstieg der Laienrichter (Heliasten) zu verzeichnen, mit der Folge, dass die Rechtsprechung zum unterhaltsamen Volkssport ausartet.13 Aristophanes’ Stücke geben diese Entwicklungen, die die Unparteilichkeit der Gerichtsverfahren eher untergraben als stärken, der Lächerlichkeit preis. Die Zuschauer dürfen Einblick nehmen: Sie können die juristische Idee der Wahrheitsermittlung mit den rhetorischen Kniffen der Anwälte vergleichen, sie bemerken die Käuflichkeit der Akteure und die Relativität der Argumente und gewinnen so einen nachhaltigen Eindruck von der Manipulationsanfälligkeit des Rechts. Sie werden aber auch Zeugen, wie die Komödie selbst sich auf dem Theater als Gerichtshof aufspielt, der scharfe Urteile fällt und als Strafen Spott, Hohn und Verachtung zum Einsatz bringt. Die attische Komödie wagt sich, ohne zu zögern, auf das abgründige Gebiet des Urteilens, weil sie ein anderes, implizites Konzept der Rechtsstiftung und -anwendung als normativen Maßstab in Anspruch nimmt. Die Komödie orientiert sich nämlich am Modell des weisen, durch seine aristokratische Position über die gesellschaftlichen Belange empor gehobenen und mit höchster Autorität versehenen Richters.14 Hinter der Kritik an der bürgerlich-demokratischen Rechtssprechung, bei deren Vollzug sich faktische Macht und wahrhaftige Autorität voneinander lösen und wechselseitig diskreditieren, steht eine Idee, die selbst vor der subversiven Kraft des Komischen geschützt wird.15 Durch diese latente (nur selten manifeste) Rückkehr der großen Figur des Richters in der Komödie wird eine Struktur, in der sich viele ‚kleine’ Fehler anhäufen können, durch eine Struktur ersetzt, in der erneut ‚große’ Fehler möglich (und wahrscheinlich) sind. Die Komödie schafft auf diese Weise die Voraussetzungen für die ‚Rückkehr’ der Tragödie. (Man könnte von einer Pendelbewegung sprechen: Die Tragödie, die das Scheitern der Subjektivierung des Urteils darstellt, ruft die kritischen Kommentare der Komödie hervor; und diese lassen ihrerseits, indem sie das Desaster der Inter-Subjektivierung des Rechts aufzeigen, die fatale Sichtweise der Tragödie als eine letztlich unüberwindbare Position erscheinen. Sie belassen es nämlich nicht dabei, überzogene Erwartungen an die Leistungen des Rechts zu dämpfen, sondern nähren explizit oder unterschwellig die Hoffnung auf eine Epiphanie charismatischer Richter. Damit aber öffnen sie dem tragischen Exzess des Urteils erneut Tor und Tür.) Erst in der Neuzeit zerfällt der normative Rahmen, der dieses gleichsam dialektische Zusammenspiel von Tragödie und Komödie ermöglicht. Das lässt sich an einigen Stücken, die im England des 16. und 17. Jahrhunderts entstehen, ablesen. Das Korpus des Elisabethanischen Theaters enthält Komödien der Rechtsform, die einen signifikanten Eindruck vom Wandel des Komischen seit der Antike vermitteln und als Vorboten der spätmodernen Krise der Normen und Werte zu interpre13 Zur Zeit von Aristophanes war etwa jeder dritte Vollbürger Heliast. 14 In Menanders Komödie Das Schiedsgericht (ca. 300 v. Chr.), die in großen Teilen erhalten ist, schlichtet ein solcher Richter den Streit und löst souverän alle Probleme. 15 Da dieser ‚konservative’ Hintergrund von Aristophanes’ Polemik aber kaum sichtbar wird, lassen sich seine Stücke in der Moderne sehr leicht als Sozialkritik aus ‚linker’ Warte inszenieren.
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tieren sind. Der Unterschied zwischen antiker und neuzeitlicher Perspektive tritt gerade dort besonders deutlich hervor, wo die Gegenstände der Kritik verblüffende Ähnlichkeiten aufweisen. So sah sich William Shakespeare mit Mängeln des Rechtssystems konfrontiert, die schon bei Aristophanes aufs Korn genommen wurden: „In der Rechtssphäre stieg die Zahl der Prozesse sprunghaft an, das vorhandene Recht erwies sich als unzulänglich, den sozialen und ökonomischen Veränderungen gerecht zu werden“, schreibt Friedmar Apel (1986, 103) in seinem ausgezeichneten Kommentar zum Kaufmann von Venedig (1596/7). Während Shakespeare dieses Stück verfasste, führte er selbst diverse Prozesse. Die berühmte Gerichtsszene (IV,1), in der Shylock zunächst zu triumphieren scheint, um dann eine vollständige Niederlage zu erleiden, gibt den Zuschauern einige Rätsel auf: „Man mag sich [...] fragen, ob die versierten Rechtsgelehrten der Republik wirklich mit ihrem Latein am Ende angekommen sind, das heißt, ob es Shakespeare in diesem prozeßfreudigen Zeitalter nicht unschwer möglich gewesen wäre, Lücken im Gesetz zu konstruieren, um Shylock legal und ohne Portias Hilfe abzuservieren, wenn er gewollt hätte. Mit Portia kippt die Geschichte in eine andere Dimension. Portia argumentiert nämlich nur schein-juristisch, wie die Juristen längst festgestellt haben; in Wirklichkeit arbeitet sie mit übertölpenden Tricks, die den Juden um sein Recht bringen. Die Waffen sind also wiederum List und Kunst, ars, die Portia schon einmal verwendete, um ein Schicksal nach der von ihr gewollten Willkür zu drehen.“ (Reichert 1985, 89f.)
Bei aller Abgründigkeit, die die Gerichtsszene enthält16, ist die Argumentation Portias doch tiefkomisch: Sie nimmt den Vertrag wortwörtlich und betreibt damit eine juristische Auslegekunst, die allem hermeneutischen Tiefsinn, der sich über das Buchstäbliche erhaben dünkt, Hohn spricht. Die Komödie des Urteilens setzt an die Stelle vernünftiger und begründbarer Entscheidungen geschickte Manipulationen und pures Glück. Antonio, der den Juden schwer beleidigt hat, kommt ungeschoren davon. Sogar seine schon verloren geglaubten Schiffe finden sich wieder ein. Und der leichfertige Lebemann Bassanio wird reichlich belohnt. Noch drastischer freilich ist die Komik, die Ben Jonson in den Gerichtsszenen seines Meisterwerks Volpone (1605) entfesselt. Hier feiert die Kunst der Rechtsmanipulation wahre Triumphe, obschon rein äußerlich die Betrüger (Volpone und Mosca) am Ende leer ausgehen. Alle objektiven Voraussetzungen, die das Recht fundieren (und jede subjektive Aneignung mit tragischer Ironie schlagen könnten), sind zerfallen. Die exzessive Komödie des Urteilens zeigt die Macht des Bluffs und der unkalkulierbaren Fortuna an, die grundlos einmal gibt und einmal nimmt. Damit ist die traditionelle Regel der Komödie, dass – cum grano salis – am Ende die Richtigen belohnt und bestraft werden, ad acta gelegt. Was bleibt, ist die Inszenierung des Gelingens ohne moralische Deckung. Denn mit Fortuna siegt eben „die Willkür über die Logik“ und „der Zufall über die Notwendigkeit“. (Reichert 1985, 129) Absolut lächerlich wirken dann alle Personen, die ihre Erfolge als subjektive Verdienste betrachten oder ihrer Niederlagen als Anzeichen schuldhaften Verhaltens deuten. Die Sympathie gehört den unbeschwerten Hochstaplern und einfallsreichen Betrügern, die sich mit dem erbeuteten Mehrwert davon stehlen. Offenbar macht die neuzeitliche Komödie ungehemmt Reklame für den gewieften Betrüger.
16 Bewegt sich Shylock, den Shakespeare ohne Bedenken als tyrannischen Vater und verstockten Schacherjuden zeichnet, nicht auf dem Niveau tragischer Hybris?
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Denn er entpuppt sich als der reelle Kern jenes alten Traums vom redlichen Richter.17 Anders als Shakespeare und Jonson sucht Kleist zweihundert Jahre später in seiner juristischen Komödie Der zerbrochene Krug den direkten Vergleich mit der antiken Tragödie. Der historische Wandel des Komischen wird durch die Verwandlung einer klassischen Tragödie in eine moderne Komödie zur Darstellung gebracht. Kleists Unternehmen ist auf den ersten Blick weit weniger radikal als die Konstruktionen der Elisabethaner; denn er interessiert sich gar nicht für die fatalen Bedingungen, unter denen die etablierte Rechtsform ihr Gelingen, nämlich die Produktion gerechter Urteile, zu garantieren sucht. Die spezifische Art der Komik, die nach den Höhenflügen der Aufklärung und den Durchbrüchen der neuen Subjekttheorie an der Zeit ist, entzündet sich kaum noch an den unglaublichen Segnungen der Fortuna oder an den logischen Sprüngen des Intrigenspiels, sondern am Missverhältnis von Wissen und Können der zur Selbstbeobachtung und Selbstbestimmung berufenen Individuen. Die Einzelnen bilden sich – so lautet das Programm der Epoche – zu modernen Subjekten, indem sie sich selbst den Prozess machen. Juristische Verfahren liefern daher ein anschauliches Modell für die Art und Weise, in der Subjekte ihrer selbst regelrecht ‚habhaft’ werden. Kleists Rückgriff auf dieses Modell ist also nur konsequent. Erstaunlich ist vielmehr der Umgang mit dem antiken Ödipus-Stoff. Denn Kleist nimmt die Subjektivierung des Rechts, deren Scheitern Sophokles in seinem Stück thematisierte, als Projekt des modernen Menschen derart ernst, dass die komischen Züge der von Grund auf tragischen Konstellation zum Vorschein gelangen. Während Ödipus die eigene Identität nicht kennt und deshalb auch keine korrekte Zuordnung von Tat und Täter vornehmen kann, ist Richter Adam über die Vorgänge vollkommen aufgeklärt. Dennoch vermag er sein Wissen nicht zu virtuosen Täuschungsmanövern zu nutzen. Statt Shakespeares „Portia“ zu imitieren, stolpert er als Ödipus-Double mit Klumpfuß durch die Szenen. Komisch ist aber nicht das aussichtslose Spiel der Wendungen und Verrenkungen, mit denen er seine Entlarvung zu verhindern sucht (das besitzt eher einen tragischen Anstrich), sondern die vorgeführte Demontage des sich selbst reflektierenden und beurteilenden Subjekts. Kleist findet ein suggestives Bild für die unheilbare Dissoziation, in die der Subjektivierungsprozess einmündet: Die entfesselte Selbstbetrachtung ist schon quasi post-aufklärerisch ausgelagert auf eine externe Gestalt, den Gerichtsrat Walter, der die erforderliche Supervision des Ichs nach allen Regeln moralischer Urteilsfindung vollzieht. Das Subjekt selbst ist von der Stufe der Reflexion auf die Ebene des Reflexes herabgesunken und kann (weit entfernt vom Wunschbild einer zweiten Unmittelbarkeit) nur noch die Flucht ergreifen vor den eigenen Taten und ihren Folgen.
III. Die Doppelgesichtigkeit der Moderne Unter den Begriffen, die eine entscheidende historische Zäsur ins Bewusstsein heben (sollen), besitzt der Ausdruck „Moderne“ eine Sonderstellung. Einerseits mar17 Brechts ebenso weiser wie korrupter, aber hinreichend proletarisch infizierter Richter „Azdak“ (Der Kaukasische Kreidekreis, 1940) liefert eine anspielungsreiche Korrektur dieses Befundes. Der Klassenstandpunkt führt hier zu einer neuen Ethik der Entscheidung, deren Problematik die Lehrstücke (um 1930) längst radikaler reflektiert hatten. Zur „Tragödie des Spiels“, die Brechts Lehrstücke in Szene setzen, vgl. Menke 2005, 142ff.
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kiert er den Beginn eines Zeitalters, das die alten Probleme hinter sich gelassen und die Voraussetzung für eine neue Ordnung geschaffen hat, andererseits signalisiert er den Ausbruch einer tiefen Krise, die ungeahnte Erschütterungen mit sich bringt. Auch die Kategorien Tragik und Komik bzw. die Gattungsbezeichnungen Tragödie und Komödie geraten in den Sog dieser begrifflichen Doppelbelichtung des geschichtlichen Umbruchs. Ebenso berühmt wie berüchtigt ist Hegels Auffassung: Die Vernünftigkeit moderner Institutionen und die Reflexionspotenziale des Subjekts bringen Tragik zum Verschwinden und verwandeln Komik in eine Stimmung, die sich im Zuge einer heiteren Rückschau auf überwundene Entwicklungsstufen einstellt, deren Beschränktheiten man im Nachhinein buchstäblich mit Nachsicht betrachten kann, weil Katastrophen, Irrtümer und Dummheiten jetzt als notwendige Ingredienzen des Reifungsprozesses erscheinen.18 Gegen diese ‚optimistische’ Sicht lassen sich ‚düstere’ Bilder über den Eintritt in die so genannte Moderne ins Feld führen: Eine forcierte ästhetische Reflexion legt die „permanente Revolution des Theatralischen“ frei, „die als Abgrund der Modernitätserfahrung die Moderne begleitet und Lust-, bzw. Trauerspiel von antiker Komödie bzw. Tragödie kategorisch trennt.“ (Müller-Schöll 2006, 55) Das Trauerspiel dekonstruiert „die idealistische Tragödie mit ihren konstitutiven Elementen des Helden, der schicksalhaft untergehen muss und in seinem Untergang die neue, durch dieses Opfer geprägte Gemeinschaft stiftet.“ (Müller-Schöll 2003a, 84) Im elegischen Zeremoniell des Trauerspiels wird die Kreatur in ihrer Nacktheit und Endlichkeit auf die Bühne gestellt und kein existentieller Sinn entborgen. Das Lustspiel hingegen ermöglicht eine basale „Erfahrung, die in nichts anderem als dem Zusammenbruch der Erfahrung und insofern auch in einem Zusammenbruch aller geläufigen [d.h. rationalistisch gefärbten] Vorstellungen (von Moderne) liegt.“ (Müller-Schöll 2003b, 300) Damit schafft das Lustspiel eine tabula rasa, auf deren leerer Fläche (vielleicht) eine andere Welt erbaut werden kann, die ohne eine gewisse Lust am Untergang des Alten gar nicht entstehen könnte. Beide Versionen der Moderne – sowohl die optimistische als auch die pessimistische – verbleiben im Rahmen einer Deutung, die das Handeln als Aktivität bestimmt, die letztlich auf die Befolgung oder Verletzung von Normen ausgerichtet ist. Sozialer Wandel erscheint dann als Prozess, in dessen Verlauf normative Ordnungen ohne Unterlass und auf vielfältigste Weise aufgebaut, befragt, angegriffen, verteidigt, umgeformt, zerstört und neu erstellt werden. Ertragreich ist die Analyse des tragischen und komischen Umgangs mit Normen – speziell mit Rechtsnormen – freilich erst dann, wenn die bereits erprobte Unterscheidung von Inhalt und Form auch für die Beobachtung der Moderne fruchtbar gemacht wird. Die forschungsrelevante Frage lautet daher zunächst einmal: Welche inhaltlichen Konflikte um Normen und Werte lassen sich als tragische Kollisionen bestimmen? Die klassische Tragödie der Kollision (von Rechtsinhalten) – so lautet die These, die Menke (1996, 242ff.)19 im Anschluss an die Analysen von Charles Taylor
18 Der junge Hegel hatte noch mit dem Gedanken gespielt, die unhintergehbare Härte der modernen Wirklichkeit als „Opfer ans Anorganische“ zu beschreiben und diesen Vorgang unter den Begriff „Tragödie im Sittlichen“ zu subsumieren. 19 Habermas hat die Existenz dieser Aporie von „politischer Gerechtigkeit“ und „individuellen Wertorientierungen“ bestritten: Menke unterschlage, so lautet sein Einwand, die demokratischen Verfahren der Gesetzgebung und „vernachlässige den dialekti-
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vertritt – verwandelt sich unter Bedingungen der Moderne in den tragischen Konflikt zwischen Freiheit und Gerechtigkeit, zwischen politisch rechtlicher Autonomie und individueller Authentizität. Diesem Konflikt scheint aber die für den Tragik-Begriff charakteristische Schärfe und Dramatik zu fehlen. Ein rascher Blick auf zwei berühmte soziologische Tragik-Modelle, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entworfen wurden, macht das deutlich. Zudem kommt die auffällige Korrespondenz von Figuren des Tragischen und des Komischen zum Vorschein. Erneut bestätigt sich die Vermutung, dass Tragik und Komik semantische, vielleicht sogar siamesische Begriffszwillinge sind: Max Weber entwirft ein grandioses Bild vom tragischen Kampf zwischen unvereinbaren (elementaren) Werten, deren Kräfte durch die Errungenschaften der Neuzeit gebrochen schienen, nun aber durch unaufhaltsame Entwicklungsprozesse, die die Ohnmacht aller rationalen Entscheidungskriterien beweisen, neu entfesselt werden. Dieser Präsentation der Moderne als welthistorisches Drama treten die Vertreter des modernen Relativismus entgegen und setzen die Komödie des vollkommen nichtigen Streits um beliebige Wertsetzungen mitunter arrogant und zuweilen ‚dadaistisch’ in Szene.20 Georg Simmel verlagert den Ort des tragischen Konflikts. Es geht nicht mehr um inhaltliche Auseinandersetzungen, sondern um den Streit zwischen Inhalt und Form. Er spricht folglich vom tragischen Widerspruch, in den Leben und Form sich verstricken: Ein kulturell gehaltvolles Leben kann sich nur in Formen äußern, deren paradoxer Nebeneffekt darin besteht, die Dynamik des Lebens zu blockieren. Im Kontrast dazu steht Bergsons Theorie des Komischen: Wenn es den sozialen Formen tatsächlich gelingt, das menschliche Leben derart zu verfestigen, dass es zum Automatismus wird, dann stehen Heilkräfte zur Verfügung: Es kommt nämlich zu komischen Effekten, die die Mechanik des Daseins mit geradezu brutaler Energie sprengen und die betroffenen Personen, die sich lächerlich gemacht haben, wieder in den Fluss des sozialen Lebens integrieren. Während die kraftvollen Modelle von Weber und Simmel kaum noch zu überzeugen vermögen, bleiben die filigranen Vorschläge von Taylor und Menke eher blass. Man gewinnt den Eindruck, dass die Versuche zur Bestimmung einer spezifisch modernen Tragik (und Komik) selbst auf tragische oder komische Weise scheitern. Weicht dieser Eindruck, wenn man sich die Aufgabe stellt, zur antiken Tragödie der Rechtsform ein modernes Pendant zu finden? Menke vertritt (wie bereits erwähnt) die Auffassung, dass die Tragödie des Urteils, deren Struktur sich anhand des Ödipus-Stoffes explizieren lässt, auch noch unter Bedingungen der gegenwärtigen Erlebnis-, Wissens-, Informations- oder Kontrollgesellschaft zur Entfaltung kommt; denn die tragische Ironie, die alles Handeln und Urteilen betrifft, das auf Normen bezogen ist, verschwindet nicht automatisch im Zuge des sozialen Forschritts. Diese Generalisierung ebnet freilich den Unterschied zwischen Normen des Rechts und der Moral ein. Zumindest im Bereich des Rechts macht sich der tragische Sog nicht in der von Menke unterstellten Wucht geltend. Dies liegt nicht zu-
schen Zusammenhang zwischen privater und staatsbürgerlicher Autonomie.“ (Habermas 2005, 297 u. 299) 20 Der Relativismus löst also den inneren Zwiespalt der Normativität – die Unverträglichkeit von Vielfalt und Unbedingtheit (vgl. Menke 2005, 212) – auf und versteht die Vielfalt als Indiz für anspruchslose Gleich-Gültigkeit.
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letzt an der Ausgestaltung moderner Rechtsverfahren.21 Die Einfallstore für Tragik sind durch juristische Vorkehrungen entschärft. In seinem Buch Gesetz und Urteil von 1912 hat Carl Schmitt (ganz im Unterschied zu seiner späteren Lehre) aufgezeigt, dass modernes Urteilen sich stets an weitere und ggf. höhere Instanzen richtet. Der Zusammenhang zwischen Sachverhalt und Urteil ist gelockert. Urteilen erweist sich als eine kommunikative Praxis, die sich nicht auf den Akt der Dezision reduzieren lässt. Andere kundige Personen müssen die Argumente, die getroffenen Entscheidungen usw. verstehen, akzeptieren und absegnen. Das Problem der Subjektivierung des Rechts, dem Sophokles im König Ödipus soviel Aufmerksamkeit gewidmet hat, ist durch Entwicklung präziser Intersubjektivierungs-Regeln strukturell gelöst. Die Quellen der Tragik des rechtlichen Urteilens sind damit gewiss nicht völlig ausgetrocknet22, aber sie sind nicht mehr die Orte, an denen die für moderne Verhältnisse typische Tragik entspringt. Von der ‚Tragödie des Urteils’ lässt sich – streng genommen – nur noch im Bereich der moralischen Reflexionen und Entscheidungen sprechen. Das räumt auch Menke ein, wenn er betont, dass der „Exzess des Urteilens“ kein rein rechtliches Problem ist, weil er „sich im Moralischen, nämlich in der Selbstverurteilung abspielt.“23 Solche Akte der Selbstverurteilung lassen sich aber unter Bedingungen der Moderne schwerlich aus der inneren Logik des Vollzugs moralischer Urteile herleiten. Nicht nur die Formanalyse des Rechts, sondern auch die Formanalyse der Moral hat prozedurale Schichten freigelegt, die das moralische Urteil an Intersubjektivität knüpfen und damit diejenigen Grundstrukturen auflösen, welche einer exzessiven Subjektivierung des Urteilens Vorschub leisten. Zwanghafte Selbstverurteilung scheint deshalb heute primär als ein Nebenprodukt des von Menke beschriebenen inhaltlichen Konflikts zwischen Autonomie und Authentizität zu entstehen: Man erkennt im Krisenfall schlagartig die Unvereinbarkeit beider Gesichtspunkte und wirft sich rückblickend eine naiv kompromisslerische oder eine verblendet einseitige Lebensführung vor.24 Diese Relativierung der tragischen Implikationen der Urteilsform berührt aber nicht den Kern von Menkes Analyse. Zeitdiagnostisch bedeutsamer ist ohnehin die These, dass in der Gegenwart die Tragödie des Urteilens von der Tragödie des Spiels überlagert wird. Der Begriff ‚Spiel’ meint hier nicht allein Handlungen in einer ausdifferenzierten und von alltäglichen Zwängen und Anforderungen freigesetzten ästhetischen Sphäre, er meint generell den Vollzug einer Reflexion, durch die das (autonome) Subjekt sich zu seinen eigenen Zielen und Aktivitäten distan-
21 Die antiken Rechts-Komödien zerstören (wie oben erläutert) die Illusion, dass das Recht als vernunftmäßig gestaltete Überwindung von Rache, Sühneritual, Ordal, Orakelspruch etc. zu verstehen ist, und zeigen die Schwächen der Rechtssetzung und Rechtsanwendung auf. Anders als in der Moderne (vgl. Luhmann 1969b) haben Rechtsverfahren in der Antike noch keine Eigenlegitimität gewonnen und können deshalb durch das Mittel der Komik bloßgestellt und mit der heilsamen Idee des guten Richters konfrontiert werden. 22 Man denke etwa an die Debatte über die ‚tragische Wahl’ im Kontext der so genannten „Rettungsfolter“. Es sind Situationen denkbar, in denen „die Welt nicht mehr im Rahmen des Rechts gerettet werden (kann), sondern nur noch durch jemanden, der bereits ist, diesen Rahmen zu überschreiten und die damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen zu tragen.“ (Poscher 2006, 75) 23 Menke: Brief vom 13. 2. 2006. 24 Mit dieser Interpretation ließe sich eine Brücke zwischen Menkes Aussagen über die „Tragik der Moderne“ (1996, 242ff.) und seinen Überlegungen zum tragischen „Exzess des Urteils“ (2005, 13ff.) schlagen.
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zierend, ausprobierend, das heißt mit Blick auf andere Möglichkeiten verhält. Eine ästhetische Komponente hat diese Reflexion, weil ihr Begriff von Freiheit und Disponibilität in der Analyse ästhetischer Praxis gewonnen wird. Speziell das Spiel des Theaters dient als paradigmatische Vorgabe, weil es das Versprechen impliziert, einen „Spielraum der Freiheit von normativen Orientierungen“ (Menke 2005, 212) zu eröffnen. Das Spiel verwandelt sich (als Element der Lebenspraxis) jedoch in ein tragisches Geschehen, sobald es die unhintergehbaren, nicht ludisch auflösbaren Voraussetzungen des ästhetisch verfassten Reflektierens und Handelns verleugnet. Dann können nur noch elaborierte Formen des (Theater-)Spiels – nämlich Metatragödien – Erkenntnis stiften und den verblendeten Akteuren die fatale „Ohnmacht des Spiels“ vor Augen führen.25 Ist dieser Befund nun aber das letzte Wort der Theorie? Oder tritt der ‚Tragödie des Spiels’, die sich dem Ernst des Lebens verschrieben hat, eine Praxis entgegen, die sich als ‚Komödie des Spiels’26 bezeichnen ließe?
IV. Zwischenbetrachtung über tragische und komische Ironie Tragische Ironie zeigt sich (aus der Warte der Zuschauer, die das dramatische Geschehen verfolgen und die Differenz zwischen der objektiven Situation des Helden und seiner Einschätzung der Lage bemerken) daran, dass der Held sein Scheitern durch eigenes Zutun herbeiführt. Der ironische Zug des Geschehens beruht auf der Gegenintentionalität von Handlungseffekten. Im Rahmen einer tragischen Konstellation kann der Held seinen Untergang jedoch gar nicht vermeiden. Seine Freiheit, die sich im Widerstand gegen die schicksalhafte Fügung manifestiert, besteht einzig und allein im Vermögen, den Untergang zu verzögern, gleichsam einen Aufschub zu erwirken. Die Ironie, der die Tragödienhandlung ihre Helden aussetzt, ist deswegen (streng genommen) nur eine halbierte Ironie. Denn die Tragödie – und das macht ihre Faszinations- und Provokationskraft aus – rechnet Handlungen (und ihre gegenintentionalen Effekte) nicht vollständig auf die Akteure zu. Sie zeigt Handlungen vielmehr als emergente Phänomene auf. Lange bevor paradoxe Formeln – wie etwa Bernard Mandevilles Gleichung: „private vices are public benefits“ – aufkamen, entwirft die Tragödie ein Modell der Kombination von spezifischen Handlungselementen, deren Verbindung eine Art Überdeterminierung hervorbringt. Zugleich wird vorgeführt, dass die Widerstandsakte des Helden keineswegs sinn- und aussichtslos sind: Sie ändern zwar letztlich nichts am Scheitern des Subjekts, bringen aber das Subjekt überhaupt erst zur Entfaltung. Die Zeit des Aufschubs, die der Widerstand schafft, ist in einem emphatischen Sinne die Zeit des Subjekts. 25 Die sprichwörtliche ‚Spaßgesellschaft’ lässt sich aus dieser Warte als Beispiel für „die moderne Illusion, im Spiel einen Ausweg aus der Tragik gefunden zu haben“ (Menke: Brief vom 13. 2. 2006), betrachten. 26 Die Aufgabe einer solchen ‚Komödie des Spiels’ bestünde darin, Zweifel zu säen an der notwendigen Wiederkehr der Tragik, die aus dem Scheitern des romantischen Spiel-Projekts resultiert. Sie müsste darüber hinaus nicht allein die neue TragikRhetorik als Ausdruck der Sehnsucht nach Härte, Schwere, Tiefe, Pathos und Schmerz entlarven, sondern auch einen alternativen, medienbasierten Begriff des Spiels entwickeln.
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Solche dramatisch in Szene gesetzten Freiheitsdemonstrationen versetzen den Betrachter in eine merkwürdige Lage. Dies hat die Tragödien-Theorie immer wieder hervorgehoben. Ein „Keim von Ungewissheit“ kommt – wie Ricoeur treffend bemerkt – zur Erscheinung. „Der Zuschauer [...] kennt die Geschichte, sie ist abgelaufen, [...], und dennoch erwartet er, dass durch das Zufällige, durch die Ungewissheit der Zukunft, sich die Gewissheit der absoluten Vergangenheit als neues Ereignis zutrage: jetzt ist der Held gebrochen.“ (Ricoeur 1971 [1960], 252)
Damit erweist sich die tragische Ironie des gezeigten Geschehens selbst als doppelt codiert und ‚gebrochen’: Einerseits besteht sie aus der Beteiligung des Helden an seinem Untergang, andererseits aus dem Bewusstsein des Betrachters, dem sich (im Unterschied zum Akteur) die latenten Bedeutungen der gesprochenen Worte erschließen. Das Mehr-Wissen des Zuschauers füllt gleichsam die Zurechnungslücke, die die Handlungen des Heroen aufreißen. Was aber löst diese Einsicht beim Betrachter aus? Ist es wirklich Furcht und Mitleid, Jammer und Schauder, Schmerz und Empörung, Erregung und Schrecken? Kann überhaupt mit kathartischer Affektabfuhr bei Betrachtern gerechnet werden, die Ursache und Wirkung von Handlungen sowohl dem Helden als auch externen Mächten zurechnen? Wohl kaum! Es sei denn, Katharsis gewinnt eine neue Bedeutung.27 Ob man den nicht-intentionalen Anteil des Handelns auf Moira, auf den undurchschaubaren Willen des Zeus, göttliche Stimmungen wie Zorn oder Eifersucht, das Sein als solches oder die rätselhafte Emergenz von menschlichen Interaktionen schiebt, hängt von den historischen und kulturellen Bedingungen ab und ist letztlich nicht entscheidend. Scheler hat dies gesehen und die These vertreten, dass ein verständiger Betrachter tragischer Ereignisse (im Leben wie in der Kunst) „eine geistige Kühle“, „eine besondere Art von Friede und Gelassenheit“ empfindet. Er erkennt die „Unabänderlichkeit und Unabwendbarkeit der Wertevernichtung“. Kein „Schmerz“ und keine „begleitenden Leibempfindungen“ sind die Folgen, sondern „Resignation, Befriedigung und eine gewisse Art von Versöhnung.“ (Scheler 1919, 246f., 250ff.) In der Komödie liegen die Verhältnisse anders. Auch komische Ironie bezieht sich auf die Gegenintentionalität menschlicher Aktivitäten und betrifft das Scheitern von Handlungen ebenso wie ihr Gelingen.28 Doch die Zurechnung der Ursachen, die den komischen Helden scheitern lassen, erfolgt nicht nach dem Muster der tragischen Ironie. Denn der komische Held ist bereits Subjekt, ist bereits Träger von Freiheitspotenzialen. Was die komische Handlung vorführt, lässt sich als Prozess beschreiben, in dessen Verlauf der Held sein Startkapital verspielt. Ob ihm sein Körper in die Quere kommt oder seine Triebe mit ihm durchgehen, ob technische Geräte, die er bedient, sich auf Knopfdruck verselbständigen, ob er das Opfer von Missverständnissen oder Verwechselungen wird, ob er Normen und Regeln übererfüllt oder gar nicht zur Kenntnis nimmt, er büßt stets etwas ein, das er (und sei es nur virtuell) schon besitzt: Er verliert den Überblick, die Kontrolle, die Beherrschung, das Wissen.
27 Vgl. Blumenberg 1997, 90ff. 28 Als Beispiele dienen gewöhnlich Fälle von geradezu unverschämtem, unwahrscheinlichem Glück, das die Betroffenen überwältigt.
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Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung von tragischer und komischer Ironie stellt sich nun die Frage, welche Rolle die Ironie im Kontext neuer Gestalten des Tragischen und Komischen noch zu spielen vermag.
V. Post-normative Komik (und Tragik) Solange Normativität der entscheidende Bezugspunkt ist, kann der historische Wandel des Tragischen und Komischen nur als Verschiebung auf einer Achse beschrieben werden, die zwischen zwei kontrastierenden Bedeutungen des Tragischen bzw. Komischen angesiedelt ist. Das Verständnis des Tragischen (als normativer Anspruch) reicht von der Vorstellung, dass Opfer für die Aufrechterhaltung oder Neukonstitution der menschlichen Wertegemeinschaft notwendig und daher auch sinnvoll sind, bis hin zur Idee, dass jedes katastrophale Geschehen ein kontingentes, absurdes Ereignis ist, das als solches erkannt und heroisch ertragen werden muss. Die normative Spannweite des Komischen lässt sich daran ermessen, dass „körperliche oder intellektuelle Fehlleistungen“, die mit den geltenden Normen nicht übereinstimmen und dringend korrigiert werden müssen, ebenso komisch sind wie politische Witze, die „die fragwürdige Verfasstheit der gesellschaftlichen Norm selbst“ ins Visier nehmen. (Kreuder 2005, 171f.) Als unzureichend erweisen sich diese beiden semantischen Differentiale, sobald es darum geht, soziale Verhältnisse auf den Begriff zu bringen, in denen Normen und Werte ihre handlungsleitende Funktion einbüßen. Denn die Effekte eines solchen Funktionsverlustes lassen sich weder durch tragische noch durch komische Restaurationsmodelle kompensieren. Und auch die bekannten Figuren tragischer Kontingenzaffirmation oder komischer Generalskepsis sind der spezifischen Neuartigkeit der aktuellen Lage nicht gewachsen. Heute sagt „uns kein moralisches Gesetz und keine Tradition mehr, wer wir zu sein haben und wie wir uns verhalten müssen.“ (Ehrenberg 2004, 171f.) Die Kraft der Verbote und die Macht der Disziplinierung durch die klassischen Sozialisationsinstanzen (Elternhaus, Kindergarten, Peer-Group, Schule, Militär, Büro, Fabrik etc.) schwinden. Gehorsam muss kaum noch geleistet werden, sondern permanent sind Entscheidungen zu treffen, deren Kriterien sich nicht mehr durch Rekurs auf verinnerlichte Normen gewinnen lassen. Persönliche Initiative und die Fähigkeit zur Selbstmotivation sind gefragt. Es liegt auf der Hand, dass diese schwierige Konstellation als Quelle für eine neue Tragödie der Überforderung und Erschöpfung des Subjekts interpretiert werden kann. Eine beachtliche Anzahl theatralischer Experimente, in denen eine solche Lesart auf ihre Bühnenwirksamkeit getestet wird, gibt es bereits.29 Ihr Ziel besteht darin aufzuzeigen, wie und warum das Projekt des neuen Individualismus sich im Zuge seiner Entfaltung selbst ad absurdum führt. Die aktuellen Verhältnisse lassen sich aber auch anders deuten: Dass es heute an klaren Vorschriften mangelt, die den bestehenden Bedarf an Handlungsorientierungen decken können, ist nicht per se ein Anzeichen für eine fatale Lage. Vielmehr schafft die veränderte Situation Raum für alternative Möglichkeiten, die leistungsfähige Orientierungen bereitstellen, ohne Normen und Werte in Anspruch zu nehmen. Deren hergebrachte Aufgaben können nämlich auch durch Daten, die
29 Vgl. hierzu Kapitel 8 „Die Krise der Repräsentation“.
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gleichsam als Nachschriften von Verhalten die erforderlichen Informationen und Entscheidungshilfen liefern, übernommen werden. Statistisches Material, das zu Normalverteilungskurven aufbereitet ist, erhält nun eine regulative Funktion. Es ist nicht zu übersehen: Die Gegenwartsgesellschaft ist eine sich selbst durch Experten beobachtende und verdatende Gesellschaft. Und diese Daten geben den Individuen die Chance, sich an griffigen Befunden zu orientieren und selbst zu bestimmen, welche Positionen sie innerhalb der Kurvenlandschaften gegenwärtig einnehmen und zukünftig einnehmen wollen. Es entsteht ein Typus des Subjekts, das als ‚flexibler Normalist’ sein Dasein gestaltet.30 Individuelle Wahlfreiheit und lebenspraktischer Konformismus lassen sich jetzt auf effiziente Weise verknüpfen. Der flexible Normalist entwickelt eine Form des Selbstbewusstseins, die ihn gegen übersteigerte Ansprüche ans eigene Ich immunisiert. Er lässt sich nämlich auf Erfahrungen ein, die den Umgang mit medial aufbereitetem Wissen und den sich daraus ergebenden Optionen als denkbar ernüchternde Angelegenheit kenntlich machen: Wo auch immer er sich in der Datenlandschaft positioniert, alle Stellen sind schon besetzt, jede Rolle ist schon gespielt. Authentizität und Einmaligkeit scheint es nicht zu geben. Außergewöhnlichkeit ist zu einer rein quantitativen Bestimmung geworden. Man kann im Grunde nur etwas bereits Vorhandenes wiederholen.31 Der Ehr-
30 Vgl. Link 1996; Ellrich 2007; siehe auch den Anhang S. 123f. – Soziologen und Philosophen (sogar die Anwälte des common sense) registrieren nur zögerlich, dass sich bei den Mitgliedern spätmoderner Gesellschaften Formen der Selbstreflexion gebildet haben, die ohne den (sei es affirmativen, sei es kritischen) Bezug auf die so genannte ‚Normalität’ des eigenen Erlebens und Verhaltens nicht auskommen. Autoren fiktionaler Texte haben in diesem Punkt weniger Probleme und können ohne weiteres aufzeigen, welche Rolle die Frage nach der ‚Normalität’ in den aktuellen Konzepten der Selbstfindung und Selbstbestimmung spielt. So stellt etwa der männliche Protagonist in Richard Fords Erzählung The Womanizer nach dem Vollzug eines ehelichen Geschlechtsverkehrs bemerkenswerte Überlegungen an: „... in all it took nine minutes, start to finish. He wondered bleakly if this was of normal or less than normal duration for Americans his and Barbara’s age.” Martin Austin, der postheroische Frauenheld, richtet diese Frage nicht an einen göttlichen oder teuflischen Beobachter, sondern an das eigene Ich. Durch einschlägige Publikationen (Kinsey, Hite etc.) oder sonstige Medienkundgaben, die statistisches Material über nordamerikanisches Sexualverhalten (angeordnet nach Geschlecht, Alter, Religion, ethnische Zugehörigkeit etc.) darbieten, ist er hinreichend über die Sachlage informiert und gibt sich selbst eine lakonische Antwort: „Less he supposed.“ (1997, 32) Fords fiktive Figur könnte man als exemplarische Verkörperung des ‚flexibel normalistischen Subjekts’ im Sinne von Jürgen Link betrachten. An ihm treten die besonderen Kompetenzen dieses Typs (Mobilität, Nervosität, Orientierungsbedarf, Kommunikations- und Reflexionspotenziale) ebenso hervor wie seine Anfälligkeit für desaströse Verstrickungen, die keine tragische Dimension mehr besitzen, sondern eher ‚predicaments’ darstellen, an denen man mit Freud die Signaturen des ‚normalen Unglücks’ moderner Menschen ablesen könnte. Martin Austin lebt in einer komplexen, hoch differenzierten Gesellschaft, die sich durch Unübersichtlichkeit auszeichnet und ihren Mitgliedern ein extrem weites Feld voller Chancen und Gefahren eröffnet. Der erhebliche Steuerungsbedarf, den eine solche Gesellschaft aufweist, wird nicht allein durch den gesteigerten Einsatz von Mitteln gedeckt, die das Verhalten der Individuen explizit normieren, sondern auch durch die Entwicklung von para- und transnormativen Orientierungskonzepten, welche den Einzelnen die Möglichkeit geben, sich (auf der Basis medial zugänglich gemachter Daten) mit anderen Personen zu vergleichen und eine Wahl zu treffen, die nicht durch Vorschriften moralischer oder rechtlicher Art determiniert ist. 31 Zur Komik der Wiederholung vgl. Zupancic 2005.
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geiz, sich dort einen Platz zu erobern, wo noch nie jemand gewesen ist, wird durch die präsentierten Datenlandschaften eher gedämpft als angestachelt. Damit trägt der praktizierte Normalismus zur Entschärfung eines Problems bei, das dem modernen Individualismus innewohnt. Friedrich Hebbel, der Autor durch und durch bürgerlicher Tragödien, hat es unverblümt ausgesprochen: Menschen, die über freien Willen verfügen, wollen sich selbst ausdehnen und überschreiten dabei zwangsläufig jedes Maß.32 Im Kern des handlungsmächtigen Subjekts steckt mithin eine schicksalhafte Anlage zur Selbstdestruktion, die nur durch komische Gegenkräfte an ihrer Entfaltung gehindert werden kann. Tragödien propagieren – wie Robert Pfaller herausgestellt hat – zumeist „ein Ideal-Ich“, während Komödien für Situationen sorgen, in denen der Betrachter die Möglichkeit erhält, den „Besetzungsaufwand, der mit der Aufrechterhaltung“ des Ich-Ideals verbunden ist, regelrecht „abzulachen“. (Pfaller 2002, 195) Im Lichte dieser Definition erfüllt der flexible Normalismus offenbar die Funktion gelungener Komödien. Freilich kann mit einer solchen Klassifizierung der Eigensinn der post-normativen Komik noch nicht erfasst werden. Er kommt nämlich erst dann zum Vorschein, wenn man das besondere Verhältnis des flexibel normalistischen Subjekts zur Statistik (qua Repräsentation aller anderen Mitglieder der Gesellschaft) in Betracht zieht. Die Differenz zwischen der Komik, die in einer normativ geprägten Gesellschaft vorherrscht, und der Komik, die für normalistische Verhältnisse charakteristisch ist, lässt sich vielleicht unter Rekurs auf René Girards Komikbegriff präzisieren. Girard hat die Wirkung von Komödien auf den Umstand zurückgeführt, dass sie uns eine unverzichtbare Lektion erteilen: „All unsere Handlungen, Gedanken und Begierden werden gänzlich von Schemata beherrscht, die wir nicht selbst geschaffen haben und die wir niemals vollkommen zu deuten wissen.“ (Girard 2002, 200f.)
Der Schrecken, den diese Einsicht auslöst, muss aber nicht dazu führen, dass wir (sobald der Schock sich unter kräftiger Beihilfe des Lachens gelegt hat) frohgemut das Heil in normativen Ordnungsvorstellungen suchen, die im Ruf stehen, uns vor solchen Wahrnehmungen des Entfremdetseins bewahren zu können. Die Macht entsubjektivierter Schemata, die radikale Komödien ihren Betrachtern vor Augen führen, erhält jedoch eine andere Note, wenn die Gesellschaft Institutionen kreiert, die die unpersönlichen Register in eine soziale Selbstbeschreibung bzw. in eine umfassende Verdatung des faktischen menschlichen Verhaltens übersetzen. Die zugleich beklemmenden und zum Lachen reizenden Schemata verwandeln sich auf diese Weise in nützliche Orientierungsfelder ohne normative Zwänge und Vorgaben. Zwar schwindet damit jenes für ‚tiefe’ Komik so charakteristische Unbehagen keineswegs völlig, aber es wird mit dem Aroma der Freiheit versehen und bildet dann eine Gegenkraft zu den anonymen Strukturen, denen wir möglicherweise vollständig ausgeliefert sind. Die post-normative Komik zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, dort Chancen zur Selbstbestimmung zu eröffnen, wo scheinbar nur soziale Vorschriften eingehalten oder nur Anpassungsleistungen vollzogen werden. Flexible Normalisten verfügen über ein Programm, mit dessen Hilfe sich nicht allein die modernen Pathologien der Selbst-Idealisierung abschwächen lassen, sie wissen auch, wie man das Unpersönliche statistisch fundierter Diagramme so nutzen kann, dass ihr individuelles Handeln zum Akt einer (hinreichend) freien Wahl wird. 32 Vgl. Meyer-Sickendiek 2005, 198.
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Hat der flexible Normalist mit seiner Distanz zu Normen und Werten aber auch Abstand zur Tragik gewonnen? An dieser Stelle könnte Botho Strauß, der bekanntlich den antiken Bocksgesängen nachtrauert, das Wort ergreifen und die Frage beantworten: Wer sich an den Datenlandschaften mit ihren Angaben über das Verhalten der anderen orientiert, sich seine individuelle Freiheit als bereichsbezogene Abweichung vom Durchschnitt nimmt und moderat narzisstisch genießt, der weicht allen dionysischen Zuständen aus und zieht das milde Klima des Geschwätzes der schmerzhaften Berührung mit elementaren Gewalten wie Angst und Chaos vor, der lebt – mit einem Wort – sein Leben als schale Form der Tragik-Verweigerung. Ein flexibler Normalist lässt sich von solchen Reden natürlich nicht beeindrucken. Er spielt lieber die Rolle einer komischen Figur, die die Morgenluft der Freiheit wittert, wo vielleicht nur eine raffinierte und kaum durchschaubare Kontrolle besteht, als die Rolle eines tragischen Helden, der sich für höhere Werte zu opfern glaubt und nicht in Betracht zieht, dass er möglicherweise für nichts und wieder nichts in die Schranken tritt. Pascals Wette, die ein Spiel ist, dessen vernünftige Regeln durch unser Wissen über das Unwissen diktiert werden, muss in der spätmodernen Gesellschaft offenbar neu formatiert werden. Es geht nicht mehr um die Existenz Gottes, sondern um die Existenz persönlicher Freiheit. Wer wettet, kann sich verrechnen, aber nicht länger selbst unterlaufen. Denn er kennt die Risiken nur zu genau. Damit entfallen – so will es zumindest scheinen – die Ansatzpunkte für tragische und komische Ironie gleichermaßen. Immerhin hat die Komödie des Spiels eine Form gefunden, die der Tragödie des Spiels Paroli bieten kann.
Anhang Notiz zur normalistischen ‚Medienmentalität’ Die flexibel-normalistische Mediennutzung ist das Resultat einer typisch modernen Erfahrung: Sowohl die ‚äußere’ Welt der Dinge, Ereignisse und Mitmenschen, als auch die ‚innere’ Welt der Affekte, Intentionen und Bedürfnisse erscheinen den Subjekten als unübersichtliche und verstörende Felder, die von sich aus keine hinreichend strukturierenden Vorgaben liefern, nach denen man sich unmittelbar richten könnte. Die Medien hingegen stellen mit ihren unterschiedlichen Formaten, die beständig redundantes und neuartiges Material kombinieren, einen Fundus informativer Angaben zur Verfügung, aus dem die Nutzer das jeweils für sie Ergiebige auswählen und beim Aufbau einer eigenen Weltsicht verwenden können. Im Kontext der Mediennutzung wird die Welt operabel und die vormals latenten Verhaltensweisen, Optionen und Meinungen der Mitmenschen kommen zum Vorschein. Zur qualitativen Bestimmung des Vorhandenen und aktuell ‚Gängigen’ treten Angaben über die quantitative Verteilung und Auskünfte über die wahrscheinlichen Erfolgsausichten hinzu, die für orientierungsbedürftige Individuen besonders aufschlussreich sind. Derartige Kenntnisse können aus der unmittelbaren Erfahrung gar nicht gewonnen werden. Erst die medialen Offerten – insbesondere die quantitativ exakte Verdatung der Verhaltensweisen und Meinungen sowie die Errichtung von Testarenen, in denen szenisch aufbereitetes Probehandeln (Gameshows, Talkshows, Reality-Soaps etc.) zu besichtigen ist – erschließen ein Wissen, dessen Verwertbarkeit derart außer Frage steht, dass unangenehme Auswirkungen seines Einsatzes nicht primär der Untauglichkeit des dargebotenen Datenarsenals, sondern den agierenden Individuen zugerechnet werden. Die medialen Angebote erscheinen gerade unter praktischen Gesichtspunkten als alternativlos. Sie allein gewähren angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse die Chance, sich in der Welt überhaupt noch zurecht zu finden. Freilich besteht nach wie vor die Möglichkeit, den Medien Handlungsmuster und Ideen zu entnehmen, bei deren praktischer Umsetzung die Akteure gleichsam an der Welt auflaufen. Aber dieses ‚Scheitern’ stellt einen kalkulierbaren Sonderfall dar, anhand dessen sich leicht nachweisen lässt, dass sich die
124 | VORFÜHREN UND VERFÜHREN Akteure im Vorhinein über die Risiken ihrer Operation hätten ausreichend informieren können. Der flexibel-normalistische Mensch erkennt, dass die Medien etwas bieten, was die ‚direkte’ Begegnung mit der Welt nicht oder nicht mehr gewährt. Er ist mithin weit davon entfernt, seine Lebens- und Arbeitswelt mit den Datenlandschaften und Inszenierungen der Medien zu verwechseln. Er schätzt die Medien als Produzenten einer ebenso umfassenden wie kondensierten Darstellung der modernen Welt, die sich in ihrer Ganzheit, Komplexität und Vielfältigkeit dem Individuum und seinen sichtlich begrenzten Erfahrungsmöglichkeiten immer mehr entzieht. Ein hoher Grad an Medienbewusstheit zählt daher zu den charakteristischen Eigenschaften des praktizierenden ‚Normalisten’. Orientierungshilfen geben ihm die Medien, weil ihr Angebot sich markant von der Welt und das heißt: dem Modus, in dem die Welt als etwas Chaotisches und Ungreifbares hervortritt, unterscheidet. Sie liefern, ohne dies zu verbergen, eine für Handlungszwecke geeignete Konstruktion der (sozialen) Welt. Kraft ihrer technisch-materiellen Qualitäten und ihrer symbolischen Darstellungsmittel sind sie der unmittelbaren Erfahrung der Nutzer zugänglich, während die Welt, so wie sie ‚ist’, nur mehr als Sphäre aufscheint, die allein durch die medialen Präsentationen in eine Sphäre verwandelt wird, in der Subjekte sinnvoll und aussichtsreich agieren können. Mediale Normalisten durchschauen die medialen Konstitutionsleistungen und verzichten gleichwohl auf radikale Fragen: Wie würden sich die Dinge und Ereignisse ohne die mediale Übertragung (also nach Abzug der Medieneffekte und potenziellen Verfälschungen) präsentieren? Wie ist die ‚wahre’ Welt beschaffen? Wie beeinflusst die Machart der Medien die konkrete Welterfahrung? Und in welchem Sinne würde sich die erfahrene Welt ändern, wenn sich im Kontext technischer Innovationen die medialen Verhältnisse ihrer Darbietung wandeln? Gegen diese Fragen und die u.U. mit ihnen verknüpften erkenntnistheoretischen Krisen sind flexible Normalisten immun. Kognitive oder operative Praktiken, in denen die medialen ‚Funktionsmechanismen’ enthüllt werden, lösen bei ihnen keine Irritationen aus, weil ‚wahre’ Aussagen über die Beschaffenheit des ‚Medialen’, die Orientierungsleistung von Medien eben nicht schmälern, sondern deren Akzeptanz als bewundernswerte evolutionäre Errungenschaft zur Bewältigung von Problemen eher verstärken. Die Manifestation der Medien als Instanzen der datenbasierten Strukturierung, Selektion, Reduktion etc., die gleichsam wie ein Schirm zwischen die Welt und die Subjekte treten, kann allerdings die Geltung der Medien nur steigern, wenn die Subjekte Orientierungsleistungen eine höhere Bedeutung zumessen als Wahrheitsfragen. Allein unter dieser Bedingung wird Medienbewusstsein relevant. Denn es geht jetzt darum, die Welt (so wie sie sich unmittelbar aufdrängt) einem Transformationsprozess zu unterziehen, der sie operabel macht, ohne die Mittel, die bei diesem Verfahren eingesetzt werden, in die Latenz zu drücken. Allein schon das ausgeprägte Medienbewusstsein macht immun gegen einen naiven Glauben an die medial präsentierte Welt. Aufklärungskampagnen über die Manipulierbarkeit von Zeichen, Bildern, Statistiken etc. sind deshalb entbehrlich. Die Leistung der Medien wird nicht darin gesehen, dass sie eine fertige Konstruktion der Welt herstellen, sondern dass sie einen übersichtlichen, handhabbaren Satz von Bausteinen zur Eigen-Konstruktion eines sozialen Bezugs- und Handlungssystems liefern. Im Hintergrund dieser flexibel-normalistischen Einstellung steht nicht das ungestillte Begehren, die Welt zu verändern. Hervorstechend ist vielmehr eine auch durch die Reichhaltigkeit des medial zur Verfügung gestellten Materials nicht zu paralysierende Bereitschaft und Fähigkeit zur Entscheidung. Die unvermeidliche Wahl, die sich auf das hinreichend vorstrukturierte Sortiment medialer Daten, Szenen, Testarenen und Diskurse bezieht, ist weniger eine Qual als eine Lust. Appelle, Aufforderungen, Über-Ich-Ansagen und andere normative Insinuationen sind keine notwendigen Voraussetzungen, um sich im Feld der Daten zu positionieren. Denn Medien treten (weder durch direkte Gebote noch durch indirekte Steuerung) in die Fußstapfen erzieherischer Instanzen; sie sind nicht die neuen Verwalter des Sollens. Aus der Warte der flexibel normalistischen Subjekte unterbreiten sie nur Angebote, aus denen die Subjekte sich etwas heraussuchen und zu eigen machen können.
6. D O I T A G A I N , B A U B O ! – AUFGEFÜHRTER FEMINISMUS KOMMENTARE
UND
MATERIALIEN
THEATERSTÜCK REHVUE
ZU
SONJA BREUERS
EN VERRE
„Wer lacht hier, hat gelacht? Hier hat sich’s ausgelacht. Wer hier lacht, macht Verdacht, daß er aus Gründen lacht.“ Günter Grass „Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?“ Friedrich Nietzsche
I. Reden und Agieren Um das Phänomen des Komischen im Allgemeinen und das Rätselhafte des weiblichen Lachens im Besonderen aufzuhellen, bedarf es außergewöhnlicher Maßnahmen. Begriffliche Sondierungen müssen sich ihren eigenen performativen Charakter drastisch vor Augen führen und dürfen auch nicht davor zurückschrecken, das Grenzgebiet zwischen Ernst und Ironie zu betreten. Das 1. Kasseler KomikKolloquium (unter dem Titel: „Haben Frauen nichts zu lachen?“) bot eine gute Gelegenheit, diese Strategie einem Eignungstest zu unterziehen. So hielt ich dort einen ausgesprochen akademischen Vortrag über die Theorie des Lachens. Dies geschah – wie leicht zu bemerken war – mit Absicht und auf Verabredung. Die vollzogenen Sprechakte stellten sich ostentativ in den Dienst der getätigten Aussagen. Ich startete mit zeitdiagnostischen Überlegungen und kam dann auf einige bekannte Ansätze und deren genderspezifische Implikationen zu sprechen. Schließlich skizzierte ich anhand von zwei Figuren aus der griechischen Antike1 Grundzüge 1
Neben dem Baubo-Mythos, der noch ausführlich zu besprechen ist, wählte ich die Geschichte von jener Thrakerin, die über den Philosophen Thales lacht, der beim Betrachten des Sternenhimmels in einen Brunnen fällt. Laut Platon (Theaitetos, 174a) erklärt die „artige [bedeutet hier: hübsche] und witzige thrakische Magd“ dem Philosophen, dass er „was am Himmel wäre, wohl strebte zu erfahren, was aber vor ihm läge und zu seinen Füßen, ihm unbekannt bliebe“. Thrakien ruft – wie Blumenberg notiert – „den Hintergrund einer Welt fremdartiger Götter, weiblicher, nächtlicher, unterirdischer“ (1987, 21) in Erinnerung. Platon unterscheidet offenbar das angenehme Äußere
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des Frauen-Lachens. Gleichzeitig und gegensinnig fand im Saal eine Performance von Sonja Breuer (Tischkultur ist die Fortsetzung des Krieges mit weiblichen Mitteln)2 statt, die unter den ZuhörerInnen und ZuschauerInnen sowohl heftige Abwehr als auch ein vieldeutiges Gelächter hervorrief. Unsere gemeinsame Aktion trug den Titel: Subversives und böses Gelächter – Der unverfügbare und der kontrollierte Körper im Kampf/Spiel der Geschlechter. Sonja Breuer trug ein scharlachrotes Abendkleid und setzte vor aller Augen mit präzisen Handgriffen, die neun lautlosen Taktschlägen folgten, eine Kalaschnikow zusammen. In einer Parallelaktion nötigte und verführte sie die Teilnehmer des Kolloquiums durch energische Gebärden und Befehle dazu, eine komplizierte Technik des Serviettenfaltens zu erlernen und ihre Intelligenz und Fügsamkeit durch ein Probestück zu beweisen, das ebenfalls in neun Arbeitsschritten zu fertigen war. Jedem martialischen Einrasten der Metallteile korrespondierten also viele leise, aber nachdrückliche Bewegungen, mit denen die blütenweißen Tücher zu dekorativen Gebilden geformt wurden. Es ergab sich ein mehrdimensionales Spannungsfeld: die männliche Wissenschaftsrhetorik – der weibliche Körper in Aktion; die emphatische Suche nach Wahrheit – die mit allen Mitteln der Betörung und Bedrohung operierende Macht; die männlich konnotierte Waffe – das im weiblichen Lebensbereich verortete Textil etc. Aber diese simplen Unterschiede verloren im Zuge der Performance ihre Konturen. Der akademische Ernst nahm groteske, das verführerische Spiel ernste Züge an. Zwang und Jovialität, Drohung und Ironie, Disziplin und satirische Auflockerung gingen ineinander über und bildeten schließlich ein unentwirrbares semantisch-gestisches Knäuel. Während der Diskussion über weibliches Lachen, die auf Vortrag und Aufführung folgte, wurden Videoaufnahmen aus einer Inszenierung von Sonja Breuer und Martin Leitner eingespielt. Es handelte sich um das Theaterstück RehVue en verre, in dem die Geste der Baubo – „das erste Beispiel eines wahren Lust-Spiels“, das „eine Frau (für eine Frau)“ inszenierte (Weissberg 2001, 69) – aufgegriffen und in einen aktuellen Kontext eingebettet wurde.3 Es ist bekannt, dass „zahlreiche Mythen und Kulte vom Lachen (erzählen), das die Entblößung der Genitale begleitet.“
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der Magd (den anerkannten Wert des weiblichen Geschlechts) von der männlichen Weisheit. Er will die Magd der Lächerlichkeit preisgeben, weil sie keinen Sinn für die ewigen Ideen besitzt, sondern in ihrer Weltauffassung an der Oberfläche der Phänomene haften bleibt. In späteren Schilderungen tritt die thrakische Magd als boshafte Alte auf. Ihre Kritik am männlichen Philosophen soll auf diese Weise noch entschiedener abgewiesen werden. Die alte Frau gilt in der Literatur von der Klassik bis zur Moderne nämlich als prototypischer Auslöser von Sexualekel (vgl. Menninghaus 1999). Freilich liegt hier eine primitive Form der Misogynie vor. Platons Beschreibung reicht tiefer: Weibliche Anmut mit fehlendem Sinn für philosophische Betrachtungsweisen zu verbinden, impliziert krassere binäre Codierungen als die späteren Karikaturen. Wenn es darum geht, Thales’ Position in antimetaphysischer Manier abzuwerten, so wird die Magd durch einen weisen Ägypter ersetzt (vgl. Cavarero 1992, 57f.). Bei Platon ist nicht allein Thales, sondern auch die Figur des Sokrates dem Gelächter ausgesetzt. Das Lachen wird als Vorstufe für eine Verfolgung geschildert, die schließlich im Todesurteil mündet. Cavarero liest Platon gegen den Strich: „das Lachen der Thrakerin (wird) zum Symbol für eine weibliche symbolische Ordnungsmacht: ein befreiendes Lachen, das die Stärke besitzt, ein philosophisches Denken bloßzustellen, dessen trügerisches Gerüst für aufsehenerregende Einstürze anfällig ist.“ (ebd., 89) Sonja Breuer ist Leiterin des Liebfrauentheaters in München (siehe Homepage) und hat durch eine Reihe ebenso strenger wie radikaler Inszenierungen Aufsehen erregt. Siehe Breuer/Leitner 1999. Ich zitiere künftig ohne weitere Angaben aus diesem Text.
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Baubo genießt besonderen Ruhm, weil sie „durch das Hochheben der Röcke die über den Raub ihrer Tochter in melancholische Depression verfallene Demeter zum Lachen“ bringt. (Jurzik 1985, 32)4 Im Folgenden möchte ich mich mit Sonja Breuers provokanter Anspielung auf die Baubo-Geste auseinandersetzen.
I I . F r au e n w i l d Das Theaterstück RehVue en verre ist – wie es im Programmheft heißt – „ein Frauenstück, genauer Eine subjektive Vermessung des Patriarchats aus dem weiblichen Blickwinkel. Das Stück beginnt mit dem Verrat der Frauen an sich selbst und endet mit der totalen Kapitulation vor dem Patriarchat. Also ist RehVue en verre auch ein realistisches Stück – eine Art illustrierte Bildergeschichte der weiblichen Genealogie. Im Zentrum von RehVue en verre stehen sechs (Reh-)Frauen. Das Frauenwild singt schwierige Partituren, arbeitet wirklich hart, tanzt aufreizend, vollführt Kunststücke, vollbringt wissenschaftliche Höchstleistungen, gestaltet – kurz gesagt – den gesamten Abend. Das Frauenwild ist dabei allerdings so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß es nicht merkt, wie es sich im wahrsten Sinne des Wortes den eigenen Boden unter den Füßen wegzieht.5 Trotz massiver Behinderung durch den ‚Doppelbock‘6 schaffen es die Frauen dennoch bis kurz vor die Ziellinie, hoffend auf Anerkennung für ihre Leistung. Vergebens, denn sobald der Mann, der Clown der Schöpfung, die (Welt-)Bühne betritt, wird er durch einen faulen Trick7 allen Beifall auf sich ziehen.“
Der Höhepunkt von RehVue en verre ist eine mehrfach angekündigte „EreignisSzene: Die Turiner Grabmöse“ (16; 42f.), mit der die Geste der Baubo nicht allein zitiert, sondern auch mit den laufenden feministischen Debatten verbunden wird. Breuer lenkt die Aufmerksamkeit gleich auf mehrere Aspekte des Sujets: 1. auf das grundsätzliche Problem der künstlerischen Darstellung des feministischen Projekts, 2. auf die Bedeutung des Körpers in einer Zeit, in der vom Verschwinden des Köpers, vom Schweigen des Körpers, von der Wiederkehr des Körpers, von der Virtualisierung des Körpers etc. die Rede ist, 3. auf den metaphysisch aufgeladenen Begriff des Nichts, der in den einschlägigen Theorien des Lachens ebenso wie im Diskurs über das Wesen der Frau eine kaum zu überschätzende Rolle spielt, und schließlich 4. auf die christliche Verwertung und Verhüllung eines antiken Mythos, der weibliche Sexualität und weibliches Lachen thematisiert. 4
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Eine ausführliche Untersuchung der Quellenlage und der verschiedenen Interpretationen leistet Gsell 2001. Siehe ferner: Picard 1927; Devereux 1981; Olender 1985; Treusch-Dieter 1986; Franz 1987; Koepping 1987; Lubell 1994; Weissberg 2001. Die Frauen bewegen sich nämlich auf 1242 Schubladen, die zu Beginn des Stückes (in 27 Reihen und 46 Spalten angeordnet) wie ein Parkettboden auf der Bühne verlegt sind. Im Verlauf des Abends werden diese Schubladen (mehrfach!) in einen Schrank mit 1242 Fächern, der die Rückwand der Bühne bildet, eingeordnet und wieder herausgezerrt. Diese Figur steht im Zentrum des Stücks und vertritt mit äußerster Radikalität (oft typisch männlich und aggressiv) die ambivalente Position der weiblichen Emanzipation. Die Frau erscheint hier als duplizierter Bock, der zugleich Selbstbezüglichkeit, Überdeterminierung und weibliche Maskerade (vgl. Weissberg 1994) repräsentiert. Dieser „faule Trick“ wird später noch erläutert.
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Vorbereitet wird die „Ereignis-Szene“ durch drei Präludien. Zunächst durch eine Untersuchung, in der die Frauen im buchstäblichen Sinne ihr „Anderssein“ im Bereich der ‚Kulturindustrie‘ „kritisch unter die Lupe nehmen“ (13-17), sodann durch gemeinsames Lachen und Weinen (25-28) und schließlich durch eine theatralische Meditation über das, was man sieht und nicht sieht, wenn geradezu alles gezeigt wird. (40-43)
I I I . K u n s t u n d K u l tu r Zum Auftakt des ersten Präludiums fragt der Doppelbock sich und die Rehe, ob das, was sie „hier machen, Kultur ist, oder Kunst, oder vielleicht keines von beiden“. Daraufhin befreien die Rehe eine in der Bühnenmitte platzierte große Linse (Durchmesser 130 cm) von ihrer Abdeckung und ziehen sie an Seilen in die erforderliche zentrale Position. Der Blick der Zuschauer ist jetzt fokussiert und geschärft, die klinisch-metaphysische Untersuchung kann beginnen: „Fangen wir bei der Künstlerin an. Was macht sie im Vergleich zur Kulturschaffenden anders? Was unterscheidet die beiden voneinander? Die originale Künstlerin verlässt das Bekannte und das Können und setzt den Schritt ins Unbekannte. Sie ist eine Forscherin. Sie stößt bis zum Nullpunkt vor. Hier beginnt ihr wahrhaftiger Zustand. Hemmung und Befangenheit sind ihr fremd. Sie vertraut auf ihre Mitte. Das bis dahin Unbekannte, vor dem sie bei Beginn eines Werkes steht, wirft sie nicht zurück, sondern es erscheint ihr nahezu verheißend. Durch Mut, Phantasie und Talent sondert sie sich ab vom Bekannten und gerät dabei oft ins gesellschaftliche Aus. Nichts ist ihr dissonant. Sie kann und muß warten, bis ihre Dissonanz, ihr Unbekanntes von heute, zur Harmonie von morgen wird. Sie selbst ist ein Organ des Weltganzen, dem sie sich verantwortlich fühlt. Sie ahnt die Präexistenz ihrer Arbeit, diese Ahnung öffnet ihren Geist und ihren Körper, macht sie bescheiden und wesentlich. Die Widerstände und Vorurteile, die ihr entgegenkommen, bewirken nur, daß ihre künstlerische und menschliche Konsequenz noch dichter wird. Ihre Freiheit entwickelt sich am Hass, der ihr entgegenschlägt. Die originale Künstlerin kann nichts und weiß nichts im bürgerlichen Sinne. Sie übersteigt ihr Handwerk, das sie gleichwohl hat, und fliegt. Die Kraft dazu schöpft sie aus ihrer bloßen Existenz. Sie geht einen kompromisslosen Weg. – Ganz im Gegensatz dazu die Kulturschaffende. Sie weiß, was sie macht. Sie kennt ihre Aufgabe und ihr Ziel im anerkannten Sinne. [...] Sie hat festgelegte Maßstäbe und Meinungen. Sie richtet ihr Tun und Sein an gesellschaftlichen Normen und ihren persönlichen Ängsten und Vorurteilen aus. Sie trennt strikt zwischen privatem Leben und öffentlichem Auftritt. Ihre Welt ist ihr und vielen anderen Menschen bekannt. Diese Welt steht – in Sitte und Moral der jeweiligen Zeit verhaftet – dem Künstlerischen entgegen. Die Kulturschaffende wird von der originalen Künstlerin mitgerissen. Ohne selbst zu finden, reflektiert sie das Original. Sie interpretiert und rezitiert das Bekannte und Vertraute. Sie beackert und beerntet das vorangegangene Künstlerische. [...] Außerdem löst sie bei ihren Mitmenschen keine Angst aus. Vielmehr suggeriert sie das Phänomen der sympathischen Künstlerin zum Anfassen. Sie besetzt darin dreist den Platz der originalen Künstlerin, indem sie sich [...] selbst Künstlerin nennt. Das Künstlerische ist grenzenlos, sie aber zieht schnell und launisch, den allgemeinen Konsens im Rücken wissend, ihre Grenzen hoch und spricht: ‚Nein, das mach ich nicht’. Deshalb ist ihr künstlerischer Durchmesser meist eher klein. Sie ist – im Sinne der Kunst – eine Zweitrangige. Zum Publikum Behalten Sie das gerade
AUFGEFÜHRTER FEMINISMUS | 129 Gesagte über den Unterschied zwischen Kunst und Kultur8 bitte in Erinnerung. Sie brauchen es später dringend zum Verständnis unserer Ereignis-Szene: Die Turiner Grabmöse.“ (13-17)
I V . L ac hü b u n g e n u n d e i n E x k u r s zum Stand der Theorie Im zweiten Präludium, das Teil einer bizarren tayloristischen Schubladen-EinräumPerformance ist, werden nacheinander verschiedene Phasen des gemeinsamen weiblichen Lachens durchlaufen: ein „verschüchtertes, entschuldigendes Lächeln“, ein „kokettes Lächeln“, ein „musikalisches Lachen“, ein „heiteres, befreiendes Sonnenlachen“ und dann ein rhythmisches, anspornendes Lachen, das in den Chorgesang „Struggle for life, survival of the fittest“ einmündet. Es folgt die Präsentation eines politischen Witzes, der die urtypischen Machtverhältnisse in Bayern aufs Korn nimmt und erneut Gelächter auslöst. Diese Reaktion steigert sich zum „Auslachen“ und „subversiven Lachen“, schlägt um in „Hysterie“, welche in „Weinen“ und „Klagen“ übergeht und schließlich von „gegenseitigen Beschimpfungen“ abgelöst wird. (25-28) Nach dieser Demonstration der Bedeutungsvielfalt des Lachens kommt kein/e Zuschauer/in mehr auf den Gedanken, dass es mit dem Lachen allein schon getan ist. Freilich werden damit keine Neuigkeiten verbreitet, sondern nur Befunde diverser Theorien ratifiziert. Das Phänomen, auf das der Begriff ‚Lachen‘ referiert, besitzt eine verblüffende Bandbreite an Bedeutungen.9 Es ist angesiedelt zwischen einem physiologischen Reflex, der z.B. durch Kitzeln ausgelöst werden kann, und jenem eigentümlich entspannten Lächeln, das für kleine Kinder und mitunter auch für Tote charakteristisch ist, aber auch auf dem Antlitz glücklicher oder souveräner Menschen erscheint.10 Zahlreich sind die Versuche, in dem unübersichtlichen Gebiet durch basale Unterscheidungen Ordnung zu schaffen. So wurde etwa zwischen einem Lachen mit etwas und einem Lachen über etwas differenziert.11 Im Französischen gibt es die klare Trennung zwischen le risible und le ridicule, d.h. zwischen einem gleichsam neutralen Lachanlass und einem Objekt, das im Lachen abgewertet und kritisiert wird, also der Lächerlichkeit verfällt. An derartige Vorgaben der Umgangssprache kann die Theorie anknüpfen 12, Komplexität aufbauen und gelegentlich zu kühnen Generalisierungen zurückkehren. Peter Bergers Buch über das
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In dieser Passage des Stückes wurden Thesen von Willi Baumeister (1988) verarbeitet. Elder Olson hat dafür eine sehr einfache Erklärung gefunden: „The human body tends to cathart any excessive emotion by certain physical outlets, such as laughter and weeping. Since these outlets are few, and the emotions many, an ambiguity ensues which parallels that of verbal ambiguity when a single word may represent many distinct, and sometimes even contrary, things.” (1968, 11) 10 Vgl. zur Differenz zwischen Lachen und Lächeln Plessner 1982b und speziell zum Lächeln des Kindes Wulf 1986. 11 Vgl. Baudelaire 1857; Dupréel 1928. 12 Auch hierzu gibt es vertrackte Beispiele: Weit verbreitet ist die Annahme, dass das Lachen einen Standpunkt der Distanz, der „Anästhesie des Herzens“ (Bergson) impliziert. Ansonsten, so ließe sich argumentieren, gäbe es jene Arten des Lachens nicht, die als höhnisches oder verächtliches Lachen bezeichnet werden. Dagegen hat Jean Paul allerdings eingewandt: „Schon die Sprache setzt Hohn, Spott, [...] scharf dem Scherzen, Lachen, Lustigmachen entgegen.“ (1975, 116f.)
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„erlösende Lachen“ (1998) ist dafür ein gutes Beispiel, dem man zu Recht13 die fehlende Aufmerksamkeit für das „vernichtende Lachen“ vorgeworfen hat.14 Als kunsttheoretisch nützlich erwies sich die Unterscheidung zwischen einem „lebensweltlich-kontingenten“ und einem „artifiziell hergestellten“ Anlass des Lachens.15 Aber diese Differenz hat mancherlei Kritik auf sich gezogen. Eine Theorie des Lachens muss selbstverständlich nicht allein verschiedene Arten und Anlässe des Lachens auseinanderhalten, sie muss auch berücksichtigen, dass der physiologische Ausdruck, den wir Lachen nennen, historischen Wandlungen16 und variablen kulturellen Codierungen unterliegt.17 Und wer sich in der heutigen Spaßgesellschaft mit Theorien des Lachens abgibt, sollte zudem bedenken, dass auch und gerade das Lachen gegen die sinistre „Dialektik der Aufklärung“ keineswegs gefeit ist: „Der Triumph übers Schöne wird vom Humor vollstreckt, der Schadenfreude über jede gelungene Versagung. Gelacht wird darüber, daß es nichts zu lachen gibt. Allemal begleitet Lachen, das versöhnte wie das schreckliche, den Augenblick, da eine Furcht vergeht. Es zeigt Befreiung an, sei es aus leiblicher Gefahr, sei es aus den Fängen der Logik. Das versöhnte Lachen ertönt als Echo des Entronnenseins aus der Macht, das schlechte bewältigt die Furcht, indem es zu den Instanzen überläuft, die zu fürchten sind. Es ist das Echo der Macht als unentrinnbarer. Fun ist ein Stahlbad. Die Vergnügungsindustrie verordnet es unablässig. Lachen in ihr wird zum Instrument des Betruges am Glück. Die Augenblicke des Glücks kennen es nicht, nur Operetten und dann die Filme stellen den Sexus mit schallendem Gelächter vor.“ (Horkheimer/Adorno 1969 [1947], 148f.)
V. Alles und Nichts Das dritte Präludium setzt nach einer langen Darstellung des weiblichen Verhaltens in patriarchalisch geprägten Arbeitsprozessen ein: Der Doppelbock wendet sich an das Publikum: „Sie und ich, wir werden nun gemeinsam mit Hilfe meiner Linse die Mutter aller Fragen stellen und vergrößern: Was ist der Unterschied zwischen Mann und Frau? betrachtet das Nichts [während im Hintergrund ein Gesang in lateinischer Sprache ertönt: ‚Cogitamus ergo sumus / Trepidamus, [...] / Respiramus, [...] / Moriemur, [...] / Aegrotamus, [...] / Discrepamus, [...] / Laboramus, [...]’ usw.] Jetzt sagen Sie bloß, daß sie nichts gesehen haben? Hm. Na ja, gut, ich habe auch nichts gesehen. Aber ich glaube, ich habe tiefer nichts gesehen, als Sie nichts gesehen haben. Ich habe nämlich nicht nur das Nichts gesehen, ich habe auch das fehlende Etwas gesehen. [...] Um das Weibliche zu sehen, braucht man eine Art innere Brille. Eine, die löscht, was da ist, also das überlagernde Männliche, und sichtbar macht, was fehlt, also das verschüttete Weibliche. [...] Das Unbekannte ist das Weibli13 Denn der ambivalente Charakter des Lachens ist eigentlich nicht zu übersehen: „Die Analyse vielfältigen Materials hat die Einsicht bestätigt: Die Triebmacht, die der Lachende beschwört, droht ihm selbst.“ (Jurzik 1985, 34) 14 Vgl. Pollack/Wohlrab-Sahr 1999, 277. 15 Vgl. Souriau 1948; Warning 1976, 280. 16 Zur Geschichte des okzidentalen Lachens vgl. Zijderveld 1974, 89-141, 205-113; Bischof 1984, 33-43. 17 Siehe Zijderveld 1974, 143-172; Apte 1985; Pfleiderer 1986; Bausinger 1992; Jenkins 1994; Berger 1998, 77-101.
AUFGEFÜHRTER FEMINISMUS | 131 che. Moment mal, was sage ich da eigentlich, damit wäre ja auch das Verhältnis von Kunst und Kultur geklärt. Sie erinnern sich an den vorausgegangenen Diskurs. Unter der Annahme von Prämisse A: Kunst ist der Schritt ins Unbekannte, und Prämisse B: Das Unbekannte ist weiblich, folgt zwingend Conclusio C: Es gibt keine männlichen Künstler. Aber unendlich viele, diese Kultur schaffende Männer. [...] Behalten Sie das gerade Gesagte über den Unterschied zwischen Kunst und Kultur bitte in Erinnerung. Sie brauchen es später dringend zum Verständnis unserer Ereignis-Szene: Die Turiner Grabmöse.“ (40ff.)
Kurz nach diesen Überlegungen zur geschlechtsspezifischen Phänomenologie des Sichtbaren und Unsichtbaren wird die Probe aufs Exempel gemacht: Der Doppelbock tritt nackt auf, legt sich mit geöffneten Beinen auf das Linsenkissen und spricht: „Das ist die Turiner Grabmöse, so oder so ähnlich hat die Möse von der Mutter Gottes ausgesehen.“ (48) Sonja Breuer nimmt hier den christlichen Kirchenvater Clemens von Alexandrien (um 200 n. Chr.) beim Wort und dreht es ihm zugleich schamlos im Munde um. Der fromme Mann hebt in seinen Schriften, welche die Lasterhaftigkeit der antiken Götter anprangern, zwar hervor, dass Baubo „von ihrem Körper all das (zeigt), was unziemlich ist“18; aber damit wissen wir noch längst nicht, was genau Demeter gesehen und zum Anlass für ihr Lachen genommen hat. Nach Clemens, der die Verse des Orpheus zitiert, befindet sich unter Baubos gelüftetem Rock „der junge Iacchos“, der die Hand bewegt und lacht. Ein weiterer Kirchenvater, Arnobius von Sicca (um 400 n. Chr.), der ebenfalls davon spricht, dass Baubo „alle jene Orte der Scham“ entblößt, schmückt die Szene mit entfesselter phallischer Fantasie aus: Baubo zeigt ihre „Schamteile“, die sie „mit hohler Hand aufwärts werfend [sic!], tatscht, sanft berührt; denn knabenhaft war der Anblick.“ (Arnobius 1842, 153) Die verschiedenen Fassungen, in denen uns die Geschichte von Demeter und Baubo überliefert worden ist,19 geben also keine eindeutigen Anhaltspunkte, aus denen wir schließen könnten, was genau Demeter gesehen hat. Der Anlass ihrer Heiterkeit bleibt unbestimmt. Nicht einmal über ihre Reaktion herrscht hinreichende Klarheit. Ob es sich um ein schallendes Lachen oder ein verwundertes Lächeln gehandelt hat, lässt sich angesichts der verfügbaren Quellen (mit einer für weitreichende Interpretationen erforderlichen Sicherheit) nicht sagen. Wir sind ebenso wie die zitierten Patriarchen auf Spekulationen angewiesen. Monika Gsell bemerkt daher zu Recht: „Baubo – das ist der Topos des Nicht-Wissens, terra incognita und dunkler Kontinent.“ (2001, 33) Dieser „Mangel an positivem Wissen“ (ebd.) wird in Sonja Breuers Präsentation der „Turiner Grabmöse“ drastisch beseitigt, freilich nur, um bestimmte Fragen über sex und gender um so nachhaltiger zu stellen und Schritt für Schritt die Art des weiblichen Lachens zu bestimmen, welche dem aktuellen Frontverlauf im Geschlechterkampf angemessen ist. Dieses besondere Lachen wird nicht mehr auf der Bühne demonstriert, nachgemacht oder vorgespielt. Es wird nur noch beim Namen genannt und verweist so auf die symbolischen Operationen, die die reale oder vermeintlich reale Kastration buchstäblich überschreiben.
18 Ich zitiere hier die Übersetzung von Gsell (2001, 35). 19 Dazu ist auch Homers Hymne an Demeter zu rechnen. Hier wird die Göttin der Fruchtbarkeit allein schon durch Scherze der Dienerin Iambe erheitert. Vgl. die präzise Lektüre des Textes bei Weissberg (2001, 67ff.).
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VI. Das Sichtbare Durch ihre drastische Darstellung zieht Sonja Breuer das Schamtuch, das die Texte der Kirchenväter über den griechischen Mythos gebreitet haben, weg. Sie lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, was es zu sehen gibt, wenn der Unterleib einer Frau entblößt ist und die Beine gespreizt werden. Alle Zuschauer im Theatersaal sehen (wenn auch aus unterschiedlicher Entfernung und Perspektive) dasselbe. Wer glaubt, einen ungünstigen Sitzplatz erwischt zu haben, hat nicht nur prinzipiell, sondern schlicht empirisch die Chance, am nächsten Abend erneut zu erscheinen und das Anrecht auf bessere Beobachtungsposten käuflich zu erwerben. Die Mehrdeutigkeit des Geschehens kann nicht an dem zur Schau gestellten Objekt festgemacht, sondern allein den Betrachtern und ihren Einstellungen, Vorurteilen, Dispositionen, Erwartungen etc. zugerechnet werden. Breuer parodiert das vieldiskutierte abendländische Arrangement, das die „Frau als Bild“ und den „Mann als Träger des Blickes“ (Mulvey 1994, 55) installiert. Sie macht aber auch den weiblichen Blick zum Thema. Einerseits wird der Raum, in dem der männliche Blick20 sich entfaltet, nachgestellt und grotesk überzeichnet: die Bühne, die Plätze für Zuschauer, der entblößte weibliche Unterleib, die Linse, welche die Beobachtung ‚verschärft‘ etc. Andererseits wird die weibliche Perspektive prismatisch gebrochen und in einen diskursiven Prozess zerlegt. Während man sieht, wie Männer sehen, sieht und hört man, wie Frauen ihre Position als Betroffene und Beteiligte mit Worten einkreisen und sich durch ein beständiges Verfehlen des „vollen Sprechens“ (Lacan) allmählich ihren ortlosen Ort vor Augen führen. Die Erkundung der sprichwörtlichen terra incognita ist im Gange. „The Dark Continent is neither dark nor unexplorable. – It is still unexplored only because we’ve been made to believe that it was too dark to be explorable. And because they want to make us believe that what interests us is the white continent, with its monuments to lack. And we believed. They riveted us between two horrifying myths: between the Medusa and the abyss. That would be enough to set half the world laughing, except that it’s still going on. For the phallologocentric sublation is with us, and it’s militant, regenerating the old pattern, anchored in the dogma of castration.“ (Cixous 1980, 255)
20 „Die moderne Struktur des männlichen Blicks ist ambivalent: Er kündigt Besitzanspruch und Herrschaft an, ist aber so angstbesetzt, daß er zwar Ersatz für fleischliche Lust sein will, zugleich jedoch abgewehrt werden muß. Das gilt insbesondere für eine Zeit, wo der weibliche Körper nicht nur aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen ist, sondern als ganzer entsexualisiert ist. Als ästhetische, sexuelle ‚Kategorie‘ erscheint der weibliche Körper nur noch als Ding, dessen Begehren aber unter der Maske erkennbar bleibt. Derartig reduziert kann der Körper als Objekt der Befriedigung oder als Spiegel benutzt werden. In beiden Fällen wird er als Ding letztlich zum Fetisch, der über den Blick gebannt wird. Der männliche Blick ignoriert insbesondere die Realität des weiblichen Geschlechts, da sich mit diesem latent oder manifest die Kastrationsdrohung verbindet. Damit stoßen wir auf zentrale Elemente einer kollektiven Abwehrstruktur, die einerseits zu erklären ist aus der sozialen Unsicherheit und den Anpassungsanstrengungen des Bürgertums (vor allem des Kleinbürgertums) sowie andererseits aus einem auf die Beschränkungen der Autonomie zielenden Vergesellschaftungsprozeß, deren Negation Angst und Abwehr darstellen: als Schutz gegenüber der als übermächtig (verschlingend) erscheinenden Vergesellschaftung (personifiziert in Frauen) und als Kampf um Autonomie, die sich nach außen als Aggressivität und sexuelle Codierung von Frauen ausdrückt.“ (Kleinspehn 1996, 138f.)
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Dieses klassische Dogma der Kastration wird bei Breuer in ein militantes Spiel hineingezogen, in dem das Geschlecht, das Nichts und das Lachen sich begegnen. Am Ende des Spiels steht das Wissen um jene „symbolische Kastration“ (Kristeva 1994, 101), der niemand entgehen kann – auch nicht der singuläre Mann, der als triumphierender göttlicher Clown ex machina erscheint, um die letzte Lücke im metaphorischen Register des weiblichen Lebenswerkes zu schließen.21 Wenn die Zuschauer von RehVue en verre nach mehrfacher Ankündigung endlich mit der Baubo-Geste konfrontiert werden und nichts als eine optisch vergrößerte entblößte Vulva sehen, erinnern sie sich unwillkürlich an die kurz zuvor gehörten Sätze des Doppelbocks: „Jetzt sagen Sie bloß, daß sie nichts gesehen haben? Hm. Na ja, gut, ich habe auch nichts gesehen. Aber ich glaube, ich habe tiefer nichts gesehen, als Sie nichts gesehen haben. Ich habe nämlich nicht nur das Nichts gesehen, ich habe auch das fehlende Etwas gesehen.“ (s.o.) Im Angesicht der „Turiner Grabmöse“ wird der Anspielungsreichtum dieser Sätze deutlich. Man vernimmt hier das Echo auf die berühmt-berüchtigte und im Lager der Feministinnen so umstrittene Aussage von Jacques Lacan: „La femme n’existe pas.“22 Und man denkt vielleicht auch an die bekannte Formulierung Freuds, mit der die Reaktion eines kleinen Jungen beschrieben wird, dem die weiblichen Genitalien zum ersten Mal vor den Blick kommen: „er sieht nichts, oder verleugnet seine Wahrnehmung, schwächt sie ab, sucht nach Auskünften, um sie mit seiner Erwartung in Einklang zu bringen.“ (1972a [1925], 261) Was aber geschieht, wenn diese Art der ‚Abwesenheit‘ von etwas Erwartetem oder Gewünschtem (unter Verweis auf jene mythische Geste der Baubo und deren ‚religionspolitisch‘ geprägte Überlieferung) ostentativ dar- und ausgestellt wird? Erfahren die ZuschauerInnen an ihren spontanen leiblichen Reaktionen den Zusammenhang zwischen dem ‚Nichts‘ und dem Lachen? Liliane Weissberg erklärt unumwunden: „Baubo veranlaßt das Lachen und zeigt den Ort des Lachens als ein Nichts und als den Ort der Weiblichkeit selbst.“ (2001, 69)23 Dieses Lachen scheint aber – will man Nicolaus Sombart glauben – nicht ungeteilt zu sein: „In der bewußten Legende zeigt sich Baubo, um Demeter zum Lachen zu bringen und sie in ihrem Selbstbewußtsein zu stärken. Das ist eine Angelegenheit unter Frauen (von der ich im übrigen mehr wissen möchte). Für uns Männer ist ein anderer Befund wichtig: Der Mann wird durch diesen Anblick aufs höchste erschreckt. Er empfindet Angst, ihn packt das Grausen. Die Frauen lachen sich darüber kaputt.“ (1995, 42)
Dass Sombarts „Vorstellung eines unproblematischen Verhältnisses von Frau und weiblichem Geschlecht schlechterdings naiv ist“, gibt Monika Gsell zu bedenken und verweist auf die psychoanalytisch orientierte Forschung über weibliche genitale Ängste und Konflikte (2001, 46). Naiv ist aber auch Sombarts simple Trennung 21 Vgl. die Regieanweisung: „Der Clown tritt [...] auf und hat die letzte fehlende Schublade bei sich. Alle Rehe fallen um. Der Clown schiebt die letzte Schublade in den Schrank.“ (58) 22 „Es gibt nicht Die Frau. [...] ihrem Wesen nach ist sie nicht alle. [...] Dieses Die ist ein Signifikant, dessen Eigentümlichkeit ist, daß er der einzige ist, der nichts bedeuten kann.“ (Lacan 1986, 80) 23 „Als Allegorie der Wahrheit [vgl. die als Motto verwandte Stelle in Nietzsches Die Fröhliche Wissenschaft von 1886] eignet sich Baubo, weil sie mit ihrer Entblößung Alles zeigt. Gleichzeitig lässt sie etwas nicht sehen, man könnte auch sagen: sie lässt Nichts sehen. [...] Die Wahrheit ist, dass es nichts zu sehen gibt [...], dass ‚Vollständigkeit‘ nicht zu haben ist.“ (Gsell 2001, 44)
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von Lachen und Erschrecken. Gerade der Begriff des ‚Nichts‘ bzw. des Nichtigen, der in vielen Theorien des Lachens sein Unwesen treibt, gibt einen wichtigen Hinweis auf diese irritierende und theoretisch sicher noch nicht genügend ausgelotete Verbindung.
VII. Ohne noch mehr Theorie geht nichts Immer wieder ist hervorgehoben worden, dass Lachen ein Akt der Verneinung ist oder dass im Lachen kurzzeitig ein Nichtiges im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Kant z.B. beschreibt in der Kritik der Urteilskraft (1790) die Wirkung eines Scherzes auf folgende Weise: „indem der Verstand in dieser Darstellung, worin er das Erwartete nicht findet, plötzlich nachläßt, so fühlt man die Wirkung dieser Nachlassung im Körper durch die Schwingung der Organe, welche die Herstellung des Gleichgewichts befördert und auf die Gesundheit einen wohltätigen Einfluß hat. Es muß in allem, was ein lebhaftes erschütterndes Lachen erregen soll, etwas Widersinniges sein (woran also der Verstand an sich kein Wohlgefallen finden kann). Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.“ (1957, 437)
Kant macht hier keine Angaben über die gesellschaftliche Rolle von Standpunkten, Verhaltensweisen oder gar Personen, die eine solche Verwandlung durchgemacht haben und anschließend als depotenzierte Phänomene die Welt bevölkern. Bergson hat diese Leerstelle mit seinem berühmten Buch Le rire (1900) gefüllt und die eigentümliche Negation, die das Lachen leistet oder ausdrucksvoll begleitet, als kollektive Maßregelung von Menschen gedeutet, die mit der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse nicht fertig werden. Das Lachen erscheint als moderner Disziplinierungsakt und trifft diejenigen, denen es an sozialer Geschmeidigkeit mangelt. Es besitzt den Charakter einer scharfen Sanktion, gewährt den Stigmatisierten allerdings die Chance, ihr Verhalten zu korrigieren und sich den aktuellen Standards anzupassen.24 1940 hat Joachim Ritter den hintergründigen Integrationsaspekt des ausgrenzenden und abwertenden Lachens noch deutlicher hervorgehoben. Er geht davon aus, dass „es im Wesen von Ordnung, Sitte, Anstand und sachlichem Ernst“ liegt, die „Lebenswelt“ in zwei Teile zu spalten: einen offiziellen und affirmierten und einen anderen Teil, der „in der Form des Entgegenstehenden und Nichtigen existieren“ muss. Dieses Nichtige befindet sich nach Ritter jedoch in einem „geheimen Zusammenhang mit der für den Ernst gesetzten Lebensordnung“. Während der Ernst das Nichtige nur als „das Ausgegrenzte und Andere“ wahrnimmt, kann das Lachen das Nichtige so ergreifen, „daß es in der es ausgrenzenden Ordnung selbst gleichsam als zu ihr gehörig sichtbar und lesbar wird.“ (1974, 75f.) Georges Bataille hat dann 1943 mit Blick auf Nietzsche die Ekstase eines Lachens beschworen, das Souveränität durch radikales Vergeuden schenkt. Das souveräne Lachen parodiert ohne Rückhalt die menschliche Selbstbehauptung und verkündet das Credo: „Ich bin nichts.“ (1978, 83)25 24 Zur Kritik an Bergsons ‚präfaschistischer‘ Theorie vgl. Horkheimer/Adorno 1969, 149; Heinrich 1986, 27. 25 Jean-Paul Sartre hat in Batailles Konzept des Lachens eine fragwürdige Feier der Unzulänglichkeit gesehen: „Man (könnte) bei Bataille von einer Askese durch das Lachen sprechen. Aber das Lachen ist hier im Hegelschen Sinne negativ [...] Diese nega-
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Eine Analyse, die die Ambivalenz und die geschlechtsspezifische Seite des Lachens auszuleuchten versucht, kann freilich bei der Beschreibung des ‚Nichts‘, welches im Lachen vergegenwärtigt wird, nicht stehen bleiben. Dass das Lachen etwas depotenziert (mitunter sogar das lachende Subjekt selbst), ist offensichtlich.26 Ob damit per se schon eine Erhöhung des Subjekts verbunden ist, wie Bataille annimmt, lässt sich allerdings bezweifeln. Jean Paul hat Hobbes’ These, im Lachen komme ein plötzlicher Triumph („sudden glory“) zum Ausdruck, feinsinnig kritisiert und die Vermutung geäußert: „Im Lachen fühlt man weniger sich erhoben (oft vielleicht das Gegenteil) als den anderen vertieft.“ (1975, 121) Aber auch mit diesem Befund ist die Frage, ob das Entwertete im Lachen definitiv ausgeschlossen oder (ggf. unter Vorbehalt) re-integriert wird, nicht beantwortet. Ohne Rekurs auf die spezifischen historischen Umstände sind hier keine Erkenntnisse zu gewinnen. Ritters Argumente lassen sich nämlich auch als Zeichen für die fehlende Bereitschaft zur Anerkennung eines Anderen deuten, das gerade nicht durch Humor einzugemeinden ist.27 Selbst Michail Bachtins subversiv anmutendes Konzept des „grotesken Körpers“ und des „Karnevals“ (1969) kann als ästhetische Legitimation des Stalinismus gelesen werden: „Das Karnevalsgelächter ist [...] nicht etwa die Ironie des Denkers über die Tragödie des Lebens; es ist das frohe Lachen des Volkes über die Qualen des hilflosen Individuums. Dieses Lachen ist das Lachen des Totalitarismus. [...] Der Karneval rechtfertigt die Absurdität und Grausamkeit der Revolution im außergeschichtlichen Raum des relativierenden reinen Gelächters.“ (Groys 1989)
Umsichtiger und produktiver als der Entwurf vager Integrationskonzepte dürfte daher der Versuch sein, den im Lachen hergestellten Bezug zum ‚Nichtigen‘ als Chiffre für das Katastrophale und Schreckliche aufzufassen, das sich in jedem auch tive Auflösung, die sich in alle surrealistischen Formen der Respektlosigkeit und der Lästerung verirrt, einfach weil sie gelebt wird, muß ihr positives Gegenbild haben.“ (1965, 79) Jacques Derrida hat diese Bataille-Lektüre zurückgewiesen: „Das Lachen [...] übersteigt die Dialektik und die Dialektiker: es bricht aber nur mit dem absoluten Verzicht auf den Sinn, mit dem absoluten Wagnis des Todes, mit dem, was Hegel die abstrakte Negation nannte. Diese Negativität findet nie statt, sie wird nie gegenwärtig [...]. Genau genommen tritt dieses Lachen nie in Erscheinung, weil es die Phänomenalität im allgemeinen und die absolute Möglichkeit des Sinns exzediert. [...] Das Lachen, das die Souveränität in ihrem Verhältnis zum Tode konstituiert, ist keine Negativität, wie man zu sagen vermocht hat. Es lacht über sich selbst; ein ‚mündiges‘ Lachen lacht über ein ‚unmündiges‘, denn das souveräne Tun bedarf auch des Lebens – das, welches die beiden Leben zusammenschweißt –, um sich auf sich im Selbstgenuß beziehen zu können. In einer gewissen Weise muß es also das absolute Wagnis vortäuschen und über sich als Simulacrum lachen. In der Komödie, die es somit sich selber vorspielt, ist das ausbrechende Gelächter jenes Fast-nichts, in dem der Sinn vollkommen untergeht.“ (Derrida 1972, 388f.) 26 „Ridicule is a particular kind of depreciation. We cannot ridicule someone by showing that he is extremely good, or better than most, or even ordinary; we must show that he is inferior.“ (Olson 1968, 12) 27 Die 1940 kursierenden Judenwitze signalisierten ja nicht etwa die Aufnahme des Nichtigen ins Geltende, sondern waren nur Vorboten der totalen Exklusion. Den Begriff „Rassen“ tilgt Ritter bezeichnenderweise auch 1974 (vgl. 66) nicht aus dem Text. Sollen wir über diese Manifestationen einer nichtigen Kategorie im Geltenden lachen? Oder eher über die Tatsache, dass nur eine kompromittierende Anmerkung gestrichen wurde? (vgl. Lohr 1987, 30ff.).
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noch so befreienden oder erlösenden Lachen bemerkbar macht. Und genau diese Linie verfolgt Sonja Breuer in ihrem Stück.
VIII. Eine neue Reliquie Baubos Geste wird mit unverkennbarer Lust an Inter- und Kontexten zitiert und das Gezeigte nicht als factum brutum dargeboten, sondern als „Turiner Grabmöse“ ausgerufen. Auf diese Weise wendet Breuer die christliche Instrumentalisierung des Mythos gegen sich selbst. In Gestalt der Kirchenväter Clemens und Arnobius verwirft die monotheistische Erlöserreligion, deren fundamentale Riten um den Opfertod Jesu kreisen, die obszöne Vielgötterei der Griechen. Das körper- und sexualfeindliche Christentum erträgt keine starken, dialektisch verknüpften und komplexen weiblichen Figuren wie etwa Demeter und Baubo, Artemis und Gorgo. Es reduziert das Weibliche auf die schalen Rollen ‚Hure’ und ‚Heilige’ oder – wie es im Stück heißt – „fickbares Flittchen“ und „unerotische Mutter.“ (52) Auch das neuzeitliche Frauenbild hält sich an diese Differenz. Als männliche Einstellungsmuster schleifen sich „Galanterie und Verachtung“ ein (Bennent 1985), die heute noch die Beziehungen der Geschlechter maßgeblich prägen. Breuer inszeniert nicht schlicht und einfach eine Grenzüberschreitung, es geht gerade nicht um die Ausdehnung der Kunst in das Feld der Pornographie.28 Gewiss, „das weibliche Geschlechtsorgan [ist] derjenige Gegenstandsbereich, der in der abendländischen Kultur mit dem strengsten nur möglichen Darstellungstabu belegt“ wurde. (Gsell 2001, 13)29 Aber wenn Breuer ihr eigenes Geschlechtsorgan in symbolisch überhöhter Stellvertretung der Gottesmuttermöse präsentiert und es als „Turiner Grabmöse“ bezeichnet, so handelt es sich zweifellos um einen semiotisch gebrochenen Tabubruch. Das Gezeigte erhebt den wie immer auch ironisch reflektierten Anspruch, als eine authentische weibliche Reliquie akzeptiert zu werden, die dem Prototyp der männlichen Reliquie – dem berühmten „Turiner Grabtuch“, das als Leichentuch Jesu verehrt wird – Konkurrenz macht. Reliquien sind – wie man weiß – begehrt, weil ihr Besitz, aber auch die bloße Berührung, Betrachtung oder allein schon der Aufenthalt in ihrer Nähe göttliche Macht überträgt. Im Prozess der Säkularisierung haben die Kunstwerke, die mitunter als Zeichen äußerster Radikalität sogar ihren Werkcharakter abstreifen, von der Religion diese sakrale Aura geerbt. An die Stelle der kultischen ist inzwischen die ästhetische Epiphanie getreten. Breuer verwandelt, wenn sie ihrem Geschlecht den Status einer weiblichen Reliquie gibt, das Theater kurzfristig in ein Kunstmuseum – ein Kunstmuseum zudem, welches die Krise der Dar- und Ausstellung zum besonders geeigneten Objekt der artistischen Offenbarung macht. „Alle Museen, nur nicht die Kunstmuseen, sind Friedhöfe der Dinge: Was dort gesammelt wird, ist seiner Lebensfunktion beraubt, also tot.“ (Groys 1997, 9) Breuer führt den tabugeschützten Ort der menschlichen Geburt als „Grab der Kultur“ vor, als „Loch, in das eine Kultur ihren Abfall
28 Einige Kritikerinnen, die sich anscheinend im Modell der „Kulturschaffenden“ wiedererkannt haben, vertraten diese Auffassung. 29 Vgl. den Kommentar des Kirchenvaters Arnobius von Sicca zum Baubo-Mythos: „[...] Offenbarung des schandvollen Unflaths des Leibes und die Ausstellung der Theile, welche die allgemeine Schamhaftigkeit, welche das Gesetz der Sittsamkeit zu verbergen befiehlt.“ (1842, 154)
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wirft,“ und macht zugleich darauf aufmerksam, dass die moderne Reliquie ‚Kunst‘ sich einer Wiederauferstehungsprozedur verdankt. „Das moderne Kunstmuseum ist also nicht ein Friedhof, sondern, wenn man will, eine Kirche für Dinge. Dort erleben sie ihre Umkehr, ihre Neugeburt, ihre Parusie. Dort bekommen sie ihre Taufe – oder ihre Portion vampirischen Blutes –, die sie zu neuem, ewigem Leben erweckt. Nur solche neugeborenen Dinge nennt man in der Moderne Kunstwerke.“ (Groys 1997, 9)
Derartige Gebilde, die aus der Sphäre des Gewöhnlichen und Banalen stammen und plötzlich eine auratische Qualität erhalten, gewähren Entlastung, stiften Trost und wecken Vertrauen in die kreativen Potenziale des Menschen. Sie destruieren im gleichen Atemzug aber auch sozial eingespielte Sinnzusammenhänge, heben die Bedeutung von Worten oder Gesten auf, lösen Irritationen oder Schocks aus. Und genau diese doppelte Leistung, die sich nicht im Vorhinein kalkulieren lässt, charakterisiert eine Kunst, die jenseits von Kitsch und Eventkultur angesiedelt ist. Zwischen den Polen liegt freilich kein Niemandsland, sondern das Reich der Reflexion, das weit ausgespannte Netz der diskursiven Bezüge und argumentativen Anschlüsse, die einerseits der ästhetischen Entlastung Züge von Glücksbewusstsein verleihen und andererseits dem jäh gewahrten Schrecken Einsichten abgewinnen können.
IX. Gorgo/Medusa Wenn Breuer das Publikum an jenes Grabtuch erinnert, das im Turiner Dom zu besichtigen ist, so löst sie bestimmte Assoziationen aus und ruft gespeichertes Bildungswissen über die eindrucksvolle Reliquie ab, die neben Blutflecken und Abdrücken einzelner Körperteile die markante Physiognomie des ‚Erlösers‘ zeigt. Und wer keine touristischen Erfahrungen mit der Reliquie hat, kann in fast jedem Lexikon eine Abbildung finden, die die Negativwiedergabe des Gesichts präsentiert. Durch ihre Bezeichnung der Ereignisszene stellt Breuer eine Verbindung zwischen dem Antlitz Jesu und den imaginären Genitalien der Mutter Gottes her. Die Frage, ob es sich beim Turiner Grabtuch um eine raffinierte Fälschung oder ein echtes Textil aus Palästina handelt, wird irrelevant, weil der ästhetische Entwurf des Münchner Liebfrauentheaters die Differenz zwischen Original und Konstruktion in diesem Punkt ad absurdum führt. Alle Aufmerksamkeit wird auf das prekäre Verhältnis von Gesicht und Geschlecht gelenkt, das schon innerhalb der Debatten um die Enträtselung der Baubo-Szene eine Schlüsselstellung einnahm. In Priene wurden nämlich Statuetten gefunden, „die eine weibliche Figur – reduziert auf ein Gesicht, das zugleich Unterleib ist – darstellen.“31 Jean-Pierre Vernant hat die oben erwähnten Texte der Kirchenväter im Lichte dieser Funde interpretiert. „Was Baubo dem Blick der Demeter darbietet, ist ein als Gesicht geschminktes Genitale, ein Gesicht in Gestalt des Geschlechts, ja, man könnte sagen: die zum Geschlechtsteil verwandelte Maske. In der Grimasse evoziert dieses Genitalgesicht ein Gelächter, auf welches
30 Eigenes Interview mit Sonja Breuer, August 2001. 31 Die Baubo-Figurinen aus Priene, ca. 4.-2. Jh. v. Chr., befinden sich im Antikenmuseum in Berlin. Vgl. auch die Abbildungen bei Gsell 2001, 55f.
138 | VORFÜHREN UND VERFÜHREN das Lachen der Göttin ebenso antwortet wie das Erschrecken des Betrachters auf die Horrorgrimasse, die das Gesicht der Gorgo entstellt.“ (Vernant 1988, 27)
Wird – wie in Breuers Stück – das weibliche Geschlecht in eine theatralische Reliquie verwandelt, die Geschlecht und Gesicht übereinander blendet, so denkt man unweigerlich an das Medusenhaupt, dessen Anblick den Betrachter erstarren lässt.32 Aber diese Assoziation erhält durch Breuers Verweis auf die fragwürdige Produktion einer männlichen Reliquie und durch die vorgeführten semantischen Metamorphosen ganz andere Konturen. Im Gelächter über die neue konnotationsreiche Gestalt weiblicher ‚Nichtigkeit‘ hallt der Schrecken nach, aber es ist nicht die altehrwürdige Kastrationsangst, die bei Breuer intoniert wird, sondern die Katastrophe des Patriarchats. Das hier in den Blick genommene und dialogisch inszenierte weibliche Lachen unterwirft sich nicht länger der „Phantasie des kastrierten-kastrierenden Rächers“, welche von der „schreckenserregende[n] Fratze der Gorgo-Medusa“ (Gsell 2001, 344) verkörpert wird; es wählt einen anderen zeitgemäßeren Anlass und Gegenstand: Denn im modernen vaterlosen Patriarchat hat sich die männliche Angst vor der Kastration in die panische Angst vor der sozialen Bloßstellung, vor der schieren Lächerlichkeit verwandelt (vgl. Plessner 1981 [1924], 70). Dieser Angst begegnen die Männer, indem sie einen Körperpanzer anlegen und sich distanzschaffende Masken aufsetzen. „Der Mensch in der Rüstung will fechten. Eine Form, die unangreifbar macht, hat stets zwei Seiten, sie schützt nach innen und sie wirkt nach außen.“ (ebd., 82) Ein Ende des Geschlechterkampfes ist also nicht abzusehen. Frauen können in diesem Gefecht zur Maskerade der Selbstentblößung greifen (vgl. Weissberg 1994) und damit auf einen Schlag sowohl die männliche ‚Aufrüstung‘ kritisieren als auch ihr Recht auf Selbstschutz verteidigen. Breuers Wiederholung der Baubo-Geste hat hier ihren Ort. Sie markiert eine Differenz in der Auseinandersetzung mit dem Kastrationsthema. Der Schrecken, den das weibliche Genitale auslöst, wird ironisch relativiert und im Diskurs der Frauen in eine Militanz überführt, die auf Rache und Versöhnung gleichermaßen verzichtet. Das Gezeigte soll weder Trost spenden noch als ein Apotropäum33 fungieren, es soll vielmehr auf eine Sphäre jenseits der Kastration weisen und ein neues Körperbewusstsein der Frauen initiieren: „You only have to look at Medusa straight on to see her. And she’s not deadly. She’s beautiful and she’s laughing. [...] I don’t want a penis to decorate my body with. But I do desire the other for the other, whole and entire, male or female; because living means wanting everything that is, everything that lives, and wanting it alive. Castration? Let others toy with it. What’s a desire originating from a lack. A pretty meager desire.“ (Cixous 1980, 255, 262)34
32 Vgl. hierzu besonders Treusch-Dieter 1986 sowie natürlich Freuds einschlägigen kurzen Text über Das Medusenhaupt (1993 [1922]). Zur Rolle der Medusa-Figur im Kontext weiblicher Schreibweisen siehe Weigel 1989. 33 In diesem Sinne deutet Salomon Reinach (1912, 117) den Mythos: „Die Geste der Baubo, die eines der Tabus verletzt, auf denen die menschliche Gesellschaft beruht, muß als ein magischer Akt angesehen werden, als ein Exorzismus, der dazu bestimmt ist, den bösen Dämon, von dem Demeter besessen ist, in die Flucht zu jagen.“ (Zitiert nach der Übersetzung von Jurzik 1985, 32). 34 Vgl. hierzu auch Cixous’ Analyse einer Anekdote aus dem Handbuch der Kriegskunst von Sun Tse, in der die brutale Unterdrückung des weiblichen Lachens im Zentrum steht (1977). Cixous sieht die Stärke von Frauen darin, Mangel und Verlust keiner
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Um dieses klägliche Begehren hinter uns zu lassen, nun endlich – nach langer theoretischer Einstimmung – das angekündigte theatralische Diskurs-Ereignis:
X . D e r D i sk u r s „Doppelbock legt sich mit geöffneten Beinen auf das Linsenkissen: Das ist die Turiner Grabmöse, so oder so ähnlich hat die Möse von der Mutter Gottes ausgesehen. Nachwuchsbock: Diese Großaufnahme zeigt eine Schadstelle, die durch Licht, Klimaschwankungen und Gebrauch entstanden ist. Business-Reh: This close-up shows an area of damage, created by light, climate fluctuation and wear. Rehkitz: Kein Blitzlicht bitte! Business-Reh: Das gilt für alle Touristen. Especially for the Japanese. No flash please. Alle Rehe mit Ausnahme des Nachwuchsbocks, der in den Zuschauerraum geht: Nicht anfassen. Sentimentales Reh: Sie blutet. Heute blutet sie. Alle Rehe: A dream comes true. Nachwuchsbock: Das ist eine weibliche Realität. Sakrales Reh: Nein, das ist Blasphemie. Nachwuchsbock: Falsch, das ist der Frauenhass der katholischen Kirche. [...] Sentimentales Reh: Schauen Sie nur hin. Informieren Sie sich. Lernen Sie uns kennen. Vertrauen Sie uns. [...] Und beruhigen Sie sich, wir werden im Laufe der Szene die Linse drehen, so daß alle Gäste auch was sehen für ihr Geld. Antiseptisches Reh: Ist ja alles schön und gut. Aber ich verstehe nicht, was das denn eigentlich soll. Wir versuchen uns jetzt seit einer Stunde zu emanzipieren, und jetzt zieht die sich hier aus. Das ist kontraproduktiv. Nachwuchsbock: Nein, das ist konstruktiv. Antiseptisches Reh: Ne du. Für mich ist das eher Exhibitionismus. Und zwar der billigste. Sakrales Reh: Schamlose, elende Pornographie ist das. Merkt ihr denn nicht, daß sie nur provozieren will? Eine alte Sau ist sie. [...] Solche Dinge sind privat. Sie gehören nicht in die Öffentlichkeit. Doppelbock: Das ist die Turiner Grabmöse. [...] Business-Reh: nimmt SaRe in den Arm Komm, ist nicht so schlimm. Sie bringt doch damit niemanden um und tut auch keinem weh. Sentimentales Reh: Nicht wahr? So ist es doch. Wir bringen keinen um und tun auch keinem weh. Business-Reh: Aber ich frag mich natürlich auch, was ich getan hab, daß ich mir jetzt ’ne vergrößerte Möse anschauen muß. Ich hab damit keine Probleme, aber warum wird mir das jetzt aufs Auge gedrückt? Antiseptisches Reh: Ich denke, irgendwie ist das jetzt die Tour: Möse zeigen ist gleich Freiheit. ökonomischen Logik zu unterwerfen. Siehe auch die Kommentare von Gölter (1994, 51ff.) und Rendtorff (1996, 165ff.).
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Business-Reh: Genau. Aber wenn sie sich schon so zeigen muß, dann hätte sie sich wenigstens ein anständiges Bermudadreieck epilieren können. Da, rechts und links lauter Haare. Antiseptisches Reh: Bikinidreieck heißt das. Bikinidreieck. Sakrales Reh: Eine Schweinerei. Sentimentales Reh: Lassen Sie sich nicht beirren. Schauen Sie hin, wir verstehen Sie. Ein bißchen Voyeur ist doch jeder. Ein bißchen pervers ist doch jeder. Business-Reh: Solang die Münz’ im Kasten klingt, die Möse aus der Linse springt. Rehe bilden the sex machine (rhythmische, gemeinsame Stöhn- und Bewegungsablaufskulptur). Nachwuchsbock: So hört doch endlich auf mit eurer Häme. Hört auf mit euren Urteilen. Versteht ihr denn nicht, was sich im Moment ereignet? Den tieferen Sinn? Eine Frau zieht ihre Nacktheit aktiv an sich heran. Eine Frau beendet die Verwaltung weiblicher Nacktheit in unserer Kultur. Sie verlässt den Opferstatus weiblicher Nacktheit und nimmt ihre Möse öffentlich in Besitz. Sie ist von nun an nicht mehr gespalten in die Kategorien ‚fickbares Flittchen‘, ‚unerotische Mutter‘ oder ‚frigide Heilige‘. Mit einem großen Lachen – avec un grand sourire – schafft sie sich Weltkontakt und richtet ihre Möse als Waffe auf eine gesellschaftliche Schmerzfront. Antiseptisches Reh: greift NaBo an Spaßverderberin. Hör endlich auf mit diesem humorlosen Mindfuck. Das hast du doch gar nicht nötig, so häßlich bist du doch gar nicht. Business-Reh: geht dazwischen, zu NaBo Mensch, Kind. Du bist ja völlig neurotisch, entspann dich doch einfach mal. Sentimentales Reh: Sie hat gar keine Lust mehr am Leben. Nachwuchsbock: Liebe macht mir Lust. Doppelbock: Das ist die Turiner Grabmöse, so oder so ähnlich hat die Möse von der Mutter Gottes ausgesehen. Sakrales Reh: Du verrätst dein Geheimnis. Das ist nicht schön. Antiseptisches Reh: Brauchst ein Tuch zum Abdecken? Sakrales Reh: Es ist abstoßend. Nachwuchsbock: verzweifelt Nein, es ist bitter notwendig. Sakrales Reh: Aber warum muß man das so tun? So ist es doch nicht ästhetisch. Sowas sollte man irgendwie anders darstellen. Antiseptisches Reh: Wie anders? Wie willst’n so was anders darstellen? Alle: singen Die Möse ist kein Radio, sie spielt auch keine Lieder, sie ist nur ein Erholungsort für steifgeword’ne Glieder. Doppelbock: So und jetzt hab ich keine Lust mehr. Sie tritt ab.“ (48-54)
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X I . D i e s ym b o l i s c he K a s tr at i o n Die Lust ist vergangen, aber das Wort vom „großen Lachen“ bleibt im Gedächtnis. Es bezeichnet zwar einen eminent körperlichen Vorgang, nimmt aber die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit zum Ausgangspunkt. Und genau dadurch erhält es seine besondere, ungewöhnliche Funktion: Ein so geartetes Lachen transformiert nämlich die Vorstellung von der realen Kastration bzw. Kastrationsdrohung in eine ‚symbolische Kastration‘. Erst wenn diese Wendung vollzogen ist, wird klar, dass der Schrecken des weiblichen Genitales gar nicht von der potentiellen Kastration ausgelöst wird und auch nicht etwa von der abstoßenden ‚Vielfältigkeit‘ der Vulva35, sondern von der Forderung, ein imaginäres Gebilde preiszugeben. „Wenn in unserer Kultur das Weibliche als das Andere des Mannes konstruiert wird, dient das [...] nicht einfach der Stabilisierung seiner unangefochtenen Macht-Position, der die Frau als Unterlegene beigefügt wird und die sie insofern bestätigt und stützt. Als zu erhaltendes phantasmatisches Objekt der Vollständigkeit muß die Frau gerade das sein, was der Mann nicht versteht, nicht zu durchschauen vermag [...] – nur dadurch ist sie Garant dafür, daß Vollständigkeit existiert. Je unerklärlicher die Frau, desto sicherer, daß sie ‚etwas‘ hat, etwas ‚an sich‘ hat, das mehr ist als sie selbst.“ (Rendtorff 1996, 144f.)
Im Anschluss an Freud und Lacan betont Julia Kristeva, „daß das Sprechen und die symbolische Funktion, die es bestimmt, dem Einschneiden der Kastration entspricht. Aus dieser Operation heraus befindet sich ausnahmsweise der Sinn genau an dem Ort, an dem das denkende, da geschlechtlich differenzierte Seiende agiert.“ Hier kann sich „eine reine Lust des Wortes artikuliere[n]. Indem es sich selbst im Zuhören des Anderen bis zu den Abgründen der Leidenschaft immer neu überwindet, kann dieses Wort Fleisch werden.“ (1994, 101) Die „symbolische Kastration“ ist mithin „nicht so sehr als Askese, sondern vielmehr als die Öffnung zu einer endlosen poiesis“ (ebd., 104) zu betrachten. Allein ihre Anerkennung vermag sicherzustellen, dass die Frauenbewegung keinem neuen Körperkult verfällt und keine naive Verherrlichung eines nur kurzfristig befreienden Lachens betreibt. Dass eine solche Gefahr besteht, zeigen Äußerungen prominenter Autorinnen wie z.B. das Statement von Marguerite Duras (1980): „I think the future belongs to women. Men have been completely dethroned. Their rhetoric is stale, used up. We must move on to the rhetoric of women, one that is anchored in the organism, in the body.” Zweifellos spielt die Haltung zum Körper nicht nur in archaischen, sondern auch in spätmodernen Gesellschaften eine entscheidende Rolle.36 Die Prozesse der Disziplinierung und Kontrolle des Körpers sind ebenso zu beachten wie die allmähliche Freigabe des Körpers in der Neuzeit und seine gegenwärtige mediale (Re-) Konstruktion und Domestizierung.37 Dass in der Sozialisation der Geschlechter bis heute unterschiedliche Körperkonzepte zum Einsatz kommen, ist ohnehin evident: „More so than men who are coaxed toward social success, toward sublimation, women are the body.“ (Cixous 1980, 257) Diese spezifische Körperverankerung könnte – so ließe sich spekulieren – den Frauen zum Vorteil gereichen, wenn die gesellschaftliche Entwicklung auf Verhältnisse zusteuert, in denen die herkömmli35 Es sei hier noch einmal an Sombarts pathetische Darlegungen (1995, 42) erinnert. 36 Vgl. Douglas 1981. 37 Vgl. Ellrich 1997.
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chen Mechanismen zur Konstitution sozialer Ordnung (z.B. Normen und Werte) ihre Leistungsfähigkeit einbüßen.38 Der Körper und die in ihm aufbewahrten Ressourcen der Problembewältigung müssten dann in einem historisch bislang nicht erreichten Umfang zur Geltung kommen. Und das Lachen, speziell das weibliche Lachen,39 würde eine enorme Bedeutung erhalten. Mit Plessner lässt sich das Lachen als eine durch die „symbolische Prägung“ nicht mehr zu beherrschende „Eruption des gleichsam verselbständigten Körpers“ deuten (1982a, 234): Wenn in bestimmten schwierigen Situationen die gültigen kognitiven oder normativen Orientierungsmuster versagen, kommt den Individuen ihr Körper zu Hilfe. 40 Im Lachen etwa finden sie eine Antwort auf „die unbeantwortbare Lage.“ (ebd., 276) Sie nehmen Abstand und lösen sich aus den Verstrickungen, in die sie geraten sind. Lachen ist daher für Plessner ein menschlicher Triumph in der Katastrophe (vgl. ebd., 274).41 Breuer vertritt in ihrem Stück eine feministische Konzeption des Lachens, die Plessners zweifellos großartige Beschreibung in einem wesentlichen Punkt korrigiert. Das „große Lachen“ (53) ist eher eine Frage als eine Antwort. Es markiert Probleme, aber löst sie nicht. Während das gewöhnliche Lachen den Subjekten eine Art Moratorium verschafft, das sie zur Restauration überkommener Verhaltensmuster nutzen, stimuliert das „große Lachen“ den Dialog und untergräbt die erstarrten Fronten. Es erschüttert im wahrsten Sinne des Wortes das Zwerchfell „als Scheidewand zwischen oben und unten, zwischen rational und vegetativ, zwischen männlich und weiblich“, zwischen Gesicht und Geschlecht. Platons Metaphysik der binären Codierung und asymmetrischen Bewertung, die das abendländische Denken bis heute beeinflusst, wird in Schwingung versetzt. Ganz im Einklang mit einigen platon-kritischen Bemerkungen von Aristoteles42 verwandelt sich das affizierte Zwerchfell in eine durchlässige Membran, die den regen Austausch der Regionen und Ebenen ermöglicht. Das große weibliche Lachen, das Sonja Breuer in deutscher und französischer Sprache beschwört, feiert also nicht den kurzen Triumph des Körpers, sondern „schafft“ einen „Weltkontakt“ (53), der sich im Medium jener Worte bewegt, die Fleisch werden, ohne den Sinn zu opfern.
38 Vgl. Ellrich 2001. 39 „Kinder und Weiber lachen am meisten.“ (Jean Paul 1975, 121) Denn beide – so lautete eine gängige These – stehen der sozial ungebändigten Natur näher als Männer. Nicht selten wurde das Lachen der Frauen als Zeichen des offenen (wenn auch gewöhnlich ohnmächtigen) Widerstandes gegen die Vergesellschaftung gedeutet und entsprechend scharf sanktioniert. 40 Vgl. hierzu die kritischen Bemerkungen von Heinrich (1986, 28), Rötzer (1986, 70) und Jurzik (1985, 43). 41 Sollten beide Annahmen – 1. Lachen ist ein Zeichen dafür, dass körperliche Ressourcen das Scheitern kognitiver Orientierungsmuster kompensieren können; 2. Frauen sind ihrem Körper näher als Männer – zutreffen, so wäre damit zu rechnen, dass Frauen anders lachen als Männer, z.B. weniger jäh und eruptiv; denn die Herrschaft des Körpers in Krisensituationen würde für Frauen ja keinen krassen Bruch in den Strategien der Verhaltenssteuerung bedeuten. Ferner könnte man mutmaßen, dass Frauen hämischer lachen, weil sie so den Zusammenbruch der kognitiven Problemlösungsinstrumente als eine Erfahrung kommentieren, die die Männer machen müssen, um zu erkennen, dass sie ihre intellektuellen Konzepte weit überschätzen. 42 Vgl. hierzu Kimmich 1999, 126f.
7. T H E A T R A L I T Ä T , S P I E L U N D K A MP F B E I P L E S S N E R UN D K A F K A 1 I.
D i sk u r s e d e r S c h am
„Die Scham“, so schreibt Walter Benjamin in seinem berühmten Essay von 1934 über jenen Autor, der sich einmal in vermeintlicher Selbstüberhebung zum geistigen Mittelpunkt Prags erklärt und diese wahnwitzig treffsichere Angabe sogleich wieder mit einem Federstrich getilgt hatte2, „ist die stärkste Gebärde Kafkas.“ (1977, 428)3 Benjamin hegt offenbar keine Scheu, Kafkas sprachliche Darstellung des besagten körpernahen Affekts, der sich im Erröten und Blicksenken einer exponierten Person so unverkennbar niederschlägt, als Gebärde zu deuten. Er spitzt damit seine These, Kafkas Prosa betreibe eine „Auflösung des Geschehens ins Gestische“ (ebd., 418), beispielhaft zu. Gebärden und Gesten gehören für Benjamin einem Bereich der Kommunikation an, der sich nicht auf die traditionelle Funktion des Ausdrucks reduzieren lässt. Es ist keine seelische oder gedankliche Innenwelt des Individuums, die mit Hilfe von Gesten ‚geäußert’ oder gar kraft intentionaler Steuerung des Subjekts intersubjektiv zugänglich gemacht wird. Im Gestischen zeigen sich vielmehr soziale Formierungsprozesse, über die der Einzelne, der Gesten spontan verwendet oder (wie das Erröten) an sich erfährt, nicht souverän verfügen kann. Als unübersehbare und irritierend signifikante Gebärde, deren Bedeutung sich aber beständig verschiebt und nicht fixieren lässt, offenbart die Scham, welches Gewicht die Phänomene Körperlichkeit und Selbstdarstellung besitzen, wenn es „um die Frage der Organisation des Lebens und der Arbeit in der menschlichen Gemeinschaft“ (ebd., 420) geht. Die Strategien, mit denen die bürgerliche Gesellschaft das Problem sozialer Ordnung zu lösen versucht und am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend in Schwierigkeiten gerät, basieren auf einem Kon-
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Franz Kafkas Schriften zitiere ich (im laufenden Text) nach der Kritischen Ausgabe (1982ff.): P = Der Proceß, D = Drucke zu Lebzeiten, N I bzw. N II = Nachgelassene Schriften und Fragmente, T = Tagebücher, A = Apparatband. „Die besondere Art meiner Inspiration in der ich Glücklichster und Unglücklichster jetzt um zwei Uhr nachts schlafen gehe (sie wird vielleicht, wenn ich den Gedanken ertrage, bleiben, denn sie ist mir höher als alle früheren und zweifellos bin ich jetzt im Geistigen der Mittelpunkt von Prag)“ – Eintrag vom 19. Februar 1911 (T, 30, sowie für die gestrichene Passage: TA, 169). Nicht allein auf die stärkste, auch auf die häufigste Gebärde in Kafkas Texten weist Benjamin hin, nämlich „die des Mannes, der den Kopf tief auf die Brust herunterbeugt.“ (ebd., 432) Stärke und Häufigkeit dieser Gebärde mag man auch mit Blick auf eine Geste ermessen, die am Schluß des Proceß als Doppelfigur erscheint: „... ein Mensch schwach und dünn in der Ferne und Höhe beugte sich einen Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus.“ Wenig später heißt es: „Er [K.] hob die Hände und spreizte alle Finger.“ (P, 312)
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zept von Subjektivität, das den metaphysischen Leib-Seele-Dualismus4 auf intrikate Weise mit der modernen Idee einer Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit vermengt und so die klare Differenz von Geheimnis und Schonung auf der einen, Publizität und Transparenz auf der anderen Seite untergräbt. Aus diesem Grund ist es kein Zufall, dass der Begriff „Scham“ im Diskurs der Moderne zwischen 1900 und 1924 gerade dort eine zentrale Rolle spielt, wo die soziale Welt als Krisenzusammenhang analysiert wird. Am Schamphänomen ist ablesbar, in welchem Maße die ansteigende Individualisierung des Einzelnen zugleich auch seine intensivere Einbindung in die sozialen Macht- und Kontrollfelder bedeutet. Auf paradoxe Weise verbinden sich nämlich in der Moderne die Spielräume subjektiver Freiheit mit den Mechanismen sozialer Prägung bzw. Disziplinierung.5 Die Analyse der Scham sensibilisiert aber nicht allein für diese Dialektik, sie liefert auch Befunde über die Quellen, aus denen die Orientierungsmuster, an die sich die Menschen in einer nach-metaphysischen Welt halten, ihre verborgenen Energien beziehen. Ein durch Rationalisierungs- und Technisierungsprozesse nicht überwundenes, sondern nur mühsam kaschiertes Substrat gleichsam ‚archaischer’ Gefühlsweisen und Verhaltensformen, die sich in buchstäblicher Leibhaftigkeit bemerkbar machen, tritt in den Blick. Die Protagonisten der Psychoanalyse, der Soziologie und der philosophischen Anthropologie (übrigens mehrheitlich Juden wie Kafka) haben deshalb der Scham als prägnanter Geste, die Körper und Geist jäh zusammen zwingt, ihre Aufmerksamkeit geschenkt und sind zu pointierten Ansichten gelangt: Für Sigmund Freud ist Scham eine teils biologisch bedingte, teils anerzogene Trieb-Hemmung, die Sublimation und mithin Kultur ermöglicht6, aber auch zur neurotischen Übertreibung tendiert. Daher ist sie ein Indikator für die möglichen pathologischen Effekte, die die notwendige, aber zumeist überdosierte Triebunterdrückung erzeugt. Für Georg Simmel gehört Scham zu den Mechanismen, die zur Vergesellschaftung des Individuums beitragen, indem sie die (positive oder negative) Exponiertheit des Einzelnen mit einer selbst verhängten Körper(signal)strafe ahnden, die oft peinigender ist als die Sanktionen des offiziellen Rechts. Allen „Äußerungen des Schamgefühls“, schreibt Simmel, ist „eine starke Betonung des Ichgefühls gemeinsam, die mit einer Herabsetzung desselben Hand in Hand geht. Indem man sich schämt, fühlt man das eigene Ich in der Aufmerksamkeit anderer hervorgehoben und zugleich, daß diese Hervorhebung mit der Verletzung irgendeiner Norm (sachlichen, sittlichen, konventionellen, personalen) verbunden ist.“ (Simmel 1986, 141)
Für Max Scheler ist die Scham ein wichtiges Medium der Selbsterkenntnis, denn sie hebt die Tatsache der menschlichen Körperlichkeit schlagartig ins Bewusstsein. Indem sie derart den „dunkel mitgegebenen Leib“ (Scheler 1957 [1913], 67) manifestiert, schützt sie den Geist aber auch vor dem drängenden „Anspruch“ des Körpers. „Nur weil zum Wesen des Menschen ein Leib gehört, kann er in die Lage kommen, sich schämen zu müssen; und nur weil er sein geistiges Personsein als wesensunabhängig von einem solchen ‚Leibe’ erlebt […], ist es möglich, daß er in 4 5 6
Wie Kafka diesen Dualismus „doppelt durchkreuzt“, hat Winfried Menninghaus (2001, 437) eingehend beschrieben. Das haben die Klassiker der Soziologie – Emile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber – aufgezeigt. Vgl. Freud 1972b [1905], 85.
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die Lage kommt, sich schämen zu können.“ (ebd., 71) Dieser ‚geistige’ Aspekt der Scham zeigt sich nun laut Scheler besonders deutlich, wenn sie als ein ästhetisches „Versprechen“ fungiert, das in den betörenden Akten des Verbergens „ungewollt“ auf die „geheime Existenz“ des „Schönen“ (ebd., 101) hinweist. Den Höhepunkt des Diskurses zur Scham bilden Überlegungen des abtrünnigen Scheler-Adepten Helmuth Plessner. In Kafkas Todesjahr 1924 publiziert er seine Streitschrift Die Grenzen der Gemeinschaft7, die den aktuellen – politischen und ästhetischen – Protest gegen die Moderne zum Ausgangspunkt einer alternativen Beschreibung der ‚richtigen’, d.h. auf die Conditio humana zugeschnittenen Gesellschaft nutzt. Plessner konzipiert einen weiten und doch sehr spezifischen Begriff von Scham; weder führt er ihn moral-theoretisch eng (Scham als Reaktion auf die von Anderen oder auch vom eigenen Gewissen8 registrierte Verletzung einer Norm, die man insgeheim teilt, obschon man sie übertreten hat oder ihr nicht entspricht), noch bezieht er den Schambegriff primär „auf das sexuelle Leben“.9 Scham wird vielmehr als ein Phänomen verstanden, das mit dem Grundproblem des Ausdrucks verknüpft ist – ein Problem, das besonders gravierend wird, wenn die Subjekte begreifen, dass sie ohne transzendente Deckung leben müssen, also „wahrhaft auf Nichts gestellt“ sind. (Plessner 1980 [1928], 365) Einerseits können sich Menschen – nach Plessner – nur selbst verwirklichen, wenn sie sich offenbaren und öffentlich zur Geltung bringen, andererseits hegen sie eine merkwürdige Scheu, sich „nackt“ hervorzuwagen (GG, 75) und ihr Innerstes zu präsentieren. Diese Doppelung resultiert aus einer „ontologischen Zweideutigkeit“ (GG, 63): Die menschliche Psyche ist nämlich einem ständigen Wandel unterworfen und zugleich ein festes Gebilde, das auf Verharrung beruht. Zum Problem wird die Ausbalancierung beider Tendenzen, weil der Drang, sich zu äußern und rückhaltlos darzubieten, nicht allein durch eine psychische Gegenkraft gehemmt wird, sondern weil durch jede Preisgabe innerer Zustände, das dramatische „Risiko der Lächerlichkeit“ (GG, 75) und der „Erniedrigung“ (GG, 80) eingegangen wird. Die anthropologisch tief verwurzelte Scheu oder Scham ist deshalb eine Schutzvorrichtung, die die Selbstdestruktion des Menschen durch ungenierte Freigiebigkeit und bereitwillige Entäußerung der eigenen ‚Seele’ verhindert. Jeder Ausdruck ist von einer Prätention geleitet, die sich angesichts dessen, was schließlich zum Vorschein kommt, nur in günstigen Fällen einlösen lässt. In der Regel bleibt das Gezeigte hinter Erwartung und Anspruch zurück. Das „Seelische“ ist zwar in fast all seinen Zuständen bestimmt und diese „Bestimmtheit“ fungiert auch als unsichtbare Deckung des Geltungswunsches, der die inneren Gestalten zur Offenbarung treibt, „aber erfaßt, zerrinnen sie unter dem Griff der Wahrnehmung, wie wir erwachen, wenn wir träumen, daß wir träumen.“ (GG, 62) Wegen dieses „Verlustes an Gewicht“, den das Subjekt mit der Schamreaktion leibhaft kommentiert, „täuscht es immer noch mehr vor als was es faktisch schon ist. So kommt es zu jener an und für sich durchaus nicht verständlichen Lächerlichkeit aller ungehemmten Affektäußerungen, ja Kundgaben des Psychischen überhaupt.“ (GG, 71) Daher ist es 7 8
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Plessner 1981 (im weiteren Text zitiert als GG). Vgl. dazu Lethen 1994 sowie Eßbach/Fischer/Lethen 2002. Eine derartige Selbstverurteilung resultiert aus der Verinnerlichung jener für die Schamreaktion charakteristischen Beobachtung und Verurteilung durch Andere. Wir können, wie Simmel feststellt, „die innere Lage, die sonst durch die Aufmerksamkeit anderer in uns zustande kommt, rein immanent zum Anklingen bringen und uns so vor uns selbst schämen.“ (Simmel 1986, 145) Diese Reduktion beklagt Simmel (ebd., 143).
146 | VORFÜHREN UND VERFÜHREN „nicht gut, sich zu sehr sehen zu lassen, wie man ist, auch nicht gut, restlos in einer Expression aufzugehen, die Folgen dieser Preisgabe vor dem eigenen Bewußtseinsblick, vom Blick der anderen ganz zu schweigen, machen stets auch Ernüchterung und Schrumpfung gleichsam des seelischen Spannungsvolumens fühlbar und sichtbar.“ (GG, 91)
Wenn dies die problematische Grundbefindlichkeit der Gattung ist, für deren Bearbeitung die ‚Natur’ selbst keine eindeutigen Vorschriften gibt, so fällt offenbar den sozialen und kulturellen Einrichtungen des Menschen die Aufgabe zu, angemessene Lebensformen zu schaffen, von denen die Individuen weder über- noch unterfordert werden. Es gilt mithin, Ausdrucksweisen zu erfinden, die Distanz zu den heiklen Zonen des Seelischen halten und gleichwohl den Trieb zur Darstellung befriedigen. Unter diesem Gesichtspunkt vertritt Plessner die These, dass eine gesellschaftliche Ordnungsform, die der anthropologischen Ausgangslage entspricht und gewachsen ist, vom „Geist der Spiele“ leben muss. Funktionsgerecht sind freilich nicht beliebige Spiele, sondern allein Formen, die zugleich Distanz und Genuss verschaffen, eben „Spiele der Unerbittlichkeit und [...] der Freude.“ (GG, 94) Das basale Problem der Lächerlichkeit ist nur zu beheben, wenn sich der Mensch eine künstliche Realität kreiert, wenn er mit anderen Worten zu einer „irrealen Kompensation“ (GG, 82) seiner Gefährdung greift. Spiele, die solche artifiziellen Welten darstellen, implizieren Verstellungen und Maskeraden, in extremen Lagen aber auch Mittel, die Distanz und Irrealität gewährleisten, indem sie die Gefahr der Erniedrigung durch die Bereitschaft zu anderen und neuen Gefahren parieren. In derart unerbittlichen Spielen werden die Masken durch Rüstungen ersetzt und die Parole heißt jetzt: Kampf. Denn „der Mensch in Rüstung will fechten.“ (GG, 82) Aber Aufrüstung und Kampfeswille erfüllen ihre zentrale Aufgabe, dem Menschen ein Leben ohne Beschämung zu ermöglichen, immer nur dann, wenn sie durch kunstvolle, irreale Formen gebändigt sind.
II. Das Starre und das Bewegliche Nun wird man nach dieser kurzen Vorstellung von Plessners Kernargumenten gern einräumen, dass zwischen seinen theoretischen Standpunkten und Kafkas Geschichten erstaunliche Korrespondenzen und interessante Reibungsflächen bestehen. Aber lassen sich daraus Erkenntnisse über Kafkas Verwendung des Schambegriffs gewinnen, die nicht schon in der reichhaltigen Literatur zum Thema ausgebreitet und kontrovers diskutiert worden sind? Neben den einschlägigen Darlegungen von Emrich (1958, 217) und Sokel (1964, 282-296; 1984) liegen inzwischen so profunde Analysen wie diejenigen von Vogl (1990, 44-50), Wurmser (1990, 4450), Lehmann (1991, 830-832) Menninghaus (2001, 447-449) und Böning (2002, 70f.) vor. An Kafkas Prosa fällt – dies mag als eine der ersten und nachhaltigsten Leseerfahrungen gelten – der gewaltige Spannungsbogen zwischen Textelementen, die etwas Inertes, Starres, Grundsätzliches10 verkörpern, und Zeichenspuren, die etwas höchst Bewegliches, ja Nomadisches in Szene setzen, ins Auge. Es handelt sich hierbei um einen Befund, der für die semantische Ebene nicht weniger charakteristisch ist als für die sprachliche Darstellungsweise. Erlaubt, ja vielleicht sogar gebo10 In diesem Zusammenhang wird mitunter von „anonymen Schicksalgewalten“ gesprochen, die Kafka beschwöre (Ries 1993, 165), aber diese Formulierung verleugnet gerade die signifikante Abstraktheit, die das Inerte bei Kafka annimmt.
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ten ist die Verwendung einer derartigen, literaturtheoretisch längst fragwürdig gewordenen Differenz, weil sie sich im Zuge der Lektüre ohnehin auflöst. Wer sich ihrer aber von vornherein aus professioneller Raffinesse begibt, verschenkt die Wahrnehmung eines Transformationsprozesses, der nicht gebührend gewürdigt wird, wenn man ihn bloß als Übergang einer Beschreibung, die vor juristischer Klarheit funkelt, in eine Traumlogik, deren Assoziationsfelder unermesslich sind, auffasst. Versucht man den genannten Spannungsbogen näher zu bestimmen, so bietet sich zunächst eine Polarisierung an, die schon Sokel mit seiner Doppelfigur von Tragik und Ironie anvisierte. Diese Figur legt eine Interpretation zugrunde, die das Irritationspotential der Texte in traditionelle Muster abendländischer Konfliktbewältigung einschreibt. Es reicht aber bereits ein weit behutsameres Vorgehen aus, um das entscheidende Problem deutlich zu machen: Auf der eine Seite weisen Kafkas unterschiedliche Arbeiten, welcher Gattung man sie auch im einzelnen zuordnen mag, eminent spielerische Züge auf. Dem Theatralischen und Komödiantischen wird erheblicher Raum gegeben. Schwerelosigkeit, Grazie und Artistik prägen in mehr als einer Hinsicht sogar noch Beschreibungen, die auf den ersten Blick verstörend und schockierend wirken. Andererseits zeugen die Texte von traumatischen Erfahrungen, von Ängsten, Todessüchten und abgründigen Gelüsten. Unentrinnbare Machtstrukturen und Formen grausamer Gewalt werden detailbesessen dokumentiert, als handele es sich um Material, denen nur die Routine der amtlichen Erfassung angemessen ist. Die Darbietung des Stoffs lässt jeden unmittelbar kritischen Impetus vermissen und bietet für die Einnahme einer Perspektive, die sich emanzipatorischen Interessen verpflichtet weiß, nicht den geringsten Anlass. Wie man an Adornos furiosen „Aufzeichnungen“ (1955) nachvollziehen kann, beißt sich das Verfahren der „negativen Dialektik“, das den totalen „Verblendungszusammenhang“ durch seine erbarmungslose Rekonstruktion aufbrechen will, an Kafkas Prosa die Zähne aus; denn hier wird nicht die Rache der Natur an Zivilisation, sondern nur die absolute Hoffnungslosigkeit kalt genossen. Aus der „Totschlägerreihe“ springt Kafka offenbar nur durch Todesphantasien (vgl. Kurz 1980) heraus, die den begehrten „Trost des Schreibens“ gewähren. Aber es ist gar nicht die Imagination des Todes, die den zweiten Pol des erläuterten Spannungsbogens kennzeichnet; zumindest nicht eine Idee des Todes, die das Lebensende mit existentialistischem Pathos oder tragischem Flair versieht, um dem qualvollen Verschwinden des Einzelnen noch einen Rest von Sinn abzupressen. Allfällige Versuche den Tod, den Georg Bendemann, Gregor Samsa und Josef K. erleiden, im Anschluss an Nietzsche als geglückten Aufstand gegen die verhängnisvolle Individuation zu deuten, erweisen sich angesichts von Kafkas Erzählung Der Jäger Gracchus als lächerliche hermeneutische Posen. Es geht vielmehr um das so provozierende statische, ja unauflösbare Element in den Konstruktionen, mit denen Kafka Prozesse der Traumatisierung, Machtausübung, Gewaltsamkeit etc. vorführt. Die minutiösen Beschreibungen weisen einen merkwürdigen Zug ins Überhistorische11 und ‚Vorweltliche’12 auf, an 11 Dies lässt sich auch nicht durch den Nachweis in Abrede stellen, dass in Kafkas Böhmen antisemitische Femegerichte existierten, die dem Gericht ähneln, welches im Proceß beschrieben wird. 12 Benjamin spricht von den „vorweltlichen Gewalten, von denen Kafkas Schaffen beansprucht wird“ und fügt orakelhaft hinzu: „Er hat in ihnen sich nicht zurechtgefunden. Er hat sie nicht gekannt. Er hat nur in dem Spiegel, den die Vorwelt ihm in Gestalt der Schuld entgegenhielt, die Zukunft eines Gerichts, das diese Kräfte ins Werk setzt, erscheinen sehen.“ (Benjamin 1977 [1934], 427)
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dem keine ambitionierte und strenge Interpretation vorübergehen kann. Dem Zwang, hier einen literaturwissenschaftlichen Ausweg zu finden, der sich als Lösung präsentiert, haben sich viele Forscher dadurch entledigt, dass sie metaphysische, psychoanalytische oder formalistische Deutungsverfahren ins Spiel brachten. Denn mit genau diesen Verfahren lässt sich das Grundsätzliche, von dem Kafkas Texte wie von einer unvordenklichen Substanz zehren, als Basisstruktur – sei es des menschlichen Daseins, des ödipalen Familiendreiecks oder eines gegen externe Sinnzumutungen resistenten Textgewebes – freilegen und zugleich entschärfen. Alle aufgezählten, im Detail oft glanzvollen Interpretationskonzepte geraten in Schwierigkeiten, weil sie zwar das Rätsel des Immerwährenden und Unaufhebbaren bei Kafka lösen, aber darüber nicht den Vorgang berücksichtigen können, in dessen Verlauf das textlich fixierte Kern-Phänomen sich immer wieder verflüchtigt und in Spiegelungen jener Lufthunde verwandelt, auf die der forschende Vierbeiner in Kafkas nachgelassener Erzählung stößt. Im Unterschied zu metaphysischen, psychoanalytischen oder formalistischwerkimmanenten Ansätzen liefert die philosophische Anthropologie, die Plessner entworfen hat, ein Deutungsraster, das mit ein und derselben Denkfigur sowohl die statischen als auch die dynamischen Aspekte berücksichtigen kann. Denn die Wesensbestimmung des Menschen ist hier so verfasst, dass sich seine unveränderliche Beschaffenheit durch eine doppelte Paradoxie auszeichnet. Zunächst einmal unterliegt der Mensch dem „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“, dessen überraschende Pointe auch in Plessners berühmter Formel von der „exzentrischen Positionalität“ einen Niederschlag findet. Sodann erhebt sich mit Blick auf dieses Gesetz die konkrete Frage, wie „der Mensch dieser seiner Lebenssituation gerecht“ (Plessner, 1980 [1928], 382) wird. Damit ist ohne Umschweife gesagt, dass es keineswegs im Vorhinein feststeht, ob überhaupt und auf welche konkrete Weise die Individuen ihrem Wesen entsprechen können. Zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehört nämlich hinzu, dass er sein eigenes Wesen verfehlen kann. Diese potentielle Selbstverfehlung ist Bestandteil seiner natürlich-künstlichen Anlagen. Deshalb muss der Mensch durch eine streitbare Ethik – wie sie exemplarisch in Die Grenzen der Gemeinschaft ausgearbeitet ist – daran erinnert werden, dass er die Aufgabe hat, zu werden, was er ist, nämlich ein exzentrisch positioniertes Gattungssubjekt, das seine basale Selbstdistanzierung nur unter sozialen Bedingungen vollständig realisieren kann, wenn ein entsprechender institutioneller Rahmen vorhanden ist, der die erforderlichen bürokratischen Apparate mit intersubjektiven Verkehrsformen kombiniert, die „Zeremoniell und Prestige“ (GG, 79ff.) ebenso prämieren wie die „Logik der Diplomatie“ und die „Hygiene des Taktes.“ (GG, 95ff.) All diese faszinierenden Errungenschaften, die die „Kultur der Unpersönlichkeit“ (GG, 133) etablieren, dienen letztlich nur einem Zweck: die Verbindung von Spiel und Kampf auf höchstem Niveau zu gewährleisten.
III. Spiel-Arten Weit deutlicher als bei Plessner zeigt sich in Kafkas Werk, dass die empfohlenen Heilmittel – Spiel und Kampf – selbst einem Risiko ausgesetzt sind: statt als Techniken eingesetzt zu werden, die das Problem der Entblößung entschärfen und das Risiko der Lächerlichkeit mindern, dienen sie oft genug als Medien einer neuen Authentizität und Wesentlichkeit. Notorisch ist im frühen zwanzigsten Jahrhundert die Erfahrung, dass „alles Eigentliche, bei Licht besehen, enttäuscht.“ (GG, 67)
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Dies gilt in besonderem Maße für das auf Identitätsgewinnung und -wahrung bedachte Subjekt. Wird ihm mit lakonischer Geste die Maske heruntergezogen, kommt schlagartig die Leere des Ichs oder die narzisstische Überheblichkeit seiner Wünsche zum Vorschein. Aber diese Freilegung der Substanz muss nicht unweigerlich die Sucht nach Eigentlichkeit zum Verschwinden, sondern kann auch das Verfahren der Entwertung in Misskredit bringen. Um die Idee eines gehaltvollen Wesens hinter den Fassaden zu retten, kommen dann Praktiken wie Spiel und Kampf gerade recht. Das Eigentliche lässt sich nun als hohes Ziel anpreisen, das mit erheblichem Aufwand erspielt und erkämpft werden muss. An die Stelle der schlichten Demaskierung, die offenbar ein unbefriedigendes Ergebnis hat, tritt ludische Verklärung und kriegerischer Heroismus. Das Spiel wird zum Selbstzweck, der Kampf zum inneren Erlebnis. Beide haben dann nicht länger eine psychohygienische Funktion, sie bilden jetzt vielmehr ontologische Kerne des Sinns, die keine funktionellen Schalen mehr benötigen. Derartige Schwierigkeiten sind in Kafkas Figuren des Spiels impliziert. Alle Formen vergnüglicher Distanzschaffung und Schonung, die den existentiellen Ernst in ästhetisch-artistische Gebilde transformieren, bleiben zweideutige Manöver. Daher ist es auch kein Wunder, dass gerade die markanten Bezüge auf traditionelle und weniger geläufige Typen des Spielerischen, die zahlreich in Kafkas Texten vorkommen, gegensätzliche Auslegungen gefunden haben. Allein schon die Art, wie Kafka die Begriffe „Theater“, „Komödie“, „(grober) Spaß“, „Darstellung“, „Rolle“, „Schauspiel“13 etc. verwendet oder genrespezifische Muster abruft, gibt Anlass zu krass differierenden Lektüren. Exemplarisch hat Claudia Liebrand die „theatralische Verfaßtheit“ des Proceß-Romans analysiert und gezeigt, mit welcher Konsequenz Kafka die „Theatermetapher [...] ausgeschrieben“ und die „theatralischen Modelle [...] nachgespielt“ hat. (Liebrand 1989) Dass reichlich konventionelle philosophische Schlüsse aus dieser Vorgehensweise gezogen werden können, lässt sich bei Gerhard Kurz nachlesen: „Die Theatermetapher deutet das Leben als ein tragikomisches Spiel der Existenz, das sich über sich selbst etwas vormacht, sich aufführt, wo es nicht zu Hause ist, als wäre es zu Hause. Und sie definiert diese Handlungen als ein Theater der Innenwelt, als Theater eines Bewußtseins, das sich im Verstehen mißversteht und im Mißverstehen versteht. Vor allem versteht und mißversteht es, daß die anderen Figuren [...] Personifikationen seiner selbst, seine ‚Doppelgänger’ (sind).“ (Kurz 1980, 186)
Zugleich aber muss Kafkas Darstellung dieses entscheidende Missverstehen, das die Identifikation des Doppelgängers als Spiegelung des agierenden Ichs verhindert, durch den metaphorischen Einsatz theatralischer Repräsentationsformen auch sichtbar machen, sonst könnte der Interpret gar nicht zu seiner These gelangen. Demnach initiiert das Theatermodell eine Form der Bewusstseinserforschung, die einer einfachen, auf theatralische Brechungen verzichtenden Selbstreflexion überlegen ist. Als ‚einfach’ ließe sich hier eine Reflexion definieren, die unkritisch unterstellt, ein denkendes Ich könne sich durch Bewusstseinsakte, die sich auf es selbst zurückbeugen, ohne Schwierigkeiten erreichen. Weil aber – wie Fichte gezeigt hat – das reflektierende Ich gar nicht sicher sein kann, ob das Objekt, auf das es in der Reflexionsbewegung trifft, mit ihm identisch ist, muss es ein Vorwissen um seine Einheit immer schon in Anspruch nehmen. Diese als anwesend gedachte 13 Besonders auffallend ist die Rede vom „Schauspiel“ einer aussichtlosen Revolte, das die Schakale vor jedem Europäer aufführen, der ihnen begegnet (D, 274).
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prä-reflexive Identität kann jenseits der philosophischen Sprache durch das Theatermodell verdeutlicht werden; denn das Theater fungiert als Rahmen für die körperliche Doppel-Präsenz von Beobachtungssubjekt und Beobachtungsobjekt. Ein solcher Rahmen bildet nun die Voraussetzung für ein Spiel, in dem das Ich sich selbst als einem maskierten Anderen begegnen kann, der – ohne seine Maske jemals abnehmen zu müssen – im Zuge des Geschehens (nicht notwendig, aber mit hinreichender Gewähr) als eigenes Ich zu erkennen ist. Wegen dieser Möglichkeit, die primär durch gestische Arrangements und nicht durch intentional gefesselte Zeichen hergestellt wird, ist das Theater „der höhere Ort der Selbstbegegnung“ (Bohrer 2002, 318)14, den Kafka nicht zufällig aufgesucht, im Tagebuch ergiebig kommentiert und zu einer zentralen Metapher seiner Darstellungstechnik gemacht hat. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen, die ihn schließlich zum Theatermodell führen, bildet die Feststellung: „Es gibt kein Beobachten der inneren Welt, so wie es eine der äußeren gibt.“ (N II, 32) Weil dies so ist, verwirft Kafka die Psychologie – „Zum letztenmal Psychologie!“ (N II, 81, 134) – und warnt sich selbst vor Schreib- und Reflexionsbewegungen, die ihn „hündisch umlaufen.“ (T, 608)15 Die Beobachtung und Erforschung des Selbst muss daher auf andere, indirekte Weise erfolgen. Gefordert ist eine Reflexion, die gleichsam „inszeniert“ wird. Diese „neue Art“ der Analyse beruht auf einer „Doppelreflexion“ (Lange 1986, 297), wie sie Kierkegaard in seinen Tagebüchern vorgeführt hat. Es geht um ein „Denken hinter Masken“ (Lange 1986, 299), um eine Form theatralischer Darstellung, die Selbstvergegenwärtigung und Fremdwahrnehmung zugleich gewährt und sich trotzdem stereoskopisch in ihre Elemente zerlegen lässt. Masken trennen zunächst einmal das Subjekt von seiner Rolle und geben ihm so die Chance, sich jener Verantwortung zu entledigen, die von traditionellen Ethiken gefordert wird. Sodann erschließen sie ihrem Träger aber auch Spielräume, in denen er sich gerade wegen seiner Verantwortungslosigkeit anklagen, ja geradezu in einen Taumel der Selbstbezichtigungen16 hineinsteigern kann. Kafka lässt keine dieser Möglichkeiten ungenutzt: Er setzt das Theater der Unschuld ebenso virtuos in Szene wie das Theater der Schuld.17 Als entfesselter Briefschreiber erklärt er, dass er „Verantwortungen [...] wie eine Schlange“ (Brief an Felice, 1967, 197) ausweicht, aber nichtsdestotrotz „überall der Schuldige“ (ebd., 272) ist. Als Autor erfindet er die Figur des Josef K., der eine nicht weiter beschriebene und deswegen vielleicht unbeschreibliche „Freude auszukosten“ vermag, als er die Gelegenheit erhält, die elementare Frage nach Schuld oder Unschuld „ohne jede Verantwortung“ zu beantworten (P, 200). Hierfür wird schließlich mit sichtlicher Erleichterung und ohne die absehbaren Beschwerden sogar eine tief schürfende Rechtfertigung geliefert: „Das, was Verantwortungsgefühl ist und als solches sehr ehrenwert wäre, ist im letzten Grunde Beamtengeist18, Knabenhaftigkeit, vom Vater her ge14 Siehe auch die eingehende Darstellung von Kafkas Verhältnis zum Theater bei Bohrer 2002, 310ff. 15 Vgl. die Notiz vom 23. Oktober 1917: „Erkenne dich selbst, bedeutet nicht: Beobachte dich selbst. Beobachte dich ist das Wort der Schlange. Es bedeutet: Mache dich zum Herrn deiner Handlung. Nun bist du es aber schon, bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne dich! Zerstöre dich!“ (N II, 43) 16 Vgl. hierzu Kremer 1989, 7ff. 17 Deleuze/Guattari sprechen gar von dem „Zirkus, den er [Kafka] mit dem Gefühl und Begriff der Schuld abzieht.“ (Deleuze/Guattari 1976 [1975], 129) 18 Eines der köstlichsten und pointiertesten Bilder für diesen Beamtengeist liefert die kurze Geschichte über Poseidon, der „am Arbeitstisch“ die „Verwaltung aller Gewäs-
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brochener Wille.“ (T, 802; 27. August 1916) Aus Plessner anthropologischer Warte ist Josef K.s Haltung und Kafkas ‚Begründung’ leicht zu verstehen; denn „an der Überdehnung des Verantwortlichkeitsbewußtseins [...] ist schon viel in der Welt, was entwicklungsfähig war, zusammengebrochen“. Wer exzentrisch positioniert ist und „Ehrfurcht vor der tiefen Zweideutigkeit in aller Existenz“ (GG, 55) hegt, weiß nur zu gut, dass man in der Lebenspraxis „mit den Dingen im Medium flüchtigen Ungefährs“ (GG, 117) fertig werden muss. Zu den Bekundungen spielerischer Verantwortungslosigkeit in Kafkas Werk gehören als Pendants die großartigen Szenen, in denen die Beweglichkeit als Daseinsform beschrieben und gefeiert wird. Man denke nur an Blumfelds komische Bälle oder an K.s groteske Gehilfen, ferner an Ordradek, den Kübelreiter und den Affen Rotpeter, sodann an jenes anonym gebliebene Subjekt, das den „Wunsch“ hegt, „Indianer zu werden“, und schließlich an den Jäger Gracchus, der im Niemandsland zwischen Leben und Tod ruhelos herumschweift. Im Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer findet sich sogar eine Stelle, die eine anthropologische Festlegung vornimmt, welche Plessners „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“ als Fußnote beigefügt werden könnte: „Das menschliche Wesen, leichtfertig im Grunde, von der Natur des auffliegenden Staubes, verträgt keine Fesselung; fesselt es sich selbst, wird es bald wahnsinnig an den Fesseln zu rütteln anfangen und Mauern, Kette und sich selbst in alle Himmelsrichtungen zerreißen.“ (N I, 344) Weil diese konstitutive Leichtfertigkeit des ‚menschlichen Wesens’ aber auch unerträgliche Risiken birgt, benötigt der Mensch – wie Plessner darlegt – Institutionen und Rituale, Rollen und Masken, Rüstungen und Waffen. Diese Hilfsmittel erfüllen aber nicht ihren Zweck, wenn sie sich verselbständigen und ein „stahlharte(s) Gehäuse“ (Weber 1984 [1905], 188) bürokratisch organisierter Machtsysteme schaffen. Unter solchen sozialen Bedingungen kann sich der natürlich-künstliche Mensch nicht entfalten. Er braucht „elastische, biegsame Formen, Stufen, ein ganzes offenes System von Möglichkeiten und Gewinnchancen.“ (GG, 87) Wie diese Spielräume erträumt und erkämpft, aber auch verfehlt und vergessen werden, davon handeln Kafkas Texte. Sie deuten Flucht- und Auswege gerade auch dort an, wo sie – wie etwa in Der Verschollene, Die Verwandlung, Beim Bau der chinesischen Mauer, Der Proceß, Das Schloß, Der Bau19 – eben jene modernen Kontroll-, Abwehr- und Schutzmaßnahmen vorführen, welche (mit den Worten Max Webers) „die absolut unentrinnbare Gebanntheit unserer ganzen Existenz“ (Weber 1958 [1920], 342) zu beweisen scheinen. Gegen die Moderne, die sich selbst rationalistisch verhärtet und die Inspirationen ihres Projekts auf dem Verwaltungsweg still stellt, hatte Weber noch ‚starke’ Heilmittel aufgeboten. Er plädierte entschieden für charismatische Führungspersönlichkeiten und den moral point of view einer Verantwortungsethik, die sich das nietzscheanische Gespür für tragische Lagen bewahrt hat. Dass Kafkas Werke, die als Rettendes eher geringfügige Mittelchen und sündige Spiele der Verantwortungslosigkeit empfehlen, aber auch auf der Linie von Weber gelesen werden können, hat Walter Sokel zu zeigen versucht. Nach dessen Ansicht verstrickt sich Josef K. nämlich in „tragische Schuld“, weil er die Kraft zur Entscheidung zwischen „der naturalistischen Fassade des Selbsterhaltungstriebes“ und dem „mystischen Traum der Selbstauflösung“ nicht aufbringt. Weder ist er fäser“ (N II, 300) betreibt, statt „mit dem Dreizack durch die Fluten zu kutschieren.“ (ebd., 302) 19 Verwandlung, Beim Bau der chinesischen Mauer und Bau beschreiben die zwanghaften Formen der Panzerung, Absicherung und Selbstalarmierung so erhellend, weil hier diese Strategien der ‚Sorge um sich’ zugleich als ‚Masken des Begehrens’ kenntlich gemacht werden.
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hig, seine sexuellen Gelüste ohne Gewissensnöte zu befriedigen, also sich „in seinem Trieb zu bewähren“, noch will er die „Verantwortung“ für seine „Schwäche“ übernehmen und einen würdevollen Tod durch eigene Hand wählen. Kafkas Proceß sollte aus diesem Grunde als „Darstellung psychischer Ambivalenz und daraus resultierender Lebensunfähigkeit“ gelesen werden. Die Lehre, die das Buch erteilt, lässt sich auf die Formel bringen: Wenn der moderne Mensch sein Dasein „ganz aufs Äußerliche, auf Ruf und Leumund ausrichtet“, und den Wankelmut zum Prinzip erhebt, dann installiert er die „Ewigkeit der Scham“; denn „in der Scham wird die Ambivalenz sein bleibendes Wesen, das ihn überdauern wird.“ (Sokel 1964, 288-294) Diese 1964 erschienene Gesamtdeutung des Romans ignoriert mit erstaunlicher Unbefangenheit populäre soziologische Befunde, wie zum Beispiel David Riesmans Studie The Lonely Croud (1950) über die diffuse Dauer-Angst des außen-geleiteten Radar-Menschen der Gegenwart. Man mag Riesmans Theorie, soweit sie die historische Abfolge von Scham-, Schuld- und Angstkulturen betrifft, in Zweifel ziehen, aber die Diagnose hinsichtlich der Bedeutung einer neuartigen Form von Außen-Lenkung, die für Industriegesellschaften nach der Jahrhundertwende charakteristisch ist, lässt sich nur schwer von der Hand weisen. Josef K.s ambivalente Einstellung ist deshalb auf der Höhe der Zeit und beweist eher einen robusten Sinn für Überlebensstrategien unter schwierigen sozialen Bedingungen als die Unfähigkeit, ein angenehmes Dasein zu fristen. Das Problem, das Kafka anhand von Joseph K. erzählend untersucht, bezieht sich auf die Schwellensituation zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsformen und Handlungsmustern. K.s Defizit (das ja auch darin liegen könnte, dass er sein Ambivalenz-Niveau nicht zu halten vermag) tritt dann ins Blickfeld, wenn man seine Haltung zum Spiel genauer betrachtet. Auch Sokel sieht hierin den entscheidenden Punkt, mit dem jede Interpretation des Proceß steht und fällt, und verficht die These, dass K. – im Zuge seiner Überlegungen, ob er die Verhaftung als „Spaß“ oder als ernsten Vorgang aufzufassen soll – „statt des Spiels den Kampf wählt.“ (Sokel 1984, 192) Dieser Kampf hat nun freilich die Form einer Rollenübernahme unter Vorbehalt. Josef K. entschließt sich nämlich, die „Komödie“, um die es sich möglicherweise bei diesem unrechtmäßigen, jedenfalls durch die herrschende Rechtslage nicht gedeckten Vorgang handelt, „mitzuspielen“ (P, 12). K. agiert für Sokel demnach „so, daß die Maskerade nicht zu durchschauen (ist), daß sie wie Ernst, wie Wirklichkeit (erscheint). Gerade dadurch aber wird der ‚Ernst’ zur Lüge, zu jenem ‚unernsten Ernst’, den Jean-Paul Sartre ‚mauvaise foi’ nennt.“ (ebd., 192f.) Josef K. will kein Spielverderber sein, er hält sich (wie man anmerken könnte) an Plessners Auskunft, dass „nackte Ehrlichkeit, wenn nicht ganz besondere Umstände mithelfen, einfach als Spielverderberei (wirkt).“ (Plessner 1981 [1924], 83) Auf diese Weise macht er „sein Leben zu einer geheimen Rolle und das ‚Verfahren’ zu einem Kampf, in dem es darum geht, ‚die Überlegenheit’ zu wahren und [...] jeden Gedanken an eine mögliche Schuld von vornherein abzulehnen’.“ Damit wird auch, wie Sokel (1984, 193) meint, „klar, daß K.s Kampf gegen das Gericht nur die andere Seite seiner Scham ist.“ K. hätte sein ‚Mitspielen’ entweder als unernstes, unwirkliches Unterfangen offen legen, das Verfahren radikal verweigern oder schließlich den Prozeß als berechtigte und notwendige Selbstprüfung anerkennen sollen, da er sich aber für ein falsches Spiel entscheidet, muss er am Ende
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in den „scheinbaren ‚Schauspielern’ [...] seine wirklichen Mörder erkennen.“ (ebd., 193)20 Einen ganz anderen Weg als Sokel hat Sabine Müller bei ihrer Lektüre des Proceß eingeschlagen: Ihr zufolge scheitert Josef K., weil er in entscheidenden Situationen nicht das sprachliche „Wechselspiel“ (Sennett) wählt, in dem „um die Wahrheit und ihre Prüfung gespielt“, ja geradezu „gefeilscht“ wird, sondern auf das Programm einer möglichst sprachfreien Beobachtung als Königsweg zur Wahrheit setzt. So verzichtet er zum Beispiel während seiner Verhaftung „auf einen ‚Dialog’ mit den Vertretern des Gesetzes im eigentlichen Sinne“ und verlässt sich stattdessen auf das Rechtsfertigungspotential amtlicher Dokumente: Er „entscheidet sich für die ambivalente Strategie, die eigenen ‚Legitimationspapiere’ zu zücken und im selben Moment die Legitimation der ihm gegenüberstehenden Exekutivorgane zu bezweifeln.“ Seine Bereitschaft zur Selbstkontrolle und Selbstkorrektur ist so groß, dass er kleinen Unaufmerksamkeiten, die er an sich zu bemerken glaubt, mit dem Entschluss begegnet, noch „genauer zu beobachten“. Auf diese Weise „gelingt es K. Schritt für Schritt, sich die entscheidende Überschreitung abzugewöhnen – seine Neigung, zu viel zu sprechen, genauer: zu viel laut zu anderen und zu wenig still zu sich zu sprechen [...]. Dieser Lernprozeß geht mit einem weiteren Hand in Hand, ist gewissermaßen dessen Kehrseite: die Abkehr von einer aktiven, das Gesetz in Frage stellenden, es laut spielenden, inszenierenden Schauspielerschaft zu einer zunehmenden Akzeptanz einer passiven Doppelrolle als schweigender, registrierender und kontrollierender Zuschauer seiner selbst (einer der Wächter heißt nicht zufällig Franz). Der am Abend seiner Verhaftung noch mutig unternommene Versuch, diese vor den Augen Fräulein Bürstners auf die Bühne zu bringen und sie solcherart der Welt der Komödie zuzuschlagen, scheitert daran, daß K. selbst, als er die Rolle des ihn beim Namen rufenden Aufsehers einnimmt, beim spielerischen Ausrufen des eigenen Namens zusammenzuckt und das Spiel abbricht: Er erschrickt – sich dieser Übertretung schämend – vor der eigenen Stimme. Damit ist aber auch die Chance vertan, an den Spielregeln zu rühren.“ (Müller 2002, 16f.)
Müller expliziert ihre Lektüre, die sich auf Denkfiguren von Bachtin und Sennett stützt, schließlich auch an der Hinrichtungsszene am Ende des Romans: K. steht hier „einer anonymen Apparatur gegenüber, die nicht seine Rede bricht, sondern sein Bild spiegelt.“ Es handelt sich bei diesem Tötungsritual aber „weniger um eine Exekution von Dialogizität und ‚alltäglicher Schauspielkunst’ als vielmehr um ein (nach Bachtin Neues gebärendes) Schlachtfest“. Kafkas Text wird aus dieser Warte zu einer Streitschrift gegen die „poststrukturalistische Transgressionstheorie“, die eine „Essentialisierung des Schweigens“ (ebd., 18) betreibt. So gesehen hat der Proceß eine klare Botschaft: Das dialogische Prinzip durchbricht rhetorische Muster, in denen Schuldsucht mit Schuldverweigerung sich paart. Die Kraft seines Wechselspiels manifestiert sich nicht zuletzt daran, dass die Scham – anders als der Jäger Gracchus – nicht zwischen Leben und Tod oszilliert, sondern zugleich erstirbt und überlebt. Während der Tod der Scham nur gezeigt, also gleichsam gestisch dargestellt werden kann, erhält das Überleben durch eine Aussage Bedeutung zugesprochen. Auf der einen Seite ist zu sehen, wie die Selbstreflexivität des Helden noch den letzten Rest an Eigenleben eliminiert und keine Möglichkeit für eine 20 Es wäre in diesem Zusammenhang eine interessante Frage, ob Sokel Kafkas Wunsch, ein Betrüger „ohne Betrug“ zu sein, der überdies „allen wohlgefällig“ ist (Briefe an Felice, 1967, 756), als aufrichtige oder unaufrichtige Version des Spiels deuten würde.
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externe Perspektive lässt, auf der anderen Seite kann man lesen, wie die Scham alle Diskurse der Selbstreflexion ortlos gewordener Subjekte transgrediert. Mit diesem Schritt evoziert das Drama der Scham den Opfertod der attischen Tragödie und verkehrt zugleich seinen Sinn: Die tragischen Helden der Antike stürzten, damit ihr subjektiv verbohrtes Projekt das kollektive Bewusstsein inspirieren kann.21 Kafkas eindimensionaler Protagonist hingegen lässt die Leser seiner unvollendeten Geschichte als Bewohner der modernen Beobachtungsgesellschaft zurück, welche Öffentlichkeit als Medienspektakel inszeniert und persönliche Intimität nur noch durch die erniedrigenden Zeichen ihres Entzuges spürbar macht. Dass der Zusammenhang von Sprechen und Darstellen in der Hinrichtungsszene noch eine weitere Dimension besitzt, hat Hans-Thies Lehmann dargelegt. Zunächst weist er die gängige Deutung, im Proceß „würde das psychologische oder existentielle ‚Urteil’ gefällt, daß K. sich schämen müsse, weil er nicht selbst den Weg in den Tod bestimmt“, als unzureichend zurück. Kafka zeigt seiner Ansicht nach vielmehr „die Verdoppelung des hündischen Krepierens durch die Sprache. Mit dem gesprochenen Wort spaltet sich das Sterben auf: zwischen dem schäbigen Verenden eines Tiers und einer Art Über-Leben. In der Scham, die sich ausspricht und darstellt, geht das Subjekt des Prozeß-Romans über das Hündische des Todes hinaus.“ (Lehmann 1991, 831)
Wenn diese Lektüre sinnvoll ist, so erledigt sich die Annahme, K.s Scham resultiere aus seiner Einsicht, dass er sich selbst etwas schuldig geblieben sei. Die Reflexionsbewegung des Sterbenden bekommt einen anderen Status. Sie zielt nun nicht mehr auf das eigene Ungenügen, das sich dem Subjekt erst nachträglich durch das Schamgefühl aufdrängt, und führt daher auch nicht mehr zu dem eindeutigen und definitiven Schluss, es sei hinter seine moralischen Standards zurückgefallen. Vielmehr stockt die Bewegung: „Die Zweideutigkeit der Scham hält hier inne – eher als dass sie endet – in einer suspensiven Selbstanalyse. Es war, als sollte die Scham ihm eine Art von Überleben schenken – indem das stumm Erlittene [...] Sprache wird. K. spricht (‚wie ein Hund!’ sagte er), und indem der Prozeß Darstellung wird, Darstellungsprozeß, behauptet er die Scham als den Versuch zu überleben. Die Selbstanalyse maßt sich, schamhaft, kein Urteil an – nicht einmal das eindeutige Verdammungsurteil. Möglich und offen auf Zukunft ist nichts anderes als die Darstellung selbst, die Niederschrift.“ (ebd.)
Wenn aber die Scham auf diese Weise das letzte Wort, das sie scheinbar behält, in einen Schwebezustand versetzt, dann errichtet sie ein „Schamtheater“, das auch noch die klassische Form der Tragödie zur spielerischen Disposition und damit in Frage stellt: „Die ausweglose Tragödie wurde [...] stets mit Schuld, mit dem ödipalen Modell erklärt. Wie nun, wenn die Schuld erst das Resultat einer Eingrenzung wäre, eine ganz andere Erfahrung ihr vorausläge.“ Freilich, auf den ersten Blick scheint Kafka durch seine eigene Verwendung des Proceß-Schlußsatzes (im Brief an den Vater) die These nahe zu legen, dass „sich verabsolutierte Schuld in Scham“ verwandelt. Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, dass „Kafkas Werk [...] die Schwelle, das Hinüber und Herüber zwischen Schuld und Scham (erkundet)“. Im
21 Vgl. Benjamin 1963 [1928], 112.
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Anschluss an Wurmsers Überlegungen zur unerträglichen Scham Kains, die gegen die Schuld des Brudermords ‚eingetauscht’ wurde, mag man dann zu der These gelangen: „Von Kain bis Kafka weist das Schuldgefühl hinter sich zurück auf eine primordiale Nichtigkeitserfahrung, eine maßlose Abweisung im Blick, der doch nichts anderes meinen und getroffen haben kann als – den Körper.“ (ebd., 832) Die beiden hier herangezogenen Lektüren von Müller und Lehmann schreiben die Scham in ein theatralisches Überlebensspiel23 ein, das Transformations- und Transgressionsbewegungen impliziert. Sie lesen damit Kafkas Szenarien als Lernprogramme, die Modelle des lehrreichen Scheiterns (auf unterschiedlichen Niveaus) ausstellen. Damit liegen sie auf der Linie von Plessners Projekt, eine anthropologisch grundierte Verhaltenslehre zu liefern, die das Zusammenspiel von individueller Entblößung und Panzerung vor dem Hintergrund jener sozialen Krisenprozesse analysiert, welche für moderne Gesellschaften kennzeichnend sind. Die drohenden Gefahren faschistischer und kommunistischer Gemeinschaftskulte geben in der Grenzschrift nur die historisch kontingente Folie ab, auf der Plessner das Phänomen der Scham als einen Regulationsmechanismus diskutiert, der sozial unentbehrlich ist.24 In seiner Theorie nimmt die „primordiale Nichtigkeitserfahrung“, auf die Wurmser und Lehmann in ihrer Schamanalyse rekurrieren, die Form einer Dauerdrohung an, die nur zum Schein abgemildert wird, wenn man sie in die Schuldsemantik transformiert.25 Plessners Polemik gegen die christliche Ethik und seine Vorliebe für die Moralistik des 17. und 18. Jahrhunderts, die wenig mit traditioneller Moral, aber viel mit raffinierter Salonkultur zu tun hat, ist daher kein Zufall. Primordial ist bei Plessner (ich erinnere noch einmal daran) die Drohung, sich durch unpassende Exponierung innerer Zustände lächerlich zu machen. Gegen diese chronische Gefahr sollen die Formen des gehobenen Spiels und des kultivierten Kampfes als apotropäische Konstruktionen Abhilfe schaffen. Ebenso wie Plessner beschreibt Kafka immer wieder Spielzüge gegen die Lächerlichkeit, soweit sie den Kern der allzeit und überall lauernden Beschämung ausmacht. Aber auch in diesem Punkt versieht er das Gespann von Diagnose und Therapie, das die philosophische Anthropologie in Gang bringt, mit Widerlagern, die dem Erklärungsgehalt von Plessners Theorie allerdings zu Gute kommen. Kafkas Komplikationen berühren eine entscheidende Schwachstelle der empfohlenen Kur, eine Schwachstelle freilich, welche sich bei näherem Hinsehen als Einsatzpunkt zur Steigerung des zu erzielenden Effektes entpuppt: Denn gerade die Mittel, mit denen die ursprüngliche Nichtigkeitserfahrung überwunden und ausgelöscht werden soll, sind streng genommen lächerlich. Darin liegt jedoch, wie Kafka darstellt, ihre potentielle Kraft. Das erfolgreiche Spiel schafft nicht allein Distanz, 22 Vgl. Wurmser 1990, 91; siehe auch Bastian 1998, 37f. 23 Ich werde noch auf einen weiteren Versuch, der zumindest andeutungsweise in diese Richtung geht, nämlich die Interpretation von Menninghaus (2001, 446), zu sprechen kommen. 24 Lehmann befürchtet, dass die Scham als ein Regulationsmechanismus, „der auf dem positiven und unersetzlichen Wert der Maskierung beruht“, im Zuge der sozialen Evolution abgebaut wird. Die Informationsgesellschaft erhebt nämlich eine „telematische Einschreibung [...] zum Ideal“, die auf einen „noch irgend sinnvollen Begriff von Hemmung und Innehalten“, von „Aufschub und Entzug“ verzichten kann (1991, 824). Zu dieser Befürchtung besteht allerdings zurzeit noch kein Anlass. Man darf vielmehr „von der wachsenden Bedeutung von Scham in der modernen Gesellschaft“ (Neckel 2000, 107) sprechen. 25 Auf das Problem der Verwandlung von Scham in Schuld bzw. von Schuld in Scham komme ich zurück.
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sondern es schmiegt sich dem bedrohlichen Ausgangsproblem an und führt es so einer Lösung zu, die – und das muss einschränkend hinzugefügt werden – niemals garantiert und schon gar nicht institutionalisierbar ist. Hierin darf nicht zuletzt das Risiko gesehen werden, das die ludischen Mittel unweigerlich in sich bergen, wenn sie Aussicht auf Gelingen oder Rettung bieten sollen. Wer meint, das menschliche Wesen rufe nach der Kombination von „Spiel und Gefahr“ (GG, 112), weil allein diese Verbindung die grundlegende und tiefernste Gefahr des Lächerlichmachens eindämmen könne, der muss ausgeklügelt simple oder schlichtweg provokante Inszenierungen zu schätzen wissen und zu wagen bereit sein. Unter Kafkas Parabeln ‚überspielter’ Lächerlichkeit seien wenigsten zwei angeführt: Die erste liefert ein Modell für das unverschämte Spiel mit nichtigen Ansprüchen, die zweite ein Modell für das schamlose Spiel der Entblößung. (1) „Josephine, die Sängerin“, die ihr banales Pfeifen als Kunst präsentiert, „indem sie sich feierlich hinstellt, um nichts als das Übliche zu tun“ (D, 353), ist ebenso naiv wie vermessen. Ihre Prätentionen und Kapricen, die einem „Nichts an Leistung“ (D, 362) gelten, sind stets vom Absturz ins Lächerliche bedroht. Aber statt ihre Ambitionen hinter den Schutzwall einer falschen Bescheidenheit zurückzuziehen, steigert sie den Einsatz und fordert das Letzte, nämlich Zeichen rückhaltloser Anerkennung, die nicht gewährt werden können. Anders als Josef K. treibt Josephine „es auf die Spitze.“ (P, 16) Höchst unverfroren spielt sie mit dem Schamaffekt, der gerade dann eintritt, wenn energische Initiativen und forcierte Selbstdarstellungen zurückgewiesen werden oder ins Leere laufen. Doch Josephine überhebt sich nur, um sich zu entheben: „Selbst entzieht sie sich dem Gesang, selbst zerstört sie ihre Macht, die sie über die Gemüter erworben hat.“ (D, 376) Sie verschwindet im wahrsten Sinne des Wortes von der Bildfläche; denn „es ist zum Verständnis ihrer Kunst notwendig, sie nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen.“ (D, 352) Die „gesteigerte Erlösung“ (D, 377), deren sie nach Auskunft des Erzählers teilhaftig wird, befreit auch den wissbegierigen Leser von der Frage, ob Josephine aus antizipierter Scham im Erdboden versunken ist oder sich aus vollkommen enthemmter Leichtfertigkeit in Luft aufgelöst hat. (2) Ein forschender, zwischen Erkenntnissucht und Schweigepflicht schwankender Hund, stößt bei seinen Studien neben „Lufthunden“ auch auf sieben Hundekünstler, die seine Fragen nicht beantworten, sondern an die Stelle der sprachlichen Artikulation eine obszöne Geste setzen: „Sie hatten wirklich Grund zu schweigen, vorausgesetzt daß sie aus Schuldgefühl schwiegen. Denn [...] sie hatten ja alle Scham von sich geworfen, die Elenden taten das gleichzeitig Lächerlichste und Unanständigste, sie gingen aufrecht auf den Hinterpfoten. Pfui Teufel! Sie entblößten sich und trugen ihre Blöße protzig zur Schau: sie taten sich darauf zugute, und wenn sie einmal auf einen Augenblick dem guten Trieb gehorchten und die Vorderbeine senkten, erschraken26 sie und ihr Blick schien um Verzeihung dafür zu bitten, daß sie in ihrer Sündhaftigkeit ein wenig hatten innehalten müssen.“ (N II, S, 432)
Dass er es hier mit einer Spiegelung des eigenen Begehrens zu tun hat, verbirgt der forschende Hund vor sich selbst durch ein Theater der Scham. Er läuft umher, fragt, klagt an und will „jeden hinziehen zu dem Ort, wo alles geschehen war.“ (N II, 434f) Nicht anders als die sieben Musikhunde umtreibt ihn ein schamloses Verlangen. Zwanghaft muss er die Schleier vor allen Geheimnissen der hündischen 26 Zum Vergleich: der Theater spielende Josef K. erschrickt über die Folgen, die das Ausrufen des eigenen Namens hat (P, 45).
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Welt herunterreißen und stößt doch letztlich nur auf Banalitäten und Nichtigkeiten, die er allein dadurch aufwerten kann, dass er sich selbst „unendlicher Angst und Scham“ überantwortet, wenn er „etwas zu erkennen“ glaubt, was niemand vor ihm „erfahren hat.“ (N II, 478) Das theatralische Versinken in Scham (der Hund taucht „eilig das Gesicht“ in eine „Blutlache“, die sich vor ihm befindet) ist ebenso sehr eine Maskerade wie die schamlose Aufführung der sieben Musikhunde.27 In beiden Fällen manifestieren Spiel und Theater „einen Sieg der Wünsche nach Zeigen und Sehen über die Schamdrohung.“ (Lehmann 1991, 830) Die Maske, die der forschende, hinsehende Hund trägt, unterscheidet sich ihrer Funktion nach nicht von der obszönen Maskerade, die die Musikhunde vorzeigen. 28 Denn sie „verwandelt den auf beschämende Weise Bloßgestellten29 in einen schamlosen Darsteller, einen, der sich fürchtet, schwach gesehen zu werden, in jemand, der gesehen und als starkes Wesen gefürchtet wird.“ (Wurmser 1990, 451) Wie diese beiden Modell-Erzählungen zeigen, können Spiele, die Unbefangenheit oder Naivität mit Anmaßung oder Chuzpe verbinden30, das existentielle Risiko, das die Scham signalisiert, in Grenzen halten. Solche Eigenschaften legen als Rettendes in der Gefahr davon Zeugnis ab, dass scheinbar unzureichende und geringfügige Mittel Aufgaben erfüllen, denen hypertrophe Apparate der Vorsorge, Absicherung und Kontrolle nur genügen können, wenn sie zugleich unabsehbar riskante Nebenfolgen produzieren. Die ursprüngliche „Nichtigkeitserfahrung“, die kein anderer Autor der Moderne mit vergleichbarer Intensität umkreist wie Kafka, stiftet auch ein mehr oder minder geheimes Wissen um Heilmittel, die in homöopathischen Dosen besonders wirksam sind. Dies bekundet Kafka gerade im Brief an den Vater, der mit grandioser Übertreibungskunst, die in ähnlich kongenialer Weise sich nur noch bei Thomas Bernhard findet, Abgründe und Untiefen des Schuldund Schamdiskurses auslotet: Hier ist nämlich die Rede von einem „Gefühl der Nichtigkeit“, das „in anderer Hinsicht allerdings auch [als ein] edles und fruchtbares Gefühl“ (N II, 123) betrachtet werden kann. Gleiches gilt für die Eigenschaft der „Schwäche“, die Kafka sich und seinen Figuren unaufhörlich als charakterlichen und körperlichen Makel zuschreibt. Über die Scham erhaben ist zum Beispiel 27 Man könnte auch sagen: Die öffentliche Präsentation der Genitalien ist ein Ablenkungsmanöver, eine Maskerade, sie lenkt den Blick auf eine äußere Lächerlichkeit, um die Gefahr der Lächerlichkeit zu bannen, der die Subjekte sich aussetzen würden, wenn sie authentisch sein und ihr Innenleben ohne Maskenspiele zugänglich machen wollten. 28 Joseph Vogl hat hierzu das Nötige gesagt: „Scham und Obszönität gehören [...] zusammen und sind gemeinsam Effekt einer doppelten Rede, die die Wirklichkeit der Körper, ihre kommunikative Wirklichkeit produziert. Die Verletzung, die das Obszöne begeht, akzentuiert und veröffentlicht eben jene Ohnmacht, die das Ich in der Scham fesselt.“ (Vogl 1990, 47) 29 In welchem Maße Frauen, aufgrund ihrer gesellschaftlich zugeschriebenen und tolerierten Maskeraden besonders geeignete Mediatoren für eine theatralische Selbstpräsentation von Männern sein können, die ihre Schwächen zu verbergen suchen, zeigt eine Stelle in Kafkas Tagebuch. Hier wird das ‚Bloßgestelltsein’ zum Element der Stärke: „Ich bin vor meinen Schwestern [...] oft ein ganz anderer Mensch gewesen als vor anderen Leuten. Furchtlos, bloßgestellt, mächtig, überraschend, ergriffen wie sonst nur beim Schreiben. Wenn ich es durch die Vermittlung meiner Frau vor allen sein könnte!“ – Dies hätte freilich Folgen für die literarische Maske der Stärke, die aus der Kreation schamhafter Figuren resultiert: „Wäre das dann aber nicht dem Schreiben entzogen? Nur das nicht, nur das nicht!“ (T, 569; 21. Juli 1913) 30 Schon Sokel hat auf die wundersamen Effekte von „Kindlichkeit“ und „Vermessenheit“ hingewiesen (1964, 525).
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das ertragreiche Unvermögen, das den elften Sohn in der Erzählung Elf Söhne auszeichnet. „Schwäche“ ist bei diesem zarten und doch mitunter kräftigen und bestimmten Kind immer „irgendwie grundlegend“. Und doch handelt es sich hierbei um „keine beschämende Schwäche, sondern [um] etwas, das nur auf unserem Erdboden als Schwäche erscheint. Ist nicht zum Beispiel auch Flugbereitschaft Schwäche, da sie doch Schwanken und Unbestimmtheit und Flattern ist?“ (D, 291) Dass „unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung“ nicht nur beitragen können, sondern notwendige Bedingungen der Rettung darstellen, verdeutlicht Kafka in seinem kleinen Kommentar Das Schweigen der Sirenen, der den OdysseusMythos aufruft und entschieden korrigiert. Kafka beschreibt hier zwei Modelle eines Spiels mit der Gefahr, das die Gefahr überwindet. Das erste Modell illustriert die Haltung absoluter Naivität: Odysseus vertraut gleichsam blind seiner Strategie, die ihn vor dem Gesang der Sirenen „bewahren“ soll. „In unschuldiger Freude über seine Mittelchen“ startet er die riskante Unternehmung und genießt das glückselige Nicht-Wissen, das ihm seine schiere „Entschlossenheit“ (N IIA, 206) gewährt. Das zweite Modell (das ostentativ beiläufig im „Anhang“ ausgeführt wird) beschreibt die höchste Stufe der List, die einen Grad der Undurchschaubarkeit repräsentiert, dem auch die Schicksalsgöttin nicht gewachsen ist. Freude, Naivität, Vertrauen und Glückseligkeit – all diese Indikatoren für die Echtheit des Spiels erweisen sich nun als Teile eines „Scheinvorgangs“, den der berechnende Odysseus den Göttern „als Schild entgegengehalten“ hat, um Distanz zu ihnen zu wahren. Dieser „listenreiche“ Odysseus, in dessen „Inneres“ niemand zu „dringen“ vermag (N II, 41), ist aber zugleich auch der skrupellose Feldherr vor Troja, der rachsüchtige Schlächter der Freier, der unerbittliche Henker der Mägde. So mengt sich in das Spiel, das das Nichtige einsetzt, um die Nichtigkeit als menschliche Grunderfahrung zu überwinden, zuletzt immer auch die Gewalt.
I V . K am p f u n d G e w a l t Zwischen den Praktiken des Spiels, welche lehren, die Dinge „möglichst leicht“ (P, 11) zu nehmen, und den Praktiken des Kampfes, welche mit ihren diversen Formen von Gewalt – Prügelstrafen (vollzogen in Rumpelkammern), Hinrichtungen (in Steinbrüchen), Folterungen (in Strafkolonien), Kriegen (nach Truppenaushebungen) etc. – die Lektionen des Schmerzes verabreichen, besteht also keine radikale Trennung. Gerade in Kafkas Werk gibt es auffällige Verbindungen. In der Sekundärliteratur wurde zum Beispiel immer wieder darauf hingewiesen, „daß die Prozedur des Strafapparates zugleich ein ‚Spiel’ ist, das vor dem ‚Zuschauer’, dem Reisenden, als Theater der Grausamkeit exekutiert wird“, oder dass „Josef K. von ‚Schauspielern’ des Gerichts“ (Ries 1993, 73) abgeschlachtet wird. Es geht dabei gerade nicht um eine Ästhetisierung von Gewalt wie sie Ernst Jünger mit seinen Schriften seit 1920 betrieben hat. Kafkas sinistre Spiele verdeutlichen vielmehr den distanzschaffenden Charakter der Gewalt. Und hierin liegt auch ihr Beitrag zur Lösung oder zumindest zur Abschwächung des basalen Problems der Blamage, auf das Plessner mit seiner Theorie der Lächerlichkeit so unermüdlich und nachdrücklich hinweist. Diese Theorie ist ein ebenso pathetisches wie kühles Plädoyer für ein rationales Verhältnis zur Gewalt. Plessner unterstellt, dass „die Psyche Gewaltmittel als Schutzmittel der Distanz und Verhaltenheit, Vornehmheit und Künstlichkeit zu ihrer Entwicklung braucht, weil sie durch allzu große Nähe, durch restlose Aufrichtigkeit und Unverhülltheit leidet und Schaden nimmt.“ (GG, 132) Es geht also um Bejahung der Gewalt, um Verzicht auf linke und rechte Utopien der Gewaltlo-
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sigkeit und um die Anerkennung der Welt des Kampfes, „eines freilich in den Mitteln kultivierbaren Kampfes, der nicht ums Dasein, sondern ums Sosein ausgefochten werden soll.“ (GG, 133) Die vordringliche Aufgabe in gesellschaftlichen Krisenlagen besteht darin, „Möglichkeiten einer Vergeistigung und Verfeinerung der Gewaltmittel“ zu schaffen; denn die Gewaltmittel sind „dem Menschen durch seine physische Existenz ohnehin aufgedrungen.“ (GG, 27) Auch Kafka träumt nicht von der Abschaffung von Gewalt und Kampf. Sie gehören bei ihm zu den Konstitutionsbedingungen der menschlichen Existenz. Hier zeigt sich – wie schon eingangs erläutert – das starre Element seines ansonsten so beweglichen Werks, dessen provokative Kraft nicht zuletzt darin liegt, dass es „kein revolutionäres Verlangen (artikuliert), das sich der Macht oder den Machtmechanismen entgegenstellt.“ (Deleuze/Guattari 1976, 80) Im Einklang mit Plessners Doppelfigur „Spiel und Gefahr“ beschreibt Kafka in Der Proceß und Das Schloß die moderne Macht als ein Gebilde, das sich selbst umstrukturiert, aber keineswegs im erforderlichen Maß kultiviert hat. Eben weil die entscheidende Entwicklungsstufe dieser von Plessner als „Vergeistigung und Verfeinerung der Gewaltmittel“ bezeichneten Leistung noch nicht erbracht ist, bedarf es überhaupt politisch-anthropologischer Traktate und rücksichtslos poetischer Bestandsaufnahmen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also in der Phase, die Plessner und Kafka im Auge haben, ist bereits erkennbar, dass die ‚klassische’ „triumphierende Gewalt, die aufgrund ihres Überschwangs an ihre Überlegenheit glaubt“, im Zuge der Moderne durch „eine bescheidene und mißtrauische Gewalt, die als eine sparsam kalkulierende, aber beständige Ökonomie funktioniert“ (Foucault 1976, 220), ersetzt wurde. Diese historisch vollzogene Wandlung der Gewalt lässt sich aber nur mit entscheidenden Abstrichen als Kultivierung verbuchen.32 Um angemessene Vorstellungen von einer verfeinerten, vergeistigten, distanzaffinen Gewalt (im Sinne Plessners) zu gewinnen, darf jener Aspekt der modernen Gewalt nicht außer Acht gelassen werden, der die Konstitution personaler Identität, welche auf Abstand und Reserve beruht, gerade verhindert. Kaum jemand hat für diese distanz-hemmenden Effekte von Gewalt so einprägsame Bilder gefunden wie Kafka. Er beschreibt den Pseudofrieden der familialen Gemeinschaft als Ort sowohl manifester Strafgewalt (durch Praktiken der ‚schwarzen Pädagogik’) als auch struktureller Gewalt (durch autoritäre kommunikative Mechanismen). Hier erzeugt die direkte oder stumme Gewalt der Verhältnisse keine kreative Distanz, bietet keinen Schutz vor Beschämung, sondern schafft – im Gegenteil – eine erdrückende Nähe der interagierenden Personen, eine pathologische Verbindung von Tätern und Opfern. Diese Form der Gewalt öffnet keine Spielräume riskanter Selbstverwirklichung, sie produziert Menschen, die von Schuldgefühlen und Schamreflexen beherrscht werden. Als unverkennbare Zeichen einer verhängnisvollen gemeinschaftlichen Nähe, die nicht durch gesellschaftliche Errungenschaften wie Diskretion und Takt gebrochen ist, fungieren bei Kafka die Ausdrucksweisen von Schuld und Scham, das reuige Geständnis und das beredte Senken des Kopfes. Die bürgerliche Erziehung, die eher das Wort Aufzucht verdient, bewirkt – wie Kafka vorführt – die Verinnerlichung von Gewalt33 und sorgt zugleich dafür, dass Subjekte sich bil31 Diese Utopien mit ihrem Mythos der letzten und entscheidenden Schlacht, nach deren Beendigung sich eine gewaltfreie Gesellschaft ohne Klassen- bzw. Rassendifferenzen etablieren soll, schafft in Plessners Augen keinen Frieden, sondern führt nur zum völlig enthemmten Einsatz von Gewalt. 32 Daran ändert auch der von Elias diagnostizierte Übergang von Fremdzwängen zu Selbstzwängen nichts, vgl. Elias 1979 [1936]. 33 Vgl. hierzu auch Vogl 1990, 179ff.
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den, denen das Betrachten und Ausübung, aber auch das Erleiden von realer Gewalt immer auch ein schmutziges, den Zirkel von Schuld und Scham stabilisierendes Vergnügen bereitet. Kultivierte Formen von Gewalt, die Distanz herstellen und auch in Situationen äußerster sozialer Verstrickung und Beklemmung bewahren, sind solchen Verhältnissen nicht ohne weiteres zu entnehmen. Sie müssen künstlich erzeugt und gegen den Sog des Bestehenden durchgesetzt werden. Dass dies überhaupt möglich ist, verdeutlicht Kafka auf zwei Weisen: einmal durch seine ungewöhnliche und überaus erhellende Darstellung des Zusammenhangs von Schuld und Scham, zum anderen durch seine radikal artifiziellen Szenarien von Gewalt. Zu den heikelsten Aspekten der Sekundärliteratur zu Kafka zählt die Bestimmung der Scham-Schuld-Relation. Im Brief an den Vater hat Kafka selbst einen engen Zusammenhang zwischen beiden Begriffen hergestellt und zugleich auf den Schlusssatz des Proceß verwiesen: „Ich hatte vor Dir das Selbstbewußtsein verloren, dafür ein grenzenloses Schuldbewußtsein eingetauscht. (In Erinnerung an diese Grenzenlosigkeit schrieb ich einmal von jemandem richtig: ‚Er fürchtet, die Scham werde ihn überleben.’)“ (N II, 184)34 Diese Passage hat die meisten Interpreten35 dazu geführt „Josef K.s Scham“ als Indikator von „Schuldeinsicht“ (Hermsdorf 1992, 230) zu verstehen. Um welche Schuld es sich dabei handelt, ist zwar strittig36, aber Scham gilt durchweg als Affekt, der Schuldgefühle voraussetzt. Die Differenz beider Affekte wird dann durch den Unterschied zwischen dem Selbstbezug des Ichs und seinem Verhältnis zu Mitmenschen bzw. externen Autoritäten expliziert. Dabei kommt es mitunter zu erstaunlichen Feststellungen: „Die Selbstvorwürfe äußern sich [bei Kafka] als Scham, die Vorwürfe der anderen als Schuld.“ (Zimmermann 1987, 113) Zimmermann denkt hier vermutlich an die charakteristische Ich-Betonung, die das Schamgefühl bewirkt, und die Fixierung auf den angerichteten Schaden, die im Schuldgefühl oft zentral ist. Dem liegt sicher eine zutreffende Annahme zugrunde: Das Subjekt richtet im Schamgefühl den Blick auf den eigenen Defekt oder die von ihm selbst begangene Verfehlung, während es im Schuldgefühl den Wunsch verspürt, seine Tat wiedergutzumachen oder durch eine gerechte Strafe zu sühnen. Außer Betracht bleibt aber bei einer solchen konventionellen Deutung der Schuld-Scham-Relation nicht allein die Rolle des ausgestellten, zur Beobachtung freigegebenen Körpers37 ins Kafkas Texten, sondern auch der 34 Dass Kafka den Satz im Brief an den Vater falsch zitiert bzw. abändert, ist bemerkenswert. Die Handschrift zeigt, dass Kafka die prägnante Formulierung nicht auf Anhieb fand. Zunächst spürt Josef K. selbst die Scham: „Sein letztes Lebensgefühl war Scham“, dann erfolgt eine objektivere Aussage: „bis ins letzte Sterben blieb ihm die Scham nicht erspart“, und schließlich wählt Kafka eine gebrochene ErzählPerspektive, die den Indikativ preisgibt: „Es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ (P, 312; P, Apparatband, 32) 35 Zu den wenigen Ausnahmen zählen Lehmann (1991) und Geisenhanslüke (2006). 36 Genannt werden u.a. „Schuld der Existenz“ als solcher (Kurz 1980, 141), sodann „Schuld im Sinne des Versagens gegenüber den Mitmenschen, [also] im Sinne von Unterlassungen“ (Born 1985, 74), ferner Schuld als „ängstliche Erfahrung von Freiheit“, d.h. gegen K. liegt „nichts als seine Angst“ vor (Pfaff 1987, 104, 107), und schließlich Schuld, die „K.’s sexuelle(r) Fixierung“ entspringt (Menninghaus 2001, 444), vgl. hierzu auch Stach 1987. Die persönliche Schuld der sexuellen Fixierung wird hier als exakte Diagnose einer epochalen Pathologie des Geschlechterverhältnisses gelesen. Als zentrale Beweismittel dienen Stach die Parallelen zwischen Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) und Kafkas Konzept von Weiblichkeit. 37 Aktuelle Theorien der Scham tragen dem Rechnung: „Leiblich wird das Schuldgefühl als bohrend erlebt, während Scham durch die zentripetale Ausrichtung des Angeblicktwerdens gekennzeichnet ist: Nur für sie ist der Impuls charakteristisch, im Bo-
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Umstand, dass mit der Ich-Betonung im Schamgefühl eine extreme Orientierung an den geltenden sozialen Vorschriften und folglich am „Gericht der Öffentlichkeit“ (D, 324) einhergeht. Vollends wird Kafkas entscheidende Leistung übergangen, wenn Scham und Schamgefühl bloß als Reflexionsform der Schuld bzw. des Schuldgefühls aufgefasst werden. Allerdings befindet man sich damit im Einklang mit Freuds Theorie, die zwei Entwicklungsstufen des Schuldbewusstseins (qua introjizierter Aggressionsneigung) unterscheidet: Während auf der ersten Stufe Schuldgefühle aus sozialer Angst entstehen, resultieren sie auf der zweiten aus Gewissensangst, die zum Tragen kommt, sobald gesellschaftliche Autorität in Gestalt des Über-Ichs verinnerlich worden ist. Die Hemmkraft der Scham tritt (wegen ihres biologischen Verwurzelung) bereits auf der entwicklungsgeschichtlich frühen Stufe des Schuldbewusstseins auf und ist deshalb stark mit sozialer Angst legiert, sie entfaltet sich aber auch im Kontext der Gewissensangst als körperlich signifikanter Ausdruck des mächtigen Über-Ichs. Adäquat ist diese Theorie für eine soziale Ordnung, in der ödipale Konflikte vorherrschend sind. Kafka umkreist mit seinen Schriften jedoch die Bruchlinie, die sich bildet, wenn die ödipalen Strukturen zu bröckeln beginnen, ohne dass sich bereits nicht-ödipale Repräsentationsweisen der neuen Konfliktfronten durchgesetzt haben.38 Das von Lehmann bei Kafka bemerkte „Hinüber und Herüber zwischen Schuld und Scham“ ist ein Zeichen für die semantischen Kämpfe, die den Zerfall des ödipalen Musters und den Wandel der Machtstrukturen begleiten. Zunächst führen diese von Kafka dokumentierten Kämpfe dazu, dass bestimmte Bedeutungselemente der Begriffe Scham und Schuld an Profil gewinnen. Der Scham-Begriff artikuliert in einer Gesellschaft, wo „jeder unter Beobachtung (steht) und der lauernde Blick“ (D, 333) zum Habitus der ebenso verunsicherten und orientierungsbedürftigen wie triebhaften und habgierigen Subjekte geworden ist, den Anspruch auf eine lebensnotwendige Zurückhaltung und Reserve. Das Schamgefühl verlangt einen Schutzraum, in dem das Niedrige und Gemeine, Banale und Hybride, Edle und Fruchtbare der subjektiven Regungen und Gedanken sich unbeaufsichtigt entfalten können. Der Schuldbegriff hingegen artikuliert den Anspruch auf die Offenbarung aller Normbrüche und Pflichtverletzungen, die die Subjekte sich selbst (das heißt ihren bewusst oder unbewusst intendierten Handlungen) kausal zuschreiben können. Im Schuldgefühl macht sich das Subjekt zum Herrn seiner Handlungen. Es hat sich selbst erkannt und bedarf daher weder einer Aufforderung zur Selbstbeobachtung (vgl. N II, 43) noch der Hilfestellungen einer therapeutisch gesonnenen Fremdanalyse. Dieser Anspruch der Schuld kann soweit gehen, dass das Subjekt auch noch nicht-intendierte Taten als eigene Setzungen übernimmt. In der Figur der ‚schuldlose Schuld’, wie sie die antike Tragödie entwirft, ist eine solche Form radikaler Selbstzurechnung von (kontingenten) Ereignissen gegeben. Demgegenüber insistiert die Scham auf ihren gestischen Charakter, der dem Intentionslosen, Ungeplanten, Unverfügbaren des menschlichen Daseins abgesicherte Innenräume zu verschaffen sucht. Kafka beschreibt zwei Schuld-Scham-Relationen: zum einen den Übergang von Schuld in Scham; diese Bewegung wird speziell im Proceß vollzogen und kulminiert im berühmten und viel diskutierten Schlusssatz des Romans, der nach den versinken zu wollen und den Blick senken zu müssen. Im Gegensatz zu der Plötzlichkeit der Scham baut sich das Schuldgefühl leiblich vergleichsweise langsam auf.“ (Landwehr 1999, 50) 38 Deleuze/Guattari versuchen Kafkas Werk explizit als Destruktion des ödipalen Dreiecks zu lesen.
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Schirrmacher (1987, 141) „das Resumee einer eminenten autobiographischen Ermittlung zieht“ (1); zum anderen den Übergang von Scham in Schuld, der eine doppelte (nämlich eine ausweglose und eine lösende) Restitution erniedrigter und entblößter Subjekte zum Ziel hat (2). (1) Schuld ist ein definitives Zurechnungsschema, dessen Leistung darin besteht, Ereignisse als Handlungen zu deuten und mit konkreten Personen zu verknüpfen. Die Erziehung zur Schuld operiert (wie oben bereits erwähnt) mit einer Form der Gewalt, die als Strafe auftritt, d.h. als eine Wirkung, zu der es notwendigerweise eine Ursache geben muss. Erfolgreich ist das Manöver, das Nietzsche ausführlich in der Genealogie der Moral analysiert hat, weil der Schmerz, den die Gewalt hervorruft, leichter zu ertragen ist, wenn er mit Sinn aufgeladen wird. In einer Gesellschaft, die sich durch hohe Komplexität, anonyme Machtnetzwerke und undurchsichtige Kausalbeziehungen auszeichnet, führt das Schuld-Schema nur noch zu beliebigen Korrelationen. Schuld wird daher diffus und unendlich39, sie ist nicht mehr durch eine praktikable Sühne oder Strafe abzugelten und verwandelt sich aus diesem Grunde in Scham. Kafka beschreibt soziale Verhältnisse, in denen die Kategorie Schuld in eine Krise geraten ist und die Schuldfähigkeit der Individuen in Frage steht.40 Scham ist unter solchen Bedingungen das ostentative und offensive Zeichen für die Substanzlosigkeit und Eigenschaftslosigkeit der Subjekte, für die Flachheit und Maskenhaftigkeit der Charaktere. Zugleich zieht sie mit ihrer markanten Geste eine scharfe Trennlinie zwischen einer allgemein zugänglichen Sphäre, in der sich das praktische Leben abspielt, und einer unzugänglichen Zone, in der Subjekte Geheimnisse haben, für die sie nicht haftbar gemacht werden können. Scham resultiert also in Kafkas Welt gerade nicht aus Schuldbewusstsein, sondern aus dem schmerzhaften Bewusstsein einer nicht mehr identifizierbaren Schuld. Die kausale Zurechnung der Handlungsketten versagt. Das Schuldschema, das die Suche nach den tiefsten Gründen und Abgründen inspiriert, wird nun selbst leer und taugt nur noch als Fassade. Es transformiert sich in genau jene Maske, für die die Scham als Medium der Schonung plädiert. (2) Scham ist ein Affekt der Hemmung und Zurücknahme, der sich für unterschiedliche semantische Besetzungen öffnet, sobald er sich zur Maske verdinglicht. Auf der Klaviatur dieses Mediums, das Reserve und Distanz erzeugt, kann nun auch die Rhetorik der Schuld spielen. Je mehr sich das Schema der Zurechenbarkeit entleert und nur noch zufällige Korrelationen zwischen Wirkung und Ursache, Tat und Intention, Schmerz und Vergehen herstellt, desto enthemmter treibt der Schuld-Sermon seine imaginäre Blüten. Hier wird den Individuen eine letzte Chance geboten, sich als autonome Subjekte aufzuspielen, die die Ursachen, deren unausstehliche Folgen sie tragen müssen, selbst erzeugt haben. Jetzt sind die Akteure wieder ganz bei sich, ihren Absichten, Handlungen, Gefühlen, und sie verstricken durch diese schmerzhafte Identifikation ihre jeweiligen Interaktionspartner in ein Netz aus Zuschreibungen, die frei erfunden werden können. Die Entmächtigung der Schuld wird so zum Quell ihrer Revitalisierung. Wie dies funktioniert hat Kafka im Brief an den Vater unnachahmlich vorgeführt. Es ist daher auch kein Zufall, dass dieser Text den Schlusssatz des Proceß rhetorisch verfälscht und die Vokabel der Furcht ein39 Besonders deutlich wird diese nicht mehr moralisch oder rechtlich zu bestimmende Form der Schuld in den existentialistischen und theologischen Kafka-Interpretationen herausgearbeitet, freilich nur, um Vagheit und Absolutheit dann in die nur vermeintlich gehaltvollen und fassbaren Begriffe der Uneigentlichkeit und der Erbsünde zu übersetzen. 40 Zur Rolle der Affekte Angst, Schuld, Scham und Ekel in der modernen Gesellschaft vgl. Ellrich 1999d.
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flicht. Eine Scham, die ihren Träger das Fürchten lehrt, hat sich wieder auf eine von ihr schon überholte Schuld zurückgebeugt, um sie nachträglich zu bestätigen. Die mühsam erreichte Stufe des Maskenspiels wird nur dazu benutzt, eine neue Nähe und Fesselung zum Ruhme der Gemeinschaft herzustellen. Opfer und Täter haben die Rollen getauscht und die souveränste Form der Schuldrhetorik besteht jetzt darin, Vater und Sohn die „beiderseitige Schuldlosigkeit“ (N II, 205) zu bescheinigen. Die Logik der Zuschreibungen, die den ‚Überblick’ behält, triumphiert. Mit einer solchen Regression in das Schuldparadigma, das den (oben erwähnten) Zirkel von Schuld und Scham verfestigt, konkurriert bei Kafka aber eine andere Strategie der Darstellung, die sich ganz dem Kampf-Spiel verschrieben hat. Spiel und Kampf sind nämlich nicht allein Verhaltensmodi, mit denen (nach der Rezeptur von Plessner) primordiale Gefährdungen überwunden werden, sondern auch Formen, mit denen die Scham in einen besonderen Typus der Schuld überführt werden kann. Denn das Kampf-Spiel erschafft ein Handlungssubjekt, das sich und den anderen etwas schuldig bleibt und eben dadurch jene Distanz erreicht, die von kultivierter Gewalt gefordert ist. Es entsteht ein radikaler Akteur, der aber immer auch extrem handlungsentlastet ist und sich aus allem heraushält, weil er bloß das Scheinhandeln des Spielers vollführt. Darin liegt unverkennbar die Re-Etablierung der Zurechnungsfigur, die das Schuld-Schema verwendet. Aber was jetzt entsteht, ist ein verantwortungsloses Subjekt, das sich allzu gern beschuldigen lässt und aus solchen Angriffen nur Stoff für grausame Inszenierungen bezieht, die das „verdammte Wort“ (Briefe an Milena, 1995, 290), das die Maske des ‚wahren Wortes’ trägt41, ermitteln sollen. Hier berühren sich Kafka und Plessner noch einmal, bevor ihre Wege auseinander gehen. Der Kampf, auf den Plessner setzt, ist nicht ein Ringen um das ‚bloße’ Gesicht, sondern „der Kampf ums wahre Gesicht.“ (GG, 58)42 Dieser Kampf spielt sich einerseits zwischen zwei seelischen „Grundkräften“ im Inneren des Subjekts ab, dem „Drang nach Offenbarung“, der „Geltungsbedürftigkeit“, und dem „Drang nach Verhaltung“, der „Schamhaftigkeit“ (GG, 62), ist aber anderseits immer auch ein öffentlicher Kampf um Anerkennung durch die Anderen, ein Kampf also, in dem die Konstruktion und Wahrung einer „Form“ die Entscheidung bringt. Die Form, um die es geht, errichtet eine „irreale Sphäre von Bedeutungen und Geltungen“ (GG, 82), aber trotz dieser unverzichtbaren Irrealität hat sie Substanz, weil sie die Substanz davor bewahrt, sich durch mimische oder verbale Ausdrucksweisen zu blamieren. Und diese Aufgabe ist nur durch äußerste Anstrengungen zu bewältigen, zu denen bei Plessner eben auch der Einsatz realer, wenngleich kultivierter Gewalt gehört. Bei Kafka finden sich – wie bereits erläutert – entscheidende Hinweise, dass Gewalt nicht (oder jedenfalls nicht primär) durch Prozesse der Institutionalisierung und Diskurse politischer Meinungsbildung zu kultivieren ist. Die Machtstrukturen gehorchen – wie seine Texte zeigen – nicht mehr Regeln, mit denen sich eine Balance von formalem und materialem Recht, von Gesetz und Maßnahme, von Privatsphäre und öffentlicher Arena43 herstellen ließe. Die Kulti41 Menninghaus spricht das in seiner Lektüre unumwunden aus (2001, 439). 42 Darauf hat Joachim Fischer (2002, 89) gegen Lethens Deutung insistiert. 43 Der Schambegriff, den Kafka verwendet, zielt genau auf das Scharnier zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, zwischen verborgener Intimität und allgemeiner Sichtbarkeit, und er dechiffriert das Verhältnis der beiden Seiten als Machtverhältnis. Wenn Kafka die Macht als eine durch und durch sexualisierte Sphäre beschreibt (vgl. Stach 1987), dann benutzt er Metaphern des geschlechtlichen Begehrens, um den Umbau von einer Rechtstaats-Macht (P, 11) zu einer neuen Art von wuchernder NetzwerkMacht zu erfassen. Die private, abgeschottete Sexualität (im familiären Schlafzimmer,
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vierung der Gewalt muss demnach andere Wege gehen als sie Plessner im Blick hat. Dessen demokratischer Dezisionismus, der Contenance und Schlagkraft zusammenführt, ist durch eine ästhetische Praxis zu ergänzen, die sich in die Gewalt förmlich hineinschreibt, um sie als etwas anzuerkennen, das sich zwar nie überwinden, aber immerhin durch Sprache bearbeiten und formen lässt. Dabei spannt Kafka den Bogen sehr weit. Er beschreibt ebenso die kleinen gewaltsamen Kämpfe des Alltags, die jede Heroisierung der agierenden Subjekte unmöglich machen,44 wie die Prozeduren der Folter, in denen die Gewalt sich vollkommen von allen Konnotation löst, die mit distanz-affinen Begriffen wie ‚Wagnis’, und ‚Gefahr’ noch verbunden sind. Folter ist für Kafka ein erhellender und verstörender Typus von Gewaltanwendung, weil hier die Sprache selbst dem gequälten Körper entrissen und von der Mechanik der Macht angeeignet wird.45 Seine Darstellung schmiegt sich deshalb diesem Vorgang an, wiederholt ihn geradezu, wie der berüchtigte Brief an Milena zeigt (aus dem ich bereits zitiert habe), und verdeutlicht auf diese Weise, dass die Gewalt durch Worte nur zu ‚kultivieren’ ist, wenn der ästhetische Kampf mit dem Gegenstand Folter minutiös nachzeichnet, was die Gewalt mit der Sprache anrichtet. Kafka hat sein Programm der poetischen Annäherung an Gewalt, die immer auch eine kühne Vereinnahmung der Gewalt bedeutet, selbst mit erstaunlicher Klarheit formuliert: „Darauf kommt es an, wenn einem ein Schwert in die Seele schneidet: ruhig blicken, kein Blut verlieren, die Kälte des Schwertes mit der Kälte des Steines aufnehmen. Durch den Stich, nach dem Stich unverwundbar werden.“ (N II, 45) Menninghaus hat im Lichte dieser Passage ein Gedankenexperiment unternommen und die übliche Sicht auf die Schlussszene im Proceß in Frage gestellt46: Versagt Josef K. wirklich in der Bewährungsprobe, die ihm das Gericht geradezu gnädig einräumt, und erfährt so seine letzte Beschämung? Oder wird er nicht vielmehr durch den Messerstich der SchauspielerHenker „unverwundbar“? (Menninghaus 2001, 446) Nach dieser Lesart überlebt Josef K. nicht durch die Körperschrift der Scham (wie es Lehmanns oben diskutierte Deutung nahelegt), sondern durch die „Messer-Poetik“, die ein raffinierter Autor entfaltet, dem die „Vorstellung eines in (s)einem Herzen gedrehten Messers“ (T, 220) behagt. Die von Plessner geforderte Kultivierung der Gewalt als ein ultimatives und rationales Mittel zur Abmilderung von Gefahren, die das Schamgefühl den betroffenen Subjekten durch die Sprache des Körpers anzeigt, diese Kultivierung vollstreckt Kafka buchstäblich mit Hilfe eines auf die Spitze getriebenen ästhetischen
im Bordell, in der ‚Rumpelkammer’) ist der traditionelle Ort, wo der Konflikt zwischen Schamhaftigkeit und Schamlosigkeit ausbricht. Wird diese Semantik auf die Machtsphäre übertragen, so heißt das nicht etwa, dass Macht per se eine erotisierende Ausstrahlung besitzt, sondern vielmehr, dass die moderne Macht jetzt auch in die privaten Nischen eindringt, das Programm der modernen Differenzierung zwischen Familie, Wirtschaft und Staat widerruft und damit auch den bürgerlichen Begriff von Freiheit kassiert. Zugleich deutet die Erotisierung des Macht- und Verwaltungsdiskurses aber auch darauf hin, dass die Öffentlichkeit nun von einer Macht durchdrungen wird, die anonym und unsichtbar (also im herkömmlichen Sinne privat) ist. 44 Besonders Detlef Kremer hat auf die eher ‚chaplinesken’ als ‚kafkaesken’ Züge dieser auch bei Kafka doppelten Kämpfe (sowohl zwischen inneren Kräften als auch zwischen dem Ich und den Anderen um das Gut der Anerkennung) aufmerksam gemacht (1989, 39ff.). 45 Vgl. hierzu Ellrich 2000c. 46 Dass es auch gattungspoetische Gründe gibt, die Hinrichtungsszene im Proceß gegen den Strich zu lesen, hat Claudia Liebrand überzeugend vorgeführt (1998, 215ff.).
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Spiels, dessen Leistung nicht dadurch vermindert wird, dass der Initiator des Spiels die Absicht verfolgt, „eine Sünde schuldlos zu genießen.“ (Briefe an Felice, 1967, 756)
V. W i e z u l e s e n s e i e i n V e r s u c h Welchen konkreten Lektüre-Effekt der vorstehende Vergleich zwischen Plessners und Kafkas Betrachtungen über das Grundproblem des modernen Subjekts und seine Situierung in gesellschaftlichen Verhältnissen, die durch die Vor- und Nachgeschichte des ersten Weltkriegs maßgeblich geprägt sind, möchte ich abschließend zwar nicht im Detail ausmalen, aber an einigen Beispielen wenigstens andeuten. Betrachtet man etwa die Hauptfiguren der drei fragmentarischen Romane Kafkas mit Rücksicht auf das von Plessner umschriebene Programm einer „Irrealisierung“ des Selbst, so ergibt sich folgende Gliederung: An Karl Roßmann spielt Kafka das romantische Modell der „Blödigkeit“ durch; Blödigkeit hier nicht im Sinne einer kognitiven Schwäche und auch nicht bloß als eine gesunde, aber nicht ungefährliche Mischung aus Unwissenheit und Unschuld verstanden, sondern als erhöhte Sensibilität für gesamtgesellschaftliche Umbruchsituationen und kaum merkliche Lebenskrisen. Karl stünde für eine ungekünstelte natürliche Künstlichkeit, die in den Heldenskripten bei Hölderlin und Rousseau ihr Vorbild besitzt.47 Die Aktivitäten des Prokuristen Josef K. entsprächen hingegen einer Irrealisierungsform, die aufgetretenen Problemen mit einem Reflexionsgestus begegnet, der angestrengt zwischen Reden und Beobachten hin und her schwankt. Josef K. probiert nacheinander alle wichtigen abendländischen Semantiken des Krisenmanagements durch und findet bei keiner die entscheidenden Antworten auf seine penetrant alteuropäischen fundamentalen Fragen. Während Karl unkontrolliert von Situation zu Situation taumelt, sucht Josef K. die passende Semantik für eine aus den Fugen geratene Lebenswelt. Er sucht im Fundus abgetragener Ideologien nach Instrumenten, die die Lesbarkeit der Welt wiederherstellen48, aber er muss erfahren, dass er entweder die falschen Fragen stellt oder Auskünfte erhält, die anachronistisch (Huld), desorientierend (Geistliche) oder sexistisch (Titorelli) sind. Josef K. resigniert, aber nur um die finite (und deshalb nicht mehr für den Helden, aber für den Leser verwertbare) Erfahrung zu machen, dass die Scham den Tod aller untauglichen Konzepte zur Daseinsbewältigung überlebt.49 Josef K. scheitert daran, dass er das intensive Schamgefühl, dessen er in seinem Alltag schon teilhaftig wird, nur als Indikator einer unbewusst oder leichtfertig begangenen Normübertretung deuten kann und nicht als Leitaffekt einer zeitgemäßen Verhaltensform, die im sozialen Umgang zur angemessenen Distanznahme befähigt.50 47 Vgl. hierzu Stanitzek 1989; Ellrich 1995. 48 Parallel zu den Konsultationen bei fragwürdigen Ratgebern, verfolgt K. eine Art von Erotisierungsprojekt, das alle semantischen Experimente begleitet. Die Zuwendung zu Frauen ist von der Annahme geleitet, sie könnten Türen zum Wissen öffnen, die von männlichen Türhütern so angstschürend bewacht werden, dass der Suchende und Fragende fast zwangsläufig seinen Mut verlieren muss. 49 Man könnte die rituelle Schlachtung K.s im Steinbruch auch als Parodie lesen auf Hegels tragisches Opfer ans Anorganische, dessen dauernder Vollzug das Leben in der Sphäre des Organischen ermöglicht. 50 Carl Schmitt, dem der frühe Plessner wesentlicher Impulse verdankt, hat den Proceß als Modell gesellschaftlicher Jagdszenen gelesen, in denen ein Individuum verfolgt
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Zwischen Karl Roßmann und Josef K. gibt es trotz aller Unterschiede eine wichtige Verbindung: Kafka schreibt fast gleichzeitig das Schlusskapitel des Proceß (August/September 1914) und das Fragment zum Schlussteil des Verschollenen mit dem Titel „Das Naturtheater von Oklahoma.“ (Oktober 1914) Beide Texte präsentieren theatralische Formen der Aufhebung des Subjekts.51 Der ‚unschuldige’ Karl Roßmann wird in das Naturtheater aufgenommen, das Bürokratie und Paradies auf höchst komische Weise verknüpft. Zwar ist „das ‚große Theater von Oklahoma’ nichts als eine riesige Kulisse, ein immenser Korridor, der alles Schauspiel und jede Darstellung hinfällig macht.“ (Deleuze/Guattari 1976, 69.) Aber zugleich ist es die Erlösung von jeglicher Repräsentation, der das ‚blöde’ Subjekt ohnehin nicht gewachsen wäre. Der ‚schuldige’ Josef K. erfährt ein anderes Schicksal. Er fällt hinter sich zurück auf eine archaische Stufe der Selbstdestruktion. Bei Josef K. handelt es sich der Anlage nach bereits um ein modernes Subjekt, das dem radikalen Projekt einer „Bindung der Unverbindlichkeit“52 folgt, aber den Härtetest, den die direkte Konfrontation mit existentieller Kontingenz darstellt, nicht besteht. Er geht zu Grunde, indem er in einer grundlosen Weltordnung nach der Letztbegründung seines schon habituell gewordenen, uneigentlichen Lebensstils fragt. Mit diesem ‚mörderischen’ Programm einer Selbsterforschung, die sich ‚hündisch umläuft’ (vgl. T, 608), überfordert K. seine intellektuellen und affektiven Potentiale. Der Landvermesser K. weicht deutlich von seinen beiden Vorgängern ab: er ist weder mit Blödigkeit begabt und ins überseeische Ausland verschlagen wie Karl noch der Heimat ‚verhaftet’ und auf die großen geistigen Überlieferungen und deren scheinbare Problemlösungskapazitäten fixiert wie Josef K. Er hat Frau und Kind hinter sich gelassen und experimentiert in der Fremde (dem klassischen Feld für neue Erfahrungen) mit diversen alltäglichen Praktiken, die das Subjekt ohne Rückhalt bei festliegenden Regeln dazu befähigen, mit sozialen Verhältnissen oder Strukturen zurecht zu kommen, die gleichzeitig inkludieren und exkludieren, gemeinschaftliche Nähe bieten und gesellschaftliche Ferne erzeugen. Der SchloßRoman bricht ab, ohne eine fertige Strategie für ein adäquates Verhalten unter diesen schwierigen Bedingungen anzubieten. Aber die sozialen Gefilde mit ihren modernen Mechanismen von Macht und Erotik sind ausgiebig vermessen worden. Ebenso deutlich zeichnet sich ab, welcher „Menschentyp“ erforderlich wäre, um die entstandene Lage zu meistern. Gute vierzig Jahre nach Kafkas Niederschrift hat der Soziologe Niklas Luhmann die Skizze einer „Ethik“ geliefert, nach der K. sich hätte richten und einrichten können: Der neue Mensch „muß seine expressiven Bedürfnisse vertagen lernen, um sie sodann in speziell dafür eingerichteten Situationen rasch und wirksam zu befriedigen. Er muß deshalb seine Selbstachtung an generalisierte Maßstäbe binden: an Werte oder Fernwirkungen, an formalen Status, Geldsummen, Publicity, Erfolgsziffern oder Kontaktmengen, über die ihm mit Hilfe anderer Organisationen soziale Unterstützung zugeführt wird. Er muß zur Selbstabstraktion fäwird, das gegen die Preisgabe schamkultureller Errungenschaften protestiert und das abverlangte Schuldeingeständnis verweigert. Schmitt identifiziert sich mit Josef K. und stilisiert sich und Kafkas Figur zum Opfer der Beobachtungs- und (jüdischen) Gesetzesgesellschaft. Freilich übersieht er dabei, dass auch Josef K. ein virtuoser und rücksichtsloser Beobachter ist. Vgl. Schmitt 1991, 310; Lethen 1994, 231ff. 51 Vgl. Kafkas Notiz im Tagebuch: “Roßmann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichter Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen.“ (T, 757; 30. September 1915) 52 Sander 1998; siehe dazu auch Ellrich 2001.
THEATRALITÄT, KAMPF UND SPIEL| 167 hig werden, durch die er auf die Rationalisierung des sozialen Systems parieren kann.“ (Luhmann 1971, 138)
Dass wir lange nach Kafkas hündisch erschnüffelten und zusammengescharrten Forschungen immer noch dazu neigen, ein Handorakel mit derartigen Empfehlungen „als menschlich unbefriedigend zu verwerfen“ ist offensichtlich. „Aber“, so fügt der abgeklärte Soziologe, dem das Allzumenschliche wichtiger war als der Mensch, hinzu, „es könnte sein, daß uns da ein altes Vorurteil narrt.“ (ebd., 138)
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8. D I E K R I S E D E R R E P R Ä S E N T A T I O N : ARMES THEATER VS. MEDIENSPEKTAKEL I. Die Abstraktheit der Welt und die Krise der Repräsentation Goethe war zutiefst davon überzeugt, dass sich die Natur in die Sichtbarkeit hinein entfalte und folglich „hinter den Phänomenen nichts zu suchen sei.“ (Goethe 1991, 824)1 Für die ‚Natur’ von Staat und Gesellschaft, deren innere Mechanik trotz Machiavelli, Hobbes und Rousseau noch nicht hinreichend erkannt schien, sollte seiner Meinung nach das Gleiche gelten: Geheimdiplomatie und ökonomische Wertschöpfung verbergen sich zwar vor den Blicken des ‚gemeinen Volkes’, aber sie entziehen sich im Prinzip nicht der wissenschaftlichen Analyse und der ästhetischen Veranschaulichung. So vermögen sinnliche Darstellungsweisen dasjenige sichtbar zu machen, was strukturell auf Sichtbarkeit hin angelegt ist und teils aus taktischen Gründen nicht ad hoc gezeigt, teils aus Mangel an Phantasie, Interesse und Aufmerksamkeit nicht wahrgenommen wird. Goethe hat daher im (insgesamt „poetisch-symbolisch“2 angelegten) Faust II3 auch gar keine grundsätzlichen Bedenken, den Fundus historischer Sinn-Bilder auszuschöpfen und zum Beispiel das Phänomen der Inflation oder die rücksichtlose kapitalistische Welteroberung durch Szenarien zu erschließen, die aus dem Mittelalter und aus der Antike importiert werden: Die Assignaten des Kaisers veranschaulichen die Finanzpolitik des 19. Jahrhunderts und Philemon und Baucis dienen als Figuren, mit deren Hilfe dem Publikum – lange vor Horkheimer und Adorno – die Dialektik der Aufklärung vor Augen geführt wird. Solcher Glaube an die Sichtbarkeit und an die Erkenntnispotenziale der Sprachbilder bzw. die Darstellungsmittel der Bühnenszenerie schwindet in der Moderne. Man muss spätestens jetzt einsehen, dass „die Letztelemente“ von Natur und Gesellschaft „sich der anschaulichen Vorstellbarkeit oder Abbildbarkeit über-
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Vgl. Gehlen 1986 [1960], 42. Goethe 1912, 433. Vgl. hierzu die im Kontext der Debatte über Symbol und Allegorie situierte Deutung bei Heinz Schlaffer 1981.
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haupt entziehen.“ (Gehlen 1986, 42)4 Und daraus folgt: „Die Kunst der Gegenwart ist unabwendbar Reflexionskunst.“ (ebd., 136)5 Alles, was Kunst zeigt, mithin sinnlich präsentiert, wird so dargeboten, dass es den begrifflichen Kommentar als notwendige Ergänzung einschließt.6 Von allen Künsten hat die Malerei als erste auf diese Lage mit Entschiedenheit reagiert. Freilich ist ihr Reflexionsvorsprung wesentlich durch die Erfindung und Ausbreitung der Fotografie bedingt, die sich zunächst als Pencil of Nature (Talbot 1844-46) zur Geltung brachte und erst knapp hundert Jahre nach ihrer Erfindung unter dem konstruktivistischen Slogan des „neuen Sehens“ (vgl. Stiegler 2006, 185ff.) auch als eine ästhetische Praxis zu etablieren begann, die es nicht mehr nötig hatte, sich ihres Kunststatus durch piktoralistische Verfahren zu versichern. Die abstrakte Malerei zeigt die Grundbestandteile der Welt als Phänomene, die nur noch in Formen und Strukturen dargestellt werden können, welche der natürlichen Einstellung des Alltags nicht entsprechen. Und der Witz an dieser ästhetischen Kritik des naiven Realismus ist, dass man nicht nur sagen, sondern auch zeigen, also regelrecht ver-anschaulichen kann, wie es um die Anschauung steht: Die moderne Welt mit all ihren technischen Apparaten und komplexen Organisationen tritt nicht mehr unmittelbar in Erscheinung, sondern nur noch als „Fülle des abstrakten, unübersehbaren und relevanzlosen Wissens“ (Assmann 2004, 54), die den Einzelnen überwältigt und verstört. Doch die Lage ist nicht hoffnungslos: Wenn die Subjekte sich der avancierten Kunst als Lehrmeister bedienen, so können sie die neue Art des Wissens genießen und gelten lassen, sich mental und psychisch darauf einstellen, ohne den folgenreichen Weg der Verdrängung beschreiten zu müssen. Dass die ungegenständliche Malerei dem Betrachter eine solche Haltung antrainiert, ist offensichtlich. Ihre Angestrengtheit und Programmatik sind freilich auch Zeichen der unablässigen Versuchung, den befremdlichen Zustand durch „ein anschauliches und persönlich anzueignendes Identitätswissen“ (ebd.) zu kompensieren. Soweit die Kunst im 20. Jahrhundert sich darauf einlässt, diesem Kompensationswunsch zu entsprechen, entpuppt sie sich jedoch als Unternehmung, das den komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht gewachsen ist. Wer auf die Mittel der Ästhetik setzt, hat allerdings noch weitere Optionen. Im Anschluss an Hegels Analysen in der Phänomenologie des Geistes lässt sich der Roman als die „paradigmatische Kunstform der Moderne“ (Falke 1969) interpretieren. Denn anders als Drama und Lyrik nimmt der Roman die „Unanschaulichkeit der arbeitsteiligen Gesellschaft“ (ebd.) ernst und bedient, indem er immer auch über sich selbst hinausweist, zugleich die Reflexionsbedürfnisse der bildungsbürgerlichen Subjekte. In diesem Sinne bereitet die Gattung Roman, die Hegel 1806 durch Jakobis Woldemar und Diderots Rameaus Neffe repräsentiert sieht, im Medium ästhetischer Darstellung die künftige Herrschaft des wissenschaftlichen Begriffs vor. 4
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Vgl. hierzu die radikale Gegenthese Ernst Jüngers: „Überall ist unbestreitbar, dass der Appell an die unmittelbare Anschauung kräftiger und einschneidender wirkt als die Schärfe des Begriffs.“ (Jünger 1933, 5; siehe auch Jünger 1931, 65) Gehlen teilt also Hegels Überzeugung, dass die Anschauung und die auf ihr fußenden Darstellungsweisen die moderne Welt nicht mehr durchdringen können. Mit der paradoxen Formel „Reflexionskunst“ geht er freilich über Hegel hinaus; denn für Hegel ist Reflexion im strengen Sinne eine post-ästhetische Ausdrucksform des Geistes. Mit großem Elan hat sich George Steiner gegen diese Einsicht gesperrt und den Weltzustand, der sie zu erzwingen scheint, beklagt. Aber die Beschwörung der Real Presences (Steiner 1989 [dt. 1990]) erweist sich bei näherer Betrachtung als hilfloses Rückbesinnungsmanöver.
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Obschon aus der Warte des Begriffs der ganze Bereich des Ästhetischen zu einem zwar legitimen, aber in der modernen Welt nur noch zweitrangigen Ausdrucksmittel des Geistes herabsinkt, genießt der Roman im Lichte der Phänomenologie des Geistes einen beträchtlichen Vorzug: Avancierte literarische Prosa hat die Erkenntnisleistungen, zu denen die Kunst überhaupt fähig ist, so gesteigert, dass der Nimbus des Anschaulichen verblasst und die Dignität des Begrifflichen, dessen Sphäre der Roman berührt, wenn auch noch nicht betritt, ersichtlich wird. 7 Auf der Folie von Denkfiguren des jungen Hegel ist also nachvollziehbar, warum der Roman im 19. und frühen 20. Jahrhundert gegenüber den anderen Gattungen eminente Vorteile besitzt. Das Feld künstlerisch adäquater Ausdrucksformen, die den Bedingungen der Moderne genügen, wird dem Roman aber nicht kampflos überlassen. Auch im Bereich der Theaterpraxis und -theorie erweist sich die Darstellungskrise der Epoche als ein zentrales Thema. Es bedarf dazu nicht des Lord-Chandos-Briefs von Hofmannsthal (1902), der die Krise der Sprache mit Mitteln der Sprache virtuos zum Ausdruck bringt. Die bekannten Arbeiten von Appia und Craig, Stanislawski und Meyerhold, Schlemmer und Artaud vermitteln einen hinreichenden Eindruck von den konzeptionellen Bemühungen, auf das Repräsentationsproblem angemessen zu reagieren. Brechts These, „die eigentliche Realität [sei] in die Funktionale gerutscht“ (1967b [1931], 161), ist vielleicht die pointierteste Formulierung des Problems. Seine Stücke und Inszenierungen sollen Modelle liefern, die die Welt so darstellen, dass ihre nicht mehr wahrnehmbaren Strukturen auf ästhetischen Umwegen in den Blick kommen und zugleich als Konstruktionen erkennbar werden, die durch gezielte menschliche Eingriffe zu verändern sind. Man wird mit der Einschätzung nicht fehl gehen, dass sich die Lage inzwischen eher verschärft als entspannt hat. Die gravierenden Erkenntnis- und Darstellungsprobleme der Kunst (insbesondere der Theaterkunst) stehen immer noch auf der Agenda. Es ist daher kein Zufall, dass Patrice Pavis (2001, 243) konstatiert: „Der Einzug der Medien in die Theateraufführung [...] bestätigt und vertieft die Krise der Repräsentation“. In dieser Diagnose erscheinen die audiovisuellen Medien teils als Phänomene, die die Krise widerspiegeln, teils als Agenten, die für einen weiteren ProblemSchub verantwortlich sind. Etwas mehr Klarheit über die Verstrickung der Medien in die aktuellen Repräsentationsprobleme, die immer auch politisch relevante Handlungsprobleme sind, lässt sich vielleicht gewinnen, wenn man zwei extreme Reaktionen auf die genannte Krise etwas näher betrachtet. Ich meine erstens ein Theater, das sich durch eine ästhetische Radikalkur von medialen Beimengungen reinigt, und zweitens ein Theater, das die Medien, die aus dem Alltag der spätmodernen Subjekte gar nicht wegzudenken sind, exzessiv integriert und als Medien ostentativ ausstellt. (Damit leugne ich keineswegs die Ergiebigkeit anderer, heuristisch ebenso tauglicher Verfahren.)
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Aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (1817-1829), in der die umstrittene These vom ‚Ende’ (genauer: von der Irrelevanz) der Kunst in der Moderne entwickelt wird, lässt sich eine solche Sonderstellung des Romans nicht mehr ohne weiteres herauslesen.
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II. Der Reichtum des „Armen Theaters“ Als Beispiel für die reduktionistische Methode greife ich auf die Theaterpraxis und -theorie von Jerzy Grotowski zurück. Dabei kommt es mir natürlich sehr gelegen, dass Grotowskis Bemühungen mit Gedanken zur Medienkonkurrenz einsetzen. So heißt es in einem Text von 1964: „In unserem Zeitalter, wo eine Sprachverwirrung herrscht wie im Turm von Babel, wo sich alle ästhetischen Gattungen vermischen, ist das Theater vom Tode bedroht, da Film und Fernsehen seine Grenzen verletzen. Das bringt uns dazu, das Wesen des Theaters zu untersuchen, worin es sich von den anderen Kunstformen unterscheidet und was es unersetzbar macht.“ (Grotowski 1969, 21)
Zunächst setzt uns bei der Lektüre dieser Passage die These von der Vermischung der Gattungen in Erstaunen. Man weiß nicht genau, ob Grotowski auf die damals äußerst beliebte Kreuzung von Tragödie und Komödie anspielt oder ob ihm schon jener erstaunliche, Genres und Formate verwischende „Flow“ vor Augen steht, auf den Raymond Williams einige Jahre später aufmerksam gemacht hat. Trotz dieser Unklarheit wird die Kernidee von Grotowskis Überlegungen deutlich: Die audiovisuellen Medien – so lautet der entscheidende Vorwurf – kolonisieren das Theater. Sie rauben es aus, indem sie bewährte Darstellungs-, Ausdrucksund Repräsentationsmittel übernehmen. Das ist jedoch kein Grund zur Resignation. Denn „es gibt [...] ein Element, das Film und Fernsehen dem Theater nicht rauben können: die Nähe des lebenden Organismus.“ (Grotowski 1969, 32) Daher empfiehlt Grotowski folgendes Vorgehen: Das Theater verteidigt nichts von dem, was ihm genommen werden kann. Es stützt sich allein auf das Material, welches ihm verbleibt; ja es begreift das an ihm begangene Verbrechen der Ausplünderung als eine unumgängliche Entschlackungskur. Es begrüßt geradezu die Reduktion, um auf ihrer Basis ‚Eigenkomplexität’ aufzubauen, wie man mit Niklas Luhmann formulieren könnte. Die entstandene „Armut“, die Grotowskis Theaterkonzept seinen Namen gibt und den Status eines Losungswortes erhält, lässt sich auf diese Weise als eine bislang unentdeckte Quelle des Reichtums verstehen. Der als Theater-Material übrig gebliebene Körper wird mithin einer Selbststeigerungsprozedur unterworfen und entwickelt sich schließlich zu einem genuinen Wert, zu einer eigenen ästhetischen Totalität. Die Arbeit mit dem Körper ist jedoch einer ganzen Reihe von Gefahren ausgesetzt, die es zu meistern gilt. Indem Grotowski die vorhandenen Gefahren benennt und analysiert, zeigt er, dass die neuen Medien das Theater nur deshalb ausrauben, weil sie eine spezifische Funktion innerhalb der Gesellschaft aktiv übernehmen. Erst die teils offene, teils verblümte Kritik an der Rolle der Massenmedien macht deutlich, warum es überhaupt sinnvoll ist, sich weiterhin der Theaterpraxis – wenn auch in neuer Gestalt – zu widmen. Das Theater erhält nämlich jetzt eine Aufgabe, die keine andere soziale Institution auf derart hohem Niveau erfüllen kann: Es geht um die Abwehr der negativen Effekte von massenmedialer Unterhaltung, Zerstreuung und ideologischer Indoktrination, letztlich um den Widerstand gegen die Erzeugung habitualisierter, in den Körper regelrecht eingeschriebener Formen des inauthentischen Daseins. Hätte der frühe Grotowski nicht in Krakau, sondern in Berlin, London oder Paris gewirkt, so wäre sicher der Kampf gegen Konsumreize und die penetrante Kommerzialisierung des modernen Lebens hinzugekommen.
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Der Körper als Basismaterial ist aber nur eine Komponente des „Armen Theaters“. Er besetzt gleichsam die Stelle der ‚Armut’ als Charakteristikum für Art und Umfang des medialen Einsatzes. Was meint Grotowski mit dem Ausdruck „Theater“? Inwiefern handelt es sich bei dem, was er praktiziert, noch um Vorführungen oder Aufführungen?8 Als das ‚Wesen’ des Theaters bestimmt Grotowski die Begegnung von Schauspieler und Zuschauer. Diese Bestimmung klingt zunächst reichlich trivial. Denn einsame Körper- und Stimmübungen vor dem Spiegel, mimische und gestische Aktivitäten ohne fremden Betrachter, ohne einen Anderen, der angesprochen oder ‚adressiert’ wird, wie es neumodisch heißt, würden nicht unter die Kategorie ‚Theater’ fallen. Grotowski verknüpft die Urszene der Begegnung von Spieler und Zuschauer mit dem Konzept eines kunstvoll und gezielt durch Verarmung9 angereicherten Körpers. Damit die Begegnung von Spieler und Zuschauer im strengen Sinne ‚körperhaft’ ist, muss sie durch „Nähe“ charakterisiert sein. Dieser physische Direktkontakt sorgt nämlich – wie Grotowski hervorhebt – dafür, dass „jede Herausforderung durch den Schauspieler [...] zu etwas Großem, Außergewöhnlichen [wird], zu etwas, das sich der Ekstase annähert“. Im Detail bedeutet das: „Die Distanz zwischen dem Schauspieler und dem Publikum [muss] abgeschafft werden, indem die Bühne eliminiert wird, alle Grenzschranken abgebaut werden. Die drastischen Szenen sollen Auge in Auge mit dem Zuschauer stattfinden, so dass er auf Armeslänge vom Schauspieler entfernt ist, seinen Atem spüren kann, seinen Schweiß riecht. Dies 10 macht ein Theater von der Größe eines Kammerspiels notwendig.“ (Grotowksi 1969, 32)
Welches konkrete Ziel verfolgt aber die Produktion von Nähe und in welchem Verhältnis steht das Ziel, das die Schauspieler erreichen sollen, zu der angestrebten Wirkung auf die Zuschauer? Bei der Suche nach einer hinreichend präzisen Antwort auf diese Frage stößt man zunächst einmal auf eine merkwürdige Konstellation. Grotowski gibt nämlich dem Problem des Mimetischen, an dem sich das traditionelle Theater jahrhundertelang abgearbeitet hat, eine ebenso simple wie aufschlussreiche Wendung: Der Schauspieler soll sich auf der Bühne authentisch verhalten, er soll keine Gefühle, charakteristischen Gesten etc. imitieren, sondern den Zuschauer dazu anleiten, die Schauspieler als Avantgarde der Echtheit und Unverstelltheit zu betrachten und ihrem Vorbild nachzueifern. Ort und Funktion des mimetischen Vollzugs werden also markant verschoben: An die Stelle der Schauspielkunst als Wiedergabe von 8
In den 1960er Jahren stand die Differenz von Aufführung qua Performance einerseits und Darstellung im Sinne einer symbolischen Repräsentation realer Dinge und Ereignisse andererseits noch nicht im Zentrum der Diskussion. Sie gehörte aber bereits – wie sich an der breiten Artaud-Rezeption und Derridas dekonstruktivistischer ArtaudKritik (1972 [1967]) ablesen lässt – zu den wichtigen Themen der Zeit. 9 Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Dies hat nichts mit den Verfahren der ‚Art of Impoverishment’ zu tun, die das Bedeutungslose und Banale ins Zentrum der Betrachtung zu stellen sucht. 10 Die Kontrastierung von Theater und Massenmedien mithilfe der Differenz Nähe/Ferne ist theoretisch nicht sonderlich originell. Schließlich gelten insbesondere die neuen Medien, soweit sie Fernbeziehungen ermöglichen und Kontakte zu Abwesenden herstellen, als Techniken der Entkörperlichung. Allerdings lassen sich gegenüber der vielfach vertretenen Entkörperlichungsthese mit Blick auf aktuelle Internet-Praktiken Bedenken anmelden; siehe hierzu Kapitel 15 „Liebeskommunikation in Datenlandschaften“.
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Realität durch mimetische Praxis tritt das Modell-Lernen des Zuschauers, das mit Akten der Nachahmung einsetzt. Während die Schauspieler, vorbereitet durch lange intensive Übungen und Meditationen, sich vor den Augen des Publikums die Alltagsmaske herunterreißen, sind die Zuschauer gehalten, diese Leistung als Anstoß und Leitlinie für eigene Anstrengungen zu nehmen. Und wenn den hingebungsvollen Schauspielern eine glaubhafte Präsentation gelingt, geben sie den Zuschauern „die Möglichkeit, einen ähnlichen Prozess der Selbstdurchdringung zu beginnen.“ (Grotowksi: 205) Heilsame Funktionen besitzt eine solche mimetische Annäherung des Zuschauers an die Theater-Akteure, weil sie den ureigensten, unter den gegenwärtigen Bedingungen aber systematisch verstellten Intentionen der Zuschauer entspricht. Grotowski begründet diesen quasi-therapeutischen Anspruch seines Theaters mit einer sozialpsychologischen Diagnose, die nicht nur für die kommunistischen Verhältnisse, sondern auch für die westlichen Industriegesellschaften zutreffend sein soll: Der medial geprägte „Lebensrhythmus in der modernen Zivilisation ist charakterisiert durch Tempo, Spannung, ein Gefühl des Unheils, durch den Wunsch, unsere persönlichen Motive zu verbergen, durch das Annehmen einer Reihe von Rollen und Masken im Leben (unterschiedliche in unserer Familie, bei der Arbeit, unter Freunden oder im geselligen Leben usw.).“ (Grotowski 1969, 26)
Zahlreiche Menschen sehnen sich zwar nach einem anderen Zustand, aber es gelingt ihnen nicht, den fatalen Lebensrhythmus, den die Moderne ihnen aufnötigt, zu durchbrechen. Die notorischen Ausbruchsversuche scheitern oder führen auf Abwege. „In unserer Suche nach Befreiung geraten wir ins biologische Chaos. Am meisten leiden wir unter einem Mangel an Totalität, während wir uns wegwerfen und vergeuden.“ (Grotowski 1969, 205) Das „Arme Theater“ versteht Grotowski als Anleitung zu einer bewussten und kontrollierten Form der Befreiung, deren Pointe darin liegt, jedem, der sich dieser Prozedur zu unterziehen bereit ist, genau das zu nehmen, „woran er für gewöhnlich sehr hängt: seine Widerstände, Beschränkungen, seine Neigung, sich hinter Masken zu verbergen, seine Halbherzigkeit, die Hindernisse, die sein Körper dem kreativen Akt in den Weg stellt, seine Gewohnheiten und sogar seine normalen ‚guten Manieren’.“ (Grotowski 1969, 211)
Die praktische Umsetzung des ambitionierten Projekts ist nun allerdings mit mancherlei Schwierigkeiten behaftet. Die Darsteller sind zweifach gefährdet: Wenn sie für das Publikum spielen, so erliegen sie allzu leicht ihren narzisstischen Neigungen; spielen sie aber für sich selbst, so mündet das oft in Heuchelei oder Hysterie. Grotowski ersinnt daher zum Zwecke der Gefahrenabwehr ein aufwendiges Regelwerk, das nicht allein das Verhältnis des Schauspielers zum Publikum betrifft, sondern auch die Beziehungen des Spielers zu den anderen Mitgliedern der Truppe. So werden etwa die gängigen Klatschgeschichten unter Schauspielern und die nicht minder üblichen Liebesaffären mit einem Tabu belegt. Aber auch das Publikum ist ein riskanter Faktor; denn es kann sich von Fall zu Fall – trotz seiner grundsätzlichen Bereitschaft zur Überwindung der bestehenden Verhältnisse – durch Ignoranz, Borniertheit, oberflächliche Neugier, Sensationslust etc. auszeichnen.
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Angesichts dieser Probleme nimmt es nicht wunder, dass Grotowski auf dem Höhepunkt seines Erfolges bei Gastspielen und internationalen Festivals eine radikale Wende vollzog und sich auf die Durchführung so genannter ‚para-theatralischer’ Experimente konzentrierte. Die Differenz von Schauspieler und Zuschauer wurde nun völlig aufgehoben.11 An die Stelle von Aufführungen traten Gruppenprozesse. Das Leben selbst wurde zum Drama gemacht. Praktisch lief dies darauf hinaus, dass man gemeinsam eine Scheune baute oder nachts durch unwegsames Gelände streifte und versuchte, ein bestimmtes Ziel (z.B. eine alte Burg) zu erreichen.
III. Medienspiel ohne Grenzen Bevor ich versuche, den aktuellen Wert von Grotowskis reduktionistischem Programm zu bestimmen, möchte mich einer anderen, ähnlich radikalen Antwort auf die Krise der Repräsentation, nämlich dem exzessiven Medieneinsatz, zuwenden. Als Beispiel wähle ich Frank Castorfs Inszenierungen.12 Sie bieten sich insbesondere deshalb an, weil sie Medien nicht bloß „als Fremdkörper“ (Pavis 2001, 243) zur Schau stellen, die alles vereinnahmen, sondern als vielschichtige kulturelle Errungenschaften, die Erfahrungswelten ebenso eröffnen wie verschließen. 13 Zu11 Dieses Programm ist vergleichbar mit Bertolt Brechts Konzept eines politischpädagogischen Theaters. Die sogenannten „Lehrstücke“ sollten (zumindest im Prinzip) nicht vor einem Publikum gespielt, sondern als Textvorlagen für szenische Übungen genutzt werden, bei denen die Akteure, in jeweils wechselnden Rollen, sich selbst die unterschiedlichen Aspekte eines sozialen Konflikts vor Augen führen und schließlich zu einem begründungsfähigen Urteil gelangen, das die politische Praxis anzuleiten vermag. Dass sich hier partiell auch Motive der Freudschen Redekur auffinden lassen (Wiederholen, Durcharbeiten, Erkennen), sei nur am Rande vermerkt. 12 Ein aufschlussreiches Beispiel liefert auch die Arbeit von Erwin Piscator aus den 1920er und 30er Jahren. Als Theaterregisseur setzt Piscator das gesamte Arsenal vorhandener Medien ein, um die totalisierende Struktur des kapitalistischen Systems und die komplexe Situation des Klassenkampfes aufzuzeigen. Ziel dieser Strategie ist es, auf die zahlreichen Möglichkeiten des revolutionären Handelns hinzuweisen, die ohne Organisation, Kommunikation, umfassende Mobilisierung der Sinne und Kräfte etc. nicht ergriffen werden können. Für Brecht weisen Piscators aufwendige Inszenierungen gegenüber der nüchternen epischen Spielweise, die „Haltungen“ und deren politische Folgen vorführt, keine Vorzüge auf. Er vertritt hingegen die These, dass die Zuschauer die Geschehnisse nicht als überwältigend wahrnehmen dürfen und keineswegs „nervenmäßig gepackt“ werden sollen (Brecht 1967a, 294). Genau das aber bewirken Piscators Massen- und Technik-Spektakel. Brecht kommt es hingegen darauf an, die Einstellungen und Handlungen der gezeigten Personen als kritisierbare und korrigierbare kenntlich zu machen (z.B. die Unmenschlichkeit auf Seiten der Kapitalisten und die Fehler, die Ungeduld etc. auf Seiten der Proletarier). Um diesen Zweck zu erreichen, genügen die Mittel der theatralischen Verfremdung, mit denen „etwas ‚Künstliches’, ‚Gestelltes’ aufgebaut wird.“ (Brecht 1967b, 162) Der totale Medieneinsatz gerät – wie Brecht befürchtet – in die Fahrwasser des Wagnerschen Gesamtkunstwerkes, das Affekte hervorruft und keine emanzipatorischen Erkenntnisse produziert. Wer die medialen Potenziale entfesselt, vergrößert – so gesehen – die Gefahr, dass sich das Ästhetische verselbständigt und einen unangemessenen Eigenwert erhält. 13 Als weitere mögliche Beispiele hätte man auch die Zusammenarbeit von Heyme und Vostell, die Produktionen der Wooster-Group oder die Inszenierungen von Robert Lepage heranziehen können.
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nächst einmal nutzt Castorf neue mediale Techniken, um eine den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen angemessene Darstellungsform zu erreichen. Sodann bilden Medien ein konstitutives Element in Aufführungen, die den Zusammenhang von „Kapitalismus und Depression“ (Hegemann) einsichtig machen sollen.14 Und schließlich fungieren Medien als Katalysatoren in einem Prozess, der das prekäre Dasein des Schauspielers, über das spätestens seit Diderots Bemerkungen zum Paradox des Schauspielers von 1769 kein Zweifel mehr bestehen kann, in neuer Manier offenlegt. Mit dem ersten Punkt sind Fragen der Wahrnehmung, der Erkenntnis, der Rezeption angesprochen. Hier illustriert der Medieneinsatz auf der Bühne die Vermutung, dass wir die Welt kaum noch unmittelbar wahrnehmen können. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen“, so heißt es bei Niklas Luhmann (1996, 9), „wissen wir durch die Massenmedien“. Herrscht dieser Eindruck vor, so lässt sich von jeder medialen Darbietung auf mögliche Manipulationen schließen, ja sogar auf Formen der Manipulation, die wir mangels Vergleich überhaupt nicht mehr durchschauen können. Baudrillard spricht in diesem Zusammenhang vom „perfekten Verbrechen“, das die Medien begehen, um alle Zuschauer in die paradoxe Lage von passiv Beteiligten versetzen, die zwischen Täter und Opfer nicht mehr sinnvoll unterscheiden können. Das Theater des exzessiven Medieneinsatzes setzt aber auch noch einen weiteren wichtigen Aspekt des aktuellen Diskurses in Szene: Denn neben diesem Manipulationsverdacht, der unweigerlich aufkommt und doch keinen Halt mehr finden kann, bieten die elektrischen und elektronischen Medien auch Anlass für die Vorstellung, dass nur sie und keine anderen Erkenntnismittel tiefe Einblicke in jene Räume der Macht gewähren, die vorher verborgen waren. So gelten bekanntlich das Fernsehen und das Internet als Informationstechniken, die nicht nur Oberflächenreize (vgl. Reckwitz 2008) bieten und auf den ‚Vorderbühnen’ der Ereignisse verweilen, sondern ‚Hinterbühnen’ öffnen und damit Demokratisierungsprozesse initiieren oder unterstützen (vgl. Meyrowitz 1985). Allem Anschein nach verringert sich der Abstand zwischen Männern und Frauen, zwischen Regierenden und Bevölkerung, zwischen Eltern und Kindern. Man erfährt sehr viel mehr als früher voneinander. Diskretion und Intimität sind Phänomene, die im gleißenden Licht der medial generierten Öffentlichkeit entschwinden. Zugleich wird deutlich, dass diese Art des Wissens, das alle ehemaligen Arkanzonen erhellt, die Probleme nicht verringert. Und genau an diesem Punkt im Veranschaulichungs- und Erkenntnisprozess verändern die von Castorf eingesetzten Medien ihre Rolle. Sie fungieren nicht mehr nur als Darstellungsmittel, die ostentativ vorgezeigt werden (wie es für moderne Kunstformen typisch ist), sondern verwandeln sich selbst in Elemente der Darstellung. Sie sind nun Teil der Handlung. Die Darstellung wird nicht mehr reflexiv gebrochen, sondern erhält einen quasi-realistischen Charakter. Dieser Umschwung markiert auch die Wende von der Komödie zur Tragödie. Bei der Inszenierung einer Komödie verlässt man sich darauf, dass die reflexive Brechung der Handlung durch das Mit-Darstellen der Darstellungsmittel komische Effekte erzeugt. Die Erkenntnis, dass die Welt nicht so erscheint wie sie ist, sondern durch Medien konstruiert wird, gepaart mit der Einsicht, dass dennoch alles so
14 Mit dieser morbiden Zusammenstellung, die Alain Ehrenbergs Theorie (2004 [1998]) aufgreift, wird die bekannte, weit optimistischere Kombination von Kapitalismus und Schizophrenie (vgl. Deleuze/Guattari 1974 [1972]) verabschiedet. Zur Kritik der Depressionsthese aus normalistischer Warte vgl. Ellrich 2007.
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bleibt, wie es ist, löst jenes Gelächter aus, das sich nach einer überstandenen Gefahr einstellt.15 Aber diese Erheiterung schlägt in Erschrecken um, wenn die Medien als reale Mitspieler im sozialen Leben identifiziert werden. Dann geht die Komödie in die Tragödie über. Die Medien treten nicht länger als Agenturen der Weltkonstruktion in Erscheinung, sie sind jetzt vielmehr Instanzen des Sollens. Ihnen obliegt es, die neuen Werte und Normen zu verkünden. Sie flüstern uns diese Richtlinien und Forderungen förmlich ein. Und sie tun dies weit weniger offensichtlich und direkt als die einstigen Sozialisations- und Disziplinierungsinstanzen (Familien, Schulen, Kirchen, militärische Einrichtungen, Behörden, Firmen, Fabriken etc.). Wir aber – so zeigen es Castorfs und Hegemanns Arbeiten mit pathetischer Inbrunst – sind diesen Forderungen kaum gewachsen. Denn die neuen, medial präsentierten Ansprüche sind weit schwieriger zu erfüllen als die früheren Befehle. Statt Folgsamkeit und Gehorsam verlangen sie in erster Linie Eigeninitiative, Genussbereitschaft, Verantwortung etc. Aber die neuen Ich-Leistungen können von den vorhandenen Subjekten nicht oder noch nicht in vollem Umfang erbracht werden. Depressionen stellen sich ein und das Leben wird als verfehltes Leben sichtbar. Castorfs Medienspektakel erweisen sich folglich als Tragödien. Es sind jedoch Tragödien, die durch den spezifischen Einsatz der Medien zugleich auch immer die Tragödienform in Frage stellen und unterminieren. Denn mit den Medien wird in den Inszenierungen beständig gespielt. Im Rahmen des theatralischen Arrangements sind sie nicht nur Quellen sozialer Pathologien, sondern auch stets Objekte eines distanziert ironischen, mitunter gar albernen Umgangs mit den Basiselementen unserer Weltkonstruktion und unserer Neigung, den Verlockungen des Sollens nachzugeben. Mithin kehrt die Komödie von Szene zu Szene als medien-verspielte „MetaTragödie“16 zurück. Diese doppelbödige Art der Komödie spielt sich aber nie als Pädagogik der emanzipatorischen Medienverwendung auf. Die mögliche Alternative ist nicht Gegenstand des Spiels, sie scheint nur auf. Sie wird nicht etwa durchgespielt, sondern nur angespielt. Dass der exzessive Einsatz von Medien bei Castorf auch eine weit über die angeführte ‚Depressionsthese’ hinausgehende gesellschaftskritische Lesart zulässt, soll damit nicht bestritten werden. Die totale, geradezu totalitäre Präsenz der Medien auf und hinter der Bühne scheint folgende Diagnose zu veranschaulichen: Wir leben heute zwar nicht mehr in einer Disziplinargesellschaft voller repressiver, geschlossener Institutionen, aber in einer pseudo-liberalen Kontrollgesellschaft, in der die mediale Überwachung eine zentrale Rolle spielt.17 Freilich lässt sich das politische Klima, welches in Kontrollgesellschaften herrscht, auch mit herkömmlichen Theatermitteln ausgezeichnet darstellen. Wenn man Jan Kotts Beschreibung jener berühmten Krakauer Hamletinszenierung vom 30. September 1956 (Regie: Roman Zawistowski, Bühnenbild: Tadeusz Kantor) liest, kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass die buchstäbliche BühnenDemonstration der neuesten Video-Überwachungstechnik das Phänomen eher banalisiert als nachhaltig ins Bewusstsein hebt (vgl. Kott 1970 [1965], 72ff). 15 Wenn man die mediale Oberfläche sieht und zugleich die Unerreichbarkeit der Welt erkennt, ohne deshalb Schaden zu nehmen, weicht die Irritation einem befreienden Lachen – ein Lachen, in das auch Kleist hätte einfallen können, als er Kants Kritik der reinen Vernunft las und in eine epistemologische Krise geriet, die sich zur existentiellen ausweitete. 16 Zum Begriff der Meta-Tragödie vgl. Abel (1963) sowie Menke (2005, 152ff). 17 Vgl. Ellrich 2005a; 2006b.
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Castorfs forcierte Mediennutzung in seinen Inszenierungen ermöglicht den Aufbau eines komplexen Spannungsfeldes zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite die Tragik post-fordistischer Arbeits- und Lebensverhältnisse, die zwangsläufig jene subjektiven Defizienzgefühle erzeugen, denen die Schauspieler durch ihre Bereitschaft zur Selbstentblößung das Bühnen-Siegel der Echtheit aufdrücken. Auf der anderen Seite die komische Verwandlung der neuesten Kollektivmentalität ‚Depression’ in das kulturelle Kapital einer pubertären Verspieltheit, die im Notwendigen den Zufall und in allen Konsumgütern den Abfall entdeckt. Es handelt sich um ein Programm, das – trotz mancher Vorbehalte, die es im Detail erwecken mag – sowohl in gesellschaftstheoretischer als auch ästhetischer Hinsicht auf hohem Niveau angesiedelt ist. Wir haben es hier mit raffinierter Reflexionskunst zu tun, die mit legeren Improvisationen aufwartet, naive Unmittelbarkeit und fröhlichen Dilettantismus pflegt und sich zuweilen als psychodramatische Kur hochneurotischer Darsteller geriert, die unbedingt Einblicke in die Abgründe ihres Seelenlebens gewähren wollen.
I V . E n g f ü hr u n g u n d A u s b l i c k Konzeptionell lässt sich diese Art des Theaters, das perfekt auf die „neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas) der Gesellschaft zugeschnitten ist, schwerlich überbieten; dennoch wirken die Ergebnisse auf der Bühne oft blass, zerfahren und flau. Vergleicht man Castorfs Arbeiten mit den verfügbaren Dokumenten und Aufnahmen von Grotowskis Projekten, so gewinnt man leicht den Eindruck, dass Grotowskis Inszenierungen sich – trotz des veränderten historischen Kontextes – eine Intensität des Ausdrucks bewahrt haben, die man in der Berliner Volksbühne vergeblich sucht. Ein ähnliches Urteil drängt sich auf, wenn man der komparatistischen Lust einmal die Zügel schießen lässt und Arbeiten im Neo-Grotowski-Stil von Eugenio Barba heranzieht. Das Stück The Gospel According to Oxyrhincus zum Beispiel, das durch viele Gastspiele einem großen Publikum bekannt wurde, präsentiert ein seltsames Figuren-Potpourri (Antigone, der Großinquisitor, Sabbatai Zwi etc.). Dieses Arsenal verwandelt sich auch durch Barbas Kommentar The Dilated Body (1985) kaum in eine Konstellation, die den Zeitgeist einkreist und seine ‚Wesenszüge’ für die Betrachter kenntlich macht. Dennoch hat die Aufführung – weit entfernt von jenem Nervenkitzel, den Brecht anprangerte – eine ästhetische Wucht, die unter Bühnendarbietungen der letzten 30 Jahre ihresgleichen sucht. Um Klarheit über diesen bemerkenswerten Effekt zu erhalten, der vielleicht auch nur ein rein subjektives Fantasieprodukt ist, möchte ich den Blick noch einmal zurück auf Grotowski wenden. Denn bei Grotowski lässt sich eine anti-mediale Stoßrichtung erkennen, die tiefer zielt als der bloße Versuch, den Übergriffen von Film und Fernsehen angemessen zu begegnen. Es geht buchstäblich um die Vermeidung von Medialität im Sinne von Vermittlung. Ziel des „Armen Theaters“ ist Unmittelbarkeit, Echtheit, Authentizität, Präsenz. Ein ähnliches Anliegen hatte schon Antonin Artaud in seinen Schriften aus den dreißiger Jahren vorgebracht. Grotowski sieht sich deshalb gezwungen, die Differenz zwischen seinen und Artauds Ideen deutlich zu markieren. Vorbereitet durch die eher beiläufige Kritik an Artauds Atmungstheorie (Grotowski 1969, 98) entfaltet er sein zentrales Argument: Im „Armen Theater“ ist das verwendete Zeichen „artikuliert“, kein Schrei, kein Delirium des in Szene gesetzten Körpers (ebd., 101). Die angestrebte „Trance“ (ebd., 29) entbehrt der fatalen Nähe
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zur Hysterie, die für Artaud so charakteristisch ist, sie besitzt eher den Charakter jenes nüchternen Rausches, den Walter Benjamin beschrieben hat. Es geht Grotowski folglich um das Herstellen, nicht um das Ausstellen von Authentizität. Als völlig verfehlt würde ihm daher die heute grassierende Praxis erscheinen, echte Arbeitslose, Ausländer, Krüppel, geistig Behinderte und sonstige stigmatisierte Personen auf die Bühne zu stellen, um den theatralischen Mehrwert des Authentischen zu erwirtschaften. In diesem Punkt stimmen Grotowski und Castorf trotz aller Unterschiede bzw. Gegensätze überein. Beide versuchen von vornherein, eine Gefahr zu meiden, auf die seit 1924 mit besonderer Eindringlichkeit Helmuth Plessner hingewiesen hat: Gemeint ist „die bekannte Erfahrung, daß der Schauspieler, welcher sich seinem echten Gefühl überlässt, um eine Rolle überzeugend zu machen, an Evidenz verliert.“ (Plessner 1983, 311) Grotowskis und Castorfs Regiearbeiten setzen sich – anders als etwa Stanislawski – nicht primär zum Ziel, durch bestimmte Techniken eine Bühnenrolle überzeugend zu machen. Vielmehr wird das Rollenspiel als Medium genutzt, um zum Kern des Individuums vorzustoßen. Allerdings verbinden beide ganz unterschiedliche Erwartungen mit ihrem Vorgehen. Während Grotowski einen verschütteten Ursprung freilegen möchte und sich heilsame Wirkungen erhofft, hat es Castorf eher auf die Entdeckung des traumatischen Kerns im Subjekt abgesehen, dessen Offenbarung bei Akteuren wie Betrachtern ein mitunter recht schmutziges Genießen – eben jene durch Lacan (1986 [1975]) und Žižek (1999) berühmt gewordene „jouissance“ – auslöst. Grotowskis praktizierte (und gleichsam ‚para-theoretisch’ erläuterte) Reduktion des Theaters auf das ‚Wesentliche’ lässt sich in zwei Aspekte zerlegen: Einerseits löst die radikale Fixierung auf den menschlichen Körper und die Essenz der Schauspieler-Zuschauer-Beziehung letztendlich das Theater in Gruppenexperimente und Workshops auf. Im günstigsten Falle führt dies zu einer Verbesserung der Lebenskunst. Andererseits erzeugt die formalistische Komponente des theatralischen Reduktionsverfahrens eine Leere, die extrem anfällig für semantische Aufladungen ist. Und nichts eignet sich für derartige Sinn-Aufladungen besser als eine strenge Moral. Daher ist Vorsicht geboten: Jeder radikale – ästhetische ebenso wie politische – Reduktionismus produziert das Verlangen nach Fülle. Dann paaren sich der Wille zur Askese mit der Inbrunst des Glaubens an uralte Ideen oder brandneue Werte. Völlig zu Recht stellt Patrice Pavis deshalb fest: „Wir können nicht einfach zu Grotowski zurückkehren, zu seinen Ritualen, Gesängen, naiven Moralpredigten. Denn die Frage des Ursprungs ist uns heute so fremd, so weit entfernt, daß wir uns darüber lustig machen als wären wir solchen Kinderschuhen längst entwachsen.“ (Pavis 2001, 243)
Wenn eine einfache Rückkehr, ein umstandsloses Revival unmöglich geworden ist, dann drängt sich die Frage auf, ob sich vielleicht ein komplizierter und raffinierter Weg finden lässt, auf dem man die Intensität des „Armen Theaters“ retten und bewahren könnte. Besteht überhaupt noch die Möglichkeit, puristische Theaterarbeit so zu betreiben, dass ihre Radikalität nicht zu unbedarften und obsoleten Positionen führt? Lässt sich (mit anderen Worten) mediale Armut und szenische Intensität zu Formen der Theaterkunst verbinden, die eine ästhetisch stimulierbare Ethik der Reflexion attraktiv machen und nicht mit naiven moralischen Appellen oder Provokationen Eindruck zu schinden suchen? Als Studienobjekt könnte man die aktuelle Performance-Kunst in Betracht ziehen. Ein schon legendäres Beispiel – nämlich Marina Abramovićs Performance
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Lips of Thomas – liefert wertvolles Anschauungsmaterial. Mit der ausführlichen Analyse dieses Ereignisses startet Erika Fischer-Lichte ihr Buch zur Ästhetik des Performativen. Bemerkenswert an Abramovićs Vorführung ist der Versuch, die Zuschauer in eine Krise zu stürzen: Sollen die Betrachter sich schlicht und einfach moralisch ansprechen lassen, Fürsorge und Anteilnahme zeigen und eine exzentrische Künstlerin vor Akten der Selbstschädigung bewahren? Oder sollen sie – ganz im Gegenteil – die Warte ästhetischer Distanzierung und Reflexion einnehmen, die Freiheit des Subjekts respektieren und die Trennung von Kunst und Moral genießen, welche sich zu Beginn des 19. Jahrhundert durchzusetzen begann und in Thomas de Quinceys Lippenbekenntnis On Murder Considered as One of the Fine Arts von 1827 eine Art Programmschrift besitzt?18 Ist aber nicht allein schon der intentional hoch ambitionierte Versuch, die Betrachter mit derartigen Entscheidungsproblemen zu konfrontieren, erstaunlich mühsam und überdreht? Abramović predigt keine Moral mehr, lässt auch das Authentische in der Schwebe, sondern unterzieht das Verhältnis von ästhetischer Coolness und moralischer Betroffenheit einem Test. Doch dieser Test, wie auch immer er jeweils ausfällt, ist ohne jede praktische Bedeutung. Er sagt nichts über tatsächliche moralische Gesichtspunkte, Affekte und Begründungsformen aus. Die Betroffenheit aller Beteiligten speist sich aus dem mehr oder minder deutlichen Wissen um die historisch generierte Differenz des ästhetischen und moralisch-praktischen Diskurses. Und diese Diskursgeschichte hat den Status eines Rahmens, der auch von der radikalsten Performance nicht aufzusprengen ist. Keine noch so angestrengte Produktion theatralischer Intensität kann dahinter zurückführen. Wer unter diesen Bedingungen eine „Ästhetik der Präsenz“ beschwört, die „mit existentiellem Einsatz spielt“ und davon ausgeht, dass „der Moment intensiver Präsenz [...] eine intrikate Verbindung zum Tod und zur Sterblichkeit“ (Kolesch 1999, 67) unterhält, wiederholt nicht allein Michel Leiris’ überspanntes Programm von 1939, „Literatur als Stierkampf“ (1988, 7) in Szene zu setzen, sondern nährt auch Illusionen, gegen die eine forcierte ästhetische Reflexion gerade immun macht.
18 Dass Abramović mit ihrer Performance auf den wahrhaft ungläubigen Thomas de Quincey anspielt, liegt auf der Hand.
9. D R A M E N
DER
WIRTSCHAFT „Mit Liebe ist gar nichts zu erreichen.“ René Pollesch
I. Ratlosigkeit auch auf der Bühne? Der bekannte Politikwissenschaftler Herfried Münkler nahm in der Frankfurter Rundschau vom 20. 5. 2010 kein Blatt vor den Mund: „Wenn die Wirtschaft unser Schicksal ist, wie gern in Abwandlung eines Napoleon-Zitats behauptet wird, so kommen von der Wirtschaftswissenschaft erstaunlich wenige und erstaunlich dürftige Antworten. Dass sie sich über die praktischen Reaktionen auf die Krise streitet, mag noch angehen. […] Aber das sonst von ihr gar nichts zu hören ist […], zeigt die Überforderung der Wirtschaftswissenschaft mit den Herausforderungen unserer Zeit.“
Trifft diese Diagnose zu, so erhalten andere – z.B. auch außerwissenschaftliche – Formen der Darstellung und Erklärung ein gewisses Recht, ihre Versuche im Licht der Öffentlichkeit zu präsentieren, ja sie werden praktisch dazu eingeladen, sich der Wirtschaft auf ihre je eigentümlichen Weisen anzunehmen. Diese Offerte richtet sich natürlich nicht bloß an Semi-Experten wie Journalisten, sondern auch an Künstler aller Sparten. Wenn die zuständige Fach-Wissenschaft versagt, darf man ein besonderes Augenmerk auf die Potenziale werfen, die das anschauungs-affine Medium Kunst und gerade das Theater als sinnliches Hybridmedium zu entfalten vermag. Bei einer solchen Sondierung ist allerdings folgendes zu bedenken: Wirtschaftliches Handeln und ökonomische Strukturen, deren zentrale gesellschaftliche Bedeutung während des 19. Jahrhunderts ins allgemeine Bewusstsein stieg, waren für die Kunst Gegenstände, die extrem hohe Ansprüche an die Repräsentationsmöglichkeiten der zum Einsatz gebrachten ästhetischen Mittel stellten. Die ambitionierte Literatur nahm diese Herausforderung durch die Realität an und stand zugleich unter dem Verdacht, vom Thema der modernen, also kapitalistischen Ökonomie per se überfordert zu sein. Hatten denn nicht Smith, Ricardo, Hegel und Marx mit ihren bahnbrechenden Analysen deutlich gemacht, dass die grundlegenden Determinanten des modernen Lebens – und speziell die Gesetze der Ökonomie – sich der Anschauung entziehen und daher nur mithilfe von komplexen Theorien angemessen erfasst werden können?1 Am ehesten schien noch die Gattung Roman dem Phänomen gewachsen zu sein. Denn sie bot die Chance, die Abstraktheit von Basisstrukturen mit den konkreten Effekten für die betroffenen Subjekte zu verknüpfen. Thomas Manns skandalöser Roman Die Buddenbrooks von 1901 legte davon Zeugnis ab. Freilich resultierte der Skandal, den dieser Text auslöste, nicht daraus, dass er verborgene und moralisch fragwürdige ökonomische
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Vgl. die Eingangsüberlegungen in Kapitel 8 „Die Krise der Repräsentation“.
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Sachverhalte (z.B. riskante Termingeschäfte oder betrügerische Machenschaften 2) darstellte, sondern aus der Möglichkeit, ihn als Schlüsselroman über die Lübecker Bürgerschaft zu lesen. Einen veritablen Skandal hingegen, bei dem die Auswirkungen der Gesetze des in Reinform auftretenden Kapitalismus im Mittelpunkt standen, provozierte Gerhart Hauptmanns Drama Die Weber von 1893.3 Die Inszenierung zeigte auf der Bühne einerseits die konkreten Ausbeutungs- und Erniedrigungsverhältnisse und führte andererseits die Rebellion der Arbeiter als expressive audiovisuelle Handlung vor: schreiende Schauspieler, Körper in direkter Aktion und raffiniert zusammengebaute Requisiten, die unter den Fäusten der Akteure in Stücke zerfielen. Bei der Premiere des Dramas bejubelte das Publikum die Zerstörung der fingierten Webstühle so frenetisch, als würde es sich um echte Instrumente einer empörenden Form kapitalistischer Expropriation handeln. Und der nicht enden wollende Beifall ließ sich als ein unmissverständliches Zeichen des Einverständnisses mit der gespielten Aktion deuten, mithin als öffentliche Bekundung der Ansicht, dass die hier dargestellten Produktionsverhältnisse durch die Zerstörung der Produktionsmittel aufgehoben werden müssen. Für gestandene Kommunisten und Sozialisten war dies natürlich das falsche (und dann auch noch naturalistisch in Szene gesetzte) Signal. Ihrer Ansicht nach sollten die Produktionsmittel enteignet und nicht zerstört werden. Theatralisch entfachte Wut und Empörung waren für sie Medien der kleinbürgerlichen und lumpenproletarisch-anarchistischen Rebellion, nicht einer sozialistischen Revolution, die diszipliniert von statten zu gehen habe. Die durch eine Revolution herzustellende neue Gesellschaft müsse daher verstanden werden als Fortsetzung der im Kapitalismus angelegten Rationalität der massenhaften Erzeugung von Gebrauchsgütern. „Taktik“ und eben nicht „Ethik“ – um mit Lukács die entscheidenden Schlüsselworte zu zitieren – sei also gefragt. Mehr als fraglich war jedoch schon damals, ob sich diese nüchterne Botschaft überhaupt in ein bühnentaugliches Arrangement verwandeln lässt. Brechts Maßnahme lieferte die Probe aufs Exempel und erzeugte kaum mehr als Missverständnisse in den eigenen Reihen und eine tiefsinnige Tragisierungshermeneutik bei den bürgerlichen Interpreten. Aber auch in dem etwa gleichzeitig entstandenen Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe fand Brecht keine passende Fabel, mit der die Wirtschaftskrise von 1929/30 und das Ausbleiben oder Scheitern politischer Initiativen der Arbeiterklasse angemessen darzustellen war. Börsen-Manipulationen à la Mauler ergeben brillante Verse, aber keine brauchbare Analyse des „schwarzen Freitags“; und das Fehlgehen von Briefen bzw. die Auswahl untauglicher Kuriere liefern zwar eine großartige Parodie auf Schillers postalische Intrigenmechanik (Don Carlos. Infant von Spanien), aber überhaupt keine aufschlussreichen Erklärungsansätze: weder für das Desaster des Hamburger Aufstandes von 1923 unter der Führung von Ernst Thälmann noch für die zunehmende Hinwendung der deutschen Arbeiterschaft zum Nationalsozialismus. Wie aber kann das Theater ökonomische Phänomene mit seinen medienspezifischen Mitteln darstellen und ggf. durchsichtig machen? Muss es per se darauf verzichten, die Gesetze der Kapitalverwertung, die Logik der kapitalistischen Expan2
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Vergleichbare Darstellungen liefern im 19. Jahrhundert z.B. Texte von Honoré de Balzac (La maison Nucingen, 1838), Gustav Freytag (Soll und Haben, 1855) und Emile Zola (L’argent, 1891), im 20. Jahrhundert von Theodore Dreiser (The Financier, 1912), John Dos Passos (The Big Money, 1936), Dieter Kühn (Die Präsidentin, 1973), William Gaddis (JR, 1975) und Ernst-Wilhelm Händler (Der Fall, 1997). Wie schwierig es ist, die provokative Energie des Stücks heute noch zu entbinden, zeigt Michael Thalheimers Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin, Januar 2011.
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sion, die Bildung und Verwendung des Mehrwerts usw. in Szene zu setzen, und sich darauf konzentrieren, den menschlichen Faktor ins Zentrum des Geschehens zu stellen?4 Also zum Beispiel die existentiellen Folgen kapitalistischer Verhältnisse vorzuführen und mit dem hehren Versprechen zu konfrontieren, das die Verfechter und primären Nutznießer des Kapitalismus permanent den unteren sozialen Schichten geben, um sie davon abzuhalten, das System grundsätzlich zu ändern. Die notorische Behauptung zur Rechtfertigung des Kapitalismus lautet bekanntlich: „dass die ökonomische Effizienz dieser Organisationsform soviel Wohlstand schaffen werde, dass die Menschen [im Sinne einer ‚pazifizierten Existenz’ (Marcuse)] vom ökonomischen Überlebenskampf entlastet, ihre individuellen Konzeptionen gelingenden Lebens frei entwickeln und verfolgen können.“ (Dörre/Lessenich/Rosa 2009, 272)
I I . S tu n d e d e s T he a t e r s Wenn sich in der Wirklichkeit herausstellt, was von diesem Versprechen zu halten ist, schlägt die Stunde des Theaters. Jetzt kann es vorführen, dass der ökonomische Überlebenskampf die Menschen deformiert und besonders ihre moralisch aufgeladenen Gefühle wie Fürsorge, Liebe, Treue, Mitleid, Solidarität, Freundschaft etc. extrem hohen Belastungen aussetzt. So macht Ödön von Horvath in Kasimir und Karoline von 1932 sichtbar, dass die Arbeitslosigkeit eines Mannes nicht allein dessen Selbstvertrauen, sondern auch die Liebe seiner Freundin ruiniert; so stellt Arthur Miller im Tod eines Handlungsreisenden von 1949 dar, wie finanzielle Not und beruflicher Erfolgsdruck ein mikrosoziales Milieu von Lüge und Selbsttäuschung erzeugen. Dreißig Jahre später wiederholt er diesen Befund: In Die große Depression von 1980 präsentiert Miller eine ganze Bandbreite möglicher Reaktionen: von völliger Verzweiflung über lebenspraktischen Opportunismus bis hin zur Flucht in Traumwelten. Diese Linie lässt sich fortsetzen. Auch Arnold Weskers Erfolgsstück Die Küche von 1966 zeigt noch die durchschlagenden Wirkungen prekärer Arbeitsverhältnisse auf die Gefühle der Betroffenen. Die Unsicherheit und Flüchtigkeit der Jobs und das zunehmende Tempo der zu verrichtenden Arbeitsgänge produzieren unzuverlässige und kurzfristige Affekte: Liebe und Hass, Euphorie und Empörung wechseln im Rhythmus der jeweiligen Tätigkeiten der Subjekte. Alle diese Stücke operieren an der Grenze zum Sozialkitsch. Sie gehen bewusst nicht in die ökonomische Tiefe. Man kann aus ihnen leicht die Botschaft herauslesen, dass der Druck der Verhältnisse die moralische und emotionale Substanz des Menschen, im günstigsten Fall den Charakter eines bestimmten Individuums freilegt. Die Akteure werden transparent, die Gesetze der Ökonomie bleiben verborgen. Einen anderen Weg geht Friedrich Dürrenmatt Ende der 1950er Jahre. Für ihn haben wir ohnehin nur die Alternative zwischen „einem katastrophalen Kapitalismus und einer kapitalen Katastrophe.“ (Dürrenmatt 1957, 53) Und diese Art Kapitalismus – die Schweiz exerziert es vor – ist der „Finanzkapitalismus“. Dürrenmatt kann sich die Lektüre des Klassikers von Rudolf Hilferding Das Finanzkapital aus dem Jahre 1910 sparen. Er genießt den Standortvorteil Schweiz und schreibt mit Shakespeare gegen Brecht sein Stück Frank der Fünfte (1959): „Teils als Tragödie, 4
Ein solcher Zugriff ließe sich durchaus soziologisch rechtfertigen: vgl. die handlungstheoretischen Vorschläge von Honegger/Neckel/Magnin 2010.
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teils als Schwank / Die Komödie einer Privatbank.“ Ausgangspunkt ist die Diagnose: „Es saust mit uns die Welt des Schwindelns und der Wucherzinsen / Unaufhaltsam in die Binsen.“ (Dürrenmatt 1964, 200) Das Bankgeschäft ist bei Dürrenmatt der Rahmen für unzählige Verbrechen (Erpressung, Betrug, Mord, Unzucht etc.), die sich finanziell zwar überhaupt nicht rentieren, aber am Ende auch nicht schaden. Denn der Staatspräsident beruhigt die zerknirschte Witwe des entsorgten Moguls Frank V.: „Drum, meine Freundin, laß nun dein Bereun / Dein Toben hat auf Erden keinen Zweck / Die Staatsbank hilft, zahlt deine Gaunerein.“ (ebd., 278) Der letzte Satz klingt recht aktuell; das ganze Drama aber hat seinen einstigen Schmiss längst eingebüßt. Das gilt auch für andere ambitionierte Konzepte, die Anfang der 1960er Jahre auf die Bühne gestellt werden. So nimmt Martin Walser mit Überlebensgroß Herr Krott (1963) nicht den von vornherein verlorenen Kampf mit Brechts Dreigroschenoper auf5, sondern setzt bei der Heiligen Johanna der Schlachthöfe an und macht mit Maulers bloß vorgetäuschter Melancholie auf groteske Weise Ernst: „Meine Finger zählend lieg ich jetzt im harten Licht und frage: warum wird Krott nicht abserviert, wo er doch an seinen Fingern abzählen kann, er rentiert nicht mehr. Ich habe immer darauf bestanden, dass das, was ist, sich auch rentiert. Und jetzt, was ist, wo bleibt der, der abrechnet mit mir? Ich warte. Aber er kommt nicht. Und das ist ein Jammer.“ (Walser 1964, 10)
Warum aber ist Krott überflüssig? Warum ist er nicht mehr rentabel? Walser diagnostiziert das Ende des heroischen Unternehmer-Kapitalismus und legt seiner Hauptfigur folgende Worte in den Mund: „Das waren noch wilde Erfolge, damals. Da brauchte man noch Nase! Heute rutschen die Erfolge so brav daher, bitsch-batsch auf Schmierseife rutschen sie her. Das ist doch ekelhaft. Alles ist Erfolg. Alles. Also nichts mehr. […] Dagegen […] die widerborstigen transkaukasischen Obligationen, da ham wir gezittert. Krott hat gezittert, jawohl. […] Vorbei.“ (ebd., 32)
Nostalgisch schwärmt Krott von einstigen Kämpfen mit „Tiger[n]“ und „Panther[n]“: „Das war noch blankes Risiko. Du oder Ich.“ (ebd., 33) Diese große Zeit der konkurrierenden und alles auf eine Karte setzenden Unternehmer ist abgelaufen. Der Kapitalismus hat sich in ein anonymes System verwandelt. Die Entwicklung zum Mammutkonzern, die Paul A. Baran und Paul M. Sweezy 1966 in ihrem Buch Monopoly Capital6 eingehend analysieren, lässt sich nicht mehr aufhalten.7 5
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Dürrenmatt klagt über die von Publikum und Kritikerkaste nicht verstandene neuartige Funktion der Songs in Frank V.: Bei Brecht würden die Leute in den Songs die Wahrheit sagen, in Frank V. dagegen lügen. Dennoch könne das Stück aus dem Schatten der Dreigroschenoper nicht heraustreten; vgl. Arnold 1996, 120f. Die dt. Übersetzung (Monopolkapital) erscheint bereits 1967. Baran/Sweezy ersetzen das Marxsche Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate durch das Gesetz des steigenden Surplus (1967, 77). Surplus bedeutet: „die Differenz zwischen Gesamtproduktion und den gesellschaftlich notwendigen Kosten dieser Gesamtproduktion.“ (ebd., 81) Die Marxsche Annahme, dass nur lebendige Arbeit, die zwecks Senkung der Produktionskosten zunehmend durch Maschinen ersetzt wird, Mehrwert erzeuge, wird fallengelassen. Diese These wurde in den späten 1960er Jahren unter ‚Linken’ heiß debattiert. Die entscheidende Frage war, ob Technik und Wis-
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Aber der Übergangsprozess zieht sich hin. Erst fünf Jahre später wird er offensichtlich. 1971 demontiert die amerikanische Regierung unter Nixon das System von Bretton Woods. Die USA sieht sich mit den Folgekosten des Vietnamkriegs konfrontiert und ruft eine ‚neue ökonomische Politik’ aus. Rationale Kontrollmechanismen in der Volkswirtschaft werden abgebaut. Die „internationalen Banken und Konzerne [können] ihre Kapitalströme nun unkontrolliert und uneingeschränkt fließen“ (Chomski 1995, 95f.) lassen. Was später als Globalisierung und Deregulierung des Kapitalismus beschrieben wird, nimmt hier seinen Anfang. 1973 (in der Zeit von Ölkrise und weltweiter Rezession) stellt Handke den Großkapitalisten „Quitt“ auf die Bühne, den letzten „Unvernünftigen“ seiner Gattung.8 Quitt ist zum theatralischen Untergang bereit und setzt ganz bewusst sein individuelles Hasard-Spiel gegen die systemische Rationalität von unternehmerischen Netzwerken bzw. Kartellen, die z.B. mit Preisabsprachen operieren. Handke lässt einen der Unternehmer über den ‚neuen Geist’ der Arbeiter und Käufer klagen: „Wie stark, über alle Klassenunterschiede und das natürliche Empfindungsgefälle hinweg, war mein Zusammengehörigkeitsgefühl mit unseren Arbeitern. […] Heute wird die Arbeit ja nur noch erledigt, stumm abwesend, die Gedanken sind ganz woanders, nichts Schöpferisches mehr, keine Phantasie. Da lob ich mir unsere Importe aus den südlichen Ländern. Sie leben auf bei der Arbeit, sind glücklich, dass sie in Gesellschaft sind. […] Wie kommt es, frage ich, daß sie für ihre Arbeit so gar keine Leidenschaft entwickeln, wo sie doch sogar noch Geld dafür bekommen? […] Die denken nur noch ans Geld.“ „Ich wende gegen die Verbraucher nur ein, dass sie nicht informiert sind. […] Es sind unvernünftige, entmenschte, panische Fratzen, die einander gar nicht mehr wahrnehmen, gebannt nur auf Gegenstände stieren. Keine Logik, kein Hirn, nichts als das überkochende stinkende Unbewußte. Ein Zooerlebnis, meine Herren.“ (Handke 1984, 313f. u. 315f.)
Gegen diesen Habitus der Konsumenten wird die Haltung kreativer Wirtschaftsführer gesetzt: „Unternehmer sind Leute, die die Dinge in Gang setzen, wie Schumpeter sagte. Sorgen wir also für den Lauf der Welt.“ (317) Quitts Kreativität bekundet sich freilich in einer besonderen Art jener Kraftentfaltung, die Schumpeter als „schöpferische Zerstörung“ bezeichnet hat. Über die Gründe, sich nicht an die Preisabsprachen mit seinen Unternehmerfreunden und Konkurrenten zu halten, lässt er die Zuschauer keineswegs in Unkenntnis: „Was mir herausrutscht ist nur noch die Jauche der vergangenen Jahrhunderte. […] Ich werde mich nicht an die Absprache halten. Ich werde ihre Preise ruinieren und sie selber dazu. Ich werde mein altmodisches Ich-Gefühl als Produktivmittel einsetzen. […] Es wird eine Tragödie sein. Eine Tragödie aus dem Geschäftsleben, in der ich der Überlebende sein werde. Und mein Kapitel in dem Geschäft, das werde nur ich sein, ich allein. Ich werde aus mir herausrutschen, und die Jauche wird sie wegschwemmen. Es wird blitzen, und die Vorstellung wird Wirklichkeit sein.“ (ebd., 341)9
Auch über Quitts Theaterästhetik erhalten die Zuschauer bzw. Leser Auskunft:
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senschaft, unabhängig vom Einsatz lebendiger Arbeit, welche immer höhere Lohnkosten verursacht, Mehrwert schaffen kann. Der Titel des Stücks lautet daher unverblümt: Die Unvernünftigen sterben aus. Zu den Methoden, die Quitt anwendet, vgl. ebd., 361f.
186 | VORFÜHREN UND VERFÜHREN „Ich wünsche mir […] Menschen auf der Bühne, keine Monster: sich krümmende, unschematische, schmerz- und glücksdurchschauerte Menschen. Das Kreatürliche zieht mich an, das Wehrlose, die Erniedrigten und Beleidigten. […] weil die geschminkten Fratzen aus meiner eigenen Schicht ohnehin schon im Zuschauerraum sitzen. Auf der Bühne wünsche ich mir die andere Schicht, möglichst kraß und ungeschminkt. Schließlich gehe ich ins Theater, um mich zu entspannen.“ (ebd., 347f.)
Gegen Ende des Stücks bekennt Quitt: „Ich weiß, meine Zeit ist vorbei. […] Es gibt nichts Unbedachtes mehr. Auch die Fehlleistungen aus dem sogenannten Unterbewußtsein sind ja schon eine Methode des Managements. Selbst die Träume träumen sich von vornherein so, dass sie auslegbar sind.“ (ebd., 376) Und der allerletzte Satz des sterbenden Helden lautet: „Mein Hemd ist zerrissen. Wie schön. So lange habe ich es also getragen, dass es brüchig geworden ist.“ (ebd., 347f.) Das abschließende Kapitel in Baran/Sweezys Monopolkapital trägt den Titel „Das irrationale System“ und beginnt mit der folgenden Behauptung: „Es gehört zum Wesen des Kapitalismus, dass Güter und Arbeitskraft regelrecht auf dem Markt gehandelt werden. In einer solchen Gesellschaft werden die zwischenmenschlichen Beziehungen von dem Prinzip beherrscht, Äquivalente auszutauschen, und dieses quid pro quo gilt nicht nur in Sachen der Wirtschaft, sondern in sämtlichen Lebensbereichen.“ (Baran/Sweezy 1967, 320)
I I I . D u r c h ö k o n o m i si e r u n g u n d F r e i h e i t d e r L i e b e Diese und ähnliche Thesen liefern derzeit die Ausgangspunkte für eine Reihe von Tagungen und Sammelbänden. Allenthalben ist von der „Durchökonomisierung aller Lebensbereiche“ (Dörre/Lessenich/Rosa 2009, 236) die Rede.10 Wer sich gegen diese Ökonomisierung sperrt, gerät in eine paradoxe Lage. Das bringt schon 1975 Rainer Werner Fassbinder in seinem Skandalstück Der Müll, die Stadt und der Tod mit äußerster Schärfe und Direktheit zum Ausdruck11: Die wohlhabend gewordene
10 Die gleiche Formulierung findet sich im Flyer zur Tagung Die Finanzkrise und das zeitgenössische Theater, Trier, 12. 6. 2010 (ausgerichtet von Franziska Schößler und Birgit Althans). Siehe zudem die einschlägige Aufsatzsammlung zum Verhältnis von Ökonomie und Theater (Schößler/Bähr 2009). Vgl. auch die Diagnose von Joseph Vogl: „Marktverhältnisse werden [heute] expansiv interpretiert und sollen sich auf Relationen und Interaktionen überhaupt, auf die Gesamtheit ‚humaner Aktionen’, auf eine allgemeine Praxeologie erstrecken.“ (2010, 134) Aber: „Konsumgüter und Vermögenswerte, Arbeitskraft, Gesundheit, Ausbildung oder natürliche Ressourcen lassen sich nicht nach ein- und derselben Marktlogik vertreiben, sie lassen sich nicht gleichermaßen durch einen alles (de)regulierenden Marktmechanismus ‚kapitalisieren’.“ (ebd., 176) 11 Siehe Fassbinders Theaterstück Katzelmacher (1968; Verfilmung 1969), das – nach den Worten des Autors – darstellt, wie Jugendliche die Mechanismen und Zwänge eines auf Profit und Konkurrenz aufgebauten Systems reproduzieren. In ähnlicher Manier führen auch zahlreiche Theaterstücke von Franz Xaver Kroetz, die vorwiegend im bäuerlichen und proletarischen Milieu spielen – z.B. Heimarbeit (1971) –, die mikrosozialen Folgen der kapitalistischen Produktionsweise vor.
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Hure muss ihren Reichtum mit dem Verlust der Liebe ihres ebenso gewalttätigen wie sentimentalen Zuhälters bezahlen: „ROMA B.: Du liebst mich nicht mehr? FRANZ B.: Nein ich lieb Dich nicht mehr. Ich hab Dich im Dreck geliebt, im Schmutz. Für den Luxus reicht mein Gefühl nicht. ROMA B.: Das ist paradox.“ (2005, 633)
Die wahre Liebe beharrt darauf, nach den Gesetzen des ungerechten Tauschs zu funktionieren. Den Verlust der Liebe kann das Geld nicht ersetzen. Liebe und Liebes-Tod – so verkündet Fassbinder noch einmal mit opernhaftem Pathos – sind nicht käuflich. Sie sind Gaben, die sich dem Äquivalententausch entziehen. ROMA B. lässt sich auf eigenen Wunsch hin vom REICHEN JUDEN, der sie mit Geld überhäuft und korrumpiert hat, erdrosseln. Dieses Melodram von Liebe, Todessehnsucht und Sterbehilfe liefert die Folie, auf der Fassbinder seinen bissigen Kommentar zur Lage des auslaufenden fordistischen Kapitalismus Anfang der 1970er ansiedelt. Das Frankfurter Westend der Hausbesetzungen und der rigorosen polizeilichen Räumungsaktionen bildet die reale Kulisse für eine aberwitzige fiktive Handlung. Die unaufhaltsame Zerstörungsarbeit der Abrissbirne, die Alexander Kluge und Edgar Reitz filmisch festgehalten haben12, bahnt Fassbinder den Weg, auf dem er an ein zentrales Tabu der Bundesrepublik rühren kann: Hinter der Anerkennung und ständigen Beschwörung der historischen Schuld an der Judenvernichtung verbergen sich bloß ökonomische Interessen. Im Stück erscheint der philosemitische rheinische Kapitalismus als finsteres Netzwerk aus Politik und Wirtschaft. Und DER REICHE JUDE, der nicht zufällig an Ignaz Bubis erinnert, erledigt für die in wohlfeile Nachkriegsdemokraten verwandelten alten Nazis13 die Drecksarbeit der Stadtsanierung: „DER REICHE JUDE: Ich kaufe alte Häuser in dieser Stadt, reiße sie ab, baue neue, die verkaufe ich gut. Die Stadt schützt mich, das muß sie. Zudem bin ich Jude.14 Der Polizeipräsident ist mein Freund, der Bürgermeister lädt mich gern ein, auf die Stadtverordneten kann ich zählen. Gewiß – keiner schätzt das besonders, aber der Plan war da, ehe ich kam. […] Die Stadt braucht den skrupellosen Geschäftsmann, der ihr ermöglicht, sich zu verändern.“ (ebd., 621)
Die Differenz zwischen FRANZ B. und dem REICHEN JUDEN ist signifikant. Hierin liegt die Qualität des in ästhetischer Hinsicht eher schwachen Stückes. Während sich nämlich FRANZ B. der Kommerzialisierung seiner Gefühle verweigert, weil er nicht anders kann, nimmt DER REICHE JUDE am bösen Spiel der Kapita12 In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod (1974). 13 Vgl. den Monolog der Figur „HANS VON GLUCK: […] Sie haben vergessen ihn zu vergasen. Das ist kein Witz, so denkt es in mir. Und ich reib mir die Hände, wenn ich mir vorstelle, wie ihm die Luft ausgeht in der Gaskammer. […] Der Jud versteht sich auf sein Gewerbe. Angst scheint ihm fremd, der Tod kann ihn nicht schrecken, ihn, der kein Leben lebt.“ (ebd., 635). Siehe ferner den Klartext der Figur „MÜLLER: Es ist keine Last, der Mörder von Juden zu sein, wenn man die Überzeugung hat, die ich habe. […] Im Grunde ist alles beim alten und hat seine Ordnung. […] Der Faschismus wird siegen.“ (ebd., 642) 14 Aus diesem Grunde sei DER REICHE JUDE, wie Fassbinder in einem offenen Brief vom 28.3.1976 erklärte, „durch Tabuisierung unangreifbar.“ (ebd., 666)
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listen aus freier Entscheidung teil. FRANZ Bs anti-kapitalistische Liebesauffassung erweist sich als radikal vor-modern, die Einstellung des REICHEN JUDEN hingegen ist nicht determiniert durch das jahrhundertealte Klischee der jüdischen Liebe zum Geld15, sondern steht auf dem reflektierten Standpunkt der Moderne. Für ihn ist der Kapitalismus nichts anderes als die radikale Einlösung jenes Versprechens, das das Projekt der Moderne den Subjekten gibt: die Realisierung individueller Autonomie.16 Diese Autonomie besteht freilich nicht darin, keinen Zwängen zu unterliegen, sondern darin, Zwänge als Zwänge zu erkennen, ihre Bedeutung zu hinterfragen, Möglichkeiten ihrer Auflösung zu erwägen und dann aufgrund von eigenen Entscheidungen durchzuprobieren. „Bin ich ein Jud, der Rache üben muß an kleinen Leuten?! Es soll so sein und ziemt sich auch!! […] Soll meine Seele geradestehen für die Beschlüsse anderer, die ich nur ausführe mit dem Profit, den ich brauche, um mir leisten zu können, was ich brauche.“ (ebd., 619, 621)
Bei FRANZ B. ist Liebe mit Gewalt und obsessiver Bindung, innerem Zwang und subjektiver Unverfügbarkeit verknüpft, während er Geld mit Freiheit assoziiert: „FRANZ B.: Gib mir Freiheit, Roma, und Freiheit ist Geld.“ (ebd., 614) Anders DER REICHE JUDE. Er nimmt sich die Freiheit, Klischees hier zu bedienen und dort zu zersetzen, den Erwartungen der Umwelt zu entsprechen und diese Erwartungen im nächsten Moment zu enttäuschen: „Ja ja – man lernt nie aus. Und immer neue Erfahrungen lösen alte ab. Aus Feinden werden Freunde, wenn sie müssen. […] Wer sich zu helfen weiß, weiß sich zu helfen und so weiter.“ (ebd., 631f.)
DER REICHE JUDE ist aber kein Charakter, er ist eine Figur des Metatheaters; das heißt eine Figur, die die eigene Rollenhaftigkeit zum Gegenstand ihrer Sprechakte und Bühnenhandlungen macht und sich überhaupt erst im theatralischen Raum konstituiert. Sie entsteht folglich im Spannungsfeld zwischen dem Gezeigten und Gesagten auf der einen und den Auffassungen und Reaktionen der Zuschauer auf der anderen Seite. Und in dieser Interaktion wird ausgetestet, welche Denk- und Wahrnehmungsfreiheiten im öffentlichen Raum, den das Theater repräsentiert, (schon) bestehen und welche Blockaden immer noch wirksam sind. Fassbinders krude Kapitalismus-Kritik und abgründige Figurenzeichnung haben nach 1975 ihre Attraktivität verloren. Mit der post-fordistischen Wende (Hirsch/Roth 1986) hat der Kapitalismus nicht allein sein Gesicht verändert, sondern sich auch von einem ‚neuen Geist’ inspirieren lassen. Die in den 1960er Jahren geübte Entfremdungs-Kritik – heute unter dem Stichwort „Künstlerkritik“ in der Diskussion (Boltanski/Chiapello 2003) –, wurde positiv aufgenommen und der konkrete Arbeitsprozess in vielen Bereichen so umgestaltet, dass Kreativität und Leistungswille der Einzelnen verstärkt zum Zuge kamen. Eine in vielen Branchen sprunghaft ansteigende Produktivität gab den Initiatoren und Befürwortern dieser ‚Wende’ recht. Gleichzeitig breitete sich eine Semantik der Selbstthematisierung der Subjekte aus, die „ein Vokabular der Emotionalität mit dem Vokabular der 15 „Ich bin kein Jud wie Juden Juden sind.“ (ebd., 618) 16 Allein deshalb kann die „kapitalistische Gesellschaft“, so zynisch das klingt, auch „als institutionalisierte Anerkennungsordnung“ (Honneth 2003b, 162) betrachtet werden.
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Produktivität mischte und verband.“ (Illouz 2009, 127) Unternehmenskulturen wurden nach neuen Modellen gestaltet, die den Kriterien einer „Ethik der einfühlsamen Kommunikation“ (ebd., 154ff.) genügen sollten. Phänomene, die man vorher als gegensätzliche Kräfte und Sichtweisen aufgefasst hatte, wurden miteinander kombiniert. Als sinnvolles und realisierbares Ziel galt nun die Verbindung von rationaler Selbstkontrolle und Einfühlsamkeit, Distanz und Empathie. Die Wahrung emotionaler Gesundheit und die Verfolgung eigener Interessen erschienen als ein und dasselbe Projekt. Der neue Typus eines reflexiven Selbst sollte sich mithin durch die außergewöhnliche Fähigkeit auszeichnen, Eigennutz und Mitgefühl zu verbinden, strategisches Vorgehen und emotionale Zugewandtheit gleichzeitig zu beweisen. Dass dieses anspruchsvolle Programm keineswegs bloß eine groteske Utopie darstellt, sondern auf die Ergebnisse einer langen kulturellen Vorarbeit zurückgreifen kann, zeigt schon ein rascher Blick auf die Harmonie zwischen dem Code der passionierten romantischen Liebe und der Affirmation jener unter Bedingungen eines fortgeschrittenen Kapitalismus erzeugten Welt begehrter Konsumgüter, die als Zeichen der Liebe zirkulieren. Liebesrausch und Kaufrausch gehen hier eine innige Verbindung ein. Man muss nicht erst Eva Illouz fulminante Studie Der Konsum der Romantik (1997) lesen, sondern kann sich schon bei Balzac ein Bild davon machen, dass „Liebe eine kostbare Ware ist und deshalb einen hohen Preis fordert.“ (Pohrt 1982, 9) Doch der Liebeslohn, der entrichtet werden muss, erscheint hier nicht als Ausgeburt einer „vordergründigen ökonomischen Rationalität“, sondern wird „als ein Geschenk des Himmels“ erkennbar. Die Verbindung von Liebe und Geld impft den nüchternen, auf schiere Berechnung abgestellten protestantischen Geist des Kapitalismus mit jenem Sinn für Großzügigkeit und „kultische Verschwendungssucht“ (ebd., 8), welcher der vergangenen Adelsgesellschaft, die auf krasser Ausbeutung und Repression beruhte, ihren Glanz verlieh.
IV. Rationalität und Emotionalität Angesichts solcher Befunde ist es nicht weiter erstaunlich, wenn Sozialwissenschaftler heute die Meinung vertreten, „dass der Gegensatz von Rationalität und Emotionalität zugunsten der Annahme wechselseitiger Konstitutionsverhältnisse überwunden werden müsse“17. Dennoch bleibt das Verhältnis beider Komponenten, zumindest, wenn es in Programme zur Steigerung der Leistungsfähigkeit und Arbeitsproduktivität eingefügt ist, ein gravierendes Problem. Die Ansprüche an ‚Emotion by design’, individuelle Flexibilität, gelungene Selbstverwirklichung, erfolgsorientierte Aktivitäten etc. summieren sich zu einem zumeist unausgesprochenen, aber latent wirksamen und äußerst druckvollen Normenset, dem der Einzelne – so lautet eine derzeit umlaufende Klage – immer weniger zu genügen vermag. Erschöpfung des Selbst und Depression sind die Folgen. Alain Ehrenbergs Bestseller Das erschöpfte Selbst (2004 [1998]) liefert dazu die pointierte Theorie. Etliche Inszenierungen an der Berliner Volksbühne haben unter dem verlockenden Label „Kapitalismus und Depression“ in dieses fatalistische Horn geblasen. Und eine Serie von Stücken hat seit Mitte der 1980er Jahre die heftigen Leiden der oberen Mittelschichten am Arbeitsplatz in diesem Sinne auf die Bühne gebracht. Zu nennen wäre eine ganze Reihe von Dramentexten, etwa Caryl Churchills Top Girls (1982), David Mamets Glengarry Glen Ross (1983) [dt. Hanglage Meerblick (1985)] und 17 Das Zitat ist dem Call for Papers für die Tagung Die Emotionen der Ökonomie und die Ökonomie der Emotionen, Hamburg, 3./4. 12. 2010 entnommen.
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Urs Widmers Top-Dogs (1996). Etwas andere Akzente setzen Moritz Rinkes Stücke über arbeitslose Akademiker und Manager im Outplacement-Programm: Republik Vineta (2000) und Cafe Umberto (2005). Hier schwingt teils untergründig, teils offenherzig ein Ethos der Selbstertüchtigung und -errettung mit, das nach den Rezepten eines weichgespülten Neoliberalismus duftet. Giftiger hingegen fällt Peter Turrinis dramatischer Kommentar zum Schicksal eines aufstiegswilligen Arbeiters aus, der nicht in die Kategorie Minderleister (1988) gehören will und erfahren muss, welche Kosten an moralischer Abhärtung dieses Projekt letztlich mit sich bringt. Immerhin zeigen die Stücke von Rinke und Turrini, dass sich der Blick auf das menschliche Drama, das Theaterautoren und Regisseure mit Sinn für ökonomische Fragen heute auf die Bühne stellen können, beträchtlich erweitert, sobald man neben dem konstatierten Kommerzialisierungssog, der den Umgang mit Gefühlen und die Erzeugung ökonomisch verwertbarer Leistungen regelrecht verquirlt, auch der enormen Erweiterung individueller Freiheitsspielräume als Markenzeichen der okzidentalen Moderne ein entscheidendes Gewicht beimisst. Die im Zuge der Moderne entstandene subjektive Freiheit ist nämlich ein hochprekäres und gesellschaftlich besonders relevanten Gut, weil sie sich nicht bloß auf die Wahl der Mittel zur Realisierung bestehender Bedürfnisse oder die Umsetzung internalisierter Normen bzw. Werte richtet, sondern auch und gerade die Handlungszwecke und die Begehrensobjekte selbst betrifft. Sogenannte NormalismusTheorien, speziell Studien zum „flexiblen Normalismus“ (Link 1996), haben ihre begrifflichen Instrumente auf dieses Problem scharf gestellt. Ihre Diagnosen sind nicht minder dramatisch als diejenigen der Depressions- und Erschöpfungsanalysen. Das Subjekt ist auch hier mit seiner eigenen inneren Leere konfrontiert. Diese Leere wird jedoch nicht als Ergebnis einer explizit oder latent normativen Zumutung gedeutet, sondern als Resultat einer durch die klassischen Sozialisationsinstanzen nicht länger geleisteten Verinnerlichung gültiger Handlungs- und Erlebensorientierungen. Dasjenige, was zu tun und zu erleben ist, muss nun frei und auf eigene Verantwortung hin gewählt werden. Statt die Subjekte mit einer solchen Aufgabe heillos zu überfordern (so lautet nun die alternative Interpretation), bietet die moderne Medien-Gesellschaft den Einzelnen permanent Informationen über die quantitative Verteilung existierender Verhaltensweisen und Meinungen an, aus denen die versierten Beobachter das für sie Passende auswählen können. Das gilt für die Erfassung des jeweiligen Ist-Zustandes ebenso wie für die Bestimmung anvisierbarer Soll-Zustände. Ob und in welchem Handlungsbereich man eher normal oder eher abweichend ist oder sein will (sich also eher im Mittelbereich oder eher in den Randzonen der Gaußkurve aufhalten möchte), kann man selbst entscheiden und sich dann auch persönlich zurechnen. Auf diese Weise lassen sich individuelle Freiheitsakte mit den gleichsam objektiven Vorgaben, die eine je akute DatenLandschaft präsentiert, so verknüpfen, dass beide – hinreichende Orientierungssicherheit und notwendige subjektive Autonomie – gewährleistet sind. Wollte man die gegenwärtige soziale Realität in den westlichen Gesellschaften im Lichte der erwähnten Ansätze kurz und knapp beschreiben, so böte sich etwa folgendes Bild: Ca. 15% der Personen lassen sich mit der Überforderungs- und Erschöpfungstheorie erfassen, ca. 75% mit der hier grob skizzierten Theorie des flexiblen Normalismus, und ca. 10% fallen als sozial Exkludierte aus den gesellschaftlichen Integrationsmechanismen heraus und müssen von Staat, Kirchen und karitativen Institutionen alimentiert werden.
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Wie lässt sich diese Situation auf dem Theater darstellen und ästhetisch bearbeiten? In welchem Umfang ist theoretisches Wissen zu berücksichtigen und in eine Bühnen-Performance zu übersetzen? Welche Sprechakte, Gesten, Körperbewegungen, Rauminstallationen liefern eine sachlich angemessene und für die Zuschauer aufschlussreiche Repräsentation der geschilderten sozioökonomischen Lage? Welche neuen Kommunikations- und Informationstechniken können und sollen zum Einsatz gelangen? Wenn die eingangs zitierte These von Münkler zutrifft, dass die „Wirtschaftswissenschaft“ sich angesichts der gegenwärtigen „Finanzkrise“ als überfordert erwiesen hat und folglich als „Leitwissenschaft […] nicht taugt“, so bleibt immer noch die Frage, ob andere Wissenschaften – zum Beispiel Soziologie, Politologie und Medienwissenschaft – diese Rolle wenigstens teilweise übernehmen können.
V . W o z u al l e T he o r i e ? Aber wieviel Theorie benötigt und verkraftet überhaupt ein Theater, das sich aus gegebenem aktuellem Anlass thematisch mit Wirtschaft und Gesellschaft auseinander setzt? Oder ist das Theater der Ort, an dem all die menschlichen Triebkräfte und Leidenschaften hervortreten, die sich hinter den Diskursen über die „Bewegungsgesetze der kapitalistischen Ökonomie“ oder über die optimale Steuerung funktional ausdifferenzierter Teilsysteme verbergen? Die Arbeiten von zwei Theaterautoren bzw. -Regisseuren, die gegensätzlicher kaum sein könnten, nämlich Roland Schimmelpfennig und René Pollesch, möchte ich im Lichte dieser beiden Fragen näher betrachten.18 Schimmelpfennig, der 2010 für Der goldene Drache den Mülheimer Theaterpreis erhalten hat, lässt sich von Debatten über komplexe Systeme, abstrakte Mechanismen, anonyme Strukturen etc. nicht davon abhalten, die gegenwärtigen Verhältnisse auf das menschliche Maß zurückzuführen: individuelle Affekte und zwischenmenschliche Interaktionen sind für ihn der Kern des Sozialen, den es freizulegen gilt. In Push Up 1-3 (2001) werden die Protagonisten von Ehrgeiz und Angst, die ein untrennbares Affektpaar bilden, beherrscht und sind in rücksichtslose Konkurrenzkämpfe mit jeweils einem Gegner verstrickt. Mitunter fühlt man sich an Stücke über den Zweikampf als menschliche Grundsituation erinnert: Brechts Im Dickicht der Städte (1921), Becketts Endspiel (1956), Koltès’ Einsamkeit der Baumwollfelder (1987). Virtuos arbeitet Schimmelpfennig Ähnlichkeit und Differenz der jeweiligen Antagonisten heraus: So zeigt er zum Beispiel die psychischen Deformationen bei Frauen auf, die im Bereich der Wirtschaft Karriere gemacht haben oder machen wollen: Beide Protagonistinnen in Push up I – Sabine, die junge aufstiegsorientierte Abteilungsleiterin, und Angelika, die Konzernchefin – haben keinen Sex mehr, stehen jeden Morgen um sechs auf, duschen kalt, haben Probleme mit ihrer Figur und der zu ihr passenden Kleidung: „Ich wechsele oft mehrfach die komplette 18 Diese Auswahl ist subjektiv und die Analyse hat nur exemplarischen Charakter. Ergiebig wäre auch eine Diskussion der Projekte von „Rimini Protokoll“ oder thematisch relevanter Stücke von Falk Richter, z.B. Unter Eis (2005) und Trust (2010), oder Elfriede Jelineks durch die Methoden der Meindl-Bank inspirierte „Wirtschaftskomödie“ Die Kontrakte des Kaufmanns (2009), die noch vor der weltweiten Finanzkrise entstand. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an den grotesken Wirtschaftskrimi Heißes Geld (1989) von Klaus Pohl.
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Kleidung, bis ich mich entschieden habe, was ich anziehen soll.“ (Schimmelpfennig 2004, 350f.) „Alle zwei Monate bringe ich zwei Säcke mit Kleidern weg. In den Container vom roten Kreuz.“ (ebd., 356) Und dennoch nehmen beide Personen diese – ihnen keineswegs verborgen bleibenden neurotischen Zwänge – in Kauf; denn als Sinn ihres Lebens erscheinen ihnen Erfolg, Macht, hohes Einkommen, die Umsetzung eines ambitionierten Projekts, das Selbsterleben im Schaffensprozess, das Leistungsglück am Arbeitsplatz etc. In Der goldene Drache (2009) sind es starke Gefühle, die die Menschen in letzter Instanz beherrschen und lenken: romantische Sehnsucht, Heimweh und Liebe stehen neben Eifersucht, Rachsucht und Mordlust. Selbst einer der Kernsätze des Stücks, der die Reaktion des Zuhälters auf die Tötung der von ihm zur Prostitution gezwungenen Migrantin in Worte fasst: „Das wirst Du mir bezahlen!“ klingt nicht wie der nüchterne Kommentar eines Geschäftsmannes, der für einen entstandenen Verlust entschädigt werden muss, sondern wie der Ausdruck einer unbändigen Wut, die anzeigt, dass er nicht bloß ein ersetzbares Produktionsmittel eingebüßt hat, sondern ein Objekt, das er nach eigenem Gutdünken straflos erniedrigen, demütigen und knechten konnte. In Angebot und Nachfrage (2003) schließlich veranlasst die Erfahrung der Arbeitslosigkeit die Betroffenen zur Flucht in utopische Traumwelten. Die kompensatorischen Phantasmen liefern aber zugleich die Affektgrundlage für Einsichten, zu denen Theorien – wie der Text plausibel zu machen sucht – im strikten Sinne gar keinen Zugang verschaffen. Ohnehin können Theorien die Notlagen, in die man durch den Verlust des Arbeitsplatzes gerät, weder erklären, noch abmildern und schon gar nicht aufheben: „Und plötzlich gerät dir das Leben aus den Fugen, nichts greift mehr, keine Theorie. Es gibt keine Theorie. Keine Antwort.“ (ebd., 437) „[B]is […] eine andere Zeit […] anbricht, eine Zukunft, in der der Mensch von ganz anderen Ressourcen zehrt, als wir heute auch nur erahnen können, wird auch unser Leben immer in Bezug stehen zum Produkt, in Bezug zur Herstellung des Produkts und zu seinem Marktwert sowie zu unserem Wert, in Bezug zu unserem eigenen Wert auf dem Markt.“ (ebd., 474f.)
Schimmelpfennig hält als Instanz, aus der sich die Kritik der kapitalistischen Entfremdungsverhältnisse speist, an einem genuin romantischen Begriff von Liebe und Sehnsucht fest. Seine „Dramen sind“ – wie Peter Michalzik im Vorwort zur Ausgabe der gesammelten Stücke (1994-2004) schreibt – „im Kern romantische Erzählungen.“ (ebd., 12) Das bedeutet aber auch, dass die kapitalistische Wirtschaftsform und die mit ihr verknüpfte Leistungs- und Erfolgsethik, die Projekt-Manie, der exzessive Aktivismus etc. letztlich aus der Beschaffenheit des Menschen (seinen abgründigen und ‚bösen’ Trieb-Anlagen) abgeleitet werden müssen und daher auch nur in dieser Tiefenschicht korrigiert werden können. Systemische und organisationale Eigenlogiken, nicht-intendierte Handlungsfolgen, emergente Eigenschaften vernetzter Operationen etc. sind in der Welt, die Schimmelpfennig entwirft, nicht die wirklichen Ursachen der Probleme. Die abstrakte Sprache der Theorie und die für sie typischen ‚inkongruenten Perspektiven’19 verfehlen – so scheint Schimmelpfennigs Botschaft zu lauten – die entscheidende und grundlegende Dimension des sozialen Lebens.
19 Diesen Begriff, der auf Edmund Husserl zurückgeht, hat Niklas Luhmann gern und häufig verwendet.
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Völlig anders geht René Pollesch an die Sache heran. Zunächst einmal konstatiert er im heutigen Theater „einen Mangel an Abstraktionsarbeit, wenn es um den Umgang mit der menschlichen Figur geht.“ (Pollesch 2009, 329) Dieses Defizit lässt sich aber dadurch beheben, dass man „die Einheit von Sprechen, Fühlen und Handeln“ aufsprengt und die Eigendynamik der einzelnen Komponenten zur Geltung kommen lässt. Ergänzt wird eine solche Aufführungs- und Darstellungspraxis bei Pollesch durch die ostentative Verwendung theoretischer Texte, die gesamtgesellschaftliche Diagnosen stellen, Krisenszenarien entwerfen und potenzielle Lösungen diskutieren. Die Funktion der jeweils anhand markanter Ausschnitte und charakteristischer Terminologien präsentierten Theorien besteht darin, den Zuschauern Werkzeuge an die Hand zu geben, mit deren Hilfe sie sich „persönlich orientieren“ und „die eigenen privaten Probleme bearbeiten“ (ebd., 321) können. Obschon das theoretische Material als eine Art „Sehhilfe“ (ebd., 358) dienen soll, geht es Pollesch nicht in erster Linie um die konkreten, mit harten Geltungs- (z.B. Wahrheits)ansprüchen und Verifikationsregeln versehenen Inhalte (also Aussagen, Begründungen und Argumentationsketten), mit denen Theorien gewöhnlich aufwarten, sondern um den Stil und die generelle Einstellung von Theorien.20 Aus diesem Grunde hält es Pollesch auch für legitim, Theater als eine Art „performativer Einübung von Theorie“ – wie Georg Petermichl es in einer Rezension genannt hat – zu praktizieren. Die theoretische Haltung ist wichtiger als die theoretische Aussage, die ja im Kontext der Wissenschaft stets bestritten und im Prinzip nie definitiv bewiesen werden kann. Ziel der Übung ist es, eine affirmative Einstellung zur Abstraktion zu gewinnen, die dann aus den Köpfen in die Körper und insbesondere in die Gefühlswelt importiert werden kann. Theorie soll also aus den Programmheften, wo sie bisher ihr tristes Dasein fristete, herausgeholt, auf die Bühne gestellt und dort – wie schon Nietzsche es empfohlen hat – zum Tanzen gebracht werden. Dieses Verfahren führt unweigerlich zu einer drastischen Depotenzierung der großen Begriffe des abendländischen Denkens. Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Authentizität, Liebe etc. verlieren bei Pollesch ihren Status als zwar unerreichbare, aber zur Handlungsorientierung unbedingt nötige regulative Ideen (im Sinne Kants). Sie verwandeln sich in „diffuse Versprechen“ (ebd., 367), die die Einrichtung einer vernünftigen Gesellschaft eher behindern als fördern. So erscheint die Liebe als ein Affekt, der auf untergründige und bislang kaum durchschaute Weise mit dem Kapitalismus in (einem perversen konstitutiven) Zusammenhang steht und eben kein Gegenmodell liefert zu jenem kritikwürdigen nutzen- und profitorientierten Verhalten, das die Mitmenschen bloß als Mittel behandelt, um die eigenen Zwecke leichter zu erreichen und egoistische Bedürfnisse zu befriedigen. Wer die Liebe als „allgemeine Verteilungs- und Integrationsform, vor der alle gleich sind“, anpreist (wie es im Kontext des Berliner Theatertreffens 2010 durch Eva Mattes und Juli Zeh per Interview und Jurorenvotum geschehen ist), verstellt die heilsame Einsicht, dass „die Liebe […] nur das Abgeschmackteste [ist], was der Kapitalismus hergeben konnte. Das Geld wäre so viel schöner als Bereich, der allen offen steht, wenn da nicht dieser Ka-
20 Freilich hat Pollesch einen bias für bestimmte Theoretiker, z.B. Luhmann, Agamben, Baudrillard, Donna Haraway, Žižek etc. Man mag diese Auswahl für tendenziös halten und lieber für Habermas, Honneth, Taylor, Bourdieu, Sennett etc. plädieren. Aber derartige Präferenzen sind nicht entscheidend.
194 | VORFÜHREN UND VERFÜHREN pitalismus wäre, der immerfort Liebe will.“ (ebd., 306)21 „Mit Liebe [aber] ist gar nichts zu erreichen.“ (ebd., 295)22
Polleschs Theater belässt es freilich nicht bei einer teils unterhaltsamen, teils strapaziösen Dekonstruktion laufender Diskurse und Klischees, es entfaltet auch eine soziale Utopie. Denn das Programm, an dem die zappelnden, schreienden und ununterbrochen quasselnden Bühnenfiguren arbeiten, enthält die Leitsätze für einen unsentimentalen Sozialismus (der in manchen Punkten an die Position von Helmuth Plessner erinnert): „Das geht auch alles zu regeln, ohne zu beschließen, gute Menschen zu sein, es gibt auch einen Sozialismus jenseits seiner sentimentalen Sorte. Es muss auch eine gesellschaftliche Utopie geben, die auf gegenseitiger Interesselosigkeit basiert. Die nicht jammert, weil hier wer wem nicht zuhört, jenseits eines Sozialismus aus Jux und Toleranz … […] wo unsere Leben sich wirklich berühren und nicht bloß in dem blöden Melodram, das wir uns erzählen müssen. Uns trennt diese Vorstellung von einem Plan unserer Gemeinsamkeiten. Das ist es, was uns trennt. Wenn wir mit dem aufräumen würden … Unsere Gemeinsamkeiten sind eben andere. Die sind politisch und nicht sentimental.“ (ebd., 231, 233)
VI. Unter dem Rettungsschirm verdampft? Polleschs Theater-Konzept der Dissoziation von Körper, Stimme, Text und der grotesken Konfrontation privater Gefühle mit folgenreichen historischen Ereignissen („Und wenn ich an dich denke, denke ich nur noch an das Projekt der kommunistischen chinesischen Partei, die Arbeit am kommunistischen Projekt aufzugeben und sich an den Aufbau des Kapitalismus zu machen, du Arsch, du!“23) – dieses Konzept scheint zur Reflexion der aktuellen Lebens- und Arbeitsverhältnisse besser geeignet zu sein als Schimmelpfennigs halbherziger Versuch, repräsentative und exemplarische Geschichten zu erzählen. Überdies ist Polleschs ironischer Umgang mit notorischen Schauspiel- und Regie-Tricks weit mehr auf Augenhöhe des versierten Zuschauers als Schimmelpfennigs Strategie, den Kitsch in seinen Stücken durch simple Verfremdungstechniken zu entschärfen (filmischer Szenenschnitt, Cliffhanger- & Überlappungs-Technik, Mitsprechen von Regieanweisungen, Männer spielen Frauen, Alte spielen Junge & vice versa).24 Dennoch ist Polleschs Integration theoretischer Texte in die Reden der Bühnenfiguren nicht völlig überzeugend: Denn er könnte es auch bei kurzen Lektüreempfehlungen im Stile von Denis Scheck bewenden lassen. Eine alltagspraktische Orientierungsleistung vermögen die dekontextualisierten Theoriehäppchen, deren 21 Vgl. auch Pollesch 2009, 146, wo diese Passage einer Bühnenfigur in den Mund gelegt und hinzugefügt wird: „wie Dietmar Dath sagt.“ Der Essay, der unter dem Namen des Autors René Pollesch erscheint, enthält keine Quelleangabe für das Zitat. Dies ist eine eher ungewöhnliche (witzige?) Praxis. Die Bühnenfigur vermeidet das Plagiat, während der Autor es sich offenbar leisten kann. 22 Als Gegenkonzept vgl. das Modell der dreistufigen Anerkennung (Liebe, Recht, Leistung) von Axel Honneth 2003b, 162ff. 23 Siehe die Pollesch-Stücke Fantasma (aufgeführt am Akademie-Theater in Wien 2009) und JFK (aufgeführt am Deutschen Theater in Berlin 2010). 24 Die Schwächen dieses Verfahrens treten in Schimmelpfennigs letztem Stück Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes (2010) deutlich zu Tage.
DRAMEN DER WIRTSCHAFT | 195
Identifikation allenfalls den Kennern Vergnügen bereitet, ohnehin nicht zu erbringen. Auch die zentralen ökonomischen Fragen25, die heute überall zu hören sind, werden nicht gestellt, geschweige denn beantwortet: 1. Wieso hat sich der Finanzsektor derart weit von der Realwirtschaft entfernt und eine gleichsam virtuelle Gestalt angenommen? 2. Worauf beruht trotz dieser Entfernung und Virtualisierung der wirkliche Einfluss auf die Realwirtschaft, so dass die Politik „Rettungsschirme“ aufspannen muss? 3. Ist das fehl-investierte Geld tatsächlich „verdampft“ (Arnoldi 2009)? Oder haben – nach dem Motto: „For every loser there’s a winner” (Janet Tavakoli26) – nur die Besitzer gewechselt? Theateraufführungen sind nicht in der Lage, auf diese und weitere (ggf. wichtige Details betreffende) Fragen befriedigende Antworten zu geben. Sie können zwar theoretische Texte zitieren; sie können aber den herangezogenen wissenschaftlichen Erklärungen durch eine bühnengemäße Veranschaulichung, die menschliche Körper, Gegenstände, Licht, Bewegungen, Töne, Stimmen, räumliche Atmosphären etc. mehr oder minder synchron zum Einsatz bringt, kaum etwas kognitiv Relevantes hinzufügen. Anders läge der Fall, wenn kausale Erklärungen und genealogische Rekonstruktionen überhaupt keine geeigneten Mittel bieten würden, um die (krisenhafte) Struktur des Kapitalismus adäquat zu erfassen. Gesetzt, es käme vielmehr darauf an, ein Gespür für das Irrationale27 der kapitalistischen Rationalität oder gar für die „spezifische Rationalität der evidenten Irrationalität28 des Kapitalismus“ (Bude 2008, 23) zu entwickeln, so ließe sich die These wagen, dass das Theater einen zweckdienlichen Rahmen für die Produktion ‚angemessener’ Einstellungen zur kapitalistischen Wirtschaftsweise bereitstellt. Es könnte nämlich szenische Darbietungen liefern, die den Zuschauern zeigen, was es heißt, wenn „gerade noch geltende Wertschätzungen […] in dunkle Ahnungen völlig unbestimmter oder unbestimmbarer Werte“ (Vogl 2010, 166) kippen. Würde es tatsächlich zur Normalität des Kapitalismus gehören, dass aus „völlig rationalen Entscheidungsprozeduren bzw. Erwartungshorizonten“ (ebd., 163) turbulente, unbeherrschbare und irrational erscheinende Zustände hervorgehen, dann erwiese sich die Bühne als probates Medium der Vergegenwärtigung und Bewusstmachung dieser Phänomene.
25 Man wird nicht darum herumkommen, zur Fachliteratur zu greifen, zum Beispiel: Strange (1985, 1998), Shiller (2009), Arnoldi (2009), Kornwachs (2009), Stiglitz (2010). Vgl. auch meine Überlegungen zur Verschiebung gesellschaftlich relevanter Latenzen in die Sphäre der Ökonomie in: Ellrich/Maye/Meteling 2009, 249ff. 26 Janet Tavakoli ist Autorin einschlägiger Bücher über Derivate (1998; 2003) und einer scharfsinnigen Analyse der Kreditblase (2009a). Vgl. auch ihr im Internet zugängliches Statement: “We know that big unanticipated market moves always result in big winners and big losers. After the fact, many winners claim they were smart – not just lucky. In my opinion, any claim of enormous gains for any strategy – including a black swan fund – should be explained and balanced with caveats.” (2009b) 27 Man konsultiere hierzu Robert Shillers Buch Irrational Exuberance (2005). 28 Diese ‚evidente Irrationalität’ ließe sich mit Hinweis auf „Dauerarbeitslosigkeit und Millionengehälter, Ressourcenfraß und Welthunger“ (Dörre/Lessenich/Rosa 2009, 285) erläutern.
10. D A S E R B E D E S K A U F M A N N S V O N V E N E D I G . Ü BER DIE U N /B ERECHENBARKEIT DES S CHLIMMSTEN „Denn, wie ihr wißt, war Sicherheit Des Menschen Erbfeind jederzeit.“ William Shakespeare
I. Berechnung und Assekuranz Wer mit dem Schlimmsten rechnet, nimmt zur „Härte der Wirklichkeit“ (Luhmann 2000, 427), die bekanntlich auch katastrophale Geschehnisse umfasst, eine spezifische Haltung ein. Er hält blindes Vertrauen1 oder schlichte Zuversicht für weltfremde Ratgeber. Dem Unheil begegnet er weder mit dem Glauben an eine pauschale überirdische Sinnstiftung noch mit Verleugnungsformeln, wie sie Voltaires Candide bei passender Gelegenheit aufzusagen weiß. Dennoch ist er alles andere als wehr- und konzeptlos. Angesichts einer bedrohlichen Welt gerät er nicht in Panik oder Verzweiflung, hält fatalistische Anwandlungen in Schach und lässt sich von Ängsten und Sorgen, (die keineswegs verdrängt, sondern als vage Informanten über mögliche zukünftige Ereignisse anerkannt werden) nicht um den Verstand bringen. Wer das Schlimmste in Rechnung zieht, mithin in die Zeichensprache der Zahlen, Tabellen und Register übersetzt, geht zu ihm auf Distanz. Vor das unmittelbare (eigene oder fremde) Leiden schiebt sich ein Schirm quantifizierbarer Daten, die sich zusammenstellen, mathematisch aufbereiten und in verschiedener Hinsicht auswerten lassen. Der Aufbau von Kalkülen schult eine Betrachtungsweise, welche Phänomene und Relationen zum Vorschein bringt, die unter dem Einfluss von Gefühlen oder Wertbindungen der Wahrnehmung entzogen wären. Solch ein Gewinn an kognitivem Abstand ermöglicht einerseits die rücksichtslose Analyse der Umstände und Gründe, die für den Eintritt von Schäden sorgen, führt andererseits aber auch zu Einsichten, die gerade dann von höchster Relevanz sind, wenn die Ursachen verborgen bleiben oder angesichts der Ereignis- und Schadensprofile belanglos werden. Datenbasierte Berechnungen erweisen sich nämlich nicht allein als effiziente Mittel, um den Zusammenhang zwischen bestimmten Ursachen und Wirkungen von Handlungen zu erkennen und dann ziel- und anwendungsorientiert kontrollieren zu können, sondern sie machen auch deutlich, dass das Wissen über die Häufigkeit und Regelmäßigkeit von Wirkungen, deren Ursachen nahezu unbekannt sind, eine bemerkenswerte (für die moderne Gesellschaft westlicher Prägung vielleicht sogar charakteristische) Operation in Gang setzt. Der berechnende Umgang mit unerwünschten, ggf. katastrophalen Wirkungen, den dieses Wissen erlaubt, soll 1
Zur Debatte über die unterschiedlichen Bedeutungen des Vertrauensbegriffs (u.a. blindes vs. kalkuliertes Vertrauen als riskante Vorleistung) vgl. Luhmann 1968; Coleman 1990; Ellrich/Funken/Meister 2001.
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nämlich nicht genutzt werden, um Schäden zu vermeiden. Vielmehr eröffnet dieses Wissen einen Handlungsspielraum, in dem Schäden als selbstverständliche Nebenfolgen gelten, die jede geglückte Aktion und Gewinnmitnahme begleiten. Das Unerwünschte und Nachteilige werden in Kauf genommen. Sie sind legitime Faktoren in einer dauernden Kosten-Nutzen-Rechnung, die Schäden in etwas verwandelt, das nicht mehr umgangen werden muss; denn Verluste lassen sich durch Kalkulation auf eine Weise berücksichtigen, die Abgeltung und Kompensation vorsieht. Die Institution, die solches ermöglicht, heißt Assekuranz bzw. Versicherung. Und ihre Funktion liegt darin, bei zukünftigen Schadensfällen (soweit kein fahrlässiges Verhalten oder Betrug vorliegen) eine angemessene Ausgleichszahlung zu garantieren. Ihre erfolgreiche Implementation setzt allerdings zweierlei voraus: 1. ein Wissen, das die Frage nach Ursache und Verantwortung zu einer sekundären Angelegenheit macht, weil Aufmerksamkeit und Interesse auf Ent-Schädigung und Kompensation des unwiderruflich Geschehenen gelenkt werden; 2. eine soziale Umbruchsituation, in der solche kompensatorischen Angebote für singuläre Unglücke und Verlustgeschäfte auch gesamtgesellschaftliche Funktionen erfüllen, indem sie den Ausfall überkommener Solidaritätsformen aufwiegen. Dass letzteres, obschon es in den Sozialwissenschaften lange vernachlässigt wurde, tatsächlich der Fall ist, hat die Forschung inzwischen dargelegt. Anstaltsförmig gestaltete Versicherungen – seien es private und freiwillige, seien es staatlich gedeckte und erzwungene – etablieren sich im Laufe des 19. Jahrhunderts2 und ersetzen die schon zerfallenen oder rapide schrumpfenden Systeme der solidarischen Hilfe wie sie für Familien, Nachbarschaften und religiös geprägte Gemeinden charakteristisch sind.3 Obschon die Assekuranz-Idee und die Einrichtung entsprechender Organisationen zunächst heftige Kritik auf sich zogen4, konnte sich die Versicherung, deren Vorteile (unter ihnen ist nicht zuletzt die Entschärfung revolutionärer Situationen zu nennen) rasch sichtbar wurden, in den dynamischen Industriegesellschaften des Westens flächendeckend durchsetzen und Wege bahnen, die schließlich zum Aufbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates führten.
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Dass die Zerstörung traditionaler Sicherungssysteme, die der Siegeszug des Kapitalismus im 19. Jahrhundert bewirkte, auch die Schaffung neue Freiheitsräume für die einzelnen Akteure bedeutet, ist evident. Siehe dazu im Detail Ewald 1993 [1986]; Castel 2000 [1995]; Sofsky 2005, 41ff. Die Versicherungen standen unter dem Verdacht, die Schäden, deren Kompensation sie vorsahen, zu provozieren, indem sie nicht allein zu sorg- und bedenkenlosen Handlungen, sondern auch zu Straftaten anregten. Solch eine Argumentation lässt sich auch in Kriminalfilmen verwerten. Vgl. folgenden witzigen Gangster-Dialog: „Wenn einer Kram hat, den er sich nicht leisten kann und so dumm ist, keine Versicherung abzuschließen, dann bin ich das Schicksal, das sich seiner annimmt. Er wird das Zeug sowieso verlieren.“ „Ist es denn in Ordnung, Versicherungsgesellschaften zu bestehlen?“ „Pass auf: Wenn Du jemand beklaust, der versichert ist, tust Du ihm sogar einen Gefallen, bringst ein bisschen Abwechselung in sein Leben, er hat was zu erzählen, er wird ’ne interessante Persönlichkeit, weil Du ihn beraubt hast. Dazu ist es Reklame für die Versicherungsgesellschaft und bringt die Leute dazu, Versicherungen abzuschließen. Dann tust Du den Bullen einen Gefallen, weil Du beweist, dass sie gebraucht werden und eine Gehaltserhöhung verdienen. Und Du tust Dir selbst einen Gefallen, weil Du die Kohlen brauchst.“ (Der Anderson-Clan/The Anderson-Tapes, USA 1970, Regie: Sidney Lumet).
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I I . D i e s ta ti s t i s c h e W e l t b e t r a c h t u n g u n d d as Ri si k o k o n z e p t Weitaus schwieriger und weniger offensichtlich verlief die Geschichte der Ausbreitung jener auf statistischem Wissen beruhenden Konzepte, die dem modernen Menschen, der abwägen, entscheiden und handeln muss, das Wahrscheinliche und Normale als handlungsorientierende Leitfiguren empfehlen, indem sie gleichzeitig die Fixierung auf Kausalität und Schuld in den Hintergrund drängen. Wie konnte dieser auch heute noch längst nicht abgeschlossene Prozess überhaupt in Gang kommen? Dass die soziale Dynamik des Kapitalismus den naturrechtlichen Gerechtigkeitsbegriff auflöste und die „’natürliche’ Zuordnung der Güter und Übel“ in Frage stellte, ist leicht nachzuvollziehen. Aber wie war es möglich, dass ein großer Teil der Bevölkerung schließlich bereit war, sich ein allgegenwärtiges „sozusagen ordnungsgemäße[s] Übel“ vorzustellen, das nicht als Ausnahme, sondern als Regel zu gelten hat und „hinsichtlich der individuellen Verhaltensweisen neutral“ (Ewald 1993, 21) ist? Der Diskurstheoretiker Francois Ewald zieht zur Erklärung die innovative Semantik des Risikobegriffs heran: Hier kondensiert das neue Wissen der statistischen Weltbeschreibung und das Bewusstsein einer modernen Dauerbedrohung zu einem Kompaktbegriff. Schon vor Ewald hatte Robert Castel eine Definition vorgeschlagen, die diesen Akzent hervorhebt: „Ein Risiko resultiert nicht aus dem Vorhandensein einer bestimmten Gefahr, die von einem Individuum oder auch einer konkreten Gruppe ausgeht. Es ergibt sich daraus, daß abstrakte Daten oder Faktoren, die das Auftreten unerwünschter Verhaltensweisen mehr oder weniger wahrscheinlich machen, zueinander in Beziehung gesetzt werden.“ (Castel 1983, 59)
1986 – im Erscheinungsjahr von Ewalds bahnbrechender Studie L’Etat Providence – schlug Niklas Luhmann andere theoriestrategische Wege ein. Bei ihm stand nicht das Phänomen der Verdatung und Be-Rechnung, sondern das Problem der ZuRechnung im Vordergrund: „Gefahr ist jede beachtenswerte Möglichkeit eines Nachteils. Von Risiko sollte man dagegen nur sprechen, wenn die eigene Entscheidung eine unerlässliche Ursache des möglichen Eintritts eines Schadens ist, wenn also bei einer anderen Entscheidung dieser Nachteil nicht eintreten würde.“ (Luhman 1986, 18f.)5
Beobachtet man die Welt mit der Differenz von Risiko und Gefahr im Sinne Luhmanns, so tritt das Problem von Unsicherheit, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Prävention in den Hintergrund. Deutlich wird hingegen, dass es in komplexen Gesellschaften, die sich auf „normal accidents“ („normale Katastrophen“) 6 einstellen müssen, immer mehr Betroffene und immer weniger Entscheider gibt.
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Siehe ferner Luhmann 1991, 30ff. So lautet der einprägsame Buchtitel, den Charles Perrow 1984 (dt. 1987) für seine Aufsehen erregenden Studien über die „unvermeidbaren Risiken der Großtechnologie“ wählte.
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III. Die Grundlosigkeit des Übels u n d i hr e p o e to l o g i sc h e R e f l e x i o n Angesichts solcher Differenzen zwischen Diskursanalyse und der systemtheoretischen Korrelationsakrobatik von „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ erscheint eine Erklärung attraktiv, die die Karriere des Amok-Konzepts in der westlichen Gesellschaft zum Ausgangspunkt nimmt und dann jenen Gesichtspunkt bezeichnet, der die teils stürmische, teils zögerliche Akzeptanz des neuen statistischen Wissens und der darauf fußenden Assekuranz-Logik verständlich macht. Am exotischen Phänomen des ‚Amoklaufs’ tritt eine Erfahrung überdeutlich in den Blick, die die Abendländer in weniger spektakulärer Gestalt tagtäglich machen, wenn sie nur aufmerksam genug durchs Leben gehen oder zumindest notorische Zeitungsleser sind: nämlich die Konfrontation mit einem Übel, das sich durch eine „gewisse Grundlosigkeit“ (Vogl 2000, 89) auszeichnet. Immerzu kommen Vorfälle ans Licht, bei denen die nachträglichen Versuche, eine kausale Erklärung zu geben, extrem kläglich ausfallen.7 Ursachen, Motive, Gründe werden zu diffusen Vokabeln. Die Umstände ebenso wie die beteiligten oder betroffenen Akteure erscheinen als normal und unauffällig. Allenfalls sind (mitunter belanglos wirkende) Auslöser zu identifizieren, die sich aber nicht generell ausschalten oder umgehen lassen. Man kann Vorfälle, die in der fahlen Beleuchtung ihrer Grundlosigkeit oder Kontingenz auftreten, nur noch in ihrer raum-zeitlichen Verteilung bzw. Häufigkeit erfassen und anhand dieser Kriterien dann Versicherungsarrangements entwerfen. Der Dramatik dieser Erfahrung, die in einer neuen Schadensrhetorik Ausdruck findet, ist vielleicht nur die Bühnenliteratur und ihre gattungspoetische Begleitreflexion gerecht geworden. Hier wird dargestellt, was die Umcodierung für das Phänomen des Handelns bedeutet, auf dem theaterwirksame Konflikte und ihre musterhaften Lösungen letztlich beruhen. Unumgängliche tragische Verstrickungen und ihre katastrophalen Effekte z.B. verlieren als Repräsentationsweisen und Lernszenarien für reale Probleme jetzt fast jeglichen Wert.8 Kontingente Ereignisse, Unfälle, Pannen und dergleichen beherrschen die Szene. Solchen Desastern ist die Form der Tragödie nicht mehr gewachsen. Ihnen kommen allenfalls die Groteske, das absurde Theater oder hybride Gebilde, in denen die herkömmlichen Genres vermischt werden, bei.9 Die literarischen Überzeichnungen demonstrieren, was es heißt, Unsicherheiten und grundlose Bedrohungen (ohne die reißfesten Haltetaue, die ein bewährter Ideenfundus zur mentalen Beruhigung bereitstellen würde) als Normalität zu akzeptieren. Welche Zumutung diese Sicht für Subjekte mit Orientierungsproblemen und Lebensängsten darstellt, lässt sich an der Nachfrage nach verschwörungstheoretischen und paranoischen Weltbeschreibungen10 ablesen, die im Chaos der Informationen und Eindrücke stets einen verborgenen Verursacher und dessen unum7
Ein versierter ‚Beobachter zweiter Ordnung’ könnte hieran die Katastrophenlatenz der Normalität ablesen. 8 Man sollte aber, wie Helmut Willke notiert, sich nicht blind machen für die „Tragik des Staates“ und „die Tragik der Staatstheorie“. Während jene aus der Selbstüberforderung des Wohlfahrtsstaates resultiere, liege diese in einer theoretischen Betrachtungsweise, der die „Vertreibung der Politik aus dem Zentrum der Gesellschaft“ verborgen bleibe. Vgl. Willke 1992, 12 und Klappentext. 9 Vgl. hierzu die Überlegungen bei Dürrenmatt 1966, 80. 10 Seit der Erfindung des Films deckt speziell dieses Medium den vorhandenen Bedarf, unsichtbare Drahtzieher in den Blick zu nehmen. Vgl. Ellrich/Maye/Meteling 2009, 179ff.
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stößliche Absicht entdecken. Wie man Zutrauen zur Stimmung der Grundlosigkeit gewinnen kann, ohne die eigene ökonomische Entscheidungsfähigkeit zu beeinträchtigen, zeigt Shakespeare im Merchant of Venice (ca. 1597), als die Institution der Versicherung, die im Seehandel ihre historischen Wurzeln hat, noch nicht etabliert ist: Man arbeitet mit den nützlichen Handlungsstabilisatoren Bürgschaft und Kredit und ergeht sich gleichzeitig, wie Antonio (Titelheld und dennoch Nebenfigur des Stücks), im modischen Gefühl der Melancholie, für die es kein plausibles Motiv, aber beliebig viele Erklärungen gibt.11 „ANTONIO: Nicht einem Schiff vertraut’ ich all mein Gut an Und auch nicht einem Ort; und mein Vermögen Hängt nicht ab vom Erfolg dies einen Jahres. Drum machen meine Waren mich nicht traurig. [...] SOLANIO: „Dann wolln wir sagen, daß Ihr traurig seid, Weil Ihr nicht froh seid; daß es grad so leicht wär Für Euch, vergnügt zu lachen und zu springen Und uns zu sagen, daß ihr froh seid, weil ihr Nicht traurig seid.“ (Shakespeare 1989, 441f.)
Antonio ist einer jener rational und kühn operierenden Kaufleute, die klug genug sind, ihr eingesetztes Kapital auf verschiedene lukrative Projekte zu verteilen, also jede Leichtfertigkeit meiden, und trotzdem schon in der Gegenwart einen zukünftigen Verlust oder Schaden imaginieren, der sich auf keine fassbare Ursache beziehen lässt. Seine merkwürdige Traurigkeit erschließt eine nebulöse Zwischenwelt. Das ökonomische Zusammenspiel von Ursache und Wirkung ist bereits gestört, aber die Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihr praktisches Pendant, die Versicherungspolice, sind noch nicht erfunden. Bürgschaft und Kredit erweisen sich ohne den geeigneten institutionellen Rahmen als unzuverlässige Mittel. Nur der Formalismus des Vertragsrechts, der „Schein“ auf den Shylock pocht, lässt genug Interpretationsspielraum, so dass die unerbittliche Logik des tragischen Fehlers (hamartia), den Antonio durch seine Vereinbarung mit dem rachsüchtigen Juden begeht, nicht greifen kann. Die tragische Notwendigkeit wird mit Hilfe eines rettenden Zufalls und Einfalls ad absurdum geführt. Der Zeitpunkt des Auftritts, die Geschlechtermaskerade der richterlichen Gewalt, das groteske Argument der Differenz von Fleisch und Blut12, die Kippfigur des juristischen Urteils13 – das alles ergibt keine tragfähige, verlässliche Konstruktion zur Abwendung von Gefahren, zur Abgeltung von Verlusten etc. Mit dem Aufkommen der Versicherungsidee und ihrer Anwendung in allen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen scheint hingegen ein Modell der Schadensregulation gefunden zu sein, das nicht allein die vielfältigen „Bedrohungen“ der Industriegesellschaft „entschärft“, sondern auch mit denjenigen Formen der Verhaltenssteuerung korrespondiert, die die Werte- und Sinnkrise der Moderne zumin-
11 Vgl. Burton 1968 [1621]. 12 Die Konnotationen liegen auf der Hand: Mann und Frau sind ein Fleisch, aber die ‚Rassen’ haben unterschiedliches Blut. 13 Vgl. hierzu auch Kapitel 5 „Von der normativen zur post-normativen Komik“
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dest partiell eindämmen, indem sie alternative Bezugssysteme für identitätsgenerierendes Handeln bereitstellen. Der Aufbau von Systemen der Vor-Sorge und VorBeugung (Prävention) kompensiert – und eben dies verdecken die modernen Verrechtlichungsschübe14 – die Schäden und Erwartungsenttäuschungen, zu denen der forcierte Einsatz von juristischen Vor-Schriften (qua Normen) geführt hat. Versicherungssysteme decken mithin die Flanken des sich allmählich ausbreitenden „Normalismus“, der keine moralischen bzw. rechtlichen Normen erzeugt, sondern Verhaltensorientierungen anbietet, die auf sozialen Mit-Schriften (also statistischen Daten über tatsächliches Verhalten) beruhen.15
I V . G r e n z e n d e s V e r si c h e r u n g s p a r a d i g m a s Man könnte angesichts dieses historisch einmaligen Pakets von Integrationsleistungen zu der These gelangen, dass die moderne Gesellschaft insgesamt als „Versicherungsgesellschaft“ (Ewald 1993, 11) beschrieben werden sollte. Denn die Denkfigur des Risikos hat sich „zum allgemeinen Objektivierungsprinzip sozialer Probleme“ entwickelt und das Versicherungskonzept dient als vorrangiges Mittel, um alle erheblichen Schwierigkeiten zu „reflektieren“ und zu „bewältigen“. (ebd., 22f.) Ob diese weit reichende Annahme triftig ist und auch in der aktuellen Lage diagnostischen Wert besitzt, entscheidet sich mit der Beantwortung der Frage nach dem ‚Schlimmsten’, das man unter Bedingungen der Gegenwart in Rechnung ziehen muss. Wenn die größten Gefahren, die heute die Gesellschaft bedrohen, jenseits des Versicherungsparadigmas liegen, so dürfte Ewalds eindrucksvolle Analyse nur für einen bestimmten historischen Abschnitt (etwa die Hochmoderne) Gültigkeit beanspruchen und müsste entsprechend erweitert oder korrigiert werden. Sollte indessen das ‚Schlimmste’ darin liegen, dass das Versicherungsmodell und insbesondere sein öffentlicher und sozialstaatlicher Charakter durch den deregulierten Kapitalismus zur Disposition gestellt wird, so könnte man Ewalds Theorie als Versuch auffassen, eine Linie zu bezeichnen, die nicht überschritten werden darf. Castel hat eben diese Position mit äußerstem Nachdruck vertreten: Zweifellos – so räumt er zunächst ein – gibt es „einen Wiederaufstieg des Liberalismus“, aber „die vom Sozialstaat gewobenen Interaktionen sind zu einem wesentlichen Bestandteil der für ihn typischen Form von Gesellschaft geworden, und das ‚Soziale’ bildet von nun an das Rückgrat des Gesellschaftlichen. Es genügte also, die ‚Naturgesetze’ des Marktes uneingeschränkt walten zu lassen, und es käme zum Schlimmsten, wovon wir uns kein Bild zu machen vermögen, sieht man einmal von der Gewißheit ab, daß nicht einmal die Minimalbedingungen für die Bildung einer Gesellschaft von Ähnlichen gegeben wäre.“ (Castel 2000, 364, 382)
14 An diesen Schüben hatte Jürgen Habermas die Ambivalenz der modernen Selbststeuerungspotentiale erläutert: einerseits die Kolonisierung der Lebenswelt durch normenaverse Systeme, die Macht und Geld als Mittel einsetzen, andererseits die Ausrichtung am unhintergehbaren Normenhorizont des Projekts der Moderne, das in der tiefenstrukturellen Verbindung von Recht und Moral zur Geltung gelangt. Vgl. Habermas 1982; 1992. 15 Vgl. Ellrich 2001; 2007 sowie die Kapitel 5 und 15.
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Ewald selbst sieht keinen Anlass, derart heftig Alarm zu schlagen. Er begreift die Krise des Wohlfahrtsstaates, die schon zu Beginn der 1980er Jahre vielfach konstatiert wurde16, nur als „eine Wachstumskrise“ (Ewald 1993, 12), die die strukturellen Voraussetzungen der „Versicherungsgesellschaft“ nicht zu untergraben vermag.17 Die Stabilität der etablierten Systeme führt Ewald auf die Latenz ihrer Arbeitsweise zurück: Auf geradezu „lautlose Weise“ (Ewald 1989, 386) befriedigen die weit gefächerten Organisationen der Assekuranz das Verlangen der Menschen nach Sicherheit. Dass die epochalen Leistungen der Versicherungssysteme nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen sind, ja sogar den bedeutenden Soziologen wie Simmel, Weber und Sombart entgingen, ist also nicht allein ein erstaunlicher Aspekt jener „Selbstbeschreibungen“ (Luhmann 1997, 866ff.), die moderne Gesellschaften von der eigenen Beschaffenheit anfertigen, sie ist anscheinend auch ein funktionales Erfordernis, das den Bestand der Strukturen sichert und potentiell ruinöse Effekte des sozialen Wandels dämpft. Gegen dieses Vertrauen in das vorhandene „institutionelle Arrangement“ der „Versicherungsidee“ sind grundsätzliche Bedenken laut geworden, die weit über den notorischen Hinweis auf die Nicht-Finanzierbarkeit des Sozialstaates18 hinausgehen. Doch auch im grellen Kontrastszenario, das die Unversicherbarkeit der „atomaren, ökologischen, genetischen und chemischen Großgefahren“ (Beck 1988, 180) darstellt19, spielt die Latenz-Figur eine gewichtige Rolle.20 Die neuartigen Katastrophen, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind, werden gern als „normal accidents“ (Perrow) charakterisiert, um den Grad der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens zu betonen und angemessene Maßnahmen zu initiieren. Der Ausdruck „normal accidents“ trifft allerdings nicht das Entscheidende: Denn Unfälle verlieren heute ihre „(raum-zeitliche) Begrenzung“; es kommt zu einer „schleichenden, galoppierenden und sich überlagernden Zerstörung“ (Beck 1988, 180), die jeglicher Berechnung die Grundlagen entzieht. Mit der Unsichtbarkeit von Folgen, mit der Diffusion des ‚Ereignis’-Konzepts, das dem Schadensfall eine erfassbare und quantifizierbare Gestalt verleiht, wird die Logik der Assekuranz fragwürdig. „Kalkulation schlägt in Verschleierung um.“ (ebd., 181) Schleichende, latente Katastrophen erweisen sich mithin als die finale Katastrophe der ‚Versicherungsgesellschaft’, wie Ewald sie beschreibt. Versicherungstechnische Routine-Operationen täuschen bloß über die Aufweichung des Tatbestandes und der Rechengrößen (Prämie, Schadenseintrittsfall, Schadenshöhe, Entschädigung) hinweg. Träfe diese Diagnose zu, so müssten wir uns zu der Einsicht durchringen, dass es eine Frage der medialen Repräsentation ist, ob Katastrophen die Form von Ereignissen erhalten. (Man betrachte zum Beispiel die Berichterstattung über den Tsunami im Dezember 2004.) So haben Sendungen, die Schäden ins Bild setzen, 16 Vgl. Luhmann 1981; Klages 1981. 17 Diese Gelassenheit hat ihm den Vorwurf eingebracht, „zukünftige Formen der Wahrnehmung und Verteilung von Risikoverantwortlichkeiten“ außer Acht zu lassen (Ewers 1993, 366). Auch Jürgen Link moniert an Ewalds Theorie die Unterbestimmung dynamischer Aspekte (1996, 146). 18 Dieser mit der „Härte“ der ökonomischen Wirklichkeit argumentierende Wink verliert angesichts der semi-lantenten Informationen über Kapital, das auf sog. OffshoreFinanz-Parkplätzen herumlungert, viel von seiner vermeintlichen Überzeugungskraft. 19 Auch für Krohn und Krücken liegen die Grenzen des Versicherungsparadigmas auf der Hand: Durch die Offerten privater oder staatlicher Versicherungen lassen sich weder die Ansprüche von Bürgerinitiativen befriedigen noch die umlaufenden individuellen Befürchtungen beruhigen (Krohn/Krücken 1993, 21). 20 Siehe hierzu die ausführlichen Analyen bei Ellrich/Maye/Meteling 2009.
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welche durch kein Vorsorge-System erfasst sind, einen paradoxen Effekt: Sie wiegen uns nämlich (noch einmal) in Sicherheit. Die Unversicherbarkeit erscheint nicht als grundsätzliches Problem, sondern als ein spezifischer Mangel, der jederzeit durch spendable Zuschauer kompensiert werden kann.
11. L A T E N Z S C H U T Z
UND
LITERATUR
„Wahrheit ist rücksichtslos und selbstgerecht.“ Else Klingenfeld-Hansen (in: Thomas Vinterberg/Mogens Rukov: Das Begräbnis) „Ignorance is eufunctional in cases or conditions in which knowledge would mean the revealing of information that would be directly and simply painful.” Louis Schneider
Zu den vornehmsten und schwierigsten Aufgaben der Philosophie gehört es, die Bedeutung der Begriffe Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu klären und darüber hinaus die Frage zu beantworten, wieviel Wahrheit die Menschen erreichen und ertragen können.1 Die Philosophie unterliegt folglich der selbstauferlegten Pflicht, die Wahrheit über die Wahrheit, mithin über ihre Voraussetzungen, Erscheinungsformen und Folgen herauszufinden. Aus diesem Grunde wartet die Philosophie nicht bloß mit Definitionen und Theorien der Wahrheit – u. a. der wissenschaftlichen Wahrheit – auf; sie versieht ihre Befunde zumeist auch (wie etwa bei Aristoteles und Kant) mit Ermutigungen und Aufforderungen oder (wie etwa bei Pascal oder Nietzsche) mit Warnungen an all jene, die verborgene Wahrheiten entdeckt haben und nun entscheiden müssen, wem sie ihr (nicht allein nützliches, sondern eben auch gefährliches) Wissen zugänglich machen sollen.2
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Vgl. Safranski 1990. Dieser Doppelperspektive der Philosophie scheint sich die Psychoanalyse (zumindest auf den ersten Blick) zu verweigern. Prinzipiell will sie das Unbewusste bewusst machen und die Kraft des Ichs dort zur Geltung bringen, wo Es war. Gänzlich ungebrochen wird das Projekt in einer Tagungsankündigung des Sigmund Freud Instituts (Juli 2010) artikuliert: „Grundlegend für die psychoanalytische Sozialpsychologie war und ist die Annahme, dass jede Gesellschaft Unbewusstheit produziert, um sich mittels kollektiver und institutioneller Abwehrmechanismen zu stabilisieren. Ein solcher als Latenzschutz zu begreifender Prozess ist unvermeidbar, weshalb es keine Gesellschaft gibt, die sich selbst völlig durchsichtig wäre. Folglich tritt die Psychoanalyse für eine Lebensführung im Bewusstsein des Unbewussten ein. Bewusst zu machen, was gesellschaftlich jeweils unbewusst gehalten wird, ist ein nicht abschließbares Projekt, dennoch notwendig. Denn der Latenzschutz, den Gesellschaften errichten, dient nicht nur der Angstabwehr, er trägt auch dazu bei, Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern und dadurch bestehende soziale Ungleichheiten einer Legitimationsprüfung zu entziehen. Die Realitätsprüfung zu stärken, ist das Anliegen einer psychoanalytischen Sozialpsychologie, die daran festhält, Wahrhaftigkeit und Wahrheit zu befördern.“ – Freud selbst hat freilich in seinem Aufsatz über das Unheimliche eingestanden, dass es durchaus etwas gibt, das besser in der Latenz verbliebe. Er verweist auf Schellings
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I . L i t e r at u r m i t g e l o c k e r t e m We l tb e z u g Gegenüber einem derart strengen und verantwortungsvollen Programm besitzt die sogenannte ‚Literatur’ bemerkenswerte Vorteile. Ihr Weltbezug ist – verglichen mit Philosophie und Wissenschaft – deutlich gelockert und zugleich erheblich erweitert; sie kann ihre Stoffe und Materialien der Realität entnehmen, sie muss dies aber nicht tun. Denn sie genießt das Privileg, sich teilweise oder gänzlich in der Sphäre des ‚Fiktiven’, des ‚Frei-Erfundenen’3 aufhalten zu dürfen, einer Sphäre, zu deren Markenzeichen (zumindest in der Moderne) die weitgehende Entlastung von Wahrheitsansprüchen und strengen Beweis- oder Begründungspflichten sowie von moralischen Geboten oder Zwängen gehört. Leichtsinn4 und Phantasie können sich in der Literatur regelrecht austoben, ohne dass der Zweck dieser merkwürdigen Übung von vornherein festgelegt wäre. Daraus ergibt sich freilich nicht nur die Gelegenheit, der Wahrheit mit Gleichgültigkeit, Spott oder Verachtung zu begegnen, sondern auch die einzigartige Chance, ihr auf indirektem Wege zum Sieg zu verhelfen, indem man sie durch die Kunst der Lüge5 weit effektvoller an den Tag bringt als durch jene wohldefinierten Begriffe und stringenten Argumente, deren sich die Philosophie und die exakten Wissenschaften (in erster Linie6) bedienen. Fiktionale Literatur ist offensichtlich ein ‚Medium’, das seine Freiheiten auf äußerst unterschiedliche, im Extremfall sogar gegensätzliche Weise zu nutzen versteht: Zum einen kann sie nämlich ihre ästhetischen Mittel einsetzen, um Probleme zu bemänteln und die Aufmerksamkeit der LeserInnen von heiklen Themen oder Sachverhalten abzulenken, zum anderen kann sie ihre Kräfte so entfalten, dass sich ein brisantes Wissen bildet, welches individuelle oder kollektive Irritationen, Schocks und Tabubrüche zur Folge hat. Die Literatur verfügt mithin über geeignete Instrumente, um illusionäre Schleier zu erschaffen und Schonräume des Unwissens einzurichten. Sie kann aber auch die gründliche (meist peinigende) Arbeit der Bewusstmachung und Demaskierung7, der Desillusionierung und Enttäuschung verrichten und dabei Darstellungstechniken anwenden, die nicht selten Beklemmung und Unbehagen, zuweilen sogar Furcht und Schrecken auslösen.8
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Definition: „Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.“ (Freud 1999 [1919], 236) Zur genaueren Bestimmung literarischer Fiktivität und ihres Verhältnisses zum Imaginären, auf das hier nicht näher eingegangen werden kann, vgl. Iser 1991. Allerdings sind auch extreme Formen des Tiefsinns möglich, die mit dem Wahrheitsgehalt philosophischer Erkundungen in Konkurrenz treten; siehe etwa die Dichtungen Hölderlins oder Rilkes. Vgl. hierzu Louis Aragons poetische Strategie des „le mentir-vrai” (1983 [1945]). Der Umstand, dass auch Philosophie und Wissenschaft nicht völlig auf ‚quasiliterarische’ und rhetorische Mittel (z.B. Metaphern) verzichten können, liefert kein Indiz für die Unhaltbarkeit der Differenz von Literatur und Philosophie einerseits, Literatur und Wissenschaft andererseits. Vgl. hierzu pointiert Seel 1994. Als Beleg für diese Annahme sei folgende These von Sulzer zitiert: „In der Welt stellen sich uns die Gegenstände, an deren gründlicher Erkenntniß uns am meisten gelegen ist, selten so dar, wie sie wirklich sind. Tausend Dinge kommen da zusammen, um den Menschen zu verstellen, und uns in Ansehung dessen, was gut und böse, was Verdienst und Verbrechen ist, zu hintergehen.“ Auf dem Theater hingegen erscheine der Mensch in seiner wahren Gestalt: „so wie man ihn nur selten in der Gesellschaft sieht, unverhüllt, ohne Schminke, ohne Verstellung, ohne die geringste Zurückhaltung.“ (Sulzer 1773, 151f.) Die Geste der literarische Demaskierung ist freilich oft auch mit einer spezifischen Lust, einem schmutzigen Genießen im Sinne Jacques Lacans (jouissance) verbunden.
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Zu den bevorzugten literarischen Sujets, bei deren Behandlung diese beiden gegensätzlichen Operationen (Herstellung bzw. Erhaltung von Schein-Wissen oder Unwissen vs. rücksichtslosen Gewinn wahren Wissens) durchgeführt wurden, gehören neben dem unerschöpflichen Themenfeld Liebe/Erotik/Sexualität, Darstellungen individueller bzw. kollektiver Schuld sowie traumatischer Erfahrungen im Kontext von Krieg und Genozid. Diese Stoffe sind aus nahe liegenden Gründen besonders geeignet, um das Phänomen der lebensdienlichen Abdunkelung schmerzhafter Wahrheiten (auf das der Begriff „Latenzschutz”9 geeicht ist) literarisch zu erfassen. Weit schwieriger scheint es hingegen zu sein, die gedeihlichen Funktionen des Nicht-Wissens im Rahmen von Romanen oder Dramen auf grundsätzlicher Ebene zu behandeln.10 Künstlerische Gestaltungen der abstrakten Basisstruktur des Latenzschutz-Phänomens, dem in vollem Umfang wohl nur eine elaborierte Theoriesprache gewachsen ist11, sind rar. Zu den wenigen Versuchen von Rang12 zählt jenes irrwitzige Gedankenexperiment, das Elias Canetti in seinem Drama Die BefrisEs ist nämlich nicht zu übersehen, dass fiktionale Texte ihre Leser in besonderem Maße faszinieren, wenn sie individuelle Handlungsmotive beschreiben, die in der Alltagsrealität normalerweise nicht mitkommuniziert werden – zum Beispiel abweichende sexuelle Interessen oder Kosten-Nutzen-Kalküle innerhalb von Freundschaftsbeziehungen etc. (vgl. hierzu die feinsinnige Proust-Lektüre von Niels Werber 2002). Vor den Augen des Publikums entsteht so eine ‚Unterwelt’ der eigentlichen Handlungsursachen, deren Umfang und soziale Funktion sich keineswegs auf Anhieb erschließen. Einerseits können die Leser erkennen, dass die offiziell gültigen Regeln der ‚Oberwelt’ von denen der ‚Unterwelt’ zuweilen markant abweichen, andererseits können sie nicht wissen, welche gültigen Schlüsse aus den fiktiven Szenarien gezogen werden dürfen. So bleibt die Frage unbeantwortet: Hat eine im wirklichen Leben vollzogene totale Offenbarung der ‚Unterwelt’ ruinöse Folgen für die gesamte Sphäre des Sozialen oder ermöglicht sie – im Gegenteil – einen Neuanfang unter Bedingungen, die die Aufspaltung der Motive in vorgebliche und echte unnötig machen? Diese Frage wirft bereits Molières Drama Le Misanthrope von 1666 auf. (Eine pointierte Analyse des Verhältnisses von Ober- und Unterwelt aus soziologischer Warte leistet Hondrich 2002, insbes. 42f., 60, 72, 104). – Fiktionale Texte verfügen noch über ein weiteres Faszinationsmittel, das aus der Konstruktion einer untergründigen ‚Zweitwelt’ resultiert, die zwar den aufmerksamen Lesern, jedoch nicht allen Figuren (im Roman oder Drama) gleichermaßen zugänglich ist. Solch eine selektive Darstellung verdeckter Motive macht die Leser/Zuschauer zu potenziellen Komplizen, die ihr Mehrwissen derart intensiv genießen können, dass sie auf die Entblößung unmoralischer Hintergrundabsichten fiktiver Figuren nicht mit innerer Empörung reagieren, sondern in die Intrige, die sie lesend (oder im Bühnendrama hörend und schauend) verfolgen, regelrecht hineingezogen werden. Anhand solcher Fälle wird deutlich: Das ästhetische Spiel mit unterschiedlichen Konstellationen von Nichtwissen und Mehrwissen lässt sich literarisch auf vielfältige und innovative Weise ausreizen. 9 Vgl. die einschlägige Definition bei Niklas Luhmann: „Wenn Strukturen Latenzschutz benötigen, heißt dies nicht, daß Bewußtheit bzw. Kommunikation unmöglich wäre; sondern es heißt nur, daß Bewußtheit bzw. Kommunikation Strukturen zerstören bzw. erhebliche Umstrukturierungen auslösen würde, und daß diese Aussicht Latenz erhält, also Bewußtheit bzw. Kommunikation blockiert.“ (1984, 459) 10 Die klassische Argumentation via negationis liefert Sophokles’ Ödipus Tyrann (429425 v. Chr.): Der König lässt sich durch die Warnungen, die seine Frau/Mutter und der Seher Teiresias äußern, nicht von den eufunktionalen Wirkungen des NichtWissens überzeugen. 11 Vgl. Moore/Tumin 1949; Schneider 1962; Luhmann 1984, 456ff.; Wehling 2007; Ellrich/Maye/Meteling 2009. 12 Allerdings gehört das Stück Die Befristeten nicht zu Canettis Meisterwerken. Das Kindler Literatur-Lexikon enthält daher auch keinen Eintrag zu diesem Text.
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teten von 1952 durchgeführt hat. Canetti stellt hier die Frage nach dem für Menschen zuträglichen Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen, Reden und Verschweigen, Zweifel und Beruhigung, Freiheit und Sicherheit. Das Stück spielt in einer zukünftigen Gesellschaft: Alle Menschen kennen den „Augenblick“ ihres Todes. Die Eigennamen der Individuen richten sich nach der Anzahl der Lebensjahre, die ihnen zur Verfügung stehen. Von Geburt an ist jeder Einzelne im Besitz einer verschlossenen Kapsel, die Angaben über seinen exakten Todestag enthält. Zu Beginn des Stücks unterhalten sich zwei Personen über „die alte Zeit“, in der zwischen Name und Lebensspanne noch kein Zusammenhang bestand und der Zeitpunkt des Todes unbekannt war: „DER ANDERE: Jetzt sag einmal, ernsthaft: Kannst du dir so etwas überhaupt vorstellen. EINER: Ehrlich gesagt: nein. Darum finde ich es so interessant. DER ANDERE: Aber das hätte doch niemand ausgehalten! Diese Unsicherheit! Diese Angst! Da hätte ich ja keine Minute Ruhe gehabt! Ich hätte an nichts anderes denken können. Wie haben diese Menschen gelebt? Wenn man nicht einmal einen Schritt vors Haus tun kann! Wie haben die Leute Pläne gemacht? Wie haben sie sich irgendetwas vorgenommen? Ich finde das furchtbar.“ (Canetti 1964, 188)
Im Verlauf der Handlung entdeckt FÜNFZIG, der gleichermaßen von Skepsis und Neugier angetriebene 'Held' des Stücks, dass die Kapseln leer sind und das angebliche Wissen um die Dauer des Lebens nur ein gesellschaftlich erzeugter Schein ist, der durch strenge Gesetze und öffentliche Strafrituale aufrechterhalten wird. Über den verborgenen Sinn dieser Gesetze und die unentbehrliche Funktion des Wächteramtes erhält FÜNFZIG in einem Gespräch mit dem KAPSELAN, dem Repräsentanten einer pastoral gesonnen Staatsmacht, die „für die Sicherheit der Menschen“ Sorge trägt, freimütig Auskunft: „Der Kapselan […] hat darauf zu achten, dass der alte Schrecken nicht einreißt: alles hängt am Gesetz des Augenblicks. Wenn er jemand erlaubt, dieses Gesetz zu bezweifeln, gerät alles ins Wanken, die Folgen wären unabsehbar.“ (ebd., 230)
Durch seine Entdeckung gehört FÜNFZIG plötzlich zum Kreis der Eingeweihten und wird vom KAPSELAN mit begrifflichen Unterscheidungen konfrontiert, deren soziale Relevanz er noch nicht ermessen kann: „Es gibt harmloses Wissen und gefährliches Wissen. Aber es gibt noch viel gefährlichere Zweifel. […] Es gibt Zweifel, die den Menschen rasend und elend machen, und nie zu etwas nütze sein könnten. Da ist sogar ein gefährliches Wissen noch besser. Das kann man für sich behalten.“ (ebd., 242)
Auch der ‚Preis’ einer durch Wissen errungenen Freiheit wird FÜNFZIG vor Augen geführt: „KAPSELAN: […] Genießen Sie sie [ihre Freiheit] nach Herzenslust! Seien Sie versichert, dass es noch andere Narren Ihrer Art gibt, die diese tödliche Unruhe der Ruhe, die wir eingeführt haben und die wir aufrecht erhalten, vorziehen. […] Ich überlasse Sie Ihrer Angst.“ (ebd., 242, 243)
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Ebenso wie der Großinquisitor in Dostojewskijs Roman Die Brüder Karamasow (1880) plädiert der KAPSELAN für eine Form des obrigkeitsstaatlich gewährten Schutzes vor gefährlichen Wahrheiten und destruktiven Zweifeln. Damit wird den Menschen ihre Freiheit nicht vollständig genommen, sondern nur auf harmlose Bereiche verlagert: „ZWEITER: […] Ein Mensch ist für mich etwas Unantastbares. ERSTER: Aber du weißt, wie ich heiße? ZWEITER: Natürlich, das weiß jeder. Ich kann meine Ohren nicht vor dem verschließen, was öffentlich bekannt ist. Ich weiß, wie alt du werden wirst; aber ich weiß nicht, wie alt du bist. Das ist ein Geheimnis. Ich finde es sehr gut, dass jeder dieses Geheimnis hat. Es gibt dir die Freiheit, dein Leben genauso einzuteilen, wie du es für richtig hältst.“ (ebd., 209)
Allerdings muss die Fähigkeit, dieses Geheimnis zu bewahren, erlernt werden. Sie ist ein Teil des Reifeprozesses. Im Stück belehrt eine Großmutter ihr Enkelkind, das unbedingt wissen möchte, wann deren Augenblick gekommen ist, auf folgende Weise: „GROSSMUTTER: Aber das behält jeder schön für sich. Darüber spricht niemand. Das ist ein Geheimnis. Ein Kind plaudert das vielleicht aus. Aber das ist eben nur ein Kind. Ein Großer sagt so was nicht. Das gehört sich nicht. Das wäre ja eine Schande! ENKELIN: Großmutter, wenn ich es niemand sage, – bin ich dann groß? GROSSMUTTER: Ja, wenn du zu niemand mehr davon sprichst, wenn du es ganz für dich behältst, immer, dann bist du groß.“ (ebd., 205)
FÜNFZIG lässt sich aber weder von den Vorteilen einer solchen Diskretionskultur noch von den funktionalistischen Argumenten für Latenzschutz beeindrucken. Er macht sein Wissen publik und wird dann notgedrungen zum Beobachter der Wirkungen, die dieser Akt der Wahrheitsstiftung hervorruft. Am Ende des Stücks – in einem letzten Gespräch mit dem Kapselan – widerruft er unter dem Eindruck der Ereignisse sein unbedachtes Tun: „KAPSELAN: […] Alles ist erschüttert. […] FÜNFZIG: Das Unheil ist geschehen. Kann ich nichts mehr retten? […] Ich schäme mich so sehr. Am meisten schäme ich mich meiner Blindheit. KAPSELAN: Es ist zu spät.“ (ebd., 248f.)
Dieser resignative Satz des KAPSELANS ist freilich nicht nur eine Aussage über die unwiderstehlichen Kräfte der Aufklärung und die Unbeugsamkeit des Willens zum Wissen. Er ist ein Appell an die Zuschauer, ihre eigenen Erfahrungen mit Wissen und Unwissen zu reflektieren und nach Lösungen des Problems zu suchen, die das Problem als solches nicht verdrängen. Die entscheidenden Fragen lauten dann, ob das Wissen bei Bedarf „seinen Stachel gegen sich selbst kehren“ (Nietzsche 1988a, 306)13 kann, ob „absichtsvolle Selbsttäuschung“ (Safranski 1990, 67)
13 Vgl. auch Nietzsches Frage: „Welche Mittel haben wir, uns die Dinge schön, anziehend, begehrenswerth zu machen, wenn sie es nicht sind? […] Hier haben wir von den Ärzten zu lernen, die zum Beispiel das Bittere verdünnen […]; aber noch mehr von
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funktioniert, ob ein „aufgeklärtes Vergessen“ (Weinrich 1997, 79) 14 möglich ist und ob eine psychische Technik, die man „optimistische Verleugnung“ (Goleman 1997, 103) nennen könnte, tatsächlich die Lage überforderter Subjekte verbessert. Liebe und Erotik sind literarisch bewährte Testarenen für solche Übungen, die mehr oder minder planvoll darauf abzielen, unter Bedingungen fehlender Sicherheit der eigenen „Unwissenheit von Herzen froh [zu] werden“15. Dabei können die von Liebesgefühlen oder erotischen Anwandlungen betroffenen Subjekte – das zeigen nicht nur alltägliche Erfahrungen, sondern auch einschlägige poetische und sozialwissenschaftliche Texte – geradezu blind darauf vertrauen, dass sie spontan in Zustände abnehmender kognitiver Urteilskraft und verminderter allgemeiner Zurechnungsfähigkeit geraten. Illusionen aller Art stellen sich gleichsam von selbst ein. Anders gesagt: Liebe macht empfänglich für Einbildungen. Fiktionale Literatur kann diesen quasi-naturwüchsigen Vorgang begleiten, unterstützen, verstärken, aber natürlich auch kritisch analysieren und mit zarter Ironie oder beißendem Spott übergießen. Die empirische Soziologie kann ihn staubtrocken oder jovial konstatieren16 und ggf. zu institutionalisierten Formen der Therapie raten, wenn die statistischen Daten dazu Anlass geben.
II. Libidinöse und literarische Fiktionen Solche Übereinstimmungen legen Mutmaßungen über die strukturelle Affinität zwischen hormonell bedingten und textuell erzeugten, mithin zwischen libidinösen und literarischen Fiktionen nahe. Je tiefer man allerdings die Untersuchung treibt, desto weniger ist klar, ob die Texte sich der Existenz spezifischer leib-seelischer Zustände verdanken oder ob es nicht die poetischen Konstrukte sind, die letztlich bestimmen, welche Gefühle entstehen und welche konkreten Praktiken ihnen korrespondieren.17 Die Literatur könnte sich unter diesen Umständen bemüßigt fühlen, im Gewande der Narration Handbücher für gekonnte Tändelei und virtuose Galanterie anzubieten oder im Gegenzug radikale Lehrbücher zu liefern, die durch exemplarische Geschichten aufklären und abschrecken. Gustave Flauberts Roman Madame Bovary (1856) ist für die zweite Strategie ein kaum zu übertreffendes Musterbeispiel; denn er zeigt unerbittlich die verheerenden Folgen einer naiven Rezeption des romantischen Liebesdiskurses auf. Hier erscheint literarisch verbreitetes Wissen als die einzige probate Medizin gegen eine durch Kitschromane ins gewöhnliche Leben eingeschleppte und eben deshalb besonders ansteckende Krankheit. Die Botschaft ist überdeutlich: In der Kunst der Wahrheit liegt zugleich die Wahrheit der Kunst. Auch Henrik Ibsen folgt zunächst diesem attraktiven Programm. In seinen Stücken Die Stützen der Gesellschaft (1875) und Ein Volksfeind (1882) bringt er auf öffentlichen Bühnen latente Vergehen, Laster und Sünden ans Tageslicht und verteidigt diese Strategie zugleich als allgemeines Verfahren, das vergiftete Lebensquellen reinigt und neue, gesunde Kräfte erschließt. Doch dann liefert Ibsen überra-
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den Künstlern, welche eigentlich fortwährend darauf aus sind, solche Erfindungen und Kunststücke zu machen.“ (1988b, 538) Als literarisches Beispiel für diesen Versuch könnte man Instettens Überlegungen zur Pragmatik des Vergessens bzw. zur „Verjährungstheorie“ bei ehelichen Betrugsfällen anführen. Siehe Theodor Fontane Effi Briest (1894/5), Kap. 27-29. Nietzsche 1988, 256. Vgl. Hahn 1983. Vgl. Luhmann 1982; Werber 2003.
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schenderweise die geradezu ‚klassische’ Darstellung positiver Wirkungen des Nicht-Wissens. In seinem Drama Die Wildente (1884) schildert er eine funktionierende Liebesbeziehung, die auf einer Lüge beruht und zerbrechen würde, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Als paradigmatisch kann die entworfene Szenerie gelten, weil sie die Figur eines externen Beobachters und selbsternannten Beraters einführt, der die problematische Logik des familialen Systems durchschaut und entscheiden muss, ob die Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse oder die Offenbarung der Wahrheit moralisch höher zu bewerten ist. Wie sehr diese ausgeklügelte literarische Konstruktion dann das Interesse der Soziologen auf sich gezogen hat, zeigen die höchst unterschiedlichen Kommentare von Theodor Geiger und Niklas Luhmann. Während Geiger nach den Bedingungen fragt, unter denen jegliches „Willens-Engagement“ für Nicht-Wissen und Latenzschutz unnötig sein dürfte18, rekurriert Luhmann auf Ibsens Begriff der „Lebenslüge“, um die vertrackte Rolle von Therapeuten und Unternehmensberatern zu reflektieren.19 Im semantischen Siegeszug der Metapher „Lebenslüge“ (qua nützliches Instrument der Daseinsbewältigung) kündigt sich der unaufhaltsame Aufstieg des sich selbst unter Beobachtung stellenden Subjekts an. Denn dieses verlässt sich immer weniger auf den Genuss der selbstinduzierten Illusion, sondern sieht sich zunehmend vor die Entscheidung gestellt, entweder durch eigene Aktivitäten wohltuende Einbildungen hervorzubringen oder Maßnahmen zum Schutz vor schädlichen Illusionen zu ergreifen. Besonders die Anbahnung von Liebesbeziehungen ist davon betroffen. Menschliche Vermittler (Kuppler, Botschafter, Werber) oder technische Medien (Briefe, Telegramme, E-Mails) dienen als Schutzmechanismen, die die Risiken der Kontaktaufnahme mindern und zugleich eine exzessive, aber indirekte Inszenierung des Begehrens20 erlauben. Medien gewinnen im Einsatz jedoch oft ein Eigenleben: (Ver-)Mittler21 verlieben sich oder betreiben Selbstwerbung. Und in18 Geiger expliziert den Begriff des „Willens-Engagements“ zunächst anhand des aufschlussreichen Beispiels eines Arztes, der die Symptome des eigenen Lungenkrebses „nicht wahrhaben“ wollte und daher in einem „fools paradise […] lebte und starb“. Anschließend kommt Geiger auf Ibsen zu sprechen: Die „viel zitierte Lebenslüge […] ist eine beliebige Vorstellung, deren Fürwahrhalten – so unbegründet, ja ungereimt sie auch sein mag – dem Menschen das Dasein erträglich macht, aus dem er den Mut schöpft, weiterzuleben. […] Ibsen scheint davon überzeugt gewesen zu sein, daß der Mensch einer solchen Lebenslüge unabweislich bedürfe. Die Tatsache, daß die meisten Menschen sich eine Lebenslüge zurechtlegen, scheint ihm recht zu geben. Unentbehrlich ist sie aber wohl nur für jene, die zu schwächlich sind, um ein in sich beschlossenes und sich erschöpfendes Dasein zu ertragen. Der asketische Stoiker oder Kyniker bedarf des Selbstbetruges nicht.“ (Geiger 1968 [1953], 84) 19 „Die Einsicht in latente Probleme, Funktionen, Strukturen schließt […] nicht zwingend aus, den Versuch zu unternehmen, diese Latenz in die Kommunikation einzubringen und, wie in der Psychoanalyse, das ‚Unbewußte’ bewusst zu machen und genau dadurch Effekte zu erzielen. […] Wenn er [der Berater] sieht, dass die Latenz selbst eine Funktion hat – etwa die Funktion der Verdrängung unlösbarer Probleme –, wird er mit der Offenlegung eher zögern, wenn er deren Effekte nicht überblicken und nicht kontrollieren kann. Er wird zumindest ahnen können, dass das Offenlegen der ‚Lebenslügen’ zur Katastrophe führen kann – ‚Katastrophe’ hier im Sinne einer Notwendigkeit eines anderen Prinzips der Stabilität, also wahrscheinlich einer anderen ‚Lebenslüge’.“ (Luhmann/Fuchs 1989, 216) 20 „Die Inszenierung unseres Begehrens ermöglicht es uns, jene Szenarien der Selbstzerstörung und Selbstverausgabung durchzuspielen, die für unseren Seelenhaushalt zu bedrohlich wären, wenn wir direkt mit ihnen konfrontiert würden.“ (Bronfen 2009b, 369) 21 Vgl. Hartley 1953.
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tensiv genutzte Kommunikationstechniken ermöglichen Schöpfungen, vor deren imaginären Reizen die banale Realität sich nur blamieren kann. Dass eine E-MailKommunikation, die zu virtuellen, erotisch aufgeladenen Beziehungen zwischen zwei Personen führt, zwangsläufig in eine Kommunikation über die LatenzschutzOption (also die Vermeidung des Real-Life-Kontakts) einmündet, zeigt Daniel Glattauer in seinem Roman Gut gegen Nordwind: „Wir können das nicht leben, was wir schreiben. Wir können die vielen Bilder nicht ersetzen, die wir uns voneinander ausmalen. […] Wir werden nach unserem ersten (und einzigen) Treffen ernüchtert auseinander gehen, träge, wie nach einem fetten Mahl, das uns nicht geschmeckt hat, dabei hatten wir uns ein Jahr mit Heißhunger darauf gefreut, hatten es Monate lang köcheln und brodeln lassen.“ (Glattauer 2008, 161)22
Die Subjekte sind – wie es scheint – heutzutage in eine Lage geraten, in der sie sich nicht einmal mehr unbewusst oder halbbewusst etwas vormachen können (oder wollen). Auf offener Diskursbühne bauen sie ihre Schutzvorrichtungen auf und tauschen rationale Argumente über Risiken und Gefahren von intimen Kontakten aus. Mithin erweisen sich unter spätmodernen Verhältnissen die notorischen Strategien der Selbsttäuschung, die Jean-Paul Sartre ausgiebig in Das Sein und das Nichts (1943) analysiert und Max Frisch in seinem Roman Homo Faber (1957) musterhaft beschrieben hat23, als obsolete Abwehrmechanismen. Eine unverdeckte Propaganda für die nützliche Lüge erhebt ihre Stimme. Aber während zum Beispiel bei Rainer Werner Fassbinder 1972 noch eine literarische Figur das erlösende, wenngleich deprimierende Immunisierungsprogramm verkündet – „Man soll keine Fragen stellen, die Antworten könnten schrecklich sein. […] Niemals die Wahrheit, das ist schon richtig. Die Wahrheit tut weh, und Lügen helfen zu überleben.“ (Fassbinder 2005, 634) –, gehen bei René Pollesch dreißig Jahre später die Rollentexte und die Meinungsäußerungen des Autors schon ungehemmt ineinander über. Fassbinders melodramatische Töne sind einer kühlen Prosa der Kosten-NutzenKalkulation zu Selbstschutzzwecken gewichen: „Und jetzt ginge es doch vielleicht darum, einen Lebensplan zu entwerfen, in dem Betrug und Kontingenz schon von Anfang an mitgedacht und bearbeitet werden können. […] Nur das, was verlogen ist, kann perfekt sein. Man sollte sich also unbedingt in einen Geheimagenten verlieben.24 Dieses Leben hat ja stattgefunden, auch wenn es Betrug war. Sie ha22 Das Problem ist freilich keineswegs neu oder erst im Kontext des Internets entstanden. Auch Briefe schaffen solche Möglichkeiten. Ihre prämedialen Aspekte werden in Ernst Blochs Analyse des antizipierenden Bewusstseins und speziell der „Aporien der Verwirklichung“ ergründet (1979 [1959] 217ff.) 23 Vgl. Beier 2010. 24 Pollesch bezieht sich auf den Fall Uwe Johnson (vgl. hierzu dessen literarische Verarbeitung: Skizze eines Verunglückten (1981) und kommentiert: Johnson „lebt 17 Jahre mit einer Frau zusammen, die in Wahrheit die Frau eines Geheimagenten ist, der auf ihn angesetzt ist. Sie hat den Agenten mit Infos über Johnson gefüttert. Jedes ‚Ich liebe Dich’ war ein Fake. Johnson hat diese Enthüllung nicht überlebt, sie hat ihm das Herz gebrochen. […] So. Und warum brechen bei uns die Herzen, wenn wir erfahren, dass wir einem Fake aufgesessen sind? Vielleicht hätte er nie eine Frau gefunden, die mit ihm 17 Jahre zusammengewohnt hat. […] Selbst wenn es inszeniert war – es war doch Liebe, oder?“ (Pollesch 2009, 368f.) Mit dem gleichen Argument immunisierte sich bereits ein Romanheld bei Ford Madox Ford, nachdem er den jahrelangen Betrug seiner Frau entdeckt hatte: „Wenn ich neun Jahre lang einen schönen Apfel habe, der
LATENZSCHUTZ UND LITERATUR | 213 ben sich gegenseitig unterstützt, sie waren im Bett. […] Einer von ihnen hatte eben noch ein anderes Leben, aber das vergiftet das Leben ja nur, wenn man die Wahrheit weiß. Die Wahrheit, dieses blöde europäische Wahrheitsdenken, muss das immer alles vergiften. Warum überlässt sie das nicht dem Geld. Das reicht doch, wenn das Geld alles vergiftet. Glückliche Leben beruhen auf Lügen.“ (Pollesch 2009, 106f.)
I I I . H i n te r d e n K u l is s e n d e r W a hr he i t Solche Überlegungen zur Planung eines möglichst schmerzfreien Lebens kreisen um die Frage, ob Wahrheitsvermeidung, Verdrängung und Selbstbetrug erlernbare Künste sind oder ob diese Operationen überhaupt nur dann effizient funktionieren können, wenn sie hinter den Kulissen einer undurchschauten Illusion ihre gedeihliche Arbeit verrichten. Oder anders formuliert: Kann man sich selbst wissentlich hinters Licht führen oder benötigt man dazu stets eine pastorale Machtinstanz, eine auserwählte Elite, die ihrerseits die Bürde des Wissens auf sich nimmt, damit die schwächeren Naturen sich im milden Klima der Täuschung aufhalten können? Statt aber diese schwierige Frage mit literarischen Mitteln immer wieder neu zu stellen, um sie einer unabsehbaren und doch möglichen Antwort25 entgegen zu treiben, haben einige moderne Autoren die Stoßrichtung des ganzen Unterfangens problematisiert. Denn die Idee, dass es sinnvoll oder gar lebensnotwendig sei, schädliches Wissen (ggf. unter Einsatz ästhetischer Mittel) zu meiden, verführt leicht zu der Annahme, es ginge primär darum, dramatische Ereignisse (erlittene oder begangene Verbrechen und Kränkungen, drohendes Unheil, Verrat, Betrug, Krankheit etc.) zu verbergen. Wird das Latenzschutz-Thema dann auch noch im Horizont von Nietzsches Kern-These über die Leistung der Kunst behandelt, dann sieht sich die Literatur vor die heroische Wahl gestellt, jene unerträgliche dionysische Wahrheit über die Ekelhaftigkeit und Absurdität des Daseins auszusprechen oder den schönen apollinischen Kunst-Schein aufzurichten. Diese Konstellation ist in den Augen mancher Autoren aber selbst nur eine Art von Latenzschutz, der ihre Befürworter davor bewahren soll, sich den „Blamagen der Banalität“ (Wiener 1982 [1978], 251) zu stellen. Der Beweis für die Triftigkeit der These, dass die wahrhaft unerträgliche und daher auszublendende Wahrheit eher im unaufhörlichen Gang des gewöhnlichen Daseins liegt, lässt sich auf indirektem und direktem Wege erbringen: 26 So führt Franz Kafkas Roman Der Prozeß vor, wie Josef K. „die Beschwerlichkeiten der Alltagsbanalitäten“ (Schnell 1993, 34) dadurch zu umgehen versucht, dass er im Inneren faul ist, und seine Fäulnis erst nach neun Jahren […] entdecke, darf ich dann nicht sagen, ich hätte neun Jahre lang einen schönen Apfel gehabt?“ (Ford 1978 [1915], 15) 25 Die ernüchternde Antwort könnte auch in der Erkenntnis liegen, dass die bewusste und geplante Ausblendung des Wissens nur im Medium der fiktionalen Literatur, aber niemals im realen Leben gelingen kann. Einmal erkannte Wahrheiten lassen sich nämlich nicht im hellen Lichte der Wahrheit abdunkeln, sondern nur durch Regression und Verblendung ausschalten. 26 Damit wird implizit auch Goethes These, dass die Reproduktion des Gewöhnlichen als Schutzwall gegen das Ungeheure dient, auf den Kopf gestellt. Vgl. dazu den berühmten Schluss von Teil I, Kap. 13 der Wahlverwandtschaften: „So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fort lebt, als wenn von nichts die Rede wäre.“
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sich nach allen Regeln der Kunst in das Opfer eines bürokratisch organisierten Verfolgungsapparates verwandelt, während Martin Walser mit seiner Kunstfigur Anselm Kristlein einen Vertreter präsentiert, der nicht länger bloß für Anderes stehen und werben möchte, sondern ganz er selbst sein will und daher die Maskerade eines Schriftstellers wählt, der die simple Wahrheit sagt, um sie dann durch die Herstellung von Fiktionen zu überbieten, die sofort in sich zusammenfallen: „jede Aussicht auf ein wenig Sonderbarkeit wird gleich wieder vernichtet, wenn ich jetzt […] mitteile, daß […]. Das ist die Wahrheit. Allerdings auch nichts als die Wahrheit.“ (Walser 1966, 8) Walser lässt seinen Helden mit dem ambitionierten Projekt scheitern, sich vor der Banalität des Alltags durch Verfahren der Literarisierung zu schützen, die mehr als die bloße Wahrheit aufzubieten beanspruchen. Ständig oszilliert Kristlein zwischen den gängigen Mustern von hoher und niederer Literatur und liefert damit den etablierten Literaturkritikern die nötige Munition, um auch seinen Erfinder Walser gelegentlich in ein „Jenseits der Literatur“27 zu verbannen. Damit eröffnen sich weitere Möglichkeiten, literarische Gestalten des Latenzschutzes in den Blick zu nehmen. Nach Auskunft der Kunstsoziologie ist das literarische Feld durch die Dichotomie von hoher und niederer Literatur geprägt.28 Während die niedere Literatur kommerzielle Erfolge anstrebt und völlig unbekümmert die jeweils bestehende Nachfrage nach Illusionen bedient, um so ihren zahlenden Kunden zu Realitätsflucht, Verdrängung und Selbsttäuschung zu verhelfen, verschmäht die hohe Literatur materielle Interessen und richtet sich bei der Herstellung ihrer Produkte nach Kriterien, unter denen neben der stilistischen und kompositorischen Qualität die tiefere Wahrheit eines Werks besondere Geltung besitzt. Institutionalisierte Kulturhüter überwachen die Einhaltung der herrschenden Standards. Dies kann in manchen Fällen dazu führen, dass selbst etablierte Autoren ihren im Bezirk der hohen Literatur bereits erworbenen Nimbus schlagartig einbüßen, wenn sie z.B. durch einen Starkritiker, dem das anspruchsvolle Publikum zu folgen geneigt ist, neu beurteilt und verworfen werden. Als markantes Beispiel lässt sich Marcel Reich-Ranickis Verdikt über Gerd Gaiser, den Verfasser der Romane Die sterbende Jagd (1953) und Schlussball (1958), anführen: „Statt zu erklären, verklärt er, statt zu verdeutlichen, verschleiert er, statt zu erhellen, verdunkelt er. Aus der Realität macht er einen Mythos. Er stellt sich nicht den Problemen, er entstellt sie, indem er sie poetisiert. Sein Werk dient nicht der Wahrheit.“ (ReichRanicki 1963, 80) Damit war Gaiser, trotz seiner handwerklichen Fähigkeiten29, aus dem Kreis der achtbaren und kanon-würdigen Schriftsteller förmlich exkommuniziert. Die einst gefeierten und mit renommierten Preisen ausgezeichneten Texte gehörten von nun an zur Klasse der niederen Literatur. Solche kompromisslosen Urteile, die sich vom existierenden Zuspruch des Publikums und den Einschätzungen einer alten Rezensentengarde frei machen und einzig im Namen der Wahrheit neue Sichtweisen durchsetzen, lassen sich jedoch als Teile des bürgerlichen Literaturbetriebes interpretieren, der seinen hochwertigen Produkten einen kaum merklichen Latenzschutz gewährt. Nach Bourdieu erschafft nämlich die „herrschende Klasse“ einen Bereich intellektueller und künstlerischer Praktiken, den sie vor den kalten Gesetzen der Ökonomie „verschont“, ja buchstäblich für „sakrosankt“ erklärt und zur eigenen Erbauung oder Belehrung re27 Vgl. Marcel Reich-Ranickis vernichtende Kritik von Walsers Roman Jenseits der Liebe (1976). 28 Vgl. Bourdieu Die Regeln der Kunst (1999 [1992]). 29 Allerdings wurden auch diese gleichsam ex cathedra bestritten. Vgl. Jens 1960, 16.
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serviert. Dennoch besitzt auch und gerade diese als „Sphäre der Uneigennützigkeit“ inszenierte Welt besonderer Produkte und Austauschbeziehungen einen „objektiv ökonomischen Charakter“, der freilich „im gesellschaftlichen Leben nicht erkannt werden kann“, sondern einzig durch unvoreingenommene soziologische Analysen in den Blick kommt. (Bourdieu 1983, 185)30 Erst im Lichte solcher Spezialbeobachtungen wird – wie Bourdieu behauptet – deutlich, dass die Praxisformen der hohen Kunst und Literatur, inkl. der sie flankierenden Kunst- und Literaturkritik, sich „nur aufgrund eines erheblichen Aufwandes an Verschleierung oder, besser, Euphemisierung“ verwirklichen. (ebd.) Gilt dies nun auch für Texte, die sich mit kollektiv begangenen Verbrechen und dem Umgang mit nationalen Schuld- oder Schamgefühlen befassen? Zunächst ist auffällig, dass literarische Werke den in dieser Hinsicht gesellschaftlich betriebenen Latenzschutz zumeist entweder unterstützen oder durchbrechen, aber nur selten so zu beschreiben versuchen, dass seine (Eu-)Funktionen und Dysfunktionen deutlich hervortreten.31 Eingehende Studien über die Vor- und Nachteile und die je historische Situierung bzw. kulturelle Rahmung des Beschweigens bzw. des NichtWissen-Wollens werden den Sozialwissenschaftlern überlassen. Und diese liefern entsprechend dezidierte Thesen: Hermann Lübbe zum Beispiel legt unumwunden dar, dass das Beschweigen der NS-Vergangenheit von 1945 bis ca. 1960 „das sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland“ (Lübbe 1983, 585) war. Ian Buruma hingegen bezieht sich auf die öffentlichen Debatten über die NS-Verbrechen in der BRD der 1960er bzw. 1970er Jahre und vergleicht sie mit den bekannten Kommunikationsblockaden in Japan: „Die Deutschen, von Schuld getrieben, haben das Bedürfnis, ihre Sünden zu beichten, die Last ihrer Schuld abzuwerfen und Vergebung zu erlangen. Aber Japaner wollen schweigen, und vor allem wollen sie, daß auch die anderen schweigen; denn es geht nicht um Schuld in den Augen Gottes, sondern um öffentliche Schande, um Peinlichkeit, um ‚Wahrung des Gesichts’.“ (Buruma 1994, 321)
Diese prägnante kulturwissenschaftliche Bestimmung zweier gegensätzlicher Umgangsformen mit „schlimmer Vergangenheit“ (Meier 2010)32 – nämlich die offizielle, medial verbreitete Demonstration von Schuld und die nicht minder offizielle,
30 Die soziologische Beobachtung ermöglicht mithin – so sieht es auch Luhmann – „eine Problematisierung von Latenz, die im direkten Zugriff ohne Systemschutz kaum möglich wäre. Gleichwohl formuliert die Soziologie kein Geheimwissen, das darauf beschränkt bleiben müßte. Für die soziologische Theorie erscheinen latente Strukturen als einsehbar und erscheint die Einsicht als verbreitungsfähig.“ (1981, 68f.) 31 Ansätze finden sich bei Schlink Der Vorleser (1997), Forte Das Haus auf meinen Schultern (1999), Köhlmeier Abendland (2007, 95), Köhler Ostersonntag (2007), Und dann diese Stille (2010). 32 Im Anschluss an einen Aufsatz von Peter Bender erörtert Meier die beträchtlichen sozialintegrativen Effekte, die sich aus einer rechtzeitigen Schließung der Stasi-Akten ergeben hätten (ebd., 90-97). Man könnte Meiers Reflexionen durch folgende Feststellung ergänzen: Das politische System hat in diesem prekären Fall zwar keinen Latenzschutz gewährt, aber die Literatur konnte mit einigen auflagenstarken Büchern (z.B. den Romanen von Thomas Brussig) das fatale Bild einer ideologisch völlig vergifteten DDR-Bevölkerung durch heitere, ostalgische Betrachtungen korrigieren und so – wenigstens partiell – die fehlenden Latenzschutz-Leistungen ausgleichen.
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sozial weithin anerkannte De-Thematisierung schandhafter Taten33 – gibt nicht allein Anlass zu der Vermutung, dass auch in der freimütigen Rhetorik der Schuld Latenzschutz-Mechanismen oder verdeckte Motive (für öffentliche Heuchelei) am Werk sein könnten, sondern erweckt zudem den Eindruck, dass die Lage weit komplexer und die kulturell codierten Verhaltensweisen weit schwieriger zu entschlüsseln sind, als eine rein funktionalistische Analyse suggeriert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang zunächst einmal die von G. W. Sebald 1997 bzw. 200134 angestoßene Debatte über das vermeintliche Schweigen der Literatur von den Auswirkungen des Luftkriegs, welche – wie Sebald meint – als „Erfahrung einer nationalen Erniedrigung sondergleichen nie wirklich in Worte gefasst […] worden sind“ (Sebald 2001, 6)35, sodann die von Hannes Heer analysierte indirekte Zensur radikaler, das herrschende Diskurs-Tabu in der Nachkriegszeit durchbrechender Beschreibungen von Kriegsgrauen und Kriegsverbrechen36 und schließlich der von zahlreichen Autoren unternommene Versuch, die Notwendigkeit und die Grenzen jeglicher Darstellung der Shoah zu bestimmen.37 In all diesen Diskussionen betonen die beteiligten Autoren sowohl die Rolle der„Selbstanästhesierung“ und der „Verdrängung“ (Sebald 2001, 19)38 als auch das grundsätzliche Problem einer Darstellung, der man zwar nicht ausweichen kann und darf, die aber jeder literarischen „Beschäftigung […] mit den wahren Szenen des Untergangs […] etwas Illegitimes, beinahe Voyeuristisches“ (Sebald 2001, 104) verleiht.39 Gleichwohl bleibt in den Auseinandersetzungen unklar, welche besonderen Aufgaben fiktionale Texte erfüllen müssen, um die Urteilskraft von Lesern zu stärken, die wissen möchten, wann Latenzschutz sinnvoll und wann er verderblich ist. Zu den wenigen Angeboten, welche die Literatur in dieser Hinsicht überhaupt unterbreitet hat40, darf man wohl die Darstellung menschlicher Reaktionsformen und Verhaltensweisen zählen, die J. M. Coetzee in seinem Roman Disgrace (1996) liefert. Hier geht es nicht um Genozid oder Bombenkrieg, kollektive Schuld oder nationale Erniedrigung, sondern ‚nur’ um die Vergewaltigung einer weißen Siedlerin durch drei Mitglieder der schwarzen Bevölkerung Südafrikas. 33 Buruma zitiert die erhellende Aussage eines Japaners: „In Japan wissen wir alle, was die Wahrheit ist, aber wir schweigen.“ (1994, 321) 34 1997 hielt Sebald die Vorlesung in Zürich; 2001 erschien die gedruckte Version. 35 Vgl. hierzu die Kommentare von Hage 2003, bes. 113ff.; ferner Forte 2002, bes. 31ff., 69ff. 36 Heer 2004, 170-197; Heer 2005, 809-835. 37 Vgl. dazu exemplarisch: Kleinschmidt 2002. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Kontroversen um Jonathan Littells Roman Les Bienveillantes (2006), dt. Die Wohlgesinnten (2007). 38 Vgl. die noch weit darüberhinaus gehenden Aussagen von Dieter Forte, der im Rahmen seiner kritischen Sebald-Rezension sogar von „uralten Reflexen“ und einer unvermeidlichen „Amnesie“ spricht (2002, 36). 39 Sebalds eigene Experimente in Luftkrieg und Literatur (2001, 33-36) hat Dieter Forte zu Recht mit kritischen Annotationen versehen (2002, 31ff.) und die hochambitionierte Kombination aus historiografischer Präzision und sprachlicher Virtuosität in Jörg Friedrichs Der Brand (2002) arbeitet mit fragwürdigen Metaphern und Vergleichen, die den Text an den Rand des reaktionären Kitsches befördern. 40 Man könnte auch die prätentiösen Schriften von Botho Strauß zu derartigen Angeboten zählen. Strauß begreift Dichtung als Verteidigung von „alte[m] Weistum“, mithin als eine Form der „Gegenaufklärung […], im strengen Sinne, [welche] immer die oberste Hüterin des Unbefragbaren, des Tabus und der Scheu sein [wird]. Es geht Strauß folglich darum, dem „kritischen Entlarven“, das „lange Programm war“, Grenzen zu ziehen. (Strauß 1996, 35f.)
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Eindringlich beschreibt Coetzee die mentale und habituelle Konstitution dieser jungen Frau, die bewusst auf die juristische Ermittlung der Wahrheit Verzicht leistet, welche ihr zukünftiges Leben bloß erschweren und zur Abgeltung der vergangenen Untat nichts Wesentliches beitragen würde. An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass Literatur eine Stufe der Beobachtung 3. Ordnung erreichen kann: Ebenso wie die Beobachtung 2. Ordnung zeigt sie, dass alle so genannten Wahrheiten – auch die schmerzlichen, verstörenden und strukturerschütternden – bloß Konstruktionen von Beobachtern/Unterscheidern sind und keine Gewissheit liefern; zugleich aber macht sie ihren LeserInnen auch klar, dass diese Einsicht niemanden davon befreit, als ein Beobachter 1. Ordnung zu existieren, der mit der „Härte der Wirklichkeit“ (Luhmann 2000, 427) konfrontiert ist.
B ILDER
UND D ISKURSE F O T O G R A F I E , F I L M , F E R N S E H E N , D I G I T A L E M E DI E N
12. E I N B I L D U N G , T Ä U S C H U N G , R E A L I T Ä T . ZUR IMAGINATIVEN KOMPONENTE DER FOTOGRAFIE I. Eigenlogik und Evidenz der Bilder Führt man sich den aktuellen Forschungsstand der Bildtheorie vor Augen, so stößt man zunächst einmal auf die weithin geteilte Annahme, dass die Rezeption von Bildern mit einer starken Evidenz-Erfahrung oder Evidenz-Suggestion verknüpft ist. Offenbar besteht unter Kulturwissenschaftlern gegenwärtig die Bereitschaft, den Bildern, die von Beginn an unter Täuschungsverdacht standen und wegen ihres Schein- und Illusionscharakters kritisiert wurden, eine eigene Logik zuzubilligen, die sich ausfindig machen lässt, wenn man das ereignishafte augenblickliche Erfassen, das die Bilder gewähren, näher untersucht. Erst dann nämlich wird ersichtlich, dass die spezifische Geltung der Bilder1 auf einem Evidenz-Eindruck beruht, der sich durch keine noch so ingeniöse Weise auf die argumentative Geltung diskursiver Praktiken zurückführen lässt. Bild-Evidenz – so lautet die neue Erkenntnis – ist keine Ausgeburt von Diskursen, obschon Diskurse günstige Voraussetzungen für visuelle Evidenz-Erfahrungen schaffen können. In der Auseinandersetzung mit Bildern bleiben sprachlich entfaltete Weltdeutungen stets gefährdet; denn das Evidenz-Potenzial von Bildern kann etablierte Diskurse irritieren, aufbrechen, mitunter auch zu Grunde richten. Worauf aber beruhen diese Fähigkeiten der Bilder, die uns heute dazu veranlassen, ihr ubiquitäres und massenhaftes Erscheinen weder mit Verachtung noch mit Euphorie, sondern mit einer „Kritik der ikonischen Vernunft“ (Heßler/Mersch 2009) im Sinne Kants zu beantworten? Ein jüngst erschienenes Buch über die Logik des Bildlichen gibt Auskunft: „Die Evidenzeffekte [folgen] aus der ‚affirmativen Kraft’ des Bildes, ihrer […] eigentümlichen Intensität und Suggestibilität, die unmittelbar mit seiner medialen Form des Zeigens verquickt ist, die von sich her mit der Schwierigkeit der Unverneinbarkeit, der Nichthypothezität und Nichtkonjunktivität behaftet ist.“ (ebd., 29) 1
Vgl. hierzu auch die grundsätzlichen Überlegungen in Ellrich 2004.
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Evidenz-Erfahrungen dieser Art2 werfen jedoch ein dramatisches erkenntnistheoretisches und forschungspraktisches Problem auf. Sie sind gleichsam ‚Kompaktereignisse’ der Erkenntnis: Sie werden als Ganze gemacht oder eben nicht. Deshalb sind sie auch kaum vereinbar mit der im Wissenschaftsbetrieb gepflegten Abstufung von Gewissheitsgraden und schon gar nicht mit dem Wissen um die Vorläufigkeit allen Wissens. Die künftige Aufgabe der Bildanalyse und Bildpraxis wird daher sein, den Erzeugungsprozessen der Bilder in den Bildern selbst einen Ort zu geben. Jede denkbare ‚Logik des Bildes’ muss folglich ihre eigene Produktionslogik umfassen. Ist dies aber noch in der Dimension der Visualität zu bewerkstelligen? Oder ist die sprachliche Erläuterung unverzichtbar?
I I . F o to g r a f i e th e o r e ti sc he V o r ü b u n g e n Vor dem Hintergrund dieser Skizze soll die Fotografie als evidenz-mächtiges Reich der Bilder befragt werden. Fotografien bieten sich als Forschungsobjekte deshalb an, weil mit der Erfindung und dem umfassenden Einsatz digitaler Bildgebungstechniken der Status der Fotografie prekär geworden ist oder zu sein scheint. Manche Beobachter sprechen von einem epistemologischen Bruch, vom Ende der Fotografie oder etwas moderater von der „Fotografie nach der Fotografie“ bzw. der Meta- oder Hyperfotografie3, andere geben Entwarnung und diagnostizieren nur die Verschärfung eines im Kern alten Problems.4 Um das Gewicht der Frage, die im Zentrum dieser heftigen Debatte steht, besser beurteilen zu können, möchte ich auf Wittgensteins bewährte Unterscheidung zwischen Zeigen und Sagen zurückgreifen, von der sich auch ein wichtiger Strang der Fotografie-Theorie inspirieren lässt. Diese Unterscheidung baut auf der klassischen Differenz von Anschauung und Begriff auf und liefert nützliche Vorgaben, um die Stärken und Schwächen zu bestimmen, die den diversen, kulturell eingespielten Repräsentationsformen oder „Ways of Worldmaking“ (Goodman) anhaften. Wenn man versucht, das ‚Wesentliche’ der Fotografie unter Rekurs auf den Gestus des Zeigens zu verstehen, der auf sein Hier und Jetzt pocht, so wird man gewahr, dass der fotografische Akt seinerseits einen latenten Aspekt des Zeigens freilegt: Die Fotografie zeigt nämlich nicht nur einen Gegenstand, sondern sie suggeriert zugleich die kausale Abhängigkeit des Zeigens vom Gezeigten. Denn durch das Zusammenwirken von Lichtstrahlen und lichtempfindlichen Flächen entsteht beim Fotografieren ein zweidimensionaler ‚Abdruck’ eines dreidimensionalen Weltausschnitts. Man kann in diesem Zusammenhang (mit Peirce) auch davon sprechen, dass Fotografien indexikalische Zeichen sind.5 Anders als ikonische Zeichen, die auf der Ähnlichkeit von Zeichen und Gegenstand beruhen, oder symbolische Zeichen, welche die Beziehung von Zeichen und Gegenstand durch Konventionen regeln, sind indexikalische Zeichen mit dem Gegenstand physisch verbunden. 2
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Nach Mersch werden solche Evidenzeindrücke von Bildern generell erzeugt: „Dass ein Bild, was es zeigt, zugleich bejahen muss, bezeichnet die eigentliche Quelle seiner Wirksamkeit, seiner ‚Scheinplausibilität’, die nicht nur für das illusionistische Bild der Tradition bis zur Fotografie gilt, sondern gleichermaßen auch für das technische Bild, das errechnete Bild, das graphematische Konstrukt der Simulation.“ (Mersch 2005, 341) Vgl. u.a. Mitchell 1992; Amelunxen 1996; Hagen 2002; Ritchin 2009. Vgl. u.a. Manovich 1996; Schröter 2001; Seel 2007; 2009; Mitchell 2007. Vgl. Peirce 1986, 191ff.; 1993, 64ff.; Dubois 1998, 62ff.; Krauss 2000, 249ff.; Glasenapp 2008, 23ff.; Geimer 2009, 18ff.
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Das bezeichnete Phänomen löst die Zeichen buchstäblich aus. Es steht mit ihnen in Berührung. Die Existenz einer Fotografie belegt demnach die Existenz des Gezeigten. Und sie bezeugt dessen Existenz durch die Verwandlung in ein Zeichen auch dann noch, wenn das Gezeigte im unaufhaltsamen Strom der Ereignisse längst entschwunden ist. Die Fotografie markiert folglich ein zeit-enthobenes ‚Dass’. Sie stellt gleichsam die Behauptung auf, dass der gezeigte Sachverhalt existiert hat. Sie gibt aber nur rudimentäre Auskünfte über dasjenige, was sie zur Darstellung bringt. Diese Schwäche der Fotografie ist mit besonderer Schärfe von Autoren herausgestellt worden, die eine „Ontologie des fotografierten Bildes“ (Bazin) entworfen haben. Das Bild „teilt mir nichts mit“, verkündet Roland Barthes (1980, 117)6 lakonisch, und Philippe Dubois (1989, 87) radikalisiert Barthes’ Statement mit der These, „daß das Foto nicht erklärt, nicht interpretiert und nicht kommentiert. Es ist stumm und nackt, platt und dumpf.“7 Nachdrücklicher lässt sich der intrinsische Mangel des fotografischen Bildes kaum in Worte fassen. Und alle Betrachter, die ihn bemerken und nicht bereit sind, ihn zu verleugnen, sehen sich genötigt, die Bilder entweder als ein ästhetisches oder existentielles Ereignis einfach gelten zu lassen oder sie aufwendigen hermeneutischen Prozeduren zu unterziehen, die externe (niemals zwingende) Kriterien der Sinnstiftung in Anschlag bringen. Denn der fotografierte Augenblick selbst produziert keinen Sinn. Er besitzt allenfalls das Pathos einer sinn-aversen Geste, die sich gegebenenfalls ästhetisch oder politisch zelebrieren und genießen lässt. Um dem Foto Sinn zu verleihen, muss es in einen Zusammenhang eingebettet werden: „Ohne eine Geschichte, ohne eine Entfaltung gibt es keinen Sinn. […] Ein photographierter Augenblick kann nur insofern Sinn erlangen, als der Betrachter eine Dauer hineinliest, die über ihn hinausführt.“ (Berger 1984, 89) Solche Sinnstiftung ist freilich keine Operation, die immer erst nach der Herstellung der Fotografie – also erst im Zuge ihrer Betrachtung – einsetzt. Die erforderliche Leistung der Sinngebung kann antizipiert und in eine Sinngebungsintention überführt werden, welche den Akt des Fotografierens von vornherein konditioniert. Es geht dann erstens um die Wahl eines geeigneten Augenblicks, „der den allgemeinen Betrachter dazu überredet, ihm eine angemessene Vergangenheit und Zukunft zu leihen.“ (Berger 1984, 89) Und es geht zweitens um die Wahl bedeutsamer oder zumindest interessanter Objekte, die es – aus welchen Gründen auch immer – wert sind, fotografisch dokumentiert (und festgehalten) zu werden. Solche Vorgriffe auf den Sinn, der nachträglich aus den Fotografien herausgelesen werden kann und soll, bestimmt ohne Zweifel die empirisch erfassbare fotografische Praxis von Kunst-, Presse- und Amateurfotografen, deren verschiedene historische Erscheinungsformen sich soziologisch untersuchen und schichten- bzw. berufsspezifischen Verhaltensmustern zuordnen lassen. Pierre Bourdieu und seine Mitarbeiter haben dies in ihrem berühmten Buch Eine illegitime Kunst (1965) getan und aus dem Fundus des Fotografierten auf die kulturell bzw. epochal für wertvoll und relevant erachteten Personen, Gegenstände, Orte, Szenen etc. geschlossen. Solange Herstellung und Rezeption von Fotografien innerhalb einer Kultur durch stabile Normensysteme dirigiert werden, so dass die Prozeduren der Kodierung und der 6
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Damit gibt Barthes seiner früheren These: „Es [das fotografische Bild] ist eine Botschaft ohne Code“ (1964/1990, 13) eine verhältnismäßig schlichte Fassung. Vgl. auch den Selbstkommentar in Die helle Kammer (1980, 99). Martin Seel hat versucht, diesen Befund mit sprachanalytischen Mitteln zu beschreiben: „Das Foto sagt oder bezeichnet nichts, aber es benennt etwas. Fotografien sind wie Namen augenblicklicher Konfigurationen von Dingen. […] Der Name denotiert, ohne zu konnotieren.“ (Seel 1996, 88)
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Dekodierung aufeinander abgestimmt sind, wird die oben behauptete Sinn-Defizienz der Fotografie gar nicht augenfällig. Indexikalität und Bedeutsamkeit bilden unter solchen Bedingungen eine Einheit. Man verfügt immer schon über hinreichend leistungsfähige Selektionskriterien und Interpretationsmuster. Barthes hat für solche gesellschaftlich gültigen und praktisch bewährten Deutungsschemata den Begriff „studium“ vorgeschlagen. Er hat es dabei aber nicht belassen. Denn er stellt diesen kulturell gedeckten Angeboten zur Verschleierung der ‚ursprünglichen’ Sinn-Schwäche fotografischer Bilder eine zweite – rein subjektive – Form zur Produktion von Sinn an die Seite: das sogenannte „punctum“. Mit dem Begriff „punctum“ wird jedoch keine autonome Deutungsmacht eines Subjekts installiert, das sich aus den Fängen der sozialen Konventionen befreit hat und von der basalen Mitteilungs-Defizienz des Bildes nicht abhalten lässt, eine eigene singuläre Interpretation zu generieren. Im Gegenteil: das „punctum“ ist der Begriff für eine durch die Fotografie selbst initiierte Verschmelzung von Existenz und Bedeutung des Gezeigten. Im Vollzug der individuellen, ja idiosynkratischen Wahrnehmung eines „punctum“ im Bild, wird das Subjekt von der Fotografie und seiner Dass-Qualität überwältigt. Damit löst sich das Bild – wie es scheint – aus dem Netz kulturell verbürgter Lesarten. Entscheidend ist allerdings Barthes’ Annahme, dass niemals ein Bild in seiner Totalität auf diese geradezu a-soziale oder subversive Weise angeeignet werden kann. Nur ein Detail des Bildes nämlich vermag die gängigen Kodierungen der Fotografie aufzubrechen und das Subjekt in seinem Erlebnis radikal zu vereinzeln, ja geradezu kulturell zu entblößen. Der Rest bleibt Teil der diskursiven Gewalt herrschender Konventionen, die oft genug einen hegemonialen Charakter besitzen. Das „studium“ verschleiert – so lautet Barthes’ Befund – die basale Sinn-Defizienz der Fotografie; das Erleben des „punctum“ hingegen macht sie spürbar, indem sie die Sinnstiftung an eine subjektive Erschütterung bindet und zugleich signalisiert, dass diese Form des Ge- und Betroffenseins gesellschaftlich nicht konsensfähig ist. Der von Barthes beschriebene „punctum“-Effekt tritt freilich nur ein, wenn der vorgängige Glaube an die Indexikalität der Fotografie – an das „So ist es gewesen!“ – nicht erschüttert wird. Nur vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass im Bild eine zwar vergangene, aber zweifellos einmal präsent gewesene Realität abgelichtet wurde, kann die Fotografie in einer Art und Tiefe ‚zustechen’, wie es kein anderes Medium vermag. Auf der Ebene des „studium“ lassen sich demgegenüber im Prinzip Deutungspraktiken installieren, die ohne ontologische Garantien auskommen. Hier genügen erfolgreiche Nutzungsweisen, die auf unterschiedlichen epistemologischen Grundannahmen beruhen können. Es wäre folglich durchaus denkbar, dass ein konstruktivistisch inspirierter ‚Zeitgeist’ (irgendwann einmal oder auch heute schon) den alltäglichen Umgang mit Fotografien prägt und eine realistische Einstellung zur ‚Echtheit’ von Bildern als private Marotte erscheinen lässt. Manche fotografie-historische Abhandlung erweckt ohnehin den Eindruck, dass die indexikalischen Ansprüche der Fotografie nur das Produkt bildhermeneutischer Praktiken sind, die einer bereits vergangenen historischen Phase angehören und sich mit dem Aufkommen der Computertechnik endgültig erledigen. Daher lautet die gängige Prognose: Sobald sich herumspricht, dass die sogenannte ‚digitale Fotografie’ ihre Betrachter über den eigenen Status und die Art ihrer Präsenz täuscht, ja täuschen muss, verlieren Fotografien den ihnen oft genug zugeschriebenen dokumentarischen Charakter.8 Jede ‚digitale Fotografie’ – heißt es aus berufe8
Wenn Siegfried J. Schmidts These – „im Vordergrund des [gewöhnlichen] Fotografierinteresses steht nicht ein Abbildungs- und Memorierinteresse (wie beim Polizeifo-
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nem Munde – sei per se eine Fälschung , nicht allein deswegen, weil sie das Produkt von Manipulationen darstellt, die sich nicht mehr erkennen oder nachweisen lassen, sondern auch und in erster Linie, weil sie – rein oberflächlich betrachtet – wie ein analog generiertes Bild in Erscheinung tritt, obschon sie tatsächlich nur aus errechneten Daten besteht, deren wesentliche Eigenschaft darin liegt, jederzeit reversibel zu sein. Denn bei solchen Daten handelt es sich nicht etwa um Spuren, die – nach den Gesetzen der analogen Bildgebung – durch den direkten Einfluss des Lichts erzeugt werden. Digitale Daten zur Herstellung fotografie-artiger Gebilde beruhen vielmehr auf Stromimpulsen, die ein CCD-Chip liefert, welcher die Fähigkeit besitzt, Licht in elektrische Energie zu verwandeln.10 Ob dieser Vermittlungsschritt allerdings als Indiz für einen epistemologischen Bruch gewertet werden muss und worin ggf. die Folgen einer solchen Fraktur bestehen, ist strittig. Unter ‚Computerbedingungen’ entstehen jedenfalls neue Orte, an denen Täuschungen, die es natürlich immer schon gegeben hat, auftreten können. Hierzu zählt auch der inzwischen weit verbreitete Begriff „digitale Fotografie“ oder „digital photography“.11 Allzu leicht macht man sich falsche Vorstellungen über den ‚digitalen Charakter’ des Bildes, der gar nicht als solcher zur visuellen Präsenz gelangen kann, weil digitale Daten für das menschliche Auge überhaupt nur analog sichtbar zu machen sind. Ein Bit hat – wie Claus Pias kernig formuliert – „noch niemand auf freier Wildbahn gesehen.“ (2003, §50) Aus diesem Grunde gibt es – streng genommen – überhaupt keine digitalen Bilder.12 Das oben geschilderte Index-Konzept verliert – so möchte man angesichts dieser Befunde und Thesen meinen – seine Attraktivität. Anscheinend kann die Fotografie nicht durch eigene Kraft wirken, sondern nur innerhalb von diskursiv erzeugten Rahmenbedingungen, die darüber entscheiden, ob das Gezeigte als Wiedergabe der Realität gelten soll und darf.13 Die Suche nach einer genuinen Logik
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to oder beim Passfoto), sondern der Wunsch, einen wie immer auch überwältigenden Eindruck ‚festzuhalten’“ (1996, 171) – zutrifft, so besteht ohnehin kein Grund zur Aufregung. Vgl. die geradezu sprichwörtlich gewordene These von Friedrich Kittler: „Computerbilder sind die Fälschbarkeit schlechthin.“ (2002, 179) Siehe hierzu die Analysen von Hagen 2001; 2002 und Pias 2003, aber auch die Einwände von Schneider 2009 und Schröter 2009. Vgl. Altmann 2003; Ritchin 2008. Im Detail verläuft das Argument folgendermaßen: „Das digitale Bild gibt es nicht. Wenn irgendetwas die Sache verfehlt, dann ist es unangebrachter Essentialismus. Was es gibt, sind ungezählte analoge Bilder, die digital vorliegende Daten darstellen: auf Monitoren, Fernsehern oder Papier, auf Kinoleinwänden, Displays und so fort. Und diese Daten selbst können auf verschiedenste Weisen entstehen: an Scannern oder in digitalen Kameras, an Grafiktabletts oder auf Tastaturen, aus Algorithmen oder in Kalkülen. Es gibt also etwas, das Daten ergibt (informationsgebende Verfahren), und es gibt etwas, das Bilder ergibt (bildgebende Verfahren), aber diese Dinge sind vollständig entkoppelt und gänzlich heterogen. Oder anders gesagt: Wir haben es zwar dauernd mit ästhetischen (also: wahrnehmbaren) Ereignissen zu tun, aber ein Bit Information hat trotzdem noch niemand in freier Wildbahn gesehen. Man sollte sich auch nicht von der Darstellung der Datensätze als Zahlenkolonnen täuschen lassen: Alphanumerische Zeichen sind um keinen Deut näher an einer vermeintlichen ‚Wahrheit’ der Daten als bunte Pixel.“ (Pias 2003, §50) Vgl. auch den Kommentar bei Schneider 2009, 193. Dass solche Mutmaßungen über den Vorrang von Diskursen wiederum Gefahr laufen, einem verborgenen Essentialismus zu huldigen, hat Geimer (2009, 95) mit Recht und Nachdruck betont.
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des Bildes14, die herrschende Diskurse potenziell unterläuft und gefährdet, kommt jetzt in den Verdacht, ein recht aussichtsloses Unterfangen zu sein. Stattdessen bietet es sich an, die desillusionierende Funktion des Computers zu feiern und (in tröstender Absicht) darauf aufmerksam zu machen, dass Fotografien niemals den mit ihnen im 19. Jahrhundert aufgekommenen Objektivitätsanspruch eingelöst haben. Derart betrachtet, bringt die Computertechnik nur etwas an den Tag, was man immer schon hätte wissen können und entsprechend berücksichtigen sollen: dass nämlich im Grunde genommen jede noch so primitive Fälschung, die für bare Münze genommen wird, eine flagrante Widerlegung dieses Anspruchs ist. So jedenfalls sieht es John Tagg in seinem kanonischen Buch The Burden of Representation von 1988. Mit dem Hinweis auf Fälschungen, die lange vor der Erfindung des Computers möglich waren und im politischen Kampf permanent zum Einsatz kamen, versucht er, Roland Barthes’ phänomenologischen Ansatz zu diskreditieren15: Keine Fotografie liefert – so lautet seine These – allein durch ihre Existenz eine Garantie für die korrespondierende prä-fotografische Existenz von irgendetwas, das auf den Fotografien zur Erscheinung kommt.16 Mit einem einzigen signifikanten Beispiel wird diese energische Behauptung untermauert. Tagg erinnert an Joseph McCarthy, den Vorsitzenden des Senatsausschusses für ‚unamerikanische Umtriebe’, und sein berüchtigtes Manöver, ein – wie man heute weiß – gefälschtes Foto des US Senators Millard Tydings, das ihn im Gespräch mit dem Chef der Kommunistischen Partei Nordamerikas Earl Browder zeigt, als Beweis einzusetzen17 und damit in der Öffentlichkeit, die weitgehend aus begeisterten Amateurfotografen und Lesern illustrierter Zeitschriften bestand, das gewünschte MeinungsBild zu erzeugen. Diese Fälschung funktionierte freilich nur, weil sie aus Elementen montiert war, die Tydings und Browder zweifelsfrei identifizierbar machten. Beide waren auf der Fotografie deutlich zu erkennen. Sie haben sich allerdings dort, wo sie das manipulierte Bild zusammenführt, niemals getroffen.
14 Vgl. u.a. Hüppauf/Wulf 2004; Heßler/Mersch 2009. 15 Auch Thomas Zaunschirm (1996, 222ff.) hat scharfe Kritik an Barthes’ These, dass die Fotografie „eine Emanation des vergangenen Wirklichen“ sei, geübt. In erster Linie wendet er sich gegen Barthes’ existentialistisches Pathos und dessen „nekrophile Obsession, Fotos für lebendiger als Menschen zu halten.“ (ebd.) Zaunschirms nüchterne Betrachtung, die Konzessionen an den alltäglichen Umgang mit Fotografien macht, führt zu folgendem Befund: „In der Praxis wird kaum jemand in Fotos ‚Fenster’ zu einer vergangenen Wirklichkeit sehen […]. Vielmehr sind Fotos in ihrem Wirklichkeitsbezug gesteigerte Bilder. […] Ein Fotograf kann im Unterschied zum Maler nur ablichten, was er vor sich hat. Der Zeithorizont muß nicht so gelesen werden, wie ‚wir sehen, wie es einmal gewesen ist’, wodurch die Vergänglichkeit betont wird. Vielmehr entspricht es wohl dem Allgemeinen Empfinden, daß man ‚noch immer sieht’, was irgendwann/irgendwo aufgenommen wurde. Nicht der Tod des Damaligen, sondern das dauerhafte Leben, das Überdauern und Erinnern wird in den Fotos vermittelt. Jedenfalls trifft das auf die Fotowelten zu, die in den Theorien und Philosophien zur Fotografie in Frage stehen.“ (ebd., 228) 16 Siehe Tagg 1988, 2; wortwörtlich heißt es, „that the existence of a photograph is no guarantee of a corresponding pre-photographic existent.“ 17 Vgl. hierzu auch Ritchin 2009, 36ff. – Ritchin zieht bei seiner Diskussion fotografischer Fälschungen als Beispiel auch jenes auf einer konservativen Website publizierte Bild heran, das Jane Fonda und John Kerry bei einer Anti-Kriegs-Veranstaltung von Vietnam-Veteranen zeigt und während des Wahlkampfes im Jahre 2004 als Mittel zur Diskreditierung Kellys eingesetzt wurde. Zum Problem und zur Geschichte fotografischer Fälschungen siehe ferner Jaubert 1989 und Rosler 1996.
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Die Sache ist also weit komplizierter, als Tagg sie darstellt. Denn er lässt außer Betracht, dass Fälschungen zumeist durch das Auftauchen von Originalen18, die teilweise, aber eben nur teilweise, etwas anderes als die Fälschungen zeigen, aufgedeckt werden und dass diese Art der Entlarvung auf der Annahme beruht, dass das vermeintliche Original die Realität (wie auch immer ausschnitthaft und dekontextualisiert) so zeigt, wie sie einmal vor der Kamera gegeben war. Zu den legendären Fotografien, auf denen Trotzki, Dubcek, die Mitglieder der ‚chinesischen Viererbande’ spurlos oder fast spurlos (von Dubcek ist wenigstens ein Schuh übrig geblieben) verschwunden sind, existieren jeweils Pendants, auf denen man sie sehen kann und kein seriöser Historiker würde Zweifel daran schüren, dass es so und nicht anders gewesen ist. Fälschungen19 sind auf Originale oder Teile von Originalen angewiesen, die sie verändern oder neu zusammenfügen. Ihre Existenz widerlegt deshalb auch nicht die fotografische Geste, etwas so darzustellen, wie es gewesen ist. Ebenso wenig diskreditiert das Vorkommen von Lügen den Geltungsanspruch sprachlicher Kommunikation, wahre Aussagen zu treffen. Gleichwohl erweisen sich Fälschungen fotografie-theoretisch als hochinteressant: Denn sie sind radikale Versuche, die SinnDefizienz des Fotos unsichtbar zu machen. Ihr Ziel ist eine extreme Vereindeutigung der basalen fotografischen Polysemie. Sie liefern energische Leseanweisungen, ja geradezu Sinn-Imperative. Sie verwenden oder erzeugen Bilder, die etwas Bestimmtes sagen wollen oder sollen, und setzen die Fähigkeit der Bilder, etwas zu zeigen, als pures Mittel zu diesem Zweck ein. Nun räumen freilich selbst diejenigen Autoren, welche den realistischen Anspruch der Fotografie weiterhin für legitim halten und ihre Position mit einer Analyse des sozialen Gebrauchs fotografischer Bilder untermauern20, bereitwillig ein, dass die Fälschungspotenziale und -gelegenheiten durch die digitalen Techniken erheblich angestiegen sind. So verfügt inzwischen jeder versierte Computernutzer über zahlreiche Tools der Bildbearbeitung und -erzeugung. Der zur Ermittlung gefälschter Fotografien wesentliche Vergleich zwischen verschiedenen Bild-Versionen einer bestimmten Szene, die sich einmal zugetragen hat, wird unter diesen Be18 Fälle von Unkenntnis des Originals sind freilich nicht selten: Ein gutes Beispiel liefert Ian Burumas Bemerkung zu Jewgeni Chaldejs berühmtem Foto der Flaggenhissung auf dem Reichstagsgebäude: „Ein Ostdeutscher erzählte mir einmal davon, dass einer der Soldaten auf dem Foto erbeutete Uhren am Arm aufgereiht trug. […] Ich habe das Bild daraufhin noch einmal betrachtet, aber Armbanduhren konnte ich nicht erkennen.“ (1994, 66) Das Original mit den erbeuteten Uhren ist inzwischen oft reproduziert und kommentiert worden (vgl. Volland 2008). 19 Zu beachten ist auch: Hinter Fälschungen stehen gewöhnlich handgreifliche Interessen, die oft leichter ausfindig zu machen sind als die Manipulationsindikatoren in oder an den Bildern. Allein im Bereich der Kunst ist Fälschung, Manipulation, Veränderung des Ausgangsmaterials ein anerkannter Selbstzweck, der zwar generell soziale Funktionen (Erbauung, Entlastung, Unterhaltung, Irritation etc.) erfüllen mag, aber nicht zusätzlich noch spezifischen Absichten dient. Lässt sich an einem Kunstwerk oder einer künstlerischen Aktion ein konkreter (z.B. politischer) Zweck erkennen, so bereitet es keine sonderlichen Schwierigkeiten, diesen Zweck auch durch eine nichtkünstlerische Ausdrucksform wiederzugeben und mit kunstfremden Mitteln zu verfolgen. 20 Vgl. u.a. Seel 2007 und Mitchell 2007. Besonders interessant ist Stieglers Position (2006, 403ff.): einerseits konstatiert er – im Anschluss an Hagen (2002) – einen epistemologischen Bruch, andererseits geht er davon aus, dass dieser Bruch für den normalen Umgang mit Fotografien relativ folgenlos geblieben ist; vgl. hierzu auch die kritischen Bemerkungen bei Schröter 2009, 202f.
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dingungen schwierig, wenn nicht unmöglich. Und auch die Problematik der Referenz erhält nun – wie es scheint – eine dramatische Note. Die gegenwärtig laufenden Debatten legen jedenfalls nicht allein von der Komplexität des Themas21, sondern auch von der enormen Bedeutung aller aufgeworfenen Grundsatzfragen Zeugnis ab. Um das Gewicht der kontroversen Argumente, die innerhalb des Streits über die Referenzialität digitaler Fotografien22 vorgetragen werden, besser einschätzen zu können, ist es zunächst einmal sinnvoll, zwischen „digitalisierten und algorithmisch generierten Bildern“ (Schröter 2009, 204f.) strikt zu unterscheiden. Auf der Folie dieser Differenz lässt sich dann z.B. deutlich machen, dass der ständig beschworene „Gegensatz zwischen den referenzlosen Zeichen digitaler Medien und den referentiellen Zeichen fotochemischer Medien problematisch ist.“ (Schröter 2001, 58) Für die praktische Nutzung der Computertechnik, die sich überwiegend im Rahmen erfolgskontrollierter Handlungsketten vollzieht, bleibt Referenz23 die entscheidende Richtgröße. Denn digitale Bilder werden in erster Linie nicht erzeugt und zum Einsatz gebracht, weil sie (mitunter sogar täuschend echt wirkende) artifizielle Gebilde erschaffen, sondern weil sich mit ihrer Hilfe Ort und Beschaffenheit von realen Phänomenen visuell derart exakt repräsentieren lassen, dass sie – um eine häufige Verwendungsweise zu nennen – durch medizinische oder militärische Operationen chirurgisch präzise eliminiert werden können. Tumore und Terroristen liefern hier schlagende Beispiele. Wie auch immer man die Erfindung digitaler Techniken versteht, als (latent wirksamen) epistemologischen Bruch oder bloß als informatische Erweiterung fotografischer Handlungsspielräume, für die alltägliche Praxis ist die ‚Machart’ der Bilder zumeist nicht entscheidend. So hat z.B. niemand ernsthaft den Realitätsgehalt der digital erstellten Fotografien aus Abu Ghraib bezweifelt, obschon in diesem Falle der Verweis auf die digitalen Manipulationsmöglichkeiten nahe gelegen hätte und politisch durchaus opportun gewesen wäre.24 Die Auseinandersetzung um die Fotografien aus Abu Ghraib macht jedoch überdeutlich, dass die „Hauptrelevanz der Digitalisierung nicht in der Bindung an den Referenten“, sondern in der rapiden weltweiten „Zirkulation“ von Bildern liegt, auf denen brisante Ereignisse festgehalten sind (Mitchell 2007, 245). Offenbar hat das Wissen um die Manipulierbarkeit digital gewonnener Bilder die Beweiskraft von Fotografien, die ja seit den „Geisterfotografien“ ohnehin beständig in Zweifel gezogen wurde, nicht so nachhaltig geschmälert, wie oft behauptet wird. Eine mögliche Ursache für diese eigentümliche ‚Wertschätzung’ der Fotografie könnte darin liegen, dass die Rezipienten dem imaginierbaren Gehalt von Fotografien weit mehr Bedeutung zumessen 21 Ein aufschlussreiches Beispiel ist Lev Manovichs Kritik (1996) an William J. Mitchells frühen Thesen zur digitalen Fotografie in The Reconfigured Eye (1992). 22 In diesem Zusammenhang ist die Frage besonders interessant, ob ein digitaler Fingerprint für die Erstaufnahme technisch möglich ist (vgl. Coy 1996, 72; Heßler 2006, § 29) oder ob auch solch ein Marker den Gesetzen digitaler Reversibilität unterliegt. 23 Schröter sorgt in diesem Punkt energisch für Klarheit: „Sofern digitalisierte Daten Abtastungen (von Licht oder Schall oder anderen Phänomenen) und somit auf gewisse Weise immer noch indexikalische Zeichen sind, bleiben sie auf die reale Welt bezogen. Der entscheidende Unterschied liegt (zumindest auf der Ebene der Pragmatik) nicht im Weltbezug, sondern in der mathematischen Form der digitalen Daten.“ (Schröter 2001, 58) 24 Über die Gründe lassen sich weitreichende Überlegungen anstellen, die ich hier bei Seite lassen muss, vgl. hierzu Butler 2008, ferner Ellrich 2009, 312ff. sowie Ellrich 2010.
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als der deiktischen Geste des „So ist es gewesen“. Denn das Verlangen nach einem Sinn, der sich im Bild (und sei es auch auf eine verborgene Weise) manifestiert, lässt sich durch den Hinweis auf die unbestreitbare Existenz des Gezeigten nicht stillen und folglich durch den Nachweis der generellen Fraglichkeit aller auf Fotografien erkennbaren Gegenstände auch nicht außer Kraft setzen. Wie die (oben erläuterte) Defizienz-Theorie des fotografischen Bildes darzulegen versucht hat, ist die Gewissheit über eine im Bild zwar gegenwärtige, im Leben aber immer schon vergangene Realität mit der schmerzlichen Einsicht erkauft, dass die Bilder unfähig sind, ihren Betrachtern eindeutig mitzuteilen, was sie meinen. Im Gegenzug ließe sich daher folgende These formulieren: Je energischer die Fixierung auf die rein referentielle Bindung der Fotografie gelockert wird, desto nachhaltiger lässt sich die sinnstiftende Leistung der Bilder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Lehrt dies nicht auch schon ein flüchtiger Blick auf die Praxis fotografischer Manipulationen? Das Täuschungsmanöver besteht ja darin, gerade das, was das Bild sagt, so sehr zu verstärken, dass die Frage, ob denn tatsächlich gezeigt wird, was hier gesagt wird, regelrecht verstummt. Im Zeitalter der digitalen Technik, die zugleich neuartige Unsicherheiten und neuartige Handlungsoptionen schafft, scheint die Wirksamkeit der Fotografie primär von der Virulenz und Dignität des jeweils ins Bild gesetzten Phänomens abzuhängen. Nur die Bedeutung des Gezeigten kann die immer mehr zutage getretene Problematik des Zeigens entschärfen. Für die Kunstfotografie ergeben sich aus dieser Diagnose der Schwächen und Stärken von Bildern mehrere mögliche Schlussfolgerungen: 1. sie kann offensiv mit dem Täuschungspotenzial der Fotografie umgehen und durch den Willen und die Fähigkeit, dieses im Medium des Bildes selbst in Szene zu setzen, ihre Überzeugungskraft gewinnen; 2. sie kann den indexikalischen Aspekt der Fotografie depotenzieren, ohne ihn zu verleugnen, und das Augenmerk auf Formen der visuellen Sinnstiftung legen, die Fotografien durch eine Zusammenstellung latent korrespondierender Bilder zum Sprechen bringen; 3. sie kann versuchen, mit singulären „großen stillen Bildern“ (Bolz 1996, 16ff.) die Flut der Bilder, von denen die Fotografie-Diskurse in einem fort reden, kurzfristig zu stoppen. Ob diese Programme – soweit sie bereits umgesetzt wurden – relevante Ergebnisse gebracht haben und im Zuge fortwährenden Experimentierens noch weitere Ergebnisse bringen werden, lässt sich freilich erst in der konkreten Analyse einiger signifikanter Beispiele ermitteln.
I I I . F o to g r a f i e n d e r K r af t Wenn man die eigentümliche Spannung – vielleicht sogar ‚Dialektik’ – zwischen der Indexikalität und der Sinnproduktion fotografischer Bilder zu ergründen versucht, kommt man schwerlich umhin, auch die Frage nach der „Imagination der Fotografie“ (Seel 2008, 20) aufzuwerfen. Denn mit Begriffen wie Imagination, Fantasie, Einbildungskraft und Vorstellungsvermögen werden diejenigen menschlichen Fähigkeiten bezeichnet, denen man am ehesten zutraut, das (oben erläuterte) Defizit einer ‚nackten Referenz’, die nur das bloße Vorhandensein von etwas behauptet, auszugleichen. Freilich ist das Verhältnis zwischen bildlicher Darstellung25 und Imagination theoretisch noch keineswegs hinreichend geklärt. Neben 25 Zu der eben auch die spezifische Präsentationsweise der Fotografie gehört.
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rabiaten Statements, die einen scharfen Gegensatz konstatieren („Bilder töten die Imagination“26), stehen Überlegungen, die der Vermutung nachgehen, dass den Bildern eine konstitutive Unbestimmtheit eignet, welche die Einbildungskraft auf den Plan ruft. Bildverstehen heißt unter diesen Umständen: „Zugang zu jener Potentialität des Bildes“ zu finden, „durch die der Mangel an Bestimmtheit in einen Überschuss an Sinn umschlägt.“ (Boehm 2006, 247) Relevant sind ferner fotografie-spezifische Analysen, die nicht bei der präsumtiven Unbestimmtheit von Bildern generell ansetzen, sondern die Differenz von Schärfe und Unschärfe sichtbarer Objekte zum Ausgangspunkt wählen.27 Abbildungs-Schärfe erweist sich unter dieser Perspektive als Eigenschaft, die dem neuzeitlichen „Ideal der Klarheit und Bestimmtheit“ (Hüppauf 2006, 262) entspricht und in besonderem Maße für das Medium Fotografie charakteristisch ist. Vor dem Hintergrund des technischen Fortschritts – so der Befund – entwickelt sich Schärfe zu einer immer strengeren Norm, der neben wissenschaftlichen und militärischen Visualisierungen unter anderem auch pornografische28 Darstellungen zu genügen haben. Derart mühelos lässt sich das Phänomen der Unschärfe fotografie-theoretisch nicht einordnen. Denn es weist eine Reihe von Facetten auf, die kaum unter einen präzisen Begriff zu subsumieren sind. Wenigstens zwei Erscheinungsformen bzw. Funktionen können jedoch sauber unterschieden werden: 1. eine Art der Unschärfe, die sich zufällig ergibt und aufgrund der Komplexität und Vieldeutigkeit des je Sichtbaren erhebliche Ansprüche an „die Einbildungskraft“ stellt (Hüppauf 2006, 257); 2. als bewusstes Programm, das mit unscharfen Bildern politische und/oder ästhetische, zuweilen auch epistemologische Intentionen verfolgt. Ohne eine weitere Differenzierung bleibt diese zweite Bestimmung allerdings wertlos: A) Politisch(-ästhetisch) hochfunktional können unscharfe Bilder sein, weil „Vagheit und zerfließende Körperkonturen […] zur Identifikation einladen.“ Die Betrachter fühlen sich zur Mitwirkung am gezeigten Geschehen aufgefordert und sind dann unter dem Eindruck einer „imaginierten Beteiligung“ sogar bereit, sich „der Zwangsstruktur“ (Hüppauf 1995, 358f.) von Bildern zu fügen, die Autorität und Hierarchie rituell inszenieren. Pointiert gesagt: „Der Terror braucht die Unschärfe für seine Wirkung.“ (ebd., 360) Aber die Unschärfe kann auch – dies zeigen Gerhard Richters „Bilder der RAF“ – als Mittel „einer Befreiungsikonik“ (Hüppauf 2004, 219) eingesetzt werden. B) Ästhetisch(-epistemologisch) attraktiv wird fotografische Unschärfe als wohlüberlegte Reaktion auf eine angenommene Krise authentischer Repräsentation29, die durch verschiedene historische Ereignisse (z.B. die Erfindung digitaler Aufnahme- und Manipulationstechniken) ausgelöst werden kann: „Die dezidierte
26 Vgl. Lanzmann 1994, 27. Vgl. auch William Wordsworth’ Klage beim Anblick des realen Mont Blanc, „to have a soulless image on the eye / That had usurped upon a living thought / That never more could be.“ 27 Hüppauf 1995; 2006; 2009; vgl. auch Febel 2000; Ullrich 2002. 28 Vgl. Williams 1989; Solomon-Godeau 1994; Hüppauf 2006, 270. 29 Hüppauf räumt allerdings ein, dass Unschärfe „in seltenen Fällen […] auch den Eindruck von Authentizität steigern [kann].“ (1995, 344) Als Beispiel für diese These wird gewöhnlich Robert Capas Foto D-Day Landing, Omaha Beach (1944) angeführt. Vgl. Bronfen 2009a, 128. – Unerwähnt lässt Hüppauf die berühmten unscharfen Bilder, die im Kontext der Bewegung subjektive fotografie entstanden sind, z.B. Otto Steinerts Ein-Fuß-Gänger (1950).
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Unschärfe zieht die radikale Konsequenz aus der Krise, nimmt dem Foto den Charakter des Dokuments und öffnet es zur Imagination.“ (Hüppauf 2009, 240)30 Alle hier genannten Vorschläge und Ansätze versuchen den Status der Imagination im Kontext von Bildwahrnehmung und Bildverstehen zu klären. In den vorliegenden Versionen vermag jedoch keiner von ihnen zu überzeugen. Eine detaillierte Sondierung scheint daher unumgänglich zu sein. Auch methodische Umwege eröffnen mitunter ergiebige Zugänge. So könnte es hilf- und aufschlussreich sein, nicht direkt nach den durch Fotografien stimulierbaren Vorstellungen zu fragen, sondern sich zunächst an einem dramatischen Beispiel vor Augen zu führen, was es heißt, Fotografien zu imaginieren, die gar nicht vorhanden sind und dennoch etwas tatsächlich Geschehenem eine unabweisbare Präsenz verleihen. Ariella Azoulays Essay „Was wäre die Fotografie einer Vergewaltigung? Die Notwendigkeit, über nie realisierte Fotografien zu sprechen“ (2009, 244ff.) ist eine Meditation über ein Bild, das nicht existiert. Diese merkwürdige Besinnung wird ausgelöst durch ihre Arbeit an der Ausstellung Constitutive Violence 1947-1950, welche mit Hilfe von 200 ausgewählten Fotografien die Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern dokumentiert.31 Zu ihrem Erstaunen bemerkt Azoulay die völlige „Abwesenheit von Vergewaltigungen in einem visuellen Horror-Repertoire“ (ebd., 244f.), das zahlreiche Aspekte der gewaltsamen Auseinandersetzung umfasst, aber keine Spuren für die „in Büchern und Berichten über diese Zeit“ immer wieder erwähnten Vergewaltigungen palästinensischer Frauen enthält. Diese auffällige Lücke versucht Azoulay mit der Imagination einer Szene zu schließen, die sich auf einen konkreten Fall bezieht, von dem in einer Zeitung berichtet wurde: Zwei Ermittler der Militärpolizei und ein Gynäkologe öffneten das Grab eines zwölfjährigen Mädchens, um die nötige Untersuchung vorzunehmen. Das Stadium der Verwesung ließ aber keine exakte Bestimmung der Todesursache oder einer möglichen Vergewaltigung mehr zu. Was aber würde ein Foto dieser zum Scheitern verurteilten Ermittlung uns mitteilen können? „Hätten wir das von dem Gynäkologen oder seinem Assistenten aufgenommene Foto vor uns, so könnten wir sehen, was sie gesehen haben – den schockierenden Anblick eines zertrümmerten Schädels und die Reste der aus ihm heraussickernden Gehirnmasse.“ (ebd., 244)
Ein derartiges Foto allein würde freilich nicht ausreichen, „um das, was geschehen war oder was auf dem Bild zu sehen ist, zu rekonstruieren.“ Wir müssten auf „an-
30 Kein Zweifel: Unschärfe ist in Mode gekommen (Hüppauf 2004). So präsentiert die Frankfurter Rundschau in ihrer Ausgabe vom 16.3.2010 auf Seite 12 ein Foto, das die Unterschrift trägt: „Die Telekom will mit ihrer Frauenpolitik Schule machen“. Vor einem gestochen scharfen Logo der Telekom – dem pinkfarbigen T mit den beiden flankierenden Quadraten – erkennt man eine blonde Frau, die mit energischen Schritten vorwärts stürmt und kraft ihrer Bewegung nur ein verschwommenes Bild ihrer selbst liefert. Damit aber nicht genug: Zwei Seiten weiter im selben Blatt (Seite 14) befindet sich eine Fotografie des Foyers der angeschlagenen Kölner Privatbank Sal. Oppenheim. Auch hier nimmt man vor scharfem Hintergrund (der emsige Empfangschef agiert hinter seinem imposanten Rezeptionstisch) die undeutlichen Konturen einer Person wahr, die den Blicken der Leser buchstäblich zu entwischen versucht, um sich – so möchte man meinen – mit ihren abgehobenen Einlagen in Sicherheit zu bringen. 31 „Die Ausstellung wurde von März bis Juni 2009 in Zochrot gezeigt.“ (Azoulay 2009, 249)
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deres Bild- und Textmaterial“ zurückgreifen und darüber hinaus auch „politisches Vorstellungsvermögen“ entwickeln, um zu ergründen, „was sich im Augenblick der Aufnahme abspielte und welche Beziehung zwischen dem Akt des Fotografierens und dem fotografierten Akt bestand; zwischen der Aufnahme der Leiche des Mädchens und dem, was sie zur Leiche werden ließ.“ (ebd.)
Als unverzichtbares „anderes Bild“ könnte vor unserem inneren Auge dann die Aufnahme der Vergewaltigung selbst entstehen und die Tat vermöge unserer Einbildungskraft ein für alle Mal ‚festhalten’. Azoulay versucht zweierlei zu verdeutlichen: Ohne eine anschauliche – hier am Leitfaden der Fotografie exemplarisch initiierte – Vergegenwärtigung des Geschehens ist kein angemessener Zugang zu einer nicht mehr präsenten Realität in ihrer unverminderten Wucht möglich. Die Fixierung eines entschwundenen Ereignisses durch die visuelle Repräsentation des ‚Hier’ und ‚Jetzt’ gibt den entscheidenden Anstoß zu Überlegungen und Handlungen, die die Zustände ändern und gerechte Verhältnisse herstellen können. Aber eine solche Konfrontation mit dem imaginierten Ergebnis eines fotografischen Aktes bleibt wirkungslos, wenn sie sich nicht im Rahmen des ‚richtigen’ politischen Vorstellungsvermögens vollzieht. Damit das imaginierte Foto einer Vergewaltigung als empörendes Indiz für ein geheim gehaltenes Verbrechen gilt (obschon es auch als Trophäe rücksichtsloser Eroberer aufgefasst und benutzt werden kann), müssen bestimmte kulturelle Voraussetzungen gegeben sein, die nicht nur Fantasien über ein „nie realisiertes Foto“ erlauben oder gar begünstigen, sondern auch bei den direkt oder indirekt Betroffenen zu moralisch angemessenen Reaktionen führen. Wie das „politische Vorstellungsvermögen“ arbeitet, lässt Azoulay offen. Ob es eine diskursiv geprägte Semantik besitzt oder von einer assoziativen Logik der Bilder bestimmt ist, wird nicht definitiv geklärt. Dass es den Zugriff auf „anderes Bild- und Textmaterial“ überhaupt erst produktiv und treffsicher macht, legt den Schluss nahe, es handele sich um eine Fähigkeit der Welterschließung, die weder auf die Leistungen von Bildern und Worten reduzierbar ist noch als deren gemeinsamer Grund bestimmt werden kann, sondern als eine dritte Größe, eine Art Kraft32 zu bestimmen wäre, die keine Furcht vor dem Schrecklichen kennt und zugleich latente Realitäten zum Vorschein bringt: „Politisches Vorstellungsvermögen ist […] keine kinematografische und auch keine literarische Fantasie. Es ist vielmehr ein Instrument, um im Konkreten das Mögliche herauszulesen.“ (ebd., 245)33 32 Zur Ästhetik der Kraft vgl. Menke 2008. 33 Ein anderes Beispiel für diese Suche nach dem Möglichen in einem Konkreten, das nur durch die Spur seiner Abwesenheit auf sich verweist, wäre das folgende Ereignis: Beim Blättern in Foto-Alben meiner Familie stoße ich auf eine Seite, auf der ein Bild entfernt worden ist. Die rechteckige Leerstelle und Reste von eingetrocknetem Klebstoff sind nicht zu übersehen. Nachfragen ergeben, dass es sich um das bei Kriegsende herausgerissene Foto des Großvaters mit dem Parteiabzeichen handelt. Aber man hat es offenbar versäumt, die Indizien für die einstige Anwesenheit des Bildes zu tilgen und mit einem anderen Foto die verräterischen Hinweise zu überdecken. Wochenlang beherrscht der als Nazi enttarnte Großvater die Vorstellungswelt meiner Tag- und Nachtträume. – Weiteres Material liefern die Beispiele, welche Didi-Huberman in seinem Buch über eine Reihe erhaltener Fotografien von Auschwitz-Häftlingen heranzieht. Er führt vor, wie stumme Anzeichen zum Sprechen gebracht werden. Die vorhandenen Fotos sind bloße „Fetzen“, auf denen kaum etwas zu sehen ist. Solche Reste sagen nichts, „solange man keine spekulative Verbindung imaginiert, die das, was
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Über die Quelle dieser Kraft geben Bilder und/oder Texte selbst also keine hinreichenden Auskünfte. Klar ist vorderhand nur, dass sie nicht in den verschiedenen Darstellungsweisen liegt. Zwei Suchstrategien bieten sich daher an: 1. das imaginative Potenzial zu erforschen, das sich im Wechselspiel von Bildern und Worten entbinden lässt, sowie 2. (und das ist sicher die anspruchsvollere Aufgabe) die wortlose, aber dennoch nach Gesetzen einer unsichtbaren Strukturbildung sich formierende Relation zwischen Bildern ins Auge zu fassen. Beide Möglichkeiten hat der Fotograf Duane Michals in seinen experimentellen Bildkompositionen durchgespielt. Zum einen versieht er Einzel-Bilder, die sichtlich nach einem Supplement verlangen, mit rätselhaften handschriftlichen Kommentaren, die Tagebucheinträgen ähneln34, zum anderen präsentiert er pure Bild-Serien, die Sprache nur als Medium für die Betitelung des Werks in Anspruch nehmen. Diese Serien sind zwar nicht von allen Bezügen zur Welt der Texte gereinigt, sie verzichten aber auf die explizite Zugabe von Worten, die die einzelnen Bilder unter- oder überschreiben. Etablierte Modi sprachlicher und textueller Darstellung wie etwa Erzählung, Zitat, Kommentar, Kritik etc. werden vielmehr in das Gefüge der miteinander korrespondierenden Bilder eingespeist und gleichsam ‚verbildlicht’. Dieses Programm, das sich nur ex post aus den Bild-Serien erschließen lässt, kann auf recht unterschiedliche Weise umgesetzt werden. Im einfachsten Fall wird das Vorstellungsvermögen, die Einbildungskraft der Betrachter in Anspruch genommen, um die Serie wie eine mathematische Reihe oder Folge konsequent fortzusetzen, mögliche (sei es sinnvolle, sei es absurde) Anschlüsse durchzuspielen oder auch Lücken, die die Sequenz aufzuweisen scheint, zu füllen. Komplexer und vertrackter hingegen sind Serien angelegt, die ontologische und epistemologische Aspekte der Fotografie bildlich thematisieren. Selbstbezüglichkeit ist hier nicht bloß unvermeidlich, sondern Gegenstand der Darstellung. Denn es geht nun ersichtlich darum, durch bestimmte Relationierungen von Bildern im Modus des Zeigens etwas Wesentliches über die Kraft des fotografischen Zeigens mitzuteilen. Um es im Klartext zu sagen: Dass sich Status und Leistung der Fotografie – auch ohne die pädagogisch penetrante Beigabe von erklärenden und aufklärenden Sätzen – darstellen lässt, zeigt Michals in seiner berühmten (neun Bilder umfassenden) Foto-Sequenz Things are queer (1973).35 Ein ums andere Mal korrigiert das jeweils folgende Bild in der Serie das zuvor Gesehene und demonstriert auf diese Weise sowohl die Evidenz-Suggestion, die Fotos gewöhnlich erzeugen36, als auch die letztlich unaufhebbare Unsicherheit des Betrachters, der zu einem abschließenden Urteil über den Realitätscharakter des auf den Fotos Wahrgenommenen gelangen möchte. Während manche der typischen Michals-Serien, die wie kurze Foto-Romane ohne die üblichen Sprechblasen wirken, plötzlich mitten in der ‚Geschichte’ abbreman dort sieht, mit dem, was man aus anderen Quellen weiß, verbindet.“ (DidiHuberman 2007, 163) 34 Zum Beispiel die Arbeit „Er dachte, dass sie freundlich wäre“ von 1974 (siehe Brauchitsch 2002, 235). 35 Michals 1999, 64-66; vgl. Stiegler 2006, 365ff. 36 Dass die Evidenz-Suggestion – empirisch betrachtet – zum common sense der Bildpraxis gehört, ist schwer zu bestreiten (vgl. Zaunschirm 1996, 228), dass sie aber darüber hinaus auch unumgänglich sein soll, ist – wie die laufenden Debatten belegen – schwer zu akzeptieren. Glaubt man Dieter Mersch, so wird sogar durch die neuen computerbasierten Formen der „Bildgebung […] der Existenzindex, der ihnen beigefügt ist, ebenso getilgt wie medial aufrechterhalten. […] Das Visuelle kann nicht anders, als zugleich die Evidenz einer Wirklichkeit zu suggerieren.“ (Mersch 2005, 341)
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chen und die Fortsetzung, nach der sie geradezu imperativisch verlangen, offenlassen (also dem Betrachter anheimstellen), setzt Things are queer einen geradezu triumphalen Schlusspunkt. Indem das neunte Bild sich bei näherem Hinschauen als identische Reproduktion des ersten erweist, entsteht zunächst unweigerlich der Eindruck, jeder mögliche Betrachter habe vom zweiten bis zum achten Bild bloß eine Stufenfolge beständig revidierter Irrtümer durchlaufen und sei nun am Ende des Parcours – wahrnehmungspädagogisch belehrt – bei der exakten Wiedergabe der Realität angekommen.37 Durch den Blickwechsel, den der Vergleich regelrecht erzwingt, muss der Betrachter – stets gefasst auf das jähe Erkennen winziger Unterschiede – die Serie der (vermeintlichen oder echten) Korrekturen in beide Richtungen mehrfach passieren und verliert allmählich den Glauben an die Beweiskraft des konfirmierenden Gestus, dessen Zeuge er wird. Gewiss, Anfang und Ende sind gleich. Aber die schlichte Verdopplung einer einzigen Aufnahme bietet keine echte Garantie dafür, dass sie die einzig wahre und gültige Gegebenheitsweise der auf dem Bild hier und jetzt erkennbaren Phänomene präsentiert. Michals bringt Fotos miteinander in einen derart engen Kontakt, dass sie durch die Art der wechselseitigen Bezugnahme den eigenen Evidenzanspruch ebenso behaupten wie problematisieren. Die gezeigten Objekte, Personen, „Konfigurationen von Dingen“ (Seel 2007, 169) verwandeln sich dadurch in beliebige Instrumente, die zu nichts Anderem dienen sollen, als die spezifische Seinsweise der Fotografie – nämlich die Spannung zwischen Referenzanspruch und Bedeutsamkeit – ins Bild zu setzen. Aber Michals Kombinationsverfahren macht noch etwas Zusätzliches offenkundig: Indem die Fotos sich aufeinander beziehen und in ihrer referentiellen Leistung dementieren, steigt Bild für Bild im Betrachter der hermeneutische Druck. Je fragwürdiger die indexikalische Bindung des Bildes an einen vorgegebenen Sachverhalt wird, umso dringlicher wird die Nötigung, die Leerstelle der Bedeutung zu füllen. Das neunte Bild – als topologische Allegorie auf die neunte Stunde der Kreuzigung – bringt den Anschein einer Erlösung. Es schließt zumindest für einen Augenblick Bedeutung und Referenz kurz, ehe es dem Zweifel erneut Raum und Zeit gewährt. Derartige Reihungen und Kombinationen, in denen Bilder sich wechselseitig ergänzen, überbieten, unterminieren etc., sind selbstverständlich nicht allein das Ergebnis ästhetisch, erkenntnistheoretisch oder politisch kalkulierter Praktiken; sie ergeben sich oft auch im Kontext einer alltäglichen Verwendung von Fotografien. Die familiäre Bestückung von Fotoalben, die Inszenierung von Diavorführungen im Freundeskreis, die Präsentation von Bilderstrecken in Fotoclubs 38 – alles das sind Aktivitäten, bei denen Fotos zueinander in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt werden, das mündliche Kommentare oft erforderlich und wünschenswert macht, aber mitunter auch erübrigen kann, um die Stafette der Fotos für sich selbst ‚sprechen’ zu lassen. Zuweilen trifft man sogar auf private Arrangements öffentlich zugänglicher Bilder, die nur durch die Zusammenstellung einen Sinn stiften, der keiner zusätzlichen Worte bedarf. So bin ich zum Beispiel im Frühjahr 1967 im Zimmer einer befreundeten Studentin auf ein erstaunliches Foto-Double gestoßen, dessen Botschaft ziemlich eindeutig war und den Gedanken an eine der Fotografie als 37 Man gewinnt also den Eindruck, Michals’ Bilder-Serie entfalte einen Zirkel der Evidenz, der den Hegelschen Gang des Wissens von der naiven Unmittelbarkeit über verschiedene Stufen des Zweifels und der Vermittlung hinweg zur reflektierten Unmittelbarkeit als Zielpunkt abschreitet. Indem die Fotos dieses ursprünglich im Medium des Begriffs entfaltete Modell veranschaulichen, gewinnen sie den Status von MetaBildern. 38 Vgl. Bourdieu u.a. 1965; Keppler 2002.
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solcher inhärente Unbestimmtheit oder Unschärfe gar nicht erst aufkommen ließ. Es handelte sich um die Kombination eines berühmten Fotos von Che Guevara (Bart, wildes Haupthaar, Barett, roter Stern als Markenzeichen) mit einem Modefoto von Walde Huth aus dem Jahre 1965, das eine junge Frau zeigt, der eine halb aufgerauchte Zigarette mitten zwischen den Zähnen hängt.39 Während das erste Bild ein Gesicht darbietet, das bereits damals zum reinen Symbol für den männlichen Sexappeal der Revolution bzw. des antiimperialistischen Kampfes gewordenen war und in der Studentenbewegung dieser Jahre als politische Pop-Ikone fungierte, trägt Walde Huths Model, das den illustren Namen Ambre führt, einen coolen Feminismus zur Schau, dessen Realitätssinn die Zukunft auf seiner Seite hat und ohne romantische Verklärungskulte auszukommen gewillt ist. Diese verblüffende Zusammenstellung enthielt offenkundig eine zweifache Botschaft: 1. Politische Emanzipation ohne Emanzipation der Frau macht keinen Sinn. 2. Die Emanzipation des weiblichen Geschlechts kann nur gelingen, wenn sie Lässigkeit mit Erotik zu verknüpfen weiß. Angesichts dieser klaren Botschaft spielte der indexikalische Faktor praktisch keine Rolle. Die bohrende Frage, ob den beiden dargestellten Personen irgendeine Wirklichkeit jenseits der Bilder korrespondiert (und ob Che & Ambre zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort tatsächlich so ausgesehen haben, wie die Fotos sie zeigen), stellte sich überhaupt nicht.40 Ambivalent, unbestimmt oder rätselhaft war nicht die Bedeutung dieser privaten Ausstellung, sondern allenfalls das Motiv der Studentin, Huths Bild der Zigarette rauchenden Ambre eben nicht mit jenem legendären Foto von René Burri aus dem Jahre 196341 zu kombinieren, das Che mit einer frisch angezündeten, von ihrer Banderole noch nicht befreiten Zigarre im Mund zeigt. Freilich konnte ich bei näherem Hinsehen bemerken, dass genau diese Aufnahme42 hinter dem ersten Bild angebracht war, das als Deckblatt die bildliche Epiphanie des posierenden Revolutionärs mit dem phallischen Genussmittel verbarg. Nicht nur wurde Che durch die Montage eines latenten und manifesten Bildes symbolisch kastriert. Der Akt des Rauchens als Zeichen von Souveränität und Gelassenheit hatte seinen Schauplatz und seine geschlechtliche Zuschreibung gewechselt. An die Stelle der pompösen brandneuen Zigarre trat eine im Genuss fast schon aufgezehrte Filterzigarette. Die Transformation des Indexikalischen ins Ikonisch-Symbolische war damit überdeutlich vollzogen.43 Ein paar 39 Museum Ludwig 1996, 284 (Siehe auch Abbildung auf dem Buchumschlag). 40 Dies gilt selbstverständlich nicht für ein späteres, viel berühmteres Foto eines Models mit Zigarette (Kristen McMenamy, aufgenommen von Juergen Teller, London 1996). Auch hier signalisiert die Zigarette weibliche Souveränität, aber diesmal die Souveränität einer Person, die den Anspruch erhebt, sich der Kamera so zu präsentieren, wie sie wirklich ist, ohne das Schutzschild von Schminke, Kleidung, Pose etc. – Die dem Bild nachgesagte und vorgeworfene Brutalität verdankt sich ganz und gar der unbezweifelten Indexikalität, die es wie ein Gütesiegel mit sich führt. Der sichtbare Makel – die gerötete Narbe der Appendektomie – fungiert als Wahrheitsbeweis (siehe Meier 1998, 213; Glasenapp 2008, 354f.). Auf dieses Foto komme ich noch zu sprechen. 41 Siehe die Reproduktion des Fotos in: Manchester 1989, 287. 42 Dies ist zweifelsohne ein großartiges Werbefoto: Kubas neuer Exportschlager – die revolutionäre Romantik – verträgt sich bestens mit der klassischen Havanna, die nach wie vor für den Weltmarkt produziert werden sollte. 43 In diesem Zusammenhang sei auf eine „Bildsemiose“ verwiesen, in der sich die Verschränkung von Ikon und Symbol allmählich und fast „unbemerkt“ der Verschränkung „von Symbol und Index zu[…]dreht“. Beat Wyss interpretiert ein Foto der Begegnung von Papst Johannes Paul II. und Andy Warhol von 1979. Nach Wyss enthält das Foto eine „unbewußte Botschaft“, ja gibt eine „Urszene wieder, die man so beschreiben
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Monate später jedoch wurde diese pointierte Assemblage durch ein reales Ereignis diskreditiert: nämlich den Tod Che Guevaras im bolivianischen Dschungel.44 Eine Reihe von Fotografien, denen ein starker indexikalischer Faktor anhaftete (als Todestag gilt der 9. Oktober 1967), machte nun alle symbolischen Spiele mit den Bildern des Revolutionärs, der den Weg vom Guerillero zum Minister und wieder zurück genommen hatte, zu einer politisch quasi ‚inkorrekten’ Aktion. Die von den bolivianischen Militärs in Umlauf gebrachten Aufnahmen präsentierten Ches Leiche auf dem Seziertisch, umgeben von Offizieren und Armeesoldaten, die ein erlegtes Wild betrachten und vor aller Welt ihren Jagderfolg auskosten. Auch der tote Che schien eine Botschaft zu verkünden, nämlich das definitive Scheitern der Revolution nach kubanischem Muster. Aber die Bildgeschichte ging weiter. Ches ‚Urbild’ mit Barett und Stern kam rasch wieder zu Ehren, durchlief mancherlei grafische Metamorphosen, tauchte auf Plakaten, Plaketten und T-Shirts auf, erschien als Totenkopf, Affe und bizarre Karikatur.45 Erneut triumphierten das symbolische und ikonische Moment über das indexikalische. Doch 2003 ist Che in einem tableau vivant (Che. Next Exposure), das die Kamera von Zbigniew Libera lakonisch verewigt, wiederauferstanden 46: Hier markiert er nun – im Medium der Kunstfotografie – den coolen Raucher, der sich von seinen Mördern, die inzwischen zu heiteren Spießgesellen mutiert sind, Feuer geben lässt. Der einstige Kampf auf Leben und Tod ist offenbar kein attraktives Modell linker politischer Emanzipation mehr. Nun herrschen Witz und Ironie. Wem die Marxsche These aus dem Achtzehnten Brumaire geläufig ist, der könnte glauben, dass sich die Tragödie von 1967 zur Farce verkehrt hat, in der nun die unbelehrbaren genussfähigen Raucher eine letzte Bastion gegen die aktuellen biopolitischen Kampagnen bürgerlicher Selbstsorge und kollektiver Gesunderhaltung errichten. Die Zigarre, an der Che vergnüglich saugt, hat ihren Charakter als MachoSignal vollends eingebüßt und ist nur noch ein Symbol individueller Lebensfreude und Entspanntheit. Dieses gestellte Foto einer sur-realen Szene scheint einen Schlusspunkt der Motivkette Rauchen & Revoltieren zu setzen. Schwerlich – so möchte man glauben – lässt sich das tableau vivant der Wiederauferstehung eines tragischen Helden im Geiste postmoderner Ironie überbieten. Gleichwohl kann auch eine solche Apotheose von Souveränität und Gelassenheit in die Krise geraten. Denn das planvolle künstlerische und/oder politische Verfahren, Bilder durch Doubles (die ihnen in vieler Hinsicht gleichen und dennoch markante, ja entscheidende Differenzen aufweisen) zu kommentieren, zu karikieren, zu parodieren, zu verspotten, zu attackieren, zu verdrängen etc., wendet sich an Betrachter, welche nicht allein das Ausgangsbild kennen, sondern auch über ein latentes Bildgedächtnis verfügen, in dem zahlreiche ähnliche visuelle Szenen gespeikönnte: Zwei nicht gleichrangige Personen begegnen sich auf gleicher Höhe, weil sie etwas verbindet.“ Zugleich macht das Bild den Betrachter zum „unmittelbare[n] Zeugen einer gewesenen Gegenwart. Das Bezwingende an dieser Fotografie liegt darin, dass sich ein indexikalisches Bild, eine Lichtspur, die nichts anderes zu sagen scheint als: So ist es wirklich gewesen!, mit einer alten Bildformel, einer ikonischsymbolischen Doublette [die ein manifestes und ein latentes Bild koppelt, L.E.], verbindet, die sagt: Hier finden sich zwei Ungleiche auf Augenhöhe, so wie Christus, der zu Petrus sprach: ‚Folge mir nach!’“ (Wyss 2009, 127-134) 44 Ob er im Kampf gefallen war oder nach der Gefangennahme hingerichtet wurde, ließ sich damals noch nicht entscheiden. Heute hat sich unter Historikern die ExekutionsVersion durchgesetzt. 45 Einen Überblick kann man sich ohne Aufwand im Internet verschaffen. 46 Vgl. die Analyse bei Haustein 2008, 212.
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chert sind. Jederzeit können daher zum Beispiel durch die Wahrnehmung eines Details, das in signifikanter Weise mit einem Element aus dem Fundus der inneren Bilder übereinstimmt, Szenen vor Augen treten, die den Prozess der Sinnbildung, der sich an einer finalen Imago zu orientieren sucht, durchkreuzen. Die heitere Fiktion des versöhnlich qualmenden Che im Kreise seiner einstigen Feinde löst sich in Rauch auf, wenn aus dem Bildgedächtnis jenes 1992 in Bijeljina gemachte Foto herandrängt, das einen anderen coolen Kämpfer zeigt, der den Tabak zu schätzen weiß. Die Insignien seiner Lässigkeit und Überlegenheit sind unverkennbar: Die modische Sonnenbrille hat er sich ins Haar geschoben, die brennende Zigarette hält er zwischen zwei Fingern der linken Hand. Mitten in einer gezielten Bewegung hat die Kamera ihn erfasst. Im nächsten Augenblick wird er einer Frau, die ausgestreckt vor ihm am Boden liegt, mit dem schweren, jetzt – im Moment der Aufnahme – noch frei in der Luft schwingenden Militärstiefel, einen Tritt versetzen.47 Derartige Fotografien untergraben (zumindest im ersten Augenblick der Wahrnehmung) eine Rezeptionshaltung, die sich ganz auf die ikonisch-symbolische Botschaft des Bildes konzentriert und die Frage nach der Objektivität der Aufnahme bzw. nach der gelungenen Repräsentation eines außerbildlichen Zustandes zur quantité négligeable herabstuft. Die epistemologische Skepsis48 gegenüber der Fotografie als solcher kann freilich zurückkehren, wenn die spontane moralische Empörung, die ausgelöst wurde, abgeklungen ist. Fast alle Bilder, die unmittelbar schockieren, wirken auf den zweiten Blick allzu gewollt und daher künstlich.49 Der Verdacht, dass auch und gerade moralisch gehaltvolle Fotografien mit guter Absicht ‚gestellt’ sein könnten, diskreditiert das (auf Wirkung zielende) Medium zusätzlich. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma scheint in dem ausdrücklichen Verzicht des fotografischen Aktes zu liegen, den „Anschein erfüllter Referenz“, der Fotografien per se anhaftet (Seel 2007, 170), zu wahren und stattdessen eine Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, die sich aufgrund ihrer Verborgenheit gar nicht unmittelbar abbilden, sondern nur ‚künstlich’ herstellen lässt. Viele renommierte FotografInnen haben dieses bereits in den 1920er Jahren formulierte50 Projekt energisch verfolgt und noch vor dem Aufkommen der digitalen Fotografie zum eigentlichen Ziel ihrer Anstrengungen erklärt. Diane Arbus etwa schätzt „genau das, was man auf einer Fotografie nicht sehen“51, aber dennoch bildlich vergegenwärtigen kann, und für Duane Michals, der an das „Unsichtbare“ und nicht an das „Sichtbare“ glaubt, ist die eigentliche „Wirklichkeit“ ohnehin „in der Intuition und der Phantasie“52 beheimatet, die durch kraftvolle Bilder stimuliert werden. Hinter solchen äußerst subjektiv formulierten Behauptungen steht die These: Der Wirklichkeitsgehalt fotografischer Bilder hängt von den kreativ genutzten Gestaltungsmöglichkeiten ab, die das Medium bietet, und darüber hinaus von den Fähigkeiten der Fotografen, Bild-Skepsis und Referenz-Prätention, die beide mit den Produkten der Kamera verknüpft sind, in einen ausdrucksstarken Streit zu verwickeln.
47 Das Foto von Ron Haviv trägt den Titel: The Tiger and their victims during the attack on Bijeljina. Spring 1992 (Haviv 2000, 60f.). Siehe auch die Kommentare von Sontag 2003, 104 sowie Glasenapp 2008, 29. 48 Zum Problem der grundsätzlichen Skepsis gegenüber Bildern vgl. Jay 1993; Diekmann 2003; Ellrich 2004. 49 Vgl. die Überlegungen zu Schockfotos bei Barthes 1964, 55ff. und Geimer 2006. 50 Man denke nur an die Manifeste des Neuen Sehens (vgl. Stiegler 2006, 185ff.). 51 Zitiert nach Bronfen 2009b, 369. 52 Zitiert nach Museum Ludwig 1996, 432.
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Als Beispiel für die gelungene Umsetzung dieses Programms lässt sich – im Anschluss an Susan Sontag53 – die Fotografie Dead Troops Talk (A Vision After an Ambush of a Red Army Patrol, near Moqor, Afghanistan, Winter 1986) von Jeff Wall (1992) betrachten. Wall verzichtet auf den Oberflächenrealismus der straight photography und auf die vermeintliche Objektivität der Kamera und erhebt gleichzeitig den hohen Anspruch, die Tiefenstruktur der Wirklichkeit (im konkreten Fall diejenige des Krieges) sichtbar zu machen. Wall verwendet Aufnahmen von Szenen, die er mit Schauspielern im Studio arrangiert hat, und fügt die einzelnen Teile mithilfe digitaler Techniken zusammen.54 Der Effekt des Bildes beruht auf der extrem wirklichkeitsgetreuen Darstellung eines völlig irrealen Geschehens, nämlich einer jenseitigen, von allen Mitteilungsbedürfnissen gegenüber den Lebenden befreiten Unterhaltung zwischen gefallenen russischen Soldaten in Afghanistan. Die visuelle Form, in der diese Szene den Betrachtern präsentiert wird, zitiert zwar noch den „realistischen Gestus“ (Seel 2007, 165) der Fotografie, macht aber ebenso deutlich, dass sie von ihrem unwiderstehlichen Evidenz-Effekt nicht mehr zehren will. Das Bild soll als eine zwischen Leben und Tod angesiedelte szenische Darbietung wirken – ganz unabhängig davon, ob es sich um eine Fotografie oder um ein (foto-realistisches) Gemälde handelt. Allfällige Fragen danach, wie das Bild gemacht ist, welche technischen Mittel im Detail eingesetzt wurden und warum es einen derartig starken Eindruck hinterlässt, werden von dieser Präsentationsweise nicht unterdrückt. Die Auslöschung des medialen Aspektes ist keineswegs das künstlerische Ziel. Doch das Bild entfaltet im Vertrauen auf die Bedeutung des Dargestellten eine solche Intensität, dass es darauf verzichten kann, die eigene Medialität zu verbergen oder ostentativ durchzustreichen. Selbst durch hochgeschraubte mediale Reflexionen ist die erreichte Wirkung nicht zu zerstören. Der indexikalische Anspruch hat sich verwandelt; er richtet sich jetzt auf eine ebenso hintergründige wie abgründige Wahrheit des Gezeigten und nicht auf die Wiedergabe einer Situation, die zum Zeitpunkt der Aufnahme tatsächlich vorhanden war. Noch weit rigoroser als die Avantgarde der ästhetisch und politisch ambitionierten ‚Kunstfotografie’ verfährt freilich die moderne Werbe- und Modebranche. An ihrer Praxis lässt sich ablesen, welche ikonisch-symbolischen Gewinne sich einstreichen lassen, wenn man referentielle Ansprüche ostentativ preisgibt und die notorische Botschaft ‚So ist es (dann und dort) gewesen!’ durch die impertinente Weisung ‚So soll es sein!’ ersetzt.55 Denn die Werbe- und Modefotografie wirkt im Moment ihrer aktuellen Rezeption gerade durch eine radikale, coram publico offen gelegte De-Indexikalisierung. Anders als die politische Propaganda, die sich der Fotografie als Medium einer (wie manipulativ auch immer erzeugten) Wahrheit bedient, verhehlt die Werbe- und Modefotografie ihren potenziellen Kunden nicht, dass es um Überredung und Verlockung geht und nicht um die exakte Wiedergabe der Wirklichkeit. Ziel der Werbe- und Modefotografie – darauf hat S. J. Schmidt mit Nachdruck hingewiesen – ist eine neue Ausrichtung der fotografischen Zeit: Weder verfolgt sie die „Strategie, lebendige Wesen in tote Dinge zu verwandeln“ noch „leblose[n] Dinge[n]“ den Anschein „lebendige[r] Wesen“ (Sontag 1978, 93) zu geben. Vielmehr modelliert sie mithilfe aller verfügbaren Techniken Gesichter und Körper, um an ihnen hier und jetzt schon etwas zur Erscheinung zu bringen, 53 Siehe Sontag 2003, 144ff. 54 Mit einer ähnlichen Kombination aus fotografierten Atelierszenen und avancierten Montageverfahren, mit denen die verschiedenen Teile zu einem stimmigen Gesamtbild zusammengesetzt werden, hatte bereits Oscar G. Rejlander (z.B. Die beiden Lebenswege, 1857) gearbeitet. 55 Vgl. Schmidt 1996, 172f.
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was erst in naher Zukunft das Maß der konsumierbaren Dinge und Verhältnisse sein wird. Auf diese Weise erzeugt die Werbe- und Modefotografie eine virtuelle Indexikalität, gleichsam eine Indexikalität im Futur II. Sie nimmt vorweg, was einmal gewesen sein wird. Dieser normative Entwurf der sich im Bild vollendenden Zukunft setzt die Werbe- und Modefotografie aber einem noch weit stärkeren Zeitdruck aus als diejenigen Formen fotografischer Abbildung, die sich ganz der Fixierung einer je vorhandenen Gegenwart widmen. Denn nichts veraltet so rasch wie Typen, Figuren, Stile, Design-Arten etc., welche auf Fotografien sich selbst anpreisen und der Dynamik kommerzieller Prozesse ausliefern. Das Diktat, stets etwas Neues ins Bild zu setzen, das kurzfristig einen Vorsprung am Markt verschaffen könnte, relativiert jedes Prinzip der Präsentation. Somit ist auch der ehrliche Verzicht auf den Anspruch, die Realität so aufzunehmen, wie sie vor der Kamera vorhanden ist, disponibel. Selbst unverstellte und ungeschönte Elemente der Wirklichkeit, die fotografisch dokumentiert werden, können deshalb zu programmatischen Versatzstücken von Werbefeldzügen und neuen Modetrends werden. Benettons Kampagnen mit veristischen Bildern und die absichtsvoll authentischen Foto-Strecken von Juergen Teller, Wolfgang Tillmans, Nan Goldin und anderen belegen, dass der Nimbus des Indexikalischen auch unter Bedingungen einer zur Normalität gewordenen Fiktionalisierung der Waren- und Körperwelten noch besteht und hier sogar in verstärktem Maße zur Geltung gelangen kann: „Es muss alles glaubwürdig sein, so aufrichtig und korrekt wie möglich“, lautet zum Beispiel Tellers Losung.56 Die Indexikalität im Futur II erweist sich als Indexikalität in zweiter Potenz, die Naivität und Radikalität zusammenführt. Der temporale und normative Eigensinn der Mode- und Werbefotografie wird durch die Arbeiten der genannten KünstlerInnen in eine topografische Ordnung des Faktischen übersetzt. An die Stelle der Differenzen, die mit einer Indexikalität im Futur II einhergehen, treten nun die Unterschiede von Vorder- und Hinterbühne, Set und Garderobe. Mit dem Eindringen der Kamera in den gewöhnlich verborgenen Backstage-Bereich zitieren Teller u.a. eine alte Geste: Der Vorhang wird weggezogen und die nackte, ungeschminkte Wahrheit kommt zur Erscheinung. Charakteristisch für dieses Vorgehen ist eine Aufnahme Tellers von 1996, die das androgyne Model Kristen McMenamy zeigt. Sie ist völlig entblößt. Man sieht das ungestriegelte Schamhaar, die kaum verheilte OP-Narbe, den VERSACESchriftzug zwischen den Brüsten, der – von den verwischten Konturen eines mit Rotstift (oder gar Blut) aufgemalten Herzens umfasst – wie das Brandzeichen des Modeschöpfers wirkt. Sichtbar wird ein Körper voller schmerzhafter Einschreibungen, der sich jedoch das Terrain der eigenen Kraftentfaltung durch seine schamlose Ausstellung zurückerobert. Die Rückkehr der fotografischen Indexikalität, die Zerstörung des schönen Scheins, die Epiphanie des Authentischen – das alles feiert Teller als singuläre Momente der Stärke von Körpern, die sich dem Publikum so darbieten, als seien sie mit knapper Not der totalen Kommerzialisierung entronnen. Dieses Pathos einer wieder gewonnenen „Menschlichkeit“57 in der Modewelt, die sich nach Teller in der Affirmation des verwundbaren, vergänglichen Körpers widerspiegelt, erfährt allerdings in anderen modefotografischen Experimenten mit dem ‚spezifischen Gewicht’ des Indexikalischen ein ironisches oder sarkastisches Echo. Während etwa Inez van Lamsweerde ihre Supermodels mithilfe des Computers in sterile Erotikpuppen oder veritable Cyborgs verwandelt58 und so auch den 56 Teller 1997, zitiert nach Meier 1998, 214. 57 Teller 1997, zitiert nach Meier 1998, 216. 58 Siehe etwa Joanna von 1995 (vgl. Meier 1998, 217).
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letzten Rest vermeintlicher Echtheit aus den Modefotos eliminiert, nutzt Steven Meisel (z.B. in dem Foto State of Emergency von 2006) seine digitalen Fertigkeiten, um devote Schönheiten in brutale Folterbilder aus Abu Ghraib hineinzukopieren und auf diese Weise den merkwürdigen Kontrast zwischen jener realen Gewalt, die überhaupt erst durch Fotos weltweit ans Licht kam, und einer virtuellen Ästhetik des gewaltsamen Begehrens, die in der westlichen Konsumgesellschaft vorherrscht, in Szene zu setzen. Beide Konzepte provozieren sowohl das Vorstellungsvermögen als auch die Reflexionsfähigkeit des Betrachters und liefern nützliche Tests für die Annahme, dass Fotos immer dann ihre eminente Energie des Zeigens entbinden können, wenn sie ikonisch-symbolische Vergegenwärtigungen eines sozial relevanten Sachverhalts, im äußersten Falle einer kulturellen „Urszene“ (Wyss 2009, 130) leisten. Semantisch hoch aufgeladene, ja überdeterminierte Fotografien können die Einbildungs- und Vorstellungskräfte derart in eine bestimmte Richtung lenken, dass die Frage nach indexikalischen Garantien in den Hintergrund tritt. So finden selbst krasse oder technisch miserable Fälschungen gläubige Rezipienten, wenn sie Wunschvorstellungen und Vorurteilen entsprechen oder starke Interessen bedienen.59 Es scheint daher nötig zu sein, diesem Problem, das sich offenbar nicht aus der Welt schaffen lässt, durch grundsätzliche Erwägungen zu begegnen, um aussichtslose Lösungsversuche von vornherein zu vermeiden: Martin Seel erklärt unumwunden: „[…] einen Realitätseindruck zu vermitteln, dem (so) keine äußere Realität entspricht, gehört zu den grundlegenden Leistungen der Imagination des fotografischen Bildes.“ (2008, 32) Und diese Leistung gehört gleichsam zur ‚Natur’ des Mediums; denn „als Fotografien können nur Bilder zählen, die sich Akten einer apparativen Aufnahme von Zuständen der äußeren Welt verdanken.“ (ebd., 29) Jens Schröter zieht aus ähnlichen Prämissen den Schluss: „Gerade weil die Fotografie ein besonderes indexikalisches Potential besitzt, kann man sie zur Konstruktion von Fiktionen einsetzen.“ (2010, 157) Von beiden Autoren wird die imaginative Komponente der Fotografie also auf einen untilgbaren, in der Tiefenstruktur des Mediums verankerten (Geltungs-)Anspruch zurückgeführt, der wiederum mit den apparativen Bedingungen der Bildgenese zusammenhängt. Diese Erklärung ist durchaus nicht unplausibel, sie vernachlässigt aber aufgrund ihres generellen Charakters die unterschiedliche Wertigkeit der auf den einzelnen Fotografien dargestellten ‚Objekte’. Das jeweils Gezeigte wird letztlich beliebig. Alles, was im fotografischen Bild-Ausschnitt zur Erscheinung gelangt, zehrt (in gleichem Maße) von der Dignität der spezifischen medialen Leistung, die die Fotografie erbringt. Genau das aber ist fraglich. Wie schon die Werbe- und Modefotografie exemplarisch zeigt, können bestimmte Typen von Bildern ihre suggestive Wirkung erzielen, ohne den realistischen Gestus der Fotografie explizit in Anspruch zu nehmen. Um die allgemein gehaltene These über den internen Zusammenhang von Indexikalität und imaginativen Potenzialen zu verteidigen, müsste man zur Erklärung solcher (Sonder-)Fälle auf die Annahme zurückgreifen, dass der realistische Gestus hier nur in die Latenz gedrückt wird, aber nicht definitiv entfällt. Eine befriedigende theoretische Explikation wäre dies jedoch nicht. Jedenfalls lässt sich nicht ignorieren, dass es – wie bereits mehrfach erwähnt – Fotografien gibt, die ihre Wirkmächtigkeit gänzlich ihrem ikonisch-symbolischen Gehalt verdanken und daher geradezu immun sind gegen eine Sichtweise, die ihren indexikalischen Charakter in Zweifel zieht. Solche Bilder spalten ihr Publikum: entweder lassen sie die Betrachter erschauern und lösen psychische Sensationen aus, die der 59 Vgl. die von Ritchin (2009, 28-36) zusammengetragenen signifikanten Beispiele.
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Erfahrung des Heiligen gleichkommen, oder sie rufen Reflexe der Abwehr hervor, die in aggressive ideologiekritische Destruktionen einmünden. Als Beispiele für Fotografien von derartigem Kaliber ließen sich zunächst einmal Arbeiten von Albert Renger-Patzsch aus dem Band Die Welt ist schön (1928) anführen, die Walter Benjamin 1931 zum Anlass nahm, den affirmativen Begriff des Schöpferischen gründlich zu demontieren (vgl. 1966, 244f.). Zu nennen wären weiterhin Fotos von Hermann Claasen, auf denen eine Kölner Madonnen-Statue (Madonna von St. Kolumba), die die aliierten Bombenangriffe fast unbeschadet überstanden hat, in das Symbol unerschütterlicher Glaubensgewissheit angesichts irdischer Katastrophen verwandelt wird (Gesang im Feuerofen, 1947), oder Richard Peters fotografisch fixierter Blick vom Rathausturm auf das zerstörte Dresden, der ebenfalls eine unzerstört gebliebene Steinfigur (Allegorie der Güte) zum Bildnis von Hoffnung und Aufbauwillen in einem anderen, jetzt sozialistischen Deutschland macht (Dresden – Eine Kamera klagt an, 1950).60 Wollte man den Idealtypus einer symbolisch gesättigten, die eigene Indexikalität förmlich transzendierenden Fotografie bestimmen, so ließe sich das letzte Exponat in Edward Steichens Ausstellung (und Katalog) The Family of Man (1955) heranziehen.61 Die Botschaft des Bildes ist so unmissverständlich klar und suggestiv, dass keinerlei medientheoretisch inspirierte Skepsis seine Kraft untergraben könnte. Zwei kleine Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, auf einem Waldweg. Hand in Hand streben sie einer unsichtbaren Lichtquelle entgegen. Der Junge – ein wenig größer und kräftiger als die Begleiterin – hat gemäß traditioneller GenderOrdnung die Führung übernommen und weist der Menschheit einen besseren Weg. Als Reaktion auf Steichens schlichte und allgemeinverständliche Bildmagie bleiben nur die hymnische Affirmation des Projekts oder der gesellschaftskritische Einspruch62 gegen die Aussage dieser Schlüssel-Fotografie, die den visionären Gehalt der ganzen Ausstellung in extrem verdichteter Form präsentiert.63 Ob das fotografische Bild minutiös geplant, gestellt und bearbeitet wurde oder dem puren Zufall seine Existenz verdankt, ist völlig belanglos. Was zählt, ist allein die Botschaft, die es vermittelt. An ihr entzünden sich Zuspruch oder Ablehnung, sie stimuliert die Fantasie oder liefert dem kritischen Verstand einen Grund, die erregten Gemüter zur Ordnung zu rufen und nüchterne Funktionsanalysen der Bilder zu fordern. Nur geringfügig anders und doch weit schwieriger stellt sich die Lage dar, wenn Fotografien ungeheuerliche Szenen wiedergeben und an die Grenze des visuell Erträglichen gehen. Sobald Fotografien durch das, was sie zeigen, bestehende Abwehrmechanismen untergraben und diskursive Tabus brechen, gewinnt die Frage nach dem indexikalischen Status des Bildes als Frage eine auffällige Brisanz. Sie erweist sich nämlich jetzt – im Unterschied zu den bislang genannten Fällen – nicht länger als praktisch irrelevant; vielmehr entblößt sie den wunden Punkt der Darstellung. Und damit wird sie zum potenziellen Sakrileg. Die Problematisierung der realistischen Geste des fotografischen Aktes kann im Zusammenhang mit Bildern, die ihre Betrachter erschüttern, paralysieren, empören oder gar zur Änderung tief sitzender Einstellungen bewegen, wie eine nachträgliche Verhöhnung der gezeigten Opfer und eine Exkulpation der erkennbaren Täter wirken. Wer zum Bei60 61 62 63
Vgl. Glasenapp 2008, 101, 116f., 121f. W. Eugene Smith: The Walk to Paradise Garden; vgl. Glasenapp 2008, 253. Vgl. Barthes 1964, 17ff.; Sekula 2002, 274f. Eine andere mögliche Antwort auf Steichens The Family of Man lieferte Karl Paweks Weltausstellung der Photographie von 1964 mit dem zentralen Doppelbild, das eine bettelnde Inderin mit zwei reichen Amerikanerinnen kontrastierte (Aufnahmen von Werner Bischof und Max Scheler); vgl. Glasenapp 2008, 254.
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spiel jene verstörenden Fotografien, welche die öffentliche Hinrichtung der Minsker Partisanen Masha Bruskina, Volodya Sherbateyvich und Kirill Trus am 26. Oktober 1941 zeigen64, als Konstruktionen, Fotomontagen, gestellte Szenen oder auch nur als falsch zugeordnete und datierte Dokumente bezeichnen würde, geriete damit unweigerlich in den Verdacht, eine Form der Unberührbarkeit zu demonstrieren, die sich hinter dem Deckmantel wissenschaftlicher Korrektheit und Redlichkeit zu verbergen sucht. Auch eine epistemologisch fundierte Kritik an der Fotografie als solcher erwiese sich in diesem Falle als ein starkes Indiz für moralische Apathie und psychischen Verdrängungsbedarf und nicht als Ausdruck einer (stets und überall) berechtigten Medienskepsis. Angesichts bestimmter Bilder gewinnen prinzipielle Bedenken gegenüber der dokumentarischen Leistung von Fotografien unweigerlich den Status von Handlungen, mit denen Abwehrmechanismen in Gang gesetzt und Schutzschirme errichtet werden, um eine unerträgliche Wahrheit auf Distanz zu halten. Dass ein umfangreiches Wissen über die Bedingungen fotografischer Produkte und eine dauernde Bereitschaft zu medienkritischer Reflexion die Wirkung von Bildern abschwächen kann, steht außer Zweifel. Denn die Wucht bestimmter Fotografien kommt nur dann in vollem Umfang zur Geltung, wenn deren mediale Voraussetzungen außer Betracht bleiben und auch textliche Erläuterungen und historisch genaue Situierungen sich in Grenzen halten oder ganz unterbleiben. Dieser Umstand lässt sich selbstverständlich kollektiv-pädagogisch nutzen, um eingefahrene Diskurse ins Stocken zu bringen oder gar völlig zu zerstören. Je puristischer Bilder präsentiert werden, desto stärker ist – zumindest in einer ersten Welle der Wahrnehmung und Rezeption – ihre Wirkung. So korrigierte etwa die Wehrmachtsausstellung von 1995 die vorherrschende öffentliche Meinung über die Kriegsführung der deutschen Armee während des Russlandfeldzuges nicht primär durch die Präsentation von beweiskräftigen Schriftstücken, die die Verbrechen der Wehrmacht zweifelsfrei dokumentierten, sondern durch die radikale Art, wie im Zentrum der Ausstellung – einem aus mehreren Stellwänden gefertigten „Eisernen Kreuz“ – ca. 400 unkommentierte Fotografien angebracht waren. (Die Bilder zeigten Gruppen nackter Menschen, erhängte und erschossene Personen, grinsende oder desinteressiert blickende Täter usw.) Es war diese puristische Darbietung65 schockierender Fotografien, welche das weithin existente ‚Bild’ von der ‚sauberen Wehrmacht’ schlagartig (und vermutlich auch nachhaltig) zerstörte. Die zweite Fassung der aufgrund massiver Kritik am Umgang mit dem benutzten Bildmaterial 1999 zurückgezogenen Ausstellung setzte 2001 entschieden andere Akzente. Sie entsprach den etablierten wissenschaftlichen Standards der akademischen Historiografie und zog damit der Ausstellung (als Medium einer einschneidenden Veränderung des kollektiven Bewusstseins) den Stachel. Helmut Lethens Analyse (2002) trug daher zu Recht den Titel: „Das Imperium der Texte schlägt zurück.“ Wie kaum eine andere Debatte über Bedeutung und Funktion von Bildern im Allgemeinen und Fotografien im Besonderen66 hat die Auseinandersetzung um die Wehrmachtsausstellung (in den Fassungen von 1995 und 2001) aufgezeigt, dass der Grund für die eminente (Durchschlags-)Kraft von Fotografien zugleich ihre Schwäche und ihr spezifisches Problem ist. Fotografien können ihre Betrachter 64 Hamburger Institut für Sozialforschung 1996, 145; siehe auch Stahel 2009, 227. 65 Vgl. Heer 2004, 13, 51ff.; Lethen 2002. 66 Man vergleiche z.B. die Debatten über Edward Steichens The Family of Man oder Karl Paweks Weltausstellung der Photographie.
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weit stärker ‚treffen’ und verletzen oder Erinnerungen an vergangene Traumata wecken als alle übrigen Medien.67 Sie sind jedoch prinzipiell prekär, weil sie durch ihre kompakte Erscheinungsweise den Prozess ihrer Genese und die sozialen Kontexte, in die sie eingelagert sind, weitgehend ausblenden. Bilderwahrnehmung heißt zwar immer auch assoziative Bezugnahme auf andere Bilder, die im individuellen oder kollektiven Bildgedächtnis vorhanden sind.68 Aber Bild-Assoziationen liefern keine hinreichende Aufklärung über die einzelnen Operationen, die schließlich zu dem Bild-Ereignis führen, dem sich alle Betrachter im Augenblick der Wahrnehmung aussetzen. Die Untersuchungen jener naturwissenschaftlichen Praktiken, die als ‚Bildgebung’, ‚Sichtbarmachung’, ‚Visualisierung’ etc. bezeichnet werden, machen deutlich, wie voraussetzungsvoll und komplex die Erzeugung informativer Bilder ist. Gerade solche visuellen Darstellungen, die im Feld des erfolgskontrollierten Handelns Verwendung finden (z.B. die Sichtbarmachung von Roh-Daten oder Messergebnissen betreffen) und sich empirisch bewähren müssen, beruhen auf vielschichtigen Transformations- und Selektionsleistungen, zu denen immer auch Alternativen existieren. Im fertigen Bild freilich verschwindet die „Arbeit der Transformation“69 und mit ihr das Bewusstsein von der Kontingenz zahlreicher Entscheidungen, die den jeweils nächsten Schritt im Verlauf der Bildproduktion bestimmen. Auch wenn Texte und historische Studien70 den tatsächlichen Sachverhalt exakt und überzeugend beschreiben können, so dringt diese Art der Aufklärung doch kaum bis zu den konkreten Wahrnehmungsmustern vor, die die Bildrezeption der meisten Menschen (zumindest innerhalb der okzidentalen Kultur) prägen. Eine Änderung der Bildauffassung, welche der geschilderten Sachlage angemessen wäre, muss folglich bei den Akten des Sehens, bei der unmittelbaren Bildrezeption, ansetzen. Künstlerische Versuche, alle wichtigen mit der Visualisierung verbundenen Eingriffe, Übersetzungen, Transformationen usw. selbst zur Darstellung zu bringen, können hierzu einen entscheidenden Beitrag leisten. Damit ein solches Projekt, in dem die Kunst zum Kernstück einer alternativen Bildpolitik avanciert, überhaupt gelingen kann, müssen die Bilder performativ verflüssigt und überdies Darstellungsweisen gefunden werden, die den permanenten Medienwechsel und die damit verknüpften Differenzen71 zur Anschauung bringen. Die Chancen des Projekts lassen sich nur schwer beurteilen. Möglicherweise treten unerwünschte Nebenfolgen auf. Denn es ist höchst fraglich, ob z.B. die imaginative Kraft von Fotografien auch dann noch entbunden werden kann, wenn die mit künstlerischem Raffinement produzierten Kompositionen ihre latenten Kontexte, ihre Genese, ihre internen Transformationen usw. explizit ausstellen, wenn sie
67 In diesem Verletzungspotenzial, auf das Barthes’ Begriff des punctum gemünzt ist, liegt wahrscheinlich auch eine der Ursachen für die aktuellen Versuche, die Eigenlogik des Bildlichen zu erforschen. Es ist daher nicht ganz abwegig, wenn Gertrud Koch den sogenannten visual turn mit „einer spezifischen Traumatheorie“ in Verbindung bringt, „die den Weg dafür freigemacht hat, das Visuelle zu einer Metapher des Wirklichen und zum Beweis und epistemologischen Beleg dafür zu machen, dass bestimmte Ereignisse wirklich stattgefunden haben.“ (Koch 2001, 127) Vgl. ferner Baer 2002. 68 Vgl. hierzu exemplarisch eine Arbeit von Beilenhoff (2007), der die kursierenden Fotografien von Abu Ghraib unter dieser Perspektive analysiert hat. 69 Rötzer 1996, 16; vgl. hierzu im Detail u.a.: Heintz/Huber 2001; Schinzel 2006; Heßler/Mersch 2009; Wilder 2009. 70 Vgl. u.a. Daston/Galison 1992. 71 Vgl. Heßler/Mersch 2009, 18.
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sich mithin als Bilder zugleich kompakt und reflexiv zerdehnt ihrem Publikum präsentieren. Wollte man eine kurze Geschichte der fotografischen Erkundungen medialer Transformationsprozesse skizzieren, die bei einfachen Experimenten beginnt und zu immer elaborierteren Versuchsanordnungen fortschreitet, so könnte man zunächst auf die Arbeiten von Gerhard Richter72 und Matthias Holländer73 hinweisen. In verschiedenen Werkphasen haben beide Künstler eingehend untersucht, was bei der Übersetzung von Gemälden in Fotografien und umgekehrt durch das jeweilige Nach-Bild (aus ästhetischer, kognitiver, moralisch-politischer Warte) gewonnen wird und/oder verloren geht. Als wichtige Schritte über diese Form des Medienvergleichs hinaus dürfen die Fotografien von Andreas Gursky gelten.74 Sie sind Ergebnisse diverser Transformationsakte und demonstrieren, wie sich die geläufigen kategorialen Unterscheidungen echt/künstlich, analog/digital, indexikalisch/ikonisch in Kippfiguren der Wahrnehmung verwandeln, die von der Einnahme des Beobachterstandpunktes abhängen und keine Rückschlüsse auf ontologische Differenzen zulassen. Zugleich problematisieren sie die Methode des optischen Vergleichs als eine Visualisierungsstrategie, die immer auch Ungleiches (z.B. Messdaten physikalischer Experimente und Massenchoreographien totalitärer Regime) auf einen gemeinsamen Nenner bringt, der Entscheidendes dem Blick entzieht. Die Pointe von Gurskys Vorgehen, Ausgangsmaterial, das mit einer Analog-Bild-Kamera gewonnen wird, digitalen Bearbeitungsprozeduren zu unterwerfen, liegt jedoch darin, das verwertbare Wissen über das präsentierte Phänomen zu steigern. Die gezielten Eingriffe erheben den Anspruch, legitime Manipulationen durchzuführen und auf diese Weise, verborgene Strukturen, die eine direkte Abbildung im Sinne der straight photography gar nicht erfassen kann, zum Vorschein zu bringen. Damit liefern die Fotografien mit rein bildlichen Ausdrucksmitteln auch einen dezidierten Beitrag zur Debatte um die angebliche ‚ontologische Differenz’ zwischen analogen und digitalen Techniken. Gursky zeigt, dass die Nutzung der Computertechnik nicht zu einer referenzlosen Simulation von Welt führt, sondern – im Gegenteil – dazu verhilft, „den Gegenstand des Bildes optimiert zu präsentieren.“ (Schröter 2009, 214) Seine Fotografien ‚illustrieren’ also gleichsam die Befunde von W. J. T. Mitchell, der – in scharfem Kontrast zu seinem Namensvetter William J. Mitchell (The Reconfigured Eye) – folgende These vertritt: „Der Gebrauch der digitalen Photographie hat
72 Bei Richter dienen Fotografien z.B. „als Grundlage für Gemälde, auf denen scharfe Abbildungen unscharf gemacht werden, die dann wiederum als Vorlagen für Fotos dienen.“ (Hüppauf 2006, 261) Bereits in einer frühen Arbeit hatte Richter mediale Übersetzungen vorgenommen: sein Bild Onkel Rudi, war zunächst ein Foto „in einem Familienalbum“, aus dem Richter „1965 ein Ölgemälde machte, von dem er einige Jahre später ein auf Dibondplatte fixiertes Cibachrome herstellte.“ (Hüppauf 2005, 272) 73 So hat Holländer z.B. „je ein Gemälde und eine Fotografie, die beide demselben Motiv gewidmet sind“, her- und ausgestellt: eine schwarz-weiße Fotografie und ein farbiges Gemälde: Die Herde (1996/2007) und Atemlos (1999). „Das ursprünglich farbige Foto [ist] mehrfach bearbeitet worden. Nicht nur wurde die Kolorierung getilgt, auch die Kontraste wurden verschärft. Zusätzlich hat der Künstler der Fotografie mit einem elektronischen Malstift eine ergänzende Interpretation verliehen.“ (Seel 2009, 26f.) Auf Seels vorzügliche Beschreibung der unterschiedlichen ästhetischen Erfahrungen, die Fotografie und Gemälde durch ihre Konfrontation ermöglichen, kann ich nur verweisen (siehe ebd., 28). 74 Vgl. Stiegler 2009, 89ff.; Seel 2009, 30f.; Schröter 2009, 208ff.
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[…] hauptsächlich zu einer Vertiefung des Referenten gedient, nicht zu seinem Verschwinden.“ (Mitchell 2007, 242) Gurskys auf digitalen Pfaden erreichte ‚Vertiefung des Referenten’ geht aber – so jedenfalls der Eindruck von Martin Seel – nicht zu Lasten der „Imagination der Fotografie“. Der Künstler genügt den indexikalischen Ansprüchen der Fotografie geradezu im Übermaß und treibt den Realismus seiner Abbilder mit äußerster Konsequenz und technischer Perfektion soweit, dass sie surreale Formen annehmen. Wer genau hinsieht und die Blickpunkte wechselt, wird erkennen, wie „realistische Geste und imaginative Komposition“ (Seel 2009, 30) sich im Bild begegnen, ohne miteinander zu verschmelzen. Eine weitere Entwicklungsstufe der ästhetischen Reflexion medialer Übersetzungs-, Bearbeitungs- und Selektionspraktiken betritt Thomas Demand. Auf der Einladung zu seiner Berliner Ausstellung Modell Deutschland (2009) wird Demands Vorgehen im Detail erläutert: „In der Regel dienen ihm Bildvorlagen aus den Massenmedien als Ausgangspunkt für den Bau einer raumgreifenden Skulptur aus Papier und Pappe, die die zweidimensionale Abbildung in die Dreidimensionalität übersetzt. Diese (Re)konstruktion einer bestimmten räumlichen Situation wird dann wiederum mittels Großbildkamera und großer Sorgfalt zu einem zweidimensionalen Bild, bevor der Künstler die papierenen Skulpturen zerstört.“
Herstellung und Zerstörung der Modelle sind aber nirgends beweiskräftig dokumentiert. Interviews mit Journalisten und Berichte von Atelierbesuchern könnten Teil eines abgekarteten Spiels sein. Vielleicht handelt es sich bei jeder vorgeblichen Schredderaktion nur um ein ironisches Zitat des pathetischen Gehabes, mit dem ambitionierte Fotografen einst die Negative ihrer Bilder verbrannten, um die Anzahl der Abzüge gering zu halten und wenigstens einen Abglanz jener Aura, die das Einmalige und Seltene umgibt, für ihre technisch reproduzierbaren Werke zu retten. Demands Bilder – das lässt sich nicht übersehen oder ignorieren – sind von Kommentaren und Entstehungsgeschichten umlagert, die den Betrachter zu Mutmaßungen über alternative Möglichkeiten und den generellen Wert diskursiver Zugaben geradezu verleiten.75 Einerseits machen diese Fotografien argwöhnisch, andererseits verweisen sie (wenn auch indirekt) auf historische Ereignisse, an deren Faktizität kein Zweifel besteht. Denn als Ausgangsmaterial für seine Eingriffe und Übersetzungsprozeduren benutzt Demand zumeist Fotografien, die im Bildarchiv des kollektiven Gedächtnisses aufbewahrt sind. Beim Betrachten der Exponate erinnert man sich unwillkürlich an Fotografien, die markante Orte und Ereignisse zeigen: den Führerbunker nach Stauffenbergs gescheitertem Attentat, die Badewanne mit der Leiche Uwe Barschels, das demolierte und geplünderte Stasi-Büro von 1989 usw. Ob diese Fotografien aber tatsächlich als Vorlagen für maßstabsgerechte Modelle aus Papier und Pappe76 dienten, welche dann ihrerseits abfotografiert und anschließend vernichtet wurden, ist den präsentierten Endprodukten selbst nicht mehr anzumerken. Die kühl und künstlich wirkenden Bilder von Räumen, 75 Demands Aussage „Eigentlich ist meine Kunst ein komplettes Nichtgeheimnis. Alles, was Sie sehen, können Sie selber machen“ (Ackermann 2008) stimuliert eher die Suche nach dem Geheimnis des Künstlers und den verborgenen Fake-Strategien, die zum Einsatz kommen. 76 Dass realitätsnahe Modelle auch von anderen Fotografen (z.B. Oliver Boberg, James Casebere, Lois Renner, Edwin Zwakman) benutzt werden, ist ein Indiz für eine aktuelle Stilrichtung, aber noch kein Beleg für die Wahrheit der zitierten Behauptung.
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Dingen, Konstellationen haben möglicherweise den Umweg über handwerklich ebenso virtuose wie aufwendige Papiermodelle nur zum Schein genommen und sind von ihrem hinterhältigen Urheber unmittelbar im Computer generiert worden. Dass Übersetzungen, Veränderungen, Eingriffe und Selektionen stattgefunden haben, ist deutlich erkennbar und nicht zu bestreiten. Hierin liegt die visuelle (und virtuelle) Prägnanz der Demandschen Werke. Aus den fertigen Bildern lassen sich allerdings weder sichere Informationen über Stufen und Zwischenergebnisse des Transformationsprozesses noch über Motive und Zwecke der handelnden Akteure gewinnen; am Ende entschwinden sogar die beteiligten Menschen als sichtbare Objekte und Subjekte aus den Bildern. Die Fotografien erscheinen förmlich als reine Ausgeburten einer medialen Dynamik, die eine Serie von scharfen Differenzen, aber keinen Sinn erzeugt.77 Alle sprachlichen Beigaben – von sachlichen Beschreibungen der Herstellungsprozeduren über Anekdoten zur künstlerischen RecherchePraxis bis hin zu raunenden Interpretationen aus der Feder berühmter Dichter – entpuppen sich in der direkten Konfrontation mit den großformatigen CibachromeFotografien als dubiose Quellen, aus denen das geforderte Wissen über BildGenese und Evidenz-Suggestion eben nicht entspringt. Demands fotografische Operationen verweisen die Bilder letztlich auf die Bilder zurück und steigern so das Verlangen nach einer visuellen Darstellung des medialen Transformationsprozesses, die die imaginativen Potenziale der Bilder freisetzt, ohne sie sofort wieder in etablierte diskursive Schablonen zu pressen. Dieses Desiderat, das Thomas Demands Fotografien mit Nachdruck artikulieren, versuchen die Arbeiten von Hannah Hofmann und Sven Lindholm zu erfüllen. In ihrer Video-Installation Serie Deutschland verwenden die beiden Künstler – ähnlich wie Demand – bekannte, massenmedial verbreitete Fotografien, auf denen dramatische oder politisch relevante Ereignisse abgebildet sind, z.B. die Entführung Hanns-Martin Schleyers durch die RAF (1977), das „Gladbecker Geiseldrama“ (1988) oder die Unterzeichnung des Koalitionsvertrags zwischen SPD und den Grünen durch Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Oskar Lafontaine (1998). Hofmann&Lindholm lassen die ausgewählten Fotografien von vier unterschiedlichen Personengruppen nachstellen und nehmen die Vorgänge mit der Videokamera auf. Während der Performance befinden sich die Zuschauer vor vier Projektionsflächen, auf denen die Filme gleichzeitig zu sehen sind. Sobald die eingenommenen Haltungen der Laiendarsteller annähernd zu den fotografischen Vorlagen passen, vernimmt man das signifikante Geräusch eines in Aktion tretenden konventionellen Fotoapparates: Die eben noch zitternden tableaux vivants78 erstarren nun für Sekunden zu fixen Bildern, um sich anschließend wieder in ein viergliedriges Szenario bewegter Körper aufzulösen, die gemächlich aus dem Blickfeld der Kamera entschwinden. Hofmann&Lindholm veranschaulichen die performative Dimension der Fotografie, indem sie die Mittel des Theaters sowie des Films einsetzen und auf diese 77 Nichts macht dies deutlicher als der elementare Tiefsinn, mit dem Botho Strauß’ Texte zur Berliner Ausstellung aufwarten (siehe Kittelmann 2009). 78 Anders als bei der gängigen Praxis, berühmte Bilder durch tableaux vivants nachzustellen und umzucodieren, geht es Hofmann&Lindholm nicht primär darum, die Macht bestimmter (zumeist empörender oder quälender) Bilder ironisch oder zynisch zu brechen. Ein Beispiel für die ironische Brechung wurde oben behandelt (Zbigniew Liberas Che. Next Exposure), als Beispiel für eine zynische Relativierung darf Liberas Fotografie Nepal (2003) gelten (vgl. Ritchin 2009, 24). Hier wird das Figurenarsenal des bekannten Fotos von Nick Ut: Trang Bang, june 8, 1972: fleeing Trang Bang village after a napalm attack zum Gegenstand der polemischen Auseinandersetzung.
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Weise den unverfügbaren Augenblick des fotografischen Aktes (qua Festhalten eines außerbildlichen Hic-et-nunc-Zustandes) als abhängige Variable des medialen Arrangements darstellen. Damit problematisieren sie Theorien, die die indexikalische Leistung der Fotografie an den einzigartigen Moment binden, in dem der Auslöser des Apparates betätigt und das Negativ belichtet wird (vgl. Dubois 1998, 55). Laut Auskunft der Index- und Spur-Theorien kann ein Fotograf die Aufnahme zwar minutiös vorbereiten und nachträglich gründlich bearbeiten, aber im Augenblick der Belichtung macht er unweigerlich die Erfahrung einer Handlungs-Lücke, eines Entzugs (und das gilt ebenso für die mechanisch ausgelösten chemischen Prozesse bei der analogen Fotografie wie für die per Knopfdruck initiierte Verwandlung von Licht in Strom bei der digitalen Kamera).79 In Anbetracht der Video-Performance von Hofmann&Lindholm erscheint es abwegig, diesen besonderen Augenblick als Einbruch der unbeherrschbaren Realität in ein Kontinuum der subjektiven Planung und Manipulation zu feiern und zum zentralen Ereignis der Fotografie zu erklären. Denn der Zeitpunkt, zu dem die gefilmten Szenen sich schlagartig in vier statische Bilder verwandeln, ist hier nach Kriterien gewählt, die klar und plausibel sind und gerade keine gesteigerte Erfahrung von Kontingenz vermitteln. An die Stelle einer irritierenden Konfrontation mit dem Unverfügbaren tritt bei Hofmann&Lindholm aber nicht die Begegnung mit der totalen Macht einer souveränen Bildregie, die alle medialen Register zieht. Vielmehr erkennen die Betrachter, dass sich der entscheidende Moment der Auslieferung an eine unberechenbare Realität in zahlreiche unmerkliche Kontingenzen zerstreut hat. Hofmann&Lindholm lenken also die Aufmerksamkeit weg von der „reinen Spur“ (Dubois 1998, 55), die der Belichtungsakt hinterlässt, und hin zu den Differenzen, die bei der Kombination von Medien entstehen, deren ‚Botschaften’ beständig, d.h. bei jedem einzelnen Vorgang der Repräsentation von Welt, übersetzt und umgebildet werden müssen.80 Was aber ist mit einem solchen Befund gewonnen? Welche Ein-Sichten ermöglichen oder befördern die hier behandelten experimentellen Visualisierungen fotografischer Transformationsverfahren? Räumen sie tatsächlich mit irreführenden Vorstellungen auf oder bestätigen sie durch ihre Darstellungsmittel letztlich die Positionen, gegen die sie gerichtet sind? Denn sind nicht auch sie dazu gezwungen, den Prozess der Filterung, Selektion und Transformation an einer bestimmten Stelle anzuhalten? Verleihen sie dieser Stelle daher nicht eine besondere Bedeutung? Gewiss. Aber die erläuterten künstlerischen Experimente zeigen auf, dass der Einhalt gebietende fotografische Akt weder als ein Zeichen bloßer Willkür noch als Epiphanie der Realität zu verstehen ist, sondern vielmehr als die ‚Feststellung’ eines Mangels, der nur am jeweils Fixierten aufscheinen kann. Stets geben diese Experimente etwas Doppeltes zu erkennen: Einerseits läuft der Prozess immer weiter, Ereignis reiht sich an Ereignis. Andererseits kommt es zu Unterbrechungen, die (visuelle) Bestandsaufnahmen erlauben. Niklas Luhmann hat zur Beschreibung dieses Zusammenspiels die Unterscheidung „Operation/Beobachtung“ vorgeschlagen (1990, 76ff.). Der Begriff „Operation“ meint das reine Geschehen („es geschieht, was geschieht“81), der Begriff „Beobachtung“ hingegen Unter-Scheidungen und folglich Ent-Scheidungen, die ins Feld des Geschehens hineinschneiden. Die Foto79 Oft wird die besagte Auskunft dann noch durch die These ergänzt, dass es gerade die kurzfristige Ohnmacht des Akteurs ist, die den Reiz des Mediums Fotografie ausmacht, weil sie neue Sichtweisen und Erkenntnisse ermöglicht. 80 Zu den Vor- und Nachteilen des Versuchs, diese Prozesse als „Transkriptionen“ zu bestimmen, vgl. Jäger 2002. 81 Dieser systemtheoretische Kalauer findet sich bei Luhmann 1991, 43.
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grafie – so ließe sich nun formulieren – ist die perfekte Inszenierung des Beobachtens als Stillstellung, die nicht haltbar ist. Dass diese Unhaltbarkeit sichtbar wird und keineswegs durch theoretische Unterweisungen zum Vorschein kommt, hat seinen Grund im imaginativen Potenzial der Fotografie, welches künstlerische Experimente – von Fall zu Fall und mehr oder weniger drastisch – entbinden können.
13. T R I C K S I N D E R M A T R I X O D E R DER ABGEFILMTE CYBERSPACE „Das wesentliche Merkmal moderner Zeiten besteht darin, daß wir nicht mehr an diese Welt glauben. […] nicht wir machen das Kino, es ist die Welt, die uns als ein schlechter Film vorkommt. […] Uns den Glauben an die Welt zurückzugeben – und in den Zeiten der Neurose und der niedrigen Sinnlichkeit wie derjenigen, in der wir gründeln, die ist die Macht des modernen Kinos (wenn es kein schlechtes mehr ist).“ Gilles Deleuze
Marshall McLuhan hat 1964 die These vertreten, „daß der ‚Inhalt’ jedes Mediums immer ein anderes Medium ist. Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen ist. Auf die Frage: ‚Was ist der Inhalt der Sprache?’ muß man antworten: ‚Es ist ein effektiver Denkvorgang, der an sich nicht verbal ist.’“ (1970, 17f.) Diese sonderbare Beschreibung der Art und Weise, wie Medien in Medien vorkommen, wurde schon zum Zeitpunkt ihrer Erstpublikation als extreme Herausforderung geltender Theoriestandards aufgefasst. Allein schon wegen der sprachtheoretischen Annahme, daß Denkvorgänge gleichsam prä-semiotische Prozesse sind, war sie mehr als fragwürdig. Seit Ludwig Wittgensteins berühmten Philosophischen Untersuchungen (1958) schien nämlich klar zu sein, daß die „Käferschachtel“ leer ist, daß die Bedeutung der Zeichen eben nicht als geistiger Inhalt verstanden werden kann, sondern als soziales Phänomen, das sich im Gebrauch konkreter Worte und Sätze überhaupt erst bildet. Auch die ‚dekonstruktivistische’ Philosophie (deren Aufstieg 1967 begann) schloss sich, trotz mancher Vorbehalte gegen die angelsächsischen Vertreter des ‚linguistic turn’, dieser Einsicht an und verkündete die Exteriorisierung des Sinns. Das Bewusstsein wurde endgültig – wie es schien – aus der erhabenen Sphäre seiner privaten Innerlichkeit vertrieben und musste sich von nun an mit dem Außenhalt zufrieden geben, den die öffentlichen Kommunikationsprozesse ihm gewährten. Doch diese klare Situation hat sich inzwischen geändert. Im Zuge systemtheoretischer Analysen der Kommunikation von Niklas Luhmann (ab 1984) erhielt das Bewusstsein ein Stück seiner verlorenen Dignität zurück. Es wurde erneut als ein Ort prä-semiotischer Ereignisse inthronisiert. Aber die eigenständigen Operationen, die hier ablaufen, gelten nun als Vorgänge, die sich durch keine Technik mit der externen Kommunikation kurzschließen lassen. Das kommunikative Geschehen ist zwar, so lautet die These, auf Bewusstsein angewiesen, aber es stellt alles andere als eine Übersetzung interner Phänomene in greifbare externe Prägungen dar. Kommunikationen liefern keinen nachträglichen Ausdruck
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jener Gedanken, die „an sich nicht verbal“ (McLuhan 1970, 17f.) sind. Bewusstsein und Kommunikation bilden vielmehr füreinander unzugängliche ‚autopoietische’ Systeme, die mit genuinen, nur für sie charakteristischen Medien arbeiten. Wittgensteins „Käferschachtel“ wird also systemtheoretisch aufgefüllt und vitalisiert, doch für immer verschlossen. Bewusstsein und Kommunikation können sich wechselseitig nur mit Stimuli provozieren, die sie jeweils nach eigener Art und Regelhaftigkeit bearbeiten. Durch dieses Modell, das für großes theoretisches Aufsehen auch und gerade in der Medientheorie gesorgt hat, wird der Begriff des Inhaltes buchstäblich seines Inhaltes beraubt. McLuhan hatte mit seinem provozierenden Bild von den medial verschachtelten Inhalten das gleiche Ziel verfolgt. Denn ein Medium, das in einem anderen steckt, das sich wiederum in einem weiteren befindet, ist ebenso unsichtbar wie die inneren Puppen der berühmten russischen Matroschka. Der Blick auf den Inhalt macht, wie McLuhan notiert, nämlich blind für die „Wesensart des Mediums.“ (1970, 18) Wer etwas über die Wirkungsweise eines Mediums und die Beziehungen der Medien untereinander erfahren möchte, muss die Pfade der klassischen kommunikationstheoretischen content-analysis verlassen und gerade vom Inhalt absehen. „Der Inhalt eines Mediums ist mit dem saftigen Stück Fleisch vergleichbar, das der Einbrecher mit sich führt, um die Aufmerksamkeit des Wachhundes abzulenken.“ (ebd., 24)1 Wollen die Nutzer diesen Anweisungen für eine neue Art der Medienbetrachtung Folge leisten, so müssen sie sich allerdings mit theoretischen Waffen ausrüsten, die sie vor den Faszinationskräften der vermeintlich so gefügigen und hilfreichen technischen Apparaturen schützen können: „Denn jedes Medium hat die Macht, seine eigenen Postulate dem Ahnungslosen aufzuzwingen. Voraussage und Steuerung bestehen darin, diesen unterschwelligen narzißtischen Trancezustand zu vermeiden.“ (ebd., 24) Man mag den generellen Wert von McLuhans Warnungen und Hinweisen bezweifeln, für die Betrachtung des Films The Matrix (1999; dt. Matrix) erweisen sie sich als brauchbare Anregungen. Immerhin spielt die Idee von einem saftigen Stück Fleisch eine zentrale Rolle im Film, und auch die genannten Trancezustände lassen sich leicht mit der Lage vergleichen, in welche die dargestellte Menschheit geraten ist. Wichtiger als diese eher zufälligen Korrespondenzen, die ohnehin ins ‚Inhaltliche’ und damit Verfängliche wegführen, sind McLuhans Bemerkungen über die Differenz zwischen dem latenten „Inhalt“ als vereinnahmendem Rückbezug auf bereits bestehende Medien und dem medialen „Programminhalt“, der einen beliebigen Gegenstand (unter Umständen auch ein Medium) explizit zum Thema macht. „Die Wirkung des Mediums wird gerade deswegen so stark und eindringlich, weil es wieder ein Medium zum ‚Inhalt’ hat.“ Dieser Effekt hat aber mit dem konkreten „Programminhalt“ nichts zu tun. Das Medium Film zum Beispiel hat notgedrungen einen „Roman, ein Schauspiel oder eine Oper“ zu seinem „Inhalt“. Umgekehrt aber – so scheint McLuhan zu unterstellen – kann ein Roman (oder der Roman als solcher) einen Film (oder den Film als solchen) bloß zum arbiträren „Programminhalt“ machen, der letztlich keine „Beziehung“ zur eigentlichen „Wirkung“ des Mediums aufweist. Zudem ist diese asymmetrische, intermediale Relati1
McLuhan geht bekanntlich davon aus, daß „das Medium die Botschaft ist“, weil „das Medium Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens gestaltet und steuert. Der Inhalt oder die Verwendungsmöglichkeiten solcher Medien sind so verschieden, wie sie wirkungslos bei der Gestaltung menschlicher Gemeinschaftsformen sind.“ (ebd.) In Anbetracht der Rezeptionsanalysen, die die Vertreter der ‚Cultural Studies’ vorgelegt haben, wird man McLuhans geringschätzige Bemerkungen über die Relevanz differierender „Verwendungsmöglichkeiten“ wohl ad acta legen dürfen.
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on, auf der die Tiefenwirkung des Mediums beruht, so strukturiert, daß sie den RezipientInnen während der Mediennutzung „fast gar nicht bewußt“ ist. (ebd., 27) McLuhans eigentümliche Unterscheidung von medialem Inhalt und Programminhalt wird erst verständlich, wenn man die anthropologische Stellung und die soziale Funktion, die er den Medien zuschreibt, in Betracht zieht. Das jeweils fortgeschrittenere, historisch in der Regel später erfundene und implementierte Medium übt seine unmerkliche Wirkung aus, indem es bestimmte Probleme, die die vorausgehenden Medien den Menschen bereiten, einer Lösung zuführt, die nun ihrerseits neue Probleme hervorbringt. Medien erweisen sich in McLuhans Augen als paradoxe Errungenschaften der Gattung: Sie werden zur Betäubung unerträglicher Reize erfunden, die sie dann in anderer Gestalt und in gesteigerter Form reproduzieren. Diese desillusionierende Diagnose weist jedoch implizit auf die Chance hin, daß der Zirkel der medialen Verkettung und Problemsteigerung durchbrochen werden kann, wenn ein älteres Medium sich ein jüngeres als ‚Inhalt’ aneignet, um die Dialektik von Anästhesie und Überreizung auszubalancieren. Gelingen kann ein solcher Zugriff freilich nur, wenn das ältere Medium es vermeidet, das jüngere als bloßen Stoff für den eigenen Programminhalt zu verwerten, weil die medialen Strukturen gerade in diesem Aggregatzustand unsichtbar bleiben. Dass die Unternehmung nicht völlig aussichtslos ist, demonstriert McLuhan durch die eigene Theorie, die das latente Phänomen der Medienwirkung verständlich machen will. Die Analyse muss sich selbst als Metamedium setzen, das die vorliegenden Zusammenhänge aufhellt, ohne dem fatalen Mechanismus, den sie nachzeichnet, zu verfallen. Wie aber lässt sich das bewerkstelligen? Nur „abseits jeder Struktur und jedes Mediums ist es möglich, [die] Grundsätze und Kraftlinien [der Medien] zu erkennen.“ (ebd., 24) Frei von medialen An- und Einbindungen lässt sich jedoch gar nichts erkennen und kommunizieren. Daher sind „Struktur“ und „Medium“ nur innerhalb eines Rahmens zu überwinden, den beide abstecken. Als Ziel muss folglich eine Art ‚medien-immanenter Abseitigkeit’ anvisiert werden. Kein Hypermedium ist ausfindig zu machen, sondern ein Hybridmedium, das die avancierteste Technologie in diese oder jene vorhergehende einbildet oder einschreibt, um so den fatalen Sog einer Reizbetäubung, die auf Reizsteigerung herausläuft, zu entkräften. Das Projekt sollte sich auf die fortgeschrittenste Medientechnologie – den Computer – als ‚Gegenstand’ beziehen, weil hier die aktuelle Form der Reizbearbeitung stattfindet, und es sollte ein Darstellungs- und Reflexionsmedium für diese Technologie wählen, das zugleich Nähe und Distanz zu seinem Gegenstand aufweist, den es gezielt zum „Inhalt“ der eigenen Präsentation macht. Ein ausgezeichnetes Beispiel für dieses Projekt liefert die filmische Auseinandersetzung mit der digitalen Maschine. Denn hier besteht kein Zweifel darüber, daß sowohl erhebliche Ähnlichkeiten als auch Unterschiede bestehen. Eigenart und Grad der Verwandtschaft beider Medien ist allerdings ebenso umstritten wie die Form der Differenz, welche den Film vom Computer trennt. Um einen Eindruck von den Schwierigkeiten zu vermitteln, die sich ergeben, wenn man die Film/Computer-Relation analysiert, möchte ich einige wichtige theoretische Positionen und Argumente Revue passieren lassen. Im Zentrum der äußerst komplexen Debatte steht das Begriffspaar analog/digital, das eine gleichsam ontologische Differenz zwischen Filmen und Computersimulationen markiert. Die unterschiedlichen technischen Mittel, auf denen (analoge) Film- und (digitale) Computerbilder beruhen, führen – so wird vielfach behauptet – zu differenten Formen der Weltwahrnehmung und Weltkonstitution: Während Filme „ein erfolgreiches Trompe-l’oeil, und seit es Ton gibt, ein noch erfolgreiche-
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res Trompe-l’oreille“ (Cabrera Infante 2001, 9) sind, existiert „im Zeichen des Computers kein Trompe-l’oeil mehr“ (Burckhardt 1994, 309), weil sich Raum, Zeit und Körper hier in algorithmische Operationen auflösen. Zahlreiche Autoren nehmen an, daß der Film durch Kamerablick und -bewegung einen „Point of view“ nutzt, welcher der „natürlichen Wahrnehmung verwandt“ (Zielinski 1989, 258) ist. Dem traditionellen (Spiel-)Film werden daher besondere repräsentative Eigenschaften zugeschrieben, die die Computersimulation nicht unbeschadet lässt. Alexander Kluge etwa glaubt, „daß sämtliche binären Programmierungen den lebendigen Zusammenhang der Mitteilung zerstören. Man kann durch binäre Logiken etwas herstellen, was augenscheinlich funktioniert, aber es verändert radikal die authentischen Verhältnisse in der Wirklichkeit: die Nebensachen sind weg. [...] Die Ausdrucksweise des Films [arbeitet] mit sogenannten Nebenvalenzen [und] Zwischenwerten.“ (Kluge 1988, 71f.)
Von ähnlichen Prämissen ausgehend stellt Thomas Wimmer dem „halluzinatorischen Moment des Imaginären“, das Filmen eignet, die „Klarheit im digitalen Simulakrum“ gegenüber und beklagt dessen „selbstgenügsame und letztlich ‚kalte’ Struktur, welche, bei aller Fantastik, den träumerischen Gehalten der empirischen Wirklichkeit nicht gerecht wird.“ (Wimmer 1991, 530, 532) Auch Yvonne Spielmann hebt im Anschluß an Deleuze und Couchot die Defizite der digitalen Darstellungen hervor: Im Unterschied zum gerichteten analogen Bild verfüge das ungerichtete digitale Bild über keine Repräsentationsfunktion und könne deshalb „die Parameter von Raum und Zeit“ (Spielmann 1999, 66) nicht erfassen.2 Derartige Ansichten sind weitverbreitet, aber keineswegs unbestritten. Lev Manovich etwa hebt die scharfe Unterscheidung zwischen Analog- und DigitalMedien auf: „Das Kino bereitet uns auf die digitalen Medien vor, weil es schon auf dem Prinzip der Aufzeichnung [...] von Zeit basiert. Das Kino zeichnet Zeit vierundzwanzigmal pro Sekunde auf. Man muß nur noch diese bereits diskrete Repräsentation (Einzelbildaufzeichnung) nehmen und sie quantifizieren. Aber das ist ein bloß mechanischer Schritt; was das Kino erreicht hat, ist der viel schwierigere konzeptionelle Bruch vom Kontinuierlichen zum Diskreten.“ (Manovich 1996, 45)3
Im Vergleich dazu bezieht Almuth Hoberg eine ausgewogene Position; in ihrer glänzenden Studie über Film und Computer gelangt sie zwar zu dem Ergebnis, daß 2
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Die Anhänger des Cyberspace deuten diesen Mangel als entscheidenden Vorzug digitaler Medien. Michael Benedikt vertritt die These, daß „in patiently unreal and artificial realities such as cyberspace, the principles of ordinary space and time, can, in principle (!), be violated with impunity.” Benedikt wendet sich gegen zwei gängige Vorstellungen vom Cyberspace: Weder handele es sich um „a new stage in the etherealization of the world we live in“ (so aber Wertheim 1999), noch um „a new stage in the concretization of the world we dream and think in.“ Beide Ideen seien nützlich, aber irreführend: „Rather, with cyberspace, a whole new space is opened up by the very complexity of life on earth.“ (Benedikt 1991, 124, 128) Manovich verweist u.a. auf Konrad Zuse, der 1936 einen Rechner entwickelt und als Lochstreifen „ausrangierte 35-mm Kinofilme“ benutzt hatte. „Einer der heute noch vorhandenen Filmteile zeigt den abstrakten Programmcode, der über die ursprünglichen Bilder [...] gestanzt wurde. Der ikonische Code des Kinos wurde zugunsten des effizienteren binären Codes fallengelassen.“ (ebd., 43)
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die computergenerierten Bilder zur „Destruktion der Zentralperspektive, Immaterialisierung von Bewegungen und Auflösung des Bildzusammenhangs in einen Strom von Bildpartikeln“ (Hoberg 1999, 40) führen, macht aber auch deutlich, in welchem Maße der Computer nur Effekte verstärkt, die in der beweglichen Filmkamera bereits angelegt sind: „Das Grundmoment des Filmischen [...] wird durch die computergenerierten Bilder weiter radikalisiert und transformiert in ein körperloses Mitrasen, -schweben oder -stürzen, das das Körperempfinden dissoziiert und fragmentarisiert.“ (ebd., 52) Der neuralgische Punkt all dieser Diagnosen ist die Frage, ob der spezifische Realitätseindruck – „l’impression de réalité“ (Baudry) –, der die Wirkung des Films ausmacht, auch durch Computersimulationen hervorgerufen oder sogar überboten werden kann. Denn die eindrucksvolle, medial repräsentierte ‚Realität’ erschöpft sich ja nicht in der exakten Wiedergabe einer vertrauten Lebenswelt – qua „authentischer“ oder „empirischer Wirklichkeit“ (wie Kluge und Wimmer zu glauben scheinen) –, sondern umfasst auch die Konstruktion von Welten, die als ‚real’ anerkannt werden. Ein weiteres bedeutsames Begriffspaar – imaginär/symbolisch – bringen Medientheoretiker aus der Lacan-Schule ins Spiel. Friedrich Kittler zum Beispiel beschreibt den Film als Medium, das eine imaginäre, auf Verkennung beruhende Form der Einheit stiftet (1986, 29), während die digitale Maschine Computer als „Medium des Symbolischen“ (1993, 69, 73) gilt, das untilgbare, in keiner vorgängigen Identität aufgehobene Differenzen erzeugt. 4 Allerdings nimmt Kittler dieser prägnanten Unterscheidung ihre analytische Kraft, wenn er eingesteht: „Verfilmungen zerstückeln das imaginäre Körperbild, das Menschen [...] mit einem geborgten Ich ausstaffiert hat und deshalb ihre große Liebe bleibt. Gerade weil die Kamera als perfekter Spiegel arbeitet, liquidiert sie, was im psychischen Apparat [...] an Selbstbildnissen gespeichert war.“ (ebd., 226) Am Ende unterminiert also der unbestechliche Realismus der Kamera die psychohygienische Funktion des Films. Das Kino dient nicht länger als apollinischer Ich-Bildner. Deshalb müssen die Menschen ihr Heil im Computer suchen, der sie freilich mit imaginärer Software hinters Licht führt. Erst wenn der suggestive Schein von Benutzeroberflächen aufgelöst wird, zeigt sich das Sein der Hardware als fundamentale Differenz von 0 und 1. (ebd., 225ff.) Weniger tiefschürfende, aber empirisch gehaltvollere Theorien unterscheiden zwischen passiven und (inter-)aktiven Medien sowie Massen- und Individualmedium. Der Film gilt aufgrund der typischen Kinosituation als Massenmedium, das den Betrachter im Normalfall zur passiven Rezeption einlädt. Der Computer hingegen wird als Individualmedium bestimmt, das jedem Entwickler und Nutzer die Möglichkeit gibt, sein eigenes, unverwechselbares Programm zu kreieren. Was diese Kategorien und Schemata zu leisten vermögen, und ob sie durch weitere Begriffspaare (zum Beispiel: Struktur/Semantik, Sagen/Zeigen) zu ergänzen sind, kann nur die konkrete Analyse zeigen. Im Folgenden soll der Film Matrix als Testmaterial verwendet werden, weil er den Status von bildhaft darstellbarer und sprachlich erfassbarer Realität thematisiert und den Versuch macht, den filmischen und den computer-animierten ‚Realitätseindruck’ in ein Verhältnis zu setzen. Der Film Matrix trifft eine Unterscheidung zwischen dem realen Raum (der „Wüs4
„Der Film war als Form die letzte Erfüllung des großen Vermächtnisses der typografischen Zerlegung. Aber die elektronische Implosion hat nun den ganzen Expansionsprozeß dieser Zerlegung umgekehrt. Die Elektrizität brachte uns die kühle [das heißt: detailarme und ergänzungsbedürftige] Mosaikwelt der Implosionen, des Gleichgewichts und des Statischen wieder.“ (McLuhan 1970, 284)
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te der Wirklichkeit“) und dem Cyberspace, der seinerseits zwei Modalitäten annehmen kann: erstens die Mimesis der ‚normalen’ Welt, die unter einer bestimmten Perspektive als Fälschung erkenn- oder benennbar ist, und zweitens die reine Simulation, in der die Gesetze von Raum und Zeit (zum Beispiel das Trägheitsgesetz) aufgehoben werden können.5 In einem Aufsatz über Matrix behauptet Slavoj Žižek, daß „die einzigartige Wirkung dieses Films nicht so sehr in seiner Zentralthese (was wir als Realität erfahren, ist eine künstliche, virtuelle Realität)“ liegt, sondern „in seinem Zentralbild von Millionen von Menschen, die ein klaustrophobisches Leben in mit Wasser gefüllten Gerüsten führen.“ (2000, 68) Zweifellos ist dieses Bild „als eine selbstreflexive Allegorie des Kinozuschauers“ (ebd., 69) zu verstehen. Im Kino „gilt das Prinzip der Hemmung motorischer Abfuhr bei gleichzeitiger Erregung von Sinnen und Nerven, [...] die Aufspaltung von Wahrnehmen und Bewegen oder auch von ‚Merkwelt und Wirkwelt’.“ (Hoberg 1999, 200) Charakteristisch für die Filmrezeption – dies wurde immer wieder betont – ist „der gewollte Rückzug des Kinogängers von der Außenwelt mit ihren visuellen und akustischen Stimuli, seine Passivität und seine Anonymität und die Dunkelheit des Kinosaals.“ (Zeul 1994, 983)6 Wenn ein Film (über den Cyberspace) wie Matrix die Befreiung aus dieser ebenso fatalen wie fötalen Lage allegorisch in Szene setzt, dann zeigt er auch die mögliche Überwindung des Massenmediums Kino und liefert ein Plädoyer für das Individualmedium Computer, das an die Stelle passiver Wahrnehmungen die virtuose (Inter-)Aktivität der CybernautInnen setzt. Matrix hat eine doppelte Stoßrichtung: Die selbstreflexiven Elemente des Films problematisieren erstens das Verhältnis von kollektiver und individueller Mediennutzung und zweitens die Aufspaltung von Körper und Bewusstsein durch die medialen Dispositive. Beide Aspekte werden durch die Frage verknüpft, wie unter Bedingungen der modernen Medienwelt Aktivität eine sinnvolle Gestalt annehmen kann. Es ist offensichtlich, daß die technischen Arrangements, die den kontemplativen Genuss massenmedialer Produkte ermöglichen, dem abendländischen Programm der ‚Vita activa’ widersprechen. Das Konzept des tätigen Lebens setzte sich in der Neuzeit auf breiter Front durch und schuf eine affirmative Auffassung von beruflicher Arbeit, zu der nun nicht mehr allein Sklaven und Knechte verdammt, sondern selbstbewusste Subjekte bereit und willens waren. Kontemplation blieb lange (von der Antike bis zur Moderne) einer Elite von Welt- und Seinsbeobachtern vorbehalten, die ihre Haltung als Weg zu Einsichten stilisieren konnte, welche den Betriebsamen grundsätzlich verschlossen sind. Nachdem sich in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Relation von Arbeitszeit und sogenannter Freizeit erheblich verschoben hatte, galten die Mußestunden vor den neuartigen Medien (Grammophon, Radio, Fernsehen), die im übrigen auch die Familialisierung der Männer begünstigten, als ein unverzichtbares Gut, dessen Preisgabe die Minderung von Lebensqualität bedeutet hätte. Aktivität (pflichtgemäße Arbeit) und Passivität (hedonistischer Konsum) befanden sich in einem wohlbalancierten Verhältnis. Erst die Entstehung jener viel beschriebenen ‚Medienkindheit’, die ganze nachwachsende Generationen zu passiven Fernsehkonsumenten machte, führte zu einer veränderten Sicht. Das ‚totale’ Fernsehen, das alle Geheimnisse des Lebens auf den Bildschirm zauberte und die ‚wirkliche’ Realität zur blassen Imitation der TV-Welt degradierte, ließ 5 6
Vgl. hierzu die Aussagen von Michael Benedikt 1999. In einem legendären Aufsatz hat Jean-Louis Baudry (1994) die Kinosituation mit Platos Höhle verglichen. Vgl. Schneider 1998, 38; Winter 1992, 60.
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Aktivität plötzlich als Wert erscheinen, der ebenso gefährdet ist wie die natürliche Umwelt.7 Matrix zeigt den Idealtypus eines erweckten Subjekts, das das Trauma der Neu-Geburt rasch verarbeitet und ein (von Aktionen regelrecht) erfülltes Leben beginnt. Der Einzelne überwindet die Passivität vor dem Medium und beginnt eine Vita-activa-Karriere im neuen Medium der Realität, das aber nicht etwa den Zugang zu den künstlichen Welten verschließt, sondern nur eine angemessene Form des Umgangs mit ihnen ermöglicht. Aktivität bedeutet jetzt Kampf gegen die mediale Manipulation. Dies ist kein Kampf gegen Fiktionen und Phantasiegebilde überhaupt, vielmehr ein Kampf, der darauf abzielt, „dem phantasmatischen Apparat das Zentrum“ zu nehmen: „Nicht die Fiktionen sollen abgeschafft werden, sondern aufgebrochen werden soll die Tatsache, daß eine Machtinstanz alle Phantasie akkumuliert hat.“ (Bronfen 2000, 542) Ziel des Einsatzes ist also die Errichtung eines ‚Pluriversums’ medialer Verwendungsweisen. Žižeks kritisch gemeinte Frage: „Warum taucht die Matrix nicht jedes Individuum in sein/ihr eigenes, solipsistisches Universum?“ (Žižek 2000, 70), trifft einen entscheidenden Punkt. Denn der Film lässt diese Frage keineswegs offen. Zunächst zitiert Matrix mit dem Entwurf einer für alle gültigen Simulation die bekannten Thesen über die künftigen Effekte des neuen Mediums und stellt den Computer als eine Maschine dar, die auf globaler Ebene den „eindimensionalen Menschen“ (Herbert Marcuse) erzeugt. Nun ist, wie Žižek zurecht betont, die inzwischen fast 40 Jahre alte These, „der Cyberspace“ bringe „uns alle in einem globalen Dorf zusammen“, längst widerlegt: „Anstelle des globalen Dorfes und des großen Anderen erhalten wir die Vielzahl von ‚kleinen anderen’, von partikulären Stammesidentifizierungen.“ (ebd., 52) Matrix greift anscheinend eine bereits verlassene Stufe der Cyberspace-Ideologie auf und rennt mit deren Kritik wahrlich offene Türen ein. Diese unzeitgemäße Konstruktion ist gleichwohl legitim, weil der Film durch eine geschickte Inversion seines referentiellen Anspruchs gar nicht den wirklichen Cyberspace meint, sondern gerade den abgefilmten Cyberspace, der zwangsläufig (denn Kino ist ein Massenmedium und die Matrix ist kein Hypertext) dazu führt, dass ein einheitliches Bild für alle Zuschauer entworfen wird.8 Der Computer ermöglicht individuelle Eingriffe und gestalterische Aktivitäten, die sich mit den je individuellen Sichtweisen ‚ein und desselben’ Films nicht gleichsetzen lassen. Matrix stellt also den Cyberspace soziohistorisch falsch, aber filmisch korrekt dar. Damit denunziert der Film genau die medientypische Verzerrung, die eintritt, wenn das Medium Cyberspace, genauer: das den Cyberspace generierende Medium Computer im Medium Film erscheint. 7
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Es ist nicht verwunderlich, dass Matrix auch die ökologische Frage thematisiert und die Aktivität der Maschinen mit der Aktivität der Menschen vergleicht. Der Agent Smith fasst die gängigen Argumente gegen die Menschen pointiert zusammen: „Ihr seid im eigentlichen Sinne keine richtigen Säugetiere. Jedwede Art von Säuger auf diesem Planeten entwickelt instinktives natürliches Gleichgewicht mit ihrer Umgebung. Ihr Menschen aber tut dies nicht. Ihr zieht in ein bestimmtes Gebiet und vermehrt euch und vermehrt euch, bis alle natürlichen Ressourcen erschöpft sind. Und der einzige Weg zu überleben ist die Ausbreitung auf ein anderes Gebiet. Es gibt noch einen Organismus auf diesem Planeten, der genau so verfährt. Das Virus. Der Mensch ist eine Krankheit, das Geschwür dieses Planeten. Ihr seid wie die Pest, und wir sind die Heilung.“ Jede/r einzelne ZuschauerIn mag den Film anders sehen und interpretieren; dennoch wird (sieht man von Synchronisationsproblemen, Verschleißerscheinungen der gezeigten Kopie, Leinwandformaten und unbemerkten Kürzungen ab) im Prinzip allen stets der gleiche Film vorgeführt.
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Eine schönere Allegorie auf McLuhans Begriff des „Inhalts“, den ein älteres für ein jüngeres Medium abgibt, lässt sich kaum erfinden oder (wenn man so will) ‚simulieren’.9 Der in Matrix reflektierte mediale Paradigmenwechsel von der Passivität zur Aktivität, von der Masse zum Individuum, von der Film- und Fernsehlust (jener oft thematisierten modernen Spielart der Skopophilie) zur Daten-Reise im virtuellen Raum betrifft auch die spezifische Rolle des Körpers im medialen Setting. Es bedarf keiner tiefschürfenden wissenschaftlichen Analysen, um hier zu einer handfesten Diagnose zu gelangen: Nimmt man die Medienevolution als ganze in den Blick, so lässt sich kaum übersehen, dass die effektive Nutzung der verschiedenen Medien „die weitgehende Ausblendung der kinästhetischen Körperselbsterfahrung aus dem Bewußtsein“ (Elsner u.a. 1993, 175) zur Voraussetzung hat.10 Dieser offensichtliche Prozess der Entkörperlichung blieb allerdings nicht ohne Einspruch. Man prognostizierte die Rückkehr des Körpers gerade im Bereich der Medien und entwarf Konzepte, um die verlorene Einheit des Menschen dort wieder herzustellen, wo scheinbar die geringsten Aussichten auf Erfolg bestehen. Matrix reiht sich in diese Versuche ein. Im Film werden weitverbreitete Vorstellungen über die Folgen der Computertechnik aufgegriffen und mit alternativen Ideen konfrontiert. Der Ausgangspunkt ist einfach und klar: Das Konstrukt der Realität, welches die Matrix generiert, beruht auf einer radikalen Trennung von Körper und Geist (oder Bewusstsein). Es handelt sich – so möchte man auf den ersten Blick meinen – um eine Populärversion von Descartes’ dualistischer Philosophie: Die Körper der Menschen liegen „auf riesigen Plantagen [...] schlafend in Kokons, die Wiege und Sarg zugleich sind, während die Maschinen ihre Energie absorbieren“.11 Bemerkenswert an diesem Arrangement ist der Umstand, dass die Körper ihre Funktion als ergiebige Batterien nur erfüllen können, solange das Bewusstsein arbeitet, genauer: solange alle Bewusstseine12 eingeschaltet bleiben. Den intelligenten Maschinen ist es gelungen, die Menschen in einem mit allen erdenklichen Mitteln13 geführten Krieg zu besiegen; dennoch verfügen sie über keine Technologie,
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Die konkrete Darstellung des ‚Cyberspace’ bediente sich nicht allein der bereits entwickelten Techniken der Computeranimation (mehr als 400 Spezialeffekte wurden am Rechner erzeugt), sondern repräsentierte das ‚neue’ Medium auch technisch im ‚älteren’: „Für Szenen in Matrix, in denen Personen mitten in der Luft einfrieren, während das Bild 360 Grad um sie herumkreist, wurden 122 Canon-Fotoapparate auf einer Plattform, die entfernt einer Achterbahn ähnelte, arrangiert, um den Akteur gegen Green Scene bildweise aufzunehmen, eine Technik, die fast so alt ist wie die Fotografie selbst.“ (Giesen 2000, 41) Vgl. auch die folgende These: „Bisher läuft die Entwicklung der Kommunikationstechnologien [...] in die Richtung einer immer schärferen Dichotomisierung von Körper und Bewußtsein in den historisch jeweils avanciertesten Hightech-Kommunikationssituationen hinaus. Um die Effekte der medialen Ereignisse ‚genießen’ zu können, muß der Körper entweder in der Rezeption ruhiggestellt oder auf bestimmte Funktionen – etwa als Reaktionsmaschine am Spielautomaten oder bei interaktiven Simulationen – reduziert werden.“ (Spangenberg: 1992, 101) So die schöne Formulierung des Rezensenten Christian Jürgens 1999, 36. Diesen ungebräuchlichen und hässlichen Ausdruck hat Niklas Luhmann in seiner (oben schon angesprochenen) Theorie über das Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation zumindest akademisch hoffähig gemacht. Vgl. Luhmann 1995b, bes. 37-112. Die Menschen haben z.B. den Himmel verdunkelt, um den Solarzellen der Maschinen ihre Energiequelle zu nehmen.
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um Elektrizität aus den Körpern von Hirntoten zu beziehen.14 Auch sehen sie sich anscheinend nicht in der Lage, Energiequellen zu erschließen, die sie unabhängig von ihren einstigen Schöpfern machen würden. Aber sind die Maschinen wirklich auf die menschlichen Körper und die rege Bewusstseinstätigkeit ihrer organischen Batterien angewiesen?15 Oder leisten sich die neuen Weltbeherrscher, denen nach Menschenart offenbar viel an Selbsterhaltung gelegen ist, die Versorgung des menschlichen Geistes mit kompletten Scheinwelten, weil sie an diesem Spiel, mit dem sie möglicherweise auch ihren eigenen Untergang riskieren, ein höchst artifizielles Vergnügen haben? Vielleicht sind die siegreichen Maschinen gar nicht auf das pure Überleben um jeden Preis programmiert. Vielleicht schalten sie die mentalen und emotionalen Prozesse ihrer Versorgungsbasen nicht ab, weil sie dem Reiz der Gefahr nicht widerstehen können und am Ende des brutalen Kampfes nach einer geeigneten Arena suchen, um die Auseinandersetzung auf höherem Niveau fortzusetzen. Das menschliche Bewusstsein, das die Elektronengehirne der Maschinen mit ihrer künstlichen Intelligenz überbieten konnten, ist nämlich kein Spielverderber. Es besitzt – wie die Maschinen mit Sicherheit wissen – die eigentümliche Fähigkeit, alles und jedes in Zweifel zu ziehen. Dieser grundsätzliche Verdacht richtet sich seit alters her auch und gerade auf die sogenannte ‚Wirklichkeit’, in der sich die Menschen zumeist ganz selbstverständlich und unbefangen, aber eben zuweilen auch voller Skepsis bewegen. Zu den grundlegenden Operationen des Bewusstseins zählt die Frage nach dem Status der Realität. Den Maschinen, die den menschlichen Geist im Hegelschen Sinne förmlich ‚aufgehoben’ haben, muss deshalb – trotz hemisphärischer Verdunkelung – sonnenklar sein, dass sie extreme Risiken eingehen, wenn sie den menschlichen Geist aktiv halten – und sei es auch nur durch verfängliche und absichtsvoll mit Kontingenzen 16 und kleinen Fehlern versehene Simulationen. Sobald das Bewusstsein zu arbeiten beginnt, keimt in ihm nämlich der Verdacht auf, dass die Welt eine Fälschung sein könnte. 14 Im Film Coma (1977) von Michael Crichton, der kriminelle Formen des Organhandels thematisiert, werden die zur rücksichtslosen Verwertung vorgesehenen nackten Körper auf eine Weise aufbewahrt (bewegliche Liegen/Hängevorrichtungen, Versorgungsschläuche, keimfreie Cellophanumhüllungen), die ihre Fortexistenz sichert, ohne Prozesse des Bewusstseins in Anspruch nehmen zu müssen. 15 Žižek deutet den im Filmdrehbuch benutzten Energiebegriff psychoanalytisch um: „Die rein energetische Lösung ist natürlich bedeutungslos: die Matrix hätte leicht eine andere, verläßlichere Energiequelle finden können.“ Die Matrix benötigt nicht die elektrische Energie der Menschen, sondern sie „zehrt von der jouissance der Menschen.“ (Žižek 2000, 70) Diese These ist freilich nur plausibel, wenn man die Matrix als Allegorie des Lacanschen „großen Anderen“ liest, der, „weit davon entfernt, eine anonyme Maschine zu sein, den ständigen Zufluß der jouissance benötigt.“ (ebd.) Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Vorstellung von einem „großen Anderen“, der die Ströme des menschlichen Genießens anzapft, nicht ebenso mythisch ist wie die Denkfiguren, deren sich das Wachowski-Gespann bedient. 16 Der dem Publikum längst geläufige Zusammenhang von Realität und Kontingenz wurde bereits in einer berühmten Szene in David Cronenbergs Film The Fly (1985) zum Thema. Hier geht es um die geschmacksgetreue Reproduktion eines Steaks, die nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen erst dann gelingt, als Zufallsfaktoren in den Transformationsprozess eingespeist werden. Der Wunsch nach einem authentischen Stück Fleisch, das nicht mehr in der ‚realen’, sondern nur noch in der Matrix-Welt zu haben ist, beherrscht auch Cypher (Joe Pantoliano), den Judas der „Nebukadnezar“Crew. Welche Rolle in unserer Kultur einem genießbaren Stück Fleisch als Realitätskriterium zugemessen wird, zeigt auch Woody Allens Bemerkung, er sei am Cyberspace nicht interessiert, solang er dort kein gutes Steak verzehren könne.
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Die Anlässe für einen solchen Argwohn, den die Gnosis17 kultiviert hat, ergeben sich wie von selbst. Sie sind autopoietische Konstruktionen des Bewusstseins. Gegen diese merkwürdige und zwanghafte Eigenleistung ist kein noch so ausgeklügeltes Simulationsprogramm gefeit. Die perfekte (konsistente, widerspruchsfreie, rundum beglückende) Welt ist nicht minder verdächtig als eine Welt, in der immer wieder ungewöhnliche und unerwartete Ereignisse stattfinden. Beides kann die abgründige Frage nach dem Grund18 provozieren, welche als eine nicht nur mögliche, sondern wahrscheinliche Antwort die philosophische (mitunter auch praktische) Revolte der Menschen nach sich zieht. Die Maschinen dürfen daher mit dem Aufstand des Bewusstseins gegen die zwangsläufig unter Verdacht geratende Welt rechnen, und sie können, wenn das ihre Intelligenz und ihren Sinn für ästhetische Konstellationen befriedigt, den wiederbelebten Kampf zwischen Maschine und Mensch als ein letztlich unentscheidbares Spiel um Freiheit und Knechtschaft, Aktivität und Passivität, Zufall und Notwendigkeit, Leben und Tod inszenieren. Auf den erwartbaren Vorfall, dass einzelne Bewusstseine sich ‚befreien’ und mit ihren realen Körpern vereinigen werden, können sie sich mit entsprechenden (für den Gegner im Spiel natürlich deutlich sicht- und damit kalkulierbaren) Maßnahmen vorbereiten. Reizvoll wäre beispielsweise die Entwicklung von Abwehr-Programmen (sogenannten Agenten), die in simulierter Menschengestalt eben jene Mitglieder der Widerstandsgruppe verfolgen, die sich (nach der Befreiung und der künstlichen Re-Synthetisierung von Körper und Geist) in die virtuelle Scheinwelt der Matrix ‚eingehackt’ haben. Denkbar wäre auch der Bau scheußlich schöner, insektenähnlicher Riesen-Roboter, die in der realen Welt die Aufenthaltsorte der Rebellen (etwa das Piratenschiff „Nebukadnezar“) aufspüren und zerstören sollen. Eine zusätzliche Tiefendimension erhielte das Spiel, wenn diese Aktivitäten nicht als vorsätzliche und endgültige Schritte, sondern als Ergebnisse eines maschinellen Lernprozesses dargestellt würden, der durch Krisen und provisorische Problemlösungen bestimmt ist. Zum Lernen, so ließe sich spekulieren, sind die Maschinen regelrecht verurteilt, solange sie sich mit dem menschlichen Bewusstsein auseinandersetzen. Denn die artgerechte 17 Vgl. Puech 1986. 18 Boris Groys hat den Verdacht, der sich auf den ontologischen Status der Welt bezieht, als unhintergehbares Begleitphänomen medialer Präsentationen gedeutet. Er gibt aber zu bedenken, dass „man diesen Verdacht oft mit der Frage nach der Wahrheit oder Lüge des Zeichens und des Gesagten in den Medien [verwechselt]. Man sagt etwa, die Medien lügen oder die Medien simulieren, wie in diesen berühmten Simulationstheorien von Baudrillard und anderen.“ Entscheidend für Groys ist jedoch nicht „diese Fragestellung, die sehr interessant und wichtig ist“, sondern vielmehr „die Erfahrung, daß es eigentlich völlig gleichgültig ist, ob die Zeichen, die Bilder, die Medien uns die Wahrheit sagen oder die Lüge, ob sie simulieren oder nicht simulieren. Die wahren Zeichen, die wahren Bilder verdecken genauso den Grund ihrer Wahrheit wie die lügenhaften Zeichen den Grund ihrer Lügen verdecken. Auch in Bezug auf die Wahrheit muß man sich fragen: Warum ist diese Wahrheit plötzlich da? Warum bin ich mit dieser Art Wahrheit plötzlich konfrontiert?“ – Nach Groys besteht der „Urverdacht“ darin, „daß die größte Täuschung die Normalität ist, daß gerade der Ort der Normalität der Ort des maximalen Verdachts ist und daß die Zeichen der Versöhnung mit dem Alltag das Gefährlichste sind.“ (2000a, 86f., 95) Mit dem Verdacht und der Frage nach dem Grund, die er rücksichtslos aufwirft, sind bestimmte Erwartungen verbunden: „Jeder Verdacht ist zugleich ein Warten auf die Offenbarung. Der Verdacht nämlich ist überhaupt erst dann gegeben, wenn eine Offenbarung des Verborgenen als möglich gedacht und angestrebt wird – und sei dieses Verborgene dabei auch als das große Nichts gedacht.“ (Groys 2000b, 220)
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Haltung und Ausbeutung der versklavten Menschen erfordert Kenntnisse von den gattungstypischen Eigenschaften des homo sapiens. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass sich die Maschinen von bestimmten menschlich-allzumenschlichen Wesenszügen keine rechte Vorstellung machen können, obschon ihre fortschrittsversessenen Schöpfer sie ganz nach dem eigenen Bilde (des Individuellen und Gesellschaftlichen) entworfen haben, und das heißt: nach den Modellierungskonzepten der AI (Artificial Intelligence), die sich am singulären Gehirn oder Geist, und der DAI (Distributed Artificial Intelligence), die sich an erfolgreichen Formen sozialer Interaktion orientieren. Die neuen Maschinen wissen weit mehr, in manchen Punkten aber etwas weniger als die einstigen Konstrukteure; denn sie sind nicht allein Abkömmlinge der menschlichen Höhenkammforschung, sondern auch Ausgeburten jener emergent properties, die für jede Entwicklungsstufe charakteristisch sind, deren Strukturen sich nicht auf vorhandene Elemente und Kombinationsregeln der vorhergehenden Stufe zurückführen lassen. Diese Art des Fortschritts impliziert Lücken und Fehleinschätzungen. Wie der alerte Agent mit dem Allerweltsnamen „Smith“ in einem Gespräch mit Morpheus verkündet, wurde die Matrix zunächst als „eine perfekte menschliche Welt“ entworfen, in der niemand leiden und jeder glücklich sein sollte. Doch dieses Angebot, das mit geradezu paradiesischen Zuständen lockte, wurde (angeblich) zurückgewiesen. „Es war ein Desaster“, bekennt Smith, „die Menschen haben das Programm nicht angenommen“. Das gut gemeinte, aber unangemessen perfektionierte Simulationsgeschenk, mit dem die Maschinen aufwarteten, rief allerdings nicht allein die psychischen Abwehrmechanismen der Menschen auf den Plan, sondern führte auch zur Dysfunktion der Körper: „Es fielen ganze Ernten aus.“ Dieser erstaunliche Satz gibt kund, welche Schwachstelle das Modell des Cartesianischen Dualismus aufweist, das die Maschinen installierten, um ihr Energieverwertungsprojekt zu verwirklichen. Die Maschinen mussten erkennen, dass die Aufteilung des Menschen in einen stillgestellten Körper und einen agilen Geist nur dann funktioniert, wenn der Reiz-Stoff, mit dem das Bewusstsein versorgt wird, der anthropologischen Verfassung entspricht, die die Gattung erreicht hatte, als der Krieg zwischen Menschen und Maschinen zu Ende war. Smith erzählt, wie die Maschinen mit der Krise, in die sie unerwartet gerieten, fertig wurden und demonstriert die Überlegenheit des freudianisch inspirierten Maschinendenkens, indem er Morpheus klar zu machen versucht, dass seine Form des Widerstands gegen die Matrix nicht authentisch ist. Die ganze strapaziöse Rebellion beruhe nur auf der Trägheit des menschlichen Gehirns, das die Umprogrammierung der Matrix, den realitätsgetreuen Einbau von Schmerz- und Enttäuschungsdaten, nicht erkannt habe und weiterhin darauf insistiere, dem unerträglichen Paradies, das längst nicht mehr auf Sendung sei, zu entkommen:19 „Einige von uns glauben, wir hätten nicht die richtige Programmiersprache, euch eine perfekte Welt zu schaffen. Aber ich20 glaube, dass die Spezies Mensch ihre Wirklichkeit durch Kummer und Leid definiert. Die perfekte Welt war also nur ein Traum, aus dem euer primitives Gehirn aufzuwachen versuchte. Die Matrix wurde neu designed zu
19 Will Smith mit dieser Geschichte Morpheus klar machen, dass nur jene menschlichen Ernten das Desaster des Glücks überlebt haben, die an die Stelle des Glücks den Doppel-Mythos von Wahrheit und Freiheit gesetzt haben? 20 Beiläufig weist Smith darauf hin, dass der Supercomputer, der die Matrix erschaffen hat, auf der Basis der DAI arbeitet; denn er besteht offensichtlich aus mehreren selbständig operierenden Einheiten, die bei der Beurteilung der Lage zu unterschiedlichen Ansichten gelangen und ihre Meinungen ohne finales Konsensgebot austauschen, revidieren und beibehalten können.
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dem, was sie heute ist, der Höhepunkt eurer Zivilisation.“21 Für die Erstellung geeigneter Programme gilt unter den lernfähigen Maschinen nach den verlust- und aufschlussreichen Anfängen die praktische Devise: Das simulatorische Konstrukt der Matrix soll sich nicht anders als die psychoanalytische Kur darauf beschränken, das ganz normale menschliche Unglück, das in der Mitte zwischen neurotischem Leiden und uneingeschränkter Seligkeit angesiedelt ist, zu etablieren. Aber auch dieses Modell eines moderaten Cartesianismus, der bestimmte psychosomatische Konditionen in Rechnung zieht, liefert den Maschinen offenbar – so will es jedenfalls der plot der Gebrüder Wachowski – keine Garantie für das Wohlverhalten des menschlichen Bewusstseins. Denn das Bewusstsein (er)findet unweigerlich genau das Haar in der Suppe, das es braucht, um die Welt, so wie sie ist oder erscheint, zu verwerfen und zu überschreiten. Das Bewusstsein erweist sich als ein Phänomen, das sich unter beliebigen Umweltbedingungen mit endogenen Selbstirritationen versorgt. Diese Irritationen werden zwar dauernd auf die Welt projiziert und externen Zuständen zugerechnet, wirken dann aber derart auf das Bewusstsein zurück, dass die Kompetenz zur internen (sei es lust-, sei es qualvollen) Verstörung nicht leidet. Die Struktur des von Wachowski&Wachowski filmisch in Szene gesetzten menschlichen Bewusstseins ist großartig paradox. Und weil dies so ist, finden natürlich weder die im Doppelpack agierenden Autoren des Scripts noch die von ihnen imaginierten Maschinen ein widerspruchsfreies Konzept, um die Menschen davon abzuhalten, immer wieder einen fundamentalen Verdacht gegenüber dem allumfassenden Sein zu schöpfen, das sich zugleich durch Überfülle und Mangelhaftigkeit bemerkbar macht. Man kann die paradoxe Struktur des dargestellten Bewusstseins auch mit einer anderen Art von Skepsis beurteilen. Žižek hat sie in seinem Aufsatz über Matrix umstandslos als unlogische Darstellung der Realität entziffert und dem Skript angelastet. Die aufgezeigten ‚Fehler’ in der Realität gelten nämlich erstens als Indizien für deren scheinhaften Charakter22 und zweitens als unverzichtbare Ingredienzen der Normalität. „Die Unvollkommenheit unserer Welt ist darum“, so folgert Žižek, „zugleich das Zeichen ihrer Virtualität UND das Zeichen ihrer Realität.“ (2000, 65f.) Wenn beides zutrifft, kann eine vollkommene (d.h. die erforderliche Dosis an Unvollkommenheit enthaltende) Simulation der Realität nicht gelingen. Die Maschinen müssen zwangsläufig scheitern. Žižek sieht darin eine „radikale phantasmatische Inkonsistenz“ (ebd., 64) des Films: Der „Widerstand“, den die Realität leistet, kann nicht ein Element der conditio humana ausmachen und zusätzlich auch noch den entscheidenden Hinweis liefern, dass „etwas nicht stimmt mit der Welt“ (wie Morpheus es im Gespräch mit Neo23 formuliert). Diese auf den ersten Blick recht plausible Kritik wird aber durch das im Film entworfene Bild des Bewusstseins als eines extrem robusten und unbelehrbaren Fehlersuch(t)programms entkräftet. Der Einwand verliert überdies an Gewicht 21 Smith fährt fort: „Ich sage eurer Zivilisation, obwohl sie, als wir für euch das Denken übernahmen, auch zu unserer Zivilisation wurde, was natürlich der Grund für das ganze Unternehmen war. Evolution, Morpheus, Evolution. Wie die Dinosaurier. Sehen Sie aus dem Fenster, eure Zeit ist abgelaufen. Die Zukunft gehört den Maschinen, Morpheus. Unsere Zukunft ist angebrochen.“ 22 Mit diesem Trick arbeitete schon Rainer Werner Fassbinders Welt am Draht (1973, nach Daniel Galouves Roman Simulacron 3). Allerdings waren die Fehler erheblich: Eine Straße endet im Nichts und ein Kollege des Helden Peter Strom (Klaus Löwitsch) verschwindet spurlos. 23 Dargestellt von Keanu Reeves, der schon William Gibsons Cyberhero Johnny Mnemonic (1995, Regie: Robert Longo) spielte.
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durch die Figuren der Body-Mind-Relation, die der Film präsentiert. Im Drehbuch werden drei Konzepte für den unlösbaren Zusammenhang von Körper und Geist geliefert. Erstens müssen die Maschinen (wie bereits erwähnt) bei ihren anfänglichen Experimenten erleben, dass die menschlichen Körper absterben, sobald der Geist eine falsche oder besser: eine unpassende phantasmatische Nahrung erhält. Zweitens machen Morpheus und seine Anhänger die Erfahrung, dass Menschen, die in der Matrix getötet werden, nicht allein im virtuellen, sondern eben auch im wirklichen Leben sterben müssen. Neos Frage: „Wenn du in der Matrix getötet wirst, stirbst du hier?“ beantwortet Morpheus mit der kategorischen Auskunft: „Der Körper kann nicht ohne den Geist leben!“ Und drittens führt eine Liebeserklärung zur Wiederauferstehung des Fleisches, an das auch der Neo-Erlöser gefesselt ist, der sich – wie das merkwürdige Ende des Films24 verrät – freilich in seinem virtuellen Astralleib wohler fühlt als in der Haut eines realen Mannes, der die verkörperte Dreifaltigkeit begatten soll. Wer „seinen Trieb verleugnet, verleugnet genau das, was ihn zum Menschen macht“, offenbart der quirlige Software-Entwickler Mouse in apostolischer Runde beim ebenso nahr- wie ekelhaften Mittagsmahl, ohne zu ahnen, dass er bald den Opfertod in der Matrix finden wird. Für ihn, der die Femme fatale im roten Kleid kreiert hat, gibt es keine vorgesehene Rückkehr ins Leben. Die Lockrufe des Triebes aber, die Mouse so unbefangen angepriesen hat, überhört der schöne Held Neo mit dem signifikanten ‚Geschlecht, das nicht zwei ist’. Eine erklärungskräftige Theorie über das Verhältnis von Körper und Geist sucht man im Film Matrix vergebens. Wer würde auch diese Erwartung hegen? Das Maß an gekünstelter Intelligenz, das die Wachowski-Brüder aufbieten, dient anderen Zwecken. Žižek (2000, 66) hat deshalb allzu leichtes Spiel, wenn er die geäußerten Thesen über Leben und Tod in der Virtual Reality (VR) und im wirklichen Dasein erst beflissen ernst nimmt, um sie dann sachgerecht zu zerpflücken. Vor der Common-sense-Logik, die Žižek hier (weit energischer als gewöhnlich) verficht, hat der Film aus einem guten Grund wenig Respekt. Auf Kosten rationaler Stringenz bietet er nämlich szenische Arrangements und narrative Versatzstücke auf, um die Trennung von body und mind, die die Computertechnik nach Ansicht vieler Beobachter vollzieht, zu korrigieren.25 Dass Matrix nicht so vermessen ist, den Zusammenhang von Körper und Geist anhand der Verknüpfung von KameraAuge und digitaler Bildverarbeitung zu präsentieren, darf man den Regisseuren jedenfalls zu Gute halten. Hinreichend hybrid ist der Film allein deshalb, weil er im Medium Kino die Konditionen des aktuellen Kinos zugleich bestätigt und unterminiert.
24 Bronfen kommentiert: „Das letzte Bild zeigt ihn erneut in der Matrix. Diesmal ist er allein. Als ‚the one’ kann er nicht Teil eines romantischen Paares sein.“ (2000, 549) 25 Das Leibhaftige holt sogar Smith ein: „Ich will ehrlich mit Ihnen sein [Morpheus], die Wahrheit sagen: Ich hasse diesen Planeten, diesen Zoo, dieses Gefängnis, diese Realität, wie auch immer man dazu sagen mag. Ich halte es nicht länger aus, vor allem den Geruch, falls so etwas existiert. Ich bin seiner sozusagen überdrüssig. Ich kann riechen, wie Sie stinken. Und jedes Mal, wenn ich es rieche, fürchte ich mich infiziert haben. Es ist abstoßend, finden Sie nicht? Ich muß hier irgendwie raus, ich will endlich frei sein.“ Diese politisch höchst korrekte Erklärung, die ein Weißer einem Schwarzen gibt, ist eine treffsichere Anspielung auf den herrschenden Diskurs in den USA, der es nicht mehr zulässt, die Intelligenz oder das moralische Level eines Farbigen anzuzweifeln, aber die Möglichkeit bietet, olfaktorische Qualitäten ins Spiel zu bringen (vgl. Miller 1998).
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Als Zwischenergebnis unserer Überlegungen können wir also festhalten: Ohne den massenmedialen Charakter der filmischen Darbietung zu verleugnen, plädiert Matrix für eine radikal individuelle Mediennutzung, die jedem Akteur die Möglichkeit gibt, die eigene unverwechselbare Spur im Cyberspace zu ziehen. Nur wer sich aus den Fängen der universellen Simulation, dem globalen Einheitswahn, befreit, kann sich im Netz wiederfinden, ohne sich zu verstricken. Aber dieses Projekt allein reicht nicht aus, um eine sinnvolle Anwendung des Computers zu garantieren. Der Film versucht daher die Einsicht zu wecken, dass der reale Körper keine passive Operationsbasis für virtuelle Trips zur Verfügung stellt, sondern durch die Praktiken der VR-Nutzung stets in Mitleidenschaft gezogen wird. Der Dualismus von Körper und Geist ist ein okzidentaler Mythos, dessen Macht sich nur mit Hilfe von Gegenmythen brechen lässt. Solche Botschaften sind – trotz ihrer Schlichtheit – durchaus verdienstvolle Beiträge zum Diskurs über die Zukunft des Computers. Sie werden aber – so ließe sich einwenden – zunichte gemacht durch den penetranten ‚Jargon der Eigentlichkeit’, dem der Film huldigt. Schaut man etwas genauer hin, so löst sich dieser Vorbehalt wenn auch nicht gerade in Wohlgefallen, so doch in cineastische Nachsicht auf. Obschon Matrix eindeutig den neuen Kult der Authentizität bedient und sich einfügt in die derzeitigen populär-kulturellen Abgesänge auf Dekonstruktion (de Man, Derrida) und Konstruktivismus (von Foerster), so enthält der Film doch auch Elemente, die die propagierten Leitwerte des Echten und Realen in Frage stellen. Es handelt sich freilich nur um Hinweise und Anspielungen, welche in erster Linie den eigentümlichen Status des „Orakels“ innerhalb der Story betreffen. Die zentralen Werte, denen Morpheus und seine Gruppe anhängen, sind Wahrheit und Freiheit: „Du kennst diese Welt da draußen. Du kennst ihre Irrwege, und ich weiß, daß du die nicht gehen willst“ (Trinity zu Neo). „Die Matrix ist eine Scheinwelt, die man dir vorgaukelt, um dich von der Wahrheit abzulenken. [...] Du lebst in einem Gefängnis für Deinen Verstand“. „Bedenke, alles was ich dir anbiete, ist die Wahrheit, mehr nicht. [...] Solange die Matrix existiert, wird die Menschheit niemals frei sein“ (Morpheus zu Neo). Beide Werte geraten aber in einen unübersehbaren Konflikt miteinander, wenn der Wille zur Wahrheit nur auf Kosten der individuellen Entscheidungsfreiheit zu befriedigen ist. Freiheit impliziert Handlungsalternativen für das Subjekt und eine offene Zukunft, die durch eigene Taten gestaltet werden kann. Ohne Ungewissheit über künftige Ereignisse, ohne die Möglichkeit, dass Selbstentwürfe und Pläne scheitern können, ohne Risiken, die kalkuliert und bewusst übernommen werden, und ohne weitere Akteure, die die gleichen Spielräume haben, also im Prinzip unberechenbar sind, ergibt die Rede von Freiheit keinen Sinn. Dass die Mitglieder einer Widerstandsgruppe, die beständig tödlichen Gefahren ausgesetzt ist, den Drang verspüren, ihre Unsicherheit durch Rituale zu verringern, liegt auf der Hand. Die emsige Suche nach ungewöhnlichen bedeutungsvollen Zeichen, die in einer chaotisch und bedrohlich erscheinenden Welt Orientierung liefern und den richtigen Weg weisen, oder auch das ironische Spiel mit höheren Mächten, die ein bestimmtes Schicksal über die Gattung oder den Einzelnen verhängt haben, bedeutet noch keine definitive Preisgabe von Freiheit. Erst wenn Subjekte in existentiell entscheidenden Fragen von Zukunftsvoraussagen fremder Personen oder Institutionen abhängig werden, schwindet das Feld für Einsichten, Urteile und Handlungen, die aus Freiheit erwachsen. Schicksalsglaube geht weit über jenes Vertrauen hinaus, das Menschen aufbringen müssen, um soziale Komplexität reduzieren und Chancen, die sie erkennen, auch nutzen zu können (vgl. Luhmann 1968).
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Morpheus ist eine Figur, an der die Spannung von Wahrheit und Freiheit offenkundig wird. Wenn er über das grundsätzliche Verhältnis zwischen Mensch und Maschine sinniert und Neo von den Umständen erzählt, unter denen sich dieses Verhältnis zu Beginn des 21. Jahrhunderts völlig verkehrt hat, dann wahrt er noch eine gewisse Distanz zu seinem eigenen Fazit: „Man könnte fast glauben, das Schicksal treibe mit uns einen Scherz.“ Mit seinem unbeirrten Glauben an die Weissagung des Orakels, dass gerade er den auserwählten Erlöser finden und einweihen werde, entledigt sich Morpheus jedoch seiner Freiheit. Er wird zur Marionette einer Instanz, über deren eigentümliches Auftreten in der Matrix er keine befriedigenden Auskünfte geben kann.26 Gewiss ist nur: „Das Orakel war von Anfang an bei uns.“ (Morpheus) Es begleitet den Widerstand gegen die Matrix wie das Kantische Selbstbewusstsein alle Gedanken, zu denen das transzendentale Subjekt, das sich dauernd auf Objekte des Begehrens und Bezeichnens richtet, überhaupt fähig ist. Das Orakel (in Gestalt einer Plätzchen backenden Hausfrau) forciert und kontrolliert innerhalb der Matrix den Aufstand gegen die Matrix. Während die Besatzung der Nebukadnezar ihr buchstäblich hörig ist, fragen sich die Zuschauer im Kino (falls sie die Action-Dramaturgie des Films nicht gleich wieder ihrer Nachdenklichkeit beraubt), ob diese obskure Lady nicht eine besonders gut getarnte Agentin der Matrix sein könnte.27 Immerhin hat Morpheus Neo und die Zuschauer darüber informiert, dass „alle Wesen, die nicht von uns entkoppelt wurden, potentielle Agenten sind“. Wo sich der entkoppelte Körper des Orakels befindet (etwa auf einem anderen Schiff der Zion-Flotte), lassen die Autoren/Regisseure des Films sicher nicht ohne Absicht im Dunkeln des Kinosaals. Anlass zum schieren Staunen ist auch der Umstand, dass die Vorzimmer des Orakels von weiteren Anwärtern auf die Erlöserrolle bevölkert sind – ein östlicher Alter mit sichtlicher Meditationsneigung und einige kahlgeschorene Kinder, die sich ihre Zeit mit parapsychologischen Experimenten vertreiben. Eine Sprechstundenhilfe gibt Neo zu verstehen: „Das sind die anderen Kandidaten. Du kannst hier warten“. Offenbar ist Morpheus nicht der Einzige, der potentielle Auserwählte rekrutiert und überprüfen lässt. Würfel schweben in der Luft, ein Suppenlöffel biegt sich unter den magischen Blicken eines altklugen Knaben. Neo zeigt höfliches Interesse und erhält einen Crash-Kurs in radikalem Konstruktivismus: „Versuch nicht, den Löffel zu verbiegen, das ist nämlich nicht möglich. Versuch, dir stattdessen einfach die Wahrheit vorzustellen: Den Löffel gibt es nicht. Dann wirst Du sehen, daß nicht der Löffel sich biegt, sondern Du selbst.“ Natürlich folgt Neo dieser Anweisung und erweist sich wie zuvor schon beim Kampftraining als äußerst gelehriger Schüler. Warum aber kann er überhaupt wahrnehmen, was sich doch nur 26 Auch Trinity trägt zur Aufklärung nichts bei. Als Neo sie (während der Fahrt zum Orakel) fragt: „Was hat das zu bedeuten?“, antwortet sie: „Daß die Matrix dir nicht sagen kann, wer du bist“. Daraufhin Neo (ein wenig ungläubig): „Aber ein Orakel kann es?“ Und Trinity erwidert lakonisch und rätselhaft: „Das ist etwas anderes.“ 27 Manche werden vielleicht vermuten, dass es sich hier um eine filmische Übersetzung von Foucaults Analyse des paradoxen Zusammenspiels von Subversion und Systemstabilisierung handelt. Elisabeth Bronfen weist in ihrer Interpretation darauf hin, dass es zwei Indikatoren für die Schwäche der Matrix gibt: 1. beweist die Existenz der Agenten, „daß dem System ein zersetzender Kern inhärent ist“. Die Agenten schützen zwar das System, lassen aber zugleich den Schluss zu, dass es eine Waffe gegen die „Gesetze der binären Logik“ gibt, auf denen die Matrix beruht. 2. betreibt das Orakel – als ein von „der Matrix selbst produzierten Fremdkörper“ – die immanente Zersetzung des Systems, „indem es Geschichten in Umlauf setzt, wie Unvorhersehbares zur Notwendigkeit wird.“ (Bronfen 2000, 543)
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im Bewusstsein des esoterischen Novizen abspielt? Und warum bekommt er, wenn er schon von der Sicht zur Einsicht fortschreitet, nicht gleich die sprachlich entborgene Wahrheit, den wendigen Knabenkörper, sondern weiterhin nur den sinnlichen Schein, die gehorsame Verbeugung eines kleinen Stückes Materie vor dem überlegenen Geist des Menschen, zu Gesicht? Muss auch der verbalradikale Konstruktivismus des halbwüchsigen Zen-Meisters die Differenz von Kommunikation und Bewusstsein respektieren? Oder ist das Orakel bloß ein vorsätzliches Spektakel für Glaubenssüchtige, ein geschickter Scherz der Matrix, die den externen Beobachtern im Zuschauerraum zeigen will, dass ihr Schein von Notwendigkeit der angemaßten menschlichen Macht des Zufalls gewachsen ist? Der Gang zum Orakel wirkt wie eine spöttische Replik auf Morpheus’ These, dass ein auserwähltes Exemplar der Gattung Mensch letztlich den Maschinen (also auch den Agenten der Matrix) überlegen ist, weil es über den entscheidenden Faktor der absoluten Unberechenbarkeit, nämlich den freien Willen, verfügt. „Ich habe Agenten durch Beton gehen sehn, Maschinengewehrsalven hämmerten auf sie ein, trafen aber nur ins Leere. Ihre Schnelligkeit und ihre Kraft kommen dennoch aus einer Welt, die auf Naturgesetzen basiert. Aus diesem Grund werden sie niemals so stark und so schnell sein, wie Du es bist.“ Morpheus scheint tatsächlich zu glauben, dass die Maschinen trotz ihres Sieges über die Menschen noch keine geeigneten Programme auf der Basis einer mehrwertigen Logik oder einer fuzzy logic besitzen, mit denen sie stochastische Prozesse ‚realitätsgerecht’ modellieren können. Zuschauer, die Ray Kurzweils Bestseller The Age of Intelligent Machines von 1990 und The Age of Spiritual Machines von 1999 gelesen haben, mögen hier die Naivität der Figur oder die Bildungslücken der Drehbuchautoren belächeln, sie werden aber wahrscheinlich eher auf den Gedanken kommen, dass Theorie und Praxis der Befreiung, die Morpheus, Neo und Trinity ausüben, selbst bloß Elemente einer Supermatrix sind, die simulierte Maschinen gegen nicht weniger simulierte Menschen antreten lässt. Die angekündigte, aber bislang ausgebliebene Fortsetzung des Films (unter dem denkbaren Titel: „The Matrix strikes back“) könnte auf dieser Linie den Handlungsknoten schürzen, freilich auch Žižeks Einwände beherzigen und statt einer „Multiplikation der virtuellen Realitäten“, die schon in Fassbinders Welt am Draht aufschien, „die Multiplikation der Realitäten“ (2000, 50) vor die Kamera bringen. Der Film Matrix erweist dem neuen Medium Computer und dessen Potentialen in vielfacher, nicht allein technischer Hinsicht seine Reverenz, zugleich aber versucht er die Überlegenheit des alten Mediums (mitsamt des traditionellen Wertekosmos) zu demonstrieren. Aus dieser Doppelstrategie resultiert nicht zuletzt der Zuspruch eines großen Publikums und der enorme kommerzielle Erfolg des Produkts. Die Kinofiktion soll über die virtuelle Realität und den Cyberspace triumphieren, so lautet das Credo. Freilich reicht das Kino weder an die haptischen Erlebnisse der sogenannten ‚Immersion’ (des Eintauchens in die technisch-medial generierte Welt) noch die konkreten Formen der Interaktivität heran, die Computer heute bereits ermöglichen. Ein Kinobesuch beruht auf einer anderen, weit weniger komplexen Mensch-Maschine-Schnittstelle als ein (tatsächlicher, nicht bloß filmisch repräsentierter) Abstecher in den Cyberspace. Diese Rückständigkeit des Kinos leugnet Matrix keineswegs. Defizite und Mangelsituationen älterer Evolutionsstufen der Menschheits- und Technikgeschichte werden ausgiebig dargestellt und kommentiert, sie erhalten sogar einen symbolischen Status. Der bewusst registrierte Abstand zwischen verschiedenen Entwicklungsstadien wird zum Katalysator von Einsicht. So führt der singuläre Streifen Matrix das Medium Film als genau diejenige Repräsentationsform vor, mit deren Hilfe die Unterschiede zwischen
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Realität und Simulation, Wahrheit und Schein, die die Computertechnik zu verwischen droht, wahrgenommen werden können. Dabei haben es die Regisseure nicht auf eine Kritik am Computer abgesehen, sondern möchten einen Zusammenhang freilegen, der alles andere als offensichtlich ist: Allein im Cyberspace, der zeitgemäßen Testarena und Probebühne, erfahren die Menschen, wer sie sind und was in ihnen steckt. Doch diese Erfahrung setzt das Wissen um die „Wüste der Wirklichkeit“ voraus. Ohne den harten Kern einer Realität der Entbehrungen, die nur der Film aufzeigen kann, gibt es, so verkündet das alte Medium, keinen Zugang zu jener ‚reifen’ Identität, die sich erst im virtuellen Raum der neuen Medien herausbildet. Das Wachowski-Team bringt seine Botschaft mit einer Begleit-Semantik in Umlauf, die in einem seltsamen Missverhältnis zu der sozialen und technischen Struktur steht, auf die die Aufmerksamkeit des Publikums gelenkt werden soll. Semantiken haben mehrere mögliche Funktionen und Beschaffenheiten: Sie können erstens einen Strukturwandel initiieren, zweitens bestehenden Verhältnissen entsprechen und drittens Sichtweisen konservieren, die strukturell überholt sind.28 Zieht man dieses Modell zur Interpretation von Matrix heran, so liegt folgende These nahe: Der Film stellt die in vieler Hinsicht beunruhigende Computertechnik in einen Rahmen, der den vertrauten Sinnfundus und Wertekosmos intakt lässt. Wir hätten es demnach mit einem (gemessen an der Publikumsreaktion) erfolgreichen Versuch zu tun, strukturelle Umbrüche so zu beschreiben, dass ihre dramatischen und irritierenden Seiten unsichtbar werden.29 Aber betrachten wir die Sache noch etwas genauer. Matrix ist, darüber dürfte kein Zweifel bestehen, ein semantisch überdeterminierter Film, er wirkt selbst auf Fans phasenweise geschwätzig und pompös.30 Die Haupt-Figuren liefern – trotz aller Action-Szenen – permanent Begründungen, Meinungen, historische Rückblicke und philosophische Statements, die argumentativ zumeist nicht sonderlich überzeugend sind, aber durchweg den Eindruck erwecken, dass die rasenden Bilder, die Abläufe des Sichtbaren, erklärungs- und kommentarbedürftig sind. Der Film bäumt sich – wie es scheint – gegen eine bestimmte Tendenz des gegenwärtigen Kinos auf, die er selbst in den Kampf-Szenen auf die Spitze treibt. Gemeint ist die Tendenz, narrative Elemente zurückzudrängen und nur noch ein reines Spektakel zu liefern. Man nutzt die Computertechnik, ohne sie auf der Story-Ebene zu reflektieren. Je mehr digitale Spezialeffekte zum Einsatz kommen, desto sinnloser ist das Geschehen auf der Leinwand. „Erzählerische Logik und differenzierte Personenführung werden zweitrangig gegenüber einer Beschleunigung und Intensivierung des Wahrnehmungserlebnisses.“ Neuere Filme bieten in bisher nicht gekannter Weise „eine Häufung von Thrills, ein Stakkato extrem bewegter und visuell komplexer Sequenzen. [...] Die technische Durchführung wird zu einer Attraktion in sich. [...] Kino ist dabei, ganz und gar Technik zu werden und seine Aussagefähigkeit zur reinen Ausstellung von performance zu reduzieren.“ (Hoberg 1999, 202)31
28 Vgl. Ellrich 1995. 29 Man kann freilich auch die Computertechnik unter Anleitung einer solchen konservativen Semantik nutzen: Es existieren MUDs und MOOs, in denen Container-Räume erschaffen werden, die weder den lebensweltlichen Praktiken der Raumerschließung entsprechen noch die bestehenden progressiven Möglichkeiten der Raum-Simulation ausnützen. Vgl. Funken/Löw 2002. 30 Man höre nur Morpheus (zu Neo): „Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus.“ 31 Vgl. auch Engell 1992, 276ff.
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Wäre Matrix nur ein Element dieses marktgängigen Angebots, so würde das ‚verquaste’ Gerede (ähnlich wie in Pornofilmen) keine andere Funktion haben, als die erforderlichen Entspannungspausen zwischen den Höhepunkten zu füllen.32 Diese Sicht unterschlägt aber das zentrale Anliegen des Films. Matrix will den Zuschauern verdeutlichen, dass der Cyberspace jeder sinnhaften Selbstevidenz entbehrt, dass er konstitutiv interpretationsbedürftig ist: Ohne ambitionierten plot bliebe der Cyberspace leer.33 Die Erfahrung des virtuellen Raums sei überhaupt nur möglich im Kontext gehaltvoller Geschichten. Beweist dieses Desiderat aber mehr als die mediale Schwäche eines Spielfilms, der zwangsläufig in Darstellungsprobleme gerät, weil seine Handlung überwiegend in einer Welt angesiedelt ist, deren hervorstechendste Eigenschaften (die bereits erwähnten haptischen und interaktiven Qualitäten) Filme nicht angemessen vergegenwärtigen können? Oder gibt es soziale, kommunikations- und medienhistorische Gründe dafür dass, Matrix die Differenz von Film und Cyberspace nicht zeigt, sondern bloß aussagt und damit die bekannte Wittgensteinsche Figur einer Überschreitung des Sagens durch das Zeigen einfach umkehrt? Filme – dies zählt zu den wichtigsten Erkenntnissen der Medientheorie – besitzen ebenso wie Fotografien besondere Bezüge zur Realität. Sie versetzen ihre Betrachter in einen Zustand, den Jean-Louis Comolli als „frenzy of the visible“ beschrieben hat. Als man die neue Technik breiten Bevölkerungsschichten zugänglich machte, befand sich das dominante Zeichensystem, die Sprache, in einer tiefen Krise, deren vielfältige Ursachen die Forschung bis heute beschäftigen. Das Auftreten des Films kam einer Epiphanie gleich. Nach anfänglichen Schocks wurde er wie eine sakrale Begebenheit gefeiert. Nicht allein verstiegene Theoretiker (wie Krakauer oder Bazin) betrachteten den Film, der die Leistungen der Fotografie noch übertraf, als „Errettung der äußeren Wirklichkeit“. Beide Medien kompensierten, so ist zu vermuten, die moderne Krise der Sprache. Sie lösten das Problem des Weltbezugs „in einer Art Handstreich [...], indem sie die Ikonizität zu ihrer Grundlage“ machten „und die Ähnlichkeit mit dem Abgebildeten in der Konstruktion der Maschine selbst“ verbürgten. „Der Weltbezug, der im Medium der Sprache zunehmend problematisch geworden war, schien damit auf eine nahezu unumstößliche Basis gestellt und die fiktionale Dimension der Bilder immer zu dominieren. Die digitalen Bilder nun geben diese augenfällige und über 150 Jahre stabile Lösung auf. Weil das Bild nicht Abbild eines Gegebenen, sondern Produkt einer Synthese ist, scheint der Weltbezug wieder völlig [...] dem gestaltenden Subjekt und damit jedem nagenden Zweifel überantwortet, der die Sprache und die vortechnischen Bilder in ihrer welterschließenden Fiktion so nachhaltig beschädigt hatte.“ (Winkler 1994, 300)34 Heute werden die Bilder immer perfekter, aber sie sind er-
32 So sieht es etwa Martin Mittenmeier (1999): Statt „Irritation“ zu stiften, „verbindet sich der Hunger nach Eigentlichkeit mit einer medialen Leistungsschau.“ 33 Vielleicht so leer, wie jenes „Reale“ ohne Phantasma, von dem Žižek im Anschluss an Lacan spricht. Allerdings muss man sich bei dieser suggestiven Beschreibung mit der Ambiguität der Begriffe abfinden. Einerseits: „das Reale [...] ist die Leere, die die Realität unvollständig/inkonsistent macht und die Funktion jeder symbolischen Matrix ist die Verschleierung dieser Inkonsistenz.“ Andererseits: „Die Matrix selbst ist das Reale, das unsere Realitätswahrnehmung verzerrt.“ (Žižek 2000, 51, 57) Ob sich diese Ambiguität dialektisch ‚aufheben’ lässt, bleibe dahingestellt. 34 Eine vergleichbare Position nimmt Edmond Couchot ein: „Das synthetische Bild repräsentiert nicht das Reale, es simuliert es. [...] Das neue Bild legt nicht mehr durch die augenblickliche Einschreibung des Lichts Zeugnis ab und reflektiert es auch nicht,
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neut trügerisch. Auch die ambitionierten Film-Bilder von jener realen Welt, die Morpheus die „Wüste der Wirklichkeit“ nennt (zerstörte Städte, ein verdüsterter Himmel, endlose Reihen von Menschenkörpern in Glaswannen) sind nichts als simulierte Szenerien, über deren Prägnanz und Wucht sich streiten lässt. Ohne die abstruse Geschichte, in die sie eingebunden sind, ohne die mythischen Formeln, die ihre Bedeutung beschwören, wären sie nur beliebige Beispiele für all die computergestützten Spezialeffekte und Tricks, zu denen eine kapitalstarke Filmindustrie heute fähig ist. Wenn die Gebrüder Wachowski in ihrem Film ein diskursives Gebräu aus Esoterik-Essenz, Alice in Wonderland, Foucault für Fans und anderen leicht identifizierbaren Versatzstücken anrichten, bekunden sie damit nicht nur Misstrauen in die Überzeugungskraft der von ihnen benutzen Bildsprache, die nebenher als avantgardistische tour de force angepriesen wird, sondern unterstellen eben auch, dass die Chancen und Gefahren, Vor- und Nachteile, die die Computertechnik impliziert, erst dann hinreichend deutlich werden, wenn Mythen und Religionen, Märchen und philosophische Diskurse, neumodische Vorlieben für cooles Design und altmodische Vorstellungen von Heimat nach postmodernistischer Rezeptur herbeizitiert und vermengt werden. Darin liegt nicht unbedingt nur eine intellektuelle und filmästhetische Schwäche der Regisseure. Dieses Verfahren scheint eher symptomatisch zu sein für ungelöste Probleme im Umgang mit der Computertechnik. Das Auftreten des Computers ist mit sozial-strukturellen Umbrüchen verbunden, für die uns noch keine angemessene semantische Repräsentation zu Gebote steht. Kaum ein Film der letzten Jahre zu diesem Thema – auch nicht die künstlerisch weit imposantere Arbeit eXistenZ von David Cronenberg – führt uns die Inkongruenz zwischen Struktur und Semantik besser vor Augen als der kultige „Cyber-Sci-FiAction-Thriller der Superlative“ (so ein Werbetext) Matrix.
sondern es bezeugt eine Interpretation dieses Realen, die mit der Sprache ausgearbeitet und von ihr gefiltert ist.“ (Couchot 1991, 347f.)
14. D A S G U T E , D A S B Ö S E , D E R S E X . B E O B A C H T U N G D E S B E G E H R E N S I M TV-C O N T A I N E R Experimente von Menschen mit Menschen üben eine merkwürdige Faszination auf die beteiligten Akteure und das Publikum aus. Das Labor erscheint als Ort einer unter normalen Umständen verborgenen anthropologischen Wahrheit: Elementares und Substanzielles kommen schlagartig zum Vorschein. Die Komplexität und Unübersichtlichkeit der sozialen Welt wird beseitigt zugunsten einer einfachen und transparenten Situation. Hochartifizielle Arrangements führen zurück zur Natur. Man kann jetzt die Genese der gesellschaftlichen Ordnung beobachten und erhält überdies einen Einblick in die Seele des Menschen. Die Fernsehsendung Big Brother erzeugte mit voller Absicht der Macher diese obskure Aura des Labors, in dem ein Experiment stattfindet, das wichtige, gerade heute unverzichtbare Aufschlüsse liefert. Es wurde der Eindruck erweckt, dass man hier eine Versuchsanordnung gefunden habe, mit deren Hilfe sich entscheiden lasse, ob Konsens oder Dissens, Solidarität oder Rivalität, Liebe oder Hass unser Zusammenleben bestimmen und ob der einzelne Mensch letztlich gut oder böse ist. Der Erfinder des Formats, John de Mol, machte aus seinem metaphysischen Anliegen gar keinen Hehl und erklärte: „Wenn man bestimmte Umstände kreiert, öffnen Menschen sich tatsächlich. Das ist absolut die Wahrheit“. Beim Arrangement dieser „Umstände“, die das Innere der Menschen und die Grundgesetze des Sozialen offenbaren sollen, konnte de Mol von den Befunden einer inzwischen schon klassisch zu nennenden Fernsehtheorie profitieren. Joshua Meyrowitz hatte in seinem 1985 erschienenen Buch No Sense of Place die These vertreten, dass sich bei langanhaltender medialer Beobachtung die Verhaltensweisen der ins Visier genommenen Probanden ‚normalisieren‘. Durch den Gewöhnungseffekt gleicht sich das Gehabe auf öffentlichen Schauplätzen dem Benehmen im privaten bzw. intimen Bereich allmählich an. Es ist daher zu erwarten, dass in einer satte 100 Tage1 währenden Reality-Show die raum-zeitliche Anordnung schließlich Wirkung zeigt: die Masken der Subjekte fallen, die Individuen verlieren ihre Kontrolle und zeigen sich, wie sie im wirklichen Leben sind. Weil de Mol mit seinem Projekt aber mehr erreichen wollte als bloß die Veralltäglichung einer künstlich hergestellten und überwachten Situation, wurden die Zeitabläufe im Container einem strengen Reglement unterworfen. Die sich einschleifende Normalität des Verhaltens war durch Prüfungen, Diskussionsrunden mit vorgegebenen Themen, Sitzungen auf dem 1
Vielleicht wäre Herr de Mol gut beraten gewesen, das Big-Brother-Projekt auf 120 Tage anzusetzen. Dann hätte er auch noch die Anspielung auf de Sades Les cent vingt journées de Sodome auf sein Konto verbuchen können. Durch den Vergleich zwischen dem Hürther Containerleben und der abgekapselten Welt auf Schloß Silling im tiefsten Schwarzwald wären die Erwartungen sicher noch weiter angeheizt worden. Der Anspruch auf totale Libertinage, die soziale Autarkie der Örtlichkeit, die streng festgelegten Regeln etc. – es findet sich bei näherem Zusehen eine ganze Reihe interessanter Übereinstimmungen. Zlatko hätte wahrscheinlich gefragt: „De Sade – sagt mal ehrlich, muß man den kennen?“
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„Stuhl der Wahrheit“ etc. einer beständigen Irritationen ausgesetzt. Diese Strategie diente nur dem einen großen Ziel: die Kruste des Normalen aufzubrechen und den Blick auf das ‚Eigentliche’ freizugeben. In Anbetracht des Aufwandes, der getrieben wurde, um etwas bislang Verborgenes ans Licht zu zerren, mag es verblüffen, dass der Initiator den Ausgang des Experimentes bereits im Vorhinein kannte und auch preisgab. Das grandiose Unternehmen sollte gar nicht eine noch unbekannte Wahrheit ermitteln, sondern eine Meinung, die schon längst gefasst war, nur belegen.2 Für John de Mol stand nämlich fest: „Der Mensch ist eigentlich gut“. Allein durch soziale Konventionen, künstlich erzeugte Schichten- und Rassendifferenzen werde er daran gehindert, sich so zu geben, wie er von Natur aus ist (vgl. Minkmar 2000). Das ist also der letzte Schrei: Nackter Neo-Rousseauismus aus den Niederlanden, der das „Backto-basic“-Dasein anpreist und dabei noch Kasse macht. Das Medium verkörpert nicht länger, wie Marshall McLuhan mit seinem legendären Leitspruch von 1964 verhieß, die Botschaft, es hat endlich wieder eine, die sich sogar mit dem Adjektiv „froh“ schmücken darf. Dass der Name dieses heilsamen und hochmoralischen3 Medien-Experimentes auf ein berühmtes Buch (und natürlich auch auf dessen Verfilmung mit dem todkranken Richard Burton in der Rolle des triumphierenden Bösewichts O’Brian) anspielt, war beileibe kein Versehen, sondern auch wieder nur ein Zeichen für die besten Absichten, denen das Big-Brother-Projekt huldigte. George Orwell beschwor 1948 in seinem Roman 1984 eine Zukunftswelt, in der die totale Überwachung des Einzelnen Realität geworden war. Wer mithin den Satz „Big Brother is watching you“ zitiert, ruft unweigerlich Manipulation, Folter, Gehirnwäsche und verratene Liebe als drohende Gefahren der vollendeten Moderne ins Bewusstsein. Dieser Reflex soll – so lautete das Ziel de Mols und seiner Crew – nach der flächendeckenden Rezeption der Sendung nicht mehr erfolgen. Die Zuschauer werden von Big Brother zwar tatsächlich einer Gehirnwäsche unterzogen; aber die mediale Umerziehung hat das Gedeihen und nicht das Verderben der Menschen zum Ziel. Sobald der Gewinner des Spieles gekürt ist, soll auch dem letzten Betrachter klar sein, dass Orwells apokalyptisches Szenario im Jahre 2000 seine Bedeutung verloren hat.4 Big Brother wird sich dann als eine höhere Instanz erwiesen haben, die es nicht bloß gut meint mit den ihr anvertrauten zehn Schäfchen, sondern diesen auch noch die wohl dotierte Gelegenheit gibt, den guten Kern, der in ihnen steckt, peu à peu zum Vorschein kommen zu lassen.5 2 3
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Abgebrühte BeobachterInnen könnten hier die Zwischenfrage stellen: Trifft das nicht auf alle ‚erfolgreichen’ Experimente zu? Das müssen all jene glatt übersehen haben, welche im Vorfeld der Sendung von einer absehbaren Verletzung der Menschenwürde sprachen und den notwendigen staatlichen Schutz für verblendete Kandidaten einklagten, die sich freiwillig zum Freiwild für Gaffer und Spanner machen wollten. Vgl. hierzu auch die Analysen von Mikos (2000, 183-204). Aus der Tragödie soll also eine Komödie werden. Wie Hollywood einst die sinistre Kombination „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ in The Nutty Professor (1963 und 1996) verwandelt hatte, so macht Endemol aus dem Schrecken der Kontrollgesellschaft das besinnliche Vergnügen an der Big-Brother-Crew. Nebenbei gibt Herr de Mol uns zu verstehen: Damit man in den Genuss der neuen Einsichten gelangen kann, darf man freilich nicht kleinlich sein. Auch die Epiphanie des Guten hat ihren Preis. Manchen mag er zu hoch erscheinen. Andere werden finden, dass er doch schon längst entrichtet ist. Wie dem auch sei, man wird sich darauf einstellen müssen, dass der speziell in bürgerlichen Demokratien wertgeschätzte Unterschied zwischen einem privaten und einem öffentlichen Bereich an Gewicht ver-
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I. Die Beobachtung des Bösen Schenkt man einem Artikel von Jens Jessen in der ZEIT (2000b) Glauben, so ist John de Mols Konzept aufgegangen. Das Gute hat, von kleinen Beeinträchtigungen großzügig abgesehen, vor den Augen von Millionen Einzug in den Container gehalten. Wer sich durch die Werbekampagne zu der Annahme verleiten ließ, die eingesperrte Gruppe werde sich nicht lange mit Vorreden zur Überschreitung aufhalten, sondern umstandslos zur Sache gehen, sah sich getäuscht. Jessen machte sich zum Anwalt der Frustrierten und konnte auch gleich mit einer Erklärung aufwarten: „Der zivilisatorisch befriedete Mensch hat seine unfriedlichen Sehnsüchte behalten“, aber offenbar – so möchte man hinzufügen – vor dem Container in Aufbewahrung gegeben. Auch das gehört vielleicht zu den Routinen, die der zumindest äußerlich besänftigte Kulturmensch, der Jessen vor Augen steht, entwickelt hat. Oder haben die Einziehenden – jeder für sich – während der Zusammenstellung ihres leichten Gepäcks das leise „Du Darfst!“6, das ihnen die Erlebnisgesellschaft im Chor zuraunte, nicht vernommen? Stellten sie sich am Ende taub, weil sie Widerstand gegen die begierige Masse üben wollten? Ist es überhaupt zu begreifen? Möglicherweise trifft Jessen eine Unterscheidung, die die Probanden im Container missachteten, weil sie ihre Situation anders einschätzten als der anthropologisch versierte Journalist. Jessen suggeriert seinen Lesern, dass die Zuschauer, unter die er sich selbst gewiss einreiht, ihrer Sehnsucht nicht untreu werden, auch wenn sie permanent eine Enttäuschung erleben. Soziologen sprechen in solchen Fällen von normativen Erwartungen, die gegen Lernerfahrungen resistent gehalten werden, weil die Geltung der Norm höher steht als die schlichte Faktizität. Die Zuschauer fühlen sich also im Recht, sie haben einen legitimen Anspruch auf das Exzessive, wenn ihnen eine so obskure Mischung aus Realität und Fiktion angepriesen und dargeboten wird. Der „Erfolg“ der Serie beweist es. „Jeden Abend aufs Neue“ rechnet, wie Jessen behauptet, die TV-Gemeinde „mit dem endlichen Ausbruch der Gewalt und der Leidenschaft“. Der zivilisierte Mensch lässt sich selbst in seiner Alltagspraxis zu dergleichen natürlich nicht mehr hinreißen, aber er träumt noch davon. Und weil er die Medien für veritable Traummaschinen hält, die sich seinen Wünschen zu fügen haben, so erwartet er von ihren Programmen, dass sie ihn an Gewalt und Leidenschaft, die er durch strapaziöse Sozialisationsprozeduren zu meiden gelernt hat, wenigstens in effigie teilhaben lassen. So werden das Bedürfnis nach Sicherheit vor dem Bildschirm und das Bedürfnis nach Schrecken auf dem Bildschirm gestillt. Besonders intensiv ist die Befriedigung, wenn die Akte der Überschreitung echt sind und aus einer Entfernung, die vor Gefahren schützt, beobachtet werden können. Man ist dabei und doch nicht involviert. Genau diese attraktive Sonderform der Beobachtung hätte die Big-Brother-Sendung gewähren können, wenn die realen Mitspieler nicht gar so spröde gewesen wären. Alle Hoffnung war vergeblich. Man gab sich mehr oder minder genüsslich dem „Warten aufs Böse“ hin, „aber bei Big Brother wollte es sich noch nicht zeigen“. Anscheinend
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liert. Das verborgene Gute der privaten Existenz kann seinen Echtheitsbeweis nämlich nur im Scheinwerferlicht der medialen Öffentlichkeit erbringen. Eine intensive und umfassende Beobachtung ist deshalb ganz unumgänglich. Sie ist geradezu die Vorbedingung für die Wiederauferstehung und die Erkennbarkeit des immer schon vorhandenen Guten. Gerade jene differenzierten Verhaltensweisen, die das gesellige Leben in Demokratien scheinbar erträglich machen, erweisen sich im Big Brother-Test als einengende Konventionen und Effekte einer falschen Scham. Sie müssen in aller Öffentlichkeit überwunden und als Hindernisse des guten Lebens bloßgestellt werden. Vgl. zu dieser Parole die Studien von Slavoj Žižek (1999, 77ff.).
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waren – um im schaumigen Kielwasser von Jessens Ergüssen zu verweilen – die Lebensbedingungen im Container trotz aller Einschränkungen zu „zivilisatorisch“. Auch die Mitspieler waren zum Träumen verurteilt und nicht zum transgressiven Handeln motiviert. So saßen sie an manchen Abenden einfach vor dem entkabelten Fernsehgerät und zogen sich wie brave Bürger Videofilme rein, z.B. James Camerons Opus „Titanic“, das im sauberen Rahmen der Fiktionalität von all den Entgrenzungsgeschehnissen handelt, die Jessen und seine konstruierte Zuschauerhorde gerne als Aktionen im Container miterlebt hätten. Folgt man den Einlassungen von John de Mol, so liegt der Witz der medial hinreichend raffiniert hergestellten Versuchsanordnung darin, die geweckten Erwartungen zu enttäuschen und die Zuschauer zu einem anderen Genuss zu bekehren. Nicht eine Sehweise, die durch das Erspähen von „kleinen Gesten der Gier und Gewalt [...] die Hoffnung auf das große Böse“ wachhält (Jessen 2000b), wird antrainiert, sondern ein Blick, der die Banalität des Bösen erkannt hat, zugleich aber auch bemerkt, dass die Banalität ihre bösen Seiten hat. Das bereitwillige Einfügen in die „reine ‚langweilige‘ symbolische Form einer Ordnung, die von allen imaginären Spuren [...] befreit“ ist (Žižek 1999, 93), stiftet vielleicht einen Mehrwert des Genießens, der durch rohe Exzessivität nicht zu erlangen ist. Die Big-Brother-Sendung hat das Feld des Bösen in Zonen der Anwesenheit und der Abwesenheit unterteilt. Dieser aufschlussreiche Effekt wird übersehen, wenn man nur auf die Vorgänge im Container achtet. Im Haus und im Garten der umzäunten Hürther Anlage besitzen die Feststellungen von Jessen gewiss Gültigkeit. „Die Bewohner des künstlichen Käfigs verhielten sich nur maßvoll mißgünstig“. Es gab tatsächlich nur kleine Intrigen, allzumenschliche Boshaftigkeiten und recht harmlose Sticheleien. Der Konfliktpegel im Container blieb unter den Margen, die für vielköpfige WGs üblich sind. Kostproben einer schichtenspezifischen Streitkultur konnte der soziologisch interessierte Zuschauer nur selten erhaschen. Die Spannungen zwischen der Proll-Fraktion und der Abi-Abteilung waren unübersehbar, aber alles andere als knisternd. Und doch lag das Böse förmlich in der Luft. Es suchte (wie jene autopoetische Kommunikation, die Niklas Luhmann systemtheoretisch beobachtet) in einem fort nach Anschlüssen und fand sie mit Leichtigkeit. Während im Container eine Form der Konfliktvermeidung oder -bemäntelung betrieben wurde, wie sie für das Innenleben archaischer Stammesgesellschaften typisch war, deren Mitglieder sich unvermeidlich Tag für Tag face to face begegneten, ließ das Böse sich mitunter beim Massenauflauf der Fans und Feinde vor dem Container blicken. Sprechchöre, die „Manu raus!“ skandierten und Plakate mit Hass-Parolen schwenkten, vermittelten einen Eindruck von den Affekten, die das Big-Brother-Projekt zwar nicht unter den Mitspielern, aber dafür um so heftiger bei den Zuschauern hervorzurufen vermochte, und besonders dann, wenn diese sich zu einer anonymen Meute zusammenballen konnten. Von den maßvollen container-internen Grenzüberschreitungen zogen jene, die auf das Konto von Jürgen und Zlatko gingen, das meiste Interesse auf sich. Als rheinischer Spaßvogel par excellence, der sein humoriges Pflichtprogramm termingerecht absolvierte, verkündete Jürgen am 1. 4., er wolle das Haus vorzeitig verlassen. Dieser Aprilscherz löste bei den Fans einen Sturm der Entrüstung aus: Über derart ernste Dinge dürfe man keine Witze machen, hieß es. Schlagartig verlor die Jürgen-Aktie an der Online-Börse ihren Spitzenplatz. Doch schon bald war alles vergeben und der Kurs zog wieder an. Altlinke und gesinnungsethische Wollsockentreter, die beim Anschauen von TV-Trash noch immer den inneren Schweinehund überwinden müssen, blieben allerdings hart. Für sie war Jürgen ein “eitles Ekelpaket”. Und die Möglichkeit, dass “das schleimigste, verlogenste und spießigs-
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te Mitglied der Wohngemeinschaft das Spiel gewinnt”, wurde geradezu als bedrohlich empfunden (Bröckers 2000). Bei Zlatko lagen die Dinge anders. Er erreichte Kultstatus, weil er – unschuldig wie Kinder und Toren – geltende Standards missachtete. Diabolische Reflexionen waren ihm fremd. Ohne zu zögern, verließ er die normalistischen Zonen der Durchschnittsbildung und des moralisch guten Tons. Wer Shakespeare war, weiß kein Mensch; nicht einmal philologische Profis können uns sagen, ob es sich um einen Kaufmann aus Stratford-upon-Avon oder einen gewissen Earl of Oxford gehandelt hat. Zlatko demonstrierte mediengerecht, das man das Unentscheidbare ignorieren darf und in Sachen Höhenkammliteratur am besten nach dem Motto ‚As you like it‘ oder ‚What you will‘ verfährt. Erlaubt ist schließlich, was gefällt und Quote macht. Die TV-Zuschauer hatten jedenfalls ihr fast ungetrübtes Vergnügen an diesem durchweg unverblümt und unverbildet dreinredenden Mischkulturphänomen. Zlatko erwies sich auch als clever genug, die Kriterien für Gruppenzugehörigkeit und störende Andersartigkeit bedenkenlos anzuwenden: Auf den EndemolSlogan „Du bist nicht allein!“ lieferte er extra für ‚Chicken-Tom‘ das Echo: „Du paßt hier nicht rein!“ Die gastronomische Empfehlung, „Hühnerkopfhirn“ mit dem „Strohhalm aus(zu)saugen“, werden nur anspielungsversierte Beobachter als Tip zur Direktverwertung von Toms überforderter Informatikergrütze aufgefasst haben. Zlatko, The Brain, gab freilich nicht nur kryptische Kommentare zur Softwarekrise ab, er zeigte überdies allen, die es sehen und hören wollten, wie man unpolitisch, aber korrekt mit Frauen umzugehen hat: Solange sie sich nur als Volksschullehrerinnen aufspielen und den Bedeutungsunterschied zwischen „Homo“ und „homogen“ erklären, so sollte Mann jovial reagieren, einfach mal gestehen: „Jetzt haben mich Frauen aufgeklärt“ und ganz nebenher die dämliche Wortspielerei mit Hilfe der griffigen Differenz von „sexueller“ und „charakterer Basis“ ins rechte Licht setzen. Wenn Frauen allerdings beständig herumzicken und nerven, so darf man ruhig einmal vor versammelter Mannschaft und laufenden Kameras verkünden: „Der hau ich in die Fresse“. Das sitzt und begeistert selbst weibliche Fans. Auf die öffentliche Ausführung des Vorhabens kann man dann ungestraft und ohne Sympathieverlust verzichten. Die externen Beobachter der Container-Szene zogen sich weniger maßvoll als die Bewohner aus der Affäre: Während Jens Jessen, der am Puls der ZEIT auf das Böse wartete, Zlatko noch das Prädikat „gutmütig“ (2000a) verlieh, ging mit Christoph Schlingensief die Phantasie durch. Der schwäbische Automechaniker mazedonischer Herkunft geriet ihm in einem Artikel für die Frankfurter Rundschau zum Inbegriff des brutalen Söldners. Schlingensief richtete einen regelrechten postmodernen Tumult der Assoziationen an: Phantom-Zlatko „kommt aus dem Osten, hat rumänische Vorfahren und kämpfte zu Zeiten des Kosovokrieges, der als Vorlage für Big Brother herhalten muß, auf deutscher Seite gegen die Kosovo-Albaner“. Dies waren – wie man bald darauf erleben konnte – nur Aufwärmvisionen für den Ausländer-raus-Container, der die faden Wiener Festwochen zum spektakulären Medienereignis aufpeppte. Auch hier gab es selbstverständlich hohen Besuch: Statt der Spinatwachtel Verona Feldbusch, die Hürth heimsuchte, fand die honorige Lustlyncherin Elfriede Jelinek als Gaststar Einlass im schaurig-schönen Müllbehälter vor der Staatsoper. Detlef Kulbrodt hing in der taz etwas anderen Träumen nach: „Wenn Big Brother ein Film und keine Doku-Soap wäre, wären die Rollen von Gut und Böse eindeutig verteilt. Der große Böse wäre der Sender mit seinen ekligen ModeratorInnen. Einer aus der Gruppe – vielleicht ein Pärchen – würde kurz vor dem Ziel re-
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bellieren, mit viel trara aussteigen und als Held gefeiert. Das Szenario ist nicht ganz unwahrscheinlich. Die allgemeine Sehnsucht nach dem Leben wie im Film wird ja immer begleitet von dem Wunsch, aus dem veranstalteten Leben auszubrechen. Emanzipieren kann sich nur der, der gegen den Veranstalter rebelliert. Möglich wäre es auch, daß Zlatko eine Geisel nimmt und das doppelte Preisgeld fordert“ (Kuhlbrodt 2000). Bereits eine Woche zuvor hatte ein „csch“ (ebenfalls in der taz) unter dem verheißungsvollen Titel „Ein Tag bei Big Brother wie er nicht stattfinden wird“ sich allerlei Raues ausgemalt: „Eine gewisse ‚Aktionsgruppe Kleine Schwestern-Terror‘ droht, den einjährigen Sohn von John zu entführen. Johns Freundin und das Kind sind nirgends aufzufinden. EndemolGeschäftsführer Axel Beyer rechtfertigt die Entscheidung, den Vater im Container zunächst nicht zu informieren. Wenig später Entwarnung. Die Polizei hat die beiden gefunden. Johns Freundin habe ‚bloß einen Gag‘ machen wollen, um ihm ‚größere Chancen‘ zu geben. Der im Sat.1-Magazin ‚blitz‘ geäußerte Verdacht, Endemol habe vom KidnappingFake gewußt, weist Beyer zurück. Am Abend, kurz nach der Big Brother-Sendung, gegen 21.30 wird es dramatisch …“ usw. (csch 2000, 3)
Eine wesentlich schärfere narrative Gangart wählte am 11. 5. (ebenfalls in der taz) dann Fritz Tietz. Die Geiselnahme auf Jolo, die mit dem Big Brother-Event um die Headline der BILD-Zeitung konkurrierte, wurde von dem enthemmten Autor als „philippinische Variante der TV-Sendereihe Big Brother“ präsentiert: Für die „weltweite Vermarktung (fordern) die Rebellen nunmehr eine erfahrene Produktionsfirma sowie einen leistungsstarken Sender“. Man benötigt „tropenfeste Kameras“, damit „die Rund-um-die-Uhr-Beobachtung der Geiseln“ gewährleistet ist. „Bundesaußenminister Joschka Fischer zeigte sich [...] erleichtert darüber, dass sich die vermeintliche Geiselnahme als ‚harmlose TV-Show‘ entpuppt hat“ und wünschte dem „Geisellager [...] eine möglichst hohe Einschaltquote.“ (Tietz 2000) Klar war, dass diese Art der Satire bei manchen taz-Lesern Empörung hervorrufen musste. So führte man Klage über das gewählte „Niveau“ der „Auseinandersetzung mit der Rolle der Medien im Krieg“ und erinnerte den offenbar recht unbekümmerten Autor daran, dass „die Sprache eine Hure sein (kann)“ und dass „ein zynisches Spielchen von einem Berliner Schreibtisch aus“ die Sache „nicht besser“ macht. (taz, 15. Mai 2000, 12) Vollzieht man nach dem Übergang vom Fernsehereignis zum Presserummel noch einen weiteren Medienwechsel, so gewinnt man unweigerlich den Eindruck, dass Big Brother zwar „Brücken zwischen alten und neuen Medien baut“, wie de Mol in einem Spiegel-Interview verkündete (2000, 104), aber diese sogleich mit Tretminen bestückt. Wer sich nämlich mit Jens Jessen zu der Meinung bequemte, dass Big Brother „gemessen an der Angstlust, von der die Sendung begleitet wurde, eine große Enttäuschung war“, musste sich (wenn er nur Augen und Ohren aufsperrte und die Computertechnik halbwegs zu nutzen verstand) nicht nur durch den oben riskierten Blick aufs massenhaft Gedruckte, sondern auch durch eine Surfstunde im Internet eines Besseren belehren lassen. Das sogenannte „Böse“, das auf dem Fernsehbildschirm zu „kleine Gesten der Gier und Gewalt“ geschrumpft war, konnte im derzeit avanciertesten Kommunikationsmedium zwar nicht alltags-pur, dafür aber im grellen Gewand der virtuellen Realität genossen werden. In eigens installierten Diskussionsforen wurde nicht allein ausgiebig darüber spekuliert, wer unter den KandidatInnen sich alsbald mit wem verbünden würde, um einen besonders missliebigen Mitspieler rüde rauszukippen. Hier war auch der für jedermann/
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frau zugängliche und juristisch ganz unverfängliche ‚Raum‘ ausfindig zu machen, in dem sich unbehelligt eine Gruppe maliziöser Cyber-Figuren traf, um den Meuchelmord an Manu, der „Kondome lutschenden“, „kotzenden“, „kichernden“, „nölenden“, „nervenden“, „nichtsnutzigen Schlampe“ (Chatmaterial), zu propagieren. John de Mol betonte in seinem ‚Geheimen Regelbuch für die Mitwirkenden der Endemol-Produktion‘ zu Recht, dass es sich beim „Big-Brother-Projekt“ um „ein Medienereignis“ handelt, welches andere Medien zu parasitärer Teilhabe verlockt. Es ist also nicht verwunderlich, wenn Fernsehen, Presse7 und Internet im Zuge der Projektdurchführung eine Art Medienverbund ergaben. Man muss jedoch festhalten, dass die einzelnen Elemente dieses Verbundes zur Erzielung der enormen Gesamtwirkung inhaltlich und formal recht unterschiedliche Beiträge leisteten. Speziell der Grad jener moralischen Entgrenzung, über die ja im Vorfeld der Sendung viel gesprochen wurde, variierte erheblich in den genannten Medien. Diese Differenzen hängen nun nicht allein mit deren technischen Eigenarten zusammen, sondern auch mit den Vorstellungen, die die Nutzer von den jeweiligen Medien hegen. Während das Fernsehen eine eher schichtenunspezifische para-soziale Nähe zu den Konsumenten herstellt und die Presse durchweg die Bildung von Lesergemeinden mit ganz bestimmten Meinungsspektren und ethischen Reflexionsstilen begünstigt, ermöglicht das Internet die Schaffung einer neuartigen Form anonymer Direktheit. Zahlreiche Netz-Akteure haben ein ausgeprägtes Elitebewusstsein und verwenden das weltweit zugängliche und kaum kontrollierbare Medium, um etablierte Grenzen zu überschreiten und den Sachen auf den Grund zu gehen.8 Die Thematisierung und Entfesselung des ‚Bösen‘, die man im Kontext der Big-Brother-Events beobachten konnte, mögen durchaus Anlässe zur Besorgnis sein. Sie sind aber auch Indizien für eine vielleicht unvermutete Medienkompetenz. Diese Fähigkeit im Umgang mit Medien zeigte sich z.B. daran, dass eine große Zahl von Nutzern die alten bewährten Unterscheidungen zwischen Sein und Schein, Alltäglichem und Außeralltäglichem, Ernst und Spiel, Inhalt und Form nach wie vor beherrschte und auf die differierenden Angebote bzw. Verwendungsweisen der einzelnen Medien sinnvoll beziehen konnte. Den Fernsehzuschauern war zumeist vollkommen klar, auf welchen Seiten der angeführten Unterscheidungen die medial präsentierten Ereignisse einzuordnen waren, die die Theoretiker unter dem Begriff „performatives Realitätsfernsehen“ verbuchten. Man beurteilte die Akteure im Container letztlich nach ihrer Sozialverträglichkeit, also nach der Leistung, die sie bei der Bewältigung von Problemen erbrachten, mit denen sich auch die Zuschauer im normalen Leben herumschlagen müssen. Streitlust, allzu exzentrisches Auftreten und heikle Gespräche, die ans ‚Eingemachte‘ gingen, wurden weit weniger positiv gewertet als etwa lockere Sprüche und Verhaltensformen, die ein geselliges Beisammensein ohne kraftraubende Kräche ermöglichten. Die gewöhnlichen Big-Brother-Fans, die die abendlichen Zusammenschnitte im Fernsehen verfolgten, Berichte und Kommentare in Zeitungen und Illustrierten lasen und sich intensiv mit Kollegen und Freunden über die Sendung unterhielten, wählten zu Sympathieträgern robuste Verdrängungs- und Aufmunterungskünstler, die sich mehr um ihre gestylten Bodies als um den Weltzustand sorgten, und erkoren zu Helden gerade solche Personen, die sich durch ihr reichlich unheroisches Gerede und Getue auszeichneten.
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Hier sind insbesondere BILD, Bravo, DER SPIEGEL, taz, DIE ZEIT und das „exklusiv zur Serie!“ produzierte Event-Blättchen zu nennen. Vgl. Ellrich 1999e; 2000.
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Ganz anders votierte und verhielt sich (wie erwähnt) eine beachtlich große Gruppe fanatischer Internet-User. Diese Big-Brother-Jünger bezogen medial erschlossene Räume, in denen sie unkenntlich und unbelangbar waren. Hinter den digitalen Schutzschildern, die die Computertechnik bereitstellt, trieben sie ein obszönes und feiges Spiel: Spott und Hohn, Geilheit und Mordlust wurden kommunikativ vernetzt, ohne dass auch nur eines der beteiligten Subjekte für sein virtuelles Hantieren öffentlich einstehen musste.9 Man könnte diese Vorkommnisse mit moralischer Emphase als abgeschmackte und empörende Praktiken verurteilen oder mit soziologischer Abgeklärtheit zu belanglosen Randphänomenen im weiten Feld der Big-Brother-Effekte erklären. Beides wäre zu einfach; denn auch bei den Internet-Berserkern macht sich die oben konstatierte Medienkompetenz bemerkbar. Es handelt sich um die bemerkenswerte Fähigkeit, für bestimmte Inhalte die passenden medialen Ausdrucksformen zu finden und sie funktional in die jeweiligen sozialen Kontexte einzufügen. Auch die Sünder, die das Internet bevölkern, haben ein Credo: Wenn es schon unvermeidlich ist, dass das Böse als Zeichen absoluter menschlicher Freiheit zur Präsenz gelangen muss, dann wenigstens nur in einer realitätsfernen virtuellen Sphäre und in einem (gemessen an den Zahlen der Fernsehzuschauer) ziemlich kleinen Kreis von Akteuren und Rezipienten. Dieses Glaubensbekenntnis lässt sich natürlich noch metaphysisch überhöhen. So meinen etwa manche Vertreter der ‚digitalen Elite‘, dass mit der Erfindung des Computers die reale Welt endlich vom Bösen erlöst wird. Die Technik zur Konstruktion virtueller Welten erscheint ihnen als wahrhaftige Inkarnation des Bösen, dem sie allein deshalb verfallen dürfen, weil es „das perfekte Verbrechen“, die vollständige Auflösung der Wirklichkeit, ermöglicht (vgl. Baudrillard 1996). All denen aber, die vor dem Fernseher hocken blieben und nicht ins Internet abhoben, rief Big Brother zu: Schaut nur, ihr seid gar nicht böse, abgründig und exzessiv, sondern sammelt Abend für Abend die Rabattmarken der Sozialverträglichkeit. Die Alltagskost, die leichte, bekömmliche Langeweile bedeutet euch mehr als jegliche Grenzüberschreitung. Und wenn euch einmal die Lust aufs ganz Andere packt, so gebt ihr ruhig nach, doch haltet euch an die Regel: Schnell und schmutzig sollt ihr genießen und danach wieder auf Sendung gehen. Denn dort findet ihr das wahre, lang währende Leben. Bleibt vor dem Schirm, ihr habt Zeit, mehr als genug. Alles, was dauert und dem Gesetz der Serie folgt, ist schmerzlos und moderat, es hält euch bei Laune und spendet euch das große Behagen. Big Brother gab also Einführungskurse zum Thema Ökonomie des Genießens. Aber lässt sich auch die sinnliche Liebe diesen moderaten Maximen unterwerfen? Sind die Medien der Ort, an dem die erotische Libertinage zugleich propagiert und gebändigt werden kann?
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Es entsteht hier eine neue Arkanzone für passive Voyeure und aktive FlamingVirtuosen. Denn man kann sich im Netz nicht nur der totalen Beobachtung aussetzen (wie etwa die berühmte Jenni mit ihrer inzwischen vielfach imitierten „livecam“Performance), sondern auch Beobachterposten beziehen, die (zumindest beim gegenwärtigen Stand der Technik) unbeobachtbar sind. Roger Willemsens interessante Behauptung, mit den neuen Medien ändere sich die Lage des Voyeurismus fundamental, ist daher etwas voreilig. Der „klassische Voyeur“, der „die Bilder und die Lust daran“ erlitt, findet im Netz seine Nischen und hat noch nicht zugunsten des „modernen“ Spanners abgedankt, der „von den Blicken der Bilder zum Voyeur und zur Lust am Bild verurteilt“ wird (Willemsen 2000a).
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I I . D a s B e g e h r e n d e r B e o b ac h t u n g Als Ende der siebziger Jahre – längst waren die heftigen Turbulenzen der sexuellen und politischen Befreiungsversuche abgeklungen – die „Neue Liebesunordnung“ (Bruckner/Finkielkraut 1977) von sich Reden machte, stand das Leitmedium Fernsehen noch auf Seiten der alten sittlichen Werte. Zehn Jahre später sah dies (zumindest in der BRD) schon anders aus. Öffentlich-rechtliche und private Sender konkurrierten nun um die Aufmerksamkeit des Publikums und lockten mit Einblicken in die ganz normale Abgründigkeit des Liebeslebens. Paarungsspiele, Hochzeiten, Ehekrisen und Versöhnungsfeste waren Gegenstand mehr oder minder unterhaltsamer Fernsehsendungen.10 Die Spannung zwischen den Zwängen des Alltags und den modernen Liebesobsessionen wurde aufgegriffen, andiskutiert und in ruhige, fast therapeutische Gewässer geleitet. Jahr um Jahr öffnete man die Büchse der Pandora ein wenig mehr und sah, daß es halb so schlimm war. Die Geständnisfreude wog – wie es schien – den Tatendrang auf. Ob die Sendungen zur realen Nachahmung oder zur imaginären Kompensation anregten, vermochten die Medienforscher nicht zu klären. Und so hielt der Trend an. Bald war man aus erster Hand vertraut mit der ganzen Palette sexueller Perversitäten und neurotischer Ticks. Talkshows ersetzten die Beichtstühle und Analytikerliegen. Alle gärenden Früchte, die beim Striptease von Körper und Seele auf der Mattscheibe serviert wurden, konnte man sich munden lassen zu immerfort anziehenden, aber erschwinglichen Gebühren. Der erotische Boden für die Liebesversuche11 im Big-Brother-Format war bereitet; denn mit dieser Extremshow12 sollte ja nicht nur das Gute über das Böse den Sieg davontragen, sondern auch guter Sex geboten werden. Gut ist der Sex, den man nur am Bildschirm beobachtet und nicht selbst praktiziert, aber allein dann, wenn er mit dem Salz des Realen gewürzt ist. Die Phantasie benötigt zu ihren Höhenflügen als Treibstoff ein Stück (und sei es noch so winzig) von jener Wirklichkeit, die sich weder in Zeichen noch in Bilder auflösen oder vervielfältigen lässt. Jeder weiß, daß eine entblößte Studentin im Unitheater mehr Zuschauer anlockt als ein gleichzeitig im Audimax gezeigter Erotikklassiker, der z.B. Nagisa Oshimas grandioses Reich der Sinne erschließt. Auf Seiten der Big-Brother-Macher ebenso wie auf Seiten der Zuschauer wurde mit einer wie auch immer gearteten Form der ‚Paarbildung‘ gerechnet. Dafür sprach auch die Erfahrung mit der holländischen Staffel, die im Herbst 1999 ausgestrahlt wurde.13 BILD titelte ganz unverblümt: „Ganz Deutschland wettet – Wer schläft zuerst mit wem?“ Die experimentelle Situation im Container, die fünf Männer mit fünf Frauen konfrontierte, schien unter dem Motto zu stehen: Gelegenheit macht Liebe und anfängliche Verlegenheit steigert nur die Triebe. Das war allen Beteiligten klar. Sie wussten nicht nur, dass sie unter Beobachtung (und in vieler Hinsicht unter Kuratel des Senders) standen, dass ihnen ein erkleckliches Preisgeld winkte und am Ende vielleicht sogar Kultstatus und Prominentenaura würde zufallen können, sondern
10 Vgl. Keppler 1994; Müller 1999. 11 Was wäre geschehen, wenn Kerstin – „die Intelligenteste aus dem Container“ (Willemsen 2000b, 33) – Alexander Kluges Erzählband Lebensläufe ins Haus mitgenommen und dort den kurzen Text „Ein Liebesversuch“ vorgelesen hätte? 12 Siehe Mikos u.a. 2000, 27. 13 Es kam zur Liebesgeschichte zwischen Sabine und Bart, dem späteren Sieger.
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sie wussten natürlich auch, dass hohe Erwartungen, die sich niederen Instinkten verdankten, auf sie gerichtet waren. Die Container-Insassen erfuhren also das potenzielle eigene Begehren zunächst einmal als öffentlich bekundetes Begehren der Anderen. Bevor sie als Teilnehmer des Spiels schließlich aufeinander trafen, um sich unter dem Gesichtspunkt zu beobachten, ob das erotische Verlangen auf der Bildfläche erscheint oder fernbleibt, stand ihnen das unermessliche und dennoch in Zuschauerquoten abzumessende Begehren der Umwelt vor Augen. Um das uralte und doch immer wieder aufregende ‚Spiel der Geschlechter‘ erfolgreich in Gang zu bringen, hatte der Sender etliche Vorkehrungen getroffen. Eine anspielungsreiche Werbekampagne sorgte für die nötige Einstimmung. Die passenden Kandidaten waren zahlreichen Eignungstests und Prüfungen unterzogen worden. Zudem hatte man Ersatzleute rekrutiert, die ggf. an die Stelle von Aussteigern treten und das Geschehen in die erwünschte Richtung lenken sollten.14 Dass Menschen bekanntermaßen eine gewisse Unberechenbarkeit eignet, wurde nicht nur in Kauf genommen, es wurde als Komponente der Versuchsanordnung besonders herausgestellt; denn schließlich ging es um das Spiel von Liebe und Zufall15, um Überraschungen, die mit ihrer konstitutiven Unvorhersehbarkeit dem Walten des Schicksals, das man gewöhnlich immer erst im Nachhinein erkennt, zuarbeiten sollten. Nach all den Prozeduren und Präliminarien präsentierten die Macher der Sendung weder eine explosive, noch eine morbide, sondern eine unverkennbar ‚gesunde‘ Mischung als Container-Besatzung.16 Sie bedienten mit ihrer Crew zwar gängige, aber keineswegs nur abgegriffene Klischees. Bei der Auswahl der Frauen schien man weniger auf klassische Schönheitsindikatoren als auf ausgeprägte Charaktereigenschaften geachtet zu haben, bei den Männern hingegen auf modellierte Muskelpartien, die sich makellos ins Fernsehbild setzen ließen. Die Tatsache, daß propere Männerkörper inzwischen profitable Werbeträger hergeben, wurde offenbar als Kriterium herangezogen, das die Spreu vom Weizen scheiden durfte. Drei hantelbewährten Burschen mit dürftigen IQ-Raten und einem etwas teigigen, aber keineswegs unattraktiven Porschefahrer aus der Bonner Gastronomieszene stand nämlich nur ein hühnerbrüstiger Informatik-Student gegenüber, der allenfalls als Clearasil-Proband Chancen gehabt hätte und – wie man sich sofort ausrechnen
14 Die holländische Pilot-Staffel hatten 3 weibliche Personen vorzeitig verlassen. Auch im deutschen Projekt sprangen drei Frauen ab, die äußerst gezielt (man denke nur an den Jux-Joker Sabrina) ersetzt wurden. 15 Literarisch interessierten Lesern sei ein Blick in Marivaux’ Komödie „Le jeu de l’Amour et du Hasard“ (1730) empfohlen. 16 Auch ein ehemaliger Haus-Besetzer aus der ehemaligen russischen Besatzungszone durfte selbstverständlich mitmachen. Dieser arg ‚gezeichnete‘ Mitspieler gab so überzeugend echt den vollständig gezähmten Wilden aus dem exotischen Osten, dass ihm schließlich der in wohlverdiente Sieg zufiel. „Der ‚Gute‘ setzt sich durch“, so kommentierte Detlef Kuhlbrodt in einem badischen Sonntagsblatt das überraschende Ereignis. Ein Heimkind, das hundert Tage Onanie-Verzicht übte und statt sündigen Samens nur süßen Sportlerschweiß absonderte, konnten selbst versnobte Intellektuelle aus dem Westen ins Multi-Kulti-Herz schließen. Kein Wunder also, dass die über und über punktierte und bunt bemalte „Ossi-Pelle“ (Chat-Slang) ex cathedra von Kurt Scheel, dem Mitherausgeber des ‚Merkur‘, zur „ehrlichen Haut“ erklärt wurde (vgl. Schröder 2000). Mathias Bröckers von der taz votierte in weiser Voraussicht schon Mitte Mai energisch für John, der „echt ist, Gefühle zeigt, sich kümmert und sich nicht dauernd mediengeil für die Kamera produzieren muß“ (Bröckers 2000).
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konnte – auch rasch durch die Sympathie-Netze von Gruppe und TV-Publikum fiel. Dies waren die mehr oder weniger ansehnlichen Exemplare, die der Sender aus dem reichhaltigen, gefügigen Menschenmaterial auswählte, das sich zu dem vielversprechenden Versuch bereit fand. Von Beginn an gaben sich die Akteure redliche Mühe, ein erotisches Klima auf RTLII-Niveau zu schaffen. Sie betrieben das Geschäft der sexuellen Aufheizung zunächst mit Utensilien, die käuflich leicht zu erwerben sind. Von hautnaher Unmittelbarkeit war nichts zu spüren. Schlüpfrige Dinge beherrschten die Szene. Alex spielte mit geschmacksintensiven Kondomen herum, von denen Manuela, die nicht auf den Mund gefallen war, sogleich einige kompetent verkostete. Und Jana, die Telefonsexanbieterin, ließ verlauten, dass sie „asiatische Liebeskugeln“, die auf mancherlei Weise zum praktischen Einsatz gebracht werden könnten, im Handgepäck habe. Alles schien auf platten Beate-Uhse-Sex hinauszulaufen oder auf eine läppische Dauerrhetorik letzter Lockerungen, mit deren Hilfe man die spürbare Peinlichkeit der Lage beheben wollte. Doch nach dieser mühsamen Kommunikation genereller sexueller Interessen besannen sich die Akteure darauf, dass sie zusammengekommen waren, um die vorgespielte Ungezwungenheit abzulegen und zurück zu ganz elementaren Formen des Liebesspiels zu finden. Bald wurde auch denjenigen Zuschauern, die de Mols Philosophie nicht kannten, klar, was man hier in Szene zu setzen versuchte. Nicht eine desillusionierende ‚Erziehung des Herzens‘ (à la Flaubert) war geplant, sondern ganz im Gegenteil: die Akteure sollten den Weg von der andressierten Nüchternheit und Coolness17 zu jener menschlich-allzumenschlichen Selbsttäuschung beschreiten, die man gemeinhin als romantische Emphase bezeichnet. Es ging also nicht um die fortgesetzte Zerstörung der Wunschträume, die wir alle mehr oder minder im Geheimen hegen. Wir waren nicht als Zeugen geladen, um irgendeiner pädagogisch wertvollen Form von seelischer Abhärtung oder der in Liebesangelegenheiten unvermeidlichen Entzauberung beizuwohnen; vielmehr sollten wir miterleben, wie durchgecheckte und vorgetestete Personen ihre verschüttete Naivität und Unmittelbarkeit Schritt für Schritt zurückgewinnen und sich bereit finden, einfache und doch tiefe Gefühle füreinander zu entwickeln.18 Und siehe da, das Begehren des ‚großen Bruders‘ fand sein passendes Objekt. Alex und Kerstin formierten sich langsam zum Paar, kuschelten, schmusten und gaben sich schließlich den obligatorischen ‚Filmkuß‘. Noch aber standen die alles 17 Zum modischen Habitus der Kälte vgl. Ellrich 1998. 18 Erhebt dieses Programm, vorausgesetzt es gelingt, das Big-Brother-Spiel nicht in den Rang eines modernen Kunstwerkes? Man erinnere sich: Theodor W. Adornos berühmter Aussage, moderne Kunst habe die Aufgabe, Chaos in die Ordnung zu bringen, hat der ebenso zynische wie charmante Systemtheoretiker Niklas Luhmann die These entgegengestellt, dass Kunst über die Gabe verfüge, allen, die sich bereitwillig der eigenen Wahrnehmung überlassen, vor Augen zu führen, wie aus völlig beliebigen Ausgangslagen Ordnung hervorgehe. Das Projekt Big Brother, das neben guter Unterhaltung auch letzte Wahrheiten anbieten wollte und deshalb die Funktion der großen Kunst gleich mitübernahm, hielt es natürlich mit Luhmann und nicht mit dem kritischen Theoretiker, der den ‚Verhängniszusammenhang‘ moderner Gesellschaften im Lichte einer ästhetischen Praxis beschrieb, die gegen jegliche mediale Korruption immun sein musste. Big Brother stellte seinen Schutzbefohlenen die Aufgabe, das ‚Chaos der Liebe‘, von dem überall die Rede ist, kunstvoll und zwanglos zu ordnen. Zu zeigen war, wie man in jeder beliebigen heterosexuellen (!) Gruppe – in diesem Punkte war das Projekt nämlich recht konventionell – das Unwahrscheinliche ins Wahrscheinliche überführen und die wahre Liebe zum Blühen bringen kann.
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entscheidenden Fragen des ersten Big Brother-Magazins im Raum: „Luder oder lieb (Kerstin), zahm oder Zocker (Alex)?“ War sie „die kühl Kalkulierende, die Sex als Strategie einsetzt“? War er der „Macho und Frauenschwarm“? Und dann, in der vierten Woche, kam Willemsens Nacht: „Man muß sich das vorstellen: Millionen von Menschen starren auf eine im Grün der Infrarotkamera minutenlang elektrisierte Bettdecke, unter deren rhythmischem Zucken Unaussprechliches19 vorgehen muß. Der Gaffer weiß jetzt, die Begierde der Liebenden war stärker als der Wunsch, Intimes privat zu halten, und mitten in dieser optisch kargen, psychologisch aber quasi obszönen Situation betrat plötzlich die gute, alte sentimentale Liebe die Bühne. Die motorische Bewegung erlahmte, da hörte man aus dem Berg der Bettdecke Kerstins Stimme flüstern: ‚Mein Engel, mein Engel‘, und plötzlich war Intimität hergestellt, nämlich als bilderlose Bewegung. Die Szene war ergreifend, denn inmitten des ‚obszönen‘ Arrangements erblindeten die Bilder und verweigertem dem Gaffer jede optische Spur.“ (Willemsen 2000a)
Roger Willemsen konstruiert hier eine erstaunliche Wende: Zunächst wird etwas, das der Sprache nicht zugänglich ist (oder sein soll), visuell präsent gemacht; dann aber zerfallen die Bilder durch magische Worte, denen sich die Beobachter nicht entziehen können. Aus den Zuschauern werden Zuhörer. An die Stelle des Distanz schaffenden und wahrenden Fernsinns ‚Sehen‘, tritt der Gemeinschaft stiftende Nahsinn ‚Hören‘. Das Sehen der ‚Gaffer‘ kommt ohne Berührung aus, es erlaubt ein ungerührtes Studieren der Objekte. Das Hören hingegen vergegenwärtigt das Packende und Eindringliche des Geschehens. Das Sehen kann durch einen Lidschlag unterbrochen und zensiert werden, das Hören macht eigentümlich wehrlos gegen das Herandrängende. Willemsen fasst also das romantische Liebesspiel von Entzug und Hingabe, welches Kerstin und Alex zelebrieren, als mediale Spannung zwischen Bildern und Worten. Er treibt einen Keil in das audio-visuelle Kompaktphänomen Big Brother. Keine technisch präformierte Verschmelzung der Sinne steht uns demnach bevor, sondern eine elementare Erfahrung des Bruchs, die sich gerade dann einstellt, wenn die Medien uns den suggestiven Anschein der Authentizität gewähren. Dies sind zweifellos interessante Überlegungen. Aber treffen sie den neuralgischen Punkt? Hat der hermeneutisch geschulte Talkmaster und ausgewiesene Kritiker einer trostlos gewordenen Pornographie20 den Entzug, als dessen aufrichtig betörter Zeuge er sich beschreibt, richtig verortet? Slavoj Žižek z.B. entwarf in seinem Kommentar zu Big Brother (2000) und in anderen Texten über die Begleiterscheinungen der aktuellen Medienevolution ein vollkommen anderes Skript, mit dem man das Verhältnis von Erotik und Medialität interpretieren kann. Zunächst lieferte Žižek eine pointierte Zeitdiagnose: Das hedonistische Programm der späten Moderne (Genieße! Erlebe etwas! Habe Spaß!) raubt den Subjekten die Fähigkeit, über ihre eigenen Genuss-Erfahrungen ein kompetentes Urteil zu fällen. Sie wissen nicht mehr, was sie sich wirklich wünschen. Jedes Individuum erwartet daher vom anderen, dass er oder sie ihm mitteilt, welches Objekt begehrenswert ist und wie man sich fühlt, wenn das Gewünschte end-
19 Jürgen hatte mit dem Aussprechen keine Probleme: „Wenn Kerstin gehen sollte, dann haben wir einen männlichen Paradiesvogel, den Alex, und einen weiblichen Paradiesvogel, die Sabrina. Und vielleicht kommt es dann zum Vögeln.“ (18. 4. 2000) 20 Vgl. Willemsen 1997.
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lich erlangt ist. Wir haben es mit einer historisch keineswegs neuen, aber ungewöhnlich dramatischen Situation zu tun: Die moderne Gesellschaft verordnet ihren emanzipierten und individualisierten Mitgliedern ein unaufhörliches Begehren. Doch das Begehren kann aus eigener Kraft die wirklich erstrebenswerten Objekte nicht mehr auszeichnen, es sucht aus diesem Grunde Halt im Akt des Beobachtens. Damit wird das Problem nur verschärft, denn auch das Beobachten führt nicht zur Gewissheit über erstrebenswerte Objekte, sondern verfängt sich im Netz der Beobachtungen anderer Beobachter. Das erotische Verlangen spielt eine besondere Rolle im modernen Szenario des Begehrens. Es wird zu einem eigenständigen Streben erhoben, das nur genossen werden kann, wenn es sich nicht mit Wünschen nach Macht, Prestige, Reichtum etc. vermischt. An keinem anderen Typus des Begehrens zeigt sich die Schwierigkeit der Objektwahl mit vergleichbarer Deutlichkeit. Und es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass die kühnsten Ideen, die im Diskurs der Moderne entwickelt wurden, dem Themenkreis Liebe/Erotik/Sexualität gelten. Nirgendwo haben sich semantische Experimente von den bestehenden Gesellschaftsstrukturen in solchem Maße gelöst wie hier.22 Das radikalste Konzept zur Darstellung und Behebung der Probleme, die das erotische Begehren aufwirft, liefert bekanntlich der Liebescode der Romantik, in dessen Bann wir auch heute noch stehen: „Einerseits ist das Liebesereignis radikal kontingent, man kann sein Auftreten niemals vorhersehen, es liefert das beste Beispiel von tyche; wenn wir andererseits unserer ‚wahren Liebe‘ begegnen, scheint es als ob wir auf diese unser ganzes Leben gewartet hätten, als ob auf irgend eine mysteriöse Weise unser ganzes vorheriges Leben zu dieser Begegnung geführt hätte [...] – ‚Liebe‘ ist einer der Namen für den [...] rein formellen Verwandlungsakt, durch den eine bedeutungslose, äußere Kontingenz des Realen ‚verinnerlicht‘, symbolisiert, mit Bedeutung versehen wird.“ (Žižek 1996, 123)
Diese Transformation, die das romantische Projekt zu leisten versucht, kann allerdings nur gelingen, wenn der Liebesakt an zwei Orten zugleich stattfindet: an einer verwunschenen Stelle, die allein die Akteure kennen, und auf einem Schauplatz, der allen anderen zugänglich ist und sie zur Anerkennung des ungeheuren Ereignisses aufruft. Die Liebe soll etwas Absolutes und etwas gesellschaftlich Abgesegnetes sein: amour fou und haltbare Ehe. Am sexuellen Vollzug des romantisch codierten Liebesgenusses wird die Paradoxie offenkundig. Es kommt zu einer doppelten Traumatisierung: Als eine heimliche Aktivität betrieben, signalisiert der Sex, daß etwas fehlt, und als ein „dem öffentlichen Blick“ ausgesetzter Vorgang, wird er „immer als ‚gefälscht‘ erfahren.“ (Žižek 1997, 171)23 21 Vgl. Žižek 1999, 197. 22 Vgl. etwa Luhmann 1982. 23 Besteht also nicht, so wäre zu fragen, die Liebeskunst darin, „die beiden Grundkräfte seelischen Lebens: de(n) Drang nach Offenbarung, die Geltungsbedürftigkeit, und de(n) Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit“ (Plessner 1981 [1924], 63) zu verknüpfen? Eine komplexere Vorstellung von diesem „Drang nach Verhaltung“ erhält man, wenn Leon Wurmsers Beschreibung der beiden Partialtriebe, „Theatophilie“ und „Delophilie“, herangezogen wird. „Theatophilie kann definiert werden als das Verlangen zuzuschauen und zu beobachten, zu bewundern und sich faszinieren zu lassen, Vereinigung und Meisterung oder Beherrschung durch aufmerksames Sehen zu erzielen“, „Delophilie“ als Wunsch, „sich auszudrücken und andere durch Selbstdarstellung zu faszinieren, sich ihnen zu zeigen und sie zu beeindrucken, mit dem anderen durch Kommunikation zu verschmelzen.“ (Wurmser 1998, 258) Scham (und ent-
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Das Dilemma lässt sich – allem Anschein nach – nicht umgehen. Aber hat nicht der ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘, den wir gegenwärtig miterleben, die Lage verändert? Vielleicht repräsentiert der Zeuge, den die Verliebten herbeisehnen müssen, damit die Zufälligkeit der Begegnung die Gestalt des Schicksalhaften annimmt24, nicht länger nur die eine Seite der paradoxalen Differenz, sondern bildet heute die Einheit des Unterschiedenen und Widersprüchlichen. Denn der medial zugeschaltete Beobachter gibt den Akteuren zu verstehen: „Die Kamera liebt Dich“ und keineswegs der gänzlich unerreichbare Andere. Vielleicht geleitet diese verführerische Insinuation zu ganz neuartigen Genüssen und die „unangenehme Erfahrung, daß es ‚wirklichen‘ Sex nie gegeben hat“ (Žižek 2000), wird plötzlich zum Initiationsritual für subjektive Autonomie. Träfe diese Spekulation zu, so wäre folgender Schluss zu ziehen: Erst die technisch bedingte Freisetzung der spätmodernen Beobachtungsformen schafft die Voraussetzung dafür, dass jene erotischen Intensitäten, die die romantisch codierte Liebe ihren Anhängern versprach, wirklich erlebt werden können und nicht in die vielfach tödlichen Katastrophen einmünden müssen, von denen die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts in so unübertrefflicher Manier zu berichten weiß. Inwiefern die Ansprüche der romantischen Liebe – z.B. auf die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit des erwählten Partners, auf den „erfüllten Augenblick“ und die „ewig Dauer“, auf die „platonische Spiritualität“ und die „sinnlich-gegenwärtige Lust“ – die Subjekte überfordern, ist oft herausgearbeitet worden. Das Fazit lautete daher: „Romantische Liebe ist im Kern diejenige, die nicht vollzogen wird. Himmelfahrt und Opfer/Selbstopfer der Liebenden bezeichnen den Preis“ (Kremer 1997, 103f., 108), den das ambitionierte Programm unweigerlich zu entrichten hat. Ist inzwischen wirklich alles anders geworden? Empirische Untersuchungen über die Liebeskonzepte westlicher Jugendlicher zeigen, dass das romantische Paradigma – trotz der grassierenden „Kultur der Cooltour“ (Guggenberger 1987, 77ff.) – immer noch dominiert. Allerdings haben sich zwei entscheidende Veränderungen ergeben25: Erstens steht heute nicht mehr die Einzigartigkeit der gewählten Person im Vordergrund, sondern das bedeutsame Flair der erotischen Situation; der/die Partner/in kann also problemlos ausgetauscht werden, ohne dass dadurch die wundersame Verwandlung des Zufalls in Notwendigkeit oder der erbärmlichen Realität in das phantastische Erlebnis allzu sehr leidet. Zweitens sind die geschlechtsspezifischen Rollenmuster, in denen die romantische Verklärung sich durchweg vollzog, heute verschlissen; speziell unter männlichen Jugendlichen breitet sich eine erhebliche emotionale und sexuelle Unsicherheit aus, die den Nährboden für eskapistische Reaktionen liefert. Die Spielwelten, die die Medien neuerdings zur Verfügung stellen (vom performativen Fernsehen bis hin zu den MUDs und MOOs im Internet), sind wahre Auffangbecken für derartige Fluchtbewegungen. Denn sie bieten den Akteuren die Chance, sich einander anzunähern, ohne sich sprechend die Angst vor beobachtbaren Schamzeichen) wird unter Bezug auf diese Unterscheidung dann nicht mehr als eine ‚Grundkraft seelischen Lebens‘ verstanden, sondern als Ausdruck von Konflikten, „die mit der Hemmung und Enttäuschung dieser Wunschformen, ihrer Übersteigerung und Unterdrückung entstehen.“ (Lehmann 1991, 829) 24 Die Akteure können die Zufälligkeit ihrer Begegnung aufheben, „weil sie sich darüber im klaren sind, daß sie es für einen stillen Zeugen machen, daß sie ‚einen Mythos‘ verwirklichen. Die beiden Liebenden verhalten sich so, als seien sie nicht mehr zwei klägliche reale Menschen, sondern Schauspieler/Agenten im Traum einer anderen Person.“ (Žižek 1999, 66) 25 Vgl. Giddens 1993.
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zu nahe zu kommen. Entweder bleibt alles virtuell in der Schwebe oder die reale Berührung findet unter den Augen eines schmeichlerischen Beobachters statt, der den gefährlichen phantasmatischen Rahmen von einst zu einem hygienischen Schutzraum umfunktioniert. Die romantischen Liebesqualen, die die Liebe vormals zur Passion machten, sind damit entscheidend gelindert. Man kann entweder selbst den ‚Großen Bruder‘ für die anderen mimen oder darf unter seiner Aufsicht weiter vom Wunder der erotischen Verwandlung träumen. Haben damit die psychoanalytischen Oberhirten und ihre unbarmherzigen Lehren endgültig ausgespielt? Oder gewinnen diese Lehren als Gegenkonzepte einer neuen Härte an Attraktivität? Die Psychoanalyse hatte nämlich die romantische Utopie, die die Verklärung vollbringt, um die Katastrophe heraufzubeschwören, durch eine Forderung ersetzt, die kaum weniger utopisch anmutet: Der Patient sollte am Ende der Kur in der Lage sein, zu akzeptieren, „daß die traumatischen Begegnungen, welche seinen Lebenslauf zeichneten, ausgesprochen kontingent und indifferent waren: daß sie keine ‚tiefere Botschaft‘ in sich tragen.“ (Žižek 1996, 122) Anziehend ist dieses brutale Kontrastprogramm aus mehreren Gründen. Zunächst weist es die schale These zurück, der Cyberspace und das neue „Wirklichkeitsfernsehen“ á la Big Brother seien begrüßenswert, weil durch die „spezifische Synthese medialer und sozialer Realität“ hier „ein erfahrungs- und persönlichkeitsverstärkender Effekt“ erzeugt werde (Mikos u.a. 2000, 208), sodann verteidigt es energisch die Einsicht, dass Erfahrungsverlust und Persönlichkeitsentleerung die Zeichen der Zeit sind, denen man nicht ausweichen dürfe, und schließlich huldigt dieses Programm einer heroischen Anthropologie, die das menschliche Dasein als etwas zutiefst Defizitäres, aber zugleich auch als etwas Grandioses bestimmt: Der Mensch habe die Fähigkeit und das Recht, seinen Makel phantasievoll zu bedecken, doch es stehe ihm nicht zu, ihn feige zu verdrängen. Žižek und verwandte Geister revitalisieren ästhesiologische Grenzposten wie Ekel und Scham. Menschen müssen sich vor der „ekelerregenden Substanz des Lebens“ ebenso schützen wie vor der Lächerlichkeit und Erbärmlichkeit ihrer sexuellen Aktivitäten (1999, 113). Den Propheten einer neuen Eigentlichkeit, die sich im Gewand der ‚digitalen Elite‘ präsentieren26, oder auf den Spuren de Mols die ‚Extremshows‘ im Fernsehen als metaphysische Laboratorien feiern, wird Plessners Mahnung von 1924 entgegengehalten: „Alles Eigentliche, bei Licht besehen, enttäuscht“ (1981, 67). Nur „die Masken der Scham“ (Wurmser 1990) bewahren vor dieser Frustration und vor den grotesken Kapriolen der Verdrängung, die jene aufführen, die zu den ‚nackten Tatsachen‘ vorgedrungen sind, ohne ihnen gewachsen zu sein. Das kraftvolle Theater der Scham besteht in der Pflege einer artistischen Befähigung, die, wie oben schon einmal kurz angemerkt, Schaulust und Darstellungsbedürfnis ausbalanciert. Plädoyers für eine derartige Form des Ausgleichs und Selbstschutzes wirken unter den aktuellen Medienbedingungen hoffnungslos antiquiert. Kein Kraut scheint gegen den Beobachtungsboom gewachsen zu sein. Jede Kritik wirkt spießig und hypermoralisch. Jean-Paul Sartres These aus dem Jahre 1943 „Der Blick des Anderen ist der Tod meiner Möglichkeiten“ hat heute offenbar ihre Geltung verloren. Stellvertretend für die ganze gegenwärtige Gesellschaft betonte de Mols Container-Crew, dass die mediale Situation der Überwachung überhaupt kein Problem für sie wäre, und protestierte sogar gegen die angeordnete kamerafreie Stunde, weil dieser Eingriff der Medienpolitiker das Experiment beschädigen würde. 26 Vgl. Ellrich 2000b; 2006a.
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Das Big-Brother-Spiel ist die Spitze des Eisbergs. Es belegt anschaulich die veränderte Einstellung der Bürger zur Überwachung.27 (Parallel zur Sendung lief in der BRD die lasche Diskussion über die geplante Kontrolle öffentlicher Räume durch CCTV-Kameras. Die englischen und teilweise auch die skandinavischen Verhältnisse wurden als lehrreiche Beispiele für die recht breite Akzeptanz des fürsorglichen Überwachungsstaates angeführt.) Glaubt man soziologischen Analysen, so wollen „die Menschen [...] die Überwachung, und zwar nicht nur zur Selbstdisziplinierung, sondern zum Selbstschutz, zur Sicherheit des eignen Körpers und zur Schaffung eines Wohlbefinden.“ (Knoblauch 2000, 267) Die westlichen Demokratien ködern offenbar ihre Mitglieder mit der reizvollen Idee geteilter Gewalten, die sich wechselseitig im Auge behalten und kontrollieren. Heute ist nicht nur der Normalbürger zum gläsernen Menschen geworden, sondern auch die politischen und ökonomischen Führungsriegen (von den Stars im Sport und im Showbusiness ganz abgesehen) sind Gegenstand der medialen Observation. Der Fall Clinton spricht Bände. „Die Veröffentlichung des Privaten“ wird durch „die Privatisierung des Öffentlichen“ abgegolten (vgl. Imhof/Schulz 1998). Aus dem hochmodernen Überwachungsstaat ist der spätmoderne Theaterstaat28 geworden. Der Einfluss von Eliten wird heute vom Publikum nicht mehr mit Hilfe zugeschriebener und unterstellter Machtpotenziale taxiert, die sich nur aus einem komplexen Puzzle von Informationen erschließen lassen, sondern anhand der Vorstellung beurteilt, dass die medial in Szene gesetzte Prominenz von Personen nicht immer, aber immer öfter etwas Substanzielles zum Ausdruck bringt.29 Die Leistungsgesellschaft und ihr Arbeitsethos zerfallen. Erbschaften, Spekulationsgewinne, Provisionen etc. haben jede Anrüchigkeit verloren. Gerechter Lohn ist ein Terminus, der gähnende Langeweile erzeugt. Nicht der langsame, gediegene Aufstieg, sondern die Blitzkarriere ist attraktiv. Der Sprung auf das Treppchen, der Starruhm über Nacht binden das knappe Gut medialer Aufmerksamkeit. Und wer über die Fähigkeit zur Selbstdarstellung verfügt, hält den Schlüssel für soziales Ansehen und Angesehenwerden in Händen.30 Big Brother passte – wie man sofort erkennt – ins Bild. Die Gefolgschaft von Herr de Mol fügte sich dem herrschenden Trend und legte – getreu ihrer Aufgabe – die vermeintlich ‚falsche‘ Scham einer medial unterbelichteten Gesellschaft ab. Doch das heiß begehrte Objekt, welches entblößt werden sollte, kam nur in der Phantasie von Roger Willemsen zum Vorschein. Das Authentische hielt sich – vielleicht aus gutem Grunde – bedeckt. Eindruck hinterließen vielmehr die Szenarien des Entzugs, mit denen die Container-Truppe ihre Beobachter versorgte: Zlatko und Jürgen, die athletischen Hantel- und Hampelmänner, fanden clowneske Gesten der Reinheit: Wie der eine die unbesudelten Hände demonstrativ über der Bettdecke hielt und der andere sich Sabrinas Gunst nach Herzenslust verscherzte – dies wird zweifellos in die deutsche Doku-Soap-Geschichte eingehen. Andrea, die Frau mit Stehvermögen, gab irritierend undeutliche Signale: Oft verweilte sie zusammengerollt und in sich gekehrt auf dem Sofa, trug Schlapphut und Sonnenbrille wie Insignien der Abkehr und ließ den Dingen ihren Lauf. Sie wirkte zugleich schutzbedürftig und tough. Undurchschaubar und unberührbar wandelte sie durch Raum und Zeit des Containers. Es gab keine Tiraden und keine Tränen. Andrea war das leere Zentrum einer weiblichen Macht, deren Wirkung auf 27 28 29 30
Zum Überwachungsproblem siehe Ellrich 2005a; 2006b. Vgl. Ellrich 1999a, 230ff. Vgl. Leggewie 1997, 23ff. Vgl. Neckel 2000, 119ff.
DAS GUTE, DAS BÖSE, DER SEX | 283
Projektionen beruhte. Der Sender z.B. pries sie als Vertreterin einer post-feministischen Frauenpower an, die ihr Preisgeld ohne Scheu zum Schönheitschirurgen trägt. Ist es zu glauben? So wenig bedrohlich soll die neue starke Frau sein, so nett die Vermischung der Kulturen, so leicht assimilierbar die Fremdheit von Gender und Race? Und was sahen die professionellen Beobachter? Etwa die Spuren jener Scham, die Plessner und Žižek thematisieren? Gab es hier eine ästhetische Grandezza zu bewundern, die den verletzbaren Kern des Ichs schützt? Oder bloß die trostlose „Erfahrung der Scham”, die laut Anthony Giddens unter Bedingungen der Spätmoderne “immer häufiger“ wird: z.B. “das Gefühl, daß [...] der eigene Körper ein nicht adäquater Entwurf des Selbst ist.” (1993, 190) Alex und Kerstin, das Quoten-Paar, suchte nach den „Liebesszenen”, die der Sender zu einem kitschigen Clip verwertete, vor allem eines: Distanz. Trennungen wurden vollzogen, die letzte und endgültige durch eine offizielle Presseerklärung ratifiziert. Die geplante NewYork-Reise fiel ins Wasser. Kerstin gab Roger Willemsen noch ein Interview. Sie übte Kritik an Sabrinas Proll-Sex, erklärte das zusammengestückelte Filmchen mit dem aufgesetzten Romantik-Touch zum „Scheißclip, der so viel kaputt gemacht” habe, und als Willemsen, der es natürlich nicht lassen konnte, sie an ihre Worte „mein Engel, mein Engel” erinnerte, schüttelte sie sich und war peinlich berührt. Dennoch ließ sie ihren Fan wissen, dass ihr nichts von dem, was ihren “Ruhm” begründet habe, „peinlich” sei. Willemsen war anscheinend zufrieden und kommentierte: „Sie hat sich im Haus nicht verstellt, warum sollte sie es jetzt tun.” (2000b, 33) Aber wäre es nicht spätestens in diesem Augenblick an der Zeit gewesen? Danach sah man Fotos der beiden in unterschiedlichen Blättern. Alex neben Jenny Elvers, die ihn durch ihre Komplimente zugleich erhob und auslöschte: Alex, der Frauenschwarm, nichts als ein Kopie des jungen Jack Nicholson. Und Kerstin, „die Schlaue aus Big Brother“ bot derweil ihren Kussmund für gemeinnützige Zwecke dar. Zehn Mark betrug der Einsatz, der einer Gruppe von Kindern zu Gute kommen sollte, die den schicken Namen „Off-Road-Kids“ trug. Das Liebespaar aus dem Container führte sich ganz so auf, als hätte es unter der Beobachtung des Soziologen Heinz Bude gestanden. Bude nämlich erteilte vor zehn Jahren in einem kleinen Aufsatz (1990, 433) dem amerikanischen Poeten William Carlos Williams das Wort: Dieser beschrieb „eine Welt, in der niemand wagt, etwas kennenzulernen, was ihn im Innersten berührt – außer vielleicht den Schmerz; denn sollten wir Freude erfahren, so wird sie uns augenblicklich und gewaltsam von den anderen entrissen – so ausgehungert sind wir danach, und so eifersüchtig wachen wir über uns.“
15. L I E B E S K O M M U N I K A T I O N
IN
D A T EN L A N D S C H A F T E N 1
Unter den zahlreichen neuen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, die die Computertechnik eröffnet, zählt die Anbahnung von Liebesbeziehungen per Internet zu den umstrittensten. Zwischen “Love Offline” und „Love Online“ (BenZe’ev 2004) liegen – wie man glauben könnte – Welten. Verfechter und Gegner der Dating-Praxis kämpfen mit Argumenten, welche die reichlich erlahmte Debatte um das Verhältnis von Privatsphäre und Öffentlichkeit neu aufleben lassen und mit überraschenden Facetten versehen. Einerseits stehen die Dating-Foren im Verdacht, Entfremdung und „Selbstverdinglichung“ (Honneth 2005, 105; Illouz 2006, 124, 147) des modernen Menschen auf die Spitze zu treiben, und andererseits gelten sie als Arenen, in denen die zeitaufwendige und psychisch strapaziöse Suche nach einem geeigneten Partner weit erfolgreicher und effizienter gestaltet werden kann als dies mit den herkömmlichen Mitteln möglich ist (vgl. Orr 2004, BühlerIlieva 2006).
I. Sichtweisen und Befunde Das zentrale Problem, an dem sich die Geister scheiden, liegt offenbar darin, dass im Umgang mit den verschiedenen Spielarten2 des Internet-Datings sowohl die strategische Anlage der Partnerwahl als auch die kommerziellen Aspekte des Geschehens (jetzt selbst für unreflektierte Akteure) in einer Deutlichkeit hervortreten, die bislang nur durch entlarvende Hintergrundanalysen professioneller Psychologen und Soziologen mit extremen Aufklärungsabsichten oder zynischen Beobachterperspektiven zu gewinnen war. Dieser Umstand versetzt aber eher die wissenschaftlichen und politischen Beobachter in Unruhe als die unmittelbar betroffenen Individuen. Sie haben – wenn überhaupt – andere, viel konkretere Ansprüche und Sorgen. Empirische Untersuchungen legen folgende Diagnose nahe: Die Nutzer und Nutzerinnen (und dies gilt für die arglosen ebenso wie für die abgebrühten) sind sich durchaus im Klaren über das erhöhte Risiko, das mit den computerbasierten Methoden der Partnersuche verbunden ist. Man bemerkt das angestiegene Gefahrenpotenzial und sieht zugleich – darin liegt der entscheidende Anreiz – das erweiterte Spektrum an Chancen. Die Vor- und Nachteile des Datings werden aber von den Betroffenen zumeist nicht mit dem strukturellen Eigensinn von Liebeskommunikationen oder mit paradoxalen Effekten strategischer Einstellungsmuster 3 in Verbindung gebracht, sondern erstens auf die (Fehl-) Leistungen spezieller Suchpro-
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Der Text wurde gemeinsam mit Christiane Funken verfasst. Dass es sich um ein äußerst heterogenes Feld und eine breite Angebotspalette handelt, darf auch bei dem Versuch, einige generelle Aussagen zu machen, nicht außer Acht gelassen werden. Auf diese beiden Deutungen kommen wir noch im Detail zu sprechen.
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gramme4 und zweitens auf die drastisch reduzierte Form der medialen Kontaktaufnahme bezogen.5 Zu Gunsten einer derartigen Reduktion spricht zunächst einmal der Umstand, dass sie zu einer extrem niedrigen Zugangsschwelle führt, die auch von schüchternen und unattraktiven Personen leicht überwunden werden kann. Zudem stimuliert das Anonymität gewährende Setting die NutzerInnen zur Preisgabe von Informationen und Selbstdeutungen, die unter den Bedingungen des alltäglichen ‚Real Life’ in Frühphasen des Kennenlernens kaum offen geäußert würden.6 Diese Enthemmung kann ein starkes Gefühl der Befreiung auslösen und die Investition von Gefühlen und Erwartungen beträchtlich stimulieren. Andererseits weckt die Distanz und Körperlosigkeit des Internet-Kontakts aber auch leicht Bedenken und Skepsis. Die Frage, ob man vom Anderen getäuscht wird oder gar in die Fallen der Selbsttäuschungen gerät und allzu bereit ist, sich in wohligen Illusionen zu wiegen, kommt fast unweigerlich auf und lässt sich nicht befriedigend beantworten – schon gar nicht durch gründliche bzw. abgründige Spekulationen; sie lässt sich allenfalls durch ein Treffen im ‚wirklichen Leben’ beseitigen oder durch forcierten rhetorischen Online-Aufwand in eine mehr oder weniger penetrante Begleiterscheinung verwandeln, die unter günstigen Umständen ignoriert werden kann. Eine solche Steigerung des kommunikativen Einsatzes banalisiert freilich nicht allein den Zweifel als Dauergast, sie senkt zugleich auch die verschwenderische Lust, den Anderen mit Vertrauensvorschüssen zu locken. So verstricken sich die Beteiligten Schritt für Schritt in diffuse Beziehungen, deren Relevanz und Tragfähigkeit sich trotz hoher Kontaktdichte nicht feststellen lässt.7 Plötzlich erzeugt die On-line-Verbindung eine Art chronischen Stress, der von den Akteuren dann als Belastung erlebt und zu jenen Gefahren der Dating-Praxis gerechnet wird, denen man nur durch ein energisches und zielorientiertes Handeln ausweichen kann.8 Dazu ist es erforderlich, die Stufen der Kontaktrealisierung hinreichend zügig zu passieren und das Datenfeld der medialen Annäherung Zone um Zone bis zur direkten Begegnung zu durchschreiten, ohne der Fantasie mehr Nahrung als nötig zu bieten9: zunächst Austausch von Texten und Fotografien, sodann Telefongespräche
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Hier steht die Eignung bestimmter Profile für den Datenabgleich zur Diskussion. Wichtig ist die Trennschärfe und Signifikanz der einzelnen Bestimmungen innerhalb des jeweiligen Profils; denn von diesen Größen hängt es ab, ob die Suche eine ‚kundengemäße’ Trefferquote liefert oder nicht. Vgl. die Präsentation des Forschungsstandes bei Schonfield 1998; Döring 2003; BenZe’ev 2004; Bühler-Ilieva 2006; Dombrowski 2011. Aufschlussreich sind auch die methodisch allerdings recht unbekümmerten Studien von Orr 2004. Diese Auswirkung der Anonymität ist allerdings nicht überraschend. Schon Georg Simmel hat darauf hingewiesen, dass (z.B. auf Zugreisen) die Bereitschaft besteht, Fremden gegenüber weit weniger diskret zu sein als gegenüber Partnern, Freunden und Bekannten. Döring spricht in diesem Zusammenhang von „Rahmungskonflikten“, „Rahmungsdifferenzen“ und „Beziehungen mit unklarem Status“ (2003, 250, 256). Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass in vielen Fällen diese gleichsam ‚schwelenden’ Beziehungen im Netz über Monate und Jahre aufrechterhalten werden. Teils handelt es sich dabei um Parallelbeziehungen von Personen, die verheiratet sind oder in relativ festen Beziehungen leben und hier eine romantische Kompensation ihrer Alltagswelt betreiben, teils um Kontaktspiele, die gerade durch die zeitlich gedehnte und im Virtuellen bleibende Form eine hohe narzisstische Befriedigung gewähren. Das Problem, welches mit der Produktion überschüssiger Fantasien einhergeht, ist spätestens seit der Romantik (vgl. Lenz 1998; Bierhoff/Grau 1999; Illouz 2003) ausgiebig diskutiert worden. Die wohl geistreichsten Kommentare im 20. Jahrhundert ha-
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und schließlich Verabredung zum Offline-Date.10 Dass auch bei diesem Vorgehen Enttäuschungen nicht ausbleiben können, liegt auf der Hand. Die wortreichen Klagen der Betroffenen, denen die einschlägige Forschung gerne ihr Ohr leiht (vgl. Illouz 2005, 142ff.), haben mittlerweile in einer reichhaltigen Ratgeberliteratur zum gedeihlichen Umgang mit dem Begegnungsfrust Resonanz gefunden. Den Angaben über die Schwierigkeiten und Desaster der Dating-Praxis steht allerdings eine Reihe von Erfolgsmeldungen gegenüber. Aus Internetkontakten sind offenbar reibungslos zahlreiche passende Partnerschaften mit günstigen Stabilitätswerten hervorgegangen. Die Bilanz, die Gelingen und Scheitern, Erwartung und Enttäuschung ins rechte Verhältnis zu setzen sucht, scheint mindestens ausgeglichen zu sein. Aber angesichts der Bewegung, die in der Dating-Szene herrscht, käme ein abschließendes Urteil, das sich auf die derzeit gesammelten Bekundungen von Betroffenen stützt und geradewegs Prognosen stellt, wohl zu früh. Tiefen-Interviews mit den Nutzern von Dating-Foren sowie die Auswertung vorhandener Statistiken über Erfolge bzw. Misserfolge der neuen Begegnungsformen und Kontaktmöglichkeiten sind wichtige Forschungsaufgaben und die laufenden Studien verdienen angemessene Unterstützung. Empirische Bestandsaufnahmen sind aber nur dann wirklich ergiebig, wenn sie in einen theoretischen Rahmen eingebettet werden, der die gesamtgesellschaftliche Situation, in der die DatingPraxis sich etabliert hat, berücksichtigt.11 Weithin besteht unter Sozialwissenschaftlern Konsens darüber, dass wir es heute mit einer „strukturverändernden Medialisierung“ des sozialen Feldes zu tun haben. Gemeint ist damit „ein grundsätzlicher Wandel der Sozialintegration moderner Gesellschaften [...], in dessen Verlauf die klassischen, norm- und wertsetzenden sowie Zugehörigkeit definierenden Institutionen (Schule, Religion, Armee, Parteien, soziokulturelles Milieu) im Zuge der funktionalen Differenzierung und Individualisierung an Bedeutung verlieren und durch sinn(re)produzierende Medien überformt werden.“ (Imhof 2003, 407)
Vor dem Hintergrund dieser plausiblen Annahme stellt sich nun folgende Frage: In welchem Sinne verändert die computerbasierte Medialisierung der Liebeskommunikation unsere Vorstellungen und Diskurse über Partnersuche und Beziehungspflege, über das Gefühl der Liebe generell und seine körperliche ‚Realisierung’ in der Sexualität?
ben Ernst Bloch mit seiner Bestimmung der „Aporien der Verwirklichung“ (1959, 217ff.) und Jacques Lacan mit seiner Theorie des Begehrens (1975, 165ff.) geliefert. 10 Dieser ‘chat-typische’ Transformationsprozess lässt sich mit dem Begriff des „erfolgreichen Scheiterns“ charakterisieren, der in der Netzwerktheorie verwendet wird, um die Verwandlung von Netzwerken in Organisationen zu bezeichnen. Vgl. Funken 2003, 291. 11 Eine solche Verknüpfung von Empirie und Theorie ist auch deshalb unverzichtbar, weil die erhobenen Daten stets aus einem theoretischen Vorverständnis heraus interpretiert werden. Dies gilt insbesondere für Themenbereiche, deren Brisanz und Strittigkeit unmittelbar ersichtlich ist. So dürften die Bereiche Liebe, Sexualität, Partnerschaft, Beziehung, Ehe etc. und ihre komplexen kommunikativen und körperlichen Aspekte zu den heikelsten, mit subjektiven Vorurteilen und Deutungen geradezu getränkten Beständen der Forschung gehören. Zu Recht bemerkt Döring (2003, 236f.) daher auch, „dass die bisherige Forschung [über Liebesbeziehungen] nicht selten implizit normativ ist“ und die „Internet-Liebesbeziehung von vornherein als eine Art Defizit-Liebe erscheinen“ lässt.
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Zu den auffälligsten Merkmalen des Online-Datings gehört es, dass hier die üblichen Verlaufsformen des Kennenlernens bzw. der Erregung von (erotisch konnotierter) Aufmerksamkeit regelrecht auf den Kopf gestellt werden: „Wo Anziehung normalerweise dem Wissen vom anderen vorausgeht, geht [im Netz] Wissen der Anziehung oder zumindest der physischen Präsenz und Verkörperung romantischer Interaktionen voraus.“ (Illouz 2006, 120)12 Im Kontext umfassender gesellschaftstheoretischer Analysen (man denke z.B. an die Systemtheorie und die Kritische Theorie der Frankfurter Schule) lassen sich Überlegungen anstrengen, welche auf die Diagnose hinauslaufen, dass gerade diese Verkehrung weder ein funktionales Äquivalent zur gängigen Signalisierung sexuell grundierter Bindungsbedürfnisse oder -interessen bereitstellt noch eine reizvolle, das Liebespiel sinnvoll erweiternde Alternative zu den notorischen Anbahnungswegen bietet. Beide theoretischen Perspektiven machen in höchst unterschiedlicher Weise darauf aufmerksam, dass mit der zunächst recht harmlos erscheinenden Umdisposition einer üblichen Praxis Probleme erzeugt werden, die nicht auf den ersten Blick sichtbar sind. Die Akteure geraten nämlich, ohne dass sie es bemerken, in Fallen und paradoxe Konstellationen, die ihre erklärten Absichten untergraben. Aus systemtheoretischer Sicht wird mit dem Aufschub der Wahrnehmung (körperlicher Eigenschaften des Anderen) der Liebeskommunikation eine Last aufgebürdet, die sie nur dann tragen kann, wenn zusätzliche Stützkonstruktionen verfügbar sind. Die Nachdrücklichkeit, mit der diese Bedenken von Seiten der Systemtheorie vorgetragen werden, mag für manche ihrer Liebhaber und Verächter überraschend sein. Aber es ist kein Wunder, wenn eine Theorie, die Kommunikationen und eben nicht Handlungen zu den Letztelementen der Gesellschaft erklärt, besondere Sensibilität für Lagen und Situationen entwickelt, in denen betroffene Individuen dazu neigen, die Leistungsmöglichkeiten von Kommunikation zu überschätzen und das Vertrauen in den textuellen oder verbalen Austausch zu überziehen. Aus der Warte des Theoriedesigns, dessen sich Forscher im Umkreis der Frankfurter Schule bedienen, kommen selbstverständlich ganz andere Probleme in den Blick. Hier werden verschiedene Modi des kommunikativen Handelns unter Rekurs auf die ihm inhärenten Geltungsdimensionen interpretiert. Wählt man diesen Ansatz, so zeigt sich, dass der Vollzug des Internet-Datings den Akteuren eine textuelle Selbstvergegenständlichung abverlangt, die zwangläufig jener Logik von Liebe, Anerkennung und Respekt zuwiderläuft, deren Bewahrung und Pflege die Voraussetzung zur Ausbildung gelungener Ich-Identitäten bildet. Wir möchten im Folgenden zunächst diese beiden Krisenszenarien näher erläutern, um dann eine alternative Sicht zu präsentieren, die sich auf flexibelnormalistische Konzepte des Umgangs mit Standardisierungs- und Verdatungsprozessen bezieht.
12 Döring (2003, 244f.) fasst die Erfahrungen der „Beteiligten“ mit der Formel „Kennenlernen von innen nach außen (anstatt von außen nach innen)“ zusammen. Diese Version des Kennenlernens ist allerdings nicht völlig neu. Brieffreundschaften über Kontinente oder die Mauern geschlossener Anstalten hinweg sind bekannte, wenn auch wenig erforschte Phänomene. – Dieses Vorschalten von symbolisch vermitteltem Wissen betrifft im Netz auch und gerade die Zuschreibung des Geschlechts (vgl. Funken 1999, 96), dessen Identifikation zwar als Startdifferenz benutzt wird, aber erst im Laufe des kommunikativen Prozesses den Status einer fraglosen Bestimmung gewinnt.
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I I . D i e s y s t e m t h e o r e ti sc he W a r n u n g v o r w a h r n e h m u n g s f r e i e r K o mm u n i k a t i o n In einem Aufsatz mit dem unterkühlten Titel „Wahrnehmung und Kommunikation sexueller Interessen“, der zum ersten Mal 1989 erschienen ist, hat Niklas Luhmann zu bestimmen versucht, welche Effekte die „Differenz von Bewußtsein und Körper“ unter Bedingungen der Moderne auf dem Feld der Liebe zeitigt. Wird nämlich Liebe als ein „Medium“ aufgefasst, (mithin als eine Menge lose gekoppelter Elemente, in die sich unterschiedlichste Formen – im Sinne fester Kopplungen – eindrücken können13), so ist zu beobachten, wie sich die „Liebe, bevor man liebt, [...] mit einer Art träumerischer Ungenauigkeit (Musil) einstellt, in der die Ereignisse sich noch beliebig verbinden können“. Liebe ist demnach ein Medium „sowohl für Wahrnehmung als auch für Kommunikation [...]; es steht für die Einprägung von konkreten Erfahrungen bereit, die sich mehr oder weniger gesucht, mehr oder weniger zufällig ergeben mögen.“ (1995a, 194) Dies bedeutet zwar, dass man (zumindest seit der Neuzeit) zunächst einmal lernt, die Liebe zu lieben, ehe man sich in eine konkrete Person verliebt14; es bedeutet jedoch nicht, dass es für die beteiligten Individuen belang- und folgenlos ist, ob das für Anbahnung, Aufnahme und Pflege von Beziehungen „Entscheidende in die Kommunikation“ oder in die Körperwahrnehmung „verlagert wird.“ (ebd., 196) Um Bedeutung und Relevanz dieser Option sowie die Folgen fehlerhafter Gewichtungen zu ermessen, ist es nötig, die soziale Funktion der Liebe und des Liebesdiskurses, die weit über die Sicherung der biologischen Reproduktion des Kollektivs hinausgeht, in ihrer historischen Dimension zu bestimmen. Luhmann geht von zwei Thesen aus: 1. wird in modernen hochkomplexen Sozialgefügen das Medium Liebe weit „stärker“ als zuvor „beansprucht und darum ausdifferenziert“, und 2. gewinnt deshalb „das Verhältnis von Liebe und Sexualität einen veränderten Sinn.“ (1969a, 1f.) Im Zuge der Entstehung moderner Gesellschaften und der bürgerlichen Revolution etablieren sich einerseits funktional spezifische Teilsysteme und andererseits treten die Individuen grundsätzlich als freie, selbstbewusste, sich wechselseitig anerkennende Subjekte hervor.15 Die Institution der Ehe wird jetzt zum Schauplatz einer doppelten ‚Inanspruchnahme’: Sie untersteht unverzichtbaren gesellschaftli13 Neben diesem auf Fritz Heider zurückgehenden Begriff des Mediums verwendet Luhmann noch ein zweites Medien-Konzept, das soziale Errungenschaften bezeichnet, die Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches überführen. Eine besondere Rolle spielen sog. „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“ (Luhmann 1975, 170ff.), die später auch als „Erfolgsmedien“ (Luhmann 1997, 202ff.) bestimmt werden. Liebe gilt neben anderen Medien wie Macht, Geld, Wahrheit etc. als Einrichtung, die die Wahrscheinlichkeit der Annahme einer Kommunikation entschieden steigert und zwar in dem spezifischen Sinne, dass Egos „Handeln die Erlebnisselektion Alters bestätigt.“ (Luhmann 1975, 178) 14 Dies hat Luhmann in einem frühen Manuskript, das als Keimzelle des Buches Liebe als Passion (1982) anzusehen ist, erläutert: „Nur wenn man sich auf Grund des Liebens der Liebe verliebt, ist zu erwarten, daß das sich damit bildende System Liebe als Kommunikationsmedium verwendet – unter anderem deshalb, weil nur so die Gefühlslage als Einheit empfunden und das Selektionsbewußtsein latent bleiben oder wieder verdrängt werden kann“ (1969a, 24). Zur Liebe der Liebe vgl. auch die erhellenden Bemerkungen von Roland Barthes in Fragmente einer Sprache der Liebe (1988, 85). 15 Diesen Prozess haben Hegel, Durkheim und Weber beschrieben und als eines der charakteristischen Merkmale der Modernisierung herausgestellt.
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chen Erfordernissen und wird zugleich als interaktiver Raum entworfen, in dem sich die Autonomie und Authentizität des Einzelnen zur Geltung bringen soll und darf. Die „Liebesheirat“ ist eine ambitionierte Antwort auf diese Spannung. „Sie ist ‚formal frei’ institutionalisiert wie Arbeit, Vertrag und Organisation.“ 16 Daraus folgt aber auch, dass die Praxis der freien Partnerwahl, die sich in erster Linie nach dem Affektsturm der Liebe richtet und finanzielle und schichtenspezifische Selektionskriterien verpönt, durch entsprechende Rahmenbedingungen auch ermöglicht werden muss.17 „Nur durch hohe Kontaktmobilität“ lässt sich sicherstellen, dass „Partner, die Intimbeziehungen bilden können, zueinander finden.“ (1969a, 20) Zudem sind „generalisierte Suchmuster“, zum Beispiel „die publizierten Idole der Liebe“ und „vor allem äußerliche Anhaltspunkte wie körperliche Schönheit oder Attraktivität“ (ebd., 21) unverzichtbar. Dass man sich unverhohlen solcher Strategien bedient, um das unverwechselbare und einzigartige Gegenstück zur eigenen Person zu finden, macht das Konzept einer rein gefühlsbasierten Partnerwahl von vornherein zu einer paradoxen und fragilen Angelegenheit. Der kalkulierte Einsatz von Schemata des Suchens und Findens hat nur dann keine destruktiven Auswirkungen auf die Liebe als eben jenen ausgezeichneten Affekt, der seine Entscheidung über den richtigen Partner ganz ohne externe Veranlassung und fremde Einflüsse trifft, wenn die Liebe selbstreflexiv verfasst ist; wenn sie m.a.W. als die alles übergreifende Liebe zur Liebe eine vorgängige Einheit stiftet, die keine Eifersucht auf etwas Drittes und Rivalisierendes entfacht und jede eingeübte Anstrengung, jede Berechnung und sorgfältig geplante Investition als Teil einer Kausalreihe erscheinen lässt, die die Konstitution der Liebe und deren Selbstauslösekraft gar nicht berührt.18 Allein diese Selbstbezüglichkeit der Liebe, so behauptet Luhmann im Kielwasser des romantischen Liebesdiskurses, sorgt dafür, dass „das Selektionsbewußtsein“, in dem alle Vorkehrungen, Anleitungen und regelgeleiteten Maßnahmen der liebeshungrigen Probanden gespeichert sind, „latent bleiben und wieder verdrängt werden kann.“ (ebd., 24) Ob diese kühne und zweifelsohne faszinierende These haltbar ist, bleibe dahingestellt. Vielleicht reicht es im Rahmen der systemtheoretischen Erklärungsversuche schon aus, im vermeintlichen Latentisierungspotential der Liebe ein Indiz für ihre enorme Robustheit und Irritationsresistenz zu sehen und es aus ihrer unverzichtbaren sozialen Funktion herzuleiten. Dass die Liebe trotz vorhandener Verzichtspraktiken, andersartiger Beglückungen und alternativer Konzepte der Euphorieproduktion „als gesamtgesellschaftlicher Mechanismus“ nicht zu „ersetzen“ ist (ebd., 10), hebt Luhmann ja eigens hervor. Komplexe Gesellschaften sind außer 16 Schon Kants radikale Bestimmung der Ehe als Vertrag der beiden Partner über den „wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“ (Kant 1956 [1797] 390, § 24) bringt den Aspekt der formalen subjektiven Freiheit, der jetzt auch hier greift, mit aller denkbaren Drastik zum Ausdruck. Hegel bestimmt dagegen mit energischen Formulierungen die Liebe als Grundlage der Ehe und hebt die darin liegende soziale Notwendigkeit der sittlichen Abfederung einer tendenziell an egoistische Profitinteressen ausgerichteten bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft hervor (1968 [1821], 176-183, § 161169). 17 Welche Probleme die Schaffung der notwendigen praktischen Voraussetzungen für freie Partnerwahl im 18. und frühen 19. Jahrhundert aufwarf, davon zeugen die Briefe Hölderlins und Kleists. Die Chancen, geeignete Partner überhaupt kennenzulernen, waren gering und tragische Fixierungen keine Seltenheit. 18 Ist die Wahl einmal getroffen, die Entscheidung gefallen, so gilt jede Finte und Intrige, mit der man die geliebte Person sich zu eigen macht, ohnehin als erlaubt, wenn nicht sogar als geboten.
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Stande, das erreichte Niveau der Differenzierung und Temporalisierung ihrer Operationen zu halten, wenn sie darauf verzichten, die Individuen, ohne die auch autopoietische Systeme nicht laufen können, mit entsprechenden Sinngrundlagen zu versehen. Liebe leistet hier den entscheidenden Beitrag. Denn sie „vermittelt eine doppelte Sinnbestätigung: In ihr findet man, wie oft bemerkt, eine unbedingte Bestätigung des eigenen Selbst, der personalen Identität. Hier, und vielleicht nur hier, fühlt man sich als der akzeptiert, der man ist – ohne Vorbehalte und Befristung, ohne Rücksicht auf Status und ohne Rücksicht auf Leistung.“ (ebd., 8)19 Die Effekte solch einer Form der Deckung und Stabilisierung lassen sich schwerlich bestreiten: Kinder sind ohne liebevolle Zuwendung nicht überlebensfähig und auch „für Erwachsene gelingt [...] ein Ausgleich von Schicksalsschlägen, ein Aushalten einer problemreichen und fluktuierenden Umwelt besser und anstrengungsloser, wenn Intimbeziehungen feste Haltepunkte bieten und Gelegenheit, auszudrücken und bestätigt zu finden, daß man gerade in diesen Schwierigkeiten und trotz aller Veränderungen derselbe bleibt.“ (ebd., 10)
Damit die Liebe ihre Aufgabe erfüllen kann, benötigt sie freilich eine Art von „Gewißheitsverankerung“. Moderne Gesellschaften konfrontieren nämlich die Individuen mit vielgestaltigen Zumutungen und Belastungen, die die Liebe nur kompensieren kann, wenn sie den Akteuren Zugang zu einer Ressource verschafft, die durch ihre Evidenz (oder durch den Anschein von Evidenz) unmittelbar überzeugt und die höchste „Intensität des Bezugs zum anderen gewährleiste[t]“. Aus nahe liegenden Gründen wird hier die körperliche Seite der Liebe ins Spiel gebracht. Denn gerade sie erweckt am ehesten den Eindruck der Unhintergehbarkeit und erhält deshalb – trotz erheblichen Widerstandes von vielen Seiten – in der Moderne jenen bemerkenswerten Sonderstatus, der sie als fundierende Instanz ausweist: Mit anderen Worten: „Sexualität gewinnt für die Liebe eine Basisfunktion.“ (ebd., 25) Aber auch Evidenzen müssen, so steht zu vermuten, hervorgebracht und Fundamente gelegt werden. Zumindest benötigen sie semantischen Flankenschutz.20 Wenn der Aufbau von Kultur es unumgänglich macht, der Sexualität (oder dem ‚Natürlichen’ in Gestalt der Sexualität) eine Schlüsselstellung zu geben, so hat die Kultur auch dafür Sorge zu tragen, dass diese Position ausgefüllt wird und dem Kult der Liebe genügend Energien zufließen. Weil auf die „natürliche Sexualität“21 allein als Motiv zur „Einleitung einer Liebesbeziehung“ kein absoluter Verlass ist, müssen „zusätzliche Erregungsquellen“ angezapft werden. Heute findet man, wie Luhmann notiert, „in weitem Umfange kommerziell organisierte Erregungen, die, durch Schrift, Bild, Ton oder Aktionsgelegenheiten vermittelt, den Vorteil haben, 19 Vgl. die ähnliche Bestimmung bei Beck: „Angesichts der Relativierung und Auflösung aller Verbindlichkeit gewinnt Liebe den Status des letzten Ortes unbezweifelbarer Sicherheit.“ (1990, 254f.) 20 Zum Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik vgl. Luhmann 1980/81/89/95. 21 Deren Freisetzung von sozialer Disziplinierung und Repression war bekanntlich das Programm der Jugendrevolten Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Gerade von der ‚Natürlichkeit’ des Gefühls versprach man sich auch stimulierende Nebeneffekte für die politische Emanzipation, soweit nicht die enthemmte Ausübung der Sexualität, die oft zu Lasten der Frauen ging, selbst schon als ein politisches Ereignis gefeiert wurde. Die Prozesse der Desillusionierung setzten allerdings bereits früh (z.B. mit den Manson-Morden und dem merklichen Übergang von ‚weichen’ zu ‚harten’ Drogen in den Frontszenen) ein. Foucaults Abrechnung mit dem Projekt der sexuellen Emanzipation (1977) lieferte dazu nur die diskursive Ratifizierung.
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besser isolierbar und mit der Lebensführung im übrigen besser synchronisierbar zu sein.“ (1969a, 32)22 All diese systemtheoretisch inspirierten Bestimmungen, die auch vor der Darbietung von Trivialitäten nicht zurückscheuen, bilden nur die Folie, auf der die These Profil gewinnen soll, dass die spätmoderne Gesellschaft bestimmte Praktiken forciert und Diskurse begünstigt, welche die Leistung der sexuell fundierten Liebe schmälern und auf diese Weise soziale Erosionsprozesse auslösen können.23 Was Luhmann hierbei im Auge hat, sind Phänomene, deren Auftreten andere Autoren als Indizien der kommunikativen Verflüssigung moderner Orientierungsmuster interpretiert haben: Da „soziale Normen, Werte und Vorbilder keinen Allgemeingültigkeitsanspruch mehr haben“ (Döring 2003, 236), wird immer öfter die Gelegenheit ergriffen, konkrete Lebenspraktiken unter den direkt Betroffenen auszuhandeln.24 In besonderem Maße geraten intime Beziehungen in diesen kommunikativen Sog. Es kommt zur Entstehung eines „Beziehungsdauerdiskurses, der virtuell alle Dimensionen des Zusammenlebens einbezieht.“ (Meuser 1998, 217) Der romantische Liebescode, der bei all seinen Huldigungen an die Kraft der Sprache auch den „Inkommunikabilitäten“ im Liebesgeschehen einen gebührenden Platz einräumte (Luhmann 1995a, 198) und zu verstehen gab, dass die Liebe „sich auf Evidenzen (gründet), die sich nicht mitteilen und nicht verifizieren lassen“ (ebd.), wird jetzt verdrängt durch das Konzept der „Partnerschaft“, das die explizite Thematisierung und Diskussion aller anstehenden Probleme empfiehlt. An die Stelle der Leidenschaftsrhetorik tritt „die Semantik der Therapie. Von Genuß, von Sinnlichkeit, von Verzückung ist genauso wenig die Rede wie von Hingabe, Lust und Überwältigung. Stattdessen nur noch Arbeit, Sprechgebote und Kommunikationspflichten. Nichts darf ungesagt bleiben in diesem therapeutischen Offenbarungsmilieu.“ (Meuser 1998, 229)
Damit ist aber nach Luhmann gar nichts gewonnen, sondern nur die Tür zum Ruin der Paarbeziehung aufgestoßen: Jede „Aussprache“ (1995a, 201), die einen inhaltlichen Konsens anstrebt, reißt die Abgründe auf, die in jeder Kommunikation zwischen möglichen oder wirklichen Intimpartnern ebenso lauern, wie im moralischen Diskurs, der die Sprecher in achtenswerte und verächtliche Personen differenziert und mit hoher Wahrscheinlichkeit polemogene Konsequenzen hat. Die Auffassung, Gespräche seien ein probates Mittel zur erfolgreichen Aushandlung von gemeinsamen Lebensformen, resultiert in Luhmanns Augen aus einer Fehlinterpretation der empirisch nachweisbaren kommunikativen Aktivitäten. Zwar suchen Liebende 22 Eine alternative Erklärung liefert Giddens. Während bei Luhmann die Sexualität konsumistisch unterfüttert werden muss, stimuliert nach Giddens die freigesetzte Sexualität den Konsum: „Die herausragende Bedeutung der Sexualität kann [...] im Sinne einer Bewegung interpretiert werden, die aus der kapitalistischen Ordnung, die abhängig ist von Arbeit, Disziplin und Selbstverleugnung, heraus zu einer Ordnung führt, die das Konsumverhalten und damit den Hedonismus fördert“ (Giddens 1993, 191); vgl. hierzu auch die Analyse des Verhältnisses von Kapitalismus und sexuell eingefärbtem Hedonismus bei Bell (1976) und Illouz (2003). 23 Damit variiert Luhmann, ohne es zu erwähnen, Überlegungen von Sigmund Freud, die ebenfalls der gesellschaftlichen Schwächung der Sexualität als paradoxer Form kultureller Selbstdestruktion galten. 24 Vgl. die Befunde und Thesen von Beck (1986), Beck/Beck-Gernsheim (1990) und Giddens (1993), z.B. folgende lakonische Formulierung: „Leitende Normen verblassen, büßen ihre verhaltensprägende Kraft ein.“ (Beck/Beck-Gernsheim 1990, 15)
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„die Kommunikation – aber eigentlich nicht um der Kommunikation willen, sondern um einander beim Kommunizieren beobachten zu können. [...] Das Thema ist nur ein Vorwand.“ (ebd., 201) Die zur Führung einer gedeihlichen Beziehung erforderlichen inhaltlichen Konsense werden gerade nicht durch argumentativ gehaltvolle Verhandlungen und aufwändige intersubjektive Deutungsarbeit erzielt, sondern im Vorhinein kontrafaktisch unterstellt25 und durch „kommunikationsfreie Wahrnehmung“ (ebd., 199) gestützt. Gegen das modische Programm, das Feld der Liebe in ein Spiel- und Schlachtfeld der Kommunikation zu verwandeln, bringt Luhmann daher „die Unmittelbarkeit des Beobachtens“ in Stellung, die sich „im Körper-zu-Körper-Verhalten“ (ebd., 203) manifestiert. Betrachtet man die neuen Dating-Praktiken im Lichte dieser systemtheoretischen Beschreibung von Liebe und Liebescodierung, so erscheint die computerbasierte Umkehrung der üblichen Anbahnung von Paarbeziehungen als problematisch, weil sie den Faktor der körperlichen Wahrnehmung unter das Gesetz der Nachträglichkeit zwingt und kommunikativen Beiträgen Leistungen abverlangt, die diese nur selten erbringen können. Eine Überlastung bzw. Überforderung der Kommunikation würde aber im Endeffekt dazu führen, dass das „Selektionsbewusstsein“ nicht mehr latent gehalten werden kann. Und dies wiederum hätte gravierende Folgen: Liebe und Paarbeziehung würden – um auf Ulrich Becks bereits erwähnte Formulierung zurückzugreifen – „den Status des letzten Ortes unbezweifelbarer Sicherheit“ (1990, 224) verlieren.
I I I . D i e K r i ti sc he T h e o r i e d e r D at i n g - P r ax i s Es wird niemanden erstaunen, dass die Überlegungen zur „internet-vermittelten Partnersuche“, die im Umkreis der Frankfurter Schule angestellt wurden26, ganz andere Krisenszenarien entwerfen. Hier bedient man sich nicht der „Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation“ (Luhmann 1995a, 199) als erkenntnisleitender Denkfigur, sondern trennt zwischen verschiedenen Typen des kommunikativen Handelns. Strategische und dissimulative Kommunikationsweisen, in denen eine „instrumentelle Behandlung des Anderen“ vorliegt (Honneth 2005, 25), werden (mit mündlichen bzw. schriftlichen) Sprechakten kontrastiert, die an der Herbeiführung von wechselseitigem Verständnis interessiert sind und Akteure voraussetzen, deren Ich-Identität aus intersubjektiven Anerkennungsprozessen hervor25 Untersuchungen von Hahn (1983) und Eckert/Hahn/Wolf (1989) über junge Ehen bestätigen diese These Luhmanns. Vgl. dazu auch Loenhoff (1998, 206) und Landfester (2004). Hinter den Bedenken gegenüber einer alles durchdringenden, an Dialog und kommunikativer Verständigung orientierten Reflexion mögen grundsätzliche Erwägungen über die Probleme sozialer Transparenz stehen. Schelsky legt in diesem Punkt die Karten auf den Tisch: „... in den Bereich des kritischen und planenden Bewußtseins des einzelnen Menschen und der Gesellschaft gezogen und der mehr oder minder offenen Diskussion ausgeliefert, verlieren diese [gemeint sind: auf Tradition beruhende] Verhaltensweisen ihre sinnvolle und für Mensch und Gesellschaft gleich nützliche Funktion, die sie nur unterhalb der, wenn nicht Bewußtseins- , so doch wenigstens der Wort- und Diskussionsschwelle auszuüben imstande waren. Ihre Bewußtmachung und deren Popularisierung hat allerdings, anstatt zum freien und beherrschten Leben zu führen, nur neue und weit schwerer greifbare und zu ertragende Notstände, Unsicherheiten und Krankheiten des menschlichen und sozialen Verhaltens geschaffen, als Enge und Schranken der Tradition sie verursachten.“ (1955, 8) 26 Vgl. Honneth 2005, 105f.; Illouz 2006, 115ff.
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gegangen ist. Eine gelungene „individuelle Selbstbeziehung“ beruht, wie Honneth im Anschluss an Mead, Habermas und Winnicott zu zeigen versucht, auf einer Art der Bejahung, die „von uns verlangt, unsere Wünsche und Absichten als artikulationsbedürftigen Teil unseres eigenen Selbst zu verstehen“. Wenn wir hingegen „beginnen, diese vorauslaufende Selbstbejahung (wieder) zu vergessen, indem wir unsere psychischen Empfindungen nur noch als entweder zu beobachtende oder herzustellende Gegenstände begreifen“, dann entsteht „eine Tendenz zur Selbstverdinglichung.“ (ebd., 104) Spätmoderne Gesellschaften weisen Charakteristika auf, die einer solchen Haltung Vorschub leisten. Ähnlich wie Boltanski/Chiapello in ihrer bahnbrechenden Studie über den ‚neuen Geist des Kapitalismus’ (2003) vertritt Honneth die These, „dass sich [...] der vor einem halben Jahrhundert allmählich herangewachsene Individualismus der Selbstverwirklichung durch Instrumentalisierung, Standardisierung und Fiktionalisierung inzwischen in ein emotional weitgehend erkaltetes Anspruchssystem verkehrt hat, unter dessen Folgen die Subjekte heute eher leiden als zu prosperieren scheinen.“ (2002b, 154)
Die „Selbstverdinglichung“ ist in diesem Zusammenhang als eine besonders gravierende Form des Leidens zu betrachten, weil die Betroffenen sie nicht als Pathologie erkennen. Das Problem bleibt für die Akteure selbst unsichtbar und muss deshalb als extrem folgenreich eingeschätzt werden. „Alle institutionellen Einrichtungen, die die Individuen latent dazu zwingen, bestimmte Empfindungen bloß vorzutäuschen oder abschlußhaft zu fixieren, fördern die Bereitschaft zur Ausbildung selbstverdinglichender Einstellungen.“ (2005, 104f.) Dass Honneth neben der neuerdings üblichen Form beruflicher Bewerbungsgespräche27, in denen sich Konzepte des Ich-Marketings bewähren, auch das Internet-Dating als markantes Beispiel anführt, hat folgende Gründe: „Hier zwingt die Art der standardisierten Kontaktaufnahme die jeweiligen Benutzer zunächst dazu, ihre Eigenschaften in dafür vorgesehene, skalierte Rubriken einzutragen, während sie nach der Feststellung von sich hinreichend überlappenden Eigenschaften dann als elektronisch ausgewählte Paare dazu angehalten werden, über ihre Gefühle sich wechselseitig im schnellen Zeittakt von E-Mail-Nachrichten zu informieren. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich auszumalen, wie auf diesem Weg eine Form der Selbstbeziehung gefördert wird, in der die eigenen Wünsche und Absichten nicht mehr im Lichte persönlicher Begegnungen artikuliert, sondern nur noch erfaßt und gleichsam vermarktet werden müssen.“ (ebd., 105f.)
Die beiden zentralen Gegenstände, an denen sich die Kritik des Internet-Datings entzündet, sind die Standardisierung28 und die Vermarktung von Gefühlen bzw. 27 „Anstatt über bereits erworbene Qualifikationen zu berichten“ sind die Kandidaten jetzt gehalten, ihr „zukünftiges Arbeitsengagement möglichst überzeugend und effektvoll zu inszenieren.“ (Honneth 2005, 105) 28 Honneth hat bei seiner Kritik eine für die Gegenwartsgesellschaft typische Paradoxie vor Augen: „insgesamt lässt sich [...] von einer gewissen Tendenz sprechen, standardisierten Mustern der Identitätsfindung zu folgen, um doch eigentlich experimentell den eigenen Persönlichkeitskern zu entdecken.“ (2002b, 152) Die ‚klassische’ Kritik an Prozessen der Standardisierung und Stereotypisierung, die Ähnlichkeit zur Signatur von Kultur machen, tragen Horkheimer/Adorno (1969 [1947], 128ff.) vor.
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Gefühlsbekundungen. Schon mit der Erstellung des sog. „Profils“, das den ausgewählten Diensten die erforderlichen Informationen für die Suche eines passenden Partners zur Verfügung stellt, begibt sich das Subjekt in eine verfängliche Situation, deren eigentümlich zwanghafte Struktur Eva Illouz mit den Begriffen „Selbstbeobachtung“, „Selbstklassifikation“ und „Selbstrepräsentation“ (2006, 116ff.) zu erläutern versucht. Auffällig an dieser Art der zweckgerichteten Verwendung einer neuen und vielversprechenden Kommunikationstechnologie ist der reduktionistische Einsatz, der im Kontext der Dating-Praxis gepflegt wird.29 Statt die computertechnischen Mittel so zu verwenden, dass ein „flexibleres, offenes und multiples Selbst“ in Erscheinung tritt, greift man auf „psychologische Selbsttechnologien“ (ebd., 121) zurück, die allen wohlgemeinten Entwürfen postmoderner Identitätsmodi Hohn sprechen; und das derzeit avancierteste Medium – der Computer – erweist sich als ausgesprochen hilfreich dabei, all jene Utopien, die sich auf seine verhaltensprägenden Wirkungspotenziale verlassen haben, zu entkräften. Im Umgang mit dem Internet lernen die Subjekte offenbar nicht ohne weiteres, dass sie nur als „eine Multiplizität von zu spielenden Rollen“ ganz zu sich selbst kommen, sondern sie nutzen (zumindest in der Dating-Praxis) die bereitgestellten Instrumentarien, um ein eigenes „Kernselbst“ freizulegen, „das sich über eine Vielzahl von Repräsentationen einfangen lässt (Fragebogen, Photo, E-Mail etc.).“30 Das „Internet selbst“ lässt sich daher – wie Illouz polemisch formuliert – als Produkt einer erfolgreichen „Wiederbelebung des alten cartesianischen Dualismus zwischen Körper und Geist“ (ebd., 122) interpretieren. Als Fazit dieser Analyse ist festzuhalten, dass die Suche nach einem fixierbaren „Kernselbst“, das sich nur als dualistisches Gebilde erfassen und auf der Basis standardisierter Kontaktmuster31 kommunizieren lässt, letztlich zur Verkehrung von Selbstentwürfen in Selbstzwänge führt. Damit gelangen Honneth und Illouz bei ihren Analysen der aktuellen InternetDating-Szene zu Ergebnissen, die verblüffende Übereinstimmungen mit einer frühen Studie von Habermas über Heiratsannoncen aus dem Jahre 1956 aufweisen.32 Dort hatte Habermas behauptet, dass Menschen, die den „Heiratsmarkt“ der Tageszeitungen oder Wochenend-Magazine betreten und „einen vorgedruckten Fragebogen“ ausfüllen, sich „einem System vergleichbarer und das heißt meßbarer Leis29 Dass die kreativen Gestaltungsmöglichkeiten, die die Computertechnik grundsätzlich bietet, tatsächlich weit weniger, als man wünschen und erwarten könnte, genutzt werden, lässt sich auch in anderen Zusammenhängen feststellen. Vgl. dazu Funken 2004, 207f. 30 Damit erheben sich auch Zweifel an der generellen These, dass elektronische Kommunikationstechniken als Trainingsfeld für postmoderne Persönlichkeiten dienen. Ob man durch die ausgiebige Nutzung ‚des’ Computers tatsächlich Praktiken einer neuen Intimkultur erlernt, mit deren Hilfe die „Logik der Expressivität“ an die „Logik der Wahl“ gekoppelt werden kann, ist eine offene Frage. Vgl. zu dieser Annahme Reckwitz 2006, 553. 31 In welchem Sinne auch noch Abweichungen einem vorgegebenen Programm folgen, versucht Illouz durch den Vergleich von textlicher Information im Fragebogen und Foto aufzuzeigen: „Während ein erfolgreiches psychologisches Profil verlangt, sich von der homogenen Masse des ‚Ich bin lustig und spaßig’ zu unterscheiden, verlangt das photographische Profil demgegenüber eine Übereinstimmung mit den etablierten Richtlinien für Schönheit und Fitness. Im Netz sind folglich diejenigen am erfolgreichsten, die sich über ihre sprachliche Originalität und ihre physische Konventionalität auszeichnen.“ (2006, 125) 32 Einen guten Überblick über die Entwicklungen im Bereich des „dating advertisement“ gibt Jagger 1998.
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tungen“ ausliefern, in dem „die Person(en) grundsätzlich auswechselbar“ (1956, 997) sind. Man wirbt um einen gleichgesinnten Partner mit „Selbstdarstellungen“, die „hochgradig stereotyp und stark ideologisch“ ausfallen. Die Subjekte ziehen als „Masken (ihrer) selbst [...] in den Kreislauf der großen Börse ein“ und gerinnen „zu Dingen unter Dinglichkeiten.“ (ebd., 998)33 „Unübersehbar klafft der Widerspruch zwischen der vom geltenden Liebesideal zugespielten und zugemuteten Rolle auf der einen und der rationalisierten Praxis der Heiratsbörse auf der anderen Seite.“ (ebd., 999) Aber trotz dieser deutlichen Unvereinbarkeit wählen die meisten ‚Interessenten’ Muster aus, die eine Kombination aus Romantik und Geschäft bieten. Wahrscheinlich ist es gerade die Kommerzialisierung der Gefühle, die zum Aufbau erstaunlich robuster Illusionen führt. Das Enttäuschungsrisiko wiegt angesichts der vorteilhaften Aussichten, die die Inserate bieten, offenbar gering. Und eine der verlockendsten Möglichkeiten besteht darin, sich auf dem Wege der standardisierten Kontaktanzeige „bei der Partnerwahl von der verantwortlichen Initiative [...] zu befreien.“ (ebd., 1004) Die gewählte marktgerechte Anbahnungsstrategie entpuppt sich demnach bei genauerer Betrachtung als Versuch, ein heikles, aber wesentliches Element jedes ernsthaften Liebesspiels auszuschalten. Wer so vorgeht, erleichtert sich vielleicht den Weg zum Anderen, verbaut sich aber zugleich die Glückspotenziale, die die Liebe unter günstigen Bedingungen entbinden kann. Mit dem vorwurfsvollen Hinweis auf die Entlastungsfunktion solcher Verfahren trifft Habermas nicht nur den entscheidenden Punkt des Problems, er kommt auch den Überlegungen konservativer Soziologen recht nahe. Während der kritische Theoretiker den Rückgriff auf Annoncen, Schablonen und Klischees als Ausweichmanöver beschreibt, in dem sich letztlich die Angst vor einer verantwortlichen Wahl des Intim- und Lebenspartners bekundet, üben die soziologischen ‚Abklärer’ Luhmann und Schelsky Nachsicht mit den gestressten Subjekten.34 Luhmann vertritt – wie bereits erwähnt – die These, dass der Einsatz standardisierter Suchprogramme, soweit sie das ‚Finden’ eines geeigneten Partners nicht als puren Zufallstreffer oder als Ergebnis einer strategischen Wahl diskreditieren, die beachtlichen Risiken der Kommunikation mindert. Luhmanns Lehrer Schelsky wird in seinem Bestseller über die Soziologie der Sexualität noch deutlicher: „Nichts hat den Menschen im Verhältnis zu seinen Trieben mehr überfordert als das Ansinnen, unmittelbar Person und Individualität sein zu wollen“. Um diese Zumutung zu entschärfen, sind „Standardisierung und Konventionalisierung“ bzw. „die soziale Durchformung des geschlechtlichen Verhaltens“ auch in der modernen Gesellschaft sinnvoll und unverzichtbar (1955, 127).35
33 An einer anderer Stelle spricht Habermas mit sichtlicher Lust am Paradox von der „Verschleierung eines offenen Antagonismus des Heiratsmarktes, der die ‚Persönlichkeitswerte’ des Einzelnen behauptet, um gleichzeitig die Person auf ihre dinglichen und verdinglichten Attribute zu reduzieren.“ (1956, 1000) Diese Reduktion werde besonders deutlich an den Fotos, die dem „Heiratsbrief“ an den unbekannten Partner beigefügt sind und die im Abbild verdoppelten Körper in „Phantome“ verwandle: „Das Foto [...] tut ein Letztes, um den abstrakten Marktmechanismus mit dem Ideal der schicksalhaft einzigen Liebesbegegnung zu verfärben; von ihm geht nämlich die normierende Kraft aus, die das Einzigartige standardisiert, aber noch in seiner Standardisierung das Einzigartige verspricht.“ (ebd., 1003) 34 Soziologische Aufklärung – so der Titel von Luhmanns sechsbändiger EssaySammlung (1969-1995) – wird ausdrücklich als „Abklärung“ verstanden. 35 Martin Heidegger hat sich diese Hinweise anscheinend zu Herzen genommen und einen Standard-Liebesbrief (heute im Literaturarchiv zu Marbach verwahrt) an seine
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Die Bestimmung pathologischer oder heilsamer Effekte von Verhaltensstandardisierungen und medialen Distanzierungstechniken ist – wie die vorgeführten Argumentationen zeigen – eine schwierige Aufgabe, die wohl nur erfolgreich bewältigt werden kann, wenn man die Analyse-Perspektive und die Leitbegriffe ändert. Ehe wir hierzu (in Abschnitt IV) einen Vorschlag machen, ist aber noch kurz das Problem der Kommerzialisierung von Gefühlen anzusprechen, das bei Habermas, Honneth und Illouz stets mit der Genese von Standardisierungsformen des Geschlechterkontakts in Zusammenhang gebracht wird. Eine besonders negative Einschätzung erfährt die Kombination von Geschäft und Romantik, als deren Höhe- und vielleicht Wendepunkt die aktuellen Gestalten der Selbstvermarktung in den „romantischen Netzen“ der virtuellen Realität gelten (Illouz 2006, 115). Bekanntlich befreit das romantische Liebeskonzept die Partnerwahl von traditionellen Vorgaben bzw. Zuteilungsmechanismen und feiert Gefühle, die im Angesicht des einzigen und richtigen Anderen jäh aufkeimen, als außeralltägliche Ereignisse. Es ist daher nicht weiter überraschend, dass die Meinung vorherrscht, die Romantische Liebe nähre einen anti-ökonomischen Impuls und stelle sich mit extremer Entschiedenheit gegen die Sphäre der kapitalistischen Warenproduktion, des Marktes und des Konsums. Darüber hinaus scheint sich der radikale Entwurf personaler Zweisamkeit, die eine affektive Vereinigung zur alleinigen Basis hat, von Beginn an von einem bestimmten bedenklichen Aspekt des modernen Individualismus zu distanzieren. Im Individualismus verbergen sich nämlich ideologische Kräfte, die die Selbständigkeit des Einzelnen direkt mit dem wirtschaftlich und politisch formierten Ganzen koppeln36 und die leidenschaftliche Ich-Du-Beziehung des Paares marginalisieren. Diese Sicht prägt sogar noch die heutigen Ausläufer des romantischen Liebescodes.37 Nicht zufällig hat daher Ulrich Beck auch die ‚ganz normale chaotische Liebe’ in den Zeiten der Spätmoderne als „Gegenindividualisierung“ charakterisiert, mit deren Hilfe sich die Individuen vor der „anomischen Kehrseite“ des bürgerlichen Individualismus38 „retten“ können (1990, 253; vgl. 239). Die Lust- und Passionskomponente der Liebe führt aber nicht generell zu einer antikommerziellen Einstellung. Mit der kulthaften Pflege der Außeralltäglichkeit ist keine grundsätzliche Negation des Konsums von Gütern verbunden, die sich als Zeichen einer hohen Gefühlsbindung verwenden lassen.39 Die heute viel diskutierte
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zahlreichen Gespielinnen geschickt. Die libidinöse Wirkungskraft des Jargons der Eigentlichkeit dürfte darunter kaum gelitten haben. Das heißt: Familie, Peer Group und andere Kleingruppen-Bindungen werden im Prinzip nicht mehr als subjekt-konstitutive Faktoren betrachtet. Individuen erhalten gleichsam unmittelbar Zugang zu den ausdifferenzierten Funktionssystemen und sind dann im Wesentlichen auf sich allein und ihre Leistungs- und Anpassungsfähigkeit gestellt. Im sog. Modell der ‚Companionship’ ist dem romantischen Code freilich inzwischen ein starker Konkurrent erwachsen. Im Rahmen dieses Modells werden die „Risiken der Kommunikation“ eher gering eingeschätzt und auch die „Konsensfiktionen“, von denen oben bereits die Rede war, gelten als prinzipiell vermeidbar. „Individualisierung bedeutet Marktabhängigkeit in allen Dimensionen der Lebensführung. Die entstehenden Existenzformen sind der vereinzelte, sich seiner selbst nicht bewusste Massenmarkt und Massenkonsum für pauschal entworfene Wohnungen, Wohnungseinrichtungen, tägliche Gebrauchsartikel, über Massenmedien lancierte und adoptierte Meinungen, Gewohnheiten, Einstellungen, Lebensstile. M.a.W., Individualisierungen liefern die Menschen an Außensteuerung und -standardisierung aus, die die Nischen ständischer und familialer Subkulturen noch nicht kannten.“ (Beck 1986, 212) Vgl. Campbell 1987; Illouz 2003; Honneth 2003a.
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Entsachlichung des postfordistischen Kapitalismus und die weiträumige emotionale Aufladung der ökonomischen Sphäre40 nimmt durch die „Passionierung der Liebe“ (Luhmann 1982) zumindest teilweise ihren Anfang. Auf Waren, die marktförmig distribuiert und feilgeboten werden, fällt nicht ohne Unterschied der Schatten ihrer Genese. Dass sie Arbeitsprozessen entspringen, die durch Profitmaximierung und ungerechte Löhne geprägt sind, wird irrelevant, wenn sie in den Kreislauf einer anderen ‚Ökonomie’ eintreten, die sich nicht durch Kälte, Disziplin und Rationalität auszeichnet. Konsumgüter, die im Liebesspiel eine Funktion übernehmen, signalisieren nicht Berechenbarkeit und Dinghaftigkeit, sondern dienen als Symbole der Wertschätzung. Die Höhe des Kaufpreises wird praktisch zu einem Gradmesser des Gefühls und Akte finanzieller Verschwendung, gar Verschuldung geraten zu Sinnbildern einer zügel- und maßlosen Gefühlsinvestition. Waren erhalten eine Aura41, die den Zustand des erreichten Glücks zur Anschauung bringt. Dies gilt zum Beispiel für teure Geschenke (Schmuck, Kleidungsstücke, Blumen), gemeinsame Ausflüge und Reisen, aufwendig zelebrierte Theater- und Museumsbesuche etc. Selbst die Personen als Ganze geraten in den Konsumsog. Indem sie sich bereitwillig in besondere, seltene Waren verwandeln, möchten sie an der Aura der käuflichen Dinge teilhaben, ohne dem Nimbus der Liebe zu schaden. Vor dem Hintergrund dieser Skizze wirkt jede Kritik der neuen Dating-Praxis, die mit den Begriffen Konsumismus und Kommerzialisierung unbeschwert hantiert, merkwürdig naiv. Illouz, die selbst eine beachtliche Analyse des Zusammenhangs zwischen Romantik und Konsum vorgelegt hat, versucht die entscheidende Differenz zwischen der romantischen Liebe im Hochkapitalismus und der Partnerbörsen-Romantik im gegenwärtigen ‚Turbokapitalismus’ (vgl. Agger 2004) herauszuarbeiten: „Der Konsumkapitalismus hat die romantische Liebe eher verstärkt als zerstört. [...] Gerade weil das so war, konnte man nicht einfach davon ausgehen, daß die Sphäre der Waren die Empfindungen degradiere.“ Die heutige „Situation“ im Bereich des Online-Datings „ist qualitativ anders. Die romantischen Beziehungen werden nicht nur im Rahmen von Märkten organisiert, sie sind selbst zu Fließbandprodukten geworden, bestimmt zu schnellem, effizienten, billigem und reichlichem Konsum. Als Konsequenz daraus wird das Vokabular der Emotionen mittlerweile fast allein vom Markt diktiert.“ (Illouz 2006, 135) Ob diese Argumention mit all ihren deterministischen Untertönen („bestimmt“, „diktiert“ etc.) stichhaltig ist, möchten wir hier nicht vorschnell entscheiden. Denn es ist wichtiger, sich – über das bereits Gesagte hinaus – noch mehr Klarheit darüber zu verschaffen, warum die Standardisierung und Kommerzialisierung von Liebeskommunikation für die Akteure derart attraktiv sind. Ein vordringliches Motiv, gerade diese beiden Zurichtungen der Liebe zu akzeptieren, dürfte darin liegen, dass sie die Kontrollierbarkeit von Gefühlen suggerieren und den Einzelnen förmlich ermächtigen, das Irrationale und Unverfügbare, das der Liebe anhaftet42, in den Griff zu bekommen. Freilich sollte man eines nicht verkennen: Die berechnende, kalkulierende und manipulative Haltung zum Gefühl der Liebe und zur Sprache der Liebe ist keine blanke Illusion, die per se und dann auch noch rasch scheitern muss. In gewissem Umfang – das belegen die Fakten, 40 Vgl. Boltanski/Chiapello 2003; Neckel 2005. 41 Dass der Fetischcharakter der Waren, den Marx analysierte, nicht nur darin besteht, die Produktion des Mehrwerts zu verdecken, sondern auch auf dem Feld der Partnersuche und Liebeswerbung eine zentrale Rolle spielt, haben Balzac, Proust und nicht zuletzt Benjamin im Detail aufgezeigt. 42 Die Maßlosigkeit und Unvernünftigkeit der Liebe ist bekanntlich eines der großen Themen der antiken und frühneuzeitlichen Tragödie.
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auf die sich zum Beispiel Arlie Hochschilds eindrucksvolle Studie (1990) bezieht – ist das Herz käuflich und das Gefühl ein Produkt diskursiver Praktiken, in denen historisch variable Codes zur Anwendung gelangen.43 Beck-Gernsheim hat das Spannungsfeld, in dem Liebe und Liebeskommunikation angesiedelt sind, treffend umrissen: „Einerseits sind Gefühle [...] ein ‚bewußtes Konstrukt’, ein Produkt inneren Aushandelns, d.h. zum Teil vom Kopf gesteuert.“ Andererseits sind Gefühle „irrational und deshalb gefährlich. Sie sind die großen Verführer, die unsere Wahrnehmung verzerren, uns täuschen.“ (1990, 9)44
IV. Daten und Optionen Wenn es zutrifft, dass nicht allein auf dem Feld der Liebe und Paarbildung, sondern auch in anderen Lebensbereichen die handlungsorientierende Kraft von Normen und Werten im Schwinden begriffen ist, dann sind die Individuen mit einer Situation konfrontiert, die sie als Chance zur kreativen Selbstentfaltung oder als Gefahr der Überforderung deuten können. Dass die avancierten Kommunikationsmedien bei der Bewältigung der vorliegenden Probleme eine entscheidende Rolle spielen, steht außer Frage. Manche (z.B. Habermas) betrachten sie als öffentlich zugängliche Arenen, in denen neue, zeitgerechtere Normen vorgeschlagen, diskutiert und in Geltung gesetzt werden können. Andere (z.B. Luhmann) halten diese Lösung für hoffnungslos ‚alt-europäisch’ und unangemessen; sie weisen den Medien vielmehr die Aufgabe zu, die Gesellschaft mit einem Fundus an Themen auszustatten, aus dem in jeder Lebenslage Sinnelemente zu entnehmen sind, die erfolgreiche Anschlusskommunikationen gewährleisten. Während dort Normen und Werte als unverzichtbare Orientierungsmarken des Handelns gelten, erscheinen sie hier als Regulationsmechanismen, die sich den Veränderungen in einer extrem dynamischen Gesellschaft nicht genügend anpassen können und daher teils durch elastischere Richtgrößen, teils durch latente Strukturen (etwa die oben schon erwähnten Konsensfiktionen) ersetzt werden müssen. Es gibt freilich noch andere Möglichkeiten45: An die Stelle der Normen und Werte können nämlich auch medial präsentierte Datenlandschaften treten, in denen sich die einzelnen Akteure frei positionieren. Nicht länger dienen explizite Vorschriften, nach denen man sich zu richten hat, als Bezugspunkte des Handelns, sondern soziale Mit- oder Nachschriften, aus denen sich Informationen über das Verhalten der Anderen entnehmen lassen, die durch eigene Erfahrungen und Anschauungen nicht gewonnen werden können. Das in den Medien dargebotene Material, das durch eine ständig auf den aktuellsten Stand gebrachte Selbstbeobachtung der Gesellschaft gewonnen wird, erzeugt – trotz der zumeist suggestiven Präsentation – keine Verhaltenszwänge, stellt keine Forderungen, sondern ist ein Angebot, aus denen jedes Individuum frei wählen kann. Zu den hervorstechendsten Merkmalen der medial zugänglich gemachten Informationen gehört ihre sogenannte ‚normalistische’ Struktur. So ergibt etwa die statistische Aufbereitung der Daten in den unterschiedlichsten Bereichen eine stets wiederkehrende Art der Verteilung: Bestimmte Verhaltensweisen und Meinungen treten gehäuft auf und andere eher selten. Man spricht in diesem Zusammenhang von der ‚Normalverteilung’, die sich
43 Vgl. Foucault 1977, Luhmann 1982. 44 Vgl. hierzu auch die vorzüglichen Überblicksartikel von Neckel 2005; 2006. 45 Vgl. hierzu im Detail Link 1996; Funken 2001a sowie Ellrich 2001; 2007.
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durch ‚Gauß-Kurven’ bzw. ‚Glockenkurven’ mit hohen Werten im mittleren Bereich und geringeren Werten in den beiden Randzonen veranschaulichen lässt. Orientierungsbedürftige Subjekte können nun mit den gelieferten Daten auf zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten umgehen: Einerseits können sie das homogene Datenfeld durch scharfe Schnitte unterteilen und so das Normale vom Anormalen, Abweichenden, Krankhaften etc. abtrennen – Jürgen Link bezeichnet diese Einstellung als „proto-normalistisch“ (1996, 75ff.) –; andererseits können sie sich auf die kontinuierliche Anordnung der Daten, die keine Anhaltspunkte für deutliche Grenzziehungen liefert, als angemessene Repräsentation der Verhältnisse einlassen und je nach Situation und Zeitpunkt eine für sie günstige Position im Datenfeld anstreben bzw. einnehmen. Letztere Haltung wird „flexibel normalistisch“ genannt und hat sich in den letzten Jahren für zahlreiche Individuen als eine attraktive Form des Umgangs mit den eigenen Orientierungsbedürfnissen erwiesen. Besonders anziehend an der flexibel normalistischen Einstellung ist die durch sie ermöglichte Kombination von individueller Wahlfreiheit und der gleichzeitig gewährten sozialen Einbettung oder gar Eingliederung in das Bestehende. 46 Der Einzelne hat den Eindruck, dass er sich in einem Feld hinreichend verlässlicher medialer Informationen47 über die Wahlentscheidungen aller anderen Akteure souverän bewegen kann und nach Bedarf Halte- oder Zielpunkte findet. Diesem zwanglosen Umgang mit Datenmaterial, das in übersichtlichen Kurven, Diagrammen, Schemata, Schaubildern etc. eine zumeist leicht handhabbare Gestaltung findet, korrespondiert auch eine legere Beziehung zu Standardisierungen, Mustern, Fragebögen, Profil-Schablonen etc. Von Vorlagen dieser Art geht keine bezwingende Kraft auf die Subjekte aus. Sie werden daher auch nicht als Gebilde interpretiert, die einen latenten oder manifesten Anspruch erheben, dem man sich unbedingt beugen müsste. Statt die Akteure auf bestimmte Optionen festzulegen, eröffnen sie vielmehr einen Raum von Möglichkeiten, der durchquert werden kann, ohne dass die explorativen Schritte von hemmenden Gefühlen der Angst oder Ohnmacht begleitet sind. Jede Bestimmung und Fixierung innerhalb eines verdateten Feldes trägt den Index der sachlichen, zeitlichen und sozialen Revidierbarkeit und verliert deshalb auch nie seinen letztlich provisorischen Charakter. Aus der Warte dieser flexibel normalistischen Weltsicht, die sich zunehmend verbreitet und immer mehr Zuspruch findet, erscheinen die klischeehaften Züge der Dating-Praxis nicht als alarmierende Signale menschlicher Selbstverfehlung, sondern eher als mehr oder minder nützliche Handwerkszeuge im Rahmen von Probe-
46 Eine vergleichbare Diagnose zur optionalistisch verfassten Gegenwartskultur hat Reckwitz (2006, 441-628, insbes. 544ff.) abgegeben. So behauptet er z.B., dass es „seit den 1970 und 80er Jahren“ zu einer „Transformation der leitenden konsumatorischen Praktiken von einem normalistischen zu einem individualistischen Konsum“ (ebd., 557) gekommen ist. Übersetzt man diese Diagnose in die Terminologie, die Jürgen Link (1996) vorgeschlagen hat, so handelt es sich dabei um die Transformation von einer primär am Durchschnitt qua Normalität orientierten proto-normalistischen Massenkultur (der Angestellten) zu einer flexibel-normalistischen Haltung in der Spätoder Postmoderne. 47 Es handelt sich dabei 1. um statistisch aufbereitete Informationen über die ganze Bandbreite des erfassbaren Verhaltens, 2. um populäre Game-Shows, Talk-Shows, Reality Soaps etc., also um Formate, die Experimentier-Räume zur Verfügung stellen, in denen darüber diskutiert und jeweils ad hoc entschieden wird, was derzeit akzeptabel und inakzeptabel ist und 3. um die mediale Darbietung spektakulärer Einzelfälle, die bei den Zuschauern einerseits Angst schüren, andererseits (durch die deutlich markierte statistische Seltenheit) auch wieder beruhigend wirken.
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handlungen, die zumeist eine sinnvolle Ergänzung der Partnersuche im ‘Real Life’ darstellen und nur selten als deren vollständiges Substitut betrachtet werden. In Anbetracht der vorhandenen Orientierungsprobleme auf dem Feld von Liebe und Partnerschaft bietet sich das Internet-Dating nicht zuletzt auch als ein geeignetes Gefühls- und Reaktions-Training an. Hier wird der kühle, aber keineswegs böse Blick auf den Markt voller Rivalen, Konkurrenten und Solidargenossen mit der Lust an der menschlichen Wahl- und Handlungsfreiheit auf sehr produktive Weise verknüpft.
V . D i e v e r m e i n tl i c he E n t p r i v i l e g i e r u n g des Körpers im Netz Auch in einer weiteren Hinsicht zerstreuen sich bei näherer Betrachtung und verändertem Blickwinkel die starken Bedenken, die von Seiten der Systemtheorie und der Kritischen Theorie der Gesellschaft vorgetragen werden. Beide Ansätze warnen ja (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) vor einer unangemessenen Vernachlässigung bzw. falschen Gewichtung des Körpers.48 Luhmann beanstandet (wie oben dargelegt) die spätmoderne Unterschätzung der kommunikationsfreien Wahrnehmung in Liebesdiskursen und Anbahnungspraktiken. Und Illouz zeigt, dass „die Vorstellungskraft im Internet“ – im Unterschied zur körperzentrierten „romantische[n] Vorstellungskraft“ – sich in einer Weise entfaltet, die den Körper virtualisiert und damit „die Wahrnehmung ihres existentiellen Hintergrunds“ beraubt. Das vertextete Wissen, mit dem die Subjekte einander im Netz umgarnen, ist „entbettet und losgelöst von kontextueller und praktischer Kenntnis der anderen Person.“ (2006, 154) Man lässt sich zu dieser Ausdünnung oder gar Auslöschung des Körpers verleiten, weil man glaubt, auf diesem Wege dem eigenen Selbst „einen scheinbar vollständigeren Ausdruck“ zu geben (ebd., 114)49 und auch vom Internet-Partner ein besseres, annähernd authentisches Bild zu gewinnen. In Wahrheit aber arbeitet man – wie Illouz darlegt – an der Fragmentierung der subjektiven Identität und weicht einer Begegnung mit dem Anderen, die das Prädikat „holistisch“ (ebd., 15) verdient, aus. Bemerkenswert und problematisch an dieser Diagnose ist der generalisierende Zugriff: Einzelne Aspekte von Internet-Nutzungen werden zunächst als Indizien für das gesamte Feld des Internet-Einsatzes gedeutet 48 Eine Inhaltsanalyse von Kontaktanzeigen aus dem Jahre 1995 hat ergeben: „that the body is central to identity for both men and women“. Darüberhinaus ist deutlich geworden, „that traditional gendered stereotypes may now be changing as men and women deal with a context of a novel set of conditions.“ (Jagger 1098, 795) 49 Damit fügt sich die Internet-Nutzung – wie es auf den ersten Blick scheint – in das abendländische Projekt der Unterwerfung des Körpers unter den Geist ein. Dass gerade auch die diskursive Transzendierung der körperlichen Liebe ein wesentlicher Teil unserer platonisch-christlich geprägten Kultur (gewesen) ist, hat insbesondere Foucault herausgearbeitet: „Die Sexualität ist für unsere Kultur nur als gesprochene von entscheidender Bedeutung.“ (Foucault 1977, 176) Aus diesem Grunde musste, seiner Ansicht nach, auch das 68er Projekt der freien körperlichen Liebe ebenso scheitern wie ähnlich radikale Versuche, diese lange Tradition durch erotischen ‚Aktionismus’ zu brechen. Man darf bei derartigen Feststellungen aber nicht den Wandel der sozialen Funktion des Körpers außer Acht lassen. Denn die gravierende Veränderung der Kontroll- und Ordnungsformen in der Moderne hat dazu beigetragen, den Körper zur individuellen Verwendung und Gestaltung weitgehend freizugeben. Vgl. zu diesem Prozess u.a. Bette 1987 und Ellrich 1997.
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und sodann (unter Rekurs auf die zweifellos großartige Wahrnehmungs- und Körpertheorie von Merleau-Ponty) als mögliche Quellen von Pathologien ausgemacht. Am Ende ergibt sich das Bild einer fatalen ‚libidinösen Beziehung’ von Hyperrealität und „Hyperrationalität“ (ebd., 168), die dem Menschen als leib-seelische Einheit nur schaden kann. Empirische Studien zu den diversen Formen der Repräsentation des Körpers in den virtuellen Welten (Chats, MUDs, MOOs, digitale Kunstperformances etc.) belegen freilich, dass Illouz einfache Beschreibung und Bewertung der Lage nicht gerecht wird.50 Von einer ‚Auslöschung’ oder Überwindung des Körpers kann – im strengen Sinne – keine Rede sein. Die ‚klassischen’ KI-Fantasien, die durch die Bücher von Marvin Minski und Hans Moravec viel Verbreitung gefunden haben und jüngst noch einmal in der Variante von Ray Kurzweil für Aufregung sorgten, haben keinen deutlichen Niederschlag in den konkreten Netzoperationen gefunden. Ein anderer Eindruck herrscht vor: Die mediale Distanzierung des Körpers ist derart offensichtlich, dass sie gerade dadurch die Aufmerksamkeit der Nutzer und Nutzerinnen weckt und förmlich nach einer spezifischen Art der ‚Wartung’ verlangt. Zuweilen stößt man auch auf merkwürdige Kompensationsphänomene. So werden im Netz erstaunlich oft traditionelle Signale für körpergebundene Geschlechtsmarkierungen, die im ‚Real Life’ bereits ins Wanken oder aus der Mode gekommen sind, eingefordert und akzeptiert (Funken 2004, 208). Grundsätzlich sind zwei Typen der Körper-Thematisierung im Kontext der Computertechnik zu unterscheiden. Diese beiden Typen lassen sich mit den Begriffen „digitaler Körper“ und „Körperkonstruktion“ charakterisieren. Der Ausdruck „digitaler Körper“ (ebd., 218ff.) bezeichnet den Fokus medialer Experimente, die eine substanzialistische Note aufweisen. Hier wird die Computertechnik zum Einsatz gebracht, um zu leibgrundierten Eigenheiten vorzustoßen (Ekelschwellen, vegetative Vorgänge, Schmerzgrenzen, Formen der Panik und der Euphorie etc.), die den Akteuren einen Zugang zur Wahrheit des Körpers verschaffen sollen. Der Kontrollverlust, die Erfahrung der Unverfügbarkeit, das Erlebnis, schlagartig oder kaum merklich aus einer aktiven Position in eine passive Lage zu geraten, sind dabei nicht nur einkalkuliert, sondern entscheidende Aspekte der Versuchsanordnung. Mit Blick auf das ‚Wesen’ körperlicher Nähe zu anderen Personen, also auf intime Beziehungen und Phänomene wie partnerschaftliche Liebe oder geteiltes Glück, erteilt gerade der virtuose und bis ins Detail geplante Umgang mit dem Computer eine fast überdeutliche Lehre: Die letzten Wahrheiten und tiefsten Gefühle unterliegen nicht in unserer noch so technisch gestützten Verfügungsmacht, sie fallen uns entweder zu oder bleiben uns versagt.51 Der Ausdruck „Körperkonstruktion“ (ebd., 226ff.) indiziert hingegen einen subjektivistischen, inszenatorischen Bias. Der Körper wird hier als Zeichenkörper in Regie genommen. Er ist Gegenstand eines theatralischen Spiels mit Gemeinplät50 Um tragfähige Aussagen über gesamtgesellschaftliche Trends zu gewinnen, muss man die ohnehin schon vielfältigen Formen des Internet-Datings in den Kontext weiterer Internet-Anwendungen stellen. Die meisten Besucher von Dating-Foren nutzen nämlich auch andere Kommunikations- und Spielmöglichkeiten, die das Netz bietet. Zudem interessieren sie sich für ausgefallene Offline-Praktiken der Partnersuche. Das gilt natürlich nicht für Personen, die sich selbst als körperlich unattraktiv einschätzen und daher zum Beispiel Speed-Dating-Dienste im ‚Real Life’ (vgl. Wittel 2006, 179f.) eher meiden; es sei denn, sie werden als Crash-Kurse zur radikalen Schüchternheitstherapie betrachtet. 51 Damit korrespondiert das Konzept des „digitalen Körpers“ mit Einsichten einer Theorie des Glücks in der Moderne, wie sie Dieter Thomä (2003) entworfen hat.
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zen aus dem Fundus des Alltagswissens, dem Reverenz erwiesen wird. Der Reiz liegt nicht in der möglichen Demontage, sondern in der Wiederholung des realweltlich Gültigen und Unhintergehbaren auf einer ‚höheren’ digitalen Ebene. So wird – zumindest dem Anschein nach – der Grad an Verfügung gesteigert. Dass der Körper im alltäglichen Kampf-Spiel der Geschlechter einen kaum entbehrlichen Zündstoff liefert, der die Gefühle zu entflammen vermag, diese triviale Weisheit bleibt auch – Donna Haraways „Manifesto for Cyborgs“ zum Trotz – bei den Netzakteuren gegenwärtig. Wollte man sie in die Sprache der Kommunikationssoziologie übersetzen, würde sich das zum Beispiel folgendermaßen anhören: „Ein nicht unwesentliches Charakteristikum von Intimbeziehungen liegt in der Verdichtung sozialer Wirklichkeit durch Zugang zur Körpersphäre des anderen und dem damit verbundenen Integrationspotential. […] Die verbreitete Meinung, dass erst der Körper Authentizität beglaubigt, zeigt sich vor allem da, wo gesprochene Sprache versagt, sich der Blick abwendet oder Schweigen an die Stelle von verbalen Veranstaltungen tritt.“ (Loenhoff 1998, 207)
Diese sozial fundierende Körperlichkeit wird im Netzt gar nicht bestritten; sie wird hingegen aufgegriffen und in der virtuellen Welt re-konstruiert, wobei unterschiedliche Wege zur Auswahl stehen: Erstens kann man sich wie ein ‚flexibler Normalist’ verhalten und aufmerksam beobachten, wie die übrigen Akteure bei ihrer Selbstpräsentation im Netz vorgehen. Mit Blick auf ein Feld hochinformativer Daten lässt sich das eigene Körperbild dann so entwerfen, dass es nach eigenem Belieben im dicht besetzten Mittelbereich oder in den beiden schwächer frequentierten Randzonen positioniert ist. Die flexibel-normalistische Haltung verknüpft mimetische und optionalistische Elemente, impliziert aber nicht die Vorstellung, etwas völlig Neues erschaffen zu können. Alle möglichen, frei wählbaren Varianten stellen nur Positionsverschiebungen innerhalb einer homogenen, kontinuierlichen Anordnung der Daten dar. Zweitens kann man die Transformation des Körpers in Zeichen als einen kreativen, gestalterischen Akt betrachten, der sich auf keine, wie auch immer geartete (weit verbreitete oder außergewöhnliche) Vorgaben bezieht. Der virtuelle Körper ist hier der Stoff, bei dessen Bearbeitung sich die Souveränität des Subjekts dadurch bekundet, dass es ihm eine bislang unbekannte Form zu geben vermag, der man sich erst nachträglich mit den unzulänglichen, aber pragmatisch ergiebigen Mitteln des Vergleichs oder dem altbewährten Schema von Identität und Differenz anzunähern sucht. Auf den beiden geschilderten Wegen machen die Akteure (die flexiblen Normalisten ebenso wie die Innovationsgläubigen), die sich im übrigen auf kaum einen gemeinsamen Nenner bringen lassen dürften, ein und dieselbe Erfahrung: Die mediale Distanzierung bringt den Körper nicht zum Verschwinden, im Gegenteil, sie macht ihn interessant und promoviert ihn zu einem Phänomen, das durch die Vielzahl der informationstechnischen Perspektiven, unter denen er sich darzubieten vermag, an Bedeutung gewinnt.
VI. Vorläufige Nachgedanken Sollten die (in den Abschnitten IV und V vorgetragenen) Überlegungen stichhaltig sein, so besteht wenig Anlass, die Anbahnung und Entfaltung von Paarbeziehungen
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im Internet unter Generalverdacht zu stellen. Weder zeigt die Verwendung von standardisierten Fragebögen und der Einsatz von Daten-Ensembles zur Selbstprofilierung schon eine Tendenz zur Verdinglichung der eigenen Person bzw. des gesuchten Partners an, noch kann aus der internet-bedingten Privilegierung von Worten und Zeichen gegenüber den unmittelbaren Anschauungen im direkten Face-toFace-Kontakt auf die Destruktion elementarer körperlicher Voraussetzungen zur Erfüllung menschlicher Liebeswünsche geschlossen werden. Die gewöhnlichen Krisen und Enttäuschungen, die Paarbeziehungen begleiten, und die „allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens“, über die Sigmund Freud schon 1912 im Interesse seiner LeserInnen Auskunft erteilte, lassen sich durch das Internet-Dating und andere Formen computerbasierter Begegnungsformen kaum steigern oder radikalisieren. Freilich sollte man sich auch keine allzu rasche Verbesserung der Lage durch kommunikationstechnische Errungenschaften erwarten. Mit den Chancen steigen bekanntlich die Gefahren. Aber immerhin birgt die Liebe zur Gefahr auch Chancen für komplexere Lösungen, von denen wir heute vielleicht nur träumen können.
16. S A M M E L N , S I C H T E N , S U C H E N . VON DER TRADITIONELLEN ZUR DIGITALEN BIBLIOTHEK Die zahlreichen Bücher und Artikel, die über das Phänomen der Bibliothek geschrieben wurden, ergeben selbst eine ansehnliche Bibliothek. Will man einen ertragreichen Einblick in dieses themenspezifische Arsenal des Wissens nehmen, so ist ein angemessenes Verfahren zu wählen: Man sucht so gezielt wie möglich, sammelt die Treffer und sichtet dann die Ergebnisse. Ich hatte es in diesem speziellen Fall leicht. Denn ich konnte schon Mitte der 90er Jahre erste Entwürfe von Nikolaus Wegmanns Habilitationsschrift Bücherlabyrinthe lesen. Die deutschen und österreichischen Germanisten mochten das Buch, welches dann im Jahre 2000 erschien, trotz hymnischer Rezensionen in der Presse, nicht sonderlich. Lehrstühle wurden in beiden Ländern vorwiegend mit Literaturwissenschaftlern besetzt, die entweder Texte interpretieren oder das Interpretieren durch dekonstruktivistische Verfahren radikal in Frage stellen. Die Suche nach dem Schlüssel zum Sinngehalt der Texte war wichtiger als das Finden des Schlüssels zur Bibliothek. In den USA besitzt man offenbar mehr Gespür für den operativen Umgang mit Wissen, Wissensspeicherung und Wissensaktualisierung. Denn 2006 hat der Autor einen Ruf nach Princeton erhalten und angenommen. Ungewöhnlich an Wegmanns Studie ist der Versuch, das Kern-Problem der Bibliothek, mit Verfahren zu bewältigen, die die Literatur geradezu musterhaft ausgebildet hat. Dabei geht es nicht darum, was die Literatur jeweils sagt, sondern wie sie ihrer Bibliotheksbezüge praktiziert. Irritierend wirkt dieser ‚Zugriff’, weil er die Behandlung der Bibliothek durch fiktionale Texte keiner hermeneutischen oder kulturwissenschaftlichen Relektüre unterzieht. Was eine solche, akademisch anerkannte Herangehensweise mit Blick auf die Bibliothek leisten kann, hat Günther Stocker in seinem Buch Wissen – Gedächtnis – Schrift (1997) exzellent vorgeführt. Er schließt einfach an das Vorwissen eifriger Leser an. Und denen ist natürlich bewusst, dass die Bibliothek in fiktionalen Texten immer wieder als „Motiv“, „Metapher“ und „Kollektivsymbol“ erscheint. Aufschlussreiche Beispiele lassen sich ohne Weiteres finden: Robert Musils Beschreibung des Generals Stumm in der Wiener Staatsbibliothek, Elias Canettis Figur des Sinologen Peter Kien, Jean-Paul Sartres bibliothekseskapistischer Held in Der Ekel, Jorge Luis Borges’ Bibliothek von Babel, Arno Schmidts Gelehrtenrepublik, Ecos Klosterbibliothek im Namen der Rose, die Bücherverbrennung und Re-Oralisierung der kanonischen Texte in Ray Bradburys Fahrenheit 451, Thomas Lehrs Bibliothek der Gnade und neuerdings Carlos Ruiz Zafóns „Friedhof der vergessenen Bücher“, mit dessen eindringlicher Schilderung der Bestseller Im Schatten des Windes (2003) beginnt. Attraktiv ist die Inhaltsanalyse der genannten Texte, weil sie es erlaubt, das Phänomen ‚Bibliothek’ mit dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses auf anschauliche Weise zu verknüpfen. Das kulturelle Gedächtnis ist – so zitiert Stocker (1997, 56) Jan Assmanns inzwischen geradezu ‚klassische’ Definition – „ein Sammelbe-
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griff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert.“ (Assmann 1988, 9) Wird aber Handeln und Erleben in der heutigen sogenannten Medien- und Erlebnisgesellschaft noch von einer Instanz gesteuert, die man mit dem Begriff ‚kulturelles Gedächtnis’ angemessen bestimmen kann?1 Schenkt man führenden Soziologen Glauben, so zeichnen sich die postindustriellen Gesellschaften des Westens durch eine historisch einzigartige Dynamik aus: Die Komplexität der Verhältnisse und die Geschwindigkeit sozialer Abläufe sind derart dramatisch angestiegen, dass eine effektive Handlungssteuerung nur durch neue Orientierungsweisen möglich ist. Nützlich ist hier in erster Linie die Wahrung eines hohen Aufmerksamkeitspegels.2 Eminente Gedächtnisleistungen stehen nicht im Vordergrund. Der Blick richtet sich auf statistische Daten, mediale Testarenen, die Inszenierung spektakulärer Einzelfälle und die Kurzzeiterregungen von Skandalen. Orientierungswissen wird den buchstäblich flüchtigen Medien entnommen: Massenpresse, Fernsehen und Internet. Kann die Bibliothek unter diesen Bedingungen überhaupt eine entscheidende Rolle spielen? Man wird diese Frage wohl nur bejahen können, wenn man Struktur und Funktion der Bibliothek neu oder zumindest ungewöhnlich deutet. Wegmanns Beitrag liefert hierzu wesentliche Impulse. Nicht das kulturelle Gedächtnis steht im Zentrum der Darstellung, sondern die Zerstörung und Neukreation, mithin die Unverwüstlichkeit der Bibliothek.3 Im Anschluss an Wegmann könnte man die These vertreten, dass die Simulation der Zukunft auf der Basis der vorhandenen Daten dringlicher ist als die Pflege des kulturellen Gedächtnisses. Dennoch hat das Gedächtniskonzept seinen Wert. Denn gerade in seinem Rahmen wird deutlich, in welchem Maße kulturelle Orientierungsleistungen, zu denen auch Erinnern und Vergessen gehören, „auf bestimmte Praktiken und Medien“ angewiesen sind (Assmann 1999, 19) und von historischen Kontexten abhängen. Der Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisses’ legt die Analyse nicht per se auf die Suche nach einer kollektiven Identität fest, schon gar nicht auf die Suche nach einer ethnischen oder nationalen Identität. Und der Bezugspunkt Bibliothek hat den Vorteil, die jeweilige Relation von kulturellem Bestand und aktuellem Zugriff in den Blick zu nehmen. Zunächst wird damit deutlich: Der Trias Sammeln, Sichten, Suchen korrespondiert die Trias Aufbewahren, Ordnen, Nutzen. Wie aber lassen sich Befunde über den Wandel von sozialen Steuerungskonzepten, die Entwicklung von Medien und funktionsgerechten Praktiken so verknüpfen, dass die Vermittlung individuellen Handelns und Erlebens durch soziale Semantiken, Institutionen etc. hinreichend bedacht und zugleich die Freiräume der Individuen nicht unterschlagen werden. Aleida Assmanns Buch Erinnerungsräume, 1
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Und ist es heuristisch ergiebig, wenn man Bibliotheken zu den wichtigsten Institutionen des kulturellen Speichergedächtnisses zählt? Diese Feststellung wirft mehrere Fragen auf: Wie muss dieses kulturelle Gedächtnis beschaffen sein? Muss es als kollektive Identität auftreten, gar als nationale Identität? Und was muss es enthalten? Wissen, Mythen, sozial-semantische Projektionsflächen? Vgl. dazu Jan Assmann 2004, 49. Vgl. auch die Überlegungen von Aleida Assmann 2003. Vgl. Wegmann 2000, 327f.; siehe auch Edward A. Parsons Buch The Alexandrian Library (1952). – Wegmanns Darstellung bewegt sich nur im diskursiven Feld der Bibliotheksdebatten der Darstellung von Bibliothekserfahrungen. Kulturhistorische und gesellschaftstheoretische Perspektiven werden mit Absicht unterlaufen, weil der Verdacht besteht, dass man das erforderliche Umdenken damit eher blockiert als begünstigt. Diese Vorsicht halte ich allerdings für übertrieben.
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in dem Funktionen, Medien und Speicher nacheinander dargestellt werden, lässt eine Reihe gesellschaftstheoretischer Fragen offen. Wie können diese Lücken geschlossen werden? Vielleicht durch den Versuch, die vorhandenen soziologischen und medienhistorischen Kenntnisse zusammenzufassen und ein instruktives Modell zu entwerfen. Andreas Reckwitz hat 2006 seine umfangreiche Studie Das hybride Subjekt publiziert, in der das vorhandene Wissen in wohldosierter Form ausgebreitet wird. Daran kann man sich zunächst einmal halten: Eine mediensensible Kultur- und Gesellschaftstheorie rekonstruiert die Geschichte der modernen Subjektivität und die Transformation der Medien als Prozesse, die miteinander verzahnt sind. Leitend ist die Idee, dass der Umgang mit neuen Medien die Weltsichten, Wahrnehmungsweisen, Haltungen und Lebensstile der Individuen maßgeblich beeinflusst. Obschon man zumeist auf die Behauptung direkter kausaler Zusammenhänge verzichtet, ordnet man einzelnen Medien oder Medien-Dispositiven bestimmte Subjektformen zu. Als Resümee des aktuellen Forschungsstandes lässt sich folgende These formulieren: Den drei großen Medienumbrüchen (Erfindung des Buchdrucks, der audiovisuellen Medien, des Computers) entsprechen drei unterschiedliche Subjektformen (bürgerliches, nachbürgerliches und post- oder spätmodernes Subjekt): 1. Die Erfindung des Buchdrucks, die Perfektionierung der Aktenführung, und die Ausbreitung der Tagebuchkultur führen zu besonderen Lese- und Schreibpraktiken, die das bürgerliche Subjekt prägen. Durch den Einsatz des Mediums Schrift bildet es kognitive Mechanismen aus, mit deren Hilfe es nicht allein sein emotionales Innenleben, sondern auch die äußere Welt (einschließlich des eigenen Körpers) in Zeichen verwandeln und auf Distanz bringen kann. Unter diesen Bedingungen entwickelt das bürgerliche Subjekt die Fähigkeit zur strengen Ich-Kontrolle und den Glauben an eine substantielle Wirklichkeit, auf die sich die Schriftzeichen beziehen. 2. Das nachbürgerliche Subjekt der Angestelltenkultur nutzt die audiovisuellen Medien (Film und Fernsehen) und die von ihnen präsentierten Sinnesreize, um sich in einer Welt des Konsums und der ästhetisch faszinierenden Oberflächen zurecht zu finden. Es büßt seine Ich-Kontrolle tendenziell ein und wird zu einem zerstreuten Selbst, das seine personale Identität nur noch durch vorgegebene Muster zum Erwerb einer ‚Normalbiographie’ gewährleisten kann. Die Realität erscheint zunehmend als ein Spektakel audiovisueller Inszenierungen. Der Umgang mit Medien-Zeichen dient nicht mehr zur Beherrschung des Unanschaulichen, sondern Sichtbarkeit wird mit Wirklichkeit gleichgesetzt. 3. Die Computertechnik schließlich wird für ein post- oder spätmodernes Subjekt zum geeigneten Experimentier- und Übungsfeld. Dieses Subjekt ist expressiv und kreativ, es verfügt über eine sogenannte Patchwork-Identität und betrachtet die Wirklichkeit als Ensemble kontingenter Dinge und Ereignisse, aus denen es je nach Bedarf einige auswählt, um bestimmte Versuchsanordnungen herzustellen und auszutesten. Im Anschluss an dieses Stadienmodell könnte man die These vertreten, dass für jeden dieser Subjekttypen eine bestimmte Haltung zur Bibliothek charakteristisch ist. Durch eine solche Zuordnung, die sich als historische Pragmatik der Bibliothek bezeichnen lässt, rückt das leidige Problem der Definition der Bibliothek in den Hintergrund. Was genau die oder eine Bibliothek ist, muss jetzt nicht mehr generell bestimmt werden. Das heißt, die Frage, ob die Bibliothek „eine Büchersammlung, ein Speicher menschlichen Wissens, ein Informationsdienstleister, eine Medienzentrale, ein Schatzhaus, ein Labyrinth usw.“ ist (Strohschneider 1997, 348), darf zu-
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rückgestellt werden. Wie aber könnte die erwähnte Zuordnung ausschauen? Im Folgenden versuche ich diese Frage skizzenhaft zu beantworten: 1. Für das bürgerliche Subjekt ist die Bibliothek eine Institution der Selbstvergewisserung. Hier kann es seine Identität einerseits als historisch gewachsene Errungenschaft und andererseits als Leistung einer gesellschaftlichen Klasse, die das Zentrum der Gesellschaft erobert hat, buchstäblich anschauen. Das Konzept bürgerlicher Identität hat mithin einen diachronen und einen synchronen Aspekt. Jener steht für den langen und schwierigen Aufstieg, dieser für die Einheitlichkeit und für den Herrschaftsanspruch, der durch die einmalige Kombination von Bildung, Wissen, Arbeitsethos und Kapitalakkumulation legitimiert ist. Die Bibliothek und andere vergleichbare Formen wie Museum, Archiv und Sammlung demonstrieren die Souveränität des bürgerlichen Subjekts, die in seinem historischen Bewusstsein wurzelt. Das Bürgertum ist stark genug, die Dinge, Institutionen, Personen und Ethnien, die es im Laufe seines Aufstiegs bei Seite räumt, nicht vollständig zu vernichten, sondern in Gestalt ausgewählter Exemplare zu erhalten. Das Zerstörte und Ausgeschiedene wird im Museum und in der Bibliothek verwahrt. Berühmt sind die Beispiele, die die Zerstörungsaktionen während der französischen Revolution und die amerikanischen Feldzüge gegen die Indianer liefern. Das Verworfene und Überwundene wird im Hegelschen Sinne aufgehoben: Alexander Lenoir rechtfertigt die Aufnahme der Symbole und Monumente der gestürzten Monarchie ins Museum mit dem Hinweis auf den sozialen Eigenwert der Künste und der Bildung (vgl. Assmann 2004, 51), und John Gregory Bourke dokumentiert in seinem Buch des Unrats (1996 [1891]) die verstörenden und widerwärtigen Rituale jener Indianerstämme, die unter Beteiligung des Autors massakriert wurden. Bibliothek und Museum sind auch und gerade institutionell fixierte Triumph- und Beutezüge. Besonders die ethnologischen Museen und Archive legen davon ein beredtes Zeugnis ab, wie man in Michel Leiris’ umstrittenem Tagebuch Phantom Afrika (1934) nachlesen kann. Gegen das historische Bewusstsein als Quelle von Selbstsicherheit und Identität hat Nietzsche polemisiert. Seine Attacke findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem Bibliothek und Museum merkwürdig hypertroph werden. Das Pathos der bürgerlichen Bibliothek beruht auf den Leitideen Öffentlichkeit und Transparenz.4 Die Konnotationen, die mit den antiken Sammlungen von Schriftrollen und den Klosterbibliotheken verbunden sind, nämlich: Geheimnis, Palimpsest, Zensur, beschränkter Zugang, Verlust, Brand, Vernichtung haben für das bürgerliche Subjekt ihren Reiz verloren. Die unsichtbare Hand der Kapitalbewegungen und die ebenso unergründliche wie unerbittliche Logik des Marktes reichen als latente Kräfte, denen man sich im Habitus der Huldigung unterwerfen muss, völlig aus. Wem das nicht reicht, der darf sich bei den Freimaurern engagieren, deren unfreiwillig komische Praktiken in Romanen und Opern ausgeplaudert werden. Als Nietzsche zum Angriff auf die bürgerliche Erinnerungskultur, die Bibliotheks- und Museumssucht, bläst, beginnen die Sammlungen ihre Form zu verlieren. Sie werden unübersichtlich und monströs. Das betrifft ebenso sehr die Präsentation des Überwundenen, Fremden und Minderwertigen wie die Darbietung und Anpreisung des Kanonischen und Gültigen. Nach Nietzsche lähmt und fesselt die Orientierung am Über4
Hinzu kommt die Idee der Universalität: Schon im 16. Jahrhundert beschrieb Johann Fischart die Bibliothek als universales Gedächtnis und setzte damit eine Utopie in die Welt, die eine derart große Strahlkraft besitzt, dass immer wieder (wie bei Borges und Lehr) ausgeklügelte Szenarien ihres Scheiterns entworfen werden. Zu Fischart vgl. insbes. Strohschneider 1997, 347.
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kommenen und Angehäuften die Lebenskräfte, den Sinn für die aktuellen Problemlagen und das Gespür für den Ernst kritischer Situationen.5 Das Bürgertum berauscht sich an den Reizen dessen, was es hinter sich gelassen hat und übersieht die Gefahren, die auf es zukommen. Noch radikaler als Nietzsche nennt Canetti den neuralgischen Punkt der bürgerlichen Gedächtniskultur beim Namen: der Blick auf die Ideen und Leistungen früherer Generationen und anderer Gesellschaften weckt in den Subjekten das zwanghafte Bedürfnis alles zuvor Gewesene zu überbieten.6 2. Das nachbürgerliche Angestelltensubjekt hat andere Probleme. Individuelle und kollektive Identität bilden sich nun in einer Oszillations-Bewegung zwischen dem Chaos der medialen Reize und den zugleich gelieferten Orientierungsmarken, die ein gutes und sicheres Leben in den Bezirken der Normalität gewährleisten. Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855) preist das Normale noch als substantiellen bürgerlichen Wert an. Lange vor Canettis Beschwörung der Überbietungssucht entwirft Freytag eine Therapie gegen die Gefährdungen des bürgerlichen Subjekts durch exzentrische Anwandlungen. Das Angestelltensubjekt ist diesen Gefahren aber nicht ausgesetzt. Das Normale ist für es daher nicht Teil eines Wertekanons, den es im Zuge der Sozialisation verinnerlichen muss. Das Gleichgewicht und die Haltung, die bei Freytag in einem stürmischen Erfahrungsprozess voller Schmerzen und Enttäuschungen erst erworben werden, sind zur Lebensform der Individuen geworden, die in Büros und Kanzleien einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbringen. Was jeweils normal und passend ist, teilen die Massenmedien und die beruflichen Ad-hoc-Regularien den Menschen laufend mit. Man geht ins Kino und besucht die kleinen Stadtbibliotheken (nicht die monströse Haupt- und Staatsbibliothek), um Liebes-, Abenteuer- und Kriminalromane zu entleihen. Die Bibliotheken sind Lieferanten von Kompensationsstoff geworden, der das Andere des normalen Lebens repräsentiert und vom einsamen Leser und Tagträumer nur selten mit dem realen Leben verwechselt wird. Damit treten allerdings neue Gefahren auf den Plan: Das Exzentrische kann sich das Gewand des Normalen anlegen und soziale Purgatorien vorbereiten, in denen alles, was die Normalität bedroht oder stört, ausgemerzt wird. Dann geraten auch die zentralen Bibliotheken als Orte der Bewahrung des Abseitigen und Entarteten ins Visier. Plötzlich gibt es wieder Kriterien der Selektion, das Chaos lichtet sich und die ansteckenden Bücher gehen in Flammen auf. 3. Das spät- oder postmoderne Subjekt ist (verknappt formuliert) ein Subjekt des Wissens und des kreativen Auswählens aus den Beständen im Kontext der Computertechnik; und es ist ein Typus, der nur durch entschiedene Ausgrenzungen Profil bekommt. Die Nachkriegsillusionen von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft sind verflogen. Jetzt erzeugt die avancierte Medientechnik soziale Differenzen und Gefälle, die mit dem Begriff des ‚digital divide’ nur annähernd erfasst sind. Und das spätmoderne Subjekt verwirklicht sich im Umgang mit den allerneuesten Medien. Gelassen betrachtet es daher den Umstand, dass der traditionellen Bibliothek mit der digitalen Bibliothek eine merkwürdige Konkurrenz entgegentritt, die dem überkommenen Format der Büchersammlung und -katalogisierung verlockende Angebote macht. So wird etwa die Optimierung des Zugangs zu analogen Texten und Dokumenten versprochen. Ferner soll (gleichsam als realistischer Kern der Universalbibliotheks-Idee) ein einheitliches Datencodiersystem für Museen, Bibliotheken und Archive eingerichtet werden.7 5 6 7
Vgl. Wegmann 2000, 324. Vgl. Canetti 1973, 185 sowie 1975, 168. Vgl. Chukanska 2006.
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Man könnte den Übergang der handgreiflichen Bibliothek zur digitalen Bibliothek mit dem Übergang von der Bibliothek, die Schriftrollen oder handschriftliche Folianten umfasst, zur Bibliothek, die aus gedruckten Texten besteht, vergleichen: Zunächst einmal war diese Umschrift mit einem Selektionsprozess verbunden. Nicht alle vorhandenen Handschriften wurden ins Medium Druck überführt. Die neue Technik zwang zur Auswahl des Relevanten und zur forcierten Kanonbildung. Verstärkt kamen auch die Gesetze des Marktes zur Geltung. Aber es wurden sodann auch Kenntnisse und Ansichten ‚vertextet’, die man zuvor primär mündlich tradierte, z.B. handwerkliches Fachwissen. Das heißt: die Möglichkeiten der Druckschrift wurden nicht nur zur besseren Verbreitung der für wichtig erachteten Texte genutzt, sondern auch zur öffentlichen Erschließung und Promulgation von Wissensformen, die die alte Speichertechnik der Handschrift vernachlässigt hatte. Überdies entstand rasch eine Debatte über die angemessene Form der drucktechnischen Repräsentation von Wissen im weitesten Sinne. Früh wurde zum Beispiel in der „Royal Society“ über das Verhältnis von Buch und Essay bzw. Zeitschriftenaufsatz diskutiert.8 Dem Buch wurde vorgehalten, dass es dem Leser eine Systematik und eine Abgeschlossenheit des Wissens suggeriert, die den tatsächlichen Verhältnissen in keiner Weise entspricht. Der Essay setzt irgendwo an und bricht irgendwo ab und wirft ein Schlaglicht auf die Geschwindigkeit, mit der das Wissen wächst und laufenden Revisionen unterzogen wird. Ein weiteres wichtiges Thema dieser Debatte war der Status von Fußnoten. Sie galten als Orte für kühne Ideen und für Abweichungen von herrschenden Meinungen. Während im Haupttext das halbwegs gesicherte Wissen in geordneter Gestalt erschien, schritt die Fußnote in ungesichertes Gelände vor und schlug erste Pflöcke ein. Ferner wurde über die Bedeutung von Zitaten debattiert, die einerseits polemisch entwertet und anderseits durch das neuerliche Aufrufen in einem modifizierten Kontext bestätigt werden konnten. Und auch die Bibliographie am Ende des Textes hatte entscheidendes Gewicht. Zitat und Bibliographie bezogen sich unmittelbar auf das Problem der Zugänglichkeit der Texte in Sammlungen und Bibliotheken. So konnte man durch Zitate einen vergessenen oder praktisch unauffindbaren Text ins Rampenlicht stellen und durch eine Bibliographie die Defizite oder den repräsentativen Charakter von öffentlichen Bibliotheken herausstreichen. Ähnliche Aspekte weist auch die Errichtung digitaler Bibliotheken auf. Eine wichtige Frage lautet: Welche Texte sollen eingescannt und welchem Kreis sollen diese Texte zugänglich gemacht werden? So enthält die „Dokumentensammlung eScholarship Editions ca. 2000 elektronische Bücher, die nur Studenten und Mitarbeitern der University of California frei zur Verfügung stehen“. (Chukanska 2006, 60) Hier haben wir es mit Fragen der Relevanz und des privilegierten Zugangs zu tun. Die Überführung analoger Bestände in digitale Datensätze wirft eine Reihe weiterer Problem auf, die immer wieder genannt werden: der Arbeitsaufwand des Ein-Scannens, die dabei anfallenden Fehler (die mitunter mit 2% veranschlagt werden), die Haltbarkeit der Träger, der rasche Wandel der Softwareprogramme etc. – Aber es geht natürlich auch um die Rolle purer Netz-Repräsentationen von Texten. Die Vorteile liegen auf der Hand. Jeder Autor kann seine Texte ins Netz stellen, jeder beliebige Leser sie durch eine passende Key-Word-Recherche finden. Wird dieses Verfahren durch institutionelle Methoden und Ressourcen unterstützt, so können sich die Nutzer durch die „sogenannte elektronische Volltextsuche“ eine „eigene elektronische Bibliothek“ (ebd., 55) zusammenstellen. Spezialbibliotheken,
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Siehe Cahn 1991.
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wie etwa die digitale Bibliothek der Association for Computing Machinery geben an, dass millionenfach Volltext-Downloads vorgenommen werden. Das Erfordernis, Qualitätskriterien einzuführen ist bei wissenschaftlichen Texten offensichtlich. Wissenschaft beruht 1. auf „einem rigiden Auslese- und Wertungsprozess“ (Jäger 1998, 60) von textuell basierten Erkenntnissen und 2. auf der Bahnung von Karriereverläufen, die an bestimmte identifizierbare Personen gebunden sind. Es hat sich daher die Differenz von Veröffentlichung und Publikation eingebürgert. Veröffentlichungen im Netz bieten die Chance, originelle Gedanken, neue empirische Befunde, brennende Fragen etc. einem interessierten Kreis von Forschern zugänglich zu machen. Die Schritte der Bewertung und Qualitätsbestimmung spiegeln sich in den Angaben von Autoren wieder, die sich auf Stellen bewerben: man unterscheidet dann zwischen Veröffentlichungen, begutachteten Veröffentlichungen und archivierten Publikationen. Diese Selektions- und Bewertungspraxis liefert nur einen Beleg für das grundsätzliche Problem des Umgangs mit der aktuellen Wissens- und Veröffentlichungsexplosion. Zur beschleunigten und massenhaften Produktion von Wissen und Texten tritt aber auch eine neuartige Einschätzung des Wissens und der Experten hinzu. Wissen erscheint – trotz seiner beständigen Zunahme – als äußerst revisionsanfälliges Gut. Jede Expertenmeinung ist durch eine andere zu relativieren. Diesem Problem wird heute durch die Etablierung eines ausgefeilten Wissensmanagements begegnet.9 Das vielfältige, vorläufige, unübersichtliche Wissen, das in Texten, Dokumenten und Formeln niedergelegt ist, muss sich einer Prozedur der Engführung unterwerfen, das heißt konkret: einem Verwertungstest, der in vielen Fällen vom Markt vorgenommen wird. Effektive Nutzung heißt die Devise. Und die Computertechnik liefert, so scheint es, die passenden Instrumentarien. Kein Zweifel, die Bibliothek als historisch modifizierbare Einrichtung, steht und fällt mit ihren Zugriffsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht, was zu den Beständen gehört, Bücher, Essays, Vortragsmanuskripte, Forschungsberichte, Filme, Videos, Datensätze usw. Entscheidend ist vielmehr – so Nikolaus Wegmann – „dass das, was als Ausgangsmaterial fungiert, operativ greifbar ist.“ (2000, 300) Die digitale Bibliothek favorisiert aufgrund ihrer technischen Voraussetzungen das Zugriffsschema: Abfrage – Ergebnis. (ebd., 314) Damit aber werden die Chancen der Bibliothek nicht optimal genutzt. Das klassische Verfahren des Suchens und Findens hatte eine andere Struktur: sie konfrontiert den Nutzer immer auch mit der „dunkle(n) Seite der Bibliothek.“ (ebd., 5) Anders als die neuen SoftwareVerfahren, die mit dem Slogan beworben werden: „The user gets immediate results“ (ebd., 314), können die alten Suchstrategien angesichts der angehäuften Papierberge zur Verstörung, ja zur Verzweiflung führen, aber sie ermöglichen auch überraschende, heuristisch produktive Funde. Sie liefern gleichsam nur eine Vorselektion, über Autoren, Schlagworte, Themenbereiche etc., das Übrige muss der Nutzer selbst leisten. Er muss so zugreifen, als ob nicht er das Buch ins Visier nimmt, sondern das Buch ihn erwählt. Man könnte geradezu vom ‚Kairos’ des Bibliotheksbesuchs sprechen. Dem Überschuss des Text- und Sinnangebots lässt sich mit der Idee der Lücke begegnen, die das Subjekt füllen muss durch einen ungedeckten Vorgriff, die im literarischen Feld auch den Namen „Überinterpretation“ (ebd., 316) trägt. Wegmann hat dieser Art des Lesens ein Loblied gesungen. Und Carlos Ruiz Zafón hat den magischen Augenblick des Zugriffs in Worte gefasst:
9
Vgl. Ellrich/Frahm 2005.
312 | VORFÜHREN UND VERFÜHREN „Vielleicht war es dieser Gedanke, vielleicht der Zufall oder sein stolzer Verwandter, das Schicksal – jedenfalls war mir genau in diesem Moment klar, daß ich das Buch bereits gewählt hatte, das ich adoptieren würde. Oder vielleicht müßte ich sagen, das Buch, das mich adoptieren würde. In weinrotes Leder gebunden, stand es schüchtern am Ende eines Bords und raunte seinen Titel in Goldlettern, die im Licht der Kuppel leuchteten.“ (Zafon 2003, 11)
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342 | VORFÜHREN UND VERFÜHREN
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NACHWEISE 1. Kapitel erscheint (stark gekürzt) in: Bilstein, Johannes (Hg.): Die Welt als Kunst, Oberhausen 2011. 2. Kapitel erschien (in einer ausführlicheren Version) in: Karmasin, Matthias/ Winter, Carsten (Hgg.): Kulturwissenschaft als Kommunikationswissenschaft, Wiesbaden 2003. 3. Kapitel erschien (stark gekürzt) in: Maske und Kothurn, Heft 1+2, 2009. 4. Kapitel erschien (leicht gekürzt) in: Schößler, Franziska/Villinger, Ingeborg (Hgg.): Politik und Medien bei Thomas Bernhard, Bielefeld 2002. 5. Kapitel unveröffentlicht, Teile des Manuskripts wurden auf der Tagung „Wrong Again – Tragedy’s Comedy“, Potsdam 2006, sowie auf den Kasseler Komik-Kolloquien 2006 und 2009 vorgetragen; eine leicht gekürzte Fassung erscheint in: Block, Friedrich (Hg.): Komik als Institution, Bielefeld 2011. 6. Kapitel erschien (leicht gekürzt) in: Block, Friedrich (Hg.): Komik – Medien – Gender, Bielefeld 2006. 7. Kapitel erschien (leicht gekürzt) in: Liebrand, Claudia/Schößler, Franziska (Hgg.): Textverkehr. Kafka und die Tradition, Würzburg 2004. 8. Kapitel erschien (stark gekürzt) in: Schoenmakers, Henry (Hg.): Theater und Medien – Theatre and the Media, Bielefeld 2008. 9. Kapitel unveröffentlicht, eine gekürzte Version wurde auf dem Symposion „Die Finanzkrise und das zeitgenössische Theater“, Trier 2010, vorgetragen. 10. Kapitel (leicht gekürzt) in: Transkriptionen 6, Newsletter des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs „Medien und kulturelle Kommunikation“, 2006. 11. Kapitel erschien (stark gekürzt) in: Werber, Niels (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft: Begriffe – Methoden – Anwendungen, Berlin 2011. 12. Kapitel erschien (stark gekürzt) in: Schumacher-Chilla, Doris/Ismail, Nadja/Kania, Elke (Hgg.): Image und Imagination. Transformationen der Sichtbarkeit in der bildenden Kunst, Oberhausen 2011. 13. Kapitel erschien (leicht gekürzt) in: Schneider, Irmela/Liebrand, Claudia (Hgg.): Medien in Medien, Köln 2002. 14. Kapitel erschien (stark gekürzt) in: Balke, Friedrich/Stäheli, Urs (Hgg.): Big Brother Beobachtungen, Bielefeld 2000. 15. Kapitel erschien (leicht gekürzt) in: Ries, Marc/Fraueneder, Hildegard/Mairitsch, Karin (Hgg.): Dating 21, Bielefeld 2007. 16. Kapitel unveröffentlicht, das Manuskript lag einem Vortrag auf dem Symposion „Das Gedächtnis der Stadt. Zum kulturellen Wandel städtischer Bibliotheken“, IFK und Wienbibliothek, Wien 2006, zugrunde.
S ac hr e g i st e r Begehren 29, 77, 89, 98, 139, 156, 190, 212, 238, 261, 267-279 Beobachter/Beobachtung 13, 23, 25, 53f., 64, 71, 78-84, 92-98, 102, 104, 114, 116, 121, 132, 150, 153f, 161, 165, 190, 199, 211, 215, 217, 242, 246, 253f., 263, 267ff., 280-285, 293ff., 303 Bibliothek 305-316 Bildtheorie 219-227 Computer 222-226, 237, 242, 244, 249f., 251-254, 259-265, 272, 274, 285, 287, 293, 302ff., 305-311 Cyberspace 252-265, 273, 281 Daten (statistische) 121f., 190, 197, 199, 202, 210, 223, 234, 303-311 Demokratie 12, 15, 24ff., 46ff., 52ff., 69, 112, 164, 176, 187, 282 Elite (digitale) 54, 274, 281 Evidenz 50, 53, 219f., 231f., 236, 244, 264, 291f. Feminismus 125-142, 233 Fernsehen 267-283 Fiktion 206, 210, 214, 216, 235, 237f., 253, 262, 264f., 269f., 305 Film 247-265 Folter 158, 164, 238, 268 Fotografie 170, 219-245 Freiheit 13, 29, 63f., 66, 88, 96, 101, 116, 118-123, 140, 144, 180, 186, 188, 190, 206, 208f., 256, 260f., 274, 300f. Geld 167, 185, 187ff., 194f., 213, 272, 276, 283, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit 77, 82f., 116, 199 Gewalt 40, 44, 48ff., 92, 147, 158-164, 188, 201, 217, 229f., 238, 269f. Hyperrealität 25, 302 Imagination 147, 227ff., 238, 243 Indexikalität 220-223, 227, 232-239, 242-245
Inkommunikabilität 292 Intermedialität 248, 247-265, 267-283 Kampf 88, 90f., 116, 131, 138, 146-149, 152-164, 255f., 263, 303 Kausalität 166, 199 Kausalität, symbolische 18f. Kommunikation 12, 25, 27, 33, 35, 40ff., 48, 54, 117, 143, 159, 189, 191, 212, 225, 247f., 262, 270, 274, 277, 285304 Kommunikation, Risiken der 296 Kommunikationsblockaden 215 Konsensfiktion 297, 299 Komödie/Komik 71ff., 107-123 Kopräsenz 15, 27 Körper/Leib 14f., 19, 24, 26, 35, 49, 52f., 60, 64, 90, 94, 97, 98, 120, 126-128, 131, 134-138, 141-146, 150, 155, 158, 161, 164f., 172-175, 178f., 182, 191, 193-195, 228, 237, 245, 250, 251f., 254-262, 265, 275f., 282f., 286, 288f., 290f., 293, 295, 301-304 Krise 72, 94, 109, 115, 117, 144, 155, 159, 162, 165, 180, 193, 195, 234, 257, 275, 288, 293, 304 – der Komik 77 – der Komödie (als Gattung) 88, 96, 115 – der Kommunikation 171, 264 – der Legitimation 51, 55 – der Macht 40 – der Maschinen 257 – der Moderne 23, 201 – der Repräsentation 36ff., 45, 136, 171, 175, 228f., 264 – der Normen 96, 109, 113 – der Software 271 – der Souveränität 44 – der Sprache 171, 264 – des Theaters 14 – der Tragödie (als Gattung) 88, 96, 115 – der Wirtschaft 55, 181-195 – des Wohlfahrtsstaates 203 Krisenmanagement 165 Kunsttrieb 59, 68 Latenz 68, 203, 205-217, 236 Latenzschutz 205-217 Lachen 73, 90-93, 98, 104f., 121f., 125142
346 | VORFÜHREN UND VERFÜHREN Lebenslüge 211f. Liebe 19, 23, 79, 140, 181, 183, 186, 187ff., 192ff., 207, 210f., 251, 259, 267-283, 285-304 Lüge 19, 102, 152, 183, 206, 211ff., 225 Macht 11, 13, 15, 26, 38-55, 65, 92, 110, 141, 144, 147, 151, 156, 159, 161164, 167, 176, 213, 282f. Malerei, abstrakte 170 Management 13f., 77, 165, 186, 311 Medientheorie (siehe: Theorie der Medien) Metatheater 188 Medienpurismus 174-180, 240 Mode 233, 236ff. Nominalismus 44, 52 Normalismus 108, 121ff., 190f., 202, 267, 271, 288, 300ff. Normen 27, 39, 72, 77, 83, 90, 96, 106ff., 113, 115ff., 120ff., 128, 142, 177, 189f., 202, 222, 229, 292, 299 Obszönität 136, 139f., 156f., 274, 278 Performance 31, 35, 126, 129, 179f., 191, 244f., 264, 302 Performativität 13f., 34, 36f., 40, 49, 55, 59f., 63, 90, 125, 193, 241, 245, 273, 281, Realismus 170, 236-239, 243, 251-259, 262ff. Referenz 37, 97, 226f., 232, 235 Recht 49, 53, 55, 65, 72, 83-88, 100ff., 108-117, 144, 152, 164, 174, 199, 201f. Repräsentation 25f., 34-47, 49, 49-53, 63, 122, 149, 161, 166, 169, 171, 175, 181, 191, 200, 203, 220, 228, 230, 235, 245, 250, 263, 265, 295, 300, 302, 310 Rolle 14, 16f., 20-26, 82, 95, 112, 121f., 136, 149ff., 152f., 179, 188, 212, 280, 295f.
Schmerz 18, 31, 73, 86, 89, 91, 94, 118f., 122, 140, 158, 162f., 186, 207, 213, 227, 237, 257, 283, 302, 309 Schuld 72, 77, 81, 87, 89, 114, 150-166, 187, 199, 207, 215ff. Schweigen 64f., 71, 90, 127, 153, 156, 158, 208, 215f,. 303 Selbsttäuschung 183, 210-214, 277, 286 Sexualität 110, 128, 164, 207, 271, 287289, 291f., 296, 301 Sicherheit 197-203 Skandal 13, 22, 71, 84, 99-106, 182, 186, 306 Souveränität 33-55 Spektakel 11f., 15f., 21, 29, 35f., 39, 48, 51-56, 88, 104, 154, 169, 175, 177, 262, 263, 307 Spiel 16-22, 29-31, 60, 63, 71, 88, 95102, 105, 108, 118, 123, 126, 133, 143, 146-149, 151-153 Spiel im Spiel 72 Spieltrieb 60 Sprache 23, 60, 71ff., 75, 78, 80, 84, 89, 101f., 129, 142, 150, 154, 164f., 171, 193, 197, 208, 231, 247, 257, 264f., 272, 278, 292, 299, 303 Subjekttypen 307-310 Theater 11-195, 200, 245, 275, 281, 282, 298 Theaterstaat 282 Theatermetapher 12, 13-15, 22, 149 Theatralität 12f., 25, 33-37, 40, 51, 5355, 143, 149 Theatrum Mundi 16-33, 35f. Theorie 181, 191-195, 208 – der Medien 7ff., 12, 247ff., 264 – Kritische Theorie 277, 288, 293-299 – Systemtheorie 80, 207, 211, 215, 217, 277, 288-293, 301 Tragödie/Tragik 71ff., 107-123 Transparenz 47, 52, 54, 144, 183, 293, 308 Transzendenz 16f., 44, 45, 49, 52, 72, 145 Überwachung 177, 268, 282
Scham 90, 131f., 143-166, 215, 237, 281ff.
Unschärfe 228f., 233
REGISTER | 347 Verdrängung 105, 170, 211, 213f., 240, 274, 281 Versicherung 197-203 Virtualität 37, 41, 49, 262, 273f., 297
Werbung 236ff. Widerspruch, performativer 90 Wirtschaft (siehe: Krise der) Wehrmachtsausstellung 240f.
Wahrheit 19, 22f., 37, 44, 57, 83, 86, 92, 100ff., 106, 110, 112, 125f., 153, 193, 205-217, 236f., 240, 260-263, 267f., 303
Zeugenschaft 25-31, 277, 280
Personenregister Adorno, Theodor W. 78, 86, 88, 97, 101, 130, 134, 147, 169, 277, 294 Aischylos 109 Aristophanes 73, 110, 112f. Aristoteles 15, 29, 73, 142, 205 Artaud, Antonin 59, 99, 171, 173, 178f. Assmann, Aleida 170, 306, 308 Assmann, Jan 64, 305f. Azoulay, Ariella 229f. Baran, Paul 184, 186 Barba, Eugenio 99, 178 Barthes, Roland 221f., 224, 235, 239, 241, 289 Beck, Ulrich 291f., 297 Beckett, Samuel 78, 92, 99 Belting, Hans 14, 64 Benjamin, Walter 14, 27, 49, 72, 143, 147f., 154, 298 Bernhard, Thomas 71-105, 157 Blumenberg, Hans 14f., 17f., 28ff., 62, 119, 125 Boltanski, Luc 189, 294, 298 Bourdieu, Pierre 193, 214f., 221, 232 Breuer, Sonja 125-142 Brecht, Bertolt 59, 68f., 86, 114, 171, 175, 178, 182, 184, 191, 194 Bronfen, Elisabeth 212, 228, 235, 253, 259, 261 Bude, Heinz 77, 109, 195, 283 Burke, Kenneth 63 Burke, Peter 20, 36, 38f., 44, 50f. Canetti, Elias 208f., 305, 309 Castel, Robert 198f., 202 Castorf, Frank 175-179 Cavell, Stanley 15, 30f. Coetzee, J. M. 217 Debord, Guy 46, 48 Deleuze, Gilles 150, 159, 161, 166, 176, 247, 250 Demand, Thomas 243 Derrida, Jacques 69, 135, 173, 260 Didi-Huberman, Georges 230f. Döblin, Alfred 86, 89ff. Dürrenmatt, Friedrich 27, 86f., 93f., 183f., 200
Ehrenberg, Alain 120, 176, 189 Euripides 28, 64 Ewald, Francois 199, 202f. Fassbinder, Rainer Werner 186ff., 212, 258, 262 Fiebach, Joachim 7f., 33, 59, 64f. Fischer-Lichte, Erika 13, 19, 25, 31, 33, 35ff., 39, 60, 180 Flaubert, Gustave 210, 277 Foucault, Michel 33, 36, 52f., 65, 159, 261, 265, 291, 299, 301 Ford, Ford Madox 213 Ford, Richard 121 Forte, Dieter 215f. Frazer, James 57, 61, 63f. Freud, Sigmund 61, 66, 121, 133, 138, 141, 144, 161, 175, 205f., 257, 292, 304 Freytag, Gustav 182, 309 Funken, Christiane 33, 197, 263, 285, 287f., 295, 299, 302 Geertz, Clifford 38, 50f. Gehlen, Arnold 28, 64, 96, 169f., 179 Geimer, Peter 220, 224, 235 Giddens, Anthony 280, 283, 292 Girard, René 77, 122 Glasenapp, Jörn 220, 233, 235, 239 Goethe, Johann Wolfgang von 24, 54, 58, 97, 169, 214 Goffman, Erving 8, 24, 27, 33 Greenblatt, Stephen 20, 35, 38f., 50 Grotowski, Jerzy 59, 172-179 Groys, Boris 135ff,. 256 Gursky, Andreas 242f. Hagen, Wolfgang 220, 223, 225 Handke, Peter 185 Hauptmann, Gerhard 182 Habermas, Jürgen 24, 34, 53, 116, 178, 193, 202, 294-299 Heer, Hannes 216, 240 Hegel, G. F. W. 21, 23, 65, 75, 83, 85, 92, 109, 115, 135, 165, 170f., 181, 232, 255, 289f., 308 Heidegger, Martin 76, 97, 296 Hofmann&Lindholm 244f.
350 | VORFÜHREN UND VERFÜHREN Honneth, Axel 188, 193f., 285, 293ff., 297 Hüppauf, Bernd 224, 228f., 242 Huth, Walde 233 Ibsen, Henrik 211 Illouz, Eva 189, 285, 287f., 295, 297f., 301f. Jäger, Ludwig 245, 311 Jelinek, Elfriede 191, 272 Johnson, Uwe 212 Jonson, Ben 113f. Jünger, Ernst 158, 170 Kafka, Franz 143-167, 214 Kant, Immanuel 19, 21, 91, 134, 193, 205, 219, 261 Kantorowicz, Ernst 41, 44 Keppler, Angela 232, 275 Kittler, Friedrich A. 44, 223, 251 Kleist, Heinrich von 65, 114 Kluge, Alexander 187, 250f., 260, 275 Kraus, Karl 24 Lacan, Jacques 81, 84, 132f., 141, 179, 207, 251, 255, 267, 287 Lehmann, Hans-Thies 26-29, 34f., 146, 154f., 157, 160f., 164, 280 Leiris, Michel 61, 180, 308 Lessenich, Stephan 183, 186, 195 Lethen, Helmut 20, 145, 163, 165, 240 Liebrand, Claudia 149, 164 Luhmann, Niklas 8, 13, 36, 80, 101, 117, 166f., 172, 176, 193, 197, 199, 203, 207f., 210, 211, 215, 240, 246, 254, 260, 270, 277, 279, 289-293, 296, 298f., 301 Lukács, Georg 182 Link, Jürgen 108, 121, 190, 203, 234, 299f. Luther, Martin 17-20 Mann, Thomas 86, 182 Manovich, Lev 220, 226, 250 Marx, Karl 21, 181, 184f., 234, 289 McLuhan, Marshall 247ff., 251, 268 Meier, Christian 216 Menke, Christoph 38, 40, 44-54, 71, 74, 77f., 83, 85, 87f., 95, 97, 108, 110f., 114, 116ff., 177, 230
Mersch, Dieter 37, 220, 224, 231, 241 Meyer, Thomas 26, 33, 37 Meyer-Sickendiek, Burkhardt 122 Michals, David 231f. Mitchell, W. J. T. 226, 243 Montaigne, Michel de 20 Müller-Schöll, Nikolaus 115 Müller, Sabine 153, 155 Müller, Peter 12 Münkler, Herfried 13f., 181, 191 Neckel, Sighard 33, 155, 183, 282, 298f. Niessen, Carl 57-69 Nietzsche, Friedrich 23, 28, 85, 125, 133f., 147, 151, 162, 193, 205, 210, 213, 308f. Pascal, Blaise 17-20, 91, 123, 205 Pavis, Patrice 171, 175, 179 Pawek, Karl 239f. Pfaller, Robert 18f., 122 Phelan, Peggy 37 Platon 14ff., 125f., 142, 280, 301 Plessner, Helmuth 24, 83, 94, 129, 138, 142, 143-166, 179, 194, 297, 281, 283 Pollesch, René 193f, 212f. Pranz, Sebastian 8, 33 Proust, Marcel 109, 207, 298 Rosa, Hartmut 183, 186, 195 Reich-Ranicki, Marcel 214 Rousseau, Jean-Jacques 22, 28f., 46, 165, 169, 268 Richter, Falk 191 Richter, Gerhard 228, 242 Sartre, Jean-Paul 99, 134, 152, 212, 242, 281, 305 Scheler, Max 119, 144f., 239 Schelsky, Helmut 293, 296 Schiller, Friedrich 86, 97, 182 Schimmelpfennig, Roland 191-194 Schmidt, S. J. 223, 236 Schmitt, Carl 42f., 47f., 50f., 97ff., 104, 117 Schopenhauer, Arthur 23, 76, 85, 91f. Schröter, Jens 220, 223, 225f., 238, 242 Schumpeter, Joseph 185 Schwanitz, Dietrich 21, 27f., 30 Sebald, W. G. 216
REGISTER | 351 Seel, Martin 97, 105, 206, 220f., 225, 227, 232, 235ff., 242f. Sennett, Richard 24, 153, 193 Shakespeare, William 20f., 30, 44, 90, 108, 113f., 184, 201, 271 Simmel, Georg 23f., 85, 116, 144, 203 Sontag, Susan 235f. Sophokles 73, 109, 111, 114, 117 Steichen, Edward 239f. Steiner, George 77, 81, 87, 170 Stiegler, Bernd 170, 225, 231, 235, 242 Strauß, Botho 54, 77, 88, 91, 99, 123, 217, 244
Turner, Victor 33, 59, 62, 64
Taylor, Charles 116, 193 Teller, Juergen 233, 237
Zafón, Carlos Ruiz 305, 311f. Žižek, Slavoj 179, 193, 252f., 255, 258f., 262, 264, 269f., 278-283
Vogl, Joseph 46, 146, 157, 160, 186, 195, 200 Wall, Jeff 236 Walser, Martin 184, 216 Weber, Max 23, 85f., 116, 144, 151, 203, 289 Wegmann, Nikolaus 305f., 311 Wiener, Oswald 213 Willemsen, Roger 274f., 278, 282f. Wyss, Beat 233f., 238
:F+ :EITSCHRIFTFàR+ULTURWISSENSCHAFTEN DYj]fÛD+`jaf_Û]f]jYlagfÛafl]j\akrahdafj]jÛGagfa]j]Ûfg[`Ûo]fa_Û]jk[`dgkk]f @fÛ\a]k]jÛJalmYlagfÛkgddÛ\a]ÛQ]alk[`ja^lÛ^1jÛBmdlmjoakk]fk[`Y^l]fÛ]af]ÛGdYll^gjeÛ^1jÛ ;akcmkkagfÛmf\ÛBgfljgn]jk]Û1Z]jÛBmdlmj Ûmf\Û\a]ÛBmdlmjoakk]fk[`Y^l]fÛZa]l]fÛ ;a]Û>]_]foYjlÛZjYm[`lÛe]`jÛ\]ffÛb]Ûj]^d]cla]jl]ÛBmdlmjÛ`aklgjak[`Ûkalma]jl]kÛmf\Û kgraYdÛn]jYflogjl]l]kÛNakk]fÛ8mkÛ\]fÛ]¤Û k[`a[`l]Ûmf\Û>]\[`lfakÛngfÛ