Von Teufeln, Tänzen und Kastraten: Die Oper als transmediales Spektakel [1. Aufl.] 9783839430019

Opera viewed in terms of its media: this volume approaches opera as a trans-medial spectacle and opens up opera analysis

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German Pages 228 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Medienkombination Oper. Zur Einführung
Manöver im Klangraum. Michel Leiris’ Ästhetik der Oper
»L’horreur des dames, & la risée des hommes«. Zur Wahrnehmung des musico im Frankreich der Frühen Neuzeit
Kastraten und Sängerinnen der italienischen Oper des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Überlegungen zur Medialität von (hoher) Stimme, Körper und Gebärdenkunst
Politik im Spiel. Mediale Inszenierung gesellschaftlicher Normen und Ziele in Pietro Metastasios Olimpiade
»L’Opéra, disait-on, ne marche que sur les jambes de ses danseurs«. Das Ballett der grand opéra
Der Teufel in den Faust-Vertonungen von Berlioz, Gounod und Boito. Wenn Körper, Raum und Musik das Unvorstellbare darstellen
Ikonische Strukturen in der italienischen Oper
»Devo punirmi, se troppo amai«. Oper und Realistischer Roman bei Stendhal, Flaubert und Leopoldo Alas (Clarín)
Autorinnen und Autoren
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Von Teufeln, Tänzen und Kastraten: Die Oper als transmediales Spektakel [1. Aufl.]
 9783839430019

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Maria Imhof, Anke Grutschus (Hg.) Von Teufeln, Tänzen und Kastraten



machina | Band 7

Editorial Das lateinische Wort »machina« bedeutet – wie seine romanischen Entsprechungen – nicht nur Maschine, sondern auch List, bezeichnet zugleich den menschlichen Kunstgriff und das technische Artefakt. Die mit diesem Wort überschriebene Reihe versammelt Studien zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft in technik- und kulturanthropologischer Perspektive. Die darin erscheinenden Monographien, Sammelbände und Editionen lassen sich von der Annahme leiten, dass literarische, theatralische, filmische oder andere mediale Produktionen nur mit gleichzeitiger Rücksicht auf ihre materielle Gestalt und ihren kulturellen Gebrauch angemessen zu beschreiben sind. Die Reihe wird herausgegeben von Irene Albers, Sabine Friedrich, Jochen Mecke und Wolfram Nitsch.

Maria Imhof, Anke Grutschus (Hg.)

Von Teufeln, Tänzen und Kastraten Die Oper als transmediales Spektakel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Edgar Degas, Scène de ballet pour Robert le Diable, opéra de Meyerbeer (1872) (Quelle: Victoria and Albert Museum, London) Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3001-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3001-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Medienkombination Oper Zur Einführung | 9 Maria Imhof/Anke Grutschus Manöver im Klangraum Michel Leiris’ Ästhetik der Oper | 29 Wolfram Nitsch »L’horreur des dames, & la risée des hommes« Zur Wahrnehmung des musico im Frankreich der Frühen Neuzeit | 41 Christian Grünnagel Kastraten und Sängerinnen der italienischen Oper des 17. und frühen 18. Jahrhunderts Überlegungen zur Medialität von (hoher) Stimme, Körper und Gebärdenkunst | 67 Saskia Woyke Politik im Spiel Mediale Inszenierung gesellschaftlicher Normen und Ziele in Pietro Metastasios Olimpiade | 83

Thorsten Philipp »L’Opéra, disait-on, ne marche que sur les jambes de ses danseurs« Das Ballett der grand opéra | 105 Catharina Busjan Der Teufel in den Faust-Vertonungen von Berlioz, Gounod und Boito Wenn Körper, Raum und Musik das Unvorstellbare darstellen | 133 Claude Paul Ikonische Strukturen in der italienischen Oper | 161 Costantino Maeder

»Devo punirmi, se troppo amai« Oper und Realistischer Roman bei Stendhal, Flaubert und Leopoldo Alas (Clarín) | 205 Kirsten von Hagen Autorinnen und Autoren | 225

Vorwort

Der vorliegende Band versammelt ausgewählte Beiträge zur transversalen Sektion Medienkombination Oper: Romanistik im Dialog mit Medien-, Musikund Theaterwissenschaften, die am 26. und 27. 09. 2011 auf dem XXXII. Deutschen Romanistentag an der Berliner Humboldt-Universität stattfand. An dieser Stelle möchten wir uns bei zahlreichen Unterstützern bedanken, ohne deren Hilfe diese Publikation nicht zustande gekommen wäre: Wir danken zunächst den Teilnehmern der Sektion, deren engagierte und inspirierende Diskussionen unsere Überlegungen zur Oper als transmedialem Phänomen entscheidend vorangetrieben haben. Wolfram Nitsch danken wir sehr herzlich für die substantielle Unterstützung bei der Finanzierung der Drucklegung. Den Reihenherausgebern sind wir sehr verbunden für unsere Aufnahme in die machina-Reihe. Schließlich gilt Frau Jüchter vom transcript-Verlag unser Dank für die optimale verlegerische Betreuung. Köln, im Herbst 2014

Maria Imhof Anke Grutschus

Medienkombination Oper Zur Einführung MARIA IMHOF/ANKE GRUTSCHUS

I.

DIE OPER ALS MEDIALES DISPOSITIV

Seit ihrer Geburtsstunde an der Schwelle zum 17. Jahrhundert ist die Oper nicht nur ein musikalisches oder theatrales, sondern auch und vor allem ein gesellschaftliches Phänomen. War sie in ihrer Frühphase Manifestation dynastischer und damit politischer, aber im gleichen Maße auch kultureller Gegebenheiten, so hat sich zumindest ihr Charakter als Repräsentationsform bis heute erhalten − sehen und gesehen werden ist noch immer die Devise.1 Sowohl die höfische Barockoper als auch die bürgerliche romantische Oper bewegen sich in einem Spannungsfeld von theatraler und musikalischer, aber auch sozialer Produktion und Rezeption: Die starke Ausrichtung an den Erwartungen des Publikums, eine im 17. Jahrhundert durchaus gängige Praxis,2 brachte der Barockoper schon bald nach ihrer enthusiastischen Auf1

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Zur Entstehung der Oper im Rahmen der camerata fiorentina und der Hochzeitsfeierlichkeiten Maria de’ Medicis und Heinrichs IV. vgl. Silke Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert, Laaber: Laaber-Verlag 2004, S. 49−70; aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Klaus-Dieter Link: Literarische Perspektiven des Opernlibrettos, Bonn: Grundmann 1975, S. 26−36; zur ›sozialen Funktion‹ der Oper auch Bodo Plachta: Ein Tyrann der Schaubühne? Stationen und Positionen einer literaturund kulturwissenschaftlichen Debatte über Oper und Operntext im 18. Jahrhundert, Berlin: Weidler 2003, hier S. 28. In Spanien etwa formuliert Lope de Vega die Ausrichtung am Geschmack des Publikums als wesentlichen Aspekt der comedia nueva, ohne daraus eine Minderwertigkeit des Textes abzuleiten, vgl. Vega Carpio, Lope Félix de: Arte nuevo de hacer comedias, hrsg. v. Enrique García Santo-Tomás, Madrid: Cátedra 2006.

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nahme auch den Vorwurf der oberflächlichen Fürstendienerschaft ein, spätere Formen des italienischen melodramma oder der französischen tragédie lyrique und grand ópera unterlagen beständig dem Verdacht einer wenig konsequenten, effekthascherischen Dramaturgie und einer minderwertigen Textgrundlage.3 Dieser von Beginn an spürbare Rechtfertigungsdruck ließ jedoch im Umfeld der Oper schnell poetologische Reflexionen entstehen, die den Operntext als wesentlichen Teil eines untrennbaren musikoliterarischen Kunstwerks fokussieren, und ihn als eine neue Textgattung beschreiben, die ganz eigenen Regeln folgt, sich also mitnichten mit dem Drama vergleichen lässt.4 Über diese von Literaten und Musikern geführten Diskussionen hinaus bewies die Oper die Fähigkeit, sich als Kunstform historischen Transformationen flexibel anzupassen, und übernahm schließlich bis ins späte

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In der Librettoforschung sehen die Verteidiger der Oper das Libretto von einer stringenten Argumentationsstruktur und einer dramatischen Sprache, die sich dem verosimile verschreibt, entlastet, da genau in der Artifizialität das Besondere und Typische der Oper liege, wobei diese gutgemeinten Ansätze bisweilen die Besonderheiten der Textsorte Libretto und die Sozialgeschichte des Librettisten und Komponisten aus dem Blick verlieren, daher ebenso wie die Operngegner im Kontext der Tragödie argumentieren, vgl. dazu beispielsweise Kurt Rinegger: »Che gelida manina... Anmerkungen zum italienischen Opernlibretto«, in: Arcadia − Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft 19, Heft 1−3 (1984), S. 113–129, Leo Karl Gerhartz: »Kino und Kirche. Zu den Wurzeln des Verdischen Operntypus«, in: Udo Bermbach (Hrsg.): Verdi-Theater, Stuttgart/Weimar: Metzler 1997, S. 23−36, hier S. 25 und S. 30; Luigi Dallapiccola: »Parole e musica nel melodramma«, in: Quaderni della rassegna musicale 2 (1965), S.117−139; auch bei Michel Leiris findet sich dieser Gedanke, vgl. M. L.: Operratiques, hrsg. v. Jean Jamin, Paris: POL 1992. Leiris freilich betont gleichzeitig den besonderen Charakter der Oper als Raumkunst und den Klangraum als sinnliche vibrierende Konstellation, vgl. Michel Leiris: »L’opéra, musique en action« (1965), in: Brisées, Paris: Gallimard 1992 (Folio Essais), S. 315–322; zu Leiris vgl. den Beitrag von Wolfram Nitsch in diesem Band. In den frühen favole in musica bzw. favole pastorali der camerata fiorentina wird die Artifizialität durch die Wahl mythologischer Stoffe und das Auftreten von Literaturallegorien in den Prologen stark betont, allerdings gilt das absolute Primat des Wortes vor der Musik, wie dies Rinuccini, Cavalli und Gagliano in ihren Vorreden immer wieder betonen, vgl. Solerti, Angelo (Hrsg.): Le origini del melodramma. Testimonianze dei contemporanei, Hildesheim/New York: Georg Olms Verlag 1969. Die neuere Librettoforschung entfernt sich von normativen Ansätzen, die die Oper im Vergleich zu anderen Gattungen zu profilieren suchen, vgl. Albert Gier: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung, Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 15−32. Zur stilistischen Verwandtschaft der Oper mit der Pastorale, ihrer Abgrenzung gegenüber der Tragödie und zum Einfluss von Guarinis Il pastor fido vgl. Florian Mehltretter: Die unmögliche Tragödie. Zur Karnevalisierung und Gattungsmischung im venezianischen Opernlibretto des 17. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Lang 1994.

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19. Jahrhundert eine Vorreiterrolle in der Verfeinerung von Bühnentechnik und Ausstattung.5 Trotz unverminderter Präsenz im Kulturleben europäischer Städte und der seit einigen Jahren anhaltenden Renaissance der Barockopern auf den Bühnen ist die Oper aber immer noch ein Stiefkind der Forschung: Sie steht zwischen den Disziplinen der Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Literaturwissenschaft, deren Ansätze zur Oper gleichermaßen Anspruch auf Relevanz erheben können, aber gleichzeitig immer defizitär bleiben müssen, da sie nur Teilaspekte (Notentext, Aufführungspraxis, Textgrundlage) fachspezifisch untersuchen können. Interdisziplinarität ist also für die Opernforschung keine nur modische Forderung, sondern eine grundsätzliche Notwendigkeit, damit diese multimediale Kunstform, die neuerdings auch von der Medienwissenschaft als Untersuchungsfeld entdeckt wird, möglichst in ihrer Gesamtheit betrachtet werden kann.6 Literaturwissenschaftliche Analysen der Oper – oder des Musikdramas, wie man sie seit einigen Jahren zu nennen geneigt ist – beschäftigten sich lange Zeit hauptsächlich mit dem Libretto und der Dimension der Sinnproduktion, häufig im Rahmen einer kulturgeschichtlichen Kontextualisierung und Einordnung der Oper, bzw. einem Vergleich zwischen der musikdramatischen Umsetzung und einer literarischen Vorlage.7 Zwar ist nichts gegen die Erkenntnisse einer derartigen Lektüre einzuwenden, doch wurde möglicherweise das ›Andere‹ der Oper, der Aspekt der theatralen Aufführung, der Körperlichkeit und der ›Produktion von Präsenz‹ etwas vernachlässigt,

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Plachta: Ein Tyrann der Schaubühne, S. 30. Bayerdörfer stellt im Vorwort des von ihm herausgegebenen interdisziplinären Sammelbandes zum Thema »Musiktheater« fest, dass »[e]uropäisches Musiktheater […] nach wie vor überwiegend die Domäne der Musikwissenschaft [ist]«, vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: »Vorwort«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.): Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft. Tübingen: Niemeyer 1999, S. VII−XII, hier S. VII; zu Oper, Operntext und gleichzeitig entstehender Kritik an der Oper, sowie dem bereits im 17. Jahrhundert verbreiteten Bewusstsein, dass das Libretto nicht als rein literarische Gattung zu behandeln sei vgl. Plachta: Ein Tyrann der Schaubühne?, S. 27−46. Albert Gier hat das Libretto auf seine Struktur hin untersucht und eine deskriptive Librettoforschung, die komparatistisch oder sozialgeschichtlich vorgeht, einer älteren, normativen Librettoforschung, die wertend analysiert, gegenübergestellt, vgl. Albert Gier: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, sowie der Sammelband A. G. (Hrsg.): Oper als Text. Romanistische Beiträge zur Librettoforschung, Heidelberg: Carl Winter 1986; Ross: »Luisa Miller – ein kantiger Schiller-Verschnitt?«, In: Jürgen Maehder/Jürg Stenzl (Hrsg.): Zwischen opera buffa und melodramma, S. 159−178.

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obwohl diese materielle Seite als eine weitere wesentliche Dimension der Kunstform ganz offensichtlich im Bewusstsein der Komponisten und Textdichter ihren Platz behauptete.8 Diese Präsenzphänomene, auf die auch der Begriff der ›Re-Präsentation‹ referiert, verweisen nicht auf etwas Stellvertretendes für etwas Abwesendes, sondern auf die (Re-)Produktion eines temporär Abwesenden, das erneut mit der Zeit der Wahrnehmung des Zuschauers synchronisiert und im Raum des Zuschauers anwesend und quasi berührbar wird.9 In Bezug auf den Körper des Schauspielers oder Sängers bedeutet dies die Möglichkeit einer Differenzierung zwischen einer dominant gesetzten Verkörperung einer Rolle (stellvertretend für etwas Anderes) und einer dominant gesetzten und im Vordergrund stehenden Leiblichkeit des Körpers (Re-Präsentation). Die Entstehung von körperbetonten Inszenierungsformen wie der commedia dell’arte oder der Oper wird in der Übergangsphase von einer primär durch Charakteristika einer Präsenzkultur zu einer Kultur mit Eigenarten der Sinnkultur in Verbindung gebracht, mit der Kompensation des Verlustes der Körperlichkeit zu Gunsten der kopfbetonten Sinnhaftigkeit also.10 Obgleich eine (neuzeitliche) Sinn- und eine (mittelalterliche) Präsenzkultur nicht in Reinform existieren, stehen aber doch die Präsenzphänomene in ihnen offensichtlich in enger Beziehung zu der materiellen Dimension theatraler Erscheinungsformen, die die Ermöglichungsstruktur für den Sinn darstellt, also zu den Kategorien Raum, Körper und Inszenierung, die den Rahmen einer theatralen Aufführung bilden.11 Der Körper und die Stimme als zentrale Medien, die den theatralen Raum in der Oper konstituieren, il-

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Vgl. dazu Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004; neuerdings auch H.-U. G.: Präsenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012. 9 Vgl. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 46−50, H.-U. G.: »Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absetzt. Über Musik, Libretto und Inszenierung«, in: Josef Früchtl, Josef/Jörg Zimmermann (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 63−76, hier S. 65−69, H.-U. G.: Präsenz, S. 213-223. 10 Zur Sinn- und Präsenzkultur vgl. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 98−110. 11 Die Schriften Erika Fischer-Lichtes etablieren die zentralen Begriffe ›Inszenierung‹, ›Körperlichkeit/Verkörperung‹, ›Wahrnehmung‹ und ›Performanz‹ und beschreiben Theater als ein interaktives ›Ereignis‹, in dem der Zuschauer eine tragende Rolle übernimmt, und das im Wesentlichen selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend verfährt. Ihre Theorie der performativen Künste weist daher Parallelen zu medientheoretischen Schriften auf, z. B. zu der Medientheorie Sibylle Krämers, die Medien als welterzeugend fasst; vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen/Basel: Francke, bes. S. 291−343, sowie: E. F.-L.: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

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lustrieren die Zusammenhänge von Inszenierung und Wahrnehmung in gleichem Maße, wie sie auf Funktionalisierungen von Wort, Musik und Körperlichkeit verweisen. Auch wenn die zahlreichen medienwissenschaftlich orientierten Theorien sehr unterschiedliche Medienbegriffe ausgebildet haben,12 stützen wir uns zentral auf einen Theoriekontext, um die mediale Dimension der Oper zu beschreiben: Die technisch-anthropologischen Medientheorien, die sich mit dem Verhältnis von Körper und Medium beschäftigen, lassen sich für unsere Perspektive fruchtbar machen, da die Oper sich in besonderem Maße durch die Zusammenhänge zwischen dem Körper und seinen Extensionen definiert. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Perspektiven auf das Medium unterscheiden: Entweder wird das Medium als eine Extension des Menschen betrachtet und daher als Effekt einer Leistungssteigerung beschrieben, das Medium also vom Menschen her gedacht, oder das Medium wird als ein den Menschen in seinem Handeln bestimmendes technisches Element behandelt, also von der Technik aus betrachtet. Daraus ergibt sich die Einteilung in anthropologische und technikzentrierte Medientheorien, die sich freilich oft gegenseitig bedingen.13 Beide beschreiben mediale Systeme letztlich aus kulturanthropologischer Perspektive als prothetische Extensionen natürlicher Körperfunktionen.14 Besonders McLuhan hat darauf hingewiesen, dass diese, einmal exteriorisiert, auf den Menschen zurückwirken können und ihn so zu einem Servomechanismus seiner eigenen Extensionen werden lassen, da sich der Medienbenutzer der ursprünglichen Herkunft des Mediums nicht

12 Einen Versuch der Systematisierung unternehmen Claudia Liebrand u. a. (Hrsg.): Einführung in die Medienkulturwissenschaft, Münster: Lit 2005. 13 Einen ersten Überblick über diese beiden Richtungen und ihre Vertreter gibt Wolfram Nitsch: »Anthropologische und technikzentrierte Medientheorien«, in: Claudia Liebrand u. a. (Hrsg.): Einführung in die Medienkulturwissenschaft, Münster: Lit 2005, S. 81−98. 14 Die folgenden Überlegungen basieren auf den Ergebnissen der 2003 an der Universität zu Köln gegründeten Arbeitsgruppe ›Theatralität aus mediengeschichtlicher Perspektive‹ und sind zusammengefasst und erweitert worden in: Sabine Friedrich/Kirsten Kramer: »Theatralität als mediales Dispositiv. Zur Emergenz von Modellen theatraler Performanz aus medienhistorischer Perspektive, in: Henri Schoenmakers u. a. (Hrsg.): Theater und Medien. Grundlagen − Analysen − Perspektiven; eine Bestandsaufnahme, Bielefeld: transcript 2008, S. 67−84, sowie auch aufgenommen in Jörg Dünne/Sabine Friedrich/Kirsten Kramer (Hrsg.): Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 15−26. Zum Medium als Extension vgl. André Leroi Gourhan: Le geste et la parole. 2 Bde., Paris: Albin Michel, 1995/1998 und Marshall McLuhan: Understanding media: the extensions of man, London/New York: Routledge 2002.

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mehr bewusst ist.15 An diese Überlegungen knüpft noch Latour an, wenn er das Artefakt als ein mit dem Benutzer in Interaktion befindliches Element in einer Handlungskette begreift, das auf den Benutzer zurückwirkt, dergestalt, dass dieser technische Befehle und Vorgänge absorbiert und durch diese transformiert wird.16 Anschließend an Marshall McLuhans Überlegungen zum Medium trifft Sybille Krämer eine weitere Unterscheidung innerhalb dessen, was bei McLuhan ›Medium‹ ist: Für Krämer ist das Werkzeug als bloße Möglichkeit zur Leistungssteigerung des menschlichen Sinnesapparats vom Medium, bzw. der technischen Apparatur zu unterscheiden.17 Zwar stellt auch Krämer den Körperbezug und die Materialität des Mediums heraus und betont den nicht ausschließlich symbolischen Aspekt der medialen Kommunikation. Das Medium aber verändert im Gegensatz zum Werkzeug den Weltbezug des Benutzers. Steigert das Werkzeug lediglich Fähigkeiten, die auch ohne es vorhanden wären, kann das Medium quasi künstliche Welten erzeugen, die neue soziale und kulturelle Interaktionsformen eröffnen. Dabei spielt auch die Perspektive des Benutzers eine zentrale Rolle, denn es ist durchaus möglich, ein Artefakt als ›Werkzeug‹ oder als ›Medium‹ zu gebrauchen, ja, beide Aspekte – der instrumentale und der mediale – überlagern sich in einem technischen Artefakt.18

15 Dieser Gedanke wird von McLuhan sehr anschaulich am Narziss-Mythos erläutert. Er liest das Spiegelbild als Extension der Figur, die das Medium dann als etwas ihm nicht Zugehöriges wahrnimmt und somit zum ›Gadget Lover‹, bzw. zum Servomechanismus der Extension wird, vgl. Marshall McLuhan: »The Gadget Lover. Narcissus as Narcosis«, in: Marshall McLuhan: Understanding media S. 41−47. So gelesen, bringt bereits McLuhans Ansatz eine anthropologische mit einer technikzentrierten Perspektive auf das Medium zusammen und illustriert ihre wechselseitige Abhängigkeit. 16 Vgl. Bruno Latour: Aramis ou l’amour des techniques, Paris: La Découverte 1992, sowie Bruno Latour: »Les moteurs immobiles de la mobilité«, in: Flonneau, Mathieu: De l’histoire des transports à l’histoire de la mobilité? Etat des lieux, enjeux et perspectives de recherche; Rennes: Presses Universitaires 2009, S. 7−10. 17 Vgl. Sibylle Krämer: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: Sibylle Krämer (Hrsg.): Medien, Computer, Realität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 73−94. 18 Bei Krämer dient zur Illustration dieser Eigenart der Computer, der als Werkzeug erfunden und benutzbar ist, als eine Maschine, mit der Textverarbeitung schneller und einfacher zu bewerkstelligen ist oder dessen programmierte Formeln dem Benutzer komplizierte Rechnungen aufschlüsseln, die er prinzipiell aber auch ohne Computer lösen könnte; andererseits liest Krämer den Computer als ein welterzeugendes Medium, da er durch die Digitalisierung Interaktionsformen schafft, die den Rahmen der mündlichen und schriftlichen Kommunikation, die immer personengebunden bleibt, sprengen: »Anders als unter den gewöhnlichen

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Krämers Definition impliziert, dass Medien, obwohl sie primär die Tendenz haben, unsichtbar zu bleiben und sich nur in einer Störung bemerkbar zu machen, einen signifikanten ›Mehrwert‹ erzeugen, einen Überschuss an Sinn, der sich dem Benutzer entzieht, und so kraft der ihnen eigenen Materialität der Kommunikation eine Spur hinzufügen, indem sie möglicherweise mehr sagen, als der Benutzer intendiert. Daraus kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der kulturelle ›Mehrwert‹ eines Mediums darin besteht, dass ein Bruch mit den tradierten Wahrnehmungs- und Kommunikationsmodi stattfindet; auf der Grundlage dieses Bruches bilden sich neue Formen symbolischer Interaktion heraus.19 Krämer versucht, eine strikte Trennung von Präsenz- und Sinnphänomenen zu vermeiden, indem sie den Begriff der Performanz oder Performativität für eine Konzeption kultureller Phänomene fruchtbar machen möchte, in denen Sprache, obwohl sie ›Sinnhaftem‹ zugeordnet werden muss, auch als ›verkörperte‹ Sprache fungieren kann. Betrachtet man nun die Oper unter dem Aspekt des Medialen, des Theatralen und der Präsenzeffekte, so werden Körper und Stimme zu einem zentralen Bezugspunkt. Durch den Gesang ist der Aspekt der Leiblichkeit des Körpers in der Oper zwangsläufig zentraler als im Theater, ebenso wird durch ihn die Artifizialität der dramatischen Handlung in den Fokus gerückt und eine Dominantsetzung der Verkörperung einer Rolle grundsätzlich erschwert. Allerdings ist der Umgang mit der Artifizialität und der Leiblichkeit des Körpers historisch unterschiedlich kodiert. Während die frühe favola in musica die Handlung in der Kunstwelt Arkadien ansiedelt und so den als unnatürlich wahrgenommenen Gesang in einen ihm genuin verwandten Kontext eingliedert, versucht die Oper des 19. Jahrhunderts sich zunehmend an der Bearbeitung zeitgenössischer Stoffe und der realistischen Darstellung einer konventionalisierten Alltagswelt, die die Identifikation des Zuschauers

Bedingungen mündlicher oder schriftlicher Kommunikation entwickelt sich hier eine Art telematischer Interaktion, welche kaum mehr als authentischer Ausdruck persönlicher Haltungen und Instanz zwischenmenschlicher Bezugnahme zu gelten hat. Strenggenommen gehen wir im computerisierten Netz nur noch mit Ideen, nicht mehr mit Personen um.«, vgl. Krämer: »Das Medium als Spur und als Apparat«, S. 87. Jede Form von »künstlichen Identitäten« oder auch »künstlichen Intelligenzen« weist darauf hin, dass sich der Weltbezug des Menschen durch den Mediengebrauch verändert. 19 In der frühen Neuzeit verändern visuelle Medien wie das Fernglas den Weltbezug; auch das Kino und moderne Kommunikationsformen, die elektronische Kommunikation und das Telefon, leiten radikale Umbrüche im sozialen und kulturellen Gefüge ein, vgl. auch Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge: MIT Press 1990.

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mit den Figuren erleichtern soll. Gleichzeitig aber rückt der Status von Orchester und Singstimme als Medium in den Fokus des Interesses. Der theatrale Raum wiederum zerfällt in der Oper nicht nur in bespielten und gespielten Raum, sondern ist als Klangraum erweiterbar;20 durch die Klangarchitektur, die von Stimme und Orchester vor und hinter der Bühne erzeugt wird, konstituiert er sich, anders als im Sprechtheater, nicht nur durch die Etablierung einer Grenze zwischen Aktions- und Aufführungsraum,21 sondern unterliegt einer Transformation im Sinne einer taktilen Größe.22 Die Materialität der zentralen Medien des Musiktheaters als Grundannahme öffnet den Blick auf die Funktionsweise des als ›Mediencollage‹ oder ›Medienkombination‹23 beschreibbaren Dispositivs Oper, die sich so einerseits auf der Ebene der Dramaturgie, die Repliken und Handlung mit einschließt und eine interpretative Analyse begünstigt, und andererseits auf der Ebene des Medialen und der Theatralität beschreiben lässt. Da sich die Oper als Kunstform in einem dynamischen Wechsel oder auch in einer Überlagerung von Präsenzeffekten und der Produktion von Sinn konstituiert, das Eine ohne das Andere im Musikdrama nicht existieren kann, ist die Untersuchung dieses komplexen Zusammenspiels von besonderem Interesse.

20 Zur Unterscheidung von bespieltem und gespieltem Raum vgl. Daniel Fulda: »›Bretter, die die Welt bedeuten‹«, in: Theatralität und Räumlichkeit, S. 71−86. 21 Dass diese Grenze in den verschiedenen Bühnenformen auch instabil ist, sei hier nicht verschwiegen; um von Theatralität zu sprechen, müssen ein raumsetzender Rahmen und theatrales Spiel zusammenkommen, dies ordnet auch die Oper in eine Form des theatralen Spiels ein, vgl. Theatralität und Räumlichkeit, S. 20. 22 Den Gedanken des erweiternden Klangraumes, der Anwesenheit von vormals Abwesendem und der Musik als aktivem Element in der Oper, findet sich auch bei Michel Leiris, der die Opernmusik als musique en action fasst und damit auch der Auffassung Giuseppe Verdis nahesteht, der sich eher als uomo di teatro denn als Komponist verstand; vgl. Michel Leiris: »L’opéra, musique en action« (1965), in: Brisées, S. 315−322. 23 Pfeiffer benutzt den Begriff der »Mediencollage«, um das Multimediale der Oper zu beschreiben, vgl. Karl Ludwig Pfeiffer: »Authentizität und Artifizialität: der Fall ›Oper‹«, in: Knaller, Susanne/Müller, Harro (Hrsg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Fink 2006, 147−162, hier S. 149. Den verwandten Begriff der Medienkombination führt Rajewsky ein, vgl. Irina Rajewski: Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002.

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II. INTERMEDIALITÄT DER OPER Die Oper als multimediale Kunstform hat vor allem Rajewski in ihren grundlegenden Überlegungen zur Intermedialität beschrieben: Sie versteht den intermedialen Charakter der Oper als »Medienkombination«, d. h. als »Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die in ihrer Materialität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur (Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen.«24 Die Natur dieser Kombination kann durchaus eine gewisse Bandbreite aufweisen, die von der »bloßen Kontiguität [...] bis hin zu eine[r] [...] Synthese bzw. Fusion der involvierten Medien«25 reicht. Einen zentralen Untersuchungsaspekt stellt in diesem Zusammenhang die »Frage nach den Formen und Funktionen der Zusammenführung unterschiedlicher medialer Systeme und damit unterschiedlicher Verfahren der Bedeutungskonstitution« dar,26 auch im Hinblick auf die Auswirkungen der Kombination medialer Systeme auf den Rezipienten.27 Nur eine multimediale Perspektive ermöglicht es hier aufzuzeigen, welche Medien als dominant im Vergleich zu anderen wahrgenommen werden und damit primär sinnkonstituierend sind. Ein weiteres Erkenntnisziel betrifft die »Frage nach dem ›Mehrwert‹, der durch die Kombination der verschiedenen medialen Artikulationsformen für das entstehende Produkt erzielt werden kann«.28 Prinzipiell sind hier mindestens folgende Konstellationen vorstellbar: Einerseits können sich die Medien, was beispielsweise die Sinngebung betrifft, gegenseitig verstärken, so dass der beim Rezipienten erzielte Effekt potenziert wird. Andererseits können die unterschiedlichen zum Einsatz kommenden Medien sich in ihrer sinngebenden Funktion gegenseitig widersprechen, den Rezipienten auf eine »falsche Fährte« locken oder aber schlicht einen größeren Interpretationsspielraum schaffen. 24 Auch für Rajewski ist das Medium v. a. durch seine Materialität bestimmt, vgl. Rajewski: Intermedialität (Anm. 23), S. 15. 25 Ebd. 26 Rajewski: Intermedialität (Anm. 23), S. 18. 27 Dass sich an dieser Stelle rezeptions- und medienwissenschaftliche Ansätze ergänzen können, zeigt sich bereits in der aktiven Rolle, die Fischer-Lichte dem Rezipienten im Theater zuweist (Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung und Ästhetik des Performativen). Darüber hinaus geht auch Crary vom observer aus und beschäftigt sich mit unterschiedlichen Techniken des Sehens, vgl. Crary: Techniques of the Observer. 28 Rajewski: Intermedialität (Anm. 23), S. 19. Im Unterschied zu Krämer, die mit dem Begriff »Mehrwert« die Spur des Mediums bzw. auf die Materialität referiert, die dem Sinn hinzugefügt wird, geht es Rajewski um den sinnhaften Mehrwert.

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Über das Phänomen der Medienkombination hinaus bietet die Oper noch weitere Anknüpfungspunkte für die Untersuchung intermedialer Konfigurationen. Hierzu zählen beispielsweise von Rajewski als »intermediale Bezüge« bezeichnete Phänomene, also »Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (= Einzelreferenz) oder das semiotische System (= Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln«.29 Gemeint sind beispielsweise Bezüge eines literarischen Textes auf eine Oper, die sich etwa während eines Opernbesuchs der Protagonisten ergeben, in dessen Rahmen die Opernsänger stellvertretend für die Protagonisten handeln. Im Gegensatz zur Medienkombination, innerhalb derer die involvierten Medien zwar unterschiedlich dominant, jedoch per definitionem in jedem Fall präsent sind, ist hier lediglich das kontaktnehmende Medium materiell präsent.

III.

MEDIEN IN DER OPER

Die Oper ist eine Kunstform, in der der Körper des Sängers nicht nur als Träger von Information involviert ist, sondern auch als Medium; er erzeugt neben der Verkörperung der Rolle Sinnzusammenhänge mit Hilfe von Mimik, Gestik und Körperhaltung. Gleichzeitig entsteht durch seine physische Präsenz im materiellen Raum ein Sinnüberschuss, der auf Zusammenhänge jenseits der im Dienste der Rolle stehenden Gesten und Haltungen verweist. Allein durch die speziellen Anforderungen des Gesangs an Haltung, Zwerchfellbewegung und Körperspannung steht nicht die gesamte Palette an grundsätzlich möglichen Körperhaltungen zur Verfügung, da sich in einigen – insbesondere liegenden – Positionen Einschränkungen oder gar das Versagen der Gesangstechnik ergeben; daher charakterisiert sich die Oper durch eine körperdominierte, bzw. stark körperbezogene Inszenierung, die derartige Selbstthematisierungen des Mediums je nach historischer Aufführungspraxis entweder zu dementieren versucht oder sie ostentativ herausstellt. Standardisierte sängerische Gesten wiederum, die sich seit der Barockzeit etablieren und teils als Interpretationsvorgabe einzustufen sind, teils als Unterstützung des Körpers im Produktionsprozess von Tönen, wurden im 19. Jahrhundert als repetitiv und quasi technisch-automatenhaft charakterisiert, und damit nicht ausnahmslos als »sinngebend« verstanden, sondern

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als Selbstthematisierung oder gar als Selbstläufer eines Mediums, das sich unabhängig von Rollenverkörperung oder Ästhetik der quasi technischen Reproduzierbarkeit eines Automaten annähert. Eine Beschreibung von Sängergesten aus dem Jahre 1835 kritisiert die mangelnde Verkörperung der Rolle im Vergleich zur (ungewollten) Präsenz des Sängerkörpers: Wenige Sänger indessen zeigen […] ein tieferes Studium der scenischen Kunst; ihre Bewegungen sind meistens matt und einförmig, oft häßlich, wie z. B. die häufig vorkommende parallele Hebung der Arme, und das abwechselnde Ausstrecken nebst flacher Oeffnung der Hände.30

Körpergebunden sind weiterhin alle Arten von Bewegung sowie die Verteilung bzw. Position der Körper im (Bühnen-)Raum. Besonderes Gewicht hat das Medium »Körper« in Opern, in denen Tänzer zum Einsatz kommen; auch bei Komparsen liegt, in Ermangelung anderweitiger Ausdrucksmöglichkeiten, der Fokus auf dem Körper. Der Körper ist, ebenso wie die Stimme (s. u.), als »natürliches« Medium anzusehen, während alle übrigen in der Oper zum Einsatz kommenden Medien als im weitesten Sinne »technisch« (da sächlich geschieden vom menschlichen Körper) eingeordnet werden können. Die Orchesterinstrumente illustrieren den Gedanken der »prothetischen Extension natürlicher Körperfunktionen« auf prototypische Weise, da zumindest ein Teil der Orchesterinstrumente anthropomorphen Charakter hat: Während Streichinstrumente ihrer Form nach dem menschlichen Körper nachempfunden sind (und dementsprechend ggf. als »Körperextension zweiten Grades« zu fassen sind), liegt der anthropomorphe Aspekt bei (Holz-) Blasinstrumenten auf der akustischen Ebene, im Sinne einer Imitation der menschlichen Stimme. Da bereits die einzelnen Instrumente, aus denen es sich zusammensetzt, Medien-Status haben, besitzt das Orchester als technisches Medium strenggenommen den Status eines »Sammel-« bzw. »Kollektiv-Mediums« und erweist sich damit als mediales Kriterium der Differenzierung von Oper und Theater als multimedialer Kunstformen. Während Theater und Musiktheater die Materialität des Körpers und des Raumes sowie die Interaktion zwischen

30 D. Sch., Artl. Acteur, in: Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, hg. von Gustav Schilling, Bd. II. Stuttgart 1835, S. 47, zitiert nach: Risi, Clemens: »Die bewegende Sängerin. Zu stimmlichen und körperlichen AustauschProzessen in Opernaufführungen«, in: Christa Brüstle/Albrecht Riethmüller (Hrsg.): Klang und Bewegung. Beiträge zu einer Grundkonstellation, Aachen: Shaker, S. 137.

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Bühne und Zuschauerraum gemeinsam haben, entsteht durch das Orchester ein mediales Dispositiv, in dem der menschliche Körper in zweierlei Hinsicht involviert ist: einerseits in Form der Medien Stimme und Körper, andererseits durch eine weitere Extension der Stimme bzw. des Körpers in den Musikinstrumenten. Die Wahrnehmung dieser Medialität ist freilich historisch wandelbar. Seit dem Aufkommen des Orchestergrabens im Laufe des 19. Jahrhunderts wird weniger der Körper der Musiker fokussiert, als die Spur ihrer Körperlichkeit im Klang manifest wird, der abgelöst von einer primären Körperlichkeit materiell präsent ist. Die Stimme selbst soll im Folgenden als eigenständiges Medium betrachtet werden, obwohl sie naturgemäß nicht vom Körper zu trennen ist, wie auch die bereits angesprochenen Wechselwirkungen zwischen Stimme und Körper zeigen.31 In ihrer medialen Funktion ist sie jedoch als autonom anzusehen, da sie durchaus getrennt vom Körper eingesetzt und rezipiert werden kann, man denke etwa an Singen »aus der Kulisse«, also Szenen, in denen der Sänger selbst nicht zu sehen, seine Stimme jedoch hörbar ist, vergleichbar dem Klang aus dem Orchestergraben. Was den medialen Status betrifft, ist darüber hinaus zwischen der Sprechstimme und der Gesangsstimme zu differenzieren. Richtet sich die Aufmerksamkeit des Zuschauers im Theater insbesondere auf Gestik und Mimik des Schauspielers und bestimmt daher die von Leroi-Gourhan herausgearbeitete anthropologische Achse HandGesicht die theatrale Aufmerksamkeitsstruktur, so erfährt der Körper des Sängers in der Oper eine Polarisierung, wobei der Fokus auf dem Stimmapparat und dem Lungensystem liegt. Die Oper mit ihrer Betonung der Stimme nicht nur als Träger von Information, sondern auch als Medium für ›verkörperte‹ Sprache kanalisiert nicht nur Affekte in die Stimme wie in die Repliken, die Stimme in der Oper ist zudem massiv von der Gefahr betroffen, zu brechen oder ganz zu versagen und damit sich selbst zu thematisieren. Das Medium »Stimme« kann, nicht zuletzt dank der Fülle an Analysen, die das vergangene Jahrzehnt hervorgebracht hat, als hinreichend untersucht gelten. Den Beginn des medientheoretischen Interesses an der Stimme markiert die Erkenntnis, dass die Stimme weit mehr ist als ein reiner »Zeichenträger« bzw. »Signifikant«, dass sie in ihrer Funktion also keinesfalls auf ein bloßes (akustisches) »Medium der Sprache«32 reduziert werden darf. In die31 Neben den genannten Einschränkungen existieren natürlich auch »positive Verstärkungen«. 32 Vgl. Kolesch, Doris: »Labyrinthe: Resonanzräume der Sprache«, in: Brüstle/Riethmüller: Klang und Bewegung (Anm. 30), S. 117.

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sem Zusammenhang stehen insbesondere zwei Aspekte der Stimme im Vordergrund: einerseits ihr indexikalischer Charakter und andererseits die insbesondere Gesangsstimmen auszeichnende ästhetische Funktion. Die Stimme als Medium ist nämlich nicht nur Träger konventionalisierter Zeichengehalte, sondern sie ist gleichzeitig auch Indiz des Sprechers bzw. Sängers. Klangfarbe, Tonlage und Lautstärke der Stimme verweisen auf seinen biologischen, individuellen Körper ebenso wie auf seinen sozialen und kulturellen Körper.33 Hierbei kann sich der zu einer Stimme imaginierte Körper unter Umständen deutlich vom realen Körper unterscheiden, wie dies beispielsweise bei Kastratengesang möglich ist.34 Die Stimme ist damit, wie Kolesch festhält, »mehr und anderes als eine Verlängerung des Körpers – in ihr schwingt die Möglichkeit der Transformation, der Metamorphose des Körpers mit, der seine Begrenzung, seinen Aggregatzustand, seine Position verlässt.«35 Dieser somatisierende,36 auf den Körper verweisende wie den Körper bestimmende Aspekt37 wird durch die ästhetische Funktion der Stimme ergänzt. In der Oper ebenso wie in anderen Kunstgattungen wird die Singstimme nämlich »von ihrer Verpflichtung zum ›Ausdruck‹ immer schon ein Stück weit gelöst und auch ›erlöst‹« und damit »frei [...] von ihrem Dienstverhältnis zum Wort«.38

33 Hierbei bestehen enorme Unterschiede zwischen Singstimme und Sprechstimme, da Parameter wie Tonhöhe, Tondauer, Tempo, Betonung und Lautstärke der Singstimme bereits vom Komponisten festgelegt sind, während die Sprechstimme relativ frei über diese paralinguistischen Parameter verfügen kann. Vgl. Liebscher, Julia: »Schauspieler – Sängerdarsteller. Zur unterschiedlichen Aufführungssituation im Sprech- und Musiktheater, dargestellt am Beispiel der paralinguistischen Zeichen«, in: Hans-Peter Bayerdörfer: Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft, Tübingen: Niemeyer, 1999, S. 55–70, hier S. 61. 34 Vgl. ebd., S. 120. 35 Vgl. ebd., S. 122. 36 Kolesch/Krämer sprechen in diesem Zusammenhang auch vom »Verkörperungscharakter« der Stimme, vgl. Kolesch, Doris/Krämer, Sybille: »Stimmen im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band«, in: Doris Kolesch/Sybille Krämer (Hrsg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 11. 37 Krämer bezeichnet diesen Aspekt auch als »physiognomische Funktion« der Stimme, die sie als »Spur des Körpers in der Sprache« auffasst (vgl. Krämer, Sybille: »Die ›Rehabilitierung der Stimme‹. Über die Oralität hinaus«, in: Kolesch/ Krämer: Stimme (Anm. 36), S. 275. 38 Vgl. ebd., S. 282.

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So müssen bei der Betrachtung von Opern natürlich auch Merkmale Berücksichtigung finden, die in spezifischer Weise für Singstimmen charakteristisch sind, während die soeben angestellten Beobachtungen sowohl auf Sprech- wie auch auf Singstimmen zutreffen. Erstaunlicherweise scheint die Gesangsstimme – im Gegensatz zur Sprechstimme – medientheoretisch wie -philosophisch bislang nicht hinreichend erschlossen zu sein.39 Nur so erklärt sich, dass selbst so grundlegende Fragen wie diejenige nach dem »medialen Status« der Gesangsstimme nicht vollständig geklärt sind: Ist die Gesangsstimme selbst als eigenständiges Medium anzusehen? Wenn ja, wie wäre sie in Bezug auf die Sprechstimme einzuordnen? Wir folgen hier der Ansicht von Pfeiffer, der die Gesangsstimme als technische »Sonderform« des Körpermediums Stimme versteht: »Der Operngesang gebraucht das Medium der menschlichen Stimme, sollte aber selbst wohl nicht als Medium bezeichnet werden. [...] Das normale Sprechen als Form gebraucht die akustischen Möglichkeiten der Stimme als Medium; der Operngesang als Form bzw. Formenvielfalt benutzt [...] die Sprechstimme als Medium.«40 Sinnvoller scheint es möglicherweise, die Vorstellung der Extension auf die Gesangsstimme anzuwenden, wenngleich bei McLuhan und Krämer diese auf technische Medien beschränkt bleibt; in der Oper scheint durch Kastratengesang oder Koloratursopran eine quasi technische Überformung des eigentlich natürlichen Mediums Stimme zu erfolgen, so dass diese in der Aufführung als Körpertechnik wahrgenommen wird.41 Die Wahrnehmung des Körpers verändert sich nicht nur im artifiziellen Gesang, sondern auch und noch mehr im versehrten Körper des Kastraten, dessen Monstrosität Gegenstand diverser zeitgenössischer Traktate und Berichte ist. Auch in der Stimme des Kastraten zeigt sich die Spur seiner Körperlichkeit, und doch kann gerade diese

39 Pfeiffer stellt hierzu fest: »Für die Gesangsstimme in der Oper gibt es keine Medienphilosophie und keine Medientheorie in den uns seit ca. 20 bis 30 Jahren geläufigen Varianten«, vgl. Pfeiffer, K. Ludwig: »Operngesang und Medientheorie«, in: Kolesch/Krämer: Stimme (Anm. 36), S. 65−84, hier! S. 70. Hervorhebungen im Original. 40 Vgl. ebd., S. 71. 41 Pfeiffer spricht im Zusammenhang mit der (Opern-)Singstimme von Körpertechnik oder gar im Sinne von Deleuze von der Singstimme als ›Bühne‹ des Körpers; auch diese Auffassung liegt bei der Lektüre von Diderots Neveu de Rameau nahe; vgl. Pfeiffer, K. Ludwig: »Authentizität und Artifizialität: der Fall ›Oper‹«, in: Susanne Knaller/Harro Müller (Hrsg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Fink 2006, S. 156, sowie Pfeiffer: »Operngesang und Medientheorie« (Anm. 39), S. 73.

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Stimme auch auf den Körper zurückwirken, im Sinne einer Verflüchtigung oder Transformation des Körpers.42 Die zentrale Bedeutung des Mediums »Stimme« innerhalb des medialen Dispositivs der Oper wird noch deutlicher,43 wenn man ihre eingangs zurückgestellte Funktion als Zeichenträger wieder in den Blick nimmt. Die Stimme zeichnet sich hier nämlich durch eine ganz besondere Polyfunktionalität aus, da sie als Träger für zweierlei Zeichensysteme fungieren kann, nämlich einerseits für das symbolische System der Wortsprache und andererseits, in verstärktem Maße mit Aufkommen des Belcanto, für das hauptsächlich ikonische System der Tonsprache.44 Diese grundsätzliche Polyfunktionalität erlaubt noch weiter gehende Differenzierungen: So ergibt sich beispielsweise eine Verlagerung des Schwerpunktes in Richtung der Wortsprache, wie sie im Parlando stattfindet, auf der Grundlage einer technisch andersartigen Stimmproduktion mit leichterer Tongebung und größerem Gewicht auf Aussprache bzw. Artikulation – es handelt sich also um eine medial bedingte Schwerpunktverlagerung. Weiterhin kann das Medium »Stimme« natürlich auch in der Oper in Form der (rezitierenden) Sprechstimme eingesetzt werden. Daneben kommen auch Geräusche stimmlichen Ursprungs wie Lachen oder Husten zum Einsatz. Damit stehen insgesamt drei materielle Ebenen mit dem Medium »Stimme« in Verbindung. Charakteristisch für die beiden Medien »Stimme« und »Orchester« ist die Tatsache, dass ihre Funktion im semiotischen System der Oper sich von den übrigen eingesetzten Medien grundlegend unterscheidet: Stimme und Orchester sind die einzigen beiden Medien, die nicht ausschließlich nur selbst Zeichencharakter und damit indexikalische Funktion haben. Sie fungieren nämlich in erster Linie als Zeichenträger bzw. als Produzenten von

42 Vgl. dazu auch den Beitrag von Saskia Woyke in diesem Band. 43 Liebscher unterstreicht die dominante Stellung des akustischen Mediums »Stimme« in der Oper mit dem Verweis auf die hohe Akzeptanz von Operneinspielungen auf Tonträgern. Die zentrale Rolle der Stimme in der Oper wird noch deutlicher, wenn man das Schauspieltheater als Vergleich heranzieht, das »sich in ungleich höherem Maße als Körpertheater [versteht], als daß es auf die bloße Sprachvermittlung reduziert werden könnte« (vgl. Liebscher, Julia: »Schauspieler – Sängerdarsteller. Zur unterschiedlichen Aufführungssituation im Sprech- und Musiktheater, dargestellt am Beispiel der paralinguistischen Zeichen«, in: HansPeter Bayerdörfer: Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft, Tübingen: Niemeyer, 1999, S. 55–70, hier S. 69). 44 Zur Konkurrenz dieser sich z. T. gegenseitig überlagernden Zeichenprozesse, die häufig zur Zurückdrängung der Textverständlichkeit zugunsten der musikalischen Zeichenerzeugung führt vgl. Liebscher, Julia: »Schauspieler – Sängerdarsteller«, S. 60.

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Zeichen, die, im Falle der Wortsprache, selbst Bedeutung tragen oder aber, im Falle der Tonsprache, zumindest zeitweilig ikonische Funktion haben können. Im Zusammenhang mit der Bühne wiederum steht eine Vielzahl weiterer technischer Medien. Die bauliche Gestaltung des Bühnenraums – also die Form der Bühne oder ggf. vorhandene Teilbühnen – ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Einerseits eröffnet sie auf akustischer Ebene einen Klangraum. Andererseits bildet die Bühnengestaltung den Rahmen für – nun visuell rezipierbare – andere Medien. Neben dem bereits angesprochenen Medium »Körper« (s. o. zur Bühne als »Bewegungsraum«) zählen hierzu eine Reihe von Medien, die in den Bereich der Inszenierung fallen, so beispielsweise diverse Bühnenaufbauten, Kulissendekoration, Requisiten, die Beleuchtung sowie die Kostüme. Letztere stehen natürlich in enger Verbindung zum Medium »Körper«, den sie einerseits unterstützen und gelegentlich auch mit ihm dahin gehend in Konvergenz treten können, dass sie seinen medialen Status hybrid werden lassen, beispielsweise, wenn eine Figur mit dem Rücken zum Publikum singt und Teil der Kulisse wird. Andererseits können diese technischen Medien den Körper in seiner medialen Funktion auch einschränken – man denke etwa an sehr aufwendige Kostüme, die die Bewegungsfreiheit der Sänger erheblich reduzieren. Die Bühne bildet zwar den Rahmen für die übrigen in der Oper zum Einsatz kommenden Medien, sie stellt jedoch, anders als im Theater, keine absolute Grenze dar. Die größere Variabilität im räumlichen Bereich wird schnell deutlich, wenn man bedenkt, dass sich beispielsweise seit dem Aufkommen des Orchestergrabens das Orchester systematisch vor der Bühne und damit im Zuschauerraum befindet. Hiermit gerät einerseits die Grenze zwischen Bühnen- und Zuschauerraum in den Fokus medienwissenschaftlicher Betrachtung, andererseits rücken auch unterschiedliche Perzeptionsund Rezeptionsmodi in den Blick. Alle genannten Medien sind fest in ihren jeweiligen historischen Kontext eingebunden; dies bedeutet einerseits, dass sich jedes einzelne Medium im Laufe der Zeit z. T. beträchtlich gewandelt hat. Da wir es in der Oper jedoch immer mit einer komplexen Konstellation verschiedener Medien zu tun haben, zieht andererseits die (Weiter-)Entwicklung bereits eines einzigen Mediums zwangsläufig Veränderungen der übrigen beteiligten Medien nach sich. Eine Vielzahl tiefgreifender Veränderungen im Bereich aller angesprochenen Medien fällt für die italienische und französische Oper in den Zeitraum zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert. Hierzu zählt selbstverständlich zunächst die Entstehung des Belcanto in Italien zu Beginn des

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18. Jahrhunderts, mit der sich der Schwerpunkt des Mediums »Stimme« als Träger von Wortsprache hin zum Träger von Tonsprache verschiebt – eine Entwicklung, die die ästhetische Funktion der Stimme in erheblichem Maße stärkt. Weiterhin fällt eine geradezu revolutionär zu nennende Entwicklung im Bereich der Bühnentechnik ebenfalls in den Beginn der hier näher betrachteten Zeitspanne: die in Italien neu entwickelte Kulisse erlaubte erstmals »eine permanente Beweglichkeit aller Dekorationselemente«.45 Darüber hinaus vergrößerte sich die Bühne im Laufe des 17. Jahrhunderts ganz erheblich, was einen wesentlich größeren Bewegungs- und Klangraum eröffnete, der insbesondere Raum für Tiefenwirkungen schuf.46 Neben diesen zentralen Veränderungen im Bereich der beiden hier nur exemplarisch betrachteten Medien »Stimme« und »Bühne« durchlaufen natürlich auch alle übrigen in der Oper verorteten Medien in dieser Zeit entscheidende Entwicklungen. Einen Einblick in die Körperlichkeit der Darstellung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert kann die Persiflage offensichtlich stereotyper zeitgenössischer Interpretationen bestimmter Charaktere vermitteln, die wir in Diderots Le neveu de Rameau finden, und die über eine reine Parodie von Stereotypen deutlich hinausgeht. Sie verweist auf den als Medium verstandenen Körper und illustriert damit die verschiedenen Möglichkeiten seiner medialen »Nutzbarmachung«. In der dargestellten Szene erscheint Rameaus Neffe nicht nur als Schauspieler, der Figuren und Stimmlagen verkörpert, sondern sein Körper selbst wird im Fortgang der Erzählung in seiner Leiblichkeit fokussiert. Er imitiert nicht nur die Sänger, Instrumentalisten und Instrumente eines zeitgenössischen Opernorchesters, sondern scheint sie selbst durch seinen Körper wahrnehmbar zu machen: En même temps, il se met dans l’attitude d’un joueur de violon; il fredonne de la voix un allegro de Locatelli, son bras droit imite le mouvement de l’archet; sa main gauche et ses doigts semblent se promener sur la longueur du manche; […] il bat la mesure du pied; il se démène de la tête, des pieds, des mains, des bras, du corps. […] Et puis le voilà qui se met à se promener, en murmurant dans son gosier, quelques-uns des airs de l’Ile des fous, du Peintre amoureux de son modèle, du Maréchal-ferrant, de la Plaideuse, et de temps en temps, il s’écriait, en levant les mains et les yeux au ciel: Si cela est beau, mordieu! […] Il commençait à entrer en passion, et à chanter tout bas. Il élevait le ton, à mesure qu’il se passionnait davantage; vinrent ensuite, les gestes, les grimaces du visage et les contorsions du corps; […]. tantôt avec une voix de basse-taille, il descendait jusqu’aux enfers; tantôt s’égosillant, et contrefaisant le fausset, il déchirait le haut des airs, imitant de la démarche, du maintien, du geste, les différents person-

45 Vgl. Göttert, Karl-Heinz: Geschichte der Stimme, München: Fink 1998, S. 287. 46 Vgl. ebd., S. 288.

26 | MARIA IMHOF/ANKE GRUTSCHUS nages chantants; […]. Ici, c’est une jeune fille qui pleure et il en rend toute la minauderie; là il est prêtre, il est roi, il est tyran, il menace, il commande, il s’emporte; il est esclave, il obéit. Il s’apaise, il se désole, il se plaint, il rit; […]. Tout y était, et la délicatesse du chant, et la force de l'expression, et la douleur. Il insistait sur les endroits où le musicien s’était particulièrement montré un grand maître. […] Tous les pousse-bois avaient quitté leurs échiquiers et s’étaient rassemblés autour de lui. Les fenêtres du café étaient occupées, en dehors, par les passants qui s’étaient arrêtés au bruit. […] S’il quittait la partie du chant, c’était pour prendre celle des instruments qu’il laissait subitement pour revenir à la voix, entrelaçant l’une à l’autre de manière à conserver les liaisons et l’unité du tout; s’emparant de nos âmes et les tenant suspendues dans la situation la plus singulière que j’aie jamais éprouvée… Admirais-je? Oui, j’admirais! Étais-je touché de pitié? J’étais touché de pitié; mais une teinte de ridicule était fondue dans ces sentiments et les dénaturait […]. Mais vous vous seriez échappé en éclats de rire à la manière dont il contrefaisait les différents instruments. Avec des joues renflées et bouffies, et un son rauque et sombre, il rendait les cors et les bassons; il prenait un son éclatant et nasillard pour les hautbois; précipitant sa voix avec une rapidité incroyable pour les instruments à corde dont il cherchait les sons les plus approchés; il sifflait les petites flûtes, il recoulait les traversières, criant, chantant, se démenant comme un forcené; faisant lui seul, les danseurs, les danseuses, les chanteurs, les chanteuses, tout un orchestre, tout un théâtre lyrique, et se divisant en vingt rôles divers, courant, s’arrêtant, avec l’air d’un énergumène, étincelant des yeux, écumant de la bouche.47

Die Beschreibung zeigt zweierlei: Einerseits ist es eine Darstellung vor Zuschauern, da die Cafébesucher ihre Sitzplätze verlassen, um den singenden und tanzenden Neffen zu betrachten und auch die Menschen auf der Straße anhalten, um durch die Fenster in das Café hineinzusehen. Das Theatrale der Performanz wird durch eine derartige Grenzziehung zwischen Aktionsraum und Zuschauerraum hervorgehoben. Andererseits gerät der Neffe in passion und beginnt, die Umwelt und den Sinn der Darstellung zu vergessen. Er tritt zunächst komplett in die Verkörperung der Rollen ein, dann transportiert er mit seiner Stimme die Emotionen, die die Musik auszudrücken versucht und beginnt, diese auf die Zuschauer zu übertragen, die sich ihrer nicht entziehen können, sondern sie als direkten Einfluss wahrnehmen. In der Folge rückt sein Körper selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Das Blähen der Nasenflügel, das Aufblasen der Backen werden zur Klangerzeugung genutzt, sein Körper selbst wird zum Medium der kompletten theatralen Aufführung mit Tänzern, Sängern und Orchester, die durch seinen Körper stattfindet. Wenn dies auch eine ironisch zugespitzte Darstellung ist, so zeigt sich doch hier die Reflexion einer an Leiblichkeit und Materialität angebundenen theatralen Performanz, und die Instrumente werden dem Neffen Rameaus wörtlich zu Extensionen seines Körpers.

47 Diderot: Le neveu de Rameau, 164 ff.

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Der Schwerpunkt des vorliegenden Bandes liegt auf der Betrachtung der medialen Aspekte der Kunstgattung »Oper«. Dabei soll jedoch die Inhaltsebene nicht vollständig aus dem Blick geraten, weshalb wir abschließend den Fokus auf eine Reihe von Phänomenen richten, in deren Rahmen mediale Aspekte auf einer Art Meta-Ebene verhandelt werden. Hierzu zählt zunächst eine als »inter-medialer Verweis« zu bezeichnende Konfiguration verschiedener Medien, die auf der Inhaltsebene auf denselben Referenten verweisen. Ein solcher Verweis liegt beispielsweise dann vor, wenn ein Orchesterinstrument lautmalend ein Requisit (z. B. eine Glocke oder eine Flöte) imitiert, das Teil der Handlung ist und deshalb zeitgleich auf der Bühne zum Einsatz kommt. Die Verknüpfung eines akustisch wahrnehmbaren Mediums einerseits mit einem visuell wahrnehmbaren Medium andererseits scheint hier die häufigste Kombinationsvariante zu sein. Das Libretto der Oper selbst kann ebenfalls Verweise auf bestimmte Medien enthalten. Diese können beispielsweise auf die musikalische Ebene Bezug nehmen, wenn eine Figur im Rahmen der Handlung tatsächlich ein Lied singt, statt mit Hilfe der Singstimme lediglich zu »sprechen«. Wesentlich häufiger ist jedoch die Bezugnahme auf das Medium »Körper«, das immer dann thematisiert wird, wenn es im Libretto um (Lungen-) Krankheit, körperliche Gebrechen oder den Tod durch Stichwaffen geht. Diese hier nur exemplarisch betrachteten »inter-medialen Verweise« verstehen sich lediglich als ergänzende Facette des zuvor dargestellten medialen Dispositivs. Die Beiträge dieses interdisziplinären Bandes, der literaturwissenschaftliche, medienwissenschaftliche, musikwissenschaftliche, theaterwissenschaftliche und sprachwissenschaftliche Untersuchungen miteinander in Dialog treten lässt, bewegen sich theoretisch im Rahmen des skizzierten medialen Ansatzes. Der Beitrag von Wolfram Nitsch weist auf der Grundlage von Michel Leiris’ Gedanken zur Oper diese als ein ›totales Theater‹ aus, das in der konsequenten Auslotung seines Klangraumes ein ›quasi-rituelles Fest‹ darstellt, das durch den Entwurf quasi-mythologischer Strukturen in den vakanten Funktionsraum des Mythos und des Rituals einrückt. Christian Grünnagel und Saskia Woyke betrachten das Phänomen des Kastraten, dessen versehrter Körper sich als mediale Spur in der Stimme manifestiert. Christian Grünnagel stellt die Auseinandersetzung mit »Stimme« und »Körper« des Kastraten dar, dessen Wahrnehmung er im Frankreich des 18. Jahrhunderts auf der Grundlage zeitgenössischer Traktate untersucht. Saskia Woyke richtet den Fokus auf die italienischen Kommentare zur Medialität der Kastratenstimmen und den »mitgehörten« bzw. zur Stimme imaginierten Sängerkörper.

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Thorsten Philipp weist die Oper Metastasios zum Zeitpunkt der Erneuerung der Barockoper als inszenierten politischen Diskurs aus, der sich im politisierten Körper des Königs zeigt und kraft der Darstellungsästhetik der Oper zu einer neuartigen Form der Kommunikation beiträgt. Mit dem tanzenden Körper beschäftigen sich die Beiträge von Catharina Busjan und Claude Paul. Catharina Busjan fokussiert die Rolle des Balletts in der grand opéra, einer Form des Musiktheaters, innerhalb derer das Zusammenspiel akustischer und visueller Phänomene eine völlig neue Dimensionierung erfährt. Claude Pauls Beitrag betrachtet die dämonische Seite des Tanzes und untersucht die Inszenierung des (Bühnen-)Raumes durch die Bewegungen der Teufelsfiguren bei Gounod und Boito. Costantino Maeder untersucht die Struktur der italienischen Oper des Settecento und des Ottocento aus semiotischer Perspektive und analysiert die Verschränkung vermeintlich inkompatibler Zeichensysteme wie Sprache, Musik und Aufführungspraxis mittels ikonischer Strukturen. Der Beitrag von Kirsten von Hagen schließlich beschäftigt sich mit intermedialen Bezügen zwischen Oper und Literatur am Beispiel des realistischen Romans im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Manöver im Klangraum Michel Leiris’ Ästhetik der Oper WOLFRAM NITSCH

V E R D I le véridique. Michel Leiris

»Bühnenkunst ist Raumkunst«: Oskar Schlemmers avantgardistische Parole hat sich alsbald zu einem Leitsatz der Theaterwissenschaft entwickelt . 1 Dass dieser Satz auch und gerade auf das Musiktheater zutrifft, zeigt die hierzulande noch kaum bekannte Opernästhetik des französischen Ethnographen und Literaten Michel Leiris. Sie ist abseits der Musik- und Theaterwissenschaft entstanden, am Rande ethnologischer Feldforschung und autobiographischer Selbsterforschung. Als langjähriger Mitarbeiter des Pariser Musée de l’Homme untersuchte Leiris die theatralische Seite afrikanischer Rituale, aber auch die rituelle Seite europäischer Schauspiele wie dem Stierkampf, dem Pferderennen und eben der Oper ;2 als Verfasser des Selbstporträts L’âge d’homme sowie der vierbändigen Autobiographie La règle du jeu

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Oskar Schlemmer: »Die Bauhausbühne« (1928), in: Klaus Lazarowicz/ Christopher Balme (Hrsg.): Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart: Reclam 1991, S. 442–447, hier S. 444; vgl. Max Herrmann: »Das theatralische Raumerlebnis« (1931), in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 501–514. Vgl. Irene Albers: »Der besessene Ethnograph und die Rituale des Schreibens. Michel Leiris’ Texte über den zâr-Kult in Äthiopien«, in: Stefan Rieger u. a. (Hrsg.): Interkulturalität zwischen Inszenierung und Archiv, Tübingen: Narr 1999, S. 145–163.

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suchte er in solchen Schauspielen nach einer »Spielregel« für das eigene Leben und Schreiben . 3 Betrachtete er das Musiktheater also stets von einem exzentrischen Standpunkt aus, so war sein Blick doch mit einschlägiger Erfahrung gesättigt. Als Sohn bekennender Melomanen, als Neffe der Sopranistin Claire Friché und als Freund des Dirigenten René Leibowitz ging Leiris außer in seiner surrealistischen Phase sein Leben lang in die Oper und war vor allem dem italienischen Repertoire so leidenschaftlich verbunden, dass er testamentarisch verfügte, bei seinem eigenen Begräbnis Verdi erklingen zu lassen. 4 Seine aus diesem Fundus gespeiste Theorie hat er zwar nie zu einer lange geplanten Abhandlung ausgearbeitet, sondern nur in einem knappen Aufsatz sowie in verstreuten Reflexionen umrissen . 5 Dennoch eröffnet sie der Musiktheaterforschung interessante medienanthropologische Perspektiven. Daher will ich im Folgenden nachzeichnen, wie der an fremden Ritualen und moderner Ästhetik geschulte Opernliebhaber Leiris die Kultstätte seiner Leidenschaft begreift: als konsequent ausgeloteten Klangraum, in dem sich ein »totales Theater« mit Trancewirkung entfalten kann.

DIE OPERNBÜHNE ALS KLANGRAUM Ein Leitgedanke von Leiris’ Opernästhetik lässt sich seinem 1965 geschriebenen Essay »L’opéra, musique en action« entnehmen. Wie schon der Titel verrät, beschreibt er darin die Oper weniger als Musiktheater denn als Theatermusik, als »musique dans un espace théâtral«.6 Auf der Opernbühne, so seine These, gerät die Musik raumgreifend in Bewegung. Dies bewirkt in erster Linie das im 19. Jahrhundert entwickelte Verfahren einer gezielten

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Vgl. zuletzt Regine Strätling: Figurationen. Rhetorik des Körpers in den Autobiographien von Michel Leiris, München: Fink 2012 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste, 119). Vgl. Aliette Armel: Michel Leiris, Paris: Fayard 1997, S. 482 ff, 600 ff, 710; außerdem ihr Gespräch mit seinem Vertrauten Louis-René des Forêts: »La passion de l’opéra«, in: Le magazine littéraire Nr. 302 (1992), S. 56–59. Bei Leiris’ Einäscherung im Jahre 1990 erklang dann aber nicht wunschgemäß Un ballo in maschera, sondern Simon Boccanegra. Zum Korpus der Opernschriften und ihrer Vernetzung mit dem ethnographischen und autobiographischen Werk vgl. Thimotée Picard: »Retrouver le sacré rutilant et le ton juste de l’enfance perdue. Le modèle opératique dans l’œuvre de Michel Leiris«, in: Cahiers Leiris Nr. 2 (2009), S. 197–243. Michel Leiris: »L’opéra, musique en action« (1965), in: Brisées, Paris: Gallimard 1992 (Folio Essais), S. 315–322, hier S. 316.

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Verteilung der vokalen Stimmen im szenischen Raum. Dabei werden einzelne Stimmen entweder hinter die Bühne verlagert oder über eine geteilte Bühne verstreut. Eine Auslagerung des Gesanges ins Off erfolgt etwa im Schlussakt von Verdis Trovatore, wo drei weit voneinander entfernte Stimmen zusammen ertönen: der klagende Sopran auf der Bühne, der eingekerkerte Tenor in der Kulisse und der psalmodierende Chor an einem weder sichtbaren noch näher bestimmbaren Ort. Ähnliches geschieht im ersten Akt von Rossinis Barbiere di Siviglia, wo Figaro seine Cavatine schon in der Kulisse anstimmt, bevor er erstmals auf der Bühne erscheint; oder im zweiten Akt von Puccinis Tosca, wo der Schurke Scarpia von seinem Esszimmer aus sowohl die Diva vor Publikum singen als auch ihren Geliebten unter der Folter stöhnen hört. Noch sinnfälliger gerät die Verteilung der Stimmen im Raum, wenn sie wie in einigen Opern Verdis separate Sektoren der Bühne besetzen. In dem Quartett, das im letzten Akt des Rigoletto erklingt, turtelt der Herzog mit Sparafuciles Schwester Maddalena in dessen Schenke, während der Hofnarr und seine Tochter draußen lauschen; und in das Abschiedsduett der Aida, das die Heldin und ihr Geliebter Radames in einer Krypta singen, mischen sich Stimmen aus dem darüber gelegenen Tempel. Als ein dazu komplementäres Verfahren begreift Leiris die Verlagerung instrumentaler Stimmen im Opernhaus. Dabei werden Elemente der Orchesterbegleitung in die Bühnenhandlung ausgelagert oder umgekehrt Elemente der dramatischen Klangumwelt in die Begleitmusik eingelagert. Der erste Fall tritt im Finale von Mozarts Don Giovanni ein, wo einige auf der Bühne sichtbare Musikanten dem Helden zum Festmahl aufspielen; oder auch beim Triumphzug der Ägypter in der Aida, in dem bisweilen einige aktive Bläser mitziehen. Der zweite Fall wiederum liegt im Schlussakt der Tosca vor, wo anfangs ferne Kirchen- und Hirtenglocken zu hören sind. Gleichviel, ob die Instrumentalmusik die Grenze zwischen Orchestergraben und Bühne in die eine oder in die andere Richtung überquert: In jedem Fall entsteht eine »musique dans la musique«, die ähnlich wie das Spiel im Spiel im Sprechtheater die ganze Tiefe des Bühnenraumes ermessen lässt . 7 Erst durch solche Manöver im Klangraum geht nach Leiris aus der Verbindung von Musik und Theater die dynamische Konstellation der Oper hervor: »un opéra est de la musique en action et qui […] prend littéralement le théâtre pour théâtre d’opérations«. Auf diese Weise macht die romantische und moderne Oper wieder greifbar, was das klassische Illusionstheater lange neutralisierte: die Bühne als »espace vibratile« und als »espace intensément

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Ebd., S. 322.

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sensible«, als vibrierend lebendiger und hochgradig sinnlicher Raum . 8 Nicht von ungefähr beruft sich Leiris bei dieser Bestimmung auf Baudelaires Bemerkung, die Musik lasse den Raum erfahren, indem sie den Himmel aushebe: »La musique creuse le ciel« . 9 Denn nach seiner Auffassung ist die in räumliche Bewegung versetzte Opernmusik das genaue Gegenteil von schwereloser Sphärenmusik; sie durchbohrt und animiert gewissermaßen die Geometrie des szenischen Raumes, statt sie als unbewegliches Gebilde zu zeigen. Wenn sich in Baudelaires moderner Definition des Schönen ein ewiges und ein kontingentes Moment, ein statisches und ein dynamisches Element verbinden, dann schlägt für Leiris die Schönheit der Oper – nicht anders als die Schönheit der Tauromachie – deutlich zur zweiten oder ›linken‹ Seite hin aus . 10 So erklärt sich, warum er in einem seiner sprachspielerischen Glossare Verdi den Beinamen »le véridique«, der Wahrhaftige, verleiht . 11 Durch die von ihm verwendeten, wenn nicht erfundenen Verfahren der Verteilung und Verlagerung musikalischer Stimmen erinnert der italienische Meister den Besucher daran, dass sich vor ihm nicht nur ein zeichenhafter Handlungsraum, sondern auch und vor allem ein greifbarer Klangraum auftut.

DIE OPER ALS TOTALES THEATER Am Ende seines Essays formuliert Leiris einen weiteren Kernsatz seiner Opernästhetik, ohne ihn freilich genauer auszuführen. Die Oper, so heißt es, sei ein spannungsreiches »théâtre total« im Sinne Artauds, das sich gleichermaßen durch uhrwerkartige Präzision und durch eine weitreichende Expansion des Bühnengeschehens auszeichne: »l’expansion lyrique (au sens plein de cette expression) s’unit à une rigueur de mouvement d’horlogerie«.12 Um diese eigentümliche Verbindung von hohem technischen Aufwand und starker affektiver Wirkung geht es in den Operratiques, Leiris’ nachgelassenen,

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Ebd., S. 320 f. Ebd., S. 321. Vgl. Charles Baudelaire: Fusées / Mon cœur mis à nu, hrsg. v. André Guyaux, Paris: Gallimard 1986 (Folio), S. 70, 116. 10 Vgl. die von Baudelaire ausgehende Bestimmung der »beauté tauromachique« in Leiris’ ästhetischer Programmschrift Miroir de la tauromachie (1938), Montpellier: Fata Morgana 1984, S. 35–37. 11 Michel Leiris: Langage tangage ou Ce que les mots me disent, Paris: Gallimard 1985, S. 63. Zu seiner Parteinahme für Verdi und gegen Wagner vgl. Armel: Michel Leiris (Anm. 4), S. 532 f. 12 »L’opéra, musique en action« (Anm. 6), S. 322.

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auf Karteikarten niedergelegten, doch wohlgeordneten Notizen zur Oper. Dort bemerkt er am Ende kritisch zu Artaud und anderen Vertretern des Avantgardetheaters, dass sie nur im fernen Osten ein »théâtre total« gesucht und gefunden hätten; dabei wäre eine solche »forme de théâtre entièrement rythmée et stylisée«, ohne feste Grenze zwischen Sprache und Musik, Schauspiel und Tanz, Akteuren und Publikum, in der von ihnen verspotteten Oper eigentlich zum Greifen nahe gewesen . 13 Denn auch die Oper erscheint in den Operratiques auf ihre Art als totales Theater, als erratischer Block inmitten der europäischen Theaterlandschaft, aus der sie herausragt durch ein Höchstmaß an Theatralität. Dies liegt Leiris’ Notaten zufolge vor allem an drei Besonderheiten des Musiktheaters: an seinen ausnehmend artifiziellen Libretti, an seinen hochgradig exponierten Akteuren und an seinem überaus partizipativen Publikum. Die extreme Theatralität der Oper liegt für Leiris schon im Libretto begründet, das gängige Konventionen des Dramas noch einmal forciert. Mit Théophile Gautier sieht er das Musiktheater von jeglichem Anspruch auf Natürlichkeit entlastet: »Le charme principal de l’opéra, […] c’est que nulle part la convention est aussi forcée et aussi éloignée de la nature«.14 Diese Artifizialität zeigt sich im Vorrang des Gesanges vor dem gesprochenen Wort sowie in der damit verbundenen Serialisierung der Dramenhandlung. Besonders in der Belcanto-Oper und in der opera buffa, aber auch noch in Brechts und Weills Dreigroschenoper wird die dramatische Progression immer wieder durch eingelegte Gesangsnummern unterbrochen. Gerade dieses Übermaß an Konvention aber, eine Art Verfremdungseffekt avant la lettre, sichert nach Leiris das Überleben der Oper: Während viele romantische Dramen aufgrund ihrer überzogenen Melodramatik längst vom Spielplan verschwunden sind, können sich die darauf beruhenden Libretti durchaus weiter behaupten. Daher bedenkt er minimalistische Inszenierungen à la Wieland Wagner mit scharfer Kritik: Der Versuch einer Entstaubung romantischer Opern – »par crainte de tomber dans le mélodrame« – gerät leicht zur Entstellung einer seit jeher hochartifiziellen Gattung . 15

13 Michel Leiris: Operratiques, hrsg. v. Jean Jamin, Paris: POL 1992, S. 190. Zum avantgardistischen Konzept des »théâtre total« vgl. Antonin Artaud: Le théâtre et son double (1938), hrsg. v. Paul Thévenin, Paris: Gallimard 1985 (Folio Essais), bes. S. 134. 14 Ebd., S. 28 f, zitiert nach Théophile Gautier: Histoire de l’art dramatique en France depuis vingt-cinq ans (1858/59). 15 Ebd., S. 114; vgl. S. 19, 76.

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Zum totalen Theater wird die Oper jedoch erst durch die Bühnenakteure, die als Schauspieler und Sänger zugleich auftreten. In dieser Doppelrolle müssen sie oft bis an die Grenzen ihrer Kräfte gehen. So notiert Leiris, wie Maria Callas in Bellinis Norma einen »triple combat« ausfocht: als Heldin einen Kampf gegen die Römer und gegen sich selbst, als Sängerin einen Kampf mit ihren eher beschränkten stimmlichen Mitteln, als Schauspielerin einen Kampf um die Gunst des Publikums . 16 Nur wer alle diese Gefechte gleich ernst nimmt, spielt »in« der Musik, passend zu ihrer vokalen und orchestralen Ausführung . 17 Damit setzt sich der Interpret allerdings erheblichen Risiken aus, die Leiris in seinen Notizen wie in anderen Texten eindringlich beschwört. In Gefahr bringen ihn nicht allein verwegene Regieeinfälle, etwa wenn er bei einer »nautischen« Aufführung in Venedig von Floß zu Floß springen muss . 18 Mehr noch exponieren ihn akrobatische Gesangspartien, in denen er sein Gesicht oder gar seine Stimme zu verlieren riskiert. So zwingt etwa die mit Koloraturen gespickte Wahnsinnsarie der Heldin in Donizettis Lucia di Lammermoor die Sängerin zu einer Gratwanderung mit hoher Absturzgefahr: »sous peine de perdre la face, la cantatrice assumant [ce rôle] doit alors triompher en risquant à chaque instant la faute irréparable«.19 Schlimmstenfalls zerbricht an solchen Herausforderungen die Stimme, wie Leiris am Fall des Wagnertenors Max Lorenz oder seiner eigenen Tante, der allzu waghalsigen Sopranistin Claire Friché, illustriert . 20 Der echte Opernsänger setzt sich demnach in der Ausübung seiner Tätigkeit selbst aufs Spiel, geht – in den Begriffen von Leiris’ zeitweiligem Weggefährten Roger Caillois – mit dem doppelten Rollenspiel zugleich ein Kampf- und ein Glücksspiel ein . 21 Dies verbindet ihn mit dem Hindernisreiter, der jederzeit vom Pferd stürzen kann, oder mit dem Torero, der die tödliche Gefahr des

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Vgl. ebd., S. 79, 171. Vgl. ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 67. Langage tangage (Anm. 11), S. 113. Zur Rolle der Koloratur in Leiris’ Poetik vgl. Caroline Torra-Mattenklott: »Zickzack und Vokalise. Stimme, Performanz, Abstraktion bei Michel Leiris«, in: Irene Albers/Helmut Pfeiffer (Hrsg.): Michel Leiris. Transgression und Inszenierung, München: Fink 2004 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste, 109), S. 341–363, hier S. 355 ff. 20 Zu Lorenz’ »voix à peu près perdue« siehe Operratiques (Anm. 13), S. 167, sowie Michel Leiris: À cor et à cri, Paris: Gallimard 1988, S. 172; zu Frichés Stimmverlust vgl. La règle du jeu (1948–1976), hrsg. v. Denis Hollier, Paris: Gallimard 2003 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 658. 21 Vgl. Roger Caillois: Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige (1958, 21967), Paris: Gallimard 1991 (Folio Essais), S. 45–91.

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Stierhorns nie ganz zu bannen vermag . 22 So verwundert es nicht, wenn der zeitlebens von Sport und Stierkampf faszinierte Leiris die Operngläser in der Wiener Staatsoper mit Feldstechern auf einer Rennbahn oder umgekehrt die Passion einer aficionada mit derjenigen einer Melomanin vergleicht . 23 Mit all diesen Risiken erhöhen sich aber auch die Chancen, dass es bei einer Opernaufführung zu glücklichen Zufällen kommt. Als solchen bewertet Leiris die unwillkürliche Bewegung des Tenors Hans Beirer, der sich in der Titelrolle von Verdis Otello nach begangener Mordtat auf eine Stuhllehne stützte und dabei fast das Gleichgewicht verlor. Kein kalkulierter Effekt hätte seiner Meinung nach die körperliche Kraft und die seelische Verwirrung des Mohren von Venedig besser in Szene gesetzt: »l’incident qui, si chute il y avait eue, aurait précipité intempestivement le drame dans les eaux grasses du burlesque s’avère, bien au contraire, un accident heureux« . 24 Anders als im Theater kann die gewagte Darbietung der Akteure in der Oper schließlich mit Szenenapplaus beantwortet werden. In dieser lauten Teilnahme des Saals am laufenden Bühnengeschehen zeigt sich für Leiris eine »communication réelle«, ja eine »communion« zwischen Sängern und Hörern . 25 Um so weniger will ihm einleuchten, warum man bei WagnerAufführungen in Bayreuth jeden vorzeitigen Beifall verbietet. Was das Gesamtkunstwerk vor Störungen schützen soll, verhindert die aktive Partizipation der Liebhabergemeinde, die aus seiner Sicht ebenfalls zu einem totalen Theater gehört. Aus dem gleichen Grund begegnet er auch Opernfilmen mit Skepsis. Sie verdecken nicht nur die räumliche Dimension der Musik und verkürzen sie dadurch zu einer bloßen Tonspur, einem »simple fond sonore«; sie schalten vor allem das Unberechenbare der Aufführung aus. Gerade weil in Gallones durchaus gediegener Verfilmung von Puccinis Madame Butterfly die Sänger ihre Stimmen ausgebildeten Schauspielern leihen, geht für den wahren »amateur d’opéra« der entscheidende Reiz verloren . 26 Zusammen mit dem Riskanten der Performanz entfällt die Möglichkeit, den Triumph im vokalen Kampf- und Glücksspiel angemessen spontan zu feiern. An Hand einer Pariser Aufführung von Mozarts Figaro führt Leiris dagegen vor Augen, wie gut das Zusammenspiel von gewagter Darbietung und

22 Siehe hierzu Vf.: »Der Schreibtisch als Rennplatz. Sport und Spiel in La règle du jeu«, in: Albers/Pfeiffer: Michel Leiris (Anm. 19), S. 51–68, sowie die Einleitung der Herausgeber, S. 20 f. 23 Vgl. Operratiques (Anm. 13), S. 161, 185. 24 Michel Leiris: Le ruban au cou d’Olympia, Paris: Gallimard 1981, S. 20. 25 Vgl. Operratiques (Anm. 13), S. 96, 158. 26 Vgl. ebd., S. 135, 147.

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aktiver Beteiligung gelingen kann. Als nach Figaros Militär-Arie am Ende des ersten Aktes der wider Willen einberufene Cherubino seinen Dreispitz spontan ins Publikum warf, fing ihn der Dirigent Solti mit der linken Hand ab, während er mit der rechten weiter den Taktstock schwang. Wie die Geste des Toreros, der nach dem Kampf seine Mütze über die Absperrung schleudert, schlug dieser improvisierte Gag eine Brücke zwischen Bühne, Orchestergraben und Zuschauerraum: »il supprimait d’un coup toute distance entre le plateau et l’orchestre, aussi bien qu’entre la scène et la salle, presque toujours trop rigidement séparées dans nos théâtres« . 27 Wenn sie auf solche Weise ihre Affinität zu Sport und Stierkampf beweist, gerät die Oper als »musique en action« endgültig zu einem »théâtre total«, in dem die Grenze zwischen Fiktion und Realität verschwindet.

DIE OPER ALS QUASI-RITUELLES FEST Was Leiris aus der Perspektive des Ästheten als totales Theater schildert, beschreibt er mit dem Auge des Ethnographen als quasi-rituelles Fest. Nicht ohne Grund zeigt er sich fasziniert davon, dass zwischen dem Mailänder Scala-Museum und der angrenzenden Scala ein Geheimgang verläuft, ähnlich wie früher zwischen dem Musée de l’Homme und einem benachbarten Theater, und dass man auf diesem Weg ebenso unbemerkt in eine Opernloge gelangt wie der Protagonist von Hoffmanns Erzählung Don Juan . 28 Denn immer wieder zieht er in den Operratiques und anderwärts überraschende Vergleiche zwischen der Oper und den Ritualen fremder Kulturen, so als gäbe es zwischen beidem eine geheime Verbindung. Auf der einen Seite entdeckt er in einem karibischen Besessenheitsritus theatralische und musikalische Elemente, die ihn an die Geisterszene in Webers Freischütz erinnern . 29 Auf der anderen Seite stellt er vor dem Hintergrund derartiger Riten die feierliche Seite europäischer Opernaufführungen heraus. Während seinen Fachkollegen Lévi-Strauss an der Oper vornehmlich die vielstimmige Partitur interessiert, in der sich die komplexe Struktur fremder Mythen spiegelt,

27 Le ruban au cou d’Olympia (Anm. 24), S. 17 f. 28 Vgl. Operratiques (Anm. 13), S. 173 f, sowie La règle du jeu (Anm. 20), S. 825–827. 29 Vgl. ebd., S. 142 f, sowie seine dort zitierte eigene Studie »Martinique, Guadeloupe, Haïti«, in: Les temps modernes Nr. 52 (1950), S. 1345–1368.

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beschäftigt Leiris in erster Linie ihre ergreifende Performanz, in der sie einem rituellen Theater zwischen Verkörperung und Verwandlung ähnelt . 30 Dass die »reale Kommunikation« zwischen Akteuren und Publikum in der Oper einer regelrechten »Kommunion« gleichkommt, zeigt sich für Leiris schon in dem auf beiden Seiten greifbaren Festtagsglanz. Der traditionell aufwendigen Bühnenausstattung entspricht eine feierliche Aufmachung der Besucher, die in anderen Theatern kaum noch gebräuchlich ist. Aus dieser allgemeinen Gala ergibt sich paradoxerweise eine besonders enge Verbindung zwischen Kunst und Leben: »L’art lyrique [est] lié à la vie plus directement que tout autre, si l’opéra est une fête au lustre de laquelle concourent meneurs de jeu et témoins de leur performances, tous costumés ou parés«.31 Weil das Finale von Un ballo in maschera diesen festlichen Apparat in der Handlung spiegelt, also gewissermaßen eine »opéra dans l’opéra« darbietet, hält Leiris Verdis Werk für eine exemplarische Oper . 32 Dagegen stört es seiner Meinung nach die Kommunion über Rampe und Graben hinweg, wenn in Wagners »Bühnenweihfestspiel« Parsifal eine religiöse Zeremonie auf der Bühne erscheint und dem glanzvollen Quasi-Ritual im Opernhaus als mattes Simulakrum gegenübertritt . 33 Entscheidend für den Ritualcharakter der Oper ist nach Leiris jedoch die Vehemenz, die sie in diesem festlichen Rahmen entfaltet. Insbesondere bei Puccini findet er eine tiefgreifende psychische Wirkung wieder, wie sie ihm in fremden Besessenheitsriten begegnet ist. Solche Riten, etwa der zâr-Kult in Äthiopien, bieten in seinen Augen ein »théâtre vécu«: ein von Akteuren wie Zuschauern gelebtes Theater, in dem Besessenheit durch Geister zugleich gespielt und am eigenen Leibe erfahren wird . 34 Auch Puccinis veristische Opern übertreten in dieser Weise die Grenze zwischen Spiel und Ernst, durchschlagen ein bloßes »l’art pour l’art« zum Leben hin, wo sie »Paroxysmen« der menschlichen Existenz inszenieren.35 Zu derartigen Krisenmomenten kommt es nach der Anthropologie des von Leiris zusammen mit

30 Vgl. die kritischen Bemerkungen zur Leiris’ Opernnotizen in Claude Lévi-Strauss: Regarder écouter lire, Paris: Plon 1993, S. 114–123; außerdem Jean Jamin: »Sousentendu. Leiris, Lévi-Strauss et l’opéra«, in: Critique Nr. 620/621 (1999), S. 26–41. 31 La règle du jeu (Anm. 20), S. 659; vgl. Operratiques (Anm. 13), S. 158 f. 32 Vgl. Operratiques (Anm. 13), S. 90. 33 Vgl. ebd., S. 51, sowie La règle du jeu (Anm. 20), S. 997. 34 Vgl. Michel Leiris: La possession et ses aspects théâtraux chez les éthiopiens de Gondar (1958), Paris: Le Sycomore 1980 (Les hommes et leurs signes), S. 117–132. Zur Entwicklung und Bedeutung dieses Begriffs in Leiris’ Œuvre siehe Albers: »Der besessene Ethnograph« (Anm. 2). 35 Vgl. Operratiques (Anm. 13), S. 118 f.

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Georges Bataille und Roger Caillois begründeten Collège de Sociologie in Augenblicken der Verausgabung, der rauschhaften Selbstüberschreitung durch Eros und Gewalt . 36 Sie häufen sich etwa in Turandot, wo die Titelheldin ihre Verehrer enthaupten lässt, ihre Rivalin Liù wiederum sich aus Liebe ersticht. Daher widerruft Leiris in Operratiques die in seinem autobiographischen Frühwerk L’âge d’homme geübte Puccini-Kritik: Turandot und Liù verkörpern geradezu idealtypisch jene enge Verbindung von Mord, Selbstmord und Erotik, die er dort an Hand der mythischen Figuren der Judith und der Lucrezia beschwor . 37 Noch schlagender tritt die gleiche Verbindung in der Tosca zutage, wo die Heldin erst den lüsternen Schurken Scarpia tötet, um sich nach der Erschießung ihres Geliebten selbst das Leben zu nehmen. Entsprechend erkennt Leiris im Rückblick auf einen frühen Opernbesuch, wie ihm seine Tante Claire in der Rolle der Tosca eine dunkle Vorahnung jener Allianz von »amour et mort« förmlich wie einen Nagel eingesenkt hat. Dies lag aber nicht so sehr am Rollentext oder am Rollenspiel als vielmehr am beides übergreifenden Gesang. Die ohne Rücksicht auf Verluste eingesetzte Stimme der Sopranistin, musikalisches Korrelat der von ihr verkörperten Paroxysmen, überrollte den Hörer wie eine gewaltige Welle: »C’était une onde qui vous enveloppait, vous émouvait sans qu’on sût d’où venait exactement son pouvoir«.38 Während die Quellen solcher stimmlicher Vehemenz ungewiss bleiben, erscheint ihre psychophysische Wirkung um so gewisser. Eine Notiz vergleicht sie sogar mit der einer stampfenden Dampfmaschine: Parfois […] le rythme s’enfièvre et l’on est pris dans ce mouvement de cœur dont les battements se précipitent ou de machine à vapeur dont les pistons doivent céder sans relâche à une pression qu’on dirait à chaque coup renforcée, dans ce mouvement souverain – tout à la fois vital et mécanique que [savent] eux aussi déclencher (mais pas mieux) Bellini, Donizetti et Verdi . 39

Auf seinen Höhepunkten löst das »théâtre entièrement rythmé« der Oper demnach heftiges Herzklopfen aus, eine zugleich vitale und mechanische

36 Vgl. etwa Georges Bataille: »La notion de dépense« (1933), in: Œuvres complètes, Bd. 1, Paris: Gallimard 1973, S. 302–320. Zu Leiris’ Auseinandersetzung mit Bataille siehe ihre Échanges et correspondances, hrsg. v. Louis Yvert, Paris: Gallimard 2004 (Les inédits de Doucet); zum Collège de Sociologie das informative Nachwort von Irene Albers und Stephan Moebius in Denis Hollier (Hrsg.): Das Collège de Sociologie. 1937–1939, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 757–828. 37 Vgl. Michel Leiris: L’âge d’homme (1939), Paris: Gallimard 1973 (Folio), S. 97, sowie die selbstkritische Anmerkung aus der dritten Auflage von 1964, ebd., S. 213. 38 La règle du jeu (Anm. 20), S. 650 f. 39 Operratiques (Anm. 13), S. 77.

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Bewegung, in der sich der Zuhörer zeitweilig zu verlieren scheint. Die solchermaßen beschriebene Wirkung aber kommt einem Trancezustand gleich. Mit entsprechendem Nachdruck hat Leiris eine musikethnologische Studie begrüßt, der zufolge man im Opernhaus ein profanes Besessenheitsritual zelebriert . 40 Insofern lässt sich außerdem eine überraschende Verwandtschaft zwischen Oper und Jazz erkennen. Denn auch im Jazz kommen für Leiris moderner Rhythmus und archaischer Ritus zusammen: »l’apparence mécanique du jazz lui-même, bien plus qu’au machinisme industriel, est liée à ce machinisme tout différent qui est celui des actions magiques des gestes et des paroles rituelles«.41 Was dem Jazz allerdings im Vergleich zur Oper abgeht, ist die berauschend dargebotene dramatische Handlung. Gerade sie jedoch macht es möglich, dass die Verwandlung der Festgemeinde während der Aufführung auch jenseits davon Spuren hinterlässt. Wie Leiris in einem 1970 verfassten, ironischerweise Lévi-Strauss gewidmeten Beitrag erläutert, kann die zeitweilige Transfiguration des Zuhörers im Opernhaus mitunter eine dauerhafte Transformation der Realität bewirken. So hat sich mancher Schauplatz des Musiktheaters im Lauf der Zeit in eine wahre Pilgerstätte verwandelt: L’endroit qui était le théâtre supposé d’une action plus ou moins imaginaire (inventée de toutes pièces ou empruntée à la tradition) se mue en un lieu hautement historique, comme si cette action, devenue vraie, plongeait maintenant de solides racines dans la réalité topographique et la transfigurait . 42

In Venedig besichtigt man den Palast der Desdemona, so wie man auf der Engelsburg die Mauer aufsucht, wo man Toscas Geliebten erschoss und sie selbst in den Abgrund sprang. Nichts liegt Leiris ferner, als einen solchen bovarysme kritisch zu entlarven . 43 Die »Implantation« der Oper in die histo-

40 Vgl. Gilbert Rouget: La musique et la transe. Esquisse d’une théorie générale des relations entre la musique et la possession, Paris: Gallimard 1980, S. 337–348. Leiris’ Vorwort zu dieser Studie (»›Ne pas se contenter d’être ce que l’on est…‹«) findet sich wieder in Zébrage, Paris: Gallimard 1992 (Folio Essais), S. 201–212. 41 Michel Leiris: »Saints noirs« (1930), in: Zébrage (Anm. 40), S. 21–25, hier S. 22; vgl. L’âge d’homme (Anm. 36), S. 162. Zu Leiris’ lebenslanger Beschäftigung mit dem Jazz siehe Yannick Séité: Le jazz, à la lettre, Paris: PUF 2010 (Les littéraires), S. 199–236. 42 La règle du jeu (Anm. 20), S. 939. Der Text erschien zuerst unter dem Titel »Miroirs à pèlerins«, in: Jean Pouillon/Pierre Maranda (Hrsg.): Échanges et communications. Mélanges offerts à Claude Lévi-Strauss, La Haye: Mouton 1970, Bd. 1, S. 515–518. 43 Vgl. seine Verteidigung des bovarysme als kulturanthropologische Universalie in »›Ne pas se contenter d’être ce que l’on est…‹« (Anm. 40), bes. S. 202 f.

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rische Wirklichkeit belegt für ihn vielmehr die weitreichende Wirkung der Manöver im Klangraum, die er in seinem fünf Jahre älteren Essay beschreibt. Manchmal, so die Pointe seiner Botschaft an den Theaterverächter Lévi-Strauss, schreibt sich die in diesem Raum erzeugte Wellenbewegung sogar in eine monumentale Stadtlandschaft ein. Wenn einer Spätschrift von Leiris zufolge das Theater überhaupt ein profanes Quasi-Ritual darstellt und durch die Verkörperung von Quasi-Mythen eine eigene »quasi-magie« entwickelt, dann gilt dies erst recht für das vehemente Totaltheater der Oper 44.

44 Vgl. Michel Leiris: »André Masson homme de théâtre« (1983), in: Zébrage (Anm. 40), S. 230–235.

»L’horreur des dames, & la risée des hommes« Zur Wahrnehmung des musico im Frankreich der Frühen Neuzeit CHRISTIAN GRÜNNAGEL

Trotz vielfältiger Versuche, sich dem verklungenen Klangphänomen der Kastratenstimme anzunähern,1 kann festgehalten werden, dass wir weiter – und vielleicht zwangsläufig – vor einem Rätsel stehen, zu dem wir hermeneutisch jeden direkten Zugang verloren haben. Der virtuoso oder musico, wie der Gesangskastrat euphemistisch in Italien bis ins 19. Jahrhundert hinein genannt wurde – man denke an Balzacs Sarrasine2 – dominierte vom 17. Jahrhundert an die italienische Barockoper, die ohne seine Präsenz nicht denkbar ist oder bei Inszenierungen zur musikalischen Parodie gerät, wenn der »hohe Ton [des Sängers!]«3 in Richtung Tenor oder Bass ›korrigiert‹ wird, um das bürgerliche Opernpublikum nicht zu verstören.4 Verstörend

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Einen ersten Überblick bietet Thomas Seedorf: »Kastraten«, in: MGG2, hrsg. v. Ludwig Finscher, Sachteil 5, Kassel/Basel u. a.: Bärenreiter, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996, Sp. 15−20. Zum Kastraten als hermeneutisches Problem der berühmten Balzac-Novelle vgl. Grünnagel, Christian: »›Une affreuse vérité avait pénétré dans son âme‹ – Von den Gefahren des Verstehens«, in: Elke Richter/Karen Struve u. a. (Hrsg.): Balzacs ›Sarrasine‹ und die Literaturtheorie, Stuttgart: Reclam 2011, S. 136−146. Vgl. den Buchtitel zu »Musik-Erzählungen des 19. Jahrhunderts« bezogen auf Sopranistinnen: Der hohe Ton der Sängerin, hrsg. v. Jörg Theilacker, Frankfurt am Main: Luchterhand 1989. Bergeron bringt dies auf den Punkt – allerdings am Beispiel einer Kastratenarie aus Händels Messiah, die »by erroneous ›tradition‹« im 20. Jahrhundert von Bässen gesungen wurde: »[...] it was the later, more flamboyant castrato version of ›But who may abide‹ [...] that eventually came [...] to be sung once again by solo bass – often to ridiculous effect. To hear these searing alto riffs lumbering along an octave lower than they were meant to sound creates an effect of sheer struggle,

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bleibt aber diese Lücke, die nach dem Verschwinden der Kastraten Ende des 19. Jahrhunderts zwangsläufig fortbesteht und heute entweder durch Sopranistinnen in Hosenrollen oder Countertenöre, also von zwei, mutmaßlich deutlich von der Kastratenstimme distinkten, Stimmen geschlossen werden muss.5 Welche biologischen Konsequenzen die Kastration auf den heranwachsenden Knabenkörper hat, dazu mag sich die Urologenzunft kompetenter äußern.6 Was die Gesangsstimme des Kastraten betrifft, so sind wir hingegen ganz auf schriftliche Quellen der Epoche angewiesen, da die einzige bekannte Aufnahme des ›letzten Kastraten‹ der päpstlichen Kapelle, Alessandro Moreschi, nicht den Eindruck erweckt, das Rätsel der Kastratenstimme in der Barockoper befriedigend lösen zu können.7 Wir haben es also

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more sub- than superhuman.« (Katherine Bergeron: »The Castrato as History«, in: Cambridge Opera Journal 8.2 [1996], S. 177). Vgl. zur Abgrenzung von Frauenstimme, Countertenor und Kastrat: Peschel, Enid Rhodes/Peschel, Richard E.: »Medicine and Music. The Castrati in Opera«, in: Opera Quarterly 4.4 (1986), S. 26 f.; Fritz, Hans: Kastratengesang, Tutzing: Hans Schneider 1994, S. 71−74; Seedorf: »Kastraten«, Sp. 17−18 u. Giles, Peter/Steane, J. B.: »Countertenor«, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. v. Stanley Sadie, Bd. 6, London: Macmillan 22001, S. 571−573. Es scheint aber gerade in Bezug auf den Aspekt, der immer wieder ein gleichsam voyeuristisches Interesse auf sich zieht – der Kastrat als Liebhaber –, keine Einigkeit unter Urologen zu herrschen. Peschel/Peschel bezweifeln z. B. pauschal die Möglichkeit, Kastraten hätten »a sexual relationship with a woman« führen können (vgl. »Medicine and Music« (Anm. 5), S. 31 u. 33: »Our opinion is that the great castrati [...] could not have any normal male sexual function«). Aus dem von ihnen untersuchten Selbstzeugnis des Sängers Balatri folgt aber wohl nur, dass dieser sich völlig darüber im Klaren war, dass die Heirat ihm als Kastraten (kirchenrechtlich) verwehrt bliebe, über seine Potenz lässt sich hingegen nur spekulieren. Ganz gegen ihre These von der ›Asexualität‹ des Kastraten – parallel zu Fällen aus dem Tierreich (vgl. ebd., S. 30) – zitieren Peschel u. Peschel übrigens aus Balatris Autobiographie auch die Verse, die gerade seine Verliebtheit in eine Frau – einschließlich körperlicher ›Symptome‹ – belegen: »[...] in me s’accende il fuoco.« (zit. nach Peschel/Peschel, »Medicine and Music« (Anm. 5), S. 35). Eine Umfrage, die Melicow 1982 unter US-amerikanischen Fachärzten durchgeführt hat, belegt nur eines, nämlich die dort herrschende Uneinigkeit (vgl. »Castrati Singers and the Lost ›Cords‹«, in: Bulletin of the New York Academy of Medecine 59.8 (1983), S. 749−753). Deutlich wird, dass es wohl von der Art und Weise, wie die Kastration durchgeführt wurde, und von dem Alter des Knaben zur Zeit des Eingriffs abhängt, ob noch mit Potenz zu rechnen ist oder ob dies eine naturwissenschaftliche Unmöglichkeit darstellt (vgl. die Diskussion bei Melicow, ebd., S. 749 u. 754f.). Moreschis Repertoire an Sakralmusik ist bereits deutlich von der Barockoper entfernt. Vgl. auch Scammell, Elsa: »Alessandro Moreschi«, in: Alessandro Moreschi: The Last Castrato (CD), Wadhurst: Pavilion Records 1984/1987 u. Pfeiffer, Ludwig K.: »Operngesang und Medientheorie«, in: Doris Kolesch/Sybille Krämer (Hrsg.):

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mit Stimmen auf Papier zu tun, mit der »ephemere[n] Stimme«8 par excellence, entweder fixiert in den Partituren der Frühen Neuzeit oder beschrieben in Ohrenzeugenberichten, jedenfalls aber unwiederbringlich verklungen. Für die Partitur sei das Feld den Musikwissenschaftlern überlassen;9 das heißt aber nicht, dass die Kulturwissenschaft nicht etwas zur Interpretation der Ohrenzeugenberichte des 17. und 18. Jahrhunderts beizutragen hätte. Doch bevor wir mit der exemplarischen Lektüre zweier französischer Quellen der Frühen Neuzeit beginnen können, soll zunächst in Erinnerung gerufen werden, wie es überhaupt zu dieser Besetzungspraxis in der Barockoper kam und wie die Kastratenstimme im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts aufgenommen wurde.

I. TRIUMPH DER KASTRATEN ALS SÄNGER IM ITALIEN DES 17. JAHRHUNDERTS Die Oper als besondere Form des Musiktheaters ist eine italienische Erfindung, die Stunde ihrer Geburt trotz einiger Vorläufer recht präzise bestimmbar: 1607 bringt Claudio Monteverdi seinen Orfeo in Mantua zur Uraufführung und leitet damit den beispiellosen Siegeszug dieser Gattung nicht nur in Italien, sondern bald schon in weiten Teilen Europas ein. Wohl nicht zufällig steht die Figur des (halb-)göttlichen Sängers Orpheus am Beginn der Operngeschichte. Wie prägend Monteverdis favola in musica wurde, drückt sich auch in Adornos Aphorismus »alle Oper sei Orpheus«10 aus, will sagen: Monteverdis Orfeo ist das prägende Gattungsvorbild und zugleich ist Oper ohne Orpheus als Apotheose des Sängers nicht denkbar. Monteverdi

Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 65–84, hier S. 67, der ebenda auch die Frage aufwirft, ob wir angesichts dieser Aufnahme »vielleicht einem Mythos auf[sitzen]«. Da wir aber über keine andere Aufnahme verfügen, ist die Frage in gewisser Weise müßig, denn auch wenn zeitgenössische Beschreibungen der Kastratenstimme maßlos übertrieben wären, müsste auch diese Mythologisierung und Sinnestäuschung geschulter Zuhörer erklärt werden. 8 Kolesch/Krämer: »Stimmen im Konzert der Disziplinen«, in: Kolesch/Krämer (Hrsg.): Stimme (Anm. 7), S. 7–15, hier S. 7. 9 Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Saskia Woyke. 10 Theodor W. Adorno: »Bürgerliche Oper«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 16 (Musikalische Schriften I−III), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 16–38, hier S. 30. Dort findet sich (ebd.) – bezogen auf Glucks Reformoper – noch der vergleichbare Hinweis, in Orpheus sei der »Archetypus der Oper« zu erblicken.

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wählt wohl nicht nur wegen des verlangten happy ending11 die Entrückung des Titelhelden unter die Sterne durch seinen Vater Apoll, den Gott der Musik, als Finale seines Werks, vielmehr ist diese vor allem auch werkimmanent motiviert12 und unterstreicht programmatisch die neue Bedeutung des sängerischen Solos, der Monodie, die nach einem Individuum als »Star« verlangt – im Gegensatz zum noch in der Renaissance vorherrschenden Modell der Polyphonie.13 Für die Entfaltung des italienischen Opernmodells ist Monteverdis Orfeo auch in Bezug auf die Frage nach der Besetzungspraxis der heroischen Rollen von großer Bedeutung: Wählte der italienische Komponist für seinen Orpheus noch einen Tenor, so tritt diese Stimmlage in der Folge bald hinter Kastratenstimmen zurück,14 eine Entwicklung, die sich allerdings bereits 1607 ankündigt: Zwar wird der göttliche Sänger noch von einer natürlichen Männerstimme verkörpert, es gilt aber als gesichert, dass ein Soprankastrat der Allegorie der Musik im Prolog des Stücks seine Stimme lieh.15 In Monteverdis Spätwerk L’incoronazione di Poppea von 1642 ist es dann bereits selbstverständlich, gleichsam ›natürlich‹, die Partie des Nerone mit einem Sopranisten zu besetzen.16 Der Triumph auf der italienischen Opernbühne

11 Ein lieto fine war angesichts der Rahmenbedingungen der Aufführung angezeigt; zwar wurde Monteverdis Orfeo nicht für eine Fürstenhochzeit bestellt, aber: »Einen tragischen Schluß hätte indes auch dieses Publikum [= der Hof und »Mitglieder einer Akademie«] zu dieser Zeit nicht akzeptiert« (Leopold, Silke: Monteverdi und seine Zeit, Laaber: Laaber 22002, S. 118). 12 Die Apotheose des Orpheus als »Apotheose der Musik« schlägt nach Leopold »eine Brücke zu der Allegorie des Prologs« (Monteverdi und seine Zeit (Anm. 11), S. 118). 13 Vgl. zur Entstehung der Monodie in Abgrenzung zur Polyphonie des Madrigals: Morbach: Die Musikwelt des Barock, Kassel/Basel u. a.: Bärenreiter 2008, S. 33 f. 14 Vgl. zur Besetzung des Orfeo: Carter, Tim: Monteverdi’s Musical Theatre, New Haven/London: Yale UP 2002, S. 91−97. Nach Milners These wurde der Geschmack des Opernpublikums durch die bereits vor dem eigentlichen Opernboom nachweisbare Präsenz von Kastraten in den Kirchenchören Italiens geprägt: »[...] it can be argued that the popular taste for the castrato voice reflected in the singers chosen for opera was largely created by church practice.« (Milner, Anthony: »The Sacred Capons«, in: The Musical Times 114.1561 (1973), S. 250). 15 Vgl. Carter: Monteverdi’s Musical Theatre (Anm. 14), S. 97 u. Fenlon, Ian: »The Mantuan ›Orfeo‹«, in: John Whenham (Hrsg.): Claudio Monteverdi: Orfeo, Cambridge/London u. a.: Cambridge UP 1986, S. 1–19, hier S. 14. Fenlon zitiert auch einen Brief von Francesco Gonzaga, der die Wichtigkeit der Kastraten bereits für den Orfeo unterstreicht: »senza questo soprano non si potrebbe in modo veruno rappresentare« (ebd.). 16 Vgl. Leopold, Silke: »›Not Sex but Pitch‹. Kastraten als Liebhaber – einmal über der Gürtellinie betrachtet«, in: Hans-Martin Linde/Regula Rapp (Hrsg.): Provoka-

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ist davon ausgehend den Castrati gewiss: Bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts dominieren sie die Helden- und Götterpartien des italienischen Spektakels. Doch wie wurden sie im übrigen Europa wahrgenommen? Eine besonders bemerkenswerte Reaktion findet sich im Frankreich des Sonnenkönigs, das in letzter Konsequenz das italienische Opernmodell verwarf und eine eigene Form von Musiktheater als tragédie en musique entwickelte. Der kritisch bis apologetischen Betrachtung der inszenierten Männlichkeit des Kastraten als Opernsänger soll in diesem Aufsatz anhand zweier zentraler Texte aus dem Frankreich der Frühen Neuzeit exemplarisch nachgespürt werden.

II. ABGRENZUNGSBESTREBUNGEN IM FRANKREICH DES GRAND SIÈCLE: PERRIN AUF DEM WEG ZUR TRAGÉDIE EN MUSIQUE In Frankreich bleibt den italienischen Sängern – insbesondere den Kastraten – der große Erfolg auf der Bühne versagt. Nachweisbar ist die Präsenz italienischer Opernensembles ab den erklärten Versuchen Kardinal Mazarins, die Oper in seiner Wahlheimat Frankreich heimisch werden zu lassen. Der gebürtige Italiener (Giulio Mazarino), premier ministre unter Ludwig XIII., dann bis zu seinem Tode unter dessen Sohn, dem späteren Sonnenkönig, heuert die crème de la crème an Komponisten und Sängern sowie Technikern bis hin zum magicien Torelli an. Als erste italienische Opern werden 1646 Egisto von Cavalli, ein Jahr darauf Rossis Orfeo gegeben.17 Kosten und Mühen hat Mazarin nicht gescheut, doch das prächtige Spektakel löst – ganz anders als in Italien – keine Begeisterungsstürme aus. Gelobt wird zwar einhellig der Einsatz der Theatermaschinerie, Instrumentalmusik und Gesang hinterlassen hingegen ein geteiltes Echo.18 Rüde unterbrochen wird Mazarins Kulturpolitik durch politische Unruhen, die bald zur Fronde eskalieren. Als Italiener wird der premier ministre das Opfer einer eigenen tion und Tradition. Erfahrungen mit der Alten Musik, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 219–240, hier S. 230. 17 Schmierer, Elisabeth: Kleine Geschichte der Oper, Stuttgart: Reclam 2001, S. 50. 18 Oder erscheinen eher als Nebensächlichkeit: So berichtet z. B. eine zeitgenössische, in Frankfurt am Main gedruckte »Chronik« von Rossis Orfeo, erwähnt aber in erster Linie die sündhaft teure Maschinerie und nur ganz am Rande – subsummiert unter den Begriff »Musicanten« – die Sänger, neben »Däntzern, Gaucklern [...] und Comoedianten aus Italien« (vgl. Ortkemper, Hubert: Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten, Berlin: Henschel 1993, S. 184 f.).

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Gattung der Agitprop-Literatur, die sogar nach ihrem Opfer benannt wurde: die mazarinades. Ad personam wird der opernbegeisterte Kardinal gerade auch in seiner Männlichkeit angegangen, droht man (vermutlich Scarron) ihm doch offen die Kastration an, wie sie vergleichbar an italienischen Knabensopranen praktiziert wurde: »On te coupera, pauvre Jules,/ Et l’un & l’autre testicule«.19 Eine weitere Schmähschrift ist – ausgerechnet mit falschem Druckort Köln, dem Exil des Kardinals – dem »Tempérament amphibologique des Testicules de Mazarin« (1651) gewidmet.20 Dass hier Kastration als satirische Waffe gegen den politischen Gegner gewendet wird, lässt bereits vermuten, dass dieses französische Publikum größte Schwierigkeiten damit hatte, Kastraten als Opernsänger zu akzeptieren, geschweige denn wie in Italien zu bewundern.21 Nachdem die Fronde 1652 endgültig niedergeschlagen wurde und Mazarin in Amt und Würden aus dem kölnischen Exil zurück kehren konnte, werden dennoch die Versuche wieder aufgenommen, das französische Publikum an die italienische Opernästhetik zu gewöhnen. Die großen Erfolge bleiben allerdings weiter aus.22 Um 1660 kommt es dann zur Entscheidung – gegen das dramma per musica und für das Experiment eines dezidiert »französischen« Musiktheaters. Der erste, der dieses Projekt vorantreibt und wichtige Weichenstellungen vornimmt, ist mit Pierre Perrin ein heute bestenfalls noch der Fachwelt geläufiger Komponist und glückloser Opernimpresario. Ihm verdanken wir nicht nur erste Beispiele eines französischen Musiktheaters – noch der Pastorale nahe stehend – sondern auch theoretische Schriften, die sich mit der italienischen Oper auseinandersetzen und

19 Carrier bringt diese Verse der Mazarinade (vv. 117−118) mit einer weiteren zeitgenössischen Kastrationsphantasie in Zusammenhang, bei der jedoch eine noch radikalere Rache am Kardinal imaginiert wird: »Au lieu de le laisser partir,/Couper son membre & le rostir« (beide Stellen sind Carrier, Hubert: Les muses guerrières, Paris: Klincksieck 1996, S. 119 u. Anm. 117 entnommen). Zur Diskussion um Scarrons Autorschaft vgl. ebd., S. 118, Anm. 112. 20 Die Schmähschrift ist über das Internetportal der französischen Nationalbibliothek leicht recherchierbar (www.gallica.fr). 21 Die hier vorgestellte Ereignisgeschichte legt nahe, was bereits Schreuders knapp zusammengefasst hat: »C’est pour des raisons avant tout politiques et culturelles que les castrats sont exclus de l’opéra français [...]« (»La Haute-Contre«, in: Muse baroque. Le magazine de la musique baroque, o. S.). 22 Zu Cavallis L’Ercole amante, als Festoper zur Hochzeit Ludwigs XIV. bestellt und 1662 uraufgeführt, fasst Ortkemper die Reaktion der Franzosen zusammen, die sich in ihren Grundzügen ja schon bei Rossis Orfeo nachweisen ließ: »Alles spricht von der Pracht der Ausstattung, dem Raffinement der Theatermaschinen, der Ballettmusik von Lully für die Zwischenakte – Cavallis Musik bleibt unbeachtet« (Ortkemper: Engel wider Willen (Anm. 18), S. 188).

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für das Experiment eines Gegenprojekts plädieren.23 Besonders bedeutsam ist in diesem Kontext Perrins Widmungsbrief (1659) an den Erzbischof von Turin, also pikanterweise an einen italienischen Prälaten.24 Pikant, da Perrin dem Monsignore neun Kritikpunkte erläutert, die als défauts der italienischen Oper zu werten seien und den Misserfolg dieser Gattung in Frankreich erklären sollen. Exponiert am Ende des Monita-Katalogs lesen wir bei Perrin den neunten und letzten Kritikpunkt: Le neufiesme [deffaut des Comédies en Musique Italiennes], c’est l’usage des chastrez, l’horreur des dames, & la risée des hommes, à qui l’on a fait representer tantost l’Amour tantost une Dame, & exprimer des paßions amoureuses, ce qui choque tout à fait la vray-semblance & la bienseance & toutes les regles du Dramatique. Sur ce point ie n’ay rien à vous dire, MONSEIGNEUR, puisque vous connoissez la bonne mine & la gentillesse de nos Acteurs & de nos Actrices qui pourroient asseurément prattiquer 25 admirablement bien ce qu’ils representent, & changer la feinte en vérité.

Die polemisch formulierte Ablehnung der primi uomini ist gespickt mit poetologischen Fachtermini, zeigt aber Perrin als reichlich ignorant, was den Status der Gesangskastraten im Italien des 17. Jahrhunderts betrifft. Zur besseren Übersicht versammelt und kommentiert die folgende Tabelle die prinzipiell poetologisch deutbaren Begriffe der Perrin-Schrift: »horreur«

< teratôdes (Aristoteles): das Monströse (von teras = monstrum); ungeeignet für die Tragödie,26 verlangt wäre terreur (phobos)

23 Vgl. zu den Anfängen der tragédie en musique in Frankreich das Standardwerk von Kintzler, Catherine: Poétique de l’opéra français de Corneille à Rousseau, Paris: Minerve 22006; Perrin wird dort als der erste Theoretiker der französischen Oper gewürdigt (vgl. ebd., S. 148). 24 Ob hier ein Fehler Perrins vorliegt, der nur fälschlicherweise meinte, der Adressat seines Briefes, der Botschafter des Herzogs von Savoyen in Paris, sei Erzbischof von Turin gewesen (vgl. hierzu Beckers Kommentar in: Quellentexte zur Konzeption der europäischen Oper im 17. Jahrhundert, Kassel/Basel u. a.: Bärenreiter 1981, S. 110), spielt für die hier vorgestellte Lektüre kaum eine Rolle, da nicht so sehr der besagte, historisch belegte Botschafter relevant ist, sondern die interne Logik des Briefes, der sich an einen italienischen Kirchenfürsten wendet. 25 Becker (Hrsg.): Quellentexte (Anm. 24), S. 109. 26 D’Aubignac bietet hierfür ein eingängiges Beispiel: »Il est vrai que Neron fit étrangler sa mere, & lui ouvrir le sein pour voir en quel endroit il avoit été porté neuf mois avant que de naître; mais cette barbarie, bien agreable à celui qui l’executa, seroit non seulement horrible à ceux qui la verroient, mais même incroiable, à cause que cela ne devoit point arriver [...]« (La pratique du théâtre, hrsg. v. Hans-Jörg Neuschäfer, München: Fink 1971, S. 66; Hervorhebung C. G.). Das, was »horrible« ist, also »horreur« auslöst, verstößt als monströser, pathologischer Einzelfall somit auch gegen die »vray-semblance«. Vgl. zu »horreur« in der Tra-

48 | CHRISTIAN GRÜNNAGEL »risée« »horreur« + »risée« »vray-semblance«

»bienséance« [interne/ externe]28

»toutes les règles du Dramatique«

Gelächter; ungeeignet für Tragödie und grande comédie;27 typisch für das volkstümliche genus humile der Farce Beide Effekte zusammen disqualifizieren das Stück, es ist weder unregelmäßiges Schauerstück noch Farce, sondern beides zugleich Verstoß gegen die entsprechende aristotelische Regel: der Kastrat ist eine ›unwahrscheinliche‹, unnatürliche Kreatur; würde er nicht »horreur« und »risée« auslösen, könnte man seine Präsenz aber über den Begriff des merveilleux rechtfertigen – dazu weiter unten mehr Verstoß gegen die Schicklichkeit: a) bienséance interne: Kastraten in der Rolle paganer Götter, als Frauen verkleidet und/oder als Liebende, verstoßen gegen die interne Logik eines Stücks b) bienséance externe: die bloße Bühnenpräsenz des Kastraten scheint gegen die ›guten Sitten‹ in Frankreich zu verstoßen Fazit: jede Oper, die auf Kastraten setzt, verstößt gegen die Dramenpoetik, wie man sie im 17. Jahrhundert aus einer eigenen Interpretation der Schrift des Aristoteles bezog;29 das dramma per musica wird als völlig anarchische Provokation des bon goût begriffen.

gödie der französischen Klassik auch Emelina, Jean: »L’Horreur dans la tragédie«, in: Claire L. Carlin/Kathleen Wine (Hrsg.): Theatrum Mundi. Studies in Honor of Ronald W. Tobin, Charlottesville: Rookwood 2003, S. 171−179. 27 Die grande comédie bildet sich allerdings mit Molière erst etwas später heraus – ein Beispiel wäre der Misanthrope (1666). Bereits bei Perrin zeichnet sich aber die Entwicklung ab, Gelächter aus den ästhetisch als ›hochwertig‹ gesetzten Gattungen auszugrenzen. 28 Vgl. zur Begrifflichkeit Bray, René: La Formation de la Doctrine Classique en France, Paris: Nizet 1966, S. 215−230. 29 Dass die Dramenpoetik der sogenannten französischen Klassik eine Aneignung der aristotelischen Poetik und nicht die buchstabengenaue Befolgung derselben darstellt, ist seit langem in der Forschung bekannt (vgl. hierzu im europäischen Kontext Hatzfeld, Helmut: »Three National Deformations of Aristotle: Tesauro, Gracián, Boileau«, in: Studi Secenteschi 2 (1961), S. 3−21).

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Zwei Kritikpunkte verdienen dabei eine eingehendere Betrachtung. Wenden wir uns zunächst Perrins Vorwurf zu, die italienische Oper löse bei den Zuschauern, abhängig vom Geschlecht, zwei einander antithetisch gegenüberstehende Affekte aus: Frauen empfänden Abscheu angesichts der monströsen Widernatur des Kastraten, Männer könnten sich hingegen kaum noch halten vor Lachen, wenn sie mit Kastraten in Travestierollen oder gar in der Rolle des Amor konfrontiert würden. Sehr früh im 17. Jahrhundert wird hier eine Kritik formuliert, die Charles Dill unter dem eingängigen Titel Monstruous Opera erst für die französische Oper des 18. Jahrhunderts (insbesondere bei Rameau) untersucht hat.30 Das italienische dramma per musica erscheint ja schon bei Perrin als monströse Mischgattung, als dramatischer Zwitter31 – die klassisch Gebildeten unter seinen Lesern werden sicher an das abschreckende Beispiel in der Ars poetica des Horaz gedacht haben: Humano capiti cervicem pictor equinam iungere si velit et varias inducere plumas undique conlatis membris, ut turpiter atrum desinat in piscem mulier formosa superne, 32 spectatum admissi risum teneatis, amici?

Intertextuell ist die etymologische Verwandtschaft von Perrins »risée« und dem horazischen »risus« festzuhalten, doch auch die Versuche der Nachbarländer Frankreichs, die Ars poetica (neu) zu lesen und für ihre Zeit auszulegen, zeigen, dass die Monstren der antiken Poetik im Barock in neuen Kontexten heraufbeschworen werden konnten. So findet sich in Spanien die

30 Vgl. Dill, Charles: Monstrous Opera, Princeton: Princeton UP 1998 u. Gess, Nicola: »Oper des Monströsen – monströse Oper«, in: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hrsg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld: Transcript 2009, S. 655−667. 31 Der Hermaphrodit ist als poetologische Figur der Dramentheorie des 17. Jahrhunderts z. B. explizit in Spanien anzutreffen (vgl. Grünnagel, Christian: »¿Comedia queer? El hermafrodita y la poética del teatro aurisecular«, in: Tobias Brandenberger/Henriette Partzsch (Hrsg.): Deseos, juegos, camuflaje. Los estudios de género y queer y las literaturas hispánicas, Frankfurt am Main/Berlin u. a. 2011, S. 60−64). 32 Horaz: Epistulae. Briefe. De Arte poetica. Von der Dichtkunst. Lateinisch-deutsch, hrsg. v. Gerhard Fink, Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2003, S. 116, vv. 1−5 (Hervorhebung C. G.). Eine deutsche Übersetzung findet sich ebd., S. 117: »Haupt eines Menschen und Nacken des Pferdes zusammenzufügen:/ Tät’ dies ein Maler, schüf’ dazu Flügel mit schillernden Farben,/ Glieder von überall her, daß unten ein schwärzlicher Fischleib,/ Häßlich zu sehen, doch oben ein herrliches Weib sich uns zeige:/ Könntet ihr da beim Betrachten das Lachen verbeißen, o Freunde?«.

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Verbindung von (unregelmäßiger) Tragödie und Komödie bei Lope de Vega gleichfalls poetologisch in das Emblem eines weiteren Monstrums der Antike beschlossen, denn nach seinem Arte nuevo de hacer comedias en este tiempo (1609) handele es sich bei den Stücken des spanischen Barocktheaters in der Tat um theatralische Monstren, um binäre Mischwesen, um Minotauren: Lo trágico y lo cómico mezclado, y Terencio con Séneca, aunque sea como otro Minotauro de Pasife, 33 harán grave una parte, otra ridícula [.]

Die von Horaz als Autorität der klassischen Antike aber als abgrundtief hässlich und lächerlich-grotesk dargestellten Mischwesen bilden die Folie, vor der Perrins Kritik an Schärfe gewinnt. Mit der auctoritas von Aristoteles und Horaz gewappnet, kann Perrin konsequent resümieren, die italienische Oper verstieße als Ganzes gegen die Regelpoetik seiner Zeit und sei somit strukturell vergleichbar mit den Monstren, welche die Ars poetica als abschreckende Beispiele eingangs zusammentreibt.34 Der monströsen Passe-partout-Geschlechtlichkeit des Kastraten – »les chastrez« – stellt Perrin nun als positives Gegenbeispiel die französische Praxis gegenüber, zwei Geschlechterrollen auf der Bühne (gender)35 auch von

33 Lope de Vega: Arte nuevo de hacer comedias, hrsg. v. Enrique García Santo-Tomás, Madrid: Cátedra 2006, vv. 174−177. Vgl. ausführlicher hierzu Grünnagel, Christian: Pegasus und Chimäre – Klassik und Barock. Französische und spanische Literatur des 17. Jahrhunderts im Dialog, Heidelberg: Winter 2010, S. 106−110. 34 Man sollte sich diese Position zur aristotelischen Poetik aber eingebettet in ein Streitfeld vorstellen, dessen Quintessenz für das frühneuzeitliche Frankreich keine konfliktfreie ›doctrine classique‹ ergibt. Gerade das Monströse eignet sich gut, um die Fissuren in dieser postulierten ›Doktrin‹ offenzulegen, denn kein Geringerer als Boileau wird in seinem Art poétique (1674) das Monströse sehr wohl als Gegenstand der Tragödie würdigen: »Il n’est point de serpent ni de monstre odieux,/ Qui, par l’art imité, ne puisse plaire aux yeux:/ D’un pinceau délicat l’artifice agréable/ Du plus affreux objet fait un objet aimable.« (Art poétique, hrsg. v. Sylvain Menant, Paris: GF Flammarion 1969, Chant III, v. 1−4) Ausgehend von diesen hier verstreut zusammen getragenen Zitaten der poetologischen Reflexion im 17. Jahrhundert ist es sicher lohnend, das dramma per musica in diese kulturellen Debatten einzuordnen, insbesondere, da hier nicht auf den Kontext der italienischen Barockpoetiken eingegangen werden kann; man denke z. B. an Tesauros Cannocchiale aristotelico, das 1654, also wenige Jahre vor Perrins Brief, erschienen ist. 35 Die hier gewählte Übersetzung ›Geschlechterrolle‹ für Gender soll aber nicht so verstanden werden, als sei ›Geschlecht‹ eine vom Individuum frei wählbare Performanz (vgl. zur Kritik am Konzept ›sozialer Rollen‹, insbesondere der »sex role« Connell, R. W.: Masculinities, Berkeley/Los Angeles: University of California Press

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zwei Geschlechtern (sex) verkörpern zu lassen: Dem als ›fremd› und ›unnatürlich‹ disqualifizierten Kastraten stehen »nos Acteurs & [...] nos Actrices« gegenüber. Die als natürlich gedachte Zweigeschlechtlichkeit des Menschen wird von Perrin auch auf der Bühne als distinkte binäre Opposition verlangt,36 wohingegen die körperliche und vor allem stimmliche Präsenz des Kastraten diese Binarität gerade verunklart: In der italienischen Barockoper ist ja bekanntlich die hohe Stimmlage einer Figur (Sopran oder Alt) kein Hinweis auf das auf der Bühne dargestellte Geschlecht, noch lassen sich direkte Schlussfolgerungen in Bezug auf das Geschlecht des Sängers anstellen. Nur im Kirchenstaat hatte das Publikum die (relative) Gewissheit, dass nur Männer auf der Bühne agierten und alle Rollen verkörperten:37 Held, Heldin und Nebenfiguren, männlich wie weiblich. Für das übrige Italien galt dies aber nicht, auch wenn Perrin dies zu insinuieren scheint, wenn er die Travestierollen der Kastraten anspricht; z. B. in Neapel oder Venedig traten Kastraten zusammen mit Sängerinnen und (nachrangingen) Sängern in der Tenor-, Bariton- oder Basslage auf. Liebesduette versammelten dabei fast schon zwangsläufig einen Altisten und eine Sopranistin oder auch einen Sopranisten und eine Altistin – letztere Kombination, bei der der Mann höher sang als die Frau, schien beim zeitgenössischen italienischen Publikum einen ganz eigenen Kitzel ausgelöst zu haben.38 Perrin weiß entweder nichts

22005,

S. 22−27), sondern wird hier zur Abgrenzung vom anatomisch-biologischen Geschlecht verwendet. 36 Womit Feldmans Einschätzung problematisch wird, denn offenbar zeigt Perrins Kritik, dass nicht erst im Kontext der Aufklärung mit ihren »new bourgeois notions« der ›Impuls‹ erkennbar wird, binäre Geschlechterkategorien, »clear dimorphic sexual morphologies«, durch »ideal sexual categories onstage« zu repräsentieren (vgl. »Denaturing the Castrato«, in: The Opera Quarterly 24.3−4 (2009), S. 179). 37 Casanova berichtet aber in seinen Memoiren auch von seiner Erfahrung mit dem ›falschen Kastraten‹ Bellino, in Wirklichkeit eine Frau – die Ex-Geliebte des Kastraten Salimbeni – die sich so Zugang zur Opernbühne von Ancona als »castrato première actrice« verschafft habe (vgl. Histoire de ma vie, hrsg. v. Francis Lacassin, Paris: Robert Laffont 2006, II,1−2, S. 230−260; hier: S. 231) – der Wahrheitsgehalt der Anekdote lässt sich natürlich nicht mehr überprüfen (vgl. hierzu auch Ortkemper: Engel wider Willen (Anm. 18), S. 79−83). 38 Ortkemper notiert zu Monteverdis L’incoronazione di Poppea: »[...] Nero war in Monteverdis Oper ein Kastrat und sang Sopran. Die Rolle seiner Geliebten [...] wurde von einer Sängerin gesungen und war für Mezzosopran geschrieben. Die Frau hatte eine tiefere Stimme als der Mann, der Liebhaber sang höher als die Geliebte. Diese Paradoxie wird in der frühen Barockoper fast zur Regel.« (Engel wider Willen (Anm. 18), S. 29)

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davon – oder er verschweigt es, um seine Argumentation nicht der größeren Komplexität der Realität auszusetzen. Auch bei der Frage nach »horreur« und »risée« ignoriert Perrin den zeitgenössischen Geschmack des italienischen Opernpublikums, das nachweislich die Bühnenpräsenz des Kastraten weder als schrecklich noch als lächerlich empfand. Ein Begriff der zeitgenössischen Dramenpoetik, der sich in Traktaten mit Rückgriff auf Aristoteles findet, hätte auch in Frankreich erklären können, welchen Effekt die Kastraten auf der Opernbühne auslösen: Sie sind Teil des ›Wunderbaren‹ (merveilleux), das noch der einflussreiche Abbé d’Aubignac für unerlässlich erklärt.39 In diesem Sinne sind die Kastraten in der italienischen Oper konsequent auf ernste Rollen festgelegt, aus der späteren opera buffa verschwinden sie deshalb auch als erste, da ihre Präsenz in einer Musikkomödie offenbar als unsinnig empfunden wurde.40 Das Wunderbare, Übernatürliche und Numinose war ihre Spezialität; ihre ad nauseam als ›engelsgleich‹ beschriebenen,41 durch einen grausamen Eingriff konservierten, vom Menschen geformten und in der Natur nicht vorgesehenen Stimmen finden ihre Apotheose im England des frühen 18. Jahrhunderts im berühmten, leicht blasphemischen Ausruf einer Lady: »One God, one Farinelli!«42 Perrins Argumentation ist aber auch auf anderen Ebenen problematisch, stellt er doch den italienischen Kastraten als Sänger nicht etwa französische Sänger, sondern Schauspieler gegenüber: »nos Acteurs & [...] nos Actrices«; nicht deren Gesangsqualitäten, sondern ihre schauspielerischen Fertigkeiten – Mimik und Gestik (»la bonne mine & la gentillesse«) – werden gegen

39 Vgl. D’Aubignac: La pratique du théâtre, S. 67. Gordon beschreibt in diesem Kontext die Gesangsstimme des Kastraten treffend als prämodernen »special effect« (»The Castrato Meets the Cyborg«, in: The Opera Quarterly 27.1 (2011), S. 95; vgl. auch ebd., S. 110). 40 Vgl. Schmierers Kommentar zu Leonardo Leos »Commedia per musica« Amor vuol sofferenza von 1739: »Ridolfo [= primo uomo], noch eine Kastratenrolle, hat Arien heroischen Charakters. Später kamen in der Opera buffa nur noch natürliche Stimmlagen vor, also keine Kastratenrollen.« (Kleine Geschichte der Oper (Anm. 17), S. 47). Dies belegt, dass sich im Italien der Frühen Neuzeit Kastratenstimmen gerade nicht für Komik eigneten, also alles andere als risée auslösten. 41 Vgl. Woyke, Saskia: »Die Metapher der Engelsstimmen: Beschreibungen von Frauen- und Kastratenstimmen in Venedig und Rom vor dem kulturellen Hintergrund des italienischen späten Seicento«, in: Geyer, Helen (Hrsg.): Liturgie im Aufbruch. Tagungsband (14.−16. April 2010), Hochschule für Musik Franz Liszt, in Vorbereitung. 42 Vgl. zur Farinelli-Anekdote Ortkemper: Engel wider Willen (Anm. 18), S. 133.

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die Kastraten ins Feld geführt.43 Hinzu kommt die eigentümliche Auffassung Perrins, das französischen Theater triumphiere dort, wo die Oper versage: Was Täuschung in der italienischen Oper sei – Kastraten in Frauenkleidern oder als pagane Gottheiten – werde »vérité« auf der französischen Bühne. Gemeint kann wohl nur sein, dass ›echte‹ Männer und ›echte‹ Frauen44 in Frankreich zur Verfügung stehen, wo man in Italien – wie ausgeführt nur im Kirchenstaat – auf Kastraten als passe-partout zurückgreifen müsse. Nicht bedacht wird hierbei der prinzipiell fiktionale Status des Theaters, das ja insgesamt eine »feinte« ist. Bemerkenswert ist auch, dass Perrin an dieser Stelle seiner Argumentation gerade nicht der aristotelischen Poetik folgt, da dort anstelle der (historischen) »vérité« die vraisemblance der Handlung verlangt ist. Das, was in der außerfiktionalen Wirklichkeit als vrai nachgewiesen war – wie z. B. die vom Abbé d’Aubignac zitierten Grausamkeiten Neros45 –, eignete sich deshalb noch lange nicht für die Kunstform der Tragödie. Zum Höhepunkt der sogenannten französischen Klassik fasst dies Boileau in seinem bekannten Vers des Art poétique (1674) pointiert zusammen: »Le vrai peut quelquefois n’être pas vraisemblable.«46 ›Wahrheit‹ war also dezidiert nicht das Ziel der regelgemäßen Tragödie, die sich zu Perrins Zeiten zu etablieren begann. Die Präsenz von Kastraten in der italienischen Oper lässt sich über diese Abgrenzung von vrai und vraisemblable allerdings bei Perrin nicht retten, denn er hatte ihnen ja gerade auch den Verstoß gegen die entsprechende aristotelische Regel vorgehalten. Die scharfe Polemik gegen das italienische Opernmodell erreicht somit einen Höhepunkt in Perrins Angriff auf die virtuosi des Nachbarlandes. Gegen Ende des Grand Siècle dreht dann der Wind erneut: Diesmal finden sich prominente Verteidiger der italienischen Musik und Oper. Einer von ihnen, der Abbé Raguenet, arbeitet sich dabei implizit auch an Perrins Verurteilung der italienischen primi uomini ab und lässt erkennen, dass er den Kastraten im Vergleich zu französischen Alternativen klar den Vorzug gibt. Sein Parallèle des Italiens et des François, en ce qui regarde la musique et les opéra von 1702 räumt zwar ein, die französische tragédie en musique sei das

43 Mit Pfeiffer ist festzuhalten, dass der Opernsänger dezidiert kein Schauspieler sein muss: »Die Inszenierung der Opernstimme durch virtuose Technik [...] ist im Extrem selbst in weit gehender Bewegungs- und Interaktionslosigkeit eines Sängers [...] vorstellbar (und auch realisiert worden).« Pfeiffer: »Operngesang und Medientheorie« (Anm. 7), S. 72 f. 44 Also Menschen, bei denen der Bühnenrolle das entsprechende anatomischbiologische Geschlecht entspricht. 45 Vgl. Anm. 26. 46 Boileau: Art poétique (Anm. 34), Chant III, v. 48.

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bessere Theaterstück – da regelmäßig gebaut –, das dramma per musica aber die bessere Oper. Die Kastraten spielen bei dieser Argumentation eine Hauptrolle, sie stellen nach Auffassung des Abbé Raguenet alles in den Schatten, was die opéra lullyste zu bieten hat:47 Sie seien die besten Sänger der Welt, weder schrecklich noch lächerlich. Zwar lasse sich ihre Stimmhöhe auch von Frauen in der Sopranlage wiedergeben, doch fehle den Sängerinnen etwas Entscheidendes: die nötige Stimmkraft. Lächerlich scheinen dem Abbé Raguenet eher mediokre französische Sopranistinnen, nicht die primi uomini: […] quels avantages n’ont-ils [= les Italiens] pas sur nous, pour les Opéra, par leurs Castrati qui sont sans nombre, & dont nous n’en avons pas un seul en France? Les voix de femme sont à la vérité aussi douces & aussi agréables, chez nous, que celles de ces sortes d’hommes; mais il s’en faut bien qu’elles soient aussi fortes & aussi perçantes; il n’y a point de voix ny d’homme ny de femme au monde si flexibles que celles de ces Castrati; elles sont nettes, elles sont touchantes, elles pénétrent [!] jusqu’à 48 l’ame.

47 Die französischen Wörterbücher der Frühen Neuzeit scheinen übrigens in Bezug auf die Kastratenstimme nicht sehr ergiebig, so erwähnt Furetière sie in seinem Dictionnaire de musique mit keinem Wort; zur Bestimmung des Begriffs »Dessus« (= Sopran) finden wir nur das Beispiel: »Les filles & les jeunes garçons chantent le dessus, leur partie est le dessus.« (Hervorhebung im Original) Dass es im Frankreich des 17. Jahrhunderts aber wohl die Technik des Countertenors gab, erfahren wir nur en passant unter dem Lemma »Haute contre«: »On appelle haute contre, la partie qui est une espece de second dessus [...], est aussi le Musicien qui chante cette partie.« Obwohl Furetières Formulierung an dieser Stelle eindeutig ist – »second dessus« zu verstehen als Alt – ist in der Musikwissenschaft umstritten, ob die (!) haute-contre nicht eher einen leichten, hohen Tenor meint (vgl. Schreuders: »La Haute-Contre«, o. S.). Im Zweifelsfall müsste dies an der jeweiligen Besetzungspraxis der Lully-Opern überprüft werden. Jedenfalls verdanke ich Schreuders auch das schöne Zitat aus dem Dictionnaire de la musique de Meude-Monpas (1787): »Castrato. Musicien qui chante le dessus. Hélas!« 48 Raguenet, François: Parallèle des Italiens et des François, en ce qui regarde la musique et les opéra, Paris: Jean Moreau 1702, S. 76 f. (Hervorhebung C. G.). Barbier fasst die häufigsten Begriffe zusammen, die zeitgenössisch zur Beschreibung der Kastratenstimme dienten, darunter auch die »durchdringende Stimme«, wie wir sie beim Abbé Raguenet in der Metapher des ›pénétrer jusqu’à l’âme‹ wiederfinden: »Dies zeigt, daß die Stimme des Kastraten physisch auf den Zuschauer wirkte und so in ihn eindrang, daß sie ihn gewissermaßen aus dem Gleichgewicht brachte [...]« (Barbier, Patrick: »Über die Männlichkeit der Kastraten«, in: Martin Dinges (Hrsg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 129; Hervorhebung C. G.).

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Es folgt ein schon topischer Vergleich der Kastratenstimme mit der Nachtigall,49 wobei der Abbé Raguenet als besonderes Charakteristikum dieser Stimme ihr enormes Lungenvolumen verbunden mit einer austrainierten Atemtechnik hervorhebt, die es den virtuosi ermöglicht, scheinbar endlose Koloraturen zu singen und damit dem Publikum den Atem zu rauben, über den sie selbst im Überfluss verfügen: Ce sont [...] des sons de voix de Rossignol; ce sont des haleines à faire perdre terre, & à vous ôter presque la respiration, des haleines infinies par le moyen desquelles ils exé50 cutent des passages de je ne sai combien de mesures [...].

Ganz gegen Perrin erlebt der Abbé Raguenet die Kastraten gerade auch in der Rolle des Amour/Amant als Traumbesetzung: [R]ien n’est plus touchant que l’expression de leurs peines formée avec ces sons de voix si tendres & si passionez; & les Italiens ont, en cela, un grand avantage sur les Amans de nos Théatres, dont la voix grosse & mâle est constamment bien moins 51 propre aux douceurs qu’ils disent à leurs Maîtresses.

Erweist sich die profane, triviale und alltägliche Männlichkeit nach dem hormonell bedingten Stimmbruch in der Pubertät nun beim Abbé Raguenet als ungeeignet, im Kunstgesang das Gefühl der Liebe in höchster Vollkommenheit auszudrücken, vereinigen die Kastraten douceur und force in ihrer Stimme, eine Stimme ›nicht von dieser Welt‹ – ein weiterer Topos der Beschreibung.52 ›Lächerlich‹ ist eine Kategorie, die beim Abbé Raguenet keiner Widerlegung bedarf. Mit einem Vorurteil, das wir bis Heinrich Heine verfolgen können, räumt der Abbé Raguenet an mehreren Stellen auf. Spöttisch heißt es in Heines Buch der Lieder zu einer Zeit, als die Kastraten bereits fast völlig von der Opernbühne verschwunden waren:

49 Woyke kann bereits für das 17. Jahrhundert nachweisen, dass der Vergleich mit der Nachtigall »bevorzugt« für die Beschreibung von Kastraten-, aber auch von Frauenstimmen herangezogen wurde (vgl. Woyke: »Die Metapher der Engelsstimmen«, Anm. 41). 50 Raguenet: Parallèle des Italiens et des François, (Anm. 48), S. 78 f. 51 Ebd., S. 80 f. 52 Vgl. Woyke: »Die Metapher der Engelsstimmen« (Anm. 41). Ist in der Gegenwart die Rede von ›Engelsstimmen‹, dann findet man bezeichnenderweise hierunter vor allem die Knabenstimme (Sopran) vor dem Stimmbruch subsumiert, so z. B. im Roman des isländischen Autors Indriðason: Engelsstimme (isl. Röddin).

56 | CHRISTIAN GRÜNNAGEL Doch die Kastraten klagten, Als ich meine Stimm’ erhob; Sie klagten und sie sagten, Ich sänge viel zu grob. Und lieblich erhoben sie alle Die kleinen Stimmelein. Die Trillerchen, wie Krystalle, Sie klangen so fein und rein.53

Dieser Vorstellung von schwachen Fistelstimmen tritt bereits Anfang des 18. Jahrhunderts der Abbé Raguenet energisch entgegen und insistiert auf der Stimmgewalt der primi und secondi uomini: keine Frauenstimme – wie noch Schopenhauer als Heines Zeitgenosse notiert54 – käme ihnen gleich. Insbesondere seien die Kastraten den französischen Sopranistinnen gegenüber klar im Vorteil: Ce sont ordinairement de petites filles sans poumons, sans force, & sans haleine, qui chantent, en France, les Dessus [= les sopranos]; au lieu que cette même partie est toûjours chantée, en Italie, par des hommes forts, dont la voix ferme & résonnante se 55 fait entendre avec netteté dans les lieux les plus vastes […].

Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass Perrin und der Abbé Raguenet jenseits all ihrer Differenzen ein zentrales Missverständnis teilen, nämlich die Einschätzung, Kastraten würden in ganz Italien als Ersatz für Frauensoprane eingesetzt (»toûjours chantée, en Italie [...]«). Auch der Abbé Raguenet verallgemeinert also den Sonderfall des Kirchenstaates und zieht daraus den Trugschluss für den gesamten italienischen Stiefel. Dieses einflussreiche

53 Heine, Heinrich: »Die Heimkehr«, in: Buch der Lieder, LXXIX; in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. v. Manfred Windfuhr, Bd. I/I Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, S. 293. Ortkemper wählt dieses Gedicht als Abgesang (»Epilog«) auf den Kastratengesang (vgl. Engel wider Willen (Anm. 18), S. 355). 54 In Schopenhauers Reisetagebüchern lesen wir über den Kastraten Crescentini: »Seine übernatürlich schöne Stimme kann mit keiner Frauenzimmerstimme verglichen werden [...]« (Die Reisetagebücher, Zürich: Haffmans Verlag 1988, Eintrag vom 27.6.1804, S. 226). 55 Raguenet; Parallèle des Italiens et des François (Anm. 48), S. 81 f. Auch das Orchester konnte eine durchtrainierte Kastratenstimme offenbar nicht übertönen – was heute bei Bravourarien allerdings das Los vieler Countertenöre ist –; vielmehr hält der Abbé Raguenet das Gegenteil fest: »[...] un Air encore plus beau chanté par une de ces voix, d’un son le plus éclatant & en même temps le plus doux, perce la symphonie & s’éléve [!] au dessus de tous les Instruments [...]« (ebd., S. 77 f.; Hervorhebung C. G.).

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Missverständnis56 – das im 19. Jahrhundert weitere Nahrung durch die bereits erwähnte Balzac-Novelle Sarrasine mit römischem Schauplatz erhalten haben dürfte – hält sich z. T. bis in unsere Gegenwart. Noch 1997 lesen wir bei Scholz, ohne dass für die Behauptung ein Beleg angeführt würde: »[...] unter zehn in einer [italienischen] Oper verteilten Stimmen waren in der Regel sieben Kastraten, zwei Tenöre und ein Baß«57 – wer nachzählt, wird fest-

56 Vgl. z.B. auch Grétrys Memoiren von 1797: »In Frankreich und Deutschland singen Männer den Alt, wenn auch nicht ohne Mühe; in Italien sind es nicht einmal die Frauen[, sondern Kastraten] [...]. Ich weiß, daß Italien nicht der Musik entbehren kann, weder die Musik der Sopran- noch die der Altstimmen; aber schließlich wären Chorknaben dafür geeignet, dies zu übernehmen. Und welches Unglück wäre es, wenn man in einigen Staaten Italiens Frauen in den Theatern singen ließe? – überhaupt keines.« (Memoiren oder Essays über die Musik, hrsg. v. Peter Gülke, Wilhelmshaven: Heinrichshofen’s Verlag 1978, S. 200) In der Tat, »überhaupt keines«, denn außer im Kirchenstaat wimmelte es in Italien bereits im 18. Jahrhundert von Primadonnen und auch für das 17. Jahrhundert sind uns die Namen vieler italienischer Sängerinnen überliefert (vgl. z. B. zu Monteverdis künstlerischer Zusammenarbeit mit Sängerinnen Carter: Monteverdi’s Musical Theatre (Anm. 14), S. 93). Vgl. zum »Sonderfall« Rom auch Barbier: »Über die Männlichkeit der Kastraten« (Anm. 48), S. 133 f.: »Die Hauptstadt des Papsttums trug dazu bei, daß die Nachwelt ein weitgehend verfälschtes Bild angeblich ›homosexueller‹ Kastraten erhielt, die gewöhnlich Frauenkleider getragen hatten.« (Ebd., S. 134) 57 Scholz, Piotr O.: Der entmannte Eros. Eine Kulturgeschichte, Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 1997, S. 256; das den »engelsgleichen Stimmen der päpstlichen Kastraten und [der] Geburt der Oper« gewidmete Kapitel ist von weiteren Fehleinschätzungen und überraschenden Behauptungen durchzogen. So wüsste man z. B. gern, in welcher Lully-Oper sich Kastratenpartien finden (vgl. ebd., S. 251) – die Behauptung, Atys sei »ein typisches Beispiel dafür« ist falsch, denn die Titelpartie war mit einer haute-contre besetzt, der Name des französischen, selbstverständlich unversehrten Sängers ist uns sogar überliefert. Das Faszinierende an Atys – und hierin liegt wohl der gedankliche Kurzschluss – ist hingegen, dass Lully und Quinault zu Zeiten des »règne des Castrats« (Moindrot, Isabelle: L’opéra seria ou le règne des castrats, Paris: Fayard 1993) ausgerechnet ein mythologisches Sujet wählen, in dem der Held am Ende kastriert wird (vgl. Grünnagel, Christian: »Le monstre ›classique‹, un trompe-l’œil ? Atys, ›tragédie en musique‹, et l’esthétique baroque«; in: HeLix 1 (2009), S. 59−71) – das macht aber die Partie des Sängers noch lange nicht zu einer Kastratenpartie. Weiter heißt es hingegen bei Scholz: »Auch [...] Rameau [...] verzichtete in seinen Opern nicht auf Gesangskastraten (z. B. Hyppolite et Aricie und Castor et Pollux).« (ebd., S. 259) Richtig ist: Auch Rameau verzichtete in seinen tragédies lyriques konsequent auf Kastraten; Castor und Hyppolite sind Partien für haute-contre bzw. Tenor, Pollux wird von einem Bass gesungen (vgl. z. B. Batta, András: Opera. Komponisten. Werke. Interpreten, Köln: Könemann 1999, S. 502 u. 504). Zumindest unglücklich ist auch Scholzens Formulierung: »[...] Meyerbeer [...] schrieb seine letzte Kastratenoper Il crociato in Egitto [...] für Kastraten« (ebd., S. 264); schließlich ist Barbier auch nicht der Regisseur des Films Farinelli (vgl. ebd., S. 267) – das ist Corbiau – sondern der Autor einer Histoire des castrats von 1989.

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stellen, dass in dieser Rechnung für Frauen kein Platz mehr bleibt. Ausgehend von der fixen Idee, in ganz Italien, ja gegebenenfalls in der gesamten Barockoper seien Kastraten als Ersatz für Frauen eingesetzt worden,58 müssen dann selbst Quellen als ›Ausnahme‹ uminterpretiert werden, die offenbar die Präsenz von Sängerinnen belegen. Nachdem etwa Melicow festgehalten hatte: »For two centuries, the 17th and 18th, they [= Castrati] dominated opera. All female parts were sung by these evirati«, räumt er zu einer berühmten Karikatur (Berenstadt, Francesca Cuzzoni und Senesino als SängerInnen einer Händeloper) ein: »Note the grotesque height [...] of the two castrati compared with that of Francesca Cuzzoni, a prima donna, one of the few female singers allowed to participate in opera.«59 Es wäre sicher lohnend, diese überaus hartnäckige Fehleinschätzung selbst zum Gegenstand einer Untersuchung zu erheben;60 psychoanalytisch gewendet dürfte es jedenfalls kein Zufall sein, dass gerade die Präsenz von Kastraten in Rollen heroischer Männlichkeit und im (Liebes-)Duett mit Frauen einer Art kultureller Verdrängung anheim gefallen ist. An ihre Stelle trat das Trugbild, Kastraten seien auf einer als homosozial, wenn nicht homoerotisch imaginierten pan-italienischen Bühne gleichsam unter sich, jedenfalls aber unter Männern geblieben. Nach allem was wir jedoch aus den Anekdoten und Anekdötchen zum Liebesleben der großen Opernstars des 17. und 18. Jahrhunderts wissen, scheinen sich dort von Hetero- bis Homo-

58 Barbier stellt klar, dass einige Kastraten zwar in Frauenrollen debütierten, dass das Ziel ihrer Ausbildung aber »die großen männlichen Rollen« waren und führt am Beispiel von Andrea Marini, einem auf Frauenrollen spezialisierten Kastraten, aus, dass dies als Notlösung zu werten sei, wenn die Stimme des Kastraten »nicht kraftvoll genug war« für »Rollen des [...] triumphierenden männlichen Helden« (Barbier: »Über die Männlichkeit der Kastraten« (Anm. 48), S. 132 u. 134). 59 Melicow: »Castrati Singers« (Anm. 6), S. 763, Fig. 6 (Hervorhebung C. G.). 60 Ähnlich bemerkenswert ist, dass Arbeiten zu den Gesangskastraten zu teils extremer Repetition neigen, so als bildeten sie selbst den Da-Capo-Teil einer Kastratenarie, denn die Forschung scheint um die immer gleichen Anekdoten variierend zu kreisen – auch der vorliegende Aufsatz ist hiervon nicht völlig frei –, die sie erneut nacherzählt, seltener kulturwissenschaftlich auch deutet. Man vergleiche z. B. die durchaus verdienstvollen Arbeiten von Patrick Barbier (Histoire des castrats, Paris: Grasset 1989) und Ortkemper (Engel wider Willen, Anm. 18) sowie als jüngeres Beispiel Richard Somerset-Wards Angels & Monsters. Male and Female Sopranos in the Story of Opera (1600−1900), New Haven/London: Yale UP 2004. Zu fragen wäre, warum die Forschung die eine Monografie zu den Kastraten immer wieder (obsessiv?) neu schreibt.

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sexualität alle Spielarten der sexuellen Orientierung gefunden zu haben, wie man sie auch bei ihren nicht-kastrierten Kollegen erwarten würde.61 Was hingegen die Verkörperung von Männlichkeit betrifft, deutet sich beim Abbé Raguenet zumindest die Einschätzung implizit an, dass die Kastraten auf der Bühne für (männlich konnotierte) Stärke stünden und stimmlich nicht als ›effeminiert‹ wahrgenommen wurden, sondern eben als »hommes forts«.62 Als Herausforderung der historischen Wissenschaften bleibt somit das bislang nicht hinreichend erklärte Phänomen bestehen, dass Kastraten in ihren typisch heroischen Rollen (Cäsar, Alexander der Große und ja, auch Herkules63) auf der Bühne der Frühen Neuzeit wohl das repräsentierten, verkörperten, was wir mit Connell der damals hegemonialen Männlichkeit zuordnen können.64 Die für Connells Werk The Men and the Boys überarbeitete, 61 Vgl. z. B. Ortkemper: Engel wider Willen (Anm. 18) u. Barbier: Histoire des castrats (Anm. 60), S. 141−162 (»Les castrats et les femmes« u. »Rivalités et amitiés masculine«). Allzu eilfertig sollte man daher die großen Gesangskastraten des 17. und 18. Jahrhunderts nicht für eine ›queere‹ Perspektive vereinnahmen. So verortet Behrend-Martínez die vom Kastraten ausgehende, besondere erotische Faszination darin, dass er beide Rollen, weibliche wie männliche, auf der Bühne verkörpert habe: »A castrato could play a woman in one opera, and the following week portray the Greek military hero Achilles.« (»Manhood and the Neutered Body in Early Modern Spain«, in: Journal of Social History 38.4 (2005), S. 1075) Dem war aber nicht so, z. B. haben Caffarelli und Farinelli nach ihrem Operndebut nur Rollen heroischer Männlichkeit gesungen (vgl. zu Caffarellis Karriere die Übersicht in Ortkemper, Hubert: Caffarelli, Frankfurt am Main/Leipzig: Insel 2000, S. 245−248) und diejenigen Kastraten, die nur Frauenrollen übernahmen, taten dies nach Barbier aus der Not heraus, dass ihre Stimme nicht geeignet für die Heldenpartien war (»Über die Männlichkeit der Kastraten« (Anm. 48), S. 134), jedenfalls sang wohl kein Kastrat im 18. Jahrhundert in der einen Oper eine Frauenpartie und in der nächsten einen griechischen Heros. Behrend-Martínez muss den Beleg für seine Behauptung daher wohl zwangsläufig schuldig bleiben. 62 Zu Recht betont Barbier, dass »an der Männlichkeit des Kastraten« zumindest »[i]nnerhalb der katholischen Kirche« ja auch übrigens »niemals irgendwelche Zweifel« herrschten: »Da Frauenstimmen ausgeschlossen waren, war es den Kastraten gerade in ihrer Eigenschaft als Männer gestattet, bei den Kantoreien der Kathedralen und sogar in der Sixtinischen Kapelle [...] mitzusingen.« (Barbier: »Über die Männlichkeit der Kastraten« (Anm. 48), S. 131) 63 Vgl. z. B. Händels The Choice of Hercules: die Partie des altgriechischen Kraftmeiers ist für Mezzosopran vorgesehen. 64 Vgl. Connell: Masculinities (Anm. 35), S. 77 f. Connell geht aber in seinem/ihrem kurzen Abriss einer »History of Masculinity« nicht auf den Gesangskastraten ein (vgl. ebd., S. 186−191 zur Frühen Neuzeit). Auch in Wolfgang Schmales Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450−2000), Wien/Köln u .a.: Böhlau 2003 wird man einen Hinweis auf die Verkörperung heroischer Männlichkeit auf der Bühne der Barockoper vergebens suchen, was umso mehr erstaunt, als der Historiker seinem Kapitel zu »Ehe, Sexualität, Geschlechtsdichotomie« im 17. Jahrhundert ein Zitat aus dem Libretto von Cavallis La Calisto von 1651 voranstellt (vgl. Ge-

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gerade für die Beschreibung des Phänomens der Castrati treffende Definition begreift »hegemonic masculinity« als »the culturally idealized form of masculine character (in a given historical setting), which may not be the usual form of masculinity at all.«65 Körper und Stimme des Kastraten bilden davon ausgehend jedoch weiterhin eine Provokation für die Kultur- und Musikgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, so wie ihr Körper und ihre Stimme auch für ihre Zeitgenossen bereits ein Stein des Anstoßes, zumindest in Frankreich, waren. Zwischen den beiden hier untersuchten Polen Pierre Perrin/Abbé Raguenet bewegt sich also die Auseinandersetzung um die Präeminenz der italienischen oder französischen Oper in der Frühen Neuzeit, wenn wir den Blick auf die Frage nach der Besetzung der hohen Stimmen fokussieren. Stellen wir beide Positionen einander gegenüber, wird deutlich, dass beide je eigene Schwerpunkte bei der Beschreibung des Gesangskastraten wählen, die auf einander diametral gegenüberstehende Auffassungen vom generischen Status der Oper als Musiktheater schließen lassen: Perrin attackiert die Castrati als schweren ästhetischen Mangel der italienischen Oper, da sie gegen das aristotelische Regelwerk der Tragödie verstießen, somit nicht in die später so benannte doctrine classique integrierbar seien.66 Musiktheater ist folglich für Perrin in erster Linie Theater – mit Musik. Lully und Quinault werden diesen Gedankengang weiter verfolgen und die französische Oper bezeichnenderweise als tragédie – en musique entwerfen.67 Der Abbé Raguenet räumt in seinem Parallèle zwar ein, dass die Fran-

schichte der Männlichkeit, S. 132) und ausführlich Pepys’ geheimes Journal analysiert, ohne auf dessen Faszination für den Kastratengesang einzugehen (vgl. ebd., S. 113−119): Pepys: »Sekretär der Admiralität und großer Musikliebhaber«, hatte 1687 Siface, einen der ersten italienischen Gesangskastraten in England, für ein Konzert in seinem Haus vor ausgewählten Zuhörern gewinnen können (vgl. Ortkemper: Engel wider Willen (Anm. 18), S. 204). 65 Connell, R. W.: The Men and the Boys, Cambridge: Polity 2000, S. 69; Hervorhebung C. G. 66 Der Begriff doctrine classique ist nicht zeitgenössisch für das 17. Jahrhundert nachweisbar, zum feststehenden Interpretament wurde er vor allem durch Bray, La Formation de la Doctrine Classique (Anm. 28). Bereits Klaus Heitmann hat hingegen zu Recht betont: »Die doctrine classique ist zugleich eine doctrine baroque.« (»Frankreich. Einleitung«, in: August Buck/Klaus Heitmann u. a. (Hrsg.): Dichtungslehren der Romania aus der Zeit der Renaissance und des Barock, Frankfurt am Main: Athenäum 1972, S. 279). 67 Vgl. hierzu auch Kintzler: Poétique de l’opéra français (Anm. 23), S. 148−165. Kintzler arbeitet präzise Perrins Bedeutung für das Projekt einer französischen Oper heraus: »L’originalité de Perrin est de traiter la question sous forme théorique: il y a opéra, non pas lorsqu’on imite un opéra déjà existant [= italien], mais lorsqu’on

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zosen die besseren Musiktheaterstücke in Gestalt dieser tragédie en musique schufen – die Italiener komponierten aber die besseren Opern. ›Oper‹ wird beim Abbé Raguenet folglich als eine ganz eigene Gattung erkennbar, die sich gerade nicht auf das Regelwerk des Dramas reduzieren ließe. Die Kastraten werden dann auch nicht als Schauspieler in einem auf vraisemblance und bienséance gegründeten Theaterstück wahrgenommen, sondern vor allem anderen als brillante Sänger goutiert, die nicht mehr in einer tragédie en musique agieren, sondern in einer opera singen.68 Gattungspoetisch stehen sich somit zwei konkurrierende Genera gegenüber: Tragödie und Oper.

III.

AUSBLICK: THESEN ZU KÖRPER UND STIMME DES KASTRATEN

Abschließend will ich versuchen, die hier zusammengetragenen Lektürefrüchte thesenförmig in Bezug auf Körper und Stimme des Gesangskastraten als möglichen Ausgangspunkt für weitere Interpretationen dieses Phänomens zuzuspitzen und zugleich auszuweiten: 1. Die Singstimme des Kastraten ist in zweierlei Hinsicht eine Kunststimme bzw. eine künstliche Stimme.69 Durch jahrelanges Training im Konservatoest en mesure de fonder l’existence d’un véritable théâtre lyrique, pensable, intégrable dans le système poétique du théâtre. L’opéra ne doit pas se présenter isolément, il faut qu’il apparaisse comme lié au théâtre qui lui préexiste« (ebd., S. 149). 68 Der Abbé Raguenet geht aber sogar noch über diesen Befund hinaus, wenn er den Italienern insgesamt auch größeres schauspielerisches Talent als den Franzosen bescheinigt. Die Kastraten wären dem entsprechend die größeren Sänger und die besseren Schauspieler als die französische Alternativbesetzung (vgl. Parallèle des Italiens et des François (Anm. 48), S. 85: »Quant aux Acteurs; on peut les regarder ou comme des Musiciens qui ont leur partie à chanter; ou comme des personnages de Théatre [!] qui ont leur rôle à jouer; & les Italiens, sous l’un & sous l’autre de ces raports, surpassent encore les François«). 69 Bemerkenswerterweise stellt die zeitgenössische Terminologie in Italien diese Unterscheidung gerade auf den Kopf, da Kastraten als »soprani naturali« (Della Valle zit. nach Ehrmann-Herfort, Sabine/Seedorf, Thomas: »Stimmengattungen«, in: MGG2 (Anm. 1), Sachteil 8, Sp. 1796) bezeichnet, Altisten bzw. Countertenöre avant la lettre aber als ›künstlich‹ wahrgenommen wurden (vgl. auch Schreuders Einschätzung, der dies als Paradoxon fasst: »La Haute-Contre«, o. S.). Zu verstehen ist diese Terminologie wohl wie folgt: Während der Kastrat auch in der Sopranlage auf das ›natürliche‹ Lungenvolumen eines erwachsenen Mannes zurückgreifen konnte, musste der soprano artificiale auf den ›Trick‹ bzw. die antrainierte Technik zurück greifen, die Kopfstimme als Singstimme für die höheren Lagen

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rium wurde sie – wie auch die Singstimme der Frau – zur Stimme des Belcanto geformt und ist daher auch von der Sprechstimme des Kastraten klar zu unterscheiden. Hinzu kommt aber, dass diese Stimme ein vom Menschen geschaffenes Kunstprodukt ist,70 ›unnatürlich‹ in dem basalen Sinn, als dass sie in der Natur nicht vorkommt. Erst ein (pseudo-medizinischer) Eingriff schafft die Bedingung der Möglichkeit der Kastratenstimme. 2. Stimme und Körper des Kastraten weisen ihn als frühes, vom Menschen geschaffenes Experiment am eigenen Körper/an der eigenen Menschlichkeit aus. Der Kastrat ist bereits ein Homunculus, lange bevor man sich in Gothic Novel (z. B. Frankenstein) und Science Fiction (Cyborgs71) über künstliche Menschen Gedanken machte.72

hinzu zu ziehen. Dies belegt aber unabhängig von diesem Erklärungsversuch, dass im Italien des 17. und 18. Jahrhunderts eine erstaunliche Gewöhnung des Publikums an das Phänomen der Kastratenstimme statt fand, die davon ausgehend zur Konvention der Barockoper werden konnte. In diesem Kontext ist daher vor allem auch Woykes Untersuchung im vorliegenden Band von großem Interesse, die für Italien den Schluss zulässt, dass dort das Außergewöhnliche ab einem gewissen Zeitpunkt womöglich in erster Linie als Konvention ›normalisiert‹ wurde (vgl. hierzu auch Barbier: »Über die Männlichkeit der Kastraten« (Anm. 48), S. 136 f.), wohingegen die Reaktionen der übrigen europäischen Opernkenner und -gänger des Barock hinreichend das Gegenteil belegen, nämlich die Faszination für das Außergewöhnlich-Künstliche dieser Stimme. 70 Vgl. auch Gordons Einschätzung: »[T]he castrato’s body underwent a two-stage modification, comprised of the surgery, followed by training. [... E]very element of the castrati’s training participated in a strategy of recreating their bodies for the purposes of singing.« (»The Castrato Meets the Cyborg« (Anm. 39), S. 113) 71 Vgl. Gordons Deutung des Kastraten als ›prämodernem Cyborg‹ (»The Castrato Meets the Cyborg« (Anm. 39), v. a. S. 94−96 u. S. 111−118: »Early Modern Cyborgs«). 72 Die Anthologie »Menschenversuche« beinhaltet als ältesten Text eine Schrift von 1756 (vgl. Pethes, Nicolas u. a. (Hrsg.): Menschenversuche, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 466). Zu dieser Zeit blickte die sogenannte euphonische Kastration (vgl. Malkiewicz, Michael: »Zur Darstellung der Figur des Kastraten«, in: Gabriele Brandstetter/Sibylle Peters (Hrsg.): De figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München: Fink 2002, S. 295, Anm. 22) bereits auf mehr als 150 Jahre Geschichte zurück. Der Unterschied zum Menschenversuch der beginnenden Moderne liegt aber darin, dass die ›Körpermodifikation‹ der euphonischen Kastration im 17. und 18. Jahrhundert keinem wissenschaftlichen, sondern einem künstlerisch-musikalischen Zweck diente. Es bleibt aber im wörtlichen Sinn sehr wohl ein Herumexperimentieren am menschlichen Körper, da man zu dieser Zeit ja noch nicht einmal den Zusammenhang von (entfernten) Hoden und Stimme erklären konnte.

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3. Seine unnatürliche Stimme kann nach Pierre Perrin und dem Abbé Raguenet ganz unterschiedliche Wirkungen entfalten. Das Publikum erkennt zwar noch das Gemeinsame als Menschliches am Kastraten,73 zugleich wird aber auch der irritierende, unheimliche Abstand spürbar, der Männer wie Frauen vom Kastraten trennt.74 Zu prüfen wäre also, ob die Sopranstimme eines erwachsenen Mannes nicht dem Unheimlichen nahe steht, wie es von Sigmund Freud beschrieben wurde. Sie wäre dann das akustische Signum der Kastration und brächte den ins Unbewusste verdrängten Kastrationskomplex wieder ins Bewusstsein.75 Gelächter und Abscheu, wie sie Perrin für das französische Publikum annimmt, wären mit Freud als Verdrängungsmechanismen zu deuten, die das Unheimliche der männlichen Sopranstimme gerade abwehren sollen.76 Rätselhaft bleibt aber die gegenteilige 73 Folgt man Feldman in diesem Punkt, dann gerät aber in der Kritik der Aufklärung am Kastratentum gerade auch »their very humanness« ins Zentrum der Auseinandersetzung (vgl. »Denaturing the Castrato« (Anm. 36), S. 179). 74 Ansätze wie der von Liebscher dürften daher wohl zu kurz greifen, wenn das »Kastratentum« als Effekt des von Laqueur für die Frühe Neuzeit untersuchten one-sex model gedeutet wird (vgl. »Das Kastratentum im Diskurs von Thomas Laqueurs ›one-sex model‹«, in: Freia Hoffmann/Jane Bowers u. a. (Hrsg.): Frauen- und Männerbilder in der Musik. FS für Eva Rieger, Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 2000, S. 49 f.). Außen vor bleibt hierbei die Wahrnehmung der Zeitgenossen, die – wie der Abbé Raguenet – betonen, die Kastratenstimme sei gerade nicht mit einer Frauenstimme zu verwechseln. Wenn also die Zeitgenossen hier einen deutlichen Unterschied wahrgenommen haben, sollten wir dies nicht mit einem prämodernen medizinischen Modell sofort wieder einebnen. Die von Liebscher behauptete »Auswechselbarkeit der Geschlechter« (ebd., S. 49) hatte nämlich klare Grenzen auf der Opernbühne, die aber gerade nicht nach anatomischen Vorstellungen verliefen, sondern zwischen hohen und tiefen Stimmen gezogen wurden: Zwar konnte man als Komponist auf Sopranistinnen in einer Hosenrolle zurückgreifen, wenn kein Kastrat zur Verfügung stand, undenkbar wäre es aber gewesen, den primo uomo mit einem Tenor oder Bass zu besetzen. Das one-sex model bedeutet also für die Barockoper gerade keine völlig »fließenden Gender-Koordinaten« (ebd., S. 49): Hegemoniale Männlichkeit verlangte auf der Bühne der italienischen Barockoper nach einer Alt- oder Sopranstimme. 75 Vgl. Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, in: ders.: Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Künstler, Frankfurt am Main: Fischer 42008, S. 135−172, hier S. 150−152. Als »unheimlich«, »uncanny« und »hair-raising« empfindet auch Bergeron die Stimme des ›letzten Kastraten‹ Moreschi und wirft davon ausgehend die spekulative Frage auf: »if the faded, scratched patina of Moreschi’s twentieth-century voice gives us chills, who knows what effect Farinelli’s might have had?« (»The Castrato as History« (Anm. 4), S. 175). 76 Zwischen Faszination, horreur und risée schwanken nach Barbiers Auskunft übrigens immer noch die Reaktionen der ZuhörerInnen auf die Moreschi-Aufnahme: »Ich habe bei meinen Vorträgen festgestellt, daß das Anhören dieser Aufnahme heutzutage sämtliche Arten von Reaktionen hervorruft: Einige Zuhörer sind bis

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Reaktion – Faszination und Verehrung in Italien und später auch in England (»One God, one Farinelli«), da sich Freud auf das Unheimliche als Teil der »abstoßenden, peinlichen [Gefühlsarten]« konzentriert und es zugleich als ganz eigenen Modus des »Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden« fasst.77 4. Vom Unheimlichen und Unnatürlichen ist es aber nur ein kleiner symbolischer Schritt zum Übernatürlichen, Übermenschlichen und Numinosen; dies bietet einen Erklärungsansatz, warum übermenschliche, heroische bis göttliche Rollen im italienischen Barock nach einer außergewöhnlichen Stimme verlangen, warum also z. B. Herkules, Alexander der Große und auch häufig die pagane Götterwelt von Kastraten auf der Bühne verkörpert wurden.78 Dies hat Ortkemper bereits pointiert zusammengefasst: Die Stimme der Kastraten erfüllte den Wunsch nach einem nicht-menschlichen Klang. [...] Sie erhob so die dargestellte Person über das Menschliche hinaus. Durch die Künstlichkeit der Kastratenstimme wurden Götter und Heroen auf der Bühne darstellbar. [...] Die darzustellenden Helden waren Übermenschen. Sie sangen deshalb mit einer übermenschlichen Stimme, buchstäblich ›in den höchsten Tönen‹.79

5. So sehr sie auch im Alltagsleben Angriffen auf ihre (anatomisch beschädigte) Männlichkeit ausgesetzt waren,80 verkörperten die Kastraten als Heldensoprane auf der Bühne gerade das Ideal hegemonialer Männlichkeit (nach Connell) in der Frühen Neuzeit, ein Ideal, dessen Theatralität, Künstlichkeit und prinzipielle Unerreichbarkeit außerhalb der Bühne wirksam durch ihre Sopran- und Altstimmen ausgestellt wurde.81 Ob das Publikum in ihnen

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zu Tränen gerührt, andere lächeln und schneiden Grimassen, wieder andere empfinden ein so starkes, unerklärliches Unwohlsein, daß sie die Aufnahme kein zweites Mal anhören wollen.« (Barbier: »Über die Männlichkeit der Kastraten« (Anm. 48), S. 135) Vgl. ebd., S. 137. Barbier deutet dem gegenüber das Besondere der barocken Opernhelden als eine hermaphroditische Hybridfigur, »Mann, Frau und Kind« in einer Person: »Orpheus, Renaud [Rinaldo] oder Artaxerxes waren dann [darum?] doppelt so bewundernswert, da sie sowohl über männliche Körperkraft wie [!] auch über weibliche Anmut verfügten, zwei Trümpfe, die sich in einer hybriden Sinnlichkeit verbargen.« (Barbier: »Über die Männlichkeit der Kastraten« (Anm. 48), S. 149 u. 136) Ortkemper: Engel wider Willen (Anm. 18), S. 27. Vgl. Barbier: Histoire des castrats (Anm. 60), S. 170−176. Sibylle Unsers interessante Studie zur »Männlichkeit« des Kastraten arbeitet sich bereits an Connells Masculinities ab (vgl. Der Kastrat und seine Männlichkeit, Hamburg: Diplomica 2009, S. 20−25) und kommt auch zunächst zu prinzipiell ver-

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aber die Allegorie von Männlichkeit82 wahrnahm, hing davon ab, ob es die illusio teilte, dass z. B. die Rolle eines Cäsar oder Alexander nach einer Sopranstimme verlangt, eine illusio,83 die in Frankreich jedenfalls nicht heimisch wurde. Begreift man die Gesangskastraten somit als Verkörperungen eines höchst barocken, da trügerischen und hyperbolisch übersteigerten Ideals hegemonialer Männlichkeit, wird auch deutlich, welcher Abstand sie in mehrfacher Hinsicht von Frauen und Männern im Publikum abhob. Diesen unheimlichen Abstand, der die Kastraten vom Rest der Menschheit trennt, hat auch der Abbé Raguenet nachdrücklich unterstrichen: »il n’y a point de voix ny d’homme ny de femme au monde si flexibles que celles de ces Castrati [...].«84 Damit sind wir aber auch wieder am Ausgangspunkt dieses Aufsatzes, bei der Kastratenstimme als notwendiges Rätsel85 angelangt, denn der Abbé Raguenet betont zugleich, sie ließe sich streng genommen nicht beschreiben, man müsse sie hören: »un agrément qu’on ne sauroit décrire, il faut l’en-

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gleichbaren Ergebnissen: »Wenn sie [= die Kastraten] jedoch den Wechsel in das männliche Fach schafften, so stellten sie nicht irgendeinen Männertyp dar, sondern ein Männlichkeitsideal«, »ein Bild von absoluter Männlichkeit« (ebd., S. 42 u. 54). Dennoch ordnet sie die Kastraten sowohl gesellschaftlich als auch in ihrer Rolle als Heldensoprane pauschal der »[u]ntergeordnete[n] Männlichkeitsgruppe« nach Connell zu (vgl. ebd., S. 58 u. Abb. 11, S. 62). Ihre Thesen kranken leider insgesamt an einer problematischen Darstellung, die an vielen Stellen wissenschaftlichen Standards nicht genügt. Anschlussfähig ist diese Interpretation der Gesangskastraten als musikalische Repräsentanten einer frühneuzeitlichen hegemonialen Männlichkeit (Connell) an Leopolds Deutung: »Kastraten sind [...] ein musikalisches Symbol für höfisches [= also elitäres!] Sozialverhalten, ein Identifikationsmuster für männliches Betragen [...]« bzw. kurz: »ein Männlichkeitsideal« (»Not Sex but Pitch« (Anm. 16), S. 222 u. 240). Dieses ›Männlichkeitsideal‹ erkennt Schmale wiederum idealtypisch in der »Figur des Helden« (Die Geschichte der Männlichkeit (Anm. 64), S. 129) für die Epoche des Ancien Régime (17./18. Jahrhundert) ausgebildet und arbeitet überzeugend heraus, dass dieses Ideal auch für Frauen erreichbar war – auch dies evtl. ein Ansatzpunkt für die Interpretation des Heldensoprans, denn was Schmale als Historiker erhebt, ließe sich auf die opera seria gut übertragen: »Held und Heldin sind nicht so sehr komplementär [wie später im Bürgertum], sondern gleichartig strukturiert.« (Ebd., S. 136) Den Begriff entlehne ich Bourdieu (vgl. Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris: Seuil 21998, S. 535−541). Raguenet: Parallèle des Italiens et des François (Anm. 48), S. 77 (Hervorhebung C. G.; »Castrati« im Original kursiviert). Bergeron bietet hierzu eine treffende geschichtsphilosophische Deutung des Kastraten: »If the truth of history can reside in [...] those impossible gasps that separate present from past, then the figure of the castrato offers a kind of chilling embodiment of that truth, a poignant testimony to things that can never be recovered.« (Bergeron: »The Castrato as History« (Anm. 4), S. 167)

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tendre«.86 Ausführlicher wird die prinzipielle Unbeschreiblichkeit der ephemeren Singstimme der virtuosi im Eunuchism Display’d, einer Schrift von 1718, entfaltet: There can be no finer Voices in the World, and more delicate, than of some Eunuchs [genannt werden u. a. Pasqualini und Pauluccio ...]. It is impossible to give any tolerable Idea of [...] the Beauty of their several Voices: In short, they are above Description, and no one can possibly entertain any Notion of them but those who have had the 87 Pleasure to hear them [...].

Das Zentrum, um das dieser Aufsatz kreiste, erweist sich davon ausgehend als black box und kann als besondere Provokation für jeden hermeneutischen Ansatz begriffen werden, der verstehen will, was nicht mehr ist. Da die »Wut des Verstehens«88 aber auch in Bezug auf die Kastratenstimme mit Sicherheit nicht abklingen wird, bleibt uns wohl doch nur das (hermeneutische) Umkreisen dieses Zentrums im Spiegel der Beschreibungen, die uns die Zeitgenossen zu diesen unbeschreiblichen Stimmen – leicht paradoxal – hinterlassen haben.

86 Raguenet: Parallèle des Italiens et des François (Anm. 48), S. 78. 87 Anonym [Robert Samber?]: Eunuchism Display’d..., London: E. Curll 1718, S. 29 f. Es scheint sich hierbei um eine Übersetzung bzw. Bearbeitung des Traité des eunuques von Charles Ancillon (1707) zu handeln. Nach Peschel/Peschel findet sich die hier zitierte Stelle jedoch gerade nicht im französischen Original, sondern stellt eine »amplification« dar (vgl. »Medicine and Music« (Anm. 5), S. 23). 88 So der (Schleiermacher entlehnte) Titel von Hörischs Polemik gegen die Hermeneutik (Die Wut des Verstehens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 21998).

Kastraten und Sängerinnen der italienischen Oper des 17. und frühen 18. Jahrhunderts Überlegungen zur Medialität von (hoher) Stimme, Körper und Gebärdenkunst SASKIA WOYKE

Im Anschluss an anthropologische Studien kann die Achse Hand-Gesicht als zentraler Aspekt der theatralische Aufmerksamkeitsstruktur gelten; in der Oper scheint darüber hinaus der Körper zusätzlich polarisiert, indem Stimmapparat und Lungensystem fokussiert werden.1 Damit ist ein Thema berührt, das auch in der Musikwissenschaft spätestens seit Roland Barthes Aufmerksamkeit erfährt.2 Uns interessiert nun besonders folgende Frage: Sollte man in der Kastratenstimme, zumal bei gleichzeitigem Anblick eines Kastraten, auch einen Körper hören? Zu dieser Frage seien im Folgenden einige Überlegungen angestellt, die sich auf die spezifische Situation des post-tridentinischen Italiens beziehen. Die Frage stellt sich umso mehr, wenn man die auf der Opernbühne und vermutlich auch bei Kammerkantaten sichtbare Gebärdenkunst mit einbezieht. Denn sie war es, die ausgehend von der Struktur der gesungenen Sprache und Komposition statt eines Regisseurs die Bewegungen der Sänger bestimmte. Zumindest viele auf zeitgenössischen Karikaturen abgebildete

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Siehe hierzu André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt am Main: Suhrkamp 52009, sowie die einführenden Bemerkungen in diesem Band. Siehe hierzu: Roland Barthes: Die »Körnung« der Stimme. Interviews 1962−1980, hrsg. v. Agnes Bucaille-Euler/Birgit Spielmann/Gerhard Mahlberg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Roland Barthes: Il corpo della musica, Turin: Einaudi 1985.

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Kastraten verfügten offenbar über einen hohen Wuchs und entsprechende Extremitäten, die diese Kunst noch eindrucksvoller gemacht haben dürften.3 Die Mehrheit der WissenschaftlerInnen, gleich welcher Disziplin, ging und geht vom Mithören des Körpers in der Stimme aus, im Gegensatz zu einer Minderheit, die eine Abstraktion der in ihrer Virtuosität überbordenden Kastratenstimmen annahm4 oder das Urteil von seelenlosen singenden Automaten, das jedoch nicht aus der eigentlichen Kastratenzeit stammt, wiederholte.5 Lediglich vereinzelte Autoren stellten die Wertigkeit der guten Ausbildung und der Höhe der Stimme über jene des Geschlechts und damit eines Aspekts des Körpers der Singenden, wenn auch nur bezogen auf Händels Besetzungspraxis in London und das vielkritisierte one-sex model des Galenos.6 Die Annahme vom Körper in der (hohen) Stimme erfolgte jedoch, was Studien zum post-tridentinischen Italien betrifft, ohne Bezug auf eine größere zeitgenössische Quellenbasis. Wenn überhaupt, griff man auf nichtitalienische zeitgenössische Quellen oder Quellen aus der auf die Kastratenära folgenden Zeit zurück. Insgesamt wurde erstens, implizit und ohne naturwissenschaftliche Beweisführung, eine Art anthropologische Konstante angenommen, die besage, dass sich der Hörer einer Stimme sofort einen da3

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Ortkemper meint, die Kastraten seien im Extremfall bis in das vierte Lebensjahrzehnt hinein gewachsen und hätten eine »über dem Durchschnitt liegende […] Körpergröße« aufgewiesen, vgl. Hubert Ortkemper: Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten. Eine andere Operngeschichte, München: dtv 1995, S. 40. Doch fehlen noch wirklich überzeugende Belege. Die Tatsache, dass überlieferte Karikaturen Kastraten im Verhältnis zu Sängerinnen häufig als übergroß darstellen, darf aufgrund der zahlreichen Implikationen, die zeichnerische Produktion bedingen, nicht als Beweis gewertet werden, ebenso wenig wie das mögliche Feststellen eines größeren Längenwachstums etwa kastrierter Tiere. Paolo Padoan: Voci venete nel mondo: i cantanti lirici veneti nella storia dell’opera e del canto, Taglio di Po: Arti grafiche Diemme 2001, S. 16. Zitiert nach Gerold Gruber: Der Niedergang des Kastratentums. Eine Untersuchung der bürgerlichen Kritik an der höfischen Musikkultur im 18. Jahrhundert, aufgezeigt am Beispiel der Kritik am Kastratentum – mit einem Versuch einer objektiven Klassifikation der Kastratenstimme, maschinenschriftliche Dissertation, Universität Wien 1982. Christopher B. Balme: »Of pipes and parts. Die Kastraten in der Darstellungstheorie des frühen 18. Jahrhunderts«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.): Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft, Tübingen: Niemeyer 1999, S. 127−138. Jürgen Schläder: »Ein Dutzend Novitäten für die Italiener. Dramaturgische Aspekte der Fassungen von Händels Oper ›Radamisto‹«, in: Hans Joachim Marx (Hrsg.): Beiträge zur Musik des Barock. Tanz, Oper, Oratorium, Bericht über die Symposien der Internationalen HändelAkademie Karlsruhe 1994 bis 1997, Laaber: Laaber 1998 (Veröffentlichungen der Internationalen Händel-Akademie Karlsruhe, 6), S. 155−172.

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zugehörigen Körper mit einem bestimmten Geschlecht, sei es auch ein weitgehend operativ entferntes, vorstelle. Zweitens wurde das Thema fast ausschließlich in Bezug auf Kastratenstimmen behandelt, obwohl, wie statistisch nachweisbar ist, quantitativ nahezu genauso viele Frauen wie Kastraten auf den Bühnen Italiens tätig waren, die zwar seltener, aber durchaus qualitativ genauso hochwertige Rollen wie Kastraten übernahmen.7 Drittens wurde die Wahrnehmung des Körpers des Kastraten in der Stimme automatisch mit dem Aufbau einer erotischen Beziehung des Hörers mit dem Sänger oder der von ihm interpretierten Rolle gleichgesetzt.8 Viertens verblieben die Untersuchungen bis auf wenige Ausnahmen in der einseitigen und wenig logischen Perspektive, dass der Kastratengesang und später auch der Frauengesang vor allem auf (die im Sei- und frühen Settecento aber in der Konnotation des heutigen Begriffs nicht existierende9) Homosexualität verweise.10 Nach dieser – zugegebenermaßen vereinfachenden – Standortbestimmung seien einige Zeilen aus Marco Beghellis Aufsatz »Erotismo canoro«, in denen er die Meinung der Mehrheit zusammenfasst, zitiert: […] quella voce che […] dal punto di vista fisiologico è uno dei caratteri sessuali cosiddetti secondari dell’essere umano […] e, sensibile agli sbalzi ormonali, viene condizionata nelle sue prestazioni artistiche dall’attività sessuale del cantante. L’emissione canora è di per sé esibizione acustica di corporeità: Non suono uscito da uno strumento

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Siehe dazu: Saskia Maria Woyke: »Zur so genannten gegengeschlechtlichen Besetzungspraxis. Nebst einer Besprechung von Kordula Knaus, Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber. Cross-gender casting in der Oper 1600 bis 1800, Stuttgart 2011 und Marco Beghelli/Raffaele Talmelli, Ermafrodite armoniche. Il contralto nell’Ottocento, Varese 2011«, in: ACT – Zeitschrift für Musik & Performance 3, H. 3 (2012), http://www.act.uni-bayreuth.de/de/archiv/201203/06_Woyke_Knaus_et_ al/index.html [Zugriff am 17.11.2014]. Kordula Knaus: Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber. Cross-gender casting in der Oper 1600 bis 1800, Stuttgart: Steiner 2011 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, 69). 8 In diese Richtung verweist bereits: Giacomo Casanova: Storia della mia vita, hrsg. v. Piero Chiara/Federico Roncoroni, Mailand: Mondadori 1983, Bd. 2, S. 337, zitiert nach Davide Daolmi/Emanuele Senici: »L’omosessualità è un modo di cantare«, in: Il saggiatore musicale 7.1 (2001), S. 137−178, hier S. 160. 9 Romano Canosa: Sessualità e inquisizione in Italia tra Cinquecento e Seicento (1994), Rom: Sapere 2000; auch R. C.: Storia di una grande paura. La sodomia a Firenze e a Venezia nel Quattrocento, Mailand: Feltrinelli 1991; Gabriele Martini: Il vitio nefando nella Venezia del Seicento: aspetti sociali e repressione di giustizia. Rom: Jouvence 1988; Michel Foucault: La cura di sé. Storia della sessualità, vol. 3. Traduzione di Laura Guarino, Mailand: Feltrinelli 1985. 10 Terry Castle: »In praise of Brigitte Fassbaender. Reflections on Diva-worship«, in: Corinne Blackmer/Patricia J. Smith (Hrsg.): En Travesti: Women, gender, subversion, opera, New York: Columbia University Press 1995, S. 20−58.

70 | SASKIA WOYKE meccanico, ma prodotto dal fisico stesso del cantante, flusso corporeo scaturito dalle cavità più riposte, che ne determinano la peculiare »grana«;11 non timbro generico, precodificato dalla tecnica costruttiva degli strumenti, ma peculiare ed esclusivo, altamente individualizzato, immagine acustica di una specifica carnalità: […] (»la ›grana‹ è il corpo nella voce che canta«, Barthes)12 la quale serba quel tanto di materiale, di »penetrativo«, da consentire un’eccitante frizione col corpo sensoriale dell’ascoltatore […] (»sentivo [i suoni del cantante], come dire, agitarsi sotto la lingua, sciogliersi nel succo delle muscose, colorarsi al roseo palatino, intiepidirsi contro l’avorio dei denti e infine gonfiarsi e sbocciare all’avvicinarsi delle labbra«):13 »e questo rapporto è erotico« […].14

Die Ausweitung dieser Meinung durch Joke Dame, wonach der Phallus des Kastraten in seine Stimme versetzt sei,15 oder durch Wayne Koestenbaum, der im weit geöffneten Mund der Sängerin ein weibliches Geschlechtsorgan sah,16 ließ nicht lange auf sich warten. Die Schlussfolgerungen einer Medialität der Stimme, die auf Körperlichkeit und Sexualität fokussieren sollte, scheinen jedoch aus einer Übertragung späterer Perspektiven, die spätestens mit Sigmund Freud der Sexualität eine dezidierte Aufmerksamkeit widmeten und widmen, auf die Stimme des Sei- und frühen Settecento zu resultieren. Angesichts der Tatsache, dass auch Casanova, freilich eher allgemein, über die Funktion der Kastraten als Sexualobjekte geschrieben hatte, ergab sich hier sogar ein gewisser Anknüpfungspunkt. Letztere These hat übrigens Giovanni Sole, ohne jedoch auf neue Quellen zurückgreifen zu können, kürzlich stark gemacht.17 Der einzige wirkliche Beweis konnte in einem Vorkommnis, das einen heranwachsenden künftigen Kastraten betraf, durch Roger Freitas erbracht werden,18 eben-

11 Dominique Fernandez: Porporino, o I misteri di Napoli (1974), Mailand: Rusconi 1976, S. 56. 12 Roland Barthes: L’ovvio e l’ottuso. Saggi critici III (1982), Turin: Einaudi 1985, S. 265. 13 Dominique Fernandez: Porporino (Anm. 11), S. 122 f. 14 Roland Barthes: L’ovvio e l’ottuso (Anm. 12), S. 265. Gesamtes Zitat nach: Marco Beghelli: »Erotismo canoro«, in: Il Saggiatore musicale 1 (2000), S. 123−136. 15 Joke Dame: »Unveiled voices. Sexual difference and the castrato«, in: Philip Brett u. a. (Hrsg.): Queering the pitch: The new gay and lesbian musicology, New York: Routledge 1994, S. 139−154. 16 Wayne Koestenbaum: The queen’s throat: Opera, homosexuality, and the mystery of desire, New York: Poseidon 1993. 17 Giovanni Sole: Castrati e cicisbei: ideologia e moda nel Settecento italiano, Soveria Mannelli: Rubbettino [2008]. 18 Roger Freitas: Portrait of a castrato. Politics, patronage and music in the life of Atto Melani, Cambridge: Cambridge University Press 2009, S. 304.

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so wie die Satiren Salvatore Rosas19 ernst zu nehmen sind. Beide haben zudem gemeinsam, dass sie sich nicht auf die Mehrheit des Publikums von Kastraten- oder Frauenstimmen, sondern quantitativ wenige, da privilegierte, Hörende beziehen. Dieser Schwerpunkt wurde insbesondere seitens der damals neuen amerikanischen Queer-Studies,20 die sich gegen zahlreiche gesellschaftliche Widerstände zu behaupten suchten, vertieft und sicherlich radikaler vertreten, als eigentlich intendiert war. Wie später gezeigt werden wird, ist sogar das heutige Marketing innerhalb der Musikindustrie hiervon wesentlich beeinflusst worden, und dies sogar dann, wenn es um (damals weitgehend nicht erwünschte) Countertenöre geht, die ehemalige Kastratenpartien interpretieren. Hingegen ist zu fragen, ob das Anhören einer Singstimme in jedem Fall unmittelbar zu einer – bewussten oder unbewussten – Reflexion von Körperlichkeit und mehr noch, Sexualität führen muss bzw. im 17. und frühen 18. Jahrhundert führen sollte. Für heutige Stimmaufführungen wäre hier ein systematischer Ansatz der Musikwissenschaft, der empirische Zuschauerbzw. Zuhörerbefragungen vornehmen würde, vorzuziehen. Da für damalige Stimmaufführungen ein solcher nicht möglich ist, weil sich eine Aufführungsanalyse, die im Allgemeinen eine ›leibliche Ko-Präsenz‹ von Aufführenden und Publikum als Grundlage haben muss,21 verbietet, muss die Frage anders akzentuiert gestellt werden: War die Wahrnehmung von Körperlichkeit und vielleicht auch Sexualität in der Stimme intendiert? Damit wäre die Vorgehensweise ebenso theaterhistoriographisch wie historisch-musikwissenschaftlich. Hier ist eine Analyse der damaligen Stimmbeschreibungen, die in diesem Rahmen nur beispielhaft gezeigt werden kann, aufschlussreich. Denn eine solche ist ein erster Baustein, um hinterfragen zu können, ob die beschriebenen Thesen von einer Medialität der Stimme, die, vor allem gemeinsam mit der Sichtbarkeit des Sängers und der Sängerin, auf ihre Körperlichkeit verweist, zutreffen könnten oder aber zu differenzieren sind. Denn diese – immer im Horizont der Gegenreformation abgefassten − Stimmbe-

19 Salvator Rosa: »La musica, in: ders.: Satire, hrsg. v. Danilo Romei/Jacopo Manna, Mailand: Mursia 1995. 20 Gedankt sei an dieser Stelle Anno Mungen, der mir bereits vor Jahren seine Bibliothek zu Singstimmen dieser Forschungsrichtung zur Verfügung stellte. 21 So beispielswiese Erika Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches, Tübingen/Basel: Francke 2010, S. 24 f.

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schreibungen sollten sowohl die Rezeption der Singstimmen mitbestimmen als auch künftiges Hören konditionieren. Eine aufschlussreiche Quelle zum späten Seicento ist die venezianische Zeitschrift »Pallade veneta«,22 die eine Funktion hatte, die jener der ›avvisi‹ ähnlich war. In ihr wurden auch Sängerinnen der Opernbühnen Venedigs beschrieben. Die folgenden Beschreibungen differenzieren nicht zwischen Sängerinnen auf der Opernbühne und Sängerinnen innerhalb von Aufführungen geistlicher Musik. Denn eine Gesamtanalyse aller Stimmbeschreibungen der »Pallade veneta« zeigt, dass hier keine wesentlichen Unterschiede in der Beschreibung bestehen. Zur Beschaffenheit der Stimmen und der Art des Singens erfahren wir, dass eine Sängerin »mit sehr viel Anmut« gesungen habe. Eine Sängerin/Stimme hat eine »anmutige Art«, ein »so edles Portamento«, eine andere »die süße Art des Portamento«.23 Der Gesang ist durch Lieblichkeit/Sanftheit gekennzeichnet, die Stimmen sind lieblich (zweimal). Auch diese Sängerinnen singen mit einer »unerklärlichen Unmittelbarkeit«, mit Unbefangenheit/ohne Schüchternheit.24 Eine Stimme/Sängerin »überfliegt/überschwebt den musikalischen Himmel«.25 Die Sängerin ist »ein Engel in der Stimme«, »bekleidet sich so gut mit Leidenschaften«.26 Was die Wirkung der Stimmen anbetrifft, so ist davon die Rede, dass sie »jede Seele in Ekstase der Liebe versetzt/mit sich raubt«, sie »überwältigte«,27 sie »vielen das Paradies gab«,28 dass die Zuschauer »in so viel Zufriedenheit« versetzt worden seien, »dass ich nicht weiß, ob die Harmonie der

22 Eleanor Selfridge-Field (Hrsg.): Pallade Veneta: writings on music in venetian society: 1650−1750, Venedig: Fondazione Levi 1985 (Serie 3. Studi musicologici. Saggi di ricerca documentaria). 23 »con tanta grazia«, »grazioso modo«, »un portamento così nobile«, »la dolce maniera del portamento«; ebd., März 1687, Eintrag 25; Februar 1687, Eintrag 17; November 1687, Eintrag 60; Mai 1688, S. 222. »Una voce ornata con tanta grazia«, »con tanta grazia« (tre volte), »grazia particolare del canto«; Mai 1687, Eintrag 27; November 1687, Eintrag 62; März 1687, Eintrag 25; 27. Mai 1687, Eintrag 27; Juli 1687, Eintrag 39; ebd. 24 »franchezza inesplicabile«, »disinvoltura«; ebd., März 1688, S. 214; Februar 1687, Eintrag 17. 25 »sorvola traforetta«; ebd., Mai 1687, Eintrag 27. 26 »un angelo nella voce«, »si veste così bene degl’affetti«; ebd., Mai 1687, Eintrag 27; November 1687, Eintrag 61. 27 »rapisce ogn’alma in estasi d’amore«, »rapiva«, »rapisce ogn’alma in estasi d’amore«, »rapiva«; ebd., Januar 1687, Eintrag 4; Februar 1687, Eintrag 17. 28 »dà a molti il paradiso«, ebd., Januar 1687, Eintrag 4.

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Sphären mit ihrem süßen Kreisen mehr ausschütten kann«,29 sie »seufzen macht, wenn sie schmerzt, und Lachen sät, wenn sie sich freut«.30 Die Hervorbringenden werden bezeichnet als »Sirenen« (zweimal), »ein Chor von Sirenen, oder Musen, die Amazonen in der musikalischen Kunst zu sein scheinen«, als »eine reiche Mine von Musen und Seminar der Sirenen«, als »angenehme und manierenreiche Sängerinnen«, als »drei Sirenen, sagen wir drei Grazien«.31 Mehr wird zu ihnen nicht gesagt. Damit wird jegliche Aufmerksamkeit von den Körpern der Singenden abgelenkt und auf die Stimmen konzentriert. Denn auch Sirenen wurden im Sei- und frühen Settecento im kirchlichen Umfeld als himmlische Stimmen verstanden. Interessant ist nun, dass sich die Zuschreibungen, die die Artikel der »Pallade veneta« in Bezug auf den Gesang von Männern und Frauen auf dem Theater vornehmen, in der Mehrheit so gut wie nicht unterscheiden. Auch hier wird jegliche Körperlichkeit ausgeblendet, mit Ausnahme von seltenen, aber vorhandenen expliziteren Hinweisen, die ausschließlich Sängerinnen betreffen: in Bezug auf eine Stimme/Sängerin, sie »singe und bezaubere«, auf die Tatsache, dass das »Entrücken« durch die Stimme in Richtung der »Ekstase der Liebe« geschehe, dass sie »den Liebschaften Leben gaben«, dass es sich um eine »so gelehrte Bezauberung« handele, dass die Zuhörer »vom Blitz so großer Tugend/Kunstfertigkeit geblendet« gewesen seien, dass die Stimme »Erstaunen« hervorgerufen habe, dass es sich um eine »verführerische Sirene« handelte.32 Bedeutungsvoll ist die Formulierung: »indem sie die Luft mit der Süßigkeit ihres Atems verletzten«.33 Dies gilt auch für die Feststellung

29 »in tanto contento che non so se l’armonia delle sfere col suo dolce girare possa dispensarne di più«, ebd., August 1687, Eintrag 41. 30 »fa sospirar se si duole, semina riso se si allegra«, ebd., November 1687, Eintrag 61. 31 »Sirene«, »coro di Sirene o siano sei muse, che sembarno amazzoni dell’arte musicale«, »ricca miniera di muse e seminario di Sirene«, »tre Sirene, diciamole le tre Gratie«; ebd., 9.−16. September 1702, Eintrag 142; März 1688, Eintrag 80; Januar 1688, Eintrag 68; Mai 1688, Eintrag 90. 32 »canta e incanta«, »rapisce ogn’alma in estasi d’amore«, »davano vita agli amori«, »sì dotto incantesimo«, »abagliate al folgore di tanta virtù«, »meraviglia«, »stupore«, »lasciva Sirena«, »sirene non lusinghevoli«, »un gesto così proprio della scena«, »pareva incantato«, »rapisce ogn’alma in estasi d’amore«, »davano vita agli amori«, »meraviglia«, »stupore«, »lasciva Sirena«, »un gesto così proprio della scena«; ebd., Februar 1687, Eintrag 5; Januar 1687, Eintrag 4; 9.−16. September 1702, Eintrag 142; Mai 1688, Eintrag 93; ebd.; Mai 1687, Eintrag 27; November 1687, Eintrag 61. 33 Der Übertrag »nicht verführerische Sirenen« [»sirene non lusinghevoli ferendo l’aria con la dolcezza de’ suoi fiati«, 9.−16. September 1702, Eintrag 142] ist und bleibt auch bei Kenntnis der Kultur des späten Seicento unlogisch und ist somit

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»[sechs Sängerinnen] indem sie die Zunge zum Gesang lösten«. Diese weltlichen Stimmen sind im Vergleich zu Beschreibungen von Stimmen in der geistlichen Musik durch eine größere Aktivität einerseits (sie verletzten) und eine größere Gefährlichkeit andererseits (sie bezaubern, sie erwecken (offenbar weltliche) Liebe) gekennzeichnet. Dennoch bleibt diese, gemessen an der Gesamtheit der Beschreibungen zum Gesang, überaus schwach. Wie sieht es genau mit den Beschreibungen von Kastratenstimmen auf dem Theater seitens der »Pallade veneta« aus? Nur drei Bemerkungen sind hier vertreten: Die »Herren Cecchino de Grandi« (Sopran) und der Priester »Don Tomaso« werden anlässlich eines privaten Konzertes als »zwei echoende Sirenen« beschrieben, die »zur allgemeinen Zufriedenheit in einem kunstfertigen Duell den Entwurf [...] ihrer weiten Ideen gurrten«.34 Damit unterscheidet sich die Charakterisierung der Männerstimmen nicht im geringsten von jener der Frauenstimmen. Es sei noch die Beschreibung Giambattista Mancinis der Stimme des römischen Kastraten Baldassare Ferri (1610−1680) genannt. Zwar veröffentlichte Mancini sein Buch erstmals erst 1774, doch er hielt sich begrifflich getreu an die Termini von Beschreibungen von Kastratenstimmen des Seicento: Ferri habe, so Mancini, die schönste, ausgedehnteste, flexibelste, süßeste und harmonischste Stimme, die man je hätte hören können, besessen.35 Nach dieser Beschreibung der Beschaffenheit der Stimme folgt die ihres Ranges: Er sei ein einzigartiger Sänger gewesen. Danach schließt sich die Beschreibung der Wirkung seiner Stimme an: Er sei ein wunderbarer Sänger gewesen. Denn niemand, so die Zeitgenossen Ferris, habe die Schönheit seiner Stimme und die (göttliche) Gnade/Anmut (»grazia/e«) seines Gesangs erklären können. Mit seinem pathetischen Singen habe er die Herzen geraubt (»rapito«). Es folgt eine Beschreibung seiner Technik: Er habe den höchsten Grad der Perfektion in jedem Genus des Gesangs – ob fröhlich, stolz, traurig oder zärtlich – besessen. In nur einem Atem sei er über zwei Oktaven auf- und abgestiegen, indem er unablässig ge-

wahrscheinlich nicht korrekt übertragen; höchstens wäre eine Bedeutung im Sinn von »tugendhafte Sirenen, die die Luft mit der Süßigkeit ihres Atems verletzten« möglich. ebd., 9.−16. September 1702, Eintrag 142. 34 »Signori Cecchino di Grandi [e] Don Tomaso, due eccheggiati sirene«, »che ad universal sottisfatione garregieranno in virtuoso duello il sfoglio delle loro vaste idee.«, ebd., 26. August−2. September 1702, Eintrag 136. 35 Giambattista Mancini: Pensieri e riflessioni pratiche sopra il canto figurato. Di Giambattista Mancini, maestro di canto della corte imperiale, e accademico filarmonico, Wien: Ghelen 1774; Giambattista Mancini: Riflessioni pratiche sul canto figurato di Giambattista Mancini maestro di canto dell’Imperial Corte di Vienna, accademico filarmonico (31777), Bologna: Forni 1970, S. 17.

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trillert habe […].36 Auch hier ist der Körper Mancinis nicht von Belang, ebensowenig wie Formulierungen verwendet werden, die von der Gesangskunst Mancinis auf seinen Körper verweisen würden. Dies entspricht der Tradition des Seicento. Zusammenfassend und unter Untersuchung weiterer Quellen der Zeit kann bestätigt werden, dass die Stimmbeschreibungen des Sei- und frühen Settecento versuchen, die Anbindung der Stimmen an den Körper zu verschweigen und sie als von jenen losgelöst zu proklamieren. Gleichzeitig wird die Ekstase der Hörenden, abgesehen von der Hörerfahrung in Bezug auf einige Sängerinnen im Theater, als eine geistige, religiöse beschrieben. Der Einbezug von Stimmbeschreibungen von Stimmen im geistlichen Bereich, von dem die hohen Stimmen, insbesondere die Kastratenstimmen, zuallererst und höchstwahrscheinlich in größter Quantität, eingesetzt wurden, ist dabei umso überzeugender, als sich wie gezeigt kaum Unterschiede in den Stimmbeschreibungen weltlicher und geistlicher Stimmen ergaben. Parallel sollen einige Hinweise in zeitgenössischen Traktaten gegeben werden. Die aktuelle italienische Sexualitätsforschung zum Sei- und frühen Settecento fand eine bezeichnenderweise eher geringe Zahl an Quellen zur Sexualität auf, wenn man Gesetzgebungen und Gerichtsakten betrachtet.37 Andere Lebensbereiche waren, wie insbesondere Margherita Pelaja und Lucetta Scaraffia betonen, weit detaillierter geregelt als jener der Sexualität.38 Selbstverständlich existierte auch noch keine Pathologisierung der Sexualität, wie sie etwa später in Bezug auf die Homosexualität vorgenommen wurde. Überhaupt gilt das Vermeiden von Aussagen zur Sexualität durch Übertragen auf eine höhere, geistige Ebene als Kennzeichen der Gegenreformation.39 Dies entspricht den genannten Beobachtungen der Stimmbeschreibungen. Speziell Sängerinnen im weltlichen Bereich wurden, seien sie Beispiele der Antike oder der Gegenwart, in allgemeinen Traktaten in der Mehrheit der Fälle als verabscheuenswert verdammt oder als Lamia beschrieben.40 Gleiches galt für singende Imperatoren wie beispielsweise Kaiser Nero.41

36 Giambattista Mancini: Riflessioni pratiche (Anm. 34), S. 17. 37 Dies bestätigen: Romano Canosa: Sessualità e inquisizione in Italia tra Cinquecento e Seicento (1994), Rom: Sapere 2000; ders.: Storia di una grande paura (Anm. 9.). Martini: Il vitio nefando nella Venezia del Seicento (Anm. 9). 38 Margherita Pelaja/Lucetta Scaraffia: Due in una carne, Bari: Laterza 2008. 39 Ebd., S. 82. Dabei stellte allein die eheliche Sexualität insofern eine Ausnahme dar, als sie nicht nur geistig, sondern auch körperlich bejaht wurde. Ebd., z. B. S. 123. 40 Tomaso Garzoni: La piazza universale di tutte le professioni del mondo, Venedig: Michiel Miloco 1665, S. 325. Auch der Komponist Pietro Andrea Ziani spricht in ei-

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Die Gefährlichkeit der Stimm- und Hörorgane war auch seitens der Medizin unbestritten. Dies zeigt die im 17. und 18. Jahrhundert mehrfach wieder aufgelegte »Chirurgie« des Arztes und Chirurgen Leonardo Fioravanti aus Bologna, geboren 1517, gestorben 1588 und einer der einflussreichsten Ärzte seiner Zeit.42 In seine Abhandlung fügte er je einen »Diskurs« »über die Kehle«,43 »über die Zunge«44 und »über das Ohr«45 ein. Die Zunge sei es, die die Erbsünde über die Menschen gebracht habe, denn wenn Eva nicht mit der Schlange geredet hätte, wäre das Unheil nicht passiert; die Zunge Adams habe den Apfel in die Kehle befördert.46 Zungen redeten schlecht über den Nächsten, insbesondere jene von Frauen.47 Eine solche Auffassung wurde auch den Gläubigen kommuniziert, so etwa im Handbuch »Sichere Straße zum Paradies« von 1677, das sich durch eine zutiefst pessimistische Sicht auf die Welt auszeichnete.48 Die »nicht gut gepflegte und dumme Zunge« sei ein »ungezähmtes wildes Tier«,49 »ein Degen mit zwei Klingen, der in der gleichen Zeit die eigene Seele und jene deines Bruders ermordet.«50 Mehr Menschen stürben durch schlechte Nachrede, als Seelen durch den Degen verdorben würden.51 Dagegen sei die Zunge den Menschen ausschließlich zum Lob Gottes gegeben worden, zum Entflammen zu seiner göttlichen Liebe. Die Konsequenz für die Betenden lau-

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nem seiner Briefe verächtlich von einer Sängerin als Lamia, einer Figur also, die in der griechischen Mythologie von einer schönen Königin in einen kinderverschlingenden Dämon verwandelt wird, in der frühen Neuzeit als ›Schlangenfrau‹ für die sexuelle Verführung steht. Vgl. Saskia Maria Woyke: Pietro Andrea Ziani. Varietas und Artifizialität im Musiktheater des Seicento, Frankfurt u. a.: Lang, S. 198 ff. Giovanni Niccolo Bandiera: Trattato degli studj delle donne, in due parti diviso, opera d’un’accademico Intronato, dedicata a sua eccellenza la N. D. procuratessa Lisabetta Cornara Foscarini, Parte prima-seconda, Venedig: Francesco Pitteri, 1740, S. 281. Salvator Rosa: »La musica« (Anm. 18), S. 68 f. Leonardo Fioravanti: La cirurgia dell’eccell. dott. e cav. m. Leonardo Fioravanti bolognese. Venedig: Giacomo Zattoni, 1697. Ebd., S. 254 f. Ebd., S. 247−251. Ebd., S. 247. Ebd., S. 250 f. Giuseppe Passi: I donneschi difetti, Venedig: Vicenzo Somascho 1617, Inhaltsverzeichnis. Il non plus ultra di tutte le scienze ricchezze honori, e diletti del mondo. Con l’aggionta della Via sicura del paradiso, & altre varie curiosità. Consacrato al Illustriss. & Eccellentiss. Sig. Bortolamio Zen Nobile Veneto. Venedig: M Giacomo Didini, 1677, Via sicura del paradiso, Kapitel , »Martirio della lingua«, S. 116 f. Ebd., S. 116 f. Ebd. Ebd.

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tet, »das Schweigen zu beachten«52 und »die Konversation der Geschöpfe zu fliehen, soweit es mein Status ermöglicht, um nur mit euch, mein Schöpfer, zu konversieren.«53 Der Mund sei ausschließlich dazu da, Gott zu loben und höchstens noch dem Körper die notwendige Nahrung zuzuführen. Im allerschlimmsten Fall – dies wird aber nur selten angedeutet – dient die Zunge dem schlimmsten aller Verbrechen, einem Teilgebiet der Sodomie.54 Liest man die aus heutiger Sicht unverfängliche Beschreibung der Münder der Protagonisten heimlich gedruckter Romane des 17. Jahrhunderts im Umfeld der damaligen neuen öffentlichen Oper – etwa Ferrante Pallavicinos55 und Antonio Roccos – mit einem solchen Hintergrundwissen, so versteht man erst deren damalige Obszönität. Rigoristen wie Bossuet und Concina wurden nicht müde, die Gefährlichkeit von Frauen und teilweise auch als Frauen verkleideten Männern auf der Bühne zu betonen, gerade auch deshalb, weil nicht nur das Ohr, sondern auch das Auge beteiligt war: »Der Pomp des Spektakels bemächtigt sich der Augen, die zärtlichen Überlegungen, die pathetischen Lieder, durchdringen von den Ohren das Herz.«56, so Bossuet, wenn auch in Bezug auf die Komödie und in Nachfolge des Heiligen Augustinus. Concina betrachtete die »Anziehungskraft für die Ohren, die Augen, die eine gewisse Weichheit (morbidezza) des Gesanges ist, die ich nur mit einer Art Übel der Augen beschreiben kann, die unsichtbar die Kraft der Seele schwächt. Man könnte nicht besser die Wirkung dieser öffentlichen Fröhlichkeit erklären, indem man sagt, dass sie einem Heer der Laster die Tür öffnen.«57 Für Concina ist es also weniger die Stärke, sondern vielmehr die Zärtlichkeit und Weichheit der Stimme, die gefährlich ist.

52 Ebd. 53 Ebd., S. 116 f. 54 Fioravanti wird in seinem Blick auf den Mund bestätigt durch den Juristen Caballus 1644, der »il fellatio« oder »l’irrumatio« als das schlimmste aller sodomitischen Laster beschrieb. Pietro Caballus: Resolutionum criminalium centuriae duae (1605), Venedig: Bertanos 1644. 55 Ferrante Pallavicino: La rettorica delle puttane (1673), herausgegeben von Laura Coci, Parma: Ugo Guanda 1992. Antonio Rocco: L’Alcibiade fanciullo a scola (1652), herausgegeben von Laura Coci, Rom: Salerno 2003. 56 »La pompa dello spettacolo s’impadronisce de gl’occhi, i ragionamenti teneri, e le canzoni patetiche, dall’orecchie penetrano il cuore.«, Bossuet, Jacques Bénigne: Massime e riflessioni di Monsignore Jacopo Benigno Bossuet, Vescovo di Meaux, sopra la comedia. Tradotte in lingua toscana da un sacerdote lucchese, Venedig: Giovanni Gabriello Hertz 1730, S. 25. 57 »Il Canone citato non presuppone ne gli Spettacoli, che biasima, alcuna azione, o parola disonesta. Si ferma solamente a considerare l’attrattiva de gli orecchi, e de gli occhi, oculorum, & auriumillecebras, che è una certa morbidezza del canto, e un non so che male d’occhi, che indebolisce insensibilmente il vigore dell’anima.

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An dieser Stelle sei zusammengefasst: In der offiziellen damaligen Sicht auf Kastraten- und Frauenstimmen, jedenfalls seitens der »Pallade veneta« und Mancinis, die aber exemplarisch für damalige Stimmbeschreibungen sind, sind Kriterien der Perfektion, der unerklärlichen Schönheit, der von Gott gegebenen Anmut und Gnade, der Süßigkeit und Beweglichkeit die häufigsten und wichtigsten. Dies stimmt mit den weitverbreiteten ästhetischen Kriterien der Zeit überein und muss meines Erachtens in der Forschung weit mehr betont werden, als es bisher geschehen ist. Erst an zweiter Stelle und ausschließlich in Bezug auf die Frauenstimmen auf dem Theater erfolgte der Hinweis auf das Erwecken von Liebe. Doch selbst hier werden weder das Stimmorgan der Frauen, das insbesondere für Koestenbaum wichtig war, noch die Stärke oder Penetranz der Kastratenstimme, die Joke Dame als Begründung für seine These des Phallus in der Stimme diente, erwähnt. Daneben aber stand ein Bewusstsein für die Gefährlichkeit der Singstimme, resultierend aus der Beschaffenheit von Mund und Ohr sowie dem Zusammenwirken des Körpers und der Stimme der Sängerinnen und Sänger. Gegen letzteres wurden deshalb nicht nur durch das Mittel der Stimmbeschreibungen Gegenmaßnahmen ergriffen: In der Kirche entzog man die Sängerinnen und Sänger oftmals und vor allem im Sei- und frühen Settecento, auf den Emporen und hinter Gittern bewusst dem Blickfeld,58 um die Wahrnehmung von Körperlichkeit in der Stimme zu minimieren. Ferner ist zu bedenken, dass die Stimmen sehr wahrscheinlich weniger »durchdringend«59 als etwa in späteren Zeiten mit großen Konzertsälen und Theatern ausgebildet wurden, in dem Sinn, dass hohe Töne nicht allein mit der Bruststimme, sondern auch im Falsett gesungen wurden, und kein durchgehendes Vibrato üblich war. Auf dem Theater wandte man eine aus heutiger Sicht abstrakte, stilisierte, körperferne Gebärdenkunst an, die eben nicht primär

Non poteva esprimere meglio l’effetto di queste pubbliche allegrezze, dicendo, che spalancano la porta ad una truppa di vizj.«, ebd., S. 32. 58 Erhalten sind diesbezüglich sowohl Beschreibungen, Abbildung als auch die Architektur selbst, letztere vor allem in Venedig. Siehe dazu Hans Dörge: Musik in Venedig, Wilhelmshaven: Florian Noetzel 1991, u. a. S. 182 ff. 59 Der Begriff »durchdringend« wurde ausschließlich von Johann Joachim Quantz, einem Nicht-Italiener, in nur drei Fällen in der Beschreibung von Kastraten- und Frauenstimmen verwendet, und zwar für das heute stattdessen verwendete »tragfähig«. Dennoch wurde es für zahlreiche Autoren und Autorinnen der Queer studies zum Ausgangspunkt für die Männlichkeit der Singstimme, so etwa bei Joke Dame: »Herrn Johann Joachim Quantzens Lebenslauf von ihm selbst entworfen«, in: Marpurg’s Historisch-kritische Beyträge 1, H. 3 (1755), S. 197−250, hier: S. 218, in Bezug auf den Sänger Domenico in Prag 1723; S. 233, in Bezug auf Farinelli in Parma 1725; in Bezug auf Faustina Bordoni S. 240.

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die Lunge und den Mund, sondern vielmehr eine Eleganz des gesamten Körpers fokussierte und die gerade nicht die Individualität des Darstellers betonen sollte. Ein sehr gutes Beispiel der Wiederbelebung der damaligen Gestik sind Produktionen von Sigrid T’Hooft.60 Zuletzt verfolgte man, wie bereits erwähnt, eine Strategie der Transponierung der Sexualität auf eine geistliche Ebene, die nicht zuletzt auch anhand der beschriebenen Wirkung der Singstimmen – Weinen, Klagen und Lachen des Publikums mit den Stimmen, wörtlich benannte Ekstase61 – thematisiert wurde. Die Frage, ob das Opernpublikum des italienischen Sei- und Settecento einen Körper in der Stimme gehört und, mehr noch, die Medialität der Stimme mit Sexualität verbunden haben könnte, ist wie eingangs beschrieben nicht zu beantworten. Mutmaßungen aber sind sehr stark nach Ort, Zeit und Schicht, nach Produzenten und Rezipienten zu differenzieren. Eine einseitige Aussage in Bezug auf die Annahme, Sängerinnen und vor allem Kastraten seien besonders in der Sexualität ihrer Stimmen wahrgenommen worden, ist aufgrund der nicht mehr möglichen Aufführungsanalyse weder zu bestätigen noch zu verneinen. Doch die Inszenierungsstrategien des posttridentinischen Italiens, das in seiner Theaterproduktion wie seiner Produktion gedruckter Medien einer Zensur unterworfen war, die die Kommunikation eines trotz der bewusst gestatteten unterschiedlichen individuellen Meinungen doch im Wesentlichen einheitlichen Weltbildes unterstützte, könnte im Sinne der intendierten Stimmwahrnehmung, die nicht auf den Körper in der Stimme und nicht in Bezug auf Sexualität ausgerichtet war, ja die die Stimme vom Körper zu lösen versuchte, beeinflusst worden sein. Immerhin: Gerade in der Bemühung, mögliche Assoziationen eines Körpers in der Singstimme zu vermeiden, zeigt sich zumindest, dass der Stimme dieselben zugetraut wurden – ebenso freilich, wie man offenbar meinte, dieses Problem überwinden zu können. Als bewiesen kann hingegen festgehalten werden, dass im Sei- und Settecento von offizieller Seite aus und in Bezug auf die Masse des Publikums das Hören eines Körpers in einer Stimme vermie-

60 Hier sei auf die Aufführung einer Kantate mit barocker Gestik durch eine Schülerin T’Hoofts verwiesen, die – zumindest momentan – im Internet zugänglich ist: ‹http://www.youtube.com/watch?v=HJSGxPpgSxo› [Zugriff am 17.11.2014]. 61 Eleanor Selfridge-Field (Hrsg.): Pallade veneta, »un’estasi devoto di giubilo«, Pallade veneta, 1. Januar 1687, Fest von San Marco mit Musik von Legrenzi. »rapisce ogn’alma in estasi d’amore«, Teatro Vendramino di San Salvatore, Domenico Gabriellis Maurizio, Libretto Adriano Morselli, Sonett auf die Sängerin Signora Barbara Ricioni, ebd., Januar 1687, Eintrag 4. Überdies ebd., Juli 1687, Eintrag 39 und, in Bezug auf Kastraten- und andere Männerstimmen, ebd., 23. Dezember 1702.

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den werden sollte bzw. nur insofern und unbemerkt erfolgen sollte, als es zu einer religiösen Ekstase oder – im aufgeklärten Umfeld des Theaters – einer Erziehung zur Tugend dienlich sein konnte. Vielmehr stand eine körperliche Reaktion des Publikums, die gleichzeitig zum Vergessen des Körpers seitens des bzw. der Hörenden führen konnte, im Vordergrund, wie zeitgenössische Beschreibungen der Publikumsreaktionen, die oft detaillierter als die Beschreibungen der Stimmen gehalten sind, beweisen. Wie sehr aber der Aspekt einer sexuellen Faszination der Kastratenstimmen, verbunden und abgeleitet von ihren angeblichen Biographien, Eingang noch in heutige Vorstellungen von barockem Theater findet, zeigt überdeutlich eine Kritik, die angesichts einer Aufführung von Leonardo Vincis Oper »Artaserse« in Nancy 2012 in »Die Welt« unter der Schlagzeile »Gipfeltreffen der Countertenöre« erschien und die hier stark gekürzt wiedergegeben werden soll: Kann ein singender Eunuch noch Sex haben? Bis heute bleiben die dekadenten Zustände in der barocken Opernwelt geheimnisvoll. Jetzt erinnern fünf berühmte Countertenöre an die Zeit, als Männer Frauenrollen singen mussten. Im 17. und 18. Jahrhundert trat in der Oper jeder so auf, wie er wollte und konnte, und wie er am jeweiligen Theater verfügbar war. Frauen verkleideten sich in den oft komplexen Liebeshändeln als Männer, Männer als Frauen. […] Im päpstlichen Rom der sinnesfrohen Barockzeit, wo hinter Beichtstühlen besonders viele moralische Verbote missachtet wurden, war die Bühne von Zeit zu Zeit für die Frauen tabu. […] Also durften nur Männer ran. Besonders gerne die Kastraten, deren Verstümmelung im Dienst von Frau Musica zwar kirchlich verboten war, die aber im Chor der Sixtinischen Kapelle gebraucht wurden – und in den Opernhäusern sowieso. […] Welche Rolle spielten »männliche« und »weibliche« Tugenden damals? Wie gingt man mit Genderfragen und sexueller Orientierung um? Was wurde noch toleriert? Was war skandalös? Nach wie vor […] wird wenig Licht in eines der dunkelsten Opernkapitel gebracht, die dekadenten, viele Kastraten involvierenden Zustände bei den hochbarocken römischen Opern, über die der Vatikan seine Soutanenzipfel hält und wo viel aufschlussreiches Material wohl beiseitegeschafft wurde. [...].62

Kurioserweise dienen hier (übrigens mit Quellen bisher nicht belegbare) Vermutungen zur Sexualität von Kastraten und Publikum dazu, eine Faszination einer wiederaufgeführten Oper, in der jedoch nicht einer Kastration unterworfene männliche Mezzosopranisten bis Sopranisten, allesamt etablierte oder künftige Stars der aktuellen Szene Alter Musik (Franco Fagioli,

62 Die Welt, Artikel vom 06. November 2012, ‹http://www.welt.de/kultur/buehnekonzert/article 110686678/Gipfeltreffen-der-Countertenoere.html›, [Zugriff am 17.11.2014].

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Philippe Jaroussky, Max Emanuel Cencic, Valer Barna-Sabadus, Yuriy Mynenko) singen, zu propagieren. Wie wenig hingegen der Körper innerhalb einer Stimme als spezifischer Körper gehört werden könnte, zeigt ein Beispiel in höchst professionellem Umfeld, das Marco Beghelli und Raffaele Talmelli anführen.63 Demnach habe die als Mann geborene A. T., die unter dem Partialen Morris-Syndrom dritten Grades, einer Krankheit, die ihren der Geburt nach männlichen Körper ähnlich dem eines Kastraten formte, nach ihrer Ausbildung zur Mezzosopranistin ein Vorsingen an der Mailänder Scala in ihrer Jugend, mithin vor dem 2. Weltkrieg, positiv absolviert.64 Lediglich ein Blick auf ihren Pass, der der Jury von einer Bekannten der Sängerin empfohlen worden war, soll das Engagement verhindert haben. Dass eigentlich ein Mann vorgesungen hatte, sei demnach nicht aufgefallen. Allerdings legte Talmelli hierfür keine Akten der Scala zu Grunde, so dass dieser Bericht nicht überprüft werden kann und auf den ersten Blick den bekannten, ebenfalls nicht beweisbaren Erzählungen, wonach sich Frauen als Kastraten ausgegeben und Erfolge gefeiert hätten, gleicht. Doch die Tatsache eines Vorstellens in einem Umfeld, das weder an männliche Falsettisten noch an Kastraten gewöhnt war, noch dazu mit Mezzosopranistinnen einer ganz anderen Technik als heute, rückt, gemeinsam mit der spezifischen Stimmbeschaffenheit A. T.s, diesen Bericht durchaus in die Nähe des Möglichen. Wenn aber möglicherweise nicht einmal das Geschlecht einer Stimme erkannt werden kann, wie kann sie dann eine spezifische Sexualität vermitteln? Die berechtigte Gegenfrage, ob letztere überhaupt an ein spezifisches Geschlecht gekoppelt ist, kann hier nicht beantwortet werden. Insgesamt wäre zum Thema im Bereich des Sei- und Settecento also noch weit mehr und weit kontextbezogener zu forschen. Gleichwohl wäre es interessant, mehr auch über die heutige Wahrnehmung von Stimmen zu erfahren. Stimmen können, dies sei erneut betont, auch Anderes als Sexualität vermitteln und andere Assoziationen erwecken, sie können andere Menschen auch auf andere Art und Weise und anders berühren, und diese Erfahrung, die von manchen Opern- und Konzertbesuchern und -besucherinnen bejaht wird, könnte auch auf das Sei- und frühe Settecento, zumal im Kontext entsprechender Konditionierung des Publikums durch die Stimmbeschreibungen, empfunden worden sein. In jedem Fall wurde sie angestrebt;

63 Marco Beghelli/Raffaele Talmelli: Ermafrodite armoniche. Il contralto nell’Ottocento, Varese: Zecchini 2011. Siehe auch Saskia Maria Woyke: Zur gegengeschlechtlichen Besetzungspraxis (Anm. 6), o. S. 64 Ebd., Abschnitt von Raffaele Talmelli.

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ob das Ziel erreicht wurde, ist nicht nachvollziehbar, und ebenso denkbar wäre eine gegenteilige Reaktion, impliziert die Performativität einer Aufführung doch immer auch ein Unterminieren der Inszenierung.

Pier Leone Ghezzi: Karikatur Bernacchis (1731)

Politik im Spiel Mediale Inszenierung gesellschaftlicher Normen und Ziele in Pietro Metastasios Olimpiade THORSTEN PHILIPP

»Una porcheria tedesca!« soll die erboste Gemahlin Kaiser Leopolds II. Maria Louise ausgerufen haben, nachdem sie 1791 im Prager Ständetheater die Uraufführung der Oper La Clemenza di Tito verfolgt hatte. Ob die berühmte Legende der Wahrheit entspricht oder nicht:1 Was der Angehörigen des kaiserlichen Hofes wenig schmecken mochte und sie möglicherweise tatsächlich in Rage brachte, war der kaum versteckte Hinweis auf den aufgeklärten Absolutismus Friedrichs II. von Deutschland, dem der Textdichter Pietro Metastasio mit seinem Libretto ein beredtes literarisches Denkmal gesetzte hatte. Der Herrscher Titus – ganz im Zeichen politischer Milde – verzeiht dem Brandstifter Sesto und der Intrigantin Vitellia mit der Begründung, dass deren Mordanschlag nicht ihm als princeps, sondern ihm als Privatperson gegolten habe. In der überraschenden Unterscheidung und dem maßvollen Urteil des Herrschers, der sinnfällig vom aufklärerischen Gedanken der ratio getrieben war, schien sich die moralische Wandlung des Attentäters zum Besseren, Reiferen, Verantwortlicheren anzudeuten. Der kaiserliche Hof musste diese leise und erst in der Schlusspointe der Oper angedeutete Kritik am absolutistischen Herrschaftsmodell als Gefährdung des eigenen Staates und des eigenen herrschaftlichen Selbstverständnisses empfinden, umso mehr, weil Metastasio der multimedialen Kunstform Oper hier einen politischen Diskurs einschreibt, der traditionell eigentlich anderen, rein literarischen Gattungen vorbehalten blieb. Dass die Oper 1

Weiterführend: Joseph Heinz Eibl: »›... Una porcheria tedesca?‹ Zur Uraufführung von Mozarts ›La Clemenza di Tito‹«, in: Österreichische Musikzeitschrift 31 (1976), S. 329–334.

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gesellschaftliche Praktiken, Normen und Ziele nicht einfach nur »thematisieren«, sondern durch ihre medialen Kombinationsmöglichkeiten zuspitzen, verschärfen und vielfach verstärken konnte, dass sie also den politischen Raum mit einer bis dahin ungeahnten Kraft überformen und durchdringen und die bekannten Kommunikationsformen in spezifischer Weise transformieren konnte – dies ahnten die Angehörigen des Hofes offenbar schon am Ende eines Jahrhunderts, das durch die Theorien der Aufklärung und die gewaltsamen sozialen Bewegungen die Politisierung nahezu aller Lebensbereiche erfahren hatte. Wie sich also in Metastasios melodramma eine mediale Inszenierung politischer Theorie einschreibt, die Kommunikations- und Rezeptionsmodi in radikaler Weise zu transformieren vermag, soll hier im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen.

I. DIE WANDLUNG DER OPER IM ZEICHEN DER ARCADIA Die Form- und Sprengkraft der Oper als politisches Werkzeug war freilich nicht erst mit der Prager Aufführung offensichtlich geworden. Schon im barocken Kosmos des Venezianer Karnevals, durch die die junge Text- und Musikgattung ihre erste große Blüte erfuhr, hatte sich die Oper gleichermaßen als Identifikationsangebot wie als politisches Ventil erwiesen: Wo adlige Fürsten aus ganz Europa als Privatpersonen anreisten, um auf der Bühne das Treiben adliger Figuren in privater Maske zu verfolgen, da war die Grenze zwischen Bühne und Publikum, die Barriere zwischen Fiktion und Wirklichkeit so sehr verwischt, dass sich das sittenstrenge, von rigidem Verhaltenskodex und vom duchtriebenen Spitzelwesen des concilio dei dieci bestimmte Leben der Serenissima für einen kurzen Augenblick in sein Gegenteil verkehrte. Im Karneval und ihrem Hauptorgan, der Oper, galten alle Normen nichts mehr. Die umstrittene Frage, ob das Fastnachtstreiben und die ausgelassenen Darbietungen auf der Bühne systemstabilisierend oder destabilisierend wirkten, muss nicht beantwortet werden, um zu erkennen, dass die Oper schon hier eine besonders grelle politische Strahlkraft entfaltete: Sie war Vehikel der Umkehrung, der Umwälzung und des Denkens in Alternativen. Damit war sie Projektionsfläche des Politischen schlechthin.2 2

Giovanni Francesco Busenello (1598–1659) beispielsweise hatte in seinem hocherfolgreichen Opernlibretto L’incoronazione di Poppea von 1643 die staatsethischen Grundsätze auf den Kopf gestellt und die Tollheit zum überragenden Leitmotiv werden lassen: Kaiser Nero, gemeinhin Inbegriff der Untugend, bleibt bei Bu-

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Als Pietro Metastasio 1730 am Wiener Kaiserhof eintraf, um die Nachfolge des Hofdichters Apostolo Zeno auf dessen explizite Empfehlung hin anzutreten, war die allgemeine Freude an der Barockästhetik und ihrer Ausprägung im Venezianer Karneval freilich längst verflossen. Ganz Europa hatte dem Zauber des meraviglioso abgeschworen und statt dessen eine innere Haltung gewonnen, in der die ratio dem Affekt vorauseilte und ihm überlegen sein sollte. In Italien war dem Aufgang der neuen Zeit 1690 durch die Gründung der Accademia dell’Arcadia sogar ein institutionelles Denkmal gesetzt worden, das alles Barocke als inadäquat auswies und stattdessen den Anschluss der Dichtung an Petrarkismus und Anakreontik propagierte. In ihrer Verkoppelung von Literatur und Rationalismus wollte die Akademie keineswegs nur eine Bildungselite darstellen; sie beanspruchte vielmehr, ein lebensweltliches Idealmodell gesellschaftlicher Ordnung abzubilden. Die Mitgliedschaft, von der Frauen kennzeichnenderweise nicht ausgeschlossen waren, sollte allein von literarischen Verdiensten abhängen – ungeachtet standesmäßiger oder sozialer Zugehörigkeit. Die Welt der Arcadia war im eigentlichen Sinn eine Fiktion sozialer und politischer Aussteiger: ein abgeschiedener Raum, der einer eigenen Ordnung und sogar einem eigenen, am Rhythmus der Olympischen Spiele orientierten Kalender folgte. Sie war in einer radikalen Weise alternativ gedacht, denn der Ort ihres Zusammentreffens, der Bosco Paradiso, eine dem Gott Apoll geweihte Stätte, existierte nur in der Vorstellung, auch wenn er später an einem konkreten Grundstück auf dem römischen Gianicolo festgemacht wurde. Die Mitglieder der Akademie – in diesem Punkt sogar jenen Aussteigern vergleichbar, die ihre Zuflucht in den monastischen Bewegungen der Klöster und Ordensgemeinschaften suchten legten sich neue Vornamen zu, die (hier freilich anders als im Klerus) der klassischen bukolischen Dichtung entsprangen, wohingegen ihre selbst gewählten Nachnamen auf einen Ort rekurrierten, der den Musen geweiht war. Für den späteren Opernlibrettisten Metastasio bildete die Welt der Arcadia den prägenden Rahmen seiner literarischen und sozialen Reifung.

senello zwar in der Aura der Skrupellosigkeit und der Machtbesessenheit verhaftet, doch eröffnet seine leidenschaftliche Liebe zu Poppea dem Zuschauer ein so reizendes affektives Identifikationsangebot, dass die rechtswidrige Krönung der nur mit List und Regelbruch zur Herrschaft drängenden Poppea auf den Beifall des Publikums stoßen musste. Was im Normalfall einen politischen Skandal erster Kategorie bedeutet hätte, konnte im Freiraum der Oper begrüßt und gefeiert werden, vgl. Florian Mehltretter: Die unmögliche Tragödie. Karnevalisierung und Gattungsmischung im venezianischen Opernlibretto des siebzehnten Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Lang 1994, S. 123.

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Gian Vincenzo Gravina, Gründungsmitglied der Akademie, hatte ihn 1708, im Alter von zehn Jahren, mit Einverständnis der Eltern in sein Haus aufgenommen, um ihn in Rechtswissenschaften und klassischer Philologie zu unterrichten. Als Universalgelehrter, Rationalist und Anhänger des Cartesianischen Denkens war Gravina ein politisch hocheinflussreicher Akteur des Primo Settecento – und für Metastasio, den er später sogar adoptierte, gewiss weit mehr als ein Mentor. Dem dramma per musica indes, das später zum Brennglas der dichterischen Veranlagungen des jungen Metastasio wurde, konnte die Arcadia keine Sympathie entgegenbringen, im Gegenteil. Der Grund ihrer Ablehnung lag nicht nur darin, dass viele gesellschaftlichen Praktiken, die mit der Oper einhergingen, etwa das Kurtisanenwesen, aber auch die Vermengung ernster und komischer (und in der Barockoper oftmals albern-überzeichneter) Momente als Angriff auf die ethischen und moralischen Ordnungen galten, denen sich die Akademie verschrieben hatte. Es waren vor allem die Unwahrscheinlichkeit des Singens und die Wiederholungsstruktur der DaCapo-Arien, die dem mimetischen Anspruch des Theaters entgegenzulaufen schienen. Wenn man so will, erfuhr die Oper an dieser Stelle eine frühe Ausprägung von Medienkritik: Indem sie über die Sprechstimme hinausschritt, dehnte sie nicht nur das Einsatzvolumen des Körpers; die Oper verneinte auch den Anspruch traditioneller Kommunikationsmodelle – und verschrieb sich damit der »potenziellen Unnatürlichkeit des Natürlichen«.3 Dass sich die Oper als Prisma multipler Ausdrucksmodi von allen bisherigen Repräsentations- und Wahrnehmungsformen abhob, konnte die Arcadia nur bedauern: Unter den meisten ihrer Mitglieder wurde sie offenbar nicht als eigene literarische Gattung wahrgenommen, sondern als pervertierte Spielart des Sprechtheaters, die durch den Einsatz von Kastraten auch die Körperlichkeit unter das Joch des Widernatürlichen zwang.4 Die Akademie übersah bei ihrer Kritik freilich, dass die Oden- und Tragödienkultur der Antike, in der sie ihr Vorbild suchte, nach heutigen Begriffen intermedial konzipiert war, und Musik und Dichtung auch in der aristotelischen Poetik eine Ein3 4

Karl Ludwig Pfeiffer: »Operngesang und Medientheorie«, in: Doris Kolesch/Sybille Krämer (Hrsg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 65–84, hier S. 71. Vgl. Nicola Gess: »Oper des Monströsen – Monströse Oper. Zur Metapher des Monströsen in der französischen Opernästhetik des 18. Jahrhunderts«, in: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hrsg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld: Transcript 2009, S. 655–667, hier S. 662. Einen satirischen Abriss über die gängigen Vorbehalte, die die Arcadia gegenüber der Oper hegte, gewährt Pier Jacopo Martello, selbst Mitglied der Akademie, in seiner Abhandlung Delle tragedia antica e moderna von 1715.

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heit, ein dichtes System wechselseitiger Referenzen, Bezüge und Spielarten bildeten. Auch der fiktionale Charakter des Theaterspiels geriet bei dieser Bewertung aus den Augen. Schon das Settecento, nicht erst die Literaturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, betrieben damit eine verengte Aristotelesrezeption, die allein Sprache, Text und Mimesis zentral stellte und Techniken der Medienkombination ignorierte.5 Metastasio, den die scharfen Anfragen der Arcadia an das damalige Musiktheater gewiss nicht unberührt gelassen haben, folgte dennoch den künstlerischen Potentialen, die in ihm angelegt waren und sorgte schon bald nach Gravinas Tod 1724 in Neapel mit seinem ersten Opernlibretto Didone abbandonata für großes Aufsehen. Anders als sein Adoptivvater war Metastasio, der sich als poeta cesareo seit 1729 am Schönbrunner Hof engagierte und fortan von einem festen Förderer- und Verehrerkreis umgeben bleiben sollte, dem politischen und juridischen Diskurs scheinbar ferngeblieben. Neben der dichterischen Arbeit brachte er seine Vorstellungen zur Theaterkultur in zahlreichen Briefen und einigen Abhandlungen zum Ausdruck, bei denen jedes politische Statement jenseits üblicher Huldigungsformeln vermieden wurde. War die Auseinandersetzung über die rechte gesellschaftliche Form und ihre rechtliche Verfasstheit augenscheinlich kein primäres Anliegen des Hofdichters, so sollte sein Schaffen dennoch in vielfältiger Hinsicht von politischen Fragestellungen und normativen Vorstellungen durchdrungen sein. Wie die meisten Dramatiker des 17. Jahrhunderts stand nämlich auch für Metastasio die Frage der moralischen Kraft der Kunst im Mittelpunkt: Die Gestaltung gesellschaftlicher Ordnung – zusammengefasst in der Kernfrage späterer Sozialethik: Wie wollen wir miteinander leben? – war also keineswegs ein Nebenthema.

II. POLITISCHE DIMENSIONEN DER OPER War die Oper, wie bereits angedeutet, seit ihren Anfängen ein hochrelevantes Vehikel und Werkzeug des Politischen, so sollte sich die gesellschaftsverändernde Kraft durch den intermedialen Charakter noch verstärken: intermedial war und ist die Oper, weil sie verschiedene mediale Elemente zu einer stimmigen Gesamtkonzeption verflicht, deren »Brechungen und Ver5

Jürgen E. Müller: »Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Eine Reflexion zu dessen Geschichte«, in: Jörg Helbig (Hrsg.): Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Schmidt 1998, S. 31–40, hier S. 33.

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werfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen.«6 Gerade in politischer Hinsicht also waren die Medien der Oper – und ihr Zwischenraum, ihre Brechungen und Übergänge – geeignet, eine zusätzliche Sinndimension zu eröffnen, einen Zusatznutzen, der sozial prägend, stabilisierend oder destabilisierend wirken konnte. Bühnenbild, Stimme, szenische Anordnung, Körper und Kostüm konnten die Erfahrungen und Denkbewegungen einer Gesellschaft nicht einfach nur abbilden, sondern, weit mehr noch, in ihrer wechselseitigen Interferenz, in ihren Spannungen, Verkopplungen und Berührungspunkten plastisch zum Ausdruck bringen oder gar mitprägen. Am Beispiel der Olimpiade sollte Metastasio, wie wir sehen werden, Typen und Exempel der politischen Theorie nicht einfach nur nebeneinanderreihen, sondern durch deren Interaktion eine Verlebendigung, Konkretion und Anschaulichkeit herstellen, die den politischen Diskurs auf gleichermaßen subtile wie wirkungsvolle Weise bereichert und auch prägt. Ohnehin war die Oper – fernab der Unterhaltung und der Einsicht in das Innere des Menschen, die sie eröffnete – im Settecento durch und durch politisiert: Als integrative und ganz Italien verbindende Kunstform schien sie nicht nur die kulturelle, sondern auch die politische Einheit der Halbinsel, gleichwohl sie in noch so unerreichbarer Ferne lag, anzudenken; hier bereits – und nicht erst im 19. Jahrhundert – umgab sie das Faszinosum des Nationalen.7 Anders als die Barockoper, die in ihrer Wirkung überwiegend auf die höfischen Regelkreise, auf fürstliche Feste usw. begrenzt blieb, war die Oper der 18. Jahrhunderts schon in breite soziale Kontexte eingebunden: Umso mehr war sie durch ihre eigene Materialität im Stande, zur medialen Vermittlung politischer Theorie beizutragen und das Gedankengut der Aufklärung, aber auch die Theoriebeiträge der Arcadia dramaturgisch zu filtern. Politisch war die Oper aber auch durch ihre enge Anbindung an den Absolutismus. Sie – und der soziale Raum des Opernhauses mit ihr – boten den Herrschenden ein herausgehobenes Werkzeug zur Selbstinszenierung und eröffneten die ideale Gelegenheit, die eigene Macht zu legitimieren und in einen sinnhaften Kontext bewährter – und meist: antiker – Herrschaftsfiguren einzuflechten: Tatsächlich diente der Auftrag zur Komposition und Dichtung einer Oper und die Teilnahme an ihrer Aufführung zu allen Zeiten und in äußerst verschiedenen gesellschaftlichen und systemischen Rahmenbe6 7

Müller: »Intermedialität« (Anm. 5), S. 31. Vgl. auch Marshall McLuhan/Quentin Fiore: The Medium is the Message. An Inventory of Effects, New York: Bantam 1967. Norbert Dubowy/Reinhard Strohm: »Dramma per musica«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 26 Bände, Kassel u. a.: Bärenreiter 2004. Bd. 2 (Sachteil), Sp. 1452–1499, hier Sp. 1482.

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dingungen der »Bestätigung der Herrschaftsverhältnisse.«8 Dabei war es vor allem die Vorbildfunktion der fiktionalen Herrscherfigur, die ihre politische Wirkung nicht verfehlte: Wo diese auf der Bühne räsonierte, ethische Unterscheidungen anstrengte und moralische Ansprüche kundtat, um sodann ihr Urteil zu fällen, musste sich auch der Herrscher im Publikum an Gebote und Normen erinnert sehen. Die Oper war sowohl Vehikel politischer Bildung wie auch Panoptikum der Regierungslehre. Dass der Operndichter zwangsläufig ein politischer Dichter sein musste, verdankte sich auch der finanziellen Abhängigkeit, denn jede Opernkomposition und -produktion war – und ist, damals wie heute – ein kostspieliges Unternehmen. Die Gründung des ersten öffentlichen bürgerlichen Opernhauses in Venedig 1637 war in der großen Zahl der Produktions- und Aufführungsstätten eine Ausnahme. Das enge Verhältnis der Oper zum Absolutismus war jedem Libretto und jeder Komposition von vornherein einverwoben; dass sich die Oper auch an sich wandelnde Regierungsverständnisse, an Macht und Machtverschiebungen anpassen musste, ist eine logische Folge.9 Und in politischer Hinsicht war es daher auch weniger der kultische Ursprung der Oper, als vielmehr ihr synästhetisches Potential, das ihre Attraktivität ausmachte. Suchte auch die Mehrheit der Opernbesucher vor allem gute Unterhaltung, so blieb die Politisierung der Oper doch das Ergebnis kommunikativer und kompetitiver Prozesse zur Frage der Herrschaft, ihrer Legitimation und Ausübung und somit zur Gestaltbarkeit und Gestaltungsbebedürftigkeit sozialer Strukturen und Interaktionen. Als »Mediendispositiv aus Körperpraktiken und medialen Formen«10 besaß die Oper einen so kraftvollen Verstärkereffekt, dass sie andere Gattungen mühelos in den Schatten stellte. Dass die opera seria als Spiegelbild für höfische – und also: politische – Geschehnisse und Erfahrungsmuster fungierte, wurde auch durch die medialen Kanäle Bühnenbild und Kostüm offensichtlich, die keineswegs der antiken Lebenswelt entsprachen, auf die die Oper meist Bezug nahm, sondern der zeitgenössischen Formsprache verhaftet blieben. Ent8

Sven Oliver Müller/Jutta Toelle: »Oper als Bühne der Politik. Historische und musikwissenschaftliche Perspektiven« in: S. O. M./J. T. (Hrsg.): Bühnen der Politik. Die Oper in europäischen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Wien/München: Oldenbourg 2008, S. 15. 9 Udo Bermbach: »Oper und Politik. Aspekte eines komplizierten Verhältnisses«, in: Wolfgang Leidhold (Hrsg.): Politik und Politeia. Formen und Probleme politischer Ordnung. Festgabe für Jürgen Gebhardt zum 65. Geburtstag, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 385–402, hier S. 398. 10 Jörg Dünne/Kirsten Kramer: Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 29.

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scheidend bleibt allerdings, dass die Oper damit keineswegs einfach eine »Dienerin« der Regierenden war, vielmehr filterte sie das politische Gedankengut, die gesellschaftlichen Such- und Lernprozesse durch ihre eigene Medialität. Der politische Charakter lag auch im Zwang zur Öffentlichkeit, der dem Musiktheater seit seinen Anfängen innewohnte. Entgegen des elitären Charakters, der ihr später zugeschrieben wurde, war die Oper im 18. Jahrhundert noch ganz ein Massenmedium: Allein in Venedig, wo der Opernbesuch weit beliebter war als die Teilnahme an Theateraufführungen, sind im Settecento über 1.200 Titel nachgewiesen.11 Die Text- und Musikproduktion nahm beispiellose Dimensionen an, das Selbstverständnis der Oper war enorm. Anders als in den meisten anderen europäischen Ländern hatte die Oper in Italien – wo übrigens die Erfahrung politischer Fremdbestimmung und Fremdherrschaft ein bestimmendes Thema war – ungeheuerliches Gewicht; ihre identitätsstiftende Rolle war ein gewichtiger politischer Faktor. Die Oper konnte soziale Zustände und Regierungssysteme verschönern, so ungerecht sie sich in der Realität auch ausnehmen mochten; sie konnte Praktiken festigen, Wertsysteme stabilisieren und Ungleichheit zementieren. Und im gleichen Maß konnte sie Macht infrage stellen und Herrschaftskonzeptionen erodieren lassen, was sie insbesondere in ihrer Wirkungsgeschichte des 19. Jahrhunderts unter Beweis stellen sollte. Schließlich war auch der Rahmen der Aufführung politisch. Nicht erst heute, sondern schon damals war die Entscheidung über Bau und Ausstattung eines Opernhauses mit gesellschaftlichen und machtrelevanten Fragen verbunden:12 Wie repräsentativ durfte und musste es sein? Sollten einzelne Gruppen im Zuschauerraum bevorzugt werden, etwa durch eine Mittelloge, oder nicht? Als Institutionen der Öffentlichkeit oder einer abgrenzbaren Gruppe, etwa des Hofes, war die Opernkultur einverwoben in die Herrschaftsstrategie regierender Eliten.13 Schon die Zuweisung der Sitzplätze, die am Schönbrunner Hof strengen Regeln unterlag, war ein Politikum.14 Die Bestuhlung (mit oder ohne Arm- oder Rückenlehne, auf einem Podest oder ohne Podest, in einer Reihe mit dem Monarchen oder nicht) war eines von 11 Reinhard Wiesend: »Die italienische Oper im 18. Jahrhundert: Hinführung«, in: Herbert Schneider/R. W. (Hrsg.): Die Oper im 18. Jahrhundert, Laaber: Laaber 2006, S. 1–8, hier S. 1. 12 Müller/Toelle: »Oper als Bühne der Politik« (Anm. 8), S. 12. 13 Ruth Bereson: The Operatic State. Cultural Policy and the Opera House, London: Psychology Press 2002. 14 Sebastian Werr: Politik mit sinnlichen Mitteln. Oper und Fest am Münchner Hof (1680–1745), Köln u. a.: Böhlau 2010, S. 40.

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vielen Medien des Politischen. Was die Oper in ihrer gesellschaftsabbildenden und -gestaltenden Kraft ausmachte, war also ein ausgesprochen komplexes Ineinander medialer Kanäle: Architektur und Innenausstattung, Technik, Repräsentationsmodi und kommunikative Interaktionen über soziale und politische Praxis.15

III. DIE MEDIALITÄT DES POLITISCHEN IN METASTASIOS OLIMPIADE Metastasio hatte die gesellschaftliche Dimensionen des Opernbetriebs längst durchschaut, als er sich 1732 daran machte, das antike Thema der olympischen Spiele zu bearbeiten und zum Ausgangsmotiv eines Librettos werden zu lassen. Den Anlass lieferte der Geburtstag der Kaiserin Elisabeth Christina von Braunschweig-Wolfenbüttel, der Gemahlin Karls VI. Am 28. August 1733 fand im Garten des kaiserlichen Palastes in der Wiener Vorstadt, der damals »Favorita« genannt wurde und heute »Augarten« heißt, die Olimpiade ihre Erstaufführung in der Vertonung durch Antonio Caldara. Im gleichen Jahr erschien sie in Genua und im Folgejahr, dann in einer Vertonung durch Antonio Vivaldi, am Teatro Sant’Angelo in Venedig. Eine der bis heute bekanntesten Vertonungen, die durch Giovanni Battista Pergolesi, entstand erst 1734 als Auftragsarbeit des römischen Teatro Tordinona für die Karnevalssaison. Hier wurde sie im Januar 1735 vor bürgerlichem Publikum aufgeführt, scheiterte der Legende nach allerdings als krachender Misserfolg.16 Weitere 77 Vertonungen aus dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert sind belegt.17 Ohnehin ist auffällig, wie häufig die Libretti Metastasios in andere Sprachen übersetzt wurden und ihre Bestandteile – etwa die Arien – für alle möglichen kulturellen Zwecke »verwertet«, aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und auf verschiedene Aufführungsmedien geöffnet wurden: Textpassagen wurden herauskopiert und zu einer opera buffa umgeschmiedet, zu Satiren verfremdet, zu einem Ballett erweitert oder einfach als Bestandteil geselliger Liederabende eingesetzt. Selbst die bedenkenlose Kombination mit 15 Vgl. Wilhelm Füger: »Wo beginnt Intermedialität? Latente Prämissen und Dimensionen eines klärungsbedürftigen Konzepts«, in: Jörg Helbig (Hrsg.): Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Schmidt 1998, S. 41–57, hier S. 42. 16 Reinhard Strohm: Die italienische Oper im 18. Jahrhundert, Wilhelmshaven: Florian Nietzel 22006, S. 214. 17 Pinuccia Carrer: L’altra Olimpiade. Pietro Metastasio e Antonio Vivaldi, Mailand/ Turin: Paola e Bruno Foà 2006, S. 22 f.

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Textfragmenten anderer Dichter war alles andere als ein Tabu.18 Schere und Klebstoff waren legitime Instrumente der Textbearbeitung. Ähnlich wie in vielen anderen Opern Metastasios, etwa Achille in Sciro (1736) oder Il re pastore (1751), fungiert auch in der Olimpiade der innere Konflikt zwischen Pflicht und Emotion als Auslöser der Handlung. Die Grundkonstellation des Dramas ähnelt der Handlung zahlreicher anderer Werke Metastasios: Ein oder mehrere Liebespaare werden durch die Ungunst der Umstände getrennt, verwirrt, in die Verzweiflung gedrängt – und finden durch den Einsatz ehrenhafter Freunde oder durch überraschende Wendungen wieder zusammen. In der Olimpiade wird vier jungen Menschen aus gesellschaftlichen Gründen die Ehe und die freie Wahl der Ehepartner untersagt: Megacle liebt Aristea, doch deren Vater missfällt die Athener Herkunft des Brautwerbers. Argene hingegen liebt Licida, aber dessen (vermeintlicher) Vater lehnt die Verbindung ab und sähe es lieber, wenn Argene Megacle heiratete. Der Generationenkonflikt ist – in der Gegenüberstellung von Patriarch und unterdrückter Tochter Aristea – also zugleich ein Geschlechterkonflikt.19 Die bis ins Unübersichtliche verschlungene Handlung, die auf Komik konsequent verzichtet, bringt einen Konflikt an die Öffentlichkeit, der weit vor dem Einsetzen der Handlung ihren Ausgang nahm. Argene, eigentlich eine Angehörige der kretischen Aristokratie, hat der Welt des Hofes den Rücken gekehrt, sich aus innerer Ernüchterung in den bukolischen Raum der Natur zurückgezogen und den Namen Licorí angenommen. Nachdem der Vater des begehrten, aber im Grunde wenig beherzten Prinzen Licida ihre Verbindung untersagt hat, hält sich der Geliebte nicht lange mit der Trauer auf und sucht nun die Verbindung zur Prinzessin Aristea, wobei ihm Trug und Täuschung willkommene Mittel sind. Clistene, König von Sikyon und Aristeas Vater, hat seine Tochter nämlich zum Preis der olympischen Spiele ausgeschrieben: dem Gewinner im Wettstreit soll sie gehören – und so überredet Licida seinen tüchtigen und wettkampferprobten Jugendfreund Megacle, sich unter falschem Namen an den Spielen zu beteiligen, um die ersehnte Aristea für den Freund, für Licida, zu gewinnen. Megacle, der sich aus einer tiefen Dankesschuld heraus von Licida zum falschen Spiel überreden lässt, liebt Aristea seit langem – wie diese ihn. Begeistert, in ehrgeizigen (Kastrataten-) Koloraturen und vom eigenen Stolz verführt – »Superbo de me stesso« (I, 2) –, stürzt sich Megacle in den Freundschaftsdienst für Licida, 18 Martha Feldman: Opera and Sovereignty. Transforming Myths in Eighteenth-Century Italy, Chicago/London: The University of Chicago Press 2007, S. 232 f. 19 Vgl. Strohm: Die italienische Oper im 18. Jahrhundert (Anm. 16), S. 215.

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ohne zu wissen, worin das »Preisgeld« des Wettkampfes überhaupt besteht. Als er erfährt, dass die eigene Geliebte als Siegespreis ausgeschrieben ist, bricht der zentrale Tugendkonflikt zwischen der Liebe zu Aristea und dem Freundeseid hervor. Megacle, innerlich zerrissen, gibt dennoch dem Versprechen am Freund den Vorrang und verzichtet auf die Liebe zu Aristea. Der aufopferungsvolle Dienst verfehlt allerdings sein Ziel: Zwar gewinnt Megacle die Spiele, und schon fürchtet Aristea, den ungeliebten Licida heiraten zu müssen. Doch als der Schwindel auffliegt, wird Licida zur Strafe des Landes verwiesen, und der König kann sich nur knapp einem Attentat entziehen: Licida, im Feuer überbordender Gefühle – »Ho mille, mille furie in sen« (II, 15) von Vivaldi eindrucksvoll mit Achteltriolen unterlegt –, hat sich zum (erfolglosen) Versuch des Königsmordes hinreißen lassen und sieht daher, am Ende des dritten Aktes, der Todesstrafe entgegen. Da hilft es nicht, dass sich Licida durch eine leidenschaftliche Intervention Argenes überraschend als Clistenes Sohn herausstellt! Das Orakel hatte dem Vater nämlich einst prophezeit, dass der eigene Sohn ihn eines Tages umzubringen trachte, woraufhin das Kind vom Hof entfernt wurde. Nun, am Ausgang des Dramas könnte sich der König am wiedergefundenen Sohn freuen, die richtigen Paare – Megacle und Aristea, Licida und Argene – könnten sich finden, stünde der Attentatsversuch Licidas nicht unbewältigt. Hier greift Metastasio indes zu einer überraschenden und politisch hochbrisanten Wendung, um den Weg zum lieto fine nicht weiter zu versperren: Clistenes Herrschermandat über Olympia besteht nämlich nur am Tag des Wettkampfes; mit Sonnenuntergang fällt die Macht an das Volk zurück – und das Volk, kennzeichnenderweise vertreten durch Chor und Priester, spricht Licida frei, damit durch seine Bestrafung nicht der Vater bestraft werde (»Viva il Figlio delinquente,/ Perchè in lui non fia punito/ L’innocente genitor«, III, 9). Mit Blick auf die hier relevante Frage nach dem Zusammenwirken von politischer Theorie und Medienkombination in der Oper eröffnet sich in der Olimpiade ein erster entscheidender Zugang im Thema der Verfasstheit und Legitimation von Herrschaft. Zwar bleibt das politische System, in das die Handlung eingebettet ist, über nahezu den gesamten Verlauf durch ein absolutistisches Verständnis von Herrschaft bestimmt, doch gerade im Ausgang, nur wenige Augenblicke, bevor sich der Vorhang schließt, tritt ein vorgelagertes Konzept konstitutioneller Herrschaft hervor, das – wie der Zuschauer erst hier erfährt – von vornherein rahmengebend und konstitutiv war. Nur im Gesamtkontext konstitutioneller Herrschaft nämlich wird Clistene als König über Olympia eingesetzt und erhält für einen Tag absolutistische Vollmachten. Mit der unerwarteten Schlusswendung, die dem König provo-

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zierenderweise das »Recht des letzten Wortes« vorenthält,20 deutet Metastasio ein Gesellschaftsverständnis an, das erkennbar von den Staatstheorien der Aufklärung inspiriert war. Der König muss die Herrschaft nach Ablauf des Mandats wieder an das Volk zurückgeben. Nun erst, auf der Grundlage einer konstitutionellen Konzeption der Herrschaft, wird das lieto fine möglich. Die kommunikativ-politische Leistung Metastasios eröffnet sich, wie sich hier zeigt, vor allem darin, als intermediärer Botschafter zwischen Volk und Herrscher, zwischen Thron und Untergebenen, zwischen Theorie und Inszenierung zu vermitteln:21 Gerade durch das Ideal der absolutistischen Konzeption spiegelt sich der souveräne Herrscher in seinem Volk; er ist gleichermaßen Ausdruck wie Symbol der Vielen. Diese feierlich umgesetzte Ineinssetzung von Gemein- und Herrscherwillen liefert einen kaum verstecken Hinweis auf den politiktheoretischen Intertext, auf den Metastasio mit dieser Pointe rekurrierte. Wer die Grundzüge der politiktheoretischen Auseinandersetzungen jener Zeit verfolgt hatte, konnte erkennen, dass sich unser Dichter in seiner Handlungsmodellierung bei den frühen Ausprägungen der politischen Vertragstheorie bedient hatte. Thomas Hobbes hatte 1651 als erster Vertreter die Idee eines gesellschaftlichen Vetrages entworfen, um dem Naturzustand menschlicher Existenz, den er im Kern durch das bellum omnium contra omnes, den Krieg aller gegen alle gekennzeichnet sah, verlassen zu können. Indem er behauptete, dass der Mensch von Natur her auf seinen eigenen Vorteil bedacht und näherhin durch das unstillbare Verlangen nach Macht, the desire for power after power, getrieben war, hatte Hobbes die aristotelische Lehre vom Wesen des Menschen als ein geselliges, auf (politische) Gemeinschaft hingeordnetes Wesen verneint. Nur der Begünstigungsvertrag gewährleiste, dass sich die Einheit der Individuen (subjects) unter die politische Herrscherinstanz (sovereign) unterwerfe: alle außer dem Souverän werden vor dem Gesetz gleich, und der Souverän garantiert die Einhaltung des Gesetzes. Hobbes, dem es mit seiner Schrift zu allererst um die Befriedung einer durch vielfältige innere Konflikte gespaltenen Gesellschaft ging, wollte den wölfisch geprägten, zwischen Angst und Begierde zerriebenen Menschen des Naturzustands in die vertraglich geordnete Staatlichkeit überführen, in der das Recht die Macht eingrenzt und nicht umgekehrt.22 Die von ihm erdachte Form des Urvertrages, der den Staat legiti20 Vgl. Elena Sala di Felice: Metastasio. Ideologie, drammaturgia, spettacolo, Mailand: Franco Angeli 1983, S. 163. 21 Feldman: Opera and Sovereignty (Anm. 18), S. 280. 22 Peter Cornelius Mayer-Tasch: Hobbes und Rousseau, Aalen: Scientia 31991, S. 11. Vgl. Ottfried Höffe: Thomas Hobbes, München: Beck 2010.

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mierte, war Resultat einer autonomen Entscheidung, die jeder Einzelne freiwillig zu treffen hatte. Die Konstruktion gilt der Sicherheit der Bürger; und die Sicherheit ist das Ziel, an der der Herrscher sich messen lassen muss. Hobbes unterstellte bei dieser normativen Konstruktion, dass Gemein- und Herrscherwillen, von Ausnahmen abgesehen, deckungsgleich seien: Was der Herrscher begehrt, entscheidet und unternimmt, begehren, entscheiden und unternehmen auch die Unterworfenen. In seinem Willen manifestiert sich der Wille aller.23 Die Schlusswendung der Olimpiade setzt diese normative Unterstellung wirkungsvoll in Szene, wenn das Volk aus seiner eigenen Unterscheidung heraus ein Urteil trifft, das mit dem innersten Wunsch des Clistene identisch ist. Hier manifestiert sich die Entscheidung des Herrschers in der Entscheidung aller. Der Hinweis auf diese besondere Eigenart der Hobbesschen Vertragstheorie gelingt Metastasio, indem der eine, ehrenhafte und menschlich verständliche Wille sein Sprachrohr wechselt: vom singenden König geht er auf das singende Volk und seine Priesterschaft über und findet dort seinen vielstimmigen und doch harmonischen Ausdruck. Die Polyphonie der Schlusswendung, die die Monodie der Figuren ablöst und damit auch ihre Individualität einebnet, birgt eine besondere medientheoretische Pointe: Dass nun mehrere Stimmen einen einzigen Willen kundtun, der zugleich der Wille des einen ist, ist eine jener zusätzliche Sinndimensionen, die über den Text hinausgehen und die Potentiale der Medienkombination Oper auch in gesellschaftstheoretischer Hinsicht fruchtbar macht. Noch deutlicher aber verweist die Schlusswendung auf einen weiteren Intertext der politischen Theorie. War im Naturzustand jedermann Richter in eigener Sache, so wird für den zweiten großen Vertreter des Kontraktualismus, John Locke, mit dem liberalen Gesellschaftsvertrag ein Zustand erreicht, der dem Einzelnen Eigentum, Sicherheit und individuelle Freiheit garantiert. In seinen zwei Abhandlungen über die Regierung, die 1690 anonym veröffentlicht worden waren, sah Locke auch den Souverän an den Vertrag gebunden und insofern in seiner Macht eingeschränkt. Die absolutistische Macht wird verneint, denn die Souveränität verteilt sich nunmehr auf das Volk, das Parlament und die Krone. Der eigentliche Souverän ist das Volk; das Volk behält das Recht und kann die eingesetzte Legislative abberufen und ersetzen, wenn Gewalt missbraucht wird. Der Kontraktualismus eines Hobbes und Locke, der später durch Montesquieu und Rousseau fortgeführt werden sollte, bildet also die damals bekannte Hintergrundfolie, vor der die Herrscherfigur Clistene entworfen wurde. 23 Vgl. Mayer-Tasch: Hobbes und Rousseau (Anm. 22), S. 33–37.

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Dass Clistene auch im Zustand des absolutistischen Monarchen ein Vertreter der ratio und ein Verfechter des positiven Rechts bleibt, lässt er bereits im bitteren Moment erkennen, da er über Licida die Todesstrafe verhängen muss: »Io son custode/ della ragion del trono. Al braccio mio/ illesa altri la diede;/ e renderla degg’io/ illesa o vendicata a chi succede« (III, 6). Auch als Clistene später erfährt, dass Licida sein Sohn ist, bleibt er dem herrschaftsethischen Regelkanon treu und will Megacles Empfehlung einer willkürlich gewährten Gnade (»Non è più reo, quando è tuo figlio«, III, 9) nicht annehmen. Mit seiner Verurteilung hat Licida zwar seine Würde als Sohn nicht verwirkt, doch auch König und Sohn stehen unter dem Gesetz: »È forse/ la libertà de’ falli/ permessa al sangue mio?« (ebd.). Tatsächlich wiegt der Attentatsversuch sogar umso schwerer, weil er durch einen Königssohn begangen wurde, was die Normen des Hofes zusätzlich verletzt. Auch als die Herrschaft an das Volk zurückfällt und dieses über das Urteil entscheiden muss, weigert sich Clistene, zugunsten des Sohnes zu bitten, zu befehlen oder Ratschläge zu erteilen. Das abschließende Urteil des Volkes, den Übeltäter nicht hinzurichten, da dies zu allererst eine Bestrafung des Vaters bedeuten würde, hebt in überdeutlicher Weise darauf ab, den König als Menschen zu perspektivieren, der allzu tiefe – eben: menschliche – Gefühle für seinen Sohn hegt. Ist aber der Souverän in seinem Kern Mensch, wie hier, ist der Berufung auf Gottesgnadentum und auf über-menschliche Herrschaftslegitimation der Boden entzogen. Die Menschlichkeit und emotionale Nahbarkeit des Herrschers, die offen danach fragen lassen, warum dann nicht alle Menschen zum Souverän berufen sind, birgt eine brisante Kritik am höfischen Regierungsverständnis und sollte sich noch stärker in La Clemenza di Tito zum »Fallstrick des absolutistischen Staates«24 entwickeln. Der singende Körper Clistenes verweist eben nicht nur durch das An- und Ablegen des olympischen Königsgewandes auf die vom Volk ausgehende Macht, sondern auch auf die Verkleidung des Sängers, der eine Rolle im inszenierten politischen Spiel übernimmt. Sein singender Körper vermag ebenso die Affekte der Figur zu vermitteln, wie die Artifizialität des Gesanges und die Konstruiertheit der Bühnenhandlung aufzuzeigen, und verweist so auf den ExemplumCharakter des politischen Spiels. Die Olympiade rückt dadurch noch deutli24 Dieter Borchmeyer: »Herrschergüte versus Staatsraison. Politik und Empfindsamkeit in Mozarts La clemenza di Tito«, in: Michael Th. Greven/Herfried Münkler/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.): Bürgersinn und Kritik, Baden-Baden: Nomos 1998, S. 345–366, hier S. 351, in Weiterführung eines Arguments von Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg im Breisgau: Alber 1959, S. 217.

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cher in die Nähe der politischen Theorien der Zeit, die ihrerseits artifizielle Konstruktionen einer wie auch immer gearteten Utopie sind. Ein dritter Intertext, auf den die Herrscherzeichnung der Olimpiade rekurriert, wird im hohen normativen Anspruch der Figurenzeichnung ersichtlich. Metastasio bediente mit seiner Oper zugleich die Gattung des Fürstenspiegels, der die drängende Frage zu beantworten suchte, wie der ideale Herrscher beschaffen sein müsse, welche Tugenden ihn auszeichnen sollten, damit sich die mit der Vertragslehre erhofften bürgerlichen Freiheitschancen auch bewahren konnten. Eine Fülle von zeitgenössischen Abhandlungen gab Auskunft über diese Frage. In der Wunschliste der ersehnten Tugenden ragten vor allem Klugheit (prudentia), Gerechtigkeit (iustitia), Großzügigkeit des Herzens (magnanimitas), Mäßigung (temperantia), Stärke (fortitudo) und Milde (clementia) hervor.25 Niccolò Machiavellis berühmter Principe von 1532, der sich zwar formell in diese Gattung einreihte, aber inhaltlich einen markanten Gegenakzent zur normativen Ausrichtung der Fürstenspiegel setzte, sah den Herrscher nur äußerlich den Moralpostulaten verpflichtet: »Ein kluger Fürst«, so heißt es darin ohne große Umschweife, »kann und darf […] sein Wort nicht halten, wenn er dadurch sich selbst schaden würde oder wenn die Gründe weggefallen sind, die ihn bestimmten, es zu geben.«26 Ähnlich wie Hobbes empfahl Machiavelli, dessen Ausführungen eine intertextuelle Bezugsfolie auch der Olimpiade bilden, das Prinzipat allerdings für den Fall schwerer politischer Unruhen und mangelnder staatlicher Ordnung. Dass der Fürst unter diesen Bedingungen ein redemptore, eine Heilsperson sein müsse, betonte Machiavelli auch mit Blick auf die fehlende (nationale) Gesamtordnung in Italien, die er im letzten Kapitel des Principe besprach. Vor der Ausgangslage, die diese intertextuell-intermedialen Bezüge eröffnen, sollte sich in der Herrscherfigur Clistene nicht nur die Kaiserin spiegeln, sondern auch ihr Gemahl, Kaiser Karl VI., der die Sicherheit und Freiheit der Bürger persönlich zu verantworten hatte. Als Herrscher über die Olympischen Spiele, die in der Antike zusätzlich eine starke sakrale Komponente innehatten, erscheint der König auch in seiner kultischen Dimension als oberster Priester, der sich auf eine letztlich göttliche und gottgewollte Stellung und Sendung berufen kann. Im vordergründigen Spiel der Wettkämpfe und der Opernhandlung mag der Monarch noch ganz als Symbol

25 Udo Bermbach: Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht: Politik und Gesellschaft in der Oper, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1997, S. 39. 26 Niccolò Machiavelli: Der Fürst, übersetzt von Ernst Merian-Genast, Stuttgart: Reclam 1984, S. 104.

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der Transzendenz, als Stimme und Ausdruck über-menschlicher Kräfte, gelesen werden: Dass er die Spiele nicht absagen, verhindern oder unterbrechen kann, begründet Clistene – den von Anfang an die Aura der Pflicht, der Ordnung und des göttlichen Gesetzes umgibt – daher auch mit dem Hinweis auf die Götter: »senza offesa de’ numi,/ della pubblica fé, dell’onor mio,/ differir non si può« (I, 5). Doch mit der Schlusswendung wird auch dieses Verständnis korrigiert: Das Gottgewollte ist einverwoben in ein Herrschaftsverständnis, das gerade nicht von den Göttern, sondern vom Volk und von den Priestern ausgeht. Auffälligerweise wird der Schlusschor laut Libretto von Chor und Priestern getragen, was auch hier als Ausdrucksverstärker wirkt. Metastasio, der noch als Schüler Gravinas die niederen Weihen empfangen hatte und das Priesteramt Zeit seines Lebens – also auch als Wiener Hofdichter – nicht abgelegt hatte, konnte offenbar kein ernstes Interesse daran finden, den Herrscher Clistene als gottgleich darzustellen. Und war dieser es nicht, so war sein empirisches Ebenbild – das Kaiserpaar – es ebensowenig. An die Kaiserin, der primären Bezugsperson des Kunstwerks bei der Erstaufführung im Wiener Augarten, wendet sich der Dichter daher auch in der abschließenden Licenza in direkter Anrede: »Le lodi di chi regna/ Sono scuola a chi serve. Il grande esempio/ Innamora, corregge,/ persuade, ammaestra.« Der singende König, der sich für einen Tag das Gewand des Herrschers über Olympia anlegt, wird in den Schlussworten explizit mit der habsburgischen Kaiserin gleichgesetzt. Und damit schließt sich auch der semantische Kreis: Was sie will, begehrt und entscheidet, wollen, begehren und entscheiden auch die Untertanen. Dass das Lob der Herrscherin zugleich eine »Schule« darstellt und allen, die regiert werden, als Beispiel dient, sie korrigiert, überzeugt, lehrt und unterweist, bildet eine der primären Bestimmungen der Medienkombination Oper, allerdings geschieht dies unübersehbar auf der Grundlage der hohen normativen Ansprüche des Kontraktualismus. Aus medienthoretischer Sicht besteht Metastasios Kunstgriff also in der Kombination von Intermedialität und Exemplumcharakter: Der politiktheoretische Diskurs verlässt das gewohnte Medium des philosophischen Traktats – Fürstenspiegel, Streitschrift, Manifest, Mémoire usw. – und kleidet sich in die Medien der Oper: Hier auf der Bühne dienen die Figuren des Spiels und ihre Interaktionen als Exempla sowohl der gesellschaftlichen Konflikte wie auch der Lösungsoptionen, die durch die politische Theorie angedacht werden. Clistene, den die Licenza eindeutig als Exemplum der kaiserlich-habsburgischen Herrschaft perspektiviert, findet in Licida und Megacle Herausforderer, die ihrerseits Elemente der politischen Theorie ver-

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körpern. Die Theorie freilich bleibt ein Konstrukt zur Bewältigung gesellschaftlicher Interdependenzen, die in ihrer Spannung auf der Opernbühne weit eindrucksvoller und farbiger als im philosophischen Essay abbildbar sind. Die Vermittlung politischer Theorien im Operngewande prägt die Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums und erschafft eine neuartige Form der politischen Kommunikation. Weniger dezent als die politischen Reflexionen der Aufklärung zur Herrschafts- und Regierungslehre treten in der Olimpiade die ethischen und gesellschaftlichen Ansprüche hervor, denen sich die Arcadia verpflichtet hatte. Schon die Themensetzung lag ganz in den Spuren arkadischer Ästhetik, denn die Akademie veranstaltete seit 1726 regelmäßige Guiochi Olimpici, bei denen es freilich nicht um das körperliche, sondern ausschließlich um das literarische Kräftemessen ihrer Mitglieder ging.27 Nach ihrem Rhythmus richtete sich, wie gesagt, sogar das akademische Zeitverständnis.28 Das Ethos der antiken Olympischen Spiele konnte daher auch der Oper als ideale Bezugsfolie dienen, um das arcadische Spektrum gesellschaftlicher Werte intermedial zum Ausdruck zu bringen. In ihrer antiken Ausprägung waren die Spiele am Prinzip der areté, der Verbindung körperlicher, psychischer und sittlicher Vollkommenheit orientiert.29 Die Eingangsszenen unserer Oper freilich sprechen zunächst eine ganz andere Sprache und scheinen alle arkadischen Vorstellungen zu negieren: Nicht nur, dass auf der Bühne mit Licida ein jugendlicher Anti-Held auftritt, der in der Kastratenstimme singt und schon von daher aus Sicht der Arcadia unter dem Zeichen des Widernatürlichen, Artifiziellen und eben Konstruierten steht. Licida, der seinen Erzieher und Hauslehrer Aminta mit seinem windigen Betrugsplan vertraut macht,

27 Susan M. Dixon: Between the Real and the Ideal. The Accademia Degli Arcadi and Its Garden in Eighteenth-century Rome, Newark: The University of Delaware Press 2006, S. 23. 28 In der Antike bezeichnete der Begriff Olympiade genaugenommen nicht die Spiele selbst, sondern den Zeitraum zwischen den Spielen. Diese Periodisierung von zunächst acht, später vier Jahren bildete die wichtigste einheitliche Zeitrechnung der Antike überhaupt. Weiterführend: Benny Peiser: »The Crime of Hipias of Elis: Zur Kontroverse um die Olympionikenliste«, in: Stadion 16 (1990), S. 37–65, hier S. 46 f. – Von der historischen Vorlage des Clistene, dem Tyrann Kleisthenes von Sikyon, berichtet Herodot zudem, dass er als Herrscher persönlich an den Olympischen Spielen teilgenommen habe, freilich siegreich. Costantino Maeder: Metastasio, L’›Olimpiade‹ e l’opera del Settecento, Bologna: Il Mulino 1993, S. 179 mit weiteren Nachweisen. 29 Heather Lynn Reid/Michael W. Austin: The Olympics and Philosophy, Lexington: University Press of Kentucky 2012, S. 88, vgl. auch Ferenc Takacs: »Ethos and olympianism: the ethic principles of olympism«, in: International review for the sociology of sport 1992, Vol. 27, No. 3, S. 223–234.

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steht in krasser Weise im Zeichen der Reflexionsverweigerung: »Ho risoluto, Aminta;/ più consigli non vuò« (I, 1) lautet die allererste gesangliche Äußerung dieser Oper, noch bevor der Zuschauer überhaupt eine vagen Einblick in den Handlungshintergrund hat gewinnen können. Licida, gleichermaßen Anti-Held wie Anti-Vorbild, steht ganz im Zeichen seines »violento spirito intollerante« (I, 2) und verfolgt ausschließlich das Ziel, Aristea auf falschem Weg zu gewinnen. Treue, Kondition, Mäßigung und ratio – Kerntugenden der Arcadia – gelten ihm nicht viel, und schon deshalb muss er Amintas bedenkenvoller Mahnung mit selbstsicherer Siegesgewissheit begegnen: Wer Zweifeln Glauben schenkt, wisse nicht einmal, ob gerade Morgen oder Abend sei (»A dubbi tuoi/ chi presta fede intera,/ non sa mai quando è l’alba o quando è sera«, I, 3). Die verhängnisvolle Handlung, die zum Ende des zweiten Aktes in die dezidierte Todessehnsucht nahezu aller Figuren führt, nimmt ihren Ausgang also gerade dort, wo das Wertedekorum der Arcadia unverkennbar verletzt wird. Entschlusslosigkeit, Wankelmütigkeit und Treulosigkeit in der Beziehung zu Argene und bedenkenloser Einsatz von List und Intrige machen den Prinzen Licida zum vollendeten Gegenentwurf des arkadischen Anspruchs, des olympischen Ideals und des legitimen Herrschers i. S. der Vertragstheorie.30 In aller Deutlichkeit lässt Metastasios Figurenzeichnung auch eine prägnante Abgrenzung von der Barockoper erkennen, in der – wie Busenellos Poppea eindringlich gezeigt hatte – Konspiration, Kabale und Täuschung als erfolgversprechende und anerkennungsfähige Methoden der Politik hervorgekehrt wurden. Licida ist, aus dieser Perspektive, ganz Personifikation veralteter Orientierungen der Oper und muss als solches scheitern. Argene hingegen, von deren beherztem Handeln für die Rettung des Anti-Helden und das Erreichen des lieto fine so viel abhängt, tritt erstmals an einem Ort in Erscheinung, der ganz an den Bosco paraiso denken lässt, an dem die Mitglieder der Arcadia ihre Treffen ausrichteten.31 Metastasios Landschaft, die in der Szenerieanweisung detailliert beschrieben wird, ist ein locus amoenus bukolischer Ästhetik (I, 4). Der bereits für die frühe Oper typische Chor aus Schäfern und Nymphen, der hier zum Einsatz kommt und Argenes Klage über den untreuen Geliebten Licida einrahmt, stellt Argene in einen Kontext maßvoller Naturerfahrung und Freiheit: »Oh care selve, o cara/ felice libertà« (I, 4). Kraftlos und innerlich verbittert ob der Ränkespiele zu Hofe, getröstet allein von den Zeichen des Naturgeschehens, tritt Argene 30 Vgl. Mehltretter: Die unmögliche Tragödie (Anm. 2), S. 211. 31 Untersuchungen über dessen Beschaffenheit liefert Dixon: Between the Real and the Ideal (Anm. 27), S. 54 ff.

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im Ursprungssinne pastoral auf, als Schäferin. Sie ist die Aussteigerin par excellence und hat durch das Anlegen des Hirtengewandes einen entscheidenden Grenzgang vollzogen, der die raumsemantische Gegenüberstellung gesellschaftlich-politischer Bewältigungsformen über den sprachlichen Diskurs hinaus verstärkt. Dass Argene dem Organisationsmodell des Hofes davonläuft und sich ungeachtet ihrer Herkunft ein Gewand überstreift, das in seiner Bedeutung zu den bisherigen Lebensumständen konträr steht, offenbart noch einmal in aller Deutlichkeit, dass der Hof nichts weiter ist als ein Konstrukt gesellschaftlicher Interdependenzbewältigung, dem andere Konstrukte alternativ gegenüberstehen. Die Verkleidung verweist metatheatralisch ebenso auf die Ablösung der Darstellung einer arkadischen Hirten- und Mythenwelt, wie die frühe Barockoper es inszenierte, zugunsten einer diese Künstlichkeit als Konstrukt ausweisende Reflexion über die Gegebenheiten der theatralen Darstellung und ihres Weltbezuges. Ist Licida Gefangener und Getriebener seiner Leidenschaften, so ist Argene zwar unglücklich ob der versperrten und verflossenen Liebe, aber frei durch ihren Rückzugsort, und sie wird durch ihr Festhalten an den eigenen, inneren Werten als besonders tugendhaft hervorgestellt. Insofern ist sie Ausdruck des arkadischen Urmythos des vollkommenen Glücks, das dem unschuldigen Leben auf dem Land vorbehalten bleibt. Dort, wo Argene den bukolischen Raum verlässt und in den Raum des Hofes eindringt, um auf den ehemals Geliebten und nunmehr Betrüger Licida zu stoßen, ist sie nur mehr von Gefühlen des Zorns und der Raserei getrieben: »No, la speranza/ più non m’alletta:/ Voglio vendetta« (II, 12). Raumsemantisch zeigt sich, wie dieselbe Figur in antinomisch besetzten Räumen in ihrem Innersten verkehrt wird. Gewand, Bühnenbild, Maske und dramaturgische Rolle verstärken und reflektieren den medialen Übergang. Der arkadische Tugenddiskurs wird allerdings nicht nur von Aristea, sondern auch von Megacle getragen. Mit seiner Entscheidung, der Liebe zugunsten des Freundeseides zu entsagen, eröffnet er höchste moralische Ansprüche als Identifikationsvorlage an den Zuschauer. Verlässlichkeit, Beständigkeit und äußerste Opferbereitschaft sind der didaktische Gegenentwurf zum schwankend-unberechenbaren Königssohn Licida. Die Entsagung ist eindeutig als Tugend eingeordnet (II, 9). Der grenzüberschreitenden und -überwindenden Funktion des Operndichters Metastasio als Vermittler zwischen Thron und Unterworfenen entspricht auch die Figurenzeichnung Megacles, der durch seine charakterliche Noblesse – und nicht etwa durch standesmäßigen Adel – in die Ehe zur Prinzessin Aristea gelangt und damit in

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höchste aristokratische Kreise aufsteigt.32 Auch in diesem Zusammenhang, der für die aufmerksamen Zuschauer im Schönbrunner Publikum mit provozierenden Fragen der Standespolitik behaftet sein musste, schimmert das Gesellschaftsverständnis der Arcadia durch: Unter den Mitgliedern der Akademie sollte die Frage nach der standesmäßigen Schichtung und Herkunft keine Rolle spielen – so jedenfalls verlangte es das Gründungsdokument. Der Rang einer Person war hingegen den künstlerischen Meriten und der tugendhaften Einstellung geschuldet, nicht aber der familiären Abstammung. Die gesellschaftlichen Zielvorstellungen der Arcadia werden auch dort anzitiert, wo die Spielregeln des Hofes und der Kodex sozialer Bindungen thematisiert werden, so etwa in der eigenwilligen Arie Del destin non vi lagnate, die Pergolesi als Menuett vertont hat. Mit ihr wendet sich Clistene gleichermaßen mahnend wie tröstend an Aristea und Argene und sinniert über die Macht von Männern und Frauen: Sind diese stark, bleiben jene schön – und so gewinnen die Frauen durch ihre Unterordnung und Dienstbarkeit, wann immer Schönheit und Tugend im Wettstreit liegen: »siete serve, ma regnate/ nella vostra servitù./ Forti noi, voi belle siete,/ e vincete in ogn’impresa,/ quando vengono a contesa/ la bellezza e la virtù.« (I, 5). Hier mag nicht nur ein poetologischer Hinweis versteckt sein: Klangschönheit und Darstellungsästhetik der virtù müssen korrelieren und Hand in Hand gehen, soll die Oper im Zeichen der Arcadia erneuert, aus ihrem ethisch fragwürdigen Mantel der Barockästhetik befreit und neuen Ufern zugeführt werden. Auch in politischer Hinsicht wird es brisant, denn dem Wettstreit der Olympischen Spiele steht offenbar ein zweiter Wettkampf zur Seite, der auf dem Gebiet sozialer Rollen ausgetragen wird. Der gesellschaftliche Rahmen könne kein Grund sein, dass sich die Frau über ihr Schicksal beklage, meint Clistene. Gleichwohl darf Aristea bei Metastasio für die damaligen Verhältnisse verblüffend offen aussprechen, dass die Heirat eine krasse Unterwerfung der Frau unter den Mann bedeutet: »E’ d’Imeneo per noi pesante il giogo; e già senz’esso abbiamo che soffrire abbastanza/ nella nostra servil sorte infelice« (I, 5). Das höfische, von Schicksalsschwere und Unglück bestimmte Frauenbild, das hier zum Ausdruck kommt und als Spiegel der konkreten Schönbrunner Verhältnisse gelten darf, stand der Praxis und Vorstellungswelt der Arcadia, die als einzige akademische Einrichtung ihrer Zeit auch Frauen als aktive Mitglieder aufnahm, diametral entgegen. Auch wenn der Anteil weiblicher Mitglieder in den Anfangsjahren der Akademie nur bei

32 Vgl. Feldman: Opera and Sovereignty (Anm. 18), S. 250.

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etwa acht Prozent lag,33 so pflegte die Arcadia doch seit ihrer Gründung eine intensive Reflexion über das Weibliche und gelangte so zu einem für die zeitgenössischen Verhältnisse einmaligen Frauenbild, dessen Außenwirkung auch dadurch besonders hoch war, dass Christina von Schweden die Schirmherrschaft der Akademie übernahm.34 Metastasios offener Blick auf das Schicksal der höfischen Frau lag also ganz in den Spuren der normativen Vorstellungen der Arcadia. Diese Übersicht über die vielfältigen Bezüge zwischen der zeitgenössischen politischen Theorie, einzelnen Formen der Praxisbewältigung – wie etwa im Rahmen der Arcadia – und den intertextuellen Bezügen in Metastasios Olimpiade zeigt, dass der politische Diskurs schon in der ersten Hälfte des Settecento einen signifikanten Schwerpunkt der Opernkunst darstellt. Als der Arcadia-Schüler und Rationalist Metastasio seine Oper umsetzte, hatte die Aufklärung in Italien ihren Zenit noch längst nicht erreicht, doch im bourbonischen Neapel, der ersten größeren Wirkungsstätte unseres Dichters, kamen aufklärerische Tendenzen immerhin in ihren ersten Ansätzen zur Ausprägung – und dies, obwohl der spätere zentrale Akteur der italienischen Aufklärung, Pietro Verri, die Denker- und Literatenszene noch nicht einmal betreten hatte. Die leisen Töne, mit denen gesellschaftstheoretische Fragen in diesem frühen Stadium vorgetragen wurden, waren wohl auch ausschlaggebend dafür, dass in der Forschung der Eindruck entstehen konnte, bei den Vertretern des Primo Settecento sei in politischer Hinsicht »wenig zu entdecken«.35 Metastasios Olimpiade zeigt nicht nur, wie zeitgenössische Diskurse zur Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen in die Opernkunst einverflochten wurden, sie macht in politischer Hinsicht vor allem den Wirkungs- und Bedeutungszuwachs deutlich, den die Oper als Medienkombination entfaltet: indem sie das Schauen, Hören, das Raumund Sozialempfinden mit gesellschaftlichen, politik- und sozialtheoretischen 33 Dixon: Between the Real and the Ideal (Anm. 27), S. 105. 34 In ihrem Verständnis des Weiblichen konnte sich die Arcadia allerdings auf das höfische Rollenverständnis berufen, wie es bereits bei in Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano von 1528 zum Ausdruck kam: hier bereits vereinte die Frau in sich Tugendhaftigkeit und belesene Eloquenz als Konversationspartnerin. Weiterführend: Silke Segler-Meßner: Zwischen Empfindsamkeit und Rationalität: der Dialog der Geschlechter in der italienischen Aufklärung, Berlin: Schmidt 1998, S. 88 f. 35 So u. a. die Forschungskritik bei: Wolfgang Theile: »Aufklärung und Literatur in Italien: ein problematisches Verhältnis«, in: Anselm Maler/Angel San Miguel/Richard Schwaderer (Hrsg.): Europäische Aspekte der Aufklärung. Frankfurt am Main: Lang, 1998, S. 81-91, S. 82. Vgl. auch Ulrich Schulz-Buschhaus: »Die Literatur der italienischen Aufklärung«, in: Klaus von See u.a. (Hrsg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main: Athenaion, 31980 (Bd. 13, Europäische Aufklärung).

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Themen verbindet, kommt der Oper eine Verstärkerfunktion zu, die sie nicht erst in ihrer gesellschaftsumwälzenden Blüte des 19. Jahrhunderts, sondern schon hier, auf kleinerer Bühne unter Beweis stellen konnte: Sowohl die Rezeption der frühen Vertreter der Vertragstheorie sowie das Spiel mit den normativen Orientierungen der Accademia dell’Arcadia und ihres für ihre Zeit hochinnovativen Gesellschaftsbildes dienen letztlich dem Ziel, die Konstrukthaftigkeit politischer Organisationsmodelle transparent werden zu lassen, dem Opernrezipienten durch die Kombination unterschiedlicher Medien neue Sichtweisen zu eröffnen und gesellschaftliche und politische Strukturen als wandelbar darzustellen. Tatsächlich nämlich besticht die Oper in ihrem Kern durch ihr Veränderungspotential, indem sie die Artifizialität politischer Modelle ins Zentrum rückt und kraft ihrer eigenen Medialität gesellschaftliche Interaktion zum rezipierbaren Exempel werden lässt. In höchstem Maß politisch geprägt war freilich auch die Rezeptionsgeschichte der Opern Metastasios selbst: Als Sinnbild und Ausdruck eines gesellschaftlichen Regimes, dessen Zeit abgelaufen war, geriet Metastasios Opernwerk mit der Französischen Revolution in die Defensive und verschwand nahezu vollständig von allen Spielplänen. Mit Ausnahme der eingangs zitierten Oper La Clemenza di Tito, bei der freilich die kompositorische Leistung Mozarts der Vermarktung nachhalf, fand kaum ein Werk Metastasios im 20. Jahrhundert mehr den Weg auf die Bühne. Gerade aus politikwissenschaftlicher Sicht also wäre es höchste Zeit für eine vorurteilsfreie Relecture.

»L’Opéra, disait-on, ne marche que sur les jambes de ses danseurs«1 Das Ballett der grand opéra CATHARINA BUSJAN

Dass das Ballett für die grand opéra, so wie Meyerbeer sie paradigmatisch ausprägen wird,2 von großer Bedeutung ist, lässt sich leicht anhand von zwei

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Bei aller Anerkennung, die die zeitgenössische Kritik den Sängern der grand opéra und insbesondere [Marie-]Cornélie Falcon zollt, bleibt dennoch die zentrale Rolle des Balletts in der tagesaktuellen Berichterstattung ebenso wie in opernhistorischen Überblicken unbestritten. Eugène Briffauts Aussage, die seinem, unter dem Eindruck der Premieren Meyerbeers für die Livres des Cent-et-Un verfassten Abriss zur Geschichte der frz. Oper entstammt, mag dafür als prägnantes Beispiel dienen. (E. B.: »L’Opéra par Eugène Briffaut«, in: Paris ou Le livre des Cent-et-Un 15 (1834), S. 365−428, hier S. 411. Ebd. auch: »La danse ne cessa pas d’y régner en souveraine.«) Die Frage nach Gattung oder Personalstil – d. h., ob die grand opéra als eigenständige Gattung der französischen Oper gelten kann oder ob die Untersuchung ausgewählter Opern eines einzelnen Komponisten – im Wesentlichen Meyerbeers Trias Robert le Diable, Les Huguenots, Le Prophète – Gattungsfragen überlagert, kann man vielleicht mit Blick auf Hempfers Vorschlag für ›Gattung‹ lösen: »[t]heoretischer wie metatheoretischer Begriff für Textgruppenbildungen unterschiedlichen Allgemeinheitsgrades, die diachron und synchron in Opposition zueinander stehen«. (Hempfer, Klaus W.: »Gattung«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, hrsg. von Klaus Weimar, in Zusammenarbeit mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Berlin/New York: de Gruyter 1997, S. 651−655, hier S. 651.) Die Zeitgenossen können sich jedenfalls weitgehend auf eine Gruppe musikdramatischer, unter dem (späteren) Hyperonym grand opéra gebündelter Werke verständigen und diese Gruppe von anderen absetzen (auch wenn große programmatische Schriften zur grand opéra fehlen); die Forschung argumentiert – bei aller Problematik im Einzelfall – inzwischen ebenfalls konsensuell, so wie dies etwa der Cambridge Companion to Grand Opera von 2003 (Charlton, David (Hrsg.), Cambridge: Cambridge University Press) zeigt. Zu den Einwänden gegen einen Gattungsbegriff grand opéra vgl. Gerhard, Anselm:

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Anekdoten zeigen. Beide Begebenheiten belegen nicht nur, dass Wohl und Wehe eines musikdramatischen Werks entscheidend vom Bühnentanz abhängen konnte, sondern markieren zugleich Dreh- und Angelpunkte sowohl für die beiden unterschiedlichen musikdramatischen Gattungen Oper und Ballett als auch für deren spezifische Kombination im Rahmen der grand opéra: Die Rede ist hier von Geschehnissen, die sich während Aufführungen der Muette de Portici einerseits und des Tannhäuser andererseits zugetragen haben. Um das Pferd von hinten aufzuzäumen, bzw. um einen historischen Punkt zu benennen, von dem ab die grand opéra als überholt gekennzeichnet wird, zunächst zum Tannhäuser in Paris: Die bis dahin dominierende musikdramatische Form hatte ihre Stellung offensichtlich verloren, als 1861 Wagner seine für die Metropole umgearbeitete »Große romantische Oper« nach drei stürmischen Abenden zurückzog und weitere Vorstellungen in der französischen Hauptstadt verbot. Entzündet hatte sich der prototypische und von mehr als einer Seite kalkulierte Theaterskandal am Ballett, das Wagner für den Tannhäuser – entgegen den Erwartungen an ein ballet blanc in einem der mittleren Opernakte – als Bacchanal im Venusberg gestaltete und an den Beginn der Oper verlegte. Gegen eine solche Abwandlung des gewohnten Ablaufs und Erscheinungsbilds protestierten prompt die Mitglieder des Jockey Clubs, die vor allem Tanz und Tänzerinnen im weißen Tutu hoch schätzten und Opern daher oft nur in den entsprechenden Akten besuchten; Wagner hielt vehement dagegen.3 Charakteristische Merkmale der grand opéra – so wie es das angeblich ›fehlende‹ bzw. als nicht gültig angesehene Ballett des Tannhäuser zeigt – sind also in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts zu Konventionen geronnen. Diese Tatsache weiß sich Wagner, der gerade mit der Figur des Tannhäuser den Anspruch auf ein keiner formalen Vorgabe verpflichtetes, nur

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»Grand Opéra«, in: MGG2 (Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher), Sachteil, Bd. 3, Kassel/Stuttgart u. a.: Bärenreiter/Metzler 1995, Sp. 1575−1595, insbesondere 1575 f. Vgl. dazu die Schilderung von Malvisa von Meysenburg: Memoiren einer Idealistin, Stuttgart: Auerbach 1876, S. 292−295, hier S. 293 f.: »Endlich aber – und dies war die Hauptsache – waren die jungen Pariser Löwen, die Herren des Jockey-Clubs, empört, dass kein Ballet in der gewöhnlichen Form und zu der gewöhnlichen Zeit, d. h. im zweiten Akt,stattfinde. Es war notorisch, dass die Balletdamen eine Erhöhung ihrer Gage von diesen Herren erhielten, und dass die Letzteren gewohnt waren, nach beendigtem Diner in die Oper zu gehen, nicht um Harmonien zu hören, sondern um die unnatürlichste und und scheusslichste Ausgeburt der modernen Kunst, das Ballet zu sehen, nach dessen Beendigung sie sich hinter die Coulissen zu näherem Verkehr mit den springenden Nymphen begaben.«

DAS BALLETT DER GRAND OPERA

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seiner Kunst Ausdruck verleihenden Werk verficht, für sein Profil als kompromissloser Künstler zu Nutze zu machen. Der spektakuläre und selbst herbeigeführte Eklat dient also nicht zuletzt der Selbstmodellierung: Wagner, der durchaus erwogen hatte, dass die um den Künstler zentrierte Oper Tannhäuser in der von ihm erarbeiteten Form durchfallen würde, findet Widerstand und einen Widerpart im Pariser Publikum, das sich hier griffig auf eine – unbestritten vorhandene – Gruppe reicher Bonvivants und Lebemänner reduziert, deren Enthusiasmus für das Ballett sie letztlich als Banausen ausweist.4 Von hieraus zurück zum Punkt, an dem sich die Gattung grand opéra erstmals voll entwickelt fassen lässt: zur Muette de Portici, die am 28.02.1828 an der Pariser Oper (und zwar in der nach ihrer Adresse an der rue Le Pele-

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Zur Selbstdarstellung Wagners als Künstler vgl. die Passage, mit der sein Biograph Carl Friedrich Glasenapp die Beschreibung des Pariser Aufenthalts beginnen lässt: »Ein geräuschloses Winkelchen war alles, was Wagner von der glänzenden Metropole Frankreichs verlangte. Nicht um mit ihrer Kunstöffentlichkeit, ihren Direktoren und Virtuosen in nähere Berührung zu treten, war der Meister hierher gekommen, sondern weil er hoffte, daß diese Stadt ihm abseits von dem lauten Getriebe der Tagesinteressen eine stille Zuflucht zu ungestörter Arbeit bieten konnte.« (Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern (Dritter Band, 4. Buch: »Im Exil«), Leipzig: Breitkopf & Härtel 1905, S. 217.) – Die Inszenierung seiner selbst gewinnt für Wagner im Zusammenhang mit dem Tannhäuser beinahe topische Züge (vgl. dazu den auf den April 1845 datierten Eintrag Wagners auf der letzten Seite der Tannhäuser-Partitur: »mit meinem ganzen Wesen in […] verzehrender Weise […] tätig gewesen«). Tannhäuser ist ein lebensbegleitendes Werk; Cosima übermittelt im Tagebucheintrag vom 23.01.1883, Wagner habe in seinen letzten Lebenstagen ausgerufen, er sei der Welt noch einen Tannhäuser schuldig. Zu Wagners Tannhäuser vgl. u. a. Tebben, Karin: Tannhäuser. Biographie einer Legende, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, insbesondere S. 71−90. – Zur Beziehung Meyerbeer-Wagner, anhand derer sich eine ›Poetik‹ unterschiedlicher Formen des Musiktheaters herausarbeiten lässt, vgl. Oberzaucher-Schüller, Gunhild/Linhardt, Marion/Steiert, Thomas (Hrsg.): Meyerbeer – Wagner. Eine Begegnung, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1998; der Band enthält neben Studien zum Thema zahlreiche Dokumente, v. a. die im Zusammenhang interessierenden Briefe Wagners (siehe S. 142−296). Ein Kernstück dieser besonderen Beziehung ist Wagners Text »Über das Judenthum in der Musik« (rezent hat Jens Malte Fischer den Text ediert: Fischer, Jens Malte (Hrsg.): Richard Wagners Das Judentum in der Musik, Frankfurt/Main: Insel 2000). Die Aburteilung der grand opéra und der Arbeit Meyerbeers ist freilich nicht auf Wagner, Schumann oder das 19. Jh. beschränkt. Prominenter Gegner in späterer Zeit ist Debussy, der als Monsieur Croche gegen die Wiederaufnahme der Hugenotten Einspruch erhebt (vgl. auch Gerhard: »Grand Opéra« (Anm. 2), Sp. 1589). Zur Revalorisierung der grand opéra vgl. die Studie von Gerhard, Anselm: Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler 1992.

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tier benannten Salle Le Peletier oder Opéra Le Peletier) uraufgeführt wird. Anders gesagt: Mit diesem Datum ist das Gründungsdatum der grand opéra als Gattung bezeichnet.5 Und dieses Mal ist der Bühnentanz ebenfalls entscheidendes Moment in der Erzählung der Genese. Denn für die Uraufführung der Muette – so sagt man – war die gewünschte Sängerin nicht verfügbar; die Titelpartie wurde daraufhin für Lise Noblet umgestaltet – und damit für ebenjene Tänzerin, die vor Marie Taglioni erste Solistin des Opernballetts war. Die Muette etablierte die (musik-)dramatische Gattung mit einem Erfolg, der sich in einem Theaterbetrieb, der nur wenig stehendes Repertoire kennt, u. a. anhand der Aufführungszahlen bemessen lässt: Bis 1882 verzeichnen die Pariser Häuser 489 Aufführungen des Stücks.6 Zu dieser fortdauernden Präsenz trägt vermutlich auch der Ruch des Aufruhrs bei, der die Oper umweht.7 Denn als bei der Aufführung der Muette am 25.08.1830 am Brüsseler Théâtre de la Monnaie das Duett »Amour sacré de la patrie« und der Chor »Non, plus d’oppresseurs, plus d’esclaves,/ Combattons pour briser nos fers« erklangen, sollen diese beiden Nummern der direkte Auslöser für den Aufstand gewesen sein, der sich 1830 gegen die in den Niederlanden regieren-

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Vgl. Finscher, Ludwig: »Aubers La muette de Portici und die Anfänge der Grandopéra« in: Jürgen Schläder/Reinhold Quandt (Hrsg.): Festschrift Heinz Becker zum 60. Geburtstag am 26. Juni 1982, Laaber: Laaber-Verlag 1982, S. 87−105. Zur Aufführungsstatistik vgl. Charlton: The Cambridge Companion to Grand Opera (Anm. 2), S. 22 u. S. 301. Nukleus der Handlung ist ein neapolitanischer Volksaufstand: Kleine Leute, angeführt vom Fischer Tommaso Masaniello aus dem Fischerhafen Portici empören sich im Jahr 1647 gegen die spanischen Besatzer. Zum Inhalt der Oper: Die Oper setzt zwei Paare gegeneinander, das königliche Paar Alphonse (den Sohn des Vizekönigs) und Elvira (eine spanische Prinzessin). Die Oper beginnt mit Vorbereitungen zu ihrer Hochzeit. Das zweite, niedere und kontrastierende Paar besteht aus Tommaso Masaniello und seiner stummen Schwester Fenella: Sie ist eines der Opfer des stets auf Eroberungen ausziehenden Sohn des Vizekönigs. Freilich weiß Fenella nichts vom Rang, den Alphonse bekleidet, Elvira wiederum weiß nichts von den Eskapaden ihres Bräutigams. Dies ändert sich: Als Fenella Alphonse erkennt und dies ihrem Bruder mitteilt, entfesselt dieser einen Aufstand gegen die verhassten Spanier; Elvira indes verzeiht ihrem zukünftigen Mann, als sie von Fenella erfährt. Der Aufstand greift unerwartet weit um sich, das königliche Paar flieht und sucht (zunächst unerkannt) Schutz in der Fischerhütte Masaniellos. Doch andere Fischer – insbesondere der stets misstrauische Pietro – erkennen Alphonse und Elvira und vergiften Masaniello, da sie in ihm einen Verräter wittern. Masaniello stirbt, kann aber das königliche Paar retten; Fenella stürzt sich in den ausbrechenden Vesuv.

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den Vertreter der Habsburger richtete, und der schließlich zur Gründung des Königreichs Belgien führte.8 Was nun die neue Gattung ausmacht, das bringt Louis Désiré Véron (von 1831−1835 Impresario der Pariser Oper) in seinen Mémoires unter dem Stichwort einer »poétique d’un opéra en cinq actes« auf den Punkt und macht unmittelbar im selben Passus u. a. La Muette, Robert le Diable, Les Huguenots und Le Prophète als herausragende Vertreter der Gattung aus: Un opéra en cinq actes ne peut vivre qu’avec une action très dramatique, mettant en jeu les grandes passions du cœur humain et de puissants intérêts historiques; cette action dramatique doit cependant pouvoir être comprise par les yeux comme l’action d’un ballet; il faut que les chœurs y jouent un rôle passionné, et soient pour ainsi dire un des personnages intéressants de la pièce. Chaque acte doit offrir des contrastes de décorations, de costumes, et surtout des situations habilement préparées. […] La Muette, Robert-le-Diable, […] les Huguenots, le Prophète, de M. Scribe, offrent cette fécondité d’idées, ces grandes situations dramatiques, et remplissent toutes les conditions de variété de mise en scène que réclame la poétique d’un opéra en cinq actes. Quand on peut disposer du plus vaste théâtre, ayant quatorze plans de profondeur, d’un orchestre de plus de quatre-vingts musiciens, de près de quatre-vingts choristes, hommes et femmes, de quatre-vingts figurants sans compter les enfants, d’un équipage de soixante machinistes pour manœuvrer les décorations, le public attend et exige de vous de grandes choses. Vous manquez à votre mission si tant de ressources ne vous servent qu’à jouer des opéras-comiques ou des vaudevilles.9

Die grand opéra, so wie sie sich mit der Muette erstmals darstellt, ist also eine fünfaktige Oper, die (in heutiger Terminologie) mit einem internationalen Team in Paris produziert wird. Der gesamte Betrieb ist durch hohen Aufwand gekennzeichnet; Überschuss und Überfluss betreffen Menschen ebenso wie Material. Dies bedeutet zugleich, dass – auch wenn die Produktionen der bejubelt und die Vorstellungen sehr gut besucht werden – die Pariser

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Freilich fielen hier Ereignisse eher zufällig zusammen: Hatte sich doch der König, Wilhelm I./Guillaume Ier des Pays-Bas, selbst das Werk für die Vorstellung zu Ehren seines Geburtstags gewünscht; die Unruhen wiederum, die aus zahlreichen Konflikten auf dem Gebiet des Königreichs der Niederlande resultierten, hatten bereits in den Tagen vor jenem 25.08.1830 begonnen. Und so erscheint vor allem im rückblickenden Wissen um den historischen Verlauf und als Auszeichnung jener neuen Gattung die Muette als weit über die Rampe hinaus wirkmächtig – obwohl doch die Hauptfigur der Oper (wie dies der Titel anzeigt) stumm ist. Die Muette ist zugleich Eugène Scribes erstes Libretto zu einer grand opéra, vgl. Werr, Sebastian (Hrsg.): Eugène Scribe und das europäische Musiktheater, Berlin u. a.: LIT 2007 (= Forum Musiktheater, 6), insbesondere die Beiträge von Manuela Jahrmärker: »Scribe – Erfolgsautor und Reformator im Pariser Theaterleben«, S. 8−19 und Cormak Newark: »Interpreting la Muette«, S. 46−64. Véron, Louis Désiré: Mémoires d’un bourgeois de Paris, Bd. 3, Paris: Gabriel de Gonet 1854, S. 252 f.

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Oper zu den am höchsten subventionierten Theaterunternehmungen des französischen Staates zählt.10 Und gerade das auf Geld und Geldeswert bedachte bürgerliche Publikum billigt die immensen Summen, die diesem Theater zugeschossen werden. Denn die nach der Julirevolution endgültig aufgestiegene bürgerliche Gesellschaft stellt mit Ausgaben einer solchen Größenordnung die eigene Produktivität, Kapazitäten und Leistungsfähigkeit unter Beweis; sie erkennt sich in großen Zahlen auf allen Ebenen wieder, sieht sich in der Entfaltung eines schier unerschöpflichen Potentials bestätigt: la révolution de Juillet est le triomphe de la bourgeoisie: cette bourgeoisie victorieuse tiendra à trôner, à s’amuser; l’Opéra deviendra son Versailles, elle y accourra en foule prendre la place des grands seigneurs de la cour exilés.11

Der Aufwand macht sich etwa in den technischen Innovationen einer jeden Inszenierung bemerkbar. Die grand opéra als genuine Kunstform des 19. Jahrhunderts treibt technischen Fortschritt nachdrücklich voran und entwickelt Lösungen in den Bereichen Bühnenbau, Bühnentechnik, Maschinerie und Beleuchtungswesen, die ins 20. Jahrhundert hinein wirken. Um nur drei Beispiele anzuführen: Die Muette endet mit dem Ausbruch des Vesuv; im Robert le Diable kommt (unter Meyerbeers direkter Aufsicht) erstmals farbiges Gaslicht zum Einsatz; im Prophète leuchtet erstmals elektrisches Licht auf der Bühne – und zwar in Form einer Bogenlampe als Sonne. Die Opern sind so zugleich Ausstattungsopern: Alle Werkstätten, insbesondere die Kostümabteilung (Schneiderei, Schuhmacherei, Modisterei, Kostümfärberei/-malerei, Rüstmeisterei) werden stark beansprucht. Ziel ist dabei freilich nicht nur Augenschmaus, Opulenz oder Prachtentfaltung. Das Augenmerk der Gewandmeister, Waffenmeister und Requisite gilt vielmehr erstmals auch historischer Treue: So wie Scribe geschichtliche Abläufe bis ins Detail verfolgt und Meyerbeer ältere Musik heranzieht (das Paradebeispiel ist wohl der Choral Ein feste Burg ist unser Gott, der die Huguenots motivisch durchzieht und argumentativ verortet, auch wenn, historisch betrachtet, kein Hugenotte diesen Choral je gesungen haben dürfte), so untersteht auch die kostspielige Ausstattung einem Prinzip der couleur locale und couleur du temps – angelehnt an die Forderungen, die Hugo 1827 in der Préface

10 Oper ist in Frankreich, insbesondere in der frz. Hauptstadt, eine privilegierte Kunstform. Dies gilt erstaunlicherweise für alle Regierungen, seit Louis XIV. das erste Opernprivileg verlieh – seien sie revolutionär oder restaurativ. 11 Véron: Mémoires (Anm. 9), Bd. 3, S. 171.

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zum Cromwell in unmittelbarer Nachbarschaft zur Uraufführung der Muette vorlegt.12 Dementsprechend sind Stoff oder Materie der Opern der Frühen Neuzeit entnommen, genauer gesagt: die Opern sind in ihrem Kern historisch und beziehen sich oft auf Wendepunkte in der nachantiken Geschichte. Sie spielen Einzelinteressen in große Zeitläufte hinein und präsentieren mithin die Vergangenheit in spezifischer Weise: Wie alle historischen Gattungen verschränken sie Fakt und Fiktion (Komplement des historischen Interesses ist dabei ein gesellschaftlicher Impetus). Etwas anders gesagt: Gestalten und Schicksale werden mit historischen Ereignissen verknüpft, die Vergangenheit wird über diese Gestalten erfahrbar. Anschaulich entfaltet sich vor den Augen der Zuschauer eine Zeit mit ihren besonderen Details, die sonst abstrakt (und damit schwer oder nicht zugänglich) bliebe. Und zugleich bleibt doch Abstand zur Historie gewahrt, denn immer wieder agieren oder argumentieren die Figuren im Rahmen aktueller Denkmöglichkeiten, d. h. im Rahmen der Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts. Ganz im Sinne Hugos akzentuiert die Handlung so nicht den handlungslogischen Ablauf im Nacheinander von Ursache und Wirkung, vielmehr erschließt sich das Geschehen über Kontraste, gegenläufige Interessen oder Positionen, die als unvereinbar nebeneinander montiert werden. Diese Kontraste werden – gemäß den genuinen Möglichkeiten der Oper – beispielsweise in Tableaus angeordnet, in Oppositionen ausgestellt (wenn etwa auf einen monologischen Soloauftritt ein großer Chor folgt) oder durch stilistische Vielfalt (vor allem der Musik) herausgestrichen. Ein weiteres Merkmal ist die hohe Dynamis der Werke, die sich – wie noch zu vertiefen – im imaginären Raum ebenso wie im auf eine historische Lebenswelt referenzierenden Aktionsraum der Bühne ent-

12 Vgl. allgemein zu Hugos Kategorie der couleur locale im Kontext des Musiktheaters Becker, Heinz (Hrsg.): Die »Couleur locale« in der Oper des 19. Jh.s, Regensburg: Bosse 1976 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jh.s, 42), darin v. a. den Beitrag von Becker selbst »Die ›Couleur locale‹ als Stilkategorie der Oper«, S. 23−45. Zu Hugos Konzepten und Meyerbeers Huguenots im Besonderen vgl. Walter, Michael: Hugenotten-Studien, Frankfurt/Main u. a.: Lang 1987 (= Europäische Hochschulschriften, 36), S. 97 ff. – Wie die Ausstattung der einzelnen Opern beschaffen war, lässt sich zumindest in Teilen anhand der sogenannten Livrets de mise en scène verfolgen: Die Pariser Livrets fokussieren eindeutig die Neuerungen der Bühnentechnik, vgl. Baumann, Carl-Friedrich: »Livrets als bühnentechnische Quelle«, in: Sieghart Döhring (Hrsg.): Giacomo Meyerbeer – Musik als Welterfahrung. Festschrift Heinz Becker zum 70. Geburtstag, München: Ricordi 1995, S. 9−29.

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faltet.13 Die hochdynamische Bühnenaktion wird mit großem orchestralem Einsatz, vor allem aber über die Chöre und mittels einer Vielzahl von Statisten, Sängern und Tänzern realisiert. Es tritt damit nicht nur eine große Anzahl von Mitwirkenden in (mehrfach) bestimmten Räumen auf, überdies wird hier eine Dramaturgie der Masse erarbeitet. In physischer Interaktion und konzentrierter Kommunikation entfaltet sich im Bühnenraum kollektives Handeln. Nicht zuletzt kennzeichnet die grand opéra eine gesteigerte emotionale Temperatur, sie ist eine hochdramatische Form. Auf diesem Weg erfolgt dann auch die Rückgewinnung des Tragischen für die Oper, die sich ja gattungsgeschichtlich seit ihrem Entstehen Ende des 16. Jahrhunderts dem tragischen Ende traditionell entzieht. Die Opern, die der grand opéra zugehören, enden indes tragisch – einmal von Robert le Diable abgesehen, den man mit seinem ›halben‹ lieto fine als Übergangsform werten kann.14 Gängig ist von diesem Moment an der Tod des Protagonisten bzw. der zentralen Figuren. Dabei ist dieser Tod weniger Ergebnis einer schuldhaften Verstrickung und ebenso wenig nach handlungslogischer Entwicklung unvermeidbar, sondern er resultiert letztlich aus Missverständnissen, Irrtümern und kleinen Fehlschlüssen, an die sich dann immer wieder große Gesten anschließen. Kurzgefasst gehört die grand opéra mit ihrer Vorliebe für frühneuzeitlichprotonationale oder christlich-mittelalterliche Stoffe einer Spielart der Romantik zu: Sie lässt sich von Geheimnissen, Übernatürlichem und Irrationalem faszinieren; sie kombiniert eine Rekonstruktion ferner Vergangenheit, die auch zum Eintauchen in ferne Welten werden kann, mit einem Modernitätsbewusstsein, das u. a. in rasantem technischen Fortschritt einen Ausdruck findet. Sie hebt ab auf historische und soziale Bedingtheiten eines dargestellten Geschehens und tritt – ihrem Geschichtsbild entsprechend – allen Annahmen eines überzeitlichen Wesens des Künstlerischen zugunsten breiter Variabilität der Mittel und Möglichkeiten entgegen.

13 Zu dieser Raumkonzeption, der das Verständnis von Theater als Raumkunst zugrunde liegt, siehe Herrmann, Max: »Das theatralische Raumerlebnis«, in: Jörg Dünne/Stefan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 501−514. 14 Das glückliche Ende des Robert le Diable ist hier als ein ›halbes‹, also unvollständiges apostrophiert, da es sich bei genauerem Hinsehen als einem nicht erklärten Zufall geschuldet zeigt: Robert soll nämlich für die Hölle gewonnen werden, bis Mitternacht muss Bertram dies in die Tat umsetzen oder er verliert jede Macht über ihn. Und die gesetzte Frist läuft einfach ab. Es ist freilich auch eine Inszenierung der Vorlage denkbar, in der Robert seine Entscheidung so lange aktiv verzögert, dass selbst der Teufel die Geduld verliert.

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Deutlich greifbar ist in der grand opéra ein ästhetischer Wandel: Eine Darstellungsästhetik verschiebt sich zur Ausdrucksästhetik – dahinter scheinen zudem Ansätze rezeptionsästhetischer Überlegungen auf. Am leichtesten ist dies im Umgang mit dem Libretto zu fassen. Denn obwohl Scribe für das Leitungsteam der Oper unbestreitbar ebenso wichtig ist wie Meyerbeer,15 ist die grand opéra nichts desto weniger die erste musikdramatische Form, die das Libretto in seinen ursprünglichen Funktionen aussetzt: War das »Büchl« einst unverzichtbarer Teil des Abends, wurde mit dem Billet gemeinsam verkauft und diente mit Text, argomenti und Erläuterungen dazu, die Handlung zu verfolgen, so setzt die grand opéra demgegenüber allen Ehrgeiz darein, ihre Mittel derart zu gebrauchen, dass ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Bereichen besteht – so dass etwa die Ausstattung ein Geschehen nicht nur bebildert, sondern eben die ästhetische Erfahrung einer anderen Zeit gewährleistet. Im Idealfall erreichen die Aufführungen dieses Ziel ohne (stützende oder flankierende) Lektüre.16 Zudem ist den künstlerischen und administrativ Verantwortlichen der Pariser Oper daran gelegen, dass sich das sinnhafte Gefüge einer Vorstellung in den wesentlichen Punkten im Moment der Rezeption erschließt. Oder wie Véron (im vorne angeführten

15 Der Begriff ›Leitungsteam‹ gehört strenggenommen in den Bereich aktueller Produktionen des Musiktheaters (die Mitglieder eines modernen Leitungsteam übernehmen üblicherweise folgende Aufgaben: musikalische Leitung/Dirigat, Text/Libretto, Inszenierung/Regie, Dramaturgie, Bühne, Kostüme, Licht, Choreographie, Choreinstudierung). Allerdings lässt sich die Produktion der Opern Meyerbeers mit heutigem Vorgehen ohne großen Aufwand vergleichen, daher sei der Begriff hier herangezogen. Vgl. zum Produktionsprozess der grand opéra schon Crosten, William L.: French Grand Opera. An Art and its Business, New York: Da Capo Press 1972, S. 70: »In the ensemble of men who joined to produce French grand opera it was the union of talents which ultimately gave the form its unique character and which insured its complete success. Yet it is also true that in this concert of effort certain individual contributions stand forth as props for the whole enterprise. Of particular importance in this respect is the work of Scribe, for it was he in large measure who made grand opera possible by channeling the brilliant scenic innovations of Cicéri and Duponchel into a clear dramatic structure designed to challenge the eye, appeal to the contemporary mind, and satisfy musical requirements of the composer.« 16 Vgl. dazu Gerhard: »Grand Opéra« (Anm. 2), Sp. 1592: »Mit dem konsequent durchgeführten Verfahren, akustische und optische Ereignisse so aufeinander zu beziehen, daß die Grundzüge der Handlung auch ohne vorherige Lektüre des Librettos und ohne literarische Bildung nachvollzogen werden können, wurde in der französischen Oper der späten 1820er und frühen 1830er Jahre der entscheidende Modernisierungsschritt vollzogen, der auch noch unseren heutigen Ansprüchen an jede Operninszenierung zugrundeliegt.« (Gerhard, der hier vorrangig fortschrittsgeschichtlich argumentiert, vereinheitlicht gegenwärtige Rezeption des Musiktheaters vermutlich stärker als notwendig.)

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Zitat) sagt: »cette action dramatique doit cependant pouvoir être comprise par les yeux comme l’action d’un ballet«.17 Um den soeben skizzierten Sachverhalt kurz grundsätzlich anzugehen: Opern sind – wie alle dramatischen Formen – plurimedial. Sie zeichnen sich – um die Definition von Rajewsky zu nutzen – durch »Medienkombination« aus, »d. h. die Kombination bzw. das Resultat der Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die in ihrer Materialität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur (Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen«.18 Nun lassen sich im Einsatz und in der Kombination der konstitutiven Medien des Musiktheaters bzw. der Oper vielfach Hierarchien ausmachen: Man kann hier – um beim etwas weniger bekannten Fall anzufangen – die Maschinen-Opern anführen, die etwa Servandoni in den Jahren 1738–1742 in der Salle des Machines (oder auch Théâtre des Tuileries) aufführen lässt.19 Den am häufigsten besprochenen Fall eines gestaffelten Einsatzes der Medien beschreibt dagegen die Formel des »prima le parole e poi la musica«, die vermutlich für diejenigen Werke gilt, denen ein Libretto Metastasios zugrunde liegt, bzw. deren Inversion oder Mozarts Diktum »by einer opera muss schlechterdings die Poesie der Musick gehorsame Tochter sein« (13.10.1781, an Leopold Mozart), das dieser selbst freilich in der Zusammenarbeit mit Da Ponte unterläuft.

17 Véron: Mémoires d’un bourgeois de Paris (Anm. 9), Bd. 3, S. 252 f. 18 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen: Francke/UTB 2002, S. 15; vgl. auch das Schaubild S. 19. Für den Medien-Begriff stützt sich Rajewsky auf die umfangreichen Arbeiten von Werner Wolf zur Intermedialität (vgl. Rajewsky, Intermedialität, S. 7 und Bibliographie, S. 193); sie beschreibt die Spezifik von Medien als »konventionell […] als distinkt angesehene Kommunikationsdispositive«, die sich zugleich eines »technisch-materiell definierten Übertragungskanals von Informationen« bedienen (Rajewsky zitiert damit Wolf, Werner: »Intermedialität: Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, in: Herbert Foltinek/Christoph Leitgeb (Hrsg.): Literaturwissenschaft: intermedial-interdisziplinär, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2002 (Veröffentlichungen der Kommission für Literaturwissenschaft, 22), S. 163−192, hier S. 165). Medien sind also nach Wolf (ebd., 165) »in erster Linie durch einen spezifischen […] Gebrauch eines semiotischen Systems […] zur Übertragung kultureller Inhalte […] und […] in zweiter Linie […] durch bestimmte technische Medien bzw. Kommunikationskanäle« bestimmt. 19 Vgl. zu diesen Maschinen-Opern z. B. den Bericht zur »L’Histoire de Pandore«, in: Mercure de France Februar 1739, S. 340−341; März 1739, S. 590; siehe auch Semler, C. N.: »Servandoni’s Decorationsschauspiele«, in: Die Muse. Monatschrift für Freunde der Poesie u. der mit ihr verschwisterten Künste 3 (1821/Reprint 1971), S. 23−70.

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Die grand opéra hebt sich also von anderen Formen der Oper auch dahingehend ab, dass hier zum einen ein gesteigerter Medieneinsatz und zum anderen ein gleichrangiges Miteinander der zum Einsatz gebrachten Medien eingefordert und – idealiter – realisiert wird. Eine Vielfalt unterschiedlicher semiotischer Systeme erzeugt Bedeutungen; die Aussagen überlappen einander, stützen oder ergänzen sich, führen in Widersprüche. Damit wird die Vehemenz der Stücke für die Zuschauer auch in der Massierung der Eindrücke und Erfahrungen manifest. Vor diesem Hintergrund sollen nun in knappen Ausschnitten drei Opern Meyerbeers mit jeweils spektakulären Balletten besprochen sein: Librettist ist in allen Fällen Eugène Scribe; Bühne, Beleuchtung und Tanz werden unterschiedlich betreut, im Wesentlichen arbeiten hier Pierre [Luc] Charles Cicéri und Filippo Taglioni.20 Der Siegeszug der in dieser Zusammenarbeit entstandenen Werke beginnt mit dem Sensationserfolg des Robert le Diable am 21.11.1831. Die nächste Oper der Reihe ist Les Huguenots und wird am 29.02.1836 uraufgeführt. Die dritte Oper Le prophète hat – mit fast zu großem Abstand für das Publikum, das das Stück dringend erwartete – am 16.04.1849 Premiere.21

20 Die Africaine ist hier zurückgestellt (auch wenn sie häufig als Meyerbeers Vermächtnis apostrophiert wird), da sie unvollendet bleibt: Meyerbeer stirbt am 02.05.1864 und damit ein Jahr vor der für 1865 angesetzten Pariser Uraufführung. Für die Africaine waren umfangreiche Tanzszenen in der Choreographie von Arthur Saint-Léon geplant, die nach gegenwärtigem Kenntnisstand nicht überliefert sind, sich aber skizzieren lassen: Ballett und Tanz dominieren vor allem den IV. Akt, als zentrales Element der geplanten Hochzeit von Sélika, der ›Afrikanerin‹ und Königin eines Inselstaats vor der afrikanischen Küste, mit Vasco da Gama, dem portugiesischen Seefahrer. Die Königin sagt die Hochzeit freilich im letzten Moment ab, da sie gewahr wird, dass Vasco seine ehemalige Verlobte Ines, die Tochter eines Admirals des Königs, immer noch liebt. Sélika lässt die Verlobten, denen sie einst das Leben gerettet hat, ziehen und begeht Selbstmord, indem sie den tödlichen Duft des Manchinelbaums einatmet. Zur Entstehung der Oper vgl. Roberts, John Howell: The Genesis of Meyerbeer’s »L’Africaine« (Diss. University of California, Berkeley 1977), Ann Arbor: UMI 1979. 21 Zu den drei genannten Werken vgl. jeweils als grundsätzlichen Einstieg: Letellier, Robert Ignatius: Meyerbeer’s »Robert le Diable«: The premier »opéra romantique«, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2012; Meyerbeer, Giacomo: The Meyerbeer Libretti: Grand Opéra 2 »Les Huguenots«, translation Richard Arsenty, introduction Robert Ignatius Letellier, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2009; Meyerbeer, Giacomo: Le Prophète. Edition, Konzeption, Rezeption. Bericht zum Internationalen Kongress, 13.–16. Mai 2007, FolkwangHochschule Essen-Werden, hrsg. von Matthias Brzoska, Andreas Jacob, Nicole K. Strohmann, Hildesheim u. a.: Olms 2009.

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Dass diese drei Werke im Mittelpunkt stehen, lässt sich nicht nur theaterbzw. opern- oder balletthistorisch begründen. Die Auswahl orientiert sich daneben an Meyerbeers eigener Konzeption seines Bühnenwerks. Denn auch wenn dieser – im Unterschied zu Wagner, der regelmäßig kompositorische, allgemein künstlerische oder lebensweltliche Entscheidungen im Selbstkommentar begleitet – wenig programmatische Stellungnahmen verfasst, so deklariert er dennoch Robert le Diable, Les Huguenots und Le Prophète als ein »dramatisches System«, als eine zusammengehörende Werkreihe. Dementsprechend notiert er im Brief vom 20.03.1836 an seine Frau Minna: »und doch ist der Succes so immens, daß ich vor Begier zittere, mein Klavierauszug vollendet zu haben, um mein dramatisches System durch ein drittes Werk und zwar so schnell wie möglich, auf unzerstörbare Pfeiler hinzupflanzen«.22 Darüber hinaus sind alle drei Opern für die Entwicklung des Theatertanzes von kaum zu überschätzender Bedeutung: Generell ist Frankreich ab dem späten 16. Jahrhundert leitend auf diesem Gebiet – vermutlich weil gerade hier die Disziplinierung des Kreatürlichen weiter getrieben wird als anderswo, weil das Reglement des Körpers so hoch entwickelt ist. Und ohne dass man die Ballettgeschichte Europas in allen Einzelheiten ausbreiten müsste, lässt sich grundsätzlich festhalten, dass sich ein Teil der bis heute vertrauten Formen des Bühnentanzes aus praktischen Entwicklungen und Theorien herleiten lassen, die im Kontext französischer Kultur entwickelt werden. Dabei läuft eine vorherige Traditionslinie auf die Ballette der drei Meyerbeer-Opern zu, im Anschluss an sie und aus ihrer direkten Nachfolge lassen sich die späteren Formen des klassischen Tanzes erklären.23

22 Giacomo Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, hrsg. und kommentiert von Heinz Becker, Berlin: de Gruyter 1970, Bd. 2: S. 527. Dieser und die folgenden Briefe geben einen Eindruck vom überwältigenden Erfolg des Robert le Diable, den mit den Huguenots zu wiederholen Meyerbeer für einen Moment gefährdet sieht, da die Hauptdarstellerin Cornélie Falcon längere Zeit indisponiert war. – Zum »dramatischen System« Meyerbeers vgl. insbesondere Schläder, Jürgen: »Giacomo Meyerbeer: Künstler – Jude – Europäer«, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller/Jarmila Weissenböck (Hrsg.): Giacomo Meyerbeer: Komponist – Jude – Europäer, Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 1998 (mimundus, 10), S. 11−23, zur Dramaturgie des »Systems« vgl. S. 14−19. 23 Meine Bemerkungen können an dieser Stelle kursorisch ausfallen, da die Forschungslage gut ist: Die theaterhistorisch zentrale Stellung der Ballette in Meyerbeers Opern ist belegt und detailliert aufgearbeitet – insbesondere die MeyerbeerStudien decken historische Fragestellungen ab, allen voran die von OberzaucherSchüller u. a. kuratierten Bände Meyerbeer und der Tanz (Meyerbeer-Studien, 2 (1998)) und Meyerbeers Bühne im Gefüge der Künste (Meyerbeer-Studien, 4 (2002)).

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In Frankreich differenzieren sich zunächst einmal unterschiedliche Formen des Tanzes aus – üblicherweise wird dies mit dem Schlagwort der ›Entwicklung vom ballet de cour zum ballet d’action‹ bezeichnet. D. h., hier emanzipiert sich der Bühnentanz vom Gesellschaftstanz, gewinnt Profil als Kunstform über die barocke Festkultur hinaus, verfügt über eigene Institutionen und präsentiert stolz seine Geschichte.24 Wichtige Errungenschaft und Grundlage der französischen Tanzkultur ist die Ausbildung der Tänzer, die sowohl praktische als auch theoretische Aufgabenstellungen beinhaltet. Denn die akademische Ausbildung ist – im weiteren Sinne – eine humanistische und sieht neben dem täglichen Training ein Literatur- und Quellenstudium vor. Die Unterrichtsfächer umfassen daher außer Poesie, Geschichte und Musik auch Studien zur Geometrie oder Anatomie; letztlich ist eine selbstverständliche Kopplung von Tanztheorie und tänzerischer Praxis oberstes Ausbildungsziel. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum diejenigen, die Neuerungen des Tanzes praktisch umsetzen, auch die theoretische Fundierung des Neuen als ureigene Aufgabe begreifen. Anders gesagt: Der Paradigmenwechsel, der sich unter dem Motto ›vom ballet de cour zum ballet d’action‹ abzeichnet, ist nicht nur in der Tanzpraxis greifbar, sondern schlägt sich parallel poetologisch nieder. Einer der beiden Künstler, die mit der Genese des Handlungsballetts stets verbunden werden, ist der Tänzer, Ballettmeister und -theoretiker Jean Georges Noverre, der u. a. dem Pariser Opernballett als Direktor vorstand. Sein entscheidender Text, Lettres sur la danse et sur les ballets, erscheint 1760 in Lyon und Stuttgart. Die Lettres, in Teilen von Lessing übersetzt, erreichen sehr schnell ein breites Publikum. Dazu tragen auch Noverres internationale Verpflichtungen und Engagements bei: Er arbeitet in Berlin, Stuttgart und Wien, trifft mit Christoph Willibald Gluck und Ranieri de’ Calzabigi zusammen. Noverre entwickelt das so genannte ›Handlungsballett‹ jedoch nicht im Alleingang. Neben ihn tritt sein Konkurrent und Mitstreiter im Bemühen um eine Neuausrichtung des Balletts, Gasparo Angiolini. Angiolini, der dem Vernehmen nach sogar besser tanzte als Noverre, ist Ballettmeister der Produktionen von Gluck und Calzabigi, er trägt auf diese Weise die klassizistische Opernreform wesentlich mit und beschreibt dementspre-

24 Die Trennung des Bühnentanzes vom höfischen Zeremoniell ebenso wie vom Laientanz und Gesellschaftstanz ist 1661, nachdem Louis XIV. die Académie royale de danse gegründet hatte, auch institutionell vollzogen: Aus dieser Académie ging das Pariser Opernballett hervor; akademisch flankiert entwickelt sich Ballett – ab 1681 für beide Geschlechter – sowohl berufspraktisch als auch theoretisch-reflektiert.

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chend das Handlungsballett in seinem theoretischen Beitrag, den Lettere de Gasparo Angiolini a Monsieur Noverre sopra i balli pantomimi, mit klassizistischen Schlüsselbegriffen wie chiarezza oder naturalezza.25 Noverre wie Angiolini aktualisieren – in je verschiedener Ausprägung – aufklärerische Positionen; sie argumentieren ausdrücklich im Sinne einer notwendigen Reform des Tanzes.26 Beide ziehen gegen Prachtentfaltung zu Felde; der ausladende Reifrock mit der Möglichkeit vielfältiger Dekoration gilt ihnen als ein besonderes Signet des Unnatürlichen; sie polemisieren (mit dem Argument der Reformkleidung) gegen Masken und Perücken. Sie verlangen vom Tanz Bedeutungsfülle – eine Schrittfolge, die allein Schauwerten Rechnung trägt oder Virtuosität ausstellt, ist für beide ohne Relevanz, sie begreifen solches als Verflachung ihrer Kunst (und schlagen diese Form des Tanzes dem sinnentleerten und daher nutzlosen Divertissement zu). Eine Ästhetik des Vergnügens und des (puren) Schauens lehnt der eine wie der andere ab. Als ideal setzen beide ein dramatisches Geschehen an, das in etwa pyramidal, also letztlich in der Struktur von Exposition – Höhepunkt – Schluss verläuft.27 Unterschiede zwischen beiden lassen sich ab diesem Punkt ausmachen: Angiolini rekurriert für Bau und Struktur eines Handlungsballetts explizit auf einen Aristotelismus, so wie er in die doctrine classique eingemündet war, und diskutiert insbesondere vraisemblance und Logik der Szenenverkettung. Noverre hingegen, der mit David Garrick befreundet ist, gehört zu den französischen Shakespeare-Rezipienten, orientiert sich in seiner visuellen Bühnensprache an der hohen Expressivität des englischen Schauspielers und

25 Für einen Überblick über tanztheoretische Positionen vor Noverre/Angiolini vgl. die quellenkundliche Arbeit von Schroedter, Stephanie: Vom »Affekt« zur »Action«. Quellenstudien zur Poetik der Tanzkunst vom späten Ballet de Cour bis zum frühen Ballet en Action, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 26 Dies meint v. a. die Positionen, die Louis de Cahusac vertritt: Er ist wichtigster Beiträger der Encyclopédie für die Themenbereiche Tanz, Musik und Feste; von ihm stammt (neben gut 100 weiteren Artikeln) der Eintrag »ballet« (L’Encyclopédie, Bd. 2 (Januar 1752): S. 42−46). 27 Vgl. dazu für Noverre, Beginn der Lettres (Lettres sur la danse et sur les ballets, par M. Noverre, Lyon/Stuttgart 1760, S. 7): Im Rückbezug auf den klassizistischen paragone wird Ballett programmatisch mit dem ersten Satz zunächst in den Kanon der leitenden Künste (Literatur und Malerei) selbstbewusst aufgenommen und an modellhafte Autoritäten, Racine und Raffael, angeschlossen; der Tanz kann die anderen Künste dann sogar überholen, da er beider Merkmale in sich vereint. Angiolini veröffentlicht seinerseits zunächst 1765 die Dissertation sur les balletspantomimes des Anciens und bekräftigt die Verankerung des Balletts in der Tradition horazisch-aristotelischer Poetik noch einmal mit den Lettere de Gasparo Angiolini a Monsieur Noverre sopra i balli pantomimi (1773).

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entwickelt hieraus die Grundlagen ausdrucksstarker Gestik im Tanz. Bekanntermaßen setzen sich Noverres Positionen durch – trotz der großen Erfolge der Gluck’schen Oper gerade in Paris. Die von Noverre vertretene Ausrichtung des ›neuen‹ Tanzes ist also ebenso tonangebend wie zukunftsweisend, und zwar indem sie zweierlei leistet: Das ballet d’action Noverre’scher Prägung bildet zum einen den theoretischen wie praktischen Hintergrund für die Ballette des Robert, der Hugenotten und des Prophète; zum anderen öffnet sich das Handlungsballett, so wie es sich von Noverre herleitet und in den Meyerbeer’schen Opern entscheidende Impulse erfährt, auf das spätere romantische Ballett. Damit zu den drei genannten Opern in der Reihenfolge ihrer Premieren – zunächst ausschnittsweise zum Inhalt von Robert le Diable, um zu verdeutlichen, wie die Tanzszene zum integralen Bestandteil der Handlung im Finale des 3. Aktes wird: Bertram, Roberts Vater und Abgesandter des Teufels (der Robert in die Hölle führen soll) gaukelt seinem Sohn vor, dass er mit Hilfe eines Zauberzweigs, der auf dem Grab der hl. Rosalie in Palermo wachse, Macht über seine Feinde und Unsterblichkeit gewinnen könne. Doch auf besagtem Friedhof sind mitnichten heilige, sondern vielmehr Ordensfrauen begraben, die ihre Gelübde gebrochen haben: Ebendiese erweckt Bertram zum Leben, damit sie schließlich auch Robert verführen. Die sich aus dieser Konstellation ergebende Szene bildet als Finale des 3. Aktes den Höhepunkt der Intrige und den Wendepunkt für den Helden. Die Szene selbst ist zweiteilig: Zunächst entsteigen die Nonnen ihren Gräbern, werfen die strenge, dunkle Ordenstracht ab, um in darunter zum Vorschein kommenden, sehr viel leichteren Gewändern ihre alten Vergnügungen wieder aufzunehmen. Mit dem Auftritt Roberts beginnt die eigentliche Verführung: Die schöne Äbtissin Héléna erobert Robert, so dass er den vermeintlichen Zauberzweig an sich nimmt.28

28 Vgl. zum Nonnenballett den ausführlichen Nebentext bei Scribe, Eugène: Robertle-Diable, opéra en 5 actes, paroles de MM. Scribe et Germain Delavigne, musique de J. Meyerbeer […], 21 novembre 1831, Paris: Académie royale de musique 1831, S. 35−37. Das Ballett ist nicht in direkter Notation überliefert, ein vermitteltes Zeugnis liefert August Bournonville, dessen Notat aus dem Jahr 1841 inzwischen rekonstruiert wurde: Jürgensen, Knud Arne/Guest, Ann Hutchinson (Hrsg.): Robert le Diable: The Ballet of the Nuns, Ballet by Filippo Taglioni, Notated by August Bournonville, Music by Giacomo Meyerbeer. Reconstructed by Knud Arne Jürgensen, Labanotation and Performance Notes by Ann Hutchinson Guest, Amsterdam: Gordon & Breach 1997 (Language of Dance, 7). Vgl. zu Bournonville und seiner Dokumentation und Interpretation des Nonnenballetts auch Jürgensen, Knud Arne: »The Ballet of the Nuns from Robert le diable and its Revival«, in: Sieghart Döhring/Arnold Jacobshagen (Hrsg.): Meyerbeer und das europäische Mu-

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Zu einer Ballettgeschichte mit Blick auf die nachfolgende Entwicklung des Bühnentanzes sei an dieser Stelle soviel eingeschoben: Filippo Taglioni, der die Ballette des Robert choreographiert und seine Tochter Marie, die in dieser Szene die Äbtissin Héléna tanzt, legen für das Finale des 3. Aktes eine Lösung vor, die hauptsächlich mit zwei Elementen das romantische Ballett in der Folge schlechthin prägte. Zum einen tanzt Marie Taglioni erstmals eine Partie teilweise auf Spitze und zum anderen etabliert sie den Topos der weiß gekleideten Ballerina und des in weiß kostümierten corps de ballet. Dabei sind mit Ersterem, dem Spitzentanz, zugleich weitere tanztechnische Neuerungen verbunden: Pirouetten, Sprünge, Equilibrium/Aplomb und Arabesken ergänzen das bis dahin übliche Set an Bewegungsabläufen. Vor allem aber resultiert aus der Technik en pointe die emblematische Pose der romantischen Tänzerin – nämlich der Ballon – und damit die Pose, die die Lösung vom Boden am deutlichsten macht: Die hochaufgerichtete Tänzerin berührt nur noch mit einer Fußspitze den Boden. Die Zeitgenossen faszinierte diese Überwindung der Erdenschwere, die die Illusion befördert, einem Wesen mit Fähigkeiten jenseits üblicher Grenzen zu begegnen. Von gleicher Faszination war aber auch das technische Moment dieses Tanzes: Dass mit den Anforderungen des Spitzentanzes das Trainingspensum der Tänzer immens anwuchs und wie sich etwa auf dieser Basis der Trainingsplan von Maria Taglioni gestaltete, war – neben allen Überlegungen zur Ästhetik – regelmäßig Gegenstand der Berichterstattung der Pariser Zeitschriften.29 Gegenstück zum Spitzentanz ist das neue Kostüm: Für die Uraufführung des Robert wurden erstmals Beine und Füße der Tänzerinnen ausdrücklich in Szene gesetzt – und das Abwerfen der alten Kostüme war zugleich Bühnengeschehen, fand auf offener Bühne statt. Denn als die den Gräbern entstiegenen Nonnen den Habit abstreifen, erscheinen darunter weiße Kostüme mit knapp wadenlangem, ausgestelltem Tüllrock. Den Tänzerinnen ermöglichte dieses Kostüm die neuen Sprünge und Schritte, zugleich aber gab der Rock, der in der Folge als Tutu bis zum »pancake« immer kürzer wurde, den Blick auf den Körper in ungekannter Weise frei.30 siktheater, Laaber: Laaber-Verlag 1998, S. 73−86 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater, 16). 29 Vgl. hierzu Dahms, Sibylle: »Gedanken zur Ästhetik des Romantischen Balletts«, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller/Hans Moeller (Hrsg.): Meyerbeer und der Tanz, München/Paderborn: Ricordi/University Press 1998 (Meyerbeer-Studien, 2), S. 36−49, insbesondere S. 43. 30 Wie sich die in diesem ersten ballet blanc angelegten Grundmuster weiterentwickeln, zeigen die nachfolgenden romantischen Ballette: Adolphe Nourrit, der den

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Und noch ein Letztes lässt sich neben technischer und ästhetischer Innovation exemplarisch am Nonnenballett des Robert festmachen: Die Diskursivierung des Tanzes, die – wie beispielsweise an Noverre oder Angiolini exemplarisch zu sehen – bislang ebenfalls den Tänzern oblag, wird nun zum Aufgabenfeld der Theaterkritik. Ab den 30er Jahren nehmen die großen Kritiker ihre Plätze ein, der berühmteste unter ihnen ist vermutlich Théophile Gautier.31 Meyerbeers zweite grand opéra, Les Huguenots, zeigt Geschehnisse, die sich im August 1572 und damit im Vorfeld und während der Bartholomäusnacht (oder Pariser Bluthochzeit) zutragen. Mit den politischen Ereignissen ist die tragische Liebesgeschichte zwischen Raoul de Nangis und Valentine de Bris verknüpft – er ist gentilhomme protestant, sie stammt aus katholischer Familie. Als beide sich zufällig treffen, verlieben sie sich ineinander, ohne zu wissen, wer sie sind. Valentine – die dem Comte de Nevers versprochen ist – macht sich daraufhin unverzüglich kundig und erbittet sowohl von der Königin, Marguerite de Valois, als auch vom Comte de Nevers eine Lösung der Verlobung. Raoul hingegen bleibt zunächst unwissend und unterstellt Valentine, die er zufällig von fern in den Räumen und im privaten Gespräch mit dem Comte de Nevers sieht, sie sei die Geliebte des Grafen. Als überdies Marguerite de Valois Raoul mit der Nachricht überrascht, er könne Valentine nun heiraten, wehrt sich Raoul mit groben Beleidigungen gegen die Zumutung, die abgelegte Geliebte eines katholischen Adeligen auf Wunsch seiner Herrscherin heiraten zu müssen.

Robert in der Uraufführung sang, schrieb 1832 das Libretto zu La Syphide und gab damit dem romantische Handlungsballett den gattungstypischen Gegensatz zwischen einem ersten, farbigen Akt und dem zweiten, weißen Akt der Geistererscheinungen. Dies wirkt fort bis zu Giselle (Théophile Gautier, 1841) und ist noch im Schwanensee (1877) mit den schwarzen und weißen Schwänen erkennbar. Niederschlag findet Robert le Diable übrigens auch im Werk von Edgar Degas; er fertigt eine Ballettstudie zum Nonnenballett (heute Victoria & Albert Museum, London), vgl. auch das Cover des vorliegenden Bandes. 31 Vgl. hierzu die Arbeiten von Ivor Guest, insbesondere Gautier on Dance, London: Dance Books 2008 und The Paris Opéra Ballet, Alton/Hampshire: Dance Books 2006. Außerdem: Coudroy-Saghai, Marie-Hélène: La critique parisienne des grands opéras de Meyerbeer. Robert le Diable, Les Huguenots, Le Prophète, L’Africaine, Saarbrücken: Galland 1988 (= Studien zur französischen Oper des 19. Jahrhunderts, 2). Carlo Blasis kann als der letzte Tänzer gelten, der mit zwei Schriften einen Standpunkt von der Bühne aus vertrat: The Code of Terpsichore: a Practical and Historical Treatise on the Ballet, Dancing, and Pantomime, with a Complete Theory of the Art of Dancing, London: J. Bulcock 1828, und L’uomo fisico, intellettuale e morale (1857), hrsg. von Ornella Di Tondo und Flavia Pappacena, Lucca: LIM 2005.

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Statt der ersehnten Aussöhnung – denn die Hochzeit Raoul/Valentine war umgehend ins politische Kalkül miteinbezogen worden und sollte die geplante Hochzeit von Heinrich IV. und Marguerite de Valois bekräftigen – reißen die alten Gräben zwischen den unterschiedlichen christlichen Konfessionen nur umso tiefer auf. Schließlich eskaliert der Streit in der Bartholomäusnacht: Während der Hochzeitsfeierlichkeiten überfallen katholische Banden die Hugenotten, die ebenfalls keine Unschuldslämmer sind. Die Oper endet mit einem Blutbad, dem auch Valentine und Raoul zum Opfer fallen – nicht zuletzt, weil sie sich den verfeindeten Parteien zu erkennen geben. Das unten noch näher besprochene Ballett32 – wiederum im dritten Akt – ist ein Tableau. Es zeigt die verschiedenen Gruppen und Gruppierungen des Volkes, Soldaten, Studenten, Handwerker, kleine Kaufleute, Krämer, Wäscherinnen, Zigeunerinnen etc. Sie alle versammeln sich auf den Uferwiesen der Seine. Auch in Le Prophète, der dritten hier besprochenen Oper, erscheinen Politik und Religion verwoben mit einer persönlichen Geschichte: Der Comte d’Oberthal verweigert der Leibeigenen Berthe die Heirat mit Jean de Leyde, er will das Mädchen stattdessen in sein Schloss schaffen. Berthe gelingt es zu fliehen, sie sucht Schutz bei Jean – Oberthal stellt diesen vor die Wahl, entweder seine Mutter Fidès sterben zu sehen oder Berthe auszuliefern. Jean liefert Berthe aus, schließt sich jedoch noch in derselben Nacht den Wiedertäufern an. Diese sind allerdings alles andere als radikal reformierte Christen, sie entpuppen sich vielmehr als Aufrührer, die insbesondere den persönlichen Vorteil suchen. So spannen sie auch Jean für ihre Zwecke ein. Dieser glaubt indes zunächst tatsächlich an das neu zu errichtende Täuferreich von Münster. Doch nach und nach erkennt er seinen Irrtum, die Verderbtheit seiner Kumpane, ihre Rohheit und Brutalität und lässt am Ende, als der Kaiser die Stadt einnimmt, das Stadtschloss in Flammen aufgehen, um so das Wiedertäuferreich – und zugleich Freund und Feind – in den Untergang zu reißen.

32 Scribe, Eugène: Les Huguenots, opéra en 5 actes, paroles de M. Eugène Scribe, musique de Giacomo Meyerbeer, Paris: Maurice Schlesinger 1836, S. 76. Wie alle Opern von Meyerbeer sind auch die Hugenotten von zahlreichen Tanzstücken durchsetzt. Wie beliebt sie waren, zeigt z. B. ihr Arrangement für die Hausmusik, vgl. dazu die Übersicht über die Auszüge aus den Huguenots für den Hausgebrauch: Letellier, Robert Ignatius: The operas of Giacomo Meyerbeer, Madison/NJ: Fairleigh Dickinson University Press 2006, S. 315−323.

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In diesem Fall ist das Ballett im dritten Akt ein spektakuläres Winterbild: Die Szene zeigt einen zugefrorenen Teich vor den Toren der Stadt Münster in Westfalen. Über den Teich kommen Kleinbauern der Umgebung, teils mit Schlitten, teils auf Schlittschuhen, um die Truppen der Wiedertäufer, deren Versorgung zusammengebrochen war, mit Proviant zu versorgen. Und die Truppen, die gerade noch an Hunger und Kälte zugrunde zu gehen drohten, feiern nun mit den Bauern ein ausgelassenes Fest in der Gewissheit, dass sie am nächsten Tag Münster erobern werden. Soweit die Übersicht: ein Kloster bei Nacht, eine Wiese im Abendlicht, ein Winterbild mit einem zugefrorenen kleinen See machen die szenischen Räume, die tanzbaren Spielfelder der Darsteller aus.33 Dabei sind alle drei szenischen Räume in besonderem Maße mit lebensweltlichen Referenzen versehen. Für das Bühnenbild zum Nonnenballett in Robert le Diable gestaltete Cicéri einen mit Grabmalen bestückten romanischen Kreuzgang, der dem Kloster Montfort-l’Amaury nachempfunden war, das er selbst zuvor besichtigt hatte. Die Uferwiesen der Seine, le Pré-aux-Clercs, auf denen in den Huguenots Volksfeste und Tanz stattfinden, konnte das Publikum des 19. Jahrhunderts zwar nicht mehr in Augenschein nehmen, aber an ursprünglicher Stelle unschwer imaginieren – und dies noch umso einfacher, da ja in der Bühnentiefe die Bezugspunkte auf dem anderen Seineufer stimmten (»Au fond, et de l’autre côté de la rivière, les principaux édifices de Paris«). Nur die münsterländische Winterlandschaft war freilich im Grunde eher den Niederländern abgeschaut (die ersten beiden Akte spielen auch in Dordrecht an der Maas und in Leiden), nichts desto weniger war die Lambertikirche in Münster, an der seit 1536 – nach dem spektakulären Ende des Reiches der Wiedertäufer – die Täuferkäfige hingen, entscheidender Orientierungspunkt des Bühnenbilds. Dass die szenischen Räume so deutlich auf lebensweltliche Räume bezogen sind, steht einerseits im Zusammenhang mit den historischen Gattungen, denen die grand opéra ja zugehört – Aufgabe der Ausstattung ist es, historische Szenen nachzustellen, Argumente einer fernen Vergangenheit für die Zuschauer zugänglich zu machen. Jenseits dieses Hintergrunds wirkt

33 Die Beschreibung und/oder Dokumentation der Ballette geschieht im Übrigen für die genannten Opern unmittelbar im Rahmen der Libretti: Scribe gibt ihnen reichlich Raum, d. h., der so genannte ›Nebentext‹ wächst sich an den Stellen, die das Ballett betreffen, zu einer umfänglichen Beschreibung in Prosa aus. Das Ballett bringt es also mit sich, dass ein theatraler Text um narrative Elemente erweitert wird, dass die genuine Form des theatralen Notats zugunsten des Balletts modifiziert wird. Bereits dies belegt den Stellenwert, den der Tanz einnimmt.

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auf den szenischen Raum aber auch der theatrale Raum ein, der den szenischen Raum umgibt, oder besser: ihn beherbergt. Die Pariser Oper (gemeint ist hier die Salle le Peletier) ist eine Guckkastenbühne mit allen Ansprüchen, die ein Illusionstheater an seine Zuschauer stellt: Raum, Ausstattung und Spielgeschehen werden planvoll zur Illusionsbildung eingesetzt.34 Nun sind die vorgestellten Räume aber nicht nur im Hinblick auf eine Historisierung sinnkonstitutiv, sie sind es auch als imaginäre, dramatische Orte: Denn der jeweilige Raum der Ballette erschöpft sich ja nicht in der Beschreibung visueller Elemente, nicht nur im Verweis auf real existierende Orte oder der (fiktiven) Rekonstruktion von Authentizität, er stellt vielmehr auch ein semiotisch kommunikatives Feld dar. Denn so wie mit dem in der grand opéra entwickelten Ballett, das unter anderem Erdenschwere zur Disposition zu stellen scheint, prinzipiell eine gesteigerte Wahrnehmung des Körpers einhergeht, so intensiviert diese Form des Balletts als spezifische Kunst im Raum auch die Wahrnehmung des Raumes. Dabei handelt es sich in allen drei Fällen um Orte des Übergangs oder der Krise, in denen sich die Bewegung der Tänzer entfaltet. Etwas pointiert ausgedrückt: Eine tiefe Ambiguität, die Situation eines möglichen Übergangs und seiner Gefahren prägt und verbindet alle drei Orte. Die Ballette, die an diesen Orten stattfinden, und die im Rahmen der fünf Akte in der Abfolge der Handlung in etwa an die Stelle einstiger Peripetie zu stehen kommen, machen also Kippsituationen augenfällig. Es ist ihnen im Rahmen einer spezifischen Operndramaturgie aufgegeben, die Situation des Umschlags »par les yeux« vorzustellen.35 In den Tanztableaus wird der Raum durch die Bewegung der Tänzer erfahrbar und bedeutungstragend, jedoch nicht axial gegliedert, nicht in Symmetrien oder Korrespondenzen durchmessen, sondern mit einem neuen Bewegungsrepertoire auf den (plötzlichen) Wandel oder Wechsel, auf Risiken und

34 Die hier und im Folgenden skizzierte Konzeption des theatralen Raums geht auf Max Herrmann zurück, vgl. den programmatischen Auftakt seines grundlegenden Textes: »Bühnenkunst ist Raumkunst. Das darf aber nicht so verstanden werden, als ob die Darstellung des Raumes Selbstzweck im Theater sein könnte. […] In der Theaterkunst handelt es sich also nicht um die Darstellung des Raumes, sondern um die Vorführung menschlicher Bewegung ›im‹ theatralischen Raum. Dieser Raum ist aber niemals oder doch kaum je identisch mit dem realen Raum, der auf der Bühne existiert […]. Der Raum, den das Theater meint, ist vielmehr ein Kunstraum, der erst durch eine mehr oder weniger große innerliche Verwandlung des tatsächlichen Raumes zustandekommt, ist ein Erlebnis, bei dem der Bühnenraum in einen andersgearteten Raum verwandelt wird.« (Herrmann, Das theatralische Raumerlebnis (Anm. 13), S. 501 f.). Vgl. dazu auch die Einleitung von Roger Lüdeke, ebd. S. 449−469. 35 Vgl. dazu die Beschreibung der ›Poetik der grand opéra‹ durch Véron (Anm. 9).

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verderbliche Momente verständlich. Es ist daher im Übrigen auch nicht anzunehmen, dass in den Stücken, deren Zentren diese Ballette ausmachen, vorrangig Ordnung und darüber stabile Werte vorgestellt würden. Wenn sich der Protagonist in Robert le Diable auf einem Friedhof mit einer entscheidenden Wahl konfrontiert sieht, wird hier eine Grenze zwischen Leben und Tod im Horizont der schwarzen Romantik durchgespielt: Denn Bertram, der Vater Roberts, der im Kreuzgang die Nonnen aus den Gräbern ruft, ist ein Abgesandter des Satans, vielleicht sogar der Teufel selbst. Die Nonnen wiederum müssen ihm ohne Einschränkung folgen, sie haben alle Verbindung zum Guten verloren, da für sie, die den Gelübden hätten unterstehen sollen, Verfehlungen und Sünden noch schwerer ins Gewicht fallen. Sie versuchen also Robert zu verführen. Der Tanz besteht damit wesenhaft aus von fremdem Willen gesteuerten, immer wieder Grenzen überschreitenden und ins Anzügliche hineinspielenden Bewegungen. Es scheint dabei, als würden die Nonnen unter dem Diktat des Fürsten der Finsternis das wiederholen, was sie im Leben bereits getan haben, spielen, verführen, dem leiblichen Wohl frönen etc. Nun hat sich jedoch bei diesem Tun eine Bedingung grundlegend geändert: Mit dem Tod war ihre Seele bereits verloren. Gerade den Ordensfrauen bleibt nichts anderes mehr als nur noch diese blasse Karikatur einer Auferstehung. Die Körper der Nonnen – die das neue Kostüm so nachdrücklich herausstellt – sind deshalb in besonderem Maße leibhaftig. Sie machen keinen – wie auch immer gearteten – Teil des Menschen mehr aus, sondern sind in der Form des übrig gebliebenen Restes oder Residuums das Sein selbst, das danach endgültig versinkt. Hier lässt eine teuflische Macht als Zerrspiegel der Wahrheit ein letztes Mal eine leere Hülle agieren, wo doch eine Auferstehung im Wortsinn das Eigentliche des Menschen erscheinen lassen würde. Schönheit und Tod bringt das Ballett damit in hoher Verdichtung und Intensität zum Ausdruck – und zwar ebenso provokativ wie die Nacktheit der Körper selbst.36 In den Huguenots versammelt sich auf der Wiese am Ufer der Seine eine bunte, herumlungernde Schar, eine sich ständig in Bewegung befindende

36 Vgl. dazu auch Schläder, »Giacomo Meyerbeer« (Anm. 22), S. 15: »In der […] Klosterszene treten zum Zeichen der phantasmagorischen Fremdheit des Höllischen an die Stelle des verbalen Verführungsdiskurses die Pantomime und das Ballett, also eine nonverbale Diskursform, deren körpersprachliche Darstellung freilich durch subtil ausdifferenzierte musiksprachliche Klänge handlungsschildernd präzisiert wird. Im stofflichen Rahmen traditioneller Schauerromantik veranschaulichte Meyerbeer die Opposition der widerstreitenden Prinzipe als musikdramatisch ausformulierte Handlung und verlieh der Opernkomposition somit eine neue, die Zeitgenossen elektrisierende Sinnfälligkeit.«

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Volksmasse, die weitgehend unkontrolliert reagiert, die zu Gewaltausbrüchen ebenso wie zu uneingeschränktem Beistand fähig ist. Es überlagern sich also ganz unterschiedliche Interessen. Die Szene ist dabei – das verrät auch die musikalische Umsetzung – grundlegend durch unterschwellige Bedrohung gekennzeichnet: Die katholischen und die hugenottischen Soldaten, die einander in nichts nachstehen wollen, haben sich in einer Situation der Eskalation und ständiger Drohgebärden eingerichtet. Die Tänze des dritten Aktes der Huguenots zeigen nicht zuletzt ihre Machtspiele. Das Fest am Wasser bezeichnet damit – als genuiner Ort für die wenig zielgerichteten Aktionen dieser ersten Vorboten einer ›Masse‹ – Übergängigkeit. Unentschiedenheit in Handlungen und Bewusstsein findet eine Gestalt, die sich bildlich im jederzeit möglichen Wechsel von festem Boden zu fließendem Wasser ausprägt. Der allemal denkbare und in der Oper vorgeführte Wechsel zwischen Freundschaft und Feindschaft, der vonstatten gehen kann, ohne dass Motivationen nachgereicht werden müssten, gewinnt damit besonderen Ausdruck. In dieser Art ist mit dem Ballett ein schwankender Boden bezeichnet, der die Grundlage einer Aggression bildet, die sich jederzeit und gegen jedermann entladen kann. Vergleichbar mit den Uferwiesen, die einen horizontalen, mehrfach kodierten Raum etablieren, zeigt auch das Ballett des Prophète die Oberfläche, auf die man sich nicht vollständig verlassen kann oder soll. Denn der Tanz auf dem Eis impliziert immer auch den Einbruch in die scheinbar so stabile Oberfläche, umspielt mit dem leichten Dahingleiten auf der ebenen Fläche die unausgelotete vertikale Achse. So stellt sich zum einen die Frage, ob und wann die vermeintlich so feste Fläche überlastet ist, und die in der Tiefe lauernden Vorgänge aufbrechen. Zum anderen bleibt zu ermitteln, welche ungeklärten Begebenheiten oder Vorfälle in die Tiefe abgesunken sind oder sich dort verbergen. Es sind in diesem Fall wiederum Barbarei und Rohheit – freilich etwas radikaler und ein wenig anders gelagert als in den Huguenots: Denn Jean de Leyde bleibt nicht nur trotz aller Sehnsucht das Liebesglück mit Berthe verwehrt, er ist überdies vor die Wahl zwischen Mutter und Geliebter gestellt, er entscheidet sich zunächst für die Mutter, um sie dennoch wenig später rigoros zu verleugnen. Er sucht bei den Wiedertäufern anfangs einen reformierten Glauben, wird dann zu ihrem ›blutigen König‹ und tötet – als er am Ende das Münsteraner Schloss in Brand steckt – unbesehen alle, die sich in seiner Nähe aufhalten. Jean ist also ein zutiefst schwankender Charakter, sein Beispiel macht ebenso wie das seiner Mitstreiter deutlich, dass politisches Han-

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deln unter der Oberfläche von Entscheidungen gelenkt wird, die auf das Persönliche beschränkt, eigennützig und mehr als einmal auch zufällig sind. Alle drei Ballette lassen sich also als Prägnanzfiguren für die Aussage des jeweiligen Stückes lesen. Dies hat zwei hauptsächliche Gründe: Tanz ist in Meyerbeers Opern nicht Divertissement, Zugabe oder Anhängsel, sondern – auf Basis einer fundierten theoretischen und praktischen Auseinandersetzung – dramaturgisch verankert. Darüber hinaus sind gerade Meyerbeers Opern auf Kontrastwirkungen, auf gegeneinander gerichtete Kräfte und gegenläufige Interessen abgestellt, Dispersion und der schnelle Umschlag einer Situation in eine andere zählen zu ihren dramaturgischen Spezifika. Die Dynamis des Tanzes und die im Tanz vertretenen Raumkonzepte können dem in besonderer Weise gerecht werden. In diesem Fall geben die Ballette – vor allem der Huguenots und des Prophète – überdies einem skeptischen Urteil über Geschichte und Gegenwart Ausdruck. Dass Meyerbeer dem zeitgenössischen juste milieu kritisch gegenüberstand, wussten schon die Zeitgenossen. Er missbilligte eine Denkungsart, die im François Guizot zugeschriebenen Schlagwort ›Enrichissez-vous‹ veranschaulicht wurde, und die jede Überzeugung zu opfern bereit war, sofern dies nur wirtschaftliche Vorteile versprach. Aber Meyerbeer betrachtete wohl nicht nur die Welt des juste milieu ausgesprochen skeptisch, sondern begriff historische Abläufe, so wie sie die Kenntnis der Neuzeit nachzuzeichnen erlaubt, (wie die Räume der Krise, des unsicheren Übergangs und der nur oberflächlich befestigten Ordnung vermuten lassen) von einem grundsätzlichen kulturellen und geschichtlichen Pessimismus aus.

ZUSAMMENFASSUNG Theaterhistorisch, bühnentechnisch und ballettgeschichtlich sind die Ballette der grand opéra, insbesondere der Opern von Meyerbeer, Meilensteine. Dass darunter insbesondere das Nonnenballett aus Robert le Diable, der Tanz auf den Uferwiesen an der Seine aus den Huguenots und der Schlittschuhlauf auf dem zugefrorenen See aus dem Prophète für den Bühnentanz von entscheidender Wichtigkeit sind, ist oft bearbeitet worden. Denn auf sie läuft eine vorherige Entwicklung zu, daraus entstehen die weiteren Formen des klassischen Tanzes, die international die Bühnen prägen. Zu dieser glücklichen Entwicklung hat sicherlich auch das Ansehen des Tanzes in Frankreich

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beigetragen; das Land verfügt über eine reiche Tradition, hochstehende theoretische und praktische Leistungen im Bereich des Balletts.37 Freilich erschöpfen sich die genannten Ballette nicht in der fortschrittsorientierten, zukunftsweisenden Perspektive, sie sind nicht auf eine sie überschreitende Dimension am Kreuzungspunkt der Traditionen beschränkt. Sie konstituieren vielmehr eine Raumerfahrung, die sich mehrfach auffächern lässt: Gerade die Ballette – die ja (siehe Wagner) besonders geschmäht und der lüstern grundierten Schaulust junger Müßiggänger, reicher Flaneure oder saturierter Geschäftsleute zugeschlagen wurden – gerade diese Passagen geben Aufschluss über aktuelle Konfigurationen und Fragestellungen. Denn diese Ballette messen einen besonderen Raum aus: Natürlich teilt ein Ballett mit allen anderen dramatischen Formen das Spezifikum der Bewegung im Raum; jede Bühnenkunst präsentiert sich dem Zuschauer im Raum, der theaterhistorisch oder -systematisch je unterschiedlich geteilt, gegliedert und bespielt wird. In der grand opéra, die den romantischen historischen Gattungen zugehört, stellt der Tanz nun nicht vorrangig gesteigerte Körperlichkeit aus oder zielt auf Virtuosität und Schauwerte. Er ist vielmehr vor allem über die Räume, in denen getanzt wird, in das Konzept der couleur locale und der couleur du temps miteingebunden; sie gestatten den Zugriff auf vergangene Zeiten und fremde Orte. Und schließlich öffnen sich die ge- und betanzten Räume auf imaginäre Größen: Sie indizieren die Krise, lassen Aggression und ständige Bedrohung sichtbar werden, verdeutlichen mit Konfrontationen, die ungelöst bleiben oder katastrophal enden, dass die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in ihrer wichtigsten und selbst gewählten Repräsentationsform – der grand opéra – nur bei einem flüchtigen Blick geordnet erscheint.

37 Im Grunde zielt diese Arbeit darauf ab, etwas genauer auszuarbeiten, was andernorts schon angerissen ist: »Bemerkenswert ist dabei ist die Koexistenz zweier unterschiedlicher Sichtweisen auf die Kunstgattung Tanz und die sich daraus ergebende Art des Einsatzes von Ballett: So fungiert der Tanz in der italienischen Oper als virtuos funkelndes, inhaltlich jedoch der Oper nur lose anhängendes Vergnügen, während er in der französischen Oper als ein die Oper bereicherndes dramaturgisches Mittel eingesetzt wird.« (Gunhild Oberzaucher-Schüller, in: O.S./Weissenböck (Hrsg.): Giacomo Meyerbeer (Anm. 22), S. 101).

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ANHANG Scribe, Eugène: Robert-le-Diable, opéra en 5 actes, paroles de MM. Scribe et Germain Delavigne, musique de J. Meyerbeer […], 21 novembre 1831, Paris: Académie royale de musique 1831. III, 6 (S. 35) Les nuages qui couvraient la scène disparaissent. Le théâtre représente une des galeries du cloître. A gauche, à travers les arcades, on aperçoit une cour remplie des pierres tumulaires dont quelques-unes sont couvertes de végétation, et au-delà la perspective des autres galeries. A droite dans le mur, entre plusieurs tombeaux sur lesquels sont couchées des figures de nonnes taillées en pierre, on remarque celui de sainte Rosalie. Sa statue en marbre est recouverte d’un habit religieux, et tient à la main une branche verte de cyprès. Au fond, une grande porte, et un escalier conduisant aux caveaux du couvent. Des lampes en fer rouillé sont suspendues à la voûte. Tout annonce que depuis long-temps ces lieux sont inhabités. Il fait nuit. Les étoiles brillent au ciel, et le cloître n’est éclairé que par les rayons de la lune.

III, 7 (S. 36) Pendant l’air précédent des feux follets ont parcouru ces longues galeries et s’arrêtent pour s’éteindre sur les tombeaux des nonnes ou sur les pierres tumulaires de la cour. Alors les figures de pierre, se soulevant avec effort, se dressent et glissent sur la terre. Des nonnes aux vêtements blancs apparaissent sur les degrés de l’escalier, montent et s’avancent en procession sur le devant du théâtre. Pas le moindre mouvement ne trahit encore leur nouvelle existence. Les murs qui supportent les arcades ne peuvent arrêter la marche de celles qui désertent les tombes de la cour. La pierre s’est amollie pour leur livrer passage; bientôt elles ont rejoint leurs compagnes, et s’arrêtent vers le tombeau de sainte Rosalie, qu’elles ne peuvent dépasser. Dans ce moment leurs yeux commencent à s’ouvrir, leurs membres reçoivent le mouvement, et si ce n’est leur pâleur mortelle, toutes les apparences de la vie leur sont rendues. Pendant ce temps le feu des lampes s’est aussi de lui-même rallumé. L’obscurité a cessé.

BERTRAM, aux nonnes qui l’entourent. Jadis filles du ciel, aujourd’hui de l’enfer, Ecoutez mon ordre suprême! Voici venir vers vous un chevalier que j’aime… Il doit cueillir ce rameau vert; Mais si sa main hésite et trompe mon attente, Par vos charmes qu’il soit séduit; Forcez-le d’accomplir sa promesse imprudente, En lui cachant l’abîme où ma main le conduit. Toutes les nonnes par un salut donnent leur assentiment à la demande de Bertram, qui se retire. Aussitôt l’instinct des passions revient à ces corps naguère inanimés. Les jeunes filles, après s’être reconnues, se témoignent le contentement de se revoir. Hé-

130 | CATHARINA BUSJAN léna, la supérieure, les invite à profiter des instants et à se livrer au plaisir; cet ordre aussitôt est exécuté. Les nonnes tirent des tombeaux les objets de leurs passion profanes; des amphores, des coupes, des dés sont retrouvés. Quelques-unes font des offrandes à une idole; tandis que d’autres arrachent leurs longues robes et se parent la tête de couronnes de cyprès pour se livrer à la danse avec plus de légèreté. Bientôt elles n’écoutent plus que l’attrait du plaisir, et la danse devient une bacchanale ardente. La ritournelle annonçant l’arrivée de Robert interrompt les jeux; toutes les nonnes se dérobent à sa vue, en se cachant derrière la colonnade et les tombeaux.

ROBERT avance, en hésitant. Voici le lieu témoin d’un terrible mystère! Avançons … mais j’éprouve une secrète horreur: Ces cloîtres, ces tombeaux font naître dans mon cœur Un trouble involontaire. J’aperçois ce rameau, talisman redouté, Qui doit me donner en partage Et la puissance et l’immortalité. Quel trouble! Vain effroi! Grand Dieu! Dans cette image De ma mère en courroux, oui, j’ai revu les traits! Ah! C’en est fait, fuyons, je ne pourrai jamais. Au moment où Robert veut sortir, il se trouve entouré de toutes les nonnes; une d’elles lui présente une coupe, mais il la refuse. Héléna, qui s’en aperçoit, s’approche de lui, et par ses poses gracieuses cherche à le séduire; Robert la contemple avec admiration, bientôt il ne peut résister, et accepte la coupe offerte par sa main. Heléna voyant qu’elle a réussi l’entraîne vers le tombeau de sainte Rosalie; toutes les nonnes croyant que Robert va détacher le rameau, se félicitent de leur triomphe; mais le chevalier recule avec effroi. Héléna cherche de nouveau par ses charmes à exciter les passions de Robert. D’autres jeunes filles lui présentent des dés; au premier moment, il est tenté de se mêler à leurs jeux, mais bientôt il s’éloigne avec répugnance. Héléna, qui ne cesse de l’observer, le ramène en dansant autour de lui avec grâce. Robert subjugué par tant de charmes, oublie toutes ses craintes; elle le conduit insensiblement près du tombeau de sainte Rosalie, et se laisse ravir u[n] baiser, en lui indiquant du doigt le rameau qu’il doit cueillir. Robert, enivré d’amour, saisit le talisman; alors toutes les nonnes forment autour de lui une chaîne désordonnée. Il se fraye un chemin au milieu d’elles en agitant le rameau. Bientôt la vie qui les animait s’éteint par degrés, et chacune d’elles vient retomber auprès de son tombeau; un démon qui sort de chaque tombe s’assure de sa proie. En ce moment on entend au milieu des cloîtres un chœur infernal.

DAS BALLETT DER GRAND OPERA

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Scribe, Eugène: Les Huguenots, opéra en 5 actes, paroles de M. Eugène Scribe, musique de Giacomo Meyerbeer, Paris: Maurice Schlesinger 1836. III, 1 (S. 79) ACTE TROISIÈME. Le théâtre représente le Pré-aux-Clercs, qui s’étend jusqu’aux bords de la Seine. Au fond, et de l’autre côté de la rivière, les principaux édifices de Paris. A gauche du spectateur, sur le premier plan, un cabaret où sont assis des étudiants et des jeunes filles. A droite, un cabaret devant lequel des soldats huguenots boivent ou jouent aux dés. Sur le second plan, à gauche, l’entrée d’une chapelle. Au milieu, un arbre immense qui ombrage la prairie. – Au lever du rideau, des clercs de la basoche et des grisettes sont assis sur des chaises, et causent entre eux. D’autres se promènent ou forment différents groupes. – Ouvriers, marchands, musiciens ambulants, marionnettes, moines, bourgeois et bourgeoises. Il est six heures du soir, au mois d’août.

Meyerbeer, Giacomo/Scribe, Eugène: Le Prophète. Opéra en cinq actes. Livret: étude – sources – documents. Kritische Ausgabe von Fabien Guilloux, mit vergleichender Darstellung aller Textstadien und umfangreichem Kommentar, München: Ricordi 2007. III, 1 On voit dans le fond du théâtre défiler, sur l’étang glacé, des traîneaux attelés de chevaux, des petites voitures à quatre roues chargées de provisions; la fermière est assise sur la banquette de devant, et un homme debout, derrière elle, pousse le traîneau. Des hommes, des femmes et des enfants, portant sur leur tête des paniers ou des pots de lait, sillonnent l’étang glacé dans tous les sens en patinant et abordent auprès du camp. […] Les anabaptistes courent recevoir les provisions qu’on leur apporte et offrent en échange aux pourvoyeurs et aux jeunes filles des étoffes précieuses, des vases de prix, entassés dans le camp. Les jeunes filles, qui ont défait leurs patins, se mettent à danser, pendant que les soldats anabaptistes, qui se sont assis, boivent et mangent, servis par leurs femmes et leurs enfants. – La nuit commence à descendre sur la forêt; les paysans et paysannes ont repris leurs patins, et on les voit du loin disparaître sur l’étang glacé.

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Der Teufel in den Faust-Vertonungen von Berlioz, Gounod und Boito Wenn Körper, Raum und Musik das Unvorstellbare darstellen CLAUDE PAUL

Jedes Schauspiel ist immer insofern fremdbezogen, als dass seine Handlung sich an einem Ort abspielt, der außerhalb des Schauspielhauses liegt und deshalb (sinn-)bildlich dargestellt werden soll. Der Körper spielt dabei eine wesentliche Rolle. Kostümiert und geschminkt wird er in Szene gesetzt: Er erobert durch Gestik, Mimik und Bewegung eine künstliche bzw. künstlerische Räumlichkeit, indem er Bezug auf den dargestellten Ort nimmt und ihn somit nicht nutzt, sondern auch ergänzt oder ihn gar vervollkommnet. Der Körper ist aber auch selbst ein Ort des Ausdrucks: Aus ihm strömen die Worte, die ohne ihn stille Buchstaben in einem leblosen Buch bleiben würden, und von ihm stammen die Gestik und die Mimik, die seine Worte widerspiegeln oder ihnen widersprechen. Der Körper wird also zum Spannungsfeld zwischen Raum und Text. Dazu kommt bei der Oper noch die Musik, die die genannten Paradigmen beeinflusst: Sie gestaltet den Ablauf der Handlung, den Raum und sogar den für sie geschriebenen Text, wie von Gilles Tromp und später von Albert Gier analysiert.1 Außerdem gibt die Musik die inneren Vorgänge der Figuren wieder, so dass in der Oper der Körper zum Spannungsfeld dreier miteinander oder gegeneinander, auf jeden Fall zeitgleich wirkender Paradigmen wird: der Raum, der Text, die Musik.

1

Vgl. Gilles Tromp: »Le livret est-il un genre littéraire?«, in: L’Alphée, Cahier de Littérature, Nr. 4–5, Opéra et Littérature, hrsg. v. Michel Orcel, Bologna: Arti Grafiche Tamari, Mai 1981, S. 11–16; Albert Gier: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musiko-literarischen Gattung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988, S. 3–14.

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Wenn die Handlung sich an einem realen Ort abspielt – ob in Spanien wie in Carmen, in Japan wie in Madame Butterfly oder in Indien bei Lakmé – tragen alle Paradigmen dazu bei, diesen Ort darzustellen: Das Libretto nennt die Plätze oder die Objekte (manchmal nur durch Regieanweisungen), der Raum bekommt ein dementsprechendes Bühnenbild, die Musik lässt zeitweise Melodien, Rhythmen oder Strukturen durchdringen, welche die dortige oder damalige Kultur anklingen lassen, und der Körper wird dementsprechend gekleidet und geschminkt. Aber auf welche Mittel greift die Oper zurück, wenn der Ort der Handlung bisher nie gesichtet wurde bzw. eigentlich nirgendwo liegt? Wie kann das Übernatürliche, das Höllische, das Irrationale dargestellt und vorgeführt werden? Welches Bühnenbild, welche Kostüme, welche Gestik können ein Wesen andeuten, das kein Sterblicher je gesehen hat? Welche Anweisungen gehen vom Libretto aus? Und welche Rolle spielen dabei die Komponisten? Wie soll die Opernmusik Bezug auf eine dort anzusiedelnde Musik und Kultur nehmen? Diese Fragen wollen wir anhand dreier Vertonungen von Goethes Faust untersuchen: Hector Berlioz’ Fausts Verdammnis, Charles Gounods Margarethe2 und Arrigo Boitos Mefistofele. Dabei werden wir uns auf drei bestimmte Aufführungen konzentrieren, die die Komponisten miterlebt und mitkonzipiert haben: Die Uraufführung von Berlioz’ Fausts Verdammnis vom 6. Dezember 1846 der Pariser Opéra-Comique, die Uraufführung von Gounods Margarethe vom 19. März 1859 im Pariser Théâtre-Lyrique und die Aufführung von Boitos Mefistofele vom 4. Oktober 1875 im Teatro Comunale von Bologna – die als sehr ausführlich dokumentierte Krönung eines pragmatischen und musikalischen Klärungs- und Reifungsvorgangs betrachtet werden kann. Dabei wird weniger das Libretto als literarischer Text analysiert, als das Aufeinandertreffen von Raum, Körper und Musik. Für Berlioz’ Fausts Verdammnis konnten wir uns nur auf die Partitur und auf wenige Presseartikel stützen, da die Oper konzertant uraufgeführt wurde. Für die Analyse der Inszenierung Margarethes werden wir auf verschiedene Zeitungsartikel, Dekorskizzen und ein anonymes Manuskript der Bibliothèque nationale de France zurückgreifen, das die Anweisungen der Uraufführung vom 19. März 1859 festgehalten hat.3 Am ausführlichsten doku-

2

3

Für eine ausführliche Analyse der Teufelsfiguren von Berlioz und Gounod und deren Vorbilder in ihrem historischen und künstlerischen Kontext, siehe Claude Paul: Les Métamorphoses du diable. Méphistophélès dans les œuvres faustiennes de Goethe, Lenau, Delacroix et Berlioz, Paris: Champion, 2014. Manuscrit anonyme contenant des indications sur la mise en scène du »Faust« de Barbier et Carré, musique de Gounod, [1859], Bibliothèque nationale de France, dépar-

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mentiert ist die Aufführung von Boitos Mefistofele von 1875, von der noch die Partitur, verschiedene Aquarelle und Bühnenskizzen und die Disposizione Scenica4 von Boito selbst erhalten geblieben sind. Diese Disposizione enthält sowohl eine Beschreibung der Kostüme und der Bewegungen, wie schon im Manuskript von Gounods Oper, als auch die Beschreibung der Mimik, Gestik, Intention und der Intonation der Sänger, verschiedene Schemata der Bühne und Anweisungen für die Bühnenbildner und Maler. Bemerkenswert ist zunächst, dass das Höllische von den drei Komponisten nicht gleich gewichtet wurde: Während Mephistopheles sowohl für Berlioz als auch für Boito die zentrale Figur darstellt – letzterer hat sogar sein Werk nach ihm benannt –, war der Teufel für Gounod nur eine notwendige Figur zur Darstellung von Gretchens Leidensweg.5 Ob sich diese verschiedenen Anschauungen bei der Darstellung des Höllischen erkennen lassen oder ob sie nur aus dem Libretto hervorgehen, wird auch Teil unserer Untersuchung sein. Die vergleichende Analyse der kostümierten Körper (1), der tanzenden und spielenden Körper (2), der im Raum inszenierten Körper (3), und schließlich der Eroberung der Räumlichkeit durch die Bühnenbilder und die Musik allein (4) werden zeigen – so meine These –, wie die Darstellung des Teufels und der Hölle bzw. des Sabbats, die nie von einem Lebenden gesichtet wurden, zur Erforschung des Darstellungspotentials der Bühnengestaltung und der Inszenierung beigetragen haben, wodurch ein neuer KörperRaum-Bezug ausgelotet wurde.

4

5

tement des spectacles, collection Rondel, Signatur M RE 204, S. 128. Ab jetzt als Mise en scène du »Faust« abgekürzt. Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Inszenierung üblicherweise den Sängern und den Schauspielern bzw. später den Theaterdirektoren überlassen. Falls Gounod bei der Inszenierung mitgewirkt hätte, wäre es in Briefen, in der Presse oder in dem Inszenierungsmanuskript (vgl. folgende Fußnote) überliefert worden. Deswegen wollen wir von seinem »Regisseur« sprechen, wohl wissend, dass diese Bezeichnung leicht anachronistisch ist. Disposizione scenica per l’opera Mefistofele di Arrigo Boito, compilata e regolata secondo le istruzioni dell’autore (1875), in: William Ashbrook/Gerardo Guccini (Hrsg.): Mefistofele di Arrigo Boito, Collana di Disposizioni sceniche diretta da Francesco Degrada e Mercedes Viale Ferrero, Mailand: Ricordi, 1998 (Musica e spettacolo). Ab jetzt als Disposizione scenica abgekürzt. Vgl. Claude Paul: »L’Allemagne et les Allemands dans le Faust de Gounod: une projection en miroir de la société française du second Empire«, in: L’Autre au miroir de la scène, colloque international organisé par les universités Lilles III et Valenciennes (18, 19 et 20 novembre 2010), Brüssel: Peter Lang, S. 175–184.

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I. DIE KOSTÜMIERTEN KÖRPER Beim äußeren Erscheinungsbild des Mephistopheles und dessen Untertanen sind alle Beteiligten der Tradition nahe geblieben. So wird der Teufel in Fausts Verdammnis von den Trinkern aus Auerbachs Keller als blass und rothaarig beschrieben (6. Szene), wobei das rote Haar seit jeher als Zeichen des Teuflischen gilt. Vielleicht hat aber auch der Komponist seiner Lieblingsfigur die rote Farbe seiner eigenen Mähne geben wollen. Immerhin waren die Romantiker sehr bedacht, das »satanische« Bild, das das Publikum – und vor allem die jungen Frauen – von ihnen hatten, zu verbreiten und zu pflegen. So Théophile Gautier, der »dès 1832 les traits d’un jeune démon dandy, bien habillé, à la moustache rousse, aux yeux verts et au teint pâle«6 fixiert hatte. Es scheint so, als hätte Berlioz ein ähnliches Bild von sich zeichnen wollen, ein Bild, das im Gemälde von Emile Signol Portrait d’Hector Berlioz von 1832 festgehalten wurde.7 Die Erscheinung des Teufels ist also nicht spektakulär, sondern relativ diskret; sie kündigt seine heimtückische Art und seine ironische Dimension an und lässt ihn umso gefährlicher erscheinen, viel gefährlicher als in der Inszenierung der Oper Gounods, wo ihn alles verrät. Dort tritt er laut Libretto mit einem Schwert, einem Hut mit einer Feder, einem vollen Geldbeutel und einem schönen Mantel auf. Das Manuskript der Inszenierung ist etwas präziser, vor allem was die Farben angeht, schwarz und rot: Méphistophélès (1er, 2e et 3e acte) – Pourpoint velours soie noire à crevés feu; trousse à Manteau soie noire doublée soie feu; Toque à oreillons velours soie noire, pantalon soie feu, escarcelle velours; chaussures velours noir; épée et Ceinturon.8

Dieses Kostüm wird im vierten Akt ein bisschen vereinfacht, wird dann aber für die Walpurgisnacht mit verschiedenen Goldelementen ausgeschmückt: 4e (acte Eglise) Pourpoint velours noir; trousse à Manteau drap noir, doublé rouge, Pantalon noir; chaussures noires du 1er acte.

6 7 8

Robert Muchembled: Une Histoire du diable, XIIe–XXe siècle, Paris: Le Seuil, 2000, S. 261–264, hier besonders S. 264. Vgl. Alban Ramaut: Hector Berlioz, compositeur romantique français, Arles: Actes sud, 1993 (Musique (Arles)), S. 17, und Emile Signol: Portrait d’Hector Berlioz, Öl auf Leinwand, 21 x 26 cm, 1832, Rom, Villa Medici. Mise en scène du »Faust« (Anm. 3), S. 128.

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Harz (5e acte) Pourpoint drap d’or broché couleurs; trousse soie feu manteau gros de naple [sic] feu; Capuchon; toque soie feu; souliers rouges. 9

Die Verbindung des christlichen Teufels – immerhin ein entfernter Verwandter des antiken Mammon – mit dem Edelmetall ist an sich auch sehr konventionell.10 Das Kostüm von Mephistopheles – der wohl gemerkt auf den Ruf nach Satan geantwortet hat – kombiniert also die höllischen Farben rot und schwarz. Somit verrät er dem Publikum sofort seine Herkunft und seine Natur. Innerhalb der dramatischen Handlung jedoch ahnen die Figuren nichts: Valentin und die Studenten aus Auerbachs Keller kosten ohne Bedenken den Zauberwein, bevor sie ihn als Teufel entlarven. Genauso wird Gretchen erst in ihrem Kerker bewusst, wer der Begleiter ihres Liebhabers ist. Sein Kostüm ist also nicht Teil der dargestellten Handlung sondern ein an das Publikum gerichtetes Erkennungsmerkmal, das der Erläuterung seiner Rolle und der allgemeinen Unterhaltung dient. Durch ihr Kostüm steht die Figur des Teufels an der Schwelle zwischen fiktiver Handlung und realem Publikum. Aber Gounod hat den Auftritten seiner Teufelsfigur kein bestimmtes musikalisches Motiv zugeteilt, im Gegensatz zu Berlioz und Boito. Letzterer hat den goetheschen Prolog im Himmel in sein Libretto miteinbezogen, so dass der Zuschauer vor dem Magier mit dem Teufel konfrontiert wird. Sein Kostüm ist ganz schwarz, was ihn vom Hinter- und Vordergrund abhebt. Der Vordergrund besteht nämlich aus einer bühnenbreiten, mit Wolken bemalten Plane. Diese ist auf der linken Seite durchsichtig für den Auftritt Mephistopheles’. Hinter ihm stellt eine weitere Plane den Himmel mit Sternen und den Erdkreis in verschiedenen Blauschattierungen dar. So tritt der Teufel zuerst als Einziger auf, da die Himmelsscharen (der volle Chor mit Kindern, also 128 Choristen, plus eine Zimmerorgel!) hinter der weißen Wolke des Vordergrundes versteckt bleiben. Boito ist aber sehr um die Wirkung der Stimmen und die Akustik besorgt, und empfiehlt nicht nur, dass eine weitere Plane hinter den Chor zu stellen sei, damit der Gesang nicht verloren gehe, sondern bestimmt auch, wo welcher Teil des Chores stehen solle und in welche Richtung er zu singen habe.11 Der Prologo in cielo wirkt durch die versteckte Masse der Chorstimmen wortwörtlich »wundervoll«, während Mephistopheles zwar materieller erscheint, jedoch zugleich 9 Ebd. 10 Auf diese Verbindung hat auch Goethe in seiner Tragödie zurückgegriffen, etwa als Mephistopheles in der Walpurgisnacht zu Faust sagt: »Hier ist so ein Mittelgipfel/ Wo man mit Erstaunen sieht/ Wie im Berg der Mammon glüht« (V. 3913– 3915). 11 Vgl. Disposizione scenica (Anm. 4), S. 5–7.

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sehr klein und fast wie im Raum verloren. Im ersten Akt dann – und das ist eine Besonderheit der Figur Boitos – erscheint der Teufel als gespenstischer grauer Mönch,12 was der Komponist in der Librettoausgabe von 1881 durch einen Rückgriff auf die vor-goethesche Tradition rechtfertigt.13 Sein zweites Kostüm, als cavaliere, ist relativ nah an dem von Gounods Mephistopheles und mischt rote und schwarze Farbe mit goldenen Elementen: Guistacuore di panno rosso cupo, con sbuffi al petto ed alle maniche di raso nero, guarnito e filettato d’oro. Maglie di lana dello stesso colore del guistacuore, con piccoli sbuffi di raso nero, filettati in oro. Alla vita giro di fiocchi di raso nero, con piccola guarnizione in oro. Capuccino di raso nero, con risvolti di panno rosso [etc].14

Die Untertanen des Mephistopheles, die Hexen und Dämonen der Walpurgisnacht, werden mit den gleichen, traditionellen Farben wie ihr Meister bekleidet: rot und schwarz.15 Die Kostüme und das Aussehen der drei Teufel beruhen also auf einer sehr alten, sowohl christlichen wie auch heidnischen Tradition, welche die roten Haare und allgemein die roten und schwarzen Farben als teuflische Zeichen bewertet. Da die anderen fiktiven Figuren von Gounod und Boito dies nicht bemerken bzw. nicht wahrnehmen, können wir von einer Metadimension der Kostüme der Teufelsfiguren sprechen. Somit wird die Teufelsfigur zum Ort einer Reflexion auf die Fiktion: Der bereits verkleidete Schauspieler verkörpert eine Figur, die sich verkleidet, um eine Rolle zu spielen. Diese inszenierte bzw. vorgeführte mise en abyme deckt die Konstruiertheit der erzählten Geschichte sowie der Oper als Spektakel auf und weist auf die Undefinierbarkeit der Teufelsfigur hin. Genauso wie das »Teufelskostüm« besitzt die Musik zum Teil eine extradiegetische Dimension: Es wird allgemein angenommen, dass die Figuren nicht wissen, dass sie singen, und nicht wahrnehmen, dass ihre Welt durch die Musik bestimmt wird. Dies ist charakteristisch für die Fiktion.

12 Vgl. ebd., S. 1. 13 Vgl. Mefistofele, opera di Arrigo Boito, Teatro alla Scala, Stagione di Primavera 1881, in: Ashbrook/Guccini (Hrsg.): Mefistofele di Arrigo Boito (Anm. 4), S. 43. 14 Disposizione scenica (Anm. 4), S. 83. 15 Vgl. ebd., S. 90, bzw. S. 290.

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II. DIE TANZENDEN UND SPIELENDEN KÖRPER Es gibt in der Oper zwei Musikebenen: Die von den fiktiven Figuren wahrgenommene Musik – also die Musik, die in die Handlung z. B. in Form eines Balles oder eines Liedes eingebunden ist – und die von den fiktiven Figuren nicht wahrgenommene Musik. Erstere gibt des Öfteren Anlass zur Aufführung eines Balletts. Interessant ist dabei, dass in den drei betrachteten Werken der Tanz fast ausschließlich als Teufelswerk fungiert.

Der Tanz als Teufelswerk Der Tanz an sich ist ein Akt der Verführung: akustische und visuelle Verführung der Zuschauer und Zuhörer durch die Musik und die Bewegungen und mimische Verführung der Tanzpartner. So verwundert es kaum, dass das Tanzen außerhalb der gesellschaftlichen Kodierung sehr lange als Ausdrucksform des Teuflischen betrachtet wurde. Und so verhält es sich in den drei betrachteten Faust-Vertonungen. Berlioz hat als Krönung der HypnoseArie Chœur de gnomes et de sylphes ein Ballett geschrieben, das die Wirkung der erotischen Suggestion in der Psyche Fausts verankern soll. Genauso soll das Menuett der Irrlichter durch ihre »lueurs malfaisantes« »charmer une enfant [Marguerite] et l’amener à nous«. So befiehlt er: »Au nom du diable, en danse!« (12. Szene). Daraufhin müssen die Irrlichter »exécut[er] des évolutions et des danses bizarres autour de la maison de Marguerite.«16 Es muss unheimlich wirken, also jenseits des gesellschaftlich kodierten Tanzes. Das Tanzen hat in Fausts Verdammnis eine unwiderstehlich verführerische Wirkung, die die erotischen Triebe des Opfers weckt oder befreit. So ist Faust nach dem Ballett der Sylphen auf einmal von Marguerite besessen, obwohl er sie nur im Traum gesehen hat.17 Und so kann auch Marguerite nach dem Menuett der Irrlichter den Avancen von Faust nicht widerstehen. Diese Urkraft des Tanzes hat der Komponist schon programmatisch in der zweiten Szene des ersten Teils seiner Légende dramatique, wie er sie gekennzeichnet hatte, in Szene bzw. in Musik gesetzt: Die Ronde des paysans ist nicht nur

16 Vgl. Hector Berlioz: La Damnation de Faust, in: New Edition of the Complete Works, issued by the Berlioz centenary committee London, in association with the Calouste Gulbenkian foundation, Lissabon u. a.: Bärenreiter, 1967–2006, Bd. 8a, hrsg. von Julian Rushton, 1979, 12. Szene, Takt 2. 17 Die Wirkungskraft dieses teuflischen Traumes erinnert unweigerlich an Paradise Lost von Milton, in dem Satan Eva zunächst durch einen Traum zu verführen versucht.

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durch die Musik wortwörtlich leichtfüßig, sondern auch durch ihre Worte sehr anzüglich. Geht es nicht um unverheiratete Liebespaare, die sich zum Tanz (und mehr) treffen, bevor sie sich wieder trennen? Schließlich tanzen die Dämonen um Mephistopheles herum im Pandaemonium (19. Szene, 71. Takt). Diesmal gilt der Tanz dem Ausdruck des höllischen Freudenausbruchs, den die Erbeutung der Seele Fausts verursacht hat. Leider verliert Berlioz kein Wort darüber, wie diese Tänze auszusehen haben: Wo finden sie statt? Um Faust herum? Vor ihm? Hinter ihm? Tanzt man »auf der Stelle«, oder geht es von einer Bühnenseite zur anderen? Und wie kann man überhaupt auf der Bühne um ein ganzes Haus herum tanzen? Der Verfasser der Mise en scène du Faust von Gounod ist da etwas auskunftsfreudiger. Allgemein werden die Chöre der Kermesse wohlgeordnet behandelt: Je nach Stimmlage treten die verschiedenen Gruppen vor dem Publikum hervor, singen ihren Teil und gehen dann wieder an ihren Platz.18 Die »Ballettartigkeit« dieser Bewegungen macht umso mehr Sinn, als dass die Menge sich bald in einen Walzer stürzen wird, der zeigen soll, wie sehr die ganze Gesellschaft von ihren Trieben beherrscht wird.19 Dies soll die Tugendhaftigkeit und die Unschuld von Margarethe per Kontrast hervorheben. Das für die Aufführung der Pariser Oper 1869 angefertigte Ballett der Walpurgisnacht bringt die Verbindung Tanz-Teufel noch besser zum Ausdruck. Leider konnten wir trotz intensiver Recherchen keine Beschreibung dieses Balletts finden. Vorstellbar ist, dass es so antikisierend wirken sollte wie die Ruinen des Teufelspalasts selbst – von dem die Bibliothèque nationale de France noch ein dreidimensionales Modell besitzt20 – bzw. so vornehm war wie Mephistopheles’ Gäste: Aspasia, Lais, Kleopatra, Phryne, Helena, usw. Man kann davon ausgehen, dass die Tänze sehr geordnet und harmonisch wirken sollten. Interessant ist außerdem, dass das Publikum in einer Bewegung Mephistopheles’ einen »Tanzschritt« erkannt hat, den es laut Inszenierungsmanuskript nicht gegeben hat. Bei der ersten Erscheinung von Mephistopheles besagt das Manuskript lediglich, dass der Teufel »passe en se

18 Vgl. Mise en scène du »Faust« (Anm. 3), S. 20–21. 19 Vgl. Mise en scène du »Faust« (Anm. 3), S. 35 und 40, vgl. Gérard Condé: »Guide d’écoute«, in: Le Faust de Gounod, in: L’Avant-Scène Opéra 231, hrsg. v. Gérard Condé, Paris: Premières Loges, 2006, S. 22 f. 20 Vgl. Edouard Despléchin und Jean-Baptiste Lavastre: [Faust [Image fixe]: Acte V, 2e tableau: la nuit de Walpurgis], dreidimensionales Modell des Bühnenbildes, 1869, Paris, Bibliothèque nationale de France, département Bibliothèque-musée de l’opéra − magasin de la Réserve, Signatur MAQ A- 90, in elektronischer Form unter der Signatur IFN- 7003314 gespeichert und auf Gallica (www.gallica.fr) frei zugänglich.

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pavanant devant Faust«, also vor seinem Opfer umher stolziert und posiert. Für einen Journalisten der Revue et gazette musicale de Paris erscheint Mephistopheles aber »avec la démarche et les attitudes d’un maître de danse«.21 Somit scheint es, als wäre die Verbindung Tanz-Teufel so geläufig, dass auch die nicht getanzten Passagen vom Publikum trotzdem als Tanzschritt aufgefasst werden. Auf diese Erwartung seitens des Publikums verlässt sich auch Boito bei der Aufführungsweise des wichtigsten Tanzes seiner Oper: das Ballett der Walpurgisnacht. Der italienische Komponist hat jede gerade Linie und jede Ordnung strikt abgelehnt. Zwar sind die Chöre nicht gemischt, sondern nach Stimmlage eingeteilt, aber die Sänger »irrompono freneticamente sulla scena«, »saltando et movendosi disordinatamente«22 auf einem serpentinenreichen Weg. Dann laufen neun kleine Hexen im Kreis um einen Felsen herum. Als die Menge sich Mephistopheles zu Füßen wirft, bildet sie mehrere Kreise um ihn herum (Abb. 1).23 Später wird um zwei Felsen in einer kleinen, acht-förmigen Kette getanzt (Abb. 2). Die darauf folgende, große Kette nimmt die gesamte Bühne ein durch ihre kurvige, gar schlangenartige Ausformung (Abb. 3). Dagegen stehen die Himmelsscharen des Epilogo in geradezu »artigen« Reihen nebeneinander auf ihren Stufen (Abb. 4).24 So scheint bei Boito das Geradlinige, das Ordentliche und die Reglosigkeit für das Gute zu stehen, während das Kurvige und das Frenetische als Zeichen des Bösen zu deuten wären. Abb. 1

Abb. 2

21 Revue et gazette musicale de Paris, Nr. 13, 27. März 1859. 22 Disposizione scenica (Anm. 4), S. 42 f. 23 Ob es sich hier um eine Anspielung auf die Kreise der Hölle in Dantes Divina Comedia handelt, lässt sich nicht eindeutig belegen. Die Idee ist jedoch reizend und ich möchte mich hier ausdrücklich bei Maria Imhof für die Anregung bedanken. 24 Die Bilder sind vereinfachte Schemata der Zeichnungen aus der Disposizione scenica (Anm. 4), S. 45, 49, 52 und 78.

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Abb. 3

Abb. 4

Aber die unübersichtlichen und vielfältigen Bewegungen der Walpurgisnacht als Ballett aufzufassen ist nur einem Publikum möglich, dem die Verbindung Teufel-Tanz geläufig ist. Oder ergreift Boito die Gelegenheit, unter dem Deckmantel des Teuflischen das Opernballett zu parodieren? Als Gegenpol zum »ernsten« Ballett der klassischen Walpurgisnacht wird der karikierte Tanz zum Teufelswerk, sowohl durch die zwei Catene der Sabba del Notte als auch durch den Tanzrhythmus, der den ersten Auftritt von Mephistopheles ankündigt – und den wir gleich etwas ausführlicher untersuchen werden. So ist der Tanz bei den drei Vertonungen eine teuflische Angelegenheit. Jedoch werden bei Margarethe die Chöre wohlgeordnet behandelt, sowie auch wahrscheinlich das Ballett der Walpurgisnacht. Berlioz und Boito hingegen versuchen, die Tänze sehr unheimlich und gleichzeitig so fern jeglicher gesellschaftlichen Kodierung zu gestalten, so dass sie beinahe als BallettParodie gelten können. In der Oper nimmt aber der Körper nicht nur dann Beziehung zur Musik auf, wenn diese in der Handlung vorkommt, sondern auch – und das unterscheidet sie vom Theater – wenn die Musik außerhalb und unabhängig von der Handlung erklingt.

Gestik und Mimik Albert Gier schreibt: Die Zeit ist [in einer Oper] nicht nur angehalten, sie ist aufgehoben [...]. Als »Drama der absoluten Gegenwart« besteht die Oper aus weitgehend statischen Einzelbildern, die zwar syntagmatisch zu einer Geschichte mit Ausgangs- und Zielpunkt verknüpft sind; als distinkte Einheiten sind sie aber zugleich eingebunden in ein System von paradigmatischen, d. h. den linearen Zeitverlauf transzendierenden bzw. von ihm abs-

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trahierenden Bezügen; sinntragend sind überwiegend oder ausschließlich die paradigmatischen Strukturen.25

Bedingt durch die Musik vergeht die Zeit der Rezitative langsamer als in einem Theaterstück, wo der Sprechrhythmus der Schauspieler – wenn auch nicht ihre Aussprache – nah an der Realität ist. Dementsprechend müssen die Sänger auch ihre Gestik anpassen und verlangsamen. Dass der Gesichtsausdruck durch das Singen beeinträchtigt ist, bleibt unausweichlich. Allerdings war diese Beeinträchtigung belanglos, solange das Publikum die Aufführung aus der Ferne und nicht mit Operngläsern genoss. Dazu kommt, dass der Text durch das Singen weniger gut verständlich ist. So helfen eine vereinfachte Mimik und eine stilisierte Gestik dem Publikum, die Hauptbotschaft der Arie zu verstehen. Schlussendlich können sich die Sänger nicht völlig beliebig bewegen, da das Singen eine gewisse körperliche Stabilität fordert. Gestik und Mimik zeichnen sich also in der Oper durch Vereinfachung, Verlangsamung und Stilisierung aus. In dem Fall einer Teufelsfigur kann dies aber schnell zu einer unerwünschten Karikatur führen: Der Sänger kann allzu leicht mit seinem zum Singen weit offenen Mund eine lächerliche Fratze schneiden, er kann die Stilisierung ad absurdum übersteigern etc. Als Mitglied einer der Vernunft entzogenen (Höllen-)Welt wird der Figur viel zugemutet. Dementsprechend frei ist ihre Verkörperung. Diese Freiheit birgt aber die Gefahr, aus ihr eine possenhafte, lächerliche und übertrieben plumpe Figur zu machen. Welche Angaben haben die Beteiligten der FaustAufführungen dazu gemacht? Berlioz hat sich zur Mimik seiner Sänger nicht geäußert. Überhaupt finden sich in seinen Briefen, Reiseberichten und Memoiren kaum Angaben zum Thema Inszenierung. Auf der anderen Seite hat er dafür gesorgt, dass die für ihn wichtigsten Stellen des Librettos immer verständlich bleiben und damit die Rolle der Gebärde als stilisierte Umsetzung der gesungenen Botschaft überflüssig gemacht. Der leidenschaftliche Musiker hat manchmal sogar die Instrumentalmusik selbst geopfert und seine Sänger a cappella singen lassen. So z. B. wenn Mephistopheles Faust – und mit ihm den Zuschauer – vor der musikalischen Plumpheit der Sänger aus Auerbachs Keller warnen will (6. Szene).26 Weitere Beispiele finden sich beim ersten Auftritt 25 Gier: Das Libretto (Anm. 1), S. 8. 26 Berlioz betrachtete nämlich jede Fuge auf dem Wort Amen als »le plus abominable et le plus indécent des contresens« und »un outrage impardonnable à l’expression musicale« (von Adolphe Boschot ohne weitere Hinweise zitiert in: Le Faust de Berlioz, étude sur »La Damnation de Faust« et sur l’âme romantique, Paris, Editions musicales de la librairie de France (Les grandes Œuvres musicales), 1927,

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des Teufels und in der 17. Szene, Récitatif et chasse, wo die Posaunen fast nur als Mephistopheles’ Echo dienen.27 Manchmal verfährt Berlioz aber auch umgekehrt. Die Worte des Pandaemonium sind für ihn z. B. überflüssig; deswegen hat er eine unverständliche Sprache erfunden, deren Silben sich in der ohrenbetäubenden Musik verlieren. Genauere Hinweise zur Mimik und Gestik müssen aus der Partitur und dem Libretto abgeleitet werden. So z. B. der erste Auftritt von Mephistopheles, der sein ganz persönliches, musikalisches Motiv – zwei Sechzehntelnoten gefolgt von einer Achtelnote – erhält: Ce motif a la brièveté d’un éclair de pensée et l’éclat d’un coup de foudre, alliant la voix terrible des trombones au mordant des bassons, le rire strident des flûtes et le fracas, aussitôt étouffé, des cymbales, au grincement durable du trémolo des cordes jouant près du chevalet.28

Dann ertönen die Posaunen, die bei den wichtigsten Auftritten des Teufels systematisch eingesetzt werden. Dieses traditionelle Instrument des Höllischen unterstreicht und umhüllt sofort den durch ein sehr familiäres Sprachregister – er spricht von »[s]es bouquins« und »le fatras de la philosophie« (5. Szene) – ausgedrückten Spott Mephistopheles’. Jedoch wird der mimische Ausdruck dieser beißenden Ironie jedem Sänger frei überlassen. Mehr als einen Vertrauensbeweis Berlioz’ in die Fähigkeit seiner Sänger, seiner Figur eine angemessene Mimesis zu verleihen, bezeugt seine Vernachlässigung, sein Desinteresse für die visuelle Dimension der Oper. Mehr Hinweise dagegen sind in dem Manuskript der Inszenierung von Margarethe enthalten. Die Momente, in denen Bewegungen, bestimmte Gesichtsausdrücke oder Gesten auszuführen sind, werden meistens durch Textangaben festgelegt. So schreibt der Verfasser zum Beispiel: »L’épée au côté, la plume au chapeau: Méphistophélès passe en se pavanant devant Faust«.29 Nur wenn nichts gesungen wird, werden Taktangaben zur Orientierung genommen, wie etwa am Anfang der Walpurgisnacht, wo »sur la 19e mesure des 4 temps, Méphistophélès suivi de Faust entre par la gauche du

S. 72). Der Artikel von Berlioz über die Missa Solemnis von Beethoven liefert weitere, interessante Hinweise über seine Auffassung der Amen-Fugen. Die Warnung von Mephistopheles dient also auch dem Zuschauer, der eingeladen wird, den Chor aus Auerbachs Keller ironisch zu verstehen. 27 Vgl. Gérard Condé: »Commentaire musical«, in: La Damnation de Faust de Berlioz, in: L’Avant-Scène Opéra 22, hrsg. v. Gérard Condé, Paris: Premières Loges, 1995, S. 50. 28 Ebd., S. 20. 29 Mise en scène du »Faust« (Anm. 3), S. 10. Im Original unterstrichen.

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public«.30 Ansonsten werden die Taktangaben mit dem Text ergänzt, wie zum Beispiel als Faust am Ende des ersten Akts »après 32 mesures du 6/8 en la b aux mots ardente jeunesse, […] passe devant Méphistophélès«.31 Eine Analyse des Manuskripts belegt, dass der Sänger von Mephistopheles – wie auch später sein Pendant bei der Aufführung von Boitos Oper – die symbolischsten seiner Gebärden mit der linken Hand ausführen musste, was auf volkstümliche Vorstellungen und Aberglauben zurückzuführen ist.32 Trotz ihrer Genauigkeit erscheinen diese Hinweise aber fast belanglos im Vergleich zu der Ausführlichkeit der Disposizione scenica Boitos. Die strengen Angaben des italienischen Komponisten lassen weniger Interpretationsfreiheit zu als die punktuellen Hinweise der Mise en scène du Faust. Überhaupt verfolgen ihre beiden Verfasser nicht dasselbe Ziel. Die Mise en scène du Faust muss als Bericht über eine singuläre Aufführung – immerhin die Uraufführung – verstanden werden: Sie erhebt keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Deshalb werden nur die aus der Sicht des anonymen Verfassers wichtigsten Anweisungen angegeben. Die Disposizione scenica dagegen soll zum Leitfaden für die »Regisseure« zukünftiger Aufführungen von Mefistofele werden. Dies erklärt zum Teil, warum Boito kein Detail, so winzig es auch sei, außer Acht gelassen hat. Der italienische Komponist hat seiner Titelfigur drei verschiedene, leicht erkennbare musikalische Motive zugeteilt. Das Erste klingt wie ein »mouvement de danse narquois en 3/8, ricanements de la petite harmonie (piccolo, flûtes, bassons et cors) rehaussés de pizzicati de cordes«.33 Es geht Mephistopheles’ erstem Satz im Prologo in Cielo voraus; seine stark ausgeprägte Ironie kontrastiert mit der feierlichen Musik der Himmelsscharen. Ein paar Takte später, bei den Versen »Si, maestro divino…«, wird begleiten Mephistopheles dunkle, legatissimo gespielte »accords en relation de quarte augmentée au riche devenir dans la partition«.34 Aber das dritte Motiv ist das unheimlichste von allen: Eine schleichende, chromatische Melodie gespielt von 30 Ebd., S. 111 f. 31 Ebd., S. 16. 32 Vgl. bei Gounod zum Beispiel der Handschlag, der den Pakt am Ende des ersten Akts besiegelt und wie folgt beschrieben wird: »Après la dernière note chantée et sur la ritournelle, ils se rapprochent; Méphistophélès tend la main gauche à Faust qui lui donne également la main gauche puis Méphistophélès lui pose la droite sur l’épaule.«, ebd., S. 17. Bei Boito muss Mefistofele zum Beispiel während der Walpurgisnacht nach dem Globus mit der linken Hand greifen (vgl. Disposizione scenica (Anm. 4),S. 46). 33 Emmanuel Reibel: »Guide d’écoute«, in: Le Mefistofele de Boito, in: L’Avant-Scène Opéra 238, hrsg. v. Emmanuel Reibel, Paris: Premières Loges, 2007, S. 12. 34 Ebd., S. 14.

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Celli und Bassklarinette erinnert an das versteckte Lauern eines Raubtieres. Diese drei Motive entsprechen dem facettenreichen Charakter einer Figur, die im Avvertenze per i cantanti wie folgt beschrieben wird: Mefistofele è una personificazione del male […]. Da qui una perenne rabbia soffocata, che si palesa in sarcasmi, in sogghigni, sotto una apparenza di freddezza glaciale e d’indifferenza. L’ironia è il fondo del suo carattere. Gelido nell’aspetto, iroso nell’animo, beffardo, bilioso, nervoso, sensuale, viso di caprone, corpo di serpente, ecco questo mostro. Mefistofele ha in sè tutte le varietà del male.35

Dabei »tiene spesso une gamba accavallata all’altra«,36 was auf der traditionellen Darstellung des Teufels mit Pferdefuß beruht. Immer wieder gibt Boito an, welche Gestik und welche Mimik er an welcher Stelle des Librettos, häufiger aber der Partitur – in dieser Hinsicht bleibt Boito ein Komponist – von seinen Sängern erwartet. Die perfekte Abstimmung von Musik und Gestik/Bewegung ist ihm sehr wichtig, da »gli attachi di movimenti non sono indicati a caso, ma corrispondono agli effetti musicali ideati dal maestro, e li secondano aumentandoli«37. Seine bemerkenswerteste Innovation besteht aber in der Eroberung der Räumlichkeit durch das ›Blickspiel‹ der Sänger. So verleiht Mephistopheles dem Prologo in Cielo allein durch seinen Blick seine volle Weite: Alla quart’ultima battuta […] comparisce da sotto il palco Mefistofele, avvolto in un ampio mantello nero: esso stara coi piè fermi su di un lembo del suo mantello, guardando fissamente la parte alta e raggiante della nebulosa […]. All’attaco del TRIO, Mefistofele, senza muoversi dal posto che occupa, guarda con curiosità l’orizzonte che lo circonda, il cielo sulla sua testa, la curva della terra che si disegna nel lontano, e l’abisso a’ suoi piedi.38

Durch das Spiel der Blicke lenkt Boito bewusst die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den Raum und sprengt somit dessen Grenze. Es wäre interessant herauszufinden, inwiefern diese Innovation durch die zunehmende Verwendung von Operngläsern durch das Publikum beeinflusst worden ist. Manche Hinweise Boitos gehen jedoch über das Darstellbare hinaus. So im Epilogo, wo

35 36 37 38

Disposizione scenica (Anm. 4), S. 1. Ebd. Ebd., S. 54. Ebd., S. 6.

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[Mefistofele] avvicinandosi a Faust con amara di sarcasmo gli dice: Hai bramato, gioito, poi con violentissima ironia marca molto con espressione beffarda le parole: Arrestati sei bello! […] Alle parole: All’erta, Mefistofele si avanza verso il proscenio: è sempre più agitato ed il suo corpo acquista delle mosse scelle, rapidissime, feroci, come da pantera.39

Dabei ist es dem Komponisten wichtig, dass die Emotionen durch den Gesang ausgedrückt werden, und nicht durch die Mimik und die Gestik, die er paradoxerweise so ausführlich beschreibt.40 Während Berlioz kein Wort über Gestik und Mimik verliert, genießt die Teufelsfigur eine ausgewogene Aufmerksamkeit in dem Inszenierungsmanuskript von Margarethe. Boito seinerseits hat den leichten Drang, sich auf seine Titelfigur zu fokussieren, auf die Gefahr hin, die anderen etwas zu vernachlässigen. Wichtiger ist, dass der »Regisseur« von Margarethe sowie Boito sich abwechselnd auf die Partitur und das Libretto stützen, um ihre Angaben zur Gestik- und Mimik im Handlungsablauf festzulegen. Sowohl der Text als auch die Musik, oder besser gesagt, der Text und die Musik als untrennbare Einheit werden somit zu verlässlichen Anhaltspunkten bei der Harmonisierung von Gesang und Pantomime erhoben. Dabei bleiben die drei Mephistopheles-Rollen von traditionellen Eigenschaften des Teufels und folglich von traditionellen Schauspielweisen (der Spott und die Grimasse, der Stolz und das Stolzieren, die Verlogenheit und die linke Hand, das Hinken des Pferdefußes, der Tanz…) geprägt. Bestimmte Bewegungen und Gesichtsausdrücke – wie die Blicke bei Boito – dienen jedoch nicht nur dazu, die Figuren mimetisch darzustellen, sondern sie tragen dazu bei, die Figuren in Einklang mit den Räumlichkeiten zu bringen.

III. DIE (INSZENIERTEN) KÖRPER IM RAUM Dass in der Oper der Körper – im Gegensatz zum Theater – Bezug auf die Musik und auf den Text nehmen muss, haben wir bereits erklärt. Dies ist sogar so wichtig, dass die Mimik- und Gestikangaben anhand der Einheit »Musik-Text« gemacht werden. Darüber hinaus nimmt der Körper Bezug auf die Räumlichkeit, um Text, Musik und Raum in Einklang zu bringen, 39 Ebd., S. 74 f. 40 So schreibt er für die Szene, wo Margherita in den Armen Fausts stirbt: »Tutto ciò dev’ essere cantato con voce fievole, con semplicità straziante e con mestizia rassegnata, ma senza esagerazione di gesto, quasi immobile, senza ricerca dell’effetto, ma con emozione vera«. Ebd., S. 63.

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etwa um die durch die Musik leicht unverständlich gewordenen Worte räumlich auszudrücken. Wie bereits gesagt, hat Berlioz in Fausts Verdammnis dafür gesorgt, dass die aus seiner Sicht wichtigsten Textstellen verständlich bleiben. Außerdem wurde seine Légende dramatique aus Geldmangel konzertant uraufgeführt.41 Beides erklärt vielleicht, warum der französische Komponist kaum Angaben zu den Bewegungen seiner Sänger gemacht hat. Auch wehrte er sich energisch gegen eine eindeutige Zuordnung des Werkes und schwankte selber zwischen »grand opéra de Faust (opéra de concert en 4 actes)«, »opéralégende en 4 actes«42 und »opéra de concert en 4 parties«, um es schließlich als »légende en 4 parties« mit dem späteren Einschub »dramatique« zu bezeichnen. Es sieht also aus, als hätte er von vornherein auf eine Inszenierung verzichten wollen. Diese Hypothese lässt sich aus einer Bemerkung Berlioz’ über Gounods Margarethe ableiten. Im Feuilleton des bekannten Journal des débats vom 26. März 1859 kritisierte er die Musik der 12. Szene der Oper, in der die junge Frau am Spinnrad singt, wie folgt: Pourquoi donc avoir encore introduit dans l’accompagnement cette espèce de ronron qui veut imiter le bruit du rouet? Schubert fut peut-être excusable, dans un morceau de chant non destiné au théâtre, de vouloir faire penser au rouet qu’on ne pouvait voir. (Si tant est que l’idée du rouet ait la moindre importance.) Mais dans l’opéra on le voit, Marguerite file en réalité: l’imitation n’est donc nullement nécessaire.

Entweder wird das nicht Aufgeführte akustisch wiedergegeben – wie das Geräusch des Spinnrads bei Schuberts Lied »Gretchen am Spinnrad« – oder es wird auf der Bühne gezeigt und braucht also nicht akustisch vergegenwärtigt zu werden. Hat aber Berlioz den größten Teil der Handlung der Verdammnis nicht akustisch geschildert? Der Flug auf dem Mantel des Teufels und der Ritt auf dessen Höllenpferden werden musikalisch veranschaulicht – worüber noch zu sprechen sein wird – und Faust und Mephistopheles kündigen selber die Ortswechsel des Geschehens und die auftretenden Figuren an43 (»ce sont des villageois«, »les fils du Danube aux combats se préparent«, »dans ma vieille cité«, »voici un séjour de folle compagnie./ Ici vins et chansons réjouissent la vie«, »les esprits de la terre et de l’air«, »des étudiants voi41 Vgl. Andreas Meier: Faustlibretti. Geschichte des Fauststoffs auf der europäischen Musikbühne nebst einer lexikalischen Bibliographie der Faustvertonungen, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang, 1990, S. 243 f. 42 Vgl. Hector Berlioz: Correspondance générale, hrsg. v. Pierre Citron, Paris: Flammarion (Nouvelle Bibliothèque romantique 2), VIII Bde, 1972–2003, Bd. III, S. 325 und S. 373 f. 43 Vgl. Andreas Meier: Faustlibretti (Anm. 41), S. 241 f.

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ci la joyeuse cohorte«, »je l’entends« etc.). Bedarf das Werk bei so vielfältiger akustischer Veranschaulichung und wörtlicher Ankündigung überhaupt noch einer Inszenierung? Wenn nur das, was nicht schon in der Musik enthalten ist, dargestellt werden dürfte, dürfte Fausts Verdammnis nicht inszeniert werden. Unterstützt wird diese Hypothese durch den lapidaren Stil mancher Hinweise, wie die einfache Bemerkung »ils partent«, die die Musik des Losfliegens auf Mephistopheles’ Mantel begleitet. Abgesehen davon sind manche seiner Anweisungen kaum durchführbar. Wie sollen die Sänger der Sylphen »se balanc[er] quelques temps en silence […] et disparai[tre] peu à peu« (7. Szene)? Wenn aber Berlioz keine Inszenierung vorgesehen hat, warum hat er überhaupt Hinweise dazu in seine Partitur geschrieben? Betrachtete er sein Werk als das musikalische Pendant zu Mussets Un Spectacle dans un fauteuil (1832)? War seine Verdammnis eher für aufgeklärte bzw. professionelle Musiker gedacht, die auch die Partitur als Ergänzung lesen würden, als für Amateure, die sie nur hören würden? Was die Körper betrifft, so ist es wahrscheinlich, dass Berlioz die Stimme als ein gewöhnliches Instrument betrachtet und behandelt und deswegen keinen besonderen Körpereinsatz von seinen Sängern erwartet hat – abgesehen natürlich von der »Tonproduktion«. In Gounods Margarethe hingegen verhält sich dies ganz anders. Der Verfasser der Mise en scène du Faust beschreibt für jede Szene, manchmal mithilfe einfacher Schemata, wann die Sänger von A nach B gehen sollen. Und manche Details sind aufschlussreich. So ruft Faust in der ersten Szene unmittelbar nach Satan. Die dunkle Bühne (es ist Nacht) wird dabei blitzartig rot erleuchtet – eine Farbe, die seit Jahrhunderten unausweichlich mit dem Teufel in Verbindung steht. Dann schaut Faust durch das Fenster, das sich hinten links auf der Bühne befindet, als würde er dort die Ankunft Satans erwarten. Die dramatische Spannung spitzt sich durch die immer näher rückenden »Posaunenschläge« zu, die die Blasphemie Fausts unterstreichen. Mephistopheles tritt aber durch eine Falltür hinter ihm auf, was ihn als chthonische Kreatur ausweist – der Tradition entsprechend. Die effektvolle Nutzung der Falltür aber auch der Blick Fausts aus dem »Fenster« erwecken den Eindruck, dass der Raum nicht mit der Bühne aufhört, sondern auch über ein Darunter und ein Darüber verfügt. Der Teufel fasst den Magier bei den Schultern, streckt den Kopf über seine rechte Schulter und singt sein stolzes und lautes »Me voici!«. Dabei wird die Bühne plötzlich taghell erleuchtet.44 Natürlich bleibt Faust zunächst erstarrt. Die Simultaneität der

44 Vgl. Mise en scène du »Faust« (Anm. 3), S. 10.

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Gebärde, Bewegungen und Lichtspiele verstärkt die Dramatik des Augenblicks. Dazu scheint der Rhythmus des triumphalen »Me Voici«, das sehr langsam gesungen wird, die Zeit anzuhalten und somit den Augenblick in die Ewigkeit zu ziehen. Außerdem berührt der Teufel Faust sofort, wodurch eine Distanz aufgehoben wird, die beide Figuren als gleichwertig oder als Pendant voneinander hätte erscheinen lassen können. Vor allem tritt Mephistopheles nicht nur als chthonische Kreatur auf, sondern auch als allmächtiger Weltherrscher. Wird seine Ankunft nicht vom Blitz selbst angekündigt? Sein Auftritt ist somit besonders spektakulär erarbeitet, wohl aber auch sehr konventionell. Letzteres kann man dem ersten Auftritt von Boitos Mephistopheles nicht vorwerfen. Bei Einbruch der Dämmerung – die Bühne wird also immer weniger beleuchtet – durchquert der als Mönch gekleidete Teufel langsam die Bühne inmitten des Volkes, das sich zum Feiern vor dem Tor versammelt hat, und verschwindet wieder, begleitet von einer etwas dunkleren Musik. Dann kommt er zurück, um auf der Bühne hin und her zu gehen. Diesmal wird sein Auftritt durch das plötzliche Auftauchen seines burlesken Motivs in pizzicati angekündigt. Die panischen Äußerungen Fausts und die wachsende Drohung eines chromatischen und sich schlängelnden Motivs der Streichinstrumente, das sein räumliches Hin und Her widerspiegelt bzw. akzentuiert, steigert noch die Spannung45. Die musikalische und räumliche Entsprechung der kurvigen Strecke des Teufels, die sich im Ballett der Walpurgisnacht wiederfindet, wirkt beängstigend und drückt auf sehr innovative Weise seine heimtückische Art aus. So wie sein Hin und Her, das keine Bewegung ist, sondern ein vorgetäuschtes Bleiben, oder ein vorgetäuschtes Gehen, eine räumliche Lüge, ein Lauern. Weder Tradition noch alt hergebrachter Aberglaube stützen die Verbindung des Bösen mit dem Kurvigen – oder mit der geometrischen Figur des Kreises, die auch in der Walpurgisnacht zu finden ist. Nur der Blick auf ein aus der Vogelperspektive gezeichnetes Schema, das durch eine einzige Linie den Weg festhält, der über mehrere Minuten abgeschritten wird, lässt die Ähnlichkeit der Strecke mit dem Körper einer Schlange erkennen und verleiht somit der Verbindung kurvig = Hölle Sinn. Ob der Zuschauer diese Ähnlichkeit während der Aufführung wahrnehmen konnte, ist zu bezweifeln. Körper, Bühnenraum und Musik sind aber bei diesen Takten so unzertrennlich, dass man nicht sagen kann, ob die Musik das Auftreten des Körpers im Raum unterstützt, oder ob der Körper der räumlichen Darstellung der Musik dient.

45 Vgl. Disposizione scenica (Anm. 4), S. 20 ff.

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Die Sänger nehmen mit ihren Körpern unweigerlich Bezug zum Raum, und sei es nur, um die volle Wirkung ihres Gesangs entfalten zu können. Jedoch wird die Möglichkeit, die Theaterbühne in einen fiktiven Ort zu verwandeln, nur bei Margarethe und Mefistofele genutzt, da Fausts Verdammnis 1846 lediglich konzertant aufgeführt wurde. Sowohl bei Gounods Margarethe als auch bei Boitos Mefistofele werden die Körper in Verbindung mit der Musik in Szene gesetzt. Der perfekte Einklang von Raum, Musik, Körper und Sinn(bild) wird aber nur bei Boito erreicht. In Margarethe wächst die Inszenierung und mit ihr die in Szene gesetzten Körper nicht weit über eine materielle Darstellung dessen, was Musik und Text allein sagen könnten, hinaus. Die Körper besetzen die Bühne, füllen sie aus, nutzen sie sogar über sie selbst hinaus – wie z. B. mit der Falltür, die das Darunter mit dem Darauf verbindet –, aber sie erobern sie nicht in einem solchen Maße wie die Sänger in Mefistofele. Die symbolträchtigen Bewegungen und Blicke von Boitos Teufel verwandeln die Bühne in einen Raum, der durch die unergründliche Vorstellungskraft jedes einzelnen Zuschauers keine Grenze mehr kennt. Dadurch hat es Boito geschafft, einen weiten und zum größten Teil leeren Bühnenraum durch einen materiellen und vergleichsweise kleinen Körper neu zu formen bzw. den Raum zu überwinden. In den meisten Szenen aber erfolgt die Eroberung bzw. die Erweiterung des Bühnenraumes vorwiegend durch das Bühnenbild, manchmal aber auch allein durch die Musik.

IV. DIE EROBERUNG DES BÜHNENRAUMS Die Musik nutzt Boito, um die Präsenz seiner Figuren auf der Bühne anzukündigen bzw. um seine Figuren zu charakterisieren, oder um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen. In der symphonischen Einführung des Prologo in Cielo wechseln sich, um nur ein Beispiel unter vielen anzuführen, triumphierende Blechblasinstrumente und filigrane Harfenklänge ab, um den gerechten Sieg des Gottes der Liebe anzukündigen. So auch bei dem zweiten Auftritt des Mönches: Bevor überhaupt die Figur des frate grigio auf der Bühne zu sehen ist, ist das bereits erwähnte dritte Teufelsmotiv, die unheimliche schleichende Melodie, zu hören. Die Musik kündigt die Ankunft einer bestimmten Person an und kann sogar die materielle Präsenz ihres Körpers ganz ersetzen, wie zum Beispiel beim Tod Margheritas. Am Anfang des dritten Aktes ertönt eine Musik, die geschickt zwei der drei Motive des Mephistopheles ineinander verwebt. Somit ist der Kerker der jungen Frau schon beim Öffnen des Vorhangs – also bevor Faust und der Teufel ankom-

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men – von der schwefelhaltigen Anwesenheit Mephistopheles’ vergiftet. Auch kann die rein instrumentale Musik Boitos als Mittel zur Erweiterung des Raumgefühls dienen. So zum Beispiel mit den Ferntrompeten im Prologo oder im Kerker nach der Ankunft Fausts: Durch die musikalische Reminiszenz an das Cantabile der Gartenszene sind der Garten der entstehenden Liebe und der Kerker der vergehenden Liebe symbolisch und akustisch gleichzeitig vorhanden. Außerdem versucht Margherita durch ihre pathetische »vocalité fiorito«46 der Wirklichkeit und mit ihr dem bespielten Raum zu entkommen, indem sie in der Kunst des Gesangs Zuflucht sucht. Damit aber verflüchtigt sich die Umgebung nur kurzzeitig in der Wahrnehmung Margheritas; für den Zuhörer hingegen bleibt der Raum unverändert. Boito nutzt also die Musik, um den bespielten Raum akustisch zu schildern und zu erweitern, und die Bühnengestaltung, um den gespielten Raum zu erobern. Von der Sprengung der Räumlichkeit durch den innovativen Einsatz des Blickes wurde schon ausführlich gesprochen. Dazu wird die Nutzung einer extrem vorgerückten Kulisse und eines dementsprechend sehr großen, unsichtbaren bespielten Raums zum Markenzeichen Boitos. Seine Behandlung des Prologo in Cielo und des Epilogo stellen in dieser Hinsicht besonders überzeugende Beispiele dar. Dort wünscht er sich, die Bühne bis auf weniger als einen Meter Tiefe zu reduzieren, um mehr Platz für die Kulisse zur Verfügung zu haben: Ein Vorhang im Vordergrund versteckt die halbe bzw. die ganze Breite der Bühne, wo sich der Chor der Himmelsscharen befindet. Wie bereits gesagt, empfiehlt der Komponist dabei, eine Wand hinter dem versteckten Chor des Prologs aufzustellen, damit die Klangfülle der Stimmen nicht verloren geht47. Der Kontrast zwischen dieser vollen Klangfülle der Chöre und der vergleichsweise leeren und fast nicht vorhandenen Bühne wirkt fantastisch, um nicht zu sagen: himmlisch. Hier dient also paradoxerweise die Verkleinerung des gespielten Raumes der Erweiterung des bespielten Raumes. In der Notte del Sabba singen Mephistopheles und sein Höllenchor auch zuerst von der Kulisse aus. Dabei sollen die Worte des Höllenfürsten »sentirsi lontanissime con voce lunga e sotterranea«48 – wieder ein Beispiel dafür, wie die Musik aber auch die Stimmen zur Erweiterung des bespielten Raums, diesmal in der Tiefe (sotterrana), eingesetzt werden. Wenn aber Chöre und Ballette endlich auftreten, sorgen sie mit ihren frenetischen Gesten und Bewegungen für vollständige Verwirrung, sodass der Zuschauer den Überblick über die Raumstruktur verliert, 46 Reibel: »Guide d’écoute« (Anm. 33), S. 42. 47 Vgl. infra und die Disposizione scenica (Anm. 4), S. 5. 48 Ebd. S. 40.

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wodurch der gespielte Raum auch völlig anders wirkt. Im Allgemeinen spielen sich fast alle übernatürlichen Ereignisse ganz oder zum Teil in den Kulissen ab. So auch der Flug durch die Lüfte auf dem Mantel des Mephistopheles, der hinter einer Plane (also nicht direkt auf der Bühne) stattfindet, aber durch ein auf der Plane dargestelltes und ausgeschnittenes Fenster zu sehen ist. Oder auch die Erscheinung der Sirenen in der letzten Szene, die vorerst hinter einem Vorhang versteckt bleiben. Die Kulisse als ZwischenOrt wird zum Raum des Übernatürlichen, ob himmlischer oder höllischer Herkunft. So breitet Boito den vorhandenen Raum in der Ebene aus, sowohl in der Breite als auch in der Tiefe, und gibt ihm eine metaphorische, wenn nicht sogar symbolische Dimension. Wenn Boito die Breite der Bühne nicht zugunsten der Kulisse opfert, gestaltet er den sichtbaren Raum mit viel Liebe zum Detail. Aber nur bei der Darstellung des Höllenreiches ist er bemüht, die Körper auf die senkrechte Achse zu verteilen, was er durch die Einführung von vier verschiedenen begehbaren Podesten unterschiedlicher Höhe erreicht. Drei davon müssen laut Disposizione scenica »rapresenta[no] una roccia nuda a vari scaglioni irregolari tutti praticabili«, auf dem je vierundvierzig, zweiunddreißig und achtundzwanzig Choristen Platz finden können. Sie sind außerdem in der Höhe gestaffelt – das linke muss circa einen Meter hoch sein, das mittlere zwei Meter und das rechte anderthalb Meter hoch:49 Abb. 5

Dazu kommen noch Vorhänge mit Felsen und fantastischen Bäumen,50 die sehr stark an das Bühnenbild von Gounods Walpurgisnacht erinnern.51 Die

49 Die nachfolgende Abb. 5 zeigt vereinfachte Details aus einem Schema der Disposizione scenica (Anm. 4), S. 37. 50 Vgl. Disposizione scenica (Anm. 4), S. 37 ff. und S. 309.

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Unregelmäßigkeit des Bühnenbildes findet sich in den frenetischen Bewegungen der auftretenden Sänger und Tänzer wieder und bildet somit ein sehr kohärentes Gegenbild zu den aufgereihten Himmelsscharen des Epilogo. Boito erobert also den Bühnenraum sowohl durch die Musik und die Stimmen als auch durch die Kombination von Bühnengestaltung und deren Nutzung durch die Körper, wodurch er dem gespielten Raum eine symbolische Dimension verleiht. Bei Gounod wird die Räumlichkeit fast ausschließlich durch die Bühnenbilder erobert. Schenkt man der zeitgenössischen Presse Glauben, waren das Bühnenbild der Kermesse und der sichtbare Ortswechsel von der Straße zur Kirche am schönsten.52 Anfang und Ende der Walpurgisnacht, mit ihren erschreckenden Gehenkten und Skeletten – die übrigens im Inszenierungsmanuskript nicht erwähnt werden –, spalten die Meinungen. Le Siècle vom 22. März 1859 findet sie übertrieben und unnötig derb. L’Univers musical vergleicht sie mit den berühmten Kupferstichen von Callots Les Misères et les Malheurs de la guerre (1633), die damals eine neue Popularität erfahren, während La Presse vom 27. März 1859 die Erscheinung von »deux squelettes bardés, casqués, cuirassés, la lance en arrêt, comme s’ils descendaient des chevaux pâles de l’Apocalypse« lobt. Das letzte Bühnenbild, das die himmlische Kathedrale inmitten der Wolken mit dem dem Teufel mit der Lanze drohenden Erzengel Michael darstellt, wird seinerseits kaum besprochen. Nur die Revue et gazette musicale de Paris vom 27. März 1859 spricht von den »merveilles célestes de l’apothéose finale«. Was das Publikum nicht bemerkt hat, ist, dass die Walpurgisnacht und der Himmel als zwei gegensätzliche Welten, die bühnenbildlich – und damit auch symbolisch – miteinander verbunden sind, dargestellt wurden. Für beide Szenen bekommt die Bühne zwei weitere, in der Höhe gestaffelten Ebenen (40 cm und 1,6 m), die sie erweitern und eine gewisse Äquivalenz zwischen dem Reich des Dämons (Abb. 6) und dem Reich Gottes (Abb. 7) herstellen:53

51 Vgl. [Anonym]: [Faust [Image fixe]: maquette construite de l’acte V, tableau 1], dreidimensionales Modell des Bühnenbildes, 1869, Paris, Bibliothèque nationale de France, département Bibliothèque-musée de l’opéra – magasin, Signatur MAQ A89, in elektronischer Form unter der Signatur IFN- 54100000 gespeichert und auf Gallica (www.gallica.fr) frei zugänglich. 52 Vgl. Revue et gazette musicale de Paris, Nr. 13, 27.03.1859, La Presse vom 27.03.1859, L’Univers musical vom 01.04.1859 und L’Artiste vom 30.04.1859. 53 Die nachfolgenden Abbildungen zeigen vereinfachte Schemata der Zeichnungen aus der Mise en scène du »Faust« (Anm. 3), S. 113 und 125.

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Abb. 6:

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Abb. 7:

Die hinteren Planen schließen jedoch den Bühnenraum bei der Walpurgisnacht – wo sie den prächtigen Palast von Mephistopheles mit einer Fülle von antiken Kolonnen darstellen54 –, öffnen ihn aber bei der Himmelfahrt Gretchens – wo die himmlische Kathedrale inmitten weißer Wolken abgebildet ist. Der Verfasser des Manuskripts hat leider keine Angaben zur Lichtgestaltung oder Helligkeit gemacht, die dieses Äquivalenzspiel vielleicht unterstützt haben. Diese dreidimensionale Gleichwertigkeit ist weder im Libretto noch in der Partitur explizit vorhanden. So wird der gespielte Raum zum Träger einer zusätzlichen Botschaft – in diesem Fall, einer manichäischen Weltanschauung –, die aber mit der Musik und mit dem Text – und auch mit den weiteren Inszenierungshinweisen – nicht zu einem Ganzen verschmelzen. Ab und zu aber wirken Musik, Text und Inszenierung auf einander ein. So wird der Bühnenraum über die sichtbare Breite der Bühne hinaus genutzt, insbesondere durch die Verwendung der Kulisse, aus der der Chor am Anfang der Walpurgisnacht und vor dem Schluss im Himmel zu singen beginnt. Im Gegensatz aber zur Aufführung von Boitos Mefistofele wird bei

54 Vgl. J. Lefman: [Faust, opéra de Charles Gounod: illustration de presse], 1859, schwarz-weißer Druck, 24 x 31 cm, Bibliothèque nationale de France, département Bibliothèque-musée de l’opéra, Signatur ESTAMPESSCENESFaust (9), auf Gallica (www.gallica.fr) frei zugänglich. Die Idee, dem Palast des Teufels eine antike Optik zu verleihen, ist wahrscheinlich dem Faust von Dennery entnommen, der sechs Monate zuvor im Théâtre de la Porte-Saint-Martin sehr erfolgreich aufgeführt wurde. In dem »drame fantastique en cinq actes, quatorze tableaux« bringt Mephistopheles Faust nach Herculaneum kurz vor dem Ausbruch des Vesuvs (vgl. Adolphe Dennery oder D’Ennery: Faust, drame fantastique en cinq actes, quatorze tableaux, musique de M. Artus – décors de MM. Despléchin, Cambon, Thierry, Chéret, Chanet et Poisson, Ballets réglés par MM. Honoré et Espinosa, représenté pour la première fois, à Paris, sur le théâtre de la Porte-SaintMartin, le 27 septembre 1858, Paris, Michel Lévy Frères, 1858). Für eine Analyse des Werkes, vgl. Claude Paul: »Le Faust d’Adolphe Dennery. Un drame fantastique entre Goethe et Klinger«, in: Revue de Littérature Comparée (2014/2), S. 171– 183.

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Margarethe die Bühne immer in ihrer vollen Größe genutzt und nie verkleinert, um mehr Kulisse entstehen zu lassen. Was die Eroberung der senkrechten Achse angeht, erfolgt sie vollständig erst bei der Darstellung der Himmelfahrt Gretchens – im letzten Bühnenbild also. Dort tragen sechs Engel auf der höchsten der drei Ebenen ein stehendes, nach oben schauendes Gretchen – einer der seltenen Momente, wo der Verfasser der Mise en scène du Faust einen Hinweis zur Blickrichtung gibt. Die Erweiterung der Bühne in der Breite und die Eroberung der senkrechten Achse in der Uraufführung von Gounods Oper ereignen sich also fast ausschließlich55 bei der Darstellung der zwei gegensätzlichen, transzendenten Welten: der des Teufels einerseits und der des Himmels andererseits. Bei der Premiere von Berlioz’ Fausts Verdammnis hingegen – die, wie gesagt, nur konzertant aufgeführt wurde – haben die Inszenierung und die Bühnenbilder bei der Eroberung des Raumes keine Rolle gespielt. Jedoch wirkt die Inbesitznahme des – bespielten wie auch gespielten – Raumes, die ausschließlich auf der Ebene der Musik erzielt wird, am vollkommensten. Die erste Eroberung der senkrechten Achse stellt die nervöse, fließende chromatische und ansteigende Melodie der Geigen in der fünften Szene dar, welche die Luftreise Fausts auf dem Mantel Mephistopheles’ akustisch schildert. Bei der Course à l’abîme wird die waagerechte Achse erobert, wenn die Streichinstrumente mit einer Achtelnote und zwei Sechzehntelnoten den Rhythmus der galoppierenden Pferde nachahmen. Dabei scheint sich die Bühne sogar über mehrere Meilen auszudehnen, da der Galopp mehrere Minuten andauert, insgesamt 128 4/4-Takte allegro. Berlioz vergrößert nicht nur akustisch den bespielten Raum, er verkleinert ihn auch, wenn sein künstlerisches Projekt es erfordert. So wirkt er im Pandaemonium sehr klein: »tous les instruments sont étagés pour créer une plénitude acoustique sans faille, un mur sonore infranchissable«56 und stellen somit eine räumlich wie akustisch überfüllte Sackgasse dar, aus der niemand zurückkommt. Dagegen wirkt die Apothéose de Marguerite, wo die hohen Stimmen der Soprane und der Kinder, die luftigen Klangfarben der Harfen sowie der Flöten sich zart verflechten, so, als würden sich die Grenzen und sogar die Materialität der

55 Der Chor der jungen Frauen und der Bauern in der ersten Szene des ersten Aktes findet nämlich auch in der Kulisse statt. Spricht dies dafür, dass dieser Chor, der bei Goethe ein Kirchenchor war, der den Herrn lobte und Faust bei seinem Suizid unterbrach, bei Gounod eigentlich teuflischen Ursprungs ist? Die Musik spricht nicht unbedingt dafür, aber die »weltliche« Verwandlung des Chors und seine Position auf bzw. hinter der Bühne schon. 56 Condé: »Commentaire musical« (Anm. 27), S. 54.

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Bühne selbst auflösen. Es ist nicht das erste Mal innerhalb des Werkes, dass Berlioz die Auflösung der Räumlichkeit akustisch veranschaulicht. Schon durch die Sylphen, die in der Luft über dem schlafenden Faust dank der hauchdünnen Musik der Streichinstrumente schweben, hat der französische Komponist eine Musik geschaffen, die selbst fast dahinfliegt, um sich schließlich im gespielten Raum zu verflüchtigen (7. Szene). Die Ähnlichkeit der dahinschwebenden Musik der hypnotisierenden Sylphen mit der akustischen Weite der Apothéose trägt dazu bei, das Paradies lediglich als dahinschwebende Illusion darzustellen. Ohne Inszenierung und Bühnenbilder – oder vielleicht gerade deshalb – erreicht Berlioz, was weder Gounod noch Boito gelungen ist: die Auflösung des Raumes. Die Analyse der Bühnenbilder von Margarethe ist insofern aufschlussreich, als dass sie offenbart, wie sehr die Eroberung des Bühnenraumes mit den Auftritten übernatürlicher Kräfte und Wesen zusammenhängt. Gäbe es weder Teufel noch Engel, würde sich die ganze Oper auf der normalen, waagerechten Bühnenebene abspielen. Der Einsatz gestaffelter Ebenen, die die Eroberung der senkrechten Achse ermöglichen, und die Nutzung der Kulisse und der Unterbühne erfolgen nur bei Auftritten höllischer oder himmlischer Figuren. Dagegen spielt die Musik bei der Gestaltung oder der Eroberung des Raumes eine untergeordnete Rolle. Somit bleiben die Besetzung und die Gestaltung des Raumes in Gounods Oper relativ konventionell. Boito hingegen setzt sowohl auf die Musik als auch auf die Bühnengestaltung, um den Raum zu erobern. Er geht mit der Aufteilung Bühne-Kulisse sehr innovativ um und zögert nicht, die Größe des Bühnenraumes an die dargestellte Handlung anzupassen. Einen weiten Raum zur Verfügung zu haben ist für ihn lediglich eine Möglichkeit, die nicht immer ausgenutzt werden muss. Deshalb entschließt er sich, den sichtbaren Teil der Bühne auf ein Minimum zu reduzieren, um mehr Platz für den bespielten Raum zu erzeugen. Außerdem verlagert er alle übernatürlichen Handlungselemente außerhalb der durch Planen, Podeste und Vorhänge begrenzten Bühne. So wird der sichtbare Raum zur metaphorischen Darstellung der Sinnenwelt, während der unsichtbare bzw. nur zum Teil sichtbare Raum die symbolische Entsprechung des Übersinnlichen, des Himmlischen aber auch des Dämonischen ist. Nur die Notte del Sabba findet ganz auf dem sichtbaren Teil der Bühne statt. Aber ist es nicht eben die Nacht, in der sich der Teufel mit seinen irdischen Untertanen trifft? Außerdem stützt sich Boito auf die aktive Teilnahme des Zuschauers, der die Blicke der Figuren mitverfolgen soll, um sich durch sie ein Bild des bespielten Raumes über das Dargestellte hinaus zu machen. Während aber Boito und Gounod den Raum nur ergründen, wird

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dieser von Berlioz überwunden und sogar metaphysisch aufgelöst. Gerade weil seine légende dramatique keiner Inszenierung bedarf und keine bekommen hat, war bei der Uraufführung 1846 die Gestaltung des Raumes der unbegrenzten Vorstellungskraft jedes einzelnen Zuhörers überlassen.

V. SCHLUSS Die Untersuchung der Behandlung des Höllischen in Fausts Verdammnis, Margarethe und Mefistofele zeigt, wie die Beteiligten traditionelle Vorstellungsweisen mit innovativen Inszenierungsmitteln zu kombinieren wussten. Interessanterweise sind die Kostüme der Teufel Gounods und Boitos sehr konventionell, geraten aber eben dadurch mit der Kohärenz der Aufführung bzw. mit ihrer eigenen Fiktionalität in Konflikt. Vor allem Gounods Mephistopheles tritt offensichtlich als Teufel auf, bleibt aber von den anderen Opernfiguren unerkannt. Sein Kostüm dient also dazu, einen Informationsvorsprung beim Zuschauer zu erzeugen und nicht dazu, den Handlungsablauf zu unterstützen. Dabei wird die Fantasie des Zuschauers angeregt, der ihn sofort mit zahllosen anderen Darstellungen in Verbindung bringt. Durch seine Verkleidung erlangt also die Figur eine Sonderrolle an der Schwelle zwischen fiktiver Handlung und realem Publikum. Das traditionelle Bild des Tanzes als Teufelswerk wird außerdem von allen drei Komponisten in Szene gesetzt: Der Teufel tanzt und lässt zu seiner Melodie tanzen. Außer dem Ballett der klassischen Walpurgisnacht aus Mefistofeles gibt es kein Tanzen, das nicht mit dem Teufel zu tun hätte. Die kontrastierende Reglosigkeit als Merkmal des Himmlischen wird jedoch nur von Boito dargeboten, als Unterstützung einer, so scheint es, dualistischen Weltdarstellung. Aber auch die Mimik und Gestik, die nicht von einer handlungsbedingten Musik begleitet werden, bleiben der Tradition nahe: Bei Margarethe und Mefistofele macht Mephistopheles die symbolträchtigsten Gebärden mit der linken Hand, hinkt auf dem linken Fuß, lacht und verzieht das Gesicht etc. Nur Berlioz hat sich zu der Mimik und Gestik seiner Sänger, wahrscheinlich aus Desinteresse, nicht geäußert. Besonders bemerkenswert ist, dass die Hinweise zur Gestik und zur Mimik bald anhand des Textes, bald anhand der Musiktakte angegeben werden. Somit bietet die sich festigende Einheit »Musik-Text« verlässliche Bezugspunkte bei der Abstimmung von Musik, Text und Pantomime. Die Analyse des Bezugs der Körper zum dargebotenen Raum ist besonders aufschlussreich. Die Darstellung des Höllischen aber auch des Himmli-

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schen, also des Übernatürlichen allgemein, scheint für die Beteiligten eine sehr inspirierende Angelegenheit gewesen zu sein, die zur Nutzung, Eroberung und schließlich Überwindung und Auflösung des Raumes geführt hat. Sowohl bei der Uraufführung Margarethes als auch bei der Aufführung Mefistofeles’ werden in der Höhe gestaffelte Ebenen ausschließlich bei der Darstellung entweder der Walpurgisnacht oder des Himmels eingesetzt. Außerdem nutzt der »Regisseur« der Oper Margarethe die Kulissen und die Unterbühne nur für die Inszenierung der übernatürlichen Kräfte. Boito führt die erprobte Teilung auf eine systematisierte Weise ein, indem er einfach alle übernatürlichen Ereignisse zum Teil oder ganz in der Kulisse stattfinden lässt. Die anderen Szenen – ob im Arbeitszimmer Fausts, vor dem Tor, in der klassischen Antike, im Dom oder im Gefängnis – entfalten sich meistens nur auf einer traditionellen, waagerechten Ebene, die nicht über die Breite der Bühne hinausgeht. So wird deutlich, dass die Erweiterung der Bühne und die Eroberung der senkrechten Achse fast nur aus der handlungsbedingten Präsenz übernatürlicher Kräfte hervorgehen. Dabei aber räumt Boito der Musik einen besonderen Platz ein. Sie und die räumlichen Bewegungen der Figuren sind manchmal so sehr auf einander abgestimmt, dass man nicht sagen kann, ob die Musik das Auftreten der Körper im Raum unterstützt, oder ob die Körper die räumliche Darstellung der Musik schildern. So bietet der Komponist von Mefistofele ein Kunstwerk, in dem Raum, Körper, Musik und Text so sehr harmonieren, dass sich das Sinnpotential des gesamten Werks nur bei der direkten Aufführungs-Erfahrung entfalten kann. Berlioz hingegen möchte am liebsten auf die Körper verzichten. Sie sind ihm insofern hinderlich, als dass die Aufführung unweigerlich an ihrer Materialität haftet. So nutzt der französische Komponist das Übernatürliche als Experimentierfeld der Körperlosigkeit, des Ideellen, was ihn dazu veranlasst, den bespielten Raum nicht nur zu gestalten, sondern ihn auch zu überwinden und aufzulösen, und nicht zuletzt dank des Einsatzes der Stimmen. Bei den drei analysierten Aufführungen scheint also das Undarstellbare, das ort- und raumlose Übernatürliche, ob höllischer oder himmlischer Natur, die willkommene Gelegenheit gewesen zu sein, das Potential des Bühnenraumes in Bezug auf die Körper und die Musik zu erkunden.

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Ikonische Strukturen in der italienischen Oper COSTANTINO MAEDER

In diesem Aufsatz möchte ich einige Strategien erläutern, auf die sich die Schöpfer einer traditionellen italienischen Oper1 – Librettist, Komponist, Regisseur etc. – stützten, um Text, Musik und Aufführung zu verschränken. Dabei handelt es sich um einfache Mittel, die es erlauben, komplexe Inhalte effizient zu vermitteln, und die auf grundlegenden kognitiven Fähigkeiten beruhen. Diese Mittel gestatten es, äußerst verschiedene, gemäß manchen

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Das Hauptaugenmerk meiner Studie richtet sich auf die italienische Oper, wie sie sich aus den Ursprüngen herauskristallisiert, sich im Settecento ausbildet und im Ottocento weiter entwickelt. Die Weiterentwicklungen im Verismo entfernen sich teilweise, bei gewissen Komponisten und Librettisten, eklatant von der »solita forma«, die letztlich auf die nukleare Einheit von Scena e Aria (Rezitativ und Arie) zurückzuführen ist, die sich schon früh im Seicento herausbildet, vgl. Abramo Basevi: Studio sulle opere di Giuseppe Verdi, Firenze: Tofani 1859, sowie Harold S. Powers: »La solita forma« and »The Uses of Convention«, in: Acta Musicologica, 59.1 (1987), S. 65−90. Während des Verismo versuchen stets mehr Komponisten und Textdichter, die in Jahrhunderten ausgeformte Struktur durch Neues zu ersetzen. So gebrauchen immer mehr Librettisten Prosa oder eliminieren die Makrostrukturierung durch Metrik: während die traditionelle Oper auf große, metrisch determinierte Segmente setzte (Rezitativ, Arie, multisektionelle Arie etc.), wählt man nun dynamischere, feinmaschigere metrische Strukturierungen, vgl. Costantino Maeder: »Ansätze zu einer dramatischen Theorie des italienischen Opernverses«, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft 16 (1996), S. 65−79. Nach dem Verismo, hauptsächlich nach dem zweiten Weltkrieg, verändert sich die Situation nochmals. Ältere Strukturen können zwar wieder auftauchen, etwa als Zitat, sind aber nicht mehr die Norm. Tendenziell richtet sich nun die neuere italienische Oper mehr an Spezialisten, während sie noch bis gegen das Ende des 19. Jahrhunderts »nazional-popolare« war, also stark nationalistisch, patriotisch und populär.

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Forschern inkompatible semiotische Systeme wie Sprache, Musik und Aufführungspraktiken zu einen.2 Dabei konzentriere ich mich hauptsächlich auf die Sprache, sowie auf die verwendeten ikonischen Strategien.

I.

EINIGE ALLGEMEINE BETRACHTUNGEN ZUR OPER

Eine Oper ist eine dramatische Form, die sich an ein heterogenes Publikum wendet, das sich in einem Theatersaal befindet. Diese Binsenwahrheit hat zur Folge, dass eine Aufführung idealerweise direkt und unvermittelt verständlich und nachvollziehbar sein muss (nicht gezwungenermaßen in all ihren Facetten), weil man im Gegensatz zu einem Buch (Passagen können nachgelesen werden) und zu einer DVD (Zurückspulen) keine Möglichkeit hat, Verpasstes oder zu Kompliziertes durch Retrolektüre oder individuell angepasste Rezeptionszeiten (man kann langsamer oder schneller lesen etc.) zu kompensieren. Ebenso kann man nicht eben eine Enzyklopädie aufschlagen.3 Die italienische Oper wurde sehr früh zu einem öffentlichen, kommerziellen Spektakel (das erste öffentliche Opernhaus, San Cassiano, öffnete seine Tore 1637 in Venedig). Die Verantwortlichen für die Produktion (Impresario, Sänger, Bühnenbildner, Dichter, Komponisten, Musiker etc.) mussten sich der Gunst des bezahlenden Publikums stellen. Dieses bestand (und besteht auch heute noch) nicht nur aus Musik- und Literaturwissenschaftlern, professionellen Schriftstellern und begnadeten Musikern, sondern setzte sich aus allen Gesellschaftsschichten zusammen, die sich durch unterschiedlichste Interessen, Bildungshorizonte und Erwartungshaltungen charakterisierten. Selbst kleinste Orte besaßen Opern-häuser, so in der Region Marken, die rege besucht wurden. Die Oper hatte Erfolg auf der ganzen Halbinsel, auch dort, wo sich die Umgangssprachen stark vom Toskanischen unterschieden. Die italienische Oper wurde schon sehr früh außerhalb der Halbinsel aufgeführt, häufig sogar dort komponiert: Metastasios Opern wurden in 2

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Zu der lange und kontrovers debattierten Frage ob Sprache und Musik vergleichbar sind, ob sie ähnliche Codes benutzen und beide eine doppelte Artikulation besitzen, siehe zum Beispiel Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, Stuttgart/Weimar: Metzler 1999, S. 434–437. Zur Spezifizität des Dramas und seiner Rezeption, siehe u. a. Marco De Marinis: The semiotics of performance, Bloomington: Indiana University Press 1993. Zur Bedeutung der Kommunikationsfähigkeit siehe auch Friedrich W. Nietzsche: Der Wanderer und sein Schatten, Paderborn: Salzwasser Verlag 2011.

IKONISCHE STRUKTUREN IN DER ITALIENISCHEN OPER

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Wien uraufgeführt, Hasse schuf italienische Opern für Braunschweig, Dresden, Wien und Innsbruck; Mozart Meisterwerke, die in Prag (Don Giovanni, La Clemenza di Tito), in Wien (Figaro, Così fan tutte), in München (Idomeneo) uraufgeführt wurden, Händel schrieb italienische Opern in London.4 Grundsätzliches musste zwangsläufig direkt und unmittelbar verständlich sein, da der (zahlende) Zuschauer die letzte, urteilende Instanz darstellte. Unter Ricordi und Sonzogno, vor allem nach 1850, war die italienische Oper vollends globalisiert (Europa, Nordafrika, Latein- und Nordamerika), das heißt international ausgerichtet. Die Aufführung – samt italienischem Text und Musik – sollte nachvollziehbar sein, ansprechen, gefallen und Gefühle und Gemütsbewegungen im Zuschauer erregen. Dies erreichte man (a)

durch eine sich immer wiederholende, lexikalisch reduzierte Sprache, auch wenn sie uns heute »gehoben« wenn nicht gar »abgehoben« erscheint, die aber einfach zu erlernen war, (b) durch eine repetitive dramatische, syntaktische Struktur, und (c) durch sich wiederholende dramatische Situationen (diskursiv und figurativ).5 Durch diese Wiederholungen konnten dann auch sinngebende, leicht erkennbare Differenzen, »Überraschungen« verwendet werden: Im Settecento tritt der Sänger, der eine Arie gesungen hat, von der Bühne. Wenn er es nicht

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In diesem Falle waren die italienischen Texte noch einfacher, formelhafter und vorhersehbar. Eine italienische Oper richtete sich lange an ein Publikum, das nicht »Italienisch« sprach. Italienisch als offizielle Hauptsprache wird erst nach der Vereinigung auf der ganzen Halbinsel unterrichtet. In der Lombardei und im Piemont wurde Italienisch schon früher als Schulsprache verwendet. Die Nähe der italienischen Schriftsprache zu den verschiedenen Dialekten und Hochsprachen im Süden und im Norden erleichterte natürlich das passive Verständnis, hauptsächlich in der gebildeten bürgerlichen Schicht. Zur Situation der italienischen Sprache nach der Vereinigung 1861 siehe Tullio De Mauro: Storia linguistica dell'Italia unita, Bari: Laterza 2002. Es war ebenso üblich, Opern jenseits der Alpen auf Italienisch aufzuführen: im Settecento war Italienisch als Kultursprache weit verbreitet. Dies erklärt teils den reduzierten und redundanten Wortschatz, der die italienische Oper lange kennzeichnet, da sie sich an ein großes, heterogenes Publikum in ganz Europa richtete und in Italien an Regionen, die zwar Italienisch passiv verstehen konnten, es aber nicht aktiv beherrschten. Viele berühmte Werke wurden in Italien in die verschiedenen Landessprachen übersetzt, wie das Ligurische (Ra Gerusalemme deliverâ dro Signor Torquato Tasso, Genua 1755, auf Genuesisch) oder das Neapolitanische (Battista Guarinis Il pastor fido wurde 1628 von Domenico Basile ins Neapolitanische übersetzt und noch im 18. Jahrhundert neu aufgelegt).

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tut, handelt es sich dabei um ein wichtiges, leicht durch den Zuschauer erkennbares Zeichen, dass Zentrales geschieht. Dies gilt zum Beispiel auch für dreistrophige Arien in metastasianischen Opern, die sich von den traditionellen zweistrophigen abheben und den Komponisten zwingen, die Da CapoArienstruktur anzupassen, was wiederum leicht wahrnehmbar ist. Im Rezitativ sprechen in einer Szene nur zwei Chargen, auch wenn drei oder mehr auf der Bühne stehen. Letztere warten, dass eine sprechende Charge abtritt, bevor sie selbst am Gespräch teilnehmen können.6 Falls mehr als zwei Figuren gleichzeitig dialogieren, formt dies eine markante, leicht erkennbare Differenz. Das Spiel zwischen Norm und Abweichung, Aufbau von Erwartungshaltungen und den erwarteten Überraschungen ist fundamental. Abweichungen fungieren in diesem Sinne als indexikalische Zeichen. Das Prinzip der Einfachheit (und die scheinbare Banalität, die daraus folgt) darf aber nicht trügen: die traditionelle italienische Oper war Jahrhunderte lang erfolgreich, und dies nicht nur in Italien. Kaum eine andere Kunstform hat im Sei-, Sette- und Ottocento so viele Gesellschaftsschichten – vom Laufburschen bis zum Intellektuellen – dermaßen angesprochen und so verschiedene Epochen überlebt; sie muss also äußerst effizient sein,. Ebenso brachte sie äußerst komplexe Opern wie Piaves und Verdis Rigoletto, Boitos und Verdis Otello und Falstaff, Da Pontes und Mozarts Don Giovanni, oder das vielfach komponierte Libretto Metastasios, Didone abbandonata, hervor. Wiewohl viele Reformen angekündigt wurden, blieb die Grundform stets dieselbe: (a) (b) (c) (d)

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Das Libretto besteht aus Versen, und nicht aus Prosa. Die Handlung wird durch Metrik strukturiert. Die Grundstruktur, metrisch bestimmt, ist die orientierte Abfolge von Rezitativ und Arie.7 Eine Oper ist linear. Tendenziell gehorcht sie den aristotelischen Regeln.8

Figuren können ihren Unmut oder ihre Freude mit Apartes, Seufzern wie »Ahimè« kundtun, greifen aber erst aktiv in ein Gespräch ein, wenn sie an der Reihe sind, vgl. Costantino Maeder: Metastasio, L'olimpiade e l'opera del Settecento, Bologna: Il Mulino 1993. Die Abfolge selbst kann variiert werden. So kann man mit einem Chorstück beginnen oder die Arie kann im 19. Jahrhundert multisektionell sein, wie ich später erläutern werde. Meist gehorcht eine italienische Oper den drei aristotelischen Einheiten von Handlung, Raum und Zeit, wobei selten die strengen Definitionen eines Castel-

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II. IKONIZITÄT UND INDEXIKALITÄT Die wichtigsten Strategien, die sich mit der Zeit herauskristallisiert haben, sind hauptsächlich ikonisch. Mit Ikonizität bezeichnet man Sinngebungsformen, die nicht auf einer arbiträren Verbindung von Bedeutungsträger und Bedeutung beruhen, sondern die durch die motivierte Verbindung von Bedeutungsträger und Bedeutung bestimmt sind. Onomatopoesie ist ein Beispiel von figurativer Ikonizität. Diagrammatische Ikonizität dagegen bezieht sich »nicht auf Similaritätsrelationen zwischen Form und Inhalt/Konzept des isolierten Zeichens, sondern auf Ähnlichkeiten, die in Abfolgerelationen komplexer Zeichen und der dadurch ausgedrückten komplexen, da relationalen Konzeptualisierung bestehen«.9 Gemäß Nänny äußert sich diagrammatische Ikonizität in der zeitlichen Abfolge von Konzepten (»zuerst – dann«), in der räumlichen Anordnung (»oben – unten«) oder auch in der Masse (»viel – wenig«).10 Ebenso zentral ist die indexikalische Zeichenfunktion.11 Peirce definiert ein Index als ein Zeichen, das sich auf ein Objekt bezieht, also eine Kontiguitäts-

vetro zur Anwendung kommen. Ebenso wird darauf geachtet, auf der Bühne selbst Mord und Totschlag zu vermeiden und durch Teichoskopie oder narrative Vorschau in die Handlung einzugliedern. Im Ottocento kann man sich nun von einem Akt zum anderen räumlich von einem Land zum anderen bewegen. Von einer Makrosektion (d. h. eine Einheit, die durch ein Akt−Ende oder durch einen Bühnenwechsel abgegrenzt wird) zur anderen können auch größere Zeiträume verstreichen. Innerhalb der Makrosektionen hingegen gilt weiterhin Aristoteles. Es gibt also keine dramatischen Rückschauen oder Vorschauen. Falls dramatisch nötig, werden sie narrativ gelöst: ein Charakter erzählt einem Anderen die Vorgeschichte. 9 Claus D. Pusch: »Ikonizität«, in: Sprachtypologie und Universalienforschung/ Language Typology and Language Universals 20 (2001), S. 369−384. 10 Vgl. Max Nänny: »Iconic Dimension in Poetry«, in: Richard Waswo (Hrsg.): On Poetry and Poetics Tübingen: Gunter Narr 1985, S. 111−135; Dichter wie Montale und Petrarca nutzen häufig diese drei Formen: so geschieht es, dass in einem Sonett Petrarcas das Oktett, das »schwerer« ist (acht Verse), sich »oben« befindet und zuerst erscheint, dem Sextett gegenübergestellt wird: Dieses befindet sich »unten«, ist »leichter« (es besteht nur aus sechs Versen) und folgt »nachher«. Im Oktett werden mythologische Figuren und Handlungen zitiert, wobei die Syntax komplex sein kann, während im unteren Teil die Sprache einfacher ist, ohne explizite mythologische Referenzen. Aus diesen Oppositionen und der Tatsache, dass der Schluss, das »Nachher« sich erheblich vom Oktett abgrenzt, entstehen dann Interpretationsmöglichkeiten, die sich nicht aus der Bedeutung alleine erschließen. 11 Posner definiert ein Index folgendermaßen: »Indexikalische Motivierung tritt auf, wo das Auftreten einer Bezeichnung durch kausale oder andere raumzeitliche Beziehungen mit dem von ihr Bezeichneten verbunden ist, ohne dass allerdings

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relation zwischen dem Zeichen und dem Objekt besteht. Peirce zitiert das Beispiel des Rauches, der auf ein Feuer hinweist12. Deiktische Zeichen wie »dies«, »das«, »hier«, »jetzt« oder »dort« haben auch hinweisenden Charakter und sind daher Indices, obschon es sich dabei auch um Symbole handelt, da sie konventionalisiert sind.13 Das Erkennen von Differenz beruht auf ebendieser Zeichenfunktion. Ikonizität und Indexikalität gestatten es, durch Isomorphismus, Text, Musik und Aufführung zu einer sinngebenden Einheit zusammen zu fügen und gleichzeitig den Zuschauer zu führen. Wichtigstes Element ist dabei die metrische Strukturierung: Sie gestattet es, Text, Handlung, Musik und Drama zu verschränken.14 Jeder Übergang von einer metrischen Sektion zu einer anderen hat tendenziell indexikalische Funktion, da diese eine vom Publikum hörbare Differenz impliziert: Der Komponist ändert das musikalische Profil.15 Dadurch wird die Handlung diagrammatisch auf verschiedene Sektionen kartiert. Das heißt, dass zwischen den Sektionen Relationen entstehen, die

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formal-strukturelle Ähnlichkeit notwendig wäre.«, vgl. Roland Posner: »Ikonismus in den natürlichen Sprachen«, in: Zeitschrift für Semiotik 2 (1980), S. 1−6. Vgl. Charles S. Peirce/ A.W. Burks/ C. Hartshorne/ P. Weiss: Collected papers of Charles Sanders Peirce, Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard University Press 1960, S. 248. Vgl. Dirk Geeraerts und Hubert Cuyckens (Hrsg.): The Oxford Handbook of Cognitive Linguistics, Oxford: Oxford University Press 2007, S. 397. Vgl. Paolo Fabbri: »Istituti metrici e formali«, in: L. Bianconi und G. Pestelli (Hrsg.): Storia dell'opera italiana, vol. VI, Torino: EDT/Musica 1988, S. 165−214; Friedrich Lippmann: Versificazione italiana e ritmo musicale: I rapporti tra verso e musica nell'opera italiana dell'Ottocento, Napoli: Liguori Editore 1986; Costantino Maeder: »Ansätze zu einer dramatischen Theorie des italienischen Opernverses«, Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft 16 (1996), S. 65−79 und C.M./B. Moretti: »Fenomeni pragmatico-testuali e strutture metriche nei libretti di Ruggero Leoncavallo«, in: L. Guiot und J. Maehder (Hrsg.): Letteratura, musica e teatro al tempo di Ruggero Leoncavallo Milano: Casa Musicale Sonzogno 1995, S. 75−81. Unter »Profil« verstehen wir im Sinne von Lo Cascio (1991) stilistische und formale Eigenheiten, die zum Beispiel Sprache (und in diesem Falle Musik) und deren Gebrauch kennzeichnen, vgl. Vincenzo Lo Cascio: Grammatica dell'argomentare: strategie e strutture (1. ed Vol. Biblioteca di italiano e oltre 6), Scandicci (Firenze): Nuova Italia 1991. Bei Gedichten werden bestimmte Wörter anderen vorgezogen, ebenso unterscheidet sich die Syntax von der Prosa. In einem wissenschaftlichen Aufsatz werden Strukturen und Fachwörter vorgezogen, die in der Novelle kaum benutzt werden. Bei offiziellen Texten (Beschlüsse, Gesetzesentwürfe etc.) gelten andere sprachliche Regeln als in einer Erzählung. Dies gilt auch für die Musik: die Stileme eines Rezitativs unterscheiden sich deutlich von denen einer Arie. Profile entsprechen aber nicht Gattungen. Innerhalb eines Gedichtes können verschiedene Profile zitiert werden. Dies gilt auch für die Musik: die Charakteristika eines Rezitativs können auch in einer Arie eingesetzt werden.

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sinngebend sind: auf rezitativische Teile, die neue Informationen bearbeiten, folgt eine Arie, die wenig neue Information beinhaltet und stärker auf Gefühle und Gefühlsregungen setzt oder aber eingesetzt wird, um dadurch den Übergang zu einem anderen Sprachprofil darzustellen, zum Beispiel einen feierlichen Beschluss oder ein Gebet. Im Ottocento bestimmt das Versmetrum auch den musikalischen Rhythmus.16 Dies ist wiederum deutlich hörbar.

III. DAS LIBRETTO ALS VIRTUELLE PARTITUR UND SPEKTAKEL: DIE METRIK ALS SCHALTSTELLE Ausgangspunkt dieser Studie ist das Libretto. Das soll aber nicht als logozentrische Vorgehensweise aufgefasst werden, sondern trägt der Tatsache Rechnung, dass Librettisten (zumindest die kompetenten) genau wussten, was kompositorisch möglich war, was ein Komponist umsetzen konnte oder welche infrastrukturellen Mittel überhaupt einer Produktion zur Verfügung standen (Zusammensetzung des Orchesters, Anzahl der Stimmen, Vorhandensein eines Chores, Maschinerie etc. 17). Der Librettist verteilt bewusst die Handlung auf die verschiedenen musikalischen Profile, wie Rezitativ, Tempo d’attacco, Cantabile, Cabaletta etc. Dies geschieht gemäß strengen Vorgaben. Ein gutes Libretto spiegelt folglich eine Menge von möglichen Spektakeln wider: es projiziert immanent aus sich heraus mögliche Partituren und Aufführungen. Ein kompetenter Dichter verfertigt nicht ein künstlerisch minderwertiges Gebrauchsobjekt, dessen Hauptaufgabe es ist, Romane oder aktuelle Theaterstücke französischer Bestsellerautoren18 quasi »mechanisch«

16 Vgl. Lippmann: Versificazione italiana e ritmo musicale: I rapporti tra verso e musica nell'opera italiana dell'Ottocento, Napoli: Liguori Editore 1986. 17 Nicht alle Opernhäuser konnten sich einen Chor oder ein »vollständiges« Orchester leisten. Im Settecento waren hauptsächlich Streicher und ein Cembalist garantiert, nicht aber (alle) Bläser etc. 18 Im Ottocento war die Adaptation berühmter Romane und Theaterstücke hauptsächlich aus Frankreich, aber auch aus Spanien, Deutschland und England die Regel: Man denke an die verschiedenen Otello (Shakespeares oder Ducis’ Othello), I masnadieri (Die Räuber von Schiller), Il trovatore (El trovador von Antonio García Gutiérrez), Rigoletto (Hugos Le Roi s’amuse), oder Lucia di Lammermoor (Sir Walter Scotts The Bride of Lammermoor). Felice Romani war in dieser Hinsicht eine Ausnahme, da einige seiner Werke, der Colombo zum Beispiel, direkt aus seiner Feder stammen, und nicht Bearbeitungen, Adaptationen, oder Neu-Interpretationen bekannter Werke sind. Die Bearbeitungstechniken können dabei äußerst raffiniert sein, die daraus entstandenen Libretti durchaus ganz andere Intentionen trans-

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zusammenzufassen und zu banalisieren, ohne ästhetische Anmaßungen, stattdessen erdenkt er sich ein intermediales Werk, das explizit neben der dramatischen Handlung und den Dialogen, der lyrischen Dimension (bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts verwenden Libretti nie Prosa, die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel19), die Musik und die Aufführung, in sich, vorstellt, einbaut, darstellt, konditioniert, und aus sich heraus projiziert. Die Produktionszeiten von Opern waren in der Regel äußerst knapp bemessen. Die Produktionsprozesse mussten so funktionieren, dass mehrere Dutzend Mitarbeiter (vom Librettisten bis zum Komponisten, von den Bühnenbildnern bis zu den Schneidern etc.) innerhalb von wenigen Wochen ein hochwertiges Produkt einem kritischen Publikum vorstellen konnten. Vom Gelingen des Projekts hing ihre finanzielle Zukunft ab.20 Koordinierte Abläufe waren deshalb unumgänglich, ebenso der Rückgriff auf Konventionen. Dies wird auch heute noch häufig kritisiert, wenn man über die traditionelle italienische Oper spricht. Dabei vergisst man, dass auch Sprache auf Konventionen fußt, weil sonst Kommunikation unmöglich ist.21 Dies bedeutet aber nicht, dass der Komponist nur ausführen musste (also eine dem Libretto

portieren und literarisch hochstehend und autonom sein, wie es bei Varianten von Mythen auch der Fall sein kann. Man denke an Boitos Falstaff oder Otello. 19 Arrigo Boito wählt für die Darstellung der Schlacht in der ersten Version des Mefistofele Prosa. Da diese aber innerhalb eines komplexen, lyrischen Gebildes stattfindet, gerät auch dieser Prosa-Abschnitt zum poetischen Stilmittel. Mascagnis Guglielmo Ratcliff fußt auf bloßen Endecasillabi, ohne metrische Segmentierung. Dies ergibt einen prosaartigen Effekt, ist aber immer noch ein lyrisches Gebilde. 20 Im späteren Ottocento war es gang und gäbe, dass weniger bekannte Komponisten, die nicht für Ricordi oder Sonzogno arbeiteten, Libretti kaufen mussten und so keine Möglichkeit hatten, in den Schreibprozess einzugreifen, vgl. Walter Zidarič: L'univers dramatique d'Amilcare Ponchielli, Paris: L'Harmattan 2010. 21 Siehe dazu Nietzsche (2011, S. 52): »122 [925]: Die künstlerische Konvention. – Dreiviertel Homer ist Konvention; und ähnlich steht es bei allen griechischen Künstlern, die zu der modernen Originalitätswut keinen Grund hatten. Es fehlte ihnen alle Angst vor der Konvention; durch diese hingen sie ja mit ihrem Publikum zusammen. Konventionen sind nämlich die für das Verständnis der Zuhörer eroberten Kunstmittel, die mühevoll erlernte gemeinsame Sprache, mit welcher der Künstler sich wirklich mitteilen kann. Zumal wenn er, wie der griechische Dichter und Musiker, mit jedem seiner Kunstwerke sofort siegen will – da er öffentlich mit einem oder [926] zweien Nebenbuhlern zu ringen gewöhnt ist –, so ist die erste Bedingung, daß er sofort auch verstanden werde: was aber nur durch die Konvention möglich ist. Das, was der Künstler über die Konvention hinaus erfindet, das gibt er aus freien Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten Fall mit dem Erfolge, daß er eine neue Konvention schafft. Für gewöhnlich wird das Originale angestaunt, mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden; der Konvention hartnäckig ausweichen heißt: nicht verstanden werden wollen. Worauf weist also die moderne Originalitätswut hin?«

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immanente Komposition und virtuelle Aufführung präsentierte, sich demzufolge dem Text unterwarf, wenn auch Komponisten wie Bellini oder Pacini das von sich behaupteten, vor allem, wenn sie mit Künstlern vom Rang eines Felice Romani zusammen arbeiteten). Der Komponist ist ebenso ein Leser, und als Leser ist er gleichermaßen ein Schöpfer: Er interpretiert das Libretto gemäß seinen Erfahrungen und Kompetenzen, akzeptiert oder negiert die Anweisungen, setzt eigene Varianten um, die nun einen neuen Text und eine neue Menge von impliziten Aufführungen erschaffen. Selbst wenn der Poet und der Komponist aus der gleichen kulturellen Synchronie stammen, kann der Text, den man aus der Partitur herausliest, sich stark vom Libretto unterscheiden: ein Libretto gibt essenziell die große Strukturierung in Rezitativ und Arie vor, die im Ottocento dynamischer wird.22 Die musikalische Ausführung innerhalb dieser Sektionen hängt hingegen vom Komponisten ab: Dies ist ersichtlich, wenn man die Ausführungen, zum Beispiel von Se cerca, se dice des Megacle in Metastasios Olimpiade, eines Cimarosa oder eines Pergolesi studiert oder den durch den Komponisten verfertigten Text mit den Wiederholungen und Pausen, mit der strophischen Version im Libretto vergleicht.23 Dasselbe geschieht mit den nächsten Lesern, zum Beispiel dem Regisseur: Die Partitur (die Text, Musik und Aufführung vereinigt) wird wiederum gelesen, angepasst, aktualisiert: dadurch entsteht ein neuer Text, eine neue Partitur und eine neue Aufführung, die sich zwangsläufig auch stark von den vorherigen möglichen Texten unterscheiden können. Ein Libretto kann nicht nach traditionellen literarischen, textzentrischen Kriterien bewertet werden, sondern muss wie ein Theaterstück oder ein Drehbuch behandelt werden, das heißt als ein Soggetto da farsi, wie es Pier Paolo Pasolini (1972) in einem wegweisenden Aufsatz überzeugend dargelegt hat. Wie ein Sonett ist ein Libretto durch eigene, sinngebende Gesetzmäßigkeiten bestimmt24: Die offensichtlichste und auch einflussreichste ist die ge-

22 Vgl. Paolo Fabbri: »Istituti metrici e formali.«, in: L. Bianconi und G. Pestelli (Hrsg.): Storia dell'opera italiana, vol. VI), Torino: EDT/Musica 1988, S. 165−214. 23 Vgl. Maeder: »Pergolesi come lettore di Metastasio: L’Olimpiade. Spunti di teoria librettistica e drammaturgia musicale«, in: S. Caputo (Hrsg.): Studi Pergolesiani Pergolesi Studies (Vol. 7), Bern: Peter Lang 2012c, S. 95−120, und Maeder: »Opera, Oratorio, and Iconic Strategies«, in: L. Elleström/ Olga Fischer/ C. Ljungberg (Hrsg.): Iconic Investigations, John Benjamins Publishing Company 2013b, S. 275−295. 24 Für das klassische italienische Sonett kann man eine Reihe von Maximen aufzählen: so ist es Usus, Hyperonyme zu gebrauchen und keine spezifischen Nomen (also »Vogel« anstatt »Reiher«), ebenso ist das kürzere Wort poetischer als das lange (»Dì« anstatt »Giorno«). Abweichungen sind dann sinngebend: Wenn ich das spezifischere »Filomena« gebrauche anstatt »Usignolo«, dann weiß der kun-

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ordnete Abfolge von Rezitativ und Arie, die metrisch festgelegt ist.25 So werden Inhalte auf musikalische Wiedergabeformen verteilt. Da jeder metrische Übergang eine Änderung auf musikalischer Ebene hervorruft, wird der Zuhörer/Zuschauer in seinen Deutungsstrategien geleitet. Was heute für viele als konventionell und reduzierend aufgefasst wird, kann hingegen als sinngebendes Merkmal durch einen intelligenten Dichter ausgenutzt werden, so wie dies auch beim Sonett der Fall ist. Die formalen Konventionen der Oper können wie künstlerisch anspruchsvolle Contraintes eingesetzt werden: Die Tatsache, dass man sich an diese Beschränkungen halten muss, zwingt den Dichter zu höchstem Erfindungsgeist und poetischer Finesse. Mit anderen Worten: Gerade die Konventionen ermöglichen es dem Leser, das Andere, die Musik, die Aufführung zu erahnen. Genau diese Potenzialität, gemäß Pasolini (1972), bestimmt die ästhetische Dimension eines Drehbuchs und in unserem Falle die eines Librettos.

IV. MUSIK ALS METASPRACHE, DIE OPER ALS METASPRACHLICHES HANDBUCH Die Oper ist in erster Linie ein Drama. Sie ist durch Sprache und Handlung charakterisiert. Die musikalische Dimension bestimmt und konnotiert die Metrik, die Handlung, die Sprache und die Aufführung. Da die Musik in der italienischen Oper Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die auch metrisch festgelegt sind, hat dies zur Folge, dass ein Libretto eine metasprachliche Dimension enthält. Die musikalische Ebene interpretiert und wertet Sprache und Sprachgebrauch, erschafft ein Sprachmodell. Eine italienische Oper, gemäß des aristotelischen Vermächtnisses der Renaissance, dreht sich um Kommunikation und deren Grenzen, wie es Roland Barthes 1963 festgehalten hat.26 Dabei sind mehrere Maximen von zentraler Bedeutung: Um den Zuschauer zu erreichen, um ihm das »In sich hinein versetzen können« (immedesimazione) und die Idee von Plausibilität (verosimile) zu ermöglichen, sollte ein

dige Leser, dass das Gedicht, auch wenn es scheinbar ein Idyll beschreibt, den Mythos von Procne zitiert, mithin einen tragischen, gewalttätigen Interdiskurs. 25 Zur zentralen Bedeutung des Versmetrums in der italienischen Oper, siehe Fabbri: »Istituti metrici e formali«, in: L. Bianconi und G. Pestelli (Hrsg.): Storia dell'opera italiana, S. 165–214, Lippmann: Versificazione italiana e ritmo musicale, Maeder/Moretti: »Fenomeni pragmatico-testuali e strutture metriche nei libretti di Ruggero Leoncavallo«, S. 75−81, sowie C.M.: »Ansätze zu einer dramatischen Theorie des italienischen Opernverses«, S. 65−79. 26 Vgl. Roland Barthes: Sur Racine, Paris: Éditions du Seuil 1963.

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Drama die Einheiten von Raum, Zeit und Handlung einhalten. Die Maxime der Plausibilität (verosimiglianza) erlaube es dem Zuschauer, die Handlung auf der Bühne nachzuvollziehen und als möglich zu erachten: Was auf der Bühne geschehe, soll auch im echten Leben möglich (gewesen) sein. Dazu gehört ebenfalls, dass das Sprachverhalten nachvollziehbar sei. Um aber plausibel zu sein, die Grundvoraussetzung um den Zuschauer überzeugen zu können gemäß Theoretikern wie Algarotti (1763), muss die Musik in einen plausiblen Rahmen eingegliedert werden. So künstlich, konventionell und »unwahrscheinlich« für uns heute (und damals27) eine Oper oder ein Libretto auch erscheinen mögen, sie modellieren doch sowohl Sprache und ihren Gebrauch, als auch kulturelle Systeme, soziale Performanz und ästhetische Maximen. Mit anderen Worten: Die musikalische Ebene, die im Libretto festgehalten wird, beschreibt und wertet sprachliche Kommunikation. Dies ist umso mehr der Fall, da die metrische und musikalische Strukturierung nach definierbaren und einfach erfassbaren Gesetzmäßigkeiten erfolgt, die die Sprechakte und Dialoge bestimmen. Die Idee der verosimiglianza zwingt die Musik nicht, der Handlung zu dienen (mit anderen Worten konnotiert sie nicht oder steuert figurativ ikonische Elemente zur Handlung bei, sie unterwirft sich folglich nicht dem Text), sondern gestattet es, Sprache und Handlung auszuformen und zu determinieren, ohne dass der Zuschauer den Faden verliert.

V. EINIGE KOGNITIVE BASIS-STRATEGIEN Einem kompetenten Librettisten gelingt es, komplexe Zusammenhänge intermedial so zu verschränken, das heißt, Musik und Aufführung so in seinen Text zu integrieren, dass ein Laienpublikum unmittelbar versteht, was von Bedeutung ist, wenn er das fertige Produkt (eine Aufführung oder auch nur eine CD) konsumiert, ohne lange Einführungs- oder Lernphase. Dies geschieht durch Rückgriffe auf die persönliche Erfahrung der Zuschauer (persönliche Erfahrung durch Opernbesuche zum Beispiel), auf die Kulturelle Erinnerung28 – Diskussionen, Lektüre, Musikunterricht etc. –, aber auch durch

27 Siehe dazu die vielen satirischen Schriften wie zum Beispiel Benedetto Marcello: Il Teatro alla Moda ossia Metodo sicuro, e facile per ben comporre, ed eseguire l'Opere Italiane in Musica all'uso moderno, Venezia 1720. 28 Vgl. Astrid Erll: »Towards a Conceptual Foundation of Cultural Memory Studies«, in: A.E./ Ansgar Nünning (Hrsg.): Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin, New York: Walter de Gruyter 2008, S. 1−15.

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das Anwenden von simplen Strategien, die auf grundlegenden kognitiven Strukturen fußen: (a) (b) (c) (d)

die Fähigkeiten, Kategorien und Systeme zu erstellen29 , die Fähigkeit, Unterschiede, Differenz zu erkennen30, die Fähigkeit, aus kognitiven Dissonanzen Neues abzuleiten31, die Fähigkeit, Parallelismen und Ähnliches zu erkennen oder Perzepte mit Bekanntem zu vergleichen32, (e) die Fähigkeit, nach Sinn, Bedeutung zu suchen, d. h. (i) die Fähigkeit, Zeichen zu erkennen und zu nutzen33, (ii) die Fähigkeit, aus Parallelismen Hypothesen abzuleiten, die Fähigkeit und Tendenz, aus Korrelation kausale Schlüsse zu ziehen (auch falsche)34, (f) die Tendenz, alles kausal zu interpretieren35, (g) die Fähigkeit, Neues mit der eigenen Erfahrung vergleichen zu können und Unbekanntes auf Bekanntes »kartieren« zu können.36 Dabei spielen Ikonizität und Indexikalität eine wichtige Rolle.

29 Vgl. Lawrence M. Zbikowski: Conceptualizing Music: Cognitive structure, theory, and analysis (New edition): OUP USA 2005. 30 Vgl. Nöth: Handbuch der Semiotik. 31 Dies ist natürlich nicht zwingend. Unter Kognitiver Dissonanz versteht man, gemäß Leon Festinger in den Worten von: »The holding of two or more inconsistent cognitions arouses the state of cognitive dissonance, which is experienced as uncomfortable tension. This tension has drive-like properties and must be reduced«, vgl. Joel Cooper: Cognitive Dissonance. Fifty Year of a Classic Theory, London: Sage 2007, S. 7. Dies trifft auf die meisten Arien in Metastasios Opern zu. Sie sind die Folge kognitiver Dissonanz und zwingen die Charaktere, diese zu reduzieren. 32 Vgl. Cooper: Cognitive Dissonance, S. 7. 33 Vgl. Terrence W. Deacon: The symbolic species: the co-evolution of language and the brain (1st ed.), New York: W.W. Norton 1997, und Umberto Eco: Trattato di semiotica generale, Milano: Bompiani 1975. 34 Vgl. Cesare Parise/Charles Spence/Marc Ernst: »When Correlation Implies Causation in Multisensory Integration«, in: Current biology: CB, 22.1 (2012), S. 46−49. 35 Vgl. Dan Sperber/ David Premack/ Ann James Premack: Causal cognition: a multidisciplinary debate, Oxford/New York: Oxford University Press and Clarendon Press 1995. 36 Gilles Fauconnier/ Marc Turner: The way we think: conceptual blending and the mind's hidden complexities, New York: BasicBooks 2003; M.T.: The literary mind, New York: Oxford University Press 1996, sowie M.T.: Blending Box Experiments, Build 1.0 © (2010), http://ssrn.com/abstract=1541062//9.12.2014.

IKONISCHE STRUKTUREN IN DER ITALIENISCHEN OPER

VI.

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IKONISCHE GRUNDSTRUKTUREN

Tabelle 1: Hauptelemente der Aufführung

Aufführung)

1.#Figuren#sprechen# oder#denken#laut#

1.1#Rezitativisch:#Rezitativ,# Tempo#d'attacco,#Tempo#di# mezzo.#

2.#Figuren#singen#oder#üben# markierte#Sprechakte#aus#wie# Gebete#oder#Amtshandlungen#

1.2#Arie:#Solo,#Duett,#Terzett,#mit# oder#ohne#Chor,#etc.#

Die Tabelle (1) stellt grob die Hauptelemente einer Aufführung dar. Die musikalische und dramatische Ebene muss es gestatten, dass ein Zuschauer zwischen einer sprechenden oder singenden Figur unterscheiden kann37. So sieht man auf der Bühne eine Figur mit einem Instrument, ein kleines Orchester, oder wie Menschen zusammen beten, sich zu einem Chor zusammenfügen oder bei einem Fest einen Trinkspruch singen: Der Kontext ist ausschlaggebend. Auf metrischer Ebene wird nicht zwischen Arie (1.2 in der Abbildung) und Gesang auf der Bühne (2. in der Abbildung) unterschieden: In Libretti aus dem Verismo kann man feststellen, dass der Gesang auf der Bühne (Punkt 2 im Diagramm) vorwiegend mit einfachen, monotonen geradsilbigen Versen wiedergegeben wird. Davor hingegen ist diese Unterscheidung nicht operativ, da auch Arien auf geradsilbigen Versen geschrieben werden.38

37 David Herman/ Manfred Jahn/ Marie-Laurie Ryan: Routledge encyclopedia of narrative theory, London/New York: Routledge 2005, S. 481 unterscheiden zwischen »nicht diegetischer Musik« (1–1.1 und 1.2, sowie wenn eine Arie eine Amtshandlung oder ein gesprochenes Gebet wiedergibt) und »diegetischer Musik« (2). 38 In diesen Fällen merkt man aber, dass der Gebrauch von geradsilbigen oder nicht geradsilbigen Versen verschiedene Konnotationen transportiert. Seit Dante Alighieri, also durch kulturelle Prägung (so Dante Alighieri: De Vulgari Eloquentia, Monarchia (G. Contini Ed.), Milano: Ricciardi 1995, S. 175), tendiert man dazu,

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Überwiegend wird aber auf der Bühne gesprochen und gedacht (Punkte 1.1 und 1.2). Im Cinquecento mehren sich Theoretiker und Musiker, die die Grundlagen eines dramatischen Sprechgesangs theoretisieren. Sie berufen sich in der Regel auf Aristoteles und die Antike.39 Der Sprechgesang müsse dabei die Prosodie der Sprache nachahmen, um im Zuschauer perlokutive Reaktionen hervorzurufen.40 Dies wird dann der Arie gegenübergestellt, die musikalisch (durch Melodie und periodisch-symmetrische Strukturen) bestimmt ist und sich melodisch deutlich von der Imitation der Prosodie unterscheidet. Die Rezitative imitieren tatsächlich die Prosodie der Sprache die Aussprache und Kadenz der professionellen Schauspieler, die Commedianti dell’arte, wie man es auch von Galilei (1581) ableiten kann.41 Das Rezitativ ist folglich figurativ ikonisch in Bezug auf die Nachahmung der Prosodie. Dem wird die Arie gegenübergestellt (Punkt 1.2 im obigen Diagramm). Wortakzente können, falls musikalisch gerechtfertigt, verschoben werden (dies geschieht zumeist, wenn eine Arie aus Strophen besteht und die Hauptwortakzente in den Strophen nicht auf der gleichen Position erfolgen und die Melodie nicht angepasst wird). Der Text des Libretto wird nicht exakt wiedergegeben, aber oft auf jeder Ebene iteriert: Strophen, Sätze, Satzteile und Wörter, Silben können mannigfaltig wiederholt werden, so wie es im täglichen Sprachgebrauch nie der Fall ist. Dies gilt auch für die Diasthematik: Die Melodieführung sprengt die Intervallbreite eines normalen Gesprächs. Um aber verosimile, nachvollziehbar und plausibel zu sein, muss die Arie logisch in die Aufführung eingebunden sein. Implizit sagt das Doni (1763, S. 8f), wenn er auslegt, dass nicht alles gesungen werden muss, folglich nicht alles Arie sein muss. In der Arie dominieren diagrammatisch ikonische Strukturen: wenn eine Figur über den Himmel singt, dann wird sich die Melodie tendenziell in die Höhe schwingen, falls er den Absturz in die Hölle

geradsilbige (und neunsilbige) Verse als einfach und monoton zu empfinden: mit der Zeit konnotieren sie Werte wie Falschheit, Banalität, Volkstümelei oder Trivialität; ungeradsilbige Verse hingegen konnotieren tendenziell Erhabenes, Seriosität etc., vgl. Erll: »Towards a Conceptual Foundation of Cultural Memory Studies«, S. 1−15. 39 Giovanni Battista Doni (1763): Lyra Barberina, Firenze 1763b, Kapitel III–V. Das Manuskript ist um 1640 verfertigt worden; Ottavio Rinuccini (1600): L'Euridice d'Ottavio Rinuccini rappresentata nello sponsalitio della christianissima Regina di Francia, e di Navarra. Firenze: Cosimo Giunti 1600, S. 4. 40 Vgl. Vincenzo Galilei: Dialogo della musica antica et della moderna, Firenze: Marescotti 1581. 41 Vgl. Silke Leopold: »Die Anfänge von Oper und die Probleme der Gattung«, in: Journal of Seventeenth-Century Music, 9.1 (2003), online: http://www.sscmjscm.org/v9/no1/leopold.html//9.12.2014.

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besingt, wird sich die Melodie eher nach unten bewegen. Die Abfolge selbst (Rezitativ dann Arie) ist ebenso diagrammatisch ikonisch.42

VII. MUSIKALISCHE PROFILE Die folgenden Beispiele aus dem Settecento verdeutlichen die Strategien, die eingesetzt werden. Durch die diagrammatische Unterteilung in einen rezitativischen Teil und einen Arienteil – beide sind deutlich und ohne große Vorbildung unterscheidbar – kann der Poet die Rezeption durch den Zuschauer nachhaltig bestimmen. Dies geschieht aber nicht zufällig. Die Sprachakte und die Handlung werden nach strengen, logischen und nachvollziehbaren Kriterien auf die orientierte Abfolge von verschiedenen musikalischen Profilen verteilt. Schon im Seicento bildet sich heraus, was im Settecento zur Norm werden wird: die Abfolge Rezitativ und Arie. Einer Einheit (zum Beispiel der Verwicklung), die meist durch einen Bühnenwechsel indexikalisch angezeigt wird, kann ein Chor-Teil oder ein Ensemblestück mit Chor und Figuren vorangestellt werden. Das Rezitativ gibt es in zwei Formen, das Secco-Rezitativ und das Accompagnato, wobei Letzteres äußerst sparsam eingesetzt wird (Caldara gebraucht meist ein einziges Accompagnato in seinen Opern): (a) Secco-Rezitativ → Arie (b) Secco-Rezitativ → Accompagnato-Rezitativ → Arie (c) Chor/Ensemble Chor und Figuren → Rezitativ → Arie. Musikalisch sind diese Blöcke streng unterschieden und unmittelbar erkennbar. Das Rezitativ ist durch das Imitieren des Sprechens gekennzeichnet. Der Librettist weiß genau, wie dieser Teil musikalisch umgesetzt wird und was demzufolge ein Zuschauer perzipieren kann: Jedes einzelne Wort sollte unmittelbar verständlich sein. Das Orchester, im Settecento hauptsächlich das Continuo, ist auf das Wesentliche reduziert: ein Cembalo oder ein Cembalo mit einem Kontrabass etc. Das Continuo spielt kurze Akkorde, die wie Komma, Ausrufezeichen oder Fragezeichen wirken: Diese werden in den Sprechpausen eingesetzt. 42 Vgl. Olga Fischer/Max Nänny: »Introduction Iconicity as a Creative Force in Language Use«, in: O.F./ M.N. (Hrsg.): Form Miming Meaning: Iconicity in Language and Literature, Amsterdam: Benjamin 1999, S. xv−xxxv.

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Teilweise bilden sie aber auch einen Klangteppich unter der Singstimme, ohne aber melodisch einzugreifen. Das Continuo bleibt im Hintergrund, während die Sänger agogische Freiheiten genießen, also der ProsodieImitation und der Interpretation des Textes und der Sprachausführung mehr Beachtung schenken können, anstatt einem »musikalisch« regelmäßigen Puls zu folgen. Mit anderen Worten: Der Text sollte ohne Probleme vom Publikum verstanden werden (zumindest akustisch). Er wird nicht durch das Orchester oder durch hohe Tonlagen und Koloraturen seiner unmittelbaren Verständlichkeit beraubt. Im Rezitativ dialogiert man (im Monolog diskutiert man mit sich selbst, man stellt oft zwei Thesen oder Gefühle gegenüber): Der Informationsaustausch ist zentral. Emotionen werden in Schach gehalten. Meistens sprechen bloß zwei Chargen, während andere Figuren auf der Bühne warten, bis sie in einer folgenden Szene an der Reihe sind. Falls letztere durch den Dialog betroffen sind, äußern sie sich in kurzen Beiseites oder in Seufzer wie »Povera me«, die aber nicht den Redefluss der Hauptsprecher unterbrechen. Da der Informationsaustausch aus verschiedenen Gründen des Öfteren nicht erfolgreich oder nicht mehr nötig ist, kommt es zu einem Gefühlsstau, der sich in einer Arie entlädt. Die Arie enthält in der Regel wenig neue Informationen: Dabei kann es sich um einen Befehl handeln, eine rhetorische Frage, eine Herausforderung zum Duell oder die Bekanntgabe eines Entschlusses. Jedoch überwiegt der Ausdruck von Emotionen wie Freude, Enttäuschung, Befremden, Hass oder Sehnsucht. Der Sänger oder die Sängerin tritt danach ab. Dies unterstreicht, dass die Arie den Schlusspunkt eines kommunikativen Aktes darstellt. Die Arie ihrerseits, da sie ja wenige Inhalte transportiert, kann sich musikalisch freier entfalten: Das Orchester spielt eine wichtige Rolle. Längere Passagen können rein orchestral sein. Der Sprachduktus kann sich radikal verändern: Die Sprachäußerungen können verlangsamt oder extrem beschleunigt werden. Der Gestus selbst kann äußerst chargiert sein: Die Diasthematik sprengt die Grenzen des normalen Sprechens sowohl in der Höhe als auch in der Tiefe. Sätze können als solche teilweise nicht mehr verstanden werden, da sie in ihre einzelnen Komponenten zergliedert werden, deren Funktion durch Wiederholung noch weiter dekonstruiert wird. Die Aneinanderreihung von Sprachfetzen beraubt den Text seiner Verständlichkeit. Die Arie konnotiert also als Endpunkt eines Sprechaktes das endgültige Ausbrechen der Gefühle. Je stärker diese sind, desto weniger verständlich ist der Text als solches, und entsprechend weniger interessant ist auch der semantische Inhalt. Obschon der Text durch Wiederholung und Zergliederung zur Unverständlichkeit neigt, kann man aber immer die dominierenden Leidenschaften und Hauptgedan-

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ken nachvollziehen (wenn man 30 Mal Furore als Wort erkennt, kann man doch davon ausgehen, dass die singende Person der Raserei verfallen ist). Dafür ist die musikalische Struktur wiederholend und erleichtert auf diese Art das Verständnis des Hörers. Das Rationale wird im Rezitativ dargelegt und ist dynamisch und teleologisch: mögliche Wiederholungen von Wörtern entsprechen dem, was auch im alltäglichen Gespräch normal ist. Die Arie (Da capo- oder Dal Segno-Arie) hingegen ist repetitiv, zirkulär, periodischsymmetrisch und rahmt damit die irrationale, emotionsgesteuerte Partie des Libretto ein.43 Tabelle (2) fasst dies zusammen. Es handelt sich dabei um Tendenzen: Arien mit wenigen Wiederholungen, mit wenigen Koloraturen und in denen die meisten Silben auf einer oder zwei, vielleicht auch einmal auf vier Noten verteilt werden, zeugen davon, dass die singende Figur zwar nun abschließt, dass sie weniger auf die Vergabe von neuen Informationen achtet dass sie nun nicht mehr kommunizieren wird und vielleicht gleichzeitig einen Sprechakt durchführt, dass sie sich aber noch unter Kontrolle hat, obwohl (starke) Gefühle durchschimmern. Tabelle 2: Vergleich Rezitativ - Arie

REZITATIV + Dialog

+ Informationsaustausch − Emotionen + Irreguläre, dynamische, teleologische Struktur + Reduzierte Begleitung: das Textverständnis ist zentral.



ARIE − Dialog, + verändertes Sprachprofil (Gebet, offizieller Sprechakt, Befehl oder emotionale Äußerung, Kommunikationsschluss) − Informationsaustausch + Emotionen + Repetitiv, regulär, häufig periodisch-symmetrisch, zyklisch + Volles Orchester

Wenn die obengenannten Tendenzen zunehmen, dann wird dadurch angegeben, dass die singende Figur immer mehr die Kontrolle über sich selbst verliert. Mit Plus und Minus werden in der Tabelle Tendenzen angegeben. So sind natürlich in jedem Sprechakt Emotionen involviert. Dies ist menschlich. Ein Sprecher kann aber die Emotionen verbergen oder hinten anstellen, um

43 Vgl. Costantino Maeder: »Processi argomentativi e iconici nell'aria metastasiana«, in: M.G. Miggiani (Hrsg.): Il canto di Metastasio, Bologna: Forni 2004, S. 45−70.

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Sprechakte zu einem guten Ende zu führen. Eine Arie enthält auch oft neue Informationen, aber in einem viel geringerem Maße als im Rezitativ. In einer Arie ist die Dialogbereitschaft geringer: man erwartet keine echte Interaktion, wie dies im Rezitativ der Fall ist. Natürlich werden rhetorische Fragen gestellt und auch Duette, Terzette etc. gesungen, aber der Informationsaustausch und der Dialog sind dabei äußerst reduziert. Je mehr Information in die Handlung eingebracht wird, desto länger werden die Rezitative, da keine Zeit für leidenschaftliche Ausbrüche bleibt. Dies geschieht hauptsächlich vor oder zu Beginn des Dénouements, bevor dann die letzten, großen Gefühlsausbrüche stattfinden können.

VIII. DREI FALLBEISPIELE UND KOGNITIVE PERZEPTIONSSTRATEGIEN Die Eröffnungsszenen des Adriano in Siria von Metastasio44 und Pergolesi45 zeigen die Komplexität, die aus diesen einfachen Mitteln entstehen kann. In der ersten Spalte sieht man das Libretto und in der zweiten den aus der Partitur exzerpierten Text (Anhang 2). Auch für die Segmentierung haben wir uns auf grundlegende, einfach erfassbare Strategien beschränkt, für die keine Musikausbildung nötig ist, die sich also auf kognitive Grundaktivitäten stützen (Erkennen von Differenz und von sich wiederholenden Strukturen, siehe dazu auch die Liste in Kap.V): (a) (b) (c) (d) (e)

(f)

Pausen zwischen Äußerungen Wiederholungen (Silben, Wörter, Satzteile, Strophen) große Intervallsprünge von einem Wort zum anderen große Intervallsprünge von einer Silbe zur anderen (wiederholte) Betonungsverschiebungen in Schlüsselworten (der Hauptakzent eines Wortes wird auf eine eigentlich unbetonte Silbe verschoben) schnelle Notenfolgen: (i) eine Silbe wird auf sehr viele Noten verteilt (ii) Beschleunigung: eine Textstelle wird im Verhältnis zum allgemeinen Rhythmus schneller wiedergegeben

44 Vgl. Metastasio: Adriano in Siria, in: Pietro Metastasio: Opere, Paris: Vedova Herissant 1780, Vol. I, S. 113−210. 45 Vgl. Giovanni Batista Pergolesi/ Pietro Metastasio: Adriano in Siria, Venezia: San Bartolomeo 1734.

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(g) lange Noten: eine Silbe, ein Wort, ein Satzteil oder ein Satz wird auf einer oder vielen langen Noten gesungen (h) eine längere Passage wird auf demselben Ton gesungen (i) unübliche Akkorde oder musikalische Eigenheiten (zum Beispiel der Einsatz von speziellen Instrumenten) unterstreichen ein Wort oder eine Passage Diese Phänomene – außer wahrscheinlich der letzte Punkt – sind einfach wahrnehmbar und nicht einem musikalisch geschulten Ohr vorbehalten. In all diesen Fällen muss man aber zwischen den verschiedenen musikalischen Profilen unterscheiden. Wiederholungen können teils als Norm gelten: Die Triplikation von Elementen als Abschluss einer Arie oder einer Strophe in einer Arie ist zum Beispiel gattungsspezifisch normal. Innerhalb einer Arie ist aber eine Triplikation zusammen mit Beschleunigungen und der Verteilung einer Silbe auf viele Noten eine sinngebende Abweichung. In den rezitativischen Teilen ist jegliche Triplikation ein Hinweis, dass die Figur entweder dabei ist, die Kontrolle zu verlieren oder aber, dass die Triplikation als spezielles, rhetorisches Mittel eingesetzt wird, also den Text bewusst markiert. Im Anhang 2 habe ich sowohl Metastasios Text zitiert als auch den aus Pergolesis Partitur exzerpierten Text. Diesen habe ich wiederum gemäß den oben genannten Perzeptionsstrategien analysiert. Wir sehen, wie zwei Personen miteinander sprechen, während ein Dritter mit wenigen Beiseites zeigt, dass er mit dem, was geschieht, nicht einverstanden ist. Da er sich aber unter Kontrolle hat, geschieht nichts: er mischt sich nicht in den Dialog ein. Die eine Figur ist Hadrian, der soeben die Parther besiegt hat. Die andere ist Farnaspe, ein parthischer Prinz, der dem siegreichen Kaiser Geschenke als Zeichen der Unterwerfung und der Ehrerbietung bringt. Er behauptet dabei, dass der unterlegene König verschollen sei. Farnaspe bittet gleichzeitig um die Freilassung der Tochter des Königs, Emirena, als Zeichen der Gnade und der Großzügigkeit, so wie man es von siegreichen, römischen Herrschern erwartet. Man vernimmt dabei, dass Farnaspe ihr Liebhaber und Verlobter ist. Der Zuschauer merkt, dass Hadrian selbst in Emirena verliebt sein muss.46 Der Begleiter Farnaspes kommentiert das Geschehen mit wenigen, knappen Beiseites. Es handelt sich dabei, wie im Argomento und in der Liste der Dramatis Personae schon dargelegt und folglich dem Zuschauer bewusst,

46 Man muss dazu nicht schon vor der Aufführung das »Argomento« im Libretto gelesen haben: dieses enthält meist schon alle relevanten Elemente der Handlung.

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um Osroa, den angeblich verschollenen König der Parther. Farnaspe und Osroa merken bald, dass im Verhalten Hadrians etwas nicht stimmt. Nach der Arie Hadrians erkennt Osroa, dass Hadrian wohl in Emirena verliebt ist und fragt sich, ob seine Tochter auch in den verhassten Feind verliebt sei. Die musikalische Umsetzung zeigt zuerst, wie Farnaspe und Hadrian (und Osroa) im Einklang mit ihren Aufgaben und Gesprächsintentionen rational kommunizieren. Dies geschieht im Rezitativ. Die musikalische Umsetzung zeigt, dass zu Beginn alles der Norm entspricht. Die Pausen unterteilen den Redefluss in seine vorhersehbaren Satzglieder. Rhetorisch bedingte Pausen innerhalb von Satzgliedern sind dabei üblich, wie das auch im alltäglichen Gespräch der Fall ist. Das Zusammenführen zweier Verse zu einer längeren Äußerung entspricht gewohnten pragmatischen Situationen. Aussagesätze sind durch melodische Bögen gekennzeichnet. Je länger die Aussage ist, desto größer kann der Bogen sein, desto mehr nimmt der Intervallumfang zu. Fragesätze hingegen enden mit der typischen Schlusssteigung. Mit der Zeit merkt man, dass die Spannung steigt und in ein verändertes Sprachprofil mündet: Hadrian beendet den Dialog und singt eine Arie. Er gibt darin öffentlich seinen offiziellen Beschluss bekannt und schließt damit den Kommunikationsakt ab. Danach tritt er von der Bühne. Eine Antwort wird nicht erwartet. Der Charakter der Arie könnte oder sollte der Situation entsprechend erhaben und feierlich sein. Der Sprachprofilwechsel entspricht einem Musikprofilwechsel: vom Rezitativ geht man in die Da Capo-Arie über: Der Übergang ist perfekt hörbar. Gemäß der Erwartungshaltung des Zuschauers setzt erst das Orchester mit einer längeren Passage ein (eine gattungstypische Überraschung wäre es, wenn Hadrian seine Arie ohne Orchestervorsatz und erst ohne Begleitung angefangen hätte). Die Arie sollte nun zwei möglichen großen Profilen entsprechen: Entweder wird ein offizielles Sprachprofil gewählt wie ein öffentlicher Beschluss, ein Gebet oder der Vortrag einer Geschichte oder eines Erlebnisses, oder der Sänger wird von Gefühlen geleitet, die es ihm nicht mehr ermöglichen zu kommunizieren (siehe Tabelle 1). Hadrian wird in dieser Szene als deontisches Subjekt47 dargestellt, der die Gesetze und Werte der Gesellschaft, der er vorsteht, als richtig und einhaltungswürdig erachtet. Seine eigenen Wünsche ordnet er diesem Werteuniversum unter, obwohl er seine Macht einfach nutzen könnte, um das Anliegen Farnaspes abzuschmettern und Emirena für sich zu gewinnen, mit oder

47 Vgl. Jean-Claude Coquet: Le discours et son sujet (Vol. Sémiosis; 8−9), Paris: Klincksieck 1984.

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ohne ihre Zustimmung. Die Arie zeigt diesen Widerspruch, der durch Kognitive Dissonanz48 entsteht: Als deontischer Herrscher weiß er, was er zu tun hat und er macht es auch, auf persönlicher Ebene ist er aber frustriert. Zu Beginn des Rezitativs wird klar dargelegt, dass Hadrian sich seiner Verantwortung als römischer Herrscher bewusst ist, nachdem ihn Farnaspe um Gnade für die Unterlegenen bittet, sich ihm zu Füßen wirft und ihm Ergebenheit und Treue schwört (Beispiel 1). Beispiel 1 ADRIANO […] Madre comune d’ogni popolo è Roma, e nel suo grembo accoglie ognun che brama farsi parte di lei. Gli amici onora, perdona a’ vinti, e con virtù̀ sublime gli oppressi esalta ed i superbi opprime.49

Pergolesi übersetzt dies mit kurzen, tragenden Sätzen: jeder Absatz entspricht einer musikalischen Aussage, die durch eine Pause abgegrenzt ist. Jede einzelne, positive Eigenschaft der Pax Romana wird durch eine eigene Äußerung dargestellt (Beispiel 2). Beispiel 2 ADRIANO Madre comune d’ogni popolo è Roma, e nel suo grembo accoglie ognun che brama farsi parte di lei. Gli amici onora, perdona a’ vinti, e con virtù sublime gli oppressi esalta ed i superbi opprime.50

48 Vgl. Cooper: Cognitive Dissonance, S.7. 49 Gemeinsame Mutter/ Für jedes Volk ist Rom, in ihrem Schoß/ nimmt sie jeden auf, der es wünscht/ dazu zu gehören. Rom ehrt die Freunde/ Begnadigt die Besiegten, und mit erhabener Tugend/ Erhöht sie die Unterdrückten, und unterdrückt die Hochmütigen. 50 Gemeinsame Mutter/ Für jedes Volk ist Rom/ In ihrem Schoß nimmt sie jeden auf/ Der es wünscht dazu zu gehören. / Rom ehrt die Freunde/ Begnadigt die Be-

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Hadrian ist sich seiner Verantwortung bewusst, selbst als er merkt, dass Farnaspe Emirena liebt. Aber Letzteres kann er in der Arie nicht verheimlichen. So sagt er, kurz bevor er seinen Entschluss in der Arie öffentlich kund tut: »Ah, si cominci su’ propri affetti a esercitar l’impero. (Ah, man beginne den eigenen Affekten Einhalt zu gebieten)«. Und wie es häufig in der italienischen Literatur der Fall ist, bedeutet dieses kurze Selbstgespräch (ein Soliloquy), dass die zu sich selbst sprechende Figur das Gewünschte nicht einhalten kann.51 Die Arie eines deontischen Herrschers, der einen Beschluss veröffentlicht und nicht durch Gefühle geleitet ist, wirkt tendenziell erhaben. Wiederholungen sind standardisiert (zum Beispiel eine Triplikation des Schlusssatzes) und folglich Ausdruck der Norm. Die Wiederholungen zerstören nicht die Verständlichkeit des Diskurses. Musikalisch sollte dieser kohärent sein, ohne Pausen, die den Satzfluss unterbrechen. Auch sollten große Intervallsprünge selten eingesetzt werden, um die Getragenheit nicht zu stören. Pergolesi hingegen zeigt die innere Spannung Hadrians auf: Zwar versucht der Kaiser Haltung zu bewahren, doch die Zerstückelung seines Diskurses, die übermäßige Wiederholung von Wörtern und Satzgliedern zeigen auf, dass er innerlich zerrissen ist zwischen seiner Identität als Herrscher, der sich seiner Pflichten bewusst ist und deren Werte er teilt, und seiner Liebe zu Emirena. Er kann es auch dynamisch nicht verheimlichen: Zwar wird sein Beiseite (»e la mia sorte ancor«), in dem er darlegt, dass er sein eigenes Schicksal mit seinem Schiedsspruch ebenso bestimmt, zuerst sottovoce (flüsternd) gesungen, doch dieser Teil ist emphatischer als der erste, noch kontrollierte Teil: die Noten sind alle deutlich länger als im vorhergehenden Teil. In der Wiederholung von »e la mia sorte ancor« wird dies aber mit einem Fortissimo wiedergegeben, das dementsprechend auch von Osroa und Farnaspe gehört wird, wobei die erwartete Bogenstruktur der Melodie zuerst durch einen markanten Intervallsprung nach oben und durch eine darauf stark abfallende Linie ersetzt wird. Nach dem Ritornello (d. h. dem Übergang von A zu A1, bevor man zum zweiten Teil, B, der Da Capo-Arie wechselt52)

siegten/ Und mit erhabener Tugend/ Erhöht sie die Unterdrückten/ Und unterdrückt die Hochmütigen. 51 Vgl. Costantino Maeder: »I soliloqui e il loro uso nell’ Inamoramento de Orlando. Prime ricognizioni«, in: A. Izzo (Hrsg.): D’un parlar ne l’altro. Aspetti dell’enunciazione dal romanzo arturiano alla Gerusalemme liberata, Pisa: Edizioni ETS 2013a, S. 71−90. 52 Die Strophen A und B werden in der Da Capo-Arie folgendermaßen musikalisch umgesetzt: Orchesterteil – A – Orchesterteil – A1 – Orchesterteil – B – Orchesterteil – A – Orchesterteil – A1 – Orchesterteil.

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setzt Hadrian zur Wiederholung des Strophentexts an: hier sieht man, wie der Text zerstückelt wird, durch Wiederholungen kaum noch verständlich ist, da diese selten ganze, zusammenhängende Sätze oder Satzteile wiedergibt (Beispiel 3). Beispiel 3 Dal labbro, che t’accende di così dolce ardor, la sorte tua dipende, la mia sorte dipende e la mia sorte ancor e la mia sorte ancor dal labbro che dipende dal labbro dipende dipende la tua sorte // sottovoce: e la mia sorte ancor sì dipende // la tua sorte la tua sorte forte. E la mia sorte ancor.53

Nach dem folgenden Orchesterübergang singt der Kaiser die zweite Strophe, um dann wieder die erste Strophe zu wiederholen. Obwohl der Beginn des A-Teiles noch erhaben und kontrolliert wirken kann, ist dies am Ende, in A1und im B-Teil, nicht mehr der Fall (»Mi spiace il tuo tormento;/ ne sono a parte, e sento/ che del tuo cor la pena/ è pena del mio cor,/ che del tuo cor la pena/ è pena del mio cor,/ è pena del mio cor.«): Die Leidenschaften gewinnen die Oberhand, Hadrian hat Mühe, seine Sprach-äußerungen zu kontrollieren. Dies zeigt sich in der zerstörten Artikulation, die sich in anderen Arien in der Wiederholung einzelner Silben manifestieren kann: Solches geschieht häufig in der Umgangssprache, wenn man unter äußerstem psychologischen Druck steht.54 Es handelt sich dabei nicht um das einzige Signal, dass Hadrian unter Stress steht: Der Tonumfang geht bei Pergolesi von h bis gis’’. Dies scheint eigentlich untypisch für das normale Sprachverhalten zu 53 Wie oben entspricht jeder Abschnitt einer musikalischen Pause. Der doppelte Schrägstrich zeigt eine extrem lange Pause an, die vom Zuhörer mühelos als stark und markiert erfasst wird.). »Von den Lippen, die in dir so süße Leidenschaft entfachen,/ hängt dein Schicksal ab, hängt mein Schicksal ab und/ auch mein Schicksal und mein Schicksal auch/ von den Lippen / welches abhängt/ von den Lippen/ hängt/ hängt dein Schicksal ab// flüsternd: und mein Schicksal auch./ Ja/ hängt ab// dein Schicksal/ dein Schicksal/ Laut: und mein Schicksal auch. « 54 Vgl. Andrew Crider: »Perseveration in Schizophrenia«, in: Schizophrenia Bulletin, 23.1 (1997), S. 63−74.

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sein. Menschen unter Druck tendieren aber dazu, einen Tonumfang zu gebrauchen, der sich deutlich vom normalen Sprachgebrauch unterscheidet, da in solchen Fällen die Muskulatur angespannt ist. Dadurch wird die Stimme höher. Auch wird der Sprachduktus beschleunigt. Ebenso tendieren Menschen, die sich des Stresses bewusst sind dazu, ihn zu kontrollieren: Meist spricht man dann langsamer und tiefer. In überzogener Form zeigt die Arie alle sprachlichen Aspekte auf, die typisch für gestresste Personen sind.55 Osroa zieht die richtigen Schlüsse (Adriano in Siria, I, 2): »Comprendesti, o Farnaspe,/ d’augusto i detti? Ei, d’Emirena amante,/ di te parmi geloso, e fida in lei./ Amasse mai costei/ il mio nemico? Ah, questo ferro istesso/ innanzi alle tue ciglia/ vorrei... No, non lo credo. Ella è mia figlia.« (Hast du Hadrian verstanden, Farnaspe? Er, verliebt in Emirena, scheint auf dich eifersüchtig zu sein. Er vertraut ihr. Sollte sie wirklich meinen Feind lieben? Ah, dieses Schwert möchte ich gerne vor deinen Augen... Nein, ich glaube es nicht. Sie ist meine Tochter). Im Ottocento wird der Arien-Teil immer dynamischer, komplexer, ohne dass die ursprüngliche Struktur radikal verändert wird: (a) (b) (c) (d) (e)

Rezitativ → Arie Rezitativ → Tempo d’attacco → Cantabile Rezitativ → Tempo d’attacco → Cabaletta Rezitativ → Tempo d’attacco → Cantabile → Tempo di mezzo → Cabaletta Chor/Ballett/Szene/Aria/ Duett → Tempo d’attacco → Tempo di mezzo → Stretta (Caballetta) [das Central Finale, gemäß Powers (1987)]56

Die orientierte Abfolge von der Dialogbereitschaft zum Kommunikationsabbruch bleibt bestehen: Die Arie selbst wird aber dynamischer, da sie in zwei Teile gegliedert wird, die untereinander ebenso in einem Spannungsverhältnis stehen, das meist durch die Tempi d’attacco und di mezzo noch verschärft wird.

55 Vgl. John H.L. Hansen/ Sanjay A. Patil: Speech Under Stress: Analysis, Modeling and Recognition, (January) 2007, und Elisabeth Zetterholm: Prosody and Voice Quality in the Expression of Emotions. Paper presented at the Proceedings of the Seventh Australian International Conference on Speech Science and Technology 1998. 56 Vgl. Powers: »La solita forma« and »The Uses of Convention«, S. 69. Das Tempo di mezzo und/oder das Tempo d’attacco können fehlen. Auch gibt es Fälle mit zwei Cantabili und Tempi di mezzo vor der Schluss-Cabaletta.

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Hier wird ebenfalls das Publikum geleitet: Die rezitativischen Teile sind besser verständlich. Wiederholungen werden auf das dialogtypisch Nachvollziehbare beschränkt, der Ablauf ist dynamisch, während die Arien durch Wiederholungen, durch das Ausloten der äußersten Stimmlagen als auch die periodisch-symmetrische Struktur der Musik gekennzeichnet sind. Die Tabelle in Anhang 1 fasst dies zusammen. Beispiel 4 gibt die Scena e Aria aus Norma (I, 4) wieder.57 Die Römer Pollione und Flavio (der Prokonsul Galliens und sein Freund) befinden sich in einem heiligen Hain der Kelten58 . Sie wissen, dass sich die Kelten nach der eben beendeten Versammlung entfernt haben. Flavio ist erstaunt: Pollione liebt scheinbar nicht mehr Norma, die Mutter seiner Söhne und Hohepriesterin der Gallier. Pollione hat sich in eine andere Priesterin verliebt: Adalgisa. Flavio möchte wissen, ob diese Liebe gegenseitig sei und ob Pollione nicht die Wut Normas fürchte. Pollione bestätigt dies: er spüre »extreme Reue«. Er habe gar von Norma geträumt. Dies wird im Cantabile erzählt: Das veränderte Sprachprofil59 wird indexikalisch mit einem Stilwechsel (vom Rezitativ zum Cantabile) bewerkstelligt. Da das Erzählen zwar implizit keine Dokumentation ist, aber dennoch Gefühle erregt, ist dieser Übergang zwar deutlich linear, die Wiederholungen häufen sich aber nicht über Gebühr, sondern entsprechen einer »mittleren Norm« für eine Arie60. Das heilige Erz ertönt. Neues geschieht und muss erarbeitet werden, man wechselt zum Tempo di mezzo: Flavio unterbricht Pollione und sagt ihm, dass man den Hain verlassen muss. Der musikalische Profilwechsel zeigt, dass die Emotionalität steigt, Pollione ziert sich aber. Er wollte ja noch Adalgisa treffen. Er verliert

57 Vgl. Felice Romani: Norma, Milano: Truffi e comp 1831. 58 Romani, ein studierter Mythenforscher (so ist er Mitautor des Dizionario d’ogni mitologia e antichità, da er eigentlich die akademische Laufbahn einschlagen wollte), vgl. Maeder: »Ansätze zu einer dramatischen Theorie des italienischen Opernverses«, übernimmt einen Fehler aus dem von ihm und anderen herausgegebenen Dizionario, vgl. Girolamo Pozzoli/ Felice Romani/ Antonio Peracchi: Dizionario d'ogni mitologia e antichità, Milano: Batelli e Fanfani 1809-1825: Irminsul ist ein sächsisches Heiligtum (eine Säule oder Esche), also germanisch und nicht keltisch. 59 Vgl. Lo Cascio: Grammatica dell'argomentare, S. 17. 60 In einer Arie sind Wiederholungen strukturell bedingt. So ist es zu Pergolesis Zeiten üblich, eine Einheit (zum Beispiel den Schluss der ersten Strophe) mit einer Triplikation des Schlussverses oder des Schluss-Syntagmas zu beenden. Dies wirkt wie ein Punkt in einem Satz. Wenn aber der Schluss mehr als dreimal iteriert wird, die einzelnen Unterteile wie Silben oder Wörter zusätzlich wiederholt werden, dann kann man es nicht mehr einer »mittleren Norm« zuschreiben, sondern muss es als Ausdruck der (meist zeitlich begrenzten) verminderten Zurechnungsfähigkeit der Figur auf der Bühne erachten.

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die Nerven und stimmt die Caballetta an: Me protegge, me difende. Grundsätzlich behauptet er in der Arie, dass lediglich die Liebe zähle und er die Barbaren vernichten werde. Beispiel 4 Escono quindi da un lato Flavio e Polline guardinghi e ravvolti nelle lor toghe.

SCENA II POLLIONE FLAVIO POLLIONE FLAVIO POLLIONE

FLAVIO POLLIONE

FLAVIO POLLIONE FLAVIO POLLIONE FLAVIO POLLIONE

Svanir le voci; – E dell’orrenda selva Libero è il varco. In quella selva è morte Norma tel disse. Profferisti un nome Che il cor m’agghiaccia. Oh! che di’ tu? L’amante! … La madre de’ tuoi figli! … A me non puoi Far tu rampogna, ch’io mertar non senta; Ma nel mio core è spenta La prima fiamma, e un Dio la spense, un Dio Nemico al mio riposo a’ piè mi veggo L’abisso aperto, e in lui m’avvento io stesso. Altra ameresti tu? Parla sommesso. Un’altra, sì … Adalgisa … Tu la vedrai … Fior d’innocenza e riso, Di candore e di amor. Ministra al tempio Di questo Iddio di sangue, ella vi appare Come raggio di stella in ciel turbato. Misero amico! E amato Sei tu del pari? Io n’ho fiducia. E l’ira Non temi tu di Norma? Atroce, orrenda, Me la presenta il mio rimorso estremo … Un sogno … Ah! Narra. In rammentarlo io tremo. SCENA – RECITATIVO Meco all’altar di Venere Era Adalgisa in Roma, Cinta di bende candide, Sparsa di fior la chioma; Udia d’Imene i cantici,

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Vedea fumar gl’incensi, Eran rapiti i sensi Di voluttade e amor. Quando fra noi terribile Viene a locarsi un’ombra : L’ampio mantel druïdico Come un vapor l’ingombra; Cade sull’ara il folgore, D’un vel si copre il giorno, Muto si spande intorno Un sepolcrale orror. Più l’adorata vergine Io non mi trovo accanto; N’odo da lunge un gemito Misto de’ figli al pianto … Ed una voce orribile Echeggia in fondo al tempio: – Norma così fa scempio D’amante traditor! CANTABILE (Squilla il sacro bronzo) FLAVIO DRUIDI lontani FLAVIO POLLIONE

Odi? … I suoi riti a compiere Norma dal tempio move. Sorta è la Luna, o Druïdi. Ite, profani, altrove. Vieni … fuggiam … sorprendere, Scoprire alcun ti può. Traman congiure i barbari, Ma io li preverrò! TEMPO DI MEZZO

POLLIONE

Me protegge, me difende Un poter maggior di loro È il pensier di lei che adoro, È l’amor che m’infiammò. Di quel Dio che a me contende Quella virgine celeste, Arderò le rie foreste, L’empio altare abbatterò. (part. rapid.) CABALETTA

Wie man es voraussehen kann, wird dies nicht der Fall sein. Man merkt, dass der Protagonist nicht gerade seinen Verstand gebraucht, im Gegensatz zu Flavio. Anstatt seinen Pflichten nachzukommen oder zumindest als intelligenter und integrer Prokonsul zu agieren, kommuniziert er nicht, sondern

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unterbricht jegliche vernünftige Konversation im Namen der Liebe. Dass innerhalb der typischen Parabelinterpretation61 die Kelten/Germanen für die unterdrückten Italiener im frühen Ottocento stehen, dass auch Norma sich durch persönliche Gefühle leiten lässt, anstatt sich ihrer Pflichten zu erinnern, dass überhaupt die Führerfiguren allesamt versagen, da sie ihr subjektives Empfinden zum Handlungsmaßstab nehmen und ihr persönliches Wohlergehen der Nation und der Gesellschaft überhaupt vorziehen, ist typisch für die italienische Oper im Ottocento: Man kann darin durchaus einen kulturellen Metadiskurs sehen, der die italienische Oper auszeichnet und deren kritische, patriotische Funktion ersehen lässt.62 Das Heroische (»ich werde die Barbaren besiegen, damit die Liebe siegreich ist«) wird in seiner Banalität bloßgestellt. Da durch verschiedene Zeichen die »germanischen Kelten« als Unterdrückte dargestellt werden, die ebenso durch ihre Führerin, die verliebte Norma, an ihrem Befreiungskampf gehindert werden, ist es ein Einfaches, eine Risorgimento-Parabel auszudenken: Sie entsprechen den Italienern, die auf »bewusste Führungsgestalten« verzichten müssen, da diese persönlichen Interessen nachstreben, anstatt ihren Verpflichtungen nachzukommen. Überhaupt findet man selten Führungspersönlichkeiten in Libretti des Ottocento, die sich zusammenreißen und sich wirklich für die Allgemeinheit einsetzen. Musikalisch wird dies noch deutlicher: Bellini, als Leser, Interpret und Neuschöpfer des Libretto legt das Cantabile, eine »Erzählung«, musikalisch so an, dass das Textverständnis nicht stark beeinträchtigt wird. Die Leidenschaftlichkeit des Diskurses scheint zwar durch, eine Klimax wird aber nicht erreicht. In der Cabaletta ist dies nicht mehr der Fall: Pollione, aus Reue, Scham, Dummheit, Geilheit oder falsch verstandenem Heroismus, gibt sich seinen Leidenschaften hin und zeigt dem Publikum, dass er inkompetent ist. Dieses Verhalten – das Zurückgreifen auf Banalitäten, wie dass die Liebe siegen wird – ist typisch für Personen unter Stress: wenn man keine Zeit hat neue Argumente zu ersinnen oder wenn man schlichtweg keine Argumente hat, dann tendiert man dazu, Allgemeinplätze zu gebrauchen, da diese automatisch in den Sinn kommen.63 61 Vgl. Turner: The literary mind. 62 Vgl. Costantino Maeder: »Il Trovatore, Senso, Visconti e i soggetti incompetenti«, in: I. Pezzini (Hrsg.): Passioni collettive. Cultura, politica e società Roma: Edizioni Nuova Cultura 2012ª, S. 154−178, und C.M.: »Ironia e rifiuto della memoria culturale: L'Aida« (1953, C. Fracassi), in: Il lettore di provincia 139 (2012b), Numero speciale: Dal testo teatrale al film, a c. di Eusebio Ciccotti, S. 41−53. 63 Vgl. Eugen Bleuler: Dementia praecox, New York: International Universities Press 1950 und C. Neisser: »Über das Symptom der Verbigeration«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 46 (1889), S. 168−232.

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Die Schluss-Szenen des dritten Aktes des Trovatore (Sz. 5–6) sollen als letztes Beispiel dienen. Manrico und die Seinen sind in Castellor von den Truppen des Grafen Luna umzingelt. Manrico gesteht Leonora, dass wahrscheinlich noch im Morgengrauen zum Sturm auf die Festung gerufen wird. Manrico gibt Ruiz den Befehl, die Verteidigung vorzubereiten. Leonora ist erschüttert: Sie fühlt, dass ihre bevorstehende Hochzeit unter keinem guten Stern steht. Manrico antwortet, dass man dem Schicksal nicht entgehen kann und dass er zwar zu siegen gedenke, der Tod aber insofern nicht zu schlimm sei, da man sich ja dann im Himmel treffe. Aus der nahen Kapelle ertönen Orgelklänge. Beide fühlen, wie die mystischen Klänge in ihre reinen Herzen hinabsteigen. Sie hoffen nun, dass ihnen die Hochzeit die Freuden der tugendhaften Liebe aufschließe. Ruiz unterbricht die beiden und eröffnet ihnen, dass Azucena durch die Truppen Lunas gefangen genommen wurde und nun auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden soll. Manrico ist entsetzt. Zitternd und bebend enthüllt er Ruiz und seiner verdutzten Verlobten, dass die Zigeunerin seine Mutter sei. Er gibt Ruiz den Befehl, seine Soldaten zu versammeln. Der Scheiterhaufen solle mit Blut der Feinde gelöscht werden. Er sei schließlich Azucenas Sohn, noch bevor er sich in sie, Leonora, verliebt habe. Er werde seiner Mutter zu Hilfe kommen oder zumindest mit ihr sterben. Die Soldaten erscheinen und unterstützen ihn: sie wollen mit ihm kämpfen und mit ihm sterben. Verdi sieht in Cammaranos Libretto64 folgende Strukturierung: (a)

Ein Rezitativ (Versi sciolti): dieses ist unterbrochen durch das Abtreten von Ruiz. Dies gestattet es Manrico und Leonora alleine zu sein. (b) Es folgen dann isometrische Abschnitte. Auch hier unterbricht eine Szenenangabe den Redefluss. (i) Der erste Abschnitt besteht aus zwei Strophen in Settenari: die erste besteht aus zehn Versen, die zweite aus zwei. Manrico singt beide Strophen. (ii) Der zweite Abschnitt besteht wiederum aus zwei Strophen von Settenari: es ist ein Duett zwischen Manrico und Leonora. Der Übergang wird durch das Erklingen einer Orgel ausgelöst. (iii) Es folgt eine neue Sequenz in Settenari. Auslöser ist das Erscheinen von Ruiz. Er bringt neue Information. Die Settenari werden dialogiert geschrieben, sie unterscheiden sich also optisch von den vor-

64 Vgl. Salvatore Cammarano: Il trovatore, Milano: Ricordi 1853.

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hergehenden Settenari. Die Punkte B und C enthalten dieselbe Reimstruktur. (iv) Ruiz verlässt die Bühne: Manrico singt nun vier zweiversige Strophen, diesmal in doppelten Quinari. Eleonora singt zum Schluss auch eine zweiversige Strophe im selben Versmaß. Zur Schlussstrophe gesellen sich Ruiz und die Soldaten. Verdi erkennt, dass (b.i) und (b.ii) das Cantabile formen, (b.iv) die Cabaletta, während (b.iii) den Übergang Tempo di mezzo bildet. Die Sektion (a) ist das Rezitativ. Der Abgang Ruiz’ entspricht einem neuen Übergang: Leonora und Manrico sinnieren über ihre Situation. Sie sollten jetzt heiraten, aber die Ereignisse überstürzen sich. Der Inhalt des Rezitativs ist stark gefühlsgeladen. Man spricht noch, aber die Gefühle nehmen langsam überhand. Obwohl nicht metrisch determiniert, wählt Verdi nach dem Abgang ein neues musikalisches Profil, das Tempo d’attacco, welches das Cantabile vorbereitet: Das Orchester spielt nun eine größere Rolle. Die Stimmführung ist durch größere Intervallweite gekennzeichnet. Dies mündet dann in das Cantabile, metrisch determiniert. Es folgen zwei Strophen, die im Duett gesungen werden. Der Übergang ist szenisch (man hört Orgelklänge) und metrisch bestimmt. Das Cantabile hat zwei aufeinanderfolgende, musikalisch distinkte Profile. Darauf kehrt Ruiz zurück: Das Tempo di mezzo beginnt. Ruiz bringt Neuigkeiten: Die Zigeunerin Azucena sei gefasst worden und solle auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Manrico verliert die Fassung. Er enthüllt, dass er ihr Sohn sei. Er lässt seine Soldaten rufen. Nun beginnt der Cabaletta-Teil. Dies bestätigt vollends, dass Manrico außer sich geraten ist. Das überhastete Vorgehen wird den Untergang von Castellor zur Folge haben. Es fällt dabei auf, dass sowohl Manrico als auch seine Soldaten nicht wirklich an den Erfolg glauben. Sie handeln fast mit der Sicherheit, sterben zu müssen (Beispiel 5). »Di quella pira« (von diesem Scheiterhaufen) widerspricht musikalisch den in der Cabaletta geäußerten Inhalten: Die Leidenschaften haben den Verstand Manricos vernebelt. Die Entscheidung ist falsch. Auch sprachlich ist dies ersichtlich in der musikalischen Umsetzung. Konsequent setzt Manrico die Akzente falsch: Stets wird die letzte Silbe verlängert und so unterstrichen: pirá, statt píra, focó statt fóco, fibré statt fíbre etc. Und nicht nur das: Er unterteilt seine Aussagen nicht in gleichmäßige Teile, sondern verbindet mehrere Verse miteinander. Leonora hingegen, obschon durch die Situation emotional geladen, wiederholt bloß zwei Mal einen ganzen Vers, wobei der Duktus rezitativähnlich ist: Die Akzente sind korrekt und die Inhalte

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bleiben für das Publikum verständlich (falls die Sängerin klar artikuliert). Manrico sowie Ruiz und die Soldaten, die sich im zweiten Teil dazugesellen, haben die Beherrschung verloren. Beispiel 5 Cammarano (1853, S. 31) MAN. Di quella pira l’orrendo foco Tutte le fibre m’arse, avvampò!... Empi, spegnetela, o ch’io fra poco, Col sangue vostro la spegnerò… Era già figlio, prima d’amarti, Non può frenarmi il tuo martir!... Madre infelice, corro a salvarti, O teco almeno corro a morir! LEO. Non reggo a colpi tanto funesti... Oh quanto meglio saria morir! Verdi (s.d. / 1994) MAN. Di quella piˈra__ l’orrendo foˈco__ Tutte le fiˈbre__ m’arse, avvampò!... Empi, spegneteˈla__ˈ, o ch’io fra poˈco__ Col sangue voˈstro__ LA SPEGNERÒ...// Era già fiˈglio__ prima d’amarˈti__, NON PUÒ FRENARˈMI__ IL TUO [MARTIR__. Madre infeliˈce__, corro a salvarˈti__, O teco almeˈno__ CORRO A [MORIR__! O te__co almen coorro a__ morir O te__co almen O te______co a mo__rir LEO: Non reggo a col__pi tanto funesti... Oh, quanto me__glio sarìa_____ morir! Oh, quanto me_______glio sarìa morir! Rit. MAN. Di quella piˈra__ l’orrendo foˈco__ Tutte le fiˈbre__ m’arse, avvampò!... Empi, spegneteˈla__, o ch’io fra poˈco__ Col sangue voˈstro__ LA SPEGNERÒ...// Era già fiˈglio__ prima d’amarˈti__, NON PUÒ FRENARˈMI__ IL TUO [MARTIR__. Madre infeliˈce__, corro a salvarˈti__, O teco almeˈno__ CORRO A MORIR__! O te__co almen coorro a__ morir O te__co almen O te______co a mo__rir (Ruiz torna con Armati) RUIZ, ARMATI All’armi, all’armi! all’armi! alL’ARMI! Man. Madre infelice R. e ARM. ↑ all’armi! ↓ all’armi!

192 | COSTANTINO MAEDER all’armi! all’ARMI! MAN. ↑Corro a salvar___ti__, o teco almeen, o teco almen__corro a morir R.e ARM. ↑Ec____co__ne presti A pu___gnar teco, o [te___co___ a morir. RUIZ, ARMATI All’armi! all’armi! all’armi! alL’ARMI! MAN. ↑ Madre infelice TUTTI. ↑ All’armi! all’armi! all’armi! all’ARMI! MAN ↑Corro a salvar____ti__, o teco almen__, o teco almen__ corro a morir R.e ARM. ↑Ec____co__ne presti A pu___gnar teco, o [te___co___ a morir. MAN. All’ar____mi R.e ARM ↑All’armi MAN. All’ar____mi R.e ARM ↑All’armi MAN. All’ar_____________________________________________mi R. e ARM ↑ All’armi all’armi all’armi, all’ar____________________mi

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Kursive Passagen: hinzugefügter Text. ˈ vor einer Silbe: die eigentlich unbetonte Silbe erhält einen markanten Hauptakzent. Unterstrich: Koloratur: eine Silbe wird auf verschiedenen Noten gesetzt. Meist hat eine Arie einen bestimmten Grundrhythmus. So kann eine Viertelnote die Grundlänge für eine Silbe darstellen. Falls diese Silbe auf zwei Achtelnoten verteilt wird, hat dies keinen direkten Einfluss auf den Grundrhythmus. Falls eine Silbe aber auf sechzehn Sechzehntelnoten verteilt wird, dann ist dies markiert. Unterstrich __ nach einer Silbe: die Silbe ist stark verlängert, hebt sich so vom normalen Duktus ab. Gepünktelter Unterstrich: monotone Stimmführung, die Stimme bleibt hauptsächlich auf der selben Note, die Notenlänge ist meist einheitlich. MAJUSKELN: relative Verlangsamung durch größere Notenwerte, die einen Vers oder Versabschnitt determinieren. Fett: die Silbe folgt nach einem großen Intervallsprung nach oben oder nach unten oder ein großer Intervallsprung findet innerhalb der Silbe statt. Zeilenende in der rechten Spalte zeigt ein Pause an und damit das Äußerungsende. [ zeigt an, dass der folgende Text zur vorhergehenden Zeile gehört. // Lange Pause: Ende einer größeren Einheit, die meist mehrere Äußerungen zusammenfasst. Rit. : längerer orchestraler Übergang.

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Introd.: orchestrale Einführung ↑ zeigt an, dass folgende Textstellen mit der vorherigen Stimme teils überlappen.

Die drei Beispiele zeigen auf, dass die klar gegliederte Abfolge diagrammatisch die verschiedenen Abläufe unterteilt. Die Form spiegelt emotionale Entwicklungen wider. Die Handlung wird dadurch gegliedert. Jede musikalische Veränderung wird im Libretto durch die Metrik oder durch Bühnenanweisungen (eine Person tritt auf, man hört Glocken etc.) bestimmt. Zentral ist, dass jeder Abschnitt einfach und unmittelbar durch ein gewöhnliches Publikum erfasst werden kann, da die Übergänge auf grundlegenden kognitiven Signalen beruhen. Die unkomplizierte, simple Gliederung kommentiert und konnotiert die Handlung, aber auch einen kompletten Gesprächsakt, dessen Schluss immer im relativen Überborden der Gefühle endet, als ob Solches der Hauptzweck jedes Dialoges sei: Durch das Jahrhunderte lange Wiederholen desselben Ablaufes kann man tatsächlich davon ausgehen, dass es einen Einfluss auf den Sprachgebrauch in Italien (und nicht nur dort) gehabt hat. Vornehmlich entspricht dieser Schlussakt dem Ende der Dialogbereitschaft: Wer eine Arie singt, erwartet keine Antwort. Der Zuhörer weiß außerdem, wann er jedes Wort verstehen muss (in den rezitativischen Teilen), um der Handlung folgen zu können oder wann dies eben nicht der Fall ist (in den Cantabiles und den Cabaletten, wo nicht der einzelne Vers oder die einzelnen Äußerungen wirklich zentral sind, sondern der Ausdruck, die grobsemantischen Einheiten). Dabei geht es um Tendenzen: Arien sind nicht alle gleich stark emotional aufgeladen und können grundsätzlich auch in all ihren sprachlichen Inhalten verständlich sein, müssen es aber nicht. Ein Herrscher kann leicht erregt sein, was ein Arienprofil konnotiert, kann sich aber noch teilweise kontrollieren. Ein Priester kann ein Gebet anstimmen. Das Erhabene wird durch ein Arienprofil konnotiert, ebenso öffentliche Handlungen, wie Regierungserklärungen oder Beschlüsse. Das Anderssein gegenüber den normalen Sprechakten wird musikalisch stets durch ein neues Profil repräsentiert.

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IX. MUSIK ALS METASPRACHLICHE DIMENSION, FIGURATIVE UND DIAGRAMMATISCHE IKONIZITÄT Ich fasse zusammen: Wie oben angegeben sind metrische Übergänge wichtige indexikalische Zeichen, die ein Libretto strukturieren. Die geordneten Segmente, die entstehen, werden in geordnete Sequenzen zusammengefügt, die klar definierbaren Gesetzmäßigkeiten unterstellt sind. Dies ist ein Zeichen diagrammatischer Ikonizität. Die einzelnen Segmente sind wiederum ikonisch, was den Sprachgebrauch angeht.65 Daraus folgt: (a)

Die Abfolge von Szene und Arie, später von Szene und multisektioneller Arie, impliziert einen geordneten Ablauf (»zuerst-dann«,66 der durch einen Zuschauer/Leser sofort erkannt wird. Da dieser Ablauf die Handlung determiniert, kann man Parallelismen und folglich Regelmäßigkeiten erkennen. Diese Regelmäßigkeiten sind metasprachlicher und pragmatischer Natur. (b) Das Rezitativ ist figurativ ikonisch, da es die Sprachprosodie wiedergibt. (c) Arien sind diagrammatisch ikonisch. Oben (hoch) und unten (tief) werden zum Beispiel gebraucht, um Symbole musikalisch umzusetzen. Schwer (viele Noten, das komplette Orchester und alle Stimmen) und leicht (wenige Noten, reduziertes Orchester, wenige Stimmen) werden ebenso symbolisch gebraucht etc. (d) Die Arie ist auch figurativ ikonisch: obschon die Arie selten direkt die Prosodie eines Sprechers imitiert, so stimmen viele Konstituenten von Arien mit dem Sprachverhalten von Menschen überein, die unter psychischem oder körperlichem Stress leiden. Dies ist umso offensichtlicher, je mehr sich eine Arie musikalisch vom normalen Sprechgesang unterscheidet. Je stärker sich die Emotionen aufstauen, desto mehr dominiert die Musik, wobei systematisch der normale Sprechgesang durchbrochen wird. Folgende Phänomene treten dann immer häufiger auf: (i) Silben können auf sehr viele kurze Noten verteilt werden. (ii) Silben können auf eine äußerst lange Note gesetzt werden.

65 In diesem Kontext gehen wir nicht auf figurativ ikonische Elemente ein, die in der Begleitung auftreten können und nicht den Sprachgebrauch konnotieren oder darstellen. So kann das Orchester die Natur nachahmen: das Rauschen der Bäche, einen Sturm oder den Galopp eines Pferdes. 66 Vgl. Nänny: Iconic Dimension in Poetry.

IKONISCHE STRUKTUREN IN DER ITALIENISCHEN OPER

(e) (f)

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(iii) Wörter können (systematisch) gewollt falsch betont werden. (iv) Strophen, Sätze, Satzteile, Wörter, Wortteile, Silben werden wiederholt. (v) Der Sprechduktus wird durch große Intervallsprünge durchbrochen, häufig an nicht vorhergesehenen Stellen. (vi) Randlagen (extrem hoch oder extrem tief) stellen meist die markanten Stellen dar. (vii) Dies gilt auch für die Lautstärke (forte fortissimo und piano pianissimo). In einer Arie sind ebenso ein stark reduziertes Orchester als auch das Tutti markiert. Je musikalischer67 eine Arie ist, desto weniger Informationen enthält der Text. Ebenso sieht man, dass die Inhalte banaler werden, teilweise auf simplen Gemeinplätzen beruhen. All diese Phänomene, auch wenn sie teils diagrammatisch ikonisch überhöht werden, sind in ihrem Innersten figurativ ikonisch: Sie imitieren typische Eigenheiten von Menschen, die unter emotionaler oder körperlicher Anspannung leiden: (i) Die Muskeln, die für den Sprechapparat zuständig sind, sind angespannter: dadurch verändert sich die Stimmhöhe (meist spricht man unter Anspannung »höher« als gewohnt). Ein übertriebenes Verlangen, ruhig zu erscheinen, um sich ein »staatsmännischeres« oder »souveräneres« Erscheinungsbild zu geben, kann in ein bewusstes Aufsuchen tieferer Sprechlagen zur Folge haben. (ii) Stottern oder das Wiederholen von Sätzen sind typische Merkmale dafür, dass der Sprecher unsicher ist, dass er sich nicht unter Kontrolle hat, wiederum typische Zeichen von Anspannung.

67 Die Kategorie »musikalisch« vs »nicht musikalisch« bezieht sich auf eine traditionelle, klassisch orientierte und stereotype Musikauffassung. Im Gegensatz zum Rezitativ und anderen Musikformen, die auf Sprechgesang oder auf Lauten und Geräuschen beruhen und mithin häufig als „organisierter Lärm« oder eben als unmusikalisch empfunden werden, wurden Arien und Lieder im Volksmund bis vor kurzem als »musikalisch« angesehen. Dass Rap oder Dodekaphonie und andere Musikformen ebenso »musikalisch« sind, stellen wir selbstverständlich nicht in Frage. Die Unterscheidung zwischen »musikalischen« und »nicht musikalischen« Teilen in der Oper findet sich schon früh in Dokumenten aus dem 17. Jahrhundert. Im Gegensatz zum Rezitativ, welches die gesprochene Sprache imitiert, gelten in einer Arie andere Gesetze: die Melodie mit ihrer häufig symmetrischen, sich wiederholenden Struktur ist wichtiger als die exakte Wiedergabe eines sprachlich korrekt ausgesprochenen und formulierten Satzes. In der Arie herrscht meist der Belcanto vor, wobei die Schönheit des rein Stimmlichen zentral ist.

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(iii) Die Inhalte von vielen Arien sind häufig nicht gerade philosophische Höhepunkte: ein weiteres typisches Zeichen. Menschen unter Stress tendieren dazu, auf vorgefertigte Phrasen und Gemeinplätze zurückzugreifen, da man in vielen Situationen nicht schlagfertig und schnell intelligente und adäquate Inhalte in kohärente Sätze umsetzen kann. (iv) Die Lautstärke und »das sich dem Gesprächspartner verweigern« sind ebenso gekoppelt: wer laut ist (was mehrheitlich der Fall ist, wenn man eine »Arie singt«) versucht, den Gesprächsakt zu seinen Gunsten zu beenden: man denke an italienische Polit-Diskussionen der letzten Jahre, wo scheinbar die Lautstärke, das Niederschreien des Gegners als Argument gehandhabt wird, und nicht die dialektische Diskussion. Wenn also die Begründung alleine nicht zureichend ist, verlagert man sich auf das Emotionale und das Physische. Eine italienische Oper ist in diesem Sinne metasprachlich, da sie kohärent aufgebaut ist und diese Strukturen in Tausenden von Opern während mehr als zwei Jahrhunderten wiederholt hat: Sie ordnet, charakterisiert und formalisiert Sprache und Sprachgebrauch, im Gegensatz zu einer freien Interpretation, die fließend, ad hoc, auf der Mikroebene Sprache mit Musik verbindet (wie dies in einigen veristischen Opern der Fall ist (Ruggero Leoncavallo, Zazà) oder in einigen französischen Opern wie Claude Debussys Pelléas et Mélisande). Die italienische Oper konzentriert sich auf das Sprachverhalten, das das Erspüren von Leidenschaften unterstreicht: Jeder Kommunikationsakt (Scena e Aria) mündet zwangsläufig in einen Ausbruch von Emotionen. Ein Dialog zwischen mehreren Personen ergibt immer einen Überschuss an Leidenschaft und folglich einen Dialog-Abbruch, da starke Gefühle die effiziente Kommunikation behindern. Das insistierende Wiederholen dieser Strukturen in der italienischen Oper ermöglicht es außerdem, im Umkehrschluss zu folgern, dass Sinn und Zweck eines Dialoges sind, Leidenschaften zu erfahren, und nicht, Wissen oder Informationen zu vermitteln. Da die Arie immer den Schlusspunkt darstellt, ist das Anderssein, das Sich Differenzieren ein anderer wichtiger Aspekt der Kommunikation: es ist quasi Pflicht, jeden Sprechakt mit dem Anderen zu beenden, also das Andere, das Sprengen der Norm, das Fühlen des Außerordentlichen, egoistisch und subjektiv zu sein. Dass genau dies an der italienischen Oper in der Regel kritisiert wurde, die Kritik als solche auch erkannt wurde, z. B. in der Eröffnungsszene von Viscontis Senso, ist durch die ständige Wiederholung aber sekundär gewor-

IKONISCHE STRUKTUREN IN DER ITALIENISCHEN OPER

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den. Wie Lidia, in Senso, die durch die Gemütsausbrüche manipuliert wird und nun ebensolches erfühlen und erfahren will, so ist dies bei manchem Zuschauer auch geschehen.68

68 Vgl. Maeder: »Il Trovatore, Senso, Visconti e i soggetti incompetenti«.



ARIE

symbolisch Ausarbeitung von Melodien

figurativ ikonisch: Imitation der Sprechkadenz

figurativ Ikonisch: Imitation typischer Sprachprobleme (sprachlicher Phänomene?), die unter Stress entstehen können

Melodisch

Prosodisch

Isometrische Blöcke, strenges Reimschema

Orchester

versi sciolti oder isometrischer Block, festes Reimschema

reduziertes Orchester

versi sciolti

reduzierte Kommunikation wenig bis keine neuen Informationen ein Sprechakt dominiert Emotionen dominieren

Dialog, Diskussion, Informationsaustausch Neue Information + rational ! + Spannung (die Spannung nimmt zu, auch musikalisch, und mündet dann ins Cantabile etc.)

Cantabile Aria

Tempo d’attacco

Rezitativisch

Rezitativ

REZITATIV

symbolisch Ausarbeitung von Melodien

figurativ ikonisch: Imitation der Sprechkadenz

figurativ Ikonisch: Imitation typischer Sprachprobleme (sprachlicher Phänomene?), die unter Stress entstehen können

Melodisch

Orchester

isometrische Blöcke, strenges Reimschema

reduzierte Kommunikation wenig bis keine neuen Informationen ein Sprechakt dominiert Emotionen dominieren

Aria

Cabaletta

Prosodisch

reduziert

isometrische Blöcke, Reimschema

Dialog, Diskussion, Informationsaustausch Neue Information + rational + kinetisch + Spannung

Rezitativisch

Tempo di mezzo

figurativ ikonisch: Imitation der Sprechkadenz

Prosodisch

reduziertes Orchester

versi sciolti

Übergang zur nächsten Scena e aria

[rezitativisch]

Fade out

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ANHANG 1

IKONISCHE STRUKTUREN IN DER ITALIENISCHEN OPER

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ANHANG 2 ADRIANO IN SIRIA LIBRETTO

EXZERPIERTER TEXT

AQ. Chiede il parto Farnaspe di presentarsi a te. ADR. Venga e s’ascolti.

AQ. Chiede il parto Farnaspe di presentarsi a te. ADR. Venga e s’ascolti. (Aquilio passa il ponte. Adriano sale sul trono e parla in piedi)

(Aquilio passa il ponte. Adriano sale sul trono e parla in piedi) Valorosi compagni, voi m’offrite un impero non men col vostro sangue che col mio sostenuto, e non so come abbia a raccoglier tutto de’ comuni sudori io solo il frutto.

Ma se al vostro desio contrastar non poss’io, farò che almeno nel grado a me commesso mi trovi ognun di voi sempre l’istesso. A me non servirete: alla gloria di Roma, al vostro onore, alla pubblica speme, come fin or, noi serviremo insieme. (siede) FAR. Nel dì che Roma adora il suo cesare in te, dal ciglio augusto, da cui di tanti regni il destino dipende, un guardo volgi al principe Farnaspe. Ei fu nemico; ora al cesareo piede l’ire depone, e giura ossequio e fede.

OSR. Tanta viltà, Farnaspe, necessaria non è… ADR. Madre comune d’ogni popolo è Roma, e nel suo grembo accoglie ognun che brama farsi parte di lei. Gli amici onora, perdona a’ vinti, e con virtù sublime

Valorosi compagni, voi m’offrite un impero non men col vostro sangue che col mio sostenuto, e non so come abbia a raccoglier tutto de’ comuni sudori io solo il frutto. Ma se al vostro desio contrastar non poss’io, farò che almeno nel grado a me commesso mi trovi ognun di voi sempre l’istesso. A me non servirete: alla gloria di Roma, al vostro onore, alla pubblica speme, come fin or, noi serviremo insieme. // (siede) FAR. Nel dì che Roma adora il suo cesare in te, dal ciglio augusto, da cui di tanti regni il destino dipende, un guardo volgi al principe Farnaspe. Ei fu nemico; ora al cesareo piede l’ire depone, e giura ossequio e fede. OSR. Tanta viltà, Farnaspe, necessaria non è… ADR. Madre comune d’ogni popolo è Roma, e nel suo grembo accoglie ognun che brama farsi parte di lei. Gli amici onora, perdona a’ vinti, e con virtù sublime

200 | COSTANTINO MAEDER gli oppressi esalta ed i superbi opprime. OSR. (Che insoffribile orgoglio!) FARNASPEUn atto usato dalla virtù romana vengo a chiederti anch’io. Del re de’ Parti geme fra’ vostri lacci prigioniera la figlia. ADR. E ben? FAR. Rasciuga della sua patria il pianto: a me la rendi, e quanto io reco in guiderdon ti prendi. ADR. Prence, in Asia io guerreggio, non cambio o merco; ed Adrian non vende, sullo stil delle barbare nazioni, la libertade altrui. FAR. Dunque la doni? OSR. (Che dirà?) ADR. Venga il padre: la serbo a lui, e di lei cura in tanto noi prenderem. FAR. Dopo il fatal conflitto, è ignota a noi del nostro re la sorte: ma se a tal segno è augusto dell’onor suo geloso, questa cura di lei lasci al suo sposo. ADR. Come! È sposa Emirena? FAR. Altro non manca che il sacro rito. ADR. (Oh dio!) Ma lo sposo dov’è? FAR. Signor, son io. ADR. Tu stesso! Ed ella t’ama? FAR. Ah, fummo amanti pria di saperlo, ed apprendemmo insieme, quasi nel tempo istesso, a vivere e ad amar. Ma quando meco esser doveva in dolce nodo unita, signor (Che crudeltà!), mi fu rapita.

ADR. (Che barbaro tormento!) FAR. Ah, tu nel volto,

gli oppressi esalta ed i superbi opprime. OSR. (Che insoffribile orgoglio!) FARNASPE Un atto usato dalla virtù romana vengo a chiederti anch’io. Del re de’ Parti geme fra’ vostri lacci prigioniera la figlia. ADR. E ben? FAR. Rasciuga della sua patria il pianto: a me la rendi, e quanto io reco in guiderdon ti prendi. ADR. Prence, in Asia io guerreggio, non cambio o merco; ed Adrian non vende, sullo stil delle barbare nazioni, la libertade altrui. FAR. Dunque la doni? OSR. (Che dirà?) ADR. Venga il padre: la serbo a lui, e di lei cura in tanto noi prenderem. FAR. Dopo il fatal conflitto, è ignota a noi del nostro re la sorte: ma se a tal segno è augusto dell’onor suo geloso, questa cura di lei lasci al suo sposo. ADR. Come! È sposa Emirena? FAR. Altro non manca che il sacro rito. ADR. (Oh dio!) Ma lo sposo dov’è? FAR. Signor, son io. ADR. Tu stesso! Ed ella t’ama? FAR. Ah, fummo amanti pria di saperlo, ed apprendemmo insieme, quasi nel tempo istesso, a vivere e ad amar. Ma quando meco esser doveva in dolce nodo unita, signor (Che crudeltà!), mi fu rapita. ADR. (Che barbaro tormento!) FAR. Ah, tu nel volto,

IKONISCHE STRUKTUREN IN DER ITALIENISCHEN OPER

signor, turbato sei. Forse t’offende la debolezza mia. Tanta virtude da me pretendi invano; cesare, io nacqui parto, e non romano.

ADR. (Oh rimprovero acerbo! Ah, si cominci su’ propri affetti a esercitar l’impero.) Prence, della sua sorte la bella prigioniera arbitra sia. Vieni a lei. S’ella segue, come credi, ad amarti, allor... (dicasi alfin) prendila e parti. (scende)

ADR. Dal labbro, che t’accende di così dolce ardor, la sorte tua dipende, (e la mia sorte ancor).

signor, turbato sei. Forse t’offende la debolezza mia. Tanta virtude da me pretendi invano; cesare, io nacqui parto, e non romano. ADR. (Oh rimprovero acerbo! Ah, si cominci su’ propri affetti a esercitar l’impero.) Prence, della sua sorte la bella prigioniera arbitra sia. Vieni a lei. S’ella segue, come credi, ad amarti, allor... (dicasi alfin) prendila e parti. // (scende) ADR. Introd. Dal labbro, che t’accendE di così dolce ardor, la sorte tua dipende, dipende la tua sorte // sottovoce: e_ la mia SORTE ANCOR. Sì Forte: e la mia sorta ANCOR. Kurzes Rit. Dal labbro, che t’accendE di così dolce ardor, la sorte tua dipende, la mia sorte dipende E la mia sorte anCOR E la mia sorte anCOR dal labbro che t’accende dal labbro dipende dal labbro dipende dipende la tua sorte // sottovoce: e_ laa mia sorTE ANCOR SÌ

Mi spiace il tuo tormento; ne sono a parte, e sento che del tuo cor la pena è pena del mio cor. (parte, seguìto d’Aquilio, dalle guardie e soldati romani)

dipende // LA TUA sorte LA TUA sorte fort. E la mia SORTE ANCOR. RIT. MI SPIACE IL TUO tormento; NE SONO A PARTE, e sento che del tuo COR LA PENA è pena DEL MIO COR. che del tuo COR LA PENA è pena DEL MIO COR. È PE_NA del mio COR.

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Dal labbro, che t’accendE di così dolce ardor, la sorte tua dipende, dipende la tua sorte // sottovoce: e_ la mia SORTE ANCOR. Sì Forte: e la mia sorta ANCOR. Kurzes Rit. Dal labbro, che t’accendE di così dolce ardor, la sorte tua dipende, la mia sorte dipende E la mia sorte anCOR E la mia sorte anCOR dal labbro che t’accende dal labbro dipende dal labbro dipende dipende la tua sorte // sottovoce: e_ laa mia sorTE ANCOR SÌ

dipende // LA TUA sorte LA TUA sorte fort. E la mia SORTE ANCOR. RIT. MI SPIACE IL TUO tormento; NE SONO A PARTE, e sento che del tuo COR LA PENA è pena DEL MIO COR. che del tuo COR LA PENA è pena DEL MIO COR. È PE_NA del mio COR. (parte, seguìto d’Aquilio, dalle guardie e soldati romani)



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In der rechten Spalte entspricht jede Zeile einer musikalischen Äußerung, die durch eine Pause definiert ist. Ein doppelter Querstrich entspricht einer langen Pause, die meist einen oder mehrere Takte lang ist. Kursive Passagen in der rechten Spalte: hinzugefügter Text. Unterstrich: Koloratur: eine Silbe wird auf verschiedenen Noten gesetzt. Meist hat eine Arie einen bestimmten Grundrhythmus. So kann eine Viertelnote die Grundlänge für eine Silbe darstellen. Falls diese Silbe auf zwei Achtelnoten verteilt wird, hat dies keinen direkten Einfluss auf den Grundrhythmus. Falls eine Silbe aber auf sechzehn Sechzehntelnoten verteilt wird, dann ist dies markiert. Unterstrich __ nach einer Silbe: die Silbe ist stark verlängert, hebt sich so vom normalen Duktus ab.

IKONISCHE STRUKTUREN IN DER ITALIENISCHEN OPER

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Gepünktelter Unterstrich: monotone Stimmführung, hauptsächlich auf der selben Note. Majuskeln: relative Verlangsamung durch größere Notenwerte, die einen Vers oder Versabschnitt determiniert. Fett: die Silbe folgt nach einem großen Intervallsprung nach oben oder nach unten oder ein großer Intervallsprung findet innerhalb der Silbe statt. Zeilenende in der rechten Spalte zeigt ein Pause an und damit das Äußerungsende. // Lange Pause: Ende einer größeren Einheit, die meist mehrere Äußerungen zusammenfasst. Rit. : längerer orchestraler Übergang. Introd.: orchestrale Einführung

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»Devo punirmi, se troppo amai« Oper und Realistischer Roman bei Stendhal, Flaubert und Leopoldo Alas (Clarín) KIRSTEN VON HAGEN

Insbesondere im Realistischen Roman des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nehmen Opernbesuche häufig einen zentralen Raum ein. Von Seiten der Forschung ist diesem Phänomen bislang nur unzureichend Rechnung getragen worden, konzentrieren sich die meisten Darstellungen doch lediglich auf das hybride Genre des Libretto oder auf die Relation Literatur – Musik, ohne dem Opernhaften in literarischen Texten gesonderte Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Dominique Fernandez schreibt, Opernszenen seien deshalb so häufig im französischen Roman, weil beide, Oper und Roman, dieselben Wurzeln haben1 und Newark Cormac spricht von einem Subgenre, der »Soirée à l’opéra«: The Opéra, which was the gallery in which society most conspicuously exhibited, and then studied, pictures of itself, and the literary practice by which that self- and mutual admiration are most compellingly recorded, together constitute an indispensable cultural history.2

Er zeigt anhand ausgewählter Beispiele aus französischen Romanen auf, wie Oper und Roman zusammen eine Kulturgeschichte verfassen, während ich mich vor allem auf die selbstreferentiellen Aspekte konzentrieren möchte:

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Dominique Fernandez: »Roman et opéra«, in: La Règle du Jeu 13 (1994), S. 47−64, S. 61. Cormac Newark: Opera in the Novel from Balzac to Proust, Cambridge: Cambridge University Press, 2011, S. 5 f.

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die Frage, wie hier Oper gleichsam zu einem Fokus für ein realistisches Schreiben avanciert, das sich selbst eben jene Emotionalität, Extravaganz und Phantasie versagt, die die Oper in besonderer Weise inkorporiert. Somit ist die Transgression, wie sie im Folgenden reflektiert wird, in doppelter Weise konstitutiv: als räumliches Überschreiten der Grenze zwischen Bühnen- und Zuschauerraum und als intermediales Phänomen. Anhand des Zusammenspiels von Oper und Roman werden die Grenzen des realistischen Romans des 19. und frühen 20. Jahrhunderts reflektiert und ausgelotet. In den vergangenen Jahren rückte zunehmend eine Erforschung von Emotionen in den Blick, die den Blick schärft etwa für das Verhältnis von Emotionalität und Medialität.3 Werden elementare Emotionen zwar zumeist abstrakt als anthropologische Konstanten begriffen, so werden sie doch gleichzeitig je individuell unterschiedlich wahrgenommen und unterliegen, da sie sprachlich wie kulturell je spezifisch kodiert und modelliert werden, historischer Wandlung.4 Gerade diese historische Dimension wird indes allzu häufig kaum berücksichtigt und auch der Zusammenhang zwischen der jeweiligen Gefühlsrepräsentation und dem spezifischen Darstellungsmedium ist noch nicht hinreichend erforscht,5 ist doch das Medium nicht unerheblich für die Kodierung und Generierung von Gefühlen. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Frage der kulturellen Zuordnung einzelner Affekte, die Binarität der Geschlechter, die ihren Ausdruck auch in der Fähigkeit findet, Affekte zu kontrollieren.6 Oper gilt als privilegierter Ort des Exzesses der Gefühle, der Emotionalität und Leidenschaft.7 Damit nimmt sie einen zentralen Stellenwert im 19. Jahrhundert ein. Die Affekte werden einer zunehmenden Kontrolle, Regulierung und Psychologisierung unterworfen, die scheinbar im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreicht.8 Als Folge der Auffassung, dass Gefühle

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7 8

Vgl. Claudia Benthien/Anne Fleig/Ingrid Kasten: »Einleitung«, in: dies. (Hrsg.): Emotionalität: Zur Geschichte der Gefühle, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2000, S. 8. Vgl. ebd. Ebd., S. 9. Zentral ist auch die Definition des Begriffes, Benthien, Fleig und Kasten sprechen davon, dass, während der Begriff »Gefühl« meist im Gegensatz zu »Affekt« stärker positiv konnotiert sei, der Terminus »Emotionalität« (bzw. »Emotion«), obwohl tendenziell mit behavioristischen Modellvorstellungen der Emotionspsychologie besetzt, vergleichsweise neutral sei, vgl. ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 11. Martina Kessel spricht davon, dass Selbstkontrolle und Gefühlbeherrschung als Leitwerte der Kultur des späten 18. und 19. Jahrhunderts gelten. Insbesondere im 19. Jahrhundert herrscht eine Ambivalenz zwischen Gefühlskontrolle und einer

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sich im Psychisch-Inneren ereignen, entsteht die Vorstellung, dass Emotionen herstellbar, theatralisierbar und affektierbar sind, wie Stendhals Roman in besonderer Weise illustriert. Wird als Ort dieser Herstellbarkeit von Emotionen zumeist das Theater begriffen, so nimmt die Oper allmählich den privilegierten Ort in diesem Prozess ein, da die Musik ganz unmittelbar auf das Gefühlsregister einwirkt und einen Überschuss an Emotionalität generiert. Das typisch Opernhafte ist das performative Element jeder Opernaufführung, der melodramatische Gestus, die spezifische Mischung von Poesie, Musik, Bühnenspektakel.9 Vor allem das opernhafte Prinzip unterscheidet die Opern- von einer Theateraufführung, macht die Oper zu einer extravaganten Kunst, wie Herbert Lindenberger schreibt, der sich als einer der ersten Literaturwissenschaftler mit literarisierten Opernszenen beschäftig hat.10 Melodramatik, Plots fokussiert auf Betrug, Ehebruch und Rache sind Kennzeichen insbesondere der romantischen Oper, die häufig vor üppiger historischer Kulisse ebenso ihre visuelle Kraft entfaltet. Timothy Martin zufolge können diese opernhaften Elemente als rhetorischer Gestus angesehen werden, »aimed at the most basic interests of an audience, our capacity for identification, our taste for thrills«.11 Insbesondere der Wunsch nach Identifikation, nach Abenteuer und Abwechslung vom Alltag, aber auch nach Transgression ist auch in den hier fokussierten Opernszenen zentral. Der Opernraum bietet sich als Bühne an, auf der Bilder den Zuschauer anregen und ihre affektreichen Spuren hinterlassen. In der Oper kommt es zum Austausch sozialer Energien zwischen Opernbühne und Zuschauer-

Forderung nach kontrollierbarer Leidenschaft vor. (vgl. Martina Kessel: »Das Trauma der Affektkontrolle. Zur Sehnsucht nach Gefühlen im 19. Jahrhundert«, in: Benthien/Fleig/Kasten (Hrsg.): Emotionalität, S. 156 f.) Dies könnte ein Grund dafür sein, warum so häufig gerade in den Opernszenen in der Literatur Gefühle unkontrolliert hervorbrechen, da diese Ausbrüche in einem heterotopisch organisierten Ort stattfinden, an dem sie eigens zulässig sind, zugleich aber auch hier eine Binarität der Geschlechter markieren. Im Umgang miteinander avancierte das Beherrschen der Gefühle zu einer Praktik der Distinktion, die eine geschlechterspezifische Machtposition festigen sollte. So wurde die Grenze zwischen dem inneren Gefühlsleben und der Außenwahrnehmung geschlechtsspezifisch gezogen; Frauen setzten eine Kluft zwischen innen und außen häufig auch in öffentlicher Inszenierung als Mittel der Selbstbehauptung ein (vgl. ebd., S. 167). Zu fragen wäre aber auch, ob dies transkulturell im westlichen Europa und in Amerika gilt, oder jeweils mit zeitlichen Verschiebungen und kulturspezifischen Besonderheiten variiert wird. 9 Vgl. Timothy Martin: Joyce and Opera, Tulsa: University of Tulsa, 2001, S. 27. 10 Vgl. Herbert Lindenberger: Opera. The Extravagant Art, Ithaca: Cornell University Press, 1984. 11 Martin: Joyce (Anm. 9), S. 28 f.

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raum. Hier werden Begegnungen zwischen der Heldin im Zuschauerraum und der Heldin der aufgeführten Oper möglich. Zugleich verweist dieser literarisierte Opernraum aber auch auf den Raum der Fiktion, der Imagination, in dem der Leser das Geschehen auf einer inneren Bühne interagieren lässt. Im Wechselspiel von Opernbühne und Zuschauerraum kommt es zu einer Reihe von imaginativen Selbstentwürfen, die indes auf den Raum der Fiktion beschränkt bleiben und die von der Gesellschaft häufig nicht gedeckt sind.12 Lindenberger zufolge werde durch literarisierte Opernszenen eine Art »higher narrative« markiert, die der Roman im 19. Jahrhundert sich sonst versagt. Unterschiedliche ästhetische Formen interagieren miteinander und mit sozialen Kontexten.13 Lindenberger folgt anderen Opernforschern, wenn er die Oper vor allem als Medium der Leidenschaften bezeichnet. Oper, mit ihrem Hang zu Übertreibung und Künstlichkeit sei »the last remaining refuge of the high style.«14 Wenn demzufolge ein literarischer Text eine Szene in der Oper schildere, wird zumeist der Unterschied zwischen der künstlichen Welt der Oper mit ihrer Vorliebe für Leidenschaft und der prosaischeren fiktionalen Welt des Romans deutlich herausgestellt. Lindenberger spricht in dem Kontext vom Interagieren zwischen ›higher narrative‹ – repräsentiert durch die Opernszenen – und ›lower narrative‹, der Schilderung des Alltags, wie sie für den realistischen Roman kennzeichnend ist. Durch die Interaktion mit den Opernszenen wird der Widerspruch zwischen den Leidenschaften auf der Bühne und der im Roman vorherrschenden Alltäglichkeit, dem banalen Dasein der Zuschauer vor der Bühne offen ausgestellt, was zu jenen Illusionierungs-/Desillusionierungsprozessen führt, wie sie für die hier analysierten Texte des 19. Jahrhunderts charakteristisch sind. Gleichzeitig – und dies ist ebenfalls für die hier fokussierten Texte zentral – fungiert die Opernszene Lindenberger zufolge als eine Art Ekphrasis, die den Fortlauf der Handlung unterbreche und häufig den Ort markiere, an dem der Roman sich selbst, d. h. sein eigenes Schreiben reflektiere.15

12 Vgl. auch Kirsten von Hagen: »›Und gab ihm Ausdruck, diesem Erstaunen, in Tönen‹: Liebe, Oper, Transgression bei Thomas Mann und Thea Dorn«, in: Düsseldorfer Beiträge zur Thomas Mann-Forschung, Schriftenreihe der Thomas Mann Gesellschaft Düsseldorf, Bd. 1, Düsseldorf: Wellem, 2011, S. 113–131. 13 Vgl. Lindenberger: Opera (Anm. 10), S. 10. 14 Ebd., S. 15. 15 Ebd., S. 168.

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I. EKSTASE UND ROLLENSPIEL: STENDHALS LE ROUGE ET LE NOIR In Stendhals Roman Le rouge et le noir (1830) wird Mathilde in der Oper von dem Liebesvirus infiziert. Es ist die Musik, eines Cimarosa würdig, die sie eines Abends in der italienischen Oper hört, zuvorderst die Cantilène, die Liebesarie, die es ihr ermöglicht, erstmals wie Madame de Rênal zu lieben, ohne zu räsonieren: Son extase arriva à un état d’exaltation et de passion comparable aux mouvements les plus violents que, depuis quelques jours, Julien avait éprouvés pour elle. La cantilène pleine d’une grâce divine, sur laquelle était chantée la maxime qui lui semblait faire une application si frappante à sa position, occupait tous les instants où elle ne songeait pas directement à Julien.16 Ihre Verzückung erreichte einen Grad von überschwänglicher Leidenschaft, die nur mit den heftigsten Gemütsregungen zu vergleichen ist, die Julien seit ein paar Tagen heimgesucht hatten. Dies Lied voll göttlicher Anmut, dessen Worte sich so unheimlich treffend auf ihre gegenwärtige Lage anwenden ließen, nahm sie in völlig jedem Augenblick gefangen, wo sie nicht ausschließlich an Julien dachte.17

Die Kantilene, insbesondere die Worte »Devo punirmi, devo punirmi,/ Se troppo amai« (ReN 478, RuS 435)18 – was übersetzt so viel heißt wie »Ich muss mich strafen, ich muss mich strafen,/ Wenn ich zuviel geliebt habe« – spiegeln nicht nur den Zustand Mathildes, die diese Melodie auch später noch selbst am Klavier intonieren wird, sie sorgt auch dafür, dass Mathilde zunächst über ihre Gefühle für Julien zu triumphieren scheint, nur um sich ihnen nach dem geschickten Agieren Juliens um so bereiter zu überlassen. Erkennt Mathilde in der Oper ihren »amour passion« zu Julien, so entpuppt sich dieser als wahrhafter »amour de tête«, widergespiegelt in einer Kantilene. Der ironische Clou besteht nun freilich darin, dass weder diese von Stendhal imaginierte Arie, noch der Gesamtkontext der opera buffa über eine

16 Stendhal: Le rouge et le noir, hrsg. v. Anne-Marie Meininger, Paris: Gallimard, 2000, S. 478, im Folgenden zitiert mit der Sigle ReN und Seitenzahl in Klammern. 17 Stendhal: Rot und Schwarz, übers. v. Walter Widmer, Stuttgart: Parkland, 1974, S. 435, im Folgenden zitiert mit der Sigle RuS und Seitenzahl in Klammern. 18 Cormac Newark schreibt, die Arie sei von Stendhal erfunden (vgl. Newark: Opera in the Novel (Anm. 2), S. 112). Die Studie von Heather Hadlock legt nahe, dass die Arie von Rossinis Tancredi inspiriert ist, vgl. Heather Hadlock: »Tancredi and Semiramide«, in: Emanuele Senici (Hrsg.): The Cambridge Companion to Rossini, Cambridge: Cambridge University Press, 2004, S. 139–158, hier S. 146.

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oberflächliche Lektüre hinausgehende Bezüge zur Cimarosas Oper Il matrimonio segreto (Die heimliche Ehe, 1792) aufweisen.19 Mathilde ist vielmehr in ihrer Perspektive derart gefangen, dass sie gleichsam einen Gedanken der Oper extrapoliert, den des troppo amare, um ihn in einen anderen Kontext zu überführen: den des Privaten. Was sie indes nicht zu dekodieren vermag, ist etwas anderes: Will der wohlhabende Kaufmann Geronimo seine Töchter an Adelige verheiraten, um in der Gesellschaft aufzusteigen, so will Julien die Verbindung mit Mathilde zu demselben Zweck nutzen. Dieses Spiel von Deund Rekontextualisierung bestimmt das gesamte Kapitel des Romans, das bezeichnenderweise überschrieben ist mit »L’opéra bouffe«.20 Nach dem Opernbesuch ist es ein nächtliches Fenstertheater, das nicht nur an die Oper erinnert, sondern auch die Emotionen der Oper reinszeniert. Julien erklimmt in einem romantisch kodierten Akt, der gleichsam an die Praxis der opera buffa gemahnt, das Fenster der begehrten Frau und gesteht ihr seine Liebe: Julien n’eut pas assez de génie pour se dire: Il faut oser; mais comme, le soir, il regardait la fenêtre de la chambre de Mathilde, il vit à travers les persiennes qu’elle éteignait sa lumière: il se figurait cette chambre charmante qu’il avait vue, hélas! une fois en sa vie. Son imagination n’allait pas plus loin. (ReN 481) Julien war nicht klug genug, um sich zu sagen: Ich muß etwas wagen! Aber als er zu Mathildens Fenster hinaufsah, bemerkte er durch die Läden hindurch, daß sie das Licht ausgelöscht hatte. Er stellte sich das reizende Zimmer vor, das er, ach, in seinem Leben nur ein einziges Mal gesehen hatte. Weiter ging seine Phantasie nicht. (RuS 438)

In der Beziehung Juliens zu Mathilde ist es, wie später auch bei Proust, 21 die (scheinbare) Gleichgültigkeit des Anderen, die den Prozess der Kristallisation verstärkt und dafür sorgt, dass der durch die Opernmusik evozierte Zu-

19 Cormac Newark verweist darauf, dass die Oper von Cimarosa im 19. Jahrhundert äußerst populär war und deshalb auch von Balzac in seiner Comédie Humaine mehrfach Erwähnung findet (vgl. Newark: Opera in the Novel (Anm. 2), S. 15). Die Popularität reicht als Erklärung indes für die Okkurrenz in Stendhals Roman nicht aus, geht das intertextuelle Spiel doch weit über die reine »vraisemblance« hinaus, wie die folgende Analyse deutlich macht. 20 Vgl. Eckhard Höfner: »Intertextuelle Interpretationsvektoren. Zur Funktion von motti am Beispiel Stendhals«, in: Jochen Mecke/Susanne Heiler (Hrsg.): Titel – Text – Kontext. Randbezirke des Textes. Festschrift für Arnold Rothe zum 65. Geburtstag, Berlin/Cambridge: Glada & Wilch, 2000, S. 244. 21 Zur Liebeskonzeption bei Stendhal und Proust vgl. Michel Erman: »Stendhal et Proust: L’imaginaire de l’amour et l’écriture«, in: Victor Del Litto (Hrsg.): La création romanesque chez Stendhal, Genf: Droz, 1985, S. 297−306.

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stand der Verliebtheit über den Moment hinaus auf Dauer gestellt wird. Auch die Verbindung Juliens mit der Maréchale de Fervaques ist von einem opernhaften Gestus bestimmt. Sie nimmt bezeichnenderweise in der Opernloge ihren Anfang und findet hier ihre Fortsetzung. Erneut ist es ein Blicktheater, das im Zentrum steht. Julien, der weiß, dass er sich der Einladung der Maréchale, in ihrer Loge zu erscheinen, nicht entziehen kann, findet sich erst verspätet dort ein. Er möchte in Ruhe das Glück genießen, die scheinbar unnahbare Mathilde für sich gewonnen, ihre Eifersucht erregt zu haben. Froh, dass die Loge bereits mit Damen gefüllt ist und ihre Hüte ihn vor dem Blick der Anderen schützen, gibt sich Julien ganz den Gefühlen hin, die Cimarosas ›Melodramma giocoso‹ Matrimonio segreto in ihm hervorrufen. Dennoch entgeht der aufmerksamen Maréchale nicht sein mit Tränen benetztes Gesicht. Sie ist es auch, die ihn auf die Anwesenheit Mathildes hinweist, die im dritten Rang aufmerksam das Liebesdrama auf der Bühne verfolgt. Kaum kann Julien bei diesen Worten seine Gefühle kontrollieren. Er beugt sich über die Balustrade der Loge und erblickt Mathilde: A l’instant, Julien se pencha dans la salle en s’appuyant assez impoliment sur le devant de la loge: il vit Mathilde; ses yeux étaient brillants de larmes. (ReN 558) Sofort beugte sich Julien über die Brüstung hinunter, und dabei lehnte er sich recht unhöflich vor. Er sah Mathilde. In ihren Augen schimmerten Tränen. (RuS 512)

Um zu sehen, ob Julien den Abend mit der Maréchale verbringt, hat Mathilde selbst einen unwürdigen Opernplatz nicht gescheut. Die Oper avanciert hier zum Spiegel des Innenlebens der Protagonisten. Wiederum ist es der Austausch sozialer Energien, der von Interesse ist, so handelt auch Cimarosas Oper von einer heimlichen Verlobung und einer nicht standesgemäßen Verbindung, die von Transgression gekennzeichnet ist. Die Opernszene deutet bereits auf die Entwicklung der Liebschaft zwischen dem aufstrebenden Priester Julien und der Adeligen Mathilde voraus. Der Oper kommt demnach Spiegelfunktion zu, gleichzeitig zeigt sie aber auch die einsetzende Liebesgeschichte wie unter dem Vergrößerungsglas, ist die Verbindung der beiden doch vor allem von amour-propre, von Eigenliebe gekennzeichnet. Julien erprobt sich wie Laclos’ Valmont im Rollenspiel, mimt den Gleichgültigen und inszeniert den größtmöglichen Abstand zwischen seinen Gefühlen und der zur Schau getragenen Gleichgültigkeit, die Voraussetzung für eine dauerhafte Liebeskommunikation mit Mathilde ist. Die Pervertierung der Rolle Valmonts zeigt sich vor allem an der Verführung der Maréchale de Fervaques, die im bloßen Kopieren der Liebesepisteln kulminiert. Rührte die

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Verführung Valmonts trotz aller Strategie noch aus seinem Begehren, war mehr als bloßer Code, so wird hier das Kopieren der Briefe zu einem rein mechanischen Akt, der denn auch seine Fehleranfälligkeit sogleich offenbart, als Julien »London« und »Richmond« schreibt statt »Paris« und »SaintCloud«. Hier indiziert der Vergleich mit Valmont das Ablösen der Taktik vom Begehren, des Zeichens vom Realen, wie Franziska Meier betont.22 Julien, der die Liebe zum zentralen Mittel des gesellschaftlichen Aufstiegs instrumentalisieren will, ist im Frankreich der Restauration gerade dies nicht vergönnt. Dass die von Stendhal in seinem Roman am Beispiel von Mathilde und Julien inszenierte Liebe zwischen der Liebeskonzeption des »amour de vanité« und des »amour-passion« changiert,23 zeigen insbesondere die Opernszenen und die ihr relational zugeordneten Kapitel. Aber die Opernszene ist noch in einer anderen Hinsicht bemerkenswert. So führt die durch die Oper ausgelöste Ekstase der Protagonistin, die in ihrer Angst des »troppo amare« ihren Ausdruck findet, zu einem Reflektieren des Erzählers, der bemerkt, dass diese Heroine rein imaginärer Art sei und nicht in dieses Jahrhundert passe: »Ce personnage est tout à fait d’imagination, et même imaginé bien en dehors des habitudes sociales qui, parmi tous les siècles, assureront un rang si distingué à la civilisation du XIXe siècle.« (ReN 479) Diese Passage des Romans, in der das Erzählen sich selbst kommentiert und reflektiert, ist immer wieder als Hinweis auf die Poetik des Realismus selbst gelesen worden, die eben nicht nur darin besteht, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, sondern das beinhaltet, was Warning als »Phantasie der Realisten« so treffend beschrieben hat. Warning liest die Passage als Ironisierung der Spiegelmetapher, die einer Poetik des Imaginären das Wort redet und sieht darin gar einen »Fixpunkt aller Realismusdiskussion«.24 Das Konzept des Spiegels ist bereits in den Paratexten als Rahmung zentral, so im Motto des 13. Kapitels, das dem Historiker Saint-Réal zugeschrieben wird. Hier heißt es: »Un roman: c’est un miroir qu’on promène le

22 Franziska Meier: Leben im Zitat: zur Modernität der Romane Stendhals, Tübingen: Narr, 1993, S. 112. 23 Zum Prozess des Zusammenspiels zwischen diesen beiden Liebeskonzeptionen Stendhals, die zurückgehen auf »De L’Amour«, vgl. Wolfgang Matzat: Diskursgeschichte der Leidenschaft, Tübingen: Narr, 1990, S. 157. 24 Rainer Warning: Die Phantasie der Realisten, München: Fink, 1999, S. 134 u. S. 19. Rainer Zaiser geht von einer ambivalenten Mimesis Stendhals aus, vgl. Rainer Zaiser: »Stendhals Poetik der Ambivalenz: Zur Konstituierung einer Erzählfigur der nachromantischen Moderne«, in: Romanistisches Jahrbuch 53 (2002), S. 179–210, hier S. 179 f.

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long d’un chemin.«25 In der in Parenthese eingerahmten Erzähler-Digression in Kapitel 19 des zweiten Teils wird dieser Gedanke wieder aufgenommen: »Hé, monsieur, un roman est un miroir qui se promène sur une grande route. Tantôt il reflète à vos yeux l’azur des cieux, tantôt la fange de bourbiers de la route.« (ReN 279) Spricht Stendhals Erzähler zunächst vom Roman als Spiegel, der die »grande route« entlang spaziert und gleichermaßen das Blau des Himmels und den Schlamm der Gosse reflektiert, so wird die Spiegelmetapher an dieser Stelle ironisch gebrochen. So ist die Widerspiegelung hier zentral vom Träger des Spiegels abhängig, womit das herkömmliche Vertrauen auf das Welt-Erfahrungs-Konzept des Sehens einer interpretativen Instanz unterstellt werde.26 Stendhal konfiguriert sein Konzept narrativer Wirklichkeitsrepräsentation im subtilen Widerspiel zu dem der Romantik und verdeutlicht derart, was für die Realismusdiskussion insgesamt von zentraler Bedeutung ist: dass Wirklichkeitsrepräsentation sich immer nur auf Vorstellungen von Wirklichkeit bezieht – im Modus der Infragestellung oder wie bei Stendhal der Verschiebung.27 Mathilde wäre mithin eine Projektion in eine Welt, nicht Reflexion aus der gesellschaftlichen Realität.28 Dass diese Reflexion auf eine erzählte Opernszene folgt, ist indes kein Zufall, markieren literarisierte Opernszenen doch häufig Stellen, an denen der Roman selbstreferentiell seine eigene Konstruktion sichtbar macht und in besonderer Weise das Verhältnis von Realität und Idealität, Wirklichkeit und Fiktion, Mimesis und Poiesis enthüllt.

II. ERINNERUNG, PROJEKTION UND PHANTASIE: FLAUBERTS MADAME BOVARY Eine zentrale Rolle spielt die Oper in Flauberts Madame Bovary, dem Ehebruchroman, der als Modell für viele weitere Ehebruchromane des 19. Jahrhunderts fungiert. Obwohl die Szene in der Oper nur einige Seiten des Romans umfasst, ist sie doch von besonderer Bedeutung, da hier noch einmal

25 Eckhard Höfner spricht davon, dass gerade in den Paratexten eine narratologische Lese-Ebene in den Text eingewoben werde (Höfner: »Interpretationsvektoren« (Anm. 20), S. 241). 26 Vgl. ebd., S. 242. 27 Vgl. David Nelting: »Positivismus und Poetik: Überlegungen zur doppelten Wirklichkeitsmodellierung in Germinie Lacerteux und Giacinta«, in: Romanistisches Jahrbuch 59 (2008), S. 239. 28 Vgl. Lawrence R. Schehr: Rendering French realism, Stanford, California: Stanford University Press, 1997, S. 46.

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die Kerngedanken des Romans zusammengeführt werden. Angespielt wird einmal mehr auf Emmas Vorliebe für die Lektüre, für den Schotten Walter Scott im Besonderen, dessen Roman als Vorlage für die Oper diente, die zur Aufführung gebracht wird: Gaetano Donizettis Lucia de Lammermoor. 1835 in Neapel uraufgeführt, war die ebenso einfache wie eindringliche Geschichte um einen scheinbaren Liebesverrat im 19. Jahrhundert äußerst populär. Gekennzeichnet ist die Oper durch effektvolle Solo-Partien, allen voran die berühmte Wahnsinns-Szene der Lucia. Donizetti und sein Librettist Salvatore Cammarano verdichteten den Roman The Bride of Lammermoor (1819) des schottischen Autors Sir Walter Scott auf die wesentlichen Elemente, so dass die Oper nicht von ungefähr an Shakespeares’ Tragödie Romeo and Juliet gemahnt. Das Operngeschehen führt der Heldin noch einmal die ganze Mediokrität ihres Ehelebens vor Augen. Es ist die Abgeschlossenheit des Ortes, der hier als Heterotopie im Sinne Foucaults fungiert,29 der die ersten Seiten der Opernszene markiert. Die Operngläser werden aus den Futteralen genommen, das Licht im Saal und im Orchestergraben wird entzündet, die Musik verkündet den Beginn des Spektakels. Nach der Musik wird die Szenerie sehr genau geschildert. Alle diese Zeichen versetzen Emma mit einem Mal in die Literatur ihrer Jugend zurück, in die Welt Walters Scotts. Erinnerung an die Lektüre, Musik, Dekor und Bühnenhandlung wirken zusammen und geben Emmas romantischen Phantasien von Schlossheldinnen neue Nahrung, die ihre Tage damit zubringen, auf den Kavalier zu warten, der sie auf seinem schwarzen Pferd entführen wird. Emma wird vollständig von der Emotionalität der Oper affiziert: le souvenir du roman facilitant l’intelligence du libretto, elle suivait l’intrigue phrase à phrase, tandis que d’insaisissables pensées qui lui revenaient, se dispersaient, aussitôt, sous les rafales de la musique. Elle se laissait aller au bercement des mélodies et se sentait elle-même vibrer de tout son être comme si les archets de violons se fussent promenés sur ses nerfs.30

29 Heterotopien nach Foucault sind »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können«, vgl. Michel Foucault: »Andere Räume (1967)«, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig: Reclam, 51993 (1990), S. 34–46, hier S. 39. 30 Gustave Flaubert: Madame Bovary. Mœurs de Province, hrsg. v. Thierry Laget, Paris: Gallimard, 2001, S. 302, im Folgenden zitiert mit der Sigle MB und mit Seitenzahl in Klammern.

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Da die Erinnerung an den Roman das Verständnis des Librettos erleichterte, folgte sie der Handlung Satz für Satz, während ungreifbare Gedanken, die wieder in ihr aufstiegen, sich sogleich unter dem Ansturm der Musik zerstreuten. Sie überließ sich dem Wiegen der Melodien und spürte, dass sie selbst mit ihrem ganzen Ich vibrierte, als hätten die Geigenbögen über ihre Nerven gestrichen.31

Dies ist der Hintergrund, vor dem gleich mehrere Transfer- und Projektionsprozesse stattfinden. Zunächst imaginiert Emma sich selbst in der Rolle der Lucia, die sich ebenfalls Flügel wünscht und ihren Helden erwartet. Hier kommt es mithin zu jener Überlagerung von fiktivem und realem Raum, wie er für derartige Blickszenarien typisch ist. Emma projiziert ihre ganzen enttäuschten Hoffnungen auf die Opernheldin. La voix de la chanteuse ne lui semblait être que le retentissement de sa conscience, et cette illusion qui la charmait quelque chose même de sa vie. (MB 303) Die Stimme der Sängerin kam ihr nur wie das Echo ihrer Gedanken vor, und diese Illusion, die sie entzückte, war wie ein Stück aus ihrem Leben. (MBd 253)

Doch die Identifikation mit der Opernheldin macht Emma auch die Mittelmäßigkeit und Unzulänglichkeit ihrer eigenen Verehrer bewusst. Die Identifikation mit der Opernheldin ist so vollkommen, dass Emma gar einen Schrei ausstößt, als die Liebenden einander singend das letzte Lebewohl zurufen. Desillusionierend in diesem Rahmen wirkt lediglich ihr Ehemann Charles, der seinerseits Mühe hat, der Opernhandlung zu folgen und Emma um Erklärung bittet. Die Hochzeitsszene auf der Opernbühne führt Emma noch einmal die eigene gescheiterte Ehe vor Augen. All ihre romantischen Erwartungen überträgt sie indes auf den Helden der Oper, Edgardo di Ravenswood, der ihr zugleich in Gestalt seines Doppelgängers, des Operntenors Edgard Lagardy, erscheint. Lagardy, für den sich eine polnische Prinzessin ruiniert hat, scheint sie nun gar mit seinem verlangenden Blick anzuschauen: Elle eut envie de courir dans ses bras pour se réfugier en sa force, comme dans l’incarnation de l’amour même, et de lui dire, de s’écrier: »Enlève-moi, emmène-moi, partons!« (MB 306)

31 Gustave Flaubert: Madame Bovary, übers. v. Wolfgang Techtmeier, Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verlag, 2001, S. 251 f., im Folgenden zitiert mit der Sigle MBd und mit Seitenzahl in Klammern.

216 | KIRSTEN VON HAGEN Am liebsten wäre sie in seine Arme geeilt, um sich in seine Kraft zu flüchten wie in die Verkörperung der Liebe selbst, um ihm zu sagen, um herauszuschreien: »Entführe mich, nimm mich mit, wir wollen fort!« (MBd 255)

Als dann auch noch ein früherer Verehrer zu dem Ehepaar Bovary in die Loge tritt, offenbart sich der Prozess der Desillusionierung, die sich seit ihrer früheren Lektüre vollzogen hat: Emma findet das Bühnengeschehen schal, mag ihm nicht länger folgen, will vielmehr den Opernbesuch abbrechen. Die Erinnerungen an die Spielabende im Haus des Apothekers überlagern die Bühnenhandlung, die sie nun nicht mehr zu erreichen vermag. Emma verlässt den Opernraum bezeichnenderweise während der Wahnsinnsszene, die in diesem Kontext als Vorausdeutung auf Emmas eigenes tragisches Ende erscheint. Erst als Léon ihr während des außerhalb der Oper stattfindenden Gesprächs von der großartigen Gesangsleistung Lagardys im letzten Akt berichtet, willigt Emma in Charles Vorschlag ein, doch noch den Schluss der Oper zu sehen. Dies scheint als Begründung indes nur vorgeschoben, findet dieser Opernbesuch doch niemals statt. Er fungiert nur als Vorwand für eine Transgression außerhalb der Opernbühne: Emma gibt sich – wenngleich mit weniger Illusionen als noch bei ihrer Liaison mit Rodolphe – dem Rechtspfleger Léon hin. Karl Ludwig Pfeiffer sieht in Flauberts Opernszene die Gestaltung einer Übergangszone, in der in signifikanter Weise das Reale und das Imaginäre verschmelzen, eine intermediäre Übergangszone ersten Ranges.32 Die Szene spiegelt in besonderer Weise das Schreibverfahren Flauberts, der hier einmal mehr die subjektive Sicht seiner Protagonistin auf das Bühnengeschehen mit einem objektivierten Blick auf Alltägliches und Banales, wie ein Opernbesuch in der Provinz kontrastiert. Aber das Opernkapitel illustriert auch noch einmal selbstreferentiell eindrücklich den Akt erzählerischer Wirklichkeitserfassung, dass nämlich die materiell oberflächlichen Gesetze des Seins unter der Oberfläche verborgen liegen und dass nur der analytische Blick diese »phénomènes cachés« in Form einer an die exakten Wissenschaften angelegten »expérimentation« freizulegen vermag, wie Flaubert in seiner Seziermetaphorik deutlich gemacht hat.33

32 Karl Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre: Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999, S. 101. 33 Vgl. Nelting, »Positivismus und Poetik« (Anm. 27), S. 240.

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III. REFLEXION ZWISCHEN REALISMUS, ROMANTIK UND MODERNE: CLARÍNS SU ÚNICO HIJO Der Spanier Leopoldo Alas, der seine Romane unter dem Pseudonym Clarín veröffentlichte, hat sich von Flauberts Szenerie zu einem Ehebruchroman inspirieren lassen, der zu großen Teilen im Opernmilieu spielt: Su único hijo, in der deutschen Übersetzung Sein einziger Sohn von 1890. Auch Clarín verknüpft hier wie in zahlreichen seiner Erzählungen Opernszenen mit einer Reflexion des Erzählens zwischen Realismus und Romantik, Symbolismus und Moderne. Bonifacio Reyes, verhinderter Künstler, »que había sido uno de los más distinguidos epígonos de aquel romanticismo al por menor«34 (»einer der angesehensten Epigonen jener moribunden Romantik en détail«35), findet in der Oper den idealen Ort, seine Träume von Freiheit, Künstlertum und romantischer Liebe zu leben, die im Alltag nicht nur am mangelnden künstlerischen Talent, sondern auch an der Bequemlichkeit des ehemaligen Kopisten scheitern. Auch er zeigt sich von der Emotionalität der Oper affiziert: »... tanta muerte, tanta vergüenza, tanta dispersión y podredumbre..., esto encogía el ánimo.« (Suh 34) (»... soviel Tod, soviel Schande, soviel Zerfall und Sittenlosigkeit..., das legte sich aufs Gemüt.« SeS 36) Derart wird der vom Leben und Verlauf der Geschichte Enttäuschte zum idealen Opfer der Machenschaften des Impresario und Tenors Mochi und seiner Favoritin und Schülerin, der Primadonna Serafina, die den gutmütigen Möchtegernkünstler ausnehmen. Bonis, wie Madame Bovarys Namensschwester Emma Valcárcel ihren Gatten nennt, zieht dabei bezeichnenderweise den Probenraum der Oper vor, der ihm die Illusion gibt, nicht nur Zuhörer, sondern Teil des Künstlerensembles zu sein. Die Proben verleihen den Aufführungen eben jenen »effet de réel«, wie ihn Reyes bei den öffentlichen Opernspektakeln vermisst: Por un instinto de buen gusto, de que él no podía darse cuenta, lo que aborrecía en las representaciones públicas era la mala escuela de declamación, la falsedad de actitudes, trajes, gestos, etc., etc., de los cómicos que iban por aquel pobre teatro de provincia. En el ensayo no veía un Nabucodonosor que parecía el rey de bastos, ni un Atila semejante a un cabrero, sino un caballero particular que cantaba bien y estaba preocupado

34 Clarín: Su único hijo, Madrid: Alianza Editorial, 1976, S. 31, im Folgenden zitiert mit der Sigle Suh und Seitenzahl in Klammern. 35 Clarín: Sein einziger Sohn, übers. v. Elke Wehr, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel, 2002, S. 32, im Folgenden zitiert mit der Sigle SeS und Seitenzahl in Klammern.

218 | KIRSTEN VON HAGEN de veras con sus cosas, verbigracia, la mala paga, el mal tiempo que le tomaba la voz o el correo que le traía malas noticias. Bonifacio amaba el arte por el artista. (Suh 36) Aus einem instinktiven guten Geschmack heraus, von dem er nichts ahnte, verabscheute er bei den öffentlichen Aufführungen die schlechte Vortragskunst, die Falschheit der Attitüden, Kleider, Gebärden usw. der Darsteller, die sich auf dieser ärmlichen Provinzbühne bewegten. Bei der Probe sah er keinen Nebukadnezar, der wie eine Spielkartenfigur aussah, noch einen Attila, der einem Ziegenhirten glich, sondern einen Privatmann, der gut sang und sich wirklich um seine Angelegenheiten sorgte, zum Beispiel um die schlechte Bezahlung, um das schlechte Wetter, das ihm auf die Stimme schlug, oder um die Post, die ihm schlechte Nachrichten brachte. Bonifacio liebte die Kunst um des Künstlers willen. (SeS 39)

Er, die einzige Figur dieses satirischen Gesellschaftsporträts, der der Erzähler teilweise so etwas wie Sympathie entgegenbringt, zeigt dabei eine Suche nach dem Wahren, eine Ablehnung des bloß Scheinhaften, die seiner Frau Emma Valcárcel fehlt. Emma, die zunächst ganz in ihrem eingebildeten Leiden aufgeht, ihren Körper buchstäblich in Watte packt, geht eines Tages gemeinsam mit ihrer Zofe heimlich in die Oper, indem sie sich als einfache Frau aus dem Volk verkleidet. Derart findet sie Gefallen an dem Spektakel, das dadurch eine Steigerung erfährt, dass sie beim nächsten Opernbesuch, den sie nun nicht mehr inkognito absolviert, sondern herausgeputzt mit ihren schönsten Kleidern und Juwelen, selbst zum zentralen Ereignis der Opernaufführung avanciert. Sie ist das Ereignis, alle Blicke, alle Operngläser sind auf sie gerichtet. Sogar nachdem die Oper begonnen hat, ist sie es, die den Fokus des Interesses markiert. Emma projiziert nicht nur ihre unerfüllten erotischen Wünsche auf die Bühnenhandlung, sie imaginiert auch eine erotische Beziehung mit dem Bariton: […] y clavaba los gemelos en un personaje que acababa de llegar de tierra de moros, vencedor como él solo, y que se encontraba con que la reina le había casado a la novia con un rey de Francia […]. El vencedor de los infieles era el barítono Minghetti, que lucía dos espuelas como dos soles, y tenía un vozarrón tremendo, no mal timbrado y lleno de energía. (Suh 133) […] sie richtete das Opernglas auf eine Gestalt, die gerade aus dem Land der Mauren zurückgekehrt war, siegreich wie kein anderer, und der feststellen mußte, daß die Königin seine Braut mit einem König von Frankreich vermählt hatte […]. Der Sieger über die Ungläubigen war der Bariton Minghetti, der zwei Sporen wie zwei Sonnen trug und eine gewaltige Stimme hatte, kraftvoll und mit keinem schlechten Timbre. (SeS 146)

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Beugt sich Emma Bovary in ihrer Loge vor, um den Tenor Edgar Lagardy besser sehen zu können, so nimmt Emma Valcárcel das Opernglas zu Hilfe, um das Objekt ihrer Begierde anzuvisieren und dank eben jenes optischen Hilfsmittels kreuzen sich ihre Blicke und ihr Begehren wird aufs Neue entfacht: Llegó su mirada al palco de Emma, que sintió los ojos azules y dulcísimos de Minghetti metérsele por los tubos de los gemelos y sonreírle, a ella […]. Para sus adentros se dijo: »Esto es más serio, es un placer más hondo que satisface más ansias, que tiene más sustancia…« (Suh 133 f.) Sein Blick traf auf die Loge Emmas, die sah, wie die blauen, sanften Augen Minghettis in die beiden Gläser des Opernglases eindrangen und ihr zulächelten, […]. In ihrem Inneren sagte sie sich: Das ist ernster, das ist ein tieferes Lustgefühl, es befriedigt ein größeres Begehren […]. (SeS 147)

Anders als bei Emma Bovary findet hier jedoch keine komplette Versenkung in die Opernhandlung statt. Die Identifikation mit der Sopranistin ist weit oberflächlicher und primär an Äußerlichkeiten bzw. am Materiellen orientiert. So hat sich Emma Valcárcel dieselben Stiefel gekauft wie die Sopranistin und diese Stiefel sind es zunächst auch, auf die sie ihre ganze Aufmerksamkeit richtet und die ihr einen Schrei der Begeisterung entlocken: – ¡Ah! – gritó, […] antes de salir de los labios, Emma, que acababa de ver un pie de la Gorgheggi, al descender la tiple majestuosamente de su trono de madera pintada de colorines. Fuera un anacronismo o no, las botas de S. A. eran idénticas a las que había comprado ella por la tarde. (Suh 132) »Ah«, entfuhr es Emma, die den Schrei gerade noch ersticken konnte, bevor er ihr über die Lippen kam, denn sie hatte einen Fuß der Gorgheggi gesehen, als die Sopranistin majestätisch von ihrem in bunten Farben angemalten Holzthron herabstieg. Ob es nun ein Anachronismus war oder nicht, die Stiefel Ihrer Hoheit glichen aufs Haar denen, die sie an diesem Tag gekauft hatte. (SeS 145)

Der Schrei kann bereits als Anspielung auf die Opernszene bei Flaubert gewertet werden. Die Grenzen zwischen Oper und dem Opernhaften im Leben der Eheleute verschwimmen immer mehr. Beide agieren, als stünden sie als Solisten auf einer Opernbühne.36 Ein weiteres Indiz, dass es sich hier um eine ironische Verkehrung der Flaubertschen Opernszene handelt, findet sich

36 Vgl. Noël Maureen Valis: The Decadent Vision in Leopoldo Alas. A Study of ›La Regenta‹ and ›Su único hijo‹, Baton Rouge/London: Louisiana State University Press, 1981, S. 116 f.

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in dem einzigen Hinweis, welche Oper da in der spanischen Provinz eigentlich aufgeführt wird. Als die Eheleute wieder im heimischen Schlafzimmer sind, bittet Emma ihren Mann, sie in Gestalt der Sopranistin zu lieben und ihr seinerseits als Bariton Minghetti entgegenzutreten: Mira, mira, yo soy la Gorgheggi o la Gorgoritos, esa que cantaba hace poco, la reina Micomicona […] y para hacerte la ilusión, mírame, aquí, aquí, aquí tontín […], las botas lo mismo que las de ella; cógele un pie a la Gorgoritos […] anda, ahora canta, dila que sí, que la quieres, que olvidas a la de Francia y que te casas con ella […] tu eres Minghetti y yo la Gorgoritos… (Suh 138 f.) Sieh nur, ich bin die Gorgheggi, die Trillerfrau, die gerade die Königin Mikomikona gesungen hat […] und damit die Illusion komplett ist, schau her, hierher, hierher, Dummerchen […] die Stiefel sind die gleichen wie ihre; faß einen Fuß der Trillerfrau […] komm, sing jetzt, sag ihr, du liebst sie, du vergißt die in Frankreich und heiratest sie […] du bist Minghetti und ich die Trillerfrau. (SeS 152 f.)

Es handelt sich demzufolge um eine Opernadaptation von Cervantes’ Don Quijote, des Romans, der gleichsam als Urtext die Gefahr übermäßiger Lektüre in Szene gesetzt hat und der immer wieder mit Flauberts Madame Bovary in Verbindung gebracht worden ist. So markiert auch bei Clarín Bonifacios Vorliebe für die Oper, insbesondere die Opernproben, jene Suche nach dem Idealen, dem Verwirklichen eigener Träume, wie sie die Literatur der Romantik in dem begeisterten Flötisten evoziert hat. Bei Clarín versucht Bonifacio wie Emma Bovary sein Leben in einen Roman zu transformieren, während sich seine Frau aus falsch verstandener romantischer Lektüre und aus Rache auf eine Liebschaft mit dem Bariton einlässt. Fortan lebt das Ehepaar Reyes-Valcárcel seine erotischen Wünsche mit dem Sopran und dem Bariton aus. Wenn sich indes die beiden Eheleute lieben, so geschieht dies, wie in Goethes Wahlverwandtschaften, gewissermaßen stellvertretend: Er stellt sich vor, sie sei seine geliebte Serafina, sie glaubt, mit dem Bariton Minghetti erotische Stunden zu verbringen. Am Ende steht wie auch bei Goethe ein Kind, »su único hijo«, sein einziger Sohn, dessen Herkunft von einem Mysterium umgeben ist. Bonifacio möchte fest daran glauben, dass es sich dabei um seinen Sohn handelt, auch wenn die nunmehr von ihrem bürgerlichen Liebhaber enttäuschte Serafina ihm sagt, es handele sich dabei um ein uneheliches Kind, das Ergebnis der Leidenschaft seiner Frau für den Bariton Minghetti. Den Rahmen für diese Enthüllung gibt einmal mehr die Oper vor – die von Minghetti auf einer Orgel in der Kirche intonierte Verdi-Oper La Traviata (1853):

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¡Cosa rara! ¿Por qué no sonaría mal La Traviata en la iglesia? Aquello debía ser una profanación… y no lo era. Era que en La Traviata, bien o mal, había amor y dolor, amor y muerte; es decir, toda la religión y toda la vida… ¡Oh, cómo hablaba el órgano de los misterios del destino! (Suh 271 f.) Wie seltsam! Warum wohl klang La Traviata nicht schlecht in der Kirche? Das müßte doch eigentlich eine Profanierung sein… und war es nicht. Das lag daran, daß es in La Traviata, im Guten und im Schlechten, Liebe und Schmerz gab, Liebe und Tod, das heißt, die ganze Religion und das ganze Leben… Oh, wie sprach doch die Orgel von den Rätseln des Schicksals! (SeS 304)

Das Sakrale vermischt sich mit dem Profanen, die Oper legt hier einmal mehr einen Überschuss der Gefühle offen, der gesetzte Grenzen überschreitet. Von besonderer Brisanz ist dabei, dass hier eine Oper – noch dazu an einem religiösen Ort – zur Aufführung kommt, in der eine lungenkranke Kokotte die Hauptrolle spielt, die ihr Glück dem gesellschaftlichen Schein opfert. Bei Clarín abermals die ironische Verkehrung: diesmal ist es die leichtlebige Operndiva, die am Schluss dafür sorgt, dass die vom Helden so sorgfältig konstruierte Erlösergeschichte zum Einsturz gebracht wird. Dass die Oper indes an diesem Ort nicht falsch klingt, liegt daran, dass hier nur die Musik – auf der Orgel intoniert – zur Aufführung kommt, nicht aber der zur multimedial organisierten Oper gehörige Gesang, den Clarín, wie andere Zeitgenossen, als falsch, als scheinhaft, vehement zurückwies.37 In seinem zweiten Roman Su único hijo erkenne man, so Mariano Baquero Goyanes, am deutlichsten die Clarínsche Verurteilung des unechten Lebens, der scheinheiligen und theatralischen Geste, von allem was den »Ort des wahren und natürlich vitalen« usurpiere.38 Doch so einfach stellt sich der Fall bei Clarín nicht dar. Steht die Operninszenierung einerseits für das Scheinhafte, das Clarín zurückwies, so spricht die Musik andererseits von Claríns uneinlösbarer Sehnsucht nach einer idealen Welt jenseits sprachlicher Repräsentation.39 So formulierte Clarín in dem Artikel »La novela novelesca«:

37 Serge Salaün: »España empieza en Despeñaperros: Lo andaluz en la escena nacional«, in: Yvan Lissorgues/Gonzalo Sobejano (Hrsg.): Pensamiento y Literatura en España en el Siglo XIX: Idealismo, Positivismo, Espiritualismo, Toulouse: Presses Universitaires du Mirail, 1998, S. 211–222, hier S. 218. 38 Mariano Baquero Goyanes: »Exaltación de lo vital en La Regenta«, in: José María Martínez Cachero (Hrsg.): Leopoldo Alas »Clarin«, Madrid: Taurus, 1978, S. 157– 178, hier S. 165. 39 John W. Kronik: »Tradición e innovación en los cuentos de Clarín«, in: Antonio Vilanova/Adolfo Sotelo Vázquez (Hrsg.) : Leopoldo Alas ›Clarin‹, Actas del simpo-

222 | KIRSTEN VON HAGEN Y por mi parte añadiré que hay otra cosa que suelo echar de menos en las novelas contemporáneas…: la poesía. Sí: suele faltar la poesía en un sentido restringido y algo vago de la palabra; […] sentido al pensar en el cual se piensa un poco en lo lírico y hasta en lo musical.40 Und ich für meinen Teil möchte hinzufügen, dass es etwas anderes gibt, das ich in den heutigen Romanen vermisse: die Poesie. Ja, es fehlt die Poesie in einem eingeschränkten und etwas vagen Verständnis des Wortes. Ein Verständnis, das einen ein wenig an das Lyrische denken lässt bis zum Musikalischen.

Die Oper markiert damit auch hier jene »higher narrative« im Sinne Lindenbergers, jene Suche nach dem Idealen, die insbesondere die späteren Texte Claríns kennzeichnet, in denen eine immer deutlichere Abkehr vom Naturalismus eines Zola zu erkennen ist und eine Hinwendung zum »espiritualismo«, wie er ihn vor allem in der russischen Literatur eines Tolstoi zu erkennen meinte. Deutlich wird dieses Spannungsverhältnis bereits in Claríns erstem Roman La Regenta, in dem das Opernhafte zugleich das scheinhafte Verhalten der provinziellen Vetuster Gesellschaft kennzeichnet, der des mondänen Casinos ebenso wie des geistlichen Lebens mit seiner Karfreitagsprozession. Das Opernhafte wird so auf der diskursiven Ebene zum Modell eines neuen Schreibens, das aber auf der histoire-Ebene als scheinhaft diskreditiert wird. Hazel Gold schreibt über Claríns zweiten Roman: Alas’s Novel becomes an exploration of possible literary responses to the growing sense of crisis that afflicts Spanish Writers and thinkers at the turn of the century. Opera in this novel destabilizes narrative; it variously opposes music to silence, music to noise and music to words, thereby raising serious questions regarding the viability of traditional novelistic form and the linguistic medium in which it is decanted.41

Somit illustrieren alle der hier vorgestellten Texte eindringlich, wie im 19. Jahrhundert insbesondere die Oper mit ihrem Überschuss des Exzess’ im realistischen Roman zum privilegierten Raum einer Reflexion des Realismus avanciert mit je unterschiedlicher Fokussierung und Ausrichtung. Gekoppelt ist diese Reflexion an die Thematik der Liebe und Ehe. Ehebruch

sio internacional, Barcelona: Universitat de Barcelona, 2002, S. 187–206, hier S. 194. 40 Clarín: »La novela novelesca«, in: Leopoldo Alas (Hrsg.): Ensayos y revistas, Barcelona: Lumen, 1991, S. 137–157, hier S. 154. 41 Hazel Gold: »The Novelist at the Opera«, in: Hal L. Boudreau (Hrsg.): Intertextual Pursuits: Literary Mediations in Modern Spanish Narrative, Cranbury: Associated University Presses, 1998, S. 76–96, hier S. 78.

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und Liebesverrat in unterschiedlichen Spielarten konstituieren dabei die Folie, vor der gesellschaftliche Grenzüberschreitungen diskutiert werden, die zugleich auf Transgression im medialen Raum verweist. Während Stendhal die Liebesthematik zwischen Exzess und Rollenspiel à la Valmont an eine Realismusdiskussion koppelt, die das subjektive und imaginative Moment jeder realistischen Repräsentation betont, diskutiert Flaubert in der Opernszene einmal mehr die Diskrepanz zwischen der Traumwelt der Protagonistin und der sie umgebenden Wirklichkeit und macht den Leser derart zum Komplizen des diskreten und entsubjektivierten Erzählers.42 Clarín schließlich bedient sich in seinen beiden Romanen der Oper als Modell auf der Diskursebene, diskreditiert sie indes zugleich als Inbegriff des gesellschaftlichen Scheins auf der histoire-Ebene. In Claríns Roman indes lässt sich das Geschehen nicht auf eine oder wenige zentrale Opernszene reduzieren, sondern das Opernhafte durchzieht als Darstellungsmodus den gesamten Roman und affiziert nach und nach alle gesellschaftlichen Bereiche.

42 Jean-Claude Lafay: Le Réel et la critique dans Madame Bovary de Flaubert, Paris: Lettres Modernes, 1986, S. 33.

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Autorinnen und Autoren

Catharina Busjan lehrt Italienische Literaturwissenschaft und koordiniert den Studiengang Sprache, Literatur, Kultur an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Christian Grünnagel lehrt Romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Anke Grutschus lehrt Romanische Sprachwissenschaft an der Universität zu Köln und absolvierte ein Schulmusik-Studium an der Hochschule für Musik in Köln. Kirsten von Hagen ist Professorin für Romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Maria Imhof lehrt Romanische Literaturwissenschaft mit medienwissenschaftlichem Schwerpunkt an der Universität zu Köln. Costantino Maeder ist Professor für Italienische Sprache und Literatur an der Université catholique de Louvain und Leiter des dortigen Centro di studi italiani. Wolfram Nitsch ist Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln und Sprecher des dortigen Zentrums für Medienwissenschaften und Moderneforschung. Claude Paul lehrt Französische Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Thorsten Philipp ist promovierter Politikwissenschaftler und arbeitet als Mitarbeiter der Hochschulkommunikation im Auswahlverfahren der Bachelorprogramme an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen Saskia Woyke promovierte in Musikwissenschaft und arbeitet in einem DFG-Projekt am Forschungsinstitut für Musiktheater (fimt) der Universität Bayreuth.

machina Matei Chihaia Der Golem-Effekt Orientierung und phantastische Immersion im Zeitalter des Kinos 2011, 392 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1714-6

Marina Ortrud M. Hertrampf Photographie und Roman Analyse – Form – Funktion. Intermedialität im Spannungsfeld von nouveau roman und postmoderner Ästhetik im Werk von Patrick Deville 2011, 432 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1718-4

Maria Imhof Schneller als der Schein Theatralität und Beschleunigung in der spanischen Romantik 2013, 276 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1890-7

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machina Frank Lestringant Die Erfindung des Raums Kartographie, Fiktion und Alterität in der Literatur der Renaissance. Erfurter Mercator-Vorlesungen (hg. von Jörg Dünne) 2012, 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1630-9

Jochen Mecke (Hg.) Medien der Literatur Vom Almanach zur Hyperfiction. Stationen einer Mediengeschichte der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2010, 298 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1675-0

Christine Rath Schamhafte Geschichte Metahistorische Reflexionen im Werk von Jorge Luis Borges 2011, 266 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1766-5

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