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German Pages [499] Year 2019
Alexander Kluge-Jahrbuch
Band 5 j 2018
Herausgegeben von Richard Langston, Gunther Martens, Vincent Pauval, Christian Schulte und Rainer Stollmann
Advisory Board: Leslie Adelson, Gr8gory Cormann, Astrid Deuber-Mankowsky, Devin Fore, Tara Forrest, Jeremy Hamers, Karin Harrasser, Stefanie Harris, Michael Jennings, Gertrud Koch, C8line Letawe, Helmut Lethen, Susanne Marten, Christopher Pavsek, Mark Potocnik, Eric Rentschler, Winfried Siebers, Ruth Sonderegger, Ulrike Sprenger, Georg Stanitzek, Joseph Vogl
Vincent Pauval / Herbert Holl / Clemens Pornschlegel (Hg.)
Von Sinn(en) und Gefühlen
Mit 58 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Alexander Kluge Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-7782 ISBN 978-3-7370-0940-9
Inhalt
Einleitung: Sinn(e) und Zeit – Kluges Parteinahme für die Gefühle in Anbetracht der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Alexander Kluge Mit allen Sinnen sannen wir auf Rettung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Georges Didi-Huberman Hunderttausend Milliarden Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sven Hanuschek Laudatio auf Alexander Kluge. Jean Paul-Preis 2017 . . . . . . . . . . . .
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Alexander Kluge / Vincent Pauval »Erzählen hat sehr viel mit Empathie zu tun«
. . . . . . . . . . . . . . .
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Alexander Kluge Ort der Einfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ulrike Sprenger Pikareskes Geschmackserlebnis und europäisches Unterscheidungsvermögen: Ernst Opel an der Ostfront . . . . . . . . . .
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Alexander Kluge Türkischer Honig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andr8 Combes Vom blinden Sehen bei Alexander Kluge . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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DCTP – Ten to Eleven vom 2. Oktober 2017 (RTL) (Kluge / van Hemmen) »Die Mathematik der sinnlichen Kraft« – Leo van Hemmen, Biophysiker
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Inhalt
Alexander Kluge Scarpia als Männerkörper. Die tausend Seelen des Polizeichefs . . . . . .
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Maguelone Loublier Eine gespenstische Stimme geht um in Alexander Kluges Filmen . . . . . 101 Vanessa Scharrer Lichtfiguren. Die Plastizität des Lichts in Alexander Kluges Minutenfilmen »Die sanfte Schminke des Lichts« . . . . . . . . . . . . . 115 Alexander Kluge Großaufnahme eines Grasbüschels
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Hilda Inderwildi Im Dickicht der Sinne, ein melancholisches Gefühl. Betrachtungen zu Dezember von Alexander Kluge und Gerhard Richter . . . . . . . . . . . 129 DCTP – News & Stories vom 3. August 2014 (SAT.1) (Kluge / Kiefer) Ein Vormittag mit Anselm Kiefer – Besuch in seinem Atelier bei Paris . . 151 Helen Müller Kooperation. Zur Schärfung eines Begriffs anhand von Alexander Kluges jüngster Zusammenarbeit mit Georg Baselitz: Weltverändernder Zorn. Nachricht von Gegenfüßlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Alexander Kluge / Vincent Pauval Wenn Worte Bilder sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Vincent Pauval Kommentar und Common sense als narrative Praxis. Zur Logik des Elementaren bei Alexander Kluge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Alexander Kluge »Flüssigmachen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Stefan Schweigler Politiken der Wahrnehmung und queere Gefühle. Alexander Kluge und Lilo Wanders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 DCTP – Ten to Eleven vom 22. September 1997 (RTL) (Kluge / Wanders) »Ich sage niemals Mausi« – Lilo Wanders und das Hohelied Salomos . . . 243
Inhalt
Martin Rass Double blind – Alexander Kluges abarischer Punkt
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. . . . . . . . . . . . 253
Alexander Kluge Das Gewicht des Gefühls, dort, wo es wenig galt . . . . . . . . . . . . . . 269 Melanie Konrad Kinofizierungs- und Mediatisierungsverfahren. Zur Produktion von Gefühlen und Geschichtlichkeit in Alexander Kluges Nachrichten aus der ideologischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Wolfgang Asholt Die Herzlichkeit der Vernunft oder »was den Menschen im eigentlichen Sinne menschlich macht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Alexander Kluge Ist Hilde unvernünftig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Christian Wimplinger Über Eigensinn, Arbeit und andere Zombiegeschichten. Enteignung des Nah- und Fernsinns bei Negt und Kluge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Alexander Kluge Mein wahres Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Rainer Stollmann »Was der Mann für Unsinn macht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Jean-Pierre Dubost Desorientierte Orientierungen. Topographie und Navigation bei Alexander Kluge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Alexander Kluge Parade in der Sylvesternacht 1918 in Paris. Wie wir zu spät lernten, den subjektiven Eindruck auf dem Filmmaterial festzuhalten . . . . . . . . . 355 Alexander Kluge Vorrede zu Chronique des sentiments – Livre II – Inqui8tance du temps (P.O.L, 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
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Inhalt
Alexander Kluge / Vincent Pauval »Anwalt der dreizehnten Fee« – Über »Unheimlichkeit der Zeit« . . . . . 363 Alexander Kluge Eingemachte Elefantenwünsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Birgit Haberpeuntner Der langrüsselige Atem der Rache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Clemens Pornschlegel Verschönerungsarbeiten am Recht. Notiz zu Alexander Kluges Erzählung »Bettine G.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Herbert Holl Zeitentzug, Sinnentzug – »Sinnlich sein heißt leiden« . . . . . . . . . . . 399 Alexander Kluge Rachegefühl als Freizeitthema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Herbert Holl Anita G.s Zeitfluxion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Kza Han Pour Alexandra Kluge – Speculum animae / Für Alexandra Kluge – Speculum animae . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
REZENSIONEN Sylvie Le Mo[l Kluges Pluriversum – zum Greifen nah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Winfried Siebers Christoph Streckhardt, Kaleidoskop Kluge. Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln, Tübingen: Narr Francke Attempto 2016. 451 Seiten (ISBN: 978-3772085888). . . . . . . . . . . . . 449 Valentin Mertes Dorothea Walzer, Arbeit am Exemplarischen. Poetische Verfahren der Kritik bei Alexander Kluge, Paderborn: Fink 2017. 214 Seiten (ISBN: 978-3-7705-6201-5). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
Inhalt
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BUCHANZEIGE Philipp Ekardt über seine Monografie Toward Fewer Images. The Work of Alexander Kluge, Cambridge (Massachusetts): The MIT Press, 2018, 410 Seiten (ISBN: 978-0262037976) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
VERZEICHNISSE 2017 Beata Wiggen Verzeichnis der Kulturmagazine 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Winfried Siebers Bibliographie zu Alexander Kluge 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
AUTORINNEN UND AUTOREN Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
Einleitung: Sinn(e) und Zeit – Kluges Parteinahme für die Gefühle in Anbetracht der Geschichte
Vielleicht ist es eine Überlegung Heiner Müllers, welche die geschichtliche Situation der poetischen Produktion Alexander Kluges am prägnantesten umreißt: widerständige Kunst in einer augenblicksversessenen Gegenwart, die sich durch den rasenden Stillstand einer geschichtslos agierenden politischen, ökonomischen und technologischen Vernunft auszeichnet. Das Denken, wie es in Think Tanks, Exzellenz-Centern, Unternehmensakademien, Projektteams in professioneller Abhängigkeit betrieben wird, versucht nicht geduldig, staunend zu denken, was ist und geworden ist, sondern stellt sich in einem fort den aufgegebenen komplexen, technischen Problemen und erarbeitet – zielführend, versteht sich – Lösungsvorschläge. Es kennt nicht die unerfüllten, womöglich verrückten Wünsche der Toten und kein geschichtsphilosophisches Telos jenseits des auf Dauer gestellten, die Zukunft gierig in sich saugenden Waren- und Kapitalverkehrs mitsamt Bilanzen, Konjunkturen, Krisen, Zusammenbrüchen, Wirbelstürmen, Hitzewellen, rund um den Globus, ohne Unterbrechung. Die Gegenwart genügt sich in der Immanenz von Produktions-DistributionsKommunikations-Konsumptions-Zyklen, in welcher menschliche Subjekte vornehmlich als Netz-Adressen fungieren, als user, client, consumer, an denen ihnen genau die (Nicht-)Handlungsspielräume bleiben, welche die anonym laufenden Algorithmen und Codes fürsorglich für sie vorgesehen haben. Auswege – anderer Praxen und Lebensformen, anderer Erfahrungen, anderer Vergesellschaftungsprozesse – erscheinen ebenso illusorisch wie unvernünftig; wer Utopie sagt, ist verdächtig. Am Ende der Geschichte, das bekanntlich kurz nach 1990 ausgerufen wurde, um politische Kämpfe seither in Angelegenheiten der imperialen Polizeiapparate zu verwandeln, dreht sich das Große Schicksalsrad der Konjunkturen, Krisen, Demographien, der Auf- und der Abschwünge. Immer im Kreis. Ans Abenteuer des sozialen und menschlichen Fortschritts, des Vorwärts! und der besseren Zukunft, an theoretische Geschichts- und Gesellschaftsentwürfe, die noch bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts auf Anderes hoffen ließen, mag im Zeitalter der aus den Kriegsökonomien hervorgegangenen
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Einleitung
totalen Märkte – Paul Virilio hat mit Nachdruck daran erinnert1 – niemand mehr glauben. Heiner Müller diagnostizierte 1991 in diesem Sinn: Es ist fast unmöglich, einen Punkt zu finden, von dem aus unbekanntes Terrain in den Blick gerät. Das gelingt nur noch in der Kunst, nicht mehr in der Reflexion. Reflexion wird immer mehr zu Reproduktion. Wo aber nichts Neues gedacht wird, verliert Öffentlichkeit ihre lebendige Funktion. […] Die Realität ist dermaßen komplex geworden, dass sich das Denken nicht mehr zurechtfindet. Es kann nicht mehr zwischen relevanten Bezügen und Scheingefechten unterscheiden. Diese Orientierungslosigkeit macht angst. Aus Angst greift man zu Vereinfachungen. […] Denken bereitet keine Lust mehr, und das führt dazu, dass man nur noch auf die nächste Katastrophe wartet, von der man nicht weiß, wann sie stattfindet.2
Die Überlegung Heiner Müllers zum historischen Schiffbruch einer politisch engagierten Theorie und der kritischen Öffentlichkeit, die im Spektakel der zielstrebig privatisierten Kommunikationsmärkte untergegangen sind, hilft in der Tat, auch das Werk Alexander Kluges genauer zu bestimmen: nämlich als den beharrlich fortgesetzten Versuch, die menschlichen Sinne und die in ihnen archivierten geschichtlichen Erfahrungen, Gefühle, Affekte und Empfindungsvermögen mit den Mitteln der Poesie – des Geschichtenerzählens, des Filmemachens, der Musik, der gebildeten Konversation – immer wieder kritisch zu wecken und zu mobilisieren, und zwar gegen die Orientierungslosigkeit einer sich in egoistischen Interessenkonflikten aufreibenden Gegenwart, gegen die von ihr hervorgerufenen Ängste und kruden ideologischen Vereinfachungen. Alexander Kluges Vertrauen in den zivilisierten Lebenswillen der Menschen, in ihre Gefühle, kooperativen Fähigkeiten, sozialen Vermögen und praktischsinnliche Intelligenz, wie sie sich in der langen Geschichte der Evolution herausgebildet haben, ist unerschütterlich – so unerschütterlich wie jenes »weiche Wasser in Bewegung«, das »mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt«. »Es gibt« nämlich, sagt Kluge gegen jede Art von Kulturpessimismus und Untergangsverliebtheit, einen ›verständigenden‹ Gebrauch des Gefühls und die Benutzung des Gefühls. Die Werbeindustrie zum Beispiel oder die Massenmedien nehmen große Mengen an Gefühl im Sinne von ›sentimental‹ und regieren damit Menschen. Das Gegenteil davon ist das, was Gefühle in Wirklichkeit können und tun, nämlich ursprünglich die Fähigkeit der Warmblüter zwischen warm und kalt zu unterscheiden. Das Gefühl besteht in einem immer präziseren Unterscheidungsvermögen und gleichzeitig aus einem synthetisie-
1 Vgl. Paul Virilio: L’ins8curit8 du territoire, Paris 1976. 2 Heiner Müller : Werke 12, hrsg. v Frank Hörnigk, Gespräche 3. 1991–1995, Frankfurt a.M. 2008, S. 10–12.
Einleitung
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renden Vermögen, durch welches sich im Menschen, im Subjekt etwas so zusammenfügt, etwa wenn man von ›Liebe‹ spricht, dass er Patriot eines anderen Menschen wird.3
Das vorliegende Jahrbuch ist genau diesem unerschütterlichen, großen, beharrlichen und sanften Vertrauen Alexander Kluges in die Unterscheidungsvermögen der menschlichen Sinne und Gefühle beziehungsweise den Gefühlen als kritischen, auf Rettung bedachten Unterscheidungsvermögen und der spezifischen Sinnlichkeit, wie sie für das gesamte Werk charakteristisch ist, gewidmet. Es versammelt Aufsätze zu den poetischen Fragen und Verfahren, wie Kluge sie in seinen literarischen Arbeiten, Filmen, Fernsehsendungen, Interviews, Ausstellungen im Lauf der Jahre entwickelt hat, bislang unveröffentlichte Gespräche mit Alexander Kluge, Rezensionen zu neueren Studien über das Werk sowie für das Thema »Von Sinn(en) und Gefühlen« charakteristische Texte Kluges. ›Gefühl‹ hat im Werk Kluges nichts mit vagen Sentiments und diffusen Befindlichkeiten zu tun. Der Begriff ist präziser gefasst. »Sich orientieren heißt, den Aufgang zu finden, das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand. Ich nenne es ein Gefühl; weil diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied zeigen«: so zitiert Jean Pierre Dubost gleich zu Beginn seines Beitrages Immanuel Kants Schrift »Was heißt sich im Denken orientieren« von 1786. Gefühl erweist sich hier als kognitiv und sinnlich zugleich. Im »Umgang mit Horizontverschiebungen«, wie sie sich aus den tödlichen Lernprozessen der beiden Weltkriege, der deutschen Nachkriegszeit, aber auch der »Wende« notwendig ergeben haben, ist Orientierung im kantischen Sinne für Kluge allerdings weniger ein Thema als der »Stoff selbst, aus dem Muster entstehen«. Denn wenn die Geschichte insgesamt zur leeren Ruinenlandschaft geworden ist, wie kann es dann ein Oben und Unten, ein Rechts und Links, ein Rück- und ein Vorwärts als Orientierungsgröße noch geben? Kluge fragt mit Walter Benjamin deswegen immer wieder nach der Möglichkeit, wie man sich im horrenden Dunkel des historischen Augenblicks noch orientieren kann, also dort, wo der Tastsinn eher als der Gesichtssinn brauchbar ist. Da es kaum möglich ist, eine solche Orientierung des blinden Tastsinns in eine klare, politische Orientierung zu überführen, wird Klees »Engel der Geschichte« von Benjamin reorientiert: Er wird – mit weit aufgerissenen Augen – umgedreht. Revolution im wörtlichen Sinn charakterisiert Benjamins »astronomische Phase, in welcher die Hölle durch die Menschheit hindurchwandert«. Und solch eine waghalsige »Wanderschaft«, mit einer »Sternenkarte« als Orientierung – ein cross mapping? –, kennzeichnet auch Kluges Werk, das eine sinnenhafte »politische Öko3 Alexander Kluge: »Erzählen hat sehr viel mit Empathie zu tun«, Alexander Kluge im Gespräch mit Vincent Pauval; in diesem Band S. 38.
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Einleitung
nomie der Sterne« erträumt. Bezeichnenderweise birgt die Hölle keine Überhitze, sondern – den unmenschlichen Verhältnissen entsprechend – extreme Kälte. In Dantes Hölle befindet sich Luzifer kaum zufällig im Mittelpunkt der Eiskreise. Der rastlosen Geschwindigkeit eingedenk, in der sich heute »alle Möglichkeitsverhältnisse ändern«, experimentiert Alexander Kluges Pluriversum – und darin ähnelt Kluge dem Licht- und Farbenerforscher Goethe – mit intensiven Montagen »wiederholter Spiegelungen« der Weltseele mit allen nur erdenklichen Geschichts- und Gefühlsaggregaten der »mehr als fünf Sinne«: flüssige, gasförmige, schaum- und filzartige… Dem Kosmos selbst wird wieder Sinnlichkeit eingeschrieben, die ihn dem menschlichen Sensorium zugänglich macht – gegen jene Entfremdungen und Formatierungen, die ihn auf die Größe standardisierter Nutzeroberflächen schrumpfen lassen. Eine Besonderheit des vorliegenden Jahrbuchs stellt der Umstand dar, dass in ihm nicht vorrangig nur die deutschsprachige Kluge-Forschung zu Wort kommt, sondern dass mit den Beiträgen von Andr8 Combes, Georges Didi-Huberman, Jean-Pierre Dubost, Herbert Holl, Hilda Inderwildi, Sylvie Le Mo[l, Maguelone Loublier und Vincent Pauval die neuere französische Kluge-Rezeption prominent vertreten ist. Sie zeugt – wenn sie Alexander Kluge zusammen mit Henri Bergson, Ren8 Char, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Jean-Luc Godard, Maurice Merleau-Ponty oder Pascal Quignard liest – von der dezidiert kosmopolitischen Dimension eines Werkes, das seine Wurzeln in der aufklärerisch universalen Ausrichtung der ›klassischen‹ deutschen Kulturtraditionen (in der Literatur, der Musik, der Philosophie, der Malerei, im Film) hat und sich gegen jede Spielart bornierter kultureller Nationalismen wendet. Auch wenn (oder gerade weil) Alexander Kluge in seinen Texten und Filmen immer wieder die deutschen Katastrophen des 20. Jahrhunderts umkreist und zu begreifen sucht, den Wahn des Zweiten und den noch größeren des Dritten Reichs, die rapiden Zusammenbrüche, die unerhörten Verbrechen und rastlosen Wiederaufbauaktivitäten, so knüpft er poetologisch und konzeptuell, im Wissen um das tödliche Unheil nationaler Beschränkungen, mit zivilisatorischem Nachdruck an den großen, der ganzen Menschheit verpflichteten Kanon der universalen Künste und Wissenschaften an, an Homer, Hokusai, Ovid, Vergil, Gance, Eisenstein, Lao-Tse, Vertov, Voltaire, Ab8lard, Goya, Proust, Goethe, Chopin, Monteverdi, Christian Morgenstern, Alfred Jarry… Nur so lässt sich das in Raum und Zeit nomadisierende Wunschportrait verstehen, das Alexander Kluge im Gespräch mit Vincent Pauval von sich selbst entwirft: Ich selbst würde mich als Mönch wohlfühlen, mit einer Geliebten versteht sich, inmitten dieses genialen 12. Jahrhunderts, in dem erstmals das Wissen durchbrach. Da erleben Sie, wie Otto von Freising, ein Onkel von Kaiser Barbarossa, sich nach Paris begibt, um
Einleitung
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dort einige Jahre lang u. a. bei Abelard zu studieren. Dann kehrt er zurück und verfasst eine Weltgeschichte.4
Einen winzigen Beitrag zu dieser offenen, mehrdimensionalen, poly-sensoriellen Weltgeschichte – die eine Chronik der Gefühle ist – hofft auch das diesjährige Alexander-Kluge-Jahrbuch zu leisten, nachdem man in der Kluge-Forschung lange einen allzu einseitig theoretisierenden Ansatz pflegte, wozu mitunter der Intellektuelle Duktus des klugeschen Oeuvres selbst verleiten mochte. Gewiss wird seit einigen Jahren vereinzelt versucht, nach der »poetischen Kraft der Theorie«, die theoretische Potenz des Gefühls herauszustellen. Nicht zuletzt trugen mehr als ein Beitrag der vorangehenden Bände dieser Reihe hierzu bei. Insofern unternimmt die aktuelle Ausgabe den Versuch, einem elementareren Ansatz gerecht zu werden, bei dem Kluges eigensinniger Impetus auf sein eigenes Werk angewandt werden soll, also mit der Absicht, auf die Metamorphosen seiner Dialektik aus »Chronik« und »Gefühl« radikal sich einzulassen. Das besondere Anliegen dieser Sammlung besteht darin, der Dialektik von Sinn und Gefühl auf den Grund zu gehen, um auf diese Weise Kluges Werk mit der Empathie zu erörtern, die der Autor selbst immer deutlicher fordert wie auch bewusster einsetzt. Die einstige »Herzlosigkeit« der Narration und die nunmehr praktizierte »Herzlichkeit der Vernunft« werden durch eine integrale Aktualisierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in Bewegung gebracht, dynamisiert, ja »flüssiggemacht«. Unser besonderer Dank gilt Michaela Bresching für Ihre unermüdliche und zuverlässige redaktionelle Mitarbeit bei Transkription, Übersetzung, Lektorat und Korrektorat. Auch Melanie Konrad und Louise Haitz sei an dieser Stelle für ihre Mithilfe beim Lektorat gedankt. Weiterhin sind wir Christian Schulte für seine freundliche, vermittelnde Unterstützung zu Dank verpflichtet. Recht herzlich möchten wir außerdem Alexander Kluge danken, sowohl für die Freigabe von Erzähltexten und Fernsehgesprächen als auch für die gewährten Interviews. Herbert Holl, Vincent Pauval, Clemens Pornschlegel
4 Ebd., S. 44.
Alexander Kluge
Mit allen Sinnen sannen wir auf Rettung
Frieda Below, Darmstadt, kämpfte sich, ein Kind mit Schal um die Hüfte gebunden und das zweite über der Schulter (wie ein etwas größeres Gewehr oder eine Panzerfaust), durch die Rheinstraße zum Bahnhof, wo sie einen Arzt vermutete. SA versperrte alle Zugänge, weil die Frauenklinik von Dr. Sackwert in diesem Moment in die Wartesäle gebracht wurde, Bahre auf Bahre, aber auch nur in Decken transportierte Frauen. Dort verlor Frau Below erstmals die Nerven, weil keiner der Ärzte oder Transporteure abzudrängen war, sich die verbrannten Füße ihres Kindes anzusehen. Es hieß, Sonderzüge, LKW, alle verfügbaren Fahrzeuge des NSKK und ab sofort auch Fuhrwerke sollten die Bevölkerung in die umliegenden Dörfer transportieren. Die heulende Below mit ihren Kindern, wie ein großer und ein kleiner Sack, wurden auf einem Fuhrwerk in ein unberührtes Dorf gefahren. In einem leeren Gästezimmer, mit einem kleinen Eisenofen ausgestattet, fand sie sich wieder. Die Möbel des Zimmers waren aber fortgeschafft, damit sie nicht im Öfchen verheizt werden konnten. Was sollten wir in diesem leeren Zimmer? Wo sollten die Kinder schlafen? Nachmittags fand sie zur Praxis eines Landarztes, der eine große Kochpfanne (für Puter oder Gänse) mit Fissan-Lebertransalbe füllte. Er stellte den Fuß von Frau Belows älterem Kind in den Brei aus dieser Paste. Diese Reaktion des landerfahrenen Arztes, obwohl dort kaum Brandwunden dieses Ausmaßes vorkamen, allenfalls bei einem Scheunenbrand, war das erste, was Frau Below als »ausreichend« empfand. Daß es überhaupt eine solche füllige Hilfe gab, stellte ihr Weltbild her, und sie beteiligte sich als Hilfe des Arztes den Tag über. »Jetzt brauchen wir uns nicht mehr zu sorgen, denn wir haben ja nichts mehr«, sagte sie. Der gute Mut war sofort wieder da, sobald die Pfanne mit der Paste dastand, als menschliches Zeichen von großzügig angewandter Arbeitskraft. (aus: Chronik der Gefühle II, S. 25)
Georges Didi-Huberman
Hunderttausend Milliarden Bilder
Der nachfolgende Text von Georges Didi-Huberman ist erstmals am 8. April 2016 in der Literaturbeilage der Tageszeitung Le Monde unter dem Titel »L’œil ouvert d’Alexander Kluge« erschienen. Es handelt sich um die Rezension des Eröffnungsbandes der französischen Übersetzung von Alexander Kluges Chronik der Gefühle. Die Besprechung in Le Monde war bahnbrechend für die weitgehend positive Aufnahme der Chronik durch die französische Literaturkritik sowie das Interesse des (mit Kluge bislang wenig vertrauten) Lesepublikums. Georges DidiHuberman hat den Artikel in seinem Buch AperÅues vor kurzem erneut veröffentlicht1, und zwar unter dem ihm ursprünglich zugedachten Titel: »Cent mille milliards d’images«. Chronik der Gefühle vereint Alexander Kluges großes literarisches Werk. Es ist ein außergewöhnliches Buch, ein Buch wie ein Ozean, dessen erster Band (einer Reihe, die aus fünf, vielleicht sechs Bänden bestehen wird) nicht weniger als 1136 Seiten umfasst. Alexander Kluge, geboren 1932, ist als ein Mann der Bilder bekannt. Wir können daran erinnern, dass er Fritz Langs Assistent war, dass er seitdem unzählige Filme gemacht hat, deren gesamte Spieldauer selbst kaum in Zahlen zu fassen ist. Ebenso ist er ein Mann der Gedanken. Er arbeitete mit dem Philosophen Theodor W. Adorno zusammen und hörte nie auf nachzudenken, indem er unermüdlich mit Schriftstellern, Philosophen, Künstlern, Soziologen oder Historikern über die Welt vor uns, um uns und nach uns diskutierte. Diese beiden Voraussetzungen – die Walter Benjamin (1892–1940) seinerzeit in dem einzigen Wort Denkbilder zu vereinen vermochte – machen ihn zu einem Literaten im radikalsten, im originellsten Sinne des Wortes: einem Schriftsteller ohne Grenzen. Es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet der Verlag P.O.L, welcher die am weitesten gefächerte Formenpalette zeitgenössischer Literatur
1 Siehe »Cent mille milliards d’images« in: Georges Didi-Huberman, AperÅues, Paris, Les Pditions de Minuit, 2018, S. 28–31. (A. d. H.)
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Georges Didi-Huberman
anbietet, sich dafür entschieden hat, dieses bedeutende Werk unter der sicheren Federführung von Vincent Pauval herauszugeben. Alexander Kluge schreibt viel, denn er beobachtet viel, lernt viel, denkt viel, mag viel, kritisiert viel, amüsiert sich viel, empfindet und erregt sich viel, erfindet viel. Er hat viel, sehr viel Vorstellungskraft. Insofern ist er ein großer Romantiker, der seinen Blick auf das rhizomatische Los unserer Zeit richtet. Mögen Sie dabei jedoch nicht die Bezeichnung »romantisch« vorschnell auf etwas »Romanhaftes« beschränken, denn das eine hat mit dem anderen kaum zu tun. Das ist es übrigens, was dem französischen Leser, mit seiner Vorliebe für Romane, am wenigsten vertraut erscheinen wird, ihn aber auch am meisten fesseln und ihm völlig neu vorkommen wird. Chronik der Gefühle ähnelt nämlich nicht im Geringsten unserer Erziehung der Gefühle2. Man betrachtet nicht das Schicksal einer Figur an den Vorfällen, die deren besonderen Lebensweg säumen und bestimmen; vielmehr hat man den Eindruck, hunderttausend Milliarden Schicksale zu verfolgen, die durch ein immanentes und mysteriöses Gesetz miteinander verknüpft sind. Während die Hunderttausend Milliarden Gedichte von Raymond Queneau durch blankes Kombinationsspiel entstanden, brechen die hunderttausend Milliarden Bilder von Alexander Kluge plötzlich aus seinen enzyklopädisch oder extravagant anmutenden, zwar unwahrscheinlichen, dennoch wahrhaftigen Montagen von Ereignissen hervor, aus riesengroßen und klitzekleinen Dingen. Die von Kluge eingesetzte Vorstellungskraft erscheint mir sehr »romantisch«, und zwar in genau dem Sinne, wie Goethe und Baudelaire sie definierten. Vorstellungskraft meine die Kunst, so Baudelaire, »die intimen und geheimen Beziehungen der Dinge, deren Verbindungen und Entsprechungen« sichtbar zu machen. Sie ist also die »Fähigkeit zur Erkenntnis«, keine »persönliche Fantasie«, die der Dichter strikt ablehnte. Sie ist das exakte Gegenteil von dem, was in der Literatur als selbstzufriedenes Selfie ihrer eigenen Beunruhigung so oft üblich ist. Sie fasst die Welt und den öffentlichen Raum durch das erfinderische Verknüpfen unzähliger, überall in der Welt oder in der Geschichte zusammengetragener Körper, Gesten, Situationen, Gedanken, Dinge oder Ereignisse… So betrachtet, ist die Chronik der Gefühle ebenso zurückzuführen auf Baudelaires Raketen, wie auf die Tausenden durch Goethe in seinem Weimarer Haus zusammengetragenen kleinen Sammlungen (aus Fragmenten von Graburnen, Halbedelsteinen, Stoffproben, Wespennestern, unechten Vögeln, Kinderspielzeug, monströsen Eiern und vielem anderen mehr). Wie Goethe, so verhält sich auch Alexander Kluge als Archäologe, der sich aufs Feld begibt, mit den Leuten spricht, Proben nimmt, die Archive mit der Geduld 2 Vgl. den berühmten Roman von Gustave Flaubert (1821–1880), der im Jahr 1869 unter dem Titel L’Pducation sentimentale erschien. (A. d. H.)
Hunderttausend Milliarden Bilder
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eines Philologen durchsucht. Aus all dem stellt er ein immenses labyrinthisches Geschichtenbuch zusammen. Mit unserer historischen Wirklichkeit tut er das, was die Gebrüder Grimm mit den Märchen aus unserer Kindheit machten. Er hat gewiss keinen Zeichenblock und keine Schachtel mit Wasserfarben dabei, wie einst Goethe. Dafür jedoch eine Kamera. Er verwandelt alles, was er liest in Bilder und aus allem, was er sieht und erahnt, macht er Literatur. Man wundere sich nicht, wenn beim Lesen der Chronik der Gefühle Bilder auftauchen – Fotografien, Landkarten, Ausschnitte populärer Zeitschriften… – deren Unterschriften oft selbst wie neue, in den Erzählungen enthaltene Erzählungen sind, wenn zum Beispiel am Rand eines Schlachtplans von Waterloo zu lesen ist, »daß zahlreiche Verwundete oder Tote sich nach ihrer Entkleidung als junge Frauen erwiesen«3, so dass die Geschichte aus sich selbst befreit und unserer Vorstellungskraft Gelegenheit gegeben wird, einige merkwürdige Schlüsse daraus zu ziehen. Der Leser scheint auf den Pfaden eines durch Das Allgemeine Brouillon von Novalis oder Das Passagenwerk von Walter Benjamin neu interpretierten Tolstoi zu wandeln, in zugleich deutlich brüderlicher Verwandtschaft mit Autoren wie Thomas Mann, Heiner Müller, W. G. Sebald oder H. M. Enzensberger. Als wirklicher Romantiker denkt Alexander Kluge, dass seine verrücktesten Assoziationen einen gewissen objektiven Zustand der Welt getreu wiedergeben. Er denkt sich nicht nur verblüffende Geschichten aus, sondern ihm gelingt es auch, die objektiven Elemente dieser Vorstellungen zu dokumentieren: zum Beispiel, wenn er die Geschichte von Nietzsches (schlecht) eingefrorenem Sperma4 oder die Mission Heideggers auf der Krim5 erzählt, oder wenn er für einen Bericht in den Lokalnachrichten erzählerische Nahaufnahmen der Klitoris einer Tigerin macht…6 Kluge glaubt nicht nur an die theoretische Kraft der Fakten, von denen schon Goethe sprach, darüber hinaus beweist er auch die poetische Kraft der Theorien. Daher konnte er, gemäß einer nicht realisierten Eingebung des Filmemachers Sergei Eisenstein (1898–1948), ausgehend von Marx’ Werk Das Kapital ein ganzes Universum von Erzählungen und Bildsequenzen schaffen (Texte und Fotogramme sind durch den Verlag Th8.tre typographique 2014 wunderschön herausgegeben worden).7 3 Siehe »Blüchers Schwangerschaft« in: Alexander Kluge, Chronik der Gefühle – Band I – Basisgeschichten, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2000, S. 855. (A. d. H.) 4 Siehe »Nietzsches vorletzter Gedanke«, ebda, S. 499ff. (A. d. H.) 5 Siehe »Heidegger auf der Krim«, ebda, S. 417–434. (A. d. H.) 6 Siehe »Geschlechtsteile in Großaufnahme«, ebda, S. 382–385. Die Erzählung ist ebenfalls in diesem Jahrbuch abgedruckt. (A. d. H.) 7 Die Rede ist hier von Kluges Montage-Film Nachrichten aus der ideologischen Antike: Marx – Eisenstein – Das Kapital, Frankfurt am Main, Suhrkamp (Filmedition), 2009. Georges Didi-
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Georges Didi-Huberman
Eines der wesentlichen Prinzipien dieser literarischen Kunst ist zweifelsohne an dem festzumachen, was die Modernität eines Joyce, eines Benjamin oder eines Eisenstein ausmacht, welche wiederum zu Goethe zurückführt: nämlich die entzückte Gewissheit, dass jeder besondere Fall, vorausgesetzt er sei ergiebig, sich wie ein Urphänomen verhält, das in gewisser Weise die Welt und Menschheitsgeschichte als Ganzes betrifft. So beginnt die Chronik der Gefühle etwa mit der Beschreibung einer in einem Glas Pernod ertrunkenen Fliege – Aber nein! Ihre Rettung gelingt!8 –, bis es fünfzig Seiten weiter der Leser selbst ist, der sich fühlen wird, als ginge er in der Beschreibung der Katastrophe von Fukushima unter. Dabei versäumt Kluge nicht anzumerken, dass der Zeitaufwand der Fliege, um sich zu retten, für sie einem jahrelangen Kampf gleichkommt. Ebenfalls merkt er an, dass Fliegen schon viel länger (nämlich 18 Millionen Jahre) existieren als wir Menschen, und dass der Stamm ihrer »Nachkommen« vielleicht sogar die Unseren überleben wird. Tatsächlich scheint Kluges Erzählkunst stets auf einer Art von kindlichem Staunen zu beruhen (eines sehr neugierigen Kindes, das alles sehen und wissen, alle Geheimnisse dieser Welt durchdringen will). Es ist ein Erstaunen vor der Zeit oder vielmehr vor den vielen Zeiten, die in jedem Ereignis verwoben sind. »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück«9, sagte Karl Kraus, den Kluge gern zitiert. Und wie mit den Worten, so ist es auch mit den menschlichen Handlungen: In jeder einzelnen, so flüchtig oder dauerhaft sie auch sein mag, fügen sich das schmale Zeitmaß einer Gelegenheit (der griechische Kairos) und das Schicksal in all seiner Tiefgründigkeit und Unendlichkeit (der griechische Aion). Dazwischen erwuchs dem Chronos der »Chronik« die Aufgabe, neue Arten des Erzählens von Geschichte zu erfinden anhand unserer zahllosen,
Huberman war am 17. März 2016 als Zuschauer bei einer Podiumsdiskussion um diesen Film präsent, die im Rahmen einer Ringvorlesung im Pariser Ausstellungshaus LE BAL über »KarlMarx-Inszenierungen« (»Marx en scHne«) stattfand, und an der auch B8n8dicte Vilgrain, Herausgeberin des erwähnten Filmbuchs Id8ologies: des nouvelles de l’Antiquit8 teilnahm. Es war die erste Begegnung zwischen Kluge und Didi-Huberman, die bei der Gelegenheit ihre jüngst erschienenen Bücher austauschten. So erhielt Didi-Huberman den ersten Band der französischen Ausgabe seiner Chronik der Gefühle, woraufhin er diese Rezension für das wöchentliche Le Monde des Livres verfasste. Im Gegenzug bot der sechste Band von DidiHubermans Werkreihe Das Auge der Geschichte, der ebenfalls gerade beim Pariser Verlag der Pditions de Minuit erschienen war, den Stoff für ein DCTP-Fernsehgespräch mit Kluge, das am Montag darauf, den 21. März 2016, in Didi-Hubermans Wohnung aufgezeichnet wurde. (A. d. H.) 8 Siehe »Die Fliege im Pernod-Glas«, in: Das fünfte Buch, Berlin, Suhrkamp, 2012, S. 13. (A. d. H.) 9 Siehe »Stalingrad als Nachricht«, in: Chronik der Gefühle – Band I – Basisgeschichten, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2000, S. 740. (A. d. H.)
Hunderttausend Milliarden Bilder
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großen und kleinen Geschichten, welche aber stets von unseren Emotionen oder »Gefühlen« durchdrungen sind. Aus dem Französischen von Michaela Bresching und Vincent Pauval
Sven Hanuschek
Laudatio auf Alexander Kluge. Jean Paul-Preis 2017
1. Alexander Kluge hat einmal gesagt, »wenn ich mit mir allein bin und Zeit habe – würde ich schreiben. Das einzige, was mir beim Buch fehlt, ist Musik und bewegtes Bild«. Damit hat er seinem Medium – einem seiner Medien – ein großes Kompliment gemacht und gleichzeitig fundamentale Einschränkungen formuliert. In ein paar Minuten das Werk Kluges zu würdigen, hat seine Schwierigkeiten, auch wenn es sich um einen Literaturpreis und somit nur um einen Teil des Gesamtwerks handelt. Hinzu kommen ganz subjektive Einschränkungen – es passiert einem ja nicht oft im Leben, dass ein Autor, der für eigene Prägungen mitverantwortlich ist, über so viele Jahre da ist, dass er sein Werk weiter ausbauen kann, dass man seinen Veränderungen immer weiter folgen kann – das ist ein großes Glück. Es waren vor allem zwei Filme und die zugehörigen Filmbücher, Die Patriotin (1979) und Die Macht der Gefühle (1983), die mir als knapp Zwanzigjährigem eingeleuchtet haben: Genau so könnten Geschichten erzählt werden, die unserer Zeit angemessen sind; in Erzählstrukturen, die nicht nur das 19. Jahrhundert fortschreiben, die multiperspektivisch sind, offen, frech, neugierig, auch zornig auf diese Welt um uns herum, ohne sie herablassend zu benörgeln. Filme, die man sieht, wie man eine gelungene Symphonie hört, jede Minute der exzessiven Montagefilme bringt neue Überraschungen, Blickwechsel, Komplexionen und Vereinfachungen, Ebenenwechsel – auch wirklich Musik. Und Sätze, die einen ein Leben lang nicht verlassen: »Alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang.« – »Jeder Mensch hat alle Gefühle. Hätte jeder nur eins, wäre es vom Standpunkt der Bindekunst einfacher.« – »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück. DEUTSCHLAND«. Kluges Werk war für viele wie für mich so etwas wie ein kognitiver WeltÖffner, durch sein Erzählen wie durch sein Analysieren, durch seine Lust am Beobachten, an den Sinnen, am Vielwissen, an Philosophie und Theorie, die in ihrer Weise ja auch welterschließende, mitunter poetische Erzählungen sind.
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Kluges Lust an unverhofften Sprüngen und Kombinationen, sein gewaltiges Repertoire, vielleicht noch Universalität, die es ja nicht mehr gibt, aber vielleicht doch ein bisschen. Wenn Sie Kluges Werk betreten, betreten Sie einen Kosmos, und ich versuche im Folgenden, ein paar Winkel dieses Kosmos zu benennen.
2. ›Frühwerk‹. – Ich beginne mit den ersten Büchern Kluges, am Anfang stehen die Lebensläufe. Anwesenheitsliste für eine Beerdigung (1962), darunter einige der bekanntesten Erzählungen wie Ein Liebesversuch oder Anita G., aus der der Film Abschied von gestern (1966) geworden ist, ein Band, der Kluge sofort bekannt machte und der seine vielleicht wichtigste Form, den Lebenslauf, einführte. Mit den hier erzählten lässt sich darüber nachdenken, was das faschistische Erbe in Deutschland bedeutet hat, wie soll man damit umgehen, welche Leben wurden wie zerstört durch diesen Teil der deutschen Geschichte? Diese Fragen hat Kluge vor mehr als einem halben Jahrhundert gestellt, als der Auschwitz-Prozess noch bevorstand, der Eichmann-Prozess gerade erst abgeschlossen war. Von den auch problematischen Entwicklungen, der Bewältigungsindustrie, war noch nichts zu sehen. Hier gibt es schon ungewöhnliche Erzählperspektiven, die sich in den nachfolgenden Erzählungsbänden, Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1973), Unheimlichkeit der Zeit. Neue Geschichten (1977) schnell radikalisieren, die Formen lockern sich, die Einfälle werden extremer, ich erinnere nur an die titelgebende Science Fiction-Geschichte Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, eine 120 Seiten-Montage mit vier »Experten«, die aus dem Kessel von Stalingrad entkommen, noch den Dritten Weltkrieg überleben und von einem kleinen Jupitermond aus schreiben, im Jahr 2103. Der dokumentarische Roman Schlachtbeschreibung (1964) war zuvor der Versuch, ins dokumentarische Extrem zu gehen, Stalingrad in einer gewaltigen Recherche- und Dokumentationsarbeit zu ›verstehen‹: Wie ist diese Armee überhaupt dorthin gekommen? Das ›Ergebnis‹ ist gerade, dass Stalingrad nicht verstanden werden kann. So dokumentarisch die Einzelheiten sind, das »Buch wird dadurch nicht dokumentarischer«; lapidar heißt es in der Nachbemerkung: Wer in Stalingrad etwas sah, Aktenvermerke schrieb, Nachrichten durchgab, Quellen schuf, stützte sich auf das, was zwei Augen sehen können. Ein Unglück, das eine Maschinerie von 300 000 Menschen betrifft, ist nicht so zu erfassen,
die Montage der Quellen liefert allenfalls ein »Gitter, an das sich die Phantasie des Lesers anklammern kann« – wie in jedem fiktionalen Roman auch. Die Erinnerungslosigkeit ist durch das Buch vielleicht etwas gebrochen, die Trauer ist zurückgeholt worden in den öffentlichen Diskurs.
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Strengere dokumentarische Verfahren sind damit beendet; Kluge wendet sie zwar weiterhin an, sie werden aber nie ganz durchgehalten, es gibt gefälschte oder falsch zugeordnete Dokumente, es gibt Fakes, die Sie alle aus den Fernsehsendungen kennen, es gibt sie auch in den literarischen Texten. – Dieses frühe Werk hat Kluge zusammengefasst in der Chronik der Gefühle (2000), die etwa zur Hälfte bereits neue Arbeiten bringt. Seither baut er systematisch an einer Werkstruktur, die ich Wundertüte nennen möchte – in der Forschung wird vornehmer vom »Kaleidoskop« gesprochen, zu dem mir eher die ›kaleidoskopischen Kollidiereskapaden‹ einfielen. Diese Form, vorher, vor allem in den Filmbüchern schon angelegt, wird nun immer weiter ausgefahren, mit Bänden wie Die Lücke, die der Teufel lässt (2003), Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006), Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe (2012), Kongs große Stunde (2015), dazu die thematisch enger gefassten Bände wie Geschichten vom Kino (2007), Das Labyrinth der zärtlichen Kraft (2009), Das Bohren harter Bretter (2011) oder 30. April 1945 (2014). Diese kleine Bibliothek ist Teil eines großen work in progress, an dem der Autor schreibt, ein Panorama von Sammelbänden, das immer wieder umgebaut, neu kombiniert und erweitert wird. Seit der Chronik der Gefühle wirken diese Bände zunehmend wie eine Einheit.
3. Polyhistor. – Will man diese Einheit beschreiben, fällt zuerst die Weite des Repertoires auf, die umfassende Neugier auf Welt: »Lesen ist Sammeln. Ich erfinde nicht, ich entdecke.« Kluges Blick ist der eines Polyhistors, auf allen Gebieten, ob er sich über die Biokosmisten in der Sowjetunion, die luxuriösen Pissoirs in europäischen Behörden, den dicken kranken Napoleon oder die Erfindung des Klebers in der Antike als Beginn der Moderne Gedanken macht. »Wiz weidet auf allen Fluren«, so Jean Paul; »die Stalfütterung nur fürs Rindvieh«. Die barocken Polyhistoren waren Sammler, Bibliographen, Vorläufer der Enzyklopädisten. Alles, was jemals als Weltgeschichte, Literatur oder Philosophie gesammelt worden ist, sollte umfassend dokumentiert, dieses Wissen sollte ›diszipliniert‹, eingeteilt werden. Als »geübter wissenschaftlich-anarchistischer Mensch«, als den Kluge sich sieht, zeigt sich seine Polyhistorie nicht interessiert an einer Einteilung in Einzeldisziplinen: Er kann unendlich weitererzählen, solange sein nervöses Sensorium Geschichten findet, die sich umformen und in seiner Art, filmisch oder literarisch, gestalten lassen. Polyhistoren haben keine hierarchisierende Sicht auf Welt, sie pflegen einen erzdemokratischen Umgang mit dem Wissen um Teil und Ganzes. Aus jedem Detail, aus jeder Neben-Geschichte lässt sich eine Haupt-Geschichte eigenen Rechts erzählen, in unendlicher Progression. Wir sollen ihm vertrauen, weil der »Erfahrungsgehalt« stimmt, jenseits einer
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faktischen Ebene: »Ich gehöre zur ›Kritischen Theorie‹ und werde den Leser nicht betrügen. Die Verwaltung der Authentizität darf er mir überlassen.« Nicht hierarchisierend heißt, dass die großen Namen schon auch da sind, es würde gerade nicht die Geschichte von Cäsars Koch erzählt oder die Geschichte Cäsars aus dem Blick des Kochs, sondern die Geschichten Cäsars und des Kochs, gleichberechtigt, dazu vielleicht noch die Geschichte aus der Perspektive eines bestimmten Kochlöffels, in dem auch lange menschliche Erfahrung steckt. Auch die ästhetische Form ist beiordnend: Die Verweigerung der großen dramaturgischen Bögen, das Erzählen von Gegen-Geschichten funktioniert nur vor dem Hintergrund der Bekanntheit ›üblicher‹ Dramaturgien, der Schemata aus Exposition, Entwicklung, Lösung bzw. Katastrophe, die Verweigerung des Handlungs-Primats funktioniert nur, weil die Leser sonst an dieses Primat gewöhnt sind. Und sie sind nicht darauf angewiesen, die Reihenfolge auch einzuhalten: Diese Bücher lassen sich an jeder Stelle aufschlagen und lesen, jedes Segment kann für sich stehen, kann »Momente der Überraschung«, von »besinnungslosem Glück« auslösen.
4. Das Dialogische. – Mit der Vielfalt seines Werks und seinen ästhetischen Prinzipien forciert Alexander Kluge immer wieder Anschlussfähigkeit, die nicht zuletzt auch durch Montage entsteht, eine zurückhaltende, man kann sich seine Ordnungen in Kluges Büchern auch selber suchen. Texte sind etwas Festgehaltenes, Fixiertes, können dadurch auch hermetisch sein – um sie in Bewegung, in Fluss zu bringen, muss man über sie reden. Und Literatur kann auch mit anderem korrespondieren, mit Bildender Kunst etwa. Kluge hat eine Fülle dialogischer Bücher herausgebracht, mit Georg Baselitz, Gerhard Richter, mit Ferdinand v. Schirach, Rainer Stollmann, seine theoretischen Arbeiten zusammen mit Oskar Negt, und Sie alle haben ihn als Fragenden im Ohr, als neugierigen Menschen, der wirklich wissen will, was andere zu bestimmten Dingen und Fragen denken. Da geht es auch um demokratische Verfahren: Jede, jeder kann ihre/seine Geschichten in die Lücken der Montage bringen, nach den eigenen Anschlüssen suchen, Lücken zwingen gerade dazu, sich selbst, die eigene Phantasie, die eigenen Gefühle hineinzutragen. Die Welt, die durch Kooperation vielleicht noch zu retten ist, wird hier auch als eine Welt der Kommunikation gezeigt. Bei diesem Darüber-Sprechen zeigt sich auch: Es gibt keine Erzählung ohne Mehrdeutigkeit, ohne Polyphonie; die Vorgeschichten, historische Traditionen, klingen mit, die Konstellation, in der sie im Band stehen, und der Zusammenhang mit dem, was tatsächliche Menschen tun.
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5. Komik/Groteske. – Der Namensgeber dieses Preises, Jean Paul, hat in einem seiner vielen berückenden Momente in der Vorschule der Ästhetik beschrieben, was seiner Meinung nach ein Humorist ist: »Er gleicht dem Vogel Merops, welcher zwar dem Himmel den Schwanz zukehrt, aber doch in dieser Richtung in den Himmel auffliegt.« Der Merops ist ein Bienenfresser, in Deutschland hat man der Schwanzmeise (dem ›Pfannenstielchen‹) Ähnliches nachgesagt. Das klingt nach einem idyllischen Bildchen, ist aber doch etwas anderes, eine Metapher für den Blick des Poeten: Er entfernt sich mit seinem Flug von der sinnlichen Welt, aber er bekommt auch immer mehr in den Blick durch seine Bewegung. In seinem – Rücken (um es mal so zu sagen) ist der Himmel, die Transzendenz, die er nie erreicht und die er niemals sehen wird, aber er fliegt in die richtige Richtung. Das ist nicht versöhnlich, Jean Paul meint den vernichtenden Humor, der nicht sieht, wohin es ihn treibt, und der für ein Lachen steht, »worin noch ein Schmerz und eine Größe ist«. Sein Begriff für Groteske, und für groteske Komik; und Komik distanziert sich, ist angriffslustig, sie ist keine Ironie, kein ›einverstandener‹ Humor. Das Unzusammengehörige, das schief beantwortete, schief oder mit einem Sprung fortgeführte ist Kluges Lust; er sagt, das komme aus Halberstadt, sei dort heute noch im Schul-Pausengespräch so: Gut angesehen ist der, der versetzt antwortet, und so sind die Geschichten in Kluges Bänden auch aneinandergekettelt. Was soll das heißen, eine angriffslustige Komik? Wir leben alle in unserem Bild von Wirklichkeit, die wir bauen, aus vielen Teilrealitäten, eine Konstruktion, man könnte auch sagen eine Fiktion. Dieser Glaube an Wirklichkeit kann durch Witz, durch Lachen beschädigt werden, sie wirken »enthomogenisierend«, unser Verständnis von Wirklichkeit, auch unser Selbstverständnis kann momentweise zur Disposition gestellt werden, und das ist ein Gefühl von Freiheit. Wenn Kluge das crossmapping mit dem Bild erklärt: »Mit der Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern«, also eine Wirklichkeitskategorie mit einer anderen ›lesen‹, kann das schief gehen – Sie »brechen sich einen Arm« – , aber das ist auch eine »unmittelbare Erfahrung: man bricht sich diesen Arm nicht ein zweites Mal.« Und wenn Sie nur davon lesen, schmerzt der Arm noch nicht einmal, und Sie machen die Erfahrung trotzdem. Solche Überkreuzungen können auch die zwischen Theorie und Erzählung sein, und in der Philosophie die Komik zu finden, gehört zu den größeren Entdeckungen Kluges, würde ich behaupten. Vielleicht noch einen Satz, um das ›Konstellieren‹ zu verdeutlichen, die Art, wie Groteske entsteht. Ein Vers, den Alexander Kluge mehrfach verwendet hat, stammt aus einem Gedicht von Johann Baptist Mayrhofer: »Die Erde ist gewaltig schön,/ Doch sicher ist sie nicht!« Franz Schubert hat das Gedicht vertont, es heißt Wie Ulfru fischt. Das klingt ja erst einmal keineswegs komisch; das wird es
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erst, wenn man weiß, dass kein Mensch weiß, wer Ulfru ist – und dass die Sprecher des Gedichts Fische sind, die, die er nicht erwischt, andernfalls er sie vermutlich essen würde. Aber vielleicht soll Ulfru auch ins Wasser gelockt werden, die Nixen geben ihm die Fische nicht, gefährlich für Ulfru, nicht für die Fische… die Groteske funktioniert also nicht einmal durch den Vers selbst, erst durch seine Kontexte. Dass die Erde »gewaltig schön« ist, darin steckt die Menschheitsgeschichte als Erfolgsgeschichte der Evolution (bisher), in gewisser Weise ›schön‹; aber auch die Gewalt, eine Katastrophengeschichte.
6. Fortführen der Kritischen Theorie. Antirealismus der Gefühle. – Hier entspringt Kluges Blick und Werk der Kritischen Theorie, Adornos vor allem, dem ja immer präsent war, dass wir in einer Welt leben, in der »Katastrophen eintreten«. Am Anfang steht immer auch Gesellschaftsanalyse, die Wirklichkeit soll schon so präzis wie möglich wahrgenommen werden, ohne dass daraus je eine geschlossene systematische Philosophie geworden wäre, ein System sei der »Geist gewordene Bauch« (Adorno, nicht Kluge – Negative Dialektik, 1966). Die Kritische Theorie wollte die Gesellschaft analysieren »im Lichte ihrer genutzten und ungenutzten oder mißbrauchten Kapazitäten zur Verbesserung der menschlichen Lage«; kürzer als mit Herbert Marcuse lässt sich das nicht sagen. Die Messlatte bei Adorno ist der Massenmord an den europäischen Juden, Auschwitz, jede Kunst muss sich messen lassen, ob sie sich dazu verhält oder so fort macht, als sei nichts gewesen. Daran kann Kluges Werk sich messen lassen, keine Frage; aber er sucht dennoch in den geschichtlichen Prozessen, so schrecklich und gegen die Einzelnen gerichtet sie verlaufen mögen, immer nach den Gefühlen ›unter‹ der Geschichte. Wie haben die Menschen versucht, Auswege zu finden aus der Kälte gesellschaftlicher Verhältnisse? Wer traut sich »und reißt die Kälte vom Pferd«? Woher nehmen wir die Hoffnung, die sich immer wieder reaktivieren lässt? Das ist mit dem Anti-Realismus der Gefühle gemeint: Menschen können nicht immer nur Realisten sein. Wir hoffen, wünschen, suchen nach den guten Ausgängen, auch in unseren Erfahrungen und in denen unserer Vorfahren – und um uns das klar zu machen, dazu brauchen wir Literatur. Eine fast befremdliche Leseerfahrung, die Sie mit Kluges Literatur machen können: er erzählt Ihnen von guten Wendungen, vom Glück, von den Katastrophen des Jahrhunderts, politischen wie privaten, und Sie gehen eher frohgemut aus diesen Lektüre heraus, obwohl Ihnen keine Katastrophe verschwiegen worden ist. Solche Katastrophen können ja auch die eigenen Bindungen betreffen, und zu diesem Thema lässt sich viel im letzten Großband Kongs große Stunde (2015)
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finden. King Kongs große Stunde ist die Verteidigung der weißen Frau: »Das, was wir lieben, müssen wir beschützen.« Die Menschen gehören zur Familie der Trockennasenaffen, es steckt noch viel Kong in uns, etwas, das älter und manchmal mächtiger ist als wir. Das ist quer durch die Geschlechter aufzufassen, in einer der komischsten Geschichten stellt die Erzählerin, eine Managerin, klar : »Mein Mann ist die weiße Frau in meiner Hand. Was für ein Zwerg im Gemüt!« In Kongs große Stunde ist viel über Kluges eigene Verluste, seine eigene Herkunftsfamilie zu erfahren – er schreibt, um seine geschiedenen Eltern wieder zusammenzubringen – , der Band lässt sich auch als Einkreisung, Bestimmung des Bürgertums lesen, und Bürger ist man ja nicht einfach nicht mehr, wenn man sich zum Nichtbürger erklärt, ein großes Thema. Kluge führt diesen Diskurs anhand seines eigenen Vaters, des Arztes Ernst Kluge aus Halberstadt, der noch unzweifelhaft ein Bürger war. Einen seiner Vorschläge möchte ich für die Berliner Koalitionsrunden 2017/18 empfehlen: für ein »langfristiges Überleben ohne Krieg« wäre es nach Ernst Kluges Meinung besser, wenn bei solchen Verhandlungen geraucht würde. Seiner Erfahrung nach bringt das Gelassenheit. […] Das Fehlen von Likören oder einem erfrischenden Champagner […] scheint meinem Vater gefährlicher, als es Nikotin und Brandstoffe in der Lunge sein können, wenn es um die Herabsetzung der Rivalitätsschranke zwischen Verhandlern geht. Der menschliche Körper […] ist robust.
Herzlichen Glückwunsch an Alexander Kluge zum Jean Paul-Preis!
Quellen Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Alexander Kluge. München 2011. Alexander Kluge: Lebensläufe. Anwesenheitsliste für eine Beerdigung. Frankfurt am Main 1974. – : Schlachtbeschreibung. Roman. Frankfurt am Main 1983. – : Lernprozesse mit tödlichem Ausgang. Frankfurt am Main 1973. – : Die Patriotin. Texte / Bilder 1–6. Frankfurt am Main 1979. – / Oskar Negt: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt am Main 1981. – : Die Macht der Gefühle. Frankfurt am Main 1984. – : Chronik der Gefühle. 2 Bde., Frankfurt am Main 2000. – : Geschichten vom Kino. Frankfurt am Main 2007. – : Glückliche Umstände, leihweise. Das Lesebuch. Hg. Thomas Combrink. Frankfurt am Main 2008. – : Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs. Berlin 2015. – / Rainer Stollmann: Ferngespräche. Über Eisenstein, Marx, das Kapital, die Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft. Berlin 2016. Johann Mayrhofer: Gedichte. Wien 1824.
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Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: J. P.: Sämtliche Werke. Abteilung I. Fünfter Band. Hg. Norbert Miller. München, Wien, 6. korr. Auflage 1995. – : Ideen-Gewimmel. Texte und Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß, Hg. Kurt Wölfel, Thomas Wirtz. Frankfurt am Main 1996. Christian Schulte (Hg.): Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge. Osnabrück 2000. Rainer Stollmann: Alexander Kluge zur Einführung. Hamburg 1998. Christoph Streckhardt: Kaleidoskop Kluge. Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln. Tübingen 2016.
Alexander Kluge / Vincent Pauval
»Erzählen hat sehr viel mit Empathie zu tun«
Das folgende Gespräch wurde Anfang März 2016 aufgezeichnet, unmittelbar vor Erscheinen des ersten Bandes der französischen Fassung von Chronik der Gefühle im Pariser Verlag P.O.L1. Aus diesem Anlass wurde es ins Französische übersetzt und in der traditionsreichen Literaturzeitschrift Europe publiziert. Hier nun die Urfassung in deutscher Sprache. VINCENT PAUVAL: In Frankreich kennt man Sie als Filmemacher, doch Sie sind eben auch ein Schriftsteller. Als was würden Sie sich eher bezeichnen? ALEXANDER KLUGE: Spontan würde ich sagen: Ich bin ein Patriot von Büchern. Ich muss aber Gott sei Dank nicht wählen. Wenn ich ein Buch schreibe, fehlt mir die Musik, die freie Bewegung der Bilder und die mündliche Ausdrucksweise. Wenn ich einen Film mache, fehlt mir die »Geduld der Bücher«. Gleich, wie gut ich selber schreibe, in einem Buch lebe ich Wand an Wand mit Ovid, Montaigne oder Rabelais. Dreitausend Jahre sind in einem Buch wie ein Tag. Dass die Bücher ein so altes Medium sind, liebe ich. Der Film wiederum – das ist für mich ausschließlich der Autorenfilm – ist frisch und jung. Wenn Sie mich als Kentaur bezeichnen wie Chiron, würde ich mich geehrt fühlen. PAUVAL: Wie kamen Sie zu Ihrer literarischen Berufung? KLUGE: Von Haus aus bin ich Rechtsanwalt, habe aber immer Geschichten geschrieben, seit ich fünfundzwanzig Jahre alt bin. Ich habe eigentlich als junger Jurist und Anwalt gelernt, Schriftsätze zu schreiben, habe aber eine tiefe Zuneigung zum Geschichtenerzählen. Wenn Sie so wollen, mache ich Literatur, seitdem meine Kinderfrau mir Abendgeschichten erzählt hat. Das ist aber mündliche Literatur, die über das Ohr geht. Das habe ich dann später wieder aufgegriffen. Ich bin zwar noch heute Anwalt, jedoch neunundneunzig Prozent meiner Zeit hat damit zu tun, was ich mit Bewegtbild oder mit Büchern mache.
1 Alexander Kluge, Chronique des sentiments – Livre I – Histoires de base (mit einem Vorwort von Vincent Pauval), Paris, P.O.L, 2016.
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Alexander Kluge / Vincent Pauval
PAUVAL: Sie sind nicht nur Jurist, sondern haben außerdem Geschichte studiert. Inwiefern wirken sich beide Spezialisierungen auf Ihr Schaffen aus? KLUGE: Eigentlich ist das, was ich schreibe einerseits das Gegenteil von dem, was man vor Gericht vortragen kann, andererseits ist im Juristischen sowie im Lateinischen eine gewisse Disziplin vorhanden. An sich ist für mich die juristische Welt so etwas wie eine verkehrte Welt. Und ein Richter wird mit seiner Methode, einen Prozess zu führen, nie verstehen können, was der Angeklagte wirklich sagt. Darüber habe ich viele Geschichten geschrieben, und das ist wie bei Joseph Conrad der Prozess in Lord Jim, wo die erfahrenen Richter, alles erfahrene Kapitäne, überhaupt nicht verstehen, was im konkreten Moment geschieht, und auch der Angeklagte kann es nicht genau ausdrücken. Beim Schreiben von Büchern bin ich also gewissermaßen Anwalt einer Welt, die sich eben nicht in öffentlicher eloquenter Rede, bzw. im Diskurs ausdrücken kann. Literatur ist Anti-Diskurs. Mein Interesse für Geschichte hingegen rührt daher, dass ich meinem Vater schon als Kind immer gern zugehört habe, wie er von Friedrich dem Großen oder von Napoleon, also von einer entlegenen Welt, immer sehr plastisch erzählt hat. Er war zwar ein Arzt, der in der DDR praktiziert hat, der aber aus einer bürgerlichen Welt kam, so dass der Erzählton meines Vaters unmittelbar mit Geschichte zu tun hat. Deswegen spielt Geschichte in meinen Büchern auch eine gewisse Rolle. PAUVAL: Aus welcher Motivation heraus schreiben Sie? Was treibt Sie zu dieser außergewöhnlichen Produktivität? KLUGE: Schreiben ist triebhaft, und dieser aufwendigen Tätigkeit, die auch im Wesentlichen unbezahlt ist, gebe ich mich hin, weil das meine Welt ist. Als Erzähler suche ich eigentlich wie ein Maulwurf nach Auswegen, will aber nicht lügen, und in dieser Spannung der Unvereinbarkeit meiner Wünsche und der gegenwärtigen Verhältnisse, wie zum Beispiel als meine Eltern sich scheiden ließen und ich dagegen als Kind nichts machen konnte, in diesem Gefühl also will ich bis heute noch immer versuchen, eine bis zur Verrücktheit extreme Realität zurückzubinden auf das, was Menschen wie ich oder meine Freunde gewissermaßen sich wünschen. PAUVAL: Wie kam es, dass Ihre künstlerische Laufbahn scheinbar doch zunächst beim Film begann? KLUGE: Ich war der Justiziar vom Institut für Sozialforschung, also dem Zentrum der Kritischen Theorie in Frankfurt, und Adorno und Horkheimer hatten den Eindruck, dass ich als Jurist sehr brauchbar bin. Sie fanden es absurd, dass ein tüchtiger Praktiker wie ich nun so etwas Verstiegenes machte wie Literatur, wenn doch, wie Adorno meinte, mit Proust die Literatur eigentlich beendet ist, weil man das gar nicht besser machen kann. Um mich gewissermaßen schutzzuimpfen gegen die Literatur und um mich zu meiner baldigen Rückkehr in meinen juristischen Dienst an seinem Institut zu veranlassen, hat er mich an
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Fritz Lang empfohlen in der Erwartung, dass ich sozusagen »den Kanal vollkriege«, wenn ich einmal in so einem Filmatelier tätig werde. Gegen seine Erwartung habe ich aber Feuer gefangen. PAUVAL: Stimmt es, dass Sie den Entschluss Schriftsteller zu werden in Paris gefasst haben? Würden Sie uns das einmal erzählen? KLUGE: Nach meinem zweiten Staatsexamen habe ich zunächst einmal eine Auszeit genommen, und habe in Paris mit meiner jungen Freundin zusammen in den Hotels des Quartier Latin herumgesessen. Das war eine aufregende Zeit, in der die Kolonialarmee in Nordafrika gegen die Republik revoltierte. In dieser spannenden Atmosphäre habe ich meine ersten Geschichten geschrieben. Mit dem Fernblick, den ich damals nach etwa acht Wochen durch diesen Aufenthalt im Ausland bekommen hatte, beschloss ich dann, fortan ausschließlich der Literatur, allenfalls der Literatur in filmischer Form, d. h. dem Autorenfilm, mich widmen zu wollen. PAUVAL: Begonnen haben Sie 1962 mit den Lebensläufen. Welches Interesse verbanden Sie damals mit dieser Form? KLUGE: Die Lebensläufe sind gewissermaßen die Häuser, in denen das Leben der Menschen stattfindet. Man kann auch sagen, dass die Generationen hinzukommen, trotzdem sind das aber immer noch Lebensläufe. Für mich ging es da um Lebensläufe, die durch das Jahr 1945 unterbrochen werden. Jemand wächst heran in der Weimarer Republik, erfährt durch das Dritte Reich einen Schleuderkurs, und jetzt wird einem plötzlich die ganze Geschichte, in der man gelebt hat, und durch die man geprägt ist, unter den Füßen weggezogen, und zwar aus vielerlei Gründen: aus Gründen der Selbstachtung, zum Beispiel, denn man kann sich nicht identifizieren mit dieser Deutschen Geschichte. Und jetzt kommt man in eine neue Welt, die des Wiederaufbaus der Adenauerzeit. So ergeben sich Brüche oder Risse in einem konkreten Lebenslauf. Ich glaube übrigens, dass diesen Lebensläufen, welche diese Zeit verantwortet haben, ohne sie zu verdrängen, robuste Charaktere entsprechen. PAUVAL: Der aktuelle Chronik-Band beginnt ebenfalls mit einer Reihe von Lebensläufen, doch hier scheinen Sie den Begriff erweitert zu haben? Würden Sie uns diese Entwicklung erläutern? KLUGE: Sehen Sie, wenn ich Geschichten schreibe, dann sind diese längst nicht erledigt, nachdem ich sie hingeschrieben und publiziert habe, seien es nun »Anita G.«, »Korti« oder andere Geschichten, sondern sie überwintern sozusagen im Untergrund, in den Katakomben, und dreißig Jahre später würde man über dieselben Charaktere anders schreiben. Als Chronist ist man also niemals passiv, denn es rauscht die Zeitgeschichte durch einen hindurch, und sie ist es schlussendlich, die die Form der Beschreibung verändert. Wenn Sie jetzt »Die Fliege im Pernod-Glas« nehmen, dann ist das eine Geschichte, die, sagen wir mal, den Rest erzählt, den man von der Evolution positiv berichten kann, denn das ist
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ja kein Lebenslauf mehr, sondern es handelt sich um unsere äußersten Vorfahren, also bis zu den Fliegen und zurück. Soviel braucht man heute im 21. Jahrhundert, um einen Funken glücklichen Umstand, also »Kairos«, überhaupt zu finden, in einer wirren und unübersichtlichen Gegenwart. Und doch ist es die Glückssuche oder die »Schatzsuche«, wenn Sie so wollen, die in der Literatur wenigstens für mich, aus dem Temperament meiner Mutter heraus ein Motiv bildet. Die Fliege im Pernod-Glas Sie scheint unbeweglich. Mit dem Gummi meines Bleistifts hole ich sie aus der grünen Flüssigkeit und lege sie auf dem Korbgeflecht ab. Ich nehme an, daß sie tot ist. Das Tier aber, nach einigen Sekunden, bewegt sich heftig. In der nächsten Minute ist die Fliege, die kurzlebige, aus meinen Augen verschwunden. Offenbar flugfähig. Sie schien nicht »betrunken«. Ein zähes Tier, das meine Achtung besitzt. Sie hat in der Zeit unserer Begegnung viele Jahre (ihrer Zeitrechnung) verlebt. Sollte sie je Nachkommen haben, wird ihr Stamm mich überleben. Er existiert seit 18 Millionen Jahren. Kleinflieger dieser Art haben durch ihre günstige Haltung zu den Zufällen der Welt ein fast ewiges Leben.
PAUVAL: Aber es geht Ihnen auch um die Lebensläufe von Begriffen und von Dingen. KLUGE: Ich erinnere mich an einen Film, der mich sehr bewegt hat und der von einem Auto handelt, das den ganzen Krieg durch fährt: Alle Autobesitzer sind umgekommen, aber der Wagen selbst bleibt erhalten und steht auf einer Schrotthalde. Das bewegt mich sehr. Außerdem würde ich wie Michel Serres oder wie der chinesische Philosoph Wang Hui, die das in brillanter Weise getan haben, darauf hinweisen, dass im Jahr 1851 mit der ersten Weltausstellung gewissermaßen ein Parlament der Dinge entsteht. Diese sind ja von Menschen gemacht, wenigstens die Waren, die in unserer Tauschgesellschaft eine Rolle spielen, und diese Waren sind wie verzauberte Menschen, so dass also, wie Marx es beschreibt, wenn Sie mit einem Taschenmesser in eine Werkzeugmaschine hineinschneiden, das Blut derer hinauskommen müsste, die diese Maschine gebaut haben. Um es mit einer Metapher zu sagen: Es gab unter unseren Vorfahren einen Dinosaurier, dessen Gattung im Laufe der Jahrmillionen neben dem Maul eine Art Scheune erfunden hat, in der man das Gras lagert, während man gleichzeitig kaut, ein evolutionärer Vorteil, aus der die menschliche Wange entstanden ist. Und jetzt sitzt Lenin 1917 in seinem Zentralkomitee und ist fasziniert von der hohen und sehr schönen Wange einer Russin, einer Volkskommissarin, und er glaubt, dass der Klassenfeind diese Frau auf ihn angesetzt hat, um ihn zu verführen. In diesem Moment schießt eine Erkenntnis durch seinen Kopf, denn er merkt, dass er Verfolgungswahn hat. Hier ist also aus einer Erfindung aus der Evolution vor zweihundert Millionen Jahren eine Erkenntnis in einem revolutionären Moment entstanden: Evolution und Revolution haben einen Zusammenhang, und wenn wir eine Massenproduktion solcher Erkenntnis hätten, wie sie in diesem Moment Lenin gehabt hat, hätte selbst die russische
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Revolution von 1917 einen ganz anderen Ausgang nehmen können. So etwas nenne ich einen Zusammenhang, und darin besteht eigentlich die Arbeit des Poetischen im 21. Jahrhundert. Mit Begriffen verhält es sich ähnlich, denn ein Begriff verweist immer auf ein Ganzes, und dieses Ganze besteht aus lauter Momenten, Nuancen, Punktualitäten. Erzählen bedeutet, dies miteinander pausenlos zu verbinden. Der Begriff ist nichts Wirkliches ohne das genaue Ungenaue, Unbegriffene, Freie, Wilde, das im Material steckt, und das Material ist einigermaßen mürrisch, wenn der Begriff leuchtet. Nach einem neueren englischen Ausdruck heißt das »Crossmapping«, also zwei Unwirklichkeiten reiben sich aneinander, bis ein Funke blitzt: das ist Literatur. PAUVAL: Als im Jahr 2000 die Chronik der Gefühle erstmals in Deutschland erschien, versammelten Sie in den damals noch zwei Bänden Ihr gesamtes Erzählwerk mit vielen neuen, bis dahin noch nie publizierten Geschichten aus den achtziger und neunziger Jahren. Aus welchem Grund hatten Sie damals beinahe zwei Jahrzehnte als Schriftsteller kaum publiziert, und wie entstand die Idee, ein solches zusammenhängendes Ganzes aus den vielen Einzelwerken zu bilden? KLUGE: Das sind zwei verschiedene Fragen. Man lebt ja recht turbulent. Wir haben uns zunächst an der Nouvelle vague orientiert, die ja auch aus einer Zeitungsredaktion, den Cahiers du Cin8ma, also gewissermaßen aus einem literarischen Bereich entstanden ist. Ich kenne kaum Schriftsteller, die so gut sind wie Godard, Truffaut oder Louis Malle. Wir haben uns eigentlich in diese französische Generation wegen deren Freiheit verliebt, also Fassbinder, Herzog, Reitz und ich oder heute, unter den jüngeren Autorenfilmern, Haneke, und waren dann als solche im Grunde permanent beschäftigt, zwischen Filmproduktion, Reisen nach Venedig aufs Festival, nach Cannes usw. In dieser Zeit haben sich Geschichten aufgestaut, die ich zwar aufgeschrieben habe, aber die mit Film nichts zu tun hatten. Das was ich gemacht habe und das, woran mein Herz noch dringlicher hängt, nämlich die Literatur, treten also für drei Jahrzehnte auseinander. Nach der Wiedervereinigung habe ich dann begonnen, wieder verstärkt zu schreiben, bis ich den Eindruck hatte, dass die vielen Erzählungen auf einem großen Containerschiff, auf einer Arche Noah versammelt werden müssten. Es heißt ja immer, dass auf der Arche Noah Tiere versammelt worden sind, was jedoch ein Irrtum ist. In Wahrheit, sagen die Kabbalisten aus Babylon, transportierte die Arche Bücher bis zum Berg Ararat. Ähnlich ist auch mein Metier. PAUVAL: Sind denn die Bücher heute durch eine Sintflut gefährdet? KLUGE: Wenn Sie Silicon Valley betrachten, dann eher durch die Algorithmen, eine Welt von Vereinfachung. Da haben die Enkel der Blumenkinder eine Dritte Natur entwickelt, die es nicht auf Erden, sondern nur im Netz gibt, und trotzdem ist sie nicht abstrakt, denn sie hat die Partizipation von unglaublich vielen Menschen in einer Öffentlichkeit, die es vorher nicht gab, zustande gebracht.
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Gleichzeitig sind die Algorithmen und deren Vereinfachungstendenzen eigentlich nur für den Bau von Hauptstraßen wirklich geeignet, und Gärten und Waldwege, von denen ich glaubte, dass sie wirklich sind, erweisen sich im Gebrauch als unwirklich. Das ist, wenn Sie so wollen, eine Herausforderung, denn um die Information eines einzelnen Tages im Netz – dabei spreche ich nur von den wirklich relevanten Informationen, nicht von den Unmassen an Schrott – in sich aufnehmen zu können, brauchen Sie eigentlich fünfhundert Jahre. Das scheint mir eine Überforderung, so wie nach Gutenberg zu vieles gedruckt worden ist. Die Antwort auf Gutenberg war die Kritik, bis hin zu den drei Kritiken von Kant, drei Bände also, in denen steht, was alles nicht gedruckt werden muss. Ungefähr so müssen wir heute in einer Welt mit zu viel Wüste, Oasen anlegen. Darin liegt die Aufgabe der Poeten. PAUVAL: Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, diesem Ganzen den Titel »Chronik der Gefühle« zu geben? Inwiefern hat es mit Ihrem Film »Die Macht der Gefühle« zu tun, worin Sie sich erstmals intensiv diesem Thema zuwandten? KLUGE: Es gibt ja einen »verständigenden« Gebrauch des Gefühls und die Benutzung des Gefühls. Die Werbeindustrie zum Beispiel oder die Massenmedien nehmen große Mengen an Gefühl im Sinne von »sentimental« und regieren damit Menschen. Das Gegenteil davon ist das, was Gefühle in Wirklichkeit können und tun, nämlich ursprünglich die Fähigkeit der Warmblüter zwischen warm und kalt zu unterscheiden. Das Gefühl besteht in einem immer präziseren Unterscheidungsvermögen und gleichzeitig aus einem synthetisierenden Vermögen, durch welches sich im Menschen, im Subjekt etwas so zusammenfügt, etwa wenn man von »Liebe« spricht, dass er Patriot eines anderen Menschen wird. Das ist ein Wunder und übrigens Schatzfund. Meinetwegen zwischen Philemon und Baucis, diesen beiden Alten, die gegenüber Flüchtlingen gastlich sind, und diese erweisen sich als Götter, und sie bleiben zusammen. Und Manon Lescaut, die sich in einer Sekunde auf einer Kutschenstation verliebt, und das Leben der beiden endet in der Wüste. Das gibt uns ein reiches Feld an Unterscheidungsvermögen. Das bedeutet, nicht urteilen, denn das ist sehr schwierig, schließlich kann ich mich ja trotzdem verlieben, auch wenn das eine unsinnige Methode ist, dies auf den ersten Blick zu tun. Baudelaires Blick nach der Passantin ist eigentlich eine ziemlich arrogante Angelegenheit, denn wie soll er mit diesem überfallartigen Phantasieausbruch, den er in dieser Sekunde hat, eine Frau richtig sehen können, und er deutet einfach deren Blick. Als Begegnung ist dies bestimmt nicht adäquat. Wenn Sie dies so sorgfältig, wie Proust oder Flaubert oder Balzac tun, mit dem Unterscheidungsvermögen der Gefühle umgehen, dann können Sie das als die Wurzel des Poetischen ausmachen. La diff8rance ist sozusagen die Wurzel des Poetischen. PAUVAL: Und was meint eigentlich hier der Untertitel »Basisgeschichten«?
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KLUGE: Basis verweist auf die Art, wie wir mit dem Liebsten, was wir haben, umgehen. Ich persönlich habe eine Mutter gehabt, die mich nicht so wahnsinnig das Hassen gelehrt hat. Als Person konnte sie, wenn sie wirklich wütend war, dies nicht über die nächste Mahlzeit hinwegbringen. Das habe ich ein wenig von ihr geerbt, jedenfalls bestand für mich nie die Frage, wie man durch Unterscheidungsvermögen den Hass noch unterfüttern könnte, weil ich von letzterem gar nicht genug habe. Vielleicht ist es auch eine Glückssache, aber mich beschäftigt sehr stark, wo eine Entscheidung zustande kommt und wann ich mich lebenslang winde. Das ist eine ganz schwierige Entscheidung, und ein Kind aus geschiedener Ehe weiß, die kann man nicht leichtsinnig treffen. Deswegen fordern die Fragen darüber, was ich liebe und was ich hasse, was ich wissen kann und was nicht, Basisentscheidungen. Die Menschen, in ihren Basisbeziehungen, die ich für elementar halte, sind jedoch nicht die Urheber der Geschichte. Das kann ich bedauern. Denn eigentlich sollte der Gedanke, die Menschen könnten ihre eigene Geschichte machen, stimmen. Erst dann werfen sie ihre Ketten weg. Ich tröste mich mit dem Satz, dass diese Utopie immer besser wird, je länger wir auf sie warten. Die Poeten sind dazu da, diese Vorstellung aufrechtzuerhalten. Wenn eine Frau, die von ihrem Geliebten weggeworfen worden ist, den Mailänder Dom besteigt und sich von oben hinunterstürzen will und dabei auf ein Schrottauto fällt, dessen Blech leicht nachgibt und ihren Fall dämpft, so dass sie überlebt und außerdem noch durch die Zeitungsberichterstattung über ihre unwahrscheinliche Rettung einen Mann findet, der zu ihr passt, dann ist das weder nur auf einen einzelnen Menschen zurückzuführen, denn das Subjekt kann ja nicht wissen, dass da glücklicherweise solch ein Schrottauto unter dem Mailänder Dom steht, noch auf die Dinge oder auf Autos im Allgemeinen, und überhaupt geht es hier um nichts Allgemeines, sondern diese Geschichte ist so unwahrscheinlich aber gleichzeitig auch so möglich und so menschlich wie die ganze Evolution. Denn wir bestehen aus einem Stau an Unwahrscheinlichkeit. Drei Sonnen im Kosmos vergehen, damit eine Materie entsteht, die wir täglich in unseren Körpern umhertragen. Das ist die eine Seite, die die Subjektivität und die Objektivität bzw. das ganze Erzählfutter miteinander verbindet, und so etwas nenne ich Basisgeschichten. Hinzu kommt, dass man meint, die Gravitation sei eine schwache Kraft, aber Sie können auch sagen, dass Gravitationswellen das wesentliche Elementarereignis sind, welche ganze Galaxien verbinden, welche in der Lage sind ein Gebilde wie das Sonnensystem ohne Stangen und Gestell zusammenzuhalten. So ähnlich gravitativ und konstellativ, nämlich wie Sterne sich zueinander verhalten, funktioniert auch das Poetische. Ich habe das von Balzac gelernt, der beinahe neunzig Romane geschrieben hat, die eine Konstellation darstellen, worin ein Text den anderen beleuchtet und also gravitativ mitbeeinflusst. So etwas nennt man Zusammenhang (Kontext), und das ist mein Idol. Und nichts anderes bezwecke ich, wenn ich wiederum diesen ersten Band
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der Chronik der Gefühle als »Basisgeschichten« betitele, und somit seinen gesamten Inhalt aus »Lebensläufen«, »Schlachtbeschreibung«, »Heidegger auf der Krim«, »Verwilderte Selbstbehauptung«, »Holocaustgeschichten« usw. in wechselseitige Reibung versetze. PAUVAL: In einer Lobrede sagte der deutsche Bundespräsident Horst Köhler, dass man eigentlich Ihr gesamtes Werk eine »Chronik der Gefühle« nennen könnte. Kann man das so sagen, denn tatsächlich sollen bei P.O.L Ihre sämtlichen schriftstellerischen, bzw. erzählerischen Arbeiten unter dieser Überschrift herausgegeben werden? KLUGE: Wenn Sie die beiden Worte sentiment und chronique nehmen, dann erkennen Sie, dass diese sehr scharfe Gegensätze bilden. »Chronik« bedeutet ja so viel, wie eine Objektivierung, durch die man etwas festhalten will, als könne man das in einer wilden, niemals stillstehenden Welt. Wobei es sich keineswegs um eine starre Antithese handelt, die in eine Aporie mündet. Diese Dialektik, um die es hier geht, müssen Sie sich im Gegenteil viel beweglicher, ja flüssig, als grammatischen Modus vorstellen. Es gibt eine verbeulte, zerstreute, einzeln einherziehende, im Voltigeurgeist marschierende Dialektik, die sich erst später zu einer Hauptschlacht zusammenfügt. Dieses dialektische, das in fließender, heraklitischer Bewegung begriffen ist, das ist es, was die Dichtung beschreibt. Novalis, ein deutscher Dichter der Romantik, der Bergwerksdirektor war und daher auch sehr viel von Geologie verstand, hat einmal gesagt, das absolut Szientifische sei zugleich das absolut Poetische, und damit meint er, dass diese ganze Welt der Mittelwerte, nämlich das, was wir beispielsweise in der Umgangssprache sagen, stets ungenau bleibt: wenn ich sage »Heute ist schönes Wetter«, ist nicht viel damit bezeichnet, oder wenn ich sage »am Fuße des Berges«, dann meine ich weder wirklich einen Fuß, noch können Sie daraus schließen, wo sich dieser Ort tatsächlich befindet. Und auch in Liebesverhältnissen ist die Sprache zwingend ungenau, denn meistens ist gerade hier die Genauigkeit der Feind der intimen Gefühle. Oder wenn ein Richter gemeinsam mit dem Staatsanwalt und dem Strafverteidiger den Sachverhalt und damit sozusagen ein Kunstprodukt erzeugt, das das Gegenteil von dem ist, was sich wirklich ereignet hat, und was in den Sinnen des Angeklagten vorhanden ist, sich aber nicht äußern kann und vor Gericht gar nicht in Betracht gezogen wird. Und um diesen Kontrast geht es letztlich in der Dichtung: wenn Sie wissen, dass Sie es nicht lösen können, dann lösen Sie es. Wenn Sie also gelassen warten, dass sich chronique und sentiment von sich aus miteinander verbinden, ergibt sich eine Öffentlichkeit, etwas Drittes, das weder das bloße Subjekt noch die Summe aller Menschen darstellt. Insofern kann ein solcher Titel durchaus auf die gesamte Weltliteratur verweisen, ohne dabei jedoch den Anspruch der Vollständigkeit zu erheben. PAUVAL: In welcher Tradition sehen Sie sich als moderner Autor?
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KLUGE: In der Rolle eines Mönches um 1180, als die Universität Paris gegründet worden ist, also ganz dicht neben Ab8lard. Dieser nimmt zum Beispiel aus einer Vorrede zur Ethik des Aristoteles siebzehn Zeilen, die ihm von arabischer Seite aus Cordoba zugespielt werden, und schreibt daraus ein Kommentarwerk von sechsundzwanzig Seiten. Es besteht hier die Wechselwirkung, die dadurch erzeugt wird, dass die einzelnen Geschichten so kurz sein sollen wie möglich, dafür aber Raum für die konstellative Dynamik geschaffen wird. Diese Kürze ist genau meine Spezialität. Wo Thomas Mann mit den Buddenbrooks über seine Familiengeschichte einen siebenhundert Seiten langen Roman schreibt, komme ich mit sieben Seiten aus. Wir müssen im 21. Jahrhundert die Literatur nicht neu erfinden, sondern es genügt, wenn wir von Fragmenten früherer Schriften ausgehend neue Geschichten erzählen. Nehmen Sie die Geschichte von Flaubert, wie der junge Bovary am Anfang des Romans in seinen Klassenraum kommt. Er hat eine Mütze auf, die seine Mutter für ihn angefertigt hat. Er kommt vom Lande und passt noch nicht in diese städtische Schülerklasse, und er hat eine liebevoll gefertigte jedoch unpassende Mütze und muss sich so schämen. Seine Kameraden und der Lehrer als Anführer der Meute verlachen ihn. Sehen Sie, wenn ich das nun als Ansatz nehme, denn es handelt sich ja um den Anfang einer Bildungsstation, weil dieser Junge etwas lernen will, und wenn ich je wissen will, wie ich diese wunderbare Frau Bovary bewahren will und sie vielleicht doch bis Paris bringe und ihr vielleicht doch nicht nur einen miesen Liebhaber zuführe, also wenn ich sozusagen als Kuppler eines glücklicheren Geschicks gegenüber dem 19. Jahrhundert eingreife, dann muss ich genau bei einer solchen Szene anfangen. Aus dieser Momentaufnahme von Flaubert könnte ich dann das Motiv schöpfen, tausend Jahre Bildungsgeschichten in Europa zu beschreiben – und dass dies fragmentarisch erfolgt, versteht sich von selbst. Ich sprach soeben von der Universität Paris. Vor der Stadt lagert ein deutscher Kaiser mit fünfhundert Rittern und fünfhundert Rechtsgelehrten, das ist die Gründung der Universität. Dasselbe wiederholt sich, wenn Napoleon mit fünfhundert Gelehrten und noch viel mehr Soldaten nach Ägypten eindringt und dort viertausend Jahre Geschichte zurückholt. Oder wenn jetzt die Gelehrten in Byzanz mit der ganzen Antike in ihrem Kopf nach Florenz entfliehen, weil die Osmanen Konstantinopel erobern, und in Florenz unterrichten sie dann gelangweilte Bürgersöhne, so dass die Renaissance entsteht. Oder Napoleon besiegt die Preußen bei Jena und Auerstedt, und daraufhin gründen die deutschen Patrioten die Berliner Universität nach dem Vorbild der Universität Göttingen – denn man muss vorher schon Glück gehabt haben, um eine solche Antwort zu finden –, des Göttinger Hains, welcher die erste Vorstellung entwickelt, dass Gartenbau und Wissenschaft, freie Liebe und Kenntnis usw. zusammengehören. Und so kommt wiederum eine Tochter aus Göttingen, die den Foster heiratet, der wiederum unter Cook die Welt bereist, bevor er zum Bürger der französischen Revolution wird. Sehen Sie, das
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sind die Geschichten, die wie Embryonen, wie Homunculi aus der Alchimistenküche in dieser einzigen Flaubertschen Beobachtung ihren Ursprung haben: dass ein junger Mensch, ausgeschickt wird von seiner Mutter wie Parsifal und ebenso schlecht bewaffnet für die Realität ist wie dieser. Solche Dinge hängen miteinander zusammen und es ist ein sehr starkes Gefühl, wie Helligkeit des Wissens und Dunkelheit der Katakomben, sprich der Kommentare, sich zueinander fügen. PAUVAL: Welche Bedeutung hat für Sie die Tradition der Aufklärung? Wie ist es damit bestellt, wenn man zum Beispiel Ihre Erzählung »Heidegger auf der Krim« betrachtet? Und welche Konsequenz oder Motivation ziehen Sie daraus? KLUGE: Es gab schon immer sowohl Mythos als auch Aufklärung, und die Wiederkehr des Mythos lehrt uns, dass wir nicht durch Entschluss aufgeklärt sein können. Der Prozess der Aufklärung ist uns allen möglich. Er ist filigran, und eigentlich haben die Sänger seit Homer diesen Prozess der Aufklärung immer begleitet. Es gehört jedenfalls Musik dazu, und die fehlt bei Kant. Auch Hegel wird erst verständlich, wenn man ihn in schwäbischer Sprache, in seiner eigenen Landessprache also, mit lauter Stimme vorträgt, denn das ist die Musik Hegels. Es gibt bei Rousseau die Metapher, dass sich Hirtinnen und Hirten bei einer Quelle versammeln, und dort, wo dieses frische Wasser entspringt, entsteht eine Geselligkeit, dank der sie sich verlieben können. So entsteht die »helle Sprache«. Es gibt, sagt er, auch eine dunkle Sprache, wenn nämlich der Herr vor den Bauern tritt und sagt: »Du wirst mir dienen, sonst werde ich dir den Kopf abschneiden«, und der Bauer schwört dem Herrn seine Treue, aber eigentlich meint er das nicht. Diesen Gedanken nimmt später Michelet auf. Es ist also etwas verborgen an Motivation in den Worten des Bauern, und dieses Verborgene ist immer wieder beschwörbar, es tritt in der Sprache der Hirten immer wieder auf, und ist bis heute vorhanden, nur dass diese zwei Sprachen im jetzigen Kontext auch eine neue Bedeutung bekommen. Daher bin ich der Auffassung, man sollte die Enzyklopädie im 21. Jahrhundert neu schreiben, und wir dürften das ja so fragmentarisch und unvollkommen machen, wie wir nur wollen, weil es immer noch besser und weniger ohnmächtig bleibt, dies zu tun, als es nicht zu tun. Und wenn wir mit unzulänglichen Mitteln, mit Demut und dem Gedanken, dass wir an Ovid und an Mandelstam nicht heranreichen, dies trotz allem versuchen, dann würden wir diese Enzyklopädie in allem Sprachen Neubabylons schreiben müssen, nicht in dem Pidgin-Englisch, das wir inzwischen als globale Sprache haben. Wenn wir der Sprachverwirrung entgehen, dann nicht indem wir eine Zwangsallgemeinsprache, sondern eine Sprache aus lauter Besonderheiten benutzen, also ein Neubabylonisch, bestehend aus der ganzen Vielfalt der Sprachen und vor allem der Dialekte, die ja überhaupt die Wurzel aller Sprachen darstellen, auf die Gefahr hin, dass die großen Hauptstraßen der Kommunikation, einschließlich Silicon Valley, uns nicht verstehen können. Dann haben wir ein Ba-
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bylon im 21. Jahrhundert ohne Sprachverwirrung und bei dem der Turm nicht am Ende zerstört wird. PAUVAL: Was würde es aber bedeuten, wenn man jetzt über die Sprachgrenzen hinweg, anhand der Übersetzungen, sich über Heidegger besser verständigt, als über Kant? Wie ist es mit der Tradition der Aufklärung bestellt, wenn man in Ihrer Chronik der Gefühle zum Beispiel eine Erzählung darüber lesen kann, wie Heidegger mit der Wehrmacht in die Krim reist und wie er dort auf ein junges Mädchen trifft, das wie viele andere den Verbrechen der Nazis zum Opfer fallen soll? KLUGE: Das Mädchen ist Mignon aus Wilhelm Meisters Lehrjahren nachempfunden, und dass ich nicht in der Lage bin, Mignon zu retten, ist die Kritik an der Aufklärung. Es geht hier gewissermaßen um die Frage, wozu wir Philosophen brauchen, wenn sie nicht Leben retten können. Meine Motivation ist hierbei zunächst, dies genau zu beschreiben und es im Gefühl zu wiederholen. Hier gilt Nietzsches Leitsatz aus dessen Dichtung Also sprach Zarathustra: »Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen!« Das ist innenmoralisiert, nicht von außen gesagt: Du würdest nicht einmal nur Langeweile, Du würdest Widerlichkeit empfinden, wenn Du weiterhin so lebst. Und dieses Motto kann man für jeden Beruf gelten lassen, sei es nun für den Arzt, wenn der versagt, sei es für den Philosophen, oder sei es für den Juristen oder den Poeten. Das ist Selbstkritik. PAUVAL: Sind Sie nicht eigentlich vielmehr ein Moralist, der die moralischen Fehlleistungen, die guten Eigenschaften aber auch die traurigen Leidenschaften seiner Zeit enthüllt und zu unterscheiden lehrt, indem er sie beschreibt, manchmal karikiert oder auch ins Groteske verzerrt? KLUGE: Ich bin kein Freund der traurigen Leidenschaften. Da halte ich es eher mit Montaignes Satz: »Was immer die Philosophen sagen, selbst in der Tugend trachten wir nach Lust«. Wenn Sie jetzt das Buch Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer zur Hand nehmen, und sich nun vorstellen, es würde von Luhmann, Derrida, Deleuze und Guattari gelesen, dann hätten Sie einen dreifach gepflügten Acker, auf dem Sie die Frage neu stellen können. Sie kämen nämlich darauf, dass eine von außen dekretierte, im Über-Ich befestigte Moralität Verbrechen bislang nie verhindert hat. Sie werden also das Problem der Moralität dem Prozess der Aufklärung noch einmal unterziehen müssen. Aufklärung ist nicht dazu da, die Götter aus dem Herzen zu entfernen und die dunklen Seiten irgendwie künstlich zu erhellen, sondern ihre Aufgabe besteht darin, die Reibung, die Gegensätze so gewohnt zu machen, so arbeiten zu lassen, dass ebendiese Gegensätze von selbst die Aufklärung erzeugen, so wie man zwei Steine aneinander reibt, damit ein Funke entsteht. Aufklärung bedeutet also vielmehr Anreicherung, Aggregation, vergleichbar mit einem Korallenriff im
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nährstoffarmen Meer, oder mit dem prismatischen Prinzip, das Benjamin in Paris mit seinem Passagenwerk entwickelt hat. PAUVAL: Wenn diese vielen kurzen Geschichten jedenfalls schwerlich eine herkömmliche Chronik darstellen können, welcher Gattung würden Sie Ihre Texte zuordnen? Ist eine solche Zuordnung heute überhaupt noch notwendig oder zulässig? KLUGE: Chroniken sind so. Es gibt in Deutschland einen einfachen Helden aus den Bauernkriegen, Till Eulenspiegel, einen Vorläufer des Dada, dessen Abenteuer durch einen Chronisten, einem Ratsherrn aus Braunschweig aufgeschrieben worden sind. Ich selbst würde mich als Mönch wohlfühlen, mit einer Geliebten versteht sich, inmitten dieses genialen 12. Jahrhunderts, in dem erstmals das Wissen durchbrach. Da erleben Sie, wie Otto von Freising, ein Onkel von Kaiser Barbarossa, sich nach Paris begibt, um dort einige Jahre lang u. a. bei Ab8lard zu studieren. Dann kehrt er zurück und verfasst eine Weltgeschichte. Oder wenn Sie jetzt mit Commynes den Herbst des Mittelalters beschreiben, dann haben Sie ganz präzise, teils dunkle, teils helle Geschichten. Wenn ich heute Commynes lese, interessiert mich übrigens dabei nicht so sehr, was eigentlich seine Absicht war. Natürlich nehme ich schon auf den ersten dreißig Seiten zur Kenntnis, welche seine Absichten sein könnten, für welchen König er schreibt und wem er dienen mag, genauso wie ich bei Vergil sehe, dass er dem Kaiser Augustus dienen will – wobei ich doch eher zu dem etwas sperrigen Ovid neige, der trotzdem verbannt wird, obwohl er bessere Texte macht. Vielmehr interessiert mich, was Commynes wider Willen macht: er erzählt nämlich ganz konkrete Begebenheiten, Momentaufnahmen. Der Chronist ist demnach nicht Herr seiner Texte, welche die eigentlichen Lebewesen sind. Er ist der Gärtner. Das ist Literatur. Die Romantiker irren sich, wenn sie ein paar hundert Jahre später behaupten, Literatur sei etwas Neues. Und nicht viel anders ist auch unsere heutige Oasenwirtschaft. Wir brauchen Erzählung in größten Massen. Informationen haben wir in jeder Tageschau, aber diese enthält ja kaum Inhalte, die unsere Seele wirklich bewegen können, schafft auch keine Verbindung zwischen uns und den Fakten. Warum gibt es eigentlich keine Tagesschau mit Musik, wenn es doch zu Zeiten Homers den Sänger gab, der die Nachrichten aus Troja oder von anderswoher brachte, indem er dazu sang. Wir haben das getrennt, denn wir haben einerseits das Opernhaus und andererseits die Tagesnachrichten, und selbst diese beiden Dinge sind im Verfall begriffen. Das Passagenwerk an dem Walter Benjamin schreibt, während er 1940 noch in Paris sitzt, stellt uns vor eine ganz andere Herausforderung, nämlich alle Beobachtungen aufzuheben, um sie miteinander zum Tönen zu bringen. Diese Texte, sowie auch meine eigenen, sind nicht zähmbar und haben ihren Eigenwillen. In einem meiner Bücher hebe ich das kürzeste Märchen der Brüder Grimm auf. Es ist das Märchen vom »eigensinnigen Kind«, also einem Kind, das nicht gehorchen wollte. Das gefiel Gott
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nicht, der es sterben ließ. Und als es tot war, heißt es, erhebt sich das Händchen des Kindes aus dem Grab, so dass die Mutter es schlagen musste, damit es endgültig unter der Erde verschwand. Mein tiefer Glaube ist, dass dieses Kind unter der Erde weiterhin lebt, denn den Eigensinn der Menschen kann man nicht unterdrücken. Darin liegt der Kern jeder Poetik. PAUVAL: Welche Bedeutung hat für Sie das Wort »Poetik« und wie würden Sie Ihre bezeichnen? Etwa als Anti-Poetik? KLUGE: Das würde ich nicht sagen, denn Poetik ist ein gutes Wort. Sie muss sich nur von allem Akademischen immer wieder frei machen. Aristoteles, ein guter Ausgräber, von dem das Wort stammt, würde sagen, dass es die Baukunst bezeichnet, welche Seele und Fakten zusammenhält, und dass diese Gebäude quer durch die Menschen gehen und also möglichst wenig Wände und auch keine viereckigen Fenster haben sollten. Das kürzeste Fragment, das der dunkle Heraklit uns hinterlassen hat, fasst die Poetik als ein »Sich-selbst-zwar-vollständigoder-fast-vollständig-Einsammeln« zusammen. PAUVAL: Was fordert Ihrer Ansicht nach ein solches Buch vom Leser und wie sollte es idealerweise wirken? KLUGE: Vom Leser fordert es zunächst Aufmerksamkeit, also dass er sich sammelt, dass er den Mut hat, nach Kant, sich zwar seines Verstandes, aber auch die Bereitschaft mitbringt, sich der Sinne sowie der Vielfalt der Grundströmung in allen Menschen, die sich aus den Dingen, den Verhältnissen, der Vergangenheit, der Geschichte, usw. zusammensetzt zu bedienen. Nicht von ungefähr heißt der Leitsatz der Aufklärung »Sapere aude«, was soviel bedeutet wie: »Wage, Dich Deiner Vermögen zu bedienen«. Es geht also schlicht und ergreifend darum, dass er sich konzentriert und sich fragt, was er eigentlich wissen will. Tut er dies nicht, sondern fragt sich bloß, was es denn Wert sei, wird er nicht sehr weit kommen. Wenn er aber an seinem ganz eigenen Interesse festhält, kann er sogar das Buch von hinten oder von der Mitte an beginnen zu lesen. Egal, wie er es anfängt, er wird immer in einen Zusammenhang hineinkommen, und wenn er diesen auf sich bezieht, dann liegt er immer richtig. Eigentlich sind die Geschichten Vorschläge dafür, dass man wieder ins Erzählen kommt und sich dabei ins Mündliche zurückfallen lässt, denn sie sind geschrieben, wie man sich miteinander an der Theke unterhält. So hat Leben nur das gesprochene Wort. Dafür ist Kunst von längerer Dauer. Insofern braucht man beides. PAUVAL: Für wen schreiben Sie? KLUGE: Das ist eine interessante Frage. Zunächst einmal schreibe ich für Personen, die ich kenne, und die zum Teil schon tot sind wie meinetwegen Adorno, Benjamin oder Derrida. Ich stelle mir einfach solche Leute vor, die aber sehr lebendig sind. Oder wenn ich mit Ihnen oder mit Joseph Vogl oder vor allem mit meiner Schwester oder mit meinen beiden Kindern spreche, dann sind das ganz konkrete Menschen, und die sind mein Gewissen, wenn ich schreibe. Ich kann
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nicht für einen abstrakten, anonymen Leser oder Zuschauer arbeiten. Erzählen hat sehr viel mit Empathie zu tun. Es gibt eine Geschichte, die mich besonders bewegt, und die ich als Metapher und als Motto nehme. Der Pädagoge Pestalozzi, der auch dichtete, unterrichtete einmal Schweizer Kinder, die nur Deutsch sprachen, indem er ihnen auf Französisch Texte von Diderot vorlas. Und anschließend haben die Zwölfjährigen den Achtjährigen erklärt, worum es sich handelt. Will heißen: Verständigung geht nicht bloß über verstehbare Sprache, sondern über jegliche Geste und über jegliches Vertrauensverhältnis. Habe also Mut, Dich nicht ohnmächtig zu fühlen, wenn die objektiven Verhältnisse sich beliebig mächtig aufbauschen, sondern glaube daran, dass Menschen produktionsfähig sind. Auf diese Energie, die heute von mehr als sieben Milliarden Menschen ausgeht, vertraue ich.
Alexander Kluge
Ort der Einfühlung
Von dem Bach-Zelewski, General der Waffen-SS, hatte sich in den Winterkämpfen von 1941/42 ausgezeichnet. Erschießungen von Juden und Partisanen während der Schlammperiode hatte er persönlich geleitet und war dann zusammengebrochen. Flammend zeigten sich im Gesäß die Hämorrhoiden, unter Kameraden »Reiterglück« genannt und nur mit Mühe beherrscht. Ich kann hierzu nur als Arzt Stellung nehmen. Ich verweise auf meine praktischen Erfahrungen in den Lazaretten, stütze mich aber auch als Leser auf unseren Nationaldichter Gotthold Ephraim Lessing sowie die britischen Autoren, von denen dieser seine Auffassung herleitet. In dieser Perspektive beharre ich darauf: daß gerade bei charakterlich gefestigten Soldaten, sozusagen BERUFSSOLDATEN, die im Menschen unabweisbare »Einfühlung« sich gewaltsam durchsetzt, wenn sie in ihrer Äußerung längere Zeit unterdrückt wird. Und zwar äußert sie sich an Stellen, die am frühesten der Einübung der Willenskraft unterworfen sind, am Schließmuskel im After, ähnlich aber bei anderen Patienten auch am ganzen der Sauberkeitserziehung unterliegenden Körper – wenn nämlich die Allergie die Haut zum Glühen bringt. Am Samstag gegen 11 Uhr vormittags fuhr der Adjutant des Reichsführers, Karl Wolff, mit dem Dienstwagen vor (Ärzte und Schwestern waren zu einer Veranstaltung in die Reichshauptstadt gefahren, ein Notdienst war eingerichtet). Nach einem Eingriff am Morgen war von dem Bach-Zelewski von den Nachwirkungen der Äthernarkose noch nicht wieder ganz erholt. Zitternd, in einer »hinfälligen« Körperhaltung, mit allen Eigenschaften einer »Memme«, lag er auf seinem Bett. So rasch wie Wolff die Treppe hinaufgeeilt war, hatte ich meinen Chefarzt Dr. Graditz, der in seiner Dienstwohnung weilte, nicht benachrichtigen können. Der Adjutant des Reichsführers war über den Zustand entsetzt, in dem er den Kameraden vorfand. Er versuchte den Patienten an der Hand zu fassen, wollte trösten, ließ davon ab und entfernte sich erregt. Ich verfolgte die rasante Abfahrt des Dienstwagens. Nachmittags die Telefonate. Jetzt waren wir vorbereitet. Dr. Graditz nahm die Anrufe des Reichsführers entgegen. In flankierenden Ferngesprächen versuchte
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er bis zum Abend, dem verheerenden Eindruck, einer der wertvollsten SS-Führer des Reiches werde ärztlich und pflegerisch inkompetent behandelt, entgegenzutreten. Es war aber der Anblick einer innerlich zerrissenen, unbeherrschten Natur, die den markanten Eindruck ausgelöst hatte, den Kamerad Wolff als »entsetzlich« bezeichnete. Das hier, unser Patient, war ein Mensch, kein General. Von dem Bach halluzinierte. Er vermochte »wiederkehrende Eindrücke« aus einer Reihe von Erlebnissen im Osten nicht abzuwehren. Ich hätte aus meiner Wiener Studienzeit im Jahre 1928 einen kundigen Seelenarzt gewußt, der hier hätte helfen können. Meines Wissens war der über Triest inzwischen nach Argentinien entkommen. Eine Liste des gesamten Ärzte- und Pflegepersonals des Lazaretts mit Dienststellung und Werdegang war vom Büro des Reichsführers angefordert; eine Art »Rachefeldzug für den mißhandelten Kameraden« trat ins Blickfeld. (aus: »Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter«, S. 64)
Ulrike Sprenger
Pikareskes Geschmackserlebnis und europäisches Unterscheidungsvermögen: Ernst Opel an der Ostfront
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Unterwegs in Krisenzeiten
Alexander Kluges Landarzt Ernst Opel, dem ein Teil seiner Intelligenz in die Zunge abwandert, ist eine pikareske Figur – sein casus, von Kluge als Episode in der Chronik der Gefühle berichtet, verweist auf den europäischen Ursprung einer literarischen Tradition, die Überlebens- und Erzählkunst wirkmächtig miteinander verknüpft.1 Opels Verwandte aus dem 16. bis zum 19. Jahrhundert sind Lazarillo de Tormes, Cervantes’ Quijote, Guzm#n de Alfarache, der Simplicissimus, aber auch Fabrice del Dongo aus Stendhals La Chartreuse de Parme. Wie sie bricht Opel aus tiefer Provinz, hier dem Harz, auf in die Welt, das heißt an die Ostfront. Überleben und Erzählen sind von Anfang an sein erklärtes Ziel, ausgerüstet ist er mit reichlich Vorräten und einem aus Lektüre gewonnenen Zitatenschatz – schon kurz nach seinem Aufbruch »hat er so viel erlebt, daß er in Ballenstedt interessant erzählen könnte.«2 Opels soziale Herkunft ist, wesenhaft für den P&caro, von einem ständischen ›Dazwischen‹ gekennzeichnet: Als Landarzt mit Villa gehört er einer Aufsteigerklasse des 19. Jahrhunderts an, dem 1 Vgl. zu den Merkmalen des Pikaresken im Folgenden insbesondere: Jochen Mecke, »Die Atopie des P&caro. Paradoxale Kritik und dezentrierte Subjektivität im Lazarillo de Tormes«, in: Wolfgang Matzat/ Bernhard Teuber (Hg.): Welterfahrung – Selbsterfahrung. Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der frühen Neuzeit, Tübingen 2009, S. 67–94; Christoph Ehland/ Robert Fajen (Hg.), Das Paradigma des Pikaresken. Heidelberg 2007 und Hanno Ehrlicher, Zwischen Karneval und Konversion. Pilger und P&caros in der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit, München 2010. Ich verzichte bewusst auf den germanistischen Begriff des »Schelmenromans«, den Kluge selbst ungern verwendet, weil er einen humoristischen Aspekt betont, der für ihn nicht im Vordergrund steht, auch wenn seine pikaresken Gestalten durchaus komisch sind. 2 Alexander Kluge: »Ein Teil seiner Intelligenz ist in die Zunge abgewandert«, in ders., Chronik der Gefühle, Bd. II, Frankfurt/M. 2000, S. 431–436. Im Folgenden verweisen alle Seitenangaben in Klammern nach den Zitaten auf diese Ausgabe. In Ballenstedt befand sich in einem ab 1936 errichteten Neubau von 1942–1945 eine große Napola, die »Nationalpolitische Erziehungsanstalt Anhalt« – Opels einsame pikareske Ausfahrt ins Feld scheint der kollektiven ideologischen Erziehung in einer solchen nationalsozialistischen Anstalt implizit entgegengesetzt.
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gehobenen, europäisch-humanistisch gebildeten Bürgertum an, zur Vorbereitung auf seinen Kriegseinsatz liest er die Memoiren von Dominique Larrey, Napoleons berühmtem Feldarzt, sein militärisch falschfarbenes, anachronistisches Kostüm aus »englischem Vorkriegs-Tuch« verrät aristokratische Ambitionen. Seine »3 Paar Unterhosen« und sein umfangreiches Gepäck (»6 Taschen […] Ärztegeräte und Verpflegungs-Vorräte«) bezeugen dagegen einen bäuerlich-ländlichen Realismus, der mit Kälte und Hunger rechnet. Seinen Schwerpunkt trägt Opel ausdrücklich im Hintern, der ihm Vorrat und Polster zugleich ist – insgesamt erscheint sein Körper damit als eine chimärenhafte Figur, zusammengesetzt aus Sancho Pansa und Don Quijote, in gleichem Maße getrieben von Abenteuerlust, Interesse und Notwendigkeit. Sein Hintern erdet Opel, in ihm verkörpert sich jene Bodenperspektive, aus der der P&caro die Welt sieht und beschreibt.3 Die Notwendigkeit der eigenständigen Ausrüstung und Bevorratung gründet in einer ökonomischen und politischen Krisensituation, stets treiben Armut, Hunger oder Krieg den P&caro hinaus in eine unsicher gewordene Welt, in der er keinen sozialen oder institutionellen Ort hat, nicht mit Hilfe rechnen kann und sich zum Selbstversorger ausbilden muss.4 Entsprechend überrüstet bricht Opel auf, gewappnet für alle materiellen und sozialen Eventualitäten: Seine Vorräte will er sowohl zur eigenen Versorgung als auch zur Gunstgewinnung beim Militär einsetzen, mit seinem Zitatenschatz kann er unterhalten und renommieren. Auf seine Tätigkeit als Feldarzt hat sich der Landarzt ebenfalls vorbereitet, seine Lektüre allerdings ist ähnlich anachronistisch wie seine Uniform und bietet bereits einen Vorgeschmack auf die folgende Desillusion: Hier macht sich kein militärischer Held, kein Teilhaber am napoleonischen Mythos, sondern ein Begleiter der Niederlage auf den Weg, eine bürgerliche Schrumpfversion des Barons Larrey, der napoleonische Schlachtfelder erwartet, wo er nur chaotisch versprengte Gefechtsüberreste in einem »Sumpfgebiet« finden wird.5 3 Opels Vorräte verweisen zudem auf das Motiv des Hungers, das in der kanonisch ersten Pikareske, dem anonymen Lazarillo de Tormes (1552), zentraler Ausgangspunkt für pikareskes Reisen ist: Der verzweifelten Essensbeschaffung im Dienste vieler geiziger, zum Teil selbst notleidender Herren verdankt Lazarillo die Ausbildung seiner Überlebenskünste, eine apokryphe Fortsetzung schildert, wie er sich mit Essensgeschenken zweifelhafte Freundschaften sichert. 4 Vgl. Mecke, »Die Atopie des P&caro«. 5 Hier zeigt sich Opel insbesondere Stendhals Fabrice del Dongo aus La Chartreuse de Parme verwandt, der – ebenfalls anachronistisch vorbereitet durch Heldenerzählungen der italienischen Renaissance – verkleidet als französischer Soldat Napoleon ins Feld bei Waterloo folgt. Die intern fokalisierte Beschreibung von Fabrices Desorientiertheit auf einem Schlachtfeld, auf dem er weder Freund und Feind unterscheiden, noch die eigentliche Kampfhandlung ausfindig machen kann, gilt als Geburt der modernen Kriegsnarration. Den bewunderten Napoleon verfehlt Fabrice schließlich im Nebel, er reitet unbemerkt vorbei. Kluges fiktive Tagebucheinträge Opels setzen diese von Stendhal narrativ geprägte, impressionistische Raumlosigkeit der Kriegserfahrung fort: »Die Wege sind schneeüberlagert. In
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Auch charakterlich scheint Opel weniger zum Helden bestimmt, er beweist vielmehr eine moralische Elastizität und einen Pragmatismus, wie sie dem P&caro zum eigenen Überleben in Krisenzeiten und Katastrophen hilfreich sind, Opel kann auf die Bildung eines bürgerlichen Humanisten zurückgreifen: Sein ärztliches Wissen beruht auf Erfahrung (aus der Geburtshilfe und einer eigenen Erkrankung an Gelbsucht), die beigefügten Ausführungen zu den Geschmackszonen der Zunge belegen ein Interesse an wissenschaftlicher Empirie. Opels militärisches Wissen dagegen ist über die Lektüre einer historischen Heldenerzählung vermittelt. Im Praktischen verfügt er über Intuition und kennt seine Grenzen (er weiß, wann ein Fall so schwierig wird, dass er »dem Kreiskrankenhaus überwiesen werden muß«, 433), im Sozialen zeichnet ihn wiederum eine pikareske Selbstblindheit, eine parzivalesk unverdrossene Naivität aus: So genau er in seinen fiktiven Tagebucheinträgen Sitz- und Rangordnungen, Einund Ausgrenzungssignale der Militärs beschreibt, so blind ist er den eigenen Verfehlungen gegenüber und verkennt die ›Form‹ militärischer Kommunikation. Er überzieht seine Befehlsautorität, requiriert Material und Personal und macht sich unbeliebt. Sein optimistischer Einsatz macht ihn zugleich immun gegen die offensichtliche Verachtung des Militärs, in dessen Dienst er sich hartnäckig zu stellen sucht. Da er von vornherein nicht satisfaktionsfähig erscheint, begegnet man ihm mit verächtlichem Wohlwollen und sucht ihn zufriedenzustellen.6 Opels moralische Ausstattung ist als Sammlung aus Erfahrung, Lektüre, Intuition und Selbsterhaltungstrieb damit ähnlich eigenwillig zusammengesetzt wie seine materielle, bietet in ihrer Versatilität jedoch wie diese alles, was er zum Überleben braucht.7
geringer Entfernung Artilleriefeuer. Rechts von uns eine Division […]. Ich finde eine Veterinärstation für Pferde.« 6 »Seine Blindheit gegenüber seinen Fehlern gilt denen, denen er begegnet als Formlosigkeit. Da er seine Umgebung nicht erfasst, erscheint er optimistisch« (432). Die hier angedeutete Einfalt Opels schützt den frühneuzeitlichen P&caro grundsätzlich sowohl bei seinen Abenteuern als auch in seiner Erzählerrolle: Die Perspektive von unten versteckt ihre scharfe gesellschaftliche Kritik und Diagnostik unter der Maske eines harmlosen Außenseiters. Dabei ist unwesentlich, ob die Naivität authentisch oder vorgestellt ist, der Autor stattet seine Figur strategisch mit dieser Eigenschaft aus. 7 »An Eigenschaften hat Ernst Opel in diese vorderste Linie außer seiner kennerischen Zunge, den Zitaten aus Baron Larreys Erinnerungen, einer Reihe von Witzen […], mitgebracht: Kenntnisse der Geburtshilfe, Früherkennung von Gelbsucht, weil er selber einmal daran erkrankt ist, sicheres Erkennen, wann ein Fall für den praktischen Arzt und Geburtshelfer schwierig wird und dem Kreiskrankenhaus überwiesen werden muß. Außerdem: Einfühlungsvermögen. Zusammenführen und Kitten zerstrittener Familien, Ehrgeiz, Kenntnisse im Uniformwesen und in der Kriegsgeschichte, insbesondere Schlachten.« (433)
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2.
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Spiegeln
Opel meint »in dieser Gesamtaufmachung […] den Militärs ins Auge sehen zu können« – trotz des scheinbar neutralen Berichtsmodus lässt die Erzählung schon hier keinen Zweifel daran, dass diese »aufgeputzt[e]« Erscheinung, diese Kombination aus fahrendem Ritter, praktischem Arzt und Marketenderin nicht als militärischer Funktionär integrierbar ist. Noch bevor er die Front überhaupt erreicht, wird er aus der Sicht des Apparats zum »Frontschwein«8. Diese Entwicklung folgt ebenfalls einem traditionellen pikaresken Muster : Der P&caro ist ohne höheren Auftrag unterwegs9, seine Mission ist es, als Diener vieler Herren die Gesellschaft zu durchwandern, um sich – zur Not mit List – einen bescheidenen Platz in der Gesellschaft mit beruflichem Auskommen zu verschaffen – erwartet wird er nicht, allenfalls geduldet. Zentrale Symptome dieser so auftragslosen wie mühevollen Suche sind die Zufälligkeiten und Verzögerungen der pikaresken Wanderung. Schon zu Beginn seiner Reise muss Opel verschiedenste Vehikel nutzen, um in die Nähe der Front zu gelangen, schon hier zeigt sich die »Atopie« eines gesellschaftlich Ortlosen, der in die Nähe eines »Landstörtzers« rückt.10 Auch nach der Ankunft im Feld bleibt Opels Position unsicher : »Ich erhalte keine bestimmte Stelle in einem Feldlazarett […]« (431). Aus dem Erzählerkommentar geht zunächst ein deutlicher Wille Opels hervor, die unklaren Signale der Vorgesetzten positiv zu deuten: »Ernst Opel nimmt an, dass es eine Auszeichnung ist.« In seinen fiktiven Aufzeichnungen kann Opel sich andererseits der Wahrnehmung seiner Ausgrenzung nicht verschließen, man gönnt ihm weder Anerkennung, noch Ausrüstung, noch Nahrungsmittel – unmittelbar im Anschluss beginnt Opel das Notwendige bis hin zu einem eigenen Burschen zu requirieren. »Einen Wagen und Fahrer erhalte ich nicht. Dafür werde ich an die Abendtafel geladen. […] Dann erhalte ich einen Platz weit unten an der Tafel, ich kann also in das Gespräch nicht eingreifen. Der Armeearzt speist so schnell, daß ich an die Lebensmittel nicht herankomme.« (431) Auch hier findet sich der Hunger als zentrale Triebfeder der pikaresken Überlebenskunst wieder. Der Verstoß gegen das (insbesondere auch für Kluge) zentrale europäische Gebot der Gastfreundschaft und des Teilens von Speise und Trank ermächtigt Opel erst, sich selbst zu versorgen. Ihr Gegenbild findet die hierar8 »[…], Aufzug, Behandlung des Burschen, thronend auf Panjewagen und Vorräten, inzwischen verdreckt, erscheint er, noch bevor er die Front erreicht, als Frontschwein.« (432) 9 Auch wenn man schließen kann, dass Opel in das Lazarett bei Dno abkommandiert wurde, gibt der Text keinerlei Hinweis auf einen Befehl oder Auftrag. Der Armeearzt vermutet in der Zuteilung des Reservearztes »eine Bosheit aus der Heimatorganisation« (432). 10 »Ein DKW bringt ihn nach Magdeburg. Danach sitzt er zehn Tage in Zügen, die ihn bis Pleskau bringen, danach Panjewagenfahrt bis Feldlazarett Dno. Schon jetzt hat er so viel erlebt, daß er in Ballenstedt interessant erzählen könnte.« (431)
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chisch motivierte, geizige ›Aushungerung‹ Opels durch das Militär später in jenem verbindenden Mahl, in dem Opel seine Vorräte teilt. Obwohl er bei der eigenmächtig unternommenen Evakuierung eines Hauptverbandsplatzes den örtlich zuständigen Oberarzt Graf Dohna für seine Aktion gewinnen kann, bleibt Opel Außenseiter. Während in seinem grenzenlos optimistischen Handlungsund Integrationswillen aus seiner Perspektive hier »eine Freundschaft fürs Leben« mit dem »sympathischen Chirurgen« entsteht, bleibt offen, ob Oberarzt Dohna sich auch nach dem Krieg mit dem »peinlichen« Landarzt sehen lassen würde. Noch der letzte Satz der Erzählung bekräftigt, dass der Zivilist trotz aller Mühe und gemeinsam geleisteten Rettung beim Militär keinen Platz finden wird: »Es hat den Anschein, daß Dohna den selbstzufriedenen Kollegen im Grunde seines Herzens widerlich findet. Er geht verletzend früh schlafen.« (434) In dem Maße, in dem die Welt sich dem P&caro abweisend, undurchschaubar und korrupt entgegenstellt und ihm seinen Ort verweigert, in dem Maße, in dem sich die Allianz der Mächtigen (z. B. die von Kirche und königlichen Beamten, hier die der Militärhierarchie) als undurchdringlich erweist, wird er zur List greifen und sich in den Apparat integrieren, indem er sich ihm anverwandelt und sich gegebenenfalls zuletzt mit Doppelmoral und Scheinhaftigkeit arrangiert, um wenigstens vorübergehend eine Position zu erringen. Sein Aufstiegswille scheut sich nicht, sich zum Komplizen der Herrschenden zu machen.11 Opels Zitate und Herrenwitze, seine Bereitschaft Trink- und Verbrüderungsrituale zu vollziehen, Befehlsgewalt zu usurpieren und Ausrüstung für sich zu requirieren, bilden die Militärgesellschaft ebenso ab, wie sie deren Hierarchien unterlaufen. Der fiktive Ernst Opel, von Kluge zusammengefügt aus ihm bekannten Militärärzten12, ist damit weniger ein individuell geformter Charakter, als ein pikaresker Typus, eine Sammlung von Eigenschaften, zusammengesetzt aus den Handlungsmöglichkeiten seiner Zeit. Er reagiert auf das, was ihm begegnet – im pikaresken Sinne wird er auf diese Weise ein Spiegel zeitgenössischer Herrschaftsbünde, im Hintern des »Frontschweins« spiegeln sich Not und Laster der Militärgesellschaft.13 Die Listen des P&caro bilden gesellschaftliche Missstände und Nöte unmittelbar ab, mit Adorno formuliert, zeigen seine wesenhafte Obdachlosigkeit und sein Opportunismus die Unmöglichkeit eines »richtigen Le11 Erzählerisch modellbildend ist auch hier der Lazarillo de Tormes: Lazarillo findet zuletzt sein gesellschaftliches Auskommen in einem fragwürdigen m8nage / trois, wenn er die Konkubine des Erzpriesters heiratet, ohne eine eigene Komplizenschaft einzugestehen. Dies ist der Höhepunkt einer gesellschaftskonformen Ausbildung in Lügen und Betrügen. Eulenspiegels »Wörtlich-Nehmen« ist eine subversivere Form der spiegelnden Anverwandlung. 12 Nach eigener Aussage greift er hier auf mündliche und schriftliche Berichte zurück. Ernst Opel trägt auch Züge von Kluges Vater, Ernst Kluge, dem Geburtshelfer aus Halberstadt. 13 Der Hintern als Spiegel ist zentrales Motiv im Eulenspiegel. Opels Hintern macht ihn darüberhinaus androgyn und bringt eine weibliche Kraft auf das Schlachtfeld, vgl. Kluges Ausführungen zur Figur Blüchers.
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bens im Falschen«.14 Die Haltung des P&caro schwankt auf der Suche nach einem Platz charakteristisch zwischen Komplizenschaft und diagnostischer Distanz (»Ich vermute Disziplinlosigkeit, stelle dann aber fest, dass die Sanitätsgrade meinen Befehl nicht ausführen, weil keine Transportkapazitäten vorhanden sind.« (432)). Die vom Militär wahrgenommene »Formlosigkeit« (432) Opels ist damit Teil einer pikaresken Poetik: Nicht Ziel und Aktion, sondern opportunistische Reaktion und Unterscheidungsvermögen machen die Überlebenskunst des P&caro aus, er ist eine Konstellation ziviler Kompetenzen, die sich gegen die Regeln des Apparats in Stellung bringt. Bei aller spiegelnden Mimikry hält der pikareske Außenseiter dabei Distanz durch seine pseudo-naive Perspektive. Opel bleibt sich stets treu in seinem Wunsch zu überleben und zu erzählen: »Alles dies unter dem Gesichtspunkt, dass er später zu Hause etwas zu erzählen hat.«
3.
Lernen
Die Sympathie des Erzählers für die Figur Ernst Opel verbirgt sich in einem scheinbar direkt wiedergegebenen, verächtlichen Urteil des vorgesetzten Armeearztes: »Offenbar ein Militärfan aus dem sächsischen Bereich, ärztlich gesehen ein Autodidakt« (432). Opel ist aus der Sicht des Militärs hinterwäldlerisch und unprofessionell, für Kluge hingegen steht der Autodidakt für die aufklärerische Fähigkeit ein, sich seine Autoritäten selbst zu suchen und sich Wissen selbständig anzueignen.15 Gerade diese Fähigkeit, nicht ausgebildet zu sein und doch alles aus Erfahrung und Lektüre improvisieren zu können, macht Opel dort handlungsfähig, wo das Militär versagt – so selbstblind er ist, so wenig situationsblind handelt er : Als einziger erkennt er, durch seine Kommunikation mit den einfachen Frontsoldaten, dass »die Rückzugsbewegung längst in Gang kommt und dieser Verbandsplatz geräumt werden müsste« (432); da man nicht auf ihn hört, organisiert er eigenmächtig die Evakuierung mit Hilfe einiger in einer Veterinärstation zurückgelassener schwerkranker Pferde und aus auf einem Flugplatz gefundenen Resten und Verbandszeug gebastelter Karren. Mangels Wegen, auf denen die Karren mit ihren kleinen Rädchen rollen könnten, erweisen sie sich als untauglich und müssen umgedreht werden: »Wir drehen deshalb die Bretter auf den Rücken, so daß die Räder nach oben zeigen. Die 14 Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu Odysseus, der zwar ebenfalls Hindernisse listenreich überwindet, dabei aber nicht die Funktion eines gesellschaftlichen Spiegels übernimmt. 15 Kluge ist, wie fast die gesamte Generation des Neuen Deutschen Films, sowohl als Filmemacher wie als Fernsehregisseur und Schriftsteller selbst ausdrücklich Autodidakt, Werner Herzog nennt er zum Beispiel einen »geschulten Piraten«.
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Pferde ziehen diese Vorrichtungen durch den Schlamm bzw. über Erde. Wir haben die Verwundeten daraufgebunden.« Im strengen Blick des Oberarztes, dessen Perspektive der Text kurz einnimmt, markiert das Bild der »Bretter […], auf denen winzige Räder befestigt sind, die in die Luft zeigen« (434) einen Höhepunkt absurder Dysfunktionalität und »Formlosigkeit« – Dohna hilft zwar, distanziert sich aber formal gleichzeitig von der Unternehmung. Vor dem Hintergrund von Opels Memoiren-Lektüre, die er im geistigen Gepäck trägt, erscheinen seine eigenen, improvisierten, umgedrehten Karren tatsächlich als eine groteske Karikatur der berühmten ambulances volantes, jener fliegenden Lazarette, mit denen Larrey die Rettung von Verwundeten auf dem Schlachtfeld revolutionierte.16 Auch die Rettung und der Einsatz der verletzten Pferde verweisen auf Larrey, der zwar am nationalen Napoleonkult mitwirkte, in der Praxis aber alles Leben – auch verwundete Gegner und Pferde – auf dem Schlachtfeld rettete und damit ein humanitäres Ideal begründete, von dem Opel mindestens ebenso beseelt scheint, wie von seinen erzählerischen Ambitionen. Insgesamt entsteht hier der Eindruck einer so verzweifelten wie komischen, pikaresken Karikatur napoleonischen Heroismus: Der provinzielle Landarzt kämpft gegen materiellen Mangel, gegen die Widerspenstigkeit der Verhältnisse und die Trägheit des militärischen Apparats; mit ungeheurer Anstrengung schafft er es, die Verwundeten auf seinen absurden Karren ganze »12 km nach Westen« zu bewegen. Und dennoch gelingt ihm etwas, zeigt er sich in seinem Alleingang und seinen Improvisationskünsten dem situationsblinden Militär überlegen. Opel verkörpert hier insbesondere die Fähigkeit des P&caro, aus dem Mangel dessen, was ihm vorenthalten wird und den Resten, die ihm an den Rand der Gesellschaft zugeworfen werden, intelligentes, praktisches Handeln zu entwickeln. Er führt exemplarisch das Lernen aus der Not vor.17 Die Konstruktion der Karren aus gefundenen Brettern und Rädchen, aus Resten von Lederriemen und Mullbinden sind Opels Form einer »Geburtshilfe« für die Verwundeten, in der Notsituation kann er seine zivilen Tugenden des praktischen Arztes reaktivieren. Der Autodidakt in Not erweist sich damit als ein pikaresk-humanistischer »Allesverbin-
16 Vgl. Dorothe´e Sprenger, »Wo ungeho¨ rt der Jammer a¨ chzt«: Rettung und feldchirurgische Erstversorgung der Verwundeten in der franzo¨ sischen Armee zwischen Franzo¨ sischer Revolution (1789) und der ersten Genfer Konvention (1864), München 1998. 17 Um an das Brot zu gelangen, das sein zweiter Arbeitgeber, ein Priester, vor ihm in einer hölzernen Schatulle verschließt, entwickelt Lazarillo sowohl technische als auch moralische Raffinessen: Von einem Kesselflicker lässt er sich einen Zweitschlüssel anfertigen, entwendet aber trotz seines Hungers nur einzelne Brösel – um den Verdacht auf Mäuse zu lenken, streut er zusätzlich Brösel um die Kiste. Die von den Herren vorenthaltene Nahrung ist zentrales Motiv der Pikareske, erst aus ihr entwickelt der P&caro seine schlaue Anpassungsfähigkeit, aber auch seine Handlungskompetenz in der Gefahr des Verhungerns.
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der«, mit kleinen Resten kann er beliebig große Aufgaben angehen und mit Kommunikation sich Helfer rekrutieren.18
4.
Verkehren
Nicht nur alles verbinden zu können, ist eine positive Leistung von Opels flexibler »Formlosigkeit«, mindestens ebenso zentral ist seine wiederum charakteristisch pikareske Fähigkeit zur Verkehrung, die sich ebenfalls im Bild der improvisierten »Karren« verdichtet: Was nicht funktioniert, funktioniert vielleicht in seiner Umkehrung. Der P&caro ist schon frühneuzeitlich eine Figur der Verkehrung: In seinen Beobachtungen und seinen mutwilligen Aneignungen verkehrt er eine bereits (moralisch) verkehrte Welt abermals und fördert auf diese Weise eine (gesellschaftliche) Wahrheit zutage. In der Verkehrung eröffnet sich zugleich ein utopischer Möglichkeitsraum.19 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Verkehrung als so zentrales wie inhaltlich und strukturell produktives Prinzip von Kluges Erzählung: Es beschränkt sich nicht auf die offensichtlichen Verkehrungen zwischen den beigefügten Grafiken (Stalingradkessel, menschliches Hirn, Eisverbreitung in der Eiszeit und Regio olfactoria), auf die noch einzugehen sein wird, sondern die Verkehrung bestimmt auch die verschiedenen Lektüremöglichkeiten von Opels Erscheinungsformen: Schon die Berufung des Geburtshelfers zum Frontarzt folgt einer Verkehrung, vom bürgerlichen Humanisten verwandelt Opel sich im Feld zum »Frontschwein«. Beim freigiebig mit Dohna geteilten Essen von Schweineschinken und anschließendem Schluck aus der Gilka-Flasche verkehren Opels Großzügigkeit und Genussfähigkeit wiederum genau dieses Bild – das Schwein wird mit Schwein ausgetrieben. Ebenso ist Opel mit seinen elenden Karren eine pessimistische Verkehrung Larreys, dennoch verwirklicht sich in ihm bürgerliche Humanität, die ihre Wurzeln in den napoleonischen Kriegen hat. Und nicht zuletzt kann man 18 Zum »Allesverbinder« vgl. Vincent T. Pauval, »Situations de ce qui s’entre-tient: jeux socratiques audiovisuels et conversions po8tiques dans l’œuvre d’Alexander Kluge«, in: JeanPierre De Giorgio/ FranÅoise Laurent/ FranÅoise Le Borgne (Hg.), Espace-temps du dialogue litt8raire, Clermont-Ferrand 2017, S. 87–105, hier S. 96. 19 Ein einschlägiges Beispiel wäre hier die verkehrte Welt der »Räuber-Gesellschaft« in Cervantes’ Erzählung Rinconete y Cortadillo. Vgl. auch Wilhelm Voßkamp, Emblematik der Zukunft. Poetik und Geschichte literarischer Utopien von Thomas Morus bis Robert Musil, Berlin/ Boston 2016, insbesondere Kap. 3 »Interferenzen zwischen pikareskem und utopischem Erzählen bei Grimmelshausen«, S. 110ff. Voßkamp unterscheidet satirische Negation und pikareske Verkehrung, in beiden Verfahren liegt für ihn ein produktives, potenziell utopisches Moment des Umgangs mit historischer Erfahrungswirklichkeit, wobei die Verkehrung differenzierter verfährt: »In den Techniken der gleichzeitigen Negation und (Sinn-)setzung stimmen pikareskes und utopisches Erzählen überein.«
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in Ernst Opel – wie es in seinem Namen anklingt – auch eine Verkehrung des Oberbefehlshabers der 6. Armee, Friedrich Wilhelm Ernst Paulus sehen, dem bei Stalingrad die Fähigkeit zur Umkehr abhandenkommt.20 In Opels kleinem Rückzug bei Dno zeichnet sich – wenngleich gerahmt von Vergeblichkeit – ein Moment des ›Richtigen‹ im ›Falschen‹ ab. Opel ist über 1500 km von Stalingrad entfernt, befindet sich aber in einem »Sumpfgebiet«, welches die Bedingungen des Stalingradkessels zeitgleich an anderem Ort und auf andere Art abbildet.21 Es ist schließlich derjenige, der einen Rückzug einleitet, der hier etwas erobert: Das Stückchen Verstand, von Sumpfgebiet und »hohem Gras« durch eine Holzwand getrennt, erscheint als kleines gewonnenes Territorium – die beigefügten Karten machen das Stückchen größenmäßig dem Stalingradkessel oder dem vergletscherten Gebiet der Eiszeit äquivalent. Verkehrungen, Vergrößerungen und Verkleinerungen lassen Möglichkeiten erkennen, ihren Ursprung haben sie nicht zuletzt in der pikaresken Bewegung der Erzählung, in einem Verschieben, Verlagern und Verkehren des Bekannten durch Wanderschaft: »Unklar ist nur, wieso man so weit reisen muß, um diese Empfindung zu haben. Man kann auch im Harz, also höchstens 16 km von Ballenstedt, rasch Gegenden finden, in denen ähnliche Erkenntnisse möglich sind. Aber niemand in Ballenstedt würde sich einen längeren Bericht darüber anhören.« (434)
5.
Unterscheiden
Den erfüllenden Höhepunkt seiner pikaresken Erfahrungen erlebt Ernst Opel nach dem mühevollen Abtransport der Verwundeten bei der gemeinsamen Mahlzeit – vor dem Hintergrund der Frontsituation ist es ein Festmahl – mit Dohna: »Das Stückchen Landschinken ist exzellent. Diese zur Eigenschlachtung bestimmten Schweine werden ganz anders ernährt als die, die zum Verkauf bestimmt sind. Trinkt man gleich darauf aus der Verschlußkapsel der Gilka-Flasche einen Schluck Kümmel, so entsteht eine interessante Nachwirkung. Opel nennt das ›Zähne-Putzen‹. Die Bezeichnung ist irreführend, weil die Wirkung gar nichts mit dem Gebiß zu tun hat, sondern etwa in Höhe der Mandeln entsteht. Man kann ein Stückchen Brot nachschieben und Speck zerbeißen, ohne daß dieser differenzierte Eindruck sogleich gelöscht wird.« (434) 20 Auch Paulus heißt Ernst. Es geht Kluge nie um bloße Verkehrungen, sondern immer auch darum, entscheidende Personen als eine Konstellation von Eigenschaften, Bedingungen und Möglichkeiten erkennbar zu machen. Die beigefügte Photographie Opels zeigt ebenfalls Ähnlichkeiten mit Aufnahmen von Paulus, ggf. handelt es sich um dessen gespiegeltes Gesicht. 21 Opel bricht im November 1942 auf, als die Einkesselung beginnt.
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Warum gerade hier, in einem eigentümlichen, eigenwilligen Geschmackserlebnis, sich ein Stück Verstand zeigt, das in Opels Zunge abgewandert ist, lässt sich vor dem Hintergrund der bereits genannten Erzählbewegungen skizzieren – der Höhepunkt der Erzählung verdankt sich wiederum vielfachen narrativen Spiegelungen, Verkehrungen und Verbindungen, die in einem emblematischen Rätsel zusammenlaufen: Zunächst verwandelt sich – wie bereits angedeutet – das Frontschwein hier zurück in einen zivilen Gastgeber, der zugleich geschmackliches Unterscheidungsvermögen besitzt, denn Kluges Text legt Wert darauf, dass Opel sowohl die vorindustriell, familiär gemästeten Schweine von der Verkaufsware unterscheidet, als auch im Zusammenspiel von Kümmel und Fleisch einen nachhaltigen, »differenzierte[n]« Geschmackseindruck erfährt.22 Auch wenn sprachlich die Formulierung »Zähne-Putzen« wieder an kollektive Saufrituale erinnert (vgl. den Ausdruck »Rachenputzer« für Schnaps), so offenbart sich im Differenzierungsvermögen von Opels Zunge doch ein zivilisatorisches Grundwissen, das noch vor seiner humanistischen Bildung zu verorten ist und diese unterfüttert: Opels Zunge weiß, dass Schweinefleisch, also Fett, den menschlichen Körper nährt, sie versteht es, das Fett mit Alkohol verdaulich zu machen und schließlich gewinnt sie der Nahrungsaufnahme ein ästhetisches Erlebnis ab, sowie – im gemeinsamen Genuss mit Dohna – menschliche Kommunikation und Versöhnung, den Keim eines Symposions.23 Ähnlich wie beim Karrenbau kann Opel aus seinen Fähigkeiten, mitten im »Sumpfgebiet«, »bei Kerzenlicht«, »durch ein bißchen Holzwand von hohem Gras getrennt«, dem unmenschlichen Katastrophengebiet menschliche Zivilisation en miniature abringen, ein kleines Territorium verbindender Verständigung. Anders als beim Karrenbau verdankt er dies hier jedoch weniger seiner bürgerlichen Bildung oder seiner ärztlichen Erfahrung, als vielmehr einem Organ ohne reflektierendes Bewusstsein. Nach Bachtin ist die Zunge ein Teil des »grotesken Leibes«: Wie der Bauch, der Hintern, der Penis oder der Mund ist sie nicht einem abgeschlossenen, individuellen, »beseelten« Körper zugeordnet, sondern ein Organ, das den Körper öffnet auf die zyklischen, allgemeinen, das Leben des Einzelnen in sich 22 »Man kann ein Stückchen Brot nachschieben und Speck zerbeißen, ohne daß dieser differenzierte Eindruck sogleich gelöscht wird.« (434) 23 Man könnte hier auch die ganz und gar pikaresk-säkulare Verkehrung eines »eucharistischen« Ritus sehen: Schwein und Schnaps verbinden sich wie Brot und Wein – die Offenbarung liegt jedoch nicht in der Transzendenz, sondern im gemeinschaftlichen Stillen des Hungers, also im Fleisch selbst. So ebenfalls inszeniert im Lazarillo de Tormes, wenn der Priester Hammelkopf isst und Lazarillo die abgenagten Knochen zuwirft mit den Worten: »Toma, come, triunfa, que para ti es el mundo.« (»Nimm, iss und frohlocke, denn dies ist für dich die Welt«, [meine Übersetzung]). Konsequent verweigert die Pikareske eine von den Mächtigen verwaltete spirituelle Symbolik des Brotes, um es umso vehementer gegen den Hunger einzufordern. Der Hunger erscheint folgerichtig als ein stärkerer Motor ästhetischer Einbildungskraft als der Glaube.
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aufhebenden »Akte des Körper-Dramas« von Zeugung, Geburt und Tod, oder Essen und Ausscheiden.24 Schon bei Rabelais stellt sich der groteske Leib mit seinen Bedürfnissen und seinem körperlichen Eigensinn autoritärer Herrschaft und deren materiellen wie sprachlichen Ordnungen entgegen, seine Bewegungen nehmen die ordnungssprengenden Bewegungen der Pikareske vorweg.25 Das Geschmackserlebnis von Opels Zunge gründet in einem Wissen, welches das seiner eigenen Erfahrung noch übersteigt, seinen Ursprung hat es – die beigefügte Karte gibt den Hinweis – in der seit der Eiszeit über Generationen erworbenen Erfahrung, dass gegen Kälte und Hunger Fett hilft – Opel als Schwein und mit Schwein steht am Ausgangspunkt menschlicher Zivilisation; europäisches Unterscheidungsvermögen dessen »was essbar ist« (432) inkarniert sich in seiner Zunge, es verdankt sich Hunger und Kälte im eiszeitlichen Europa.26 Wenn die Zunge auf diese Weise das Überlebenswissen von Generationen körperlich speichert, so markiert sie zugleich das Vermögen zum Überschreiten des eigenen Körpers in der Expression. Die zentralen Fähigkeiten und Wünsche der pikaresken Figur Ernst Opel, Überleben und Erzählen, zeigen sich in seiner Zunge – in der Abbildbarkeit ihrer Geschmackszonen auf das Hirn und auf die Eiszeit nun in einer menschheits- und zivilisationsgeschichtlich vergrößerten Dimension. Dies macht den utopischen Charakter des pikaresk-karnevalesken Geschmackserlebnisses aus: Aus Opels Zunge, die nicht nur seine eigene Überlebenskunst, sondern die von Generationen in sich trägt, entfalten sich der Beleg menschlichen Lernens, die Möglichkeit einer Neu-Schöpfung menschlicher Zivilisation, und damit zuletzt ein Stückchen sensualistischer Utopie.27 Zugleich – und dies ist der bittere Anteil dieser Utopie, dieser Skizze einer improvisierten Insel von Zivilisation, auf der gegessen und gesprochen wird – verweist das Geschmackserlebnis auch auf das, was in oder gegen Stalingrad vielleicht geholfen hätte: In Kluges erzählerischem Universum ist der Schinkenverzehr nicht harmlos, er ruft in ganz anderer Perspektivierung die ausge-
24 Vgl. Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt/ M., Berlin, Wien 1985, S. 15–23; Alexander Kluge/ Rainer Stollmann, »Die Macht des Zwerchfells«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand – Alexander Kluge: Materialien und Rohstoffe, Göttingen 2012, S. 255–274. 25 Rabelais’ Romane werden nicht im engeren Sinne zur Pikareske gezählt, insbesondere streunende Störer wie Panurge tragen jedoch Züge pikaresker Figuren. Zum Zusammenhang zwischen Karnevaleske und Pikareske vgl. auch Ehrlicher, Zwischen Karneval und Konversion. 26 Gespendetes, geteiltes Fett als Mittel des Überlebens und der Neu-Geburt menschlicher Zivilisation ist bei Kluge auch über Beuys präsent, vgl. z. B. Neue Lebensläufe. 27 Ähnliches meint Kluge, wenn er von »Fingerspitzengefühl« spricht: Auch hier verbinden sich ein menschheitsgeschichtliches Archiv der Sinne und biographische Sinneserfahrungen zu einem Differenzierungsvermögen, das abgerufen werden kann und muss.
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zehrten Körper der im Stalingradkessel verhungerten Soldaten auf, die Kluge in Schlachtbeschreibung anhand von Autopsieberichten beschreibt: »Er schnitt das Herz heraus, hielt es hoch, damit es alle sehen konnten. Das Organ war bis auf die Größe einer Babyfaust geschrumpft. Zwölffingerdarm: kein Gramm Fettgewebe; Bauchhöhle: geringe Flüssigkeitsansammlung, das normale Fettgewebe verschwunden. Der Pathologe sagte, entsprechend der Sprachregelung des Armeestabs, daß die Diagnose ›verhungert‹ nicht genannt werden sollte: ›Ich kann keine direkte Todesursache finden.‹ Da waren aber auch keine Wünsche, Mitbringsel aus der Vergangenheit früherer Generationen wie bei Obergefreiten Wieland im Gewebe niedergelegt oder zu finden. Waren die ›Wünsche‹, ›Informationen über Vorgenerationen‹, der ›Protest, der nach Stalingrad in Marsch setzt‹, im verlorengegangenen Fettgewebe enthalten? Der Arzt lehnte das ab.«28
Im Intertext der Schlachtbeschreibung fehlt den Toten von Stalingrad genau das, was Opels grotesker Leib, näherhin seine Zunge kennt und fordert: Fett und Sprache – die Opfer der Schlacht wurden nicht genährt und ihre Geschichte darf nicht erzählt werden, der Militärapparat ersetzt sie durch eine »Sprachregelung«. Der »fabrikmäßig[e]«, »organisatorisch[e] Aufbau eines Unglücks«29 spiegelt sich grausam in jenen industriell gemästeten, verkauften und geschlachteten Schweinen, die Opels Zunge verschmähen würde. Die Assoziation der Schlachtschweine mit den geschlachteten Soldaten verlangt dabei eine mehrfache gedankliche Verkehrung, welche keine Lösung der Situation nahelegt: So wären Rettung und Verpflegung der Eingeschlossenen innerhalb des bestehenden Systems nur um den Preis »fabrikmäßig« gehaltener und geschlachteter Schweine möglich. In den mehrfachen Verkehrungen zeigt sich die absurde Verflechtung des ›Falschen‹, in dem sich das ›Richtige‹ nur vorübergehend ein winziges Territorium erkämpfen kann.30 Dass in Stalingrad alles vergessen und versäumt wurde, was eine Zunge an menschheitsgeschichtlich und individuell Gelerntem mitbringt, deutet sich schon in der Schlachtbeschreibung an, schon hier kommt das durch Hunger und Kälte erworbene Wissen nicht zum Einsatz: »In Nowotscherkask trafen 3 Hitler persönlich bekannte Himalayaforscher ein. Sie hätten sagen können, welche Nahrungs- und Kälteschutzmittel nach Stalingrad vor allem hätten eingeflogen werden sollen. Die Bedürfnisse der Armee waren jedoch abschließend in: Geheime Kommandosache Ia Nr. 0874/42 festgelegt«.31 Folgerichtig erscheinen die Kartierungen von Eiszeit, Zunge und Hirn als mögliche Umkehrungen des 28 Alexander Kluge, »Schlachtbeschreibung«, in: ders., Chronik der Gefühle, Bd. I, Frankfurt/M. 2000, S. 509–793, hier S. 742f. 29 Ebd., S. 509. 30 Vgl. auch den Lebenslauf des fetten »E. Schincke«, Chronik der Gefühle, Bd. II, Frankfurt/M. 2000, S. 707–734, S. 731 zu »Lingua«. 31 Ebd., »Schlachtbeschreibung«, S. 604.
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Stalingradkessels. Ernst Opels Geschmackserlebnis an der Ostfront (sein Überleben scheint möglich) aktiviert momenthaft jenes dem Einzelnen mitgegebene, in seinen sinnlichen Vermögen und seinen Sinneserfahrungen gespeicherte Wissen und Wünschen, das die militärische Maschinerie ignoriert. Dennoch bleibt, an der gleichen Front, an der sich weit entfernt der Stalingradkessel anbahnt, das Potenzial des humanistischen Praktikers unausgeschöpft, bleibt das Archiv seiner Zunge ungenutzt – bleibt Opel eine pikareske Figur der Möglichkeit. Die Geschichte Ernst Opels ist damit eine jener vielen Fortschreibungen, Ergänzungen und Neuschreibungen der Schlachtbeschreibung, mit denen Alexander Kluge gegen den ›Mythos Stalingrad‹ in vielstimmiger fiktiver Zeugenschaft anschreibt.32 Der »Lebenslauf« Opels fügt dem Resonanzraum der »Basisgeschichte« eine weitere Stimme, eine »Nebengeschichte« hinzu. Zugleich zeigt deren pikaresker Modus, dass bei Alexander Kluge Lebensläufe immer auch Erzählformen sind: Opels Zunge aktiviert nicht nur Ernährungs- und Geschmackswissen, sondern auch eine Erzählform. Der Stalingrad-Mythos wird hier erzählerisch gebrochen durch den grotesken Leib Opels, eines Mannes, der das ihn verpflegende Schwein mit sich trägt, und so auf dem Schlachtfeld einen utopischen Augenblick zu erzeugen vermag. Der »Formlosigkeit« Opels entsprechen unvorhersehbare pikareske Situationen.33
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Erzählen
Kluge übernimmt für Opels Geschichte nicht das Muster einer fiktiv-autobiographischen Ich-Erzählung, wie sie die frühneuzeitliche Pikareske vorgibt, aber er übernimmt doch ihre zentralen narrativen Verfahren unzuverlässigen Erzählens und unzuverlässiger Zeugenschaft, welche dem Leser abschließende moralische Urteile verweigern.34 Stehen facts und fakes in der »Basisgeschichte« 32 Vgl. Wolfgang Reichmann, »Baustelle Stalingrad. Alexander Kluges ›Schlachtbeschreibung‹«, in: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History, 2009/6, H. 3, S. 470–476, Zugriff am 31. 1.2019 und Nils Plath, »›Bemerkenswertes Ereignis‹ und ›geschichtliche Gegenwartslektüren‹: Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch 2016/3, S. 321–345. 33 Einen ganz anderen Akzent trägt das »Frontschwein« in der gleichnamigen Erzählung, die auf einer Ölbohrinsel in der Nachkriegszeit spielt, auch hier verweist das Arbeitsethos der Prostituierten Fretty jedoch auf eine »verkehrte Welt«, in welche die Front sich nun verlagert hat. Kluge, Chronik, Bd. II, S. 377f. 34 Ich beziehe mich hier auf den Begriff des »unreliable narrator« nach Wayne C. Booth. Der klassische P&caro erzählt seine eigene Geschichte nicht absichtslos, sondern – wie Lazarillo – erkennbar zur Selbstrechtfertigung vor einem Repräsentanten gesellschaftlicher Ordnung, seine Listen setzen sich damit auf der Erzählebene fort. Der unzuverlässige Erzähler bietet
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der Schlachtbeschreibung schon in einer irritierenden Formenvielfalt von Dokumenten, Zeugnissen, Berichten und Erzählungen nebeneinander, so überlagern sich in Ernst Opels »Lebenslauf« die narrativen Perspektiven zwischen einzelnen Sätzen. Opels scheinbare Ich-Berichte kippen immer wieder in eine narrative Außenperspektive: »Der Gefechtslärm ist jedoch näher gerückt, bestätigt die Richtigkeit meiner Anweisungen. Jetzt sind nur noch Stricke, Zaumzeug oder Leinen erforderlich, um Pferd und Transportmittel miteinander zu verbinden. Ein Sanitätsgrad schlägt vor, Mullbinden, dreifach gelegt, als Zaumzeugersatz zu verwenden. Andere Aushilfen, außer zu kurze Lederriemen, sind nicht vorhanden. Opel nickt. Eine Gruppe Frontsoldaten durchzieht den Hauptverbandsplatz nach rückwärts. Was sie berichten, deutet auf unmittelbare Gefährdung hin.« (433, meine Hervorhebungen)
Die übergeordnete Perspektive eines im ersten Satz der Erzählung klar datierend und kommentierend auftretenden auktorialen Erzählers (»Der Landarzt Ernst Opel verließ November 1942 seine Villa, die bei Ballenstedt lag, in einem geradezu peinlichen Aufzug«.) verliert sich umgekehrt schon nach wenigen Sätzen in Formulierungen, die stilistisch wie eingesprengte, artikellose Notizen Opels wirken: »Danach sitzt er zehn Tage in Zügen, die ihn bis Pleskau bringen, danach Panjewagenfahrt bis Feldlazarett Dno.« (431, meine Hervorhebungen) Insbesondere bei der Schilderung von Opels Geschmackserlebnis, das zunächst intern fokalisiert scheint, überlagern sich Opels Perspektive und die eines unsichtbaren Erzählers im discours indirect libre35 : »Opel wäre gern in Ballenstedt, um zu berichten. Das Stückchen Landschinken ist exzellent. Diese zur Eigenschlachtung bestimmten Schweine werden ganz anders ernährt als die, die zum Verkauf bestimmt sind. Trinkt man gleich darauf aus der Verschlußkapsel der Gilka-Flasche einen Schluck Kümmel, so entsteht eine interessante Nachwirkung. Opel nennt das ›Zähneputzen‹. Die Bezeichnung ist irreführend […]«. (434, meine Hervorhebungen)
Durch die gleiche Technik bleibt unklar, wo genau die Sympathien des Erzählers liegen und wo die Bewertungen ggf. auf Fehleinschätzungen Opels beruhen, wie z. B. in der Formulierung: »Ohne ein Wort zu sagen, […] zieht der sympathische Chirurg einen Pelzmantel über, […].« (434) Es kommt zu einer perspektivischen Unbestimmtheit, die offenlässt, aus Erklärungen und Wertungen an, der Leser kann sich aber kein abschließendes (moralisches) Urteil bilden. 35 Der französische Begriff gibt diese perspektivische Konstruktion genauer wieder als sein deutsches Äquivalent »erlebte Rede«: Im dil erscheinen Figurenrede oder Figurengedanken ohne einleitende inquit-Formel und daher zunächst wie Erzählerrede, dennoch erkennt man Figurenrede an Wortwahl oder Syntax – es kommt zu einer perspektivischen Überlagerung oder »Unbestimmtheit«. Vgl. u. a. Jonathan Culler, Flaubert. The uses of uncertainty, Ithaca/ London 1974.
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welcher Quelle das hier eingespeiste Geschmackswissen letztlich stammt: Nur von Opel, oder von einem ebenfalls im Feld erfahrenen Erzähler, ggf. auch von einer durch Dritte informierten Stimme?36 Entscheidend ist, dass die dichten perspektivischen Verschiebungen zwischen Figuren- und Erzählerrede hier, ähnlich wie bei den großen historischen Erzählern Frankreichs, Stendhal und Flaubert, dem Erzählkommentar Autorität und Verbindlichkeit entziehen, die reflektierende Stimme des Erzählers ist nur eine unter vielen. Der Anspruch auf historische Zeugenschaft bleibt dabei durchaus aufrechterhalten, er vervielfältigt sich jedoch in eine Vielzahl in ihren Quellen und in ihrer Authentizität weder überprüfbarer noch hierarchisierter Stimmen. Kluges barock-aufklärerische narrative Verfahren von Spiegelungen, Verkehrungen, Vergrößerungen und Verkleinerungen finden ihr perspektivisches Komplement in einer vielstimmigen fiktiven Zeugenschaft, die der großen Geschichtserzählung programmatisch eine vormoderne Chronik entgegensetzt.37 Selbst die Karten und Schaubilder repräsentieren kein übergeordnetes, klassifizierendes Wissen, sondern fügen weitere, nun anders interpretierbare »Dokumente« hinzu.38 Seine Form der Chronik steht damit auch jenseits der eigentlichen Kriegsnarration erzählerisch in der Tradition Stendhals, der seine Erzählkunst an nach-revolutionären Memoiren schult, um narrativ vielstimmige Verfahren fiktiver Zeugenschaft zu entwickeln – nicht von ungefähr gibt er seinem ganz und gar fiktiven Roman Le rouge et le noir den Untertitel Chronique du XIXe siHcle bzw. Chronique de 1830. Auch für Stendhal bedeutet Chronik die Aufzeichnung zeitgenössischer Perspektiven-, Sprach- und Handlungsmöglichkeiten, auch für ihn ist pikareskes Erzählen antiautoritäres Erzählen, auch für ihn ist scheinbar »formlose« Vielfalt poetisches Programm.39 Die ›Meistererzählung‹, gegen die Stendhal mit seinen Chroniken anschreibt, ist der im Frankreich des 19. Jahrhunderts jedes historische und biographische Erzählen vereinnahmende Napoleon-Mythos.40 Und auch dieser wirkt in Kluges Chronik von 1942 fort: Mit den Memoiren Larreys scheinen die napoleonischen Schlachten als unheimliche Vorboten des Stalingradkessels auf – nicht in einem genealogischen Sinne, sondern als das, aus dem nicht oder nicht genug gelernt wurde, als das, was sich an Ernst Opel im 36 Als mögliche außertextliche Quelle käme hier dann wieder Ernst Kluge in Frage… 37 Wolfgang Reichmann stellt die Nähe von Alexander Kluges Chronik zu älteren Formen wie Kalender, Chroniken oder Hausbücher des 18. Jahrhunderts heraus und betont, dass die Verwandtschaft weniger in einer Chronologie als in der Gattungsvielfalt besteht, die aus Kluges Chronik »eine Art Gebrauchsbuch« macht. Vgl. Wolfgang Reichmann, Der Chronist Alexander Kluge. Poetik und Erzählstrategien, Bielefeld 2009, S. 67f. 38 Vgl. Plath, »›Bemerkenswertes Ereignis‹ und ›geschichtliche Gegenwartslektüren‹«. 39 Vgl. künftig Philipp Lammers, Erzählen in der Nachhut. Postrevolutionäre Memoiren und das Werk Stendhals. (Erscheinungsjahr 2020). 40 Zu gesellschaftlich identitätsstiftenden master narratives vgl. u. a. Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt/M. 2012.
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»Sumpfgebiet« und parallel dazu in der »Schneewüste« des Stalingradkessels nun wiederholt. In diesem auf den ersten Blick unscheinbaren Bezug gewinnt die Geschichte des Mannes, dem ein Teil seiner Intelligenz in die Zunge abwandert, erst ihre ganze historische Tiefe, hier offenbart sie die »Unheimlichkeit der Zeit«. In Ernst Opels Zunge schlummert auch die Erinnerung an die Wünsche der erfrorenen und verhungerten Soldaten aus Napoleons Schlachten, als ein überlebend, schmeckend und erzählend zu hebendes Wissen.
Alexander Kluge
Türkischer Honig
Es war nutzlos wie so vieles, mit dem sich das Bauhaus in Dessau, Hüterin des BRAUCHBARKEITSPRINZIPS in der Industrie, jetzt zum Jahrhundertwechsel beschäftigte. Die Industrie, ja ein großer Teil der vorindustriellen Verhältnisse, auf denen Industrie basiert, war dem Institut weggebrochen. Fred Raffert hatte sich von seiner Arbeitsgruppe abgesondert. Ihn interessierte, auch weil Weihnachten nahte, eine spezielle Frage, auf die ihn eine Äußerung seines Vaters gebracht hatte, geäußert in dessen Todesstunde mit leuchtendem Blick. Es ging um den Geschmack von türkischem Honig im Jahre 1939. Noch bis zum Jahrmarkt Weihnachten 1939 in einer mitteldeutschen Kleinstadt reicht der Vorkriegs-Vorrat dieser Speise. Sie wurde in großen Schablonen oder Kästen angeliefert, ähnlich einem Käse, geformt aus einer Honig-Zucker-Frucht-Masse, von dieser Masse wurden die Portionen abgeschabt und zu wattigen Ballen verquirlt. Die Speise wurde in der Zeit des 16. Jahrhunderts in Instanbul erfunden, gelangte über Wiener Konditoreien in das Jahrmarktsgeschäft der Jahrhundertwende. Sie wurde in Deutschland mit Waldmeistergeschmack und anderen hybriden Zutaten versetzt. Im Ersten Weltkrieg kamen Molke und Ersatzstoffe hinzu; tropische Geschmacksstoffe waren vorrätig. Im George-Kreis hieß die Würzmischung: Teufelsgeschmack. Diesem historischen Ergebnis gehörte der erinnernde »schnelle« Blick von Rafferts Vater. Es war ihm nicht mehr möglich, die genaue Geschmackswahrnehmung mit Worten wiederzugeben. Nur der Gesichtsausdruck sprach davon. Das Produkt gehört zu den VERLORENEN ARTEN IN DER WARENPRODUKTION DES JAHRHUNDERTS. Was nach 1945 an die Stelle trat, war »erfunden«. Es trug, sobald Jahrmarkt wurde, den Namen türkischer Honig, war irgendwie süß und auch mit Honig versetzt. Verschiedene spanische und französische Firmen machten Versuche der Weiterführung in synthetischer Richtung. Verbilligung der Herstellung brachte keinen Durchbruch zu jenem köstlichen Genußwert, den die Melasse von 1939 gehabt haben mußte. Ein Jammer. Raffert führte Befragungen durch. Er fand in einem Lebens-
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Alexander Kluge
mittelarchiv die knappe Hälfte eines Rezepts zur Herstellung von türkischem Honig aus dem Jahr 1932.Wesentliche Teile fehlten. Was Raffert mit den Mitteln des Bauhauses aus der Rezeptur herzustellen vermochte, schmeckte nicht. Der einzige authentische Hinweis, der bleibt, ist das »leuchtende Auge« des Vaters. Nicht einmal in der Arbeitsgruppe IV in Dessau, bei den Spezialisten für industrielle Rekonstruktion, läßt sich dieser Glanz eines letzten Moments durch Diskurs übertragen oder kommunizieren. (aus: Chronik der Gefühle I, S. 146)
Andr8 Combes
Vom blinden Sehen bei Alexander Kluge1 »›Verfilmen was zu sehen ist‹ Davon die unsichtbaren Bilder hinzufügen«2
»Aber man stellt sich wohl das Sein vor – etwa unter dem Bilde des reinen Lichts, als die Klarheit ungetrübten Sehens, das Nichts aber als die reine Nacht – und knüpft ihren Unterschied an diese wohlbekannte sinnliche Verschiedenheit. In der Tat aber, wenn man auch dies Sehen sich genau vorstellt, so kann man leicht gewahr werden, dass man in der absoluten Klarheit soviel und sowenig sieht als in der absoluten Finsternis, dass das eine Sehen so gut als das andere, reines Sehen, Sehen von nichts ist.«3
Wenn man davon ausgeht, dass für Kluge, wie für Benjamin, der Film im 20. Jahrhundert »der wichtigste Gegenstand jener Lehre von der Wahrnehmung (ist), die bei den Griechen Ästhetik heisst«4, liegt die Frage nach den filmspezifischen Modalitäten einer nicht nur repräsentativen, sondern auch performativen Ästhetik der Wahrnehmung, einer modernen Aisthesis, in Kluges stark medienreflexiven Werken nahe. Denn diese bieten über die theoretischen Texte hinaus bild- und textpoetologische Hinweise auf die multimediale Anfertigung von dokumentarischen und/oder fiktionalen Bildern und ihre Rezeption durch den Zuschauer. Als hartnäckiger Befürworter von »Zuschauerfilmen« weiß Kluge, dass in dessen Kopf – das ist das Grunddispositiv jeder Rezeption – die Bilderfabrikation auf unsichtbare Weise ummontiert und auf einer Art interner Leinwand neu zusammengesetzt abläuft. Das »geistige Auge« des Zuschauers transformiert das auf der Kinoleinwand Gesehene mit Hilfe von Unsichtbarem: individuelle Phantasmatik, Kollektivvorstellungen und -phantasien lassen durch Verschiebung, Verdichtung und Ent-Stellung der Filmbilder wunschgesteuerte 1 An dieser Stelle möchte ich Vincent T. Pauval für wertvolle bibliografische Hinweise meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Ich verweise hier u. a. auf das sehr substanzielle Gespräch, das er 2013 mit Kluge geführt hat: »Die Augen der anderen. Ein Gespräch zwischen Alexander Kluge und Vincent Pauval«, in: Germanica 53/2013, Lille, S. 227–250 (im Folgenden: AK/VP). 2 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt am Main, 1984, S. 322. 3 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Teil I, bearb. von M. Holzinger, Berlin, 2013, S. 66. 4 Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Heinz Schweppenhäuser, Frankfurt am Main, 1972, S. 466.
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Imagines des »optisch Unbewussten« (W. Benjamin) entstehen, die »Perzepte«, »Konzepte« und »Affekte« (Deleuze/Guattari) gleichermaßen beeinflussen. Im menschlichen Kopf sind Tatsachen und Wünsche immer ungetrennt. Der Wunsch ist gewissermaßen die Form, in der die Tatsachen aufgenommen werden. Die Wünsche haben nicht weniger Real-Charakter als die Tatsachen.5
Ein dialektisches Operieren zwischen »Tatsachen« und »Wünschen« in der Fabrikation von Bildern impliziert naturgemäß unterschiedliche Modalitäten des Sichtbaren und des Unsichtbaren, die sich die filmische Darstellung zunutze machen muss, wohlwissend, dass die von ihr angefertigten sichtbaren Bilder, aber auch das, was sie ausspart, nicht nur den Sehhabitus des Zuschauers, sondern auch einen großen Teil seines Erkenntnisvermögens und seiner Weltsicht entscheidend prägen. »Dies ist der Kunstgriff des Kinematographen. Dies ist auch der Kunstgriff unseres Erkennens«, schrieb Henri Bergson, einer der ersten Analytiker der »bewegten Bilder« des Kinos als erkenntnisstiftende Bewegungsbilder.6 Kluge würde hinzufügen: sofern die kinematografischen Bilder aus Sichtbarem Begreifbares und Erfahrbares machen. Denn was es filmisch durch »Gegenprodukte« zu bekämpfen gilt, ist die »Blindheit gegen die eigene Erfahrung«, gegen die fertigen Bilder, die in den »Kommunikationskanälen der Medien zirkulieren.«7 Kluges Hauptanliegen, das sich bekanntlich an den kulturanthropologischen Thesen der Frankfurter Schule orientiert, gilt in dieser Hinsicht einer bestimmten Produktion von Bildern, die die unsichtbaren inneren Bilder im Kopf des Zuschauers als Mittel einsetzen, damit dieser in die Lage versetzt wird, sich dem allgemeinen »Verblendungszusammenhang« (Adorno/Horkheimer) der Kultur- und Bewusstseinsindustrie zu entziehen. Für einen medien- und gesellschaftskritischen Filmemacher bedeutet das nicht zuletzt, einen neuen Wahrnehmungshabitus zu entwickeln, der das häufige paradoxe Blindsein des Zuschauers vor den substanzlosen Bildern der alltäglichen Medienwelt zum Ausgangspunkt einer multi- und intermedialen Praxis macht. Es geht um ein neues Sehen als Durchschauen. Denn die ununterbrochene Bilderflut, der der Zuschauer im Medienalltag ausgesetzt wird, verursacht – kann man aus Bergsons Bemerkungen schlussfolgern – eine Verkümmerung und »Domestizierung« nicht nur des menschlichen Sehens, sondern auch des Denkens. Es macht sich darüber hinaus eine gewisse Blindheit durch zu viel unreflektiertes Sehen be5 Vgl. Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeiten einer Sklavin, zit. nach: Rainer Lewandowski, Die Filme von Alexander Kluge, Hildesheim/New York, 1980, S. 21. 6 Zit. nach: Joachim Paech, »Was ist ein kinematografisches Bewegungsbild?«, in: Bildtheorie und Film, hg. von Th. Koebner und Th. Meder, München, 2006, S. 100. 7 Vgl. Florian Rötzer, »Kino und Grabkammer. Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand, Göttingen, 2012, S. 40.
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merkbar, das es nicht mehr vermag, aus »Sichtbarem« »Sichtiges« herauszudestillieren.8 Insofern macht Kluge evident, dass der von ihm gern zitierte Ausspruch Kants – »Anschauungen ohne Begriffe sind blind«9 – in der heutigen Welt der sinnleeren Bilder seine volle Gültigkeit bewahrt hat und dass infolgedessen das Kino neue visuelle, optisch-begriffliche Dispositive des Denkens zu konstruieren hat. Diese hätten dennoch Bilder »ohne Oberbegriffe« zu sein10 und sollten keinem »Sinnzwang«11 unterliegen, auch wenn sie nicht zu trennen sind »vom analysierenden, kritischen, synthetisierenden Denken, vom zusammenfassenden und verallgemeinernden«.12 Wenn aber die ständige Reizüberflutung, für die es keinen »Reizschutz« (Freud) zu geben scheint, darauf hinausläuft, dass der Sehhabitus der meisten Zuschauer im Bilderstrom kaum etwas Sinn-Volles wahrnimmt, muss eine darauf ausgerichtete Pädagogik des Visuellen auch beherzigen, dass der Zuschauer auf Grund seines »robusten Selektionsverhaltens« durchaus imstande ist, dunkle Phasen der Wahrnehmung in Kauf zu nehmen, d. h. sich Bildern gegenüber blind zu stellen und »abzuschalten«.13 Nichtsdestotrotz – denn das Abschalten ist ein Sich Verweigern und kein kritisches Verarbeiten des Gesehenen – vertraut Kluge darauf, dass der Zuschauer sich nicht zwangsläufig durch »Abschalten« den verblendenden Filmbildern des kommerziellen Fernsehens oder Kinos entziehen muss, sondern mit Hilfe von verfremdenden, nicht mehr Doxa-abhängigen Filmen, »seinen eigenen Film […] bestärken [kann]«.14 Diesem unsichtbaren und »elementaren« Zuschauerfilm fügt das Kino lediglich »reproduzierbare Gegenbilder« hinzu. […] seit einigen zehntausend Jahren gibt es Film in den menschlichen Köpfen – Assoziationsstrom, Tagtraum, Erfahrung, Sinnlichkeit, Bewusstsein. Die technische Er-
8 Vgl. § 30 von Das kleine Organon für das Theater, in: Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 23, Berlin u. Weimar, Frankfurt am Main, 1992, S. 77. 9 Z. B. im Filmbuch zu Nachrichten aus der ideologischen Antike, Frankfurt am Main, 2008, S. 21. 10 Vgl. »Geschichten ohne Oberbegriffe«, in: Neue Lebensläufe, Chronik der Gefühle II, Frankfurt am Main, 2012, S. 9. 11 Das Filmbuch zu Nachrichten aus der ideologischen Antike spricht von »konkreten Bilder[n], d. h. Momentaufnahmen, Bilder[n], die ganz in sich ruhen. Bilder ohne Sinnzwang. Oft sind dies ›ungesehene Bilder‹ […] Das menschliche Auge […] hat die meisten unmittelbaren Eindrücke nie gesehen. Sie werden sichtbar, wenn die Kamera sie aufdeckt. Das gehört zu den großen Innovationen des Films.« (S. 21). 12 W. Pudowkin: »Über die Montage«, in: Theorie des Kinos, hg. von Karsten Witte, Frankfurt am Main, 1973, S. 121. 13 Rainer Lewandowski, Die Filme von Alexander Kluge, S. 45. 14 Ebd., S. 36 und S. 33f.
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findung des Kinos hat dem lediglich reproduzierbare Gegenbilder hinzugefügt. Deshalb sind technische Massenmedien nicht das Elementare.15
Gegen das »Abschalten« werden beim multimedialen Künstler Kluge lauter komplexe Dispositive des Nicht-Sehens oder des eingeschränkten Sehens eingesetzt. Es geht hier u. a. um den Status von Lücken und Zwischenräumen in Anordnung und Ablauf von Bild- und Schriftsequenzen, die in Kluges Filmen so häufig vorkommen und gleichsam produktive »blinde Flecken«, »Auslassungen« erzeugen16, wie etwa beim »blinden Regisseur« von Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (1985), der viel Filmmaterial verbraucht, »wo Finsternis herrschte« und »dennoch weiter drehte«. Denn »das Bild auf der Leinwand« darf auf keinen Fall »dem Zuschauer die eigenen Bildern [wegnehmen]«. Um dies zu gewährleisten, sind »Assoziation, Fragmentierung, Lücke […] angesagt, die eine Wechselwirkung zwischen Zuschauer und Film ermöglichen.«17 So stellt Kluges Montage nur »Lücken bereit, in die die Assoziationen und die Phantasie des Zuschauers eindringen können«18, selbst wenn diese Assoziationen zunehmend »vereinheitlicht« werden und »verarmen«.19 So sollen im Film »Inseln der Unordnung« (Heiner Müller) geschaffen werden und dabei die Grenzen zwischen den Zeichensystemen – Schrift, »Standbild«, »Bewegtbild« – in der Filmarbeit als fließend erscheinen. Das Benjaminsche Aufsprengen eines Kontinuums kann auch auf das Sichtbare bezogen und über nicht ikonografische Zeichensysteme wie Musik oder Zwischentitel bewerkstelligt werden, die jedes auf seine Art Bilder erzeugen.20 Wenn beispielsweise die in Kluges Kino so häufig anzutreffenden, dem expressionistischen Film nachempfundenen Zwischentitel durch Farbe und Typographie 15 Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 207. 16 »In der Montage organisiert die Erzählung gewissermaßen die Totale und die extreme Nahaufnahme. Auf diese Weise werden zwei Herausforderungen für das Verständnis, eben: die Auslassung, hergestellt. Diese Lücke wird jetzt durch jemand anders als den Erzähler ausfüllbar. Der durch die Auslassung hergestellte Freiraum ist aber kohärent. Wer ihn nicht erzählen konnte, vermag auch nicht zu montieren.« Alexander Kluge, »Bild, kinematographisch«, in: Die Macht der Gefühle, S. 383. 17 Filmbuch zu den Nachrichten aus der ideologischen Antike, S. 20. 18 Vgl. Rainer Lewandowski, »Literatur und Film bei Alexander Kluge«, in: Alexander Kluge, hg. von Thomas Böhm-Christl, Frankfurt am Main, 1983, S. 239. 19 So derselbe Rainer Lewandowski in: R. L., Die Filme von Alexander Kluge, S. 34. Darauf antwortet der Dialektiker Kluge: »In dem Maße nämlich, in dem hier Assoziationen, d. h. Erfahrung in der ursprünglichen Bilderform, in der das Hirn, wie wahrscheinlich alle Sinne, seine Zusammenhänge bildet, in dem Maße, wie das verarmt, gibt es mit Sicherheit bei solcher Domestizierung und Ausgrenzung auch einen Exodus anderer Assoziationen, die sich dieser Domestizierung entziehen.« Ebd., S. 35. 20 Im Filmbuch zu Nachrichten aus der ideologischen Antike (S. 20) verweist Kluge nochmals auf diese grundsätzliche Bivalenz der Bildererzeugung im Film: »Insofern enthalten gerade die Schriften, wie sie für die Stummfilme typisch sind, starke ›Bild‹-Anreize. Umgekehrt gibt es Bilder, die der Zuschauer wie Texte ›verstehen‹ und quasi nachlesen kann.«
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Schriftbilder und keine »Nebentexte« darstellen mögen, so gemahnen sie nicht nur an die Geburt des Schriftlichen aus dem Ikonografischen (Hieroglyphen oder Ideogramme). Sie bedeuten auch eine Umcodierung des filmisch Sichtbaren durch Nicht-Bildliches, und zugleich – im Unterschied zur parallel zu den Bildern verlaufenden Off-Stimme – eine Unterbrechung der Bildabfolge, die als »Schrift an der (Lein)Wand« Schauen als Lesen inszeniert. Die Definition dessen, was in Kluges »neuer Poetik« die eigentliche Sichtbarkeit eines Bildes ausmacht – seine »Erlösung« aus dem »Bilderstrom« – ist also nicht nur mit bildlichen Mitteln zu bewerkstelligen: Die neue Poetik, das ist sozusagen die Rebellion gegen den Algorithmus von Google. Es entspricht einer Art Primat aus Musik, Text, Bewegtbild oder Standbild […]. Und dabei fangen die Worte an, Bilder zu sehen, fangen die Bilder an, Worte zu sein. Sie sind Embleme, indem sie Zeichen setzen. Das Bild ist erlöst, in einem Kino Teilstück eines Bilderstroms zu sein, also immer Bewegtbild zu bleiben; es kann sich jetzt gewissermaßen einordnen als visuelle Höhle in einen Text.21
Darüber hinaus bewirken reine Schriftsequenzen, in denen der Text nicht »über das laufende Bild geblendet [wird]«, eine andere Art von Bildverdrängung und sporadischer Verdunkelung der Leinwand: »Schrift kann den Bildinhalt fast völlig verdrängen, Passagen des Films können nur aus Schrift bestehen.«22 Vor diesem allgemeinen Hintergrund versteht man Kluges Interesse an vielen Aspekten des blinden Sehens, das er in mehreren Texten und Filmen dahingehend thematisiert, dass dieses scheinbare Oxymoron einer zwar paradoxen aber produktiven Aisthesis zugutekommen kann und keine contradictio in adjecto darstellen muss. Wenn Kluge mit dem ersten Titel des Filmbuchs zu den Nachrichten aus der ideologischen Antike fragt: »Was ist zu sehen?«, und im 6. Kapitel eine weitere Frage stellt: »Was sind überhaupt Bilder?«, meint er folglich unter Umständen, dass ein Bild nicht unbedingt als ein sichtbares wahrgenommen werden muss, da es sich beispielweise an der Schnittstelle von verschiedenen Kinobildern im Kopf des Zuschauers im Modus der »Epiphanie« einstellen kann (s. weiter unten). Sehen und Sichtbares müssen entkoppelt werden und das spezifische kinematografische Sehen sollte gelegentlich durch ein ebenso spezifisches kinematografisches Nicht-Sehen ergänzt werden, da Kluge gern die »Stärke unsichtbarer Bilder« hervorhebt.23 21 Unveröffentlichtes, nicht paginiertes Interview Alexander Kluges mit Vincent Pauval: »Wenn Worte Bilder sehen«. Vgl. jetzt vorliegenden Band, S. 183–202. 22 Alexander Kluge/Edgar Reitz/Wilfried Reinke: »Wort und Bild«, zit. nach: Rainer Lewandowski, Die Filme von Alexander Kluge, S. 17. Vgl. dazu: Lecteurs/Spectateurs d’Alexander Kluge, hg. von Gr8gory Cormann/ Jeremy Hamers/ C8line Letawe, Cahiers d’Ptudes germaniques, Nr. 69, 2015/2. 23 Ich verweise hier auf den gleichnamigen Text, der ein weltweit verbreitetes Foto der ameri-
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Denn Kluge glaubt nicht, dass man dem, was nur durch Kinobilder sichtbar gemacht wurde, auch »blind« vertrauen kann. Er weiß wie Eisenstein, dass in einem Film auch zählt, was nicht gezeigt wurde: »das Unverfilmte kritisiert das Verfilmte.«24 Für ihn gilt außerdem, dass die »physische Realität« von Fotografie und Film nicht nur »errettet« werden kann, wie der späte Kracauer es wollte, sondern dass die filmische Darstellung der »Dingwelt« mit sonst Unsichtbarem bereichert werden muss. Erst indem sie als Prozess und nicht als Resultat erscheint, kann sie »sichtig« werden, so dass der Stellenwert des »Kameraauges« neu bewertet werden müsste, da dieses oft nicht wirklich »sieht«, was es zeigt: So kann das KAMERAAUGE auf den Dingen mit dem Respekt verweilen, der ihnen als maßgebende Realitäten zusteht. Während der Blick bei den Dingen bleibt, wird deren Produktionsgeschichte kommentiert. Die Dingwelt (und damit das, was die Kamera ›sieht‹) wird reich, wenn nicht nur ein Resultat, sondern ein Produktionsprozess in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wird [Hervorhebung. vom Autor].25
Das Blindsein von nicht »bereicherten«, »naturalistischen« Bildern kann man durch eine Stelle aus Chronik der Gefühle26 sowie durch den Kurzfilm Blinde Liebe (2001) veranschaulichen, die bezeichnenderweise das Thema Blindheit zum Gegenstand haben. In beiden Werken wird die Zeichnung eines blinden Lastwagenfahrers eingeblendet, der nicht arbeitslos werden will – was Kluge als unsichtbares Hintergrundwissen über das Bild in einem Off-Kommentar vermerkt –, und sich beim Fahren von seinem Sohn dirigieren lässt. Die Bleistiftzeichnung zeigt halbnah, dass das Kind mit dem Zeigefinger nach rechts zeigt, ohne irgendetwas zu sagen: sein Mund bleibt zu. Es ist eine stumme Anweisung, die der blinde Fahrer nicht sehen und nicht hören kann. Nur der Betrachter ist imstande, das gesehene Bild und den fehlenden Ton, den kein Untertitel ersetzt, in seinem Kopf und auf seine Art zu »synchronisieren«. Eine Klugesche oder Godardsche Verfilmung dieser Geschichte hätte »ganz andere Bilder« als das »naturalistische« Bild von Vater und Sohn zu bieten, das zwar effektvoll aber nicht gerade aussagekräftig ist. Unter Umständen müsste die Filmkamera sich davon »abwenden«, um unter Einblendung einer anderen Erzählinstanz Sichtbarkeit gegen Sichtigkeit auszutauschen:
kanischen politischen und militärischen Führung bei der Tötung Bin Ladens zeigt. Sie blickt auf etwas, was nicht zu sehen ist aber die herrschende Anspannung greifbar macht. Darin liegt die »Stärke von unsichtbaren Bildern«, die von Obamas Verbot, Bilder vom toten Bin Laden zu veröffentlichen, noch gesteigert wird. Solche unsichtbar gemachten Bilder stellen die »höchste Form der Dramatisierung eines Bildes« dar. Alexander Kluge, Das Fünfte Buch. Neue Lebensläufe, Suhrkamp, Berlin, 2012, S. 418f. 24 Filmbuch zu Nachrichten aus der ideologischen Antike, S. 15. 25 Ebd., S. 34. 26 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle Bd. II, S. 989f.
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Wenn Sie z. B. das Bild eines blinden Lastwagenfahrers mit seinem Kind nehmen, dann können Sie das kaum verfilmen. Ich habe ja mit Jean-Luc Godard diskutiert, ob man das verfilmen soll, und beide stimmten wir überein, dass man das nicht auf naturalistische Art tun sollte […]. Man könnte zwar diese Szene durchaus verfilmen, aber man würde dafür ganz andere Bilder aufnehmen, also z. B. von einem Beobachter des Vorgangs, einem entsetzten Polizisten etwa, der Ihnen sagen könnte, was er daran für unmöglich hält. So kämen Sie der Sache näher, jedoch mit abgewandter Kamera.27
Insofern ist die Konfektion von echten Filmbildern bei Kluge, wie bei Brecht, etwas bewusst »Künstliches« und »Gestelltes«, das die »Blindheit« einer einfachen (fotografischen) Abbildung der Wirklichkeit kompensiert, die so vieles ausblendet.28 Aus dem Filmemacher wird ein »kunstvoller Arrangeur«, der erzählerische oder filmische »Konstellationen« schafft, in denen »das Zusammentreffen von sprachlichen, akustischen und visuellen Formen und ihrer Integration in der Montage den Film zu komplexeren Aussagen fähig [macht].«29 Kluge weiß außerdem, dass »das kinematografische Bewegungsbild technisch-apparativ generiert (wird) und in einer genau definierten dispositiven Struktur in Erscheinung tritt.«30 Dieser »dispositiven Struktur« inhärent sind Phasen des Sichtbaren und des Unsichtbaren, da die Vorführung eines Films 24 Phasen von Hell-Dunkel pro Sekunde erzeugt. Kluge hat immer wieder auf diese technische Bedingtheit der zugleich perzeptiven und kognitiven Dimension des Kinos hingewiesen:31 Wie im Traum oder »unter Drogen«, also »nicht-bewusst«, sieht das Zuschauerhirn »das Schwarz kontinuierlich, während dasselbe Hirn das ›Bild‹ als kontinuierlich, wenn auch ›flimmernd‹ sieht. Ein polyphoner Eindruck.«32 27 Der blinde Lastwagenfahrer gehört zu Kluges Lieblingsbildern, da er für eine ganze Konstellation von berühmten blinden Sehern emblematisch zu sein scheint: »Genauso lieb ist mir das schon erwähnte Bild des blinden Lastwagenfahrers mit seinem Sohn. […] Er wird dargestellt, als würde sich der blinde Sänger Homer, oder der blinde Seher Teiresias von einem Jüngeren führen lassen. Und der praktisch blinde Regisseur Fritz Lang konnte trotz seiner Sehschwäche weiterhin Filme machen. […] Diese Geschichte des blinden Lastwagenfahrers ist eigentlich die Nagelprobe aufs Urvertrauen.« (»Wenn Worte Bilder sehen«). 28 Vgl. dazu Rainer Lewandowski, der die oft zitierte Stelle aus Brechts »Über den Film« auch anführt. In: Rainer Lewandowski, »Literatur und Film bei Alexander Kluge«, S. 242. 29 Kluge/Reitz/Reinke, »Wort und Bild«, zit. nach: R. Lewandowski, Die Filme von Alexander Kluge, S. 10. Über den »Erzähler als Arrangeur«, s. Rainer Lewandowski, Alexander Kluge, München, 1980, S. 19. 30 Joachim Paech: »Was ist ein kinematografisches Bewegungsbild?«, S. 92. 31 In der Sequenz über den »blinden Regisseur« von Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit sagt Kluge im Off: »24 Bilder in der Sekunde aber auch 24 mal Dunkelheit. Das ist das Geheimnis des Kinos.« Während sich in einigen Einstellungen der Wechsel von Hell und Dunkel im Gesicht des blinden Regisseurs spiegelt, sagt Kluge weiter: »Man könnte sagen, er frisst täglich kleine Stücke Dunkelheit«. 32 So der Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Eric Zandel zu Kluge in: Alexander Kluge, Geschichten vom Kino, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2007, S. 43.
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Die technische Apparatur des Kinos bewirkt, dass das Gehirn unbewusst schwarze Bilder registriert, für die das Auge blind ist, und die dennoch zum Wahrnehmungsdispositiv gehören. Dies gilt auch für die Einzelbilder, aus denen sich die Bewegung zusammensetzt und »nur im technischen Prozess, nicht aber auch für das Auge des Zuschauers existieren.«33 Auf Grund dieser strukturellen Eigenschaft des Apparats ist das Kino »auch weniger als ein räumlicher denn als ein zeitlicher Modus der Wahrnehmung, die in der Projektion zwischen Stillstand und Bewegung, Licht und Dunkel oszilliert [anzusehen]. Die apparative Metapher dieses Wechsels […] übersetzt sich bei Kluge in eine Ästhetik der Montagesprünge und Pausen, in denen sich der ›innere‹ Film im Kopf des Zuschauers bilden kann.«34 Der Basisapparat ist also seit seiner Erfindung35 beides: eine Seh- und Verblendungsmaschinerie, die die Präsenz des Sichtbaren unter Einbeziehung von Unsichtbarem gewährleistet. Dabei werden Grenzen des Sichtbaren durch die kinematografische Aisthesis ausgelotet und Sehstörungen neu definiert.36 So kann z. B. ein absichtliches Unterlassen des Scharfstellens beim Fotografieren oder Filmen das resultierende Bild stark ent-stellen und es zwischen Sehen und Nicht-Sehen ansiedeln. Die intendierte Unschärfe eines Bildes erzeugt eine Verschleierung, die das Sichtbarmachen des Vorfilmischen durch die Kameralinse in Frage stellt. Der Blick des Zuschauers wird paradoxerweise dafür »geschärft« und gleichzeitig als Sehstörung empfunden, die in der Tat eine kameraeigene ist.37 33 Wie Rudolf Arnheim schon 1933 in »Systematik der frühen kinematographischen Erfindungen« schrieb. Nachdruck in: Rudolf Arnheim, Kritiken und Aufsätze zum Film, hg. von H. Diederichs, Hanser, München, 1977, S. 30. 34 Christa Blümlinger, Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst, Berlin, 2009, S. 206. 35 In Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit wird das Erfinderpatent der Brüder LumiHre mit Hilfe von Archivzeichnungen und -kommentaren ausführlich erläutert und durch einen der allerersten LumiHre-Filme (Die Ankunft des Zuges im Bahnhof von La Ciotat) illustriert. Original-off-Ton: »Alles ist bereit. Der moderne Zauber der verdunkelten Seele beginnt.«, eine Formel, die Kluge für den Titel eines späteren Films wieder verwenden wird. 36 Die Thematik der Sehstörung findet sich beispielsweise beim schielenden Kind am Anfang von Vermischte Nachrichten und von Der Zauber der verdunkelten Seele, mit der Frage aus dem Off, ob die Augen für immer »stehen« werden. 37 Diese Präsenz des Sichtbaren verweist also nicht auf eine ontologische Identität zwischen dem Gezeigtem und seiner Abbildung durch das fotografische Medium, wie in Andr8 Bazins Ontologie de l’image photographique, in der auch die mangelhafte Qualität des Bildes – ob unscharf, blass oder entstellt – an diesem ontologischen Verhältnis nichts ändert. Dagegen Kluges Bemerkungen zu den früheren, bewusst unscharfen fotografischen Arbeiten von Gerhard Richter, die nicht ontologische Differenzen, sondern den Musilschen »Möglichkeitssinn« bemühen: »Wenn man ein unscharfes Bild betrachtet, dann wird ja die Möglichkeitsform hervorgerufen, also das, was neben dem Wirklichen noch existiert« (vgl. Ten to eleven in: Kluge-Jahrbuch 4/2017, S. 33).
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Eine weitere Einschränkung der Dominanz des seit Dziga Vertov vielzitierten »Kinoauges«, das die »Kino-Dechiffrierung« der Welt fast ausschließlich visuell begriff, erfolgt bei Kluge durch die multiple Verwendung von an die Ursprünge des Kinos gemahnenden Irisblenden, die das Blickfeld immer mehr eingrenzen bis hin zu einem vollständigen Ausblenden und folglich zu einem Hinübergleiten vom Sehen ins Nicht-Sehen. Interessant für die Thematik des blinden Sehens ist der Umstand, dass eine stufenweise Schließung der Blende eine Nachwirkung des zuvor Gesehenen involviert, also eine verbleibende Präsenz des Sichtbaren im Unsichtbaren. Darüber hinaus ist die Blendentechnik ein filmpoetologisches Mittel, durch das allmähliche Verschwinden von Teilen des Bildausschnitts über die so wichtige filmische Kategorie des »Hors champ« anders zu reflektieren. Es sind nicht cadrages und d8cadrages oder Kamerabewegungen (Schwenks und Fahrten), die den Bildrahmen als »bewegliche Grenze« (Andr8 Bazin) zwischen sichtbar, noch nicht sichtbar, unsichtbar oder nicht mehr sichtbar inszenieren, sondern der schnittlose Wechsel von verschiedenen Einstellungsgrößen.38 Die sich allmählich schließende Blende bedeutet zugleich durch das zunehmende Fokussieren auf weniger Sichtbares ein Mehr an Wahrnehmungspotenz, bevor das Schließen diese gänzlich ausschaltet. Insofern verbindet die Benutzung von Blenden auf exemplarische Weise kinematografische Technik, Filmsprache und Aisthesis. Das Interesse am Helldunkel der Wahrnehmung führt bei Kluge zu einer bivalenten Vorliebe für »Verdunkelungen«, Verdunkelungen der Seelen aber auch der (Kino-)Säle, in denen Leinwand-Bilder Licht nicht nur in den abgedunkelten Zuschauerraum, sondern auch ins Bewusstsein der Zuschauer zu bringen vermögen. Daher auch die häufige Symbolik von abfotografierten oder gezeichneten Galaxien in seinen Filmen, die überdies interessante Konnotationen aufweisen, da, ähnlich wie in der biblischen Kosmogonie der Genesis (»Es werde Licht«), am Anfang ihrer Entstehung das schwarze Loch der Astrophysiker als Moment absoluter Dunkelheit stand. In einem metaphorischen Bild von Der Zauber der verdunkelten Seele bewohnt sogar eine gezeichnete Galaxie anstelle des Gehirns einen offenen menschlichen Schädel. Sollte uns dieses sehr konstruierte Bild – als Metapher von Kluges galaktischem Hirn? – etwa davon 38 Vgl. Jacques Aumont, L’image, Nathan, Paris, 1990, S. 173ff. – Die vorletzte Sequenz von Der Zauber der verdunkelten Seele inszeniert eine vom Klavier begleitete Lesung von Auszügen aus Heiner Müllers Philoktet. Durch mehrere Vor- und Rückfahrten der Kamera wird der Vorleser ins Bild gebracht oder aus dem Bild herausgenommen, während der Pianist die ganze Zeit im Bild bleibt sowie die Stimme ununterbrochen zu hören ist. Als wäre es am Zuschauer zu entscheiden, ob die Rezeption des Textes durch das Sehen und/oder das Hören gewährleistet werden soll. Die von Kluge ausgewählte, unverblümt ödipale Textstelle stellt das Sehen radikal in Frage: »Reißt euch die Augen aus, sie lügen. Leere Höhlen sagen die Wahrheit.«
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überzeugen, dass bei einem echten Aufklärer, ob Philosoph oder Filmemacher, Kants »gestirnter Himmel« nicht mehr über, sondern in uns ist, zusammen mit dem moralischen Gesetz, das die Finsternis des Denkens im aufklärerischen Sinne vertreiben soll? Ein neueres Beispiel für die Produktivität des »blinden Sehens« wäre der Eisenstein aus den Nachrichten aus der ideologischen Antike (2008). In einem Gespräch mit Stefan Grissemann über sein Projekt erwähnt Kluge das Treffen Eisensteins, der zwei Jahre zuvor eine schwere psychosomatische Sehstörung erlitten hatte (»hysterisch erblindet«), mit dem blinden James Joyce in Paris. Es ging darum »zwei wahnwitzige Filmprojekte zu besprechen, eine Verfilmung des Joyceschen ›Ulysses‹ und eben ›Das Kapital‹«: Eisenstein war psychisch blind, während der andere, James Joyce, physisch erblindet ist. Nun spielt Joyce, weil er nicht mehr vorlesen kann, eine Schallplatte ab, auf der eine Lesung des »Ulysses« dokumentiert ist. Und die beiden verschwören sich zur »kugelförmigen Dramaturgie«, zu einem Kino ohne lineare Handlung. Die Dinge sollen sich, wie ein Planetensystem, nach allen Richtungen umeinander bewegen. Das ist Epik: So ist schon der babylonische Talmud geschrieben.39
Während Grissemann die Tatsache als »Paradox« bezeichnet, dass »zwei Männer mit angeschlagenem Sehvermögen« »die kühnsten Visionen wälzen«, verweist Kluge darauf, dass »der blinde Homer am meisten zu erzählen [hatte]«. Und in dem kurzen Text »Die Concierges von Paris« kommt Kluge noch einmal auf den Besuch Eisensteins beim »praktisch blinden« Joyce zu sprechen, den er für eine literarische Mitarbeit an seinem Projekt der Verfilmung von Marx’ Kapital zu gewinnen hoffte. Hier wird nicht nur die Entstehung von stummen Kinobildern aus »Wortkaskaden« anvisiert, sondern auch die Problematik des blinden Sehens auf die des blinden Lesens ausgeweitet: Eisenstein versprach sich davon eine JOYCESCHE WORTKASKADE, aus der er dann Sequenzen mit den Mitteln des Stummfilms entwickeln wollte. […] Gar nichts vermochte er [Joyce] zu lesen in dem Manuskript, das ihm Eisenstein vors Gesicht hielt. Was er dann schreiben sollte, fragte Joyce, wenn es doch diese Skizze schon gebe.40
Eisenstein und Joyce bringen emblematisch eins auf den Punkt: dass ein Filmemacher / Erzähler so »blind« filmt, wie er erzählt und dass es immer einen »Erzählraum des Nichterzählten« geben muss41. Spricht deswegen Kluge, der immer wieder behauptet, seine Erzählungen seien wie Filme konzipiert, in seiner »Theorie der Erzählung« von einem »Subtext«, der, so Kluge, »während ich 39 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Februar 2010. 40 Kluge, Das fünfte Buch, S. 379. 41 Alexander Kluge, »Theorie der Erzählung«, in: Frankfurter Poetikvorlesungen, Berlin 2013, Begleittext, S. 24. »Wenn ich eine Geschichte erzähle, erzähle ich eine blinde Geschichte. Hätte ich sie verstanden, müsste ich sie nicht erzählen.« (Quelle nicht mehr auffindbar.)
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schreibe, wie eine Filmszene vor mir sehe, also [und der] ›die Sache selbst‹ (…) den Text regiert«?42 Schreiben generiert Bilder, die dann als bildlicher »Subtext« den schriftlichen Text »regieren«. Es ist aber das Schreiben eines Filmemachers, eines »Filmsehenden«: »Der Filmsehende liest Erzählungen anders. Aber auch der, der Erzählungen schreibt, ist seinerseits ein Filmsehender.«43 Vielleicht hat Kluges Topologie des blinden Sehens auch mit seiner Beschäftigung mit Niklas Luhmanns Theorien zu tun, die den »blinden Fleck« im Beobachten eines Beobachters thematisiert. Auch ein Filmregisseur kann bei der Herstellung von Bildern nie wissen, ob diejenigen, die er durch den Sucher der Kamera sieht, genauso auf der Leinwand erscheinen werden, selbst wenn sie seit der Einführung von digitalen Videobildern gleich am Display der Kamera als »Zwischenbilder« zu sehen sind. Insofern gibt es einen grundsätzlichen »blinden Fleck« in der Arbeit eines jeden Regisseurs, der zumindest teilweise immer ein »blinder Regisseur« ist, wie ihn der letzte Teil von Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit inszenieren wird. Dort findet sich die Szene, in der dieser zunächst durch den Sucher »schaut«, bevor er unter den skeptischen Blicken von Chefkameramann und Hauptdarstellerin und trotz der Einwände seiner Assistentin darauf besteht, dass die Kamera »vier Meter nach links« geschwenkt wird. Man kann darin die Weigerung eines autoritären Regisseurs erblicken, seinem Team »blind« zu vertrauen.44 Es ist aber vielleicht auch eine Anspielung auf das eher blinde Kameraauge der ersten Filme, als der Filmapparat noch »keinen eingebauten Sucher« hatte und das resultierende Bild auf der Leinwand nur grob »abgeschätzt« werden konnte: »Der Kameramann musste das Bild, das in der Kamera auf dem Film entstehen würde, abschätzen. Daher sind bei LumiHre das Bild und seine Komposition deutlich zweierlei.«45 Die voluntaristische Abschaffung des blinden Flecks, diesmal beim Zuschauer, erfolgt auf scheinbar rein mechanische Weise in einem bebilderten Text
42 Kluge, »Theorie der Erzählung«, S. 16. 43 B. Brecht, Schriften zur Literatur und Kunst I, in: Ges. Werke 18, Suhrkamp, Frankfurt am M., 1967, S. 156. 44 Dagegen erklärte Kluge einem amerikanischen Interviewer zur Zeit der Filmarbeit an Der Angriff der Gegenwart: »I don’t make my film with my eyes. I could have a friend who tells me what the picture is like.« Zitiert nach: Jane de Almeida, »Notes on scalability in Alexander Kluge’s Works«, in: Kluge-Jahrbuch 4/2017, S. 262. Wer denkt da nicht an die gleiche Situation des plötzlich erblindeten Regisseurs in Woody Allens Hollywood Ending, der bei der Umsetzung seiner chaotischen Regieanweisungen Kameramann und Assistent »blind« vertrauen muss. Es ist eine Parabel über die Notwendigkeit einer Erblindung des Regisseurs, um dem Hollywood-Kino ein Ende zu setzen und neuen Bilderarrangements (»kugelförmigen«?) im Film zum Durchbruch zu verhelfen: Der für den Hollywoodschen Seh- und Denkhabitus unverständliche Film wird von der Filmkritik des Frankreich der Dekonstruktion mit Begeisterung aufgenommen. 45 Hartmut Bitomsky, Kinowahrheit, hg. von Ilka Schaarschmidt, Berlin, 2003, S. 15.
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des 12. Kapitels von Chronik der Gefühle46. In einer Art wissenschaftlicher Fiktion ist folgende Abbildung zu sehen: eine Kamera ist mit dem »Hinterhautlappen« eines Blinden verknüpft, so dass dieser »auf diese Weise unscharfe, blassblaue Bilder« sehen kann. Es ist eine weitere metaphorische Variation zum Thema Blindheit/Sehen, die als »Interface zwischen Mensch und Technik« eine metaphorische Transformation der Verknüpfung von Zuschauer und Filmprojektor im Kinosaal darstellen mag, in der aber die Leinwand als Projektions- und Rezeptionsfläche von Filmbildern zugunsten einer Direktverbindung von Kamera und Gehirn ausgeschaltet worden wäre. Die Wahrnehmung wird zu einem rein mechanischen und sensomotorischen Vorgang, zu einem unvermittelten Erzeugen von Bildern im Kopf des Zuschauers unter Umgehung der komplexen psychologischen Mechanismen der Bilderrezeption, die zusammen mit den ersteren das Wesen einer authentischen kinematografischen Aisthesis ausmachen. Möglicherweise erweist sich deswegen diese Wahrnehmungsfiktion als mangelhaft: sie produziert eben nur »unscharfe, blassblaue Bilder«. Bei Kluge könnte aber der apparatbedingte Wechsel von Sehen und Nichtsehen als eine Form des blinden Sehens auch Anlass sein, eine Art Theologie des Bildes zu entwickeln. Für diese Annahme sprechen mehrere oft zitierte Äußerungen Kluges, die die Wahrnehmung des Bilderablaufs bei einer Kinoprojektion mit seinen »Dunkelphasen« analysieren. Die physiologische Nachwirkung von Bildern auf der Netzhaut während dieser Phasen wird als religiös konnotierte »Epiphanie« hingestellt: Das Auge sieht 1/48 Sekunde nach außen und 1/48 Sekunde nach innen. Die Wirkungen der Filmmontage sind durch diese Pausen erst möglich. Die Information steckt bei Montagewirkungen weder in der ersten noch in der folgenden Abbildung, sondern beruht auf nachwirkenden Bildern, die aufgrund der Differenz, der Lücke in der Information kontrastreicher Bilder als Epiphanie entstehen.47
An anderer Stelle ist es die ästhetisch-kognitive Funktion der Montage, die als Mittel zur Erzeugung von unsichtbaren »dritten Bildern« hervorgehoben wird, wobei erneut ein theologischer Konstruktivismus angedeutet wird: »Die Kamera nimmt immer viel zu viel auf. […] Durch die Montage der Bilder versuche ich Zwischenräume zu schaffen, die nicht Bilder werden, sondern in denen ein drittes Bild entstehen kann, eine Epiphanie.«48 An noch anderer Stelle wird eher der Eindruck vermittelt, dass die Erzeugung von »dritten Bildern« deren theologisch-idealistischen Charakter in anthropologischen Materialismus um46 Kluge, Chronik der Gefühle Bd. II, S. 964. 47 Alexander Kluge, »Die Macht der Bewusstseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit«, in: Klaus von Bismarck, Industrialisierung des Bewusstseins mit »neuen« Medien, Piper, München u. a., 1985, S. 122. 48 So Kluge in: Fl. Rötzer, »Kino und Grabkammer«, S. 40.
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schlagen lässt: Sie entstehen nämlich da, wo der Zuschauer aufgrund bestimmter kognitiver und perzeptiver »Gesetze« imstande ist, sie sich vorzustellen. Die Erzeugung von Epiphanien ist dann, sagt Kluge, in der Tat als Erkenntnisgewinn, als Abschaffung der »Schranke im Bewusstsein« und Bereinigung des menschlichen Assoziationsvermögens begreifbar. Das sei »das Ideal der Montage«: »Ich zeige zwei Sequenzen oder verschiedene Bilder und erwarte, dass der Zuschauer aufgrund von Gesetzen, die in jedem Menschen stecken und die in der Selbstregulation der Assoziationstätigkeit bestehen etwas Drittes sich vorstellt.«49 Kluge ist dem Epiphanie-Topos bis heute treu geblieben, betont aber nochmals dessen theologischen Charakter, wenn er solche »unsichtbaren Bilder« als unbewusste, »unterirdische« Arbeit des Filmens betrachtet, die sie an »Schnittstellen« und nur für den Zuschauer sichtbar entstehen lässt: Filmbilder und Buchtexte sind aber gelegentlich unterirdisch (ohne dass der Autor das steuern kann) miteinander in Kontakt. Es ist bekannt, dass beim Film durch die Montage Epiphanien, also unsichtbare Bilder, hergestellt werden können, die der Zuschauer an der Schnittstelle ›sieht‹, ohne dass es dort ein reales Bild gibt.50
Ob dieses resultierende »dritte Bild« einer dialektischen Bilder-Kollision (Pudovkin und Eisenstein)51 oder eher einer additiven Bild-Assoziation52 zu verdanken ist, lässt sich in Kluges rhizomatischem Kino nur schwer ausmachen. Wie schon erwähnt, weiß er, dass sich im Kopf des Zuschauers eine Art unsichtbare Parallelmontage abspielt, die die Bildabfolgen des Films auf der Grundlage des »optisch Unbewussten« neu zusammensetzt und wohl andere Zusammenhänge herstellt als die vom Filmemacher intendierten. Darin unterscheidet er sich von Pudovkins Anliegen, durch die Montage den Zuschauer psychagogisch zu führen und durch eine bestimmte Form von filmischer Narration die Sinnstiftung in bestimmte Bahnen zu lenken. Wenn die Hauptaufgabe der Klugeschen Montage, die – wie bei der »kugelförmigen«, nicht mehr linearen des späteren Eisenstein – unzählige Bilderarrangements zu einem nicht eindeutigen Ganzen erzählerisch (de)konstruiert, darin besteht, das Unterscheidungsvermögen des Zuschauers zu schärfen, dann sind solche »dritten Bilder« – materialistisch ausgelegt – eher »dialektische Bilder« (Benjamin), die durch das dialektische Zusammenwirken von äußeren 49 Lewandowski, Die Filme von Alexander Kluge, S. 36. Hervorhebung vom Autor (A.C.). 50 »Wenn Worte Bilder sehen«, a. a. O. 51 Vgl. das Filmbuch zu den Nachrichten aus der ideologischen Antike, S. 21. »Man sieht Kontraste (zum Beispiel zwei gegensätzliche Bilder), und dabei entsteht im Kopf spontan ein drittes (unsichtbares) Bild.« 52 »Le cin8ma ce n’est pas une image aprHs l’autre, c’est une image plus une autre qui en forment une troisiHme, la troisiHme 8tant du reste form8e par le spectateur.« (Jean Luc Godard, zit. n.: Christina Scherer, »Alexander Kluge und Jean-Luc Godard. Ein Vergleich anhand einiger filmtheoretischer Grundannahmen«, in: Christian Schulte, Die Schrift an der Wand, S. 104).
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Bildern und inneren Bildern ein solches Bild erzeugen.53 Epiphanie wäre dann die Chiffre der Produktivität des blinden Sehens. Sie wäre ein durchaus intellektuell konstruiertes Unterscheidungsverfahren, das in der Klugeschen heterogenen Bildfülle Bildlücken einbaut, um letztendlich dem Zuschauer zu erkenntnisreichen »Visionen« zu verhelfen. Insofern ist die Fabrikation von solchen Visionen Teil eines Kampfes gegen einen positivistischen Realitätssinn und eine Ausdrucksform des Möglichkeitssinns: Zur normativen Kraft des Faktischen verhalten sich diese menschlichen Vermögen (Gefühle, Wünsche, Phantasie) eigensinnig, was bei Kluge immer auch heißt: antirealistisch. In ihnen lebt eine »Lust aufs Unwahrscheinliche«, ein Glaube an den »Möglichkeitssinn«, der einen schicksalhaften Verlauf nicht anerkennen will. Er möchte diesen unveröffentlichten Protest-Potentialen zum Ausdruck verhelfen, und deshalb konfrontiert er das sogenannte Wirkliche immer wieder mit imaginären Perspektiven, suspendiert er für Augenblicke die Überredungskraft der Fakten, den Schein ihres zwangsläufigen So-und-nicht-anders.54
Möglicherweise hängt Kluges Auffassung einer Epiphanien produzierenden Montage mit dem Phantasma eines »artiste d8molisseur«55 eng zusammen, denn es werden dabei Bilder zerstört, die die Montage eigentlich zusammenzufügen hätte, damit »dritte Bilder« entstehen. Dies hat ein Echo in der Frage des Reporters an den blinden Regisseur in Der Angriff der Gegenwart, ob er ein »Bildzertrümmerer sei«, was der Regisseur bejaht und mit wutverzerrtem Gesicht, nachdem er bezeichnenderweise seine Brille aufgesetzt hat, hinzufügt: »Ich hasse Bilder« und, als wäre es ein- und dasselbe: »Ich hasse es zu sehen.« Im Filmalbum zu Kluges Sämtliche Kinofilme heißt es von Kluges großem Mentor Adorno, er sei »ein Ikonoklast (›Bildvernichter‹). […] Im Kino schloss er
53 Kluge scheint beide Begriffe gleichzusetzen: Adornos und Benjamins »dialektisches Bild« wäre »das Äquivalent des theologischen Epiphanie-Begriffs« und bedeutet, »dass ich durch die Dinge hindurch ein zweites inneres Bild hervorrufe, das etwas Wesentliches bezeichnet«. (AK/VP, S. 244). 54 Christian Schulte, »Fernsehen und Eigensinn«, in: Kluges Fernsehen – Alexander Kluges Kulturmagazine, hg. von Christian Schulte/ Winfried Siebers, Frankfurt am Main, 2002, S. 80. 55 Dieses in mehreren Gesprächen von Kluge benutzte, dadaistisch anmutende Bild stammt aus einer Ballade Enzensbergers, die in Kluges Früchte des Vertrauens zitiert wird und sich auf die »schöpferische Zerstörung« Paris’ durch die »Grands Boulevards« des Präfekten Hausmann bezieht. Die moderne Metapher der schöpferischen Zerstörung wird in Der Zauber von verdunkelten Seelen vom Abrissunternehmer Jean-Luc Borovsky (gespielt von Helge Schneider) verkörpert, den die Off-Stimme Kluges »Künstler des Abreissens« und »Destruktionskünstler« tituliert. Im Kontext der Übermacht von belanglosen Film- und Fernsehbildern, vor allem aus der Werbung, kann ein authentischer Filmemacher nur ein »Ikonoklast« sein, der mit guten Filmen »schlechte Bilder« zu zerstören vermag. Vgl. AK/VP, S. 242.
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gern die Augen und vertraute auf den Ton.«56 Für Kluge weist die Thematik des Bilderhasses bzw. der Bilderstürmerei auf wesentliche Fragen hin: Wie viele Bilder (auch innere) muss man zertrümmern, um authentische Kinobilder zu schaffen? Ist die rhizomatische Bildfülle seines Kinos nicht zum Teil aus einem mehr oder weniger bewussten Willen zu einer solchen regenerierenden Bildzertrümmerung zu erklären?57 Das innere Auge als Organ der auf Wissen gestützten Phantasie kann aber die unsichtbare Realität hinter der unmittelbar sichtbaren rekonstruieren, so dass der »artiste d8molisseur« zu einem »artiste reconstructeur« mutieren kann und dafür mehrere Augen benötigt: daher das Phantasma einer »Vermehrfachung der Augen«58. »Vermehrfachung« kann aber auch den Einsatz anderer Sinne implizieren: kein »Eigen-Sinn«, könnte man formulieren, ohne die Mobilmachung aller eigenen Sinne, die eine globalisierte Aisthesis ermöglichen. Insofern induziert bei Kluge das Zusammenwirken von Gesichts-, Gehör- und Tastsinn kinematografische Lernprozesse, in denen nicht nur das Auge geschult wird. Es geht dabei insbesondere um den kinematografischen Status des Gehörsinns, dessen Beitrag zur Rekonstruktion eines Klugeschen Films im Kopf des Zuschauers das scheinbare Gegensatzpaar Sehen/Nicht-Sehen und darüber hinaus eine nur okulare Wahrnehmung stark relativiert, wie das Verhalten Adornos im Kinosaal zeigte.59 Dies veranschaulicht ex negativo ein kurzer Text aus Die Unheimlichkeit der Zeit: »Dieses einfache und elegante Experiment, das nicht klappte.«60 Dort berichtet ein fiktives Erzähler-Ich von einem Experiment, das vom Physiker und Physiologen des 19. Jahrhunderts Emil Dubois-Reymond folgendermaßen ge56 Alexander Kluge, Sämtliche Kinofilme, Frankfurt am Main, 2007, S. 108. 57 In Der Zauber der verdunkelten Seele folgt auf eine Sequenz von nächtlichen Bombenangriffen die Großaufnahme eines Filmprojektors mit dem typischen Rattern, das mit dem Knattern von schweren Waffen (Flak, Maschinengewehre) parallelisiert wird. 58 Wie in der vieräugigen Fotomontage in Das fünfte Buch (S. 187), die möglicherweise eine Metapher der grundsätzlich vieräugigen Filmarbeit – Regisseur und Kameramann – darstellt. 59 »Ich kannte einmal eine junge Frau, die erzählte, dass sie als Kind wegen der Jugendschutzgesetze nicht das Kino besuchen durfte und Zugang zu einer Damentoilette gefunden hatte, durch die sie den Film dann über den Ton sah.«, so Kluge in: Florian Rötzer, »Kino und Grabkammer«, S. 40. Im schon erwähnten unveröffentlichten Gespräch mit V. Pauval schildert Kluge »eine Unterhaltung zu später Nachtstunde, wo man sich gegenseitig fragt, ob man lieber sein Augenlicht oder sein Gehör verlieren würde. […] aber ich habe mich schon oft darüber unterhalten, z. B. mit Adorno, der auch sagte, er würde lieber das Augenlicht verlieren, das Gehör gebe er nicht her.« (»Wenn Worte Bilder sehen«). Diese manchmal spekulativ anmutende Fragestellung, ob lieber blind, taub oder stumm, findet sich in den Antworten des Produzenten des blinden Regisseurs auf die Fragen des Reporters in Der Angriff der Gegenwart wieder : ähnlich wie in Diderots Lettre sur les aveugles, betont er, dass Blinde »ein sehr gutes Gefühl haben« und »mit den Händen sehen«. 60 Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. II, S. 349f.
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schildert wird: »Wenn wir die Sehnerven überkreuz mit den Hörnerven verbinden könnten, dann würden wir den Blitz hören und den Donner sehen.«61 Die Anregung zu diesem Vorschlag »übernahm Dubois-Reymond einer dichterischen Textstelle: ›Les parfums, les couleurs et les sons se r8pondent‹«, dessen Autor nicht genannt wird. Sie ist Baudelaires Sonett Correspondances entnommen. Was für die Physiologie in der Regel eine psychische Störung darstellt (Synästhesie), die eine Erblindung als Ursache haben kann, könnte das Ideal einer Erziehung der Sinne und einer Erweiterung von Fühlen und Denken sein, für die Kluges Kino exemplarisch steht. Das fiktive Erzähler-Ich berichtet aber von einer eigenmächtig durchgeführten Operation – zunächst an Tieren dann an Dubois-Reymonds Adoptivtochter – die gründlich misslingt und zu einer Sinnesverwirrung oder gar zum Wahnsinn führt. Für das Erzähler-Ich lag »offensichtlich ein Versagen der Sinne selber vor, die sich nicht auf dichterischer Höhe befinden.« Eine genuin (syn)ästhetische Erziehung der Sinne, so könnte man daraus indirekt schlussfolgern, wäre dann eines der Hauptziele von Kluges Kino. Diese Erziehung könnte dann eine Darstellung der Welt »auf dichterischer Höhe« gewährleisten. Im Kino ließen sich dann die künstlerischen Potenzialitäten einer auf den Zuschauer ausgerichteten Filmsprache ausschöpfen. So kann ein schwarzes Bild, auf dem man nichts sieht, zunächst einmal die so erzwungene Blindheit des Zuschauers durch den Einsatz anderer Sinne wettmachen. In Frau Blackburn wird gefilmt (1967) und Ein Arzt aus Halberstadt (1969/70) ist der Bildrahmen zunächst schwarz, während man die Stimmen der Hauptpersonen, Kluges Großmutter und Kluges Vater, hört, bevor sie dann asynchron ins Bild kommen. Die zunächst aus dem Dunkel des Bildes zu hörende Stimme von Frau Blackburn ist zum Beispiel, solange das Bild schwarz bleibt, eine Off-Stimme, die keinem Bild zugeordnet werden kann aber nichtsdestotrotz im Kopf des Zuschauers ein Bild erzeugt. Dieses wird dann, wenn das Gesicht im Bildrahmen erscheint, mit diesem inneren Bild konfrontiert, wobei möglicherweise ein »drittes Bild« zustande kommt. Das Gesicht, das direkt in die Kamera blickt, spricht weiterhin aus dem Off, da sich Frau Blackburns Lippen nicht bewegen. Es ist eine Umkehrung des Grunddispositivs des von Kluge hochgeschätzten Stummfilms, in dem die offensichtlich sich wild bewegenden Lippen der Darsteller keine hörbaren Töne für die Ohren der Zuschauer, sondern höchstens Zwischentitel für deren Augen hervorbringen. Darüber hinaus wird auf die seit den Anfängen des Ton- und Sprechfilms öfters praktizierte Abkoppelung von Ton und Bild zurückgegriffen, und dies zu einem Zeitpunkt, als immer mehr Synchronton-Kameras auf den Markt kamen, die als Steigerung des kinematografischen Realismus, zumal im Dokumentarfilm, galten. Schwarzes Bild, Off-Stimme, erste Einstellung und Titel bilden folglich in Frau 61 Ebd.
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Blackburn ein fragmentiertes Ganzes, das beim Zuschauer Sehen-Hören-Verstehen nicht nur als künstliches Produkt der Bild-Ton-Montage indizieren, sondern auch einen doxalen kinematografischen Grundrealismus, der auf perfekte Synchronisierung von Bild und Ton setzt, in Frage stellen: Kann man im sogenannten »Tonfilm« dem Sehen immer ein Hören zuordnen? Verrät die Stimme allein nicht schon einiges über eine Person? Ist sie nicht im doppelten Sinne des Wortes »im Bilde«?62 Trägt sie nicht dazu bei, ein antizipierendes »Wahrnehmen« als vollwertigen Teil der Kino-Aisthesis zu ermöglichen? Ein anderes Beispiel für die dialektische Komplexität des Verhältnisses Gesichtssinn / Gehörsinn findet sich im 5. Buch von Die Lücke, die der Teufel läßt (»Der Feldherr, fast blind«).63 Dort ist die Rede vom Feldmarschall von Manstein, der im entscheidenden Jahr 1943 während des Russland-Feldzugs am grauen Star operiert werden musste und nicht mehr mit seinen Augen sehen konnte, sondern »nach dem Gehör und nach seiner Einbildung«: Letztlich war von Manstein ein ›Seher‹. Dazu musste er weder in der Wirklichkeit noch auf der Karte 1:300000 etwas gesehen haben. Nach dem Gehör und nach seiner Einbildung wusste er die Schwerpunkte seiner Truppe auf die tiefe Flanke des Gegners zu richten. Für Bewegungen dieser Art sind Augen keine Hilfe.64
In diesem Passus wird das Thema des blinden Sehers wieder einmal um die Bedeutung des Tons fürs Sehen erweitert: Es sind nicht nur »optische Verstärker für Nah- und Fernsicht«, die dem Erblindeten zu einem andersgearteten Sehen verhelfen, sondern auch »die Nuancen im Ton der ihn beobachtenden Generalstabsgehilfen.«65 Dass es weitreichende Unterschiede im »blinden Sehen« geben kann, zeigen andere Beispiele, die die Macht bzw. Ohnmacht des Regisseurs über die Bilder zusammen denken. In Geschichten vom Kino (»Der blinde Regisseur«) kommt Kluge auf den alten, fast blinden Fritz Lang zu sprechen, den er als Voluntär bei Atelieraufnahmen von Das indische Grabmal beobachten konnte. Neben einer Großaufnahme von Langs müdem Gesicht mit der Augenbinde – dem monokularen Blick also – erklärt Kluge, warum es »bei einem Meisterregisseur« nicht »wesentlich (ist), dass er etwas sieht«: […] er hat in seinem Leben genug gesehen. Er sieht jede Szene mit dem ›inneren Auge‹ und muss sie nur den Darstellern, dem Kamerateam, den Beleuchtern und den Aufnahmeleitern erklären. Die setzen dann die Szene um. […] Richtig ist, dass es ihnen 62 Das gilt nicht zuletzt für Kluges Off-Stimme der dctp-Magazine, in denen bei diesen »sokratischen Gesprächen in der Zirkuswelt« mit wenigen Ausnahmen nur der Gesprächspartner ins Bild kommt. 63 Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt am Main, 2008, S. 387. 64 Ebd., S. 388. Hervorhebung vom Autor (A.C.). 65 Ebd., S. 387.
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sagt, was zu tun ist. Er muss das Bild, das er vor seinem inneren Auge hat (und mehr gibt es zu Anfang der Dreharbeiten ja nicht), farbig und mit hoher Bestimmtheit schildern.66
Von Lang könnte man das Gleiche behaupten wie vom blinden Regisseur am Schluss von Der Angriff der Gegenwart: »er war innerlich voller Bilder«, sagt dort Kluge im Off, während man zahlreiche Bilder sieht – von Louise Brooks, vom LumiHre-Film Die Ankunft des Zugs im Bahnhof von La Ciotat, von kitschigen Filmplakaten etc., die als wiederverwertbare Bruchstücke und found footageVorlagen den größten Teil von Kluges Filmen ausmachen. Zum Schluss, kann man kurz auf die »mythologische Topographie« (W. Benjamin) des Kellers eingehen, in dem der Film vom blinden Regisseur in Der Angriff der Gegenwart gedreht wird, da sie das »Höhlengleichnis« der platonischen Umwandlung der Ideen in sinnestäuschende Schattenbilder auf signifikante Weise variiert. Der Regisseur »blickt« zunächst auf eine nicht gezeigte Leinwand, die nur durch die sichtbare Präsenz des Projektors hinter ihm erahnt werden kann. Dann wendet sich sein in einer Großaufnahme gezeigter Kopf dem Projektor zu. Im Off sagt Kluge: »Er sieht ins Licht« und nicht mehr auf die Leinwand, wo die für ihn unsichtbaren Bilder laufen. Die (Licht-)Bilder werden von der Höhlenwand / Leinwand weg auf die innere Leinwand im Kopf des Regisseurs verlagert. Außerdem lässt sich die »Lichtdusche«, der der blinde Regisseur ausgesetzt wird67, zusammen mit der darauffolgenden Großaufnahme seines Hinterkopfes, als Metapher der camera obscura auslegen: Der Kopf des blinden Regisseurs wird zum lichtlosen Raum, in dem zunächst kamerainterne Bilder produziert werden. Dann werden sie in dieselbe camera obscura zurückprojiziert, die sie verarbeitet bzw. neu gestaltet.68 Der Kopf des blinden Regisseurs wird folglich zum metaphorischen Ort der Produktion und Rezeption von Bildern und einer ziemlich komplexen visuellen Dialektik von innen und außen, sichtbar und unsichtbar, die eine vielschichtige Reflexion über die Komplexität der Filmarbeit darstellt.69 66 Alexander Kluge, Geschichten vom Kino, Frankfurt am Main, 2007, S. 116f. Man müsste hier auf das monokulare Sehen des einäugigen Lang als Allegorie des Sehens/Nicht-Sehens näher eingehen, dessen Gesichtsfeld aus einem sichtbaren und einem schwarzen Teil besteht. 67 Daran erinnern die ersten Einstellungen von Der Zauber der verdunkelten Seele mit der Detailaufnahme eines Männergesichts, das aus nächster Nähe ins Licht einer Glühbirne blickt. 68 Im Unterschied dazu steht Godards Bemerkung, dass es der Zuschauer sei, der »eine Kamera im Kopf [hat]: einen Projektor, und der projiziert«. Christina Scherer sieht in diesem »wechselseitigen Sehen und Angesehen-Werden, Projizieren und Projiziert-Werden« eine Grundeigenschaft des »Dispositivs Kino«. Vgl. C. S.: »Alexander Kluge und Jean-Luc Godard«, S. 104 u. S. 112. 69 In diesem Zusammenhang versteht man diese Momentaufnahme von Kluge im Filmatelier (»Nach Drehschluss«) am Ende von Die Macht der Gefühle. Auf einem Regisseurstuhl sitzend, verdeckt er seine Augen, als wollte er nach so vielen Filmbildern nichts mehr sehen. Ist
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Diese Beispiele aus Kluges Filmen und Texten zeigen, dass die Variationen über das Thema des blinden Sehens Bedeutungen freilegen, die über das Perzeptive, Kognitive und Affektive des kinematographischen Prozesses in eine ästhetisch-politische Ökonomie des Sehens münden. Sofern er nicht realitätsblind werden möchte, muss der Gesichtssinn lernen eigen-sinnig zu werden, Phasen des Nicht-Sehens in die filmische Bilderproduktion »einzublenden«, um das »Sichtbare« paradoxerweise durch »Unsichtbares« oder Sichtbares »zwischen den Bildern« auch »sichtig« zu machen.
dieses allerletzte Bild im Buch eine selbstbezogene Allegorie des »blinden Sehens« oder genauer, des »blindmachenden Sehens«, das das »Abschalten« lernen muss? »Mehr Licht« (Goethe) oder »Mehr nicht« (Thomas Bernhard)?
DCTP – Ten to Eleven vom 2. Oktober 2017 (RTL) (Kluge / van Hemmen)
»Die Mathematik der sinnlichen Kraft« – Leo van Hemmen, Biophysiker
Leo van Hemmen: WÜSTENSKORPION, KROKODIL, SCHLEIER-EULE & MENSCHENOHR LEO VAN HEMMEN: Sand, trockener Sand, kann man, das wissen wir inzwischen … Als ich das damals mit meinem Diplomanden und meinem Post-Doc modelliert habe, wussten wir das noch nicht, aber wir haben Sand mathematisch ordentlich beschrieben. Trockener Sand, das ist wichtig. Inzwischen wissen wir, dass es bei diesen Auslenkungen, wie bei Flüssigkeit ist. So, stellen Sie sich das wie in einem Teich vor. Das Tier treibt schön auf dem Teich, und da tut sich was. Da läuft eine Welle über die Oberfläche des Wassers im Teich, und hier ist der Wüstenskorpion. Es trifft dann erst die Füßchen hier und dann, die Welle läuft so weiter, und in diesem Falle, eine Millisekunde später, trifft es dann die Füßchen an der anderen Seite. Bei den Füßchen hier, die dazwischen sind, sind die Zeitunterschiede ein bisschen kleiner als eine Millisekunde. Aus diesen Zeitunterschieden zwischen all den acht Füßen, konstruiert das Hirn dann die Richtung… ALEXANDER KLUGE: … da kommt die Beute. VAN HEMMEN: Nein, noch nicht. Erst muss die Position im Raum bestimmt werden. Und wenn das Hirn dann die Position im Raum bestimmt hat und damit die Richtung der Beute, dann – zack – bewegt sich das Tier, und ab und davon. Die Wüstenskorpione haben eine sehr interessante Physiologie. Ich würde sagen, wenn Sie einen Wüstenskorpion als Haustierchen hätten, da muss es ein bisschen Essen und Trinken haben. Nehmen wir mal eine dicke Motte und noch ein bisschen Trinken. Wie viele dicke Motten würde das Tier pro Jahr brauchen? Wann sollten Sie mal wieder füttern? Was meinen Sie? KLUGE: Weiß ich nicht. VAN HEMMEN: Ach, kommen Sie, Herr Kluge. Sagen wir mal eine Motte pro Monat. Oder vielleicht pro Woche? In welchen Größenordnungen, was denken Sie?
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KLUGE: Also die Boas brauchen wenig, eine Beute pro Halbjahr, oder so. VAN HEMMEN: Ja, nicht schlecht, sehr gut sogar. Beim Wüstenskorpion ist es sogar noch weniger. Eine dicke Motte pro Jahr reicht. Aber, wenn die Motte dann da ist, dann bitteschön nicht lange darüber nachdenken, welchen Sinn die Motte hat, dann ab und davon. Im Klartext heißt das, wenn die Motte da ist, dann gleich sich drehen… KLUGE: … muss er sie kriegen. VAN HEMMEN: … und das passiert während der Nacht. Der Wüstenskorpion hat eine Höhle, in der er tagsüber ist. Die Mojave-Wüste hat im Sommer eine angenehme Außentemperatur, so 608 Celsius. Da ist es dann doch besser dort in der Höhle zu sein, so 30, 40 Zentimeter tief. KLUGE: Nachts kommt es dann wieder raus und wartet. VAN HEMMEN: Richtig. Es ist ein Nachtjäger. Nachts, so ungefähr bei 108 Celsius, wenn alles schon schön abgekühlt ist, kommt es an die Oberfläche, stellt sich da hin und wartet. Und wenn nichts kommt, dann… Es hat einen Lichtsensor, keine Augen. Der Lichtsensor sagt dem Tier : »Aah, es ist jetzt wieder gesünder für dich runter zu gehen.« Dann spaziert es wieder zurück in die Höhle und in der nächsten Nacht wiederholt sich das. KLUGE: Aber die Füßchen, die acht Füße, die jetzt das Erkennungsmittel sind, um zu wissen, wann die selten vorbeikommende Beute, die lebensnotwendige Gelegenheit… VAN HEMMEN: Ja, es ist noch ein wenig schöner. An den Füßchen gibt es Detektoren, das sind zwei Haarzellen, mehr oder weniger, ein paar Haarzellen und die sind wahnsinnig empfindlich. Die Natur hat Haarzellen konstruiert, von einer Empfindlichkeit, von der wir eigentlich nur träumen können.
»Vier Mal Beute im Leben« Das Tier muss stillstehen, sonst kann es nicht messen. Rennen und messen geht nicht, weil, wenn es in diesem winzig kleinen Bereich, kleiner als ein m (Mü), und ein m ist kleiner als ein Millionstel Millimeter, und wenn es noch kleiner ist, dann braucht man Ruhe. Ich sag mal, hier ist die Motte. Die Motte macht pompom, die spaziert weiter und dann prrr, geht’s da hin. Und das funktioniert innerhalb von 50 Zentimetern. Im Allgemeinen schafft das Tier es auch. Eine dicke Motte pro Jahr reicht. Die Viecher werden, sagen wir mal, ungefähr vier Jahre alt. Die können… KLUGE: Also viermal Beute machen im Leben. VAN HEMMEN: Ja, viermal Beute machen im Leben. Das war’s. Und nicht vergessen, einmal das Weibchen treffen, wenn es ein Männchen ist oder einmal
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ein Männchen treffen, wenn es ein Weibchen ist. Die Weibchen können es jedes Jahr tun. Für die Männchen – das ist ein ganz interessantes Detail – nach der Tat, ab und davon. Weil sonst wird das Weibchen das Männchen verspeisen. KLUGE: … fressen. VAN HEMMEN: Ja, ungefähr 15 % der Männchen wird verspeist. Die anderen haben sich schleunigst davon gemacht. Und sind weggekommen.
Die Ohren der Krokodile KLUGE: Jetzt gibt es andere Tiere, die Sie untersuchen, zum Beispiel die Krokodile. VAN HEMMEN: Ja, dann sind wir gerade bei den Krokodilen, also beim Thema innerlich oder intern gekoppelte Ohren. Auf Neuhochdeutsch heißt das internally coupled ears und das Kürzel, was meine Kollegin Catherine E. Carr und ich vor ungefähr sieben Jahren gefunden haben, ist »ICE«. Und »ICE« zu Deutsch »Eis«, und wenn Sie nun denken, das wird wohl »cool« sein, dann liegen Sie auch noch richtig, denn es ist in der Tat ein Mechanismus, der ganz »cool« ist. Es ist aber nichts exotisches, was es nur bei Krokodilen gibt. Nein, mehr als die Hälfte haben internally couples ears, also »ICE«. KLUGE: Also einen Tunnel. VAN HEMMEN: Ja, einen Tunnel. Die haben ein Trommelfell hier und ein Trommelfell da. Und da gibt es einen Tunnel – Krokodile und Alligatoren haben sogar zwei Tunnel mehr – zwischen linkem und rechtem Trommelfell, und wenn der Schall draußen anklopft, dann wird das Hören durch die Kopplung von linkem und rechtem Trommelfell modifiziert. Vielleicht sollte ich jetzt noch etwas zur Richtungsbestimmung sagen. Der Wüstenskorpion, und deshalb war es ganz wichtig, dass wir mit dem Wüstenfuchs angefangen haben, hat, sagen wir mal, acht Ohren. Es gibt acht Haarzelldetektoren. Auf gut Deutsch sagen wir dann mechanic sensoric. Wir haben nur zwei. Alle landlebenden Wirbeltiere haben zwei, links und rechts. Wie bestimmen wir die Richtung der Schallquelle? Anhand des Zeitunterschieds zwischen linkem und rechtem Ohr, und damit zwischen linkem und rechtem Trommelfell. Bei uns ist der Abstand etwa 20 Zentimeter. Das ist ganz ordentlich. Das geht so einigermaßen. Es gibt nicht so viele Tiere, die besser als wir Schall orten können. Das Standardbeispiel bei den Biologen ist die Schleier-Eule. Die Schleier-Eule ist genauso gut wie wir in der horizontalen Schallortung. Das geht mit Hilfe des Zeitunterschieds zwischen linkem und rechtem Ohr. So, das ist nur die horizontale Schallortung. Vertikal ist eine ganz andere Geschichte.
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Das Elefanten-Ohr KLUGE: Das Elefanten-Ohr könnte sehr viel tiefere Töne, also bis zehn runter… VAN HEMMEN: Ja, bei den Elefanten, das sind Säuger, die haben im Gegensatz zu »ICE«, Internally coupled ears, also »cool«, wie alle Säuger unabhängige Ohren. Das linke und das rechte Ohr sind unabhängig voneinander. Es gibt die Eustachische Röhre, die dafür sorgt, dass der Druck innen und außen gleich ist. Das ist ganz, ganz wichtig. Aber das war’s dann auch. Die sind untereinander nicht gekoppelt. Ich komm’ gleich auf den Elefanten zurück. Welche Viecher haben innerlich gekoppelte Ohren? Frösche, Echsen, also Eidechsen… Echsen gibt es sehr viele, Krokodile… Und das ist ganz, ganz wichtig, die hängen evolutionär ganz eng mit den Krokodilen und Alligatoren zusammen: Das sind Vögel. Vögel auch. Wenn Sie da so ein Vögelchen haben, der Absatz ist da nicht so arg groß. Dank »ICE« wird dann der Abstand im niederfrequenten Bereich immer noch nicht ganz doll, aber damit kann das Tier anhand des Zeitunterschieds zwischen dem linken und rechten Trommelfell viel besser horizontal Schall orten. KLUGE: Wie so ein artifizieller Konzertsaal, der den Ton, also die Dilatation zwischen den beiden Ohren innerlich erweitert. Also außen wird es nicht reichen. VAN HEMMEN: Nein, das kann man so sagen. Aber die Form des Konzertsaals modifiziert dann ganz spezifisch die Klänge im niederfrequenten Bereich. Um Ihnen ein Beispiel zu geben. Bei Eidechsen, wie Tokeh-Gecko oder Sie können auch den Hausgecko nehmen, der ist ein bisschen kleiner, da ist die natürliche Frequenz des Trommelfells, ich nehme es mal buchstäblich… hier steht die Trommel, wir sehen da beide diese schöne Trommel stehen und ich ticke mal da oben so schön auf das Trommelfell. Da gibt es eine Grundfrequenz vom Trommelfell. Diese Grundfrequenz hat natürlich unser eigenes Trommelfell auch. Auf gut Hochdeutsch heißt es dann das »Tympanum«. Das hat dann auch eine Grundfrequenz, die liegt bei den Eidechsen bei 1000 Hertz, also ein Kilohertz. Das ist ein Ton, der klingt für uns schon ein bisschen höher. 1000 Hertz sind ein Kilohertz. In diesem Bereich liegt das. Bei ungefähr bis zu 600 Hertz wird der Ohrenabstand um den Faktor drei effektiv vergrößert, so dass die kleinen Echsen, so groß sind die nicht, etwa 2,73 Zentimeter maximal, manche sind auch noch kleiner, dann wird das auch mal so groß wie bei der Schleier-Eule. Die Schleier-Eule hat um die sechs Zentimeter Abstand, so in dem Dreh, zwischen dem linken und rechten Trommelfell, und die kommt ganz ordentlich damit zurecht, um horizontal Schall zu orten. Wir sind genauso gut wie der evolutionäre Spezialist Schleier-Eule. Ihre Genauigkeit, das wussten Sie wahrscheinlich noch nicht, Sie dürfen mal raten, wenn Sie möchten: Wie gut ist Ihre Ortungsgenauigkeit für [schnippt mit den Finger]?
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KLUGE: Keine Ahnung. VAN HEMMEN: Ein bis zwei Grad. Wenn Sie mich früher gefragt hätten, als ich noch nicht daran gearbeitet habe, hätte ich so zehn Grad gesagt. Besser wird es wohl nicht sein. Falsch, ein bis zwei Grad. Aber es gibt noch irgendein Viech, das in der See lebt. Und dann gibt es uns Menschen und die Schleier-Eule. Nur diese drei Spezies schaffen es horizontal nur ein bis zwei Grad hinzubekommen. Wir sind echt gut. Die Schleier-Eule ist es also auch. Das ist ein Vogel, aber der hat mit »ICE« nichts zu tun, weil die Spezialist ist. Die kann bis zu acht Kilohertz verwenden, um Schall zu orten. Während bei uns schon, wenn wir gut sind, bei 1,5 Kilohertz Schluss ist. Das war’s denn. Mehr kriegen wir nicht hin. Die andere Information: »Schlecht für uns, das war’s«. Aber die Schleier-Eule schafft acht bis neun Kilohertz. Das ist gigantisch und damit fängt das Männchen das Weibchen. Das Weibchen thront auf dem Nest, und das Männchen muss alle zehn Minuten eine Maus fangen. Das geht im Frühling, so ab Mai los. Jetzt hört es ungefähr auf. Alle zehn Minuten, damit die Youngsters und sein Weib sechs bis sieben Mäuse genießen. Da können Sie sich ausrechnen, so lange ist es auch nicht dunkel, alle zehn Minuten eine Maus. Da muss das System wahnsinnig gut sein. Ist es auch. Und da sehen Sie: Die Genauigkeit ist erstaunlich. Was eigentlich mindestens so faszinierend ist: Wir als Menschen, wir wissen das. Nur die meisten sind sich darüber nicht im Klaren, wie gut wir sind, in der Integration verschiedener Sinnesorgane. Beim Menschen ist es typisch »Sehen« und »Hören«. Ich weiß, das Märchen ist dann: »Der Mensch, ach, der ist total visuell orientiert.« Ja, ja. Denkt man. KLUGE: Ja. VAN HEMMEN: In Wirklichkeit sind wir echt gut. Wir integrieren mühelos Sehen und Hören. Die multimodale Integration ist für den Menschen ein wesentliches Charakteristikum.
Wieviel Sinne hat der Mensch? KLUGE: Man sagt, wir haben sieben Sinne. Aber in Wirklichkeit haben wir noch den Gleichgewichtssinn. Wir haben den Temperatursinn. Der ist nicht mit dabei beim Tasten, Riechen, Schmecken… VAN HEMMEN: Tasten, Riechen, Schmecken, Temperatur …Tasten ist noch was anderes, würde ich sagen. Temperatur ist nur die Wärme oder die Kälte. Während beim Tasten… Leute können durch Augen ertasten, was die Form eines Objekts ist. Inzwischen wissen wir auch, dass bestimmte Leute – die können meistens nicht sehen – die Form eines Objekts sogar hören können. Ja, das ist echt irre. Aber das geht. KLUGE: Und das betrifft jetzt das Lernen.
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VAN HEMMEN: Ja, richtig. Das betrifft das Lernen. KLUGE: Das heißt, 1,8 Millionen Synapsen pro Sekunde werden von Geburt bis zum zweiten Lebensjahr immer wieder neu gebildet. Pro Sekunde… VAN HEMMEN: Ja. KLUGE: Das ist im Grunde die Relation zwischen körperlicher Arbeit und Benutzung dieser Sinne. VAN HEMMEN: Ja, dazu ist es, glaube ich, wichtig zwei Aspekte zu betrachten. Erstens, wenn man aufwächst werden die Sinne integriert, aber separat werden sie gelernt. Als ich mit diesem Spiel angefangen habe, bevor ich nach München kam, hieß es: »Gott, ja, nach dem dritten Lebensjahr, dann ist es wohl mit dem Hörsinn gelaufen.« Inzwischen sind wir, glaube ich, beim fünften Lebensjahr, bevor das dann alles gelaufen sei. Warten wir mal ab. Es dauert länger als man denkt. Das ist ein langwieriger Prozess. Was aber bei uns nie, zumindest hoffen wir das, aber was bei uns unter normalen Umständen nie aufhört, das ist die Plastizität. Sagen wir mal, der Lernsinn im Hirn. Das geht immer weiter. Wie wird gelernt? Eine exzitatorische Synapse sollte positive Ladung in das postsynaptische Neuron reinspucken. Gut, das tut sie. Wenn sie das zur rechten Zeit tut, dann ist das prima. Dann, im Grunde genommen kurz darauf, feuert das Neuron. Da sollte die Synapse gestärkt werden. Und das bedeutet »gestärkt«: Wenn ein Aktionspotential ankommt, lässt sie mehr positive Ladung in das Neuron, auf dem die Synapse sitzt, hindurch. Das ist Synapsenstärke. So nennt sich das. Lernen bedeutet eigentlich nichts anderes, als, dass exzitatorische Synapsen ihre Stärke ändern.
Lust am Gelingen VAN HEMMEN: Ob und wie das Belohnen eine Rolle spielt… Ja, aber wie genau die Belohnung beim Lernen dann implementiert wird… Wissen Sie, wenn es darum geht, zum Beispiel schnell Klavier zu spielen, das hat ab und zu mit einer Handfertigkeit zu tun – ich bin zutiefst beeindruckt –, aber das ist etwas ganz anderes als Belohnung, wie: »Ja, Antje. Du hast das prima gemacht.« Wenn es darum geht zu trainieren, wie ich ganz schnell eine bestimmte Aktion durchführe, das ist ganz was anderes, als ein Kind für etwas zu bestrafen, was es falsch gemacht hat, oder für etwas zu belohnen, was es endlich mal richtig gemacht hat. KLUGE: Das ist sozusagen ein Genuss im Können. Das heißt, dass diese Strukturen im Hirn und die in den Fingern und in den Muskeln und all dem, was dazwischen ist, ein großes Konzentrat beherrschen. Dann ist das eine Form der Lebendigkeit. Die Belohnung ist sozusagen der Zusammenhang, der Chor. VAN HEMMEN: Ja, aber ich würde sagen, die Belohnung als eine Tat… KLUGE: …es gelingt etwas…
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VAN HEMMEN: Ja, aber das ist noch etwas anderes als beim Klavierspieler. Der erfährt nach genug Übung den richtigen Klang als Belohnung für sein ständiges Üben. Ist nun mal so. Und warum das dann so ist, ist eine andere Vorlesung. KLUGE: Lassen Sie uns mal probieren. Wir fahren Fahrrad. Das kann ich mit dem Verstand gar nicht machen. Wenn ich aber Impulse, Willensimpulse, addieren würde zum Fahrrad fahren, Gleichgewichtssinn… was ich da alles vereinigen muss, aber wenn ich das Ganze einmal kann… Das Gefühl eines Kindes, was zum ersten Mal auf dem Fahrrad sitzt und oben bleibt. Warum… VAN HEMMEN: Ja, warum… KLUGE: Das ist die Freude am Zusammenhang. VAN HEMMEN: Ja, wir sind uns herzlich einig. Aber das Fahrrad ist gerade deshalb eine geniale Konstruktion. Nur weil – das ist der Satz der Drehimpulserhaltung – es zwei Räder gibt, bleibt das Fahrrad so schön stabil. Sonst würde es gleich umfallen. Man muss fahren. Wenn man dann ordentlich trainiert ist, kann man langsam fahren, und es geht immer noch, weil man noch ein bisschen korrigieren kann. Aber der Trick ist gerade die Drehimpulserhaltung. Die erlaubt es dem Fahrer, das Fahrrad überhaupt fahren zu können, sonst ginge es gar nicht. Aber da haben Sie wieder recht: Es ist Training. Aber eigentlich, was brauchen Sie zum Fahrrad fahren? Ein ordentliches Vestibularsystem, das sagt: »Jetzt fährst du richtig schön geradeaus.« KLUGE: … Körpergefühl… VAN HEMMEN: Körpergefühl. Der Rest ist Drehimpulserhaltung. Das Steuern ist noch ein bisschen Übung. Eine knappe Kurve zu kriegen, so gerade, 908 Grad, das, wie wir beide wissen, geht nicht. Ein bisschen mehr, dass ich die Kurve kratzen kann, aber das war’s dann auch. Der Rest ist Drehimpulserhaltung. Sie bleiben stabil. Sie fallen nicht um. Mehr ist es nicht. KLUGE: Und das ist auch ein Genuss. Ich sehe das Glück im Gesicht meiner Tochter im Schwimmbad, als sie zum ersten Mal auf die Eltern zuschwimmt. Das ist eine relativ komplizierte Koordination zwischen den Ärmchen, den Beinchen, die Lunge macht was und so weiter. Sie blieb aber oben, über Wasser, schluckte kein Wasser, und das ist ihr gelungen. Darüber guckte sie so erbaut. VAN HEMMEN: Das ist richtig. Aber schwimmen lernen dauert viel länger als Radfahren zu lernen. KLUGE: Das stimmt. VAN HEMMEN: Oh, ja. KLUGE: Aber das alles ist Lernen. Sie sprechen von der Belohnung, und die Belohnung ist die Beherrschung des Ganzen. Dass etwas gelingt, ist offenkundig evolutionär als ein Vergnügen in uns eingebaut. VAN HEMMEN: Ja, das stimmt. Aber diese Lernprozesse sind von einer ganz anderen Natur, als die, welche wir mit Hilfe von SDDP damals modelliert haben, und wie man die auch gefunden hat. Die Zeitskalen da sind viel kürzer, und der
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räumliche Bereich ist im Allgemeinen auch kleiner. Die Belohnung beim Fahrradfahren am Ende lautet: »So, das hast du prima gemacht.« Und das Gefühl »jetzt kann ich Fahrrad fahren« und »jetzt kann ich schwimmen«, das ist von einer etwas anderen Natur.
Alexander Kluge
Scarpia als Männerkörper. Die tausend Seelen des Polizeichefs
Ein Mann des 18. Jahrhunderts Die Hitze des Tages vorauswissend, ist der Polizeichef im Palais Farnese früh gegen fünf Uhr erwacht. Ein Schweißfilm zieht sich über den Körper, obwohl es noch kühl ist. Er betrachtet, das dünne Laken zurückgeschlagen, die unter der Bauchwölbung verborgene Schwebung des Verdauungstrakts, er kann keine Einheit unter diesen Gerätschaften stiften. Über dem Magentopf der Blasebalg, Luft von den Albaner Bergen; daran zu ermitteln, daß Scarpia lebt, ohne Zutun hebt und senkt sich dieser Körperteil, vom Polizeichef überwacht. Scarpia erhebt sich, wäscht den Schweißfilm hinweg. Die Augenpartie klar, ohne exzessives Interesse. Einheitsstiftend ist das Staatswesen, an dessen Rändern Bonaparte »rüttelt«, dies ein metaphorischer Ausdruck für das rasche Hin- und Hermarschieren französischer Truppenkörper, marschierende Motive und insofern, als Körper gesehen, jetzt früh fünf Uhr vermutlich schon unterwegs. Wenn Scarpia sich den Rüssel bewaffneter Kolonnen, Beine, Verdauungsapparate, Köpfe auf Hälsen, diese auf Wirbelsäulen, diese verlängert zu Ranzen, Waffen, vor Augen hält, gewinnt er hieraus, also vom Gegner, einheitliche Motive für die auseinanderstrebenden Gefügigkeiten seines morgendlichen Leibes. Er faßt die Morgenröte über der römischen Stadt (»l’aube«) in den Blick; sie findet sich jenseits der seidenbezogenen Wand des Hotel Farnese, ist für den wacher werdenden Sinn vorstellbar und trägt zur Vereinheitlichung bei, auch wenn Scarpia davon nichts sieht. Die französischen Soldaten tragen zur Zeit ihre für den Krieg überflüssigen Geschlechtsteile wie die Tornister als Ballast aus Jahrtausenden, Marschgepäck für die Besetzung Roms heran, haben nicht die Zweifel des Polizeichefs, ob die Harnröhre tatsächlich als Genußorgan deutbar wäre, ohne daß er so etwas brauchte, um die Überblicke zu gewinnen; er kann es aber auch nicht abtrennen, so wie er eine seiner Sicherungsabteilungen schließen, Befehle an Untergebene delegieren und vergessen kann. Vielmehr drückt die Kotsäule links und verfügt eine Schwellung des Gliedes, die Scarpia am Pinkeln hindert, ohne dazugehö-
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riges lüsternes Gefühl, das Glied groß und geschwollen aus mechanischen Gründen eines Mißverständnisses unter den Organen. Der Herrschende ist dissoziiert, die Gehorchenden sind assoziiert. Scarpia könnte jetzt, wenn er das für wichtiger hielte als etwas anderes, z. B. wie man Sbirren auf Verdacht auf einen Kontrollgang sendet, das aufgestöberte Wild wird sich verraten, durch eine Manipulation die mechanische Spreizung des Organs nutzen, indem er sich zum Beispiel zwingt, an die göttliche Tosca zu denken. Er müßte dazu sich vorstellen, daß die Sängerin wiederum ihn ansähe oder an ihn dächte, wiederum wäre dies ein Mißverständnis, das auf den Moment geeignet wäre, ein Lustgefühl zu erzeugen, das gereizte und durch Nichteinheit des Körpers bedrängte Glied besänne sich auf seine mittelalterliche Fähigkeit, unternähme einen Ausbruchsversuch. Darauf vermag der schlaue Scarpia zu verzichten. Einheitsstiftend ist nicht dies, sondern, anknüpfend an die reale Tosca, die gewiß nicht an den Polizeichef denkt, die reale Erpressung der Stolzen, die eine mächtige Person ist durch die Divinität ihrer Stimme, nicht dazu da, Geschlechtslust zu erwecken. Tags darauf kommt ihm das, worauf er verzichtete, in die Quere, als er Tosca in seinem Amtszimmer eingesperrt hat und auf sie einspricht, was ihn in ihre Nähe bringt. Sie kniet vor ihm, so daß er, ihre göttliche Stellung umgehend, ihr in den Rücken gelangt (und das sieht unziemlich aus, daß er sie vor sich kniend sieht, sie aber auf den Knien herumrutscht, um ihm wieder frontal zu begegnen). Er gibt ihr einen leichten Schubs, sie aber fällt nach vorn, in eine von Sbirren in ihren Berichten gelegentlich ausgemalte Stellung, die er, wäre die Hose inzwischen aufgeknöpft und hielte sie weiterhin still, in frühzeitlicher Weise nutzen könnte, so als wäre er ein Hase, ein französischer Soldat in einer Kampfpause usf. Dadurch ist aber das in der Hose steckende Glied an seiner Spitze mit einer Flüssigkeit verschmiert, die nicht Same und nicht Urin ist, eine Gleitflüssigkeit, aber in der nicht einfach zu öffnenden Seidenhose gleitet dadurch nichts, so daß Scarpia, über diese Eigenmächtigkeit verärgert, den Zauber der Diva nicht mehr erblickte und die Lust verlor. Er führte deshalb zwar den Erpressungsversuch zu Ende, nicht aber die betrügerische Verführung. Er tat das, um seinen Kopf durchzusetzen, der dem Glied schon seit dem frühen Morgen widerstand. Daran starb er, ohne noch den ursprünglichen Grund zur Verfügung zu haben, den fremde Beobachter seinem Tun unterlegt hätten. Er hätte die Sache auch ohne Toscas Messer zu keinem Ziel gebracht. Es war eben nirgends sein Ziel, sondern es waren Ziele der Sache, die in verschiedenartige Angelegenheiten zerfiel, sobald sie praktisch zu werden drohte. Wäre er an diesem Abenteuer nicht gestorben, so hätte er sich durch Impotenz blamiert. Er konnte in seiner letzten Stunde überhaupt nicht wollen: der Tod nur ein anderes Übel gegenüber dem Versagen. Er trug keinen »Marschallstab im Tornister«. Genau hieran starb Scarpia, sozusagen an einer Verwirrung.
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Tosca neigte zur Eifersucht Es ist bekannt, daß die göttliche Tosca sich sehr leicht zur Eifersucht hinreißen ließ, entweder, weil sie in vielen Opernrollen den Ausdruck dieses Gefühls erlernt hatte, anderen Ausdruck hatte ihr niemand vermittelt, so daß, aufgereizt wie durch den Taktstock des Dirigenten, dieser Ausdruck selbsttätig abspulte, sei es, daß sie – das Älterwerden schon in ihren Gedanken vorwegnehmend – ihren Tod so sehr fürchtete, daß sie eine momentane Schmälerung ihres Herrschaftsbereiches nicht dulden durfte und den abtrünnigen Mario sogleich mit Polizeigewalt überfiel, wie es auch die Polizei Roms Staatsfeinden gegenüber nicht anders machen würde. Diese Schwäche Toscas bezog Scarpia ein, als er ihr den Fächer der Schwester Angelottis vorwies, in Kenntnis dessen, daß die Diva keine Ruhe geben würde, ehe nicht der elende Mario, der sie doch bald endgültig verlassen würde, in der Folterkammer säße, bis zur Aufklärung der Herkunft des Fächers. Nun läßt sich eine hochbegabte Primadonna, ähnlich wie von dem selbsttätigen Ablauf ihres sog. Gefühls, auch zur Rolle der Unerschütterlichkeit erziehen. Sie ist dann nicht zu demaskieren. Niemand, auch Scarpia nicht, hätte die Macht gehabt, die Maske ihres Tuns vor der Katastrophe zu lüften. So war Scarpias Tod vorherbestimmt, zuzüglich zu Marios Tod und Toscas Ende.
Tosca als Polizeichefin ihrer Gefühle Auch besaß Tosca, als Polizeichefin ihrer Gefühle, Gegenmittel. Sie konnte, irritiert über einen in der Erregung des Augenblicks falschen Atmer, der ihr das enge Empirekleid aufrisse, während der Folter Marios ihr Geständnis noch eine dreiviertel Minute zurückhalten – nach dieser Zeit fiel nämlich ihr Held in Ohnmacht, und der römische Richter, in Blickkontakt mit der außerhalb dieses Amtszimmers recht mächtigen Diva, brach in solchem Augenblick die Folter ab, wie es auch den geheimen Reskripten entsprach –, dann wäre das Geheimnis des Angelotti-Verstecks der römischen Polizei nicht bekanntgeworden. Tage später rückten französische Kürassiere in die Stadt, das Drama wäre entfallen. Auch hierin haben Tosca und Mario den tragischen Ausgang nicht vermieden, da jede andersgeartete Handlung zum Älterwerden der Sängerin, einem intimen unlösbaren Streit der beiden oder zu wechselseitiger Gleichgültigkeit geführt hätte. Die Opernhandlung kann nicht fortgeführt werden, wenn das Kleid reißt.
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Tosca und der Richter Der das Folterverhör leitende Richter hatte übrigens seine eigenen Überlegungen angestellt. In dem Folterkabinett angekommen, in dem einer der Maskenbildner dem Tenor rote Farbe über Stirn und Backen kleckerte, der Inspizient im Seitenwinkel der Pappbühne aus der Partitur die Schmerzensschreie dirigierte, der Sbirre Roberti war mit dem Öffnen der Bühnentür, was nur von außen gelingt, beschäftigt, bedachte der Richter die künftigen Zeiten, in denen die am Hof zu Neapel höchst angesehene Tosca der Königin einige Worte über sein Verhalten in der Folterkammer zuflüstern könnte, die über seine Karriere entschieden. Er war an dem schändlichen Auftrag, den er auszuführen hatte, desinteressiert. Sein Blick, bei Verlassen von Scarpias Arbeitszimmer, den er mit der Göttin tauschte, war deshalb beschwichtigend: »Ich werde nicht mehr tun, als den Buchstaben der Bestimmungen zu erfüllen. Keinen zusätzlichen Schmerz sollen die Unterknechte zufügen dürfen.« Er versprach gewissermaßen sachgerechte Ausführung. Die Göttin aber meinte Gründe zu haben, die sie hinderten, ihrem berechnenden heimlichen Anhänger zu vertrauen. Sie erkannte nicht dessen langfristige Interessen. Daran mußten sie und Scarpia sterben.
Scarpia/Tosca. Tausch der Charaktere Wie ein geldgieriger Affe erlernt eine Primadonna die von ihr vorzuführenden Charaktere. Diese sind ohnehin Nebensache zur wirklichen Bewegung der Musik. So kann Tosca, die sich auf der Bühne ja nicht selbst zusieht, sondern Scarpia vor sich hat, die inneren Vertragssysteme Scarpias besser kennenlernen als dieser selbst, denn in dem Polizeidirektor von Rom sind diese Eigenschaften historisch entstanden, sie tragen das Schwergewicht dieser wirklichen Verhältnisse in sich, das auf der Unterseite Gegencharaktere erzeugt, so daß Scarpia keineswegs Scarpia ist, wenn er sich zu spielen versucht: sie aber, als Gegenspielerin, wäre in der Lage, ihr Gegenüber zu spielen, unbelastet um das Erdengewicht des Charakters. Einmal in seinem Leben nämlich wollte Scarpia nicht mehr hinsehen müssen, seinen Kopf oder Körper ganz verlieren (aus Wiedersehensfreude, wie ein Finder), im Grunde aber wollte er Verträge einhalten. Dazu mußte er den Grundvertrag des alten Regimes mit Gewaltsamkeit verteidigen, was doch das alte Regime nicht auszuhalten vermag. Als unwirkliche Maske, bloß erlernt, vermag dagegen Tosca diese Charakterzüge rein darzustellen, mit entdramatisierender Wirkung. Es wird niemand vorzeitig sterben, falls sie Scarpia spielt. Und ein Stück ewiges Leben rückt in die Nähe des Polizeiamtes.
Scarpia als Männerkörper. Die tausend Seelen des Polizeichefs
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Würden Tosca und Scarpia als Paar zueinander passen? Tosca indessen ist ein eiskaltes Luder. Anders gesagt: Diva, eine Göttin. Sie sieht die genitalen Verwirrungen des Scarpia, so als trüge er keine Kleider, sie bringt Grund in seine Tagesbemühungen. Es ereignen sich ja in diesem Junggesellen zeitrafferische und einige zeitdehnende Bewegungen, er hätte gern an diesem Tag ein Stück ewiges Leben zu sich genommen, und die Ungeduld des ungewohnten Genusses (was versteht der überbeschäftigte Mann davon) zerreißt ihm das Herz. Hier kann die kluge Tosca helfen, die schon immer als musikalische Lehrerin auftrat und ihren einheits- oder tagesstiftenden Zauber eben nicht nur bei einem verwöhnten Jüngling, sondern bei diesem brachliegenden Ganzmann zur Anwendung zu bringen weiß. Weiß sie doch auch, daß sie ihr Reich der Kunst nicht als Republik der Lust, sondern nur als Monarchie einrichten darf, da sie sonst ausgeraubt wird von der jüngeren, recht lernfähigen Tazzi. Sie opfert deshalb den ohnehin verlorenen Angelotti, zusätzlich den dummen Hund Mario, der sich – ohne Rücksicht auf sie und mit geringer Lust, wenn er doch eigentlich Ölgemälde malen will – in politische Händel verstrickt hat, und gewinnt durch rechtzeitigen Verrat und Liebkosung (nur beides gemeinsam bildet Zauber) das Vertrauen des alternden Mannes, auch wenn sie ihn später gegen einen napoleonischen General tauschen wird.
Mario, weniger anstrengend Dies alles wäre geschickt und den Vertragsverhältnissen dieser Göttin konform, war aber unmöglich, weil es die ganze Energie dieser Diva in realen Beziehungen verbraucht hätte. Ihre Zuwendung steckt aber schon in der Kunst, der Kantate vom frühen Abend. Sie kann deshalb nicht das wirkliche Liebesverhältnis, nach dem es sie verlangt, mit dem wirklichen Scarpia in diesem Amtsraum verzaubern, sondern muß an dem Kind Mario festhalten, einer Beziehung, die weniger Wirklichkeit verlangt, eine Art Resteverwertung dessen, was übrig ist, wenn sie als Diva schon gesungen hat. So ist sie nicht von Natur, sondern dadurch, daß sie ihre Göttlichkeit schon verausgabte, gehindert, die Handlung der Geschichte zu einem gütigen Ausgang zu bringen und die Oper zu vermeiden.
Der Gastsänger Der Gastsänger, der an diesem Abend den Scarpia zu gestalten hat, kommt aus einer Reihe von Vorinszenierungen dieser Oper, die den Scarpia als dicklichen Gewalttäter auffaßten. Historisch vermutlich ein Irrtum. In dieser groben Verfassung wird
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ihm Rom nicht gehorchen. Unter Sbirren und Gegensbirren wird über ihn getuschelt worden sein. Man wird der Königin berichtet haben, daß dieser Gewaltmensch sich persönliche Vorteile verschafft. Mag er tüchtig in der Exekution von Staatsfeinden sein, er bedroht den Hof selber und wird sich vom Usurpator, der über die Alpen heranzieht, in seiner Unbeherrschtheit nicht unterscheiden. Ein Polizeichef im Palazzo Farnese steht ja selber unter Aufsicht, wenn er nicht Standesherr ist. Es müßte in der Inszenierung zumindest gezeigt werden, wie der Aufsteiger die Kontenance eines Standesherrn zu imitieren sucht. Behängt wie ein Bäumchen mit selbstverschafften Eigenschaften, wird er erst diese Maske erwerben und sich danach erst luxuriösen Lüsten wie der nach Tosca hingeben. Im geschäftigen Betrieb des Operntrakts herrscht in keinem der Stockwerke, und auch nicht an den verlassenen Stellen der Hinterbühne, die Ruhe für eine beobachtende Haltung. Was eben noch wie ein hallenartiges Gelaß oder eine Schlucht zwischen dem Schiff des Fliegenden Holländers, das im voraus für den kommenden Abend aufgestellt ist, aussieht, ist im zweiten Akt die Rückwand des Palazzo Farnese. Wachsam, Ort für Reflexion, sind allein die Zonen hinter den Augen des Polizeichefs von Rom, die der Sänger nicht beachtet. Er trägt diese Orte auf der Bühne umher. Diese Augenhintergründe beider Sizilien prüfen das Zeitalter, von dem Scarpia nur zwanzig Jahre im aktiven Dienst als oberster Aufpasser in seinem Hirn gespeichert hat. Feinde nennen ihn: »Das Gedächtnis«, ein lebendes Dossier, das die Berichte der Sbirren nicht lesen muß, um Vorgänge im römischen Bezirk zu erraten. Wir haben hier eine lebende Maschine, für ein anderes Zeitalter konstruiert als dasjenige, das der Zertrümmerung anheimfällt. Traurigerweise ist dieser Augenhintergrund der Rolle durch den Routine-Scarpia, der sich auf dem Bühnenvordergrund bewegt, überlärmt. Er selbst ist hager, hat sich aber unter das Kostüm Decken und Verpackungsmaterial aus luftgefülltem Plastik wickeln lassen, um voluminöser zu erscheinen, weil er annimmt, daß Gewalttäter korpulent seien, während doch das Gegenteil der Fall ist. Schütten Sie mir, sagt er zu dem Inspizienten (und während er redet, vermag der Augenhintergrund nicht zu arbeiten), etwas Selters in diesen Saft, der den Wein markieren soll. Die Sauerkeit schnürt mir die Stimmbänder zusammen. Ich brauche sie noch heute abend. Die Requisiteure tragen den Sprudel heran. Schon hebt sich der Vorhang. Der Sprudel erreicht Tisch und Glas nicht mehr. Der exekutierende Sänger : auf nichts anderes konzentriert als die einstudierten Bewegungen und die Stimme. Durch einen stimmgewaltigen Bauernburschen hindurch blickt aus dem untätigen Augenhintergrund der historische Scarpia wie ein Gast in die körperliche Welt. (aus: Chronik der Gefühle I, S. 845)
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Eine gespenstische Stimme geht um in Alexander Kluges Filmen Ton: wo Ton ist, ist auch Stimmung, ja mehr als Stimmung: Gestimmtheit. Paul Celan1
Dem Satz Paul Celans könnte man mit Blick auf die Filme Alexander Kluges hinzufügen: Wo Ton ist, ist auch Verstimmtheit, denn Ton und Bild stimmen nie genau überein. Der Ton entzieht sich dem Bild, während dieses auf etwas anderes verweist, das der Ton nicht ausdrückt. Auf die Emanzipation des Tons und die abwesende Hierarchie zwischen Ton und Bild weist Kluge schon im 1965 zusammen mit Edgar Reitz und Wilfried Reinke geschriebenen Text »Wort und Film« hin: »Man kann hier nicht mehr sagen, das Wort sei der Handlung, das Bild dem Wort oder die Handlung dem Gegenstand der Handlung über- oder untergeordnet. Das entstandene Werk entzieht sich dieser Art von hierarchischen Begriffen.«2 So klingt der vom Bild unabhängige Ton im Kopf des Zuschauers immer weiter nach – selbst nach Verlassen des Kinos. Die Essener Ausstellung »Pluriversum«3 (2017–2018) betritt der Besucher durch einen Flur, an dessen Wand sich biographische Angaben finden. Der erste Schritt in die Ausstellung geht dabei mit einer eigenartigen ästhetischen Erfahrung einher. Der Besucher hört beim Lesen des Lebenslaufs sich überlagernde und durchkreuzende Stimmen. Zwei von Kluge geführte Interviews4 verflechten sich miteinander, wobei diese durcheinandersprechenden und sich kreuzenden Stimmen jedes klare Verstehen des Gesagten verhindern. Sie hüllen den Besucher ein, der nur noch die sofort erkennbare Stimme des Filmemachers wahrnimmt. Dieses stimmliche Palimpsest ist nicht nur der Ausstellung eigen, son-
1 Paul Celan, »Mikrolithen sind, Steinchen«. Die Prosa aus dem Nachlass, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedeman / Bertrand Badiou, Frankfurt am Main, 2005, S. 129. 2 Alexander Kluge / Edgar Reitz / Wilfried Reinke, »Wort und Film« (1965), in: Klaus Eder / Alexander Kluge, Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste, München/Wien 1980, S. 9–27, hier S. 12. 3 Alexander Kluge, »Pluriversum«, Museum Folkswang, 15. September 2017–7. Januar 2018. 4 »Planetenabstände / mit dem Schweizer Astrophysiker Simon Bruderer« (2013) und »Was Einstein nicht wusste / mit dem Physiker Reinhard Dörner« (2014).
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dern kennzeichnet das ganze Werk Kluges von seinen ersten Kurzfilmen bis hin zu seinen Arbeiten fürs Fernsehen. Alexander Kluges Werk beruht auf einer unaufhörlichen Sammlung von Bildern und Tönen aus der Vergangenheit. Seine Filmessays zeigen verschiedenartiges Material (Archiv-Bilder, bewegende Bilder aus der Gegenwart, Photographien, aber auch Gemälde, Zeichnungen, Grafiken usw.), das ständig mit einer ebenso heterogenen Tonspur konfrontiert wird. Diese besteht aus diversen, ab und zu wiederkehrenden, musikalischen Stücken, aus Voice-in, Voice-off und Voice-Over5, aus Geräuschen und Schweigen. Der Kernpunkt unserer Analyse ist das Voice-Over, dessen Quelle den ganzen Film lang im Bild unsichtbar bleibt und das aus einem absoluten visuellen Off erklingt. In der allerersten Szene der Patriotin (1979) ertönt eine mit keinem im Bild sichtbaren Körper verknüpfbare Stimme, die das Wort ergreift. Diese Stimme, die jene des Filmemachers selbst ist, gehört mit vielen anderen zu den vielfältigen Klugeschen Erzählerstimmen, die hie und da zu identifizieren sind, wie etwa die seiner Schwester Alexandra Kluge oder die der Schauspielerin Hannelore Hoger. Diese vielschichtigen Stimmen verschmelzen miteinander und überlagern sich, zunächst konkret wie beispielsweise im Kurzfilm Feuerlöscher E.A. Winterstein (1968) und dann auch in den sich überlagernden Erinnerungsschichten von einem Film zum anderen: Hört der Zuschauer Leni Peickerts Stimme in den Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1968), hallt zugleich Gabi Teicherts Stimme aus der Patriotin wider ; erklingt die sanfte Stimme Alexandra Kluges in Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1973), kann der Zuschauer nicht umhin, sich die Großaufnahmen vom ahnungslosen und rührenden Gesicht Anitas in Abschied von gestern (1966) wieder ins Gedächtnis zu rufen. Was sagen uns, Ausstellungsbesuchern oder Filmzuschauern, diese Stimmen? Warum sprechen Erzählerstimmen unaufhörlich in Kluges Werk? Und woher kommen sie, wenn nicht aus der Bildspur? In Kluges Filmen geht es darum, eine gewisse stimmliche Vertrautheit herzustellen: Das Mündliche, was ich meine, beruht auf leisen Tönen, wie sie bei der Rede unter Anwesenden üblich sind. Insofern ist mir der Ton einer Souffleuse eindringlicher als die Stentorstimme eines Schauspielers, der die letzten Sitzreihen eines Saales zu erreichen sucht. Das Ideal der Mündlichkeit heißt Intimität, erst in zweiter Linie, glaube ich, dient Sprechen der Information.6 5 Die Unterscheidung zwischen Voice-in, Voice-off und Voice-Over entnehme ich der Analyse von Alain Boillat, in: Alain Boillat, Du bonimenteur / la voix-over. Voix-attraction et voixnarration au cin8ma, Lausanne, 2007. Das Voice-in bezeichnet die Stimme eines im Bild sichtbaren Sprechers, während das Voice-off eine Stimme ist, die der Zuschauer mit einem intradiegetischen, jedoch unsichtbaren Sprecher assoziiert. Das Voice-Over hingegen verweist auf die mündliche Quelle eines von der Welt des Films abwesenden Sprechers. 6 Alexander Kluge, »Intimität. Lob der Mündlichkeit«, in: Hörwelten. 50 Jahre Hörspielpreis der
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Der Zuschauer gewöhnt sich an die unsichtbare und dennoch leibliche Präsenz der Stimmen. Er identifiziert sie als Klugesche Stimmen, ohne sie aber immer als eigenartig zu erkennen. Was Kluge interessiert, ist die Geste des Erzählens selbst jenseits des Erzählten und der Repräsentation. In diesem Sinne schafft Kluge ein Territorium7 und bildet eine Welt, seine Welt, wobei er die Grenzen der klassischen kinematographischen Erzählung überschreitet. Dabei wird die Welt nicht nur beschrieben, sondern auch geschaffen. Die eigensinnigen8 Stimmen, die in Kluges Filmen spuken, eröffnen eine Welt und bieten dem Zuschauer als Zeuge dieser Stimmenvielfalt eine Unzahl von ästhetischen Erfahrungen. Als ephemeres und unsichtbares Phänomen bleibt das Voice-Over ungreifbar : Es ist ein ständig sich veränderndes Ich-weiß-nicht-was, ein in der Zeit zerfließendes Beinahe-Nichts, das auftaucht und wieder verschwindet. Es verweist aber auf einen sprechenden Körper, der sich dem Bild entzieht und fortdauernd den Zuschauern unsichtbar bleibt. Wie jede Stimme erweist sich das Voice-Over als Schnittstelle zwischen Körper und Sprache. Als Spur des Körpers trägt es die Materialität der Stimme in sich, die in Roland Barthes Worten auch als ihre »Rauheit«9 bezeichnet werden kann. Was sind diese Stimmen, die auf dem Erzählen und dem Gehört-Werden beharren und unermüdlich das Bild erkunden? Inwiefern vermitteln sie eine eigenartige Erfahrung der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Welt, wobei sie sich der längst vergangenen und abgeschlossenen Zeit entziehen und daher beim Zuschauer eine neue sinnliche räumlich-zeitliche Erfahrung ermöglichen?
Die tyrannischen Stimmen Kluges allerster, zusammen mit Peter Schamoni gedrehter Kurzfilm Brutalität in Stein (1961) versteht sich als Ansatzpunkt der eigensinnigen Suche Kluges nach authentischen Stimmen. Der Kurzfilm erweist sich als eine Folge von Einstellungen vom Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, die mit Archiv-Bildern einKriegsblinden, herausgegeben vom Bund der Kriegsblinden Deutschlands / Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, Berlin 2001, S. 222ff., hier S. 224. 7 Gilles Deleuze/ F8lix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, übersetzt von Gabriele Ricke/ Ronald Voullie, Berlin 1992, S. 428ff. 8 Der Begriff »Eigensinn« kann als Grundbegriff des ästhetischen und theoretischen Verfahren Kluges gelten. Siehe: Alexander Kluge/ Oskar Negt, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt am Main, 1981. 9 Roland Barthes, »Die Rauheit der Stimme«, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main, 1990, S. 269–278.
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hergehen: Photographien von Hitler, Architekturskizzen aus dem Dritten Reich. Während die Kamera die stillen Steine des monumentalen Gebäudes hinterfragt, wird auf der Tonspur ein Tonarchiv ausgebreitet, ab und zu unterbrochen durch kurze Hinweise eines anonymen Kommentators. Schon in seinem ersten Film konfrontiert Kluge Bild und Ton und lässt aus der Unbeweglichkeit und dem Schweigen der Steine einen Teil Geschichte hervorbrechen. Was zeigt das Tonarchiv – diese furchtbaren Stimmen aus der Vergangenheit, die nicht mehr existieren oder verstummten und von Entsetzlichkeit und Barbarei zeugen? Der Jubel der rasenden Menge, die Lieder der Hitlerjugend, die Wochenschaustimmen, eine Hitler-Rede oder Auszüge aus Rudolf Höss’ Lebenserinnerungen prallen mit den stillen und schweigsamen Steinen zusammen. Auf den Eröffnungszwischentitel folgt eine statische Einstellung von einem dreiteiligen Tor, daraufhin zoomt die Kamera auf Spuren von Kugeleinschüssen. Dieses Tor öffnet nicht auf eine Außenwelt, sondern verheimlicht vor den Zuschauern das, was sich jenseits des Tores, innerhalb des Gebäudes abspielte – und vielleicht immer noch abspielt. Das verlassene, menschenleere und zerfallene Gebäude versucht, eine schändliche Vergangenheit zu verschweigen. Kluge aber dringt wieder in Geschichte und Erinnerung ein, indem er die trostlosen Bilder der Gegenwart mit der »Tonspur der Tyranneien«10 der Vergangenheit konfrontiert. Diese Stimmen stoßen nicht nur die stillen Steine an, sondern quellen auch aus diesen hervor : Die Architektur des Dritten Reiches hat noch etwas zu sagen, denn die stillen Steine heulen noch immer vor Leid und Schrecken, während sich das unsichtbare Geheul der Stimmlosen der Geschichte jeder visuellen und akustischen Darstellung entzieht. Die Gewalt der Tonspur, die aus den sprachlosen Steinen hervorzukommen scheint, antwortet auf die schonungslose, vernichtende Logik des Totalitarismus und leistet dagegen Widerstand. Die hörbaren tyrannischen Stimmen haben versucht, Andere zum Schweigen zu bringen, ihnen ihre Sprache zu nehmen, das menschliche Wesen in ihnen zu zerstören. Kluges Film lässt die Maßlosigkeit und die Hysterie einer Hitler-Rede ertönen, um durch heftige Kamerabewegungen, Großaufnahmen und Aufnahmen von unten dessen Hybris zu betonen. Keinen didaktischen Film dreht Kluge hier, sondern er konstruiert durch die Konfrontation von Stimmen aus der Nazi-Zeit mit gegenwärtigen Bildern einen Raum historischer Erinnerung. Aus dem steinernen Denkmal ist noch der Ausdruck – ja der Eindruck – der Ideologie des Dritten Reiches zu spüren. In diesem ersten Kurzfilm ist das zu hören, was hinter den Bildern des be10 Marie-Jos8 Mondzain, Confiscation: des mots, des images et du temps, Paris, 2017, S. 27: »La bande-son des tyrannies ne se r8duit pas aux assourdissantes pratiques des chants guerriers et des cantiques. Faire chanter ensemble est le plus s0r moyen de s’emparer de la respiration des corps et d’obtenir le silence de la pens8e dans l’amplification organis8e de ce qu’il faut entendre et de ce qu’on doit clamer.«
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weglosen Gebäudes versteckt bleibt. Die Gewalt des nationalsozialistischen Grauens wird nicht in einer konkreten, im Bild verwirklichten Form versinnbildlicht, sondern in einem anderen Raum als dem des Films, nämlich in dem Riss, der die gegenwärtigen Steine und die vergangenen Stimmen voneinander trennt. So spuken die tyrannischen Stimmen in den unsichtbaren Bildern eines unsagbaren Entsetzens. Im ersten Film Kluges ist auffallend, dass das Voice-Over – das Bilder und Töne nicht wirklich kommentiert, sondern nur auf deren Quelle verweist – sehr lakonisch, obgleich hart und brutal bleibt. In seinen weiteren Filmen und Arbeiten fürs Fernsehen vertieft Kluge eine gewisse Anwendung des Voice-Over als allgegenwärtige, beharrliche und eigensinnige Stimme und macht daraus eines der wesentlichen Merkmale seines Werkes. Das Voice-Over, das unermüdlich die Bilder hinterfragt, nimmt Stellung ausgerechnet gegen die in seinem ersten Kurzfilm zu hörenden tyrannischen Stimmen. Dabei entspricht Kluges Vorhaben dem sprachlichen Widerstand des Philologen Victor Klemperer11 gegen die verarmte und daher gefährliche Sprache des Dritten Reiches. Was geschah der deutschen Sprache damals? Und wie kann man eine dichterische und musikalische deutsche Sprache wiederfinden? So lässt sich die eigensinnige Suche nach authentischen Stimmen auch als verzweifelte, aber nie aufgegebene Suche nach einer komplexen Authentizität begreifen.
Das Authentische an Stimmen Gegen die tyrannischen, eindeutigen und zum Schweigen zwingenden Stimmen erheben sich in Kluges Filmen endlos erklingende Stimmen als authentische Vielstimmigkeit, die aus den Reibungspunkten zwischen zwei Formen von Mündlichkeit entsteht. Das Authentizitätsprinzip nimmt einen wichtigen Platz in Kluges Werk ein.12 Authentizität versteht er nicht als Echtheit im Sinne des Eigenen, des Originalen, so wie die griechische Herkunft authentikos13 es bedeutet, und auch nicht als Autorität. Worauf Kluge zielt, ist keine Glaubwürdigkeit, Aufrichtigkeit, Wahr11 Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Stuttgart, 2015. 12 Siehe: Oskar Negt / Alexander Kluge, »Phantasietätigkeit als Produktion authentischer Erfahrungen«, S. 66–75 in: dies., Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt am Main, 1973. Klaus Eder/ Alexander Kluge, Ulmer Dramaturgien ,a. a. O., »Montage, Authentizität, Realismus«, S. 97–101. Alexander Kluge, »Authentizität«, S. 209–216, in: ders. (Hg.), Bestandsaufnahme: Utopie Film. Zwanzig Jahre neuer deutscher Film / Mitte 1983, Frankfurt am Main, 1983. 13 autor-emtgr bezeichnet derjenige, der selbst eine Tat verübt oder vollbringt. Im erweiterten Sinn meint es original, zuverlässig, maßgebend.
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haftigkeit oder Treue zur Realität, sondern eine Vielfalt von Erfahrungen, die sich erst durch ihre Vielfalt als authentisch erweisen. Dieses Reservoir an Erfahrungen und Gefühlen entspringt der Montage. Aus der Adornoschen Definition der Authentizität als Autonomie und »Zauberwort«14, deren Zweideutigkeit Harro Müller15 betont hat, entwickelt Kluge »Authentizität« nicht als Produkt einer Autorität, sondern einer Situation: Authentizität heißt: dass eine Situation stimmig ist, nicht bloß, dass ein Sachverhalt oder die Formen stimmen. Authentisch ist auch die direkte Konfrontation von kollektivem Umfeld und Individualität, die nicht gegeneinander verwischt werden, sondern auch einen Moment der Produktion von Individualität beinhalten.16
Die Ablehnung jeder Linearität und Eindeutigkeit betrifft den klassischen Unterschied zwischen Fiktion und Dokumentation: Dass etwas authentisch ist, hängt in der Tat nicht davon ab, ob es ausgedacht ist, also einem Wunsch oder einer subjektiven Verformung entspricht, oder ob es objektiv bzw. anfassbar ist. Die Worte »fiktional« oder »originär« sind reine Verwaltungseinteilungen, bilden Rubriken. […] Den Unterschied zwischen fiktional und dokumentarisch kann ich insofern gar nicht verstehen. Aber dass ein Erfahrungsgehalt authentisch und direkt ist, das kann man sehr gut überprüfen, und insofern gilt das Prinzip der Authentizität. Ohne das kann man einen Dialog wegschmeißen.17
14 Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur 2., Frankfurt am Main, 1970, S. 128: »Gewiss ist nicht zu erwarten, dass all diese verzweigten Überlegungen und kritischen Reflexionen, die mitzuteilen einen auf die Sache gerichteten Text völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, in das eine Wort ›Authentizität‹ zusammengepresst wären. Aber in der Stockung, die es bewirkt, flammen all jene Begriffe auf, an die es mahnt und die dennoch vermieden worden sind. Sie bringt mehr vielleicht herüber als ein umgänglicherer, dafür aber der gemeinten Sache unangemessener Ausdruck. Die Hoffnung, dass auf diese Weise die Intention doch sich durchsetze, ist darum nicht gar zu abwegig, weil jene ›Authentizität‹ nicht ein isolierter Klecks ist, sondern weil der Zusammenhang vielfältig gebrochenes Licht auf das Zauberwort wirft.« 15 Harro Müller, Gegengifte. Essays zu Theorie und Literatur der Moderne, Bielefeld, 2009, S. 116: »Insgesamt schreibt Kluge in seinem antirealistischen Realismusprojekt eine Einsicht fort, die Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie so formuliert hat: Jedes authentische Kunstwerk ist autonom und fait social (vgl. Adorno 1970: 16), in: Kluges Diktion Fiktion und Dokument, Montage und ungekürzte Wiedergabe, Märchen und Soziologie (Eder/ Kluge 1980, S. 7). Wie Adorno, dessen skeptische Einschätzung narrativer Verfahren und anthropologischer Fixierungen Kluge nicht teilt, favorisiert er den Authentizitätsbegriff, den er – wie oben dargestellt – äquivok verwendet und der ein Zentrum seiner ästhetischen Überlegungen darstellt.« Siehe auch: Harro Müller, »Verwendungsweisen des Authentizitätsbegriffs bei Theodor W. Adorno und Alexander Kluge«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Frage des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Kontext, Berlin, 2012, S. 50–63. 16 Kluge, Bestandsaufnahme: Utopie Film, S. 214. 17 Alexander Kluge, »Die Augen der anderen. Ein Gespräch zwischen Alexander Kluge und Vincent Pauval«, in: Germanica, Nr. 53(2013), S. 227–248, hier S. 234.
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Die Authentizität der Stimmen, die Kluge sucht, bezeichnet eine spontane und unvorhersehbare Mehrstimmigkeit: Authentizität bedeutet hier nicht Wahrscheinlichkeit oder Realismus, sondern provoziert eine ästhetische Erfahrung, in der das Imaginäre, das Fiktive und die Realität ineinander verschmelzen: »Radikale Fiktion und radikal authentische Beobachtung: das ist das Rohmaterial.«18 Das Rohmaterial, an dem Kluge arbeitet, ist also eine Montage aus Erfahrungen, Wünschen, Gefühlen und Fakten. Verstanden wird das Authentische der Stimmen daher nicht im Sinne ihrer Unmittelbarkeit, die einem Hier-und-Jetzt entspräche, sondern im Sinne ihres vielstimmigen Charakters, des Kontrastes zwischen verschiedenen Stimmen. Auf der Suche nach »so vielen Stimmen, wie es Menschen gibt«, versucht Kluge, eine Art Agora, einen Raum für die Diskussion und die Befragung zu bilden. Mehrere Voice-Over bringen das Bild und das Voice-in der sichtbaren Figuren durcheinander. Aus dem unsichtbaren visuellen Off dringen sie ins Blickfeld ein und verkörpern sich in der Materialität des Bildes, wobei sie den sichtbaren Körper der Figuren mitprägen. In ihrer Opposition gegen Dogmatismus und Barbarei hinterfragen sie das Sichtbare und das Hörbare. Kontrapunktisch erscheinen bei Kluge zwei Formen von Mündlichkeit: die literarische Mündlichkeit eines am Schneidetisch nach den Dreharbeiten geschriebenen Textes, die der Erzähler im Voice-Over verliest, und die spontane Mündlichkeit, die aus einem improvisierten Dialog entsteht. Auf dieser Spontaneität und Improvisation des Dialogs beharrt Kluge: Ich stelle also als Autor lediglich eine Situation her, die den Personen ermöglicht, dass sie sich aufregen. Das gelingt nicht künstlich. Es entsteht etwas zwischen den Menschen, das eigentlich nur der Film aufnehmen kann. Ein Schriftsteller könnte dies nachschreiben, aber imitieren oder erfinden kann man das nicht.19
Durch die Reibungspunkte zwischen der literarischen Stimme und der spontanen, improvisierten Stimme entsteht die Polyphonie als Authentizität, wie etwa in der bekannten Szene zwischen Anita G. und der Vermieterin in Abschied von gestern20. Ausgangspunkt der Szene ist die Situation – der Streit zwischen der Vermieterin und der Mieterin –, nicht der Dialog. Die Schauspielerinnen sind dazu aufgefordert, sich an einen ähnlichen erlebten Streit zu erinnern und aus der eigenen Erfahrung eine neue Streitszene herzustellen. So entsteht die Spontaneität aus der Erfahrung und der Fähigkeit, aus der eigenen Erfahrung eine neue Erfahrung zu erzeugen. Exemplarisch für diese Reibung zwischen literarischer und spontaner Mündlichkeit ist auch eine Szene aus dem Film Die Patriotin. Die Geschichts18 Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, Frankfurt am Main, 1975, S. 208. 19 Kluge/ Pauval, »Die Augen der anderen«, S. 235. 20 Auf diese Szene ist Kluge in Interviews oft zurückgekommen. Siehe ebd., S. 234f.
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lehrerin Gabi Teichert lässt ihre Schüler die Geschichte von Gerta Baethe aus Kluges Text Der Luftangriff auf Halberstadt (1977)21 vorlesen. Im Zweiten Weltkrieg versuchen Gerta Baethe und ihre Kinder, sich vor den Bomben auf Halberstadt zu schützen. Das literarische Fragment aus Kluges Erzählsammlung wird im Film noch weiter fragmentiert. Gabi Teichert und ihre Schüler lesen den Text vor und analysieren ihn, als wäre er eine historische Quelle. Die Geschichtslehrerin fängt mitten in einem Satz an und macht schließlich einen Sprung im originalen Text: […] Bombeneinschläge in der Ferne, war sie gerade mit dem Anziehen der Kinder fertig, da schlagen Sprengbomben in den Luftschutzkeller des Hauses Nr. 9 (Druckerei Koch), ins Haus Nr. 26, in das gegenüberliegende Haus Nr. 69. Die Eingangstür zum Gartenhäuschen bricht, ein Schwall von Staub und Rauch […] Sie fiel zu Boden, zwei Kinder in ihrer Nähe, das dritte Kind rannte herein, klappte zu Boden. Sie dachte: Die sind in der Nähe.22
Dann setzt eine Schülerin das Vorlesen fort: »Es war also wenigstens so, dass Gerdas Truppe nicht in alle Winde auseinanderfetzte, sondern Hautberührung suchte …«23 Daraufhin wird die Schülerin von Teichert unterbrochen und aufgefordert, einen weiteren Sprung zu machen. Als die Schülerin dann mit dem Vorlesen erneut beginnt, schwächt sich ihre Stimme allmählich ab, bis zur Unhörbarkeit: »Es war keine Zeit. Leitsätze einer ›Strategie von unten‹, die Gerda in diesen Sekunden in ihrem Kopf zu versammeln suchte, konnten nicht übermittelt werden…«24 Das Voice-in der Schülerin wird nämlich vom Voice-Over des Erzählers Kluge bedeckt: »Blauer Montag. Unterrichtsstoff: Gerda Baethe. Diese Frau liegt 1944 unter Bomben, will sich wehren. Die letzte Chance, sich gegen das Elend von 1944 zu wehren, war 1928. 1928 hätte sich Gerda Baethe mit anderen Frauen organisieren können.«25 Am Ende des Vorlesens diskutieren die Schüler über einige Stichwörter des Textes, unter anderem über den Begriff »Organisation«, sodass die Diskussion als direkte Reaktion auf den Kommentar des Filmerzählers verstanden werden kann: »Ich kann nicht einfach nur Menschen organisieren, die dann so wie Marionetten machen, die… / Habe ich gerade gesagt… / Uli hat gesagt… Organisation ist tatsächlich 21 Alexander Kluge, Neue Geschichten: Hefte 1–18 »Unheimlichkeit der Zeit«, Berlin, 1978, S. 33–106. 22 Ebd., S. 55. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 56. 25 Ebd.
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die Frage. Man muss sich 20.000 Leute organisieren… Das kann ich aber erst, wenn ich diesen 20.000 Leuten Bewusstsein gegeben habe, dass sie kämpfen müssen…«26
Einige Minuten später greift die Kommentar-Stimme auf jenen Begriff zurück: »Alles ist eine Frage der Organisation«. Die authentische Mündlichkeit behauptet sich dadurch im Netz der Korrespondenzen zwischen Kluges literarischem Text, der Spontaneität der heftigen Diskussion und der literarischen Mündlichkeit des Filmerzählers. Diese spielerische Vermischung von Voice-in, Voice-off und Voice-Over kurbelt die authentische Vielstimmigkeit in Kluges Filmen an. Sind die Voice-in und Voice-off eng an erkennbare Filmfiguren verbunden, so entgeht das Voice-Over jeglicher räumlich-zeitlichen Verankerung. Es schwebt an der Bildoberfläche und ähnelt keiner dogmatischen Kommentar-Stimme. Auch wenn sich die Stimme des Filmemachers seit Die Patriotin in seinen Filmen und seinen Arbeiten fürs Fernsehen immer mehr erhebt, erweist sie sich merkwürdigerweise nicht als allwissende, einen eindeutigen Sinn durchsetzende Stimme. Sie gibt im Gegenteil dem Anderen das Wort. Wem aber leiht der Filmerzähler Kluge seine Stimme, wenn er das Wort ergreift?
Zeitlose und a-topische Stimmen Bei Kluge tauchen die zeitlosen und a-topischen Voice-Over aus einem fragwürdigen Zeitraum auf, in dem die Verschollenen den Überlebenden neues Leben einhauchen und die Überlebenden den Verschollenen eine Stimme geben. Unsere Hypothese ist es, dass die eigensinnigen Stimmen, die aus einem unbestimmten absoluten visuellen Off ertönen, aus der Chira27 aufzutauchen scheinen: weder aus der Welt der Toten noch aus der Welt der Lebenden, sondern aus einem dazwischenliegenden Ort, dessen Spuren der Zuschauer hören kann. Als Ereignis geschehen die Klugeschen Stimmen: Die Konfrontation der spontanen Stimme der Darsteller im Bild mit dem geschriebenen, ausgearbeiteten und vorgelesenen Voice-Over ermöglicht die Erfahrung dessen, was unerwartet kommt – das Treffen mit der Stimme des Anderen. Die Klugeschen Stimmen erlauben Erfahrungen in Form eines »Ereignisses« – »in einer absolut
26 Ebd. 27 Die Aporie der Chira werden wir hier anhand von Platons Timaios und Derridas Chira und Marx’ Gespenster analysieren. Platon, Timaios, herausgegeben, übersetzt, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen versehen von Hans Günter Zekl, Hamburg, 1992. Jacques Derrida, Chira, herausgegeben von Peter Engelmann und übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien, 1990.
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überraschenden Art und Weise, / l’improviste«, so Jacques Derrida in »Denken, nicht zu sehen.«28 Das stimmliche Ereignis im Film spielt mit der Zweideutigkeit des Bildes als Anwesenheit eines Abwesenden. Auf Schatten und Lichter eingestellt, einem unaufhörlichen Abspielen unterworfen, ist das Bild die Spur dessen, was physisch und material abwesend ist. Auch wenn der Zuschauer in seinem ganzen Körper durch die audio-visuelle Erfahrung, die vorbeiziehenden Bilder und die ertönenden Lauten betroffen ist, so kann er sie doch nicht mit der Hand berühren. Auf diese Weise ist der Film zugleich Anwesenheit des Abwesenden und Abwesenheit im Anwesenden. In diesem Sinne gehört die kinematographische Erfahrung, so Derrida in »Das Kino und seine Phantome«, zur Spektralität: »Das Kino ermöglicht es, zu kultivieren, was man die ›Transplantation‹ der Spektralität nennen könnte, es schreibt die Spuren der Phantome ein in eine generelle Verkettung, ins projizierte Zelluloid, das selbst ein Phantom ist.«29 Indem es durch ein technisches Dispositiv Träume und Illusionen projiziert, visualisiert das filmische Medium Gespenster, die weder lebendig noch tot, weder ganz anwesend noch ganz abwesend sind. Die Klugeschen Stimmen sind mit dem Derridaschen Begriff der Spektralität eng verbunden. Die Stimmen des Erzählers sind sich überlagernde Echo-Stimmen und sie machen eine gewisse Anwesenheit spürbar, die keine volle ist, sondern sich auf ein Anderes hin öffnet. Sie bleiben ungreifbar : Wie jedes akustische Phänomen kann man sie nicht in einen abgegrenzten Rahmen einsperren. Sie bleiben in einem anderen Raum und einer anderen Zeit, einem räumlich-zeitlichen Anderswo, das weder auf die Zeit der Vergangenheit noch der Zukunft und nicht einmal der Gegenwart, sondern auf einen unbestimmten Zeitraum hinweist. Als beharrliche Echos schweben sie in der Zeit und verankern sich nicht in einer chronologischen Abfolge. Man kann sie nicht rekonstruieren und dennoch sind sie voller Erinnerungen. Anders als die tyrannischen Stimmen aus Brutalität in Stein sind sie gespenstische Stimmen, die nicht in der Reminiszenz einer längst vergangenen Zeit stecken, sondern wiederkehren: Sie verkörpern das Bild einer unausdrücklichen, aber unendlich ausdrücklichen Erinnerung. Diese Stimmen dringen ins Sehen ein und spuken eigensinnig in 28 Jacques Derrida, »Penser / ne pas voir«, S. 56–78, in: ders., Penser / ne pas voir. Ecrits sur les arts du visible 1979–2004, Paris, 2013, S. 61: »L’exp8rience de l’8v8nement est une exp8rience passive, vers laquelle, et je dirais contre laquelle, arrive ce qu’on ne voit pas venir, et qui est d’abord totalement impr8visible, impr8dictible ; il appartient au concept d’8v8nement que celui-ci vienne sur nous de faÅon absolument surprenante, / l’improviste.« 29 Jacques Derrida, »Le cin8ma et ses fantimes. Entretien avec Antoine de Baecque et Thierry Jousse«, S. 315–335, in: ders., Penser / ne pas voir, S. 321f.: »Le cin8ma permet ainsi de cultiver ce qu’on pourrait appeler des ›greffes‹ de spectralit8, il inscrit des traces de fantimes sur une trame g8n8rale, la pellicule projet8e, qui est elle-mÞme un fantime.«
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unserem Gedächtnis, wobei sie sich der erzählten Zeit der Filmvorführung entziehen. Mit Ironie und Leichtigkeit erfindet Kluge in der Patriotin ein sprechendes Knie. Die Stimme des Knie-Erzählers, der mit der Erzählung der Patriotin beauftragt ist, ist die eines Wiederkehrenden30, insofern er aus der Zeit gefallen ist – so wie das »Gespenst« bei Derrida: »Im Grunde ist das Gespenst die Zukunft, es ist immer zukünftig, es präsentiert sich nur als das, was kommen oder wiederkommen könnte.«31 Die Gegenwart ist sich selbst daher nicht mehr gegenwärtig und weist auf die Gegenwärtigkeit des nicht mehr oder noch nicht Gegenwärtigen hin. Die Wiederkehr (revenance) verschafft dem nicht mehr Gegenwärtigen eine Präsenz, die auch in Zukunft gültig ist. Die wiederkehrenden Stimmen bei Kluge können also in ihrer Spannung zwischen Auftauchen und Verschwinden, Anwesenheit und Abwesenheit, Vergessen und Erinnern, Vergangenheit und Zukunft gefasst werden: Sie bleiben nicht in einem vergangenen Zeitraum, sondern verweisen auf einen zukünftigen. So entpuppt sich das sprechende Knie des gefallenen Obergefreiten Wieland als ein Dazwischen: Es ist der Körperteil, der Unterschenkel und Oberschenkel verbindet, ohne zum einen oder zum anderen zu gehören; es ist das, was Vergangenheit und Gegenwart, die Welt der Toten und die Welt der Lebenden verbindet, ohne Teil der einen noch der anderen zu sein. Als Erzähler aus dem visuellen Off behält es eine körperlose Stimme, eine immaterielle und zeitlose Stimme, die nicht im Hier-und-Jetzt ertönt, sondern die Möglichkeiten eines anderen Zeitraumes erlaubt, in dem sie für »alle Toten des Reiches« Stellung nehmen kann. Die ironische und unzeitgemäße Stimme des Knies kommt aus einem dazwischenliegenden, a-topischen Ort, der weder jener der Toten noch jener der Lebenden ist: Gehörte das Knie einem gefallenen Soldaten, so spricht es dennoch ständig und behauptet seine akustische Anwesenheit. Mitten im Film zeigt eine Sequenz ein Schlachtfeld, das von toten Soldaten und zurückgelassenen Waffen bedeckt ist. Es sind dieselben Bilder, die wir zu Beginn des Films sehen konnten, begleitet von der Musik Hanns Eislers aus Nacht und Nebel (Alain Resnais, 1956). Diesmal stammt die Musik, welche die Stimme des Knies punktiert, aus der Lemminkäinen-Suite von Jean Sibelius. Im Stück »Der Schwan von Tuonela« vertont Sibelius den 14. Gesang des finnischen mythischen Epos Kalevala, in dem der Held Lemminkäinen versucht, den um das Totenreich Tuonela kreisenden schwarzen Schwan zu erschießen. Die aufregende Klangfülle des Solos 30 Hier werden wir nicht auf den bei Derrida nie wirklich klaren Unterschied zwischen den Figuren des Spectre, des Gespenstigen, des Spuks und des Wiederkehrenden zurückkommen. 31 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übersetzt von Susanne Lüdemann, Frankfurt am Main, 1996, S. 69.
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des Englischhornes versinnbildlicht die Stimme des Schwans jenseits der melancholischen Harmonie der Saiteninstrumente. Der durch Sibelius’ Musik erzeugte Eindruck von Ferne verstärkt das Rätsel der Knie-Stimme. Diese begleitet Bilder von Schlachtfeldern, Zeichnungen von Bismarck, Bilder aus der Gegenwart und schließlich eine Großaufnahme des besorgten Gesichts von Gabi Teichert. So wird der Zuschauer in einen absolut anderen Zeit-Raum fortgerissen, wobei das gespenstische und spukhafte Voice-Over die Körper im Bild sichtbarmacht. Dem von der Sibelius-Musik phrasierten Voice-Over des Knie-Erzählers – und dem Klugeschen Voice-Over überhaupt – kann man sich anhand der Aporie der Chira in Platons Timaios und Derridas Buch Chira nähern. Diese Stimme scheint aus einem a-topischen und zeitlosen Ort herzukommen, der sich vom topos, von einem lokalisierbaren und benennbaren Ort unterscheidet und ein Ort ohne Ort, ein Ort des Gespenstes ist. Die Chira bezeichnet in Timaios (48e–51b) die notwendige Artikulation zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen. Bei Platon ist die Chira zugleich Empfängerin und »Amme allen Werdens« und verkörpert ein drittes Geschlecht zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen: Zwischen dem Werdenden (dem Sinnlichen) und »dem, nach dessen Abbildung das Werden in die Natur tritt« (dem Intelligiblen), ist notwendigerweise »das, worin dies Werden stattfindet« (die Chira). Als »Aufnehmerin« empfängt sie Spuren des Sinnlichen, ohne selbst eine Form zu haben: »Daher muss es fernab aller Gestaltung sein, dies, was da alle Arten in sich aufnehmen soll.«32 So bezeichnet sie das Prinzip der Spur selbst, das heißt das, was hohl wird, um das Ereignis und das unerwartet Kommende kommen zu lassen. Die Klugeschen Stimmen – so wie die des Knies – hinterlassen Spuren und zeigen sich als gespenstische Stimmen, von denen man nicht weiß, »ob [sie] wiederkehrend von einem ehemals Lebenden oder von einem künftig Lebenden zeug[en], denn der Wiedergänger kann bereits die Wiederkehr des Gespensts von jemandem oder etwas anzeigen, dem das Leben erst noch versprochen ist.«33 Sie sind nicht ganz da, aber wüssten auch nicht anderswo zu sein. Ihre unheimliche Anwesenheit führt uns zu einem Augenblick, der der Zeit nicht angehört, entweder weil die Voice-Over die Toten sprechen lassen und für diejenigen zeugen, die nicht mehr da sind, oder weil sie sich an die erst künftig Lebenden richten. Die Bilder eröffnen sich dann in der Diskrepanz zwischen einer nie vollen, immer auf ein Anderswo geöffneten Anwesenheit, und einem Objekt, das nie wirklich ist, was es ist.
32 Platon, Timaios, S. 75–81. 33 Derrida, Marx’ Gespenster, S. 159.
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»Ein Phantom stirbt niemals; es bleibt stets zu-künftig und wieder-künftig«34, sagt Derrida. Die authentischen Stimmen bei Kluge kehren ununterbrochen und eigensinnig wieder, um sich den Stimmen entgegenzusetzen, die den Menschen das Schweigen aufdrängen. Sie machen dann die unsichtbaren Körper, die man zu verheimlichen versucht, in einem überraschenden Augenblick sinnlich. Dieser Moment zwingt uns, zu hören, was nicht mehr ist, und beinhaltet das Versprechen und die Hoffnung auf etwas, was noch nicht gefunden werden kann, dessen Spuren es aber noch oder schon gibt. Es ist keine allwissende und allmächtige Stimme, die Kluges Filme durchzieht. Der Filmemacher bevorzugt eine gespaltene und zersplitterte Stimme in unterschiedlichen Formen. Es sind die gespenstischen Stimmen, die für die Toten zeugen, die Bilder bewohnen und eine neue Welt ermöglichen. Die Klugeschen Stimmen, die im absoluten visuellen Off zuhause sind, hinterfragen die Bilder : Sie evozieren, provozieren und zeigen das im Bild Verborgene. Dabei erteilen sie den Toten und den Stimmlosen der Geschichte das Wort. Die Voice-Over als Ereignis und Resonanzkörper erweisen sich als die Stimmen des Anderen, die beim Sprechen ständig in unserer eigenen Stimme spuken. Fragt man nach dem Zeitraum der Stimmen, so scheinen diese jeglicher zeiträumlichen Verankerung zu entfliehen. Als würden sie aus der Chira auftauchen, nähern sie sich auch dem griechischen Theaterchor, der zugleich das Geschehene kommentiert und als Teilnehmer des Geschehens agiert, wobei das Musikalische der Stimmen den Zuschauer in eine Erinnerungsbewegung hineinzieht. Im Winter 2017–2018 ermöglichte die Berliner Ausstellung »Benjamin und Brecht. Denken im Extremen«35 eine schöne Erfahrung der Klugeschen Stimmen: Mitten in verschiedenartigen Installationen über die verwebten Denkweisen Walter Benjamins und Bertolt Brechts stürzt der Besucher auf den »Benjamin-Brecht-Kontainer«, eine Installation Kluges aus Videos, Filmen, Tablets, Abbildungen von Paul Klees Zeichnungen und Musik. Am Ende des ausgedehnten Ausstellungsraums kann der Besucher auf einmal eine vertraute Stimme aus der Ferne hören: Nicht eine einzelne Stimme sondern zwei, ja drei Stimmen, nämlich die von Roswitha Bronski und ihrer Freundin Sylvia aus dem Film Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, zu denen noch die Stimme des Erzählers Kluge hinzukommt. Der Filmauszug zeigt die zwei Frauen beim Singen eines Brecht-Liedes, während Kluge voller Ironie die Situation erklärt: »Mangels eines besseren Zugangs zur Wirklichkeit lernen Roswitha und Sylvia ein Lied von Bert
34 Ebd., S. 159. 35 »Benjamin und Brecht. Denken in Extremen«, Akademie der Künste Berlin, 26. Oktober 2017–28. Januar 2018.
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Brecht auswendig.« So kann der Ausstellungsbesucher das Territorium der vom Bild unabhängigen gespenstischen Klugeschen Stimmen erforschen.
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Lichtfiguren. Die Plastizität des Lichts in Alexander Kluges Minutenfilmen »Die sanfte Schminke des Lichts«
Wir befinden uns in einem Filmstudio, vor uns sitzt Hannelore Hoger auf einem Sessel und liest Zeitung; wir hören, wie Michael Ballhaus seine Anweisungen spricht: »Und bitte!«, »Jetzt der Butterfly.« Wir sehen wie die Beleuchtungsmittel langsam ins Bild geschoben werden und wie sich die Lichtsituation verändert. Die Kamera fährt schließlich langsam auf Hannelores perfekt ausgeleuchtetes Gesicht in einer Großaufnahme zu. Wir werden ZeugInnen, wie eine Erscheinung bzw. eine Figur aus Licht kreiert wird (siehe Abbildung 1). Alexander Kluge hat zusammen mit Michael Ballhaus als Kameramann unter dem Titel »Die sanfte Schminke des Lichts« eine Reihe von kurzen Minutenfilmen gedreht. In diesen widmet er sich dem Effekt des Lichts. Er führt den Prozess des Ausleuchtens vor. Das bedeutet, welche Lichtmittel werden wo positioniert, um diesen oder jenen Eindruck zu erzeugen. Die ZuschauerInnen sind mitten dabei, wie das Licht Formen und Figuren kreiert und wie durch Lichtfarben verschiedene Stimmungen entstehen. Wenn Kluge im wahrsten Sinne Licht ins Dunkle bringt, dann zeigt er eine Seite des Films, die sich im optimalen Fall nicht aufdrängt. Zudem hat er die Filmbilder von Narration befreit und stellt stattdessen die unterschiedlichen Ergebnisse der Beleuchtung nebeneinander, erzeugt so Wirkung. Er enthüllt damit die Lichtsituation als eine gemachte und zeigt, was jeder Filmemacher schon weiß: Wenn man sich mit den natürlichen Lichtgegebenheiten zufrieden gibt, sieht das Filmbild nachher alles andere als natürlich aus. Genügend Licht ist eine Bedingung, um etwas abzubilden genauso wie Licht im Film eine Voraussetzung ist, um etwas zu sehen. Diese Relation ist so natürlich wie kompliziert. Das Licht birgt somit einen gewissen Grad an Lüge in sich, denn sobald genügend Licht zum Sehen vorhanden ist, kommen Zweifel auf, ob das was wir sehen vom Licht verformt wurde oder nicht. Das Licht ist ein unsicherer Grund, wovon Kluge einen kleinen Teil offenbart. In der nachfolgenden Analyse soll es vor allem mit Hilfe des Begriffs der Figur um diese trügerischen Licht-Verhältnisse gehen. Je weiter man in die Materie eindringt, umso deutlicher wird die Komplexität des Zusammenhangs zwischen Licht, Figur, Farbe, Sehen und Berührung. All
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Abb. 1: Stills aus »Die sanfte Schminke des Lichts« mit Hannelore Hoger
diese Bereiche verbinden sich im Kino und gehen eine wunderbare Symbiose ein, die, wie es scheint, nur schwer zu analysieren ist. Denn sobald ein Bereich ausgeschlossen wird, funktionieren die anderen nicht mehr. Die Frage, die sich zunächst stellt, ist die, wie Farben und Licht auf uns wirken. Die subjektive Wahrnehmung soll in diesem Zusammenhang den ersten Ausgangspunkt für unsere Betrachtungen bilden. Zu Anfang soll nicht zwischen Farbe und Licht unterschieden werden, denn Farbe ist Licht, das ist eine physikalische Grundannahme, die seit Isaac Newton besteht. Durch seine Experimente zur Lichtbrechung im 17. Jahrhundert hat er die Betrachtungen von Farbphänomenen grundlegend revolutioniert. Indem er zeigte, dass sich bei Brechung des Lichts die Farben Rot, Orange, Gelb, Grün, Cyan, Blau und Violett ergeben, beantwortete er die Frage: Was ist Farbe? Die Antwort lautete: Farbe ist Licht.1 Newtons unumstößliche physische Beweisführung für die Farbenlehre ließ je1 Vgl. Olaf L. Müller, »Goethes philosophisches Unbehagen beim Blick durchs Prisma«, in: Jakob Steinbrenner/ Stefan Glasauer (Hg.): Farben. Betrachtungen aus Philosophie und Naturwissenschaft, Frankfurt a. M.: 2007, S. 64–101, hier S. 73.
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doch die philosophischen Stimmen, die sich an der Diskussion um Farbwirkung beteiligen wollten, nicht verstummen. Ein Einwand kam von Johann Wolfgang von Goethe. Er ging in seinem Text zur Farbenlehre auf Newtons Ergebnisse ein: »Im zweiten Teil beschäftigen wir uns mit Enthüllung der Newtonischen Theorie, welche einer freien Ansicht der Farbenerscheinungen bisher mit Gewalt und Ansehen entgegengestanden; wir bestreiten eine Hypothese, die, ob sie gleich nicht mehr brauchbar gefunden wird, doch noch immer eine herkömmliche Achtung unter den Menschen behält. Ihr eigentümliches Verhältnis muss deutlich werden, die alten Irrtümer sind wegzuträumen, wenn die Farbenlehre nicht wie bisher, hinter so manchem anderen besser bearbeiteten Teile der Naturlehre zurückbleiben soll.«2
Goethe kritisiert in erster Linie eine überhebliche Rolle der Naturwissenschaften, die er in der Theorie Newtons verkörpert sieht. Goethe versucht die Experimente Newtons nachzuvollziehen und somit den LeserInnen verständlicher zu machen. Seine Ergebnisse sind gleich, jedoch nur unter den exakten Voraussetzungen von Newtons Experiment. Diese Beobachtung veranlasst ihn dazu Newtons Ergebnisse als Hypothese zu bezeichnen. Newtons Schlussfolgerung, dass Licht die Basis für Farben ist, kann zu diesem Zeitpunkt nur als eine Möglichkeit unter anderen Erklärungen angesehen werden, weil die Grundlage des Lichts nach Goethe ebenso Dunkelheit sein könnte. Er verändert die Bedingungen für das Experiment, um das zu beweisen. Er projiziert einen dunklen Fleck durch ein Prisma auf einen weißen Hintergrund und es ergibt sich eine andere Farbenreihung mit den gleichen Farben wie in Newtons Versuch. Goethe schließt daraus, dass Dunkelheit die Grundlage der Farben sein könnte ebenso wie Licht. Goethes Argumentation hat durchaus etwas Provokantes. Seine Kritik richtet sich weniger an die Ergebnisse Newtons als viel mehr an die Absolutheit mit der er sie präsentiert und damit die Naturwissenschaften über die Kunst stellt. Goethe geht deshalb auf die Wirkungsweise von Farben in seiner Abhandlung ebenso ein, um Farben auf mehreren Ebenen zu verstehen. Licht und Dunkelheit sind die Grundlage für Farben, ob sie als Ursprung festgelegt werden oder als Kontrast Nutzung finden. Diese Beziehung lässt sich auch in Kluges Filmen wiederfinden. Jede Veränderung der Lichtsituation bringt eine Veränderung der Farben und umgekehrt. In Kluges »Geschichten vom Kino« spricht er über seine Erfahrungen mit dem Umgang von Licht und Schatten im Film. Im Text »Der Hang zum Dunklen im Farbfilm« heißt es: »Licht schlägt Farbe tot.«3 Gemeint ist damit der Kontrast von Dunkelheit und Farbe, um Farben mehr Intensität zu verleihen. Farben brauchen die Dunkelheit, um zu 2 Goethe, Johann Wolfgang von, »Zur Farbenlehre«, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche: vierzig Bände. Band: 23 Zur Farbenlehre, Hg. Manfred Menzel, Frankfurt am Main: Dt Klassiker-Verl. 1991, S. 6. 3 Alexander Kluge, Geschichten vom Kino, Frankfurt am Main: 2007, S. 204.
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leuchten. Die Verwendung von Schatten und Licht in Kluges Farbfilmen ist ein Erbe aus der Verwendung von Licht und Schatten im Schwarz-Weiß-Film. Kluge verwendet Lichtmittel wie Farben in der Malerei. Das Schwarz wird oftmals als Hintergrund für Farbe verwendet, das vergleicht Kluge mit Rembrandt: »Nach Übergang zum Farbfilm entstand unter den Kameramännern ein Wettlauf wer von ihnen die riskanteren rembrandtfarbenen Dunkelheiten zustande brächte.«4 Diese Verwendung lässt sich heute noch in Kluges Arbeit finden. Eine Ästhetik, die Farbe vor allem nicht alleine wirken lässt. Es herrscht eine Angst davor durch die reine Verwendung von grellen Farben vulgäre kitschige Kunst zu produzieren. Reine Farben wurden meistens in Musikfilmen oder Heimatfilmen verwendet, man möchte sich durch die Farbverwendung nicht in die Nähe dieser Genres begeben. Grelle klare Farben waren das Ergebnis eines Filmverständnisses, das die ZuschauerInnen ablenken sollte, es sollte ein Rauschzustand geschaffen werden. Der Farbfilm hatte sich seit den 50ern keinen erstzunehmenden Ruf geschaffen. Man versuchte dem beizukommen indem man Farbe nur als Ergänzung verwendete. Bei der Analyse, wie Licht wirkt und wie Kluge es einsetzt, ist es sehr wichtig die Position der ZuschauerInnen zu berücksichtigen, weil sich sonst nicht das ganze Spektrum erfassen lässt. Problematisch ist diese jedoch hinsichtlich der Tatsache, dass die eigene (Licht-)Wahrnehmung niemals neutral sein kann, weshalb eine objektive Betrachtung nicht möglich ist, da sich Farbe als psychophysischer Wahrnehmungsvorgang erst in unserem Gehirn vollendet, das heißt, erst durch unsere Wahrnehmung wird die Farbe zur Farbe. Kluge stellt in seinen Filmen vor, wie sich die Menschen durch das Licht vor der Kamera verändern, was den Vorgang des Wandels noch deutlicher macht. Es bedeutet vor allem für die Produktion von Film, die Perspektive der ZuschauerInnen miteinzubeziehen. Um diese Wirkungsweise zu veranschaulichen, soll Maurice Merleau-Ponty hier zur Anwendung kommen. Er versucht vor allem eine Verbindung zwischen einer subjektiven und objektiven Perspektive herzustellen. Dafür verwendet er den Begriff des Fleisches, der bereits eine erste Tendenz zur Taktilität verrät. Er bezieht sich auf die Phänomenologie Edmund Husserls. In der Phänomenologie der Wahrnehmung aus dem Jahr 1945 spricht er von den »Intentionalitäten«, die für eine Verbindung zwischen dem »Ich« und der Welt stehen. Nach MerleauPonty wird eine Idee dann begriffen und der Sinn kann dann daraus hervortreten, wenn sich Subjektivismus und Objektivismus kreuzen. Es soll ein Intersubjektivismus entstehen, der es ermöglicht die Erfahrungen der anderen in der Welt zur eigenen zu machen.5 Dafür ist wesentlich, dass wir als Existenzen 4 Ebd. S. 204. 5 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: 1966, S. 16f.
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von einem doppelstrukturellen Leibe abhängen, der wahrgenommen wird und wahrnimmt, damit sind wir Subjekt und Objekt zugleich. In der Besprechung von Licht und Farbe gilt es daher eine subjektive Perspektive miteinzubeziehen. Diese Perspektive ist von nicht geringer Bedeutung, weil Licht vor allem Figuren ausbildet, wodurch sich eine Dimension eröffnet, die plastisch ist, und jede Plastizität eine Berührung impliziert, ob diese nun stattfindet oder nicht. Auch wenn wir nur mit unseren Augen sehen, berühren wir doch und werden berührt, und jede Lichtveränderung ist ein Teil dieses Prozesses. Wenn Kluge beispielsweise das Licht wie Schminke verwendet und die Hauttextur dadurch unterschiedlich erscheint. Dafür vergleiche man Hannelore Hoger und Sofie Linke (siehe Abbildung 2). Während Hogers Haut prall, warm und gesund wirkt, erscheint Linke im Gegensatz dazu fast schon leichenartig vor dem kühlen LED Bildschirm. Der Prozess des Berührens wird hier bei jeder Lichtveränderung mitgedacht. Merleau-Ponty hat deshalb den Terminus des Fleisches für die Beschreibung dieses Zustandes keineswegs rein zufällig gewählt, suchte er doch einen Begriff für den gemeinsamen Wirkungsort von Licht und Farbe zu etablieren, was ihm mit Beteiligung von Ren8 Descartes, der eine objektive Position bei der Betrachtung von Farbe vertrat, und Edmund Husserl, der für eine subjektive Haltung einstand, nach langem Hin und Her gelang. Descartes sowie Husserl bilden die Extreme im Spektrum der Analyse: einerseits ist die Farbe der Geometrie untergeordnet, andererseits stellt das betrachtende Subjekt die einzige Referenz dar. Bei Merleau-Ponty steht die Farbe nun für das Sichtbare. Er löst sich von der Vorstellung, »daß eine bloße Farbe und allgemein etwas Sichtbares kein absolut hartes und unteilbares Stück Sein ist, das sich ganz unverhüllt einem Blick offenbart […], sondern eher eine Art Engführung zwischen stets aufklaffenden äußeren und inneren Horizonten, etwas, das verschiedene Regionen der Farbwelt und der sichtbaren Welt sanft berührt und sie von weitem anklingen läßt […] weniger also Farbe oder Ding als Differenz zwischen Dingen und Farben.«6
Der Begriff des Fleisches meint diesen Zwischenraum, also diese Differenz, ohne sich auf eine Seite schlagen zu wollen. Anstatt nur eine zu überwindende Zwischenstation auf dem Weg zu einer Definition von Farbe zu bilden, entwickelt sich die Differenz in Merleau-Pontys Argumentation vielmehr zu einem Referenzpunkt. Er verdeutlicht diesen Begriff anhand der Malerei von Paul C8zanne, dessen Malweise als eine die Welt in ihrer Dichte wiedergebende beschrieben wird. Das aus dem Jahr 1885 stammende Bild »La Montagne Sainte Victoire vue de Bellevue« ist beispielhaft dafür, denn C8zanne drückt hier Intensitäten in Form von Licht und Farbe aus. In diesem Bild werden grobe Farbflächen genutzt, 6 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen. München: 1994, S. 175.
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um eine Berglandschaft darzustellen. Dass Umrandungen bzw. Konturen der ausfüllenden Farbe untergeordnet sind, fällt zweifelsohne auf. Die Farben Braun, Grün und Grau dominieren im Bild die groben Farbflächen [der Landschaft]. Durch diese Technik entsteht vor allem wenig Tiefe und keine Perspektive, sondern mehr Struktur, was unter anderem auf den pastosen Farbauftrag zurückzuführen ist. Merleau-Ponty sieht in dieser Malweise eine präzise Art, Farbfülle zu erzeugen, und somit die Form zu vollenden.7 Das mag zunächst paradox erscheinen, denn, wie kann eine Form ohne Kontur vollendet werden, wenn diese doch das Grundgerüst darstellt? Sehr lange herrschte in der Malerei eine hierarchische Ordnung, wonach Linien und geometrische Formen den Vorrang gegenüber der Farbe hatten. Der Grund dafür ist sicherlich in der Wirkung von Farbe zu suchen. Die Schwierigkeit Farbe einzuordnen, führte schließlich dazu, ihr eine zweitrangige Stellung zu verleihen. Die Prädominanz der Farbe in C8zannes Malerei brachte ihm folglich den Ruf eines vulgären Malers ein.8 Er konzentriert sich nicht auf eine illusionistische Perspektive, die mehr Distanz zu den BetrachterInnen schafft als es die Struktur vermag. Die Farben tragen ihr Übriges dazu bei, indem sie von ihm als Wirkung in eine primäre Position gebracht werden. Das ist eine gewagte Vorgehensweise, da bei der Farbwahrnehmung, ein wesentlicher Teil der Interpretation immer bei den BetrachterInnen bleibt. Für Merleau-Ponty stellt C8zanne daher eine primordiale (ursprüngliche, vor-empirische) Perzeption dar, in der es »keinerlei Unterschied zwischen Tast- und Gesichtssinn«9 gibt. Er versteht C8zannes Art zu malen als eine Örtlichkeit, in der die Gegenstände in keinem bestimmten Verhältnis zueinanderstehen, wo Dinge zugleich und gleichwertig sein können, was sie wiederrum nicht in einer bestimmten Position zu uns verorten lässt. In C8zannes Bild gibt es keine Fluchtperspektive, denn Berge und Wald wirken wie auf einer Ebene. Gegenstände werden weder in Formen aufgelöst wie bei den Kubisten, noch in Lichtpunkte wie bei den Impressionisten. C8zanne versucht stattdessen mit Linie, Form und Farbe gleichzeitig umzugehen. Die Kunst kann die Dinge aufsprengen und zu einem neuen Verständnis führen. Es geht darum, Dinge sichtbar zu machen und nicht das Sichtbare zu imitieren.10 Merleau-Ponty schlussfolgert daraus, dass das Sehen, die Malerei nicht allein bestimmen kann, viel mehr sollten alle Sinne als gleichwertig verstanden werden. Diese Erkenntnis ist für die Malerei ebenso bedeutend wie für das Kino. Im Kino sind Zeit und Bewegung wesentliche Elemente. Für den Tastsinn ist Be7 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, »Der Zweifel C8zannes«, in: Christian Bermes (Hg.), Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg: 2003, S. 3–29, hier S. 12. 8 Vgl. David Bachelor, Chromophobia, London: 2000, S. 22f. 9 Merleau-Ponty, »Der Zweifel C8zannes«, S. 12. 10 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, »Das Auge und der Geist«, in: Christian Bermes (Hg.), Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg: 2003, S. 275–317, hier S. 307.
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wegung ebenso wichtig. Die Bewegung des Körpers und der Hand ist von entscheidender Bedeutung für das Begreifen eines Gegenstandes, besonders wenn die Funktion des Sehens ausgeschaltet ist. Nach Merleau-Ponty sind Tastsinn und Bewegung genauso miteinander verbunden, wie das Sehen mit dem Licht: »Was für das Sehen die Beleuchtung ist, ist für das Fühlen die Bewegung des eigenen Leibes.«11 Das heißt im Umkehrschluss, dass wann immer die ZuschauerInnen in einem emotionalen affektiven Sinne bewegt werden, auch der Körper involviert ist, und wenn diese Bewegung auf das Licht zurückzuführen ist, dann scheinen die Unterschiede zwischen den Sinnen weniger groß. Zwar können wir mit unseren Augen nicht berühren wie mit unseren Händen, jedoch orientieren wir uns im Raum durch das Sehen, was es damit auch zu einer tastenden Bewegung macht. Die Wahrnehmung von Farbe und Licht ist allerdings eine ganz grundsätzliche taktile Erfahrung und damit ebenso eine körperliche. Farbe ist keine Dekoration, sie ist Teil eines taktilen Grundes, Teil der Dinge, und wenn wir die Dinge berühren können, dann kann uns die Farbe auch berühren. Sobald Licht und Farbe nur noch als ein Phänomen des Auges betrachtet wird, stehen sie in der Kinosituation in keinem anderen Zusammenhang mehr, als von uns beobachtet zu werden. Dieser Logik folgend, wäre das Kinodispositiv an sich etwas, das uns nicht bewegen kann, herrscht doch eine zu große Distanz zwischen den Zusehenden und den abgebildeten Dingen. Das steht jedoch im Kontrast zur beabsichtigten intensiven Wirkung auf die ZuschauerInnen vieler Filme. Im Folgenden soll untersucht werden, wie dieser Status des Involviert-Seins mit der Figur und insbesondere mit der Lichtfigur bei Kluge zusammenhängt. Auch Gilles Deleuze setzte sich mit der Malweise C8zannes auseinander, die er als eine Zusammenkunft vonseiten der BetrachterInnen und der Seite des Betrachteten als eine ideale Sensation versteht. Er greift den Begriff des Fleisches von Merleau-Ponty auf und meint damit, dass sich etwas zwischen Subjekt und Objekt befindet. Dafür kann es nicht einfach eine Auflösung der Elemente geben, so wie es die Impressionisten durch Lichtbrechung versucht haben, sondern es braucht hierfür vielmehr etwas, das berührt werden kann.12 Darum unterscheidet er zwischen Figur und Figurativem, wobei die Figur eine Kraft ausdrücken kann und das Figurative diese Kraft verzerrt. Die Figur ist schließlich das, was wir in Form des Fleisches berühren können. Deleuze analysiert hierfür Francis Bacons Malstil, weil seine Figuren wie aus Fleisch geformt erscheinen und zugleich noch als Malerei erkennbar bleiben. Für Bacon war der Vorder- und Hintergrund sehr wichtig, um ähnlich wie bei C8zanne, entweder eine Dimension bzw. eine Perspektive zu verhindern oder hervorzubringen. Bei Bacon wird 11 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 364. 12 Vgl. Gilles Deleuze, Francis Bacon. Logik der Sensation, München: 1995, S. 27.
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die Figur vom Hintergrund verschlungen, bei C8zanne dagegen entsteht eine vitale Bewegung der Farben, die kaum eine Perspektive zulassen. Die beiden Begrifflichkeiten zur Figur, die Deleuze hier anwendet, werden später mit Philippe Dubois noch weiter im Detail ausgeführt werden, auch er spricht nämlich von Kräften, die verhindert oder ermöglicht werden. Kluge bildet diese Form ebenso in seinen Filmen heraus. Aus dem Dunklen macht er langsam eine Form bzw. eine Figur. Wir sehen, wie das Licht als Material genutzt wird. In Kluges Text »Die sanfte Schminke des Lichts« beschreibt er die Arbeitsweise des Kameramanns Franz Weihmayr, der als Künstler das Gesicht der oder des Gefilmten modelliert und erschafft. Die optischen Voraussetzungen, die das Model mitbringt, mögen unterschiedlich sein, eine wirkliche Veränderung der Figur vor der Kamera mag dennoch nur das Licht erzeugen können, Make-up und Frisur sind nur Beiwerk. Dies wirft die Frage auf: Wird hier präsentiert oder repräsentiert? Lügt das Licht? Weihmayr würde darauf antworten: »Das ist keine Lüge. Das Licht lügt ja nicht. Ich entscheide, was ich dem Lichtfresser, meiner Debrie, vorlege. Etwas anderes als ich will, bekommt sie nicht.«13 Das Licht ist da und zeigt, was da ist, es wird keine Lüge konzipiert, es wird etwas präsentiert, das schon da ist (es lügt höchstens der, der das Licht verwendet). Erst die Entscheidung, in welche Form (figurativ oder Figur) das Licht gebracht wird, führt zur Frage der Repräsentation, welche dann wiederum als Wahrheit oder Lüge im Sinne der Ähnlichkeit interpretiert werden kann. Wenn das Licht jedoch als ein natürliches formbares Element verstanden wird, dann erübrigt sich die Frage nach der Wahrheit. Egal in welcher Form Licht im Kino zum Einsatz kommt, es bleibt Wahrheit. Diese Herangehensweise hätte die Filmemacher in den frühen Anfängen des Films, als man sich mit der Farbe auseinandersetzte, weitergebracht. Die sklavische Abbildung von natürlicher Farbe war das kreative Hemmnis, das Geschmack zum Leitmotiv machte und nicht die Präsenz. Ab den 1930er Jahren versuchte man mit Technicolor oder Agfacolor Farben so natürlich wie möglich abzubilden und übersah dabei in welchem Verhältnis Licht und Plastizität stehen, oftmals mit der Begründung, dass alles, was nicht natürlich repräsentiert wird, eine Zumutung für das Auge des Zuschauers darstelle. Natalie M. Kalmus, die Farbberaterin in der Abteilung Color Advisory Service bei Technicolor, sprach in diesem Zusammenhang von »eye strain«: »A superabundance of color is unnatural, and has a most unpleasant effect not only upon the eye itself, but upon the mind as well.«14 Der als angenehm bewerteten Natürlichkeit kommt also eine bevorzugte Rolle zu, was sich fortan auch in der Farbgestaltung der Filme zeigen sollte. Allerdings wird hierbei 13 Kluge, Geschichten vom Kino, S. 22. 14 Natalie Kalmus, »Color Consciousness«, Journal of the society of Motion Picture engineers, August 1935, S. 139–147, hier S. 142.
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übersehen, dass nicht von der eigentlichen Farbe bzw. vom eigentlichen Licht die Rede sein kann, sondern vielmehr vom Kontext und der Form, in die sie gebracht werden. Es ist nämlich auch diese Form, die uns bei Filmen im Gedächtnis bleibt. Mit Philippe Dubois soll auf diese Form näher eingegangen werden. Er spricht in diesem Kontext von einem figurativen Gedächtnis, was gleichzeitig die Plastizität der Dinge einschließt. Er meint damit das, was im Film nicht angesprochen wird, sondern wirkt und dauerhaft in unserem Gedächtnis bleibt und was wir zum Teil nicht erklären können. Im Film sind mitunter Licht und Farbe dafür verantwortlich, dass wir uns an ein bestimmtes Gefühl und an einen bestimmten Eindruck erinnern, weil es uns berührt hat. Hier stellt sich wieder die wechselseitige Beziehung von berühren und berührt werden ein. Dubois setzt sich in erster Linie mit Alfred Hitchcocks Filmen auseinander, um zu erklären, wie diese einen Eindruck auf nicht narrativer und symbolischer Ebene erzeugen. Dafür trennt er zwischen figurativer und figuraler Dimension. Diese Unterscheidung ist ähnlich der, welche bereits mit Deleuze angesprochen wurde. Genauso wie die Farbe bei C8zanne, ist das Licht Teil der figuralen Dimension, denn sie verweist auf das Plastische. Zugleich macht sie die visuelle Präsenz der Form aus, und meint damit nicht nur die figurative Ordnung, sprich die Geometrie, was auch bei Deleuze das Figurative wäre. Dubois beschreibt die figurative Ordnung als die Narration des Films. Im Bezug darauf, wie diese Elemente auf uns als ZuschauerInnen wirken, unterscheidet er weiter zwischen »Macht« und »Kraft«: »dann könnte man also einen Schritt weitergehen […] um eine weitere grundlegende Unterscheidung einzuführen […] dass jene NarrationRepräsentation mehr eine Macht-Maschine sei, wo die Präsenz-Figuration eher als eine Kraft-Maschine erscheint.«15 Die Narration führt und leitet die ZuschauerInnen – Hitchcock beherrscht dies meisterhaft – was jedoch nicht bindend mit Kraft zusammenhängen muss. In Kluges Beispiel fällt diese Ebene komplett weg, da es weder Anspruch darauf gibt, etwas zu erzählen, noch darauf, Macht auszuüben. Das Licht erzählt in Kluges Filmen zwar eine Geschichte, jedoch nicht auf eine figurative Weise, sondern durch die Dimension des Plastischen. So sehen wir in »Computer & Candle Light« Sofie Linke vor einem Computerbildschirm sitzen. Ihr Gesicht wird von dem enorm kalten blauen Licht des LED Bildschirms beleuchtet. Es wirkt kränklich und fahl, ganz im Gegensatz zur nächsten Szene als sie vor einigen brennenden Kerzen zu sehen ist. Der Gesichtsausdruck ändert sich mit der Lichtstimmung von einem eisig krankhaften Ausdruck zu einer warmen romantischen Expression. Nicht nur ihr Ge-
15 Philippe Dubois, »Plastizität und Film. Die Frage des Figuralen als Störzeichen«, in: Oliver Fahle (Hg.), Störzeichen. Das Bild angesichts des Realen, Weimar : 2003, S. 113–135, hier S. 121.
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sichtsausdruck scheint sich zu ändern, sondern sogar ihre Persönlichkeit, so dass man sich fragt, ob es sich noch um die gleiche Frau handelt.
Abb. 2: Stills aus »Die sanfte Schminke des Lichts« mit Sofie Linke.
Dubois beschreibt diese Wirkung folgendermaßen: »Die Kraft des Bildes ist eine reine (manchmal dekonstruierende) Kraft, die, ohne in der Lage zu sein, die Auswirkungen zu steuern, nicht meßbare Empfindungen erzeugt, die auf mehr oder weniger intensive Art und Weise auf die Affekte der Zuschauer einwirken.«16 Dieser Eindruck hat etwas Unbestimmbares an sich, weshalb Dubois versucht, diese in Begriffe zu fassen. Er baut damit auf Deleuzes Begriffen auf. Das emotionale und affektive Innenleben der ZuschauerInnen kann sich ähneln oder sehr unterscheiden. Das macht die Filmanalyse, die diese Unbestimmtheit miteinbezieht, sehr vage. Jeder Versuch diese Kraft, die vom Film ausgeht, in Worte zu fassen, ist eine Geste, die Sinn erzeugen sollte, selbst dort, wo keiner zu sein scheint. Dubois dagegen versucht die beschriebene Kraft als Figur einzuordnen und diesen Begriff je nach Wirkungsweise weiter einzuteilen, wobei er auf interessante Aspekte stößt. Seine Unterteilung basiert auf vier Bereichen: Das Figurative, das Figurierte, das Figurable und das Figurale. Die Begriffe bewegen 16 Ebd., S. 122.
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sich von der Ikonographie über die Metapher, bis hin zum Figuralen, das die unbestimmte Kraft ausdrückt. Die letzten beiden Kategorien sollen zuerst betrachtet werden. Die vorletzte Kategorie das Figurable meint die mit Kraft versehene Figuration, diese Form interessiert sich vor allem für die Grundlage der Figur, will heißen: Welche Kräfte liegen ihr zu Grunde?17 Im Fall von Kluge wäre das Figurable die Frage nach der Wirkung von Licht bei uns als ZuschauerInnen, sprich: Wie bringt es etwas in uns hervor, von dem wir nichts wussten? Wie empfinden wir, wenn wir eine bestimmte Farbe sehen? Das Figurale meint den Prozess, der dies auslöst. Es bezeichnet ein immer Werdendes. Dadurch, dass es schwer zu beschreiben ist, lässt es sich leichter durch das definieren, was es nicht ist. Es ist nicht das Figurative, das Ikonographische und nicht das Figurierte, das Ikonologische.18 Dubois unterteilt das Figurale dann weiter in das Bildereignis, den Riss, die Präsenz und das Detail, womit er einen weiteren Versuch wagt, dem unbestimmten Bereich der Kraft noch mehr beizukommen. Dubois beschreibt es, wie folgt: »Das Figurale in einem Film zu betrachten, heißt auch auf gewisse Weise, den Film beim Sehen zu betrachten. Die Handlung des Sehens selbst stellt sich hier deutlich als Verfahren aus.«19 Mit dieser Darstellung wird das Bildereignis verdeutlicht, dem sich Kluge zuwendet, wenn er die Natur des Lichts beschreiben will. Der langsame Aufbau der Beleuchtung auf Hannelore Hoger, kombiniert mit Ballhaus’ Anweisungen, macht die Inszenierung und unsere Wahrnehmung des Lichts zu einem Ereignis. Es wird gezeigt, wie der Film sieht. Kluge zeigt in »Nachts träumen die Lampen des Ateliers von ihrem wahren Leben«, wie Sinn erzeugt wird. Das Bildereignis als Teil des Figuralen lässt den Zuschauer in Staunen zurück, verblüfft und macht vor allem verständnislos. Was Kluge in diesem Film einzufangen versucht, ist das Ereignis des Lichts, wie es als Maschinerie an der Decke hängt und wie eine blinkende »Armee« von Beleuchtung auf uns wirkt. Die Ereignishaftigkeit wird verstärkt durch die traumartige Inszenierung in slow motion und Hannelore Hoger mit einer wilden Drapierung aus reflektierender Folie auf dem Kopf. Das Licht ist kein neutrales Element in diesem Film, es wird durch die Möglichkeit Figuren zu erschaffen, eine Dimension eröffnet, die uns direkt berühren kann. Wie diese Berührung weiter aufzuschlüsseln ist, bleibt eine Mammutaufgabe der Phänomenologie und der Affekttheorie. Der Anspruch unserer Abhandlung lag darin, den Begriff der Figur zu verwenden, um die Wirkungsweise von Licht und Farbe in Kluges Filmen zu verdeutlichen. Die Form kann ein guter Anhaltspunkt sein, um die Position der ZuschauerInnen miteinzubeziehen. Die Verwendung des Begriffs »Figur« erlaubt es, die Sinne im Kino auf eine Ebene zu 17 Vgl. Ebd., S. 124. 18 Vgl. Ebd., S. 125. 19 Ebd., S. 126.
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bringen, was bedeutet, das Tasten und Sehen zu verbinden und damit die Wahrnehmung von Farben als eine taktile Erfahrung zu beschreiben. Es sollte gezeigt werden, dass die Wahrnehmung von Farbe der Berührung nahe steht und damit den Körper der ZuschauerInnen miteinbezieht.
Quellen Bachelor, David, Chromophobia, London: Reaktions Books Ltd 2000. Deleuze, Gilles, Francis Bacon. Logik der Sensation, München: Wilhelm Fink Verlag 1995. Dubois, Philippe, »Plastizität und Film. Die Frage des Figuralen als Störzeichen«, Störzeichen. Das Bild angesichts des Realen, Hg. Oliver Fahle, Weimar : Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaft 2003, S. 113–135. Goethe, Johann Wolfgang von, »Zur Farbenlehre«, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche: vierzig Bände. Band: 23 Zur Farbenlehre, Hg. Manfred Menzel, Frankfurt am Main: Dt Klassiker-Verl. 1991, S. 6. Kalmus, Natalie, »Color Consciousness«, Journal of the society of Motion Picture engineers, August 1935, S. 139–147. Kluge, Alexander, Geschichten vom Kino, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. Müller, Olaf L., »Goethes philosophisches Unbehagen beim Blick durchs Prisma«, Farben. Betrachtungen aus Philosophie und Naturwissenschaft, Hg. Jakob Steinbrenner, Stefan Glasauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 64–101. Merleau-Ponty, Maurice, »Das Auge und der Geist«, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hg. Christian Bermes, Hamburg: Meiner 2003, S. 275–317. Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen. München: Fink 1994. Merleau-Ponty, Maurice, »Der Zweifel C8zannes«, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hg. Christian Bermes, Hamburg: Meiner 2003, S. 3–29.
Alexander Kluge
Großaufnahme eines Grasbüschels
In den Büros oben schrillen die Telefone. Hier am Straßenrand ein paar Grasbüschel. Wir sind hinuntergerannt und beabsichtigen, eine Aufnahme dieses Grasbüschels zu machen. Die Chef-Cutterin verlangt eine solche Aufnahme. – Die Kamera steht zu hoch, Herr Lüring. – Es geht nicht tiefer. Wir nahmen die Kamera vom Stativ. Auch auf ebenem Boden aufgesetzt, stand die Optik zu hoch im Verhältnis zum Grasbüschel. Man mußte eine Vertiefung graben, dort, wo die Hunde auf dem schmalen Feld zwischen Gehsteig und Straße sonst ihren Kot niederlegen. Aus dieser Vertiefung heraus war das Grasbüschel gegen das von den herbeifahrenden Kraftfahrzeugen schattierte Licht gut auszumachen. Es war eine Einzelheit. Wir brauchten das Bild, um eine Spielhandlung, die sich in ihrer Wichtigkeit aufgeplustert hatte, durch Montage zu dämpfen. – Herr Lüring, nehmen Sie die längere Brennweite. Die Bewegungen auf der Straße hinter dem Büschel sollen verwischen. – Sie sollen nur als Schatten zu sehen sein? – Als Licht, Schatten und reiche Grauwerte, um die Wichtigkeit zu betonen. (aus: Geschichten vom Kino, S. 206)
Hilda Inderwildi
Im Dickicht der Sinne, ein melancholisches Gefühl. Betrachtungen zu Dezember von Alexander Kluge und Gerhard Richter
In Dezember, dem gemeinsam mit Gerhard Richter 20101 veröffentlichten Künstlerbuch, kontrastieren Kluges Geschichten mit den Landschaften Richters: »Das sind zwei Welten. Ich kann dem Affen Zucker geben. Ich kann dramatisieren. Richters Fotos hingegen, diese ruhigen, magischen Ewigkeitsbilder, lassen sich durch nichts erschüttern.«2 Wie eine Art Flash News vollziehen die Texte Sprünge auf der Zeitskala – von 21.999 v. Chr. bis 31.12. 2009 – und bilden eine Sammlung von Lebens- und Geschichtsmomenten, zwischen bitterer Komödie und intimem Leid: Es scheint, als würden die Selbstbesinnung und die Zurückgezogenheit der Berge in Sils Maria unentwegt vom Lärm der Welt erschüttert. Den Texten gegenüber befinden sich Bilder schneebedeckter Wälder, die von keiner, oder fast keiner, Anwesenheit gestört werden. Sie laden zur Kontemplation, wenn nicht sogar zur Andacht ein und betten den Betrachter in die langsame Zeitlichkeit unscheinbarer Veränderungen, eine Art Zeitlosigkeit. Die meisten dem Buch gewidmeten Rezensionen und Studien beginnen mit der Hervorhebung dessen, was auf den ersten Blick als zutiefst unzusammenhängend, sogar als Dissens erscheint, bekräftigt durch Kluges Worte. Diese Offensichtlichkeit ist jedoch zu kurz gesehen: Ein »gedehnter Blick«3 auf Richters Fotos enthüllt deren Unheimlichkeitspotenzial, ihre subtile Mischung aus Ausgeglichenheit (Ruhe, Magie, sagt Kluge), kalter Gleichgültigkeit und möglichem Schrecken, stets in Resonanz mit den Wendungen, den flüchtigen Launen und tiefgründigen Fragestellungen, die die Geschichten Kluges durchdringen. Die folgende Analyse zielt auf die Übergänge von einer Empfindung zur 1 Alexander Kluge/ Gerhard Richter, Dezember, Berlin 2010. Im Nachfolgenden mit »D« abgekürzt. 2 »Gerhard Richter zeigt den Winter«, in: Rheinische Post, 21. 10. 2010. [https://rp-online.de/kul tur/gerhard-richter-zeigt-den-winter_aid-12607875]. 3 Diese Art Blick wird von Wilhelm Genazino 2004 in seinem gleichnamigen Werk, Der gedehnte Blick, aufgearbeitet. Es handelt sich um einen offenen und verlängerten, ›perzeptiv-rezeptiven‹ Blick, der auf den Dingen verweilt, um ihr Aufblühen zu ermöglichen. Das fotografische Medium erscheint als quasi natürliche Ausweitung dieses Blickmodus.
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nächsten und die Umstände dessen, was ich »intermediale Präzipitation« nenne.4 Sie tut der evidenten Pertinenz anderer Lesearten, wie etwa einer vom Zufall ausgehenden5, keinen Abbruch, sie versteht sich jedoch als zugleich präziser und weitreichender. Der Meteorologie entlehnt, stellt der an die Empfindung gebundene Begriff der »Präzipitation« eine Möglichkeit dar, die zwei Ausdrucksweisen, Bild und Text, zu erfassen und zu zeigen, wie sich das Heterogene transformiert, wie es Sinn macht. Dieser Zugang nähert sich in mehreren Aspekten dem öko-kritischen Prisma von Urs Büttner6 an, aber sie orientiert sich im vorliegenden Fall mehr an Bildern des Waldes als an jenen der Kälte, um die Ketten des Sinns und die Vernetzung der Sinne nachzuvollziehen. Dem Lauf der Fotografien und Geschichten von Dezember folgend, liegt ihr die Hypothese zugrunde, dass sich nicht nur dieses, sondern die Werke von Kluge und Richter allgemein, um die Achsen Raum und Zeit kristallisieren, in einem Materialismus, der sich jeglicher Form von Hierarchisierung verweigert. Der Natur dieser Hypothese entsprechend soll meine Interpretation die Nähe zu einer solchen Hegemonie vermeiden, indem sie sich vor der quasi instinktiven Tendenz zur Homogenisierung des Heterogenen hütet. ***
4 Da mir die additive Perspektive einer Kopräsenz der Medien zu beschränkt erscheint, betrachte ich Intermedialität als einen Blickwechsel (Emmanuel Wallon) und in Bezug zum Raum: einen Raum, in dem es möglich ist, Elemente zu deponieren, um Prozesse der Formierung und Transformierung des Heterogenen im chemischen, ja meteorologischen Sinne, der Präzipitation, besser wahrzunehmen. Mehr noch als der Begriff der Träger (Pric M8choulan) erlauben es die konkreten und dynamischen Begriffe des Raums, die konstitutiv für Kunst und Meinung sind, und der Präzipitation als Potentialisierung des Seins, die Bewegung der intermedialen Elaboration so nah wie möglich an den Schöpfungsprozessen, dem Leben der Künstler, im Laufe der Zeit und an den Orten der Schöpfung zu erfassen, indem die Praxen der Sinnstiftung, vor allem der Begriff der Grafie, ausgeweitet in seinen skripturalen, körperlichen und plastischen Bedeutungen, untersucht werden. Dies sind die Postulate der Habilitationsschrift, die ich zurzeit dem künstlerischen Dialog zwischen Kluge und Richter widme. 5 Maud Hagelstein/ C8line Letawe, »Alexander Kluge/Gerhard Richter. L’art contre le hasard«, in: Gr8gory Cormann/ Jeremy Hamers/ C8line Letawe, Lecteurs/Spectateurs d’Alexander Kluge, Cahiers d’Ptudes Germaniques/69, Montpellier/Nizza 2015, S. 105–116. 6 Urs Büttner, »Nature Makes History : Narrating Nature in Gerhard Richter and Alexander Kluge’s Dezember«, in: Fekadu/Straß-Senol/Döring, Meteorologies of Modernity. Weather and Climate Discourses in the Anthropocene, REAL – Yearbook of Research in English and American Literature: Vol. 33, Tübingen 2017, S. 217–233. Die ökokritischen Interpretationen finden ihren Höhepunkt in der Deutung von Gunther Martens, »Alexander Kluges literarisches Oeuvre als ›Cli-Fi‹«, in: Rainer Stollmann, Thomas Combrink, Gunther Martens (Hg.), Stichwort: Kooperation. Keiner ist alleine schlau genug, Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 4, Göttingen 2017, S. 203f.
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Mystifizierung der Sinne, die Bilder im Bild Richters Bilder zeigen in Dezember unabänderlich Bäume und Schnee, im Schnee gefangene Bäume, aus größerer oder geringerer Nähe aufgenommen, hier und da mit einem Felschaos (22.12.) oder einer Kammlinie, die man mehr erahnt als sieht (25.–26.12.). Es lässt sich nur schwer sagen, ob das Wetter gut oder schlecht ist. Horizonte sind selten und undeutlich. Sie tauchen nur auf sechs Fotos auf, vom 25. bis 30. Dezember, sowie auf dem Schlussbild. Der Boden ist vor dem 22. Dezember ebenso wenig präsent oder kaum identifizierbar. Die Zweidimensionalität, die Verdichtung des Raumes ohne Perspektive und die Vergrößerung des Astwerks vermitteln das Gefühl, dass man sich in einem ebenso figürlichen wie abstrakten Labyrinth befindet, in dem die Wirklichkeit auf Grund der Details und der Nachempfindbarkeit der Stoffe auf jeden Fall eine besondere Dichte gewinnt. In ihrer Entwicklung über Serien und Wiederholungen, scheinbar geringfügige Abwandlungen, die eine besondere Aufmerksamkeit und interpretative Arbeit erfordern, sind Richters Fotos mit Kluges Fragmenten vergleichbar. Sie wirken wie diese zugleich beruhigend und verwirrend. Ihr Auftauchen im Text gehorcht keiner systematischen Regelmäßigkeit, selbst wenn die Bilder die Erzählungen häufig einrahmen, ja verdecken. Am 8. und 30. Dezember sind zwei Fotos eingeschoben, darüber hinaus lädt die Anordnung der Bilder dazu ein, die Geschichten vom 20. und 21. als größere textuelle Einheit aufzufassen, welche die zentrale Figur des Geburtshelfers, die am symbolträchtigen 24. Dezember vorkommt, einführt; im Anhang »Kalender sind konservativ« erscheinen die Fotos paarweise oder zu dritt. Trotz dieser Disparitäten ist die Omnipräsenz der Waldbilder bemerkbar. Sie verleihen dem Text seinen Rhythmus, unterbrechen ihn und gewährleisten dennoch seine Kohäsion, sie statten ihn mit einem erstaunlichen, zugleich konkreten und abstrakten Fundament aus. »Richters Bilder unterlaufen die Zeit auf eine eigene Art und Weise, die nicht mit jener Kluges identisch ist; letzten Endes jedoch bekräftigen beide, Bild und Text, dieselbe Schlussfolgerung: Zeit ist Wetter.«7 Über die Polysemie des Wortes »temps« gibt die französische Sprache vorab die tiefen strukturellen Beziehungen zwischen »le temps qui passe« (die Zeit, die vergeht) und »le temps qu’il fait« (das Wetter, das herrscht) an. Die Dichotomie der Wörter »Zeit« (»time«) und »Wetter« (»weather«) steht jedoch nicht im Widerspruch zur Annahme, dass sie sich auf der paradigmatischen Achse überdecken. Von den 31 Geschichten, die der Monat Dezember (er)zählt, evozieren 21 7 Madeleine LaRue, »Review of December by Alexander Kluge/ Gerhard Richter, Martin Chalmers (trans.)«, in: The Quaterly Conversation, No. 28, Summer 2012. »Richter’s images have their own way of subverting time, which is not identical to Kluge’s way; ultimately, however, both image and text reinforce the same conclusion: time is weather.« [http://quarterlyconversa tion.com/december-by-alexander-kluge-and-gerhard-richter].
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das Wetter, das in sechs davon das zentrale Thema darstellt.8 Die durch Echos und Schleifen gekennzeichnete narrative Struktur stellt eine deutliche Verbindung zwischen den Geschichten des 1., 4., 17., 23., 26. und 29. Dezember her. Die Reflexion des Feldmarschalls Fedor von Bock in der einleitenden Geschichte zum 1. Dezember 1941 (»An sich brauchen wir […] keine Waffen zur Bekämpfung der Russen, sondern eine Waffe zur Bekämpfung des Wetters.«9) bildet die Grundlage für die Geschichte des 4., einen Wetterbericht: »die Ursachenkette, die im Dezember 1941 den Kälteeinbruch im Osten bewirkte«10 und deren letztes Glied die Einführung der dynamischen Meteorologie darstellt. Tatsächlich scheint die Geotechnik mit den von Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs eingeleiteten Operationen zur Impfung der Wolken über Deutschland gestartet worden zu sein. Kluge hingegen bevorzugt es, sie von der Nazi-Seite zu betrachten, wahrscheinlich aufgrund seines von Natur aus heterotopen Weltbilds, und um die Wettermanipulation nachdrücklicher mit dem zweifelhaften Traum der menschlichen Allmacht zu verbinden. Mit der Entwicklung von Mitteln zur Kontrolle von Temperatur, Niederschlag und Naturkatastrophen war der Mensch noch nie so nahe daran, sich zum Herrn der Welt aufzuschwingen. Auch wenn die dynamische Meteorologie für die Kämpfe an der Ostfront zu spät kam11, auch wenn sie den Lauf der Geschichte im Jahr 1941 nicht änderte, so schreibt der Glaube des Dr. Hofmeister in später umgesetzte Möglichkeiten selbst Geschichte, so dass man, wie oft in den Geschichten Kluges, auf eine Äquivalenz zwischen Tat und Erkenntnis – im doppelten Sinne von Wissen und Empfinden (Vorahnen) oder Gefühl – schließen kann. Diese Geschichte ist charakteristisch für das Klugesche Denken, sie »verkörpert eine Verbindung zu einer anderen möglichen Welt, an einem Punkt der Kausalkette, der noch nie zuvor als reale Interventionsmöglichkeit erkannt wurde.«12 Dasselbe Interpretationsschema findet Anwendung in Bezug auf das Scheitern der Klimakonferenz in Kopenhagen des 17. Dezember 2009, wobei die Analyse auf Größenverhältnisse13 ausgeweitet wird. Das Motiv »Die KLEINE EISZEIT«, das die Passivität der »Vertreter des UNO-Klimarates«14 rechtfertigt, wird am 29. Dezember, 8 Nicht direkt mit dem Wetter verbunden sind die Geschichten des 8., 10.–11., 13., 16., 18., 21., 25., 27., 28. Dezember. 9 D, S. 7. 10 Ebd., S. 13. 11 Ebd., S. 14. 12 Büttner, »Nature Makes History«, S. 228. »This story is fascinating since it presents a junction into an alternate possible world at a point of the causal chain which had never before been noticed as a real option to intervene.« 13 Die Größenverhältnisse, die Konfrontation des unendlich Kleinen und unendlich Großen, Lebensläufe und die Natur sind Leitmotive im Werk Kluges. Siehe dazu u. a. Alexander Kluge, Theorie der Erzählung – Frankfurter Poetikvorlesungen, 2 DVDs mit Beiheft, Berlin 2013. 14 D, S. 55.
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vermittelt über den nacherzählten Dialog zwischen Sylvie Charbit (Labor für Klima- und Umweltwissenschaften, Universität Versailles Saint-Quentin) und Alexej Tichonow (Abteilung für Paläontologie der Akademie für Wissenschaften, Sankt-Petersburg), in den großen Kontext der Eiszeit gestellt. Da es sich um reale Forscher internationalen Renommees handelt, ist anzunehmen, dass der Erzähler, Kluge oder Richter, tatsächlich einem Dialog dieser Art, einem ScienceFiction-Dialog, beigewohnt hat. Die Wettervorhersage fällt auf durch ihren retrospektiven Charakter – der nicht vor lückenhafter Kenntnis schützt –, auch durch ihre Langfristigkeit, d. h. viertausend Jahre großer Kälte nach Kalenderzeit. Der Mensch empfindet die Kälte unmittelbar, wenn die Temperatur unter Null fällt, ab »1 Uhr nachmittags« oder am »Spätnachmittag im Engadin im Dezember«, ein Ort, dessen Einzigartigkeit also auch daher rührt, dass er der gewöhnlichen Zeit der Zeitgenossen entzogen ist: 29. Dezember 21.999 v. Chr.: Eiszeit. Man muß sich diesen Höhepunkt der Kälte (noch immer leben wir in der gleichen Periode der Eiszeit, aber nicht in der Großen, sondern der Kleinen) klimatisch so vorstellen wie einen Spätnachmittag im Engadin im Dezember, sagte der wissenschaftliche Sekretär des Mammutkomitees der Russischen Akademie der Wissenschaften Alexej Tichonow. Nicht kälter? Fragte Sylvie Charbit zurück. Kalt genug, wenn Sie kein Heizmaterial in der Nacktsteppe finden und Wohnsitze fehlen. Eine Wettervorhersage hätte in jenen Tagen so gelautet, fuhr der Russe fort: Europa liegt seit zwei Jahren unter einer Hochdruckzone. Der stetige Wind, der vom Packeis herweht, bringt sehr kalte, trockene Luft in die Region. Ein Ende der extremen Trockenheit, des stetigen Winds von Nordost, der viel Staub mit sich trägt, ist in den nächsten 4000 Jahren nicht zu erwarten. Ab 1 Uhr nachmittags sinkt die Temperatur unter den Gefrierpunkt. Und über die Trockensteppe, die es heute nicht mehr gibt (mit ihren Gräsern, nahrhaften Kräutern, aber keinen Bäumen), huschten die Menschen? Unsere Vorfahren, antwortete Tichonow, »huschten« nicht, sie suchten, fahndeten und jagten im Wettlauf mit dem Tod. Wenn sie nicht schnell etwas fanden, verhungerten sie.15
Man ist verführt, diese Bilder als Embleme zu betrachten. Einerseits zeigen sie die durch die Landschaften Richters illustrierte Eiszeit und die Vormacht der Natur, ihre düstere Schönheit und eine Art Zeitlosigkeit; andererseits die Sterblichen auf der Lauer in den ›Ausgrabungs-Texten‹ Kluges, die Sinnpartikel und die Suche des Sinns. Letztere (Menschen wie Texte) eint die Weigerung zu »huschen«, zu schnell zu vergehen, lautlos, unbemerkt. Der Text des 29. Dezember stellt die scheinbare Ruhe der Natur nicht den schrillen Dissonanzen menschlicher Kämpfe gegenüber. Er konfrontiert auch nicht die unterschiedlichen Zeitschichten, er hütet sich vor definitiven oder eindeutigen Interpretationen. In diesem Zusammenhang erscheint Dezember wie eine feine, präzise Abwandlung der umfangreicheren Studien, die Richter 15 D, S. 90.
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und Kluge den Möglichkeiten widmen, weitläufige Gesamtheiten wie Wald und Kälte darzustellen oder spürbar zu machen, jeder mit dem ihm eigenen Ausdrucksmittel, zwischen Ereignis und Dokument16 – an der Grenze des Figürlichen und Abstrakten bei Richter, zwischen Poesie und Theorie bei Kluge. Es scheint übertrieben, wie Marius Hulpe zu behaupten, dass die einzige Verbindungslinie zwischen den Fotos und den Texten der Monat Dezember sei, dass der ›Dezember‹ das einzige Thema sei, das die Künstler diszipliniert verfolgten, »so diszipliniert, dass es teilweise etwas von einer monumentalen Installation in Buchform hat, was sie hier nebeneinanderlegen.«17 Angemessener erscheint die Idee, die verschneiten Landschaften Richters als »winterliche Versuchsanordnungen«18 zu betrachten, deren Variationen, so geringfügig sie auch sein mögen, zugleich Strukturmuster freilegen, wie Sinnestäuschungen wirken, und somit an Mystifikationen grenzen. Diese gilt es zu analysieren, angefangen bei Richters Umgang mit den emblematischen Motiven des konkreten Raumes und der Bildsymbolik um Weihnachten. Ob für sich selbst oder in der reziproken Erhellung mit den Texten, zeigen die Fotos in Dezember das Bild allgemein als Ort, an dem sich die Anwesenheit anderer Bilder manifestiert. Das Bild ist dort Absorption und Transformation eines anderen Bildes, eingebunden in ein interikonisches Netzwerk und in Spiegelungen, in denen das Explizite vom Impliziten abgelöst wird. Aus diesem Grund bietet sich eine intermediale Interpretation an. Sie erlaubt jene sinnstiftenden Effekte herauszufiltern, die durch die Aufnahme von Fotos in ein narratives Konglomerat produziert werden, 16 Kluges und Richters Verhältnis zum Dokument ermöglicht es, die Bedeutung, die die Kombination Vorstellungskraft/ kritische Vorgehensweise für sie hat, nachzuvollziehen. Ihr Zugang ist mit jenem von Robert Escarpit vergleichbar, der das Dokument als glückliches »Anti-Ereignis« definiert, das man vor allem in seiner Materialität erfassen müsse, wie eine Gegebenheit oder feste Spur. So kann man es lesen und ihm einen Sinn geben, trotz der Dekontextualisierung der Information. Es erscheint unumgehbar für den, der ein Ereignis rekonstruieren oder erzählen will. Bei Kluge und Richter ist das Dokument meist der kürzlichen Geschichte oder Nachrichten entlehnt, die es als Meinungsvektor benutzen. Diese Art Dokument setzt dem Risiko einer zu großen Nähe und der Kurzsichtigkeit aus, dennoch spielt es bei den Künstlern eine strukturierende Rolle, auf der Ebene der Schöpfung ebenso wie des Gedächtnisses (und damit, der Überlieferung). Über das Schreiben und die Malerei streben die zwei Künstler mangels Sinns die Stiftung von Wissen an: »Die Information ist eine negative Menge, die dem Geist durch das Ereignis zugetragen wird, wenn es von der Zukunft in die Vergangenheit übergeht. Das Wissen ist eine recht stabile Konstruktion, um den Ablauf der Zeit zu bremsen und im Maßstab eines Menschenlebens verfügbar zu bleiben, beweglich genug, um zu fortlaufend neue Antworten aufzunehmen und sie in lesbare Strukturen einzufügen«. Robert Escarpit, Th8orie g8n8rale de l’information et de la communication, Paris, Hachette, 1976, S. 59f. 17 Marius Hulpe, »Alexander Kluge/Gerhard Richter : Dezember. Historisch, ahistorisch?«, in: Litmag, 27. 4. 2011. [http://culturmag.de/rubriken/buecher/alexander-kluge-gerhard-rich ter-dezember/24770]. 18 Ebd.
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während das Ensemble sich zunächst durch seinen disparaten und geheimnisvollen Charakter auszeichnet.
Sinn, Sinne und Gefühle in Richters Wäldern Mit Dezember setzt der Maler auf kooperative Art und Weise die Arbeit, die 2008 zur Erscheinung seines Künstlerbuches Wald19 führte, fort. Richter spricht dabei von einem »Alterswerk«: Ja doch, denn die Faszination, die ich damals empfand, also dass ich wie vernarrt dieses Gestrüpp, diese Anblicke abseits der Wege suchte und als so schön und tröstlich empfand, dass ich sie immer wieder fotografierte, das hat schon was mit Alter und Altersängsten zu tun. Was auch immer, es war ein sehr schönes Projekt für mich. Es kann sein, dass es mein liebstes Buch ist.20
Die Bilder von Laub- und Nadelbäumen, von dichten oder lichten Wäldern, mit und ohne Schnee, systematisieren sich im Werk Richters seit Ende der 1960er Jahre. Er fotografiert sie allerorts, nicht nur in Hahnwald, dem Viertel Kölns, in dem er seit 1992 wohnt, sondern auch an seinen bevorzugten Urlaubsorten, vor allem auf Korsika und in der Schweiz, in Davos und besonders in Sils Maria. Die Serien fotografischer Studien finden ihre Berufung als Richter eine Nummer des Fachmagazins Waldung (1/2006) entdeckt, das den Anspruch einer »interdisziplinären« Vision des Waldes erhebt: »Der Wald ist nur interdisziplinär zu begreifen: Als Erinnerung an Märchen und Wanderungen. Als Teil unserer Heimat und Landschaft. Als Projektionsfläche von Wünschen und Ideologien. Als komplexer Lebensraum und Rohstofflieferant.«21 Wald (2008) verlängert dieses Projekt und durchkreuzt es zugleich über die Zersetzung der an die Welt des Waldes gebundenen Diskurse und Topoi, indem diese mittels Zufallsgenerator aleatorisch angeordnet werden. Die Atmosphäre des Textes verändert sich jedoch nicht wesentlich, da das semantische Feld des Waldes aufrechterhalten wird, sodass der Maler feststellt: »Manchmal kann ich das mit einem gewissen Wohlgefallen selbst lesen.«22 Der Text entspricht einer minutiösen und höchst komplexen Konfiguration, während die 285 Fotos, die das Buch umfasst, auf einfache Weise, einer objektiven und neutralen Typologie folgend – nach Dicke des Astwerks, der Anord19 Richter, Wald, Köln 2008. 20 Hans Ulrich Obrist/ Dieter Schwarz, Gerhard Richter. Bücher, hrsg. von Dietmar Elger, Staatliche Kunstsammlungen (= Schriften des Gerhard Richter Archiv Dresden, Bd. 11), Dresden 2013, S. 89. 21 Das Magazin wird vom Künstler und Förster Nikolaus Theile infolge eines Forschungsprojektes gegründet. [https://www.khm.de/studentische_arbeiten/id.12806.waldung/]. 22 Obrist/ Schwarz, Gerhard Richter. Bücher, S. 91.
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nung horizontal liegender Stämme und der Neigung diagonal oder vertikal wachsender Bäume – arrangiert sind. Man denkt an die deutschen »Baumbücher« Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, mit dem Unterschied, dass es hier nicht um eine Inventarisation der Exemplare geht. Richters Bäume zeigen sich in einer Art vertrauter Banalität. Dennoch erzeugt die Serie einen Eindruck der Dichte, die zahlreichen und wiederkehrenden Bilder bilden einen geeigneten Raum, um sich von üblichen Anhaltspunkten zu lösen und zu verlieren. Aber in diesem Wald verliert man sich nicht auf dieselbe Weise wie in jenem Wald von 1966, in dem das Liebespaar, das sich dort versteckte und in jeder Hinsicht vom rechten Weg abkam, einen fragwürdigen Unterschlupf bot. Nun gibt sich der Maler einer Art Kontemplation hin, einer besonderen Methodik der Landschaftsstudie, die zur Abstraktion führt: In den ersten gemalten Studien, wie Baumgruppe (1970, 1987) und Bühler Höhe (1991), ergibt sich der abstrakte Charakter der Landschaft aus ihrer Verfremdung. In späteren Fotoserien zeigt Richter auf direkte Weise konkrete Abstrakta und die paradoxen Eigenschaften der Landschaft. Seit den 1970er Jahren behauptet der Maler gerne, dass er, was ihre »Organisation« betrifft, keinen Unterschied zwischen abstrakten und figurativen Bildern mache: Die Mittel, die man zur Organisation verwendet, sind dieselben: dieselbe Struktur, dieselben Kontraste, solche Dinge. Aber es gibt einen Unterschied in dem, was ich Klima nenne. Die Landschaften, zum Beispiel, sind ruhig, sentimental. Die abstrakten sind emotionaler, aggressiver. Diese Unterschiede suche ich im Klima.23
Diese Aussage wird unter anderem von der abstrakten Serie Wald (2005) bestätigt. Die zwölf Großformate sind von denselben Waldfotos wie das Künstlerbuch des Jahres 2008 inspiriert, aber »obwohl sie den gleichen Titel haben, hat Wald bei den Gemälden nichts mit einem konkreten Wald zu tun.«24 Wenn auch legitim, so ist es doch nicht zwingend notwendig, wie Mark Godfrey eine Verbindung zwischen dieser Serie und den Birken von Birkenau25 herzustellen, um die dunklen Hintergründe hinter den Lichtblitzen und der Flüssigkeit der Materie, die fallenden Regen evoziert, zu erkennen. Die Baumvorhänge des Künstlerbuchs produzieren unweigerlich einen weniger spektralen Eindruck als die abstrakten Bilder und man kann sie zweifellos als »ruhig« bezeichnen. Aber auch in diesem Werk ist die Form fragmentarisch, diffus. Sie erhebt keinen Anspruch auf Regelmäßigkeit oder Klarheit, sie strebt nicht danach, Inkompa23 »Interview mit Anna Tilroe 1987«, in: Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, hrsg. von Dietmar Elger und Hans Ulrich Obrist, Köln 2008, S. 201. Vgl. »Interview mit Irmeline Lebeer 1973«, in: Ders. S. 72–79, 83. 24 Obrist/ Schwarz, Gerhard Richter. Bücher, S. 91. 25 Mark Godfrey, A Curtain of Trees, Tate Modern, Londres 2011. [https://www.gerhard-richter. com/fr/videos/talks/a-curtain-of-trees-50].
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tibilitäten künstlich aufzulösen. Darin besteht die Nähe zwischen den konkreten Motiven auf den Fotos und den abstrakten Bildern. Diese manifestiert sich auch in der Wahrnehmung des Betrachters, denn Abstrakta wie Konkreta beeindrucken durch ihre hypnotische Wirkung, durch die Spannung, die sie dem Blick aufzwingen, zwischen extremer Konzentration und Schwanken oder Aufhebung. Gemeinsam sind ihnen des Weiteren der methodische Zugang und die Suche nach Exaktheit, die der Maler schon 1987 erwähnt: Manchmal wirken Ihre abstrakten Bilder wie Landschaften. Suchen Sie in der Abstraktion erneut den Realismus? Ich glaube, ich suche Genauigkeit. Mein Werk hat insoweit mit der Realität zu tun, dass ich möchte, dass es eine ähnliche Genauigkeit hat. Das schließt nachmalen aus. In der Natur stimmt immer alles: Die Struktur ist richtig, die Proportionen stimmen, die Farben passen zu den Formen. Wenn man das nachmalt, wird es falsch.26
Diese Suche nach Stimmigkeit und Genauigkeit ist umso anspruchsvoller, als es Richter darum geht, Ungewissheit wiederzugeben. Was sich indirekt aus den Fotografien ablesen lässt, verbunden mit den »Altersängsten«, erscheint auf den abstrakten Bildern als essentielle und vertraute »Ratlosigkeit«, ja Ohnmacht, »so als hätte man sich verirrt. Geschildert wird ja eher das Gefühl, das man in dem Wald hat, den man nicht versteht.«27 Die Vertrautheit entsteht aus dem konkreten Wald, in dem man stundenlang im Kreis laufen kann, ohne Orientierung zu finden. Was sich darin ausdrückt, ist »ein melancholisches Lebensgefühl«28, das Richter mit dem romantischen Geist verbindet, a fortiori in seinen abstrakten Bildern. Die Fotos des in Hahnwald als Park angelegten Blätterwaldes (keines vermeintlich deutschen Nadelwaldes) verweisen mehr auf eine soziale Konstruktion des Natürlichen als auf die romantische Suche nach einer Nationalkultur. Vermutlich in diesem Sinne stellt Cord Riechelmann in Richters Künstlerbuch eine unerwartete fast antideutsche Haltung fest.29 Vielleicht wird dieses Urteil der Bedeutung der Buchen- und Eichenhaine von Goethe, und der historischen Rolle, die der Linde und der Eiche für Jakob Grimm innewohnt, nicht ganz gerecht, aber in der Tat situiert sich Richter in einem anderen postromantischen Raum. Sein Wald ist nicht großflächig, man sieht davon nur Segmente, einfache Stämme ohne Wurzeln oder Wipfel: »Er verweigert den Aufblick auf den Wald. Das Kronendach des Waldes ist dem Spaziergänger Richter nicht 26 27 28 29
»Interview mit Anna Tilroe 1987«, S. 200. Obrist/ Schwarz, Gerhard Richter. Bücher, S. 92. Ebd. Cord Riechelmann, »Wider den deutschen Forst«, Buchkritik, in: taz, 23. 10. 2009, S. 16. »Das ist, wenn es um den Wald geht, weniger deutsch, als man bei Richter erwartet hätte. […] Richter trifft mit der Wahl seiner Bäume aber noch ein paar andere, fast schon antideutsch zu nennende Entscheidungen.«
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zugänglich. Er bleibt am Boden.«30 Über die schrumpfende physische Welt des Alters hinaus, verkörpert das Buch Wald (2008) das Bemühen um Verankerung in einer neutralen Materie. Die Begrenzungen des Rahmens und des Blickes lassen sich positiv und nicht nur als Baum, der den Wald verdeckt, deuten. Die Fotos in Dezember weisen Analogien zu jenen des Buches von 2008 auf, man kann sie als winterliches Pendant zu dieser Studie herbstlich-winterlicher Wälder und ihrer Lichtspiele betrachten. Die Detailaufnahmen sind aus noch geringerer Nähe aufgenommen und in zahlreichen Fällen sind es weniger die Stämme als das Astwerk, dem Richters Interesse gilt. Es vollzieht sich ein Wechsel der Größenverhältnisse, der auf den Pfad des Kleinen und unendlich Kleinen führt, wobei dennoch wahrnehmbar ist, dass der Wald in dieser Serie riesig und mysteriös ist. Die Ansichten von eingeschneiten Tannen evozieren Höhenlagen und intensivieren den Eindruck einer abgeschiedenen, dichten, ja undurchsichtigen Welt, die verunsichert, bezaubert oder beunruhigt, in Frage stellt. Dezember beginnt und endet mit Fotos von Richter und suggeriert damit, dass für den Künstler und seinen Koautor Bilder stets das letzte Wort haben: »Das sind eigentlich Erzählungen. Worte, in ein Bild gekleidet.«31 Das Schlussfoto ist bemerkenswert, es spielt ganz offensichtlich mit den grafischen Topoi der allegorischen Darstellungen der vergehenden Zeit und des Lebens als zu durchlaufendem Weg. Die Bildausschnitte fordern dazu auf, dieses Foto nicht vorschnell als klassische Figuration zu lesen. Im rechten oberen Viertel befindet sich eine überhängende Straße, gesäumt von hohen, potenziell gefährlichen Bäumen, bedeckt mit einer dünnen Schneeschicht mit mehr oder weniger tiefen Reifenspuren, abgegrenzt von einer Leitplanke und durch eine Haarnadelkurve abgeschnitten. Links zeichnet unberührter tiefer Schnee eine wattige Talmulde mit einem Pfad, der sich durch die feinen Baumgruppen schlängelt, bevor er in eine unbestimmte Ferne abtaucht. Hinter dem bräunlichen Schimmer der Baumspitzen am Horizont nimmt dieser unbestimmte schwindelerregende Raum fast die gesamte obere Hälfte des Fotos ein. Auffallend sind das Gleichgewicht der Komposition und die Graunuancen; die Disparität der vertikalen Flächen erscheint auf gewisse Weise durch den Parallelismus der offenen Wege im Schnee kompensiert. Hier und da eine Hütte oder ein Haus, die man nach und nach ausmacht – das sind die Spuren jener diskreten menschlichen Anwesenheit, die die Reifenspuren erahnen lassen. Das Foto erlaubt nicht nur eine symbolische Leseart, sondern setzt diese geradezu voraus. Man kann darin zugleich die Suggestion paralleler Lebensläufe mit ihren jeweiligen Mäandern und Wechselfällen sehen sowie die Darstellung von 30 Ebd. 31 »Erzählungen haben den Vorteil, dass sie blind sein dürfen.« Ein Gespräch mit Alexander Kluge, in: VOLLTEXT 9, Okt/Nov 2003.
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Langzeit und Kurzzeit und das Hin und Her zwischen ihnen, jene eines mehr menschlichen und eines anderen mehr natürlichen Weges, des Wendepunkts des Alterns, eine Art und Weise, einen Schlusspunkt zu setzen, wobei gleichzeitig andere Räume, in denen sich andere Zeiten und neue Geschichten entfalten können, eröffnet werden. Aufgrund seiner narrativen Struktur und seiner Suggestionen kann man dieses letzte Foto als Emblem des gesamten Buches in seiner Kombination aus Text und Bild interpretieren. Der Herausgeber der englischen Fassung hat es übrigens als Titelbild der Neuauflage des Werks 201732 gewählt, weil es zunächst weniger eintönig, unmittelbarer bedeutsam erscheinen kann, weil es auch die Tonalität der zweideutigen und melancholischen Träumerei des Buches von Kluge und Richter angibt. Das erste Bild des Buches ist von ganz anderer Gestalt: wenig Boden, noch weniger Himmel, Vorhänge aus verzweigtem Astwerk, von einem Schneemantel bedeckt. Im Vordergrund heben sich zwei zarte Sträucher auf dornigem Hintergrund ab. Auf ihren Blättern befinden sich ein paar Flecken in intensivem Braunrot, wie ein Überbleibsel der vorangehenden Jahreszeit. Sie kündigen die Zwillingsbäume des eingeschobenen Fotos in der Geschichte des 30. Dezember an, von dem man auch ein Exemplar am 25. Dezember findet. Man kann nicht umhin, darin eine Anspielung auf das zu sehen, was Kluge und Richter vereint. Es handelt sich um ein Urbild, denn die hauchzarte und zugleich dichte Architektur, die dieses Eröffnungsbild verkörpert, wird in mehr oder weniger bemerkbaren Variationen, am 1.–3., 6.–9., 10.–11., 15.–19., 31. Dezember reproduziert. Richter fotografiert primär Lärchen, diesen einzigartigen Nadelbaum, der seine Nadeln im Oktober verliert. Andere Spezies von Nadelbäumen und dickerer Schneeschicht erscheinen insbesondere in »Kalender sind konservativ«. Die Behauptung, dass Richter jeden Tag ein neues Foto aufgenommen hätte, ist wohl seinem scherzhaften oder mystifizierenden Geist geschuldet: Gewisse Fotos wurden offensichtlich unmittelbar nacheinander aufgenommen (zum Beispiel die Totale aus Vogelperspektive vom 26. bis 29. Dezember); von den Aufnahmen verschlungenen Astwerks kommt mindestens eine in unterschiedlicher oder vergrößerter Ausrichtung noch einmal vor, am 10., 16. und 18.– 19. Dezember. Auf diese Weise gibt sich der Fotograf im Off zu erkennen, gleich einem Forscher, der Räume und isomorphe Gesamtheiten konstruiert, deren manchmal winzige Relief-Effekte Auskunft über die Beschaffenheit der Wirklichkeit geben und den Blick stimulieren. Dieser wird zur Fokussierung angeregt, zum Ortswechsel durch das Foto und dem Hinübergleiten von einem Foto zum nächsten, um die versteckten Details und die Leserichtung zu erfassen. Ob es sich um Landschaften in Totale oder fraktale Architekturen handelt, der Betrachter wird von der wiederkehrenden und hypnotischen Natur der Aufnahmen, die die 32 December, translated by Martin Chalmers, University of Chicago Press 2017 [2012].
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Abb. 1, Dezember, S. 126. T Gerhard Richter 2018 (04072018)
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Zeit auf kontemplative Weise takten, in den Bann gezogen. Er wird von der besonderen Qualität dieser »ruhigen, magischen Ewigkeitsbilder« angesprochen, die nichtsdestoweniger »ein Dickicht« multipler und düsterer Suggestionen darstellen: Was sehen Sie in Richters Bildern? Ich finde die Bilder mit den farbigen Blättern berührend. Ich deute die Verschränkung der Bäume im Engadin als Dickicht. Das erinnert an die Hecken von Dornröschen. Da spielt die dreizehnte Fee eine Rolle. Sie wurde ausgeschlossen. Daraufhin hat sie das ganze Schloss in Schlaf versetzt. Auch das ist im Dickicht der Bilder enthalten. Aber ich würde mich hüten, Richters Bilder mit Worten zu deuten.33
Dickicht der Gefühle, Sinn für Musik und Sinnkonstellationen bei Kluge In dieser zugleich präzisen und vagen Antwort greift Kluge auf vorsätzlich lose miteinander verbundene Emotionen und Symbole zurück, nicht nur, um die fundamentale Ambivalenz und die allgemeine Tonalität der Bilder von Dezember spürbar werden zu lassen, sondern auch in Bezug auf das Wesen Richters: das eines »Bildermachers«34. Der Autor nimmt dennoch wieder auf, was man als eine Art Lektüreschlüssel verstehen kann, der im Prolog jener Geschichte offenbart wird, die das Werk am 31. Dezember 2009 provisorisch schließt. Unter dem Titel »Die Macht der ›Zeit‹« führt das Ende des Textes die Figur von Mönch Andrej Bitow und die zugehörige Reflexion über Kalenderdaten ein. Der Anfang »EINDRUCK VON UNDURCHDRINGLICHKEIT« ist ein kurzer, indirekter, über die Überlagerung von Bildern vollzogener Kommentar des gegenüberliegenden Fotos. Bei Kluge lässt das Flechtwerk der Äste Kindheitsbilder aufkommen, die einerseits mit der Welt des Märchens, andererseits mit der des Krieges verbunden sind. Das Motiv des undurchdringlichen (auch unentwirrbaren) Waldes, der auch das Schloss Dornröschens umringt, wie man es zum Beispiel auf den Illustrationen von Otto Ubbelohde, Julius Diez oder Wilhelm Jordan sehen kann, deckt sich mit dem der militärischen Verhaue, und zwar durch den Neologismus (es sei denn, es handelt sich um einen Tippfehler) »der Verhak«, der zugleich ein »Verhaken« und einen aus Ästen und Bäumen errichteten Schutzwall zu sehen und zu hören gibt.35 33 »Gerhard Richter zeigt den Winter« (Anm. 2). 34 Kluge, Gerhard Richter : Bildermacher. dctp-tv, Ten to Eleven vom 19. März 2013: »Ich sollte mich nicht mehr Maler, sondern Bildermacher nennen.« 35 Die »r8seaux de frise« der französischen Übersetzung wollen das Bild der »chevaux de frise« (»Friesische, bzw. Spanische Reiter«) heraufbeschwören, die unter anderem während des Zweiten Weltkriegs die Strände spickten, wobei sie durch die Einführung des Wortes
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Abb. 2, Dezember, S. 99. T Gerhard Richter 2018 (04072018)
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31. Dezember 2009: EINDRUCK VON UNDURCHDRINGLICHKEIT. In der Sammlung der Brüder Grimm wird erzählt, daß es nur zwölf Gedecke gab für die zwölf »weisen Frauen des Landes«. Die 13. Fee wurde nicht eingeladen. Ähnlich wie bei der Havarie von Tschernobyl oder dem Sturz des Bankhauses Lehman Brothers die Fakten ausgegrenzt werden, die wenig später Unglück bringen. Die 13. Fee aber rächte sich, indem sie das Schloß und das Reich auf eintausend Jahre in Schlaf versetzte. Zugleich umgab sie das Schloß mit einer Hecke aus Bäumen und Gestrüpp, das Gezweig ineinander verschachtelt, einen »Verhak« bildend. Schnee lag auf dem Geäst. Es entstand der Eindruck von Undurchdringlichkeit. In der Lebenspraxis aber zeigt sich, daß am Boden eines solchen Geästs ein Weg durch leichten Schnee zu finden ist. Man muß nur das Bild bis nach unten verfolgen, wo auf einem Quadratmeter Erde Milliarden Milben siedeln.36
Der Bezug auf die Brüder Grimm evoziert unmittelbar eine kulturhistorische, intersubjektive und transpersonelle Sphäre, die an die deutsche Seele gebunden ist, der die Wälder zugleich Brut- und Zufluchtsstätte sind. Dem Gesetz der Märchen folgend, schafft Kluge auch einen gemeinsamen psychischen Raum für menschliche Nachlässigkeiten, Illusionen und Ängste, ebenso äußere wie innere Dramen. Die dreizehnte Fee verkörpert dort eine uralte Form der Überlieferung und einer zwiespältigen Tradition, die schmerzhafte Veränderungen oder unheilvolle Zwischenfälle erzeugt. Der Klugesche Synkretismus vereint in dieser Rächerfigur die Figur der letzten weisen Frau und der bösen Fee des Märchens, die so an Kraft und Ambiguität gewinnen. Wie gewisse radioaktive Teilchen löschen ihre vereinten Kräfte das Leben aus, versetzen es in einen nicht hundert-, sondern tausendjährigen Schlaf. Auf diese Weise bieten sie dem Leben aber auch einen Rückzugsort. Die Aktualisierung des Märchens und seiner Symbole, die das Unbewusste ansprechen, liefert so das Analysesubstrat einer komplexen Realität. Sie ermöglichen auch das Eindringen in die Bilder Richters, ausgehend vom Motiv der Hecke aus Bäumen und Sträuchern mit ihren verschlungenen Ästen. Der Eindruck der Undurchdringlichkeit wird durch den Beobachter aufgelöst, dem es gelingt, sich einen Weg durch den Wald zu bahnen, indem er »das Bild bis nach unten verfolgt«, um sich unter die Milben zu mischen, deren Larven das Holz aushöhlen. Über die Homonymie mit »scierons« schlägt die französische Übersetzung von »Milben« eine ideengeschichtliche Schneise. Für den kultivierten französischen oder deutschen Leser öffnet der »ciron« die Tür zur Welt Montaignes. Er ruft die berühmten Sprüche der »Apologie für Raimond Sebond« (Essais, II. 12) in Erinnerung: »Pareils app8tits agitent un ciron et un 8l8phant.« (»Ein Wurm, »r8seau« (Netz) eine positive Deutung suggerieren, um den essentiell dualen Charakter der Fotos von Richter wiederzugeben, zu denen man mit der Erwähnung des im Märchen nicht explizit erwähnten Schnees unbewusst hinübergleitet. Kluge/ Richter, D8cembre, übersetzt von Hilda Inderwildi und Vincent Pauval, Zurich-Biel/Bienne-Berlin 2012. 36 D, S. 98.
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und ein Elephant haben einerley Begierden.«), »L’homme est bien insens8. Il ne sÅauroit forger un ciron, et forge des Dieux / douzaines.« (»Der Mensch ist sehr unbesonnen. Er kann nicht eine Milbe machen, und macht ganze Dutzend Götter.«). Mit der Anspielung auf Montaigne sucht Kluge hier nicht vorrangig, den menschlichen Dünkel anzuprangern oder die Fundamente der Religion zu untergraben, selbst wenn er im zweiten Teil seiner Geschichte die Zäsur, die die Religion mit der Einführung der Zeit nach »6000 Jahre[n] Vorgeschichte« geschaffen hat, ironisiert. Er nimmt die Milben und den Elefanten Montaignes in sein Bestiarium auf als konkrete Symbole zweier Extreme auf der Skala der Kreaturen, die sich in Ansprüchen wie Gefühlen generell kreuzen. 1968 inszeniert Kluge in seinem zweiten Spielfilm, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos – der bei der Mostra Venedig den Goldenen Löwen bekommt und Kluge zur Leitfigur einer Strömung macht, zu der auch Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Werner Herzog oder Rainer Werner Fassbinder gehören –, den Elefanten als Instrument einer Zirkusreform, deren Ziel es ist, das Publikum an dessen eigene Empfindungen heranzuführen, indem sie es dem Blick eines Dickhäuters aussetzt. In ihrer bemerkenswerten Analyse betrachten Gr8gory Corman und Jeremy Hamers die Figur des Elefanten bei Kluge als mögliches Bindeglied zwischen Film, Gefühl und politischem Engagement.37 Im Rahmen einer Theorie des Gefühlserbes situieren sie den Elefanten auf der Linie, die vom enttäuschten Urvertrauen zu einem meist passiven aber radikalen Widerstand führt, der auf die Praxis der kritischen Theorie des späten Adorno verweist. Zunächst als Werkzeug des Scheiterns dargestellt, da er auf keinen Befehl reagiert, erscheint der Elefant mit seinem außergewöhnlichen Gedächtnis und seiner herausragenden Trägheit in fine als sehr berührendes Tier, als »Moment extremer Fragilisierung, die Kehrseite einer Verhärtung, eine letzte Version der Mobilisierung von Gefühlen, alles in allem: eine radikale Version des Protests.«38 In Dezember finden wir kaum Elefanten, nur ihre Vorfahren, die Mammuts (1. 12. 1941, 29.12.21.999 v. Chr.): Nicht die, die vor drei Millionen Jahren in Afrika lebten, sondern die Wollhaarmammuts mit ihrem fülligen roten 30 bis 40 Zentimeter langen Fell, die sich erst vor 120.000 Jahren an kalte Regionen anpassten und von den »Lappen« der Altsteinzeit gejagt wurden: Dr.-Ing. Fred Sauer, ehemals Siemens, für die Versuchsabteilung des Heereswaffenamtes tätig, untersucht die Anatomie von Mammuten. Ließ sich aus den kurzen Rümpfen und gedrungenen Körpern dieser erfahrenen Riesen der Kaltsteppe (die es mit ihren staubigen, immerwährenden, extrem kalten Ostwinden im Jahr 1941 nicht 37 Gr8gory Cormann/ Jeremy Hamers, »Kluge, Adorno et l’indomptable Leni Peickert«, Cahiers du GRM, 5 j 2014. [https://journals.openedition.org/grm/412]. 38 Ebd., »un moment de fragilisation extrÞme, l’envers d’un durcissement, une version ultime de la mobilisation des sentiments, en somme: une version radicale de la protestation.«
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mehr gibt) eine winterfeste Panzerwaffe entwickeln? In den gewaltigen Säulenbeinen, so Fred Sauer, wärmte das sauerstoffhaltige Blut, das aus dem Körper dieser Tiere strömte, das verbrauchte kalte Blut, das zum Körper aufstieg. Das war ein Hinweis auf die Möglichkeit, durch doppelte Kreisläufe in den Motoren (einer zur Erwärmung des Gerätes und einer für den Antrieb) eine Aushilfe gegen die Tücke des russischen Winters zu finden. Das Projekt kommt für die Entscheidung in diesem Jahr zu spät. Der Monat Dezember 1941 war durch Zeitarmut charakterisiert.39
Über die bewundernswerte vom Techniker beschriebene Naturmaschinerie und die Ressource, die sie 1941 in den Augen der Armee darstellen, hinaus, beeindrucken diese Exemplare durch ihr Anpassungs- und Überlebenspotenzial in Bedingungen extremer Kälte. Sie verkörpern auch hier eine positive Form des Widerstands gegen die Eiszeit, des Gefühls eingenommen – eine Form des Widerstands, die Kluge durch seine Fiktionen zu reaktivieren sucht. Die unermüdliche Gemeinschaft der Milliarden von Milben ist dessen aktive, weniger spektakuläre, quasi unsichtbare, aber vor Leben und Leistungsfähigkeit wimmelnde Form. Es sind diese Parasiten, die, jenseits jeglicher Rationalität, den Blickwechsel (Wechsel der Blickrichtung) vollziehen, den die Lektüre der Fotos Richters erfordert. Für die zwei Zeitgenossen des Nationalsozialismus, die Kluge und Richter in ihrer Kindheit waren, ist eines der wesentlichen Anliegen von Dezember auch die Aufarbeitung dieser Geschichte und des auf sie zu werfenden Blicks. Die Aporien des Winters 1941 wiederholen sich auf gewisse Weise wenige Tage vor dem Abtritt Michail Gorbatschows zu Weihnachten 1991. Das Ende der Geschichte vom 2. Dezember : »Da wußten wir : es ist aus«, scheint seit den ersten Dezembertagen die unselige Seite des Monats zu bezeugen. Aber ohne in die Debatte über den Gorbatschewismus einzusteigen, wo sich die Deutungen von Erfolg und Scheitern teilweise überschneiden – das Scheitern des Gorbatchewismus authentifiziert paradoxerweise dessen Erfolg –, gilt es vor allem, die Idee einer verpassten Gelegenheit wahrzunehmen. Davon berichtet auch, auf tragikomische Weise und mit fünfzig Jahren Abstand nach hinten, die Geschichte des 3. Dezember 1931, die ebenfalls von einer wahren Begebenheit inspiriert ist, an der die zwei Künstler indirekt beteiligt sind. Kluge gesteht, dass er diese auf Anfrage von Richter neu schreiben musste: Kluge: Gerhard Richter kann sehr streng werden, wenn ihm eine Geschichte nicht gefällt. Wie hört sich ein strenger Gerhard Richter an? Kluge: Er sagt, das passt nicht, das musst du neu schreiben. Aber nehmen Sie mal die nächste Geschichte: 3. Dezember 1931. Eisregen über Mecklenburg. Eine wahre Geschichte: Hitler in seinem Mercedes wäre auf der Rückfahrt von der Goebbelsschen 39 D, S. 7.
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Hochzeitsgesellschaft beinahe auf einer Eisstraße mit einem Wagen zusammengestoßen und verunglückt. Damals waren Richter und ich schon in den Bäuchchen unserer Mütter. Wir wären also unter Umständen ohne Hitler geboren worden. Da waren 40 Zentimeter zwischen Zusammenprall und Nicht-Zusammenprall. Schicksal? Kluge: Nein. Der Teufel hat die Hand dazwischen gehalten.40
Ob man sie isoliert oder in der Konstellation, die sie besonders mit denen des 2. und 8. Dezember bildet, betrachtet, gibt die Geschichte des 3. Dezembers Aufschluss über den modus operandi der zwei Schöpfer. Indem sie Intimes, Zeitgeschehen und Geschichte verbinden, brechen sie »die strikte Chronologie durch ein Netz von Anachronismen, die aus eigenen Montagen oder Konstruktionen von Hypothesen stammen.«41 Die Quellen geben für einen Autounfall Hitlers unterschiedliche Daten zwischen März 1930 und Dezember 1931 an. Nichts bestätigt, dass er sich nach der Hochzeit Goebbels ereignet hat, von der man hingegen mit Sicherheit weiß, dass sie am 19. Dezember 1931 stattfand und nicht am 3. Dezember. Dennoch widersprechen weder der Anachronismus noch der Irrealis (»Ich […] wäre beinahe geboren worden, ohne daß Hitler ein Stück Zukunft hätte.«), noch der anekdotische Ton, der Historie. Kluges Schreiben, das bestrebt ist, die Sättigung oder Derealisation der Geschichte zu vermeiden, indem er die Geschichte auf die Probe der Fiktion stellt, kreuzt das stete Bemühen Richters, die faktuale Materie nicht zu vernachlässigen und sich ihr so nah wie möglich anzunähern, um sich besser von ihr zu distanzieren. Diese Vorgehensweise gleicht jener des amerikanischen Historikers Henry A. Turner (1932–2006), einem Altersgenossen von Richter und Kluge, der 1989 in seinem Werk Geißel des Jahrhunderts. Hitler und seine Hinterlassenschaften eine kontrafaktische Entwicklung Deutschlands imaginiert, die hätte stattfinden können, wenn Hitler 1930 seinem Autounfall erlegen wäre. Der kurze Dialog, möglicherweise zwischen Kluge und Richter, der die Erzählung des 3. Dezember unterbricht, lässt die Frage unbeantwortet, ob es Vorsehung war, dass sich die beiden Autos verfehlten. Mehr als »die Hand des Teufels«, von der Kluge im Interview spricht, muss man im 3. Dezember einen ›verpassten Unfall‹ sehen, eine Potenzialität, die sich leider in Nichts aufgelöst hat. Kluge webt in den Stoff seiner Narration unterschiedliche Perspektiven und textuelle oder visuelle Genres ein. Diese wirken als Sinnesreize und auf Sinn hin, aber es gebührt dem Leser, die Leerstellen zwischen ihnen auszufüllen und sie in Verbindung zu bringen (sie zusammenzusetzen, zu montieren, zu kommentie40 »Gerhard Richter zeigt den Winter« (Anm. 2). 41 Georges Didi-Huberman, Quand les images prennent position. L’œil de l’Histoire, 1, Paris, Les Pditions de Minuit, 2009, S. 21: »la stricte chronologie par un r8seau d’anachronismes issus de [leurs] propres montages ou constructions d’hypothHses«.
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ren), eine Kohärenz zu schaffen, jeder auf seine Art, mit seinen Methoden und seiner Subjektivität oder seinem Eigensinn. Das Mittel dieser operativen Literatur ist eine nichtlineare und elliptische Narration, wobei der Moment an der Kreuzung der Zeiten verweilt, mit der spezifischen Dichte dessen, was zugleich in der Zukunft und im Gewesenen verankert ist. Dies ist auch ein Ziel des kontinuierlichen Stroms der Fragmente von Dezember : die Zeitschichten zusammenzusetzen, um Wirklichkeitskonstellationen zu schaffen. Wenn uns das Bild der Konstellation zur Beschreibung der Erzählstruktur Kluges noch angemessener scheint als das des Korallenriffs42, dann aufgrund seiner doppelten, physischen und abstrakten Bedeutung, und dem, was sie an Erhellung bringt. Sie scheint dem universalistischen Projekt Kluges und seiner Idee eines ›globalen‹ Autors, der relationes – in beiderlei Sinne, Erzählungen und Verbindungen – herstellt, zu entsprechen: Ihre Bedeutung erhellt sich erst in der Beziehung der Dinge untereinander, in den Erzählungen und dem Bewusstsein darüber. Weist die Konstellation nach dem Muster des Korallenriffs, ein zufälliges Bild auf – die Konstellation kann glücklich oder unglücklich sein –, überlässt sie den Löwenanteil der Vorstellungskraft, gleich den Linien, die diese zwischen den Sternen zieht, um eine sinnvolle Figur entstehen zu lassen. Die Klugesche Erzählung strebt zum »Himmelsäther«, zu dieser »Schwingung«, die Sein und Nicht-Sein verbindet, von der in »Wiederkehr des Himmelsäthers«43, der zehnten der sechzehn Geschichten, die Kluge Anselm Kiefer 2012 widmet, die Rede ist. Einerseits ermöglicht der Klugesche Lakonismus – d. h. die »radikale Auslöschung jeglicher erzwungenen Harmonie oder störenden stilistischen Ablenkung, mit denen die Fabel zeitweise fabuliert«44 – die Wahrnehmung der Schrillheit der Zeit. Andererseits ist es Kluge wichtig, wie Kiefer das Ohr für die Hintergrundmusik der Welt zu öffnen, für ihre unterirdischen Akkorde, jenseits der oft unharmonischen Klänge einer lauten und geschwätzigen Epoche. Bei dem Achtzigjährigen wird ein eigentümlicher Appell an den Himmel laut. Den traurigen Jahrestag des Bombenangriffs auf Aleppo im November 2016 auf seine Weise begehend, wiederholt er die epochenüberschreitende Gefühlsgemeinschaft, »wenn Lebensläufe von der Zeitgeschichte zerrissen«45 werden. 42 Siehe u. a. Eva Wißkirchen, Regen im Korallenriff – Alexander Kluges »Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben« im Kontext, Hamburg 2013. 43 »Sechzehn Geschichten für Anselm Kiefer/Seize histoires pour Anselm Kiefer«, übersetzt von Hilda Inderwildi/ Vincent Pauval, in: Die Ungeborenen, Paris 2012 (ohne Seitenzahlen). 44 Hilda Inderwildi/ Vincent Pauval, »Entre textes et toiles : m8tamorphoses klugiennes d’un peintre. f propos de ›Onze histoires pour Gerhard Richter‹«, in: Fario, n812, Paris automne 2012 – hiver 2013, S. 216: »la suppression radicale de toute harmonie forc8e ou diversion stylistique gÞnante dont la fable s’affublerait.« 45 »Avant-propos«, in: Kluge, Chronique des sentiments, Livre II »Inqui8tance du temps«, Vincent Pauval (Hg.), übersetzt von Anne Gaudu / Kza Han / Herbert Holl / Arthur Lochmann / Vincent Pauval, Paris, P.O.L., 2018. »Werden Lebensläufe von der Zeitgeschichte
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Kraftvoll und originell, mit einem Klarsinn, von dem Ren8 Char sagt, dass er die »die sonnennächste Wunde«46 sei, behauptet er erneut die Bedeutung der kritischen Poetik, ihrer Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen, »um zu begreifen, wie die Welt es mit uns meint«. Die Erfahrung der Bombenangriffe auf Halberstadt 1945 verschmilzt mit jenen auf Aleppo 2016: Für die, die sie erleiden, bleibt die »Strategie von unten«, die Flucht, die Suche nach einem Ausweg dieselbe. Angesichts des Himmels, diesem Ort, wo sich Himmelsäther wie »Strategie von oben«, der Bombenregen, entfalten, spricht der Chronist ein Glaubensbekenntnis aus: Er will »himmelschreiender Kritiker sein«. Indem er die vitale Symbolik der Wolfsmilch wiederaufgreift, erscheint der Achtzigjährige als altes Kind mit einzigartigem Schicksal. Von der fabelhaften »Wölfin« (Lupa), sei es die Prostituierte oder das Tier, ernährt, zeigt sich der Bote »von unten« in seiner Verwandtschaft mit den großen Helden der westlichen Zivilisation. Antike Mythologie, christliche Terminologie und politische Utopie (u. a. jene Immendorffs) verklären sich im Schmelztiegel des Lebens: »Der Himmel hört auf zu malen und wendet sich der Kritik zu« Ein Bombengeschwader am frühen Morgen am wie immer gefärbten Himmel begründet das Denken neu. Wäre mein Körper aus Stahl und so biegsam wie eine junge Pappel, ich könnte das Bombenfragment, das mich treffen will, abfedern. So kritisiert der SICH VERÄNDERNDE HIMMEL OBEN, den Körper, die Sinne und den Geist und fordert dringlich den Homo Novus, wie er zuletzt 1917 von den Biokosmisten der russischen Revolution ins Auge gefaßt wurde. Wo Brüder seid Ihr jetzt in meiner Not? Es war genug Zeit, mit Euch in Verbindung zu treten, aber ich war beschäftigt. Ich habe die kristallenen Farben des Himmels abzuzählen versucht. Der Himmel in der Frühe und der in der Abenddämmerung ist in unseren Breiten ein begabter Maler. Einige Sekunden vor meinem Ende (und das meiner Lieben) – und wenn der Einschlag den Nachbarn trifft künftig immerfort – will ich himmelschreiender Kritiker sein. Ich sauge an den Zitzen der Wölfin, um dieses Wundermittel in mich hineinzufüllen, falls mir Zeit bleibt.47
***
Bei Kluge und Richter bedeutet die Intention der Verankerung in einem gemeinsamen Sinn und Empfinden, in einem geteilten und gewissermaßen populären Wissen, zunächst ein Mittel, der Gewalt des Stils und den mit der hartnäckigen Suche nach Originalität verbundenen Konkurrenzverhältnissen zu zerrissen, ist Poetik kein Kitt, kein Klebestoff und keine Nähnadel. Aber um zu begreifen, wie die Welt es mit uns meint, dafür kann die Poetik Zusammenhänge herstellen.« 46 Char, »Feuillets d’Hypnos« (1943–1944), in: Ders. Po8sies/ Dichtungen. Bd. I, hg. von JeanPierre Wilhelm unter Mitarbeit von Christoph Schwerin. Frankfurt, Fischer, 1959, S. 177. 47 Diese Geschichte ist das zweite Beispiel für »Gegen-Erzählungen«, die auf die Bekämpfung von Allmachtsfantasien (die Phantasmen, die eine funktionale globalisierte Welt gebiert) abzielen, im Vorwort des 2. Buches der französischen Ausgabe der Chronique des sentiments (Anm. 45).
Im Dickicht der Sinne, ein melancholisches Gefühl
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entkommen. Die Ambition, sich in einem Duo zu verbinden, das sich dem Kollektiv nicht verweigert, lässt sich auch als Suche nach einem »gesteigerten« Geist interpretieren, wobei der Künstler nicht nur über den eigenen und sein eigenes Ausdrucksmittel verfügt, sondern auch über jene seiner »Freunde«. Die Frage liegt nahe, ob dieser Geist nicht auch eine Art pragmatische, durch den Mangel an Sinn legitimierte ›Trägheit‹ und/oder Altersangst kompensiert. Bei beiden Künstlern entspricht ein einfacher, aber vor allem freier und paradoxer Ausdruck dem Recht auf Banalität, auf Alltag, das Herbe und Uneinheitliche, sogar auf Inkohärenz – dies alles im Dienst eines an die Empfindung gebundenen Wissens. Zusätzlich zu den Zweideutigkeiten des Sinns situiert sich der experimentelle und kurios dokumentarische Charakter des Werkes Dezember in diametralem Gegensatz zu gewissen (inter-)diskursiven Formen der Volksliteratur, die sich als Vektor ideologischer Bildung verstehen. Dies gilt auch für den sozialen und politischen Inhalt des Werks: Kein Gutmenschentum, keine Gewissheit, die nicht zunichtegemacht würde durch Humor und das Primat der Intuition, durch Empfindung oder Gefühl. Aus diesem Blickwinkel knüpft Richter über den Kalender, den Dezember komponiert, auch an sein erstes Künstlerbuch von 1966, polke / richter. richter / polke48, an, wo die Mischung der Genres und der Künste, die gegen die klassischen Ideale der damals geltenden Reinheit und Klarheit verstößt, Teil einer Volkskultur ist, die sich vom Gedanken der Abschottung losmacht. Das Nachleben der fragmentarischen und intermedialen Form bezeugt, dass das Experimentelle von Gestern zur Norm von Heute werden kann, dass die Kategorie des Populären sich ausweiten muss zu einer beweglichen Palette abwechslungsreicher und widersprüchlicher Suggestionen. Dezember demonstriert die Relevanz der Betrachtung der Intermedialität aus dem Blickwinkel des Dissens, weniger in seiner prinzipiellen Negativität als in der ihm inhärenten Möglichkeit, jene Alterität konkret zu erproben, von der die Konzeptualisierung ausgehen kann. Die intermediale Praxis verkörpert so die Erfahrung einer gewissen Form des Rückzugs und des Spiels, die kritische Distanz erlaubt und dazu zwingt, den Status des Werks wie den Platz des Lesers und Betrachters neu zu denken. Es handelt sich bei Kluge und Richter um ein konzeptuelles Paradigma, das die beiden Künstler an die Stelle ehemaliger kritischer Reflexe setzen, wobei sie die Kategorie des Hybriden, in dem der Raum sich nicht mehr nur als Grenze gibt, neu gründen. Toulouse, 30. Juni 2018
48 polke / richter. richter / polke, galerie h, Hannover, 1. bis 26. März 1966, Katalog, Entwürfe, Fotografien, Dokumente, Köln 2014.
DCTP – News & Stories vom 3. August 2014 (SAT.1) (Kluge / Kiefer)
Ein Vormittag mit Anselm Kiefer – Besuch in seinem Atelier bei Paris
ALEXANDER KLUGE: Ein Buch ist normalerweise ein kleiner Gegenstand. Buchmalerei, das wäre in die Buchstaben hinein gemalt. Es würde immer kleiner werden. Das wäre die Mikrostruktur. Sie haben hier anderthalb Stockwerke große Gebilde gemacht. ANSELM KIEFER: Ja. KLUGE: Das sind Landschaften. KIEFER: Ja, das waren Fotos, die ich in die Elektrolyse getan habe. Ohne mein Zutun haben die sich verändert. Ich finde es immer schön, wenn ich überrascht werde, ohne dass ich etwas dazu tun muss. KLUGE: Sie lassen die Natur los. KIEFER: Ja, ich ruf ’ die Natur zur Hilfe. Die hilft mir. [Lacht] KLUGE: Aber gewusst wo? Der Arzt macht das im Übrigen auch. Er holt die Natur zur Hilfe. Aber er weiß, wann er es tut. Das macht der Maler auch. Der Maler entschließt, wann die Willkür, wann das Chaos und wann die Vielfalt regiert. KIEFER: Ja, das Chaos muss regieren. Ich meine, ein zu viel an Chaos ergibt einen grauen Brei. Aber zu viel Ordnung, geht auch nicht. Man muss immer irgendwie den Weg dazwischen finden. KLUGE: Herr der Zufälle… KIEFER: Ja, ja. Wobei »Zufall« ein schwieriges Wort ist. Zum Beispiel in meiner Bibliothek im Süden von Frankreich. Da hatte ich die Bibliothek unten, und oben waren die Wohnräume. Morgens um sechs Uhr ungefähr bin ich runter und habe fast blind ein Buch gegriffen. Es war fast immer das richtige Buch. Das ist merkwürdig, oder? KLUGE: »Es gibt etwas, was nicht wir wissen, sondern es gibt etwas in uns, welches weiß«, das sagt Kleist. KIEFER: Ja, ja, natürlich. So ist es mit der Elektrolyse. Das ändert sich dann, und manches ändert sich total, also zum Nichts hin, aber manches ist eine Überraschung. Das ist wunderbar. KLUGE: Sie haben mal gesagt: »Ich denke, wenn ich male.« Oder indem ich male.
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KIEFER: Ja. KLUGE: Sie denken auch, indem Sie schreiben, kann man sagen. KIEFER: Ja, das Denken ist interessant. Vor einem halben Jahr hatte ich diese Operation [fasst sich auf die linke Schulter] und nun habe ich wieder angefangen zu malen. Das Merkwürdige war, ich dachte jetzt muss ich mich erst wieder daran gewöhnen. Aber das war noch im Arm. Der Körper hat es immer noch. Selbst wenn er es nicht ausführt. Das ist interessant. Man sagt immer, man arbeitet vom Bauch heraus. Man hat festgestellt, dass im… KLUGE: … Darm… KIEFER: … im Dickdarm ähnliche Verhältnisse sind wie im Hirn. Der Dickdarm denkt. So ist es mit der Körperlichkeit. Nietzsche zum Beispiel hat mal gesagt, man muss tanzen. Ich sehe dies als eine Einheit: die Physis und der Geist. Also der Körper, der auch selbst denkt. KLUGE: Und gewissermaßen diesen Körper, den der Maler gebraucht, das ist der Tastsinn. Der setzt den Körper voraus. KIEFER: Nicht nur der Körper. Ja, Tastsinn auch. Das sowieso, aber auch die Motorik. KLUGE: Auch die Motorik. KIEFER: Die ist wichtig. KLUGE: Ja. KIEFER: Es gibt da die Actionpaintings und so weiter… Es ist die Physis. Wenn die Journalisten mich immer fragen: »Warum malen Sie so groß?« und so weiter, dann sage ich: »Das ist nicht groß. Das entspricht meiner Gestik, meiner Motorik.« Das ist einfach etwas, was mir zukommt. KLUGE: Sie haben sich jetzt wieder ganz ungeduldig auf die Bilder gestürzt, nachdem der Arzt Sie mit der Schulter freigegeben hat. KIEFER: Ja. Ich habe den eigentlich nicht gefragt. [Lacht] Ich habe irgendwann angefangen. Das war so erstaunlich, dass es eigentlich, obwohl sechs Monate Zeit war, keine Unterbrechung war. Es ist alles hier noch da. [Fasst sich an den Kopf und auf den Bauch] KLUGE: Welche Sinne sind beim Malen beteiligt? Kann man sagen: »Ich höre, also male ich«? KIEFER: Ja, natürlich. Ein Gedicht kann ein Anfang sein. KLUGE: »Ich höre das Licht«, heißt es im Tristan. KIEFER: Ja, ja, das Hören ist sowieso viel tiefer als das Sehen. Das Sehen ist auf einen bestimmten Punkt fokussiert. KLUGE: Prallt an einem Feind ab, an einem Gegenstand ab, an einer Gefahr ab… KIEFER: Und nicht aggressiv. Es gab früher diese Duelle, da hat der eine den anderen fixiert. Die Ohren sind etwas ganz anderes. KLUGE: Die sind offener. Die haben keine Lider. Ich kann das Ohr nicht verschließen.
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KIEFER: Ich habe mal von einer Blinden gehört, die hat gesagt, wenn sie jetzt die Wahl hätte, taub oder blind zu sein, dann würde sie immer wählen, dass sie nicht taub wird. Lieber blind als taub sein. Weil das ganz andere Räume im Ohr sind. Wenn man am Meer ist und die Wellen hört, das ist ein richtiges räumliches Gebilde. KLUGE: Das heißt, wenn Sie Wellen malen – das Meer haben Sie oft gemalt oder den Rhein – dann ist damit etwas Akustisches verbunden. KIEFER: Ja, ich höre auch immer mal wieder Musik beim Arbeiten. Das fließt direkt ein. KLUGE: Sie haben auch mit der Oper zu tun. Ich habe gehört, dass Sie jetzt für die Scala Otello von Rossini machen. KIEFER: Ja, ich habe den Verdi studiert. Dann hat der eine gesagt: »Nein, das ist Rossini.« Das ist ein bisschen anders. KLUGE: Eine ganz andere Oper. Eine Oper, bei der drei Tenöre singen: Otello, Rodrigo und Jago. Alles Tenöre und nur ein Bass und ein Sopran. KIEFER: Und kein Schiff mehr am Anfang. KLUGE: Aber hoch interessant. Lord Byron hat gesagt, es ist eine Verballhornung von Shakespeares Text, aber es ist eine herrliche Musik. KIEFER: Ja, manchmal ist der Text von Opern echt bescheuert. KLUGE: Ja, vor allem der Inhalt hier : das Taschentuch, von einer Ägypterin überreicht und mit einem Zauber versehen. Das ist hier reiner Schriftverkehr. KIEFER: Ja. KLUGE: Aber die Musik ist offenkundig zauberhaft und sehr abstrakt. KIEFER: Ja, absolut. Auf Komponisten bin ich eigentlich immer so neidisch, weil das für mich die höchste Kunst ist. KLUGE: Was werden Sie da für ein Bühnenbild machen? Ich meine, die großen Bilder, von denen Sie eben sprachen, wo ein antiker Tempel noch durchscheint und geätzte Vordergründe sind. Könnte man sich so etwas vorstellen? KIEFER: Ja, soll ich Ihnen jetzt sagen, was ich für Ideen habe, oder was? [Lacht] Es gibt einen, der verschwindet, da habe ich gedacht, den muss man in ein Sandloch reintun. In der Wüste gibt es Sandlöcher, wo das weggeblasen wird. Ich will ganz viel mit Sand arbeiten. Mit Dünen, weil irgendwas passieren muss. KLUGE: Für die Empfindungen… KIEFER: Dünen sind wunderbar. Die sind erstens Auslöschung und zweitens Neuschaffung. Dafür braucht man riesige Windmaschinen, die die Dünen auf der Bühne wandern lassen. Ich weiß noch nicht, ob das geht. KLUGE: Das ist vielleicht auch nicht so gesund für die Sänger, so ein bisschen Staub. KIEFER: Die hatten immer Schwierigkeiten mit mir. Bei Ödipus in Kolonos in Wien habe ich viel mit Asche gearbeitet. Es fiel andauernd Asche runter. Der Bruno Ganz war gar nicht happy. [Lacht]
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KLUGE: Noch mal zu den Dünen. Die drei Akte unterscheiden sich kaum, weil es um das Seelendrama geht. KIEFER: Ja. KLUGE: Prinzipien kämpfen miteinander. Der Fremde ist kein Mohr, sondern ein Nicht-Akzeptierter. KIEFER: Ja, ein Nicht-Akzeptierter und ein Eifersüchtiger. KLUGE: Ein Eifersüchtiger. KIEFER: Das ist etwas Geologisches. Die Eifersucht rührt von den Dinosauriern her. Wir haben da noch hier [fasst sich an den Hinterkopf] einen Teil, der die Eifersucht produziert. Die ist etwas ganz Zerstörerisches, etwas sehr Unsinniges. KLUGE: Es gibt eine Version von Rossini, die hat er aufgrund der Zensurbehörde vorgenommen. Das ist ein Appendix mit finale lieto, mit wirklich heiterem Ausgang. Im letzten Moment kommt doch die Liebe in Otello hervor. Desdemona ist so rührend, dass er ihr plötzlich glaubt. Alle anderen werden zum Tode verurteilt und sie sind ein herrliches Paar. Schlusschor. Die Musik dafür ist noch besser als für den tragischen Schluss bei Rossini. Diese Zauberei kann nur Rossini. KLUGE: Uns von der Tragödie erlösen. Sie erst vorzeigen, noch mal in ihrer ganzen Bitterkeit. Wenn der Zuschauer keinen Ausweg mehr sieht, dann sozusagen im Himmel der Oper… KIEFER: … in der Abstraktion… KLUGE: … in der Abstraktion einen Ausweg für Tenor und Sopran. So etwas anzuhängen, würden Sie das machen, wenn es erlaubt wäre? KIEFER: Ich möchte jetzt noch nicht so viel über diese Oper reden. Ich muss die erst noch machen. [Lacht]
Stichwort: Erster Weltkrieg KLUGE: Es gibt ein Thema, das mich sehr fesselt. Das ist der Erste Weltkrieg. KIEFER: Ja. KLUGE: Wir hören es die ganze Zeit: Hundert Jahre Erster Weltkrieg. Gleichzeitig aber merkt man, dass man ihn eigentlich nicht verstanden hat. Man kann ihn jetzt nach hundert Jahren erstmals erzählen. KIEFER: Ja, es gibt Auswirkungen des Ersten Weltkriegs, die erst jetzt spürbar werden. Der Zweite Weltkrieg hat nicht so viele Auswirkungen gehabt. Das war eine riesige Zerstörung. KLUGE: Ein wirklicher Bankrott und ein wirklicher Neuanfang. KIEFER: Aber der Erste Weltkrieg hat irgendetwas weitergestrickt… KLUGE: … lose Enden…
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KIEFER: … einen Faden weitergestrickt. Die ganzen Probleme kommen eigentlich aus dem Ersten Weltkrieg. Aus der Neuordnung, die keine Ordnung war aus dem Weltkrieg… [Flugzeug fliegt hörbar über das Atelier. Kiefer nimmt das Geräusch wahr, schaut nach oben und lacht.] KLUGE: Es ist von Bildern überdeckt, wie durch Lava, die auf Erzählungen beruhen, und da sind die feindseligen Bilder in Deutschland, die in Frankreich, die in Groß-Britannien divergent. Die Schweiz hat keine eigene Erzählung dazu… KIEFER: Wer hat keine eigene Erzählung? KLUGE: Die Schweiz… KIEFER: Ach, die Schweiz… KLUGE: Die Schweiz hat keine eigene Geschichte dazu entwickelt. Im Grunde fängt es jetzt an, dass alles noch mal geordnet erzählt wird. Als ich in der letzten Zeit einige Filme darüber gesehen habe – auch von Stanley Kubrick die Wege zum Ruhm und so weiter – musste ich sehr an ein Bild von Ihnen denken. Das heißt »Der Schläfer im Tal« [Bild wird eingeblendet] Können Sie das mal beschreiben? KIEFER: Das ist von Rimbaud, nee? KLUGE: Ja, das ist ein Rimbaud-Gedicht. Das ist von 1870. Von dem Krieg Preußen gegen Frankreich. Das ist sehr erschütternd, weil man zunächst glaubt, da schläft jemand, aber er ist tot. KIEFER: Ja, genau. Das war der Krieg, wo es noch diese Auseinandersetzung gab, ob die Hosen der Franzosen rot sein dürfen. KLUGE: Dann sind sie ein Ziel für Schnellfeuergewehre. Das ist ganz gefährlich. KIEFER: Rote Hosen, das ist Frankreich, hieß es dann. KLUGE: Die Franzosen mit den roten Hosen. KIEFER: Ja, genau. [Lacht] Ich habe als Kind noch diese Bleisoldaten mit roten Hosen gehabt. Da konnte man auch den Kopf abnehmen, die hinlegen und dann waren die tot. [Lacht] Das ist interessant. Die roten Hosen… KLUGE: Das haben Sie immer wieder in Bildern gezeigt. Übrigens auch in Büchern. Diese Bleisoldaten, keine Zinnsoldaten. KIEFER: Das ist meine Garde, meine Leibgarde.
Das Gaskampflied [Kiefer liest vor :] Es geht eine dunkle Wolk’ herein: Mich dünkt, es wird ein Angriff sein, Ein Angriff von den Feinden, Mit dunkelgrünem Gas.
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Und kommst du, liebe Sonn’, nicht bald, So welket alles im grünen Wald, Und all’ die bunten Blumen, Die haben müden Tod. KIEFER: Ja, dass der Tod müd’ ist, das ist merkwürdig. Der Tod ist doch tot. Der kann nicht müde sein. KLUGE: Es gibt später einen Stummfilm von Fritz Lang, der heißt Der müde Tod. KIEFER: Ach, ja? KLUGE: Das hat er daraus. KIEFER: Ach so! Aha. KLUGE: Das ist ein berühmtes Lied gewesen. KIEFER: Was gibt es denn sonst für einen Tod? KLUGE: »Der müde Tod«… KIEFER: … Ach so, den »Heldentod«… KLUGE: Es gibt den »Heldentod«. Es gibt den »raschen Tod«. Es gibt den »jähen Tod«. KIEFER: Ja, ja. KLUGE: Die Hoffnung verschwindet erst und dann der Körper, der still ist. Das wäre der »müde Tod«. KIEFER: [Liest noch einmal für sich vor :] Und kommst du, liebe Sonn’, nicht bald, So welket alles im grünen Wald, Und all’ die bunten Blumen, Die haben müden Tod. [Legt das Buch weg] KLUGE: Der Tod, der nicht mehr töten will. Das ist vielleicht der »müde Tod«. KIEFER: Das wäre sogar gut. KLUGE: Wenn Sie Kriegsbilder und Trauerbilder machen, dann würden Sie immer eine Brechung versuchen. KIEFER: Unbedingt, weil man sonst nicht leben kann. Georg Trakl, der konnte nicht leben. Es gehört immer eine Art von Zynismus dazu. Wir können die Welt nur zynisch sehen. KLUGE: Sagen Sie. KIEFER: Ja. KLUGE: Das sagen Sie so wie Diogenes. Es ist nicht verachtend, sondern herausfordernd.
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KIEFER: Ja, nein. Verachtend ist das nicht. »Zynisch« meint, dass man die angebotene Logik oder die angebotene Erklärung nicht annimmt. KLUGE: Genau. Dass man die Welt aus dem Blick eines Hundes betrachtet… KIEFER: Oder die angebotene Illusion nicht annimmt. Desillusioniert. KLUGE: Der Hund steht unter dem Tisch. KIEFER: Wer?
KYON = griech. Hund / Zeichen des Diogenes KLUGE: Der Hund… KIEFER: Ja. KLUGE: Der befindet sich unter dem Tisch und sieht die Herrschaften von unten. Wir gebrauchen den Ausdruck falsch. Wir haben eine gut bürgerliche Haltung, so dass wir sagen: »Wer so spricht, verachtet die Welt.« Es stimmt gar nicht. Einer liebt die Welt. KIEFER: Es ist dann moralisch betrachtet. KLUGE: Moralisch… Als gäbe es sozusagen ein Raumschiff, auf dem man das Gute isoliert vom Bösen transportieren könnte. KIEFER: Ja. KLUGE: Der Diogenes sagt, das gibt’s überhaupt nicht. KIEFER: Ja, das ist auch klar. Das Gute an sich gibt’s eigentlich nicht. KLUGE: Das gibt’s gar nicht. KIEFER: Es gibt so viele Zeitverläufe, so viele Ereignisse, wo jemand das Böse wollte und das Gute kam dabei heraus oder umgekehrt. KLUGE: Pharmakologie des Guten und des Bösen. Das wäre nach Paracelsus: Mit einem Maß ist es ein Heilmittel, und mit einem anderen ist es ein Gift. KIEFER: Natürlich, ja. Digitalis und all’ dies. KLUGE: …und so malen Sie. KIEFER: Ja, ich teile nicht ein in Heilmittel und Gift, weil es sonst fad wird. KLUGE: Ja, Sie können es auch gar nicht, weil das Bild sozusagen nicht heilt. Aber es bewahrt etwas auf. Es enthält Bohrungen. KIEFER: Das Bild schafft eine Illusion ab und schafft eine Neue auf höherer Ebene. KLUGE: Ja, aha. Es ist ein Wandlungskünstler. KIEFER: Ich akzeptiere keinen Sinn, den man mir anbietet. Das gibt’s einfach gar nicht. Aber ich schaffe einen neuen Sinn, sonst müsste ich aufhören zu leben und zu arbeiten. Dieser neue Sinn ist aber genauso gefährdet wie der alte.
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Wenn Sie schreiben, wann schreiben Sie? KLUGE: Wann schreiben Sie? Morgens? Nachts? KIEFER: Also wenn ich intensiv arbeite, wenn ich intensiv male, dann schreibe ich nicht mehr. Im Moment schreibe ich nicht. Aber wenn ich schreibe, dann schreibe ich normalerweise morgens, wenn ich aufwache. Was ich sehe. Ich schreibe auch, wenn es ein Problem mit einem Bild gibt. Ich schreibe auf, was ich sehe. Ich schreibe Möglichkeiten auf. Schreiben heißt für mich Möglichkeiten. KLUGE: Das heißt, Bilder sind wie Vorratslager. KIEFER: Ja, die Bücher sind… KLUGE: Was bei Leonardo da Vinci die Skizzen wären. Das könnte man in ein Buch fassen, und was die ausgeführten Bilder sind, das sind die Gemälde. KIEFER: Ja, richtig. Vorrat ist der richtige Ausdruck dafür. Es ist ein Depot. Ich schreib’ auch oft über etwas, was ich vor fünfzehn, zwanzig Jahren geschrieben habe. Ich schau’ dann nach und denke »Oh« und schreibe wieder darüber. Es überlagert sich andauernd. KLUGE: So dass Kommentare entstehen. KIEFER: Ja. KLUGE: Wie eine vertikale Struktur… KIEFER: Also wie diese jüdischen Bücher. Wie heißen die? KLUGE: Gemara. Genau. KIEFER: Um die immer herum geschrieben wird. Ein Kommentar zu einem Kommentar zu einem Kommentar. KLUGE: Innen ist der Heilige Text, den darf keiner verändern. Drumherum der Kommentar. Aber das dürfen nur Rabbiner machen, die anerkannt sind. KIEFER: Es geht immer im Kreis rum… KLUGE: Der Laie kann in der äußersten Schicht auch etwas sagen. KIEFER: Ja, genau. KLUGE: So dass ihre Bücher zynisch sind. Sie sind Kugeln. KIEFER: Ja, kreisförmig. Es wiederholt sich auch immer wieder alles auf verschiedene, auf eine andere Art. KLUGE: Sie haben mal ein Buch geschrieben, das heißt: Scherben. KIEFER: Ja, ja. [Lacht] KLUGE: Ein ganz frühes Buch. Da sind Sie vierundzwanzig Jahre alt, glaube ich. KIEFER: Ja, genau. KLUGE: 1969. Scherben beginnt damit, wie man aus den Scherben einer Kaffeekanne wieder eine Kaffeekanne zusammensetzt. KIEFER: Da war ich an der Uni und habe gesehen, wie ein Professor zwei Semester lang über zwei Scherben gesprochen hat. Also diese antiken Vasen. Ob die zusammengehören. Und wo die hingehören. Und so weiter. Ich war so fasziniert von dieser Langeweile, dass ich gedacht habe, das mach’ ich auch. [Lacht] Ich
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habe eine Kaffeekanne genommen, die fallen lassen und wieder zusammengesetzt, wie der das in der Vorlesung gemacht hat. [Lacht] KLUGE: … interessante Scherben… KIEFER: Können Sie sich das vorstellen? Zwei Scherben von so einer alten Vase, diese Einritzungen und so. Darüber kann man lange reden. Ob die zusammenpassen und so. Im Nachhinein vergleiche ich es mit dem 24 Stunden Film von Warhol: stinklangweilig. [Lacht] KLUGE: Es ist nicht langweilig, wegen der Tatsache, dass diese Scherben nie wieder zusammenzuführen sind. Wäre es ein Mensch und sein Schicksal, und es liegt in Scherben: Ich kann es nicht mehr auf den Ursprung zusammensetzen. KIEFER: Ja, genau. Nein, nein. Die Langeweile ist nicht sinnlos. Wenn ich Langeweile sage, meine ich nichts Negatives. Langeweile ist der Anfang der Philosophie. KLUGE: Ja. KIEFER: Der Heidegger hat sein Sein und Zeit auf der Langeweile aufgebaut. Ich habe die Vorlesung gelesen. Da ist das mehr ausgeführt als im Buch. Da schreibt er, dass, wenn er am Abend bei Kollegen eingeladen ist, ist das zwar nicht unangenehm, aber auch nicht besonders interessant. Es ist langweilig, und da kommt das Gefühl von Sein hinein. In der Vorlesung führt er das so aus. KLUGE: Ich denke also, weil ich einen Moment davon absehen kann, dass ich denke und jetzt denkt es in mir. KIEFER: Ja, ja…Nein, und es entsteht ein Raum. KLUGE: Es entsteht ein Raum. KIEFER: Nichts ist mehr teleologisch. Nichts ist mehr auf die Zeit gerichtet. Es steht auf einmal im Raum. Der hat auch keine Qualität, weil es langweilig ist. Das ist nicht aufregend. Das ist nicht besonders angenehm. Es ist ein Unding. KLUGE: Das Ding hält mich also fest. Das Unding kann ich noch verstehen und kann mir etwas Neues bringen. KIEFER: Das hat mich sehr fasziniert als ich das über die Langeweile gelesen habe. Ich habe kleine Kinder. Die sagen immer : »Papa, je m’ennuie. Qu’est-ce que je peux faire?1« Dann sage ich immer : »Das ist doch ein guter Punkt jetzt.« [Lacht] Andauernd muss eine Aktivität sein. Irgendeine Nachricht auf dem – Wie heißt das? – iPod oder iPad. Da gibt es überhaupt keinen Raum mehr. Der Raum besteht gar nicht mehr. Wenn ich jetzt weg bin – verreist oder so –, kann mich jeder jederzeit erreichen. Das ist absurd. Dann gibt es gar kein Warten mehr. Das Warten ist etwas ganz Wichtiges. KLUGE: Nun ist das so, wenn ich Sie beobachte: Sie stehen am Morgen auf und so werden sie aufgezogen, bemühen Sie den Zufall, gehen an Ihre Bücher, Sie sprechen mit den Bildern, die Sie umgeben, und dann fangen Sie mit relativ viel 1 Auf Deutsch: »Papa, ich langweile mich, was kann ich denn machen?« (A. d. H.)
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Thymos an zu malen. Für mich sind Sie nicht der Prototyp für jemanden, der ruhig ist, der wartet, der Ataraxie pflegt – also die unerschütterliche Ruhe – , der die Langeweile pflegt. Für mich sind Sie nicht dieser Typ. Wann stellen Sie das her? Diesen schönen Vakuumzustand, in dem Energien entstehen? KIEFER: Das ist eine Aufgabe. Heute ist das für mich eine Aufgabe. Früher ging das von ganz alleine. Ich erinnere mich, dort, wo ich ausgewachsen bin, in einem Dorf, da gab es nichts: kein Theater, kein Film, Fernsehen sowieso nicht. Ich glaube, wir hatten nicht mal ein Radio. Das war eine endlos lange Zeit. Das war alles unendlich. Jetzt muss ich das bewusst herstellen. KLUGE: Sie philosophieren gern. Philosophieren ist eine natürliche Eigenschaft, die eigentlich alle Menschen haben. Zum Maler muss ich begabt sein. Das kann nicht jeder. Zum Musiker muss ich mindestens Noten beherrschen und eigentlich berufen sein. Philosophen sind aber eigentlich alle Menschen. KIEFER: Ja. KLUGE: Auf verblüffende Weise. Wenn Sie mal diese Scherben philosophieren. Sie kriegen die Scherben nicht wieder zusammen. Wir können die leimen, ja das stimmt, nicht? KIEFER: Ja. KLUGE: Aber eigentlich kriegen wir das Originalgefäß nicht zurück. Die meisten Sachen sind nicht einfach eine Kaffeekanne, die zerdeppert ist, oder eine griechische Vase, sondern es sind menschliche Verhältnisse, die zertrümmert sind… Geschichtsverlust. Oder es ist so, dass Sie eine Tat begangen haben, und Sie können es nicht zurücknehmen. KIEFER: Ja, wenn etwas runterfällt und kaputt ist, ist es wie ein Tod. Es ist etwas passiert, was nicht mehr rückgängig zu machen ist. Man kann es nicht kleben. KLUGE: Dieses Bild haben Sie noch nie gemalt, wie etwas Totes wieder lebendig wird. Wie in der Oper : Die Sängerin erhebt sich im fünften Akt wieder. KIEFER: Naja, bei mir gibt es nichts, was endgültig ist. Bei mir oder in meiner Arbeit gibt es nichts Endgültiges. Das Endgültige ist noch am Leben. KLUGE: Wenn es an der einen Seite stirbt, steht es an der anderen wieder auf. KIEFER: Ja, so oft misslingt mir ein Bild. Ich stelle das dann weg, und nach ein paar Jahren, ein paar Monaten oder ein paar Wochen, wird es auf einmal gut. Das Endgültige gibt es da nicht. Das ist das Tröstliche dabei. KLUGE: Bei Musil gibt es eine Stelle, als er über den Ersten Weltkrieg schrieb, in der er sagt: »Ein grüner Jäger schießt einen braunen Hirsch. Der Hirsch fällt tot um. Und niemand in der Welt kann dies rückgängig machen.« Wenn Sie als Maler… Wir wünschten uns doch beide, dass so etwas im Sinne des Hirschs rückgängig zu machen wäre. KIEFER: Ja, oder eine falsche Entscheidung oder so. KLUGE: Er sagt, aber das geht eigentlich nicht. Ich müsste die ganze Welt, alle Naturgesetze einmal verändern, also die Fallgesetze, dass der Hirsch wieder nach
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oben fällt, dass der Hirsch wieder lebendig wird, dass der Schluss wieder schadlos in das Gewehr zurückgeht. KIEFER: Die Zeit müsste umkehrbar sein. KLUGE: Den Zufall umkehren. Das wäre etwas, was mich als Maler – ich kann nicht malen – fesseln würde. In der Musik ist das möglich. KIEFER: Ja, wäre das denn ein Krebs? KLUGE: Ein Krebs ist die höchste Form der Fuge. Die höchste Kultur der Evolutionsstufen, [Beide lachen] ist die Melodie, die vorwärts und rückwärts zugleich kriecht. KIEFER: Oder bei Tristan und Isolde. KLUGE: Ja, bitte. KIEFER: Da hört das Endgültige auch auf. KLUGE: Und es hört gar nichts auf. KIEFER: Ich meine, die Endgültigkeit hört auf. KLUGE: Ja, die hört auf. KIEFER: Ja. KLUGE: Wenn Sie bei Ihren Bildern einmal stöbern. Ich vermute, dass Sie das längst gemalt haben, dass etwas wiederkehren kann, weil der Wunsch so groß ist. KIEFER: Ja, bei mir kehrt andauernd alles wieder. Fortlaufend. Es ist doch eigentlich so. Auch bei einem Schriftsteller. Das ganze Material kommt aus der Kindheit, weil man die Dinge in dieser Zeit nicht unter bestimmten Kategorien erlebt. Oder Regalen oder wie sagt man dazu? KLUGE: Man ist empfindlich. Die Hornhaut ist noch nicht gewachsen. KIEFER: Man hat noch keine Einordnungsfähigkeit. KLUGE: Man hat noch nicht in Drachenblut gebadet. KIEFER: Ja, genau, und deswegen geht man immer darauf zurück. Jeder, ob er das noch weiß oder nicht. KLUGE: Machen wir das mal. Sie haben ein Bild. Das ist aus Ihren frühen Tagebüchern. Da ist eine fränkische Prinzessin dargestellt. Die kommt ursprünglich aus Thüringen. Ist fremd am Hof und wird mit ihrem Kind verbannt: Die Genoveva. KIEFER: Ah, ja, ja richtig. KLUGE: Beschreiben Sie doch mal. KIEFER: Ja, es gibt so Geschichten aus der Kindheit, die sind erzählt worden, die bleiben für immer. Das sind der Tristan und die Isolde. Das ist dann der Schwanen… KLUGE: …der Schwanenritter Lohengrin. KIEFER: Monsalvat. Die sollst du nicht befragen. Und die Genoveva. Da gibt es noch ein paar mehr, aber das sind grundsätzliche Dinge. Diese Geschichte von der Genoveva ist unglaublich erotisch. Als Kind, wenn die dann im Wald ist mit ihrem Kind…
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KLUGE: … verbannt vom König… KIEFER: … und Wurzeln ausgräbt. Das größte Unrecht wurde ihr angetan. Sie wurde angeklagt, dass sie sich mit dem Verwalter eingelassen hat und so weiter. Dieses Ausgesetztsein mit ihrem Sohn, hat etwas unheimlich Erotisches. KLUGE: Ja. KIEFER: Die ist alleine mit ihrem Sohn. Es gibt dann noch einige Geschichten, die unheimlich…Wie heißt der mit dem Herz aus Stein? Da gibt es viele Geschichten. KLUGE: Ja. KIEFER: Die wirken natürlich unheimlich. KLUGE: Auch diese Bücher. In Ihrer Kindheit müssen Sie wahrscheinlich Bücher von den Befreiungskriegen gesehen haben. KIEFER: Habe ich nicht gesehen. KLUGE: Wo kommt zum Beispiel die Erinnerung an Napoleon und Königin Luise her? KIEFER: Ach so. Das war ein Film. Wann gab’s denn diesen Film? Das war ein Schwarz-Weiß-Film. In den fünfziger Jahren, nicht? [Lacht] Das ist ein ungeheurer Film. KLUGE: Hier gibt es die Wege der Weltweisheit. Dazu gehört das. Da ist auch Horst Wessel zu sehen. Wo haben Sie den her? KIEFER: Das »Horst-Wessel-Lied« habe ich von einer Schallplatte. Ich weiß nicht mehr genau, woher ich das habe. Das ist sehr bekannt. KLUGE: Der Fichte kommt vor. KIEFER: Ja, der Fichte. Die Reden an die Nation. Das ist natürlich wichtig. KLUGE: Der übt in der Berliner Universität mit den Professoren mit Holzschwertern gegen Napoleon zu kämpfen. Als der auf Berlin marschierte nach der Schlacht von Bautzen. KIEFER: [Lacht] Und die Reden an die Nation. Der war sehr national gesinnt. KLUGE: Das sind große Ich-Erzähler. KIEFER: Ja, der hat sich entdeckt. Der hat gesagt: »Ich geh’ in die Welt.« KLUGE: Was philosophisch richtig ist, denn was mich nichts angeht, kann ich nicht philosophieren. Aber wenn ich nun das annehme, was mich etwas angeht, kann ich auch nicht philosophieren. KIEFER: Nein, dann haben wir den Expressionismus. Der hat gute und schlechte Seiten. Ich habe gerade eine Ausstellung über den Expressionismus in Zürich gesehen. KLUGE: Wie würden Sie sich einteilen? Sie haben expressionistische Züge. KIEFER: Mit einem Begriff aus der Geschichte? KLUGE: Ja. KIEFER: Oh. KLUGE: Also Impressionist sind Sie nicht. Obwohl…
Ein Vormittag mit Anselm Kiefer – Besuch in seinem Atelier bei Paris
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KIEFER: Doch, meine Bilder sind immer sehr farbig am Anfang. Manche bleiben farbig. [Lacht] Neuestens. Nein, das kann ich jetzt nicht sagen… Impressionist [überlegt]… Ich bin sehr begeistert von der Farbe. Aber jemand, der die Farbe behandelt, das sind nicht nur die Impressionisten. Da gibt es auch andere. KLUGE: Sie wurden gefragt: »Welche Farbe mögen Sie am liebsten?« Darauf sagten Sie: »Die Übergänge zwischen Blau und Rot.« KIEFER: Habe ich das gesagt? KLUGE: Haben Sie. KIEFER: Ja, gut. Das ist violett. Das ist die Farbe der Hoffnung. [Beide lachen] KLUGE: Ich glaube aber, dass Sie es an dieser Stelle anders meinten. Nämlich, dass Sie die Übergänge, da, wo es unvereinbar ist, wo es unmerklich ineinander übergeht, gar nicht erst endgültig werden lassen, dass also gar kein Violett entsteht. KIEFER: Der Übergang ist immer interessant. Da kann man noch auf alles hoffen. [Stehen vor einigen Bildern im Atelier] KLUGE: Ich sehe da ein Kriegswerkzeug. KIEFER: Ja, das ist das Samson. KLUGE: Ah, Samson. KIEFER: Diese Etikette da dran, die muss weg. Das ist die Registriernummer für nicht-militärische Gewehre, weil ich das sonst nicht ausführen darf. Ich muss beweisen können, dass es nicht mehr schießt. KLUGE: Ach so. Und das ist ein Maschinengewehr. KIEFER: Ja, das war aber auch in der Elektrolyse. Dadurch wird es denaturalisiert und wird zu etwas anderem. Wird fast zu einer Koralle. [Wieder auf dem Sofa sitzend] KIEFER: Das mit den Zufällen, das macht uns ganz schwindlig. Wenn man überlegt, warum wir eigentlich existieren. Warum die Erde eigentlich Wasser hat. Also die Erde hatte gar kein Wasser. Das Wasser kam durch Eismeteoriten. KLUGE: … Einschläge… KIEFER: Wenn das Wasser mehr wäre, wäre der Mount Everest im Wasser. Wenn es zu wenig wäre, wäre sie völlig ausgetrocknet. In jeder Hinsicht gibt es immer diese sogenannten zufälligen Mittelwege, die etwas möglich machen. KLUGE: Diese gibt es physisch nicht. Denn ein Molekül oder ein Atomteilchen zerfällt entweder in dreihunderttausend Jahren, oder sofort. Die Kugel trifft jetzt oder in dreißigtausend Jahren.
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KIEFER: Ja, ja, es ist immer so. Was da alles zusammenpassen muss auf der Erde, damit es uns gibt. Das ist so ungeheuerlich, nicht? Diese ganzen Feinheiten: zu viel Wasser, zu wenig Wasser, zu heiß, zu kalt, zu viel Magnetismus, zu wenig Magnetismus… Alles muss immer ganz genau austariert sein. Durch diese Milliardstel von Zufallsmöglichkeiten, oder was weiß ich, die haben sich ereignet und deswegen sind wir. Irgendwo anders kann auch etwas entstanden sein. KLUGE: Bei Kepler heißt ein Notenbild in einem seiner Bücher, in dem er die Töne der Planeten darstellt, »Harmonia mundi«. KIEFER: Ja. KLUGE: So ein Bild könnten Sie malen. Da sähe man keine Noten drauf, da sähe man vielleicht Kepler oder vielleicht etwas ganz anderes. KIEFER: Das müsste ein ganz delikates Nicht-Bild sein. [Lacht] KLUGE: Weil es so weit ist. KIEFER: Das weiß ich nicht. KLUGE: … und so wertvoll. »Harmonia mundi« wäre genau die anthropologische Konstante. Das heißt, dass irgendwie etwas zusammengestoßen ist, was beim Menschen »Musik« heißt. KIEFER: Das könnte nur hier gelten. Irgendwo anders wäre eine andere »Harmonia«. KLUGE: Ja, das könnte sein. KIEFER: Weil wir noch nicht wissen, wenn wir die »Harmonia mundi« hätten, ob die für alle Welten gilt. KLUGE: Nein, in einer Parallelwelt… KIEFER: …nicht mehr. Da schon wieder nicht mehr. KLUGE: Das wäre Heterotopie. KIEFER: Selbst wenn wir dieses unmögliche Ding, die »Harmonia mundi« hätten. Selbst wenn Einstein die Formel für den Mikrokosmos und den Makrokosmos zusammen gefunden hätte, selbst wenn das gelungen wäre, wüssten wir doch nicht, ob es irgendwo eine Welt gibt, wo dies nicht gilt. KLUGE: Ja. Wie würden Sie ein Nicht-Bild sehen? Bei ihrem »Schläfer im Tal« ist nicht mal der Schläfer zu sehen. Ich würde nicht mal sicher sagen, dass das ein Tal ist, sondern Sie haben etwas gemalt, was in der Hinsicht abstrakt bleibt, dass man es sich selber vorstellen muss. KIEFER: Ja, was heißt abstrakt? Wo dann so ein bisschen rot… KLUGE: Das Bild steckt in der Schrift. KIEFER: Die Schrift ist in diesem Fall eine Suggestion. KLUGE: Genau, genau. »Harmonia mundi« würden Sie wahrscheinlich reinschreiben. KIEFER: Das muss ich jetzt überlegen… Nein, würde ich nicht reinschreiben, weil es einen zu positiven Aspekt hätte. KLUGE: Ich verstehe.
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KIEFER: [Lacht] Das wäre wie »Thinking positive« oder »Positive thinking« oder wie heißt das? KLUGE: Ja, das geht nicht. Aber der Teufel, der vor dem Bild mit einer Flasche Essig stünde. KIEFER: Ja, sicher. Der würde die Harmonie herstellen, weil er das wieder zersetzt. [Lacht] KLUGE: Schwer zu malen. KIEFER: Der Teufel? KLUGE: Ja. KIEFER: Naja, der Teufel…Wie muss man einen Teufel darstellen? … Ich glaube, man kann den Teufel nur darstellen, indem er in das Bild hineinkratzt. KLUGE: Die Wirkung… KIEFER: Oder einen Pudel. [Lacht] KLUGE: Einen Pudel. KIEFER: Einen netten Pudel. KLUGE: Das ist interessant, weil die sich teilen und verkleiden können. KIEFER: Ja, ja. KLUGE: »Hortus conclusus« steht auf dem Bild hinter mir. KIEFER: Ja, genau. Das ist der Garten der Philosophen. Der ist mit dreizehn Steinen umsäumt, fast wie ein Magnetfeld, damit da nichts reinkommt. In der Mitte ist der alchemistische Ofen Athanor. Da wird experimentiert. Der Garten muss abgeschirmt sein, weil das Experiment nicht heraustreten darf. Weil, wenn man mit Keimen, mit Bazillen, mit Bakterien experimentiert, muss man das schön beisammen halten. Sonst geht es hinaus und… KLUGE: … ist kein Experiment mehr. KIEFER: Die Alchemie ist etwas Gefährliches. Das ist wie eine Mikrobenzüchtung. KLUGE: Würden Sie das positiv sagen? Dass Sie eine Liebe zur Alchemie haben, weiß man. Sie sind in einem gewissen Sinne Alchemist. KIEFER: Ja. Als Kind habe ich zum Beispiel verschiedene Dinge genommen Essig und Öl und Haselnüsse und was man sonst so hatte. Das habe ich in einen Topf getan, Deckel drauf und gedacht, in zehn Jahren schaue ich mal, was sich da entwickelt hat. [Lacht] Das ist etwas ganz Eigentümliches. Das macht man gern. KLUGE: Fast Gärtner… KIEFER: Ja, Gärtnern habe ich auch gemacht. Das ist aber etwas ganz anderes. Das ist ein Unterschied. Der Gärtner respektiert die Gesetze der Natur. Der erwartet den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter. Der Alchemist nicht. Der möchte den Frühling und den nächsten Frühling gleich darauf, ohne den nächsten Zwischenschritt. KLUGE: Verstehe. KIEFER: Darum ist das gefährlich. Darum muss er aufpassen.
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KLUGE: Ich verstehe. In Ihren Tagebüchern gibt es eine Stelle, an der beschäftigen Sie sich mit der letzten Wanderung von Hölderlin. Von Bordeaux aus wandert er durch ganz Frankreich nach Frankfurt und dort endet er im Turm. KIEFER: Ja. KLUGE: Das ist vor seinem angeblichen Wahnsinn. Er ist gar nicht wahnsinnig geworden. Er hat sich verschlossen. Wenn Sie da ein Buch mit Bildern, mit Miniaturen machen sollten oder überhaupt etwas malen sollten darüber… Dieses Frankreich kennen Sie. Das haben Sie im doppelten Sinne besetzt. KIEFER: Ich würde Gegenstände nehmen: Straßen oder Steine oder am Weg liegendes, was für alles gelten könnte. KLUGE: Es gibt Fotos, die ersten Fotos, die präzise sind, im Krim-Krieg. Ein britischer Fotograf nimmt einen Weg auf, und da ist eine einzige Kugel und etwas Matsch und so weiter. Das hat diese Unbestimmtheit, die Sie hier gerade vorgenommen haben. KIEFER: Und gleichzeitig Fetisch. Das ist wie ein Fetisch. KLUGE: Ja, ein Fetisch. KIEFER: Ich habe über Jahrzehnte, immer wenn ich in einem Hotel war, einen Plan von meinem Zimmer gemacht. Abgeschritten mit den Füßen. Ich hatte keinen Zollstock. Aber ich habe einen ziemlich genauen Schritt. KLUGE: »Hier bin ich!«, heißt das. KIEFER: Ja, das ist etwas Ähnliches. Diese Pläne, die sagen überhaupt nichts aus. Das sind architektonische Pläne, Architekturpläne, die an sich nichts beinhalten. Da steht nicht »Du hast dich so oder so gefühlt. Da war das Bett schlecht« und so weiter. Das hat mich immer fasziniert, dass ich etwas mache, was an sich gar nichts bedeutet. KLUGE: Aber für Sie bedeutet das, dass Sie dort eine bestimmte Zeit des Lebens gelebt haben, die nicht wiederkehrt. KIEFER: Ja, wie bei einem Haar, was man nimmt von jemandem, den man gern hat. Das bedeutet nichts. Nein, Moment. Es bedeutet etwas, aber es ist nichts. KLUGE: So ist es. KIEFER: Es hat eigentlich keine Existenz. Aber es bedeutet was, weil es so am Rand der Abstraktion ist, weil es so abstrakt ist. KLUGE: Wenn ich zu diesem Fenster dieses Raums gehe – ich habe den übrigens beschrieben – und hinaussehe in den Regen, verwandelt sich der Regen in Marmor. KIEFER: Ja, Sie spielen an auf ein Buch, das heißt Die Marmorlandschaften. Da habe ich Marmor auf eine Glasscheibe gemalt und die Landschaft, die da draußen war – das war ein sozialer Wohnungsbau – war marmoriert. Das war an sich ein omnipotenter Eingriff. KLUGE: Aber immer aus einem Raum, den Sie genauso beschreiben könnten wie »da steht ein Schrank, acht Zentimeter daneben das und das.«
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KIEFER: Ja.
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Kooperation. Zur Schärfung eines Begriffs anhand von Alexander Kluges jüngster Zusammenarbeit mit Georg Baselitz: Weltverändernder Zorn. Nachricht von Gegenfüßlern Japaner sind maskiert, wenn sie als Imperialisten und Kapitalisten auftreten. In Wahrheit sind sie stets Gegenfüßler. Alexander Kluge
Das zuletzt erschienene Buch von Alexander Kluge und Georg Baselitz Weltverändernder Zorn1 scheint jenes Projekt fortzusetzen, das 1972 mit dem Gemeinschaftswerk von Kluge und Oskar Negt Öffentlichkeit und Erfahrung2 begonnen, sich über die große Trilogie Geschichte und Eigensinn3 bis hin zu den jüngsten Zusammenarbeiten mit Gerhard Richter4 fortgesetzt hat und auf den Begriff der Kooperation zu bringen ist. Eine Praxis, der auch die zahllosen mit zeitgenössischen Persönlichkeiten geführten (Fernseh-)Dialoge entspringen, welche wiederum hin und wieder den Weg ins Medium des Buches finden und gefunden haben. So beispielsweise die Gespräche mit dem ostdeutschen Dramatiker Heiner Müller5, zuletzt mit dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl6 sowie dem Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach7. Kooperation meint dabei nicht allein die dialogische Zusammenarbeit Kluges mit einem Autor, Wissenschaftler und/oder Künstler, sondern auch die verschiedener Künste, Medien und Genres miteinander : Buch, Film, Fotografie, Fernsehen, Musik, Theater, Malerei, Oper agieren im Werk gleichberechtigt, 1 Georg Baselitz, Alexander Kluge, Weltverändernde Zorn. Nachricht von Gegenfüßlern, Berlin: Suhrkamp 2017. 2 Oskar Negt/ Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972. 3 Oskar Negt/ Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt am Main 1981. 4 Alexander Kluge/ Gerhard Richter, Dezember, Frankfurt am Main 2010; Alexander Kluge/ Gerhard Richter, Nachricht von ruhigen Momenten, Berlin 2013. 5 Alexander Kluge: Ich schulde der Welt einen Toten. Gespräche, Hamburg 1995; Ders.: Ich bin ein Landvermesser. Gespräche mit Heiner Müller, Hamburg 1996. 6 Alexander Kluge/ Joseph Vogl, Soll und Haben. Fernsehgespräche, Zürich/Berlin 2009. 7 Ferdinand von Schirach/ Alexander Kluge, Die Herzlichkeit der Vernunft, München 2017.
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kaum eines wird dem anderen hierarchisch übergeordnet.8 Methodisch hat die »kooperative[] Autorschaft«9, d. h. das Zusammenwirken von zwei Autoren – mit nicht selten »gegensätzlichen Interessen«10 – ihren Ursprung in Öffentlichkeit und Erfahrung, der ersten gemeinsamen Arbeit mit dem Soziologen, genauer Sozialphilosophen Oskar Negt. Ästhetisch findet sich die Technik der Kooperation zuerst in der von Negt und Kluge gemeinsam »Satz für Satz […] diskutiert[en] und geschrieben[en]«11 »Monumental-Montage«12 Geschichte und Eigensinn. Im Rückgriff auf diese in den frühen bundesrepublikanischen 1970er Jahren liegenden Anfänge sollen Methode und Ästhetik der Kooperation zunächst begrifflich umrissen werden, ehe Kluges Zusammenarbeit mit Georg Baselitz in den Blick genommen werden kann.
1 Der kooperative Arbeitsansatz weist nicht zuletzt auf die Kritische Theorie zurück, jener sozialphilosophischen Schule, der beide Autoren sich verpflichtet sehen: Oskar Negt als Schüler von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, später Assistent von Jürgen Habermas, Alexander Kluge13, der für sein juristisches Referendariat an das Institut für Sozialforschung nach Frankfurt kommt und in den 1960er Jahren von Adorno an Fritz Lang vermittelt Mitbegründer des Neuen Deutschen Films in Theorie und Praxis wird. Parallel zum Autorenkino ist Kluge Autor literarischer Texte, die nicht ganz zufällig im Jahr der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert gesammelt als Chronik der Gefühle14 erschienen sind. Historischer Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit von Negt und Kluge ist mit der Nähe zur Frankfurter Schule die Erfahrung, genauer die nicht oder noch nicht Erfahrung gewordene Erfahrung von Faschismus und Krieg in Deutsch8 Vgl. hierzu auch Alexander Kluges jüngstes Ausstellungsprojekt Gärten der Kooperation im Württembergischen Kunstverein Stuttgart von Oktober 2017 bis Januar 2018 (http://www.wkvstuttgart.de/uploads/media/01_reader_kluge_de_fin.pdf, letzter Zugriff: 27. April 2018). 9 Vorwort in: Oskar Negt/ Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt am Main 1993, Bd. 1. 10 Alexander Kluge: »Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit«, in: Oskar Negt/ Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Frankfurt am Main 2001, S. 5–16, hier S. 9. 11 Ebd. 12 Christian Schulte, »Fernsehen und Eigensinn«, in: Ders./ Winfried Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt am Main 2002, S. 65–81, hier S. 66. 13 »Meine Loyalität gehört gedanklich der Kritischen Theorie […]. Ich bekleide dort die weniger offizielle Stelle des Erzählers« äußert sich Kluge beispielsweise in »Das Innere des Erzählens. Georg Büchner«, in: Alexander Kluge, Fontane-Kleist-Deutschland-Büchner, Berlin 2004, S. 73–87, hier S. 76. 14 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, 2 Bde., Frankfurt am Main 2000.
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land, die Gegenstand ihres zweiten Buches Geschichte und Eigensinn ist. Fest im Blick haben sie dabei, und genau in diesem Punkt führen sie die Kritische Theorie fort, die »genutzten und ungenutzten oder missbrauchten Kapazitäten zur Verbesserung der menschlichen Lage«15. Diese erkennen sie in den unterdrückten Vermögen des Menschen, die sich im historischen Trennungsprozess von »lebendiger«, konkreter, d. h. Gebrauchswert produzierender und »toter«16, abstrakter, d. h. Tauschwert produzierender Arbeit17 eigensinnig und widerständig verhalten. In der Trennung werden sie ebenso verdrängt und unsichtbar wie der »gesellschaftliche Charakter«18 der Arbeit im Tauschwert verdrängt, unsichtbar, abstrakt geworden ist, obwohl das Arbeitsprodukt als Ware noch beides enthält: sowohl Gebrauchs- als auch Tauschwert. Dennoch wird die in den Warendingen enthaltene lebendige Arbeit derart vom Tauschwert eskamotiert, dass die Produzenten ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen »Gesamtarbeit« nur noch als ein abstraktes »Verhältnis von Gegenständen«19 begreifen können. Ein ähnliches Verhältnis diagnostizieren Negt und Kluge – unter, wenn man so will, produktiver Wendung der Schuldfrage zur Trauerarbeit an der Schuld – den Deutschen zu ihrer eigenen Geschichte, welcher diese genauso entfremdet gegenüber stehen wie in der kapitalistischen Gesellschaft die Produzenten den Produkten ihrer Arbeit. Damit geht es für beide Autoren 1982 nicht mehr, wie sie es noch 1972 in Öffentlichkeit und Erfahrung formuliert haben, um die Möglichkeit der »Umwälzung der Produktionsverhältnisse«20, sondern vielmehr um »die Aneignung des Geschichtsproduktes durch seine Produzenten«21. Betrachtet man mit Negt und Kluge im Anschluss an marxistische Faschismustheorien – »Wer […] vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen«22 – Geschichte, vornehmlich die deutsche Geschichte als ein unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise hergestelltes Produkt, so enthält auch sie immer beides: konkrete, menschliche sowie abstrakte, vergegenständlichte Arbeit. Die gewaltigste Trennung von konkreter und 15 Herbert Marcuse, »Philosophie und kritische Theorie«, in: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, übers. v. Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1989, S. 12; zit. nach: Christoph Streckhardt, Kaleidoskop Kluge. Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln, Tübingen 2016, S. 23. 16 Vgl. Kluge/ Negt, Geschichte und Eigensinn, 1981, S. 98; zit. nach: Stephanie Carp, Kriegsgeschichten. Zum Werk Alexander Kluges, München 1987, S. 19. 17 Zum Doppelcharakter der Ware, vgl. Karl Marx, »Das Kapital«, in: Ders., Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1968, S. 85ff. 18 Ebd., S. 86. 19 Ebd. 20 Kluge/ Negt, Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 268; zit. nach: Carp, Kriegsgeschichten, S. 17. 21 Ebd. 22 Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in: Studies in Philosophy and Social Sience, Bd. 8, New York 1939, S. 115.
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abstrakter Arbeit innerhalb des geschichtlichen Produktionsverhältnisses zeigt sich im Krieg, in welchem die »Masse der toten Arbeit« eine »Übermacht«23 darstellt, die sich dann »als Summe aller geleisteten Arbeit, gleichsam als historische Katastrophe materialisiert.«24 Davon erzählen Schlachtbeschreibung25 und Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 194526. Im Krieg treten plötzlich objektive Geschichte und die subjektiven Anteile an ihr so weit auseinander, dass der historische Zusammenhang seinen konkreten Produzenten als vollkommen abstrakter erscheint. »Mir will«, spricht in Kluges Film Die Patriotin das Knie des Obergefreiten Wieland gegen das »zänkische Gehirn«27, das es »über 2000 km bis Stalingrad«28 dirigiert hat, »die Geschichte nicht aus dem Sinn, dass ich noch Teil eines Ganzen wäre«29. Dieses Ganze jedoch stellt sich dem Knie, das auf der Suche nach »Zusammenhang«30 sehnsüchtig die deutsche Geschichte durcheilt als »Katastrophenzusammenhang«31 dar, in welchem nichts »was in Stalingrad geschah, als notwendige Folge von etwas«32 bezeichnet werden könnte. Das scheinbar Reale objektiver Geschichte – wie es nicht zuletzt auch als verfestigte Erfahrung in die Geschichtsschreibung eingegangen ist – offenbart sich im Moment des Krieges demnach als abstrakt und nicht-real, während die subjektive Perspektive des Knies, das den Verlust von Zusammenhang tatsächlich erfährt und erleidet, konkret und real ist, und zwar genauso real wie seine Sehnsucht nach einem Ganzen. An dieser Stelle zeigt sich die in das Geschichtsdenken Kluges eingelassene dialektische Struktur, denn der Krieg, in welchem die Trennung maximale Zerstörung produziert, bietet zugleich die Möglichkeit und Chance, das geschichtliche Produktionsverhältnis als ein verkehrtes erkennen zu können: Im Angesicht des Krieges wird seinen Produzenten das Konkrete vollkommen abstrakt und das vermeintlich Abstrakte augenblicklich konkret. Nicht die Sprengbombe also ist real, sondern die subjektive Erfahrung der Entfremdung den historischen Ereignissen gegenüber ist es. Und im gap, d. h. in der Lücke, die sich zwischen beidem öffnet, wohnen die im Zuge der Trennungen verdrängten 23 Kluge/ Negt, Geschichte und Eigensinn, 1981, S. 98. 24 Alexander Kluge im Gespräch mit G. Gräber, in: Anachronistische Hefte 1, 1980, S. 62; zit. nach: Carp, Kriegsgeschichten, S. 35. 25 Alexander Kluge, Schlachtbeschreibung, Olten/Freiburg 1964. 26 Alexander Kluge, Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945, Frankfurt am Main 2008 [zuerst 1977]. 27 Alexander Kluge, Die Patriotin, Frankfurt am Main 1979, S. 166. 28 Ebd., S. 171. 29 Ebd., S. 56. 30 Vgl. Ebd., S. 245. 31 Christian Schulte, »Konstruktionen des Zusammenhangs. Motiv, Zeugenschaft und Wiedererkennung bei Alexander Kluge«, in: Ders., Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 45–67, hier S. 55. 32 Kluge, Die Patriotin, S. 428.
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menschlichen Vermögen als Eigensinn, welcher von Negt und Kluge innerhalb der Dialektik von abstrakter Geschichtlichkeit und konkreter Subjektivität als ungenutzte Kapazität zur produktiven Aneignung der Geschichte durch ihre Subjekte resp. Produzenten begriffen wird: »Die Geschichte gibt es ohne den Eigensinn nicht. Ich hätte […] auch kein Interesse, sie wahrzunehmen«33. Nur, so einfach kommt man an diesen nicht heran, denn der Krieg »enthält eine Verkürzung«34, die ihn der menschlichen Wahrnehmung und somit auch der Erfahrung weitestgehend entzieht. Deswegen ist es in Kluges Patriotin auch ein Knie, das aus historischer Erfahrung spricht, während die Geschichtslehrerin Gabi Teichert als eigentliche Advokatin der Geschichte »die meiste Zeit«35 verwirrt ist, weil die »gedruckten Buchstaben in den Bibliotheken«36 ihr die Geschichte als erfahrbare nicht herausgeben. Im Film kommen die subjektivimaginäre Perspektive des Knies und die objektiv-praktische von Gabi Teichert auf der Handlungsebene nicht zusammen. Künstlich zusammengeführt werden sie im zumeist sichtbaren Schnitt, d. h. auf der Montageebene des Films, wahrnehmbar allein seinen Rezipienten. Was diese wahrnehmen, ist allerdings kein homogenes Ganzes, sondern etwas fragmentarisch Zusammengesetztes, in dessen Bruch- und Nahtstellen sich ein Drittes konstituiert, das immer beide Perspektiven zugleich enthält und im Film erfahrbar wird, und zwar als ästhetische Erfahrung eines inhomogenen Ganzen – die Bereitschaft des Rezipienten vorausgesetzt, dass er »sich Mühe«37 gibt. Dass im Zusammenhang mit der Wiederaneignung der deutschen Geschichte durch ihre Produzenten das SichMühe-Geben eines Einzelnen jedoch nicht ausreichend ist, wird an der Figur Gabi Teicherts vorgeführt, denn nachdem sie mühsam Geschichtsbücher mit Säge und Bohrer bearbeitet, verflüssigt und sich einverleibt hat, wird sie »[m]agenkrank«38. Gabi Teicherts eigensinnige Aneignungsversuche der deutschen Geschichte reichen also nicht aus, eben so wenig wie das Knie auf der Suche nach Zusammenhang erfolgreich ist. Vielmehr braucht es die Kooperation beider gegensätzlicher, d. h. eigensinniger Interessen, die sich im besten Fall blind begegnen, im Dunkeln tappen und erst im Schnitt einem Dritten sichtbar werden. Und in der wahrnehmbaren Trennung werden sie Zusammenhang, in welchem sich das eine als notwendige Bedingung der Möglichkeit des anderen wie das andere als notwendige Bedingung der Möglichkeit des einen erweist. Diese Wahrneh33 Alexander Kluge, »Geschichte und Eigensinn«, in: Ders., Verbrechen. Facts & Fakes. Fernsehnachschriften, hrsg. v. Christian Schulte, Rainer Gussmann, Heft 1, Berlin 2000, S. 15. 34 Vgl. Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. 2, Lebensläufe, S. 11. 35 Kluge, Die Patriotin, S. 7. 36 Ebd., S. 166. 37 Ebd., S. 130. 38 Ebd.
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mungsarbeit, die zugleich Erkenntnisarbeit ist, ist ebenfalls kooperativ, denn der Rezipient, der sich Mühe gibt, hat Anteil am ästhetischen Produkt, das es ohne seine Arbeit so nicht geben würde. Erkenntnis ist dann nicht allein den herrschenden oberen, sondern zugleich den verdrängten unteren menschlichen Vermögen zugänglich, nicht intelligibles Wissen oder sinnliche Erfahrung, sondern beides kommt als ästhetische Erfahrung dialektisch im Rezipienten zu einem Wissen zusammen: abstrakte Geschichtlichkeit und konkrete Subjektivität. Insofern geht es um ästhetische Erkenntnis39, nicht zuletzt um Aufklärung. Das Wissen selbst hat die Struktur eines prozessualen Zusammenhangs, in welchem das Ganze deswegen nicht einfach die Summe seiner einzelnen Teile ist, weil sich diese erst in ihrer Beziehung aufeinander, genauer im Blick eines Dritten, als solche konstituieren. Zum Moment der Blindheit im Begriff der Kooperation gesellt sich die permanente Bewegung40 : Kooperation darf offen und sichtbar stocken, abweichen, zurück- und vorgehen, stolpern, springen, tanzen, singen, lügen, sich verlaufen41, aber eines darf sie niemals: sich verfestigen, zur »Gewalt des Zusammenhangs«42 und damit tote Arbeit werden. Für die dialektische Offenheit eines nicht abschließbaren und doch zusammenhängenden work in progress sorgt im Werk Kluges eine vielgestaltige Ästhetik der Lücke, die ihren Rezipienten Platz für kooperative (Mit)Arbeit am Film, Text, Gespräch lässt. Sowohl in den Filmen als auch in den literarischen Texten bedient sie sich neben der Technik der Montage auch der poetischen Verfahren des Essays, Kommentars und Dialogs43, nicht zuletzt der Komik. In diesem Sinn kann Kooperation als die methodische
39 Vgl hierzu: Streckhardt, Kaleidoskop Kluge, S. 34ff. 40 Im Buch zum Film Die Patriotin heißt es entsprechend: »Vorschlag für eine exakte Wissenschaft: Dromologie«, in: Kluge, Die Patriotin, S. 242. Kluge entlehnt den Begriff von Paul Virilio (vgl.: Ders., Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, Berlin 1989), der Gesellschaft unter dem Aspekt ihres jeweiligen historischen Verhältnisses zu ihren Geschwindigkeiten beschreibt. 41 So liegt der Kooperation das Prinzip zugrunde, »mit der falschen Karte eine Gegend« zu durcheilen, denn »dabei entstehen überall Bruchstellen«. Zum Cross-Mapping vgl. Alexander Kluge, »Cross-Mapping«, in: Ders., Verbrechen. Facts & Fakes. Fernsehnachschriften, S. 24; Christian Schulte, »Cross-Mapping. Aspekte des Komischen«, in: Ders., Rainer Stollmann : Der Maulwurf kennt kein System, Bielefeld 2005, S. 219–232. 42 Dieser nämlich kann brechen oder gewaltsam gebrochen werden, vgl. Negt/ Kluge, Geschichte und Eigensinn, 1993, S. 11; vgl. hierzu auch: Herbert Holl, »Die Gewalt des Zusammenhangs. Kortex und Oberschenkelhalsknochen«, in: Christian Schulte/ Rainer Stollmann, Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 131–152. 43 Diesen Formen ist das versuchsweise Offene, Nicht-Ausgeformte, Skizzen- und Protokollhafte, Dynamische, nicht zuletzt Kritische modernen Erzählens eigen. Vgl. hierzu die Studie von Dorothea Walzer, Arbeit am Exemplarischen. Poetische Verfahren der Kritik bei Alexander Kluge, München 2017.
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Grundbedingung der ästhetischen Aufklärungsarbeit Kluges am gesellschaftlichen Gesamtprodukt deutscher Geschichte betrachtet werden.
2 Mit dem im Jahr 2010 erschienenen Buch Dezember. Alexander Kluge. 39 Geschichten. Gerhard Richter. 39 Bilder44 beginnt eine andere Form der kooperativen Autorschaft. Sie unterscheidet sich sowohl von derjenigen mit Oskar Negt oder dem Soziologen Dirk Baecker45 als auch von den Buch gewordenen Gesprächen – mit Heiner Müller, Joseph Vogl, Ferdinand von Schirach – wesentlich darin, dass die andere Seite der Zusammenarbeit von einem bildenden Künstler eingenommen wird, dessen Ausdrucksform nicht Sprache, sondern Bild ist. Drei Jahre später, 2013, erscheint ein zweiter, ebenfalls gemeinsam mit Richter entstandener Band Nachricht von ruhigen Momenten46, 2017 dann Weltverändernder Zorn. Nachricht von Gegenfüßlern, herausgegeben von Alexander Kluge und Georg Baselitz. Entsteht das erste Buch noch aus einer verabredeten Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Ort – Kluge schreibt, Richter fotografiert – zum Jahreswechsel 2009/2010 im Hotel »Waldhaus« zu Sils Maria, so entsteht das zweite eher spontan: »Im goldenen Herbst des Jahres 2012«, heißt es dazu im Ankündigungstext von Suhrkamp, »stand ›Die Welt‹ für einen Tag still, und als Sinnbild des Stillstands lag dort ein schläfriger Hund, wo sonst die Schlagzeilen drohen. Was war geschehen? Gerhard Richter, einer der global maßgeblichen Künstler, hatte die Herrschaft ergriffen und allen 30 Seiten der ›Welt‹-Ausgabe vom 5. Oktober 2012 seinen Handstempel aufgedrückt: Bilder von ruhigen Momenten in unruhigen Zeiten, Aufhebung des politischen Primats, Privates statt Welthistorisches, vor allem aber : kunstvolle Kontraste zwischen Schärfe und Unschärfe. Bei der öffentlichen Vorstellung dieser ungewöhnlichen Kunstaktion hielt Alexander Kluge die Laudatio. Spontan begleitete er die Fotos mit Geschichten. Gerhard Richter antwortete darauf ebenso spontan mit dem Vorschlag eines gemeinsamen Buches. Richter lieferte weitere Bilder und Kluge weitere Geschichten.«47
Weltverändernder Zorn als drittes Buch in dieser Reihe der Künstler-Bücher hingegen ist das Ergebnis einer Presse-Anfrage für einen Beitrag Kluges zur Helden-Ausstellung von Georg Baselitz im Frankfurter Städel-Museum, die dort 44 Alexander Kluge/ Gerhard Richter, Dezember. Alexander Kluge. 39 Geschichten. Gerhard Richter. 39 Bilder, Frankfurt am Main 2010. 45 Dirk Baecker/ Alexander Kluge, Vom Nutzen ungelöster Probleme, Berlin 2003. 46 Alexander Kluge/ Gerhard Richter, Nachricht von ruhigen Momenten. 89 Geschichten. 64 Bilder, Frankfurt am Main 2013. 47 Vgl. https://www.suhrkamp.de/…/nachricht_von_ruhigen_momenten-alexander_kluge_22 477.html, letzter Zugriff am 16. 08. 2018.
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von Juni bis Oktober 2016 zu sehen gewesen ist. Das Verfassen eines Beitrags hat er abgelehnt. Allerdings haben ihn die »Helden-Bilder« so »entzündet«, dass er sie »angedichtet«48 hat. Die lakonisch poetische Kraft der Texte wiederum hat Baselitz beeindruckt.49 Kluge lagen bald für weitere Andichtungen die HokusaiSkizzen von Baselitz vor, welche zwischen 2015 und 2016 entstanden sind. Mit ihnen hat er seine bereits verfassten Texte um neue »erweitert«50. Die eigentliche Zusammenarbeit lief über zwei Telefonate nicht hinaus. Persönlich zusammengekommen sind Dichter und Maler erst nach der Veröffentlichung des Buches. Anders als beim Gemeinschaftswerk Geschichte und Eigensinn, das von Negt und Kluge noch Satz für Satz diskutiert und geschrieben worden ist, zeigt sich hier ein nicht nur großer räumlicher Abstand zwischen den Kooperierenden, sondern ein grundlegender Abstand, der von Baselitz in einem Interview auch formuliert wird: Kluge, sagt er, sei schließlich von der »anderen Seite« und erläutert: »von der anderen Seite« meint »die anderen Künstler«51, was Kluge jedoch im Sinne der anderen Künste versteht: »Literatur…«, setzt er an. Wird allerdings unterbrochen. Baselitz nämlich meint »die Rechthaberei in der Szene«, oder anders formuliert: Konkurrenz. Kluge, sagt er, sei auch »rechthaberisch«, hätte aber dafür kein »Engagement«, während ihn Rechthaberei »enorm«52 interessiere. An anderer Stelle, in einem Podiumsgespräch, ebenfalls mit Baselitz, wird deutlich, wieso Kluge im Interview davon ausgegangen ist, dass dieser nicht von den anderen Künstlern gesprochen hat, sondern von den anderen Künsten: Das kann der öffentliche Raum, das Museum: die Künste zusammenführen. So wie es selbstverständlich war im Zeitalter Rudolfs II., das in Wunderkammern die Künste, die Wissenschaften, die Alchemie […], auf jeden Fall das Beste, was Menschen können, zusammengefügt wird. Das scheint mir im 21. Jahrhundert angesagt gegenüber den Algorithmen von Silicon Valley, die sehr viel Content, sehr viel Inhalt abwerfen und dadurch scheinbar flügge53 sind. Dafür sind die Künste, vor allem, wenn sie sich aneinander reiben, so wie wir beide das tun, der Gegenalgorithmus.54 48 Vgl. Interview mit Georg Baselitz und Alexander Kluge anlässlich der Ausstellung »Georg Baselitz« in der Fondation Beyeler (https://www.youtube.com/watch?v=INRvR_hw4mA, veröffentlicht am 26. 4. 2018, letzter Zugriff am 16. 08. 2018). 49 Vgl. ebd. 50 Vgl. ebd. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. ebd. 53 »selbständig, erwachsen, groß, entwickelt, reif, mündig, eigenständig«, vgl. Wörterbuch der Synonyme, München 1984, S. 211. 54 Georg Baselitz und Alexander Kluge sprechen über die Ausstellung »Georg Baselitz« in der Fondation Beyeler (https://www.youtube.com/watch?v=X6dgwDHTnn0, veröffentlicht am 26. 4. 2018, letzter Zugriff: 16. 08. 2018).
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Der von Baselitz, wie er im Interview ausführt, befürchteten, einer Zusammenarbeit im Wege stehenden zu großen »Distanz«55 zwischen ihm und Kluge, setzt dieser Affinitäten entgegen: »Wir kommen beide aus dem, was man früher Mitteldeutschland nannte, jetzt heißt es Ostdeutschland […]« – und plötzlich taucht auch in der Rede von Baselitz ein wir auf: Wichtig ist: »Wir sind ja beide nicht mehr die Jüngsten. Ich bin zwar hier jugendlich neben ihm, aber doch schon ziemlich weit entfernt« – Kluge wirft ein: »sechs Jahre« – »Wir sind ja aufgewachsen in dieser Kultur Westdeutschland, Bundesrepublik. Also ich erst ab 20 […], ab 18 bei mir genau […] und das war ja eine sehr willkürliche Kultur, die keine Vergangenheit hatte, […]. Es gab nichts, worauf man baute, […] keine Haltepunkte und es gab natürlich daraufhin dann viel Streit…«56
Kluge erwidert, erneut ins 16. Jahrhundert, d. h. in die Zeit der Renaissance – Zeit der Künste und Wissenschaften im Umbruch vom Mittelalter zur humanistischen Neuzeit des anthropozentrischen Weltbildes, aber auch der Skepsis an diesem – zurückgreifend: Sagen wir mal so: Wenn ich es mir wünschen könnte, wäre ich gerne mit Ihnen zusammen am Hofe Rudolfs II.: Arcimboldo sitzt daneben, Kepler ist noch da, ein bisschen Alchemie ist erlaubt und da fängt die ganze Welt nochmal an. Kann man aber gewissermaßen so nochmal anfangen? – Baselitz: »Kann man, klar, immer« – »Also, zu jedem Tag- und Nachtzeitpunkt…«57
Jedem Anfang jedoch geht ein Ende voraus, ein Bruch, ein Zeitenwechsel: »Damit etwas kommt, muss etwas gehen«, heißt es in einer Anmerkung von Heiner Müller zu seinem Stück Mauser58. Auch Kluge sucht, geschult am dialektischen Denken der Kritischen Theorie, in seinem Werk die historischen Bruchstellen und Trennungslinien auf, denn, lässt er in Dezember, den Mönch Andrej Bitow einem »Besucher« erklären, der sich mit der Frage, was Zeit sei an ihn gerichtet hat: Es sind die TRENNER zwischen den Zeiten, auf die es ankommt, also Jahreswechsel, Wechsel von Tag und Nacht, Abwechslung (zum Beispiel des Wetters), die Einteilung nach Stunden und Minuten (auch Sekunden, in denen einer sterben kann), nach Generationen und Lebensläufen […].59
In diesem Sinne haben die Trenner zwischen den Zeiten die gleiche künstliche Funktion wie die Schnitte in Kluges Filmen oder allgemein die Ästhetik der 55 Vgl. Interview mit Georg Baselitz und Alexander Kluge anlässlich der Ausstellung »Georg Baselitz« in der Fondation Beyeler (https://www.youtube.com/watch?v=INRvR_hw4mA, veröffentlicht am 26. 4. 2018, letzter Zugriff am 16. 08. 2018). 56 Vgl. ebd. 57 Vgl. ebd. 58 Heiner Müller, »Mauser«, in: Ders., Werke 4, Die Stücke 2, Frankfurt am Main 2001, S. 265. 59 Kluge/ Richter, Dezember , S. 98.
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Lücke in seinen Arbeiten. Sie machen etwas sichtbar, was zuvor unsichtbar gewesen ist. »Von Natur aus«, führt Bitow seine Antwort weiter, »endet kein Jahr«60, so wenig wie die Zeit an sich Vergangenheit und Zukunft, Altes und Neues, Leben und Tod kennt. Zeit, genauer historische Zeit, entsteht erst, wenn ein Trenner sie als solche sichtbar und damit als geschichtlichen Zusammenhang erkennbar macht. Zugleich ist diesen Zeitenwechseln immer ein Augenblick der Stillstellung eigen, der von Walter Benjamin als »Dialektik im Stillstand«61 und »Jetztzeit«62 begriffen wird. Diese führt die Chance und Möglichkeit mit sich, dass im dialektischen Bild, d. h. in der ästhetischen Anschauung des jetztzeitigen Geschichtsbildes, der Menschheit die unerlöste Geschichte als Ganze und damit als erlöste zufallen könnte. Das wäre ein möglicher, wenn auch unsicherer (Neu-)Anfang der ganzen Welt, denn er könnte auch ihre Zerstörung und ihren Untergang bedeuten.63 Während dieser bei Benjamin jedoch nicht von Menschen machbar, sondern auf Gnade angewiesen ist64, setzt Kluge auf die Versammlung des Besten, was Menschen können und ein bisschen Alchemie: Ja, man kann sie, die Welt, nochmal anfangen, zu jedem Tag- und Nachtzeitpunkt, aus den eigenen menschlichen Vermögen heraus. Das ist eine aufgeklärte, humanistische, fast klassische Position, die etwas Faustisches mit sich führt65. Nicht mehr, wie in Öffentlichkeit und Erfahrung noch, geht es um die Organisation proletarischer Öffentlichkeit, vielmehr um den Rückzug in die Einrichtungen der bürgerlichen Öffentlichkeit – gegen die »Medien«66 – in den öffentlichen Raum des Museums, das die Wunderkammern des Adels und des Klerus beerbt hat.67 60 Ebd., S. 99. 61 Walter Benjamin, »Was ist das epische Theater? (1) Eine Studie zu Brecht«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. Bd. II/2, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, S. 519–531, hier S. 531. 62 Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I/2, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 691–704, hier S. 181. 63 Zu den »eschatologisch-apokalyptischen Motiven in Kluges Geschichtsprojekt« vgl. Carp, Kriegsgeschichten, S. 34ff. 64 Vgl. hierzu Gerhard Kaiser, »Walter Benjamins ›Geschichtsphilosophische Thesen‹«, in: Materialien zu Benjamins Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹, hrsg. v. Peter Bulthaup, Frankfurt am Main 1975, S. 43–76, hier S. 44. 65 Zur teuflischen Dialektik von Humanismus und Aufklärung bei Goethe vgl. Theodor W. Adornos Aufsatz »Klassizismus von Goethes Iphigenie«, in: Ders., Noten zur Literatur, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1974, S. 495–514. 66 Vgl. Interview mit Baselitz und Kluge (https://www.youtube.com/watch?v=INRvR_hw4mA, veröffentlicht am 26. 4. 2018, letzter Zugriff am 16. 08. 2018). 67 In einem Interview mit Kolja Reichert führt Kluge aus: »Das Selbstbewusstsein jeder einzelnen Kunst ist die Voraussetzung dafür, dass sie überhaupt kooperieren können« (Alexander Kluge im Interview. »Künstler sind Pilotfischchen« von Kolja Reichert, in: FAZ, 19. 10. 2017; http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/alexander-kluge-im-interview-ueber-kunstund-silicon-valley-15250461-p5.html, letzter Zugriff am 16. 08. 2018). In diesem Sinne ist der
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3 Zwischen der ersten gemeinsamen, kooperativen Arbeit Kluges mit Oskar Negt und der jüngsten mit Georg Baselitz liegen knapp 46 Jahre Zeitgeschichte. Sie umfassen im Wesentlichen die Zeit des Kalten Krieges und dessen Ende, dem Kluge und Negt 1993 mit einer Neuauflage von Geschichte und Eigensinn68 begegnet sind, in der irrtümlichen Annahme nach 1989 »einem augusteischen Zeitalter der Abrüstung«69 entgegenzugehen. Ähnlich hoffnungsvoll sah Kluge auf den Jahrtausendwechsel, dem die im Jahr 2000 erschienene zweibändige Chronik der Gefühle zugedacht ist. »Eine Jahrhundertwende löst Erwartungen aus. Eine Bilanz der bitteren Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts und eine Eröffnungsbilanz des einundzwanzigsten Jahrhunderts schien an der Tagesordnung. […] Die Verteidigungslinie von 1932, die Zerreißungen von 1945 und von 1977, die Raketen-Drohungen des Kalten Krieges waren an den Horizont gerückt.«70
Was sich jedoch gezeigt hat, ist »die Pranke des einundzwanzigsten Jahrhunderts«71, die Algorithmen von Silicon Valley und Contents toter Arbeit; Sieg der rein instrumentellen Vernunft. Untergegangen ist 1989 mit der DDR nicht nur die BRD, sondern auch das auf Konflikt gegensätzlicher Interessen basierende Modell dialektischer Geschichtlichkeit. Zurück bleibt eine in unvermittelten Dualismen verhaftete Welt, in welcher die »Eigenlogik« des Systems »immer gebieterischer« in die »Lebenswelt«72 vordringt. Die künstlerische Antwort Kluges auf die äußerst effiziente Eindimensionalität von Algorithmen, welche schlicht Eingabe- in Ausgabedaten umwandeln, lautet nun nicht mehr wie in den 1970er Jahren Gegenöffentlichkeit, sondern Gegenalgorithmus – beispielsweise das Auswildern von »guten Geister[n], weisheit- und witztragende[n] Gespenstern gegen das Gespenst moderner Massenmobilisierung, sei sie konsumistisch oder populistisch«.73 Katsushika Hokusai, ein japanischer »Großkünstler« aus dem 18./19. Jahrhundert, ist, wenngleich kein Gespenst, so doch ein »großer Geist«, »weiser
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Rückzug in die Wunderkammern auch als Versuch zu begreifen, im 21. Jahrhundert die Grundbedingung offen zu halten für Kooperation, Konflikt und Differenz, d. h. für Lücken, in denen überhaupt etwas Drittes entstehen, eine Welt neu anfangen könnte. Oskar Negt/ Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt am Main 1993. Alexander Kluge, »Das Innere des Erzählens. Georg Büchner«, in: Ders., Fontane-KleistDeutschland-Büchner, Berlin 2004, S. 73–87, hier S. 76. Ebd. Ebd. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1981, Bd. 2, S. 226ff, zit. nach: Streckhardt, Kaleidoskop Kluge, S. 44–45. Vgl. Kluge/ Baselitz: Weltverändernder Zorn, S. 156.
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Mann«, »absoluter Witzbold«74 und »Gegenfüßler«75. Er nimmt im Zyklus der Doppel-Zeichnungen von Baselitz, wie sie im Band Weltverändernder Zorn abgebildet sind76, die Position des »japanischen Antihelden« zum »melancholisch geprägten Typus des abendländischen Helden«77 ein. Während der Finger von Hokusai mal lachend, mal hämisch grinsend, mal gelangweilt, mal erstaunt, fassungslos, schmerzverzerrt oder auch zornig nach Westen weist, stehen oder hängen manche der Helden, auf welche er zeigt, auf dem Kopf: Der ›nach unten gehängte Mann‹ entspricht einer der 22 Tarot-Karten, die Arcana heißen. Es ist die Karte des »Infamen«, des Menschen, der »unrühmlich gemacht wurde«. Die Strafe kommt aus Florenz und zeitlich aus der Renaissance. Sie straft nicht den Mann, sondern das Bild des Mannes wird entehrt. Deshalb musste die Strafe auch nicht am Verräter oder Mörder selbst vollstreckt, sondern konnte in effigie ausgeführt werden, indem der an den Füßen oben angekettete Körper abgebildet wird.78
Im bildnerischen Spiegelblick Hokusais erscheinen die Helden der westlichen Welt als infam, entehrt, klumpenhaft, deformiert, gequält, geknechtet, zermartert, arrogant, gierig, zerstört. Der »Frechheit«79 dieser Zeichnungen mit ihrem zornigen Strich, stellt Kluge Geschichten an die Seite, deren Thema thymjs, genauer abendländischer Zorn in all seinen menschlichen Ausprägungen ist. Sie bilden zu den Zeichnungen den »zornvernichtenden Gegenmut«, der nicht einfach »sanftes Gemüt«, sondern ein »Anti-Zorn«80 ist. Auch hier also scheinen gegensätzliche Interessen kooperativ aufeinander zu treffen: der frech-zornige Blick von Baselitz auf den westlichen Heldenmut und Kluges lakonisch-poetischer Blick auf die gleiche Geschichte – als zornvernichtender Gegenmut. Der Unterschied zu den früheren Kooperationen liegt darin, dass hier weniger Gegensätze aufeinander treffen, vielmehr »verschiedene Metiers«81 auf der Grundlage einer gleichen Geschichte – die Baselitz im Interview auf den Punkt: Westdeutschland, Bundesrepublik gebracht hat – mit 74 Vgl. Interview mit Baselitz und Kluge (https://www.youtube.com/watch?v=INRvR_hw4mA, veröffentlicht am 26. 4. 2018, letzter Zugriff am 12. 08. 2018). 75 »Hokusai, der Gegenfüßler«, in: Kluge/ Baselitz, Weltverändernder Zorn, S. 33. 76 Der Zyklus umfasst immer zwei einander gegenübergestellte, gleichformatige Zeichnungen, von denen auf der rechten eine Variation eines Selbstportraits von Hokusai abgebildet ist, das den Meister sitzend und mit dem rechten Finger, zumeist lachend, nach Westen weisend zeigt, auf der linken ein westlicher Held, ein westliches Paar etc. 77 Ebd., Umschlagtext. 78 Alexander Kluge, Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten. Mit einem Gastbeitrag von Reinhard Jirgl, Frankfurt am Main 2011, S. 216. 79 Vgl. Interview Baselitz und Kluge (https://www.youtube.com/watch?v=INRvR_hw4mA, veröffentlicht am 26. 4. 2018, letzter Zugriff am 16. 08. 2018). 80 Kluge, Das Bohren harter Bretter, S. 201. 81 Vgl. Baselitz und Kluge sprechen über die Ausstellung »Georg Baselitz« (https://www.youtu be.com/watch?v=X6dgwDHTnn0, veröffentlicht am 26. 4. 2018, letzter Zugriff: 16. 08. 2018).
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gleichem Interesse zusammenwirken. Nicht mehr eilen scheint die Bewegung zu sein, sondern sammeln, und zwar des Besten, was Menschen können, vielleicht auch Mobilisierung der besten Kräfte82 deutscher Nachkriegskultur, zum Gegenalgorithmus als »punktueller Möglichkeit neben und gegen das Realgeschehen«83 : Adorno, Fassbinder, Horkheimer, Schlingensief, Haverkamp, Luhmann, Enzensberger84, Richter, Habermas85, Müller, Baselitz, Kiefer, Sloterdijk86, Zizek87… – Hokusai der Gegenfüßler hat viele Namen, »[n]eunzehn [] hat er sich gegeben«88. Angesichts der Pranke des 21. Jahrhunderts also steht nicht die Möglichkeit der Umwälzung der Produktionsverhältnisse oder die Aneignung des Geschichtsproduktes durch seine Produzenten an: »Raste Krieger, Krieg ist aus!«, heißt es am Ende von Weltverändernder Zorn – sammle Dich und lerne »von den tausend Masken Meister Hokusais«, denn von Hokusai lernen, heißt »Glücklich-Werden-Lernen-Ohne-Sieg«89.
82 Zum strategischen Vorgehen in Kluges Werk vgl. Carp, Kriegsgeschichten, S. 11. 83 Ebd., S. 29. 84 Vgl. Alexander Kluge im Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger über sein neues Buch Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert (Berlin 2018) am 16. 04. 2017 in Elmau/Krün, Schloss Elmau (www.suhrkamp.de/veranstaltungen/gespraech/ hans_magnus_enzensberger_und_alexander_kluge_23211.html, letzter Zugriff: 16. 08. 2018). 85 Vgl. Alexander Kluge, Laudatio auf Jürgen Habermas. Rede zur Verleihung des HeinePreises, in: Heine-Jahrbuch 2013, hrsg. v. Sabine Brenner- Wilczek, S. 179–186. 86 Vgl. »Danksagung«, in: Kluge/ Baselitz, Weltverändernder Zorn, S. 237. 87 Vgl. Alexander Kluge, »Hochöfen der Geschichte. Tyrannensturz«, in: Ders./ Richter, Dezember, S. 189. Die Liste der Namen, auf welche Kluge sich bezieht, ist unvollständig und hier im Wesentlichen den Büchern Weltverändernder Zorn und Dezember entnommen. 88 »Hokusai, der Gegenfüßler«, in: Kluge/ Baselitz, Weltverändernder Zorn, S. 33. Andere Quellen (vgl. die Rezensionen zur großen Hokusai-Retrospektive im Berliner Gropius Bau im Jahr 2011) nennen 30 Namen. 89 Ebd., S. 211.
Alexander Kluge / Vincent Pauval
Wenn Worte Bilder sehen
Das folgende Gespräch ist ursprünglich im Spätsommer 2015 für eine französische Literaturfachzeitschrift aufgezeichnet worden. Es wurde bislang noch nicht publiziert und erscheint hier erstmals in deutscher Sprache. VINCENT PAUVAL: Beobachtet man die Entwicklung Ihres literarischen Werkes, so fällt in den ersten zwei Bänden die Abwesenheit von Text-Bild-Gefügen auf. Wie würden Sie das rückblickend begründen? ALEXANDER KLUGE: Ich würde es biographisch begründen. Ich habe in den Jahren 1958 bis 1965, und später auch noch, Geschichten geschrieben, hätte aber zu Anfang nicht die Idee gehabt, den Texten Bilder hinzuzufügen, und habe später dann, nachdem ich Kurzfilme und 1965 Abschied von gestern gemacht habe, meine Auffassung geändert. Es war mir vorher nicht eingefallen, da die Sprache an sich schon genug Bilder enthält, von Natur aus müsste man daher keine hinzufügen. Es ist darin jedoch etwas sehr Verführerisches, wenn Sie schon mit Bewegtbild Erfahrung hatten, in einen Text diese außerordentliche Qualität, welche Standbilder haben, die Zeichenhaftigkeit von Bildern einzufügen. Egal, wie lang und wie intensiv Sie schreiben, gibt es im Text immer ein zu wenig von Bild, und ein Bild ist häufig immer ein bisschen zu viel von Text im Verhältnis zur Bedeutung. Dieses gegeneinander zu führen, ist ein sehr wirksames Mittel, und ich habe bei Abschied von gestern gemerkt, dass es mich befriedigt, wenn ich eine Szene sehe, und ich kommentiere jetzt mit meiner Stimme dasselbe, was im Film ohnehin zu sehen ist. Ich sehe also einen ruhigen Morgen und ich sage: »Ein ruhiger Morgen«. Ich sehe, die Darstellerin ging schnell und sage nun, das ist wirklich so, indem ich es kommentiere. Und dadurch bekomme ich zwei Aufmerksamkeiten, wie eine Schere, und kann ganz anders schneiden. PAUVAL: Einige Erzähltexte aus Ihren Lebensläufen haben Sie später verfilmt. Im Jahr 1966, als Ihr Film Abschied von gestern erschien, behaupteten Sie in der
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Süddeutschen Zeitung, diese Geschichten seien zunächst »als Film konzipiert« worden1. Inwiefern war dies tatsächlich der Fall? KLUGE: Nein, ich hatte keine Sekunde daran gedacht, als ich jene Texte schrieb, dass diese später mal einen Film ergeben könnten. Das waren einfach Texte, ganz besonders »Anita G.«. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, das überhaupt zu verfilmen. In Bezug auf Film hatte ich immer an etwas anderes gedacht, kam aber 1965 in Not, da wir in Oberhausen den Mund weit aufgerissen hatten, indem wir behaupteten, wir könnten nicht nur Kurzfilme, sondern auch Spielfilme machen. Keiner von uns hatte aber eigentlich die Idee, woraus er Spielfilme machen würde. Deswegen hatte ich zunächst gedacht, alle Lebensläufe zu verfilmen. Das wäre ein interessanter Montage-Film geworden. Dann hat ein sehr kluger Altproduzent mir gesagt: »Sie sind verrückt, rechnen Sie doch mal aus, was Sie in der Minute dann verfilmen würden, das kann doch gar keiner auffassen. Sie haben eine Geschichte geschrieben, und die eignet sich für Film, alles andere, was Sie da machen, ist Literatur. Sie sind gar kein Filmer.« Der war durchaus beleidigend und verwies schließlich auf »Anita G.«, da sei eine Szene, die man verfilmen könne. Mehr hat er gar nicht gesagt, aber dies tat er, um mich zu reizen. Dann ist mir meine Schwester zugelaufen und hat gemeint, also diese Idee, dass du jetzt Schauspieler suchst für deinen Film, für dein Drehbuch da, das ist ganz unsinnig, denn ich bin doch da, ich bin deine Schwester. Sie hat sich gewissermaßen als Hauptdarstellerin deklariert. Das waren eigentlich die zwei Zutaten. Für einen Film ist eigentlich ganz egal, was für ein Drehbuch Sie haben, wenn Sie nämlich einfach ein Raster aus Vorsätzen haben, das sich in Morgenund Abendlichtverhältnisse umsetzen lässt, dann haben Sie genügend für einen Film. Wenn ich eine Darstellerin habe, die nie Schauspielunterricht genommen hat, eine natürliche Person, ist dies das zweite Element, das ich zum Filmemachen brauche. Ich brauche keine Darsteller, die geschult sind, um einen Film zu machen, und ich brauche dafür auch eigentlich keine Texte. PAUVAL: In einer frühen Rezension der Lebensläufe im Magazin Der Spiegel habe ich außerdem gelesen, dass Sie damals vorhatten, einen Film über die Schlacht von Stalingrad zu machen, und dann ist es doch ein Buch geworden.2 KLUGE: Das ist aber nicht wahr. Ich hatte nie vor, einen Film über Stalingrad zu machen, weil das etwas ist, was man überhaupt nicht mit filmischen Mitteln angehen kann. Wie soll ich das denn machen? Soll ich da hinfahren? Das Stalingrad von 1943 ist doch gar nicht mehr da. Ich habe ein Filmteam dort hin1 Diese Aussage stammt aus einer Rezension der Lebensläufe durch Eckhard Schmidt, die in der Süddeutschen Zeitung vom 11. und 12. Juni 1966 erschien, und welche Rainer Lewandowski in seinem Einführungsbuch zu Kluges Werk zitiert. Vgl. ders., Alexander Kluge, München, C.H. Beck / Text + Kritik, 1980, S. 50. 2 So berichtet zumindest der Verfasser einer Rezension mit dem Titel: »Kurze Prozesse«, in: Der Spiegel, Nr. 49, 1962.
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geschickt, einfach nur, weil mich das interessierte und habe denen mitgegeben, sie mögen doch stets daran denken, dass ein Quadratmeter Boden die Fläche ist, auf der ein Mensch sterben kann; ich will jetzt einen Quadratmeter in der Nähe der Wolga zu sehen bekommen. Das haben sie dann auch getan und haben vieles aufgenommen in Stalingrad. Aber das hat alles nichts mit dem Stalingradbuch zu tun. Sie können mir also glauben, dass ich die Literatur zunächst vergesse, wenn ich Filme mache. PAUVAL: Wäre es demnach abwegig zu behaupten, dass in Ihrem Werk das Verhältnis von Text und Bild zunächst durch das Kino geprägt oder beeinflusst ist? KLUGE: Man kann hier zwar von Einfluss sprechen, aber im Kino und seiner Tradition fehlt mir etwas, was es nur in Büchern gibt, und in den Büchern fehlt mir etwas, was es nur im Bewegtbild gibt, und das muss nicht im Kino sein. Filmbilder und Buchtexte sind aber gelegentlich unterirdisch miteinander in Kontakt, ohne dass der Autor das steuern kann. Es ist bekannt, dass beim Film durch die Montage Epiphanien, also unsichtbare Bilder, hergestellt werden können, die der Zuschauer an der Schnittstelle »sieht«, ohne dass es dort ein reales Bild gibt. So gab es zum Beispiel Kinobesucher bei Abschied von gestern, die eine Szene beschrieben, welche sie gesehen haben wollen, worin Stiefelschritte eine Kellertreppe hinabsteigen und im Keller etwas Unheimliches geschieht. Das kommt im ganzen Film nicht vor. Das ist ein solches unsichtbares Bild. Es entspricht allerdings genau dem literarischen Text von »Anita G.«, und ich kann ausschließen, dass von diesen Zuschauern, jemand die Erzählung »Anita G.« gelesen hat, denn das Publikum in einem Kino ist ein ganz anderes als das Leserpublikum. Etwas, das im Buch steht, hat sich also übertragen in den Film durch unsichtbare Bilder, und das ist die Wirkung der Montage beim Film. Jetzt gibt es noch etwas Drittes, was weder Text ist und in Büchern steht, noch Bewegtbild wie im Kino: das ist das stehende Bild in einem Buch. Wenn Sie zum Beispiel das Bild eines blinden Lastwagenfahrers mit seinem Kind nehmen, dann können Sie das kaum verfilmen. Ich habe mit Jean-Luc Godard diskutiert, ob man das verfilmen soll, und beide stimmten wir überein, dass man das nicht auf naturalistische Art tun sollte. Denn würde ich nun einen Schauspieler aufnehmen, der so tut, als wäre er blind, und daneben ein Kind hinsetzen, das so tut, als würde es den Vater dirigieren, und filme dazu noch einen Lastwagen, dann würde das im Grunde gekünstelt wirken, und man kann sich eigentlich die Spannung dieser Szene gar nicht vorstellen, da man abgelenkt wird durch die Bemühungen des Regisseurs, so etwas darzustellen. Man könnte zwar diese Szene durchaus verfilmen, aber man würde dafür ganz andere Bilder aufnehmen, etwa von einem Beobachter des Vorgangs, einem entsetzten Polizisten vielleicht, der Ihnen sagen könnte, was er daran für unmöglich hält. So kämen Sie der Sache näher, jedoch mit abgewandter Kamera. Wenn Sie so wollen, gibt es also drei
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Poetiken: die Poetik des starren Bildes bzw. der Momentaufnahme, und ein Film ist ja keine Momentaufnahme, sondern fast das Gegenteil davon; die Poetik des bewegten Bildes und die Poetik des Textes. Die sind wie drei Orchester, und würden sie sich auf diesen drei poetischen Bühnen äußern, wäre das wie ein Triptychon, oder ein dreifaches Theater. Es ist etwas Gutes, diese Poetiken nebeneinanderzuhalten. Diese Mehrstimmigkeit ist ein Element, das mich dazu bringen würde, Bilder und Texte miteinander zu verbinden, mich bringt aber nicht die Filmerfahrung dazu, obwohl ich natürlich die Möglichkeiten Bilder mit Texten zu verbinden im Film gelernt habe. PAUVAL: Sie haben auch einige Filmbücher publiziert, worin neben Text- und Bildmaterial zu Ihren Filmen auch häufig neue Erzähltexte erschienen sind. Welches Interesse verbindet Sie mit dieser Werkgattung? KLUGE: Sie stellen hier eine sehr schwierige Frage, denn ich müsste sieben Antworten geben. Also zunächst einmal, heute, nicht 1962, habe ich eine poetische Vorstellung, dass ein Text zum Beispiel online gestellt wird, und danach könnte man ein Knöpfchen drücken und es kommt ein Film, und er kommt deswegen, weil er für mich zu diesem Text notwendig hinzugefügt wird. Jetzt kommt wieder ein Text, und wieder ein Film, und wieder ein Text und wieder ein Film, und jetzt kommt wieder ein Text und dann kommt aber ein Hörspiel oder ein Musikstück, etwas zum Hören, und diese Art von Aufeinanderfolge, die halte ich für eine wohltuende, der Literatur von Anfang an zugrundeliegende Form, die erst jetzt technisch umsetzbar ist. So etwas nennt man eine App, bestehend also aus allen Mitteilungsformen. Wenn Sie sich jetzt im 11. Jahrhundert eine Nacht vorstellen, in der die Menschen im Süden Frankreichs beieinander sitzen. Sie erzählen Geschichten und singen danach ein Lied, das allen bekannt ist, dann erzählen sie wieder, dann kommt wieder ein Lied, wieder eine Erzählung und wieder ein Lied, das nennt man »chantefable«. Dies ist die provenzalische, früheste Form, aus der ich meine, dass viele Jahrhunderte später die Oper hervorgeht. Diese Mischung aus Singen, Beieinandersein, Reden, und zugrundeliegenden Texten, die in die Köpfe eingedrungen sind und auch von Analphabeten mitgesungen werden können, weil sie gehört haben, wie es erzählt wurde – das ist die Urform des Poetischen, zumindest in Europa, wenngleich ich nicht glaube, dass Indios anders Dichtung betreiben. Das ist ein Idol, das seltsamerweise heute, im 21. Jahrhundert, wiederkehrt und im Netz möglich ist. Außerdem glaube ich, dass es im Netz durch gewisse Tendenzen überflutet wird. Die Algorithmen von Silicon Valley agieren hier gegen diese Erzählform, denn sie sortieren die Texte, die Bilder und die Musik separat, so dass man sie gewissermaßen in Telefonbuchform sammeln und finden kann. Die neue Poetik, das ist sozusagen die Rebellion gegen den Algorithmus von Google. Es entspricht einer Art Prisma aus Musik, Text, Bewegtbild oder Standbild. Letzteres ist etwas völlig anderes als ein Bewegtbild und auch verschieden von einem Text. Dabei
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fangen die Worte an, Bilder zu sehen, fangen die Bilder an, Worte zu sein. Sie sind Embleme, indem sie Zeichen setzen. Das Bild ist davon erlöst, in einem Kino Teilstück eines Bilderstroms zu sein, also immer Bewegtbild zu bleiben; es kann sich jetzt gewissermaßen einordnen als visuelle Höhle in einen Text. Also alle diese Darstellungsformen sind, wenn sie zusammengefügt werden, nicht etwa hybrid, sondern eine poetische Antwort auf unsere authentischen Sinne, die immer schon eine Aufnahmefähigkeit für diese Vielfalt an Reizen haben. Während Sie bei der Glühlampe abends mit der Lesebrille noch einsam den Text buchstabieren, will man ja doch, an einer bestimmten Stelle von Anna Karenina angekommen, eine Musik hören: Ich bin traurig, jetzt brauche ich die Musik. Wenn ich jetzt diese Musik gehört habe, will ich aber auch beliebig wählen können zwischen »Mitteilung ohne Sinnzwang« und »Hunger nach Sinn«, welcher auch danach ruft, befriedigt zu werden. Die vielen menschlichen Impulse, die mit Poesie korrespondieren, fordern eigentlich dieses multimediale Projekt, aber nicht über das Medium, denn die Rundfunkanstalten werden so etwas nicht herstellen, sondern ohne Medium. Ich brauche also Widerstandsblöcke, kleine Festplatten in mir, die ich mit mir trage und gewissermaßen gegen die Überfülle im Netz setzte, gegen das neunzig-minütige Kino-Programm, das ein Tyrann ist, denn ich will ja vielleicht nur eine Minute sehen, gegen die dreistündige Oper von Wagner und das Autoren-Prinzip. Übrigens ist Meyerbeers Oper L’Africaine genau so aufgebaut: Sie bekommen einen Abenteuerroman / la Karl May mit den unwahrscheinlichsten Geschichten und sind zugleich konfrontiert mit wahrscheinlichsten Lebenserfahrungen, eine Musik, die alle fünf Minuten anders ist, und zwar nicht willkürlich anders ist. Sie bekommen Komposition und Dada in einem. Das ist Grand Op8ra, im selben Jahr 1865 erschienen wie Tristan und Isolde. Beide Opern haben einen Liebestod; den Liebestod einerseits der S8lika, die den tödlichen Duft der Manzanilla-Blüte einatmet, weil ihr Geliebter sie verlassen hat, im bewussten oder unbewussten Wettbewerb andererseits mit Isoldes Liebestod aus demselben Jahr in München. In dem Moment, in dem Sie diese beiden Opern zusammenführen, ist es völlig egal, was Richard Wagner über das Judentum in der Musik sagt, da irrt er sich nämlich über sich selbst, denn er ist längst verwandt und verwachsen mit Meyerbeer. Wenn Sie bei Meyerbeer in das Orchester hineinhorchen, merken Sie, dass diese ganzen Techniken, die dieser erfahrene Musiker erfunden hat – denn er ist ein richtiger Ingenieur des Klangs – im Grunde von Wagner übernommen wurden, jedoch anders umgesetzt werden. Und jetzt haben Sie den tyrannischen Autor Wagner, der seine Techniken bei Meyerbeer zusammengeklaut hat und sie sozusagen anders anwendet, sie nämlich anwendet als mächtiger Autor für ein künftiges Publikum, das erst noch lernen muss Musik zu hören, während der höfliche Meyerbeer für ein Pariser Weltausstellungspublikum alles, was es auf der Welt an musikalischen Reizen gibt, zusammenführt in seiner Grand Op8ra unter Auf-
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opferung des Autorenstandpunktes. Es sind tausend Autoren für die fünf Akte, die er hier zelebriert. Das Filmbuch wäre nun gewissermaßen der Dolmetscher zwischen Wagner und Meyerbeer über die Rheingrenze hinweg, so dass man beides gleichzeitig lesen kann, also mehr ein Wörterbuch als ein Filmbuch. PAUVAL: In Ihrem Filmbuch zu Gelegenheitsarbeit einer Sklavin fügten Sie 1975 erstmals auch Bilder in theoretische Schriften ein, nämlich in jene über den Realismus. Welches wäre der Wert des Bildes oder welche Bedeutung hat ein Bild in einem solchen Zusammenhang, wo das Interesse doch hauptsächlich den Begriffen gilt? KLUGE: Es gibt eine ganze Bilderwelt im 17. Jahrhundert, nämlich die Embleme. Das ist eine Bilderwelt, die ich außerordentlich achte. Sie spart Bilder aus, das heißt die Bildinhalte sind sehr stark reduziert. Dadurch kommt der Sinn eines Bildes oder der Witz, der in einem Bild versteckt ist, verstärkt zum Ausdruck. Mit Realität haben diese Emblembilder fast gar nichts zu tun, sondern sie sind Zeichensetzung mit Mitteln, die keiner Wörter bedürfen, die auch nicht durch Wörter ausgedrückt werden können. Sie stellen etwas dar, was weder der Film kann noch was Texte alleine können, und das verkehrt miteinander. Es handelt sich hier um eine zusätzliche Intelligenzform aus der Vorphase der Aufklärung, die ich sehr schätze und liebe. Diese Embleme passen in theoretische Bücher. Eines meiner Lieblingsbilder zeigt einen Mann, der auf seinem Rücken einen Elefanten den Berg hinaufschleppt. Wenn Sie das jetzt deuten als »die Bürde der Vernunft«, dann haben Sie etwas getroffen, was Sie nur mit diesen Worten oder nur mit dem Bild kaum ausdrücken können. Deswegen verkehren Embleme auch immer mit Sätzen und Begriffen, und zwischen dem Satz und dem Bild entwickelt sich eine Fülle, ja eine ganze Kaskade von Bedeutungen. PAUVAL: Wie kamen Sie in den 1970er Jahren auf die Idee, Bilder auch in Ihre Erzählbände einzufügen? KLUGE: Weil mir etwas fehlte, und weil ich oft genug vor der Frage stand, wie man etwas nun filmen würde, und dabei merkte, dass dem Text etwas fehlt, gleichzeitig aber merkte, dass der Film das ebenfalls nicht bringen kann. Bei den Lebensläufen habe ich das noch nicht gekannt, daher habe ich es da auch nicht angewendet. Bei Unheimlichkeit der Zeit wusste ich inzwischen mit Bildern umzugehen, und das ist zwar nicht so, dass durch die Filmerfahrung hier Bilder hineinkommen, das könnte ich fast ausschließen, aber inwieweit Bilder ihre eigene Grammatik haben und wie ihre Zeichensetzung funktioniert, das habe ich inzwischen herausgefunden. Eigentlich verwende ich ja Bilder in Büchern wie Texte. Sie sind einfach ein anderer Aggregatzustand des Textes bzw. einer Geschichte. Jetzt entsteht gewissermaßen im Gegensatz von zwei Reizen die Frage zum einen, ob ich einen Text intensivieren kann, und zum anderen, ob ich ein filmisches Mittel gebrauchen kann, denn beides zusammen geht nicht; da kommen jetzt Bilder zustande, die ich entweder finde oder suche usw., und
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eigentlich finde ich sie mehr, als dass ich sie suchen würde. Der Zufall ist sehr stark, denn ich sammle Bilder die ganze Zeit, und das macht man anders als beim Film, denn das sind stehende Bilder, also gewissermaßen Gegenstände. Dieses Bild von dem blinden Lastwagenfahrer habe ich zum Beispiel auf einem Flohmarkt in Italien gefunden. Ein Bild aus dem Jahr 1928. Ich habe große Sammlungen von solchen Bildern und merke, wenn ich die so in die Hand nehme, dass sich das Interesse an einigen Bildern hält. Manchmal wird dann zu ihnen eine Geschichte entwickelt. Manchmal ist es aber auch so, dass ich mich einfach an ein bestimmtes Bild erinnere, und dann kommt es in das Buch hinein. Es entsteht sozusagen eine innere Zuwendung zu einem Bild. Was mir ein Bild wirklich bedeutet, kann ich Ihnen nicht genau sagen, sonst würde ich ja kein Bild verwenden, sondern es mit einem genauen Text ausdrücken. Nicht selten aber zieht es eine ganze Kette von Metaphern nach sich.
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PAUVAL: Welches ist Ihr Lieblingsbild? KLUGE: Ich könnte Ihnen viele Bilder zeigen, zum Beispiel jenes, wo man sieht, wie ein Kind aus dem Fenster fällt und eigentlich zu Tode stürzen muss, wenn nicht ein Stockwerk tiefer ein junger Mann sich riskant aus dem Fenster lehnen würde, um es aufzufangen. Die Unwahrscheinlichkeit, dass so etwas tatsächlich passiert, fesselt mich. So etwas ist für mich ein starkes Bild. Genauso lieb ist mir das schon erwähnte Bild des blinden Lastwagenfahrers mit seinem Sohn. Sie sehen, dass hier eine Zuneigung, nämlich die Zuwendung des Kindes und das Vertrauen seines Vaters, dazu führt, dass ein Blinder, der seine Arbeit nicht verlieren will und auch nicht darf, durch die Stadt fährt und sich dabei von seinem Sohn leiten lässt. Er wird dargestellt, als würde sich der blinde Sänger Homer oder der blinde Seher Teiresias von einem Jüngeren führen lassen. Und der praktisch blinde Regisseur Fritz Lang konnte trotz seiner Sehschwäche weiterhin Filme machen. Es gibt ja auch eine Unterhaltung zu später Nachtstunde, wo man sich gegenseitig fragt, ob man lieber sein Augenlicht oder sein Gehör verlieren würde. Ich würde eher zum Verlust des Augenlichtes tendieren. Es ist nicht real, und ich verliere es auch gar nicht, aber ich habe mich schon oft darüber unterhalten, unter anderen mit Adorno, der auch sagte, er würde lieber das Augenlicht verlieren, das Gehör gebe er nicht her. Es gibt viele andere Freunde, mit denen ich zusammengearbeitet habe, die man an der Feststellung erkennen kann, dass das Ohr zuverlässiger ist als das Auge. Deswegen hören Sie aber nicht auf zu gucken. Diese Geschichte des blinden Lastwagenfahrers ist eigentlich die Nagelprobe aufs Urvertrauen. PAUVAL: Wie an dem soeben erwähnten Beispiel zu erkennen ist, kommen die von Ihnen gewählten Bilder selten ohne Text, ohne Kommentar aus. KLUGE: Das soll auch so sein. Wie kann man optisch ausdrücken, dass der Lastwagenfahrer blind ist? Da versagt das Bild. Was die Sprache in einem Satz sagen kann, müsste das Bild lange erzählen und dazu noch in Bewegung geraten, ja es müsste eine Sequenz bilden. In filmischer Umsetzung ist dies vergleichbar mit Armin Müller-Stahl, der in meinem Film Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit den erblindeten Fritz Lang spielt. Er gerät auf einen Steg, der ziemlich gefährlich am Haus angebracht ist und von dem man herunterstürzen kann. Er bleibt stehen, denn er braucht Hilfe, da er nichts sieht und er seinem Tastgefühl, dem er noch vertraute, als er den Steg betrat, jetzt nicht mehr vertraut. Da sind etliche Andeutungen, und zwar möglichst wenig aufdringlich, also ein wenig nebenher – auch wenn man sieht, wie er im Spiegel prüft, ob er mit drei Brillen nicht vielleicht etwas mehr sehen kann –, um ganz langsam zu erzählen, dass es sich um einen blinden Menschen handelt. Das könnten Sie im Buch mit einem Satz sagen, brauchen aber zehn bis fünfzehn Minuten, um es im Film unaufdringlich auszudrücken.
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Abb.: Der junge Mann lehnt sich auf riskante Weise aus dem Fenster, um den tödlichen Sturz des Kindes aufzufangen. Ein »Schutzengel«.
PAUVAL: Durch den Kommentar, Bildunterschriften, Beschreibungen und dergleichen, schränken Sie jedoch das Potenzial eines Bildes ein, indem Sie dessen Interpretation in eine bestimmte Richtung lenken. Liegt das künstlerische Interesse an einem Bild sowie an einer Erzählung nicht gerade in deren »Offenheit« oder, wie Sie häufig sagen, in deren »Blindheit«? KLUGE: Das ist richtig. PAUVAL: Wie erklären Sie, umgekehrt, dass Ihre Erzählungen auch ohne die Abbildungen verständlich bleiben, wenn ein Verlag diese nicht mitdruckt, falls es ihm schlichtweg darum geht, Druckkosten zu sparen? KLUGE: Der Text ist in Büchern dominant, und wenn ich Bilder hinzufüge, dann tue ich das stets im Proportionsgefühl zu den Texten. Die Bilder haben also keine selbstständige Funktion, aber sie illustrieren auch nicht. Sie können demnach sicher sein, wenn ich da einen Menschen abbilde, beispielsweise Gerda Baethe3, dass es dann nur ein Bild ist, keine Illustration, und der Leser kann sich vor3 Vgl. Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945, Berlin, Suhrkamp, 2014, S. 32.
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Abb.: Ein halbes Jahr lang fuhr der blinde Mirko Wischke in der Zeit der Arbeitslosigkeit seinen Lastwagen mit Hilfe seines Sohnes. Das Vertrauen, das beide verbindet, kann man Liebe nennen.
stellen, dass da tatsächlich Gerda Baethe abgebildet ist. Diese Bilder sind nichts weiter als Verstärker. Ich kann genauso gut ein Bomberkommando textlich beschreiben, aber wenn ich dafür eine Graphik hernehme, ist das eine Art Bestätigung.4 Eigentlich sind Bilder wie Ausrufezeichen, eine Art Interpunktion. Der Text ist bei einem Buch immer das Wesentliche. Die Bilder sind gewissermaßen Signaturen, Satzzeichen, Bestätigungen, Kommentare, denn sie beinhalten häufig dasselbe, wie das, was schon vorher im Text gesagt ist. PAUVAL: Wenn Bilder keine reinen Illustrationen sein dürfen, was gilt es dann durch sie überhaupt zu veranschaulichen? KLUGE: Wenn Sie jetzt wieder das Bild des blinden Lastwagenfahrers nehmen, da ist die groteske, Rabelais-trächtige Anordnung der Kontraste: Straßenverkehr ist eine Metapher für Sicherheit an erster Stelle und für notwendige Rücksicht am Steuer. Schon wenn Sie daran denken, dass es künftig automatische Autos ohne Steuerung geben soll, merken Sie, dass wir mit dieser Metapher vertraut sind. Im Gegensatz zu diesem Steuer ist dieser Fahrer blind. Jetzt kommt es mir nicht darauf an, wie ich das ausdrücke, ob ich das subtil ausdrücke, ob die Augen umschattet sind usw., weil ich das Bild ja auch nicht selber male, sondern ich zitiere bloß ein Bild, das im Jahre 1928 für eine Zeitung gemalt wurde, und ich 4 Ebd., S. 46f.
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importiere das in den Text. Mir kommt es vor allem auf den Kontrast zwischen Blindheit und Steuerung bzw. Vertrauen auf die Augen des Kindes an. Das hat eine große Tiefe. Denn worauf vertraut der blinde Ödipus, wie lässt er sich durch ein Kind nach Theben führen? Also dieser Assoziationsreichtum steckt in diesem Bild, und der steckt nicht in der Tatsache, dass ich das ausmale, er steckt auch nicht in Nebensachen, die in diesem Bild gar nicht vorhanden sind. Denn schon der Maler malt intentional für eine Zeitung. Es gibt da keine Nebensachen, wie wenn Sie zum Beispiel bei einem Bild von Gerhard Richter finden würden, dass das Grün links aus einer anderen Welt stammt, oder bei Anselm Kiefer, wo Nuancen von Grautönen nicht zwangsläufig zu Jason führen, aber vielleicht in einem anderen Bild dieselbe Art, dieselbe Maltechnik zu Chlebnikov. Da ist ganz zweifellos die Technik des Malers, Nuancen, Unterscheidung zwischen Farben sind wichtig und also expressiv oder impressiv relevant, was hingegen in ein Buch meines Erachtens gar nicht hineingehört. Die Unterscheidung zwischen den Grauwerten eines Textes ist von geringer Bedeutung, denn ich drucke den ja auch nicht so, dass ich die Buchstaben jetzt langsam in Grauwerten verschwimmen lasse. Das würde ich auf keinen Fall tun, aber ich könnte ganze Filme machen, die nur aus Grauwerten bestehen. Einer meiner Lieblingsfilme handelt von den Scheinwerfern des Studios, die man nach den handwerklichen Regeln des Spielfilms einer Filmszene nicht sehen darf. Wir haben die Kamera stattdessen ausschließlich auf die Scheinwerfer gerichtet, die im Atelier gewöhnlich an der Decke hängen. Scheinwerfer ohne Handlung. Das Ergebnis: Nachts träumen die Lampen des Ateliers von ihrem wahren Leben. Endlich ist der Regisseur weg. Das ist für mich Kino. Licht ist das Schönste am Film. Das kann man zwar nach den Konventionen des Kinos nicht sehr lange machen, weil die Leute sich fragen, wo denn nun die Handlung sei, aber für das Auge und für die Kamera selbst, die ein Lichtfresser ist, ist das überhaupt Film, und es besteht nur aus Nuancen, aus verschiedenen Arten von Grau, Hell, und vielen dunklen Stellen dazwischen, also aus kostbaren Dunkelheiten in lauter Helligkeiten verschiedener Arten. PAUVAL: In der Schlussnotiz zu einem gemeinsam mit Stefan Moses veröffentlichten Text-Foto-Band in Schwarz-Weiß schreiben Sie, dass Sie »an der Differenz festhalten, die Texte und Bilder haben sollen«. Wie würden Sie diesen scheinbar selbstverständlichen Satz erklären? KLUGE: Was ich für poetisch halte, sind Massenauftritte von Unterscheidungen, und Unterscheidungen sind eigentlich das einzige, womit ich überhaupt arbeite. Ich arbeite weder nur mit Film noch nur mit Dada, sondern bewege mich auf einer Skala, die sich von »ohne Sinnzwang« bis »Hunger nach Sinn« erstreckt, auf der es Milliarden Unterschiede gibt, die relevant sind. Das behandle ich entweder mit Texten oder mit Musik oder mit Bild. Und nun konkret zu Ihrer Frage: Als Medium hat das Buch aufgrund seiner viertausendjährigen Tradition ein Ver-
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sprechen abgegeben, und zwar, dass ich, wenn ich auf jemanden treffe, der ein bestimmtes Buch liest, mit ihm in dieser dritten Natur auch umgehen muss. Die erste Natur ist die Landschaft, die ich mir anschaue, während ich durch sie hindurchspaziere. Die zweite Natur ist eine verarbeitete Landschaft, also die Industrie. Bücher wiederum sind weder das eine noch das andere, also eine dritte, künstliche Natur, in der ich mit der Aufmerksamkeit und den Sinnen, auch den Gedankeninhalten des Lesers, die auch sinnlich sind, umgehe – und immer in Bezug auf etwas, denn ich verständige mich mit ihm über das, was ich beschreibe, eine Handlung, Menschen usw. Dies ist eine ganz bestimmte Konstellation von Erfahrung, die es eigentlich nur in Büchern gibt und die in Comics, die sich ähnlich wie Bücher verhalten, noch leicht anders ist, aber auch interessant. Diese Konstellation ist in einem Lexikon und in einem Geschichtenbuch eben verschieden. Auch Lexika finde ich gut; die Enzyklopädie ist ein wunderbares Buch, vor allem wenn ich es von vorn nach hinten und von hinten nach vorn lese, damit es nicht mehr so systematisch wirkt. Man kann sie auch lesen, wie man es in der Antike mit Vergil tat, indem man irgendeine Seite aufschlägt, von der man sagt, der Gott hat es mir heute so eingegeben, dass es diese Seite an diesem Tag sein soll. Wenn Sie das tun, haben Sie eine Wahrsagung, die etwas für Ihr Leben bedeutet. So kann man mit Büchern umgehen. Wenn ich mich in eine Öffentlichkeit begebe, in der Bewegtbild gepflegt wird, zum Beispiel ein Panoptikum, ein Panorama oder ein Kino, dann habe ich es mit einem anderen Medium zu tun. Der Zuschauer ist eingesperrt und rekrutiert für eine 90-Minuten-Veranstaltung im Kino, ein Umstand auf den ich höflich Rücksicht nehmen muss. Während ich bei einem Buch unendlich Zeit in Anspruch nehmen kann und beliebig gründlich werden kann, habe ich beim Kino auf dem Rhythmus der Sinne des Zuschauers Rücksicht zu nehmen. Das ändert die ganze Erzählweise. Wenn ich hingegen durch eine Ausstellung gehe, ist das auch nur graduell anders. Jetzt sitzen diejenigen, denen ich etwas erzähle vor einem Computer, und wieder ändert sich die Konstellation, je nachdem, ob sie jetzt mit einem Handy oder einem Laptop im Zug oder im Flugzeug sitzen oder zuhause, und es ist Abend oder Tag. So ist auch jedes Mal das Gefäß des Erzählens, der Zugang von mir zu den anderen, also die Röhre »Verständigung« anders, und das unterscheidet auch Bilder und Texte – wobei ich ja vorhin schon sagte, dass ich »Bildertexte« finde, »Texte-texte« finde, und was mache ich außerdem mit der Musik – so dass dem Ganzen ein Grundstrom des Erzählens zugrunde liegt, der sich an seiner Oberfläche mal als Bild, mal als Musik, mal als körperliche Bewegung, mal als Text äußert. PAUVAL: Was macht in Ihren Augen die Wahrheit eines Bildes aus? KLUGE: Also die Spannung eines Bildes entscheidet sich im Verhältnis zwischen mir und dem Betrachter und zwischen der Handlung und der Bedeutung seines Gegenstandes. Ein Bild kann auch einen abstrakten Inhalt haben, und bewegte
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Bilder können, wie gesagt, sogar unsichtbare Bilder evozieren. Der Mann, der blind am Steuer eines Lastwagens sitzt, fährt keine Mercedes-Limousine, sondern ein Fahrzeug aus der Arbeitswelt, und man erkennt auch, dass er nicht aus der Jetztzeit stammt, da er in einem Stil gemalt ist, den man aus den zwanziger und dreißiger Jahren kennt. Von daher haben diese Bilder eine sehr starke Konkretion, die Texte von sich aus nicht haben. Einem Text in GaumontSchriftart oder in Akzidenz-Grotesk sehen Sie nicht an, welche Epoche er beschreibt. Bei einem Bild merken Sie das meistens sofort. Deswegen gibt es bei den Bildern einen sammlerischen Grund. Ich bin sozusagen wie ein Archäologe tätig, der mitaufzeichnet, wo das Fossil gefunden wurde. Das ist nämlich genauso wichtig wie das Fossil selber. Man holt also nicht einen Knochen irgendwo her und bringt ihn in ein Museum, sondern man dokumentiert diesen Knochen, und deswegen gehört diese Relation des Bildes auch zum Bild selbst, und jedenfalls anders als ein Rahmen. Zum Bild gehört außerdem das, was aus ihm hinausweist, und inwieweit es dies abbildet. Das ist mir zum Beispiel wichtiger als das, was ein Bild an ästhetischem Reiz verursacht. Bilder, die aus sich seitlich hinausweisen, Handlungen, die neben dem Bild passieren, das sind in meinen Augen kostbare Bilder. Bei Texten ist es anders, denn sie können nicht über sich hinausweisen, aber in ihnen kann ein Satz zum darauffolgenden Satz in Kontrast treten. Das sind die stärksten Wirkungen von Texten, wenn die Sätze an der Grenze zum nächsten Satz gewissermaßen platzen, wenn sie sozusagen die grammatische Bedeutung durch die Intensität der Erzählung wegsprengen. Und wo es den Grundstrom von Erzählung gibt, der übrigens unabhängig von uns Menschen entsteht, wenngleich nur wir Menschen die Fähigkeit besitzen, dies als Erzählung wiederzugeben, da entwickelt sich in der dritten Natur ein zweiter Strom, gewissermaßen das Echo der wirklichen Verhältnisse, wiederum ergänzt um die Hoffnungen, die Irrtümer, die Rebellionen, die Freiheit, die in den Menschen steckt, und deswegen den Grundstrom, den die Wirklichkeit der Natur und der menschlichen Verhältnisse verzerrt zu einem antirealistischen, dritten Bild. Damit geht im Grunde die Poetik um, egal ob sie mit Text, Bild oder mit Musik handelt. PAUVAL: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Dynamik der Montage? KLUGE: Wenn am Ende der Schlachtbeschreibung das Bild eines Elefanten an einer Babywiege zu sehen ist und man liest darunter den Satz von Diderot: »Aucun homme n’a reÅu de la nature le droit de commander aux autres«, nachdem man zuvor beinahe dreihundert Seiten eines Dokumentarberichts über militärische Hierarchien und den organisatorischen Aufbau eines Unglücks, das auf Kriegsverwaltung beruht, gelesen hat, dann fasst dieses Bild das besser zusammen als jeder Satz und verstärkt das Zitat von Diderot elementar, denn Diderot ist ja kein Elefant, und das kostbare Menschenleben ist kein Kind in einer
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Wiege. Die vielen Soldaten, die in Stalingrad umkommen, sind ebenso weder Elefanten noch Kinder in einer Wiege, aber ihre Seelen haben diese Charaktere. Sie sind zugleich groß wie ein Elefant und klein wie ein Baby, während sie sterben. So ist es mir im Laufe der Zeit, nach den ersten, zunächst unbebilderten Fassungen meiner Schlachtbeschreibung, eine liebe Gewohnheit geworden, Bilder in literarische Texte einzufügen, immer dann, wenn mir schien, die Texte werden zu statisch. Ich finde jedoch nicht, dass die Bilder, die ich in Büchern einfüge, wirklich montageartig eingefügt sind. Eigentlich werden die Bilder so behandelt, als wären sie Texte. Sie erzählen auch genauso und unterschiedslos. Es kann auch sein, meinetwegen bezogen aufs Wetter, dass es zunächst einen Text gibt und dann eine Bilderfolge, und dann kommen wieder Texte, und die sind völlig gleichrangig, so als seien diese Bilder eigentlich auch nichts anderes als eine Gruppe von Buchstaben, als eine Gruppe von Zeichen. Dieses Verhältnis fasziniert mich sehr, denn bei Texten ist die Montage doch etwas anderes als die Montage beim Film. Bei Texten wird durch Montage sehr stark markiert, also die Auslassung betont das Folgende, so dass gewissermaßen die Montage eine Pseudogrammatik bildet. Ich kann also exklamativ montieren, ich kann abschwächend montieren. Die Bilder erlauben eine grammatische Erweiterung. Die Montage in der Literatur hat überhaupt eine ganz andere Funktion als die Montage bei Bewegtbildern im Film. Der Ausdruck in einer montierten Geschichte – und ich montiere ja auch einzelne Sätze oder Absätze gegeneinander – entspricht daher in der Literatur einer zweiten Ebene des grammatischen Prozesses, der sich gleichzeitig als das Gegenteil von Rhetorik definiert. Wenn Sie grammatische Perioden haben wie bei Cicero, dann würde die Folge der rhetorischen Mitteilung, die Folge der rhetorischen Information ziemlich gleichförmig und linear immer weitergehen bis zur Ausdrucksunfähigkeit, bis die Sätze anfangen zu klappern, bis sie zur Parodie von Poetik werden. Mein Großmeister heißt Tacitus, und der macht das anders, wenn er zum Beispiel einen Satz schreibt wie: »Die Nacht war hereingesunken, das Schiff der Kaiserin schon auf dem Wasser«; er kürzt also die Grammatik, er setzt montageartig Wahrnehmungen gegeneinander. Und dadurch, dass er sie isoliert, intensiviert er sie. Ich werde also befreit von dem ganzen Geplapper des unwichtigen Zusammenhanges, das heißt die Entscheidung, ob ich Zusammenhänge im Text stifte oder nicht, darüber entscheidet die Montage. Sie ist eigentlich Disruption, sie ist Kontinuierung, sie ist Relativierung oder Intensivierung, alles das, was Sie mit grammatischen Formen, Vergangenheit, Gegenwart, Konjunktiv, Zukunft gar nicht machen können. Sie können somit gewissermaßen Zeiten stauen, Sie können Zeiten dehnen, Sie können Zeiten wegnehmen. All das können Sie in der Literatur mühelos machen, und in diesem Moment montieren Sie. Wenn ich zum Beispiel zu einer Beobachtung in der Jetztzeit Ovid aufrufe, dann habe ich montiert. Das Springen sozusagen, das die Erlaubnis des Lesers zum Sprung
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voraussetzt, die wird bei Texten als Montage bezeichnet, aber eigentlich ist es die Sprungfähigkeit, die zusätzlich zu den Modi der Grammatik noch weitere Modi der Erzählung erzeugt. Das gibt es beim Film nicht. Beim Film gibt es im Schnitt die Epiphanie, also das dritte Bild, das weder in der Einstellung vorher noch in der Einstellung hinterher enthalten ist. Es ist also keine Assoziation, sondern eine Evokation. Rhetorisch ist beides nicht, denn rhetorisch ist das, was man Montage nennt ganz selten. Rhetorik ist im Grunde eine sehr höfliche Art sich auszudrücken, und inmitten eines Diskurses oder eines Dialoges ist das auch nichts Verwerfliches. Ich will nicht die Rhetorik bekämpfen, ich sage nur, dass der Bruch im rhetorischen Duktus eine Form der Montage bei Texten ist. PAUVAL: Das Prinzip Montage hat seinen historischen Ursprung nicht im Film, sondern in der Literatur und vor allem im Journalismus. Inwiefern ist dies eine Quelle, die Sie auch für die Gestaltung Ihres schriftstellerischen Werkes in Anspruch nehmen? KLUGE: Wenn Hemingway in seinen short stories Montage übt, dann geschieht das aus dem Platzmangel seines Blattes aus dem mittleren Westen der USA. Er muss demnach kürzen, wenn mehr Werbung vorhanden ist, und er darf verlängern, wenn Werbeblöcke ausfallen. Daraus entsteht eine rudimentäre Kunstform der Montage, zunächst unfreiwillig. Man soll diese Formate, die sich »aus der Natur der Sache« heraus entwickeln, nicht unterschätzen. Das Prinzip der Kürze verdanke ich für meine Person nicht Hemingway, sondern Tacitus. Sie hat in seinen Texten einen anderen Grund: für jede Wahrnehmung, die ihm wichtig ist, hat er einen Satz oder Satzfetzen übrig. Wird es intensiv, zerbrechen die Sätze, und anstatt sie zu beenden, wird er exklamativ, also expressiv. Aus diesem »Expressionismus« kommt meine Montage. PAUVAL: Hätte nicht Hemingway in der Tat einen Text wie »Geschlechtsteile in Großaufnahme« schreiben können? KLUGE: Das ist eine interessante theoretische Übung. Ihm hätte der Text gefallen. Die Tigervulva bekommt ein Jäger auch selten von so Nahe zu sehen. Als Journalist würde er vermutlich finden, dass der Unfall des Tierpflegers eine unbezahlbare Aktualität darstellt. Den Kern aber bildet die Verwirrung der Motive. Die Aufmerksamkeit darauf wäre für Hemingway charakteristisch. Es geht hier um den Ehrgeiz des Tierpflegers, der keine nähere Tigererfahrung besitzt, mit ihr aber prunken will. Er folgt einem außerberuflichen Interesse. So kommt es zum Unfall. Nichts davon ist ironisch. Was mich an dieser Geschichte besonders fesselt, ist die Verwirrung zwischen der sensationslüsternen und der künstlerisch-professionellen Absicht des Journalisten Quecke. Die Dada-Wirkung kommt nicht aus einem Standpunkt, der über der Sache steht, sondern liegt in der Sache selbst. Ich würde Ihnen gern meine Lieblingsgeschichte des Jahres erzählen: An jenem Samstag, als der französische Präsident, recht öffentlichkeitswirksam, also unter positiver Reaktion der Öffentlichkeit, Frankreichs
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Engagement in Mali verkündete, wollte Le Monde einen berühmten Pressefotografen nach Mali schicken, um Aufnahmen über das Geschehen vor Ort zu machen. Durch eine Namenverwechslung wurde aber ein Cousin dieses Fotografen hingeschickt, der ein Künstler war, und der dort die Maserung einer bestimmten Holzart, eine Ameise auf dem Weg nach Westen oder den Marmor im Bad seines Hotelzimmers, also lauter Dinge ablichtete, die für ihn ästhetisch interessant waren, aber nicht das, was die Zeitungen als aktuelles Bild brauchten. Seine Bilder aber, mit den entsprechenden journalistischen Unterschriften, welche die Redaktion hinzufügte, funktionierten für die Leser hervorragend. Auf diese Weise zog aus Missverständnis Kunst in die Aktualität ein, und als dann der gleichnamige Pressefotograf wieder erreichbar war, wollte der Chefredakteur von Le Monde den Künstler gar nicht wieder auswechseln. Das ist ein bisschen so ähnlich, wie in »Geschlechtsteile in Großaufnahme«, wo es heißt: »Es fehlte in einem Fall der aktuelle Bezug und im anderen Fall das Bild.« Geschlechtsteile in Großaufnahme Der berufserfahrene Engländer, ein Tierpfleger, hat sich für Sonntag früh mit dem FotoJournalisten David Quecke zu Aufnahmen von neugeborenen Hochland-Rindern und Jungaffen verabredet. Jetzt liegt er, von Tigern angefallen, lebensgefährlich verletzt, im Kreiskrankenhaus Soltau. Sein Ruf als Tierpfleger ist ruiniert. Nach Aussage von Quecke haben »die Freunde, die einander in einer Bar am Vorabend kennengelernt hatten«, eine Zeitlang neugeborene Hochlandrinder fotografiert. Quecke interessierten die Rindernachkommen, den Tierpfleger, John Dempsey, interessierten die Fotoapparate. So redeten sie, obwohl sie keine Berufserfahrung haben konnten, wenn sie sich statt für ihre eigene Tätigkeit für die Tätigkeit des anderen interessierten. Nein, sagte der Journalist, er interessiere sich nicht mehr für Fototechnik, sondern für den Inhalt dessen, was er fotografiere. Die jungen Hochlandrinder langweilten ihn nach kurzer Zeit. Die Gottesdienste der nahen Stadt waren noch nicht beendet, da hatte er die recht winzigen Kreaturen, gemessen am schlachtreifen Hochlandrind, bereits allseitig abfotografiert. Der junge Dempsey aber, berichtet Quecke, habe etwas tun wollen, um ihn zu erheitern, die Langeweile zu verdrängen, und habe ihn aufgefordert, in das Tigergehege zu kommen. Ja, er habe ein Tor geöffnet und ihn, den Quecke, aufgefordert, sein Kraftfahrzeug in den Tigerkäfig zu bugsieren und vom Wagen aus Nahaufnahmen von den Tieren zu machen. Unaufgefordert habe Dempsey seine Erfahrung im Umgang mit Tigern nachzuweisen versucht. Später habe sich jedoch herausgestellt, daß Dempsey nur mit Hochlandrindern ausführliche Erfahrung besaß, daß er Tiger-Erfahrung erst noch zu erwerben hoffte – so habe sich Dempsey, außerhalb des verschlossenen Kraftfahrzeugs, in dem tigereigenen Areal (im Freigehege) hin und her bewegt. In diesem Areal befanden sich Schilder : Bitte nicht aussteigen! Dempsey habe ihn, Quecke, durch beruhigende Hinweise auf seine Fachkenntnisse, aufgefordert auszusteigen, und zu zweit hätten sie versucht, einen der Tiger, der sich freundschaftlich dem Tierpfleger und dessen Gast näherte, dazu anzuhalten, sich aufrecht an das Schild »Bitte nicht aussteigen« anzulehnen. Von einem solchen Schild mit stehendem Tiger habe sich Quecke (unter Zustimmung von Dempsey) einen effet, eine populäre Wirkung versprochen. Bei dem Versuch, den Tiger an das Schild heranzudirigieren, habe indessen ein zweiter Tiger dem fünfundzwanzigjährigen Dempsey einen Prankenhieb versetzt.
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JOURNALIST: Aus Spaß? QUECKE: Sah nicht nach Spaß aus. JOURNALIST: Aus Eifersucht? QUECKE: Sie meinen, weil der Tiger, der den Prankenhieb austeilte, selber zum Schild geführt werden wollte von dem beliebten Tierpfleger? JOURNALIST: Ja. Oder er wollte den Kameraden schützen? QUECKE: Vor dem Tierpfleger, der sich doch nur bemühte? JOURNALIST: Irgendeinen Grund muß die Großkatze gehabt haben … QUECKE: Hatte sie. JOURNALIST: Und welchen, nach Ihrer Beobachtung? QUECKE: Ich kann Großkatzen aus günstigen Schußpositionen fotografieren, ich kann ihren Blick dagegen nicht enträtseln … JOURNALIST: Blickte die angreifende Katze denn auf, bevor sie mit der Pranke zuschlug? QUECKE: Ich sah nicht zu ihr hin. Warum sagen Sie jetzt »sie« und nicht er, wie es sich doch für einen Tiger gehört? JOURNALIST: Ist mir unterlaufen wegen Katze. Es heißt: die Katze. QUECKE: Interessanterweise war es eine Tigerin! JOURNALIST: Und daraus wäre zu schließen? QUECKE: Gar nichts. Eine Feststellung. JOURNALIST: Wie bemerkten Sie es? QUECKE: Ich hatte ihr Geschlechtsteil in Großaufnahme fotografieren wollen, sie hielt es jedoch so ungünstig, daß ich mit der langen Brennweite zu keinem ruhigen Schuß kam. JOURNALIST: Und der Tiger, der sich steil aufstellen sollte an dem Schild »Bitte nicht aussteigen«, war ein männlicher Tiger? QUECKE: Gewiß, denn hiervon habe ich Großaufnahmen gemacht. Die Geschlechtswerkzeuge von Großkatzen beiderlei Geschlechts sind bisher kein populäres Sujet. Sie können da keine Story herausziehen. Sieht übrigens nicht nach Tiger aus, übrigens auch nicht pornographisch, sondern »nie gesehen«. So etwas verkauft sich nicht. JOURNALIST: Schade. QUECKE: Wieso schade? JOURNALIST: Weil Sie jetzt diese Fotos haben, den Unfall dagegen nicht. Es wäre übrigens nicht zum Unfall gekommen, wenn Sie bei den pornographischen Großaufnahmen geblieben wären. Dann hätte der Tiger sich nicht aufstellen müssen, an das Schild gelehnt. QUECKE: Er wurde ja erst hingeleitet. Der erfahrene Dempsey bugsierte ihn umständlich in Richtung auf das Schild… JOURNALIST: Das gelang nicht? QUECKE: Nein. JOURNALIST: Was dann? QUECKE: Die Pranke der Tigerin. Der Tierpfleger, mein Freund, liegt wie leblos am Boden… JOURNALIST: Und Sie? QUECKE: Renne ins Fahrzeug… JOURNALIST: Und jetzt? QUECKE: Rennen die übrigen Wildkatzen hinzu, stürzen sich auf den leblos Daliegenden. JOURNALIST: Fiel Ihnen nichts ein, ihn zu retten? QUECKE: Ich habe mit Tigern keine Erfahrung. JOURNALIST: Haben Sie fotografiert?
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QUECKE: Der Apparat lag neben dem Schild »Bitte nicht aussteigen«. Ich stieg jetzt nicht mehr aus, sondern verhielt mich nach der Anweisung des Schildes. JOURNALIST: Das war Ihr einziger Anhaltspunkt für den Umgang mit Tigern in einem Tiger-Freigehege… QUECKE: Praktisch der einzige. Ein Tiger zerrte den Pfleger etwa 24 Meter in ein Gebüsch. Aus welchem Grund, weiß ich nicht. JOURNALIST: Sie sitzen im warmen Auto? QUECKE: Ob warm, weiß ich nicht, aber verschlossen. Ich starte und fahre, hupend, kreuz und quer durch die Tigerabteilung … JOURNALIST: Was wollten Sie damit bewirken? QUECKE: Ich versuchte Bewegung in die Sache zu bringen, ohne aussteigen zu müssen. Die Tigerabteilung, das sind gut zwei Quadratmeilen. Ein anderer Pfleger kam und brachte die Tiger durch Schreckschüsse zur Raison. JOURNALIST: Den Halbtoten fuhr man ins Krankenhaus? QUECKE: Wohin sonst? Die Fotos, vor der Katastrophe geschossen, ergaben keine Story. Es fehlte den Redakteuren von Queckes Blatt an Erfahrung, was eine Story ist. LEITER DER REDAKTIONSKONFERENZ: Wir könnten diese großteiligen Aufnahmen von der Tiger-Vulva, die ich aus dem tierpsychologischen Atlas entnehme, zweiseitig abbilden, dazu die Geschichte des Unfalls und auf der Rückseite Queckes Tiger-Pimmel, ganzseitig. BEISITZENDER REDAKTEUR: Der Kitzler der Tigerin, hier die Schamlippe, sieht aus wie eine Landkarte, ein Teil des russischen Kontinents. VORSITZENDER REDAKTEUR: Genau. Könnte man sagen, daß der Prankenhieb der Kollegin liebevoll gemeint war, ihr aber ausrutschte? BEISITZENDER REDAKTEUR: Wie man will, weil wir es ja nicht wissen. Sie verzichteten dann auf die Story, da die Bildfolge den aktuellen Anlaß nicht wiedergab. Die Redakteure des Blattes hätten sich entschließen müssen, entweder das zeitlose Dasein der Fortpflanzungswerkzeuge von Tigern oder aber den Unfall des Tierpflegers zu dokumentieren. In einem Fall fehlte der aktuelle Bezug, im anderen Fall das Bild.
Abb.: »In einem Fall fehlte der aktuelle Bezug, im anderen Fall das Bild.«
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PAUVAL: Nun fügen Sie dieser Erzählung noch die Abbildung eines Hollywoodkusses hinzu, die scheinbar wenig mit dem vorangehenden Text zu tun hat. Welche Aussage bezwecken Sie mit dieser Kombination? KLUGE: Der Text entwickelt sich ohne besondere Absichten meinerseits. Tatsächlich aber haben wir es hier weniger mit einer »story« als mit einer Konstellation zu tun. Die Handlung ist schon wesentlich, denn es passiert eine Menge. Die Geschichte ist hier die einer freundlichen Auseinandersetzung zweier Personen, die in einem Dialog versuchen einem dramatischen Vorfall näherzukommen, und alles, was sie sagen ist ein bisschen schräg zu dem was vermutlich geschehen ist. Einer der beiden sagt: »Ich versuchte Bewegung in die Sache zu bringen«, obwohl er doch eigentlich ein passiver Beobachter einer Situation gewesen ist, in der keiner helfen kann. Er will angeblich Bewegung in die Sache bringen, ohne aber aus dem Wagen auszusteigen, der ihn schützt. Die Tigerabteilung umfasst gut zwei Quadratmeilen, und es ist ein ganz anderer Gesichtspunkt, wenn man sich vorstellt, wie groß die ist. Dann heißt es: »Ein anderer Pfleger kam und brachte die Tiger durch Schreckschüsse zur Räson«. Aber seit wann haben Tiger eine Räson? Und so steht immer jedes Wort leicht schräg zu dem zu bezeichnenden. Das ist das, was mich daran interessiert. Ich könnte jetzt auch wie Arno Schmidt oder Reinhard Jirgl selbst eigene Wörter bilden, zwar mit einer ähnlichen Wirkung, aber ich verlöre dadurch meine Bewegungsfreiheit. Die Begriffe würden anhalten und die Unterscheidungen, groteske Situationen, um die es mir geht, würden anhalten, wenn ich die Sprache selbst grotesk mache. Kunst würde demnach den grotesken Vorgang und das Klappern der Begriffe, denen mein eigentliches Interesse gehört, verdecken. Aber der Text an sich ist überhaupt nicht grotesk. Auch der Zusammenhang in Text und Bild ist jeweils ein ganz anderer, denn das Paar nähert sich einander nicht an, wie der Tierpfleger sich dem Tiger. Auch das Bild ist nicht grotesk, es ist die Auflösung, denn ich höre jetzt auf, grotesk zu sein. Es ist ein liebevolles, nicht aktuelles Bild, das Sie in keiner Tagesschau bringen können. Es ist ein entspanntes Bild, und es variiert diesen aus dem Text stammenden Satz: »In einem Fall fehlte der aktuelle Bezug, im anderen Fall das Bild.« Insofern ist es eigentlich eine Parallelisierung und keine Montage. Wir könnten jetzt lauter solche Geschichten schreiben, denen entweder das Bild fehlt, oder Bilder herstellen, denen der aktuelle Bezug fehlt. Denn der Wert eines solchen Bildes liegt eben darin, dass es keinen aktuellen Wert hat. Und was mir jetzt an diesem Bild besonders gefällt, ist vor allem die Tatsache, dass es sich um eine Momentaufnahme handelt. Achten Sie nur auf die Bewegung in diesem einen Moment, wo die Münder ganz liebevoll aufeinander zustreben, ohne sich zu verdecken, und das Begehren zum Ausdruck bringt. Dabei wird suggeriert, was gleichzeitig im Unterleib der beiden vorgeht und mit dem Bild der Tigervulva aus dem vorangehenden Text einhergeht. Die Beziehungen, die mich in meinen Geschichten interessieren, sind ge-
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rade diese kleinen Gegensätze, diese Witzunterscheidungen, die ganze Serien bilden. Wenn mich das nicht so interessieren würde, dann würde ich von meinem Temperament her versuchen so zu schreiben wie Joyce, würde dann aber das, was ich ausdrücken will, verdecken, das heißt die Worte selber würden ihre groteske Beziehung zueinander aufnehmen und ausdrücken. Das Groteske an einer Sache liegt im Grunde darin, dass sie immer das falsche sagt, dass es immer das falsche Bild ist. Ich würde dann also die Worte gegeneinander führen, die Worte befreien sich, und es findet eine Rebellion der Worte statt. Dafür könnte ich aber Zusammenhang nicht mehr herstellen, und das wäre mir ein zu teurer Preis.
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Kommentar und Common sense als narrative Praxis. Zur Logik des Elementaren bei Alexander Kluge Erzählung ist was jeder über irgend etwas das auf irgendeine Weise geschehen kann geschehen ist geschehen wird auf irgendeine Weise zu sagen hat. Gertrude Stein, Erzählen1
Als ich auf einer dreitägigen Konferenz, die Ende 2013 in Lüttich2 zur Kategorie der Rezeption in Bezug auf Kluges Werk organisiert wurde, erstmals auf die mir in dieser Hinsicht unvermeidlich erscheinende Frage des Gemeinsinns zu sprechen kam, wurde mein Beitrag allgemein mit einer gewissen Perplexität quittiert, da man Kluge berechtigterweise zunächst mit dem auf dem ersten Blick scheinbar gegensätzlichen Begriff des »Eigensinns« in Verbindung zu bringen pflegt. Common sense sei außerdem, wie mir hinterher ein illustrer Kluge-Experte entgegnete, kein Begriff der Kritischen Theorie, worin er sich rein prinzipiell kaum täuschen dürfte, sofern man den Terminus als solchen in der einschlägigen Literatur tatsächlich wenig bis gar nicht antrifft. Nur betreibt Kluge nicht vorrangig Theorie, wie er selbst häufig betont, der sich lediglich oder vornehmlich als »Poet der Frankfurter Schule« bezeichnet – womit er sich in seiner Eigenschaft als Erzähler, dessen dialektisches Programm sich auf die Formel »Chronik der Gefühle« zurückführen lässt, bereits notwendig ausnimmt, indem er sich ausdrücklich zum Gemeinsinn bekennt, schon »weil [er] als Mensch grundsätzlich ein großes Interesse am Dialog hege«3. Dabei schließt er keineswegs die Augen vor dessen Gefahrenpotential, ganz im Gegenteil, da nicht zuletzt genau dieser Aspekt, der als Vektor menschlicher Erfahrung fungiert, ein wesentliches Interesse seines Werkes darstellt. Weiterhin heißt es, Sensus communis sei auch kein besonders gängiger Begriff der deutschen Philosophie, im Gegensatz zu »Eigensinn«, der als solcher tat1 Gertrude Stein, Erzählen. Vier Vorträge, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1971, S. 59. 2 Nach der Konferenz wurde durch die Veranstalter Gr8gory Cormann, Jeremy Hamers und C8line Letawe der lesenswerte Sammelband Lecteurs / Spectateurs d’Alexander Kluge (Cahiers d’8tudes germaniques, Nr. 69, Presses Aix-Marseille universit8, 2015) herausgegeben. 3 Siehe das Gespräch über Unheimlichkeit mit dem Titel »Anwalt der dreizehnten Fee« in diesem Band.
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sächlich kaum in andere Sprachen zu übersetzen ist. Ausnahmen wie Hannah Arendt oder Jürgen Habermas, immerhin ein Nachfolger der Kritischen Theorie, würden diese Regel also gewissermaßen bestätigen. Ob das Werk Alexander Kluges an diesen teilweise doch eher systematischen Theorien wirklich zu messen sei, bleibe auch dahingestellt. Vor allem jedoch Kants Auffassung, die dem Begriff eine Funktion in der ästhetischen Beurteilung zuschreibt, steht quer zu Kluges Grundansatz. Um hierzu aus der Dissertation von Gundula Felten zu zitieren: Der Auffassung des sensus communis als Gefühl, das instinktiv spürt, was richtigerweise als schön zu bezeichnen ist, widerspricht Kants Definition des sensus communis als Idee, die auch mit der Deutung, den sensus communis durch das harmonische Spiel von Einbildungskraft und Verstand als wirklich gegeben interpretiert, im Widerspruch steht.4
Nicht allein dass Kluge gegen Kant einen »kategorischen Imperativ des Gefühls« fordert, und im Grunde, wenn man so will, für »emotionale Vernunft« eintritt. Auch seine Vorstellung von künstlerischer Produktion hat weder mit kantianischer, noch mit irgendeiner in sich geschlossenen Ästhetik zu tun. Wenn überhaupt entspräche sein kommentierender Gestus sowie konversierender Duktus einer Geisteshaltung, die nach Marc Fumaroli für die französische Tradition charakteristisch sei, welche sich durch die frühe Entwicklung der Prosa und der ihr beigemessenen Rolle als ideologischer Kitt zwischen Staat und Gesellschaft, sprich: der Nation, auszeichnet. Demzufolge wird, gemäß der Zusammenfassung von Thierry Briault, »der französische Geist schlicht und ergreifend mit Kants Idee des Erhabenen in eins gesetzt, und zwar just insofern dieser französische Geist dem sensus communis gleichkommt.«5 Eine weitere Tagung, die 2012 im mittelfranzösischen Clermont-Ferrand zum Thema »Alexander Kluge und Frankreich« stattfand, hat gezeigt, wie stark Kluges Werk diesem Modell und dessen Vertretern verpflichtet ist, speziell solchen die genau diesen Geist, den Fumaroli beschwört, geradezu jeweils auf ihre Weise verkörpern. Man nenne hier Rabelais, natürlich Montaigne, später Madame de La Fayette, außerdem Diderot und die Redakteure der Encyclop8die, sowie Honor8 de Balzac, nicht zu vergessen Michelet. So bunt zusammengewürfelt diese Namen auch anmuten, möge jener Deutungsvorschlag uns zumindest bewahren vor einer allzu akademischen Lesart, die er entsprechend relativieren, wie er 4 Gundula Felten, Die Funktion des sensus communis in Kants Theorie des ästhetischen Urteils, München, 2004, S. 12. 5 Thierry Briault, Les philosophes du sens commun. Pragmatique et d8construction, Paris, L’Harmattan, 2004, S. 89: »C’est / pr8senter le bel essai de Marc Fumaroli La diplomatie de l’esprit que nous nous emploierons avant toute chose […] : en clair et pour le dire trHs vite, l’esprit franÅais y est purement et simplement assimil8 au sublime kantien et ceci dans la mesure exacte oF cet esprit franÅais est le sens commun.«
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gleichzeitig die in sich tief paradoxe Konzeption des Werkes enthüllen würde. Die Frage, wie derart verschiedene Referenzen ohne nationalliterarischen Überbau zu vereinen, geschweige denn sonst auf einen Nenner zu bringen wären, lässt erahnen, welche Voraussetzung dagegen Kluges Logik des Elementaren zugleich für die Konsistenz und radikale Konsequenz seines Werkes erfüllt.
Kluges (elementare) Logik der Dichtung Einen derartigen, übrigens häufig strapazierten Begriff wie den von »Gemeinsinn« zu beanspruchen, um ihn auf einen Künstler anzuwenden, der ihn selbst nur selten, ja eigentlich nie gebraucht, kann zweifelsohne als ein nicht weniger paradoxer Gedanke erscheinen. Den allgemeinen Vorwurf, den man hin und wieder gegen Kluge erhebt, besteht tatsächlich darin, ihm als Schriftsteller, Filmemacher und Fernsehproduzenten seinen Intellektualismus anzulasten. Letzterer zeigt sich seiner starken Unabhängigkeit als Autor durchaus bewusst, wenn er darauf ganz ohne Selbstgefälligkeit etwa antwortet, dass er »keine Quotenhure« sei. Gleichzeitig gibt es kein besseres Beispiel als die Fernseharbeit von Alexander Kluge, um zu beweisen, dass der Behauptung des Intellekts darin nicht unbedingt das letzte Wort gehört. Mit Lilo Wanders zum Beispiel, gastiert in Kluges Sendung Ten to eleven, eine Vertreterin der Vulgärkultur, ja des TrashFernsehens. Und so finden sich neben Kommentaren zum Hohelied Salomo aus dem Alten Testament eine Reihe trivialer Einlassungen über die Wahl von Kosenamen, ob sich das Wort »Fotze« mit »V« oder mit »F« schreibe, und welche (poetischen) Bezeichnungen es sonst für die weiblichen Geschlechtsorgane gäbe. Enthemmtes Thekengespräch und kultiviertes Betrachten mischen sich hier auf einer Ebene, unterstrichen durch die seltene (und während des Gesprächs konstante) Präsenz Kluges im Bild. Christoph Ernst hat die näheren Bedingungen beschrieben, welche die Rolle des Intellektuellen in diesen weitgehend auf »spontanen« Dialog gründenden Sendungen begleiten, in denen sich der Interviewer niemals vorlaut, jedoch immer als neugieriger, wissbegieriger Geist präsentiert; dieser Anspruch gilt ebenso für seinen Gesprächspartner, dessen Sachkompetenz ihm zwar zugestanden wird, jedoch ohne dass der Eindruck ihrer Endgültigkeit entstünde, um schließlich einem anderen Zweck zu dienen: Die audiovisuelle Repräsentation von Personen- und Sachbezug im Interview wird im Rahmen einer medienreflexiven Konfiguration genutzt, um die Rückbindung von Wissen an den Erfahrungshorizont und die Ausdrucksfähigkeit des Subjekts (quasi die Äquivalenz von »Sprachspiel« und »Lebensform«) abzubilden.6 6 Christoph Ernst, »Alexander Kluge und die offene Frage des Intellektuellen im Medienzeit-
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Wendet man diese Feststellung auf das literarische Werk Kluges an, ergibt dies beispielsweise: »Kluge begreift seine literarische Arbeit als Lesehilfe, die erzählend, kommentierend den vielfach übereinandergeschriebenen Text der Realität in eine für die sinnliche Wahrnehmung zugängliche Form zurückübersetzen soll.«7 Demnach dürfte es kein Zufall sein, dass an dieser Suche einer Übereinstimmung zwischen Text und Erfahrung sich in der Kluge-Kritik die Geister scheiden, gleich ob diese aus der Zeit nach oder noch vor den DCTP-Produktionen für das neugegründete Privatfernsehen stammen. So wird Helmut Heissenbüttels Behauptung, wonach »der Text die Wahrheit [sei]«, zwanzig Jahre später durch Jan Philipp Reemtsma revidiert, als der in seiner Laudatio auf Alexander Kluge zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises den Wert und die Folgen ebendieser Einschätzung hinterfragt, nämlich in Hinsicht auf Bestimmung des formalen Status seiner »Geschichten«, den er daraufhin bis aufs weitere mit der Benennung »Gattung Kluge«8 zu kennzeichnen vorschlägt. Inzwischen konnten wir in Kluges Nachwort zu Thomas Combrinks Dissertationsschrift über das Leben und Werk von Helmut Heißenbüttel nachlesen, wie der Autor implizit eher zu Reemtsmas Auffassung tendiert, indem er seine Haltung gegenüber Heissenbüttels Ansicht folgendermaßen eingrenzt: Ich teile mit ihm die Haltung, dass wir in einem GEMEINWESEN AUS SPRACHE leben. Aus diesem gemeinsamen sprachlichen Bestand bedienen sich die Schriftsteller : Die Sprache gehört niemandem, aber alle haben ein Recht auf sie. Für Heißenbüttels Literatur ist diese Einsicht zentral. Ich kann ihm nur zustimmen, wenn er in dem Text »Voraussetzungen« schreibt: Literatur kann ihrem sprachlichen Stoff nach nicht unterschieden werden von dem Gerede, das jedermann tagaus, tagein mitmacht und worin das allgemeine Verständigungsmittel der Menschen besteht. Man nannte es Umgangssprache. Und das heißt einmal etwas, womit man umgeht, und einmal etwas, das für sich umgeht. Wenn man will, ist die Umgangssprache die niedrigste Stufe der Sprache, niedrig insofern, als sie weitgehend von praktischen Bedürfnissen, vom Zwang, sich möglichst rasch und reibungslos zu verständigen, bestimmt ist. Zum Unterschied davon wäre die Literatur gekennzeichnet durch auswählende und formierende Prinzipien.9 alter«, in: Gunter E. Grimm / Christian Schärf (Hgg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld, Aisthesis Verlag, 2008, S. 209. 7 Christian Schulte, »Wahrnehmungen am Nullpunkt der Sprache«, online verfügbar unter : https://www.kluge-alexander.de/zur-person/texte-ueber/details/artikel/wahrnehmungen-amnullpunkt-der-sprache.html (zuletzt eingesehen am 21. 11. 2018). 8 Jan-Philipp Reemtsma, Laudatio zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Alexander Kluge (2003), online verfügbar unter : https://www.kluge-alexander.de/zur-person/laudatio/ 2003-buechnerpreis.html (zuletzt eingesehen am 21. 11. 2018). 9 Thomas Combrink, Sammler und Erfinder. Zu Leben und Werk Helmut Heißenbüttels, Göttingen, Wallstein Verlag, 2011, S. 244.
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Im Wesentlichen und zusammenfassend kommen wir hiermit zu einer Problematik, die 1957 Käte Hamburger in der Einleitung zu ihrem berühmten Buch Die Logik der Dichtung aufgezeigt hatte, worin sie die Frage der Mimesis neu zu verorten versucht, um die strukturalen Merkmale herauszuarbeiten, welche literarische Darstellungen von jenen Aussagen zu unterscheiden erlauben, die es konstitutiv nicht wären. Zu diesem Zweck, greift sie insbesondere auf Hegels recht deutliche Trennung zwischen dem logischen Aspekt und der ästhetischen Dimension einer Darstellung zurück, wobei die Auflösungsgefahr, welche der Dichtung drohe, daher rühre, dass jegliche Darstellung, die außerhalb ihrer stattfindet, als solche der schlichten und einfachen Funktionsweise des Bewusstseins gleichkommt. So lesen wir bei Hamburger : In dieser Feststellung tritt nun der Wirklichkeitsbegriff hervor, der allein das Kriterium für die Form der Dichtung enthält: die Wirklichkeit, die im Modus des Gedachtseins existiert, d. h. als Gegenstand der Vorstellung und jeglicher Art von Beschreibung. »Das Denken«, sagt Hegel, »verflüchtigt die Form der Realität zur Form des reinen Begriffs, und wenn es auch die wirklichen Dinge in ihrer wesentlichen Besonderheit und ihrem wirklichen Dasein fasst und erkennt, so erhebt es dennoch auch dies Besondere in das allgemeine Element, in welchem allein das Denken bei sich selber ist.«10
Dennoch gibt das Argument wonach die »Form der Realität zur Form des reinen Begriffs« sich verflüchtigt, die also jenes besondere Element in dieses allgemeine Element erhöht, »in welchem allein das Denken bei sich selber ist«, keinen Aufschluss über die Differenzierung zwischen poetischer Sprache, die dem subjektiven Ausdruck vorbehalten ist, und der objektiven Prosa der Wissenschaftssprache. Welche Schlüsse lassen vor allem diese theoretischen Ansätze auf Kluges erzählerische Praxis zu, die beide Gebiete wild durcheinanderwirft, gerade auf die enge Verquickung von subjektiv und objektiv setzt, und den sogenannten »Modus des Gedachtseins« weitgehend auf das »Dazwischen« verlagert, sprich: auf die Bewusstseinsarbeit des Zuschauers oder Lesers, dem es überlassen bleibt, die Zusammenhänge nicht lediglich anhand der eigenen Erfahrung durch Identifikation nachzuvollziehen, sondern diese auch selbst herzustellen? Überhaupt erschließt sich die literarische Qualität eines Werkes, dessen Autor gern mit dem Argument kokettiert, er sei »anti-belletristisch« und »glaube nicht an Hochkunst« sondern »an eine relativ triviale Art des Erzählens«11, vermutlich aus diesem einzigen Interesse, also eines, dem er allein durch Elementarisierung
10 Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart, Ernst Klett Verlag, 1957, S. 11. 11 Zitiert aus einem Gespräch von Joachim Güntner mit Alexander Kluge, das unter dem Titel »Korallenriff im nährstoffarmen Meer« in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. 01. 2007 erschien. Das Gespräch ist ebenfalls online verfügbar unter : https://www.nzz.ch/articleEUMH 2-1.103971 (zuletzt eingesehen am 21. 11. 2018).
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gerecht zu werden vermag. Besonders deutlich wird dies an Erzählminiaturen wie folgende: 0,0001 % der Lebenszeit Die Schultern gekrümmt, hockt der Wirt des Lokals Brusqueta d’Agneau über seiner Zeitung und dem Milchkaffee. Seine Frau, die Wirtin, macht ihn aufmerksam auf die Auseinandersetzung zwischen drei Hunden im Hauseingang gegenüber. Jetzt sind die Hunde verschwunden. Der Wirt blickt (in der Trägheit des Morgens) noch immer zur Tür, durch die sie ins Haus verschwanden (bis zuletzt im Streit). Er hat seinen Kopf mit gleichgültig-neugierigem Augenausdruck insgesamt 31 Sekunden in der seitlichen Richtung gehalten. Er rückt sein Gesichtsfeld nunmehr zur Zeitung hin. Eines langen Vormittags Reise bis zur Ankunft der Mittagsgäste. Der Wirt hat weniger als 0,0001 Prozent seiner Lebenszeit für den Seitenblick auf die Hunde verbraucht.12
Die literarische Relevanz der hier skizzierten Situation ergibt sich weder aus deren Handlung noch aus dem (minimalen) stilistischen Aufwand, mit der sie geschildert wird, sondern vielmehr aus den Zeitverhältnissen, die aus dieser »Chronik eines Augenblicks« hervorgehen, sowie aus der Spannung zwischen dem Verlauf dieser »31 Sekunden« und eines »langen Vormittags Reise bis zur Ankunft der Mittagsgäste« und der gesamten Lebensdauer eines Menschen einerseits, und zwischen der scheinbaren Bedeutungslosigkeit einer solchen Alltagsszene und dem Lauf der Weltgeschichte (hier symbolisiert durch die Zeitung) andererseits. Nicht zu vergessen die Relation (oder Kontrast) dieser nahezu intimen Momentaufnahme zu den weiteren sie unmittelbar umgebenden Erzähleinheiten oder, warum nicht, zum zentralen Kapitel der »Schlachtbeschreibung«.
Die dichterische Logik der Realität Dieser buchstäblich »aus dem Leben gegriffene« Ablauf banalster Ereignisse, die so naturalistisch wiedergegeben scheinen, ergeben ein Bild, das der Forderung eines objektiv-subjektiven Gleichgewichts vollkommen entspricht. Nicht zuletzt die Hypallage des Ausdrucks »in der Trägheit des Morgens« zeigt diese Art der Verschränkung. Der Seitenblick des Wirtes wird dagegen aus rein beobachtender, nahezu entpersönlichender Distanz beschrieben, mit dem abschließenden Hinweis auf die zeitliche Messbarkeit, welche als prozentual bezifferte (wie schon im Titel angekündigt) wiederum nur im Verhältnis zur individuellen Lebenszeit eine relative Bedeutung erlangt. Sämtliche Einzelheiten erzielen somit ihre Wirkung nicht allein, sondern durch die Konstellation in der sie sich hierarchielos darstellen. Der offene Kommentar, den Kluge als die »Grundform« des 12 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle – Bd. I, Frankfurt. a. M., Suhrkamp, 2000, S. 20.
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Erzählens schlechthin betrachtet, fügt diesem Wirklichkeitsfragment nichts hinzu, sondern passt sich gänzlich dem ausgewählten Gegenstand an. Auch die reflexive Abwechslung der Zeitperspektiven folgt schlussendlich dem Anspruch einer möglichst authentischen (wenn auch nicht erschöpfenden) Übersetzung der realen Verhältnisse in Sprache, jedenfalls ohne dass gleichzeitig eine kategorische Wertung ästhetischer oder ethischer Natur vorgenommen, oder irgendeine Deutung vorweggenommen oder gar vorgegeben würde. Was kann demnach über die Klugesche Prosa gesagt werden, welche ihre Sache ohne die gewöhnlichen Hierarchien und Unterscheidungen begreift, und somit eigentlich kaum formale Einordnungen zulässt, als bestenfalls solche von grundprekärer Art, entsprechend also einer Logik, die sich als »elementar« versteht? Und inwiefern kann diese »elementare Logik« als eine in Kluges Werk durchgreifende »Logik des Elementaren« gelten? Diese Fragen möchte ich im Folgenden diskutieren, indem ich meine Analyse auf Kluges allerseits bekannte Schlachtbeschreibung stützen werde, ein Werk das sozusagen Wissen und Gewissen gleichermaßen anspricht, indem es eine geschichtliche Realität unter dem Aspekt seiner Entfremdung thematisiert, und also wie kein anderes Gelegenheit bietet, auf gewisse Einzelheiten unserer Fragestellung zu antworten. Die weitgehend entlehnte Sprache, aus der die Schlachtbeschreibung besteht, war bereits Gegenstand eingehender Erörterungen, die wir an dieser Stelle nicht vollständig wiederholen möchten. Bei dem gespiegelten Kontrast zwischen der schwülstig-hochtrabenden Eloquenz der Kriegsberichterstattung, und dem durch militärische Strenge geprägten Duktus der Kriegsakteure, bleibt es unmöglich in dieser lediglich den Ausdruck einer Art schneidigen Sachlichkeit zu sehen, eines zweckmäßig trockenen bis zurückhaltenden Sprachgebrauchs in einem Kontext massiver diskursiver Übersättigung und ideologischer Belastung ästhetischer und vor allem ethischer Determinationen des Realen – und zwar in solchem Ausmaß, dass durch begriffliche Abstraktion der Realität die Motivationen letzterer mittelbar erscheinen und weit entfernt wirken, der Blick auf sie getrübt und damit Desinteresse hervorruft. Man erinnere nur an Kluges Betrachtungen zu Julius Cäsars Ausspruch »ad unum omnes«, um dessen schwindende Wirkung zu bemessen, sofern diese der konkreten Situation auf dem Feld spottet, welche die offizielle Sprachregelung hingegen verschleiern oder verbrämen will. Die zu Beginn des letzten Kapitels der Chronik der Gefühle aufgeführte Parabel Der spanische Posten fasst in weniger als drei Zeilen eine vergleichbare Sachlage zusammen:
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Der spanische Posten »In einer Kaserne Spaniens lag ein Haufen Stroh. Ein Posten wurde davorgestellt. Das Stroh vermoderte, sank zu einem Häuflein zusammen. Der Posten, nicht abberufen, stand noch monatelang davor.«13
Kluge, der die Metapher für eine Grundform hält, veranschaulicht hier dieses Prinzip vortrefflich. Die Reduzierung des Strohhaufens symbolisiert die nahezu kafkaeske Sinnlosigkeit seiner Überwachung, die zurückzuführen ist auf den leeren Diskurs einer unpersönlichen, von realen Vorgängen losgelösten Hierarchie. Der Prozess des Vermoderns lässt deren Befehl nach und nach absurder erscheinen, als er Anfangs vielleicht war. Rainer Stollmann befragte Kluge zu der abstrakten Wendung dieses kurzen Apologs, soweit man in diesem Text tatsächlich eine Art Lehrdichtung zu erkennen vermag: Der Autor verweist auf jene Diskursordnung, deren Erfahrung, die wir von ihr haben, uns bestätigt wird, in der Funktionsweise von »Apparate[n], Institutionen, Banken, Postbehörden, aber auch Soldaten. Ein Befehl wird gegeben, und dieser Befehl wird vergessen.«14 So zieht Kluge eine Parallele zu dem an die Sechste Armee der Wehrmacht ergangenen Befehl, nicht den Rückzug anzutreten, sondern Stalingrad um jeden Preis zu halten: Der Befehl wurde auch vergessen – wenn Sie es jetzt im übertragenen Sinne nehmen – im Fall von Roland, der die Nachhut führt, oder in »Stalingrad«, diese Armee wird eigentlich vergessen, sie verschwindet, sie verschwindet aus dem Alltagsbewusstsein auch der Befehlenden, sie wird zum liturgischen Ritual: »Diese Armee ist zum Untergang bestimmt, und ihr heroischer Opfertod wird dem Endsieg näherbringen.« […] In Wirklichkeit ist diese Armee, bevor sie unterging im Winter, gelöscht.15
Die fatale Resignation der Front einerseits resultiert aus ihrer Derealisation in den oberen Führungsstäben der Wehrmacht andererseits, welche in ihrer negierenden Haltung vorab deren bloße Idee schon durch den Diskurs fernhält, mit dem sie zu kommunizieren pflegt, nach dem Muster ihrer üblichen Kategorien, auch ihrer spezifischen Sprachpraxis; »Kürze!«16 gehört zu den bevorzugten Sprachregeln des Feldmarschalls von Brauchitsch, mit denen sich aber der Reichskanzler persönlich so gar nicht anfreunden will, während sein Generalstab ihn nach Belieben quasseln lässt und gleichzeitig seine tiefste Ablehnung ihres eigenen für abstrakt empfundenen Jargons ertragen muss: »Es hat keinen Inhalt, sagte er von einer Denkschrift v. Kluges. Verstehe ich nicht, sagte er, als ihm ein 13 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle – Bd. II, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2000, S. 927. 14 Zitiert aus einem Gespräch das Rainer Stollmann und Wolfgang Müller am 2. Juni 1999 mit Alexander Kluge führten. Das Gespräch ist online verfügbar unter : http://www2.dickinson. edu/glossen/heft9/klugeinterview.html (zuletzt eingesehen am 21. 11. 2018). 15 Ebd. 16 Chronik der Gefühle – Bd. I, S. 681.
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Schriftsatz v. Mansteins vorgelegt wurde.«17 Sowie dem einen der militärische Rede- und Schreibstil nicht hinreichend vertraut ist, geht den anderen der Sinn für Plastizität ab, was ihnen gemeinsam erschwert, nicht ohne konkrete Folgen, sich über die Realität an der Krim-Front zu verständigen. Wenn im Ergebnis an den nach allen fachlichen Regeln der Kunst redigierten Dokumenten eines hervorzuheben wäre, dann nenne man ebensolche sprachlichen Attitüden, die Informationen derart filtern, dass sie an deren Stelle treten. Deren perspektivische Vorführung mittels Montage, wiederum unterstützt durch historische Vertiefung dieser Sprachtraditionen, enthüllt was Stefanie Carp als »die linguistische Mechanik des »Unglücks« von Stalingrad»18 bezeichnete, einschließlich der kriegerischen Predigten von Geistlichen, wobei die fünfundsiebzig Seiten des sogenannten »Stalingrad-Reports«19, welche den »Die Unglückstage« getauften Abschnitt ausmachen, einen halbwegs zuverlässigen chronologischen Überblick der Ereignisse vermitteln mögen, das heißt ohne den Inhalt und die Form der Nachricht zu verändern. Das ist genau, was Carp in radikaleren Maßen in Kluges Buch zu erkennen scheint, wenn sie erklärt, dass – mit Ausnahme meist nachträglich zu ihrer Arbeit hinzugefügter klar fiktionaler Einschübe – »der Schwerpunkt auf die Formen, in denen das Unglück sich vollzog, gelegt [wird].«20 Der berichtende Stil, den Kluge inzwischen häufiger als Kommentar bezeichnet, ist hier vorherrschend bis hin zu Textstellen, die nicht mehr auf dokumentarischen Quellen, sondern auf Erfundenem beruhen, nicht selten als Dokument verkleidet, wo insgesamt »die «Schlachtbeschreibung« ersichtlich sprachlich und militärisch [operiert] wie das, was sie beschreibt.«21 Doch eigentlich bleibt Kluge hiermit dem bereits in seinen Lebensläufen eingeweihten Ausdruck treu, dessen Geist vormals ein Kritiker nuancenreich zu schildern versuchte, indem er schrieb: »Kluge schildert nicht, er präsentiert Fakten; er stellt nicht dar, er teilt mit; er erzählt kaum, er informiert; er fabuliert nicht, er referiert. Er will nicht verkünden, er will zeigen.«22 Solch schnörkellose Karg- und Knappheit der Prosa ist keineswegs ein Merkmal nur seiner ersten beiden Werke, sondern bleibt weiterhin bei der Gestaltung seiner späteren Erzählbände bestimmend, in denen das Prinzip der Reduzierung und der Ver17 18 19 20 21
Ebd. Stefanie Carp, Kriegsgeschichten. Zum Werk Alexander Kluges, München, Fink, 1987, S. 114. Ebd., S. 115. Ebd. Vgl. Artikel von Manfred Schneider für die Zeitschrift Bücher des Monats, wo dieser eine poetologische Lektüre der Untersuchungen zur militärischen Sprache in der Schlachtbeschreibung skizziert: »Es gibt in Kluges Erzählungen manche poetologische Bemerkung. Die beste und handfesteste aber findet man im Kapitel der »Schlachtbeschreibung«, wo die »Sprache der höheren Führung« untersucht wird.« https://www.kluge-alexander.de/literari scher-autor/rezensionen/detailansicht/artikel/die-wiederkehr-des-immeralten.html. 22 Marcel Reich-Ranicki, Deutsche Literatur in West und Ost, München, 1963, S. 285.
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dichtung sich, neben der konstellativen Ordnung, weiterhin als einziges dauerhaft zu bewähren scheint, gewissermaßen als elementare Bedingung künstlerischer Codierung, die gemäß Kluge stets mit Konzentrierung einhergeht (»Verdichtung«). Und dies gilt sowohl für Stil und Aspekte seiner Prosa, als auch für deren Gattungen. Entsprechend lautet jedenfalls die Antwort des Schriftstellers in einem Gespräch aus der Wochenzeitung Die Zeit auf die Frage: »Zieht es Sie nie zur großen Erzählung?«, nämlich: »Die Geschichten, die mich am meisten angehen, sind die kürzesten.«23 An Kluges Kommentar des Rolandliedes, der als zentraler poetologischer Bezugspunkt des Stalingrad-Kapitels Auerbachs Analyse zitiert und paraphrasiert und durch eine Vielfalt exemplarischer Kurzerzählungen oder Abbildungen performativ belegt und variiert, lässt sich ablesen, welche Konsequenz Kluge aus dem Niedergang narrativer Großformen, und zwar sowohl des traditionellen Heldenepos, dessen überschwängliche Sprache nur noch für Kriegspropaganda taugt, als auch des »bürgerlichen Epos«, für das Hegel den Roman hielt. Nun sollte man auch die zeitweise Bezeichnung der Schlachtbeschreibung als »Roman« (so eine Fassung aus dem Jahr 1978) nicht missdeuten, und diese dennoch ernstnehmen, wenngleich das sich zunächst weitgehend dokumentarisch, und im Laufe der Jahrzehnte immer fiktionaler sich darstellende Text- und Bildkonvolut, kaum die seit Balzac entwickelten Merkmale aufweist. Nun geht Kluge noch weiter, wenn er zum Beispiel äußert: »Im Grunde sind alle meine Erzählungen verkappte Romane.«24 So definiert sich in Kluges Sprache der »Roman« als ein vieldeutiger, ja paradoxer Begriff für eine Form, welche dem Inventarprojekt insofern entspricht, als sie der Realität beikommt, indem sie diese einsammelt jedoch gleichzeitig auf das reduziert, was sie eigentlich auch ist, nämlich ein Roman ohne die Umrisse eines Romans. Auf diese Weise geraten auch weitere abgedroschene Gefäßkategorien, etwa die »Chronik«, zur groben metaphorischen wie ebenso distanzierten Einordnung des Realen, Kategorien welche hiermit neuen Sinn ergeben, nachdem sie unter metonymischer Präzision und funktionaler Plastizität auf die schlichteste Substanz von Sachverhalten zurückgeführt worden sind. Bei solcher Relativierung, kann die »Chronik« mühelos in den »Roman« übergehen, sofern die Realität sie schreibt25, wobei der 23 Auszug aus dem mit dem Autor von Ulrich Greiner und Iris Radisch für die Zeitung Die Zeit geführten Gespräch anlässlich der Veröffentlichung der bedeutenden Geschichtensammlung Die Lücke, die der Teufel lässt. Das Gespräch ist online verfügbar unter : https://www.zeit.de/ 2003/44/L-Kluge (zuletzt eingesehen am 21. 11. 2018). 24 Kluge bekräftigt dies in einem Interview 2001 mit Jochen Rack für die erste jährliche Ausgabe der Zeitschrift Neue Rundschau: http://www.kluge-alexander.de/zur-person/interviews-mit/ details/artikel/erzaehlen-ist-die-darstellung-von-differenzen.html, eingesehen am 29. 11. 2010 im Pressearchiv auf der Internetseite des Autors. 25 Vgl. das von Alexander Kluge mit Vincent Pauval für die französische Zeitschrift Fario geführte Gespräch: »Die Realität selbst ist der Erzähler«. Die deutsche Fassung ist online auf
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Bruch mit dem Heldenepos und die Abkehr von romanhaften Modalitäten durch Besinnung aufs »Beschreiben« im Sinne von »be-schreiben«, sprich darauf ein Ereignis »mit Schrift versehen«, schon im Titel deutlich wird. Mit anderen Worten: Erzählen bedeutet zunächst Er-zählen, und dies wiederum aus einem bestimmten Interesse, dass Information zur Nachricht werde, wobei das beobachtete Material allein durch Vernetzung und Reibung, nicht durch Rhetorik und Eloquenz an Bedeutung gewinnt.
Was eine »gute Nachricht« ist Es ist kein Zufall, wenn sich Kluge zum Vergleich mit den Zeugnissen einseitigverherrlichender Kriegsrhetorik, wie etwa die »Pressemäßige Behandlung«26 oder den sogenannten »Rechenschaftsbericht«27, auf die Roland-Metapher bezieht, um für sein Unterfangen durch Auerbachs historische, von Homers Epen und von der »Genesis« aus dem Alten Testament ausgehende Abhandlung über die Mimesis eine Poetik zu begründen, die in der Lücke, dem formalen Bruch eine Möglichkeit erkennt, die Inhalte mehrstimmig zu gestalten, vielseitig zu beleuchten und zu aktualisieren. Wo zunächst die von offizieller Stelle her festgelegten Sprachregelungen der schrecklichen Realität kaum Rechnung tragen, sowie auch das Rolandslied auf den ersten (rein historischen) Blick zunächst die Umdichtung einer verheerenden Niederlage Karls des Großen in einen glorreichen Feldzug vornimmt, wird im anschließenden Kommentar gezeigt, inwiefern dort, wo der Mythos »nicht berichtet« er »auf Erfahrungen [eingeht], die von ganz anderen als den Baronen gemacht wurden«, und der »weitmaschige« Ausdruck des »hochsprachlichen Textes«28 also »Assoziationen vergangener Geschichte [zulässt]«29, wie jene Michelets, sieben bis acht Jahrhunderte später, in einer kurzen Anspielung aus dessen Essay Die Hexe.30 Oder wie jene Kluges nach den 1970er Jahren, als er in einem Zusatz zu der vielfach überarbeiten Schlachtbeschreibung, unter dem Titel »Stalingrad als Nachricht«31 eine Parallele zwischen den Entwicklungen in Stalingrad während der »Unglückstage« des Winters 1942–43, und gewissen Situationen (z. B. des entführten
26 27 28 29 30 31
der Homepage des Autors nachzulesen: https://www.kluge-alexander.de/zur-person/gespra eche-mit/details/artikel/die-wirklichkeit-selbst-ist-der-erzaehler.html (zuletzt eingesehen am 21. 11. 2018). Chronik der Gefühle – Bd. I, S. 765–776. Ebd., S. 777–791. Ebd., S. 726. Ebd., S. 727. Ebd., S. 725. Ebd., S. 738ff.
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und seinem Schicksal überlassenen Ex-Nazi und früheren SS-Offiziers sowie damaligen Vorsitzenden des Bundesverbandes der deutschen Industrie HannsMartin Schleyer) des deutschen Herbstes 1977 wagt. Insofern ist der Wert von Nachrichten niemals daran allein zu bemessen, ob mit ihnen die Tatsachen realitätsgetreu berichtet werden, sondern an ihrem pragmatischen Potential, menschliche Erfahrungen (die ebenso auf Irrtum beruhen können) widerzuspiegeln, besser noch: zu reflektieren, auf dass sie von Diskurshülsen und Glaubensphrasen befreit werden, bzw. tradierte Begriffe durch unmittelbare Erfahrung zu neuer Verständlichkeit gelangen. Die Bezeichnung der von Kluge angestrebten »vierten Gattung« als »Kommentar« verweist auf die zugleich funktionalste, unbestimmteste und somit vielgestaltigste Art, Gegebenheiten und Gedanken jenseits aller Gattungsgrenzen und Denkmuster sprachlich zu sammeln, zu ordnen, zu registrieren, zu perspektivieren, zu dynamisieren: Sie ist das zugleich rudimentäre und ideale Gefäß, anhand dessen der Schatzsucher seine Funde unter Bedingung höchster Unmittelbarkeit aufheben, prüfen und zur Geltung bringen kann, was auch abgeleitete, sehr vielschichtige Deutungen nicht ausschließt, ja solche geradezu impliziert, wenn nicht gar beschwört. Im Grunde haben wir es bei diesem archäologischen Vorgehen, dem der Autor mit aller Gründlichkeit und Großzügigkeit sich hingibt, mit einer Form religiösen Handelns zu tun, zumal es bei dem einfachen Bekenntnis zu Buch- und Schriftkultur (man denke insbesondere an Kluges Text über »Die wahre Geschichte der Arche Noah«), auch zu seinem »Glauben« an das Buch (obschon an kein bestimmtes), keineswegs bleibt. Dabei sei das Adjektivum »religiös« nicht kirchlich-dogmatisch als Bezug zum Göttlichen zu fassen, sondern radikal-etymologisch, als dem Wesen der »Religion« zugetan, und zwar im Sinne dessen ursprünglichen lateinischen Worlaut religio, der wiederum abgeleitet vom Verb religere nichts anderes als eine gewisse Verpflichtung zur Tradition bedeutet, die sich durch ihr Wieder-holen, Versammeln und neues Zusammenfassen äußert.32 So wie das Herunterbrechen abstrakter Begrifflichkeiten auf elementarste Sinnstrukturen voll und ganz Kluges protestantisch-humanistischem Credo entspricht, so kann auch der »guten Botschaft« seines großen – jedoch modernen – Buches kein evangelisches Motiv sowohl individueller Identifikation als auch kollektiver Entfremdung zugrunde liegen, sondern stellt es sich vielmehr als pluraler »Tatsachenroman« dar, der die »Heiligen Schriften«, vor allem aber das Alte Testament, durchaus als »Bruch« unter vielen anderen Grabungsorten, 32 Zur Erläuterung des Begriffs »Religion« als einer hauptsächlich von »religere« abgeleiteter, verweisen wir auf die überaus aufschlussreichen Ausführungen Pmile Benvenistes in dessen Buch: Le Vocabulaire des institutions europ8ennes – 2. Pourvoir, droit, religion, Paris, Pditions de Minuit, 1969, S. 271. Für diesen recht hilfreichen bibliographischen Hinweis möchten wir an dieser Stelle Herbert Holl sehr herzlich danken.
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sozusagen als »Berg-Werk« extrem suggestiv zu nutzen weiß. Daneben wird oftmals von Zeitungsmeldungen ausgegangen, wobei der Besonderheit einer Begebenheit selbst und deren Neuigkeitscharakter nur sekundär Relevanz zukommt, da nämlich das eigentliche Ereignis in den geschilderten Verhältnissen, in den sich ergebenden Relationen befindet, welche die herkömmliche Berichterstattung meistens auslässt oder verdunkelt. In der Geschichte »Ein Mann wie ein Geschoß«33 wird beispielsweise der Mord an dem Modeschöpfer Gianni Versace aus unerwarteter Perspektive betrachtet, nämlich mit dem empathischen Versuch ein Profil des Mörders zu skizzieren, ausgehend vom Inventar dessen Hinterlassenschaft an Bord seines »Hausbootes« (man notiere hier den diskreten und zweideutigen Gebrauch der Schiffsmetaphorik, die sich durch das gesamte Werk des Autors zieht). Die Erzählung setzt zunächst als eine schlichte Aufzählung von Gegenständen an, welche zusammen eine Art Ekphrasis (griechisch für »Beschreibung«, wie jene vom Schild des Achilles) des »kundigen Kapitalismuskämpfers« bilden. Seine Ausstattung durch verschiedenste Waren und Waffen, welche hier stellvertretend für einen Täter spricht, dessen kalte und paradoxe »Logik« schwer zu durchdringen bleibt, gerät somit zur Allegorie. Das hier kristallisierte Motiv der Verdinglichung wird im anschließenden Dialog als »Exemplar« diskutiert, bei deren Ausdeutung einmal auf transzendente (religiöse) Modelle, einmal auf naturwissenschaftliche (evolutionstheoretische) angespielt wird, wonach das aus dieser Begegnung hervorgegangene Erklärungskonstrukt für die Absicht des »Todesengels« als »Gottesboten« sich mit der abschließenden Replik performativ selbstaufhebt, auf Hinweis des Ermittlers, sein Gesprächspartner dürfe darüber nicht schreiben – was den trotz allem vorhandenen Text wiederum als kontrastierende Erörterung menschlicher Metamorphosen zum Moment der Artikulation letzterer über die einfache Zeitungschronik erhebt, während die einfließenden Diskurselemente, seien sie theologisch-übernatürlicher oder rational-wissenschaftlicher Tendenz, zumindest relativiert werden, um einen zeit- und ideengeschichtlich weitgespannten »kulturarcheologischen« Spekulationsraum zu eröffnen. So vertieft sich der Einzelfall in der Differenz als allgemeines Prinzip von Möglichkeit und Wandelbarkeit. Auf dieser Grundlage lassen sich Darstellungen vergleichbarer oder verwandter Prozesse der Verwandlung in weiteren Geschichten analysieren, zum Beispiel in der Nacherzählung (in vorgeblicher Anlehnung an ein mit demselben Titel versehenen Buch von Pietro Ridondi) eines so einfachen wie bedeutungsreichen Gedankenspiels Galileis, und zwar in direkter Folge auf einen Text dessen Überschrift bereits den soeben untersuchten »Ein Mann wie ein Geschoss« als
33 Chronik der Gefühle – Bd. I, S. 452ff.
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»Der Mensch als Geschoß«34 variiert und erweitert. In »Galilei, der Ketzer«35 werden ebenfalls in wenigen Zeilen durch Kommentar und Dialog religiöser und wissenschaftlicher Diskurs miteinander konfrontiert, wobei als erstes der Galilei-Mythos in Frage gestellt wird. Erneut wird hinter der allgemein bekannten Geschichte eine andere Wahrheit vermutet, die »nicht berichtet« wurde. Dieses Mal geht es jedoch bei der Frage der Transsubstantiation des Leibes und Blutes Christi um den »Gottesboten« schlechthin, und vor allem um die Stichhaltigkeit der »guten Nachricht« (sprich: des Evangeliums), dessen Grundsätze sich nur durch das ritualisierte Sakrament der Eucharistie aktualisieren können. Indem er gewissermaßen den Sachverhalt wortwörtlich begreift, und also den Vorgang der Transsubstantiation in seiner Buchstäblichkeit, d. h. ohne Rücksicht auf christliche Symbolik auffasst, führt er zu deren Wiederlegung ein erstaunlich naives Experiment durch, dessen Ausgang sich in jäher Evidenz und Eitelkeit erübrigt: Aus dem beliebig ausgewählten Brotlaib, den er anschneidet, rinnt kein Blut, wie es die christliche Lehre wollte. Damit wird die kirchlich-dogmatische Weltordnung als magische kritisiert, während sich im Gegenzug die nahezu groteske Haltung Galileis als ein Zug wissenschaftlicher Arroganz ausnimmt – was an der gnadenlosen Effizienz seines Verfahrens jedoch nichts ändert, insbesondere weil es durch seine verblüffende (sicher ironische) Einfachheit und seine pragmatische Orientierung besticht. Nicht zuletzt erfüllt hiermit dieser Text alle Kriterien des »plumpen Denkens«, das Walter Benjamin einst in einer Rezension zu Bertolt Brechts Dreigroschenroman aufgezeigt und definiert hat: Es gibt viele Leute, die unter einem Dialektiker einen Liebhaber von Subtilitäten verstehen. Da ist es ungemein nützlich, daß Brecht auf das »plumpe Denken« den Finger legt, welches die Dialektik als ihren Gegensatz produziert, in sich einschließt und nötig hat. Plumpe Gedanken gehören gerade in den Haushalt des dialektischen Denkens, weil sie gar nichts anderes darstellen als die Anweisung der Theorie auf die Praxis. Auf die Praxis, nicht an sie: Handeln kann natürlich so fein ausfallen wie Denken. Aber ein Gedanke muß plump sein, um im Handeln zu seinem Recht zu kommen.36
Dass solche »Plumpheit« nicht allein für den Nachweis von Common sense als Merkmal erzählerischer Plastizität und didaktischer Prägnanz Kluges, sondern allgemein als eine für sein Werk essenzielle Kategorie gelten darf, bestätigt vehement seine Geschichte »Lob der Plumpheit«37, worin der »Fernblick« des »Intelligenzarbeiters« Gottfried Wilhelm Leibniz bei der Umsetzung eines Wasser-Förderungsprojektes für den Bergbau gepriesen wird. Nach kurzer Be34 Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2003, S. 288–291. 35 Ebd., S. 291f. 36 Walter Benjamin, »Brechts Dreigroschenroman«, online verfügbar unter : https://www.text log.de/benjamin-kritik-brecht-plumpes-denken.html, zuletzt eingesehen am 21. 11. 2018. 37 Chronik der Gefühle – Bd. I, S. 442ff.
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sichtigung der Örtlichkeiten und deren Beschaffenheit, nach Kenntnisnahme des hierfür spezifischen Zusammenspiels aller vier Elemente der Materie (Wasser, Erde, Feuer und Luft) und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten der Energiegewinnung, konzipiert der Gelehrte aus der Ferne der Hauptstadt einen Typ von Windmühlen, die auf Grund ihrer untersetzten, gedrungenen, kompakten Form als »plump« bezeichnet werden. Die Bauart dieser »PlumpMühlen«38 erweist sich jedoch als genau den »organischen Bedingungen« der Gegend, für die sie entworfen wurden, perfekt angepasst, eine Leistung für die sich deren Erfinder vorerst die Eigenschaften des Berges als menschlichen Kreislauf veranschaulichen musste. Eine ähnliche Strategie schlägt er vor, als es darum geht, die Bergarbeiter von der Effektivität seiner Methode zu überzeugen. So mag ein Kunstprodukt nur seinen Zweck erfüllen, wenn es der »Naturbedingung am Ort«39 gehorcht, sowie Intelligenzarbeit erst dann einen Sinn macht, wenn sie die konkreten Elemente, die Vielzahl der Faktoren welche sie voraussetzt, voll integriert. Dementsprechend war für die »Plumpheit der Windkunst«40 jene kritische Spannung »organischer Vernunft« notwendig, mit der Kluge sich radikal auf die Dialektik der Verhältnisse einlässt. Wie der Ausgang der Geschichte verrät, wonach die Bergleute der neuen Technik misstrauen und diese verschmähen, kann er dabei, gleich seinem Enzyklopädischen Geistesvorfahren Leibniz, gut und gern auf plumpe Popularität verzichten. Inwieweit Kluges Erzählung »Lob der Plumpheit« sich zur Metapher für die eigene Poetik kristallisiert, dürfte hiermit deutlich geworden sein. Dass Benjamin in Bezug auf Brecht lieber von »Plumpheit« spricht, mag daher rühren, dass Zeit seines Lebens unter dem Vorwand des »gesunden Menschenverstandes« mehr Schlechtes als Rechtes betrieben wurde, wo dieser nämlich, wie ein naher Zeitgenosse Kluges schreibt, »nicht immer der Vernünftigste und nicht immer so heilsam war, wie er sich vorkam«41. Obwohl man sich hüten sollte Common sense und gesunden Menschenverstand, wie wir an selber Stelle lesen können, und »Plumpheit« vorbehaltlos in eins zu setzen, so wird man zumindest feststellen können, dass alle drei sich auf den »praktischen Sinn« beziehen. Nun erläutert Enzensberger weiterhin: Diese einfache Feststellung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es mit einem höchst empfindlichen Organ zu tun haben, einem Detektor, der darauf spezialisiert ist, alles, was gespreizt, verstiegen, verschwurbelt daherkommt, sofort zu identifizieren. Er 38 39 40 41
Ebd., S. 443. Ebd., S. 444. Ebd. Hans Magnus Enzensberger, »Vom Common sense und seinen Verächtern« aus Enzensbergers Panoptikum. Zwanzig Zehn-Minuten-Essays, Berlin, Suhrkamp, 2012, S. 120.
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ist eher für das Untere als für das Sublime zuständig. Deshalb ist es keine Göttin, sondern eine Magd, die ihn in der griechischen Antike repräsentiert. Wie sie bleibt er am liebsten terre / terre. Sein Denken ist geerdet, und lieber riskiert er die Plattheit als die Schwärmerei. […] Seine höchste Stufe erreicht er dann, wenn er sich der eigenen Vernunft gegenüber skeptisch zeigt.42
Wenn es in der Nachfolge von Montaigne jemals einen Autor gegeben haben mag, der es nicht nur verstanden, sondern konsequent zu seiner »Methode« gemacht hat, universale Hochgelehrtheit und plebejisches Weltverständnis mit so dynamisch-paradoxer Wirkung zu verschränken und zu kombinieren, sucht man über die Jahrhunderte hinweg vergebens nach Namen, zumal, wie Enzensberger feststellt, der Common sense für gewöhnlich bei Künstlern keinen guten Ruf hat: »Die meisten Künstler behandeln ihn von oben herab. […] Gegen das Genie hat der Common sense keine Chance«. Ein pragmatischer Geist, wie der Alexander Kluges, macht sich wenig aus solchen Allüren, geschweige denn aus romantisch-individualistischen Autorengebaren. Wie dieser Band hinreichend zeigt, weist er dafür der unmittelbaren stofflichen Ebene, der primären Sinnlichkeit, der elementaren Wahrnehmungsarbeit einen zu hohen Grad an Bedeutsamkeit zu, macht auch dabei vor Groteskem keinen halt. Zu sehr dürfte er sich außerdem des künstlerischen (und wohl auch sonstigen) Potentials bewusst sein, wodurch »der Common sense zu einem Wissen, das reicher ist als das Fachwissen, zu einer den fachlichen Kenntnissen an Vielseitigkeit und Reichtum überlegenen Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen«43 wird. Allerdings für dieses Vermögen, das mit den scheinbar nebensächlichsten Unterscheidungen beginnt, entbehrt sein durchaus ernstzunehmender Standpunkt nicht an Witz, etwa wenn er in »Sie kamen zu keinem Ergebnis. Mißverständnisse eines Filmproduzenten« folgenden Dialog schildert: – Und wovon handelt Ihr Film? – Er handelt gar nicht, sondern zeigt Unterschiede, eine Differenz sozusagen. Kalt/ warm, hell/dunkel, samtweich/rauh wie Beton, aber auch: hell dunkelblond/schwach brünett, da geht es um Nuancen, da sage ich dem Friseur : gerade noch dunkelblond, und dann sage ich: hell brünett, das kann wichtig werden. – Aber Sie müssen doch eine Rahmenstory haben? – Nein, brauche ich nicht. Nehmen Sie Ihre Fingerkuppe, sie unterscheidet sich von meiner. – Und Sie meinen, daß die Zuschauer eine Fingerkuppe gern ansehen wollen? Wie nennen Sie Ihr neues Genre? – Den Namen dafür müssen wir noch finden!
42 Ebd., S. 120f. 43 Nakamura Yu¯jiro¯, Sensus communis, München, Iudicium Verlag, 2003, S. 39.
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So erhält die Ironie nicht nur als Ergebnis von Dialektik in der dekonstruktiven Form des Kommentars, sondern auch durch diesen mündlichen-dialogischen Beitrag zur Gattungsdiskussion Einzug in Kluges Fragment-Poetik, gleich ob diese filmisch, literarisch, beides gleichzeitig, oder zwischen verschiedenen Medien experimentiert. Und wen wundert schließlich die Ratlosigkeit der Literaturtheorie gegenüber der schriftstellerischen Produktion Kluges, wenn weder stilistische noch narratologische Analyse, noch überhaupt irgendeine Formenlehre, einem so vielförmig und -schichtig wucherndem Werk vollständig beizukommen helfen, einem Oeuvre dessen literarische Intelligenz hauptsächlich auf die Offenheit der Zusammenhänge setzt? Dem französischen Literaturtheoretiker und Montaigne-Experten Antoine Compagnon zufolge, gälte am Ende jedoch, angesichts der schieren Vielzahl an Erzähltheorien (einschließlich seiner eigenen, die sich Common sense als kritischen Ansatz auf die Fahnen schreibt), keine andere Einstellung: »Die einzige literarische Moral [sei] eine der Ratlosigkeit.«44 Seit mindestens seinem Film Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, der die Haltung des Künstlers im spätindustriellen Zeitalter allgemein hinterfragt, scheint Kluge ausdrücklich genau hiervon auszugehen. Es sei denn, man hielte ihn dennoch – und vielleicht gerade deswegen – für einen verspäteten Romantiker : durchgreifend ironisch wie kritisch, gleichermaßen selbstreflektiert und eigensinnig, wenn eben auch ohne den Hang zum Absoluten. »Die Poesie ist eine republikanische Rede; eine Rede, die ihr eignes Gesetz und ihr eigner Zweck ist, wo alle Teile freie Bürger sind, und mitbestimmen dürfen«45 schrieb einst Friedrich Schlegel. Würde Kluge diesen Lehrsatz nicht weitgehend unterschreiben können?
44 Antoine Compagnon, Le d8mon de la th8orie. Litt8rature et sens commun, Paris, Seuil, 2001, S. 312: »La perplexit8 est la seule morale litt8raire.« 45 Friedrich Schlegel, »Kritische Fragmente«, in: Schriften zur Literatur, München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1972, S. 15.
Alexander Kluge
»Flüssigmachen«
Das war äquivalent durchsichtig machen. »Vom Begriff, der im Ersichtlichen nicht aufgeht, die Dinge in Bewegung setzen.« Es diente nicht der klaren Frontbildung, weil es ja Zusammenhang aufriß. Es bestand die Gefahr einer idealistischen Verliebtheit in dieses methodische Prinzip, sagten einige. Wollen wir es uns verbieten? Das wäre dann protestantisch, sagten andere. Sie konnten sich nicht beherrschen, wenn es ums »Flüssigmachen« ging. »Denn nichts kann ein und alles sein Ein Riß hat es getrennt.«
Das weiß man schon beim Frühstück. Aber an den Rißstellen, wenn man sie repariert, rinnt es. Gern wäre der phantasievolle F. Wolff undiszipliniert mit dem Flüssigmachen umgegangen. »Die schwarze Erde trinkt so trinken sie, die Bäume es trinkt das Meer die Ströme die Sonne trinkt die Meere der Mond sogar die Sonne …«
Das durfte er sich nicht trauen. (aus: Chronik der Gefühle II, S. 200)
Stefan Schweigler
Politiken der Wahrnehmung und queere Gefühle. Alexander Kluge und Lilo Wanders
»Das Nachdenken war anregend, die Recherche umfangreich, und der Akt des Schreibens bringt mich zur Verzweiflung. […] Ich wollte schon behaupten, mein Laptop, auf dem ich schreibe, wäre ein paar Tage vor dem Abgabetermin im absurderweise winterlichen Südafrika, wo ich in diesem Moment im Mai 2004 mitten in der Nacht auf einem Balkon sitze, geklaut worden. Aber einer meiner Wahlsprüche lautet: Ich mache alles außer Bungee-Jumping.« Lilo Wanders1
Von einem der Reihenherausgeber des Jahrbuchs wurde mir zugetragen, dass es seines Wissens noch keinen queertheoretischen Text zu Kluge gebe2, obwohl es – das haben meine Recherchen dann gezeigt – gar nicht so wenige Stellen in den Arbeiten Kluges gibt, in denen Adjektive wie homosexuell oder bisexuell von Relevanz sind. Damit wäre die Einleitung geschafft. Oder sie wäre es, wenn ich die Einleitung und diesen Artikel im Alexander Kluge-Jahrbuch nur hinsichtlich deren Legitimität (ob Exklusivität) begreifen wollte. Die eigentliche Frage, die ich aber vorweg ansprechen sollte, wäre die nach der ›Produktivität‹ eines queeren Blicks auf das Denken und Wirken von Kluge. Das vorliegende Bündel von Closeups aus queertheoretischer Perspektive stellt zunächst einen queerfeministischen Diskussionsvorschlag für die akademisch-feministische Kluge-Rezeption dar, welche Kluges Begriff von Weiblichkeit3, Kluges Darstellung von Frauen4 1 Lilo Wanders, »Wollust & Askese«, in: ZDF-nachtstudio (Hg.), Tugend und Laster. Gradmesser der Menschlichkeit, Frankfurt/M. 2004, S. 127–133, hier S. 128. 2 Für die Unterstützung bei der Recherche und die spannenden Diskussionen, die den Prozess des Schreibens begleitet haben, bedanke ich mich bei Barbara Barnak, Louise Haitz, Melanie Konrad und Christian Schulte. 3 Verena Mund, »Mädchenname«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand – Alexander Kluge. Rohstoffe und Materialien, Göttingen 2012 (Orig. 2000), S. 363–388. Sowie Heide Schlüpmann, »Femininity as Productive Force: Kluge and Critical Theory«, in: New German Critique, Sonderheft Alexander Kluge, Nr. 49, 1990, S. 69–78. 4 Heide Schlüpmann, »›Unterschiedenes ist gut‹. Kluge, Autorenfilm und weiblicher Blick«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Frage des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Kontext, Berlin 2012 (Orig. 1989), S. 137–156.
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Stefan Schweigler
sowie seine Umgangsweisen mit Frauen5 (jeweils ohne Asterisk6) relativ einschlägig und relativ homogen problematisiert hat. Die Kritiken der feministischen Rezeption fielen weitgehend so aus, dass Kluge eine männlich-angeleitete Idee von sexueller Differenz attestiert wurde, die in seiner marxistisch-abgeleiteten Romantisierung einer ›anderen‹, weiblichen Produktionsweise markiert sei. Diese Ablehnung der Idee einer anderen Produktionsweise, von der Oskar Negt und Kluge schreiben, sie könne als »Rest matriarchalischer Produktionsweise an[ge]sehen«7 werden, tritt dabei zugleich diametral mit differenzfeministischen8 Argumentationslinien auf: So wird Kluges männlich-angeleiteter Blick auf Frauen umgekehrt als Konstruktionsversuch einer Gleichheit der Geschlechter problematisiert, der in einem unterkomplexen Verhältnis zur »relationship between the sexes«9 stehe und dem es an der Berücksichtigung sexueller Differenz mangele10, auch hinsichtlich einer ungenügenden Reflexion männlichgeprägter filmästhetischer Verfahren, die einem weiblichen Publikum offeriert werden.11 Dabei erfolgte in der feministischen Kluge-Rezeption aber sozusagen kein umgekehrter Bechdel-Wallice-Test, der die Repräsentation von Männlichkeiten* in Kluges Filmen und Fernsehen ebenso kritisch und detailliert dekonstruiert – was in der feministischen Filmanalyse »zur Sichtbarmachung der 5 Siehe etwa Schlüpmanns Besprechung von Kluges Umgangsweise mit seiner Schwester als Darstellerin. Ebd., S. 145f. Siehe auch Barbara Potthasts Analyse »Kluges Gespräche zwischen Mann und Frau«, in: Christian Schulte et al. (Hg.), Formenwelt des Dialogs. AlexanderKluge-Jahrbuch 3, Göttingen 2016, S. 263–272. Potthast distanziert sich im Unterschied zu anderen feministischen Rezipient*innen nicht von Kluges Zugang zu Repräsentationen von Weiblichkeit. Die Gemeinsamkeit mit der feministischen Kluge-Rezeption der 1980er besteht jedoch darin, dass sie mit einem differenzfeministischen Unterton ›Mann‹ und ›Frau‹ als Geschlechts-Aussagegrößen heranzieht, für welche die Kategorie ›desire‹ nicht relevant zu sein scheint bzw. das jeweilige Geschlechtsdispositiv unausgesprochen als heterosexuell markiert ist – stellvertretend für Sexualität allgemein. 6 Mit Asterisk ›*‹ markiere ich Nomen, bei denen ich dezidiert darauf hinweise, dass ich deren binäre Vergeschlechtlichung problematisierend als nicht naturwüchsig denke bzw. bei denen ich die Offenheit des Begriffs betonen will. Wenn ich keinen Asterisk setze, weise ich umgekehrt auf die konstruierte Verengung der Bedeutung im jeweiligen Kontext hin. 7 Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1982 (Orig. 1981), S. 311. 8 Die Nichtberücksichtigung von sexueller Differenz wird angemahnt bei Schlüppman, »Femininity«, S. 72, bei Mund, »Mädchenname«, S. 369, durch Bezugnahmen auf differenzfeministische Argumentationen bei H8lHne Cixous sowie in der Frage »Warum sollten Frauen nicht durchaus auf eine andere Weise bisexuell sein als Männer?«, FN 22, S. 366 – wobei Mund immer wieder versucht, zwischen Differenz- und Gleichheitspositionen zu moderieren und sich auch nicht selten in Opposition zur feministischen Kritik stellt. 9 Schlüpmann, »Femininity«, S. 77. 10 Vgl. Emma Woelks Zusammenfassung von Schlüpmanns Kritik in »Humor as Critical Intelligence: Kafka’s Der Proceß and Alexander Kluge’s Abschied von Gestern«, in: Rainer Stollmann et al. (Hg.), Stichwort: Kooperation. Keiner ist alleine schlau genug. Alexander Kluge-Jahrbuch 4, Göttingen 2017, S. 303–322, hier S. 321f. 11 Vgl. Schlüpmann, »›Unterschiedenes ist gut‹«.
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Geschlechterkonstellationen«12 mittlerweile üblicher ist. Der exklusive Fokus der prominenteren feministischen Kluge-Kritiken auf Weiblichkeit nahm zudem implizit nur heterosexuelle Weiblichkeit – stellvertretend für Weiblichkeiten* im Allgemeinen – in den Blick.13 Obgleich im Folgenden eine andere Zugangsweise bemüht wird, gilt es festzuhalten, dass es das Verdienst der feministischen KlugeRezeption ist, herausgearbeitet zu haben, dass die Repräsentation von Frauen bei Kluge variiert. Nicht in allen Arbeiten fehle »sexuelle Differenz« als »Gegenstand der Auseinandersetzung« – so fasst etwa Dorothea Walzer die Kritik Heide Schlüpmanns zusammen –, denn es gäbe auch Szenen, in denen Frauendarstellungen deutlich »als Replik […] gelesen werden können«, die »die Zurichtungen des Körpers« und »deren sexualisierten Charakter«14 thematisieren. An anderer Stelle wurde eine »false celebration of woman’s singularity«15 eingemahnt und die idealisierte Annahme matriarchalischer Produktionsweise – mitunter bezogen auf seine Äußerung »Die Denkweise der Frauen begeistert mich. Ich halte sie dem männlichen abstrakten Verstand überlegen«16 – als sehr heikel, im Sinne einer positiven Diskriminierung, bewertet. So wurde Kluge immer wieder mit feministischer Kritik konfrontiert, die ihm zu denken gab und auch Niederschlag in seinen weiteren Arbeiten fand.17 1976 positionierte er sich wie folgt: »Ich nehme diese Kritik ernst und habe mich gründlich damit auseinandergesetzt. Selbst wenn ich die Argumente im einzelnen zerpflücken könnte, muß ich ja prüfen: was ist der Ansatz dieser Kritik, woher kommt diese Protest-Energie«.18 ›Der Ansatz dieser Kritik‹ könnte wiederum von einer queerfeministischen Zugangsweise profitieren, indem Konzepte von Weiblichkeit* 12 Eva Flicker/Lisa Vogelmann (inhaltl. Verantwortl.), Österreichischer Film Gender Report 2012–2016. Zentrale Ergebnisse, Wien 2018, https://www.kunstkultur.bka.gv.at/documents/ 340047/693984/Film+Gender+Report+2012-2016/760ef1d3-986f-4ac8-ad53-df18b9c82951 (Stand: 16. 07. 2018), S. 36. 13 Die Autorin B. Ruby Rich hat die ersten filmanalytischen Arbeiten über ›Lesben und Film‹ aus Sicht einer homosexuellen Filmkritikerin geschrieben, blieb aber bei der Besprechung von Kluges filmischer Darstellung von Weiblichkeit den zeitgenössischen differenzfeministischen Ansätzen verpflichtet. Siehe B. Ruby Rich, »She says, He says: The Power of the Narrator in Modernist Film Politics«, in: Discourse 6, 1983, S. 31–47. 14 Dorothea Walzer, Arbeit am Exemplarischen. Poetische Verfahren der Kritik bei Alexander Kluge, Paderborn 2014, S. 42. 15 Heide Schlüpmann/Jamie Owen Daniel, »›What is Different is Good‹. Woman and Femininity in the Films of Alexander Kluge«, in: October 46, 1988, S. 129–150, hier S. 145. 16 Zit. n. Mund, »Mädchenname«, S. 363. 17 Z. B. durch Stellungnahmen zur feministischen Kritik im Buch Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975 oder in der Editionsgeschichte von Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, in welche die Kritik von Regina Becker-Schmidt eingearbeitet wurde. Vgl. Mund, »Mädchenname«, S. 369. 18 Alexander Kluge im Interview mit Ulrich Gregor in dessen Monographie Herzog, Kluge, Straub, (= Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hg.), Film Bd. 9) München 1976, S. 153–179, hier S. 160.
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und Männlichkeit* wechselseitig problematisiert und Dimensionen von romantischem und sexuellem Begehren als integral in Geschlechterdispositiven berücksichtigt werden – entsprechend der Grundannahme der Queer Studies, dass ›sex‹, ›gender‹ und ›desire‹ (sexuelle Orientierung) ihre Politizität nicht zuletzt in ihrer Verschränkung entfalten.19 Deshalb stellt dieser Artikel einen Diskussionsvorschlag für die Kluge-Rezeption dar, aber auch ein Angebot, im Sinne eines Prolegomenons für weitere Analysen von queeren Themen in Kluges (Zusammen-)Arbeiten und/oder für empirisch interessierte Publikumsforscher*innen, die etwa die Geschichte von Kluges Film- und TV-Produktionen nach Queerreadings durchforsten wollten. Ich werde exemplarische Stellen von Kluges Denken und Arbeiten unter Gesichtspunkten der Queer Studies besprechen, indem ich Kluges Zugang zu nichtheteronormativen Figuren diskutiere sowie nach Kongruenzen mit politisierenden Konzepten der Queer Theory (zu queeren Gefühlen und zur Ablehnung von Identifikation) frage. Dieser zweite Aspekt geht über eine Figurenanalyse einerseits und über die Frage nach dem Vorhandensein von queeren Thematiken (im engeren Sinn) andererseits hinaus.20 Für meine Auseinandersetzung soll seine Zusammenarbeit mit Lilo Wanders als Matrix fungieren, weil darin beide Aspekte – die Überschreitung der Heteronormativität und die Politisierung von sex/gender/desire – gleichermaßen relevant sind, und auch zum Ausdruck kommen.
Alexander Kluge und queere Erzählungen Bevor ich zwei Sendungen analysiere, in denen Wanders zu Gast bei Kluge war, möchte ich auf Texte eingehen, die über Kluges Zugang zu Queerness Aufschluss geben und den bisherigen feministischen Untersuchungen zu seinem Begriff von 19 Siehe hierzu Andrea B. Braidts Einführungstext zur feministischen Filmtheorie. Dieser schließt mit einem Votum für Perspektiven der Queer Theory : Es »müssen die Konstruktionsweisen von Geschlecht viel mehr als intrinsisch mit den Konstruktionsweisen von Sexualität theoretisiert werden, um dem identitätspolitisch problematischen Essenzialismus des Differenzfeminismus beizukommen.« Andrea B. Braidt, »Einleitung«, in: Kathrin Peters/ Andrea Seier, Gender und Medien-Reader, Zürich/Berlin 2016, S. 23–29, hier S. 29. 20 Quasi-queere Zugänge können auch im Umgang mit audiovisuellen oder poetischen Verfahren zum Politikum werden, ohne dass sich ein*e Medienmacher*in als queer versteht und ohne, dass eine queere Person im Medium thematisiert wird. Dies kann etwa die Ebene des Einsatzes von Farbe im filmischen Bild sowie komplexe ästhetische Verfahren der Ablehnung von Identifikationsproduktionen u. v. m. betreffen. Auf thematischer Ebene können auch cisgeschlechtlich heterosexuelle Personen Erfahrungen mit positiven oder repressiv-induzierten ›queeren Gefühlen‹ machen. Einfaches Beispiel: Das Schamgefühl, wenn jemand als Kind oder Jugendliche*r die Erfahrung macht, versehentlich oder absichtlich nicht den eigenen Erwartungen entsprechend als männlich bzw. weiblich gelesen und adressiert zu werden.
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›Geschlecht‹ zumindest zur Seite gestellt werden müssten, da aus queerer und intersektionaler Perspektive sowohl die Heterosexualität als auch das Nichtheterosexuell- oder Asexuell-Sein von Menschen immer auch die Kategorien sex/gender und Körper in herausfordernder Weise berühren.21 Kluge und Oskar Negt besprechen in Geschichte und Eigensinn im viel-rezipierten »Kommentar 2« mitunter die Rolle der weiblichen Reproduktionsarbeit (Hausarbeit, Mutter- und Beziehungsarbeit etc.). Dabei bezeichnen sie die Kategorie des Geschlechts (im Unterschied zu zeitgenössischen Texten der Kritischen Theorie) als explizit ›bisexuell‹. Damit markieren sie aus heutiger Perspektive missverständlich nicht die sexuelle Orientierung von Menschen, sondern nutzen den Begriff der Bisexualität (die »Bisexualitäts-Annahme«22) um in einem sozialkonstruktivistischen Theoriesetting Geschlecht (sex/gender) als konstruiert und als historischen Veränderungen ausgesetzt zu denken: »Wenn wir im folgenden von rein männlich und rein weiblich sprechen, oder abgekürzt: Männerarbeit und Frauenarbeit, so gehen wir davon aus, daß das analytische Kategorien sind, denen in Wirklichkeit Bisexualität entspricht. Männliche und weibliche Eigenschaften sind in geschichtlichen Menschen gehemmt und gemischt.«23
Dies korreliert in Das Labyrinth der zärtlichen Kraft24 mit Kluges Derrida-Lektüre: »In seinem Essay Geschlecht und Hand bei Heidegger prüft Jacques Derrida die Typik der sexuellen Differenz und bezieht sie auf die Typik der Zweiheit in der menschlichen und tierischen Evolution: zwei Hände, zwei Augen, zwei Gehirnhälften, zwei Ohren – aber fünf Zehen und nicht zwei Herzen. Generell bezweifelt Derrida, ob eine endgültige ZWEI glücklich mache.«25
Um die Relevanz dieser Ablehnung eines biologistisch-inspirierten binären Geschlechtsbegriffs zu plausibilisieren, durchmischt Kluge folgerichtig Annahmen über sex und gender häufig mit Aspekten des desire, was auch darauf 21 Einführend zu Positionen der Intersektionalität siehe Ilse Lenz, »Intersektionalität. Zum Wechselverhältnis von Geschlecht und sozialer Ungleichheit«, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2010, S. 158–165. Zur Einführung in die Relevanz der Analyse von queeren Gefühlen und queeren Stigmata in deren Verschränkung mit Begriffen von Geschlecht in postfaschistischen Kulturen siehe Andrea B. Braidt’s Besprechung der künstlerischen Arbeit von Jakob Lena Knebl: »Gay Pride, Queer Shame. Austrian Cases«, in: Suzana Milevska (Hg.), On Productive Shame, Reconciliation, and Agency, Berlin 2016, S. 130–145, hier S. 142ff. 22 Mund, »Mädchenname«, S. 366. 23 Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 310. 24 Alexander Kluge, Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten, Frankfurt/M. 2009. 25 Alexander Kluge, im Unterkapitel »12. Ableitung der Vernunft (raison) aus dem Wort Arraisonnement« von »Die Prinzessin von ClHves. Kommentar«, in: ders., Labyrinth, S. 477– 480, hier S. 477f.
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schließen lassen könnte, dass in der Wortwahl »Bisexualität«, trotz ihrer Ausformulierung als Begriff von Geschlecht, der Verweis auf dessen Verbundenheit mit Sexualität, Begehren und sexueller Orientierung angelegt sein soll. Im »Kommentar 2« äußern Negt/Kluge, dass an der Dichotomie MännlichkeitWeiblichkeit eine »Aufrechterhaltung von Herrschaft« wirke, die eine »libidinöse Struktur«26 aufweise: die »erotischen Beziehungsverhältnisse«27 oder auch die »erotische Beziehungsarbeit«28. Diese Inklusion der Sexualität begegnet auch in Kluges Sennett- und Foucault-Lektüren, von denen er seinen Begriff der ›Derivate der Liebe‹ ableitet, die er mit Foucaults ›Dispositiven der Sexualität‹ analogisiert: »Vielleicht ist es nicht die Liebe selbst, sondern sind es ihre Abkömmlinge, ihre Seitenlinien und Ränder, die Mut machen?«29 »In der Ökonomie sind Derivate Wetten auf sogenannte Basiswerte, auf künftige Aktienkurse, Durchschnitte, Wahrscheinlichkeiten, auf Mangel und Überfluß oder das Wetter.«30 »Das Wort Derivat hat für die Liebe eine andere Bedeutung als für die Ökonomie. Derivat im Sinne von Ableitung, Abkömmling hieße im Französischen Dispositiv.«31 »Dispositive sind Abstammungsregeln.«32 »Nichts kann die Liebe davon abhalten, auf ihr Glück zu wetten«.33 »Die Derivate der Liebe unterscheiden sich von denen der Banken: Wenn sie abstürzen, fallen sie auf die Härte zurück, die ihren Rohstoff ausmacht.«34
Durch die Metapher des Derivat-Charakters der Liebesbeziehungen verweist Kluge auf den zweiten Foucault’schen Dispositiv-Begriff, der anstelle der panoptischen Repressionen die produktiven Formen von Macht in Dispositiven35 hervorhebt, die die Sexualität dazu anleiten, ›auf ihr Glück zu wetten‹. Weder Foucault, noch Kluge (dessen Erzählungen in den Worten von Christian Schulte »in der Regel den geschichtlichen Ernstfall [thematisieren]«36) romantisieren die Produktivität von Macht in Dispositiven der Sexualität. Zu betonen, dass es den 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 315. Ebd., S. 319. Ebd., S. 314. Alexander Kluge, im Unterkapitel »Zusatz zu II. Derivate der zärtlichen Kraft«, von »Ach liebe Engel öffnet mir, noch lebend mir die Himmelstür« in: ders., Labyrinth, S. 205–233, hier S. 205. Ebd., S. 206. Ebd. Alexander Kluge, im Unterkapitel »7. Wechselwirkungen von Sexualität und Erziehung« von »Oskar Negt, Alexander Kluge. Love Politics. Eigensinn der Intimität«, in: ders., Labyrinth, S. 533ff., hier S. 533. Kluge, »Zusatz zu II. Derivate«, S. 205. Ebd., S. 207. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1976. Christian Schulte, »Cross-Mapping. Aspekte des Komischen«, in: ders./Rainer Stollmann (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 217–232, hier S. 217.
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Menschen zugehörige produktive Antriebe gibt, die der Vergeschlechtlichung ›Mut machen‹ ›auf ihr Glück zu wetten‹ ist keine Beschönigung des ›doing gender‹, sondern ein Vexierbild, das auch auf den »Zusammenhang – […] die Chiffre der Katastrophe«37, das Leiden und das Scheitern in diesen Prozessen verweist: ›Wenn sie abstürzen, fallen sie auf die Härte zurück‹ ist eine Losung, die Kluge wiederkehrend bei queeren Figuren illustriert. Männlich-vergeschlechtlichte Homosexualität wird bei Kluge häufig dann angesprochen, wenn es um Gerüchte geht. Wenn ein homosexueller Mann* bei Kluge Erwähnung findet, geschieht dies durch poetische Verfahren (indirekte Rede, Vagheit, Dramatisierung), die den Irrealis-Charakter des ›Suppositivs‹ (Vermutung und UnterStellung) von queerness anzeigen – und auch den Charakter der ›Umzingelung‹ (Um-Stellung) von Queer-Personen durch jene anzeigen, die über sie ›reden‹. Sechs kurze Auszüge aus verschiedenen Erzählungen verdeutlichen diese Verfahren: »Er soll ein homosexueller Offizier gewesen sein.«38 »Hatte unser langbeiniger hübscher Prinz […] eine erotische Veranlagung, die die heterosexuelle Bindung ausschloss? Hatten wir etwas falsch gemacht, als er aufwuchs?«39 »Oft nahmen wir die Kommissare, um Bewachungsmannschaften zu sparen, in unsere Quartiere mit, was uns dem Vorwurf aussetzte, wir hätten sie homosexuell mißbraucht.«40 »Als er einmal auf die Toilette verschwindet (er nimmt Martens nicht mit, um nicht als Homoerot dazustehen) […].«41 »Die zum Teil durch Vorurteile in der Rezeption dieser Nachricht gehemmte Presse Australiens hat festgestellt, daß der Aborigine und sein schottischer Mitarbeiter einander stark zugewendet sind. Es werden homophile Beziehungen unterstellt.«42 »Im Jahre 1910 trat ein angesehener Minister der französischen Republik, von dessen Homosexualität die Gesellschaft überzeugt war, überraschend von seinem Amt zurück. 83jährig hatte er sich in einen 19jährigen Schlosserlehrling aus der Normandie verliebt und diesen in seinen Haushalt aufgenommen. Noch ehe sich ein Gerücht hatte bilden können, war er von seinen Ämtern zurückgetreten.«43
37 Christian Schulte, »Konstruktionen des Zusammenhangs. Motiv, Zeugenschaft und Wiedererkennung bei Alexander Kluge«, in: ders. (Hg.), Die Schrift an der Wand (2012), S. 53–76, hier S. 76. 38 Alexander Kluge, »›Strand des Schicksals‹«, in: ders., Die Chronik der Gefühle, Bd. 1: Basisgeschichten, Frankfurt/M. 2000, S. 101–104, hier S. 102. 39 Alexander Kluge, »Familienstolz«, in: ders., Chronik der Gefühle 1, S. 217–221, hier S. 219. 40 Alexander Kluge, »Oberleutnant Boulanger«, in: ders., Die Chronik der Gefühle, Bd. 2: Lebensläufe, Frankfurt/M. 2000, S. 101–687, hier S. 686. 41 Alexander Kluge, »Ein Bolschewist des Kapitals«, in: ders., Chronik der Gefühle 2, S. 567–590, hier S. 578. 42 Alexander Kluge, »Wach sind nur die Geister«, in: ders., Die Lücke, die der Teufel läßt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2003, S. 871–875, hier S. 871. 43 Alexander Kluge, »Es galt, Abend für Abend Siege zu erringen«, in: ders., Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten, Frankfurt/M. 2011, S. 75f., hier S. 75.
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Viele der entsprechenden Stellen integrieren männlich*-homosexuelle Figuren in Geschichten von Kolonialherrschaft, von Krieg oder von zwischenkriegszeitähnlichen Vorabenden des Krieges. Dabei werden illegitimierte Entwürfe von Männlichkeiten* so vorgestellt, dass das Homogene an der Homophobie, mit der sie sich konfrontiert sehen, durch immer wieder ähnliche Narrative von Kluge herausgearbeitet wird. An einigen Stellen ist zudem die Kriminalisierung von Homosexualität im NS als ›tödlicher Ausgang‹ beschrieben: Zwei Beispiele: »Entschiedenheit dieser Art kann tödlich enden, wie im Fall vom Parteigenossen Pfeffer. Wegen Hochverrats erschossen, tatsächlich aber wegen seiner alle überraschenden Homosexualität, die sich […] herausstellte«44, schreibt Kluge im Labyrinth. Und in Das Bohren harter Bretter findet sich vergleichsweise: »Es standen vier Fälle von homosexueller Unzucht unter Kameraden zur Anklage. Aufgrund der Akten war es nicht klar, ob es sich um Berührungen am nackten Körper aus Versehen oder mit dem Ziel geschlechtlicher Befriedigung gehandelt hatte. Das machte den Unterschied zwischen Todesstrafe und Verwarnung aus.«45
Bilder soldatischer Männlichkeitskonzepte scheinen Kluge übrigens allgemein zu interessieren – was ich aufgrund der zahlreichen Found-Footage-Materialeinblendungen von Szenen mit Front-Soldaten in den Fernsehmagazinen vermute. In beiden oben zitierten Erzählungen wird durch die poetischen Stilmittel der Beiläufigkeit und Vagheit der Ausführungen die allgemeine ›Beiläufigkeit‹ und ›Vagheit‹ der zu gewährleistenden soldatischen Hetero-Männlichkeit im NS (bei gleichzeitiger Existenz von misogynen, homosexuellen soldatischen Eliten) offen gelegt.46 An anderer Stelle erzählt Kluge etwa von einer juristischen Beratungsstunde zu einem Fall von »Sittenverfehlung«, welche durch den Spruch des Amtsgerichtsleiters wie folgt geschlossen wird: »Die waren alle total besoffen, und was die Kameraden in besoffenem Zustand gemacht haben, ist nicht rekonstruierbar. Der Fehler liegt darin, daß überhaupt etwas herausgekommen ist.«47 In einer weiteren Erzählung nimmt Kluge explizit auf die zeitgenössische Legislative Bezug, welche die Kriminalisierung von Homosexualität auf den Rechtsweg brachte: »Der § 175 des Strafgesetzbuches setzte in den dreißiger Jahren heute nicht mehr begreifbare Schranken für den gleichgeschlechtlichen Umgang. In amtlichen Positio44 Alexander Kluge, »Mönch der Liebe«, in: ders., Labyrinth, S. 395–398, hier S. 395. 45 Alexander Kluge, »Die Gefallenenrede des Perikles in einer Veranstaltung des Jahres 1943 in Theben«, in: ders., Das Bohren harter Bretter, S. 280–283, hier S. 282. 46 Zu Homosexualität und zur widersprüchlichen Homophobie in der soldatischen Männlichkeit im NS siehe Johann Hari, »The Strange, Strange Story of the Gay Fascists«, in: huffingtonpost.com, 25. 05. 2011 (Orig. 21. 10. 2008), https://www.huffingtonpost.com/johannhari/the-strange-strange-story_b_136697.html?guccounter=1 (Stand: 17. 07. 2018). 47 Alexander Kluge, »Ein Lernprozeß mit tödlichem Ausgang für Otto Laube und Fritz Brink«, in: ders., Chronik der Gefühle 2, S. 646–654, hier S. 649.
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nen schwankte die Strafe bei gerichtlicher Überführung zwischen fünf Jahren Zuchthaus und dem Tod. In jedem Fall galt gesellschaftliche Ächtung.«48
Das Zitat ist der Erzählung über »Eine Dame der Gesellschaft« im faschistischen Deutschland der Dreißiger und über ihre Allianz mit einer Gruppe von »Männer[n], die Männer liebten«49, entnommen. Die Protagonistin »gewährte ihren Freunden Schutz. Sie eröffnete ihnen den Beitritt zum Dom-Club, zu dessen Festen und Empfängen. Daraufhin waren diese ›Schutzbefohlenen‹ ihre Leibwache, ihre Reservearmee. Es galt Treue um Treue.«50 Das queere Bündnis artikulierte sich ferner auch in der expliziten Negation der Protagonistin, dass Homosexualität eine Krankheit sei. »Nicht wie bei einer Ansteckung funktionierte die gleichgeschlechtliche Liebe, sondern selektiv.«51 Damit negiert sie nicht nur im Speziellen das Vorurteil, dass Homosexualität mit Nymphomanie einhergehe, sondern das Krankheitsstigma von Homosexualität im Allgemeinen. Auch in Kluges Erzählstoffen, die sich im späten 20. Jahrhundert zutragen, gibt es vergleichbare Stellen: » – Und sie sind homosexuell? – Was immer das heißt. Es heißt nicht leprakrank.«52 Eine weitere, eine besonders komplexe und dabei besonders kurze queere Geschichte, die ein ähnliches Krankheitsmotiv anspricht, aber noch viele weitere queer-relevante Dimensionen hat, nannte Kluge »Im Trog der Psychologie«. Die nicht-geoutete lesbische Protagonistin Hedwig ist Oberstaatsanwältin in den neuen Bundesländern und wurde wegen eines schmerzhaften und sie visuell entstellenden Hautausschlags auf dem Kassenweg an eine Psychologin überwiesen, um eine psychosomatische Ursache zu eruieren. »Sie war beschämt. Nach drei Sitzungen war ihre Allergie keineswegs geheilt, ihre Hinwendung zum eigenen Geschlecht jedoch aufgedeckt.«53 Kluge problematisiert hier verdichtet, anhand des Bildes einer Therapie-Sitzung und entlang der Theoriefigur von queeren, negativen Schmerz- und Schamgefühlen, die gesellschaftlich induzierte Drucksituation, sich nicht ohne den Verlust des Arbeitsplatzes out-of-the-closet begeben zu können, einerseits, und andererseits die Institution der Psychotherapie ›an sich‹, was sich mit seiner bereits zitierten Besprechung von Foucaults Dispositiven der Sexualität gegenlesen lässt, da er an jener Stelle äußert, dass Freud und Foucault von Sexualität als 48 Alexander Kluge, »Eine Dame der Gesellschaft«, in: ders., Tür an Tür mit einem anderen Leben. 350 neue Geschichten, Frankfurt/M. 2006, S. 599–604, hier S. 600. 49 Ebd., S. 599. 50 Ebd., S. 600. 51 Ebd. Mit ›Selektion‹ ist hier nicht eine vermeintliche Wahl der sexuellen Orientierung gemeint. Inhaltich geht es an dieser Stelle um die Ablehnung der Idee, dass die schwulen Männer ›wahllos‹ untereinander Sex hätten. 52 Alexander Kluge, »NORMA, eine Ballung der Großherzigkeit«, in: ders., Labyrinth, S. 418–426, hier S. 423. 53 Alexander Kluge, »Im Trog der Psychologie«, in: ders., Labyrinth, S. 391.
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»von etwas Verschiedenem«54 sprechen. Und wenn Kluges Verständnis von ›Derivaten der Liebe‹ dem Dispositiv-Begriff ähnlich ist, dann ist Freuds Zugang zu Sexualität davon eher zu unterscheiden. Die kurze Erzählung endet damit, dass die Psychologin sich nun mit dem Wissen konfrontiert sieht, dass es ihr Beruf verlangt, im weiteren Therapieverlauf einen möglichen Zusammenhang zwischen Hedwigs sexueller Orientierung und ihrer Hautkrankheit zu ergründen. »Ein Arzt hatte ihr die Patientin zugeschickt. Sie hätte sie gerne zurücküberwiesen. Beiden Frauen war die Situation peinlich.«55 ›Irritationen‹ weiblicher Vergeschlechtlichung in Abhängigkeit von Sexualität sind noch Thema zweier anderer Erzählungen – in vermeintlich heterosexuellen Beziehungen: »Schwierigkeiten im Sexualverkehr haben sie einander zu erklären versucht. Darin haben sie keine Ausbildung. Ist sie der Mann, ist er die Frau? Oft meint sie: Er ist ein großes Mädchen mit einer Bindegewebsschwäche hinten.«56 Hier markiert Kluge, wie die Partnerin aufgrund eines gemeinsamen sexuellen Scheiterns in der Paarbeziehung, die gelingende gouvernementale GenderIdentität beider Personen infrage stellt. Eher freudvoll wird der ›Rollentausch‹ dagegen in der Geschichte über Klaus Manns Romanentwurf dargestellt, in welchem die Rede vom britischen Lord Curzon ist, der als Jugendlicher eine intime Beziehung mit seinem Tutor gehabt habe, und später in seiner Frau Victoria (vgl. Abb. 1) die Wiederkehr seines ›Traummannes‹ wähnte, während sie in ihm umgekehrt »›die Frau ihres Lebens‹ gesehen«57 habe. Als letztes Beispiel möchte ich noch die Abhandlung über den preußischen Feldmarschall Blücher erwähnen (Abb. 2), die Kluge mit dem Untertitel »Androgyne Struktur« und folgendem Absatz einleitet: Wem gehören die Gefühle? Sind sie in den Grenzen des ICH oder des SELBSTzu fassen? Sind sie in die Abschnitte des Geschlechtslebens gepfercht, männlich, weiblich? Der Philosoph Montaigne sagt, Gefühle könnten keine Berge versetzen. Sie können jedoch die körperliche Grenze zwischen männlich und weiblich oft mühelos überschreiten, ja ihre Geschlechtszugehörigkeit ist wie die von Engeln ungeklärt.58
Kluge beschreibt im Folgenden die Darstellung eines Biographen, der Blüchers androgyne Erscheinung und seine Scheinschwangerschaften im Unterschied zur sonstigen zeitgenössischen Rezeption so diskutiert, dass Blücher nicht als effeminierter Mann, sondern als Intersex* oder Trans* legitimiert (nicht proble54 Kluge, »Wechselwirkungen von Sexualität und Erziehung«, S. 533. 55 Kluge, »Im Trog der Psychologie«, S. 391. 56 Alexander Kluge, »Glück, Lohn der Tugend«, in: ders., Chronik der Gefühle 1, S. 917–927, hier S. 919. 57 Alexander Kluge, »Eine Romanskizze von Klaus Mann zu einem Stoff seines Vaters«, in: ders., Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. 402 Geschichten, Berlin 2012, S. 151f., hier S. 152. 58 Alexander Kluge, »Blüchers Schwangerschaft«, in: ders., Chronik der Gefühle 1, S. 851–856, hier S. 851.
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matisiert!) wird. Mit der Bezeichnung androgyn lehnt der Biograph eine Deutung der körperlichen Erscheinung Blüchers im Jahr 1815 als Scheinschwangerschaft ab. Und Kluge ergänzt: »Er hält den Feldherrn einer wirklichen Schwangerschaft für fähig.«59
Links: Abb. 1: Victoria Leiter. In ihr habe Lord Curzon »den ›Mann‹ entdeckt, […] dessen Favorit er war. Victoria wiederum habe in […] [Lord Corzon] ›die Frau ihres Lebens‹ gesehen.« Zitat von Kluge, Das fünfte Buch, S. 152. Ein Portrait von Franz von Lenbach 1902. Rechts: Abb. 2: Leberecht von Blücher »litt unter oder genoß drei Scheinschwangerschaften«. Zitat in der Bildunterschrift von Kluge, Chronik der Gefühle 1, S. 856. Screenshot: vergrößerter Ausschnitt aus dem Bild.
Lilo Wanders und Wa(h)re Liebe 1988. Im selben Jahr, in dem Kluge mit den dctp-Kulturmagazinen 10 vor 11 und Prime Time auf RTL und Sat1 »quasi unkündbar«60 im Medium Fernsehen auf Sendung ging, eröffnete Corny Littmann mit Ernst-Johann ›Ernie‹ Reinhardt (geb. 1955) die Travestie-Bühne »Schmidt Theater« auf der Hamburger Reeperbahn. Fernsehen und Boulevardtheater: zwei Kulturtechniken, die auf der Skala der bildungsbürgerlichen Qualitätsmedien eher weiter unten rangierten, aber zugleich eine breite Öffentlichkeit erreichten.61 Wer in diesen Unterhal59 Ebd., S. 852, FN 27. 60 Astrid Deuber-Mankowsky/Ciaco Schiesser, »In der Echtzeit der Gefühle. Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand (2009), S. 415–425, hier S. 422. 61 Zur Zirkulation des Mediums Fernsehen zwischen Qualitäts- und Bildungsanspruch und zum Trivialitätsstigma als ›Unterschichtenfernsehen‹ siehe Andrea Seier/Thomas Waitz (Hg.), Klassenproduktion. Fernsehen als Agentur des Sozialen, Münster 2014. Zur Analyse der
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tungssektoren mit Themen antreten will, welche die großen Krisen des 20. Jahrhunderts oder die Krisen queeren Lebens zum Gegenstand haben – Ernstfälle der Geschichte und Ernstfälle des Alltags62 –, muss sich bis zu einem gewissen Grad mit der Medienspezifik dieser Sektoren arrangieren und damit ›irgendwie umgehen‹, dass es abwertende Perspektiven auf derartige Formate ›an sich‹ gibt, vor allem im postfaschistischen, bildungsbürgerlichen und ›HoheKunst‹ präferierenden Lager, das über die Geschichte der Shoa und auch der ›rosa Winkel‹ lieber schweigt, als spricht. In der Rolle einer eloquenten DragQueen bleibt Reinhardt beharrlich den klassistisch abgewerteten ›populärkulturellen‹ Medien treu, sei es im Travestie-Theater, in einer YouTube-Videobotschaft, in einer Kinofilmkomödie oder in der ästhetischen Anverwandlung von Wanders fiktiver Autobiographie im Stile eines Trivialromans63 – und zwischendurch (für zehn Jahre und 545 Folgen) als Moderatorin einer Fernsehsendung: Reinhardt, der sich schon früh in seiner Biographie als schwul outete, schloss sich einer queeren Schauspiel-Gruppe an64 und entwickelte in den 80ern die Drag-Kunstfigur Lilo Wanders, die als Show-Host von 1994 bis 2004 im (an chronologisch dritter Stelle lizensierten65) Sendesegment von dctp auf VOX durch das Erotik-Magazin Wa(h)re Liebe führte. Wanders’ Sendung im Rahmen der von Kluge erwirkten Programmplätze im Fernsehen verweist schon in ihrem Titel auf eine Kongruenz mit Kluges Werken. Die ›wahre Liebe‹ und die ›Ware Liebe‹ in einem Begriff zu bündeln, lässt unzweideutig doppeldeutig an eine poetische Verschaltung von Themen wie Emotion und Sexualität mit Fragestellungen aus der Tradition des historischen Materialismus und der Kritischen Theorie denken. Das performative Konzept der blonden Kunstfigur ist einerseits merklich vom Starkult der Film- ›und‹ Kulturindustrie inspiriert und ausgewiesen an den Schauspielerinnen Evelyn Künneke und Marlene Dietrich studiert.66 Wanders rekurriert damit auf den Stereotyp der ›Diva‹ (Untertitel ihrer Biographie: Eine Diva plaudert sich um Kopf und Kragen67) und problematisiert diesen andererseits durch ostentative Verschiebungen: So wird sie von ihrem
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homo- und transphob motivierten, bürgerlich-negativen Bewertung von Drag und Travestie als Theaterpraxis von ›minderer Qualität‹ siehe Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M. 1991 (Orig. 1990), darin die Kapitel »Leibliche Einschreibungen, performative Subversionen« sowie »Von der Parodie zur Politik«, S. 190–218. Vgl. zu den Begriffen Krise und Ernstfall bei Kluge: Schulte, »Konstruktionen des Zusammenhangs«, sowie ders. »Cross-Mapping«. Siehe Lilo Wanders, Tja, meine Lieben. Eine Diva plaudert sich um Kopf und Kragen, Düsseldorf 1996. Vgl. Ernst Günther, Travestie. Die große Revue, Dresden 2009, S. 47. Vgl. Deuber-Mankowsky/Schiesser, »In der Echtzeit der Gefühle«, S. 422. Vgl. Günther, Travestie, S. 48. Wanders, Tja, meine Lieben.
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Publikum als »nicht gekünstelt, eher warmherzig-menschlich«68 wahrgenommen und beschrieben und unterminiert die selbst vorgenommene Kategorisierung als Diva durch Thesen wie »Ich glaub, ’ne Diva bin ich nicht. […] Diesem Anspruch kann ich nicht genügen.«69 Wanders, sich als alternd darstellend und oftmals auf den ersten Blick eher ›zugeknöpft‹ anmutend (wenn eher konservativ gekleidet), irritierte Konventionen der Wahrnehmung und Einschätzung im Erotik-Magazin mit ihrer offensiv sexpositiven Einstellung. Die reflexiv-intendierte Störung von bürgerlicher ›Damenhaftigkeit‹ durch das tabulose Sprechen über Sex, Fetisch und Pornografie offenbarte sich in Wa(h)re Liebe oft schon unmissverständlich in Wanders’ Anmoderation.70 Im Unterschied zu Beiträgen in Wissenssendungen und Nachmittagsmagazinen, die ebenfalls der Losung ›Let’s talk about Sex‹ folgen, war Wanders’ Programm allerdings nicht immer nur vergnügliches Infotainment, sondern stets von politischen, feministischen und queeren Aspekten und Diskursen durchtränkt, oder zumindest um solche ergänzt: So thematisierte Wa(h)re Liebe etwa repetitiv neben HIV und Verhütung auch titelgebend Sexarbeit. Fast leitmotivisch adjustierte Wanders zudem sexpositive Äußerungen kompromisslos mit der Konsensualitätsprämisse.71 Eine heteronormative Lesart der Besprechungen von Erotik wurde wiederum nicht nur durch den Drag-Charakter und die dezidierte Camp-Ästhetik des Studios erschwert (vgl. Abb. 3–6), sondern beispielsweise auch durch das Thematisieren von bisexuellen Neigungen von Studiogästen.72 Reinhardt wiederum verunmöglicht schon seit Langem den hie und da aufkommenden journalistischen Wunsch, seine Queerness einem definierbaren Label zuzuordnen. Die sexuelle Orientierung der Kunstfigur Wanders kann als heterosexuell inszeniert ›gelesen‹ werden. Reinhardt selbst ist mit einer Frau verheiratet, mit welcher er ihre gemeinsamen leiblichen Kinder und ein Pflegekind großzog. Zwischenzeitig gab er an, in einer polyamourösen Beziehung zu leben.73 Seine sexuelle Orientierung benennt er konstant als ›homosexuell‹ und verwirrt damit auf sehr queere Weise all jene, die sein Leben und Lieben als ›bisexuell‹ verrechnen möchten.74
68 Günther, Travestie, S. 49. 69 Lilo Wanders, eigene Homepage, http://www.lilowanders.de/lilos-welt/ (Stand: 17. 07. 2018). 70 Vgl. Kompilation auf YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=9bFPatWwXx8 (Stand: 17. 07. 2018). 71 Auch in ihrem literarischen Werk. Vgl. Wanders, »Wollust & Askese«. 72 Siehe hierzu das Gespräch mit einer Pornodarstellerin von 2004, https://www.youtube.com/ watch?v= F5kKbD4R7MQ (Stand: 17. 07. 2018). 73 Vgl. Günther, Travestie, S. 49. 74 Vgl. Anonymus, »Lilo erzählt von ihrer Brigitte«, in: queer.de, 2004, http://www.queer.de/de tail.php?article_id=1423 (Stand: 17. 07. 2018).
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Abb. 3–6: Screenshots aus der Sendung Wa(h)re Liebe, P: dctp, 2004, https://www.youtube.com/ watch?v=F5kKbD4R7MQ (Stand 15. 07. 2018).
Politiken der Wahrnehmung und queere Gefühle 1: »Ich sage niemals Mausi«75 Die erste von zwei 10 vor 11 Folgen mit Wanders, die im September 1997 ausgestrahlt wurden, besteht aus einem weitgehend halbnah gefilmten Dialog über Sexualität, Liebe und Erotik zwischen Kluge und Wanders, die an einem Tisch im Münchener Restaurant Rossini sitzen, sowie aus den typischen ZwischentitelSequenzen, die hier Textstellen aus dem biblischen Hohelied Salomo enthalten und mit Orchestermusik von Sergei Prokofjews Romeo und Julia unterlegt sind. Außerdem gibt es, begleitet von selbigem Soundtrack, drei kurze Plansequenzen, in denen Wanders in Nahaufnahme und variierenden Kostümen vor zugespieltem, filmhistorischem Material oder Theateraufführungsmitschnitten mit direktem Blick in die Kamera wortlos posiert. In einer weiteren Studioszene singt sie vor schwarzem Hintergrund das Lied Bobby76 in der Version von Rosita Serrano, welche im April desselben Jahres verstorben war. Als typologisch letzte Sequenz-Figur taucht noch eine Szene auf, in der Wanders am Tisch in der Maske sitzt und im Interview-Modus Kluges Fragen beantwortet. Die Dialog-Sequenzen im Restaurant beginnen mit einer kritischen Diskussion über sexualisierte und vergeschlechtlichte sprachliche Adressierungsweisen. Wanders geht hier, ebenso wie im alternativen Vorwort ihrer Biographie77 auf ihr regelmäßiges Beantworten von mitunter misogyner und homophober Sendungspost ein. Sie reagiere immer bemüht aufklärend, wenn ›Hass spricht‹78 und sieht es folglich auch als wichtig an, diskriminierende Adressierungen abzulehnen, die sich einschleichen, wenn ›Liebe spricht‹. Nicht ›Mausi‹ genannt werden zu wollen und nicht ›Fotze‹ hören zu wollen, seien Teile der selben anti75 Lilo Wanders zu Gast in Kluges Kulturmagazin: 10 vor 11. »Ich sage niemals Mausi. Lilo Wanders und das Hohe Lied Salomos«, 22. 09. 1997. 76 Komposition: Werner Kleine. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=9Cc1MxckKec (Stand: 17. 07. 2018). 77 Wanders, Tja, meine Lieben, S. 7–15. 78 Im selben Jahr erschien Judith Butlers englische Erstausgabe von Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 2016 (Orig. 1997).
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sexistischen Agenda. Kluge verweist dann ähnlich wie im Labyrinth auf die mangelnde ›Zärtlichkeit‹ die eigentlich die Derivate der Liebe (Dispositive der Sexualität) prägen sollte. Kluge betont, dass der eigene Mund (sprechen) und die eigenen Augen (ansehen) von einem Menschen weniger beachtet würden und fährt fort: »Ich seh’ meine Augen doch gar nicht als Kleinkind, während ich meine Geschlechtsteile doch fühle.« Wanders: »Ja, die Hände sind doch auch gerade so in praktischer Länge, nicht?« K.: »Also der Hand fehlt ja gar nicht die Zärtlichkeit. Aber der Sprache fehlt eigentlich der zärtliche Umgang, ja?« W.: »Ja. Man sollte dran arbeiten.«79
Ihr gemeinsames Zwischenfazit besteht einerseits in der mit den Gender Studies kompatiblen Annahme, dass Sprechen und Adressieren ganz grundsätzlich von sexuellen Dispositiven geprägt sind, und andererseits in einer negativen Bewertung der zeitgenössisch-dominanten Ausprägung von vergeschlechtlichtem Sprachgebrauch, der so ausfalle, dass ihm keine Realisierung eines ethischen Konzepts von zärtlichem Umgang inhärent sei. Damit leiten sie den Abschnitt ein, der im Zeichen der Historisierung steht: Ein großer geschichtlicher Sprung zum Hohelied Salomo, aus welchem Wanders zu lesen beginnt (vgl. Abb. 7).
Abb. 7, 8, 9–10: Screenshots aus der Sendung 10 vor 11. »Ich sage niemals Mausi. Lilo Wanders und das Hoh Lied Salomos«, 22. 09. 1997.
Das vielschichtig determinierte Verhältnis von LGBTIQ*-Personen zu christlichen Institutionen und Religion im Allgemeinen auszuführen, würde den Umfang des Texts sprengen. Daher soll hier nur festgehalten werden, dass das Bild einer queeren Person, die im Fernsehen Bibel-Interpretationen durchführt, wichtige Einschreibungen hat.80 Auch wenn die Geschichte der christlichen Diskriminierung von Queers in der Sendung nicht besprochen wird, ist sie als abwesende Anwesenheit thematisiert – allein durch die performative Aneignung von Bibelinterpretation durch eine Drag-Queen in der Öffentlichkeit generierenden Medialität des Fernsehens. Die allgemeine Relevanz des politischen Begriffs von ›Aneignung‹ wird im Weiteren unterstrichen, indem die beiden über die bestimmte Selbstbeschreibung der Protagonistin des Hohelieds als ›schwarze Frau‹ (vgl. Abb. 8) reflektieren und die Geschichte von schwarzen sowie femi79 Kluge und Wanders, in: »Ich sage niemals Mausi«, 05:05–05:46. 80 Das thematisiert auch Wanders autobiographisch in »Wollust & Askese«, S. 127.
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nistischen Politiken des Aneignens erinnern. Das Hauptthema in ihrer Analyse des explizit erotisch konnotierten Texts, sind dessen sprachliche Bilder und Metaphern gewaltfreier, respektvoller und zärtlicher Liebe (vgl. Abb. 9–10), nach deren Äquivalenten Kluge und Wanders die Gegenwart befragen. Zwischenbilanz hierbei: Während im Hohelied, menschliche Körper(teile) mit positiv konnotierter nicht-menschlicher Materialität verglichen werden, würden sich die Menschen heute mehr daran abarbeiten, über begehrte nicht-menschliche Materialität (Pirelli-Reifen) zu sprechen, und diese mit menschlichen Körper(teilen) zu vergleichen (Beine). Dorthin sei der Aufwand poetische Bilder zu produzieren migriert, während das Sprechen über menschliche Körper(teile), Geschlecht und Sexualität poetisch verarmt sei. Wobei dies nicht für die Musik zu gelten scheint. Der kontrastierende Einsatz der Ballett-Musik Romeo und Julia (Liebe!) und Wanders’ Performance ihres ›Lieblingsliedes‹ (Liebe!) verweisen scheinbar auf ein subversiv-zärtliches und queeres Potenzial von Musik und Gesang in Derivaten der Liebe (vgl. Abb. 11). In einer Erzählung über Proust schreibt Kluge vergleichsweise: »Der junge Bizet, später Taxiunternehmer, lehnte alle Avancen des jungen Marcel Proust, der 1923 starb, zu gleichgeschlechtlicher Betätigung ab. War er unmusikalisch?«81 Auch in den Plansequenzen (vgl. Abb. 12), in denen Wanders teilweise nur mit Minimalbewegungen der Mimik und der Kopfneigung posiert und die Zuschauer*innen direkt anblickt, entfaltet sich die Musik wie eine ›andere‹ Stimme, mit der Wanders spricht. Einmal erklärte Kluge diese Musikalisierung wie folgt: »Normales Fernsehen verwenden wir auch, etwa bei Interviews. Sowie wir aber montieren und Musik und Film zusammenbringen, verändern wir den Realismus der Bilder, und zwar verändern wir ihn um den Antirealismus des Gefühls.«82 Die Sinne ›Sehen und Hören‹ werden so in Kluges Inszenierung in einer Weise herausgefordert, die das Politische an den Wahrnehmungsprozessen erkennbar macht. Die kitschig-pathetisch anmutende Musikalisierung der Szenen verweist in Kombination mit Wanders’ teils schwermütig, teils erschöpft wirkendem Gesichtsausdruck (zieht ihre Augenbrauen hoch und zugleich die Augenlider nach unten) nicht nur auf die Figur der »melancholic drag«83 im Besonderen, sondern auf die Politisierung queerer, negativer Gefühle im Generellen.84 »Denn die Gefühle funktionieren anders«85 und queere mediale Atmosphären sind, in den Worten von Katrin Köppert, dazu in der Lage, zu vermitteln, »dass Sichtbarkeit 81 Alexander Kluge, »Zu dritt«, in: ders., Labyrinth, S. 433f., hier S. 434. 82 Alexander Kluge in Deuber-Mankowsky/Schiesser, »In der Echtzeit der Gefühle«, S. 418. 83 Judith Butler, »Critically Queer«, in: Donald E. Hall et al. (Hg.), The Routledge Queer Studies Reader, London 2013 (Orig. 1993), S. 18–31, hier S. 19. 84 Zur Politizität queerer Gefühle siehe, Käthe von Bose et al. (Hg.), I is for Impasse. Affektive Queerverbindungen in Theorie_Aktivismus_Kunst, Berlin 2015. 85 Alexander Kluge in Deuber-Mankowsky/Schiesser, »In der Echtzeit der Gefühle«, S. 425.
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neben Anerkennung auch Schmerz verwaltet.«86 Wenn Kluge schreibt »Menschen, die etwas nicht mehr aushalten, ertragen es noch lange«87, sind LGBTIQ*Menschen – und alle anderen diskriminierten Gruppen – mit hoher Wahrscheinlichkeit der Relevanz dieser Aussage schmerzlich gewahr. Sarah Ahmed schreibt, queeres Unbehagen sei ›nie endend‹ und zeichne sich dadurch aus, immer wieder von der Gesellschaft an das Unbehagen (gelinde gesagt) erinnert zu werden, indem etwa eine Frau* gefragt wird: »Do you have a boyfriend?«88 Das Thema der Abwesenheit von Zärtlichkeit in der Selbstverständlichkeit von Konventionen des Adressiert-Werdens haben Kluge und Wanders also nicht nur zu Beginn der Sendung dialogisch besprochen, sondern in den Plansequenzen in mediale Verfahren übersetzt und dadurch auch in einem audiovisuellen Äquivalent zum Dialog problematisiert.
Abb. 11, 12: Screenshots aus der Sendung 10 vor 11. »Ich sage niemals Mausi. Lilo Wanders und das Hohe Lied Salomos«, 22. 09. 1997.
Politiken der Wahrnehmung und queere Gefühle 2: »Wa(h)re Liebe im Fronteinsatz«89 Obwohl die »ZWEI«90 als Prinzip nicht glücklich macht, möchte ich den verbleibenden Platz für die Erwähnung eines zweiten Kulturmagazins, in dem 86 Katrin Köppert, »Touch of Concern. Queere Mikropolitiken affektiver Reproduktion bei GayRomeo und Grindr«, in: Andreas Heilmann et al. (Hg.), Wiesbaden 2015, S. 329–348, hier S. 345. 87 Alexander Kluge, zit. n. Christian Schulte, »Vorwort«, in: ders. (Hg.), Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 9–13, hier S. 13. 88 Sara Ahmed, »Queer Feelings«, in: Hall et al. (Hg.), Queer Studies Reader, S. 422–441, hier S. 424. 89 Dies ist der Titel eines Teilsegments innerhalb von Kluges Sendung NEWS AND STORIES. »Wa(h)re Liebe im 2. Weltkrieg. Doppelmagazin«, 10. 06. 2011. Die Ausschnitte entstammen zwei späteren Adaptionen des für die Sendung gedrehten Materials, deren Datierung unklar ist. Diese zwei Adaptionen sind auf der Webseite von dctp unter den Titeln »Als Astrologin im
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Wanders zu Gast bei Kluge war, ausschöpfen. Anders als in der obigen Analyse, tritt 2001 nicht ›nur‹ Wanders auf. Stattdessen begegnet die theatertheoretische ›Kunstfigur‹ in der Tradition des Comœdien-Stils91 in verschiedenen Rollen: Ernie Reinhardt als Lilo Wanders als Gräfin Orlowska 1944 im polnischen Widerstand bzw. als Theaterkünstlerin aus Sachsen im Soldatenkabarett bei Smolensk bzw. als ›Astrologin im 3. Reich‹ (vgl. Abb. 13-15).
Abb. 13–15: Screenshots aus einem späteren Neu-Arrangement der Sendung NEWS AND STORIES. »Wa(h)re Liebe im 2. Weltkrieg. Doppelmagazin«, Segment: »Wa(h)re Liebe im Fronteinsatz«, Orig. 10. 06. 2001. Siehe FN 89.
Queere Gefühle werden hier, ähnlich wie häufig bei Kluges schon zitierten literarischen Positionen, im Kontext des Zweiten Weltkriegs besprochen, worauf auch der dritte Titel des mehrteiligen Magazins verweist: »Wa(h)re Liebe im Fronteinsatz«. Wanders’ mathematisch doppelt dreifache Anverwandlung von Frauen* (Reinhardt mal Wanders mal X; X = Partisanin oder Schauspielerin oder Astrologin) mit je unterschiedlichen Verständnissen von Gender und Liebe innerhalb ›einer‹ Sendung fungiert als eine Maximierung der queer-theoretischen Idee von »disidentification«92. Den Zuseher*innen wird ganz figürlich verwehrt, Geschlecht und Begehren als ›natürlich‹ zu denken oder deren Kulminieren in einer Personalunion als sicheren Hafen, für die Verteidigung natürlicher, binärer Geschlechterordnung zu wähnen. Wenn Kluge dieser hegemonialen Problematik entsprechend an anderer Stelle von »Geschlechtlichkeit als Führungsmittel« schreibt, und dann hinzufügt »Homosexuelle Verbindungen machen Vernunftarbeit zunichte«93, ist das für diesen Zusammenhang ebenso erhellend, wie kompliziert: Erhellend, weil der Queerness eine Sabotage von normativen sex-gender-desire-Entwürfen zugesprochen wird. Kompliziert,
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Dritten Reich« und »100 Jahre SOS: Ware Liebe« zum Streaming bereitgestellt, http://maga zin.dctp.tv/2015/09/23/happy-birthday-lilo-wanders-wird-60/ (Stand: 17. 07. 2018). Kluge, »12. Ableitung der Vernunft«, S. 478. Vgl. Gerda Baumbach, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. 1. Schauspielstile, Leipzig 2012. Jos8 Esteban MuÇoz, Disidentifications. Queers of Color and the Performance of Politics, Minneapolis 1999. Alexander Kluge, »›Verschrottung durch Arbeit‹«, in: ders., Chronik der Gefühle 2, S. 101–127, hier S. 110.
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weil es implizit die Kritische Theorie auf den Plan ruft. In aller Kürze: Wir haben gelesen, dass Geschlechtlichkeit also ein ›Führungsmittel‹ ist und im Zeichen der ›Vernunftarbeit‹ stünde, die wiederum mit ›Homosexualität‹ nicht konform sei. Kluge zitiert in der Chronik der Gefühle Nietzsche: »Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte, diese ganze düstere Sache«.94 Und Kluge schreibt weiter, es sei eine wichtige »Eigenschaft der Liebe, nämlich der grundlegende UNGEHORSAM GEGEN DAS GESETZ, oft verdeckt durch Fesseln der Vernunft«.95 Jene ›düstere‹, zweckrationale Variante von ›Vernunft‹ wurde in der Kritischen Theorie problematisiert96 und hinsichtlich ihres Herstellens von (immer repressiven) stereotypisierenden Dichotomien kritisiert. Eine solche Dichotomie wähnt Kluge scheinbar auch in der heterosexuellen MännlichWeiblich-Ordnung. Queerness stellt für dieses Diktat der Norm also notwendig eine Herausforderung dar. Dazu Kluge: »Dies ist aber insofern ideologisch, als es heißen muß:« – statt Kampf der Geschlechter – »Kampf wegen der verrückten Regeln, die die Geschlechterverhältnisse leiten.«97 Wanders’ und Kluges Zersetzung der ›verrückten Regeln‹ begegnet im »Fronteinsatz« als eine Butler’sche ›melancholische Drag‹ und wird zur Anwältin der Disidentifikation, durchmischt mit bunten Materialzuspielungen, die Farbe jenseits von Chromophobie oder Chromophilie als queeres Politikum betonen.98 Auch Schulte verweist auf Kluges »Formenvielfalt«, die dem Umstand entspreche, dass »die komplexe Wirklichkeit dieses Jahrhunderts sich jedem identifizierenden Zugriff entzieht«99 und deshalb dem Entwurf »einer personalen Identität«100 eine Absage erteile. Der anti-identifizierende Anspruch der me94 Alexander Kluge, »Die Erzählung von Gilgamesch«, in: ders., Chronik der Gefühle 1, S. 292–301, hier S. 295. 95 Ebd., S. 296. 96 Gemeint ist die ›instrumentelle Vernunft‹, die Horkheimer/Adorno sehr radikal theoretisierten. Birgit Sandkaulen paraphrasiert diese innere Problematik der instrumentellen Vernunft, welche die Autoren markieren wie folgt: »Die Grundoperation eines solchen [im Zeichen fortschreitender instrumenteller Vernunft] auf Berechenbarkeit zielenden Denkens ist die gewaltsame Herstellung von Identität, die durch Abstraktion, Formalisierung und systematische Vereinheitlichung gekennzeichnet ist«. Sandkaulen, »Begriff der Aufklärung«, in: Gunnar Hindrichs (Hg.), Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Berlin/Boston 2017, S. 5–21, hier S. 10. 97 Alexander Kluge, »Die Wurzel der Radikalität«, in: ders., Chronik der Gefühle 1, S. 886ff., hier S. 886, FN. 98 David Batchelor argumentiert, dass der Zugang zu Farbe in der westlichen Kunst- und Mediengeschichte anhaltend von farbpessimistischen Konjunkturen geprägt ist, weil eine starke Präsenz von Farbe entweder als oberflächlich und trivial wahrgenommen wird, und/ oder als »the property of some ›foreign‹ body – usually the feminine, the oriental, the primitive, the infantile, the vulgar, the queer or the pathological.« Batchelor, Chromophobia, London 2000, S. 22f. Siehe hierzu auch den Beitrag von Vanessa Scharrer in diesem Band. 99 Schulte, »Konstruktionen des Zusammenhangs«, S. 57. 100 Ebd., S. 74.
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dialen Verfahren Kluges (Montage, Farbe, Musik etc.) wird sodann nicht einfach zufällig, sondern merklich absichtsvoll und reflexiv mit Wanders’ geschlechtlicher Disidentifikation produktiv verschaltet. Entsprechend Kluges suspendierender Diskussion von Lord und Lady Curzon, die uns darauf aufmerksam machen würden, dass »Geschlecht […] ein Kostüm [sei]«.101 Ich hoffe gezeigt haben zu können, dass Kluges Arbeiten mehr Anschlüsse an queerfeministisches Denken anbieten, als vielleicht bisher vermutet. So verbleibt mein Schlusswort beim vorausgeschickten Gedanken des Prolegomenons, hängt aber noch zwei wichtige Gedanken an. Erstens: Lilo Wanders lebt! Der Stil meiner historischen Rückblende mag möglicherweise veruneindeutigt haben, dass sie auch derzeit aktiv ist und öffentlich als anti-rassistische, queere MedienProminenz auftritt – auch als eine der ersten, die im beginnenden langen Sommer der Migration 2015 zur Solidarität mit Geflüchteten aufgerufen haben.102 Zweitens: Im Laufe des Schreibens habe ich peinlich berührt realisiert, dass der in der Einleitung geäußerte queere Vorschlag an die feministische Kluge-Rezeption beinahe anti-feministisch ist. Dieses Problem möchte ich, ohne es nachträglich zu kaschieren, hier ausweisen. Es soll nicht Sinn einer queerfeministischen Studie sein, diejenigen (die wenigen), die mit einem feministischen Anspruch das Œuvre eines Autors problematisiert haben, zur ›Weiterbildung‹ zu ermutigen, während ich im selben Zug das Privileg nutze, mir einen Platz in einem Publikationsforum zu verschaffen, in dem auch andere schreiben, die – so streng das klingen mag – vielleicht von keinen feministischen Motivationen in ihren Besprechungen von Kluges Schaffen geleitet sind. Deshalb: Ich revidiere, dass mein Beitrag eine Auffrischung von ›Gender‹ bei Kluge ›für‹ Feminist*innen sein soll. Stattdessen empfehle ich ›allen‹, die zu Kluges Œuvre gerne schreiben und forschen, den in der Einleitung formulierten ›queeren Blick‹ – und freue mich über die Transkription des Kluge-Wanders-Gesprächs in diesem Band!
101 Alexander Kluge, »Eine Romanskizze von Klaus Mann«, S. 152. 102 Vgl. YouTube-Clip, Lilo Wanders, »Gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus«, https://www.youtube.com/watch?v=VW9 h_arMR9c (Stand: 18. 07. 2018).
DCTP – Ten to Eleven vom 22. September 1997 (RTL) (Kluge / Wanders)
»Ich sage niemals Mausi« – Lilo Wanders und das Hohelied Salomos
Mit 150 Quotenhits gehört Wa(h)re Liebe zu den Bestsellern im Privatfernsehen / Lilo WANDERS, STAR von Wa(h)re Liebe, zu Gast im KULTURMAGAZIN / Die Schauspielerin beklagt GROBHEIT DES SPRACHLICHEN AUSDRUCKS, sobald es um EROTIK geht / Zärtliche Texte dagegen, sagt sie, enthält das HOHELIED SALOMOS im Alten Testament — Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt / Ich suchte, aber ich fand ihn nicht / Ich will aufstehen und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebt / Ich suchte; aber ich fand ihn nicht / Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umgehen: »Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt?« Da ich ein wenig an ihnen vorüber war, da fand ich, den meine Seele liebt / Ich halte ihn und will ihn nicht lassen, bis ich ihn bringe in meiner Mutter Haus, in die Kammer der, die mich geboren hat / Kap. 3, 1.–4./
LILO WANDERS: Stellen Sie sich vor, neulich habe ich tatsächlich einen Brief von einem Mann gekriegt, der schrieb mir ganz ernsthaft: »Wie schreibt man das Wort »Fotze«? Mit »V« oder mit »F«?« Ich glaube, der hat nicht erwartet, dass ich ihn ernst nehme, und ich habe ihn ernst genommen… ALEXANDER KLUGE: … geantwortet. WANDERS: Ich habe geantwortet und gesagt, dass ich nachgeschlagen habe. Man schreibt es mit »F«. Es hat im Wortstamm mit »faul« zu tun, also »verfault«.
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Ich habe ihm dann geschrieben, dass ich mit diesem Wissen, dieses Wort an seiner Stelle nicht mehr benutzen würde. KLUGE: … in Grimms Wörterbuch nachgeguckt… WANDERS: Ja, ich habe nachgeguckt. Ich beantworte im Grunde fast jeden Brief. Bei manchen Briefen dauert es auch mal länger, aber bei so etwas antworte ich auch sofort, weil es quasi in mir gärt. Ich denke dann, wie kann ein Mann auf die Idee kommen, mit seinem Freund darüber zu wetten, wie man dieses Wort schreibt. Ich finde das hanebüchen. Mir fehlen da eigentlich die Worte, aber ich nehme ihn ernst. KLUGE: Welche Ausdrücke wären dafür eigentlich poetisch? WANDERS: Das ist ganz schwierig. Diese Frage wird mir ganz oft gestellt. KLUGE: Also die Maler haben sich stark damit beschäftigt und sehr schöne weibliche Geschlechtsteile geschaffen. WANDERS: Ja, da fällt es vielleicht leichter. KLUGE: Und der Penis von Michelangelos David ist doch recht zierlich. WANDERS: Der ist gerade, ja, es darf natürlich auch nicht zu potent wirken, weil man nicht darauf hinweisen möchte. KLUGE: Er hat hübsche Locken. Er wäre als Haupt eines Menschen oder eines Außerirdischen eine hübsche Version. WANDERS: Jetzt kommen wir wieder von Hölzchen auf Stöckchen. KLUGE: Nein, aber sagen Sie mal, was würden Sie für Ausdrücke nehmen? WANDERS: Also ich benutze all diese Worte, auch in der Sendung. Ich sage zum männlichen Geschlechtsteil »Schwanz« und habe kein Problem damit. Wenn ich es etwas weniger ernst meine, sage ich »Pimmel«, wenn jemand mir einen Brief geschrieben hat oder was auch immer. Wenn es rein klinisch wird, sage ich »Penis« und… KLUGE: … »Glied«. WANDERS: … »Glied«, ist ein bisschen fern. Das liegt nicht so in meinem Sprachgebrauch. Für das weibliche Geschlechtsteil sage ich eigentlich »Möse«, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Das Wort ist nicht so besetzt wie dieses andere mit »F«, was ich wirklich schrecklich und herabwürdigend finde. KLUGE: Aber wenn Sie so ein Wort nehmen wie »Mund« oder »Augen« oder »Strahle-Augen« oder so was, oder »er hat Augen«… Wäre nicht der Augen Sonnenglanz. Man kann doch eigentlich ganz schwer sagen, was der Mensch von Anfang an viel mehr beachtet. Als Kleinkind sehe ich meine Augen doch gar nicht, während ich meine Geschlechtsteile doch fühle. WANDERS: Na, die Hände sind auch so gerade in praktischer Länge. Das ist phänomenal. KLUGE: Also der Hand fehlt gar nicht die Zärtlichkeit, aber der Sprache fehlt eigentlich der zärtliche Umgang. WANDERS: Ja, man sollte daran arbeiten.
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Das Hohelied Salomon ca. 300 v. Chr. Seine Linke liegt unter meinem Haupte, und seine Rechte herzt mich / Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Rehen oder bei den Hinden auf dem Felde, dass ihr meine Freundin nicht aufweckt noch regt, bis es ihr selbst gefällt / Kap. 2, 6.–7./
Lilo WANDERS’ Lieblingslied WANDERS (singt): Du bist ja noch ein Junge, Bobby. Du bist noch viel zu klein. Ein lieber großer Junge, Bobby, es darf nicht sein. Ich komme ja mal wieder, Bobby. Vielleicht noch nicht so bald. Das Glück geht auf und nieder, Bobby. Vielleicht bin ich dann alt. Sollst dich wie ein Mann benehmen, auch ein Junge ist ein Mann. Ich will deiner mich nicht schämen, wenn ich komme dann. Dadidadadadamm… WANDERS: Ja, man sollte daran arbeiten. Oder man sollte die Worte, die mit so einem »Äh Bäh« belegt sind, enttabuisieren, so wie es die Schwarzen in Amerika getan haben, die dann das Wort »Black« benutzt haben, das abwertend gemeint war… KLUGE: Denn sehen Sie mal »Po«. Das ist ein verniedlichender Ausdruck. Der kommt irgendwie aus der Kinderzeit. WANDERS: Ja, »Popo«… KLUGE: … oder »Popo«. »Arsch« ist ein zu etwas heftiger Erwachsenen-Ausdruck. WANDERS: … das ist deftig, ja. KLUGE: … ist deftig. Und dazwischen, wo gibt es da einen Ausdruck? WANDERS: Nur »Hintern«, sonst auch nichts.
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KLUGE: Ja, aber »Hintern« ist eine Ortsbezeichnung. Also es wäre eigentlich ein absoluter Bedarf. Also die… WANDERS: Aber es wird nicht gelingen, da Kunstwörter herzustellen. KLUGE: Nein, bestimmt nicht. WANDERS: Vielleicht sollte man mal die Zuschauer befragen. Die sollen Vorschläge schicken. KLUGE: Wie ist das im Englischen? WANDERS: Da gilt im Grunde das Gleiche. KLUGE: … das Gleiche. Was ist zu den Brüsten noch zu sagen? WANDERS: Na, Brüste sind irgendwie in der heutigen Zeit enttabuisiert, weil ewig darüber geredet wird, ob sie nun zu groß oder zu klein sind und ob da irgendjemand daran rum geschnippelt oder sie mit Silikon aufgepolstert hat. Es ist völlig versachlicht. Sie sind nur noch ein Symbol für etwas, was früher mal erregend war und zur Zärtlichkeit gehörte. KLUGE: Das Getaste und Gesuche eines Säuglings kommt in der Sprache nicht vor. WANDERS: Also wir kriegen die Brüste in jeder Illustrierten um die Ohren gehauen und es ist nur noch ein Teil des Wert-Maßstabs, der an eine Frau gelegt wird. KLUGE: Haben Sie schon mal gesehen, wie ein Kind sich hin- und herbewegt wie ein Rabe. Die Bewegungen sind offenbar instinktgeleitet und sorgen dafür, dass diese Brustwarze direkt in den Mund kommt.
KOSE-NAMEN: »Mausi kommt mir nicht über die Lippen« WANDERS: Ich verballhorne die Namen. Das tue ich. Ich mache daraus Koseformen. KLUGE: Also »Mon chou«, also mein »Kohlkopf«, nicht? WANDERS: Nein. Oder »Hase«, da käme ich mir lächerlich vor. Dann würde ich mich totlachen. Nein, so will ich auch selber nicht genannt werden. Oder »Bärchen« oder so was oder… »Mausi«. (Lacht) KLUGE: Aber den Namen könnten Sie irgendwie… WANDERS: … den Namen würde ich… Das tue ich auch tatsächlich, dass ich Namen in einer weicheren Form zur Koseform mache. KLUGE: So summend oder brummend oder so, das kann man schon? Also die Tonlage kann man schon zärtlich anpassen. WANDERS: Also, wenn man zum Beispiel »Jakob« nimmt. Daraus würde ich ein »Kobi« machen. Oder aus »Johannes« würde ich einen »Hanni« machen. Ich meine aber nicht »Honey«, wie das Englische für »Honig«, sondern die Koseform. Das liegt mir.
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KLUGE: Was könnten Menschen von Ihnen als Auskunft bekommen, wenn sie schriftlich fragen: »Wie äußere ich mich, wenn ich meinen Freund oder Mann oder Frau zum Beischlaf veranlassen will?« Welche Aufforderung wäre akzeptabel? WANDERS: Beim allerersten Mal wohl nicht, oder? KLUGE: Ja, das wird möglicherweise auch nicht verbal sein. WANDERS: Ich glaube, im Geschlechtsleben bilden sich Rituale und sei es nur, dass… KLUGE: … die mehr auf Zeichensprache beruhen? WANDERS: … also eher nonverbal. Es wird nicht heißen: »Heute Abend habe ich Lust auf dich«. Sondern es mag sein, dass der- oder diejenige dann, weiß ich nicht, eine Duftkerze anzündet, weil sie beim letzten Mal auch gebrannt hat. Oder einen Joint auf den Tisch legt und damit ist gesagt: »Wir werden uns heute einen erotischen Abend mit anschließend Pralinen machen.« Also so in der Art. Ich denke mal, das läuft nonverbal ab.
Liebe WANDERS: Wir reden uns doch alle zu Tode. Es geht über das Reden hinaus, und wir geraten dann in einen Bereich, der mit Sprache nichts mehr zu tun haben soll. KLUGE: Und die Schätze der Sprache sind hier also unter anderem in der Schatzkiste verwahrt. Wenn Sie mir hier noch mal ein Stück aus dem »Hohelied« vorlesen. WANDERS: Ja. Jetzt habe ich hier also das »Hohelied Salomo« vor mir, und man kennt Versatzstücke. KLUGE: Was liest man da? WANDERS: »Fanget uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verderben, denn unsere Weinberge haben Blüten gewonnen.« Darüber kann man lange nachdenken. Aber was mir da auffällt, ist, »die kleinen Füchse«, das ist doch eigentlich ein Wort für »Geld«. Ja, die kleinen Goldmünzen. Da gibt es einen Film mit Bette Davis, in dem sie eine ganz harte Frau spielt. Ich glaube, es ist ein Film von William Wyler aus den 1940er-Jahren. Da hat sie, glaube ich, auch ihren einzigen Oscar für gekriegt. Wusste ich nicht, dass das hier herkommt. Man sollte öfter mal in die Bibel schauen. Da unten geht es weiter. Das kenne ich natürlich: »Des Nachts auf meinem Lager suchte ich den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Ich will aufstehen und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Straßen und suchen den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht.« Tja. KLUGE: Das ist aber nicht Christus, das ist das Alte Testament.
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WANDERS: Das ist das Alte Testament. Und da fällt mir dann ein: »Immer warten die, die wirklich lieben«. Das ist ein Zarah-Leander-Zitat. »Und immer warten die, die wirklich lieben«. Ja, und wir sind alle immer auf der Suche nach der Seele, die uns liebt. KLUGE: Also, ich stehe um sieben Uhr da, und warte auf dich. Das ist… WANDERS: Das ist im Grunde auch noch mal das Gleiche. Fanget uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verderben; denn unsere Weinberge haben Blüten gewonnen / Kap. 2, 15./
KLUGE: »Siehe Freundin, du bist schön«. WANDERS: Ja, »siehe, schön bist du«. Und jetzt kommt etwas, was früher, vor hundert Jahren, wahrscheinlich als unglaublich obszön galt. »Deine Augen sind wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen, dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herabsteigen vom Gebirge Gilead. Deine Zähne sind wie eine Herde Schafe mit beschnittener Wolle, die aus der Schwemme kommen, die allzumal Zwillinge haben und es fehlt keiner unter ihnen.« Nein, das ist eigentlich… Das ist alles… Nein, ich dachte jetzt, die Zwillinge, die sich auf die Brust… Hier kommt es: »Deine Brüste sind wie zwei junge Reh-Zwillinge, die unter den Rosen weiden.« Das sind wunderschöne Bilder, Bilder aus dieser Zeit natürlich. Wie würden die heute aussehen? »Deine Brüste sind wie…« KLUGE: … »Zwillinge«… WANDERS: Was würde man heute sagen? KLUGE: … »die unter Rosen weiden« oder wie war das? WANDERS: Ja, wie »Reh-Zwillinge«. Deine Brüste sind wie zwei… ich weiß nicht. Was würden Sie sagen? KLUGE: Ja, aber was kann man von Brüsten sagen? Also sie sind doch meist bedeckt. WANDERS: Nein, ich suche nach einem Bild für heute. Da wird man nicht unbedingt sagen, wie zwei »Cabriolets« oder so was, aber das ist auch nicht schlecht. Findet man heute noch Bilder für solche… KLUGE: Mit Sicherheit. Also ich meine, Designer würden eher »Cabriolets« sagen. Zwei Cabriolets sind Werte von zwei Brüsten. Aber wie würde man das ausdrücken? Was würde man von Brüsten sagen? Also wir nehmen Gegenstände und würden sie vergleichen, wenn es Pirelli-Reifen sind mit den Fuchs-Fesseln… WANDERS: … mit Beinen. KLUGE: … mit Beinen. Wir würden also Menschen… Sachen wie Menschen bedichten.
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WANDERS: Und hier ist es umgekehrt. KLUGE: Ja, weil es doch Prinzessinnen sind. Also ich meine, wie die Königin von Saba, ein ganz wertvolles Objekt, die bringt nicht nur, dass man mit ihr beischlafen kann, sondern die bringt ein Reich. WANDERS: Ja, und sie war schwarz. Sie war pechschwarz. »Ich bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems«. Da kommt eine Menge Selbstsicherheit. KLUGE: Ja, sie hat das stärkere Reich. WANDERS: »Seht mich nicht an, dass ich so schwarz bin, denn die Sonne hat mich verbrannt. Meiner Mutter Kinder zürnen mit mir, sie haben mich zur Hüterin der Weinberge gesetzt, aber meinen eigenen Weinberg habe ich nicht behütet«. Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen / Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herabsteigen vom Gebirge Gilead / Deine Zähne sind wie eine Herde Schafe mit beschnittener Wolle, die aus der Schwemme kommen, die allzumal Zwillinge haben, und es fehlt keiner unter ihnen / Deine Lippen sind wie eine scharlachfarbene Schnur und deine Rede lieblich / Kap. 4, 1.–3./ Ich bin schwarz, aber gar lieblich / Sehet mich nicht an, dass ich so schwarz bin; denn die Sonne hat mich so verbrannt / Kap. 1, 5.–6./
WANDERS: »Er erquickt mich mit Blumen und labt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe. Seine Linke liegt unter meinem Haupte und seine Rechte herzt mich.« Schön. KLUGE: Weil das Wort »herzt mich« irgendwie »herze mich« ist. Ein schöner Ausdruck, den habe ich tatsächlich noch nicht gehört. WANDERS: »Herzen« und »kosen«, doch, das… KLUGE: Das kann man schon sagen. Aber ich meine, »meine Linke herzt mich«, das wird sie irgendwie konkret meinen. WANDERS: Na ja, das ist doch nun ein altes Problem. KLUGE: Wie herzt eine Linke? Was macht sie? WANDERS: Nein, das ist die Rechte, die ihn herzt. Aber das heißt einfach, die Linke liegt unter dem Kopf, weil, wenn man zu zweit im Bette liegt, ist immer ein
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Arm zu viel. Vor vielen Jahren habe ich mal in einer Fernsehsendung einen Erfinder gesehen, der ein Bett vorstellte, das genau in der Mitte des Bettes ein großes Loch hatte, durch das einer von beiden den Arm stecken konnte, damit es irgendwie zusammen ging. KLUGE: Das muss der Vertreter, der das Bett verkaufen soll, erklären. WANDERS: Ja, wahrscheinlich erklären und demonstrieren. KLUGE: Das finde ich interessant. WANDERS: … finde ich gut. Soweit ich weiß, ist es nicht in die Produktion gegangen. KLUGE: Zum Abschluss jetzt noch eine weitere Quelle aus dem Buch des lieben Gottes. WANDERS: »Siehe, meine Freundin, du bist schön, schön bist du. Deine Augen sind wie Taubenaugen. Siehe, mein Freund, du bist schön und lieblich. Unser Bett grünt, unsere Häuserbalken sind Zedern, unsere Getäfel Zypressen.« KLUGE: Was assoziieren Sie jetzt mit »Taube«? WANDERS: Luftratten. KLUGE: Gefährliche Tiere, aggressive Tiere? WANDERS: Nein, aber dumme Tiere, die vor allen Dingen alles vollscheißen, und die wie die Ratten sich um alles reißen. Also unsere Bilder sind heute anders. KLUGE: Das ist eine Toleranzleistung, aber wenn Sie es hier jetzt liebevoll vorlesen, unter den Bedingungen des Alten Testaments, würden Sie sagen, also wenn der meint, er muss es damit vergleichen… WANDERS: Ist in Ordnung. Aber Zedern und Zypressen finde ich schön, weil ich weiß, dass die beide einen bestimmten Duft haben. KLUGE: … und die Gipfel des Libanon besiedeln… jetzt nicht mehr da. WANDERS: … Ja, nicht mehr da. Leider. Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen / Siehe, mein Freund, du bist schön und lieblich / Unser Bett grünt / Kap. 1, 7., 15.–16./
KLUGE: Wie verhält sich ein Mensch? Wie geht es zwischen den Wünschen, der Spontaneität, der Sofortigkeit und der Libido, die ohne Weitsicht ist, im Menschen vor? Gleichzeitig ist sie fähig alles abzubilden in der Welt, auch die Zukunft. Und etwas zu bauen. WANDERS: Na ja, wenn Sie mich schon so festnageln. Ich war in so einer Situation, aber ich habe sie limitiert. Ich habe gesagt, ohne die Hoffnung der
»Ich sage niemals Mausi« – Lilo Wanders und das Hohelied Salomos
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Erfüllung, und damit ist eben dann tatsächlich die Sexualität gemeint, dass es irgendwann passieren könnte, muss ich aufgeben, weil, weder meine Liebe noch meine Energie groß genug dafür ist und meine Lebenszeit zu knapp. Ich will dann lieber bereit und offen sein für eine andere Geschichte. Ich gebe etwas, aber ich will das Ende bzw. die Erfüllung, auch zumindest als Belohnung irgendwann in Aussicht haben. KLUGE: … in Aussicht haben. Und kam die Belohnung? WANDERS: Ja. KLUGE: Wenn Sie noch mal auf das Stichwort »Ware«, also diesmal ohne »h«, zurückkommen. Es ist doch eigentlich seltsam, dass das Wertvollste, was der Mensch will und haben kann, nicht zu kaufen ist. Oder gibt es Beispiele dafür, dass man es kaufen kann? WANDERS: Manche Menschen glauben tatsächlich, dass die Sexualität, die Erfüllung der Sexualität, das höchste Gut ist. Sie sind dann auch bereit, dafür zu bezahlen, und es findet sich eigentlich immer jemand, der sich dafür bezahlen lässt und der das Risiko eingeht. KLUGE: Und in einer komischen Konvention muss er immer diese Ware schäbig machen, bevor er sie an den Mann bringt. Das ist wenigstens eine kollektive Gewohnheit. WANDERS: Ich sage jetzt vielleicht etwas Ketzerisches. Es gibt ein paar Menschen, die das voller Freude tun und die es nicht schmutzig machen. Ich habe im Laufe der Sendung auch hin und wieder Prostituierte getroffen, die es aus vollem Herzen machen, die es voller Freude wollen. Ich bin da etwas misstrauisch, weil ich es mir nicht vorstellen kann. Aber ich muss es dann auch irgendwann glauben, wenn da jemand sitzt, meistens sind es Frauen, und sagt, »es macht mir Spaß«, »es macht mich glücklich«. Da erinnere ich mich an eine, die war nicht mehr jung, aber immer noch sehr begehrt und hat sich gerne prostituiert. Ich habe ihr das abgenommen. KLUGE: Wenn ein guter Theaterintendant seinem Publikum das Beste zuwendet, wenn ein guter Gastwirt sich freut, wenn die Gäste sich freuen, dann ist das eigentlich etwas ganz Lebendiges, eine Ware an den Mann zu bringen. Das hier ist doch noch handwerklicher als jedes Handwerk nur sein kann. Das ist Handwerk im konkretesten Sinne. WANDERS: Ich will das nicht hoch hängen, also ich will nicht so tun, als ob es nun wirklich das Schönste überhaupt ist, weil ich einfach viel zu… KLUGE: Das ist eine normale Handwerklichkeit. WANDERS: … viele Menschen gesehen habe, die durch Dummheit oder Verführung oder Abhängigkeit oder was auch immer in die Situation geraten sind, sich, ihren Körper zu prostituieren, nicht wieder rausgekommen sind, darunter leiden mussten und daran kaputt gehen. Da will ich also nicht das Wort reden, dass das nun das Erstrebenswerte ist. Aber ich kann mir durchaus vorstellen,
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dass das jemand tut. Ich meine, wenn wir vielleicht eine leichte parallel verschobene Geschichte nehmen: Ein Schauspieler auf der Bühne äußert seine intimsten Gefühle, weil es nur dann wahr ist. Dann erreicht es den Zuschauer im Herzen. Und er muss es mit Liebe tun. ICH SAGE NIEMALS MAUSI / Lilo WANDERS aus dem Rossini, München
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»Il faut beaucoup aimer les hommes. Beaucoup les aimer pour les aimer. Sans cela, ce n’est pas possible, on ne peut pas les supporter.« Marguerite Duras1 »Hoffentlich kommt die Zeit, sie ist ja Gott sei Dank in gewissen Kreisen schon da, wo die Sprache da am besten gebraucht wird, wo sie am tüchtigsten missbraucht wird. Da wir sie so mit einem Male nicht ausschalten können, wollen wir wenigstens nichts versäumen, was zu deren Verruf beitragen mag. Ein Loch nach dem anderen in ihr zu bohren, bis das Dahinterkauernde, sei es etwas oder nichts, durchzusickern anfängt – ich kann mir für den heutigen Schriftsteller kein höheres Ziel vorstellen.« Samuel Beckett2
Ein Loch nach dem anderen bohren »Wir haben die amerikanischen Filme geliebt, bevor wir sie bei uns im Kino sehen konnten, wir haben also das amerikanische Kino blind geliebt«, antwortet Jean-Luc Godard seinem Gesprächspartner Alexander Kluge auf die Frage, was denn blinde Liebe sei.3 Godard ist dafür bekannt, dass er so gut wie nie auf die Fragen antwortet, die man ihm stellt. Das heißt nicht, dass er nicht antwortet, sondern immer leicht daneben, nach dem Motto: »Wenn Sie mich richtig verstanden haben, habe ich mich wohl schlecht ausgedrückt.«4 Allerdings hat es Godard hier nicht mit einem Journalisten und Standardfragen zu tun, sondern mit einem nahezu gleichaltrigen Kollegen und Experten in den verwickelten 1 Marguerite Duras, La vie mat8rielle, Paris, 1987, S. 47. »Man muss die Männer sehr lieben. Sehr lieben, um sie lieben zu können. Sonst ist es nicht möglich, sonst kann man sie nicht ertragen.« Ich widme dieses Zitat Gretel Adorno. 2 Samuel Beckett, The letters of… (1929–1940), Edit. by Martha Dow Fehsenfeld & Lois More Overbeck, Cambridge University Press, 2009, S. 513f. 3 »Was ist blinde Liebe?«, 10vor11, Jean-Luc Godard im Gespräch mit Alexander Kluge, verfügbar unter : http://www.dctp.tv/filme/blinde-liebe-french/ [11. 10. 2017]. 4 Vgl. Pressekonferenz in Cannes 2004.
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Fragen der Liebe. Ebenso verwickelt stellt sich das Gespräch zwischen den beiden dar. Auf Godards Nichtantworten reagiert Kluge mit unerwarteten Fragen. Die immer leicht daneben liegenden Übersetzungen der Dolmetscherin bringen zusätzliche Dynamik und Lücken. So springen wir ständig ein wenig auf die Seite, neben die Liebe, so blind wie das Thema oder wie die von Kluge für Godard ausgesuchten Dokumente, z. B. die Abbildung eines blinden Lastwagenfahrers5 mit seinem helfenden Sohn oder eine Kartographie des Königsreichs der Liebe6. Godard antwortet ausweichend und amüsiert. Um die Kartographie zu erklären, brauche er mindestens zwei Jahre, und die Geschichte mit dem blinden Lastwagenfahrer, dem der Sohn aus Vaterliebe hilft, sei sehr schön, das sollte man verfilmen. Doch Kluge hat vorgebaut. Der von ihm montierte Vorspann nimmt Antworten vorweg bzw. lässt sie im Hintergrund weiter klingen. So haben wir noch im Ohr, was Marianne aus 11 Uhr nachts (Pierrot le fou) zu Fotos äußert. Man wisse ja nie, was die darauf abgebildeten Menschen denken und das Leben sei leider kein Roman. Was denken also der blinde Vater und sein Sohn im Lastwagen? Kluge zeigt Godard das Foto, verdichtet die Blindheit des Vaters und die Hilfe des Sohnes zu einem »Drama unserer Zeit«7, resümiert aber leicht anders, was er selbst als Legende des Fotos in seiner Chronik hat abdrucken lassen: »Ein halbes Jahr lang fuhr der blinde Mirko Wischke in der Zeit der Arbeitslosigkeit seinen Lastwagen mit Hilfe seines Sohnes. Das Vertrauen, das beide verbindet, kann man Liebe nennen.«8Godard hat vielleicht die beiden anderen Abbildungen auf der aufgeschlagenen Buchseite gesehen. Wenn wir das Buch aufschlagen, sehen wir auf der gegenüberliegenden Seite eine Mutter, die ihr Kind retten will, was ihr auch gelingt. Sie selbst wird allerdings von dem außer Kontrolle geratenen Traktor überrollt und stirbt, wie wir aus der Legende erfahren. Die darüberstehende Abbildung zeigt, wie ein Kind vor einem heranrollenden Zug von seiner Hündin Dora gerettet wird. Alle drei Abbildungen sind auch durch Formen der Liebe miteinander verschränkt, Mutterliebe, Tierliebe und schließlich das verbindende Vertrauen zwischen Vater und Sohn, dass »man Liebe nennen [kann].« Godard stellt allerdings keine Frage dazu, und nur der neugierige Klugeleser kann wissen, was sich sonst noch auf der vorgelegten Buchseite befindet, denn das gefilmte Interview zeigt uns nur eine Großaufnahme des blinden Vaters mit seinem Kind, ohne Legende. Godard erinnert die Abbildung an seine Jugend. Als 5 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle – Basisgeschichten, Frankfurt/M. 2000, S. 963. 6 Ein französischer Holzschnitt, entweder inspiriert oder als Illustration gedacht zum Sittentraktat von FranÅois H8delin d’Aubignac, Histoire du temps, ou Relation du Royaume de Coquetterie. Extraitte du dernier voyage des Holandois aux Indes du Levant, 1654. 7 Titel der Geschichte, die den Abbildungen vorangestellt ist, Alexander Kluge, Chronik der Gefühle – Basisgeschichten, S. 960. 8 Ebd., S. 962f.
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Goetheleser hat er sofort den Erlkönig im Kopf: »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind….« Vielleicht ist aber des Vaters Todesritt von den uns aus dem Interview nicht bekannten Abbildungen inspiriert. Abgesehen davon, dass man noch den gemeinsamen Ritt als eine wenn auch umgekehrte Analogie sehen kann – denn hier ist ja der Vater vom Sohn abhängig –, ist es die einzige Abbildung auf dieser Seite, in der es nicht um Tod geht. Also reine Imagination. Man könnte fast annehmen, dass dies die nächste Frage von Kluge auslöst: »Sie arbeiten ja an einem imaginären Filmführer«, was von der Dolmetscherin, deren Name nun auf dem Bildschirm auftaucht, so übersetzt wird, dass Godard das auch als Führer des imaginären Films verstehen kann. Godards ungläubiges und schelmenhaftes Wiederholen der Frage, einen Filmführer? Ich? führt zur ersten Flirtszene zwischen Godard und Dr. Ulrike Sprenger, so heißt die Übersetzerin.
Der Flirt bleibt uns durch die Kameraführung erhalten. Allein schon wegen des Themas. Wir blättern ein paar Seiten vor, und schon sind wir bei der Karte der Liebe (laut Kluge) angekommen. Näher am französischen Original aus dem 17. Jahrhundert wäre »Karte des Königsreichs der Liebesspiele« (Carte du Royaume de coquetteries). Denn dort tun sich Abgründe auf, ein wenig durch die Art dramatisiert, wie Kluge uns die Karte zeigt: nie komplett sondern nur in kurz aufflackernden Ausschnitten. Aus dem Off erklärt uns Kluge, dass die Eskimos
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hundert Wörter für Schnee, die Chinesen dreißig für gelb, wir dagegen nur ein Wort für Liebe haben. Godard, der sich kurz zuvor noch inkompetent erklärte, seine Einschätzung der Karte vorzulegen, macht aus Kluges Kommentar sofort ein Drehbuch in Trichterform, eine Reduktion in drei Etappen – vom Schnee der Eskimos über das Gelb der Chinesen zum letzten und einzigen Wort: Die Liebe.
»Bewaffnung der Gefühle« In Kluges Chronik der Gefühle befindet sich diese Karte in einem Kurzkommentar zur Princesse de ClHves in Kapitel 7 »Wie kann man sich schützen? Was hält freiwillige Taten zusammen?«9 Das ist gleichzeitig ein Leitmotiv der Madame de Chartres, Mutter und konsequente Erzieherin der zukünftigen Prinzessin. Ihrem Erziehungskatalog zufolge sind diese Schutzmittel Standfestigkeit, Ehevertrag und Aufrichtigkeit. Allerdings ist ein Widerspruch eingebaut, der am Ende für den Prinzen einen tödlichen Ausgang hat. Denn einerseits soll sie nie anderen ihre Gefühle verraten, aber gleichzeitig aufrichtig sein. Mit ihrem Drang zur Aufrichtigkeit – sie gesteht ihrem Ehemann ihre Liebe zum Herzog von Nemours –, stürzt sie den Prinzen in Eifersucht und Liebesgram. Nachdem der Prinz von ClHves an ihrer Aufrichtigkeit gestorben ist, gibt sich die Prinzessin nicht ihrer wahren Liebe hin, dem Herzog von Nemours, so wie es ihr jetzt als Witwe erlaubt wäre. Ihre Reserviertheit ist aber nicht dem Treuegefühl zu ihrem verstorbenen Gatten geschuldet, sondern Selbstschutz: Sie möchte sich nicht der Gefahr aussetzen, dass Nemours ihre Liebe irgendwann so behandelt wie sie selbst die Liebe ihres Gatten. Die Entsagung entspreche einer »Bewaffnung der Gefühle«, wie Kluge die unbekannte Liebesforscherin A. Gartmann gegen Georg Hess, den Romanisten und Übersetzer des Romans, zitiert, der seinerseits hinter diesem Rückzug ganz modern und zeitgenössisch eine »Furcht vor dem Wagnis« sieht. Es ist unerheblich, ob Kluge Gartmann als ein alter ego vorschiebt, interessant ist, wie er Gartmann10 einsetzt. Es erinnert an sogenannte authentische 9 Ebd., S. 895–982. Vgl. Das Labyrinth der zärtlichen Kraft – 166 Liebesgeschichten, Frankfurt/ M. 2009, S. 441–561. Dort ist der Prinzessin von ClHves ein langes Kapitel gewidmet, in dem sich auch Sechs Geschichten für Niklas Luhmann und Love Politics. Eigensinn der Intimität, ein gemeinsamer Esssay mit Oskar Negt befinden. Die Prinzessin von ClHves, ein work in progress. 10 Vgl. Alexander Kluge, Die Patriotin, Texte – Bilder 1–6, Frankfurt/M. 1979, S. 110–112. Nur Kluge selbst kann wissen, wer A. Gartmann ist. Zumal es einige Gartmanns in seinem Umfeld gibt. Eine Sylvia Gartmann spielt in seinem Film Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1973). Wir kennen auch eine Hildegard Gartmann aus Die Patriotin, dort als Beispiel von der Verstrickung von Liebesgeschichte und Geschichte: Mit ihrem Mann und Reichswehroffizier Fred Tacke verbringt sie ihre Flitterwochen im Sommer 1939 in Rom, im Herbst muss Tacke an die Front und kommt erst 1953 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, und beide sollen
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Dokumente, wie man sie auch in W.G. Sebalds Romanen findet. Eine italienisch indizierte Grafik aus ihrem (noch) unveröffentlichten Buch über die Prinzessin von ClHves ergänzt oder erweitert die Idee der »Bewaffnung« oder »Festung«. Sie stellt die Vernunft als ein Schiff dar, dessen Rumpf auf den Eisberg der Gefühle aufzulaufen droht. Folgerichtig ist die Vernunft immer schon dem Schicksal der Titanic gleichgestellt. Der gepanzerte Schiffsbug schützt ebenso wenig vor dem Untergang wie der Rückzug ins Kloster die Prinzessin vor Einsamkeit und Tod.
Anders als der Eisberg des Unbewussten, der das Schiff der Vernunft bedroht, ist das Königreich der Liebe eine Insel, wo man die so Gestrandeten verbannen oder aussondern kann, also hier wird das Festland der Vernunft »bewaffnet«. Das Schiff mit dem Namen Descente (gleichzeitig Aus- und Abstieg) bringt die Liebenden zur Insel und zu den entsprechenden Prüfungen, das Schiff Le capitaine repantir (Kapitän Reue) steht für die Rückfahrt der Büßer bereit. Die nächste nun die Liebesgeschichte von 1939 wieder aufnehmen. Im gleichen Jahr 1979 (wie Kluges Patriotin) bringt Fassbinder seinen Film Die Ehe der Maria Braun heraus, der einen solchen Paradefall zum Thema hat. Eine andere Hildegard Gartmann, oder ist es die gleiche, oder Kluges Inspirationsquelle, erscheint als Autorin eines »Dokumentarromans«: Das Blitzmädchen, Wiesbaden 1971, die Geschichte einer Funkhelferin im Zweiten Weltkrieg, vom Spiegel seinerzeit harsch als Groschenroman kritisiert. Verfügbar unter : http://magazin.spie gel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/43279347 [04. 06. 2018]: »Hildegard Gartmann kann nicht mehr tun. Sie fällt in den Slang jener traurigen Mädchentage zurück: ›Nur kurz war unsere Freude. Aus der Traum.‹ Oder sie schwingt sich mutig empor, in den Himmel der Groschenromane: ›Der Druck einer starken Hand lässt mich in meiner Traumwelt verweilen.‹«
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Etappe zur Vernunft oder Quarantäne befindet sich auf dem Festland in der Chapelle du Saint Retour (Kapelle der heiligen Rückkehr). Kombiniert man beide von Kluge zur Verfügung gestellten Abbildungen, könnte man mit Luhmann die Liebe als ihren eigenen Re-entry bezeichnen. Jedenfalls ist sie schon vorhanden, bevor sie sich überhaupt ein Objekt auserkoren hat, zumal als Eigenliebe, die auch historisch in der Prinzessin von ClHves ihren ersten literarischen Ausdruck findet. In diesem Sinne endet Kluges »Kommentar zur Prinzessin von ClHves« folgerichtig mit einem Zitat von Gerda Baethe, der Grundschullehrerin aus dem »Luftangriff auf Halberstadt«11: »Eine Liebesgeschichte wäre es, wenn ich gleichzeitig ich selbst und mein Geliebter wäre.«12 Das klingt so wie der abarische Punkt13, den Kluge an anderer Stelle als die Möglichkeit einer Umkehrung von oben und unten anführt, als den imaginären Punkt, an dem die Schwerkraft ausgesetzt ist, Umschwünge möglich werden und sich Lücken eröffnen. Gerda Baethe sieht diesen Punkt der »Freiheit« in sich selbst gegeben, soweit die Bedingungen dafür erfüllt sind.
»Die Küche des Glücks« – »Karl Marx« Universität 1968 – der 1. Tag Eine gesellschaftliche Dimension nimmt eine andere, eher unterschwellige, von Homoerotik angereicherte und gescheiterte Liebesbeziehung an. Im Winter 1968 ist Theodor W. Adorno von seinen universitären Verpflichtungen befreit; das Freisemester will er dazu nutzen, seine Ästhetische Theorie und ein Buch über Hegel fertigzustellen. Niklas Luhmann, zukünftiger herausragender Vertreter der Systemtheorie in Deutschland, vertritt Adorno mit einer Vorlesung über »Liebe als Passion«. Diesen Umstand nimmt Kluge zum Anlass, den beiden das Ende der »Küche des Glücks« zu widmen.14 Kann man die Küche verdoppeln, 11 Alexander Kluge, Die Chronik der Gefühle – Lebensläufe, Frankfurt/M. 2000, S. 27–127. Nebenbei geht es in diesem Kapitel des Luftangriffs auch um einen Fall von Mutterliebe, bei der auf dem Boden flachliegenden Gerda (das Haus ist nicht unterkellert, wie uns Kluge wissen lässt) kriechen ihre drei Kinder (5, 7, 9) unter. Wenn auch das als Schutz gegen eine Bombe nicht ausreicht, ist es Liebe und Angst, die sie zusammenbringt. 12 Ebd., S. 943. (Hervorh. im Original) 13 Alexander Kluge, Oskar Negt, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1981, S. 790. »An der Nahtstelle der Gravitationen, dem abarischen Punkt, der immer nur ein gedachter ist, wirken keine Gravitationskräfte, sondern »Freiheit«.« (Hervorh. im Original) Die in diesem Kapitel zitierte Lehrerin, mit ihren Möglichkeiten von 1928 und ihren Zwängen von 1945 (beim Luftangriff auf Halberstadt) ist wohl identisch mit der späteren Gerda Baethe, Grundschullehrerin mit drei Kindern, in der Chronik der Gefühle. 14 Alexander Kluge, »5 – Die Küche des Glücks – Zwei Tage im Wintersemester 1968/69 in der Revolutionsstadt Frankfurt am Main« in: Das fünfte Buch, Frankfurt/M. 2012, S. 351–367. Wiederaufgenommen aus: »Sechs Geschichten für Niklas Luhmann«, in: Ders., Das Labyrinth der zärtlichen Kraft – 166 Liebesgeschichten, S. 497–517. Das Hauptkapitel in Das fünfte
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Höhepunkt der Studenten-Proteste: Die symbolische Umbenennung der Goethe-Universität im Mai 1968 durch den SDS; Foto: Universitätsarchiv Frankfurt
miniaturisieren? Die große Küche beginnt nämlich mit einer langen Wiederaufnahme der Prinzessin von ClHves15, immer schon unter Luhmanns Patenschaft, dessen 1982 erschienenen Buch Liebe als Passion16, einer Diskursanalyse französischer Literatur aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Die kleine »Küche des Glücks« um Adorno und den »Mann aus Bielefeld« hat zum Thema: »Zwei Tage im Wintersemester 1968/69 in der Revolutionsstadt Frankfurt am Main«. Der erste Tag, die Ankunft Luhmanns, der zweite Tag, das gemeinsame Essen. Die »Revolutionswirren« beeinträchtigen den Universitätsbetrieb. Auf die erste Vorlesung bzw. Übung Luhmanns warten denn auch bloß vier Studierende, drei Frauen, ein Mann, wie wir von Kluge eingangs erfahren. Diese genderbezogene Beobachtung »vertieft« Kluge ein wenig später mit der Hoffnung Elke Hinrichs, einer der drei Studentinnen, über Luhmanns Übung herauszufinden, wie man am günstigsten an den Kommilitonen Gerd Schäfer herankommen kann. Damit scheint der »Mann aus Bielefeld« wenig im Sinn zu haben, er möchte vor allem nicht seine Bestürzung darüber zu erkennen geben, »wie wenige Teilnehmer […] das legendäre Seminar des GROSSEN ADORNO« noch zählt. Eine Ausbreitung der »Protesterregung, die er in der Umgebung der Universität beobachtet« und die alle Universitätskollegen in unterschiedlichem Maß aufreibt und in höchste Anspannung versetzt, hält er »in seinem kühlen Verstande eher für ausge-
Buch heißt ebenfalls »Küche des Glücks« (Ebd., S. 273–367), im Folgenden mit klein und groß unterschieden. 15 Ebd., S. 358. 16 Niklas Luhmann, Liebe als Passion – Zur Kodierung der Intimität, Frankfurt/M. 1982. Vgl. »Liebe als Passion«, Alexander Kluge im Gespräch mit Niklas Luhmann, verfügbar unter : http://www.dctp.tv/filme/luhmann_liebe-als-passion/ [06/06/2018].
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schlossen«17. Adorno ergeht es mit seiner frischerlangten Freiheit nicht besser, denn »auf die gewonnene Zeit setzten sich sogleich die Zeiträuber«18 in Form von Sitzungen, Anfragen, Examina und einer unumgehbaren Trauerfeier. Einer seiner Post-Doktoranden, Roland Pelzer, dessen Dissertation über Hegel Adorno in einer seiner Vorlesungen über Moralphilosophie 1963 hochgelobt hatte, hat Selbstmord begangen, indem er sich vom Goetheturm stürzte. Die letzten Lebensmonate Adornos werden voll solcher Symbole sein. Kluge komponiert aus wenigen dokumentierten Fakten einen gefühlsverwirrten Adorno, dessen innerer Monolog vom Drama dieses jungen Studenten, Adornos Mitgenommensein in einer für ihn »inhumanen« Situation19, zu der schmerzhaften Trennung von seiner Geliebten und schließlich zu Todesahnungen führt. In einem Brief an eine Vertraute schreibt er, dass diese Trennung »das Allertraurigste und ein Zeichen von Alter«20 sei. Kluge schafft es, vielleicht auch deshalb, weil er selbst zu den »angenommene[n] Söhne[n] und Töchter[n]«21 Adornos zählt, Adornos Dilemma zwischen Trauer über Pelzers Selbstmord bei gleichzeitiger Erleichterung in wenigen Worten zu umschreiben: »Er sah in dem ›tragischen Zeichen‹ eine Mahnung, entweder sein Leben, das der Philosophie, das von ganz Frankfurt oder das der Welt zu ändern. Einfühlung und die Dringlichkeit, den Fortschritt seines Buches zu fördern, standen gegeneinander.«22
In Pelzers Selbstmord steckt aber nicht nur ein Mahnmal, sondern eine Art Liebesverrat eines seiner Lieblingsschüler. Wie konnte Pelzer ihm das antun? Dies wird sich Anfang 1969 noch einmal auf andere Art wiederholen, als HansJürgen Krahl, ein anderer seiner Lieblingsschüler, sich gegen ihn wendet und zum symbolischen Vatermörder wird. Liebesverrat führt gelegentlich zum Tod, zumindest dem Tod eines der Protagonisten, wie wir es symptomatisch am Fall der Prinzessin von ClHves schon gesehen haben. Die Todesahnungen Adornos, 17 Kluge, Das fünfte Buch, S. 359f. (Hervorh. im Original). Die Nervenanspannung der Universitätsprofessoren und -leiter kann man was Adornos Umfeld betrifft, in der Dokumentation, »Theodor W. Adorno, Kritik der Pseudo-Aktivität – Adornos Verhältnis zur Studentenbewegung im Spiegel seiner Korrespondenz« nachlesen. In: Frankfurter Adorno Blätter VI, München 1992, S. 42–116. 18 Ebd., S. 351. 19 »Adorno wollte die Habilitation seines Schu¨ lers im Fach Philosophie gegen den Widerstand von Kollegen aus der Fakultät durchsetzen. Dass ein Suizid ihm das Leben in dieser Hinsicht leichter mache, beschreibt Adorno als eine zutiefst inhumane Situation.« Gerhard Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz, Adornos negative Moralphilosophie, Wien 2016, Vorwort zur Neuauflage, S. 4. 20 Brief an Carla Henius, 27. 03. 1969, zit. nach Stefan Müller-Doohm, Adorno – eine Biographie, Frankfurt/M. 2003, S. 721. Adorno war mit Arlette Pielmann, so hieß die Geliebte, seit 1962 liiert. 21 Oskar Negt, Unbotmäßige Zeitgenossen, Frankfurt/M. 1994, S. 33. 22 Kluge, Das fünfte Buch, S. 352.
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die Kluge in diesem Kapitel sich anhäufen lässt, werden von seiner Geliebten in der Trennung vorweggenommen: »Die Geliebte, die ihn im Herbst verließ, hatte ihm gesagt: Du schimmelst. Ich kann riechen, dass du stirbst.«23 Das »Schimmeln« ist nirgendwo dokumentiert, deutet aber in seiner Krassheit – selbst Kluge kommentiert: »Das war unfreundlich« – darauf hin, dass sich Adorno in einer existentiellen Krise befindet. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf seine Seele.24 Adorno driftet ab in eine große Einsamkeit, und Kluge nimmt dies zum Anlass, einem an sich konventionellem Arbeitsessen zwischen Luhmann und Adorno eine intime, geradezu erotische Note zu geben.
»Die Küche des Glücks« – im Weinlokal »Rheingold« – der 2. Tag Diese höchst unwahrscheinliche Begegnung, um es mit einem Prinzip der Systemtheorie auszudrücken – »soziale Ordnung ist höchst unwahrscheinlich« (Luhmann) –, steht unter einem verräterischen und ironischen Motto: »Louis, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft…«25 Das sagt Rick Blaine zuletzt in Michael Curtiz’ Film Casablanca (1942) zu Louis Renault, dem Chef der französischen Polizei und deutschem Doppelagenten, bevor er mit ihm im Nebel der Nacht verschwindet: »Louis, I think this is the beginning of a beautiful friendship…« Wer die Stelle von Louis und die von Rick bei diesem Abendessen einnimmt, bleibt unklar. Beide könnten beide Rollen übernehmen. Fast vollständig den Luhmannschen Paradoxien der Kommunikation folgend lässt Kluge dieses real stattgefundene Treffen ablaufen. So lässt er Luhmann vermuten und antizipieren, was Adorno von ihm möchte und warum er ihn, den ja noch unbekannten, einfachen Vertreter zu einem überaus philosophischen TÞte-/-tÞte (Adorno bestellt Rumpsteak / la Voltaire) in das feine Weinlokal »Rheingold« gegenüber der Frankfurter Oper einlädt, wohingegen Kluge selbst als Erzähler immer wieder die Verirrungen Luhmanns korrigiert und die Ver23 Ebd., S. 353. Vgl. Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel lässt, Frankfurt/M. 2003, S. 447. Dort heißt es im gleichen Zusammenhang: »Ungleich bleibe der Tausch. Sie, eine Jugendschöne, er, ein Mann, der bald sterben wird. So hat sie es mit ihren letzten Worten zu ihm gesagt.« 24 Auch Müller-Doohm, einer seiner Biografen, stellt dem Kapitel »Tod«, ein Gedicht von Robert Frost voran, dass sich in diesem Kontext wie eine Art Durchhalteparole anhört: »The woods are lovely, dark and deep,/But I have promises to keep,/And miles to go before I sleep,/ And miles to go before I sleep.« in: Adorno – eine Biographie, S. 720. In einem Brief an eine weitere Vertraute und gemeinsame Bekannte seiner Geliebten schreibt er nach der endgültigen Trennung, das es so sei »als ob [s]ein unmittelbares Leben zu Ende wäre.« Zitiert nach: Ina Hartwig, »Arlette und ihr Adorno, Die Geliebte und der Philosoph. Eine alte Geschichte, neu erzählt.« in: Die ZEIT, 41/2012, verfügbar unter : https://www.zeit.de/2012/41/PhilosophAdorno-und-Geliebte-Arlette/komplettansicht [06. 06. 2018]. 25 Kluge, Das fünfte Buch, S. 364.
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hältnisse als intimer Kenner aus der Perspektive Adornos richtigstellt. So haben wir es mit einem Paradefall Luhmannscher Liebescodierung zu tun, dessen Prinzip Luhmann Kluge an anderer Stelle erklärt hat. In dem Interview, das Kluge mit Luhmann über sein Buch Liebe als Passion führte, wollte er von diesem ein Beispiel für eine Liebesparadoxie haben. Luhmann beschreibt folgende, sehr patriarchalisch bestimmte Situation: Mann kommt nach Hause, Frau ist in der Küche, eigentlich möchte der Mann in sein Büro, um nach der Post zu sehen, weiß aber, dass dies von seiner Frau als Vernachlässigung interpretiert werden würde, also geht er zuerst in die Küche, um seine Frau zu begrüßen, kann aber nicht vermeiden, dass seine Frau denkt, dass er nur in die Küche kommt, um sich nicht dem Verdacht der Vernachlässigung auszusetzen, weil er ja eigentlich, wie seine Frau auch weiß, lieber direkt ins Büro ginge und erst danach zu ihr kommen wollte.26 Kurzgefasst heißt das: Ich tue, was du willst, damit du siehst, dass ich es aus diesem Grund tue. Und ich weiß, dass du es auch weißt. Mit leichten Änderungen kann diese sehr altmodisch bürgerliche Konstellation auch universell umgeschrieben werden, es geht ja darum, in der Liebesbeziehung Enttäuschungen vorzubeugen und zugleich Einverständnis über dieses gegenseitige Wissen und Verhandeln herzustellen. So hält Luhmann Adornos Einladung für eine Pflichtübung. Den teuren Wein interpretiert er als Zeichen des ökonomischen Werts der Begegnung. Denn er kann keinerlei kulinarisches oder anderes Vergnügen bei seinem Gastgeber feststellen, der doch vielen als Lebemensch gilt. Kluge als hier allwissender Erzähler (aber auch weil er Adorno nahe steht) weiß um die realen Beweggründe Adornos, kennt seine »Lebensnot« und existentielle Krise, die von der abtrünnigen Partnerin ausgelöst worden ist. Luhmann scheint Adorno sowohl Experte in Liebesangelegenheiten zu sein – sein Seminar heißt in Adornos Erinnerung noch »SOZIOLOGIE DER LIEBE« –, als auch Vertrauter, der ihm in dieser Angelegenheit raten könnte. Aus choreographischen Gründen verschweigt Kluge, dass die Geliebte Adorno verlassen wollte, weil sie sich mit Heiratsabsichten trug.27 Im inszenierten Dialog mit Luhmann scheint die Sache offener, zumindest nicht endgültig verloren. Adorno erscheint hier in Luhmanns Sicht hysterisch, so weit, dass sich Privates mit Beruflichem (Wissenschaftlichem) mischt. Sein Angebot an Luhmann, eine gemeinsame Abhandlung über Liebesangelegen26 Vgl. »Liebe als Passion«, Alexander Kluge im Gespräch mit Niklas Luhmann, http://www. dctp.tv/filme/luhmann_liebe-als-passion/ [06. 06. 2018] Vgl. Abschrift in: verfügbar unter : »Schirmherr makelloser Schlangenschönheit« – Texte und Materialien aus den sieben Körben – Alexander Kluge im Gespräch mit Niklas Luhmann. Verfügbar unter : https://volltext. net/texte/alexander-kluge-niklas-luhmann-liebe-passion/ [07. 06. 2018]. 27 Vgl. Stefan Müller-Doohm, Adorno – eine Biographie, S. 721. Die endgültige Trennung erfolgte im April 1969. Vgl. Ina Hartwig, »Arlette und ihr Adorno, Die Geliebte und der Philosoph. Eine alte Geschichte, neu erzählt.«, 41/2012.
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heiten zu verfassen, geht dem Bielefelder zu weit, denn er sieht ein unüberbrückbares Gefälle zwischen seinem Seminar »LIEBE ALS PASSION. EINE ÜBUNG« und dem privaten Liebeskummer Adornos: »Man könne aber nicht seine persönlichen Liebesgeschichten öffentlich ausbreiten.«28 Es ist fast so, als ob sich Adorno freiredet wie das Luhmann im Code zwischen Liebenden beschreibt: »Zum klassischen Code gehört denn auch die »Augensprache«, ebenso wie die Feststellung, dass Liebende endlos miteinander reden können, ohne sich etwas zu sagen zu haben.«29 Die »Augensprache« zwischen den beiden Gelehrten nimmt einen ganzen Abschnitt ein. Luhmanns Augensprache ist zugleich »einfühlend« und auf Selbstschutz bedacht. Denn seine Hornbrille erscheint wie ein Schutzschild, über das Adorno (laut Kluge) nicht verfügt.30 Die seltsame Ruhe, die von Adornos Augen ausgeht, gibt Luhmann keine Anhaltspunkte über die Verfassung Adornos. Er liest seine Panik aus seinen »wirren Plänen« heraus, auch das es ihm um einen direkten Rat geht. Eine etwas altmodische Lösung, die ihm Luhmann vorschlägt, seine Geliebte in der fremden Stadt mit einer großzügigen »Apanage« auszustatten, um sie so aus den Pranken des Rivalen zu befreien und Zeit zu gewinnen für die »Wiederherstellung der Beziehung (restitutio in integrum)«, scheint Adorno nicht zufrieden zu stellen.31 Man gewinnt also den Eindruck, dass die beiden aneinander vorbeireden, aber das Wichtigste für den »Mann aus Bielefeld« scheint doch die Beobachtung des Falls Adorno zu sein, genauso wie er mit »seinen soziologischen Tabellen […] im Kopf«32 die Studentenbewegung beobachtet. Kluge fügt nun selbst eine soziologische Beobachtung hinzu, die ihm als ein zusätzliches Verständigungshindernis erscheint. Der vierundzwanzig Jahre jüngere Luhmann war am Ende des Krieges Flakhelfer.33 So wie viele seiner Generation hatte er am eigenen Leibe erfahren, »wie eine Zeit aus den Fugen gerät«. Deshalb erschien ihm auch ganz anders als seinem Gegenüber die Revolutionsstimmung in Frankfurt nicht persönlich bedrohlich: »ein Bruch in der Realitätebene [war ihm] nichts 28 Kluge, Das fünfte Buch, S. 365. (Alle Hervorhebungen im Original) 29 Niklas Luhmann, Liebe als Passion – Zur Kodierung der Intimität, S. 29. 30 Trug er etwa an diesem Abend keine Brille? Es gibt kaum Fotos von Adorno ohne Brille, aber da sie existieren, kann Kluge diesen ebenfalls relativ unwahrscheinlichen Umstand hier in seinem Sinne (Zeichen von Adornos Verletzbarkeit) verwerten. 31 Kluge, Das fünfte Buch, S. 365. 32 Ebd., S. 359. 33 Um dies zu verdeutlichen, hat Kluge ein Foto vom jungen Luhmann auf der Seite eingefügt. Allerdings sagt uns nur die Legende, dass es sich um den jungen Luhmann als Flakhelfer handelt. Der auf dem Foto abgebildete junge, gutgekämmte Mann trägt keine Uniform und scheint sich eher für einen Ausgang schön gemacht zu haben. Wir können nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, dass es sich um Luhmann handelt. Es gibt keinen Hinweis dazu im Abbildungsverzeichnis.
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Fremdes«. Wohingegen die vorherige Generation, vor allem die bürgerlich geschützte Adornos, »die viel vehementer wechselnden Zeiten des Jahrhunderts wie in einem Kokon durchlebt«34 hat. In einer langen Fußnote umschreibt Kluge noch einmal diese Beobachtung, einerseits Luhmann selbst zugeschrieben, aber im weiteren von Kluge ausgedeutet. In diesem brüsken Aufeinandertreffen zweier verschobener Konstellationen, befinden sie sich plötzlich vor einer eingerissenen »Schutzwand«. So erscheint Adornos Direktheit Luhmann »wie ein unerwarteter Hautkontakt«, trotzdem war für ihn »das Angebot einer akademischen Ehe« unrealistisch, weil der einzige Anlass dafür nur diese schmerzhafte Trennung von der Geliebten zu sein schien. Zwei wichtige Gründe sprachen in seinem Kopf, aber auch in seinem Herzen, gegen eine solche Verbindung. Luhmann, Kluge zufolge, war bereits einem anderen in Bielefeld »versprochen«, Helmut Schelsky, dessen Ruf er gefolgt war. Außerdem fochten sie auf verschiedenen Fronten, die sich zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht ausgeprägt hatten, aber doch in der Tendenz schon klar vorhanden waren und ohne jegliche Brückenbildung: Die Kritische Theorie in Frankfurt und die Systemtheorie in Bielefeld. So konnte diese neuerliche Eheanbahnung nicht über ein von Adorno aufgedrängtes Dessert hinausgehen.
Adornos Augen
Niklas Luhmann als Flakhelfer
Erst später, nach Adornos Tod im darauffolgenden Jahr, erschien die Begegnung, dieser »Realitätszwitter«, Luhmann in einem neuen Licht. Zum einen musste er sich laut Kluge eingestehen, dass seine Beobachtungen zweiter und dritter 34 Ebd., S. 366.
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Ordnung ins Leere gelaufen waren. Als blinder Fleck erschien sowohl die Todesangst Adornos als auch dieser »unstreitig lebendige Liebesstrom«, der beinahe an einem einzigen Abend sowohl seine als auch die Welt Adornos hätte umstülpen können. Als ob inmitten der »studentischen Pulks«, aber vielleicht am Rande durch sie provoziert, aus »einer alten Wurzel« »innovative Kräfte« in Bewegung geraten waren, die auch, oder besonders, dem kühlen Kopf Luhmanns entgangen waren.35 Soweit Kluge. In dieser Geschichte kann man leicht ersehen, dass es Kluge hier hauptsächlich um Luhmann geht. Seine Insiderkenntnisse über Adorno werden eher spärlich benutzt und den vermeintlichen Beobachtungen des Systemtheoretikers aus Bielefeld hintangestellt. Soweit, dass Kluge damit den Zorn der Tochter der Geliebten auf sich zog.36
»Samstag in Utopia«37 Immer ist der Ausweg aus einer unmöglichen Liebe auch der Tod, aus Gram oder freiwillig, oft wegen zu starker gesellschaftlicher Schranken. Kluge widmet sich mehrmals der Prinzessin von ClHves, einem frühen, literarischen Prototyp dieser Verstrickungen. Eines der großen Themen auf DCTP.tv »Liebe macht hellsichtig« ist voll von solchen tragischen Geschichten, obwohl der Titel im Gegensatz zu unserem, der Blindheit, das Gegenteil zu suggerieren scheint. Aber vielleicht ist ja immer auch beides im Spiel. Das Schicksal Gretel Adornos ist jedenfalls ein blinder Fleck in der kleinen »Küche des Glücks«. Als Person ist sie inexistent, zumindest hinter der Rivalin und allen anderen Vertrauten Adornos zurückstehend. Und doch war sie von jeher seine erste Leserin, Kritikerin, Stenotypistin, Sekretärin und schließlich Nachlassverwalterin. Und man kann sich kaum ausmalen, wie es für sie war, z. B. einige der herausragenden, vor allem das letzte Traumprotokoll Adornos, vom 12. April 1969, zu lesen: »Ich besprach mit A. den Plan, mit ihr gemeinsam mir das Leben zu nehmen. In der Erinnerung scheint es mir, als hätte sie die Idee zuerst geäußert, jedenfalls ging sie enthusiastisch, in ihrer kühnen Art, darauf ein. Wir besprachen, gemeinsam wie R. P. von einem hohen Turm hinabzuspringen, entschieden uns aber dagegen. Schließlich sagte sie: Also ich werde versuchen, mit dir zusammen zu sterben. Da fühlte ich, an dem »Versuchen«, dass sie es gar nicht ernst meinte. Mit einer zum Abscheu gesteigerten Enttäuschung aufgewacht. – Später in der gleichen Nacht. Habermas sagte mir, 35 Kluge, Das fünfte Buch, S. 367. 36 Vgl. Hartwig, »Arlette und ihr Adorno, Die Geliebte und der Philosoph. Eine alte Geschichte, neu erzählt.«, 41/2012 – Die Tochter stört hauptsächlich, dass ihre Mutter als eine ausgehaltene Frau dargestellt wird. Dabei handelt es sich nur um die Perspektive Luhmanns, die dies suggeriert, gegen das Wissen Kluges. 37 Kluge, Die Lücke, die der Teufel lässt, S. 444–448.
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gleichsam auf seine psychoanalytische Erfahrung gestützt: es sei sehr gefährlich, innerlich dem sich zu überlassen, was mich bewege; daraus könne sehr leicht Krebs sich entwickeln.«38
In diesem Traumprotokoll wird die Problematik seines letzten Lebensjahres zugespitzt. Einige Tage später verlässt seine Geliebte A. ihn endgültig. Man könnte auch hier noch einmal mit Erfolg die Luhmannsche Liebescodierung durchspielen: Was man tut oder nicht tut, um dem anderen seine Liebe zu zeigen und gleichzeitig weiß, dass man es nicht tut, vor allem, wenn es um eine solch gravierende Entscheidung wie Selbstmord geht. Aus diesem Grund sind »gemeinsame Selbstmorde« oft ein Mord und ein Selbstmord, wie man in der Presse nachlesen kann. Die Enttäuschung ist meist vorprogrammiert. Roland Pelzer, Adornos unglücklicher Student, steht für die Wahl der Todesart. Am Schluss steht die Todesahnung in Form der drohenden Krebserkrankung (die am Ende ein Herzinfarkt war). Die große Abwesende ist auch hier Gretel Adorno, durch deren Hände die Handschrift geht, und mit der Adorno vielleicht seinen Traum beim Erwachen besprochen hat. Dabei ist sie diejenige, die vom Tod ihres geliebten Ehegatten so mitgenommen ist, dass sie kurz darauf versucht, sich das Leben zu nehmen, was die Geliebte Arlette nicht getan hat. Zu ihrem Unglück scheitert ihr Selbstmordversuch und sie ist dazu verdammt, in der gemeinsamen Frankfurter Wohnung, einem Adorno-Museum, gesundheitlich beeinträchtigt und pflegebedürftig infolge des Suizidversuchs noch weitere vierundzwanzig Jahre zu überleben, was genau dem Altersunterschied zwischen Adorno und Luhmann entspricht. Sie passt weder in die Kategorie blinde noch hellsichtige Liebe. Sie ist, mit Luhmann gesprochen, sowohl Beobachterin zweiter Ordnung, als auch unsichtbare Eingreiftruppe. Dieses Paradox untersucht Kluge in der Geschichte »Samstag in Utopia«.39 Laut Kluge bereitet die »Frau das Lager für den Empfang der Geliebten aus München«, dann hat sie sich »aus dem Weg geschafft«40 und bleibt auf weiteres unsichtbar, bis die Geliebte wieder im Nachtzug sitzt. Gleichzeitig hat sie aber die Situation im Griff, sowohl aus der Sicht der Geliebten: »Wenn diese Frau zur Begrüßung antrat, so tat sie, als sei alles üblich, gar nichts Bemerkenswertes geschehen, wenn es doch um amour passion ging, im Rahmen von 38 Theodor W. Adorno, Traumprotokolle, Frankfurt/M. 2005, S. 87. In einem anderen Traumprotokoll geht es darum, dass die Geliebte von ihm fordert, sich eine »Schwanz-Waschmaschine« anzuschaffen, damit sie ihn auch in Zukunft »mit dem Mund lieben« könne. 17. Dezember 1967, Ebd., S. 84. Ironie der Geschichte: Die Geliebte Arlette Pielmann arbeitete zuletzt als Vertreterin für Herzschrittmacher. 39 Kluge, Die Lücke, die der Teufel lässt, S. 444–448. 40 Ebd., S. 445.
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mehr als fünf Stunden, dann wurde ihr, der Geliebten, Aufenthalt im Seelenquartier abgewertet.«41
als auch aus der Sicht des Philosophen: »Für die Einrichtung der Wohnung ist die Frau des Philosophen zuständig. Es gibt 186 verschiedene Aggregatzustände der Liebe. Derjenige davon, den einer braucht, wenn er seine Geliebte empfängt, bleibt für praktische Ideen unempfänglich. Dieses Programm, nennen wir es 184a, ist der unirdischen Liebe verschwistert. So ist es zu erklären, dass die Liege für zwei Personen unrealistisch eng und für eine gewisse Gemütlichkeit des Liebeslebens unangepasst scheint. So hat es die Frau ausgesucht.«42
Gretel erscheint hier als Vertreterin der »SACHLICHKEIT DER LIEBE«, die von der laut Luhmann im 17. Jahrhundert eingeführten und bis heute noch gültigen Liebescodifizierung zumindest partiell abgelöst wurde. Im Nachhinein ist die unter der Liebe geschlossene Ehe einer realistischen Einstellung des Ehevertrags gewichen, einer Abwägung von Gewinn und Verlust für die eigene Beziehung zu ihrem aufrichtig geliebten Philosophen.43 Was hätte sie schon an einem liebesfrustrierten Gatten gewonnen, der ihre eigene Liebe aus dem Jahre 1941 nicht mehr in das Jahr 1967 »übersetzen« (so Kluge) konnte? »Was entbehrte sie denn, was ihr zugekommen wäre, wenn die Herangereiste entfiele? Hätte sie an den Energien der utopischen Samstagsstunden Anteil gehabt?«44 Kluge suggeriert, dass man dies verneinen kann, so blieb ihr die Herrschaft über den Liebesraum, den sie als Nichtraum einrichtete. Eine Herrschaft, die sie erst mit dem Tod des Ehegatten aufzugeben schien. So jedenfalls Kluge. Er sieht in der Friedhofsszene zu Ehren Adornos in jeglicher Hinsicht das Negativ der Trauerfeier des gemeinsamen Freundes Fritz Bauer, die Adorno selbst im vorangegangen Jahr unter seine Fittische genommen hatte.45 »Die Trauerfeier […] wurde von Max Horkheimer gründlich desorganisiert« und Gretel »war die einzige (so Kluge), die ein besseres Programm hätte durchsetzen können«.46 Zu allem Unglück kam noch ein starkes Gewitter hinzu und »[k]einer von der »Kritischen Theorie« besaß einen Schirm«, aber in Kluges literarischem Kunstgriff wurden die »GELEHRTEN GREISE« vorläufig mit »WARMEM BIER« und von studentischen
41 Ebd., S. 448. 42 Ebd., S. 446, Fußnote. Vgl. Ebd., S. 445: »Es ist ein schmales, hellgetünschtes Zimmer. Wäre das Fenster vergittert, könnte es sich um eine Gefängniszelle handeln.« (Hervorh. im Original) 43 Später hat Kluge diese Sicht in einem Telefongespräch revidiert. Vgl. Hartwig, »Arlette und ihr Adorno, Die Geliebte und der Philosoph. Eine alte Geschichte, neu erzählt.«, 41/2012. 44 Kluge, Die Lücke, die der Teufel lässt, S. 448. 45 Ebd., S. 640f. Vgl. Ders., »Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter« 48 Geschichten für Fritz Bauer, Frankfurt/M. 2013, S. 7ff. 46 Kluge, Die Lücke, die der Teufel lässt, S. 640 und Fußnote.
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Hilfskräften mittels Haartrocknern zwar »nicht emotional, aber physisch, gerettet«.47
Epilog Christoph Streckhardt hat in seiner Habilitation Kluges Verfahren als eine »Fortsetzung der kritischen Theorie mit narrativen Mitteln«48 analysiert. Kluge selbst sah in dem gemeinsamen Essen zwischen Adorno und Luhmann 1968 ein frühes Aufeinandertreffen zwischen der Kritischen Theorie (Adorno) und der Systemtheorie (Luhmann), zwischen denen »zumindest nach der Beobachtung Dritter Abgründe [klafften]«. Und sein vorläufiges Fazit, das spätere Kontroversen, z. B. zwischen Luhmann und Habermas vorausnimmt: »Brückenbau bisher unversucht.«49 Streckhardt mag sicher richtig liegen, wenn er Kluge auf der Seite der Kritischen Theorie dieser unwahrscheinlichen Brücke platziert. Er hat die Kritische Theorie gleichsam mit der Milchflasche aufgenommen. Aber Kluge ist zu neugierig, um immer am gleichen Ort zu verharren. In diesem Sinne könnte man die »Küche des Glücks« als Kluges Versuch sehen, an einem prominenten Vertreter und Mitstreiter der Kritischen Theorie über den Themenkomplex amour passion die Luhmannsche Liebescodierung und paradigmatische Beobachtung zweiter und dritter Ordnung durchzuexerzieren. Dabei gelangt der Frankfurter Philosoph mit seinem Latein ans Ende, aber der »Mann aus Bielefeld« begibt sich ebenso auf unbekanntes Feld, dasjenige eines »unstreitig lebendigen Liebesstrom[s]«50, wie es Kluge ausdrückt. Kluge, ohne sich der Illusion einer möglichen Brücke hinzugeben, hat hier möglicherweise einen abarischen Punkt zwischen beiden Theorien ausgelotet, dort, wo sich beide treffen und ihre Schwerkraft ausgesetzt ist, wo Realität, Zeit und Raum in der Schwebe bleiben: am Unort der Liebe.51 47 Ebd., S. 641. (Hervorh. im Original) 48 Christoph Streckardt, Kaleidoskop Kluge – Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln, Tübingen 2016. 49 Kluge, Das fünfte Buch, S. 367. Vgl. »Sechs Geschichten für Niklas Luhmann«, in: Ders., Das Labyrinth der zärtlichen Kraft – 166 Liebesgeschichten, S. 481–519. 50 Ebd. 51 »Dass Liebe diese Regel bestätigt, zeigt sich darin, dass sie [Gretel Adorno] den Pavillon der beiden von ihr betreuten, geduldeten Kontrahenten nicht luxuriös, nicht angepasst, nicht phantasievoll gestaltete. Liebe hat keinen Ort. Utopie = kein Ort.« in: Kluge, Die Lücke, die der Teufel lässt, S. 448. Vgl. auch: »Die Theorie, unser Denken, ist verankert in den Emotionen. Ratio ist verdichtete Emotion. Die Führer so gegnerischer Fraktionen des Geistes, sind einen Moment miteinander verbunden. Das gefällt mir.« in: Peter Laudenbach, Gespräch mit Alexander Kluge – »Wir sind Glückssucher«, in: Der Tagesspiegel vom 13. 02. 2012, verfügbar unter : https://www.tagesspiegel.de/kultur/gespraech-mit-alexander-klugewir-sind-glueckssucher/6201290.html [06. 06. 2018].
Alexander Kluge
Das Gewicht des Gefühls, dort, wo es wenig galt
InÞs de Castro, eine Hofdame, kam im Gefolge der Infantin Konstanza von Spanien nach Portugal. Die Infantin war zur Heirat mit dem Thronerben Prinz Pedro bestimmt. Der junge Mann verliebte sich in die hochgewachsene Ines de Castro. Die Infantin starb nach einem Jahr im Kindbett. Seitdem lebte der Thronfolger in einem Gartenhäuschen bei Coimbra in wilder Ehe mit Ines, die sein Herz gewann. Die junge, intelligente Frau zog ihre Brüder an den Hof. Sie erhielt Titel, die dem Hochadel und der Königswürde vorbehalten waren. Der König, unruhig gemacht von den Notabeln, die er nicht übergehen durfte, berief den Kron-Rat. Die junge Frau wurde zum Tode verurteilt, Staatsnotwehr. In einer Nacht begab sich der König – Dom Pedro, der Königssohn, war verreist in den Süden des Landes – mit vier Zeugen, dem Henker und einem Trupp Bewaffneter zu dem Garten, in dem InÞs de Castro sich aufhielt. Sie wurde in den frühen Morgenstunden enthauptet. So fand der Prinz die Angebetete. Es war ein Fehler des Königs, die Ermordete in die Erinnerung des Sohnes zu rücken. Nach einem kurzen Krieg zwang der Vater den Sohn zum Friedensschluß. Es vergingen 15 Jahre. Als Dom Pedro den Thron bestieg, hatte er die getötete Geliebte scheinbar vergessen. Anstifter und Mörder sowie die Zeugen entwichen zum Zeitpunkt der Thronbesteigung Pedros nach Madrid. Der neue König schloß einen Bündnisvertrag mit Spanien. Die nach Madrid geflohenen Zeugen, Anstifter und Mörder bemerken zu spät, daß dieses Bündnis den Zweck hatte, ein Auslieferungsabkommen zwischen den Ländern zu schließen. Spanien lieferte vier Zeugen an den König von Portugal im Austausch gegen desertierte Ritter. Die ausgetauschten Zeugen, Anstifter oder Mörder wurden lebendig abgehäutet und am folgenden Tag enthauptet. Ihnen folgten 4000 Beteiligte in den Tod. König Pedro erhält den Namen »Der Grausame«. Die tote InÞs läßt er ausgraben, unter der heißen Sonne Lusitaniens einbalsamieren und durch das Land tragen. Eine Reihe Verdächtiger mußten der Toten, deren Kopf angenäht worden war, die Hand küssen. Auf dem Sarkophag, in dem die Herzenskönigin zu liegen kommt, geplant: er und InÞs einander gegenüberliegend. Die Füße als Nachbarn, so daß sie, wenn
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zum Jüngsten Gericht gerufen wird, sogleich einander ansehen. Beide freuten sich darauf, ungeachtet aller Tränen. (aus: Chronik der Gefühle I, S. 965)
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Kinofizierungs- und Mediatisierungsverfahren. Zur Produktion von Gefühlen und Geschichtlichkeit in Alexander Kluges Nachrichten aus der ideologischen Antike
Die Interviews und Text-Bild-Montagen in den Nachrichten aus der ideologischen Antike (2008)1 drehen sich im weitesten Sinne um zentrale Axiome der Marx’schen Kapitalismuskritik im Kontext eines materialistischen Verständnisses von Geschichte. Mit einem materialistischen Verständnis von Geschichte geht einher, dass Erfahrungen der Entfremdung und der Aneignung unserer Lebenswirklichkeiten durch Arbeit, den Prozess, den wir als Geschichte bezeichnen, ausmachen. Geschichte ist also Geschichte der Arbeit, der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Produktion, aber auch des Klassenkampfes im Allgemeinen und von Arbeitskämpfen im Besonderen. Frei nach Alexander Kluge wäre dem noch hinzuzufügen, dass Geschichte auch Geschichte der sinnlichen Wahrnehmung und der Gefühle ist. Der historische Materialismus lehrt uns, dass alles eine Geschichte hat und Naturalisierungen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse verschleiern. Die Nachrichten thematisieren einerseits Sergej Eisensteins hochemotionalen Entschluss, Das Kapital von Karl Marx zu verfilmen: Kluge inszeniert die Person Eisenstein und den biografischen Kontext dieses letztlich nie umgesetzten Vorhabens mittels Interviews und Text-Bild-Montagen aus Eisensteins Filmen und Notaten. Andererseits sind in den unterschiedlichen Gesprächen zudem sowohl zentrale Themen aus Das Kapital (Band 1), wie der Warenfetisch oder die Mehrwerttheorie, als auch die für Kluge besonders wichtige menschliche Vorstellungskraft von zentraler Bedeutung und Gegenstand ausführlicher und mitunter spielerischer Auseinandersetzungen. Als spielerisch kann die Auseinandersetzung durch die teilweise skurrilen Montagen und witzigen Zusammenhänge bezeichnet werden und die Lust, die durch solche Formen der Heranführung entsteht. Das können auch Szenen sein, in denen beispielsweise die Unlesbarkeit oder die Dogmatik der Texte von Karl Marx performativ herausgearbeitet und satirisch ausgestellt werden. Die Nachrichten können somit auch
1 In weiterer Folge kurz als Nachrichten bezeichnet.
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als Kommentar zu Eisensteins Vorhaben gelesen werden – mit 90-jährigem Abstand. Ich werde im vorliegenden Text Kluges Verständnis von Geschichtlichkeit anhand typischer ästhetischer Verfahren mithilfe der Nachrichten herausarbeiten. Wichtig dafür erscheint mir der Entstehungskontext der Nachrichten sowie ihre Produktionsbedingungen und die formal-ästhetischen Verfahren, die in ihnen zum Einsatz kommen. Mit Bezug auf das Training von Unterscheidungsund Vorstellungsvermögen werde ich dazu in Beispielanalysen nah an den Kinofizierungs-Verfahren von Kluge bleiben sowie insbesondere seine komplexen Bild-Schrift-Ton-Montagen befragen. Im Zuge dessen werde ich zwei wesentlichen Fragen nachgehen, zum einen, in welchem Kontext entstanden die Nachrichten? Und zum anderen, anhand welcher ästhetischen Verfahren operieren die Nachrichten in Bezug auf Gefühle und Geschichtlichkeit? Dabei interessieren mich vor allem die Verwendungsweisen eines Liedes, eines Kurzfilms, von Schrift und Schriftcollagen sowie von filmischem Material der Dokumentation von Verräumlichungen und Installationskunst zu Karl Marx. Im nun folgenden Abschnitt werde ich auf den Titel der Nachrichten eingehen, um die Besprechung der Einflüsse von Eisenstein vorzubereiten. Kluge bezieht die Nachrichten in mehrfacher Hinsicht auf Eisensteins Vorstellungen (Details, Essay-Charakter), weicht aber auch in vielen Punkten stark davon ab (Intention, Politikverständnis, Hinterfragung von Zugänglichkeit und Dogmatik, Unabgeschlossenheit und ästhetische Mittel).
Großbaustelle. Zur Beschilderung eines Titels Bevor der Werkstitel aber sprachlich nun endgültig auf Nachrichten eingekürzt wird, soll noch skizziert werden, wie es überhaupt zu dieser Bezeichnung Nachrichten aus der ideologischen Antike gekommen ist. Im Sinne einer Untersuchung zur Produktion von Gefühlen und Geschichtlichkeit bei Kluge drängt sich hier eine nähere Beschäftigung auf, sind doch alle Begriffe im Titel stark konnotiert und werden vor allem in der Alltagssprache teilweise pejorativ gebraucht. Der Titel ist aus Überlegungen zu einer Stelle aus der Einleitung zu den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx entstanden, die später zu Das Kapital Band 1 weiterentwickelt wurden. In dieser Einleitung spricht Marx davon, dass das antike Griechenland als ›Kindheit der Menschheit‹ angesehen werden kann.2 Also ›Antike‹ ist hier keineswegs abwertend gemeint,
2 Vgl. Gertrud Koch/Alexander Kluge, »Grundströme des Kapitals. Ein Interview mit Alexander
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sondern als Verweis auf ein Stadium großer Vorstellungskraft, Lernfähigkeit aber auch Widerspenstigkeit. ›Ideologisch‹ ist diese Antike, weil sie sich auf ein zentrales, umfassendes Gedankengebäude stützt; in der Sprache der Frankfurter Schule würde man auch von einem ›notwendig falschen Bewusstsein‹ sprechen. Dieses Bewusstsein ist notwendig falsch, um in dieser Welt überleben zu können, und kann erst nach und nach hinterfragt werden.3 Auch ›ideologisch‹ wird damit eher ambivalent gehalten und ist in diesem Gebrauch weit weg von der Killerphrase, als die sie im politischen Tagesgeschäft fungiert. ›Nachrichten‹ bezieht sich in meiner Interpretation einerseits vor allem auf die Kürze vieler Beiträge, die hier montiert wurden – und noch immer werden, siehe laufenden Prozess der Re-Montage unterschiedlicher Versionen – und einen gewissen Berichtcharakter. Andererseits zeigen sich diese Nachrichten von Alexander Kluge auf vielerlei Ebenen äußerst widerständig gegenüber dem, was wir gewohnt sind, als Nachrichtenformate in Zeitung, Radio oder Fernsehen vorzufinden. Bereits der Titel der Nachrichten ist somit sprachlich hochgradig aufgeladen: Er suggeriert zunächst die Kontaktaufnahme zu einer weit zurückliegenden Zeit, in der noch an Utopien gebastelt wurde, in der Möglichkeiten erschlossen und abgewogen wurden, in der die Kapitalismuskritik eine reale Chance bot, das Leben vieler Menschen nachhaltig zu verbessern und Freiheit zu ermöglichen, statt zu beschneiden. Diese Beobachtungen sind wichtig, um zu verstehen, wie es dazu kam, dass sich Kluge mit Eisensteins Vorhaben auseinandergesetzt hat. Kluges Arbeit ist dabei in mehrfacher Weise mit Eisensteins verbunden, verhält sich aber Eisensteins Plan gegenüber kommentierend.
Fragen der Form. Bohrungen zu Sergej Eisensteins Kapital Eisenstein wurde als Regisseur der Revolutionsfilme Panzerkreuzer Potemkin und Oktober oder von Iwan der Schreckliche (im Auftrag Stalins) bekannt.4 Kluge«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Frage des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Kontext, Berlin 2012, S. 280–289, hier S. 288. 3 Vgl. Aus Georg Luk#cs’ Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) in der Aneignung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. »Als objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewusstsein, als Verschränkung des Wahren und Unwahren, die sich von der vollen Wahrheit ebenso scheidet wie von der bloßen Lüge, gehört Ideologie, wenn nicht bloß der modernen, so jedenfalls einer entfalteten städtischen Marktwirtschaft an. Denn Ideologie ist Rechtfertigung.« (Institut für Sozialforschung, »XII. Ideologie.« in: Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen, Frankfurt/M. 1956, S. 162–181, hier S. 168.) 4 Eisenstein hatte in den 1920ern begonnen Filme zu machen und wurde relativ schnell aufgrund seiner handwerklichen und theoretischen Innovationen international anerkannt und auch mehrmals in den Westen eingeladen. Was sich an seiner Biografie bemerkenswert ablesen lässt, ist auch der zunehmende Verfall der Werte und Prinzipien jener Revolutionen, die
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Oksana Bulgakowa, eine auf Eisensteins Leben und Werk spezialisierte Filmhistorikerin, berichtet in einer Sequenz der Nachrichten im Interview mit Kluge über die Besonderheiten der Produktionsbedingungen für Oktober, durch die schließlich Eisensteins Entschluss, Das Kapital zu verfilmen, maßgeblich zustande gekommen sei.5 Dieser Prozess ist so überliefert, dass Eisenstein nachdem er den unglaublich aufwändigen Film Oktober 1928 fertiggestellt hatte, der Auffassung war, jetzt könne er eigentlich nur noch Marx’ Kapital verfilmen. In Notaten aus Eisensteins Arbeitsheften von 1927/28 steht zum 12. Oktober 1927 geschrieben: »Der Entschluß steht fest, das ›Kapital‹ nach dem Szenarium von K. Marx zu verfilmen – dies ist der einzig mögliche formale Ausweg.«6 Nun ist es interessant, dass hier von einem ›formalen Ausweg‹ gesprochen wird, soll doch das Kapital von Karl Marx inhaltlich bearbeitet werden. Ab März 1928 stand schließlich fest, dass dazu (auch) James Joyce Ulysses als formales Vorbild dienen sollte.7 Eisenstein wollte die narratologischen Formen einer monologisierten und miniaturisierten Großerzählung aus Ulysses übernehmen – also die Form des inneren Monologs bzw. die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms (stream of consciousness) sowie die Form, die Geschichte der Menschheit komprimiert, innerhalb eines Tages eines Individuums zu erzählen.8 Diese historische Kon-
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als ›Russische Revolution‹ von 1917 bekannt sind. Diese Veränderungen lassen sich grob auch daran ablesen, dass einerseits die früheren Filme wie Streik (1924) – aber vor allem Panzerkreuzer Potemkin (1925), Oktober (1927) und Das Alte und das Neue (1929) – vom kommunistischen Zentralkomitee gefeiert und weitere Filme in Auftrag gegeben wurden und spätere Arbeiten, wie Die Beshin-Wiese (unvollendet, 1937) oder Iwan der Schreckliche (Teil 1: 1945, Teil 2: 1958, Teil 3: unvollendet) teilweise, aufgrund ›mangelnder Linientreue‹ oder aus ästhetischem Unverständnis, scharf kritisiert wurden, der Zensur zum Opfer fielen oder unvollendet blieben. Auch einige theoretische Werke (Montage [1937–1940], Methode [1939– 1948], Pathos [1946] und Die Geschichte der Großaufnahme [1939–1945]) sind bis heute nur unvollständig veröffentlicht worden. (Vgl. Oksana Bulgakowa, »Sergej Eisenstein. 1898– 1948«, in: Thomas Koebner (Hg.), Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart 2008, S. 214–218.) Oksana Bulgakowa ist eine renommierte deutsch-russische Filmhistorikerin, die in der Sowjetunion ihre Jugend verbracht hat, in den 1970ern in die DDR gekommen ist und bis heute in Deutschland lebt und arbeitet. Sergej M. Eisenstein, »V. Anhang und Ausblick. Notate zu einer Verfilmung des Marxschen ›Kapital‹«, in: Schriften 3. Oktober, hg. v. Hans Joachim Schlegel, München 1975, S. 289–311, hier S. 289. Vgl. ebd., S. 293. In Eisensteins Notaten findet sich schließlich der Eintrag, die filmische Handlung für den letzten Abschnitt des geplanten Films zum Kapital über den Klassenkampf auf einen Abend der Frau eines deutschen Arbeiters zu komprimieren. (Vgl. ebd., S. 303.) Dieser Gedanke der Komprimierung ist auch beim Zeitgenossen Walter Benjamin zu finden. Benjamin spricht von der sog. ›Monade‹ als einem Splitter der Geschichte, in dem sich große historische Zusammenhänge quasi reflektieren, mit der Möglichkeit »in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken«. (GS V, S. 575) Der Begriff der Monade stammt ursprünglich aus Leibniz’ Monadologie (1714). Ähnliche Formen der
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textualisierung sowie Verweise auf Eisensteins Arbeitsweisen und filmästhetische Verfahren werden von Kluge zu Beginn der ersten DVD der Nachrichten vor allem über Vertonungen und Visualisierungen durch Schriftcollagen von Eisensteins Notaten und Bild-Film-Collagen aus Eisensteins Werken inszeniert. Kluge verweist damit außerdem auf einen Ausgangspunkt seiner eigenen Überlegungen zum Komplex Marx-Eisenstein. Warum die Verfilmung des Kapitals nun auch als ›formaler Ausweg‹ gesehen werden kann, liegt darin begründet, dass Eisenstein bei dieser geplanten Verfilmung des Kapitals eine völlig andere Form des Filmemachens bzw. der filmischen Erzählung vorschwebte: Er wollte die lineare Handlung zugunsten einer viel ›gebrocheneren‹ Erzählweise aufgeben. »Tausende von kleinen Details«9 und eine »Sammlung kurzer Film-Essays*«, notierte Eisenstein, seien »geeignet, ›ganzheitliche‹ Sachen abzulösen.«10 Und weiter : »Die Abfolge in einer Reihe soll beileibe nicht wie in einem logisch-schrittweise etc. entwickelten Sujet ›folgerichtig‹ sein. Sondern assoziativ-folgerichtig.«11 Diese Hinwendung zu Details und fragmentarischen Formen, zu ›Film-Essays‹, entspricht Kluges späteren, von den Fernseharbeiten getragenen Filmprojekten wie den Nachrichten, gilt aber auch bereits für die späten Kinofilme wie Deutschland im Herbst (1978) und Die Patriotin (1979), die auch als Essayfilme bezeichnet werden. Kluge grenzt sich in vieler Weise von Eisensteins früheren Formen ab und unterstreicht die geplante Herangehensweise mit Fokus auf Details und essayistische Formen, indem er seine Verfahren genau dafür einsetzt. Eisenstein hatte für seine Verfilmung des Kapitals mehrere Filmkapitel geplant, die jeweils ihre eigenen ›Kinofizierungs‹-Verfahren zur Darstellung bringen sollten.12 In einem Interview von Gertrud Koch mit Kluge ist diese Frage nach der Kinofizierung bei Eisenstein bezeichnenderweise die erste Frage, die im
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miniaturisierten Großerzählung sind bis weit ins 20. Jahrhundert ein gängiges und bedeutsames narratologisches Organisationsprinzip. Eisenstein, »V. Anhang und Ausblick«, S. 292. Ebd., S. 296. Ebd., S. 307. Eisenstein, »V. Anhang und Ausblick«, S. 306. Für den Begriff der Kinofizierung lassen sich zwei Verwendungsweisen finden: Kinofizierung als 1) »Potential des Films, die Formen anderer Künste zu verfremden und für die Wahrnehmung zu erneuern« und 2) als die ab 1924 unter Stalin etablierte Kulturpolitik Kinofikazija, die die Produktion, die Distribution und Rezeption von Filmen in der Sowjetunion als Staatsgeschäft betrachtete. Kinofizierung wird hier für den ersten Fall als vom Film ausgehende Beeinflussung anderer Medien bzw. Kunstformen beschrieben. Im Gegensatz dazu habe ich sowohl bei der Beschäftigung mit Eisensteins Notaten als auch mit Kluges Aussagen zur Kinofizierung einen anderen Eindruck erhalten, nämlich, dass beide Kinofizierung als den Prozess des ›Ver-filmens‹ von Stoffen begreifen. (Vgl. Wolfgang Beilenhoff/ Heinz-Hermann Meyer, »Kinofizierung«, Lexikon der Filmbegriffe, 31. 07. 2011, in: http://filmlexikon.unikiel.de/index.php?action=lexikon& tag =det& id=3632 [Stand: 14. 07. 2018])
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Gespräch gestellt wird. Kluge antwortet darauf, dass mit dem Wort kinofizieren »ein großes Selbstbewusstsein für den Film« gezeigt wird – ähnliche Wörter seien »übersetzen, transponieren, transkribieren. Das heißt, derselbe Stoff nimmt im neuen Medium nicht nur eine andere Gestalt an, sondern verändert sich auch.«13 Im Film, im Verfahren der Kinofizierung, wird in Interaktion mehrerer Medien – oft sind dies Bild, Schrift und Ton in unterschiedlichen Konstellationen – ein bewegliches »Verhältnis von Text und Bild, von Sagbarkeit und Sichtbarkeit«14 ausverhandelt. Mit Kinofizierung ist also die Übersetzungstätigkeit in formaler, ästhetischer und inhaltlicher Hinsicht gemeint, die aufgrund der Spezifik unterschiedlicher Medien nie nur formal und ästhetisch passiert, sondern die Inhalte miteinschließt.15 Kluge vollzieht das Vorhaben Eisensteins nach und reflektiert dabei seine eigenen filmischen Verfahren, wobei ihm Eisensteins medienreflexiver Ansatz entgegenkommt. Inwiefern mit dem Kinofizierungs-Begriff die Formen der Produktion von Gefühlen und Geschichtlichkeit bei Kluge herausgearbeitet werden können, soll nun anhand von vier Beispielen aus den Nachrichten geklärt werden.
Kinofizierungs-Verfahren bei Kluge. Werkzeuge der Produktion von Gefühlen und Geschichtlichkeit in den Nachrichten Die Nachrichten umfassen in ihrer Gänze ca. 570 Minuten, also 9,5 Stunden, und wurden 2008 auf drei DVDs über Kluges Filmproduktionsfirma Kairosfilm veröffentlicht.16 Seitdem wurden in unterschiedlichen Kontexten verkürzte und re-arrangierte Versionen der ursprünglich veröffentlichten Fassung gezeigt. Dies ist unter anderem deshalb möglich, weil es sich bei den Nachrichten nicht um einen Film handelt, der entlang einer linearen, geschlossenen Erzählung, sondern mithilfe trans- und intermedialer (Re-)Montagen funktioniert. Die Nachrichten haben – so gut wie alle Produktionen Kluges – Baustellencharakter. Sie sind ein Arrangement älterer und jüngerer Sendungsbausteine aus Kluges Magazinen News & Stories, Primetime/Spätausgabe oder 10 vor 11, die noch um 13 Koch/Kluge, »Grundströme des Kapitals«, S. 281. 14 Wolfgang Beilenhoff, »Schriftprojektionen«, in: Schulte (Hg.), Die Frage des Zusammenhangs, S. 290–300, hier S. 296. 15 Die Form hat dabei keine determinierende Funktion, legt aber einen bestimmten Verlaufsund Interpretationsradius nahe. Bei narrativen Interviews, wie sie Kluge häufig geführt hat, kann bspw. kein konkreter Ausgang festgelegt werden, wohl aber ist diese Form Konventionen des gemeinsamen Gesprächs unterworfen. Inhalte werden in der gesprochenen Sprache anders formuliert und kommuniziert, als in der geschriebenen; kultureller Kontext, Herkunft, Alter, Geschlecht der Sprechenden sind von Bedeutung. 16 Nachrichten aus der ideologischen Antike, R: Alexander Kluge, 3 DVDs, 570 min., Frankfurt/ M./Berlin 2008.
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speziell produzierte oder gefundene Sequenzen erweitert wurden.17 Außerdem korrespondieren sie an vielen Stellen mit Text-(Bild-)Arbeiten von Kluge, die als Bücher oder Artikel erschienen sind. Viele Stoffe treten in unterschiedlichen Gestalten, re-mediatisiert, in unterschiedlichen Medien und Formaten wieder auf, werden verdichtet, entzerrt und weitererzählt. Solche Entwicklungen nachzuvollziehen, macht ein weites Netz an trans- und intermedialen Bezügen innerhalb von Kluges Œuvre auf, das immer auch stark mit seiner gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und ästhetischen Umgebung vernetzt ist bzw. mit diesen Umgebungen im Gespräch bleibt. Bei den montierten Beiträgen in den Nachrichten handelt es sich vor allem um Interviews, die Kluge mit anderen Kulturschaffenden und Intellektuellen, Männern und Frauen geführt hat. An diese Interviews knüpfen Zwischenspiele aus Text-Bild-Collagen an, die auf der Ton-Ebene musikalisch oft noch erweiternd, nicht nur unterstützend wirken. Damit ist gemeint, dass auf der Ton-Ebene zusätzliche Informationen, eine zusätzliche Dimension der Auseinandersetzung über die Musik hinzutritt, sodass diese Montagen sinnlich sehr plastisch, d. h. ›körperhaft‹ werden, indem sie die komplexen gedanklichen Zusammenhänge mit einer affektiven Wahrnehmungsebene verschränken. Sehr anschaulich wird dies in Kap. 16 auf DVD I mit dem Titel »Das Kapital widerlegt sich selbst. Schwarzer Freitag, 23. Oktober 1929«.18 Auf der Bild-Ebene wird der Schwarze Freitag vom 25. Oktober 1929 thematisiert, als die New Yorker Börse zusammenbrach. Als erstes Bild des 4’49’’ langen Kapitels wird die CoverIllustration zu einem Musikstück für Piano gezeigt, das 1901 von R.M. Stults als Bulls and Bears. March and Two Step bei Eclipse Publishing Co. in Philadelphia in der Beaux Arts Edition erschienen ist.19 Zuerst flach, und im Vergleich zur Originalillustration abgeschnitten und anders eingefärbt, dann verzerrt, in eine konvexe Linse einer als ›alt‹ lesbaren Kamera hineinmontiert. In der Linse der Kamera spiegeln sich später noch Schlagzeilen verschiedener Zeitungen zum Börsencrash 1929 oder ein Bild einer Gruppe Männer mit Zylindern beim Lesen von Aktienkursen auf langen Streifen Papier sowie einige Sekunden found footage von Schneefall vor einem architektonisch ›asiatisch‹ anmutendem Ge17 Vgl. Christian Schulte (Hg.), »›Alle Dinge sind verzauberte Menschen‹. Über Alexander Kluges Nachrichten aus der ideologischen Antike«, in: ders., Die Frage des Zusammenhangs, S. 270–279, hier S. 272f. 18 Nachrichten aus der ideologischen Antike, R: Alexander Kluge, DVD I, Kapitel 16: Das Kapital widerlegt sich selbst. Schwarzer Freitag, 23. Oktober 1929, 01:31:02–01:35:58. 19 Mit ›Bulls and Bears‹ werden im englischsprachigen Raum optimistische bzw. pessimistische Marktverhältnisse an der Börse bezeichnet. Wenn optimistische BörsenmaklerInnen den Markt dominieren und die Preise steigen, spricht man von einem bull market, wenn das Gegenteil der Fall ist, und die Preise fallen, von einem bear market. (Vgl. Adam Hayes, »Stocks Basics. Bulls Bears & Market Sentiment«, in: https://www.investopedia.com/universi ty/stocks/stocks5.asp [Stand: 08. 07. 2018])
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bäude (Anspielung auf die Tokioter Börse?). Es erscheint der Titel »Expropriation der Expropriateure«, Kapitel 9 aus dem Text Der Weg zum Sozialismus (1919) des österreichischen Sozialdemokraten und Mitbegründers des Austromarxismus Otto Bauer. Abschnitte des Textes »Lebensgrundsätze am Schwarzen Freitag II. Kein ›menschliches‹ Verständnis« aus Chronik der Gefühle20 werden in Form von Schrifttafeln dazwischen geschnitten. Es erscheint ein doppelflügeliges Fenster, in dessen Scheiben eine multidimensionale Filmcollage aus positiven und negativen Filmspuren dynamisch ineinanderfließt. Anhand der Schichten der Text-Bildcollagen werden Mikro-Geschichten sinnhaft und sinnlich erfahrbar verdichtet und miteinander verkettet (vgl. Abbildungen 1–4).
Abb. 1–4: Filmstils zum Schwarze Freitag 1929 und zur Weltwirtschaftskrise, Quelle: Nachrichten aus der ideologischen Antike, R: Alexander Kluge, DVD I, Kapitel 16: Das Kapital widerlegt sich selbst. Schwarzer Freitag, 23. Oktober 1929, 01:31:02–01:35:58.
Auf der Ton-Ebene ist das Protestlied We Shall Overcome in der Interpretation der österreichischen Pop-Musikerin Gustav (Eva Jantschitsch) zu hören. We Shall Overcome gilt als Hymne des afro-amerikanischen Civil Rights Movement der 1960er Jahre und fand auch davor schon in ArbeiterInnenkämpfen als Protestlied Verwendung. Es entstand um 1900 als Gospelsong in einem religiösen
20 Alexander Kluge, »Lebensgrundsätze am Schwarzen Freitag II. Kein »menschliches« Verständnis«, in: Chronik der Gefühle, Band 1: Basisgeschichten, Frankfurt/M. 2000, S. 131f.
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Kontext. Die bekannteste Version wurde von Joan Baez am 28. August 1963 auf dem Civil Rights March (Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit) gesungen, bei dem 200.000 Menschen vor dem Lincoln Memorial in Washington D.C. gegen die Rassendiskriminierung und für eine bessere Verteilung des Wohlstands demonstrierten und auf dem Martin Luther King Jr. seine historische Rede »I have a dream« hielt. Die erste Strophe von We Shall Overcome in der Interpretation von Gustav lautet wie folgt: Dear fellow citizens / Dear fellow occupants / Dear sisters in brave / And dear comrades in arms / We might overcome / That we unbalance life / That goes without saying / Attempted to follow – yes sir – a straight line / My share of the blame / I’ve got to say I deserve / I believed in their lies / I believed in their lies / When all of the beauty seems just to be wrong / Then all of their wordings seem to belong / To their everyday prozac, their everyday lies / That they’re everyday bangin’ in my day-to-day mind.21
Multimedial stellt Kluge hier Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Zeiten, historischen Ereignissen, Gefühlen des Betrogenwordenseins und der Mitschuld, des Manipuliertwordenseins und der Kapitalismuskritik als Intersektion von Klasse und race her. In Hinblick auf den Einsatz von Musik, insbesondere Protestliedern, funktioniert das Kapitel zum Schwarzen Freitag 1929 auf der Ton-Ebene mit We Shall Overcome narratologisch als Oral History, als Verfahren mündlicher Tradierung von ArbeiterInnen- und BürgerInnenrechtskämpfen im US-amerikanischen Kontext. Der Zusammenhang zwischen BildSchrift-Collage und Ton-Ebene ist inhaltlich denkbar offen, vermittelt aber ein Verständnis für die Geschichtlichkeit dieser Kämpfe, ohne eine Linearität von Geschichte zu behaupten. Auch found footage und filmische Arbeiten anderer FilmemacherInnen baut Kluge gern in seine Montagen ein. In den Nachrichten ist das neben einem kurzen Beitrag von Kluges Tochter Sophie Kluge zu Karl Marx’ Grabstätten, von dem weiter unten noch gesprochen werden wird, u. a. ein Kurzfilm von Tom Tykwer, Der Mensch im Ding. Der Film wurde inspiriert vom Konzept des Warenfetischs bei Marx, also davon, dass im Kapitalismus alles Ware werden, aber damit auch davon, dass alles eine Geschichte hat – und verändert werden kann. Tykwer erzählt anhand eines eher unscheinbaren Straßenbildes Geschichten der Produktion und marktförmigen Distribution verschiedener Industriegüter und infrastruktureller Gegenstände und anderer Spuren kultureller Produktion im Bild, über die er uns aus dem Off in Kenntnis setzt (vgl. Abbildungen 5–9).22 Wie 21 »Gustav – We Shall Overcome Lyrics«, Genius Lyrics, in: https://genius.com/Gustav-weshall-overcome-lyrics [Stand: 11. 07. 2018]. 22 Interessant wäre auch zu wissen, ob sich der Filmemacher bewusst ist, von welchen historischen Verhältnissen seine eigene Arbeit beeinflusst wird, bspw. dass er einer bestimmten male-gaze-Konvention mit langer Tradition folgt, nämlich dort, wo es inhaltlich gleich ist,
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Abb. 5–9: Totale und Straßendetails aus Tom Tykwers Der Mensch im Ding, Quelle: Nachrichten aus der ideologischen Antike, R: Alexander Kluge, DVD II, Kapitel 1: Der Mensch im Ding. Film von Tom Tykwer, 00:01–09:51.
Peter Sloterdijk es in einem Interview auf DVD II zur Marx’schen Kapitalismuskritik vorschlägt, handelt Tykwers Film von der gemeinsamen Geschichte von Menschen und Dingen23, denn hinter jedem Ding stehen Menschen (und andere Entitäten, Dinge, Stoffe, Materialien), die zu seiner Entstehung beigetragen haben. Wir sehen »eine Anordnung von Dingen, Materialien, Stoffen. Dazwischen ein Mensch. Zu dem Mensch gehört eine Geschichte, die wir hier nicht erzählen können. […] Und hinter den Dingen, hinter jedem einzelnen von ihnen, noch mehr Menschen, noch mehr Geschichte.«24 Tykwer inszeniert mit Zeitraffer, wilden Kamerafahrten, insektengleich schwirrender Kameraführung eine weiblich vergeschlechtlichte Statistin einzusetzen, weil Frauen angeschaut werden, Anschauungsobjekte sind. 23 Nachrichten aus der ideologischen Antike, R: Alexander Kluge, DVD II, Kapitel 4: »Alle Dinge sind verzauberte Menschen«. Peter Sloterdijk über die Metamorphose des Mehrwerts, 17:30–63:03, hier 23:30. 24 Nachrichten aus der ideologischen Antike, R: Alexander Kluge, DVD II, Kapitel 1: Der Mensch im Ding. Film von Tom Tykwer, 00:01–09:51, hier 01:14–01:24.
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und äquivalenter Ton-Ebene, Geschichten einer Infrastruktur gleich einer animierten Habitatstudie in zeitgenössischen Natur-Dokus oder eines Tatorts in aufwändig technizistisch inszenierten Krimi-Serien. Die Dinge werden dabei nicht anhand ihrer individuellen Geschichte und Relevanz besprochen, sondern ausschließlich anhand ihrer gesellschaftlichen. Die dynamische Kameraführung wirkt fast kontradiktorisch zu den präzisen Informationen zur Industriegeschichte, die der Sprecher aus dem Off zu den einzeln herangezoomten Gegenständen gibt. Ein Hausnummernschild enthält auf diese Weise – im Wissen um den Kontext seines Gebrauchs und seiner jahrhundertelangen Entwicklung – eine Fülle von verwaltungsspezifischen und historischen Informationen. Diese Performanz von Hintergrundinformationen und Geschichte wird stark durch die Bewegungen der Kamera unterstützt und hervorgehoben.
Abb. 10–13: Beispiele typografischer Expressivität bei Kluge, Quelle: Nachrichten aus der ideologischen Antike, R: Alexander Kluge, DVD I, Kapitel 12: Flüssigmachen, 48:23–51:07.
Ein ähnliches Verfahren, das nicht über die Kamera funktioniert, sondern über weitere Modi der Hervorhebung und Blicksteuerung, begegnet im Einsatz von Schrift und Schriftcollagen bei Kluge. Wie Kluge mit Schrift umgeht, erinnert an eine andere ›Antike‹, nämlich den frühen Film.25 Wo der Film herkommt und wie
25 Beilenhoff, »Schriftprojektionen«, S. 290.
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er entstanden ist, muss sichtbar und offen bleiben, sagt Kluge.26 Im Umgang mit der Schrift sind Anleihen aus dem frühen Film wichtig, wie Zwischentitel oder diegetische Textfragmente, wie sie für den Stummfilm typisch sind.27 Wolfgang Beilenhoff spricht außerdem von einer »Buchstäblichkeit«28 in der typografischen Gestaltung des Textes, die sich dadurch auszeichnet, dass Textbedeutung durch Farbe, Schrift, Schriftschnitt, Schriftgröße, analoge oder digitale Schriften u.v.m. unterstrichen bzw. gelenkt wird. Die Möglichkeiten und Effekte der typografischen Gestaltung werden dabei ausgestellt und als Verfahren sichtbar. Schrift als Bild und typografische Gestaltung als Hervorhebung sowie sinnliche Vertiefung hat eine lange Tradition in Europa, insbesondere wenn man mittelalterliche Schriften heranzieht. Diese ›Lautmalerei‹ war in der dadaistischen Bewegung von Bedeutung und spielt bis heute in zeitgenössischen populären Kontexten, insbesondere in Cartoon und Comic eine herausragende Rolle. Abbildungen 10–13 aus dem Kapitel »Flüssigmachen«29 verdeutlichen diese gedankliche Spur zum Umgang mit Schrift bei Kluge assoziativ. Montagen sind bei Kluge immer »Versuchsanordnung(en)«30, von denen viele bereits eine bewegte Geschichte vorzuweisen haben, denn viele Montagen wurden im Laufe der Zeit von Kluge wieder umgearbeitet und in neuere Projekte eingebaut. In den Montagen verbindet Kluge oft Historisches mit Zeitgenössischem, denn ihre zentrale Funktion ist die Herstellung von Zusammenhängen: die »Inszenierung flexibler Verhältnisse von Nähe und Ferne«31, wie Christian Schulte attestiert, sowie die Sichtbarmachung »einer Aktualität des Vergangenen«32, wie Wolfgang Beilenhoff sie beschreibt. Beispielhaft aus den Nachrichten können hier die eher unscheinbaren, kurzen Kapitel »Das Denkmal und das wahre Grab / Karl Marx in London« (5’20’’) von DVD II sowie »Der große Kopf von Chemnitz« (1’14’’) von DVD III herangezogen werden (vgl. Abbildungen 14–17). Sophie Kluge hat einen kurzen Film zum Karl-Marx-Denkmal und zum Familiengrab in London im Highgate Cemetery gedreht. »Das Denkmal und das wahre Grab / Karl Marx in London« beginnt mit Eindrücken aus einer verwackelten Hand- oder Handykamera gefilmt, auf der Suche nach Karl Marx’ letzter Ruhestätte in einem verwachsenen, englischen Friedhof. Nach einigen Minuten erscheint Sophie Kluge vor schwarzem Grund neben einer Glühbirne und erzählt 26 Vgl. Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 220. 27 Beilenhoff, »Schriftprojektionen«, S. 293. 28 Ebd. 29 Nachrichten aus der ideologischen Antike, R: Alexander Kluge, DVD I, Kapitel 12: Flüssigmachen, 48:23–51:07. Siehe auch »Flüssigmachen«, S. 221 in diesem Band. 30 Schulte, »›Alle Dinge sind verzauberte Menschen‹«, S. 271. 31 Ebd., S. 275. 32 Beilenhoff, »Schriftprojektionen«, S. 291.
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ihrem Vater von der Friedhofssuche, bei der sie von einem ehrenamtlichen Friedhofspfleger unterstützt wurde. Das wahre Grab von Marx ist tief versteckt im Friedhof, wie Sophie Kluge betont, »weil er Jude war«.33 Karl Marx’ sterbliche Überreste ruhen unter einer unscheinbaren, zerbrochenen Steinplatte neben jenen seiner Familienangehörigen. Das Denkmal für Marx ist hingegen leichter zu finden.34
Abb. 14–17: Filmstils zur unterschiedlichen Verräumlichung in der Gedenkkultur zu Karl Marx: Gedenkmal – Sophie Kluge – Grabplatte – ,Nischel‹, Quellen: Nachrichten aus der ideologischen Antike, R: Alexander Kluge, DVD III, Kapitel 15: Der große Kopf von Chemnitz, 02:23:08– 02:24:22 und DVD II, Kapitel 3: Das Denkmal und das wahre Grab, 12:04–17:29.
33 Nachrichten aus der ideologischen Antike, R: Alexander Kluge, DVD II, Kapitel 3: Das Denkmal und das wahre Grab, 12:04–17:29, hier 15:44. 34 Das Denkmal wurde am 15. März 1956 von der Kommunistischen Partei Großbritanniens nach dem Entwurf von Laurence Bradshaw aufgestellt – dem Jahr, in dem Nikita Chruschtschow im Februar die Entstalinisierung einleitete und demokratische Demonstrationen in Tiflis (Georgien) und in Posen (Polen) sowie der Ungarnaufstand blutig niedergeschlagen wurden. (Vgl. From Our London Staff, »Marx monument unveiled in Highgate cemetery – archive«, The Guardian, 15. 03. 2016, in: https://www.theguardian.com/books/ 2016/mar/15/karl-marx-monument-highgate-cemetery-archive-1956 [Stand: 10. 07. 2018]. Vgl. Christine Lindey, »Bradshaw Laurence«, Morning Star, 03. 04. 2007, in: http://www.gra hamstevenson.me.uk/index.php?option=com_content& view=article& id=62:lawrencebradshaw& catid=2:b& Itemid=98 [Stand: 10. 07. 2018]).
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Von Annäherung und Erfahrbarkeit durch ›Begehung‹ handelt ebenso ein kurzer Beitrag zur monumentalen Marx-Büste in Chemnitz, Sachsen. »Der große Kopf von Chemnitz«35 dokumentiert eine Installation mit dem Titel Temporary Museum of Modern Marx, die den Marx-Kopf, auch ›Nischel‹ genannt, durch einen weiß verhüllten Kubus – an dem spiralförmig eine Treppe bis zu einer Plattform auf dem Kopf führt – von außen ›begehbar‹ und dadurch von mehreren Seiten zugänglich machte. Auf einer Zwischenetage konnte man die Büste erstmals auch ›auf Augenhöhe‹ betrachten. BesucherInnen war es vom 17. Juni bis 31. August 2008 für zwei Euro Eintritt möglich, die mit 7,10 Metern (mit Sockel 13 Meter) größte Marx- und zweitgrößte Portraitbüste der Welt – nach der Leninbüste in Ulan Ude, Russland36 – in ihrer ganzen Größe viel näher als sonst zu besichtigen.37 Studierende aus Linz und Schneeberg hatten sich auf Initiative der Neuen Sächsischen Galerie mit der Bedeutung von Karl Marx für Chemnitz auseinandergesetzt. Sie versuchten nach eigenen Angaben den Kopf durch eine »Umbauung temporär der Stadt« zu entziehen, um im »Inneren Gelegenheit zu einer Auseinandersetzung mit Marxschem (sic!) Denken anhand seiner Schriften«38 zu ermöglichen. Formal-ästhetisch wird dieser Haltung der Studierenden von Kluge eine ›überwachende‹ Fish-Eye-Kamera beigestellt, die im Inneren der Installation die BesucherInnen beobachtet, welche im Zeitraffer vorbeifließen. Auf der Ton-Ebene ist das Stempellied (»Lied der Arbeitslosen«) – Text von David Weber (= Robert Gilbert), Musik von Hanns Eisler – in der Interpretation von 35 Nachrichten aus der ideologischen Antike, R: Alexander Kluge, DVD III, Kapitel 15: Der große Kopf von Chemnitz, 02:23:08–02:24:22. 36 Deutsche Presse-Agentur, »Eklat zum ›Nischel‹-Geburtstag – Chemnitzer Karl-Marx-Kopf ist doch nicht der größte«, 09. 10. 2011, in: http://www.lvz.de/Region/Mitteldeutschland/Eklatzum-Nischel-Geburtstag-Chemnitzer-Karl-Marx-Kopf-ist-doch-nicht-der-groesste [Stand: 11. 07. 2018]. 37 Chemnitz, von 1953 bis 1990 ›Karl-Marx-Stadt‹, war um 1900 »die reichste Stadt Deutschlands.« (Edith Kresta, »Wo Karl Marx raucht«, 06. 07. 2010, in: https://www.taz.de/!5139561/ [Stand: 11. 07. 2018]) Lange Zeit galt die im Zweiten Weltkrieg aufgrund kriegswichtiger Fahrzeugindustrien großflächig zerstörte und danach modern wieder aufgebaute Stadt, als sozialistische Modellstadt und als Innovationszentrum für Patentrecht und Automobilindustrie. Maschinenbauingenieure aus Chemnitz sollen den guten Ruf von ›Made in Germany‹ maßgeblich mitbegründet haben. Chemnitz steht für Elend und ArbeiterInnenkämpfe gleichsam wie für die florierende Geschichte der deutschen Großindustrie, für Nationalsozialismus und Realsozialismus. (Vgl. chronoshistory, »Chemnitz – Karl-Marx-Stadt – Bilder deutscher Städte«, TV-Dokumentation. Ein CHRONOS Film von 1983, ausgestrahlt in der ARD, 06. 03. 2013, in: https://www.youtube.com/watch?v=Y-Jdsgxq-9 A [Stand: 11. 07. 2018]) Innerhalb von 15 Jahren nach der ›Wende‹ verlor Chemnitz allein ca. 60.000 BewohnerInnen. (Vgl. Jörg Biallas, »Vom Leben unterm Nischl«, Das Parlament 32–42/2012, hg. v. Bundeszentrale für Politische Bildung, in: http://www.das-parlament.de/2012/32_34/ Themenausgabe/40065285/319532 [Stand: 11. 07. 2018]). 38 Anna Hemme/Michael Hensel/Stefan Hofer/Friederike Hoffmann/Helene Schoißengeyr/ Anna Weinberg/Andreas Will, »Beschreibung«, http://www.marxmonument.de/projekt2. html [Stand: 11. 07. 2018].
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Ernst Busch zu hören39, das das Elend der Massenarbeitslosigkeit und die gesellschaftliche Kälte inmitten der Weltwirtschaftskrise 1929 besingt. Erfahrbarkeit von Raum durch Begehung und einer Neuabwägung der gesellschaftlichen Zuschreibungen an Räume und Orte sind wesentliche Aspekte in der Betrachtung von Gedenkkulturen und -praxen, wie sie uns hier gegenübertreten. Vor allem auf Monumente und Denkmäler gerichtete Gedenkkulturen beruhen maßgeblich auf der körperlichen Anwesenheit jener, die gedenken. In Hinblick auf Facetten der Gedenkkultur zu Karl Marx kann festgehalten werden, dass der Privatperson, dem Philosophen und der Kultur, die aus der Instrumentalisierung seiner Schriften hervorgegangen ist, unterschiedlich gedacht wird und diesen Aspekten des Gedenkens unterschiedliche Infrastrukturen und Rituale zur Verfügung stehen.
Hämmern, hacken, graben … und am Richtbaum sägen In den Beispielanalysen wurden bestimmte Kapitel der Nachrichten herangezogen, um Verfahren der Aneignung und Organisation ästhetischer Formen bei Kluge herauszuarbeiten. Erstens wurde die Verwendung von Musik am Beispiel »Das Kapital widerlegt sich selbst. Schwarzer Freitag« besprochen, in der das Protestlied We Shall Overcome in der Interpretation von Gustav eingesetzt wird, um geschichtliche Bezüge zwischen der Weltwirtschaftskrise von 1929 und der afro-amerikanischen BürgerInnenrechtsbewegung der 1960er herzustellen. Als zweites Beispiel steht der Kurzfilm Der Mensch im Ding von Tom Tykwer für unterschiedliche Zugangsweisen zur Erschließung von ›Material‹ und ›Materialität‹. Einerseits steht er hier für die Einbindung von Material anderer Filmschaffender in Kluges Produktionen und andererseits für die Effekte, die (dynamische) Kameraführung als ästhetisches Mittel für die Narratologie und die Vermittlungsweisen von Inhalten zeitigen kann, um sich der Materialität von Infrastrukturen und Gebrauchsgütern medial anzunähern. Wie die Beispiele aus dem Kurzbeitrag »Flüssigmachen« verdeutlichen, bedient sich Kluge im Gebrauch von Schrift und Schriftcollagen ebenso Formen der Betonung, Verstärkung, Dynamisierung, Verrückung und Markierung, die durch die Möglichkeiten der Schrift und der Schrift als Bild entwickelt werden können. Abschließend wurden anhand der Kurzbeiträge »Das Denkmal und das wahre Grab« und »Der große Kopf von Chemnitz« Bezüge zu Erfahrbarkeit von Geschichte im 39 Aus dem Text: »Stellste dir zum Stempeln an / wird det Elend nich behoben. – / Wer hat dir, du armer Mann, / abjebaut so hoch da droben? / Ohne Arbeit, ohne Bleibe / biste null und nischt. / Wie ’ne Fliege von der Scheibe / wirste wegjewischt.« (solidaritet2010, »Ernst Busch – Stempellied 1929 (›Lied der Arbeitslosen‹)«, 08. 09. 2010, in: https://www.youtube.com/ watch?v=HUXwUpXbDhc [Stand: 11. 07. 2018]).
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Raum und Verräumlichung, als Methode gesellschaftlicher Verortungsprozesse, in Hinblick auf Facetten der Gedenkkultur zu Karl Marx hergestellt. Allen vier Formen ist gemeinsam, dass sie in Kluges Arbeiten zur ästhetischen Plastizität und inhaltlichen Komplexität der Montagen maßgeblich beitragen. Sie wirken dabei unterstützend aus der zweiten Reihe als wichtige Teilaspekte der Kinofizierungs-Verfahren und als Werkzeuge der Produktion von Gefühlen und Geschichtlichkeit, die Kluge einsetzt, um mehrdimensionale Bedeutungsebenen zu erschließen und anhand von Prozessen der Re-Montage und (Re-)Mediatisierung Zusammenhänge herzustellen. Kluges Nachrichten versinnbildlichen in gewisser Weise eine Form der kulturellen Infrastruktur aus Leitungen und Kabeln von Geschichten und Gefühlen zur marxistischen Theorie – und Infrastruktur muss gewartet werden. Wie in einer Stadt gibt es dabei ältere und jüngere Bereiche, wohlhabendere und ärmere. Beginnt man erst einmal zu graben, wie die Geschichtslehrerin Gabi Teichert in Die Patriotin (1979), treten sedimentierte Geschichten und ZubringerInnennetzwerke zu allen Dingen hervor. Einen Moment für eine solche historische Kontextualisierung finden wir in Kluges Verweisen auf Eisensteins Arbeitsweisen und filmästhetische Verfahren, die zu Beginn der ersten DVD der Nachrichten anhand der Vertonungen und Visualisierungen von Eisensteins Notaten und einigen Schnipseln aus seinen Filmen oder durch Fotografien assoziativ vorgeführt werden. Eisensteins Hinwendung zu Filmkonzepten, die über Details und fragmentarische und essayistische Formen funktionieren, finden eine Entsprechung in Kluges späteren Filmprojekten, die von seinen Fernseharbeiten maßgeblich mitgeformt wurden. In den Nachrichten vollzieht Kluge Eisensteins filmische Verfahren, Arbeitsweisen und Ideenfindungsprozesse nach und reflektiert dabei gleichzeitig seine eigenen mit. Der Kinofizierungs-Begriff von Eisenstein ist dabei hilfreich, Formen der Produktion von Gefühlen und Geschichtlichkeit bei Kluge herauszuarbeiten, denn Kinofizierung bedeutet, dass Medienspezifika in die Inhalte mithineinregieren und keine starre Trennung zwischen Inhalt und Form möglich ist.
Wolfgang Asholt
Die Herzlichkeit der Vernunft oder »was den Menschen im eigentlichen Sinne menschlich macht«
Das Vorwort der Herzlichkeit der Vernunft (2017) situiert den Band mit fünf Gesprächen zwischen Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge als »Gespenstergeschichte«, die mit einer »konsistenten Geistesgegenwart« (5) immer wieder aufs Neue verschränkt ist. Denn wenn eine »außerirdische Intelligenz« den »Pale Blue Dot, einen blassblauen Punkt – unseren Planeten« erblicken würde, so würde sie auch die »winzigen Leuchtfeuer«, d. h. das »irisierende Blau« der »Spur großer Geister wie Sokrates und Voltaire« (5) bemerken, deren »Winzigkeit für die anreisende kosmische Intelligenz gut wahrnehmbar ist.« (6). Zumindest partiell verorten die beiden Dialogpartner sich analog dieser »Intelligenz« und übernehmen damit deren Perspektiven und Funktionen. Die fünf Dialoge sind Sokrates, Voltaire und Kleist sowie unter den Titeln und Themen »Terror« und »Politik« von Schirachs und Kluges Wahrnehmungen und Einschätzungen dieser Gegenwartsphänomene gewidmet. D. h. es wird eine doppelte Perspektive eingeführt: zum einen jene der »Außerirdischen«, die aus weiter (nicht nur historischer) Ferne die »Spur der großen Geister« wahrzunehmen wissen, und zum anderen jene (der »modestia«?) des Sich-Einordnens der beiden Autoren in die Tradition der »großen Geister«. Der ins Innere des Bandes gerückte Klappentext qualifiziert die Herzlichkeit der Vernunft als »einen sehr persönlichen Dialog der beiden Schriftsteller« und präzisiert: »Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge unterhalten sich über Grundfragen des Rechts und der Gesellschaft, über Theater und Literatur, über die Gefahren der direkten Demokratie und die sozialen Medien und darüber, was den Menschen im eigentlichen Sinne menschlich macht.« (191)
Dass sich zwei Juristen (auch) über Recht und Gesellschaft unterhalten, dass zwei Schriftsteller sich über Theater und Literatur verständigen, dass sie ihr Engagement gegenüber der Zukunft der Demokratie bekunden, überrascht wenig. Wenn sie sich aber um die »conditio humana« sorgen, so widmen sie sich in einem Camusschen Sinne den Fragen der Zeit und vor allem damit stellen sich
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beide in eine Reihe mit den »großen Geistern« und dialogieren mit ihnen. In mancher Hinsicht ähnelt das dem Verfahren, das Jacques Derrida in den Spectres de Marx praktiziert, wenn er mit dem großen Geist der Vergangenheit redet. Wo es dem Dekonstruktivisten jedoch um die »apparition de l’inapparent« geht, handelt es sich, wie der vertrauensvolle Titel der Herzlichkeit der Vernunft auch als Versprechen formuliert, bei von Schirach und Kluge um einen aufklärerischen Anspruch, nämlich das eigentlich (viel zu) Naheliegende sichtbar und für den Gegenwartsdiskurs prägend und wegweisend zu formulieren. Daraus entwickelt sich ein »philosophischer Dialog«, der die gattungstypische Doppelgesichtigkeit teilt: auf der einen Seite führen beide ein Gespräch mit didaktischer und engagierter Intention, das weder figuriert noch fiktionalisiert (auch wenn man sich bei Kluge da nie sicher ist), auf der anderen Seite partizipiert dieser Dialog mit seiner »Inszenierung« an einer Repräsentation, mit der die konkreten Gesprächskonstellationen und -intentionen überschritten werden. Der Inszenierungscharakter wird auch dadurch betont, dass die beiden gesprächserfahrenen Dialogpartner die Beobachtung zweiter Ordnung, die bei einem solchen »Dialog« dem Leser oder Zuhörer zukommt, zumindest teilweise in ihr Gespräch integrieren und uns so einen Beobachtungsstandpunkt dritter Ordnung ermöglichen oder auf ihn verweisen, der die Vielfalt der Perspektiven extrem komplex gestaltet. Unabhängig davon, ob es sich bei der Herzlichkeit der Vernunft um einen »sehr persönlichen Dialog«, eine »Unterhaltung« (beide Begrifflichkeiten tauchen in »Über dieses Buch«, 191, auf) oder um ein Gespräch handelt, der Herzlichkeit und Vernunft zusammenführende Titel stellt die Unterhaltung der beiden Autoren in die Tradition dessen, was Gyburg Radke-Uhlmann für Platons Parmenides betont: den Übergang von einem Meinungs- zu einem Begründungswissen, vor allem mittels einer »warmen, reichen Rationalität, [ die] nichts oder wenig mit unseren Vorstellungen von einer distanzierten, kalten Vernunft zu tun [hat].«1 Damit unterscheidet sich das Gespräch der beiden Dialogpartner sowohl vom »eigentlichen Gespräch« Schleiermachers, mit dem es allerdings die »Idee der freien Geselligkeit«2 teilt. Es erfüllt auch nicht die Bedingungen eines
1 Gyburg Radke-Uhlmann, »Zur Dialogizität des platonischen Parmenides, in: Klaus W. Hempfer/Anita Traninger (Hg.), Der Dialog im Diskursfeld seiner Zeit. Von der Antike bis zur Aufklärung, Stuttgart: Steiner 2010, S. 27–45, hier : S. 41.; Manfred Frank konstatiert in einem ganz anderen Kontext: »Gespräch und Literatur gedeihen nur in einer gewissen Wärme, die den Fluß: den Austausch und die Neuordnung der Zeichen gestattet.« Manfred Frank, Einverständnis und Vielsinnigkeit oder: Das Aufbrechen der Bedeutungseinheit im ›eigentlichen Gespräch‹«, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning, Das Gespräch, München: Fink 1984, S. 87–132, hier : S. 130. 2 Frank, a. a. O., S. 100.
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»idealen Dialogs«, die Wolfgang Iser zu Recht als »Setzungen« bezeichnet.3 Wichtiger ist für ihn »das Zusammenspiel von Zeigen und Verschweigen als Grundregel des Gesprächs.« (183). Das, was Iser als ein »unausgesetztes Spiel von Abwesenden und Anwesenden« bezeichnet, was ihn dazu führt, die »Differenz« »durch die Gesagtes und Ungesagtes voneinander geschieden sind« und aufeinander verweisen, als die »basale Regel des Dialogs« zu definieren, eine »Differenz«, die vermutlich auf jene Derridas verweist. Mir wird es im Folgenden darum gehen, diese Differenz-diff8rance zwischen »Zeigen und Verschweigen« (188), die »Inszenierung des Dialogs« (189) im Wechselspiel zwischen Verstehen und Verschweigen, zwischen Sich-Einlassen und Sich-Verweigern, zwischen Aufdecken und Verdecken zu analysieren, wobei sowohl Formen der Karnevalisierung auftreten können, wie solche einer »r88criture«, einer Intertextualität oder eines palimpsestartigen Umschreibens des Gesagten/Gefragten mit der eigenen (wie auch immer vermittelt-verweigernden) Reaktion. Ich möchte mich der Herzlichkeit der Vernunft auf dem Umweg über ein (kurzes) Interview von Ulrike Sprenger mit Alexander Kluge annähern, indem die Konstanzer Romanistin dem Autor, den sie oft übersetzt, Fragen stellt, was (unausweichlich?) zu ihrer Befragung durch Kluge führt, wobei beide über den Kluge, der üblicherweise Andere interviewt, reflektieren. Was Sprenger bei ihren Kluge-Simultan-Übersetzungen und durch einen Kluge-Einwurf (»Der Trick also, ja, ist gewissermaßen die Offenheit, die Ungewissheit des Gesprächs«) gesteuert bemerkt, ist: »Alexander Kluge will nicht das Erwartete, sondern wirft einem einfach eine Idee vor, bei der man oft auch einfach erst einmal losreden muss, um sich allmählich auf eine überraschende Frage oder einen Vergleich einlassen zu können.«4 Die Aufgabe des Übersetzers entspricht also der des Interviewten, dem Kluge ebenfalls Ideen vorwirft und der sich bewusst wird, dass bei der Verfertigung der Antworten erst einmal Unfertiges entsteht. Wenn Kluge darauf resümierend reagiert: »Es geht also um Differenz und Wiederholung«5, so charakterisiert diese Bemerkung offensichtlich die Struktur seiner Gesprächsführung am Beispiel der Übersetzung. Die Frage, die sich stellt, ist jene nach dem Unfertigen, Fragmentarischen, falsch Verstandenem. Betrifft dies nur die Antworten, seien es jene des Interviewten oder jene die die Übersetzung gibt, oder auch die Fragen des Interviewers? Wenn der interviewte Kluge über den Interviewer Kluge sagt: »Kluge agiert also als unsichtbarer Verführer«6, so 3 Wolfgang Iser, »Zur Phänomenologie der Dialogregel«, in: Stierle/Warning, S. 183–189, hier: S. 183. Es fragt sich, ob dies auch für Blanchots L’entretien infini zutrifft. 4 Ulrike Sprenger, »Lebte die kleine Meerjungfrau wirklich? Facts und Fakes im Märchen«, in: Die Bauweise von Paradiesen. Für Alexander Kluge, Heft 1 (2007) von Maske und Kothurn, herausgegeben von Klemens Gruber und Christian Schulte, S. 9–12, hier S. 9. 5 Ebd., S. 11. 6 Ebd., S. 10.
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müsste der mit seinen Fragen Verführende den verführten Befragten schon etymologisch irgendwo hin »führen«, würde also dem Unfertigen usw. nicht oder zumindest nicht im gleichen Maße ausgeliefert sein wie sein Gesprächspartner. Wenn man davon ausgeht, dass dies eine Grundkonstellation der Klugeschen Gespräche ist, fragt sich, ob jenes mit Ferdinand von Schirach ebenfalls dieser Struktur entspricht oder eine Ausnahme bildet, und wenn, weshalb.
Der Auftakt: »Sokrates oder das Glück der Bescheidenheit« Es ist häufig bemerkt worden, dass Alexander Kluge oft von »Nebensachen« (Joseph Vogl) ausgehend fragt, dass seine Fragen, Anekdoten und Fait divers mit einer »Ästhetik der Lücke« (Winfried Siebers) arbeiten und dass »Gedankensprünge« (Christian Reder) seine Gespräche ›strukturieren‹.7 Die Gespräche mit Ferdinand von Schirach unterscheiden sich insofern von anderen Klugeschen Fragespielen, als sie, zumindest der Deklaration des Titels und der Überschriften zufolge, präziseren Themenkomplexen gelten, angefangen mit dem »Glück der Bescheidenheit«. Bei diesem Auftakt kann man feststellen, dass Kluge als Fragesteller und von Schirach als Antwortender nicht von »Nebensachen« aus, sondern medias in res gehen: »399 vor Christus wurde Sokrates zum Tode verurteile.« (AK. 9) und »Philosophen, Künstler, Schriftsteller, Theologen, Historiker – fast jeder glaubt heute, der Prozess gegen Sokrates sei der erste Justizmord gewesen.« (FvS, 9). Es geht zwar (noch) nicht um das »Glück der Bescheidenheit« und die Frage, wie sich dies mit einem »Justizmord« vereinbaren ließe, aber um ein, wenn nicht das Ereignis des Lebens Sokrates’. Signifikant(er) ist allerdings, dass von Schirach eine Profession bei dieser Einschätzung ›vergisst‹: die Juristen. Und dies umso mehr, als die beiden Gesprächspartner bekanntlich Volljuristen sind. Und von dieser gemeinsamen Basis aus kann von Schirach abschließend und auffordernd (s)ein Expertenwissen einführen: »Aber vielleicht stimmt das nicht ganz und wir müssen uns Sokrates und Athen genauer anschauen.« (9), was nach dem Klugeschen Einwurf: »500 Athener traten als Richter über Sokrates auf. Eine gewaltige Zahl.« (9), von Schirach die Gelegenheit gibt, juristisches Handbuchwissen darzulegen, man könnte auch von Lexikon- oder Wikipedia-Wissen sprechen. In diesem Stil geht es weiter, von »Gedankensprüngen« kann nur selten die Rede sein. Kluge stellt fest, »Sokrates ist schon siebzig Jahre alt, ver7 Ich beziehe mich auf die Beiträge von Joseph Vogl (»Kluges Fragen«, 119–128), Winfried Siebers (»Das Fragezeichen der Poesie. Anekdotisches Erzählen bei Alexander Kluge«, 103–111) und Christian Reder (»Insistierendes Interesse an Unmöglichem. Ein Selbstgespräch – mit Alexander Kluge als abwesendem Gegenüber«, 129–134), im schon zitierten Maske und Kothurn-Heft, denen meine Argumentation viel verdankt.
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heiratet und hat drei Kinder, als ihm der Prozess gemacht wird.« (10), worauf von Schirach über mehr als eine Seite hinweg das Leben (und weniger Werk) des Sokrates erzählen kann. Auch wenn der Interviewte zuweilen seinerseits zum Fragesteller mutiert, verläuft der Dialog so, dass jeweils Stichworte aufgenommen und Anekdoten, Fait divers oder Wissensbestände assoziiert werden, etwa: »Das Schöne ist ein ganz komplizierter Begriff, auch bei Sokrates, natürlich, und bei Platon.« (AK), wir von deren Schönheitsbegriff aber nicht mehr erfahren. Und ob von Schirachs Feststellung, »Politische Prozesse sind nur in ihrer Zeit zu verstehen.« (19) beim Verständnis des Sokrates-Prozesses weiterhilft, ist nicht sicher. Wirkliche Überraschungsmomente bleiben aus, dafür verstehen sich die beiden Gesprächspartner (AK: »Lieber Herr von Schirach, beeinflusst von Ihnen […]«, 29) offensichtlich zu gut. Und wenn von Schirach erklärt, »Immer brauchen wir das Erzählen.« (25), so wird nicht nur der »grand r8cit« nicht infrage gestellt, es stellt sich auch die Frage, ob die Geschichte(n) anders oder neu erzählt werden. Nach einer Aufforderung Kluges, »Zurück zu Sokrates.« (43), nähert sich von Schirach dem »Glück der Bescheidenheit«. Es sei nämlich »besser, Unrecht zu erdulden, als Unrecht zu tun.« (44), eine Einstellung die explizit als »weise« bewertet wird. Selbst Kluges Hinweis auf die Reaktion des Imaginären auf die Dominanz des Faktischen und Funktionalen nimmt von Schirach nicht auf, sondern beendet das Gespräch mit einem längeren Schlussmonolog: »Unser Leben lässt sich nur vom Tode aus verstehen.« Und: »Aber das Eigentliche, lieber Herr Kluge, das Eigentliche ist das Trotzdem. Trotz irdischer Verstrickung, trotz Sterblichkeit, trotz aller Bösartigkeit – wir können lieben.« Und zwar : »den Nebenmenschen« (52); wer könnte damit nicht einverstanden sein? Vielleicht soll in dieser ›Nächstenliebe‹, die nicht so genannt wird, das »Glück der Bescheidenheit« liegen.
Dialektik der Aufklärung? »Voltaire oder die Freiheit durch Toleranz« Auch in diesem Teil agiert Kluge mehr als Stichwortgeber denn als Gedankenspringer oder »Verführer«. Der Stichwortgeber bringt das Gespräch in Gang, denn das von Schirachsche Erzählen braucht Anlässe, Aufhänger und Aufforderungen. So leitet Kluge das Gespräch ein, indem er den ersten Satz des Trait8 sur la tol8rance von 1763 zitiert, für von Schirach der Anlass, die Umstände der ja nicht ganz unbekannten Calas-Affäre und der engagierten Intervention Voltai-
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res’ nachzuerzählen (55–65)8, immer wieder unterbrochen oder besser gesagt angeregt durch Klugesche Kommentare und Aufforderungen. Es handelt sich aber weniger um ein Wechselspiel von Verstehen und Verschweigen, um ein Aufbrechen oder Umleiten der Erzählung mittels »Nebensächlichkeiten« oder die subtile Einführung einer Dialektik als vielmehr die Nach-Erzählung einer der »großen« Geschichte(n) der Aufklärung auf dem Horizont von Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit, die allerdings nicht genannt werden. Wenn von Schirach etwas zu erzählen vergisst, übernimmt das Kluge, etwa die Erzählung des »Falls Canning«, auch wenn es nicht ganz zutrifft, »dass er [Voltaire] in seiner Schrift ›Über die Toleranz‹, über Fanatismus und über den Fall Calas, anfängt mit einer englischen Geschichte, dem Fall Canning« (65f.). Bei der damit gemeinten Histoire d’Elisabeth Canning et de Jean Calas handelt es sich vielmehr um eine Plakette des Jahres 1762.9 Nur selten versucht Kluge, seinen Gesprächspartner zu »verführen«, etwa wenn er sich wünscht, »dass Voltaire [1694–1778] noch älter geworden, dass er in die Französische Revolution hineingeraten wäre.« (69). Doch von Schirach lässt sich auf solche Spekulationen, eine »Quasi-Geschichte« im Sinne Paul Ricœurs nicht ein, er kommt zu seinem Thema (Freiheit durch Toleranz) zurück: »Seine Toleranz ist im Grunde genommen Bescheidenheit.« (70). Nun ist Voltaire nicht gerade für sein bescheidenes Verhalten bekannt, so dass man gern mehr über den Zusammenhang und die Differenz beider Begriffe gewusst hätte. Doch Schirach erweitert die Perspektive sofort ins Weltall, und angesichts dessen »bleibt uns nichts übrig, wir müssen zusammenhalten.« (71). Wenn Kluge in Bezug darauf von einer »starken Begründung der Toleranz, die aus der Gravitation des Gefühls entsteht« (72) spricht, hätte es spannend werden können, doch von Schirach führt das Gespräch mit der schönen Formel: »Toleranz ist diese Herzenswärme.« (72) dem Ende entgegen und bemüht auch noch Marc Aurel. Hier handelt es sich tatsächlich um eine »warme, reiche Rationalität, die nichts oder wenig mit unseren Vorstellungen von einer distanzierten, kalten Vernunft zu tun hat« (RadkeUhlmann). Diese warme reiche Rationalität wird der Komplexität des Gegenstandes allerdings nur teilweise gerecht, vor allem aber kann Kluge (als Stichwortgeber) fast nie in die Rolle des Fragestellers schlüpfen und mit seinen »Verführungen« die gängigen Vorstellungen und Überzeugungen durch ein nicht-disziplinäres und nicht-diszipliniertes Wissen ins Wanken bringen: die Ordnung der Dinge wird nicht wirklich gestört.
8 Ob die Calas-Affäre noch so bekannt ist, wird allerdings zweifelhaft, wenn Manuel Bauer in seiner literaturkritik.de-Rezension vom »Fall Callas aus dem 18. Jahrhundert spricht« (06. 03. 2018), der Opernfreund Kluge hätte seine Freude daran. 9 Solche philologischen Details sind (zu Recht?) unwichtig.
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Von Nicolo-Colino zu Collini: »Kleist oder das Wissen von den Menschen« Noch deutlicher als in den bisherigen Gesprächen agieren und dialogieren Kluge und von Schirach in diesem Teil als Juristen. Aus Anlass der Kleist-Novelle Der Findling (1811) wird dank der Namensverschiebung (Colino – Collini) der Transfer zu von Schirachs Roman Der Fall Collini (2011!) bewerkstelligt (77), und von diesem Moment ab spielt Kleist keine Rolle mehr : von Kluge aufgefordert, hingeführt aber gewiss nicht »verführt«, berichtet von Schirach von seinen eigenen und anderen bekannten Kriminalfällen in Literatur, Film und Alltagsrealität. Wenn Kluge fragt: »Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse?« (78), antwortet von Schirach mit der Geschichte von Josef Fritzl, und wenn der Stichwortgeber einwirft: »Das Böse ist ein schneller Begriff.« (79), referiert von Schirach über Zeitverbrauch in Strafverfahren, anstatt sich von der Assoziation von Geschwindigkeit mit moralischer Begrifflichkeit herausfordern zu lassen. Wenn Kluge eine Menschheitsfrage stellt wie: »was Wahrheit und was Wirklichkeit ist« (82); reagiert von Schirach, indem er den Film The Man Who Wasn’t There (2001) der Brüder Coen erzählt, um zu zeigen, dass »wir noch nicht einmal das Einfachste [können]: die Wirklichkeit verstehen.« (83). Wenn von Schirach abschließend die Wahrheitssuche in Rechtsprechung und Literatur vergleicht: »was er [der Schriftsteller / der Richter] beschreibt, ist nicht die Wirklichkeit, sondern seine Wahrheit, also eine durch Worte formalisierte Wirklichkeit, so erwähnt er zwar die sprachliche Konstruktion von Wirklichkeit, vertraut aber einer ›formalisierten Wahrheit‹.« (83). Kluges Frage nach einer (auch »physikalischen«) »Verschränkung« löst dann doch noch einen spannenden Dialog über die »spukhafte Fernwirkung« (85) physikalischer Theorien und ihrer Konsequenzen aus: hier gelingt zeitweise der Übergang von einem »Meinungszu einem Begründungswissen«. (s. o.) und ein Gespräch, das zwischen »Verstehen und Verschweigen« oszilliert. Rasch aber kehrt von Schirach zu neuen Fallgeschichten aus Film und Literatur (Brian de Palma, Edgar Allan Poe, Truman Capote, Georges Simenon) und vor allem eigenen Erfahrungen (91–94) zurück, um abschließend so etwas wie die Moral dieses Teils zu formulieren: »›Erkenne dich selbst.‹ Mehr gibt es nicht, das ist die ganze Geschichte.« (95) Aufschlussreich sind die en passant formulierten Stellungnahmen zur Literatur. Was »Verbrechen zur Literatur […] verwandelt«, ist für von Schirach, dass etwa Truman Capote etwas erzählt, das er »nicht wissen [kann]« (89), also das vielleicht gängigste Verfahren eines heterodiegetischen Erzählers. »Vieles, was Kleist in den ›Berliner Abendblättern‹ schreibt, ist für ihn ›moderne Literatur‹« (78). Für Kluge »muss der Poet Details aufsammeln« (92), was sich auch autoreferentiell verstehen lässt. In der Ver-Sammlung dieser Details zur Konstruktion
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von Wirklichkeit liegt die Verbindung zwischen Strafverfahren und Literatur, so wie sie auch von Schirach formuliert: »Literatur ist kein Abbild der Wirklichkeit. Es ist eine eigene Wahrheit.« (78). Wie oder ob diese eigene Wirklichkeit der Literatur wiederum mit der außerliterarischen Wirklichkeit in Verbindung treten oder sie gar beeinflussen könnte, etwa im Sinne von Jacques RanciHres »le r8el doit Þtre fictionn8 pour Þtre pens8«10 also auch um ein Kleistsches »Wissen vom Menschen« hervorzubringen, davon erfahren wir leider zu wenig.
Fragen zu »Terror oder die Klugheit des Rechts« Joseph Vogl hat den schon zitierten Artikel mit »Kluges Fragen« überschrieben (Anm. 7) und diese mit dem Kafkaschen Landarzt verglichen, »der statt Antworten und Lösungen vor allem Fragen hinterlässt.« (Ebd., 128). Doch die Fragen, die Kluge seinem Dialogpartner zu dessen Stück Terror stellt, sind zunächst Sprungbretter für die Antworten des Autors, etwa wenn von Schirach sich eine traditionelle Funktion des Theaters zu eigen macht: »Das Theater wird so zu einer republikanischen Form, die »res publica«, die öffentliche Sache wird verhandelt.« (110). Angesichts dieser Einschätzung hat der Klugesche Vorschlag eines unterirdischen »Kellertheaters«, eines »spirituellen Puffs« (112), der an das »Theater unter der Bühne« von Lorcas El Pfflblico (1930) erinnert, keine Chance, eine »Antwort« zu erhalten. Stattdessen liefert Kluge anhand der Rezeption der Terror-Verfilmung von Schirach die Vorlage um seinem Stück zu bestätigen: »Dieser Diskurs ist Demokratie« (116), die heftige Kritik von Juristen wie Burkhard Hirsch (»Effekthascherei«, FAZ, 01. 08. 2016) oder Thomas Fischer (»Rechtsshow der billigen Sorte«, Die Zeit, 18. 10. 2016) wird von den beiden Juristen Kluge und von Schirach zu keinem Moment aufgenommen. Wenn Kluge die Erzählung der Entstehung und Entwicklung des Rechts (118) mit der Frage unterbricht: »Außerdem haben wir die Phantasie. Wie würden Sie die bezeichnen?« (119), geraten die Verhältnisse zumindest kurz ins Tanzen. Denn auf von Schirachs Replik, »Die Phantasie, so gesehen, ist ein Kind der Vernunft.« (119) reagiert Kluge mit einer »Anreicherung« der Vernunft: »Ich könnte mir vorstellen, dass die Vernunft ein Himmelskörper ist, Mond und Sterne um sich herum hat.« (119), und von Schirach lässt sich auf diese »attraktive« (Fourier) Vernunft ein: »Um sie schweben die Kunst, das Recht, die Toleranz, die Empathie und so weiter.« (119) doch damit ist die Phantasie schon wieder abhanden gekommen. Stattdessen diskutieren von Schirach und Kluge Ruhe- und Erschütterungsphasen in Theater und Literatur (122–124). Und wenn Kluge mit einem seiner Lieblingsbegriffe, der »Verschränkung«, operiert, die für 10 Jacques RanciHre, Le partage du sensible, Paris: Fabrique 2000, S. 61.
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ihn in quasi-surrealistischer Weise »Koinzidenzen, Zusammenhänge« (127) schafft, so reagiert von Schirach (zweck-)rational: »Es gibt diese Dinge, die wir nicht erklären können und für die wir keine Sprache haben.« (127). Von der »Klugheit des Rechts« ist da schon länger nicht mehr die Rede, stattdessen verständigt man sich auf die »Produktion von Güte« (Kluge, 130) als »Ausweg« (von Schirach, 128), und von Schirach kommt zu einer ähnlichen Bilanz wie mit der »Nächstenliebe« im Sokrates-Teil: »in diesem Satz [liegt] der tiefste Grund für Güte: Wir sind Menschen.« (132) Inwieweit es in diesem ersten von Schirach-Kapitel um die »Klugheit des Rechts« geht, mag dahin gestellt bleiben. Es geht eher darum, »wie wir mit dem Terrorismus umgehen«, den von Schirach als »die größte Herausforderung unserer Zeit« (107) bezeichnet. Doch auch diese Thematik verschwindet bald hinter Erwägungen und Erörterungen zur (kulturellen) Situation unserer Zeit: »Wir haben eine wirre Welt im Moment, unheimlich, aus den Fugen.« (Kluge, 123). Doch anstatt den Gespenstern auf die Spur kommen zu wollen, die in solchen Zeiten spuken, prophezeit von Schirach literaturgeschichtlich: »Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden sich Theater und Literatur verändern.« (124). Wenn Kluge fordert, »eine Topographie der guten Geister zu entwickeln«, das was er »ein spirituelles GPS« (124) nennt, so wäre dies die Gelegenheit eine solche Topographie Spuren lesend zu erkunden, doch es bleibt bei Hinweisen auf Sokrates, Cicero, Voltaire und Montaigne (von Schirach, 125), und der Aufforderung, »gütig zu handeln« (von Schirach, 131). Vielleicht sind es diese sympathischen und unbestreitbaren Empfehlungen, die diesen Teil so wenig streitbar und überraschend, man könnte auch sagen »verschränkt« wirken lassen.
Eine Konjunktur der »Politik oder das Lob der Langsamkeit«? Die Langsamkeit hat seit längerem Konjunktur : nicht nur mit Hartmut Rosas Arbeiten zur »Entschleunigung« (zuletzt: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2016), sondern als kulturelles Phänomen, so dass häufig von einem (bevorstehenden, wünschenswerten?) »Zeitalter der Langsamkeit« gesprochen werden kann. Doch das »Lob der Langsamkeit« führt (gewollt?) zumindest teilweise in die Irre.11 Denn wie von Schirach einleitend auf den Hinweis von Kluge, »Sie halten die Festrede bei den Salzburger Festspielen.« (137), antwortet, geht es vielmehr um »Gesichter der Macht« (137). Die beiden Dialogpartner reden so etwas wie eine Partitur der Macht, zugleich die zentrale Thematik der 11 Ein wirkliches »Lob der Langsamkeit« formuliert von Schirach im Voltaire-Teil in Hinblick auf Rechtsverfahren: »Erkenntnis in der Strafjustiz entsteht nicht durch Geschwindigkeit, sondern durch Zeit, durch viel Zeit.« (80)
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Festspiele, die von Schirach am 27. Juli 2017 eröffnet. Während von Schirach mit dem Kriegsausbruch von 1914 über den Auslöser der Katastrophen des Jahrhunderts der Extreme spricht, erweitert Kluge die Perspektive auf das vorhergehende Jahrhundert als jenes der Revolutionen (auch wenn jene Louis-Philippes ihn schon 1830 und nicht erst 1832 an die Macht gebracht hat, 138). Auf die Klugeschen Phantasmagorien revolutionärer Transformationen antwortet von Schirach noch adäquat mit den Wunderkammern (seiner Kindheit), um in der Folge aber sowohl Rousseau (143) als auch Revolutionen insgesamt zu verabschieden: »Revolutionen, Welterklärungen, alle einfachen Wahrheiten sind anziehend. Aber sie richten schnell Katastrophen an.« (147). Dadurch ausgelöst setzt ein munteres Dialog-Hin-und-Her ein: zu Krieg und Verbrechen, zur Flüchtlingsfrage, zu den Wechselwirkungen der Geschichte, zur globalen Verschränkung von Naturphänomenen, zur Verantwortlichkeit Gottes und zum »klugen Richter« (von Schirach, 163), der wohl Kluge miteinschließt. Nach einem Exkurs zu von Schirachs Biographie und Familiengeschichte (165–169) geht das Hin-und-Her weiter, von Wolf Singer über Descartes, Thukydides und Thomas Mann bis zu Hitler und Hobbes. Doch als Kluge von »Nebenannahmen« (hier der »überholenden Kausalität«, 177) her Gewissheiten ins Wanken bringen und Utopien zumindest denkbar werden lassen will, antwortet von Schirach mit einer Seneca-Anekdote und der Moral: »Die Ursache ist unser Stolz, und der ist immer gefährlich.« (179). Und auf die spannende Kluge-Phantasmagorie eines »Welttheaters« mit Cicero-, Voltaire- und Dada-Collagen reagiert von Schirach: »Mir wär das zu viel, ich bin zu langsam.« (185). Neben diesem »Lob der Langsamkeit« endet der Teil, an den Beginn anknüpfend, mit einer Warnung vor der möglichen Wiederholung der Ursprungskatastrophe des 20. im 21. Jahrhundert. Kluges Anläufe zu problematisierenden Fragen, die sich durch Antworten nicht abgelten lassen, unterläuft von Schirach mit seinen Geschichten und Anekdoten, die meist zu einer common sense-Lösung führen: »Wenn es keinen freien Willen gibt, ist das das Ende unserer Freiheit, unserer westlichen Gesellschaft.« (170), »Er glaubt sich im Recht, und dadurch wird es immer schlimmer.« (177), »Die Wirkung dieser Bücher kommt aus der Stille.« (186) oder : »Unsere Zukunft ist offen, lieber Herr Kluge.« (187). Wenn für Kluge und seine Fragen der »Spieleinsatz eben das Problematische und Unvermutete ist« (Vogl, 125), dann hat von Schirach (fast immer) zufrieden- und zur Ruhe stellende, und dementsprechend meist mehrheitsfähige Antworten parat: Kluge gelingt es nicht oder er verzichtet darauf, diese Auskünfte infrage zu stellen.
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Ein ›intertextueller‹ Dialog? Kluges Interviews oder Gespräche partizipieren an dem, was Dorothee Walzer mit Walter J. Ong eine »sekundäre Oralität« nennt12, also eine programmatische, mediale Mündlichkeit. Für Walzer lassen »die von Kluge entworfenen Dialoge jedes Einvernehmen in einem dissensuellen Gesprächsverlauf untergehen« (Walzer, 163). Doch wir haben gesehen, dass im Fall der Gespräche mit von Schirach eher das Gegenteil der Fall ist. Am Ende jedes Kapitels steht ein gegenseitiges Einvernehmen, das mal von dem einen, dann von dem anderen der Gesprächspartner formuliert wird, von der versprochenen »Gespenstergeschichte« kann eigentlich nicht die Rede sein. Von einem Beobachtungsstandpunkt 3. Ordnung aus drängt sich allerdings die Frage auf, weshalb Kluge gerade bei den Unterhaltungen mit von Schirach so deutlich von seiner gewohnten Gesprächsstrategie abweicht. Ferdinand von Schirach erklärt im Deutschlandfunk (19. 10. 2017), dass die »Unterhaltungen« des Luchterhand-Bandes auf Gesprächen und Interviews beruhen, die über mehrere Jahre hinweg geführt worden seien. Nun unterscheidet sich zweifelsohne ein ko-signiertes Buch beim Verlag eines der beiden Autoren, der zudem, von den alphabetischen Gewohnheiten abweichend, an erster Titel-Stelle genannt wird, erheblich von den gesendeten oder verschriftlichten Interviews, die Kluge üblicherweise führt. Hinzu kommt, dass es sich bei von Schirach um den im Moment wohl auflagenstärksten deutschsprachigen Autor handelt. Der Erzählungsband, den er kurz nach der Herzlichkeit der Vernunft veröffentlicht, Strafe (März 2018), steht sofort auf Platz 1 der SpiegelBestseller-Liste. Und auch der von Schirach-Kluge Band schafft es Ende 2017 längere Zeit, unter die zweiten zehn dieser Liste zu kommen. Insofern haben die Gespräche der Herzlichkeit der Vernunft mit einem anderen Erwartungshorizont zu rechnen als die meisten Kluge-Interviews. Auch der Kontext der Publikation verrät dies deutlich. So veröffentlicht etwa Anfang Oktober 2017 Die literarische Welt Teilabdrucke des Sokrates-Kapitels: am 01.10. unter dem Titel »Das Schöne an sich«, von Modeaufnahmen Karl Lagerfelds mit dem Motto »Antike« (Sokrates?) illustriert, am 02.10. folgt »Die Demokratie« und am 03.10. »Verschwörungstheorien«. Vermarktung und Mediatisierung spielen also eine zentrale Rolle. Doch dies ist nicht der einzige und wohl auch nicht der wichtigste Grund dafür, dass es zu keiner »spielerischen und selbstvergessenen Annäherung an den Gegenstand« (Walzer, 172) kommt, von der Verwandlung von »Szenen des Wissens in eine Komödie« (Ebd., 174) ganz zu schweigen. Der Grund wird dem 12 Dorothea Walzer, Arbeit am Exemplarischen. Poetische Verfahren der Kritik bei Alexander Kluge, Paderborn: Fink 2017, S. 162.
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Leser des Bandes, der von über mehrere Jahre geführten und dann verschriftlichten Gesprächen ausgehen muss, verschwiegen, obwohl an einer Stelle auf ihn angespielt wird. Kluge beginnt den Politik-Teil mit der Feststellung: »Sie halten die Festrede bei den Salzburger Festspielen.« (137), aber das Präsenz verweist in die Vergangenheit. Am 27. Juli 2017 hat Ferdinand von Schirach die Rede zur Eröffnung der Festspiele gehalten. Was jedoch beim gesprächstypischen »Zeigen und Verschweigen« (s. o.) nicht gesagt wird, ist dass sich von Schirach in seiner »Antwort« auf diese Aufforderung selbst zitiert: über mehr als eine Seite hinweg wiederholt er wörtlich den Anfang seiner Salzburger Rede. Und diese praktizierte Auto-Intertextualität wird mehrfach wiederholt, der größere Teil dieser Rede wird im Gespräch recycelt: etwa was Volksentscheide und direkte Demokratie angeht (143ff.) oder was die Affäre Calas betrifft (55–67), aber auch was die abschließende Beurteilung der »Situation unserer Zeit« (187) anbelangt: von Schirachs Schlussworte seiner Salzburger Rede werden zu jenen der Herzlichkeit der Vernunft. Nun kann man bemängeln, dass diese Art von »sekundärer Schriftlichkeit« nicht erwähnt wird, doch solche philologischen Maßstäbe wären übertrieben. Wichtiger, gerade für Kluge als »unsichtbaren Verführer«, durch dessen Fragen »Das Falsche [ist] also das Richtige« (Sprenger, 10) werden kann, ist vielmehr, dass das Wissen um diese vorher feststehenden Textbausteine den Fragesteller zum Stichwortgeber macht. Eine Annäherung von den »Nebensachen« her, ist (zumindest teilweise) unmöglich, weil die »Hauptsachen« in Form der Salzburger Rede als zentrale Montage-Elemente des Textes schon vorgegeben sind. Dass von Schirach seine pseudo-sekundäre Oralität inszeniert, ist die eine Seite der Medaille, die andere aber ist, dass bei dem (nur scheinbar) Fragenden die »Spontaneität« der Fragen, die zu einem Dialog führen sollen, »lors duquel chaque locuteur est amen8 / s’exprimer librement«13, bei schon feststehenden Antworten nicht mehr oder nur noch eingeschränkt gegeben sein kann. Wo Alexander Kluge eigentlich »statt Antworten und Lösungen Fragen hinterlässt« (Vogl, 128), führt diese Dialog-Struktur dazu, dass Ferdinand von Schirach »Antworten« geben kann, in denen er sich selbst zitiert. Freilich handelt es sich um Fragen und Antworten, die den Erwartungen des Publikums entsprechen. Das Projekt einer Herzlichkeit der Vernunft antwortet offensichtlich auf ein Bedürfnis, und die Lesbarkeit und Unterhaltsamkeit des gut gegliederten und abwechslungsreichen Bandes tragen zu seiner Attraktivität bei. Die Themen der einzelnen Kapitel, vom »Glück der Bescheidenheit«, über die »Freiheit durch Toleranz«, das »Wissen um den Menschen« und die »Klugheit des Rechts« bis zum »Lob der Langsamkeit« demonstrieren in ihrer Ge13 Vincent Pauval, »Situations de ce qui s’entre-tient: jeux socratiques audiovisuels et conversions po8tiques dans l’œuvre de Kluge«, in: Jean-Pierre de Giorgio u. a. (Hg.), Espacetemps du dialogue litt8raire, PU Clermont-Ferrand 2017, S. 87–105, hier : 99.
Die Herzlichkeit der Vernunft
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samtheit die Aspekte einer Herzlichkeit der Vernunft. Das »Vorwort« und die Nachbemerkung (»Über dieses Buch«) deuten mit den »Spuren der großen Geister« (5) und dem »was den Menschen im eigentlichen Sinne menschlich macht« (191) an, wo mit den fünf Gesprächen die Herzlichkeit der Vernunft gefunden werden soll: in einer »konsistenten Geistesgegenwart« der »Spur großer Geister« (5), deren Leben und Werk uns (noch heute) etwas lehren: Sokrates die Bescheidenheit, Voltaire die Toleranz, Kleist einen »Blick ins Menschenherz« (86) und die aus von Schirachs Werken (Terror, seine Salzburger Rede) hergeleitete »Güte« (128) als wichtigste Qualität, die es gestatte, nicht (nur) »vom Verstand, sondern von dem Gefühl oder vom Herzen her« (176) etwas zu verstehen. Besonders deutlich wird dies beim Gespräch über die Toleranz, die nicht ohne Grund im Zentrum der »Salzburger Rede« steht. Sie wird nicht nur als »das Heiligste der Menschenrechte« (60) betrachtet, sie wird auch als eine Bekundung der Bescheidenheit verstanden: Voltaires »Toleranz ist im Grunde Bescheidenheit.« (70), so von Schirach. So gesehen stellt Die Herzlichkeit der Vernunft den gelungenen Versuch dar, die »Vernunft« und den »Verstand« mit dem »Gefühl« und dem »Herzen, das etwas versteht« (176) zu versöhnen, oder, um es mit von Schirach in Hinblick auf Candide zu sagen, »Das ist die Demut aus der die Vernunft entsteht.« (154). Der uns umgebende gleichgültige und kalte Kosmos ist für Alexander Kluge »der Grund für Herzenswärme«, worauf Ferdinand von Schirach entgegnet: »Toleranz ist diese Herzenswärme.« (72). Im Sinne des »emotional turn« sind Sinne und Gefühle mindestens ebenso (lebens-)wichtig wie Vernunft und Verstand.
Alexander Kluge
Ist Hilde unvernünftig?
Wilfried konnte schwer sagen, was ihn an Hilde W. störte. Sie kam herein, redete drei Sätze, schnappte das Telefon und redete in einem Nebenzimmer für mehrere Stunden. Das Selbstgenügsame dieses Verfahrens, das »Egoistische«, schien Wilfried »vegetativ« wie das einfache Wachstum sich ausdehnender Algen. Zu seiner Vertrauten Gudrun sagte er : – Hilde ist stockunsympathisch. – Wieso? – Wie eine fleischfressende Pflanze. – Du bist intolerant. Er konnte sich nicht korrekt ausdrücken, also war ihm der Gedankengang selber nicht klar. – Mir ist der Gedankengang nicht klar. Ich drücke mich falsch aus. Aber ich meine etwas Bestimmtes. – Das ist kein Gedankengang (sagte die geduldige Gudrun), das ist ein unbestimmtes Gefühl, ein Vorurteil. Es war ihm egal, wie sie es nannte. Er konnte eine Person nicht leiden, die ein nur oberflächliches Interesse an ihrer Umgebung zeigte und statt dessen ihren konsumartigen »Grüßen in die Ferne« nachging. Er hatte eine quasi rassistische Abneigung gegen diesen Sozialtyp. – Sie scheint mir asozial. – Du bist beleidigt, weil sie sich nichts aus dir macht. – Sie macht sich auch aus SONST nichts. – Willst du, daß sie sich länger um dich kümmert? – Um Gottes willen.
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Alexander Kluge
Er war sich sicher, daß er keine längeren Gespräche mit Hilde W. haben wollte. Seine Abneigung wurde stärker, wenn sie ihn beobachtete. – Wofür interessiert sie sich? – Fürs Telefonieren, das siehst du ja … (aus: Chronik der Gefühle I, S. 945)
Christian Wimplinger
Über Eigensinn, Arbeit und andere Zombiegeschichten. Enteignung des Nah- und Fernsinns bei Negt und Kluge
Philosophischen Begriffen ist in ihrer Entwicklung und Verbreitung oft ein bemerkenswertes Eigenleben beschieden. Dass etwa der Begriff des Rhizoms, selbst aus der Biologie abgeleitet, in so vielfältigen disziplinären Kontexten Anwendung findet, hätten wohl selbst Deleuze und Guattari nicht für möglich gehalten, zumal sie philosophische Begriffe weniger als ein Ausdrucksangebot für spezialisierte Forschungsfelder, sondern als Meteoriten und singuläre Ereignisse eines Schaffensprozesses verstehen.1 Andere Konzepte der Philosophie wiederum haben kürzere Arme und erreichen erst gar nicht die nötige Spannweite, um das eigene Fach zu verlassen und – gewollt oder nicht – die Aufmerksamkeit anderer Disziplinen auf sich ziehen. Oskar Negt und Alexander Kluges Begriff des Eigensinns ist kaum außerhalb des Kluge-Universums anzutreffen, tut er es dennoch, dann zumeist in literaturwissenschaftlicher Forschung, die von ihm häufig einen unterkomplexen Gebrauch macht.2 Selten wird unter Eigensinn hier mehr verstanden als ein hartnäckig verfolgter, aber positiv gewendeter Konventionsbruch.3 Im Vergleich 1 Vgl. Gilles Deleuze und F8lix Guattari, Was ist Philosophie?, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, S. 16. 2 Für diese Beobachtung stellvertretend kann der Text Eigensinn und Geschichte von Leo Kreutzer dienen, dessen Titel offensichtlich Assoziationen zu Negt und Kluges Buch erwecken will, aber mit keinem Wort auf die Komponenten ihrer Begriffe eingeht. Durch das stillschweigende Voraussetzen dieser Begriffe wirkt der Text teilweise hermetisch: Kreutzer fordert eine Welt-Literaturwissenschaft, die »je an ihrem Ort das Drama von ›Eigensinn und Geschichte‹ erkundet, die Auseinandersetzungen zwischen herkömmlich-partikularen und jetztzeitlich-weltgesellschaftlichen Lebensbedingungen.« Sh.: Leo Kreutzer, »Eigensinn und Geschichte. Überlegungen zu einer Literaturwissenschaft als interkultureller Entwicklungsforschung«, in Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems, 1950–1990, hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt, Stuttgart: Metzler, 1996, S. 594. 3 Wie ungehört dieser Begriff ist, zeigt eine Bemerkung der Literaturwissenschafterin Jaana Kaiste, die die Bedeutung des Märchens der Gebrüder Grimm für die Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge nicht zur Kenntnis nimmt, wenn sie 2005 schreibt, dass Das
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Christian Wimplinger
hierzu ist die Signatur des Begriffs Rhizom unverkennbar mit den Namen Deleuze und Guattari verknüpft. Dass jemand ihre Namen aus der Geschichte des Wurzelgeflechts derart wegstreicht, ist undenkbar.4 Das philosophische Potential von Negt und Kluges Begriff des Eigensinns wird durch die Debatten um seine angemessene Übersetzung, vor allem ins Englische, eher verdeckt als offen gelegt. Das ist auch weiter nicht verwunderlich, da sich die Übersetzung zunächst am alltagssprachlichen Gebrauch von Worten orientiert und daher nicht immer gewährleisten kann, alle Komponenten eines philosophischen Begriffs transportfähig zu machen. Von Übertragungsproblemen ins Englische berichtet Hans Magnus Enzensberger bereits 2010, also vier Jahre vor der englischen Übersetzung von Geschichte und Eigensinn. Der Mitstreiter um die Signatur dieses Begriffs bemerkt anlässlich der englischen Übersetzung seines Buches Hammerstein oder der Eigensinn:5 Eigensinn is a word that doesn’t translate very well into English […]. It’s not selfishness. It’s not obstinacy. It’s not intransigence. You might say it’s a sense of having your own value system. [… A] ’man of character’: that might be a good translation.6
Enzensberger betont in seinem Sprachverständnis mehr die selbstbewusste und nach außen hin sichtbare Charakterstärke eines Menschen, von dem behauptet wird, dass er seinen eigenen Regeln folgt. Hierin steht er in einer Reihe etwa mit Hermann Hesse, der 1917 Eigensinn jene Tugend nennt, sich autonom verhalten zu können: »sein eigenes Gesetz in sich [tragen] und vollkommen sicher und unbeirrbar seinem Gesetze [folgen].«7 Keiner von Enzensbergers Vorschlägen ist aber für die Übersetzung von Negt/Kluges Geschichte und Eigensinn zu ge-
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eigensinnige Kind »zu den eher vergessenen und weniger bekannten Stücken der Sammlung [gehört]. Es hat später auch keine Nachwirkung gefunden.« Sh.: Jaana Kaiste, Das eigensinnige Kind: Schrecken in pädagogischen Warnmärchen der Aufklärung und der Romantik, Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Germanistica Upsaliensia 49 (Uppsala: Uppsala Universitet, 2005), S. 121. Kaiste vergisst nicht nur Negt und Kluges Rezeption des Märchens, sondern auch die Elfriede Jelineks, von der Daniela Strigl behauptet, dass das Grab des eigensinnigen Kindes als Metapher für ihren Textbegriff fungiert. Vgl. Daniela Strigl, »Die Seelen der Toten, die ›toten Seelen der Lebenden‹ und das ›Klitterungsklistier‹ des Herrn Geschichtsprofessors. Elfriede Jelinek und die Nachgeborenen«, in »Die endlose Unschuldigkeit«: Elfriede Jelineks »Rechnitz« (Der Würgeengel), hg. von Pia Janke, Teresa Kovacs und Frank Baumbauer, Diskurse, Kontexte, Impulse 6, Wien: Praesens-Verl, 2010, S. 361–76. Hans Magnus Enzensberger, Hammerstein, oder, Der Eigensinn: eine deutsche Geschichte, 1. Aufl, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008. Philip Oltermann, »A Life in Writing: Hans Magnus Enzensberger«, The Guardian, 14. Mai 2010, Abschn. Books, http://www.theguardian.com/books/2010/may/15/hans-magnus-enzens berger-interview. Hermann Hesse, »Eigensinn«, in Sämtliche Werke: 12: Autobiographische Schriften, 2: Selbstzeugnisse, Erinnerungen, Gedenkblätter und Rundbriefe, 1. Aufl.., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 102.
Über Eigensinn, Arbeit und andere Zombiegeschichten
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brauchen, da weder obstinacy noch a man of character Bezug zu den Komponenten aufrecht erhält, die für Negt und Kluges philosophischen Begriff entscheidend sind: nämlich die Wahrnehmungssinne und deren Enteignung. Denn Negt und Kluges Eigensinn geht in Kontrast zu Enzensberger andere Wege. Sie exemplifizieren ihr Konzept anhand physiologischer Organe, unter anderem anhand des menschlichen Auges, vor allem aber der menschlichen Hand, die im Zentrum dieses Beitrages steht. Liest man den Eigensinn bei Negt und Kluge in erster Linie physiologisch, so steht er in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zu Nietzsches Konzept der Genealogie und den damit verbundenen Machtprozessen, die sich an Organen wie der Hand und dem Auge abspielen. Dabei geht es nie zimperlich zu: Denn zu den Sinn-Enteignungen in der Entwicklung gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse zählen abgeschlagene Hände genauso wie ausgestochene Augen, die als Organe der Untoten z. B. im Märchen vom Eigensinnigen Kind wiederkehren. Das Märchen vom Eigensinnigen Kind, so Negt und Kluge, erzählt von diesen blutigen Enteignungen, die sich noch im schaurigen, ja geradezu horriblen Zuschnitt des Kindermärchens zeigen. Die Geschichte der Arbeitskraft mit Eigensinn erzählen heißt demnach: sie mit den Stimmen der Untoten erzählen.8
Genealogie des Eigensinns Wie so oft ist auch der Eigensinn zunächst als nicht-philosophischer Begriff in Verwendung, worauf sein disziplinenspezifischer Gebrauch auch zurückgreift, um hieraus seine philosophische Qualität zu entwickeln. Bekanntermaßen beziehen sich Negt und Kluge auf das kürzeste Märchen aus der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, Das eigensinnige Kind, um es in einem Exkurs über den Spezialfall deutscher Aufklärung und ihre Mythen mit der Figur der Antigone zu kontrastieren.9 Das Märchen lautet: Es war einmal ein Kind eigensinnig und that nicht was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen 8 Vgl.: Oskar Negt und Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch: gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. 2. Geschichte und Eigensinn, Orig.-Ausg., 1. Aufl. (Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2001), S. 737: »Man kann dies [die Geschichte der Kriege von 1804–1815] eigentlich nur richtig als Stimme der Toten […] formulieren.« Wenn Tote aber Stimmen haben, sind sie untot. 9 Vgl. Oskar Negt und Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch: gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. 2. Geschichte und Eigensinn, Orig.-Ausg., 1. Aufl., Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2001, S. 765–69.
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wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber thaten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das gethan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.10
Darüber hinaus kommt das Wort in Geschichte und Eigensinn nur gelegentlich vor:11 Ihm wird – trotz seiner Präsenz auf dem Buchdeckel – weder ein Kapitel noch ein Abschnitt, auch kein eigener Kommentar oder Exkurs gewidmet.12 Eigensinn zählt laut Negt und Kluge zu den Arbeitseigenschaften des Menschen.13 Er tritt aber erst in einer geschichtlichen Phase auf, in der die Arbeitenden von ihren Produktionsmitteln getrennt werden, und zwar in einem Maße, in dem auch die eigenen Sinne als Produktionsmittel von dieser Enteignung betroffen sind. Eigensinn ist daher eine widerständige Reaktion des menschlichen Körpers auf die Enteignung seiner (Sinnes)-Organe.14 Er ist »der auf einen Punkt zusammengezogene Protest gegen Enteignung, Resultat der Enteignung der eigenen Sinne, die zur Außenwelt führen.«15 Wie sehr dieser Protest »auf einen Punkt zusammengezogen« sein kann, verdeutlicht das berühmte Beispiel der Röhrenschweißerin Frau Heinrich, von dem Marianne Herzog in ihrer Studie Von der Hand in den Mund. Frauen im Akkord16 berichtet und auf das sich Negt und Kluge beziehen:17 Um ihren kurzzyklischen Arbeitsakkord dauerhaft auszuhalten, hat Frau Heinrich […] ein paar Bewegungen dazu erfunden […]. Mit den Händen nimmt sie nicht nur das Material auf und schweißt es unter der Elektrode 10 Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. Zweiter Band, Leipzig: Philipp Reclam jun., 1894, S. 136. 11 Vgl. etwa die Abbildung eines Friedhofes mit der Bildunterschrift »Das eigensinnige Kind« im thematischen Kontext von Bombenangriffen auf Städte: Oskar Negt und Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch: gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. 2. Geschichte und Eigensinn, Orig.-Ausg., 1. Aufl., Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2001, S. 720. 12 Dass Elisabeth Weber in ihrem Beitrag zum Thema ›Eigensinn‹ das Gegenteil behauptet, ist wohl dem eher ungewöhnlichen Textaufbau von Geschichte und Eigensinn geschuldet, der aufgrund seines enzyklopädischen Charakters traditionelle Wertigkeiten zur Leserlenkung, etwa die Vorrangigkeit eines Kapitels vor einem Kommentar, in Frage stellt. Vgl.: Elisabeth Weber, »Eigensinn«, in Wahnwelten im Zusammenstoß: die Psychose als Spiegel der Zeit, hg. von Rudolf Heinz und Dietmar Kamper, Acta humanoria, Berlin: Akad.-Verl, 1993, S. 105. 13 Vgl. Negt und Kluge, Der unterschätzte Mensch, S. 769. 14 Eine gelungene theoretische Verortung des Begriffs gab bereits Matthew Miller, der den Eigensinn mit Enteignung verknüpft und ihn somit zwischen Sesshaftigkeit und Entwurzelung platziert. Das ist auch der Grund, weshalb er Eigensinn als Transit-Begriff charakterisiert. Vgl. Matthew D. Miller, »Eigensinn in Transit: Reexamining a Concept for the Twenty-First Century«, Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, S. 88–93. 15 Negt und Kluge, Der unterschätzte Mensch, S. 766. 16 Marianne Herzog, Von der Hand in den Mund: Frauen im Akkord, Berlin: Rotbuch-Verlag, 1976. 17 Vgl. Negt und Kluge, Der unterschätzte Mensch, S. 107f.
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zusammen, sondern [… sie] breitet die Arme aus wie im Flug, dann zieht sie sie wieder ein und nimmt dabei, als käme sie rein zufällig daran vorbei, das zu schweißende Material in beide Hände und wippt […] mit dem Körper nach und tritt mit dem Fuß drei- bis viermal auf das Fußpedal und schweißt dann das erste Teil an.18
Ihre eigensinnige Handbewegung ist nach dem Raster einer fordistischen Bewegungsanalyse überflüssig. Sie erschöpft sich nicht im hergestellten Produkt, geht nicht in das ein, was Marx tote Arbeit nennt. Mit diesem Ausdruck bezeichnet er jedes Resultat vorangegangener, lebendiger Arbeit, die sich z. B. in den Produkten, Produktionsmitteln, Maschinen und Rohstoffen vergegenständlicht.19 Während eines Produktionsprozesses geht lebendige in tote Arbeit über. Die eigensinnigen Bewegungen von Frau Heinrich widersetzen sich aber der Aneignung durch den wertschöpfenden Prozess und bleiben Teil ihres Lebenslaufs, wenn er auch darin keinen Zusammenhang bildet. Innerhalb des bipolaren Feldes zwischen lebendiger und toter Arbeit20 hat ihre eigensinnige Handbewegung – so könnte man Negt und Kluge ergänzen – den Status von untoter Arbeit. Denn, liest man ihre eigensinnige Handbewegung genealogisch, werden in ihr die Stimmen der sinnenteigneten Toten laut, die von ihrer leidvollen Enteignung berichten. Der Zusammenhang zwischen der titelgebenden ›Geschichte‹ und dem ›Eigensinn‹ ist also der, dass in der eigensinnigen Bewegung von Frau Heinrich die Geschichte der Sinn-Enteignung sich auf einen Punkt zusammenzieht und wiederholt. Insofern ist Eigensinn eine Eigenschaft untoter Arbeit, da in ihr vormals lebendig begrabene Arbeit als Protest wiederkehrt. Zwischen Negt/Kluges Eigensinn und Nietzsches Genealogie-Begriff bzw. dem damit zusammenhängenden Widerstand besteht ein Nahverhältnis, wenngleich sich Negt und Kluge für ihre Ausführungen zum Eigensinn nicht ausdrücklich auf Nietzsche beziehen. Nietzsche kritisiert eine Geschichtsschreibung, die die historische Ursache »eines Dings, eines Brauchs, eines Organs«21 mit dessen unterstellter Nützlichkeit verwechselt. Eine solche Geschichtsschreibung begreift »das Auge als gemacht zum Sehen, die Hand als gemacht zum Greifen.«22 Nietzsches alternative Geschichtsschreibung, für die er den 18 Herzog, Von der Hand in den Mund, 22f. [Zit. n. Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn, S.108]. 19 Karl Marx, Das Kapital 1.1: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses; sechstes Kapitel des ersten Bandes des »Kapitals« (Entwurf), Berlin: Dietz, 2009, S. 22f. 20 Vgl. das Kapitel »Der Widerspruch von lebendiger und toter Arbeit« in: Negt und Kluge, Der unterschätzte Mensch, S. 98–102. 21 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Neuausg., 8. Aufl, Sämtliche Werke, kritische Studienausgabe in 15 Bänden; KSA / Friedrich Nietzsche. [Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari]; 5, München: Dt. Taschenbuch-Verl. [u. a.], 2005, S. 314. 22 Ebd.
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Namen ›Genealogie‹ in Anspruch nimmt, interpretiert hingegen jede dieser Nützlichkeiten als bloße Anzeichen dafür, dass eine Macht gegen eine schwächere Macht obsiegt. Geschichtliche Entwicklung, von der die kritisierten MoralGenealogen in so positiven Worten sprechen, wird von Nietzsche ersetzt durch eine bloße Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen, an ihm [dem Ding, dem Brauch, dem Organ] sich abspielenden Überwältigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstände, die versuchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenreaktion.23
Eine genealogische Betrachtung geschichtlicher Verhältnisse umfasst demnach nicht nur den Machtkampf um eine Deutungshoheit und ein primäres Zugriffsrecht auf die Dinge, Institutionen und Organe, sondern auch deren Gegenwehr. Negt und Kluge benennen diese Widerstände und Gegenreaktionen für die von Nietzsche genannten Teilbereiche im Speziellen: Dinge widersetzen sich mit »Eigenwillen« bzw. mit der »Tücke des Objekts«,24 Institutionen mit Protest und – zu guter Letzt – Organe mit Eigensinn. Dass das Auge nicht einfach gemacht ist zum Sehen und die Hand nicht einfach zum Greifen, sondern ihre Funktion sich in einem geschichtlichen Wechselspiel von Aktion und Reaktion permanent verändert, wird auch in Geschichte und Eigensinn anhand dieser beiden Organe thematisiert. Worin besteht der Eigensinn der Hand?
Körperlose Organe:25 Die Hand in der ökonomischen Theorie Die Hand ist das Primärorgan menschlicher Arbeit und sie erweist sich für den Metaphernfundus ökonomischer Theorie als äußerst ergiebig: Hände, die sich zur gemeinschaftlichen Produktion akkumulieren, Hände, die unsichtbar die Märkte regulieren und Hände, deren Träger aufgrund von Ungehorsam von einer stärkeren Macht getötet werden und als Zombies wiederkehren. Immer sind es Partialobjekte, die ihre Arbeit verrichten. Marx spricht von einer »Vereinigung der Massen von Händen«,26 um die Vorbedingungen und Eigentümlichkeiten des 23 Ebd., S. 314f. 24 Beide: Negt und Kluge, Der unterschätzte Mensch, S. 58. 25 Der Begriff ist in Anlehnung an Deleuze und Guattaris Thematisierung des »organlosen Körpers« entlehnt aus: Slavoj Zˇizˇek, Körperlose Organe: Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, 1. Aufl., Orig.-Ausg.., Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1698, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005. 26 Karl Marx und Friedrich Engels, »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie.«, in Werke (MEW), Bd. 42, 2015, S. 415.
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Kapitals zu klären; Adam Smith von einer unsichtbaren Hand, um die selbstregulierenden Kräfte des Kapitals zur Förderung des Gemeinwohls metaphorisch zu fassen;27 und Negt und Kluge, mit Bezug auf das Volksmärchen, von der eigensinnig wieder und wieder aus der Erde emporragenden Hand eines bereits beerdigten Kindes, um das menschliche Widerstandspotential gegen Enteignungsstrategien der modernen kapitalistischen Produktionsweise zu thematisieren.28 Diese metaphorischen Beschreibungen sind durch ein antagonistisches Verhältnis zwischen Leben und Tod gespeist: Marx charakterisiert den Arbeitsprozess als Verwendung von Produktionsmitteln und Rohstoffen, die durch »lebendige Arbeit […] von den Toten erweck[t]«29 werden müssen. Des Weiteren bereitet das massenweise Anhäufen von Händen, selbst wenn sie nur in der Redeweise abgetrennt sind, Sorgen um das Wohlergehen ihrer Träger und erzeugt zugleich Verwunderung, wie ein solches Anhäufen dem Kapital sein Leben einhauchen kann. Auch Adam Smith’ unsichtbare Hand ist ein Prinzip, das das Eigenleben des Marktes zu regulieren vorgibt. Verdichtet tritt dieses Verhältnis zwischen Leben und Tod auch in der Geschichte vom Eigensinnigen Kind auf, in der die unsichtbare, göttliche Hand das ungehorsame Kind totschlägt und sich dessen »Ärmchen« untot gebärdet. Mit Nietzsche – über die bloß metaphorische Dimension der Theoriebildung hinaus – gesprochen: Als Ding und Organ ist die Hand (sowie das Auge) jener Ort, an dem sich Überwältigungsprozesse abspielen und die Enteignung der Sinne inklusive ihrer Gegenreaktionen real statthat: »Verlust der Schwurhand, Augenausstechen, Zerstörung der Gemeinden, Abbrennen der Häuser, Dezimieren […]«30 – das sind laut Negt und Kluge die für die deutschen Verhältnisse entscheidenden Prozesse, wie sich Arbeitskraft im wörtlichen Sinne prägt. Akkumuliert wird nicht wie in England durch Landenteignung der Bauern, sondern durch deren Sinnenteignung, wortwörtlich verstanden. Die erste Fabrik: ein Friedhof abgehackter Hände und ausgestochener Augen. Wie im Märchen Das eigensinnige Kind finden sich auch geschichtliche Vorkommnisse überliefert, in denen die menschliche Hand das Ziel von Bestrafung und Züchtigung wird, um über das individuelle und auch gesellschaftliche Organ gewalttätige Herrschaft auszuüben. Der Schnitzer und Bildhauer Tilman Riemenschneider (1460–1531) produziert Erzeugnisse für den Sehsinn. Da er sich bei der Belagerung der fürstbischöflichen Festung Marien27 Vgl. Adam Smith u. a., An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (New York: The Modern library, 1937), S. 423. 28 Vgl. Negt und Kluge, Der unterschätzte Mensch, S. 765–69. 29 Karl Marx, Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Ungek. Ausg. nach d. 2. Aufl. von 1872, Berlin: Kiepenheuer, 1932, S. 198. 30 Negt und Kluge, Der unterschätzte Mensch, S. 556.
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berg auf die Seiten der Bauern schlägt, werden ihm die Hände abgeschlagen, das behaupten zumindest Negt und Kluge in Bezug auf Thomas Manns im U.S.amerikanischen Exil gehaltene Rede Deutschland und die Deutschen.31 Seine individuelle Bestrafung interpretieren sie pars pro toto für den gesamten Gesellschaftskörper, der seit seiner Niederschlagung von den arbeitenden Händen des Bauernstandes getrennt ist. Sie bezeichnen hiermit die geschichtlich fortdauernden Gräben zwischen dem Bürgertum und dem Bauernstand, die im Falle der deutschen Geschichte besonders tief liegen. Insofern zuckt die Hand Tilman Riemenschneiders auch heute noch, und zwar in den eigensinnigen, überflüssigen Bewegungen der Lohnarbeit. Ein Hand-in-Hand-Gehen zwischen Bürgertum und Bauernstand gilt Negt und Kluge als Voraussetzung für einen »politischen Sieg«32 gegen den sogenannten »regierenden Annex«, also jene politische Klasse, die Abgaben aus produktiver Arbeit abzieht, ohne etwas dafür zurückzugeben.33 Ein gelungener revolutionärer Prozess integriert, wie im Falle der Nelkenrevolution in Portugal 1974, den Protest der Bauern, weshalb sich Negt und Kluge zu dem Witz hinreißen lassen, dass für die portugiesische Revolution nicht Marx, sondern der Chemiker und Entwickler des Kunstdüngers, Justus von Liebig, entscheidend gewesen sei.34 Zusammenfassend zeigt sich eine von Negt und Kluge nicht diskutierte, aber in der Figur des eigensinnigen Kindes angelegte Gegennarration. Sie zählt zu den Potentialen des philosophischen Begriffs, die es noch weiter zu entfalten gilt, und ist verbunden mit dem eigentümlich untoten, ja zombiehaften Charakter des beerdigten Kindes, das aufgrund seines Eigensinnes auch im Tode nicht vom irdischen Leben loslassen kann und immerzu das Ärmchen aus der Erde streckt. Hierin bestehen wertvolle Bezüge zu gegenwärtigen Diskussionen in den Kulturwissenschaften rund um den Themenkreis Monster und Kapitalismus.35 Wenn eine kapitalistisch verwaltete Produktionsform sich darauf spezialisiert, Potentiale des Lebendigen für seine Zwecke von den Menschen abzuziehen – etwa durch den fordistischen Arbeitszeitmesser etc. –, dann kann eine Re31 Bei Thomas Mann heißt es weniger eindeutig, dass ihm »Gefängnis und Folter« verunmöglichten, »aus Holz und Stein [hinfort] das Schöne zu erwecken«. Sh: Thomas Mann, »Deutschland und die Deutschen«, in An die gesittete Welt: politische Schriften und Reden im Exil, 1. Aufl., Gesammelte Werke in Einzelbänden / Thomas Mann, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1986, S. 710. 32 Negt und Kluge, Der unterschätzte Mensch, S. 628. 33 Vgl. Negt und Kluge, S. 248. 34 Vgl. Negt und Kluge, S. 738. 35 Vgl. www.untot.info sowie Lars Bang Larsen, »Zombies of Immaterial Labor : The Modern Monster and the Death of Death«, E-Flux, Nr. 15 (April 2010), https://www.e-flux.com/ journal/15/61295/zombies-of-immaterial-labor-the-modern-monster-and-the-death-ofdeath/. Zugriff: 19. 07. 2018.
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duktion des Lebendigen vor dieser sinnenteignenden Vereinnahmung schützen. Die Gegenwehr kann demnach auch hochgradig passiver Art sein: etwa sich totstellen.
Alexander Kluge
Mein wahres Motiv
Mit einem Kelten, sagte Martin Walser, ist Vertrauen nicht schnell herzustellen; ist es einmal hergestellt, gilt es auf Dauer. Er war vom Bodensee herangereist. Zum Silvesterabend war im Züricher Schauspielhaus Marthalers Inszenierung von Shakespeares Wie es euch gefällt zu sehen, ein Musikwerk der besonderen Art. Ich kannte Walser aus der Gruppe 47. Mich hielt er für linksorientiert und somit für einen potentiellen Kritiker seiner öffentlichen Äußerungen der letzten Zeit. Nach einstündigem Hin- und Herreden, eigentlich ohne Kontakt, fragte er mich, warum ich Geschichten schreibe. So eine direkte Frage, die impliziert, daß ich das Geschichtenschreiben auch unterlassen könnte, also eine Frechheit, führt dazu, daß man die umweglose Antwort sucht. Mir war klar, daß eigentlich alles, was ich tue, der Herstellung eines Friedens zwischen meinen beiden Eltern, der Rücknahme der Scheidung, dient. Wäre ich in Verhandlungen erfahren gewesen, wie ich es heute bin, wäre es mir gelungen, die beiden auseinanderstrebenden Geister in der Krise von 1941 zusammenzuführen. Beide waren sie in gewisser Hinsicht leichtsinnige Naturen. Leichten Sinnes, d. h. sie hätten es miteinander nochmals versucht. Schon 1936 hatte meine Mutter meine Sachen und mich eingepackt, war zu ihrer Schwester und ihrem Schwager nach Dresden gefahren, um eine Scheidung einzuleiten. Vierjährig, war ich Mitbringsel, kein politischer Faktor. Infolge einer Kette von Zufällen, auch dank der Klugheit meiner Großmutter mütterlicherseits, einigten sich die beiden ehelichen Kontrahenten. Vor dem Verhandlungszimmer des Landgerichts, das die Scheidung aussprechen sollte, begegneten sie einander und waren rasch entschlossen, sich lieber zu vertragen. Sie fuhren zurück. Glückliche Tage. Warum wirken die zwei mir und meiner Schwester so vertrauten Personen auf Fotografien nicht als Paar? Das von ihnen eingerichtete Haus: EINE EINHEIT (zerstörbar). Die Kinder, MISCHUNG BEIDER (unzertrennlich). Die beiden selbst aber sozusagen stets vereinigt »unter Vorbehalt«. Der große Romanautor, der, wenn er an einem Roman schreibt, alle Erfah-
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rungsgehalte seiner Umgebung, alle Reden, denen er begegnet, aufsaugt und in die Handlung integriert, war zum erstenmal von mir als Autor überzeugt (oder nahm mich überhaupt wahr), nachdem ich diesen Grundzweifel, ob ich als Neun- bis Zehnjähriger nicht versagt hätte als Befrieder des ehelichen Bürgerkriegs, angesprochen hatte. Es ist ja wahr, daß alles, was ich empfinde oder denke, darum kreist, die beiden Elternteile erneut zusammenzubringen. Alle Forschung nach einer Parallelwelt oder der Konzession eines zweiten Lebens kreist um die Möglichkeit der Wiederherstellung dieses »Bundes«, der verwirrenderweise kein Bund war, aber einer hätte sein sollen.Wie oft treffen Seelen in der Zukunft erneut aufeinander, wie hoffnungsfroh begegnen sie einander, ohne daß sie wissen warum. – Dann beruht also der ganze Elan der AUFKLÄRUNG, FÜR DEN SIE BEKANNT SIND, auf einem privaten Motiv? – Und einem aussichtslosen dazu. – Wenn ich es richtig verstehe, war in Ihrer Mutter ein Zweifel vorhanden, ob Ihr Vater sie hinreichend begehrte, oder ein Zweifel an »begehrenden Männern überhaupt«? Man hätte, antwortete ich, eine »Schule der Liebenden« entwerfen müssen. Auf dem Wege der Erwachsenenbildung beide schulen müssen. Es wäre nicht ausgeschlossen gewesen, daß ihre voneinander so entfernten Empfindungen auch hätten zusammenwachsen können. Außerdem braucht es keine Gleichheit der Gefühle, ergänzte Martin Walser. Es genügt, daß einer ausreichend liebt. Er tut es für zwei. Oder es genügt auch, daß einer einen Funken, der andere einen zweiten beiträgt und daß sich ohne ihren Willen, ohne ihr eigenes Potential, quasi beide seitlich stehend, glückliche Tage ergeben. GEGLÜCKTE TATEN GENÜGEN. Ein kurzer Moment von Vertrautheit. Er hätte mir nicht konzediert, ebenfalls Kelte zu sein, da das Rhöngebirge die Gebiete des Nordharzes und des Bodensees strikt trennt. Aber daß wir die Eltern und Voreltern aus ihren Kriegen lösen und gerne Friedensschlüsse erreichen würden, darin schienen wir uns einen Augenblick einig. Zumindest war mein Gesprächspartner darin standfest, daß er mir traute, wenn ich in dieser Hinsicht persönlich, nicht »politisch«, argumentierte. Nun ist aber das Politische persönlich. Beide, Walser und ich, wohnten im Hotel »Zum Storchen«, wie sich herausstellte. Er war in Begleitung einer jungen Frau, ich in Begleitung meiner Frau und meiner Tochter. Die Stunden, die auf Silvester zuliefen, schmolzen dahin. Beide Seiten wendeten sich dem festlichen Jahreswechsel zu. Draußen über dem Fluß und dem See die ersten Raketen. Was ich aber diesem »literarischen Beichtvater«, dem ich auf Grund seines
Mein wahres Motiv
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Vertrauens in meine direkten Empfindungen meinerseits vertraute, nicht sagen konnte, war Folgendes: Im Untergrund beider, charakterlich und körperlich so verschiedener Elternteile gibt es die gleiche Sehnsucht, »sich hingeben zu dürfen, ohne betrogen zu werden«. Beide sind vorsichtig. Über diese Grundströmung gaben sie einander mit Zeichen keine Auskunft. Statt dessen organisierten sie ihre junge Ehe »nach den gesellschaftlichen Bedingungen«, den »Redewendungen der Zeit«. Die sind lax. Während doch die Empfindungen beider dem »Absoluten« zugewendet sind. Das Mißverständnis, das ich als Mißverständnis spürte, war für mich mit der Redeweise eines Neunjährigen nicht aufzuklären. Ich »quengelte«. Beide, in der Eile der Tage, auch befangen durch die Dramatik des Geschehens, abgelenkt durch Romane und Opern, konnten mit den »Störungen«, die ich bewerkstelligte, nichts Produktives anfangen. Sieben Damen und ein Homosexueller verabschiedeten meine Mutter mit roten Rosen bei der Abfahrt des Schnellzugs nach Berlin. Ich trete die Busenfreundin und Vertraute meiner Mutter, weil sie die Abreise und die Trennung willfährig protegierte, gegen das Schienbein. Eine Störung, nichts weiter. Strumpf beschädigt, gemeinsame Untersuchung der Verletzung durch die Damen. Ich werde beiseite geführt. Zuvor, in der Küche des Hauses, zwischen den beiden vertrauten Personen, die zwölf Krisenjahre in Eintracht miteinander verlebt hatten, immerhin Haus und Kinder produziert hatten (meine Mutter hatte außerdem Bäume im Garten fällen lassen, um die Sonneneinwirkung zu verstärken), mit einer Art von Judaskuß. Sie küßten sich auf die Lippen, obwohl sie doch ziemlich endgültig auseinandergingen. (aus: Tür an Tür mit einem anderen Leben, S. 594)
Rainer Stollmann
»Was der Mann für Unsinn macht«
1 Es gibt so etwas wie einen poetischen Unsinnsschleier. Damit ist die Differenz gemeint, die jeden literarischen Text von nichtliterarischen Texten unterscheidet. Er ist vielleicht bei Alexander Kluge gerade deshalb besonders zu spüren, weil sich seine poetische Haltung nicht als autonome Kunst in Abgrenzung von anderen Perspektiven (Alltagsbewusstsein, Wissenschaft, Tatsachenwelt), sondern sozusagen mit diesen untergehakt aufstellt. In den Erzählungen Alexander Kluges tauchen allenthalben konkrete Orte,1 Zeiten, Namen auf. Die Oberfläche seiner literarischen Prosa steht anders als etwa die zeit- und ortlose der Märchen, Kafkas oder Becketts zur empirischen Welt in engerer Beziehung.2 Begriffe wie »Nachricht«, »Bericht« sind nicht selten, vieles ist dokumentarisch oder gibt sich diesen Anschein, so dass das gesamte, sehr ausgedehnte Tatsachen- und empirische Stoffmaterial Kluges »realistisch« erscheint. Aber jeder einzelne Text, den Kluge schreibt und jede Sequenz, die er filmt, bricht doch die konventionellen Erwartungen, die wir mit diesen Begriffen verbinden, so dass das Reale, Faktische, Empirische in einem sonderbaren, »komischen« Licht erscheint. Schon ein Buchtitel wie »Chronik der Gefühle« enthält diese Befremdlichkeit. Eine Chronik im Mittelalter besteht aus Jahreszahlen, dahinter von Mönchen oder Stadtschreibern aufgeschrieben die wichtigsten Tatsachen des Klosters, der Stadt oder auch der »Welt«. Gefühle spielen darin keine Rolle. Kann man von 1 Gunther Martens hat die auffällig große Anzahl realer Ortsnamen bei Kluge untersucht. Er konnte statistisch belegen, dass Kluge häufiger Orte nennt als andere Autoren und dass die Tendenz dieser faktischen Lokalisierung der Erzählungen zunimmt. Das fünfte Buch »features references to places nearly all over the world.« (S. 36). Vgl. Gunther Martens, »Distant(ly) Reading Kluge’s Distant Writing«, in: Vermischte Nachrichten, Alexander-Kluge-Jahrbuch 1, 2014, S. 29–42. 2 Selbst Joyce’ Ulysses enthält, auch wenn man nach dem Buch Dublin neu erbauen könnte, einen Rest klassisches Theater, Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Denn kein Mensch erlebt so viel Sonderbares an einem einzigen Tag wie Leopold Bloom.
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Gefühlen überhaupt eine »Chronik« verfassen? Jedenfalls sind diese beiden Wörter sich noch nie so nahe gekommen. Auch der frühere Buchtitel »Bestandsaufnahme: Utopie Film« (1983) stellt ein nüchternes Wort aus der Buchhaltung (»Bestandsaufnahme«) neben ein stark geladenes Wort aus der Philosophie (»Utopie«). Als ob man den Begriffen selbst nicht recht trauen könne, sondern eher der Spannung zwischen beiden. Ein Buch- und Filmtitel wie »Die Macht der Gefühle« ist auch nur scheinbar einfach, denn er ruft zwangsläufig den Operntitel »Die Macht des Schicksals« beim Leser hervor, so dass man wiederum zu zweifeln beginnt, wer denn nun die Macht hat. Oder man denke an den Titel »Die Patriotin«, dem es gelingt die komische Spannung in ein Wort zu fassen! Ein Buchtitel von 2012 lautet lapidar »Das fünfte Buch«. Das sieht im Vergleich mit den anderen Buchtiteln zunächst nüchtern aus, bis einem das »Deuteronomium« einfällt und man nun zwischen Bescheidenheit und Pathos schwankt. In den Prosa-Texten selbst begegnen wir einem solchen Unsinnsschleier auf Schritt und Tritt. So fängt z. B. das Buch Unheimlichkeit der Zeit mit der Geschichte an: Was ein Mensch ist, nach Ingenieur Schäfer.3 In diesem kurzen Text wird beschrieben, dass man einen Planeten von der Größe der Erde brauchte, wenn man nur ein einziges menschliches Gehirn in der Außenwelt nachbauen wollte. Der ominöse »Ingenieur Schäfer«, der das angeblich erzählt, erscheint im Titel und noch einmal in der ersten Zeile. Wer, bitte schön, ist das? Jemand Reales, der es Kluge wirklich erzählt hat, und tatsächlich »Schäfer« hieß? Aber wenn Kluge eine Quelle nennen wollte, hätte er das dann nicht genauer tun müssen (Lebensdaten, Zeit und Ort usw.)? Ist es eine literarische Finte, um die Haltung des Ingenieurs einnehmen zu können, wenn man das Gehirn erklärt? Und dann heißt er »Schäfer«, was semantisch im Gegensatz zu »Ingenieur« steht? Was würde sich denn am Text ändern, wenn der »Ingenieur Schäfer« fehlen würde oder er »Meier« hieße? Das alles ist kaum entscheidbar und auch nicht eruierbar. Jedenfalls ist es eine Relativierung: jeder Gedanke hat einen Urheber und eine Zeit. Dies ist die Wahrheit über das Gehirn in der Zeit des Ingenieurzeitalters.
3 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle Bd. II, Frankfurt a.M. 2000, S. 17.
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Abb. Alexander Kluge, Die Patriotin (1979), Sequenz 48 Wenn man vom Nordturm des Stephansdoms in Wien nach Nordosten blickt, sieht man die neugotischen Türme der Votivkirche. Touristen, die sie fotografieren, rücken ihre Kameras so zurecht, daß ein links nicht weit von der Kirche aufragender Fabrikschlot außerhalb des Bildes bleibt.
2 Namen tauchen in Kluges Prosa auf wie Seehundsköpfe in der Ostsee. Und wehe, man folgt diesen Spuren! Die Geschichte »Überholende Kausalität«4 beginnt folgendermaßen: »Stellen Sie sich vor, sagt Frau Hilda Böhlecke, der Schnee, der von Prins Christianssund im hohen Norden herkommt, ist vergiftet, und ich sterbe jetzt aber nicht gleich, sondern in acht Wochen, weil die Vergiftung langsam wirkt. Trotzdem habe ich keine Angst, weil es in meiner Wohnung so schön warm ist. Sie wollte eine Grußpostkarte absenden, zog sich an und wurde Tengstraße Ecke Adelheidstraße überfahren. Da konnte ihr der Tod im 3.Weltkrieg gleich sein.«
Im Rest des Textes (wie bei »Ingenieur Schäfer«) kein weiterer Hinweis, wer diese Dame ist oder warum sie so heißt. Macht man sich nur einmal in Wikipedia auf die Suche, so gerät man vom Hundertsten ins Tausendste. Oswald Boelcke (1891–1916) war einer der bekanntesten deutschen Jagdflieger im Ersten Weltkrieg. Er entwickelte mit den »Dicta Boelcke« die ersten Einsatzgrundsätze der 4 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle I, Frankfurt am Main 2000, S. 37f.
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Luftkampftaktik. Gut möglich, dass dem Kriegsforscher Kluge dieser Name bekannt ist. Werner Schmidt-Boelcke (1903–1985) war Dirigent und Musiker, der scheinbar bruchlos durch Weimarer Republik, Drittes Reich und Bundesrepublik Karriere machte. Günther Böhnecke (1896–1981) war Ozeanograph, für den dasselbe gilt. Das wären zwei Figuren nach Kluges Geschmack: Lebensläufe durch drei Staatsformen, wie geht das? Heiner Boehncke (geb. 1944) passt nicht in diese Reihe, Kluge kennt ihn aus dem Frankfurter Häuserkampf. Boehncke hat aber 1984 ein Buch »Weltuntergänge« herausgegeben, das zum Thema der Geschichte passt, wenn Ende des Abschnittes vom »3. Weltkrieg« die Rede ist. Aber den Zweifel, dass man bei einem relativ beliebigen anderen Namen genauso fündig werden würde, wird man nicht recht los. Soll man sich auch noch an die Semantik des Namens halten? »Böhlecke« bedeutet soviel wie »Holzschwert«, also untaugliche Waffe. Wie lange soll man sich mit einem Namen beschäftigen? Ab wann fängt man an zu spinnen? Es kann schon sein, dass Kluge ähnlich wie viele Dichter seine literarischen Figuren aus mehreren empirischen zusammensetzt, so dass aus Individuellem so etwas wie gesellschaftliches Verhalten oder ein gesellschaftliches Verhältnis in der Anschauung entsteht. Bei Kluge sind es aber eigentlich keine »Figuren« mit irgendeinem psychologischen Eigenleben, sondern eher Signale, Zeichen. Und hier ist es ja nicht nur »Böhlecke«. In diesen vier Sätzen erscheinen vier Namen, wobei die geografischen Namen »Prins Christianssund« und »Tengstraße« noch viel unsinniger erscheinen als die Personennamen. »Prins Christianssund« ist so ungefähr das sauberste Fleckchen Erde auf der Nordhalbkugel, dort kommt ganz bestimmt kein vergifteter Schnee her. Oder doch? Könnte er unterwegs kontaminiert werden, wenn die Wolken z. B. über britische Atomanlagen ziehen? Nicht ganz auszuschließen, wenn es doch bei Tschernobyl und dem radioaktiven Regen 1986 so ähnlich war. Aber die »Titanic« sank 1912 durch Kollision mit einem Eisberg, der aus der Gegend Westgrönlands kam. Wenn wir »Titanic« sagen, sind wir beim Ersten Weltkrieg, so dass die gesamte Wettermetapher vielleicht politisch gemeint ist: Es droht immer noch Gefahr aus dieser Vergangenheit, dem nicht bewältigten Zusammenbruch des bürgerlichen Zeitalters. Sie sitzt in den Poren unserer Gesellschaft wie vergifteter Schnee über Städten herabgehen kann. Oder kommt die Gefahr von noch weiter her, vom Christentum: »Prins Christian« = der erste Christ. Auch dafür könnte man Belege bei Kluge finden.5 Das Christentum brachte die Höllenfurcht in die Welt, möglich, dass Reste davon noch in modernen Katastrophen- und Weltuntergangsängsten stecken. Andererseits erregt das Leben eines wirklichen deutschen Prinzen Christian eher Mitleid: Prinz Christian von Hannover (1885–1901) erkrankte an einer Blinddarmentzündung, die nicht erkannt und behandelt wurde. 5 Etwa: »Der Kaiser meines Vertrauens«, in: Chronik der Gefühle II, S. 947.
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An der hierdurch hervorgerufenen Bauchfellentzündung starb er im Alter von 16 Jahren. Ein trauriges Schicksal, gegen das auch ein Prinz nicht gefeit ist. Die Schwester Christians war mit Max von Baden, dem letzten deutschen Reichskanzler, verheiratet. Max von Baden konnte den Flottenbefehl Ludendorffs vom 24. Oktober 1918 nicht verhindern (Auslaufen der Flotte zu einer »Entscheidungsschlacht« mit der britischen Grand Fleet im Ärmelkanal), der zum Ausgangspunkt der Novemberrevolution wurde. Diese Vorgänge führten wiederum zur Entstehung der »Dolchstoßlegende«, ohne die Hitler nicht an die Macht gekommen wäre (=»vergifteter Schnee«). Sind solche Funde Interpretation oder Fantastik? Dann die »Tengstraße«. Eine »Tengstraße Ecke Adelheidstraße« gibt es nicht, Tengstraße und Adelheidstraße in München sind Parallelstraßen, die beide auf die Bauerstraße münden, dahinter folgt der Hohenzollernring. Kluge wohnt in der Nähe, er kennt die Gegend. Es ist also unwahrscheinlich, dass es sich um ein Versehen handelt, vielmehr ist es bewusst falsch gesagt. Josef von Teng war Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts Münchener Bürgermeister und geriet in Konflikt mit Ludwig I., da die Bedürfnisse der Bürger mit den königlichen Ansprüchen an der architektonischen Ausgestaltung divergierten. In Fragen der Dekoration gab es in Deutschland gelegentlich bürgerlichen Protest gegen den Adel. »Teng« hört sich aber außerdem ziemlich chinesisch an: Kaiserin Teng war eine Kaiserin der Wu-Dynastie zur Zeit der Drei Reiche (3. Jahrhundert). Drei Reiche –: »Drittes Reich«? Aber dass die bürgerliche Tengstraße sich nicht mit der adligen »Adelheidstraße« kreuzt, sondern dass beide parallel auf den »Hohenzollernring« zulaufen, hat Symbolkraft. Die politische Schwäche des deutschen Bürgertums, das sich bis 1918 dem Adel unterordnete, machte erst möglich, dass ein so unseliger Monarch wie Wilhelm II. Deutschland in den Abgrund riss. Diese fehlende politische Konfliktlösung (die sich nicht kreuzenden Straßen), diese unglückliche Zusammenballung von bürgerlicher Wirtschaftsmacht und adliger Politarroganz (»Flottenrüstung«, »ein Platz an der Sonne«) ist eine Quelle des Katastrophengeschehens in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Was faktisch Unsinn ist, hat als Metapher Sinn. Wenden wir uns nun dem Inhalt des Textes zu. Ist das überhaupt ein »Text«, d. h. ein zusammenhängendes, belastbares Gewebe? Was redet Frau Böhlecke da zusammen? Denn als Gespräch oder Ansprache, etwa unter Nachbarn, gibt sich der Abschnitt ja aus, wenn er mit »Stellen Sie sich vor« beginnt. Was hat es für eine Logik, die eigene warme Wohnung gegen die Angst vor Vergiftung ins Feld zu führen? Die Wohnung kann doch so gemütlich und warm sein, wie sie will, so schützt sie doch nicht vor solchen Gefahren. Verlassen muss man seine Wohnung auch gelegentlich, wie z. B. jetzt, um eine »Grußpostkarte« abzuschicken. Dieses Wort klingt etwas veraltet. Recherchiert man, so stößt man auf einen militärischen Hintergrund: Sie wurde von der Post erfunden für die Soldaten in den
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Schützengräben, weil sie sich schneller schreiben und leichter zensieren läßt als Briefe. Das gehört also alles zu dem historischen Horizont, der hier aufgerissen wird. Außerdem kann einem auch noch die »Kanonenbootpolitik« einfallen, das waren gewissermaßen »Grußpostkarten« der europäischen Imperialismen an die Einheimischen und auch Vorboten der großen Katastrophe von 1914, ein Gruß des kommenden Krieges. Aber jetzt! –: Ein Benjaminscher »Schock« im Miniformat! Hilda Böhlecke wird aus heiterem Himmel »überfahren«. Wie, von wem, wer war schuld? Und gleich noch ein zweiter Schock hinterher : »Da konnte ihr der Tod im 3. Weltkrieg gleich sein.« Wir haben gar keine Zeit, uns irgendwie auf den bösen Unfall der uns gerade erst vorgestellten Dame einzulassen, schon überrollt uns der Dritte Weltkrieg. Das muss man mehrmals lesen: Die arme Frau ist tot; aber ihr ist sowieso alles gleich bzw. sie hat zum Stellungnehmen gar nicht mehr die Möglichkeit! Nun ja, wenn man Dichter ist, vielleicht doch: »Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.« Diesen Satz von William Faulkner haben vor Kluge schon viele andere Schriftsteller übernommen. Aber was hat denn ein Autounfall – an einer nicht existierenden Kreuzung! – mit dem »3. Weltkrieg« zu tun? Dass beides mit der Überschrift »Überholende Kausalität« zu tun hat, ist in seinem ganzen grotesken Unsinn verständlich: Wer vom Auto überfahren wird, braucht den Dritten Weltkrieg nicht mehr zu erleben. Und Robert Musil beginnt seinen Mann ohne Eigenschaften ebenfalls mit der Beschreibung eines Autounfalls, es ist der Unfallbegriff, unter dem er die Entwicklung zum Ersten Weltkrieg und diesen selbst fasst. Aber der ganze Abschnitt ist überhaupt kein »Text« im Sinne von »Gewebe«, wo mehrere Fäden fein versponnen sind wie etwa bei Marcel Proust oder Thomas Mann, sondern es ist die reine Montage. Vier Satzblöcke stehen kantig und mit Lücken oder Abgründen nach jedem Punkt hintereinander da und fragen uns, ob und in welchem Bezug zueinander sie wirklich stehen. So erscheint einem an Zeitungstexte, Aufsätze, wissenschaftliche, eben konventionelle Prosa gewöhnten Leser dieser Text wie mit einem Unsinnsschleier durchzogen. Wenn man die Überschrift hinzuzieht, so überträgt Kluge einen juristischen Begriff auf die Geschichte. In der Rechtswissenschaft ist mit »überholender Kausalität« gemeint, dass ein Verbrechen vom nächsten überholt wird: A wird von B vergiftet, aber ehe das Gift wirken kann, von C erschossen. Kann B dann bestraft werden? Für Mord jedenfalls nicht. Wir wissen, dass Negt/Kluge in Weiterführung der kritischen Theorie die klassische Ökonomie für zu eng halten. Stattdessen folgen sie dem Marxschen Satz: »Wir kennen nur eine Wissenschaft, die Wissenschaft von der Geschichte.« In diesem Sinne könnte man sagen, dass Kluge nicht, wie immer wieder formuliert, Schriftsteller, Filmregisseur, Philosoph und Journalist sei, sondern dass er im Kern Historiker ist, der sich literarisch, in Bildern, in Begriffen ausdrückt, und das nicht unbedingt
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scharf getrennt. In einem der frühen Kulturmagazine Zehn vor Elf aus dem Jahr 1988 mit dem Titel »Was der Mann für Unsinn macht« gibt es eine Sequenz, die darüber berichtet, dass Lenin und Trotzki einen Krieg zwischen England und den USA für 1923 vorausgesagt haben. Hört man das, so schüttelt man zunächst auch den Kopf über solchen Unsinn. Schaut man näher hin, ändert sich das. Denn es ist natürlich plausibel, dass die imperiale Macht des 19. Jahrhunderts, Britannien, mit der imperialen Macht des 20. Jahrhunderts in Konflikt gerät. Diese aus der Marxschen Ökonomie des Kapitals erschlossene Zukunft, in der ein gefährlicher deutscher Imperialismus nicht vorgesehen war, wird nun von der »Kausalität« der Geschichte überholt. Und tatsächlich war diese Gefahr auch nach der überholenden Kausalität des Ersten Weltkrieges noch vorhanden. Allerdings hatten die Machteliten beider Länder aus dem Großen Krieg so viel gelernt, dass sie im Washingtoner Marineabkommen (1922) sich auf die Parität der Flottenstärken einigten und so ein zweites Flottenwettrüsten verhinderten. Nach dieser Sequenz zeigt Kluge Hitler, wie er ein Modell eines Monumentalbaus bewundert. Es handelt sich um sein eigenes Mausoleum, das er in seiner Heimatstadt Linz bauen wollte. Aus dem Off hören wir, dass es hier um die Zeit des April 1945 geht. Da hätten wir also wieder die überholende deutsche Kausalität, denn 14 Tage später brachte er sich um. Und welch ein Kontrast zu Lenin/ Trotzki! Sie fassen die Zukunft der Welt ins Auge, der Nationalsozialismus ist von Anfang an selbstzerstörerisch. Das kann man kaum besser ins Bild setzen als durch einen in seinen eigenen Tod verliebten Hitler. Was dieser erste Abschnitt der Erzählung »Überholende Kausalität« genau beschreibt, lässt sich trotz dieses aufgerufenen historischen Horizontes schwer sagen. Das Poetische spricht immer über das Einzelne (Frau Böhlecke), das Allgemeine (Prins Christianssund, Teng- und Adelheidstraße, Dritter Weltkrieg) und das Besondere (überfahren) gleichzeitig.6 Man könnte ebenso gut sagen, es sei der Versuch, ein Lebensgefühl (des 20. Jahrhunderts), oder besser : eine Gemengelage an Ängsten und Gefühlen, also etwas ganz Innerliches, dadurch zu beschreiben, dass man es ganz ins Äußerliche wendet. Man kann ins Grübeln geraten, inwiefern die gegenwärtige Angst vor der ökologischen Katastrophe, die ja in Deutschland größer ist als in allen anderen Ländern, nicht einfach auf Tatsachen beruht, sondern auch von vergangenen, unbewältigten Katastrophen zehrt, also unter anderem auch eine Projektion in die äußere Natur ist. Auch die »warme Wohnung« ist etwas deutsches, nämlich die rigidere Trennung von Innen und Außen, von privat und öffentlich als in anderen Ländern, die für den
6 »Was ist das Allgemeine? / Der einzelne Fall. / Was ist das Besondere? / Millionen Fälle.« – Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, in: Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, Bd. 12, München 1982, S. 433.
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Mangel an politischem Bewusstsein und Handeln im deutschen Bürgertum verantwortlich ist. Es ist auch nicht ganz leicht, die emotionale Farbe des ersten Abschnittes zu bestimmen: Soll man über das alles lachen oder weinen? Macht man sich bewusst, um was es in diesen stark kodierten Sätzen geht, dann geht die Stimmung eher in Richtung Ohnmacht oder gar Verzweiflung. Aber etwas härter gesottene Charaktere (wie z. B. Heiner Müller) hätten vielleicht doch gelacht. Denn die Technik, mit einem Unglück das andere zu kontern, ist auch in vielen Witzen und in der Komik (permanent etwa in Jaroslav Hasˇeks »Schwejk«) anzutreffen. Kann man den ersten Abschnitt zusammenfassen? Dass die Realgeschichte zuschlägt, ist sicher. Unsicher ist, ob langsam, durch giftige Kälte, oder plötzlich, durch »überholende Kausalität«. Das ist vielleicht nicht analytisch oder politisch genug formuliert. Versuchen wir es noch einmal: Die gesellschaftliche Kälte (die lange historische Entwicklungslinien vom Christentum bis zum Kapitalismus hat7) führt zu einem kollektiven Rückzug ins Private. Diese gesellschaftliche Schwächung des Politischen macht blind gegen Gefahren und eröffnet damit erst die Möglichkeit der katastrophalen überholenden Kausalität.
3 Die nun folgenden beiden Abschnitte des Textes widersetzen sich der Macht des Verhängnisses, die den ersten Abschnitt bestimmt: »Einige ihrer Zellen aber lebten noch einige Tage und konferierten untereinander, was das Geschehen wohl zu bedeuten hätte. Wir sind nicht damit einverstanden, sagten sie, dass Schneemassen, die aus Grönland herüberfließen, giftig sein könnten. Frau Böhlecke, sagen sie, hatte nach unserer Auffassung ein Recht auf ihren eigenen Tod. Sie muss sich auch dann nicht mit einem ihr angedrohten, durch Schneefall dem Christkind täuschend ähnlichen und in die Länge gezogenen Tod abfinden, wenn inzwischen ein ganz anderer Tod eingetreten und die Frage dem Anschein nach überholt ist. Die einzelnen menschlichen Zellen sind nämlich, solange sie noch einen Funken Leben in sich haben, verkappte Rechtsgelehrte. Sie dürsten nach Wasser und gleich darauf nach einem Stückchen Gerechtigkeit auf Erden.«
Einzeller8 sind die ersten Lebewesen auf der Erde, gleichzeitig bevölkern sie in Verbänden (Organe, Muskeln) oder als einzelne (Blutkörperchen, Darmbe7 Vom Ausschluß anderer Götter (»Du sollst keine anderen Götter neben mir haben«) zur Behandlung des Menschen als Warending. 8 Es ist verblüffend, wie genau die Erzähltheorie Walter Benjamins auf Kluges Geschichte passt. Am Ursprung des Erzählten, sagt Benjamin, steht die Autorität des Sterbenden. Kluges Geschichte beginnt mit den letzten Worten von Frau Böhlecke. Der Chronist, heißt es weiter, ist der Geschichts-Erzähler. Anders als der Historiker erklärt er nichts, sondern zeigt die Vorfälle,
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wohner) bis heute unseren Leib, der ihre Umwelt darstellt. Ihr Eigensinn lautet »So viel Innen wie möglich, so viel Außen wie nötig.« Sie sind Experten im Überleben von Katastrophen; ihre osmotische Außenhaut hat in Jahrmilliarden vorzüglich gelernt, was hineingelassen werden darf und was unbedingt draußen bleiben muss. Manche von ihnen können zwar auch in Eis und Feuer überleben, aber die Bewohner von Frau Böhlecke sind an eine Temperatur von 378 gewöhnt. Mit kaltem, vergifteten Schnee sind sie naturgemäß »nicht einverstanden«. Aber nun folgen zwei Sätze, die bei genauem Lesen ein großes Fragezeichen im Innern des Lesers erzeugen. Der erste: »Frau Böhlecke, sagen sie, hatte nach unserer Auffassung ein Recht auf ihren eigenen Tod.« Wieso beharren die Zellen auf dem Recht des »eigenen Todes« von Frau Böhlecke? Man erwartet doch wohl bei jemandem, der so unglücklich überfahren wird, das Beharren auf dem Recht auf ein eigenes Leben. Nun kann man sagen, dass ein eigener Tod erst möglich ist, wenn einer ein eigenes Leben gehabt hat. Wenn die Zellen jedoch pointiert nur auf dem Recht des eigenen Todes (und nicht des eigenen Lebens) bestehen, soll das dann heißen, dass Frau Böhlecke ein eigenes Leben hatte, so dass man dies nicht mehr einfordern muss? Wenn man sich Frau Böhlecke als individuellen Menschen vorstellt, ist das Unsinn: bei der zwischen Angst und Verdrängung schwankenden Haltung, die das einzige ist, das wir von ihr kennen, darf man stark bezweifeln, ob man das ein »eigenes«, also selbstbestimmtes, autonomes Leben nennen kann. Fasst man »Frau Böhlecke« aber als eine Mischung von etwas auf, das öffentlich gern mit Begriffen wie »deutsche Angst« und »deutsche Innerlichkeit«9 belegt wird, dann lässt sich das Urteil der »Zellen« besser verstehen: Diese verhängnisvolle deutsche Zusammenballung hat lange genug gelebt, sie hat tatsächlich ihren eigenen Tod längst verdient, den sie zweifellos durch Überfahrenwerden nicht bekommt.10 Aber der nächste Satz mit dem plötzlich auftauchenden »Christkind« macht noch mehr perplex: »Sie muss sich auch dann nicht mit einem ihr angedrohten, die er erzählt, »als Musterstücke des Weltlaufs« her. Aber anders als beim Chronisten des Mittelalters, ist bei modernen Erzählern nicht die Heilsgeschichte der Horizont, innerhalb dessen das Gehörte ausgelegt werden soll, sondern die »Naturgeschichte«. Wenn also an dieser Stelle des Textes die »Zellen« auftreten, dann ist das konsequent. – Vgl. Walter Benjamin, Der Erzähler, in: W.B. Gesammelte Schriften Bd. II, 2, Frankfurt a.M. 1977, S. 438–465. 9 Emmanuel Macrons überraschender politscher Erfolg über den französischen Rechtsradikalimus ist das beste aktuelle Beispiel dafür, dass die französische Nation Innen und Außen im Ernstfall viel besser unterscheiden kann: Man darf Le Pen nicht hereinlassen. 10 Man kann, wenn Frau Böhlecke die verhängnisvolle Seite der deutschen Kulturnation, nämlich Angst und Innerlichkeit, repräsentiert, bei den »Zellen« an die Kritiker dieser Prozesse denken, also auch an die kritischen Theoretiker. Adorno hatte vor ein Buch über die Kälte zu schreiben, starb aber. Der Gedanke, dass die Niederlage des Dritten Reiches nicht oder nur kurzfristig die sozialistischen Kräfte stärkte, sondern seit dem »Wirtschaftswunder« ein Schub der Akzeptanz des Kapitalismus erfolgte, stammt jedenfalls aus solchen intellektuellen »Zellen«.
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durch Schneefall dem Christkind täuschend ähnlichen und in die Länge gezogenen Tod abfinden, wenn inzwischen ein ganz anderer Tod eingetreten und die Frage dem Anschein nach überholt ist.« Der Satz ist kein »Text«, sondern eine als grammatisch korrekter Satz verkleidete Montage. »Durch Schneefall dem Christkind täuschend ähnlichen … Tod«: Das könnte ein Deutschlehrer rot anstreichen und »Unsinn« an den Rand schreiben, schon weil ein »Tod« nicht dem »Christkind« ähnlich sein kann. Der Vergleich ist schief, das Christkind ist die Geburt des Heilands auf der Erde, also das Gegenteil von Tod, und Jesus’ Tod am Kreuz war kein Unfall und ist auch nicht mit Schneefall in Verbindung zu bringen. Die zunächst befremdliche enge Verbindung von »Christkind« und »Tod« wäre aber im Mittelalter plausibel gewesen. Oft wird Maria mit dem Kinde so gemalt, dass sich in der Szene, in ihrem Blick schon der spätere Leidensweg ihres Kindes abzeichnet, der ja dann tatsächlich als über 33 Jahre »in die Länge gezogen« erscheint.11 »Christkind« hat aber auch eine kulturelle Konnotation. Das Weihnachtsfest ist das deutscheste aller Feste, inzwischen nationales Exportgut in alle Welt (Baum, Kugeln, Kerzen, aber auch »Stille Nacht, heilige Nacht« usw.). Es ist das Fest der inneren Wärme und der familiär verschlossenen Türen, der rituelle Jahresgipfel deutscher Innerlichkeit. Die »Zellen«, d. h. das elementare Unterscheidungsvermögen, richten ihr Urteil gegen einen »Lernprozess mit tödlichem Ausgang«. Historisch haben die Deutschen eigentlich etwas gegen den kalten Kapitalismus (der seinerseits von der Kälte des Christentums zehrt).12 Marx und mit ihm viele andere erwarteten die sozialistische Revolution eigentlich in Deutschland, aber die sich dann vollziehende Katastrophe der überholenden Kausalität (1914–1945) führte zu einer Akzeptanz der gesellschaftlichen Kälte wegen der noch schlimmeren Erfahrung ebendieser überholenden Kausalität. Die historischen Erfahrungen von 1914–1945 haben jedenfalls nicht dominant dazu geführt, das deutsche Syndrom von Angst nach außen und privater Nestwärme nach innen aufzulösen, sondern sind in der historischen Hauptlinie nach den Regeln dieses Syndroms verarbeitet worden. Frau Böhlecke ist durch die überholenden Kausalitäten nicht gestorben. Sie wartet trotz einer oder zwei überholender Kausalitäten immer noch auf ihren »eigenen Tod«. Dagegen, sagen die Zellen, hilft nur eins: dass man sich auf sein elementares Unterscheidungsvermögen verlässt. In dessen Zentrum sitzt das Gerechtigkeitsgefühl. Es äußerte sich z. B. in den Anti-Schah-Demonstrationen 1967 spontan und wurde gleich mit Polizeigewalt, dem Ausdruck des deutschen Syndroms beantwortet. 11 Der 30. Januar1933 wurde von den Anhängern Hitlers als eine Art politisches Weihnachtsfest empfunden. Es war in Wahrheit der Beginn des größten Elends der deutschen Geschichte seit dem dreißigjährigen Krieg. 12 Dabei kann man an Luthers »Gnadenlehre« oder Max Webers protestantische Ethik denken, ohne dass damit der Katholizismus an Wärme gewinnt.
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Mit dieser Seite beginnt vor allem anderen Text das Buch Die Macht der Gefühle (1984). Der prominente Platz zeigt wohl, wie wichtig Kluge der hier gemeinte Sachverhalt ist. Vermutlich gehört der Text zu den am meisten verdichteten des Autors. Das Verhalten des Urgroßvaters und des Diebes sind wieder vollkommen absurd, wenn man es auf Individuen bezieht. Es handelt sich um zwei Überlebende einer Schiffskatastrophe. Man denkt an die Titanic, bei deren Untergang fast zwei Drittel der über 2000 Passagiere ertrunken sind. Offenbar spielt das Unglück aber im Leben der beiden Männer keine weitere Rolle. Der Dieb könnte z. B. sagen, jetzt, wo ich glücklich der Gefahr entronnen und auch noch reich geworden bin (wie eigentlich?), kann ich großzügig sein und meine Verfehlung gut machen, zumal es um eine läppische Summe geht. Es kann in seinem Fall auch nicht um den Versuch einer Gesichtswahrung gehen, denn er leugnet den
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Diebstahl gar nicht. Sein Verhalten ist unverständlich und niederträchtig. Dasselbe gilt allerdings auch für den »Detektiv«. Dem Tode entronnen, hat er nichts besseres zu tun, als wegen einer Kiste Zigarren zu klagen? Außerdem hätte er die Schiffsgesellschaft wohl schwerlich für diesen Verlust verantwortlich machen können, d. h. die Möglichkeit der Entschädigung ist an die Bedingung des Diebstahls gekoppelt. Der Dieb ist unfreiwilliger, temporärer Retter fremden Eigentums. Was ist das für eine widerwärtige »Beharrlichkeit« auf beiden Seiten? Die Katastrophe interessiert keinen der beiden, aber alle Energie richten sie auf diesen lächerlichen Besitz der Zigarrenkiste. Wendet man sich dem Foto zu, so sieht man im Vordergrund den Dieb, der abgewandt von den anderen seine Beute betrachtet. Und hinten unter dem Rettungsboot, das ist doch ein englischer Polizist, ein »detective«, das Koppel, der kurze Dienstmantel, die Hände charakteristisch auf dem Rücken, den britischen Helm auf dem Kopf. Aber war es nicht umgekehrt? Tatsächlich, »rechts vorn«, sagt der Text, soll der »Detektiv« sein, »halb links hinten« der »Täter«. Das Foto passt aber schlecht zum Text. Allerdings passt es gut zur Einsicht, dass Dieb und Bestohlener von gleichem Holze sind. Man kann annehmen, dass der Widerspruch zwischen Text und Foto beabsichtigt ist: Das Foto kommentiert den Text. Die Montage von Text und Foto hat die Form eines fragmentarischen, umgekehrten Emblems. Bei der Massenkunst der Emblematik im 16. und 17. Jahrhundert haben wir zuerst das Lemma, also ein Stichwort oder einen kurzen Satz, so dass man weiß, worum es geht, dann ein rätselhaftes Bild, und schließlich einen das Bild erläuternden epigrammatischen Text. Umgekehrt hier : Zuerst der rätselhafte Text, dann das (freilich gegen den Text) deutende Bild, das Lemma fehlt. Ein humanistisches Emblem war belehrend, es ging vom zu vermittelnden Wissen, einer Lebensregel, Moral, der Religion aus. Der betrachtende Leser sollte herausfinden, was der gelehrte Autor zuvor verrätselt hineingelegt hatte. Kein moderner Autor lehrt Moral oder Lebensregeln. Es ist heute müßig, in selbstgemachten Bildern Wirklichkeit zu verrätseln, wenn diese doch selbst rätselhaft genug ist. Kluges »Urgroßvater mütterlicherseits« stammt tatsächlich aus Großbritannien, dem Land der Detektive, der Aufklärung, der Erfindung des bürgerlichen Lebens. Nun ist der ganze Text aber in Anführungszeichen gesetzt, und der Autor wird sich kaum selbst zitieren. Es geht also um nichts Persönliches, sondern um Geschichte, codiert als menschliche Handlungen, die Geschichte ja im Kern auch ist, hier aber konzentriert auf die großen Züge der Weltpolitik, der Geschichte von Macht und Recht. Von Le Havre wurde die Freiheitsstatue nach New York verschifft und dort 1886 eingeweiht. Nachträglich kann man sagen, dass weniger die Freiheit als vielmehr die imperiale Macht Ende des 19. Jahrhunderts im Begriffe war, von Europa an die USA überzugehen. Der Schiffsuntergang ist eine
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Metapher für den Ersten Weltkrieg, die Kiste Zigarren eine für den Kolonialismus. Tatsächlich beginnt kurz nach Errichtung der Freiheitsstatue auf Ellis Island der aggressive amerikanische Imperialismus, der Südamerika zum eigenen Hinterhof erklärt und die europäischen Mächte dort und an anderen Stellen der Welt vertreibt. Das ist der »Diebstahl«. Nach dem Ersten Weltkrieg sind die USA »reich« an Kolonien und gegenüber Europa führend geworden, es beginnt das »amerikanische Jahrhundert«. Die darauf folgende Weltpolitik des Westens ist dadurch bestimmt, dass die USA die Macht- und Besitzansprüche Europas (Englands und Frankreichs) in der Welt an langer Leine halten und nur soweit zulassen, wie es nötig ist, um militärische Konflikte zu vermeiden. Aus dem Schiffsuntergang gelernt hat die Welt (fast) nichts. Deshalb ist die Form des Emblems unvollständig und verkehrt herum: Sie demonstriert das Nichtlernen, für das einem die Begriffe fehlen. Der Unsinn, den hier scheinbar der Autor macht, ist der Unsinn der Geschichtsprozesse.
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Der Film In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod (Alexander Kluges und Edgar Reitz, 1974) endet mit Versen des Struwwelpeter-Autors Heinrich Hoffmann:
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»Was der Mann für Unsinn macht, Er gießt Wasser in das Glas, Immerzu, wie dumm ist das. Und es läuft und läuft und läuft, bis darin die Stub’ ersäuft. Sieh, der Stuhl steht tief darin, Hundchen schwimmet her und hin, und zwei Schiffe fahren auch dort mit Segel und mit Rauch. Von der Babett an der Tür sieht nur noch der Zopf herfür!«
Das ist zweifellos Nonsensliteratur. Man kann vermuten, dass Kluge diese Verse aus seiner Kinderzeit kennt, sie vielleicht oft gelesen hat oder dass sie ihm vorgelesen wurden und dass er starke Gefühle an sie geknüpft hat, etwa in der Art, wie Benjamin schreibt, dass jeder ein zu ihm passendes Märchen habe. Das würde erklären, warum diese Bilder und Verse so exponiert den Schluss dieses Filmes bilden. Wenn man eine Verallgemeinerung wagt, dann könnte das überlaufende Wasser den Unglücksstrom der Geschichte darstellen, den die Menschen selbst produzieren und der zu der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts geführt hat, in der die bürgerliche Stube untergegangen ist. Trotzdem schwimmen darin ein Hündchen, Schiffe und Babett. Sieht man es so, dann kehrt sich der gewöhnliche Unsinnsbegriff, der ein unrealistisches Verhalten bezeichnet, im Grunde um: Zuerst einmal sind Geschichte oder Wirklichkeit unsinnig. Was darin als Unsinn erscheint (rauchende Schiffe in der Stube, Stuhl im Wasser, aus dem Wasser ragender Zopf), sind eigentlich Notwehr- und Überlebensversuche, Zeichen dafür, wie Menschen mit dem Strom der Geschichte zurechtzukommen sich bemühen. »Eigensinn« ist der Nachbar von »Unsinn«, er entsteht aus Protest, aus Antirealismus. Kluge versteht sich als Parteigänger von Eigensinn.
6 Aus dem Anti-Emblem (1984) geht dann der zweite Teil des Textes »Überholende Kausalität« (2000) hervor : »Zur Frage der überholenden Kausalität: Auf einem Dampfer fuhr ein reicher Mann 1936 nach Amerika. Er besaß eine Kiste Zigarren. Sie wurden ihm von einem ärmeren Mann namens Eike gestohlen. Danach verletzte sich das Schiff an einem Eisberg und versank. Herr Eike, der schlaue Dieb, führte nach der Rettung zu seiner Verteidigung an: Die Kiste Zigarren wäre eh untergegangen. Es sei – nachträglich betrachtet – gleich, ob der ertrunkene Besitzer, Herr Graunke, die Zigarrenkiste zuletzt noch besessen hätte oder ob sie ihm gestohlen worden sei.
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Nein, sagen die Zellen, das ist überhaupt nicht egal. Eike war ein Dieb. Herrn Graunkes, des Besitzers Recht wurde von Eike verletzt und der Dieb gehört bestraft, auch wenn ein Rettungsboot ihn auffischt. Auch wenn der Besitzer, Herr Graunke, nicht im Recht wäre, wenn er sein Recht verfolgte, das ihm nichts nützt. Recht haben und Recht nehmen ist nämlich ein großer Unterschied. Wozu aber dient ein Recht, das für den im Eiswasser ertrunkenen Graunke zu gar nichts nütze ist? Wir alle dienen niemand, sagten die einzelnen Zellen. Wir sind keine Sklaven.«
Bei dem Satz »Auf einem Dampfer fuhr ein reicher Mann 1936 nach Amerika« kann man nicht anders als an die Exilierung der Juden aus Deutschland denken. Aber wofür wäre dann »eine Kiste Zigarren« die Metapher, da es nicht mehr um Kolonien gehen kann? Logisch wäre, dass der Diebstahl der Zigarren den deutschen Staatsraub an jüdischem Eigentum bezeichnet. »Eike« erinnert an Eike von Repgow, den Verfasser des ersten deutschen Rechtsbuches, des »Sachsenspiegels« (1230). Der Widerspruch zwischen dem darin sich ausdrückenden uralten, elementaren Rechtsgefühl (das ausdrücklich die Juden miteinschließt) und dem Verhalten der deutschen Staatsmacht im 20. Jahrhundert kann nicht schärfer sein. Der »Diebstahl« bezieht sich auf zweierlei: den Raub jüdischen Vermögens durch die Nazis und die Weigerung der DDR auf Wiedergutmachung. Diese Weigerung wurde mit einem Argument begründet, das man unter »überholende Kausalität« rechnen darf: Der Kapitalismus sei historisch zum Untergang verurteilt, die DDR verkörpere eine höhere Stufe der Geschichte, habe also alle anderen Geschichtskonstellationen überholt, und hafte daher nicht für die Verbrechen des Dritten Reiches. Ein besonders krasser Fall war in diesem Zusammenhang der der Gummiwerke Fromms (»Kiste Zigarren«). Unter äußerster Not konnte der erste Serienproduzent von Präservativen, Ludwig Fromm, einen kleinen Teil seines Vermögens retten (die Fabriken musste er an eine Tante von Hermann Göring verkaufen) und flüchten. Vier Jahre nach Fromms Tod wurden per Verwaltungsakt 1949 die Frommsche Gummiwerke GmbH durch den Magistrat von Groß-Berlin in Volkseigentum überführt. Grundlagebildete das »Gesetz zur Einziehung von Vermögenswerten der Kriegsverbrecher und Naziaktivisten vom 8. Februar 1949«.13 Ein Antrag der Erben Fromms auf Rückübereignung wurde 1951 abgelehnt. Mit dem Namen »Graunke«14 ist ein Hinweis auf einen 13 Vgl. Götz Aly, Michael Sontheimer, Fromms. Wie der jüdische Kondomfabrikant Julius F. unter die deutschen Räuber fiel, Fischer, Frankfurt am Main 2007. 14 Kurt Graunke (1915–2005); Komponist und Dirigent sowie Gründer und Leiter des Symphonie-Orchesters Graunke, das 1990 in Münchner Symphoniker umbenannt wurde. Einige Stationen seines Lebenslaufs: 1934 ein Studium an der Berliner Hochschule für Musik, 1935 Mitglied des Musikkorps der Polizei in Stettin, 1936 zur Luftwaffe, 1936 seine erste gedruckte Komposition Der kleine Wolgazigeuner, 1940 Leiter eines Luftwaffen-Musikkorps in Wien. 25. September 1945 Wohltätigkeitskonzert zugunsten des Bayerischen Roten Kreuzes. Ab 1949 trat das Symphonie-Orchester Graunke regelmäßig öffentlich auf. Bis 1989 leitete
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Mitläufer-Lebenslauf gegeben, den Fromm (wie sein Verhalten gegenüber den Nazis nahelegt) vermutlich auch gehabt hätte, wenn er kein Jude gewesen wäre. Die Logik der DDR-Führung war etwa: Damals wolltest du kein Jude sein, dann behandeln wir dich jetzt auch nicht als solchen. Die Nazis berauben die Juden, die DDR-Führung sanktioniert diesen Raub, indem sie Juden zu Nazis erklärt. Wenn der Erste Weltkrieg ein Unfall, also überholende Kausalität in objektivistischer Gestalt ist, so sind Vorgänge wie dieser überholende Kausalität in subjektivistischer Form, d. h. zynischer Opportunismus (die Krankheit der Politik im 20. Jahrhundert). Sowohl die Nazi-Führung wie die SED-Führung berufen sich auf eine neue Epoche, für die das alte Recht nicht mehr gelte.15 Aber auch wenn es natürlich stimmt, dass dem verstorbenen »Graunke« eine finanzielle Entschädigung nichts mehr »nützt«, ja, wenn man auch die zögerliche sogenannte »Wiedergutmachung« der BRD aus diesem Grunde in Zweifel ziehen kann,16 das Unterscheidungsvermögen in Sachen Recht und Gerechtigkeit ist kein Mittel, sondern ein Selbstzweck. »Wir dienen niemand.« Das heißt, die Herstellung von autonomem Unterscheidungsvermögen dient der Gerechtigkeit.17
Graunke das von ihm gegründete Orchester. 1972 Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 1985 Bayerischer Verdienstorden, 1985 Oberbayerischer Kulturpreis. (nach wikipedia, Mai 2018) 15 Man darf daran erinnern, dass dies die Kampfparole der Bauern im 15./16. Jahrhundert war, die Wiederherstellung »alten Rechtes«. 16 Vgl. zum gesamten Zusammenhang der Wiedergutmachungspolitik: Hans Günter Hockerts, Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945–200, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49, 2001, S. 167–214. 17 Man kann sich fragen, warum Kluge das Emblem von 1984 für die Herausgabe der »Chronik der Gefühle« so verändert hat, dass z. B. die »Zigarren« etwas völlig anderes bedeuten. Bei dem Emblem geht es um die Kolonialmächte USA, Frankreich und England. Kluge mag in beiden Ländern (Frankreich, England) Vorfahren haben, er ist doch Deutscher. Und auch wenn es plausibel ist, die Geschichte des 20. Jahrhunderts wie Robert Musil vom Ersten Weltkrieg her zu erschließen, so versteht man Adorno wohl richtig, wenn er Auschwitz als den Schlüssel des Jahrhunderts bestimmt. – Zum Zusammenhang von »Unterscheidungsvermögen« und »Gerechtigkeit«: Man kann das als eine Art Neufassung des kategorischen Imperativs verstehen, wenn dieser doch die Menschen überfordert. Ich kann nicht bei jeder moralischen Entscheidung die gesamte Staatsverfassung reflektieren, aber als Haltung einzuüben, dass Unterschiede nicht nivelliert werden, ist praktizierbar.
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7 »Sie erzählen die Geschichte eines Menschen, den Sie vor sich sehen und betreiben zugleich cross-mapping, dh. Sie erzählen gleichzeitig von einem Begriff.« (A. Kluge, aus: Alexander-Kluge-Jahrbuch 3, S. 296)
Sehen wir uns zum Schluss noch eine Erzählung ebenfalls aus den Eingangsgeschichten der Chronik der Gefühle genauer an, die die Realgeschichte etwas weiter verfolgt und die deutsche Wiedervereinigung beschreibt. Ein Leitfaden, wie man glücklich wird18 Bis dahin war alles so gegangen, wie sie es hätte vorhersagen können. Sie war aus einem Gehöft bei Oschersleben angereist, als Mitbringsel ihre abgebrochene Ausbildung als geheimdienstlich geschulte patriotische Kämpferin der DDR. Als Ort der Begegnung mit dem Westen hatte sie das Palace-Hotel in St. Moritz gewählt. Für vier Nächte reichte die Reisekasse. In der Nacht zum dritten Aufenthaltstag hielt sie einen jungen, unausgeglichenen Selfmademan an der Hand, bzw. karessierte sie ihm Achselhöhlen, Schultern, Hoden, Füße, so wie sie es in den Aufbaukursen auf der Kundschafter-Hochschule des MfS gelernt hatte. Nach einigen Tagen sah sie, daß sie ihn gewonnen hatte. Am vierten Tag, sie war schon in sein Appartement eingezogen, da sie ihres nicht mehr hätte bezahlen können, einem Montag, kaufte er ihr bei Armani, direkt gegenüber dem Palace, einen Pelzmantel, dessen Haube ihr Gesicht nunmehr umrahmt hielt, während das voluminöse Ding um ihren schlanken Leib schlabberte. Ich sehe aus, sagte sie sich, »wie aus einem edlen Gestüt«, ja, wie ein aufgezäumtes Pferd. Er selbst, ein oft mürrisch blickender, unsicherer Junge, kaufte sich eine schwarzplissierte Lederjacke zur holzfaserreichen Hose, die in den dünnen Arsch kniff. Sie stellten sich gemeinsam vor dem Spiegel auf. Was jetzt weiter? Es war im Jahr 1990. Sie hatte noch den DDR-Paß und zusätzlich einen gefälschten belgischen Paß aus den Beständen des Dienstes; den gab es jetzt nicht mehr. Ihre Liebeskarriere reichte bis zu dem Punkt, an dem sie einen Paß vorzeigen mußte. Sie brauchte eine Vita. Sie wollte ihr Glück machen und schleppte den reichen Jungen wie einen Koffer mit sich herum. Über seine Geschäfte, über die er gerne Auffassungen ausgetauscht hätte, konnte sie nicht mitreden. Es ist erstaunlich, wie wenig kommunikativ körperliche Beziehungen und der erste Ansturm der Faszination sein können. Sie langweilte sich, während er auf seine Art vor sich hin trauerte. Wie sie es gelernt hatte, fragte sie ihn nach seiner Jugendzeit aus, nach seinen Erlebnissen. Er redete gern von sich. Bei kritischer Selbstprüfung fand sie sich »brauchbar«. Dies gehörte als Seitenthema zum Glück: sich wirksam zum Einsatz zu bringen. Sie fuhr nach Zürich, ließ sich dort über ältere Kontakte einen Paß fabrizieren mit einem dazu passenden Lebenslauf samt Urkunden. Dann aber zeigte sie diesen Paß nirgends vor, weil sie zögerte, sich von ihrem wirklichen Lebenslauf zu trennen. Zweimal hatte sie, zuletzt für den Paß, ihrem Jungen Geld aus dem Jackett genommen. Sie hatte anfangs die Legende eingeführt, sie stamme aus einem Hause, das nicht ohne Einkommen sei. Die unbedachte Improvisation behinderte sie sehr. Eine Legende wiederum, die diesen Widerspruch vermied, hätte ihren Aufenthalt im Palace-Hotel unplausibel gemacht.
18 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle I, S. 25–27.
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Wie man es macht, ist es falsch, sagte sie sich, machte aber jetzt keine Fehler mehr in der Aufzucht der jungen Liebespflanze, die den Selfmademan neben ihr hielt und auch in ihr eine Energieflamme des Eifers instand hielt. Was fehlte, war ein »geistiges Band«. Sie versuchte, ihm vorzulesen. Sie wollte von ihm lernen, was seine geschäftlichen Aktivitäten ausmachte, darüber redete er freiherzig. Sie kaufte ein »Vademecum für Männer«, las heimlich. So füllte sie die Zeiträume zwischen den Kohabitationen. Nachts lag sie wach, sann darüber nach, wie sie den glücklich angefangenen Faden weiterspinnen könnte. Dies alles schien ihr »im Auftrag« leichter. Es entfiel dann die Frage, ob sie die Eroberung glücklich machte. Man konnte im Grand Hotel nirgends lesen. Beim Essen nicht, und wenn sie mit ihm im Foyer oder in der Bar saß, auch nicht. Nachts nicht, weil er beim Schlafen kein Licht vertrug. Während der Berührungen ohnehin nicht. Wie nach einer Zigarette gierte die lesewütige Mitteldeutsche nach einem Buch. Allenfalls auf einer der Toiletten des Hotels (keineswegs aber im Bad des Appartements) konnte sie für kurze Zeit etwas Lesbares zücken. Sie überlegte, ob sie sich dem Jungen offenbaren sollte. Sie meinte ihn weitgehend »im Griff zu haben«. Inzwischen näherte sich der Oktobertag, an dem sie Bundesbürgerin würde. Sie wartete, ließ alles im unbestimmten. Er flog wegen eines dringenden Geschäftskontaktes nach Venezuela, sie »hielt die Stellung« im Palace. Bei der Rückkehr holte sie ihn in Zürich ab, da sie auch seinen Wagen verwaltete. Er schenkte ihr einen Klunker. War das das Glück, das sie sich erhofft hatte? Ein Glück, für das mächtige Funktionäre ihre Laufbahn riskierten? Sie haderte einige Tage lang, fühlte sich schwach. Dann fuhr sie ohne Erläuterung und Abschiedsgruß über Chur, Lindau, München, Hannover, Magdeburg nach Oschersleben zurück. Der große Junge in St. Moritz kannte weder ihre Identität noch ihre Adresse.
Bis dahin war alles so gegangen, wie sie es hätte vorhersagen können.: Wer ist »sie«? Es ist auffällig, dass beide Personen keine Namen haben. Gehöft bei Oschersleben: Oschersleben, über 1000 Jahre alt, »Leben aus der Asche«. Dazu kann man das Kriegsende 1945 assoziieren, aber auch den mythischen Vogel Phönix als allgemeines Bild für das Überleben nach Katastrophen. »Sie« wäre dann die historische Erfahrung, die einem Staat wie der DDR kein langes Leben zutrauen kann. …als Mitbringsel ihre abgebrochene Ausbildung als geheimdienstlich geschulte Kämpferin der DDR: Zwischen »Mitbringsel« und der hochtrabenden Formulierung »geheimdienstlich geschulte Kämpferin der DDR« besteht ein Gefälle. Die Spionage-Metapher könnte die gesamte Schieflage zwischen DDRund BRD-Bewusstsein bezeichnen. Einerseits erscheinen gegenüber dem entwickelten Kapitalismus des Westens die 40 Jahre DDR-Erfahrung als ärmlich, unangemessen, zurückgeblieben (»Mitbringsel«: etwas, das man übersehen kann), andererseits ist darin das Überlegenheitsgefühl enthalten, dem Westen eigentlich historisch voraus zu sein (»geheimdienstlich geschulte Kämpferin der DDR«): Marx hatte, wie immer verkürzt er offiziell rezipiert wurde, doch Recht, die Niederlage war historisch unverdient. Als Ort der Begegnung mit dem Westen hatte sie das Palace-Hotel in St. Moritz
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gewählt. Man sagt: »Wie sich der kleine Moritz die Welt vorstellt.« Mit ebendieser Naivität ging die Mehrheit der Bevölkerung auf den westlichen Kapitalismus (Palace-Hotel) zu. Damit ist die über fast 40 Jahre bei den Bewohnern der DDR anwachsende Orientierung an der »Freiheit« des westlichen Konsumkapitalismus bezeichnet, die sich nach 1989 endlich Bahn brechen kann. Palace verweist aber auch auf das Ost-Berliner »Palast-Hotel«, das für DDRBürger nicht zugänglich war. Darin arbeiteten die Prostituierten der Stasi, um westliche Politiker (die etwa aus dem »Palais Schaumburg« in Bonn kamen) und Geschäftsmänner abzuschöpfen. Es fanden aber auch die inoffiziellen Kontakte zwischen der BRD und der DDR dort statt. Beides, die Annahme der DDRFührung, so dem Kapitalismus schaden zu können, sowie das schöne Illusionsbild vom Palast des Kapitalismus bei der Mehrheit der Bevölkerung, sind naiv. Der Begriff, um den es geht, wird in der dritten Zeile genannt: Patriotismus. Aber was wird aus dem Patriotismus, wenn das Vaterland, die DDR, untergeht? Marx nennt den »Privategoismus« das »Geheimnis des Patriotismus der Bürger«. Das heißt, patriotisch verhalten sie sich in erster Linie zum privaten Geschäftemachen. Genauso verhält sich die ehemalige Spionin nun, sie setzt ihre Fähigkeiten für sich selbst ein. Wie vor 1989 eine DDR-Spionin muss nun die gesamte Bevölkerung dem Kapitalismus zu Diensten sein. Für vier Nächte reichte die Reisekasse: Für 40 Jahre (1949–1989) konnten die historischen Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der DDR als Legitimationsideologie dienen (Antifaschismus, Antiimperialismus). In der Nacht zum dritten Aufenthaltstag: Ende 60er, Anfang 70er Jahre, die neue Ostpolitik, verkörpert im ersten SPD-Kanzler Willy Brandt. Die Zuneigung der DDR-Bürger zeigte sich etwa in den »Willy, Willy«-Rufen beim Treffen mit Honecker in Erfurt 1970. Dass sie ihn gewonnen hatte: dieser Satz mag auch noch anspielen auf die Spionage-Affäre im Kanzleramt (Günter Guillaume), die Brandt zum Anlass seines Rücktritts nahm. In sein Appartement eingezogen: Seit Anfang der 70er Jahre war die DDR wirtschaftlich von Krediten des Westens abhängig. Montag, kaufte er ihr bei Armani, direkt gegenüber dem Palace, einen Pelzmantel: Gegenüber dem Kapitalismus liegt Moskau. Der Vergleich mit Armani mag zunächst überraschen, aber tatsächlich besteht zwischen einem straff bis diktatorisch geführten Familienkonzern, in dem sich der Chef um fast jede Kleinigkeit noch selbst kümmert, und der Sowjetunion, in der ohne Zustimmung der Partei nichts passiert, Ähnlichkeit. Auch enthält die nach außen aufrechterhaltene Ideologie des Staates kaum mehr Wahrheit als die Reklame eines Großunternehmens. Und natürlich kauft man in Moskau Pelze. Zunächst verhandelte die BRD mit dem Kreml. So wurde der »Rahmen« für die Wiederver-
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einigung gelegt (Moskauer Vertrag 1970), die DDR kam unter die Haube dieser Politik. – Gesicht, Leib: Die Politik der Einigung ging von oben aus. Ich sehe aus, sagte sie sich, »wie aus einem edlen Gestüt«, ja, wie ein aufgezäumtes Pferd. Wenn etwas »eigensinnig« ist an der DDR, dann die Erfahrungen von Krieg und Arbeiterbewegung, die sich als Hoffnung an den Aufbau des Sozialismus heften. Das ist die Herkunft aus dem Gehöft (Bauernhof) bei Oschersleben. Die unterschiedlichen Interessen der beteiligten Großmächte (Besatzungsrechte) nehmen darauf bei den »2+4-Verhandlungen« keinen Bezug. Der Regelungsvertrag von 1990 ist diplomatische Weltpolitik (»edles Gestüt«), aber nicht an Erfahrungen der DDR-Bewohner orientiert. Aufgezäumtes Pferd: Bald wird der Kapitalismus auf ihr losreiten. Mürrisch blickender, unsicherer Junge: die BRD-Demokratie, die sich ihrer selbst (etwa in der Auseinandersetzung mit der »Rote-Armee-Fraktion« in den siebziger Jahren) unsicher wurde (1977: innere Aufrüstung der Staatsmacht wie ein Polizeistaat). Schwarzplissierte Lederjacke zur holzfaserreichen Hose, die in den dünnen Arsch kniff: 1982/83 Helmut Kohl wird Bundeskanzler. Der Neoliberalismus setzt sich durch, beginnender Abbau des Sozialstaates. Sie stellten sich gemeinsam vor dem Spiegel auf.
(Nr. 31, August 1983)
Gefälschten belgischen Paß: Die DDR, obwohl nicht EU-Mitglied, genoss nach der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (1973) deren
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wirtschaftliche Vorteile, z. B. Zollfreiheit. Ihre Grenzen wurden anerkannt, aber der Staat musste auch Ausreiseanträge zulassen, was dann 15 Jahre später zu den Massenfluchten führte. Staatspolitisch schleppte wohl eher die BRD die DDR wie einen Koffer mit sich herum, aber hier ist wohl gemeint, dass nach der Wende die DDR-Bürger mit dem Kapitalismus nichts anzufangen wissen. Während er auf seine Art vor sich hintrauerte: Damit kann die fundamentale Trennungsarbeit bezeichnet sein, die jedem Bewohner des Kapitalismus als Antwort auf die permanente Akkumulation im Innern19 abverlangt wird und an die sich die Westdeutschen in vierzig Jahren gewöhnt hatten. Zürich, zweimal Geld aus dem Jackett: Zum ersten kann damit der Kredit von 1983 gemeint sein, den Strauß vermittelte, zum zweiten verschoben während der Wendezeit Parteikader der DDR, Stasi-Obere, die Gründer der Links-Partei, z. T. mithilfe westlicher Vertrauter, große Beträge auf Schweizer Konten. Legende, aus reichem Hause: Außenminister Genscher hatte anfangs die Wiedervereinigung als gutes Geschäft für den Westen dargestellt. Vademecum für Männer : Ursprünglich ist ein Vademecum eine Sammlung theologischer Texte, d. h. die ehemaligen DDR-Bewohner üben sich im Glauben an die »freie Wirtschaft«. Man kann den Ausdruck auch auf die Gründung der Treuhandanstalt (März 1990) beziehen, wem man die »Hand« gibt, mit dem »geht« man auch. Sie versuchte, ihm vorzulesen. Versuchte heißt: er hört nicht zu. Im Einigungsprozess spielt die Stimme der DDR so gut wie keine Rolle. Man konnte im Grand Hotel nirgends lesen. Ein Plätzchen zum Lesen findet man gewöhnlich in jedem Hotel. Aber metaphorisch geht es jetzt schon nicht mehr ums Vorlesen, also um (politischen) Erfahrungsaustausch, sondern darum, dass die Ostdeutschen sich von ihren eigenen Erfahrungen trennen müssen. Deshalb: Auf einer der Toiletten des Hotels. Nur privat ruft man eigene Erfahrungen wach und führt sie ab. Venezuela: Gegen- und Schreckbild zur deutschen Einigung. In den 10 Jahren zwischen 1974 und 1983 wurde Venezuela durch Ölexport eines der wohlhabendsten und eines der politisch stabilsten Länder in Lateinamerika. Seit 1983 fiel der Ölpreis auf dem Weltmarkt, Korruption breitete sich wieder aus, im Februar 1989 kam es zu landesweiten Aufständen und Hungerrevolten, deren gewaltsame Niederschlagung in zwei Tagen weit über 1000–3000 Menschen das Leben kostete. Das heißt, die reale Angst der Ostdeutschen vor Chaos und Bürgerkrieg ist mitbeteiligt bei der Anpassung an den Westen. Hielt die Stellung im Palace: Die Regierungen Modrow und de MaiziHres 19 Vgl. die entsprechenden Kapitel zur »Permanenz der ursprünglichen Akkumulation« in: Oskar Negt / Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt am Main 1981.
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versuchten zunächst bestimmte soziale Rechte (u. a. Recht auf Arbeit, Mieterschutz, freie Bildung) zu retten, schließlich stimmte aber die Volkskammer allen Vorgaben des Westens zu. Dafür wird dann die D-Mark zu für die DDR verhältnismäßig günstigen Bedingungen eingeführt: Er schenkte ihr einen Klunker. Bei der Rückkehr holte sie ihn in Zürich ab, da sie auch seinen Wagen verwaltete. Sie sind sich auf Ebene der Waren näher gekommen, sie wird von einem Kofferträger zum Chauffeur. Zürich ist die Stadt Zwinglis – ein passender niedlicher Name für den welthistorisch gesehen bescheidenen »Zwang«, den der westliche Kapitalismus auf die ehemalige DDR ausübt. Chur, Lindau, München, Hannover, Magdeburg. Kuria, der Kreis der höchsten päpstlichen Beamten; Lindeninsel; Mönchskloster ; hohes Ufer ; Jungfrauenburg. Alle Städtenamen bezeichnen etwas sich Abschließendes. Das ist eine wesentliche Form der Vereinigungs-Erfahrung der DDR-Bevölkerung: Niemand im Westen will von der DDR-Geschichte wirklich etwas wissen. Auffällig ist außerdem die Streckenlücke zwischen München und Hannover: Oben (Staatsund Verwaltungsebenen) ist die Einigung vollzogen, und unten (wenn man die private Wirtschaft dafür halten darf) ebenfalls. In der Mitte, der Gesellschaft, fehlt sie weitgehend. Der Text beschreibt die deutsche Einigung nicht als misslungen, aber auch nicht als politisches Meisterstück, insofern dabei der historisch akkumulierten deutschen Problematik einer besonders deutlichen Trennung von Innen und Außen Tribut geleistet wurde.20 Das korrespondiert mit der ersten Erzählung des Buches (Der Eigentümer), die ja einfache Möglichkeiten einer gesellschaftspolitischen Vereinigung beschreibt.
8 Wer heute einen Bestseller schreiben will, muss einen Roman schreiben. Erzählungen haben den Vorteil, Hauptfiguren zu vermeiden. Es sind aber alle Menschen, auch amerikanische Präsidenten, Nebenfiguren im historischen Prozess, solange wir diesen nicht wenigstens in der Frage von Krieg und Frieden beherrschen. Kluges Figuren erscheinen deshalb irritierend, weil sie Eigenschaften, Eigensinn, Gefühle, Ängste oberhalb und unterhalb der Personen verkörpern, wir aber gewohnt sind, auf der Ebene von Personen zu denken und zu fühlen. Seine Erzählungen bemühen sich, Weltpolitik, Geschichte dem Gefühlsleben zugänglich zu machen. Die Brüche, der Unsinn, der dabei entsteht, sind real. Sie zu glätten wäre Konformismus.
20 Diese Verdrängung äußert sich 25 Jahre später im Rechtspopulismus der DDR.
Jean-Pierre Dubost
Desorientierte Orientierungen. Topographie und Navigation bei Alexander Kluge Das Bedürfnis nach Orientierung ist praktischer gerichtet als blosse Erkenntnis […]Sie ist auch Voraussetzung des Denkens, aber, von dessen ständiger Modulationstätigkeit abgesetzt, die eine Hälfte der Steuerung der Gedanken.1
1.
Paris, erster Mai 2018
Am Abend des 1. Mai 2018 blendete der französische Nachrichtensender »BFM TV« im Rahmen seines Berichts über die Demonstrationen des 1. Mai im Lande ›en boucle‹ – in ständiger Wiederholung – die gleiche kurze Szene ein: eine Reihe von Demonstranten in Paris skandierten Parolen, die man weder hören noch aus ihren Lippen ablesen konnte. Sie hielten, aneinandergereiht, mit beiden Händen ein sehr breites Transparent, auf dem »NOS SALAIRES, NOS ACQUIS, NOS RETRAITES« – »UNSERE GEHÄLTER, UNSERE SOZIALEN ERRUNGENSCHAFTEN, UNSERE RENTEN« zu lesen war. Die Worte, die sie im Chor skandierten und anscheinend sangen, begleiteten sie gemeinsam mit einer etwas unkoordinierten Geste. Das Transparent, das sie – alt und jung, »weiße« und »dunkle« Gesichter, Frauen und Männer – alle zusammen rauf und runter schüttelten, war so breit wie die breite Pariser Straße selbst, auf der sie langsam marschierten. Diese ständig wiederholte Sequenz dauerte jeweils nicht mehr als ein paar Sekunden und kam ständig wieder, während die Journalisten die Demonstrationen kommentierten, die überall in Frankreich standfanden (über Demonstrationen in anderen Ländern wurde nicht berichtet) und die aktuelle politische Situation analysierten – die Uneinigkeit gewerkschaftlicher Strategien, ihre konkurrierenden Positionen, die durch zahlreiche unerwartet aufgetauchte Black Blocks entstandenen Zerstörungen, die die politischen Inhalte der traditionellen Demonstrationen des ersten Mai trüben und die Konfusion der politischen Lage angesichts des unaufhaltsamen 1 Alexander Kluge, Oskar Negt, Der unterschätzte Mensch, Frankfurt am Main: ZWEITAUSENDEINS, Bd. 2, 2000, S. 1022.
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Reformwillens der Macron-Regierung und der daraus entstandenen Spannungen verschärfen könnten. Währenddessen wurde die Stummszene (unhörbare Worte, sprechende und gleichsam tanzende Hände) als Beilage und stumme Illustration ihrer Kommentare wiederholt. Die Stummfilmsequenz war zweifelsohne aussageträchtiger als die Kommentare selbst, sie drängte sich aufgrund ihrer obsessiven Natur in den Vordergrund, die Kommentare verwandelten sich hingegen zum Hintergrundgeräusch. Die Sprache rieselte, das Bild sprach. Die fröhlich-entschlossenen, enthusiastischen Gesichter der Demonstranten, das zackige, mechanische, fast puppenartige Spiel ihrer Hände, verselbständigten sich und verloren durch die Wiederholung keineswegs an Kraft, sondern wurden umgekehrt zunehmend sprechender. Aus dem Detail wurde eine Fabel ohne Moral, in der sich die ganze Unentschiedenheit – und der Eigensinn – des Augenblicks verdichteten. Zwischen den politischen Kommentaren der Journalisten und diesem ungewollten fernen Zitat aus der berühmten Brötchentanz-Szene in Charlie Chaplins Modern Times entstand ein Intervall, und somit Platz für eine wortlose Lehre. Als wollte uns damit BFM TV vorführen, wie Alexander Kluge verfährt, um dem Realen seine eigene Einbildungskraft abzugewinnen bzw. zurückzugeben und wie man aus Lücken im Realen die Substanz einer Situation herausgewinnt, um deren Negativ als elementaren Störfaktor der Darstellungsmaschinerie zu verwenden. Man kann nicht umhin, eine solche Situation mit unzähligen anderen in Verbindung zu setzen, die Kluges Ästhetik auszeichnen – ob im Geschriebenen oder im Filmischen. Unweigerlich drängen sich hier mehrere Beispiele auf. Die Erinnerung flüstert einem sofort einige ein, die man als regelrechte Topoi im Werke Kluges bezeichnen könnte: Eine Frau, die einen Koffer trägt, läuft und läuft auf einer Brücke; »Fünf Maultiere, vom Wasser der Missouri eingeschlossen«; der blinde Mirko, der seinen Lastwagen mit Hilfe seines Sohnes fährt. Und natürlich auch »Der blinde Regisseur«. Kluge verstreut sie bekanntlich immer wieder in neue Texte, er flicht sie in neue Kontexte ein, er verwendet sie im Medium, mit dem er neuerdings auch noch experimentiert – nämlich der Ausstellung.2 Und er geht mit diesen Topoi um, wie die Literatur seit immer : Er bringt sie in immer neue Kontexte ein, um aus ihrem Potential ständig Neues herauszuholen. Daraus entstehen bisher nicht gedachte ungesehene Topographien. »Die gleiche Geschichte an anderem Ort, zu anderer Zeit kann zu jedem Moment einen anderen Ausgang nehmen«, sagte Kluge in seiner Rede anlässlich der Übergabe des Büchner-Preises 2003. Nur so könne die erstarrte Opposition 2 Siehe z. B. die Wiederverwendung des Bilds »Fünf Maultiere, vom Wasser der Missouri eingeschlossen« als großformatiges Bild in einer der ›Inseln‹ der Ausstellung »Gärten der Kooperation« / Gardens of cooperation«, die 2016 im Kunstzentrum La Virreina Centre de la Imatge in Barcelona und 2017 im Stuttgarter Kunstverein zu sehen war.
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zwischen Wirklichkeit und Utopie wieder flüssig werden und den Weg für Heterotopien und Heterochronien öffnen. Diese Verlagerung, dieser Umzug der Bilder durch die Zeiten auf der Suche nach neuen Ausgängen, dieses Experimentieren mit Landkarten des Gefühls rettet das Utopische vor der ihm unweigerlich innewohnenden Ortlosigkeit. Es geht weder darum, die Wirklichkeit – die Kluge als »so etwas wie einen Kokon von Bildern und günstigen Annahmen«, als »ein Gewebe, das wir zwischen uns und die Masse objektiver Tatsachen einfügen«3 bezeichnet – ohne Kompensation auszuleeren noch darum, sie gegen die Illusion eines ortlosen Anderswo auszutauschen. Als »DESORIENTIERTE ORIENTIERUNG« möchte ich eine solche »Rettung« durch Weg-räumen bezeichnen, die sich in dieser Spanne zwischen substanzloser Zukunft und Wirklichkeitsgespinst, auf nomadische Art ansiedelt.
2.
Orientierung im Dunkel: eine ernsthafte Frage für Menschen (und Engel)
1786 erscheint in der Berlinischen Monatsschrift Kants Aufsatz »Was heißt, sich im Denken orientieren?«. Bevor er die schwerwiegende Frage behandelt, die der Titel des Aufsatzes ankündigt, stellt Kant zuerst die ganz konkrete Frage, wie Orientierung im Raum überhaupt möglich ist. Und dazu gibt er folgende überraschende Antwort: »Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel, und weiß, dass es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu finden. Zu diesem Behuf bedarf ich aber durchaus das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand. Ich nenne es ein Gefühl; weil diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied zeigen.«4
Das Gefühl für die Orientierung im Raum beginne damit, dass unsere Hände an der Nahtstelle von Erkenntnis und Wahrnehmung liegen. Sie sind Selbstbezug und Bezug zur Außenwelt (zum Raum) in einem. Denn der Raum ist, so Kant, prinzipiell richtungslos. Dieses Vermögen, durch Selbstreflexion von unseren beiden Händen Gebrauch zu machen, um die gleichsam zu spontanen, bereits kritischen und dennoch immer noch körperlichen Instanzen zu erheben, bezeichnet Kant als Gefühl. Was objektiv gesehen geographischer oder astronomischer Natur ist, sei zuerst auf eine untrennbare Art sowohl geistig wie körperlich, kognitiv und sinnlich in einem. Würde z. B. plötzlich der Sternenhimmel 3 Alexander Kluge, Rede zur Verleihung des Büchner-Preises 2003. 4 Immanuel Kant, Werke in 12 Bänden, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, Bd. 5, S. 268.
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spiegelverkehrt erscheinen, schreibt Kant weiter, so wäre sogar der Astronom zuerst desorientiert. Und erst dank dem Rekurs auf seine Hände, dank also ihrem »kritischen Ansatz« könne er die Orientierung wieder finden. Gleichermaßen bleibe mir in der Nachtzeit auf einem ansonsten bekannten Weg, auch wenn man kein Haus unterscheiden kann, immer noch »das bloße Gefühl des Unterschiedes meiner beiden Seiten.« Auch wenn es Kant letztlich darum geht, zu zeigen, dass das Urteilsvermögen als Schaltstelle zwischen Abstraktion und sinnlicher Erfahrung gleichsam das Scharnier zwischen dem Sinnlichen und dem »Übersinnlichen« bildet, steht hier schließlich die Frage der Orientierung, aufgrund ihrer extremen sinnlichen Abstraktion, buchstäblich im Raume.5 Ihre Stichhaltigkeit kann dennoch konkret, historisch und experimentell auf die Probe gestellt werden. Während die Frage, was Gefühle sind, leisten und können, bei Kluge einen zentralen Stellenwert einnimmt, wird die Frage der Orientierung selten explizit als solche behandelt –wie etwa in Kapitel 12 von Der unterschätze Mensch, das eben den Titel »Umgang mit Horizontverschiebungen – Das Bedürfnis nach Orientierung«6 trägt. Dennoch gilt für seine Praxis als Schriftsteller und Filmemacher immer das in eben diesem Kapitel geäußerte Prinzip: »Die Orientierungsmuster sind darauf angewiesen, sich von festen, konservativen Gewohnheiten, als einem Träger, abzustoßen«7 – eine Aussage, die nicht nur theoretischen Charakter hat, sondern auch für den Textbild-Regisseur selber und die Konstruktionsregeln seiner Werke gilt. Orientierung ist für Kluge nicht wie bei Kant oder Heidegger ein Stoff, den ein Diskurs behandelt, sondern auch der Stoff, aus dem Muster entstehen. Es geht nicht darum, theoretische Antworten auf die Frage, was Orientierung sei (ob im Raum, im Leben, im Labyrinth der Gefühle oder mitten in der Katastrophe) zu liefern, sondern Orientierungsmuster zu entwerfen, die das ›abstoßen‹, was an gegebenen Orientierungsmustern lediglich Gewohnheit ist. Unter einem Bombenangriff hilft in der Tat Gewohnheit nicht viel. Kants Subjekt ist das, was Deleuze eine »philosophische Gestalt« nennt. Im Bombenhagel wird sie unbrauchbar. Wo nun oben und unten, Hölle und Himmel bleiben, wenn die Geschichte kein purer Raum, sondern eine Ruinenlandschaft ist, bleibt zumindest seit Benjamin eine Frage, 5 Zur kritischen Analyse dieser Abstraktion, die die Grundlage für eine Orientierung im Denken durch Vernunft ist, die wiederum voraussetzt, dass der Begriff der Vernunft, so wie Kant ihn formuliert, notwendigerweise universellen Charakter hat und die Grundlage für einen Kosmopolitismus im globalen Zeitalter bilde, siehe Kimberly Hutchings, What is Orientation in Thinking? On the Question of Time and Timeliness in Political Thought, Oxford: Blackwell, 2011.Vgl. auch Jakob Huber : Wiedergelesen: Kants Orientierungsversuch für ein Globales Zeitalter auf www.theorieblog.de. Siehe hier weiter Fußnote 29. 6 Kluge, Negt, Der unterschätzte Mensch, S. 1001–1012. 7 Ebd., S. 1006.
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die Engel und Menschen gemeinsam bewegt. Und zu einer Zeit wie heute, wo das Gefühl einer generellen, globalen Desorientierung Menschen weltweit beschäftigt und erneut politische Katastrophen auslöst, bleibt mehr denn je die Frage nach Orientierung unumgänglich.
3.
Eine Bemerkung von Alexander Kluge zu einer Beobachtung von Walter Benjamin, oder wie ein Autor seine Gestalten, und damit den Leser auch im Regen stehen lassen muss
Bereits in einem seiner ersten Texte formulierte Walter Benjamin seine Kritik an einer inhaltsleeren Vorstellung der Geschichte, die darin besteht, das historische Nacheinander als eine Art Zeitautobahn aufzufassen, auf der die Geschehnisse bald rasen, bald zähflüssig vorankommen, manchmal in Stau geraten oder gar zu Massenkarambolagen führen: »Es gibt eine Geschichtsauffassung, die im Vertrauen auf die Unendlichkeit der Zeit nur das Tempo der Menschen und Epochen unterscheidet, die schnell oder langsam auf der Bahn des Fortschrittes dahinrollen. Dem entspricht die Zusammenhanglosigkeit, der Mangel an Präzision und Strenge der Forderung, die sie an die Gegenwart stellt.«8
Im Gegensatz zu dieser abstrakten, substanzlosen Zeit, die nichts anderes ist als Projektion auf die Vergangenheit einer neutralen, indifferenten Zeitvorstellung, äußert sich die Zeit »in den utopischen Bildern der Denker« als ein Zustand, in dem »die Historie als in einem Brennpunkt gesammelt ruht«. In seinem großartigen Buch L’Ange de l’Histoire / Der Engel der Geschichte9 verwies St8phane MosHs auf die frappierende Ähnlichkeit dieser schon früh formulierten Auffassung mit Benjamins letztem Text »Über den Begriff der Geschichte«, 1940 geschrieben. Trotz aller Unterschiede teilen Kluge und Benjamin eines: die Einsicht, dass eine Ästhetik des Bilds die Voraussetzung für eine Kritik der Zeit als neutrales Segment der Geschichte ist, dass das historische Moment als bloße Position im Nacheinander der Zeit eine schiere Illusion ist und dass jedes Jetzt ein Potential – ein zu entwickelndes Negativ ist. Dennoch wird man vergebens in Kluges Text-Bildern Spuren dessen wieder finden, was Benjamin in der 5. These von Über den Begriff von Geschichte als »wahres Bild der Vergangenheit« bezeichnet. Nicht um die Festhaltung des »wahren Bilds der Vergangenheit«, das an uns vorbeihuscht und im Augenblick einer Gefahr aufblitzt geht es ihm, sondern 8 Walter Benjamin, Das Leben der Studenten, Gesammelte Schriften (Signum in der Folge: GS) II, 1, Rolf Tiedemann (Hg.), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972, S. 76. 9 St8phane MosHs, L’Ange de l’histoire. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Paris: Le Seuil, 1992; dt. Der Engel der Geschichte. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag, 1992.
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um die Frage nach der Möglichkeit, sich im Dunkel des historischen Augenblicks zu orientieren und noch mehr nach den dafür adäquaten Text- und Bildstrategien, deren Präzision und Strenge Möglichkeiten »wie in einem Brennpunkt« sammeln sollen. Kluges Text- und Bildverständnis, die Kohärenz und Präzision, mit der sie konstruiert werden und dessen Idee vom Kino führen mit Benjamins »materialistischer« Auffassung des Geschichtsbilds einen nicht enden wollenden Dialog. Die Auseinandersetzung erfolgt nicht auf dem philosophischen bzw. theoretischen Terrain. Angesichts der Konzentration von Sprache und Begriff, die Benjamins Sprache kennzeichnet, erinnert Kluge gerne in einem Dialog / la Diderot daran, dass Gershom Scholem, »der Benjamin wohlwollte«, »dessen Methode mit der »Umständlichkeit« der Zwölfton-Technik in der Musik« vergleiche.»10 Der anscheinend lässige Dialog, der in Geschichten vom Kino11 an die Darlegung von Benjamins Thesen zum Kino in Kap. XV von Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit anknüpft12, dekonstruiert auf eine elegante Weise das Benjaminsche Konstrukt und unterminiert das Gegensatzpaar, worauf dessen Kino-Theorie beruht, nämlich die Opposition von Versammlung und Zerstreuung, die wiederum mit der These einhergeht, dass »die Masse« die »matrix« sei, »aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neugeboren hervorgeht.«13 Hatte bereits Bergsons 1907 in L’8volution cr8atrice seine Ablehnung des damals noch sehr jungen Mediums dadurch begründet, dass das filmische Bild als »kinematographische Illusion« eine falsche Darstellung der reellen Bewegung wiedergebe14, so dehnte Georges Duhamel 1930 die Ablehnung des Kinos aufs Gesellschaftliche aus. Kino sei als Massenmedium nichts anderes als »ein Zeitvertreib für Heloten«, eine »Zerstreuung für Ungebildete«15 – eine Einstellung, die der Benjaminschen »materialistischen« Filmtheorie einen idealen Stoff für einen ästhetisch-politischen Kontrapunkt lieferte. »Man sieht«, erwidert Benjamin auf Duhamels bourgeoise Kritik der ungebildeten Masse: »es ist im Grund die alte Klage, dass die Menschen Zerstreuung suchen, die Kunst aber vom Betrachter Sammlung verlangt«.16 Diesem »Gemeinplatz« antwortet Benjamin mit der Perspektive einer »Politisierung des Ästhetik«, für die der Film eine zentrale Rolle spielen sollte: während der »vor dem Kunstwerk sich Sammelnde« 10 11 12 13
Alexander Kluge, Geschichten vom Kino, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007, S. 144. Ebd., »Eine Beobachtung von Walter Benjamin«, 2007, S. 143–145. Ebd., S. 144f. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS I, 2, S. 503. 14 Vgl. Henri Bergson, L’8volution cr8atrice (dt. Schöpferische Entwicklung), Kap. IV. 15 Benjamin, GS I, 2, S. 504. 16 Ebd., S. 304.
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sich »darein versenkt«, versenke dagegen »die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich.«17 Kluge dazu: »Die neue Wahrnehmung erfolgt, sagte er, »in der Zerstreuung«, kollektiv und »durch Gewöhnung«. Sie entspräche, behauptet er, einer taktilen Rezeption (»ohne Überlegung«).18 Wohlbemerkt bemüht sich hier Benjamin nicht, die »Politisierung des Ästhetischen« mit filmischen Mitteln eingehend zu begründen, (im krassen Gegensatz zu Bergson, der 1907 darauf bedacht war, das Nicht-Authentische des Filmischen durch Bezug auf seine Philosophie von Dauer und Werden, Sein und Bewegung, akribisch zu definieren). Er verdichtet sie durch einen historischanthropologischen Exkurs über Architektur. Bauten, die »die Menschheit seit ihrer Urgeschichte« begleiten, »werden auf doppelte Art rezipiert: taktil und optisch.« Und im Gegensatz zur optischen Rezeption (die selbst Zentralität, Sammlung, souveräne Ich-Synthese und Herrschaft impliziert) beruhe die taktile Rezeption weniger auf einem »gespannten Aufmerken« als auf einem »beiläufigen Bemerken«. So kommt Benjamin zum Schluss, dass angesichts einer nun verallgemeinerten Apperzeption, bei der »die Rezeption in der Zerstreuung« die Regel sei (aus dem Quantitativen der Massenrezeption ergibt sich ein qualitativer Sprung), das Kino das adäquate »Übungsinstrument« für politische Emanzipation sei. An diese »Bemerkung von Walter Benjamin« knüpft Kluge mit eigenen folgenreichen Bemerkungen an. Erstens sei taktile Rezeption »so wie man sich in einem eigenen Haus einrichtet und auch im Dunkel weiß, wo die Hindernisse liegen und wie die Wege verlaufen.«19 Anders gesagt: Orientierung im Dunkel. Worauf sich für Kluge die Frage stellt, wie es überhaupt möglich sei, zu entscheiden, warum und inwiefern diese taktile Rezeption eher für Sozialisten als für Faschisten brauchbar sein sollte. Die »taktile Rezeption« als Orientierung im Dunkel fällt de facto in den Bereich des Sinnlichen. Aber die Frage nach der politischen und ästhetischen Brauchbarkeit dieser Orientierung im Dunkel stellt sich auf einer anderen Ebene, die selbst eine höhere, theoretische Form von Orientierung erfordert. Wo läge nun das Kriterium, das uns ermöglichen würde, von der ersten zur zweiten Ebene zu springen, wenn es nicht möglich ist, darüber zu entscheiden, wie der Sprung zu erfolgen hat? Der nun anschließende Dialog bringt dieses Dilemma zum Ausdruck: »–Ist es nicht schwierig, Beobachtungen und Formulierungen, an dem Vorsatz zu orientieren, dass sie theoretisch für Faschisten unbrauchbar, für Sozialisten (vor allem
17 Ebd. 18 Kluge, Geschichten vom Kino, S. 143. 19 Ebd., S. 144.
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Arbeiter) dagegen besonders brauchbar sein sollten? –Das ist besonders für Erfahrungen in der Kinopraxis nicht einfach.«20
Der Dialog verschärft Kluges Antwort: Es ist nicht nur schwierig, es ist zudem theoretisch und praktisch nicht möglich, eine Sortierungsarbeit zu vollziehen, die diese Orientierung im Dunkel in eine klare, gleichrangig ästhetische und politische Orientierung überführen könnte. Lieber auf diese Utopie verzichten und auf die damit versprochene Landkarte für Massen und Eliten. Man sollte am besten die Situation Fall für Fall prüfen. Und für Leser, die die Bedeutung dieser Schlussfolgerung nicht verstehen, folgt auf den Dialog eine kleine Fabel, nämlich die Geschichte der New Yorker Doktorandin, die kurz vor der Abgabe ihrer Dissertation immer noch über Benjamins berühmte Formulierung stolpert, der zufolge der Kommunismus auf die Ästhetisierung der Politik »mit der Politisierung der Kunst« antwortet, und keine wissenschaftliche Bestätigung in Forschung und bei Benjamin selbst für ihre Intuition findet. Benjamins berühmter Satz sei unbedingt dahingehend zu korrigieren, dass Benjamin anstatt Politisierung der Kunst »Politisierung der wirklichen Verhältnisse, zu der die Kunst fähig sein muss«21, hätte schreiben sollen. Die Fabel endet mit einer überraschenden Moral: »[…] über New York Dauerregen. Da musste die Doktorandin, den Laptop vor ihrer Brust mit einer Plane bedeckt, mit ihrem Fahrrad hindurch.«22 Es liegt in der Logik desorientierter Orientierung, dass der Autor nicht nur seine Gestalten, sondern auch den Leser selbst im Regen stehen lässt.
4.
Himmel und Hölle, oben und unten, kalt und heiß
Von welcher Höhe aus wird der Unterschied zwischen Illusion und historischer Realität formulierbar? Allgemein gilt: je höher der Standpunkt, desto weniger Sauerstoff. War Benjamins ›Engel der Geschichte‹ vorsichtig genug gedacht, um wenigstens dem starken Windzug, der vom Paradies her weht, den Rücken zu kehren (was nicht möglich gewesen wäre, hätte er nicht Klees Gemälde reorientiert, d. h. nicht nur einer Exegese23 unterworfen, sondern auch regelrecht umgedreht, und danach auch noch die dadurch erwirkte Vision von hinten in eine Vision von oben verwandelt), so verschärft noch Adornos Kritik an Benjamins Theorie des Fetischcharakters der Ware die Lage. 20 21 22 23
Ebd. Ebd. S. 145. Ebd. Ohne Orientierung am Judentum und ohne den Hintergrund von Franz Rosenzweigs Idee einer Achronie der Geschichte hätte es keinen Grund gegeben, Paul Klees Angelus Novus diesen vielfachen Transformationen zu unterwerfen.
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Der Fetischcharakter der Ware, so Adorno in seinem Brief vom 2. August an Benjamin, an den Kluge mit Die astronomische Phase, in welcher die Hölle durch die Menschheit hindurchwandert…24 anknüpft, liegt nicht im (falschen) Bewusstsein und kann also nicht als Traum und Verdrängungsprozess verstanden werden. Es liegt vielmehr daran, dass der Fetischcharakter selbst Bewusstsein produziere. Ist aber Bewusstseinsimmanenz eine Konstellation des Wirklichen, dann können Epochen die folgenden nicht erträumen, da Epochen vermutlich nicht träumen und Warenfetischismus keine verfehlte Wahrnehmung ist, die durch politische Therapie möglicherweise richtiggestellt werden könnte. Die Hoffnung auf einen Ausweg aus dem Alptraum sei also selber eine weitere Illusion. Konnte noch von der stratosphärischen Höhe der Theorie (und des Messianismus) her die Vergangenheit, auf die der neue Engel starrt, als apokalyptische Vision in ein engelhaftes Bewusstsein eingeholt werden, so verschiebt Adorno die Antwort in astronomische Ferne, von der aus nur kalte Winde kommen können. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von der »objektiven Schlüsselgewalt« des dialektischen Bildes; also nicht von einer subjektiv-objektiven Gewalt. »Und er spricht außerdem vom dialektischen Bild des »19. Jahrhunderts als Hölle«. Nichts hat Schlüsselgewalt zur Utopie, das nicht auch die Hölle aufschließt… Das dialektische Bild… »gleichsam als die astronomische Phase, in der die Hölle durch die Menschheit durchwandert. Erst die Sternenkarte oder Wanderschaft vermöchte, so scheint mir, den Blick auf die Geschichte als Urgeschichte freizugeben.«25 Eine solche »Wanderschaft« mit einer »Sternenkarte« als Orientierung ist natürlich besonders waghalsig. Und gerade diese Waghalsigkeit kennzeichnet Kluges Werk. Dabei ist die Spanne zwischen überpräzisem Realismus und konstruktiver Spinnerei weit – von der ironischen und ernstgemeinten Fiktion eines »Sozialismus« kosmischer Dimension (Perspektive von sehr weit oben) zum Detail der Erzählung der Erfahrung des Bombenkriegs (Perspektive von ganz unten). Oben Himmel und Kosmos (sehr kalt), unter Strategien des Überlebens unter Bomben (extrem heiß). Zwischen beiden extremen Temperaturen liegt das üppige, unendlich weite Gebiet der Gefühle. Das meint zumindest der Besucher vom Sirius.26 24 Siehe z. B. Alexander Kluge, Die Kunst, Unterschiede zu machen, Bibliothek der Lebenskunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 38; Alexander Kluge, Stroh im Eis; Geschichten, Filmedition Suhrkamp, 2010, S. 34. 25 Kluge, Die Kunst, Unterschiede zu machen, S. 38–39; Stroh im Eis. Geschichten, S. 35. 26 Für den Besucher von Sirius enthalte die Unterscheidung zwischen heiß und kalt, zu kalt und zu heiß »die erste grundlegende Gefühlsunterscheidung«, woraus sich alle anderen entwickeln, »bis hin zu den letzten Akten der Oper, wo es um Mord und Totschlag geht und zwischen kalt und heiß gar nicht mehr zu unterscheiden ist. Stelle man eine Sprinkeranlage
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Von ganz hoher Perspektive aus ist es auch ein leichtes, eine »politische Ökonomie der Sterne« zu erträumen. Heiner Müller, erinnert uns Kluge27, hatte in Bitterfeld mit seiner Äußerung, dass man es nicht länger zulassen könne, »dass die Sterne so weiter machen« – dass also das Universum in der ihm eigenen unvorstellbaren Dimension so ungeheuer viel Energie verschwende und vergeude, böses Blut erweckt. Aber nicht bei denjenigen, die sich noch daran erinnerten, dass für Trotzki die Internationalisierung der Revolution »eine Perspektive zu den Sternen« eröffne, »deren momentane Unwirtlichkeit durch Arbeit dem menschlichen Bedürfnis angepasst und politisch ökonomisiert werden müsse.«28 Für diese buchstäblich astronomische Phase der Weltrevolution29 passt Adornos Formulierung wie angegossen: »Nichts hat Schlüsselgewalt zur Utopie, das nicht auch die Hölle aufschließt.«30 Im Gegensatz zum religiösen Topos, der sowohl im Christentum wie im Islam eine so machtvolle Rolle spielt, birgt diese Hölle in sich keine Überhitze, sondern extreme Kälte. Im 4. Zusatz zu Kapitel 12 im zweiten Band von Der unterschätzte Mensch vergisst Kluge nicht, uns daran zu erinnern, dass in Dantes Hölle (von Galilei (1585–1588) akribisch ausgemessen) Luzifer sich im Mittelpunkt der Eiskreise befindet.31 Unten ist die reelle Menschenhölle extrem heiß. Die Strategie von unten, die Gerda Baethe mit ihren drei Kindern im nicht einmal unterkellerten Gartenhaus des Grundstücks Breiter Weg Nr. 55/57 zu entwerfen gezwungen ist, muss innerhalb von Sekunden gefunden werden.32 Dabei entwickelt sie ungeahnte Fähigkeiten: Sie kann die Entfernung eines Einschlags »fühlen«, flüstert ihren
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im vierten Akt der Oper auf, könnten die Morde abgerüstet werden.« (Kluge, Die Kunst, Unterschiede zu machen, S. 44). »Politische Ökonomie der Sterne«, in: Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel lässt, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2003, S. 331–332. Ebd., S. 332. Ganz anders Auguste Blanqui, der mit seinem im Gefängnis geschriebenen visionären Traktat L’8ternit8 par les Astres (1872) seinem anti-produktivistischen Kommunismus eine nicht weniger kosmische Dimension verleiht. Während Laplace seinerseits in der vermeintlichen Regelmäßigkeit planetarischer Bewegungen ein Vor-Bild für eine antirevolutionäre politische Ordnung sah, drehte Auguste Blanqui, eine der bedeutendsten Figuren des französischen Sozialismus des 19. Jahrhunderts, die Perspektive gänzlich um. Von seiner Zelle in einer Festung von Morlaix auf hoher See, von der aus sein Blick lediglich Ozean und Sternenhimmel fangen konnte, entwarf Blanqui seinen verblüffenden Traktat. Der konkreteste Augenblick der politischen Hoffnung und die ewige Wiederkehr astronomischer Revolutionen sind eine einzige, unendliche Realität. Der anarchische Kommunismus, vom Mythos des Fortschritts radikal bereinigt, entfernt sich von Theologie und Teleologie wie die Galaxien voneinander. Er ist, in der ewigen menschlich-natürlichen Wiederkehr, sowohl kosmisch wie politisch-praktisch. Höchst denkbare Desorientierung. Weiteste denkbare Orientierung. Alexander Kluge, Chronik der Gefühle – Band I, Frankfurt a. M., Suhrkamp, S. 861. Kluge, Der unterschätzte Mensch, S. 1027–1029. »Strategie von unten«, in Kluge, Die Kunst, Unterschiede zu machen, S. 73–78.
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Kindern zu, sie sollten bei jedem neuen Einschlag den Atem anhalten. Lauter Strategien, die sie sekundenschnell »im Kopf versammeln kann«, aber »nicht übermitteln« kann. Sie orientiert sich hervorragend in einer extrem desorientierenden Erfahrung an einem einfachen Grundprinzip: »diese Luft, deren Druck unter dem Einfluss der Einschläge schwankte, nicht ›einnehmen‹.«33 In der radikalsten Desorientierung im Raum und im Denken ist eine einzige Frage von Bedeutung: »wohin fliehen, falls nochmals eine Chance durch Warten auf eine nächste Welle entstand.«34 In dieser engen Schneise der Zeit würde sie gerne wie der Engel der Geschichte vom Paradieswinde aus der Hölle der brennenden Stadt herausgeweht werden.
5.
»Die Welt zur Welt bringen«: Dekonstruktion des Orientalismus
»Apporter le monde au monde«: der Slogan der FrHres LumiHre hat in der Tat einen vielfachen Sinn. Alexander Kluge schlägt in Geschichten vom Kino zwei Möglichkeiten vor. Es könnte ebenso gut »eine neue Welt wird geboren, d. h. zur Welt gebracht« bedeuten oder heißen, das Kino bringe »Nachrichten aus allen Teilen des Planeten nach Paris, denn dort liegt die Welt.«35 In der Zeit, in der das Unternehmen Path8 mit diesem Slogan wirbt, entscheidet tatsächlich Paris über den Erfolg des Kinos. Eine dritte Bedeutung ergibt sich aber auch aus der Tatsache, dass, wie Kluge selber schreibt, die Filmunternehmer »wie Kolonisatoren« hinaus in die Welt schwärmten. Die erste, zentripetale Richtung und die hier erwähnte zentrifugale sind ein gleicher Prozess. Der Apotheker Gabriel Veyre, als »op8rateur LumiHre« engagiert, dreht 1896 und 1897 in Mexiko, Kolumbien, Venezuela, Cuba, Panama zahlreiche Filme. 1898 und 1899 dreht er noch zusätzliche 99 Filme in Asien (Indien, China, Indochina, Japan), immer noch im Auftrag der Gebrüder LumiHre. Er bringt kurze Szenen »nach Hause«, die zusammen mit Photographien anlässlich der Weltausstellung 1900 gezeigt werden. Die Kamera ist statisch. Es sind bewegende Zeitdokumente: eine Gruppe ärmlicher Indios beim Essen; Kinder, die in Indochina der Rikscha, von der aus die Kamera filmt, fröhlich nachrennen; Straßenszenen in Saigon; elegante junge Damen in langen weißen Kleidern, die in Indochina Münzen (sapHques) von einer Treppe aus werfen, die von ärmlichen Kindern hektisch aufgesammelt werden, so dass man das Gefühl hat, hier würden Hunde oder Hühner gefüttert; Geishas in ihren Jiringkishas; japanische Akrobaten; der mexikanische Präsi33 Ebd., S. 75. 34 Ebd. 35 »Die Welt zur Welt bringen«, in: Kluge, Geschichten vom Kino, S. 62.
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dent Porfirio D&az auf seinem Pferd; ein Pistolenduell in Mexiko, usw. Es sind wertvolle Dokumente auf dem Höhepunkt der Kolonialepoche. Die Welt ist am Scheideweg. Was sie damals zur Welt bringt, bestimmt unsere heutige Welt immer noch. 1904 schreibt Victor Segalen, während das Schiff, auf dem er als Marinearzt unterwegs nach China ist, sich der Insel Java annähert, ein paar kurze Notizen im Telegrammstil. Er notiert seine Intention, ein Buch über den Exotismus zu schreiben. Das Vorhaben wird ihn bis zu seinem Tod beschäftigen, aber daraus ist das geplante Buch nie etwas geworden. Geblieben ist der Titel, Essai sur l’exotisme, und entscheidende Intuitionen und Ideen, darunter die analytische Unterscheidung zwischen einem »exotisme faible« (passive Rezeption exotischer Klischees) und einem »exotisme fort« (Vermögen, Alterität aufzunehmen, sinnliche und geistige Gastfreundschaft) oder etwa die längst angetretene Prophezeiung einer »Entropie« der Diversität, einer sich anbahnenden, globalen und irreversiblen Angleichung und Neutralisierung von Differenzen. Dass exotische Bilder »die Welt zur Welt bringen«, ist ein Prozess, der zur Entstehungszeit des Films schon längst ausgereift ist und hundert Jahre vorher bereits ansetzte. Die ungeheure Produktionsmaschinerie orientalistischer Phantasmagorien in Malerei und Fiktion erstreckt sich über das ganze 19. Jahrhundert und begleitet die Kolonialexpansion wie deren Schatten – angefangen mit der monumentalen Description de l’Egypte (21 Bände, die, von 1809 bis 1829 erschienen, mit unzähligen großformatigen Kupferstichen, Aufsätzen, Landkarten und Statistiken Ägyptens, von den Pharaonen bis zur Gegenwart wie noch nie geschehen dokumentieren und in kolossaler Dimension erfassen – das Beispiel par excellence für das, was Edward Said in Orientalism in Anlehnung an Michel Foucault als ›Wissen als Macht‹ (pouvoir-savoir) kennzeichnet). Exotisch wird ab dann die Konstruktion des Orients dadurch, dass das Abendland durch machtvolle Produktionen sein Äußeres (sein »orientalisches Draußen«) im gleichen Atemzug negiert und fetischisiert. An diesem zwiefachen Prozess lässt sich DES-ORIENTIERUNG im globalen Zeitalter festmachen. Eine globale Re-Orientierung der Welt über seine koloniale und postkoloniale Dimension hinaus erfordert nicht nur eine Dekonstruktion des Orientalismus als einseitige, vom Westen aus projizierte Vorstellung orientalischer Andersheit durch die Berücksichtigung ihrer immanenten Vielfalt (Des-Orientierung im substantiellen Sinne, insofern multiple Oriente den Begriff Orient per se aufheben), sondern auch die Anerkennung einer multiplen Ineinander-Verstricktheit west-östlicher Differenzen, die immer schon da gewesen ist und in einer nunmehr irreversiblen Globalität sich mehr denn je vermehren.36 In dieser Form von Globalität, die eine innere Kritik der Koloniali36 Ich verweise hier auf den wissenschaftlichen Blog »Les Orients d8sorient8s«, der die Methoden und wissenschaftlichen Aktivitäten des weltweit verbreiteten kooperativen For-
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sierung der Welt durch sich selbst unter der Herrschaft technisch-wissenschaftlicher Herrschaftsformen erforderlich macht, hat es genauso wenig Sinn, weiterhin von »Orient« und »Okzident« zu sprechen. Und dennoch wird es nunmehr mehr denn je notwendig, auf eine »pluriversale« Art die Welt zur Welt zu bringen.
6.
Montage und Geschehnis (1): März 1918 in Brest-Litowsk, oder die Erfindung der Montage durch Orientierung am Detail
»Wie wir Kameraden Patrioten wurden, nur weil wir tüchtig waren.«37 (Kapitel 4 aus Geschichten vom Kino, wesentlicher Bestandteil einer Kinoästhetik). Wie immer antwortet hier Kluge auf die »große Erzählung« einer Geschichte des Kinos durch den Rekurs auf »kleine« Erzählungen. Die Anekdote, kraft des ihr innewohnenden anarchischen Prinzips, ist Sprengstoff für die Historie. Sie zwingt den Leser, in historische Geschehnisse wie in kleine Gucklöcher hineinzuschauen – wie damals Passanten in New York einen Cent in Automaten warfen (Prinzip »Penny-Arkaden«)38, um eine Weile Alltag gegen Illusion einzutauschen. Der Name »Brest-Litowsk« – er bezeichnet die Unterzeichnung des Abkommens am 3. März 1918, das den Kämpfen an der Ostfront ein Ende setzte und den Weg für die russische Revolution frei machte – , markiert die Voretappe der »großen Erzählung« der sozialistischen Weltrevolution und somit ein dialektisches Zeitmoment zwischen Krieg und Revolution. Die Anekdote teilt dennoch die Geschichte in Groß und Klein durch die Erzählung der Begegnung zwischen Kino und Geschichte. Die Geschehnisse werden nicht vom Standpunkt des Historikers aus dargestellt, sondern aus der Perspektive der Kameraoperatoren selbst. Die Protagonisten der Szene: die deutsche, österreichische und türkische Delegation auf der einen Seite, die russische auf der anderen, in der schungsnetzes gleichen Namens dokumentiert (https://lesordesor.hypotheses.org). Siehe u. a. dort Ian Magedera’s ›Paradox des Navigators‹ in »Disorientating the Orient, Desoriented Orient«: »These are of course satellite navigation systems (›satnavs‹). These devices permit individuals who do not know where they are going in terms of geography to preserve a sense of orientation and direction. It is somewhat of a paradox that these systems, when they function, allow individuals to have a greater range and allow them not to be disorientated even when they traverse territory which is not familiar to them. When one of these devices is guiding the individual the boundaries between being oriented and disoriented are blurred. Despite this experience, a practical purpose can be achieved and people can arrive at their destinations«. Dieses Paradox des Navigators spricht unmittelbar Kants Hoffnung an, eine kosmopolitische Orientierung vor dem Hintergrund einer Orientierung im Denken vorzuzeichnen. 37 Kluge, Geschichten vom Kino, S. 131–136. 38 Ebd., S. 34f.
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Mitte die Kameraleute, die die Aufgabe haben, das Geschehnis vom Standpunkt der proletarischen Revolution aus unter der Kontrolle Trotzkis zu verfilmen. Der Textregisseur lässt sie selber erzählen, wie das tatsächlich lief. Die Probleme sind eigentlich, lässt der Regisseur die Operatoren erzählen, schlichtweg materieller, technischer Art. Es geht darum, zu vermeiden, dass aufgrund des Formats Köpfe und/oder Füße weggeschnitten werden. Die Deutschen waren grösser, die Russen kleiner, Trotzki ausgenommen. Rein durch Kameraaufnahme andeuten, was hier signifikant und richtungsweisend sein sollte, bedeutet eine enorme Herausforderung. Die Lösung wird dadurch gefunden, dass »Punktualität« zum Zeitvektor wird. Die Kameraleute hätten sich lieber gewünscht, in den belebten Straßen der Stadt zu drehen. Aber die Geschichte, so wie sie vor ihren eigenen Augen regelrecht »geschrieben« wird, bietet wenig Stoff. Die Lösung ergibt sich aber gerade aus dem Defizit des Realen. Die Kameraleute orientieren sich am Detail – so wie der Textregisseur selbst (da beide narrativ in eine einzige Perspektive eingeholt sind). Das ›Punktum‹ wird nicht gesucht oder entschieden, es wird vom Zufall diktiert: »das rechte Auge (mit Monokel) des Generalobersten Hoffmann. Die Rückenpartie mit sieben Goldknöpfen eines Kavallerie-Offiziers«; »den Stenographen des Prinzen«; »die ›Seitengewehre‹ der deutschen Offiziere«. Die Kameraleute erfreuen sich über diese wertvolle Kollektion von Informationen. Erst nachträglich wird ihnen klar, dass sie »die Montage erfunden haben.« Was die Frage zu sein scheint – nämlich: »was ist Montage ?«– verdeckt eine zweite Frage: »Was ist ein Text«? Für Kluge ist die Schrift selber immer Montage. Die Pointe der Anekdote – nämlich der Satz »Später erfuhren wir, dass wir die Montage erfunden haben«, weckt den Leser aus seiner Faszination. Nachträglich muss er erkennen, dass das Thema dieses Textes die Geschichte als Montage ist. Rein historisch gesehen existiert nämlich die Montage schon. Griffith hat sie erfunden, nicht die Kameraleute und Patrioten in Brest-Litowsk. Und was Deleuze in Kapitel I von L’image mouvement zur Erfindung der Montage bei Griffith schreibt, wirft ein helles Licht auf die Aussage der Kameraleute, die die Montage erfunden haben sollen. Bei Griffith gehe es nicht nur um die Technik der Parallelmontage, so Deleuze, sondern auch um die Verwendung der Nahaufnahme. Die Parallelmontage verleiht der filmischen Erzählung ihren Rhythmus und dem Film überhaupt seine Dynamik. Und die Nahaufnahme ist das Bindeglied, das die zwei Bilderreihen miteinander zu artikulieren ermöglicht. Die Großaufnahme, schreibt Deleuze, erwirkt nicht nur eine Vergrößerung des Details. Sie ermöglicht auch, Teil und Ganzes zusammenzusetzen.39 Der Widerspruch zwischen Trotzkis Forderung, politisches Bewusstsein durch Verfilmung zu erwirken und jenem Gemisch aus Zufall, Glück und Ge39 Gilles Deleuze, L’image-mouvement, Paris, Pditions de Minuit, 1985, S. 48.
Desorientierte Orientierungen
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nialität, woraus Montage hier entsteht, bringt sowohl die Nichtübertragbarkeit von Politik in Ästhetik zum Ausdruck wie die Zufälligkeit ihrer Vermengung im historischen Augenblick. Die Nahaufnahme ist hier eine Synthese von Genauigkeit und Bedeutungslosigkeit, die die Relation zwischen Geschichte und Montage trägt. Aus der Orientierung am Detail und der sich daraus ergebenden gleichwertigen Behandlung zwischen historischer Handlung (z. B. der überstürzte Weggang Trotzkis, der abrupt die Delegation verlässt und in den Zug steigt – Bewegung, Zeit- und Geschichtsmetapher in einem) und Nahaufnahme entsteht ein adäquates Bild für geschichtliches Chaos. Durch diese Reduktionsarbeit wird die Richtungslosigkeit des Details ungleich eloquenter als jede politische Rede. Die Demontage der Bewegung als richtungsgebende Energie und ihre Ersetzung durch eine reine Parataxe von Details dekonstruiert die Idee einer im historischen Augenblick dialektisierbaren historischen Totalität (Trotzkis Erwartung). Diese kleine Fabel, die zum Schluss in der Schwebe zwischen Krieg und Frieden bleibt; dieses Ende ohne Ende, das Geschichte ausmacht und gleichzeitig ein Moment in einer ohnehin sich im Aufmarsch bewegenden Revolution ist, bestätigen Deleuzes These, die Montage sei das indirekte Bild der Zeit. Aber während Deleuze darum bemüht ist, den Film als Laboratorium von Begriffen zu denken, produziert Kluge ein Zeit-Bild, das aus Zufall und historischer Notwendigkeit besteht – im Einklang mit seiner Filmpraxis, die die unsichtbare Seite dieser Fabel ist. Ein solches »indirektes Zeitbild« formuliert mit größter Genauigkeit die (des)orientierende Moral, die Utopien jenseits von Illusion brauchen.
7.
Montage und Geschehnis (Finale): Paris, 31. Dezember 1918
Vor nahezu hundert Jahren fand in Paris, am 31. Dezember 1918 (sieben Wochen nach dem Waffenstillstand) eine Militärparade in Paris statt. Über dieses historische Geschehnis zu reflektieren, ist eines, über die Frage der Möglichkeit, sich eine Darstellung des historischen Augenblicks vorzustellen, etwas anderes, aus beidem aber einen Text zu gestalten, der das eine wie das andere tut und beides zu einer Einheit bringt, ist noch einmal etwas anderes. Gerade dies versucht Kluge mit »Parade in der Sylvesternacht 1918 in Paris« in Geschichten vom Kino.40 Hier stellt sich noch einmal die Frage nach der Möglichkeit einer Momentaufnahme der historischen Zeit. Die Bedingungen waren ideal: »die Lichtverhältnisse waren opulent«, Filmmaterial stand nahezu unbegrenzt zur Verfügung da. Unendlich visuelle Motive – weitaus mehr als in der Baracke von 40 Kluge, Geschichten vom Kino, S. 137–145.
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Brest-Litowsk. Die Atmosphäre ist ambivalent: weder Trauer noch Freude, aber auf jeden Fall das bohrende Gefühl, dass nach vier Jahren Krieg »keine zu erwartende Veränderung des Lebens als Lohn dem Elend gegenüberstand.« Glühbirnen und Girlanden auf den Panzerwagen, Lichterketten überall – als würde hinter diesem »FINALE EINES GROSSEN KRIEGS« die phantomartige Rückkehr des 14. Juli41 per Kontrast die Stimmung zusätzlich noch trüben. Da alle diese Widersprüche zu keinem Resultat führen können, muss der Textregisseur seine Kameraleute erneut einsetzen. Von ihrem Standpunkt aus erscheint die Parade in einem ganz anderen Licht. Sie springen buchstäblich in die Lücke, die die kollektive Gefühlsambivalenz offen lässt. Ihre Augen werden durch die Lichter verführt, die die ganze Nacht lang vor ihnen in regelmäßigem Rhythmus vorbeiwackeln. Was gesungen wird, kann nicht widergegeben werden. Sie stellen fest: »Die Verbindung zu dem Zusammenhang, der uns ergriffen hatte und der stets außerhalb der Filmkader lag, war nicht wiederzugeben.«42 Keine Kader, also in Aristoteles’ Sprache keine »systasis«, keine »katharsis«, kein »hedonH«. Sie wissen, dass keine Lichter und noch weniger ihr zackiger, mechanischer Tanz in der Nacht der richtige Stoff ist, um die Mischung aus Trauer, Leid und Ernüchterung, diese radikale Desorientierung der Gefühle im Bild aufzufangen, sondern ganz einfach die Nacht selbst, als dunkler Hintergrund des Augenblicks. Dann würde klar werden, dass »nicht die Überlebenden des Kriegs, sondern die Toten der großen Schlachten«43 an ihrer Kamera vorbeimarschieren. Da aber »das belichtete Material sich immer am hellsten und am dunkelsten Punkt einer Einstellung« orientiert,44 gibt es nur eine Lösung: nicht das Geschehnis selbst verfilmen, sondern am Geschehnis vorbei, »neben dem Ereignis.«45 Darstellung ist Verschiebung. Geschichte ist weder sichtbar noch erzählbar. Ihr wahres Bild ist ihre (De)montage. Und was fürs Detail gilt, gilt auch fürs Ganze.
41 Der 14. Juli wurde 1880 zum französischen Nationalfeiertag erklärt, um in einem Zug die Französische Revolution (Erstürmung der Bastille) und die »FÞte de la F8d8ration« von 1791 (als Symbol für die Einheit der Nation in der ersten Phase der Revolution, als der König noch »Vater« der Nation war) zu zelebrieren. Zum Ritual gehörte bereits eine Militärparade (die damals in Longchamps stattfand), die daran erinnern sollte, dass das Militär der Republik unterworfen ist, andererseits als Mahnung galt, dass Elsaß-Lothringen eines Tages in den Schoß der französischen Nation zurückkommen sollte. Gesellschaften, schreibt der Jurist, Anthropologe und Psychoanalytiker Pierre Legendre, finden ihre Begründung in Szenen und Ritualen, in einer Unmittelbarkeit von Bildern und Darstellungen, die er als »dogmatisch« bezeichnet. Wodurch gemeint ist, dass ihre »Evidenz« Grund und Phänomen in einem ist. (vgl. u. a. Pierre Legendre, De la soci8t8 comme texte. Lin8aments d’une anthropologie dogmatique, Paris, 2001). 42 Geschichte und Kino, 138. 43 Ebd., S. 140. 44 Ebd., S. 139. 45 Ebd., S. 140.
Alexander Kluge
Parade in der Sylvesternacht 1918 in Paris. Wie wir zu spät lernten, den subjektiven Eindruck auf dem Filmmaterial festzuhalten
In dieser Nacht konnten wir unbegrenzt filmen. Nicht nur, weil das Material gleich zur Verfügung stand (es mußte verbraucht werden, oder man hätte es in die Magazine zurücktragen müssen, wo es verschimmelt wäre), nein, auch die Lichtverhältnisse in dieser Nacht waren opulent. Fast jedes Motiv so mit Lichtergirlanden versehen, als wären die Objekte, mit denen das Ende des langen Krieges charakterisiert wurde, extra für die Filmaufnahme ausgeleuchtet worden. Die Truppen waren für die Sylvesternacht nach Paris zurückgekehrt. In den Vorstädten und der Umgebung der Hauptstadt kampierten sie. Sie hatten sich vorbereitet für diese LETZTE PARADE. Anderntags sollten sie in ihre Heimatstandorte zurücktransportiert und dort entlassen werden. Seit fünf Uhr nachmittags zogen sie den breiten Straßen des Stadtzentrums entgegen. Über den dahinziehenden Zügen eine eigentümlich traurige Stimmung. Es war nicht so, daß irgendeiner über das Ende dieses Krieges jubelte. Sie schienen auch nicht traurig, weil sie sich die Schreckenszeit, die hinter ihnen lag, zurückgewünscht hätten; vielmehr schien die Trauer daher zu rühren, daß es diese Mühseligkeit so vieler Jahre, diesen Krieg überhaupt gegeben hatte, daß keine zu erwartende Veränderung des Lebens als Lohn dem Elend gegenüberstand. Nur ärmer waren sie geworden. Auf den Panzerwagen hatten die Pioniere mit Unterstützung städtischer Elektriker Glühbirnen an Girlanden befestigt. Ähnlich wie bei Schiffsparaden vor dem Krieg zwischen den Masten der Schiffe Lichterketten aufgereiht waren. In dieser Beleuchtung schienen die Panzerwagen wieder in die Traktoren zurückverwandelt, die sie ursprünglich waren. Sie transportierten Hoffnungszeichen aus Licht. Genau die gleichen Girlanden trugen die Kanonen und die Trosse. Die Infanteristen hatten Lampen auf ihren Helmen befestigt und zogen als geordnete Lichterkolonnen dahin; sie suchten die Lücken zu nutzen, welche die Panzer und Artilleriegespanne offenließen. Die Truppen näherten sich über die anliegenden Straßen dem Arc de Triomphe, oder sie zogen auf Parallelstraßen im Kreise um dieses Zentrum herum, auf dem die Gerüste standen, welche die
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Oberbefehlshaber, die königlichen Gäste und den Staatspräsidenten beherbergten. Es war schwer, das von uns gedrehte Material später zu einem Film zusammenzuschneiden. Uns hatte der Moment ergriffen. Die Augen waren verführt durch die Lichter, die sich in gleichmäßigem Rhythmus vor uns bewegten (eine ganze Nacht lang). Beide Empfindungen, der Sinneskitzel der Lichter und die Empfindung »die ganze Nacht«, ließ sich später auf unseren Umrollern, auf denen wir das Material besichtigen und schneiden wollten, nicht wiederentdecken. Die Verbindung zu dem Zusammenhang, der uns ergriffen hatte und der stets außerhalb der Filmkader lag, war nicht wiederzugeben. Eigentlich waren es immer dieselben Bilder : schaukelnde elektrische Birnen an Kabeln und stetige Bewegung der Marschierenden. Die Gesänge der Truppe waren ja nicht zu hören. Aus der Mundstellung der Soldaten, die wir in Großaufnahme gefilmt hatten, waren die Art des Tons und der Text nicht zu rekonstruieren. Mit Schrifttafeln konnten wir, die wir den Text der Lieder gar nicht kannten, auch keinen Ersatz schaffen. Wir hatten viel Material vorzuweisen. Die Ankünfte und Abgänge der hohen Chargen und Staatsgäste auf dem Gerüst waren treffend gefilmt. Das war leicht, weil die Ankömmlinge und Abgänger jeweils durch eine Lichtschneise gehen mußten. Der Sonnenaufgang (im Winter sehr spät!) wurde von uns in der Weise gefilmt, daß unsere Kamera zusah, wie das milchige Licht (bei bedecktem Himmel) an den Eisenstreben des Eiffelturms bis zum ersten Stock emporkroch. Träge floß dieses Licht. Die Stadt begann sich von Osten her zu erhellen. Wir froren, waren übermüdet. Die Truppenkontingente, die zu diesem Zeitpunkt noch herummarschierten, so als könnten sie sich von den vergangenen Jahren nicht trennen, rückten ab zu ihren Quartieren in den Vorstädten und auch bereits zu den Bahnhöfen. Wir hatten Erfahrungen gemacht. Ein nächstes Mal wäre es uns gelungen, das ungewöhnliche Ereignis besser zu erfassen. Kaum aber war zu erwarten, daß es zu unseren Lebzeiten (oder in meiner Dienstzeit als Kameramann der Armee) nochmals ein solches FINALE EINES GROSSEN KRIEGS geben würde. Man mußte, das wußten wir jetzt, die Kamera nicht auf die Leuchtkörper selbst (die das Auge reizten), sondern auf die Schatten richten, die sich vor den Glühbirnen bewegten. Das hätte so ausgesehen, als marschierten nicht die Überlebenden des Kriegs, sondern die Toten der großen Schlachten vor uns dahin; die Lebenden hatten nur versucht, diesen Eindruck theatralisch für uns zu organisieren. Wir hatten aber diese Schattenbewegung gar nicht beachtet. Das belichtete Material orientiert sich immer am hellsten und am dunkelsten Punkt einer Einstellung. So verdeckte der Strahl der hellen Glühbirnen die wesentlichen Ereignisse, die erst am Rande dieses Lichts und vor allem in der Mitte zwischen zwei Lichtern oder
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vor diesen Lichtern als lichtunterbrechende Wirkung verfilmbar waren. Die Schatten, von denen wir uns wünschten, daß wir sie aufgenommen hätten (denn die gierigen Augen, die nach Glitzerglanz suchten, hatten »unbewußt« auch dies gesehen), hätten die Trauer wiedergegeben, von der ich oben sprach und die den Gesamteindruck des Zuges bildete. Solche Gesamteindrücke sind mit den Mitteln des Films schwer einzufangen. Weder durch Montage noch durch lange anhaltende Aufmerksamkeit, welche die Kamera wie ein Jäger in einer bestimmten Position beläßt, wird dieser »Gesamteindruck« wiedergegeben. Man muß neben dem Ereignis zu filmen anfangen, das Ereignis kurz streifen und dann das, was subjektiv tief im Gefühl auf die »ganze Nacht« antwortet, wenn man Glück hat, einfangen. (aus: Geschichten vom Kino, S. 137)
Alexander Kluge
Vorrede zu Chronique des sentiments – Livre II – Inquiétance du temps (P.O.L, 2018)
Vorwort Oft habe ich darüber nachgedacht, wie europäisch und für den Helden Ulysses plausibel es wäre, wenn die französische Öffentlichkeit und die mitteleuropäisch-deutsche ihre Erfahrungen aus den letzten 300 Jahren zusammenlegen und gemeinsam als Anti-Algorithmus den Algorithmen von Silicon Valley entgegenstellen würden. Das kann, glaube ich, in Zukunft noch zu einer schönen Gewohnheit werden: dass die Geschichten hin und her den Rhein überqueren: ein poetisches Schengen. Kluge Frauen aus Frankreich, nämlich Hugenottinnen, die im Umkreis von Kassel lebten, haben die Märchen nach Deutschland gebracht. Die Brüder Grimm haben sie gesammelt. DAS POETISCHE HEISST SAMMELN, sagt mein Gefährte, der Dramatiker Heiner Müller, dessen Stimme ich immer noch in mir höre. Es erzählen aber nicht nur die Märchen, sondern vor allem die Realitäten: die »Schrift an der Wand«. Zur »Unheimlichkeit der Zeit« gehört in den Märchen die Tür. Was müssen wir zu uns hereinlassen? Was soll unbedingt draußenbleiben? Unsere Vorfahren auf dem europäischen Festland hatten nicht das Glück des Ulysses im Mittelmeer : wenn Gefahr ist, segelt er mit seinem Schiff davon. So rasch lassen sich Häuser nicht umrücken. Für Katherlieschen, eine junge Protagonistin in einem der Märchen der Brüder Grimm, ist die Tür so wichtig, dass sie sie nicht zuhause lassen will. Sie montiert sie ab und nimmt sie mit auf das Feld. Räuber räumen ab, was an Wert im Haus liegt. Mittags sitzt Katherlieschen müde auf einem Baum. Da fällt ihr die Tür aus den Händen: mitten unter die Räuber. Sie lassen die Beute liegen und fliehen. So hat die Tür doch ihre Sicherungsaufgabe erfüllt! Ich wünschte mir bei der Sicherung der europäischen Außengrenzen einen ähnlichen doppelten Blick, der das Erzählen von der bloßen Information unterscheidet: ein Auge sieht auf die Tatsachen, das zweite auf die Wünsche. »Unheimlichkeit« gibt es in diesem Buch auf sehr verschiedenen Feldern und zu unterschiedlichen Zeiten. Bei einem Luftangriff heute in der Nähe von Aleppo
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ist der Stachel der Unruhe derselbe wie im April 1945 als ich selbst mit meiner Schwester im Luftschutzkeller saß. Die Spannweite zwischen erster und zweiter Natur : zwischen der anfliegenden bombentragenden Industrie (der Strategie von oben) und dem Fluchtgedanken, der Suche nach einem Ausweg von uns Kellerinsassen (Strategie von unten) bleibt so absolut wie je. Das Gelände, in dem sich die »Unheimlichkeit der Zeit« abspielt, sind die Lebensläufe. Die Zeiten zwischen Geburt und Bombe. Werden Lebensläufe von der Zeitgeschichte zerrissen, ist Poetik kein Kitt, kein Klebestoff und keine Nähnadel. Aber um zu begreifen, wie die Welt es mit uns meint, dafür kann die Poetik Zusammenhänge herstellen. Sie verfertigt Netze wie die Spinne Arachne, jene Weberin aus Byzanz, eine entfernte Schwester des Internet. »Absturz aus der Wirklichkeit«: da sehen wir in einer dahinrostenden Industrie in den U.S.A. verzweifelte ehemalige Arbeiter, von ihren Nachbarn beobachtet, von ihrem Gewissen gezähmt, rebellieren sie nicht selber. Stattdessen wählen sie einen verwöhnten Milliardär zu ihrem Repräsentanten im Weißen Haus: weil er sich traut, sich so aufzuführen, wie sie es selber gerne täten, wären sie nicht diszipliniert. Das nennt Max Weber das CHARISMA DES BETRUNKENEN ELEFANTEN. Eine funktionalisierte, globalisierte Welt gebiert Phantasmen. Da hilft nur das Gegen-Erzählen. Ich setze zwei kurze Geschichten an den Anfang des Buches.
»Charisma des betrunkenen Elefanten« Von Max Weber weiß man, daß er die Wahrheit gelegentlich nicht in den Tatsachen, sondern in der Sprache suchte. Eine inspirierende Wortwahl löst Klarsicht aus. Diese Erfahrung galt für seine Theorie vom CHARISMA DES BETRUNKENEN ELEFANTEN. Nie hatte er Elefanten aus der Nähe untersucht. In einer Londoner Zeitung war ihm ein Bericht aufgefallen, daß in den Bäuchen der großen Tiere, in den dort eingerollten Därmen, gewisse Kräuter zu Gärung kämen. Dieser Schuss Alkohol ließe die Tiere rasen und es »muß ein großartiger Anblick sein«, hieß es, wenn sie, ohne irgendein Hindernis zu beachten, sich ihre Bahn brechen. So staue sich, nahm Max Weber an, in selbstbewußten Frauen, die lange Zeit in der Knechtschaft ihrer Männer leben müssen (eventuell über Generationen hinweg wie in einem Elefantenbauch) ein starker Zorn: ein Grimm, den sie an ihre Söhne weitergeben. Meist an den Zweit- oder Letztgeborenen. Dieser »eingeborene« Mut oder Stolz, die Raserei, die sich zunächst auf keine heldische Eigenschaft bezieht und sich auch bei an sich häßlichen Männern findet, wird wiedererkannt vom gestauten Haß, IM GEISTIGEN, IN GÄRUNG BEGRIFFENEN DARM DER MILLIONEN, die ihre Unterdrückung nicht länger
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ertragen wollen. Die plötzliche Trunkenheit, das Charisma ihres Vorbildes, scheint ansteckend und ergreift die Massen, die nunmehr in dem an sich kleineren Mann, der als charismatisches Großtier mit ihrer Hilfe Bäume umwirft, ihren Anführer sehen. Mit dem Licht von Millionen Augen wird er zum Strahler. Es könne, ergänzt Weber, eine erhebliche Differenz bestehen zwischen Schein und Sein bei solcher Betrunkenheit. Ein späterer Schüler Webers in Harvard verstieg sich, den soziologischen Begriff »Charisma des betrunkenen Elefanten« auf den »wie ein Betrunkener auf offener Fernsehbühne im Rücken von Hillary Clinton agierenden Donald Trump« anzuwenden. Max Weber nannte als Beispiel für einen charismatischen Charakter den Generallandschaftsdirektor Hugenberg, den er während des Kriegs in Ostpreußen kennengelernt hatte, der aber später – vier Meter von Hitlers Position bei dessen Ernennung zum Reichskanzler entfernt – in diesem Umfeld unautorisiert und unnütz wirkte. Nichts von Raserei, nichts von kraftvollem Auftritt, nichts von Bäumeausreißen. Er hatte einen Sitz im Kabinettssaal der neuen Regierung, neueingerichtet im Führerbau der Reichskanzlei, eigens gefertigte Stühle mit dem Staatswappen, kam aber dort so gut wie nie zum Sitzen. Charismatische Herrschaft ist chaotisch. Nach Art mit Alkohol im Bauch dahinrennender Elefanten. Nicht ausübbar an Tischen.
»Der Himmel hört auf zu malen und wendet sich der Kritik zu« Dort, über den Bergen, östlich von Aleppo, wo sonst aus den Morgennebeln die Sonne heraustrat: jetzt silbrige Glitzerpunkte in Reihe. Um sie herum – wie an so vielen anderen Tagen der gleichen Jahreszeit – färbte sich der Himmel nach Angaben von Zeugen, aber doch täglich stets etwas anders: stachelbeerfarb, bläulich-virtuos, flanellgelb, rotschimmernd, engelsfarb, hysterieweiß, rosamelange. Und immer das Echo am entgegensetzten Westhorizont. Noch immer im Dunkel antwortete er auf die Lichtspritzer des Ostens. Die Farbfülle zerstach die noch winzigen Artefakte, deren Motorenlärm in der Höhe ihrer Erscheinung vorauseilte. Noch waren sie Punkte. Und schon zog ihr Geräusch (»die Posaune«), nämlich die Vorauserwartung, alle Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich. Zwanzig Minuten später war die Stadt zerstört. Obwohl es sechs oder acht solcher Angriffe bedarf, um sie tatsächlich auszulöschen – und dann sind immer noch Nester von Menschengeist im Gange, die sich zu retten und neu einzurichten suchen. Der Angriff der Flugzeuge, eine solche Einwirkung BEWAFFNETER INDUSTRIE, INGENIEURSZENTRIERTER HIMMELSMACHT, enthält einen starken SCHUB VON KRITIK. Im Luftschutzkeller gefragt: Wo war die letzte Abzweigung für mich und meine Kinder, wenn es darum geht, dem Verhängnis, das in zwei Meilen Höhe über uns hereinbricht, zu entgehen? Vor zwanzig Jahren? Hätte ich gestern noch
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entkommen können? Wohin ausweichen? Kenntnis der sicheren Orte ist der Anfang der Philosophie. Ein Bombengeschwader am frühen Morgen am wie immer gefärbten Himmel begründet das Denken neu. Wäre mein Körper aus Stahl und so biegsam wie eine junge Pappel, ich könnte das Bombenfragment, das mich treffen will, abfedern. So kritisiert der SICH VERÄNDERNDE HIMMEL OBEN, den Körper, die Sinne und den Geist und fordert dringlich den Homo Novus, wie er zuletzt 1917 von den Biokosmisten der russischen Revolution ins Auge gefaßt wurde. Wo Brüder seid Ihr jetzt in meiner Not? Es war genug Zeit, mit Euch in Verbindung zu treten, aber ich war beschäftigt. Ich habe die kristallenen Farben des Himmels abzuzählen versucht. Der Himmel in der Frühe und der in der Abenddämmerung ist in unseren Breiten ein begabter Maler. Einige Sekunden vor meinem Ende (und das meiner Lieben) – und wenn der Einschlag den Nachbarn trifft künftig immerfort – will ich himmelschreiender Kritiker sein. Ich sauge an den Zitzen der Wölfin, um dieses Wundermittel in mich hineinzufüllen, falls mir Zeit bleibt.
Die Kapitel 8, 9, 10, 11 und 12 handeln von dem, was an Vergangenem uns in der Zukunft wiederbegegnet und worin wir glücklich eingebettet sind: in die Äonen, das Urvertrauen. Gegenwart nennen wir bekanntlich, wenn es hoch kommt, 90 Jahre. Das Wirkliche an dieser Gegenwart ist die Schubkraft von 20 Milliarden Jahren.
Alexander Kluge / Vincent Pauval
»Anwalt der dreizehnten Fee« – Über »Unheimlichkeit der Zeit«
Das nachfolgende Gespräch ist im Laufe des Sommers 2018 zu Informationszwecken über den bald darauf zu erscheinenden zweiten Band der französischen Ausgabe von Chronik der Gefühle aufgezeichnet worden, welcher, anders als der zweite deutsche Band dieses Werkes, den Titel »Unheimlichkeit der Zeit«, bzw.: Chronique des sentiments – Livre II – Inqui8tance du temps (Paris, P.O.L, 2018) führt. Nebst eigener »Vorrede«, deren Originaltext wir vorangehend zu diesem Gespräch in unserem Jahrbuch publizieren, enthält das Buch zahlreiche Neuerungen und Umstellungen im Vergleich zur deutschen Fassung. VINCENT PAUVAL: Der zu erscheinende zweite Band Ihrer Chronik der Gefühle trägt den Titel »Unheimlichkeit der Zeit«. Weshalb ein solcher Titel nach den »Basisgeschichten«? ALEXANDER KLUGE: Basisgeschichten sind ja Elemente, und das Zusammenwirken der Elemente entspricht sozusagen den Beobachtungen, die ich, der im Jahr 1932 geboren ist, und der seither sehr viele Zeiten miterlebt hat, erst zeitversetzt realisiert habe: Meine intensivsten Eindrücke stammen von einem Zeitpunkt, wo ich sie gar nicht verstanden habe, das heißt aus der Kindheit, als ich sie gewissermaßen aus den Augen der Eltern wahrgenommen habe. Anschließend gab es diese langen Zeiten der Besatzung und der Reparaturarbeiten in der DDR, sowie des Wiederaufbaus im Westen. Dann kommt eine für mein Leben wichtige Zeit, nämlich die zwischen 1960 und 1968, also die Jahre vor dem Protest. Danach kommen wieder ganz lange Zeiten, die ebenfalls der Beobachtung unterliegen. Darauf bezieht sich das Wort »Unheimlichkeit«, bei dem es sich keineswegs um mein Gefühl, die Zeit sei »unheimlich«, handelt, sondern um das »unheimliche Element«, das in der Zeit selbst steckt, und zwar nicht der Zeit im Sinne von Kairos oder Kronos. Vielmehr geht es um die angesammelten Minengelände, aus denen unsere Realität besteht, so dass man es genauso gut als die »Zerfallsprozesse der wirklichen Verhältnisse« benennen könnte. Diese schaffen Unheimlichkeit. Wenn ein Kind beim Spielen durch das Eis eines nicht hinreichend zugefrorenen Gewässers bricht, und dessen Rettung Schwierigkeiten be-
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reitet, da der Retter ebenfalls Gefahr läuft einzubrechen, gibt es eine relativ aufwendige Vorgehensweise, welche vorsieht, dass man eine Menschenschlange bildet, die sich liegend an den Füßen festhält, damit der letzte dem Kind die Hand reichen und es herausziehen kann. Die Szene ist »nicht unheimlich«, weil etwas Praktisches getan werden kann. Was unheimlich ist, sieht man am Gegenbegriff: dass eine unmittelbare Gefahr droht und niemand etwas Praktisches tun kann. PAUVAL: Verweist das Wort »Zeit« nicht auf eine Vielzahl an Bedeutungen? KLUGE: Die Grundnorm ist die Lebenszeit, in der wir als Menschen unsere Erfahrungen machen. Da wir diese jedoch über Generationen hinweg austauschen, würde ich sagen, dass drei Lebenszeiten immer noch eine Erfahrung bilden können. Darüber hinaus haben wir die Neugierde auf das, was jenseits der Horizonte, auch der Zeithorizonte, liegt. Der Impuls dafür kommt aus einer schwer zu ertragenden Realität, und wir wollen ausbrechen: Schon ist mein Freund Heiner Müller, der es in der DDR nicht aushält, in der Antike. Er kann in der DDR schwer offen über die Gegenwart schreiben, also nimmt er Bezug auf die Antike, um eigentlich die Gegenwart zu schildern. Somit sind alle Zeiten auch gegenwärtig. So sind ebenfalls Spuren der Zukunft in der Gegenwart zu finden, während Zukünftiges den Propheten eigentlich nicht zugänglich ist. PAUVAL: Man kommt bei dem Wort »Unheimlichkeit« nicht umhin, an Freuds berühmte Abhandlung Das Unheimliche zu denken. Welchen Bezug zueinander haben in Ihren Augen diese doch verwandten Begriffe? KLUGE: Ich habe ein literarisches Buch geschrieben, und ich habe darin das Wort »unheimlich« nicht von Freud übernommen. Freud hat bekanntlich zweimal über das Unheimliche geschrieben. Erstens in Form einer Analyse von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, also des Grauens, das entsteht, wenn mitten im Vertrauten eine frühere, wilde Wahrnehmungsweise wiederauftaucht. Zweitens hatte er das Thema vorher schon einmal in Totem und Tabu ganz kurz aufgegriffen, wo er in einer Anmerkung etwas ganz verblüffendes feststellt, nämlich, dass es bei einem Kind, wenn dieses noch nicht erzogen wurde und also noch kein zivilisiertes Wesen der Vorerwachsenheit ist, es einerseits die Allmacht des Gedankens gibt: Das Kind glaubt, es habe Macht, und es könne wirkliche Verhältnisse kraft seiner Gedanken wandeln. Sie merken hier, dass diese Betrachtungsweise später dem Blick ins Heterotopische, ja ins Utopische, über den Horizont hinweg, entspricht. Darin liegt der feste Glaube, Wünsche seien wirklich. Wenn die Urteilskraft, wenn die Erziehung des Kindes dieses frühe wilde Stadium seiner Entwicklung tabuisiert oder überlagert hat, kehrt dieser feste Glaube noch einmal wieder als politischer Blick. Andererseits gibt es dazu einen Gegenpol, der aus einer animistischen Tendenz besteht, wonach Seelen wandern oder den Dingen innewohnen. Nachdem gewissermaßen alles durch die Urteilskraft wie durch Lava zugedeckt wurde, kommt die frühere Seelentendenz wiederum in der Kritischen Theorie oder bei Walter Benjamin als
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Erkenntnismethode zum Vorschein. Wenn ich demnach die Beseelung, den animistischen Blick auf die Weltverhältnisse wende, dann kehrt etwas wieder, das zunächst unheimliche Perspektiven hat, nämlich dass sich die Dinge bewegen, dass die Wände wandern, dass sie auf mich zukommen. Das hat aber auch eine quasi erkenntnisbereichernde Antwort zur Folge. Es gibt einen Stummfilm, der mich sehr bewegt, und der das Unheimlichste ist, was ich als junger Mensch jemals empfunden habe, ein Stummfilm, in dem sich die Wände bewegen und jemanden einkerkern, da der Raum immer enger wird. Diesen Effekt hat sich ein Regisseur oder ein Produzent nur ausgedacht, und dennoch ist es einer der unheimlichsten Momente, unheimlicher noch als zum Beispiel eine dünne Decke aus Eis zu durchbrechen und aus dem kalten Wasser nicht mehr hinauszukönnen, weil die Eisdecke sich wieder schließt. Wenn wir jetzt ganz weit weggehen, dann bin ich kein wildes Kind, ein oder anderthalb Jahre alt, das seine Triebkräfte nicht unterscheiden kann, sondern ich bin inzwischen durch die Kritische Theorie zivilisiert worden. An der Spitze der Zivilisation kehrt positiv etwas wieder – das heißt in Benjamins Arbeitsweise finden Sie einen animistischen Instinkt. Der sucht, wird auch fündig. Wir finden eine Allmacht der Gedanken, die mich den Mut des Erkennens lehrt, und zwar wo ich nichts erkennen kann, bin ich trotzdem in der Lage mit Dritten zu kooperieren und trotzdem in der Lage zu sammeln. Ich kann es nicht entscheiden, aber ich kann sammeln. Benjamin tut das in seinem Passagenwerk. Sein »Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« ist keineswegs eine Phrase, sondern eine Fülle von Beobachtungen, und zwar offener Beobachtungen. PAUVAL: Nun ähneln aber zumindest Freuds Beispiele gar nicht Ihrer Erzählweise. KLUGE: Die Methode der Psychoanalyse macht sich ganz praktisch. Das ist eine ärztliche Kunst. Der Poet ist kein Arzt. PAUVAL: Immerhin verweist Freud auf E.T.A. Hoffmann und dessen Erzählung Der Sandmann. Er argumentiert also durchaus mit einem literarischen Beispiel. KLUGE: Ja, ganz genau. Auch bei Edgar Allan Poe ist dies zu begründen. Poeten haben sich mit der Frage des Abtastens, der Echolote im Unheimlichen befasst. Das ist nicht neu, insofern dies zu den Disziplinen des Poetischen gehört. Die Antwort darauf ist die groteske Darstellung, das heißt die Verzerrung. Der poetische Blick ist nämlich nicht realistisch, sondern antirealistisch. Er zerlegt die Attrappe »Wirklichkeit«, die keine Wirklichkeit ist, in Elemente. Diese Elemente sind etwas Reales. PAUVAL: Bei Freud gibt es ein Element, das in seiner Definition des Unheimlichen eine sehr gewichtige Rolle spielt, und zwar die Angst vor dem Verlust des Augenlichts. Würden Sie dem Augenlicht einen solchen Vorrang gegenüber den anderen Sinnen zuschreiben?
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KLUGE: Das ist eine schwere Frage, die Sie hier stellen. Wenn Sie mich fragen, ob ich dem Augenlicht mehr traue als dem Ohr, würde ich sagen: »Nein, ich traue dem Ohr mehr als den Augen.« Wenn Sie mich umgekehrt fragen, ob ich mehr fürchte, dass mein Auge verletzt wird oder mein Ohr, dann würde ich sagen: »Das Auge zu verlieren, fürchte ich mehr«, weil das Auge so verletzlich ist und ich gar nicht annehme, dass jemand mein Ohr verletzten wird. PAUVAL: Es gibt eine Geschichte von Ihnen, mit dem Titel »Welche Sprache wird in 200 Millionen Jahren gesprochen?«1, worin Sie die Evolution des Menschen bis hin zu matten- oder teppichartigen Geschöpfen fortdichten, als könne man eine solche Wahrscheinlichkeit mit geballter Informatik einfach ausrechnen. Der Text schließt mit dem Satz: »Es äugten die Monitore«. Nicht zuletzt ist auch Teil der Definition des Unheimlichen bei Freud, dass ein Gegenstand unvermutet mit Leben erfüllt sich erweist. Würde man also den hiermit erzielten Effekt nicht tatsächlich als unheimlich bezeichnen können? KLUGE: Also ein Effekt ist es nicht. Es ist eine Beobachtung, die ich anlässlich des wirklichen Verlustes meiner Eltern gemacht habe. Wenn ich mir vorstelle, welche Sprache in zwei Millionen Jahren gesprochen wird, dann fühle ich einen Sprachverlust, ich verliere die Verständlichkeit der Sprache über die Zeiten hin. Das ist gar nicht so unwahrscheinlich. Nehmen Sie eine wichtige Funktion der Sprache: Das wären die Warnschilder. Damit hätten wir schon mal keine differenziertere Sprache mit ABC und Grammatik mehr. Das wäre einfach nur: Hier fängt Tschernobyl an, die atomverseuchte Zone, die sich noch in dreihunderttausend Jahren – ich bin also längst nicht bei zweihundert Millionen Jahren – durch atomaren Zerfall auswirken wird. Dieses Schild, das vor Atomarer Gefahr warnt, wird schon in hunderttausend Jahren nicht mehr verständlich sein. Es könnte vielleicht sogar aufgefasst werden als eine besondere Gelegenheit, Schätze zu finden. PAUVAL: Welche Ihrer Geschichten würden Sie denn für besonders »unheimlich« halten? KLUGE: Das Unheimliche ist der Subtext des ganzen Buches. Das gesamte Buch trägt den Titel Chronique des sentiments – Livre II–Inqui8tance du temps und ein Hauptkapitel davon heißt wiederum »Unheimlichkeit der Zeit«. Darin wird der »Geschichtsentzug« beschrieben. Darunter versteht man, dass Teile der eigenen Lebensgeschichte wie ein Teppich unter den Füßen weggerissen werden, dass Gewissheiten wie ein Gebäude während eines Erdbebens einstürzen, so dass Sie den Boden unter den Füßen verlieren. Das ist dann nicht nur das Gefühl, sondern die tatsächliche Situation. Dieser Absturz aus der Wirklichkeit ist dargestellt durch einen Luftangriff und durch das Kapitel »Verschrottung durch Arbeit«. Im Luftangriff auf Halberstadt sehen wir eine Industrieanlage, die fliegen kann und 1 Vgl. Alexander Kluge, Das Fünfte Buch, Berlin, Suhrkamp, 2012, S. 109f.
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unglaublich viele Eigenschaften so monströs zusammenfasst, dass sie ganze Städte ausradieren kann, ähnlich wie wir das heute in Syrien beobachten. Luftbombardements und Drohnen teilen die Menschheit anders ein als in Klassen von Besitzern und Proletariern, nämlich vielmehr in solche Menschen, die tief unten im Keller sitzen und machtlos sind, und solche, die alle Macht gehortet haben, ganz oben. Diese Mächtigen (die Bomberpiloten) haben aber nicht die Macht zu entscheiden, was sie tun, denn sie haben Befehle. Sie verwalten eine Maschinerie, die fast wie ein Roboter handelt. Das ist ein Roboter, ein menschenbestückter Roboter, eine Luftflotte oder heute eine Drohnenflotte. Der nächste wichtige Abschnitt heißt dann »Verschrottung durch Arbeit«. Hiervon ist die Rede, wenn ich Menschen vernichte oder einen Gegner in Konzentrationslagern kaserniere, und jetzt noch den ökonomischen Aspekt hinzufüge, die Spitzenförderung meines Interesses, indem ich sage: »Bevor sie sterben, sollen sie aber nochmal ausgepresst werden wie eine Zitrone.« Hier sehen Sie die primitive Schule der Todeskommandos, nicht nur in Auschwitz, sondern in allen Konzentrationslagern, die sagen: »Ich betreibe einfache Vernichtungsarbeit.«, und daneben sehen Sie die verfeinerte Form dieses Vernichtungsprinzips: »Aber vorher werde ich noch das letzte Quäntchen Arbeit aus ihnen herausholen.«, und zwar die Feinarbeit, welche gebildete, handwerklich erfahrene Häftlinge in besonderem Maße leisten können. Thema des dritten Kapitels ist dann das »Hirn der Metropole« und die Frage: »Was regiert uns?«. Was ist sozusagen die Steigerung der Stadt unter den Verhältnissen des 21. Jahrhunderts, wenn die Stadt als solche schon ein Konzentrat ist, das die Menschen sehr eng führt, enger als sie eigentlich leben können? Ursprünglich sind sie auf weite Entfernungen tätig, als Jäger oder Sammler. Rücken sie einander so nahe wie in einer Stadt, müssten sie sich eigentlich gegenseitig umbringen und erschlagen, was sie aber nicht tatsächlich tun, umgelenkt durch Religionen, umgelenkt gegen einen Außenfeind, oder so umgelenkt, dass der Totschlag »nur« in Bürgerkriegen passiert. PAUVAL: Woanders schreiben Sie auch, in einem ganz kurzen Text – denn das Wort »unheimlich« kommt in dem Band gar nicht so oft vor – von dem »unheimlichen Potenzial, welches in der Erdkruste schlummert«2. Was ist das? KLUGE: Wenn Sie Fukushima nehmen, dann haben Sie zuvor in elftausend Metern Tiefe im Marianengraben Bewegungen und die führen zu einer Flutwelle, die alle tausend Jahre auf einen Schlag wiederkehrt. Das ist eine Tätigkeit der Erdkruste. Wenn Sie sich dieselbe Tätigkeit vorstellen, wie sich die Erdkruste bei Istanbul, früher Byzanz genannt, reibt und man sagen kann, in dreißig Jahren wird sich dort eine Katastrophe ähnlich wie in Fukushima wiederholen, und das schrottige Atomkraftwerk in der Nähe in Bulgarien steht schon bereit, die Frage 2 Ebda, S. 405.
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zu komplizieren, und niemand hat einen Evakuierungsplan, niemand wüsste dann, wie man sich verhält, dann wirft das – das sind nichts weiter als Erdkrustenerzählungen – einen eigenartigen Blick auf das POTENZIAL DER WIRKLICHEN VERHÄLTNISSE, dann ist das ruhig Daliegende im dämmernden Konstantinopel von heute – eine Riesenstadt übrigens – ein »unvollständiges Reales«. Das Unglück ist nämlich schon jetzt untergemischt. Nicht erst in der Zukunft, sondern jetzt schon, und es geht bis Kaiser Justinian zurück, dass sich die Erdbeben, also die Sprache der Erdkruste, das Geräusch ihrer Arbeit, über Anatolien hinweg Byzanz nähert. PAUVAL: Zum Erscheinen der Chronik der Gefühle im Jahr 2001, haben Sie in einem Interview gesagt, Sie würden beim Schreiben auf Ihre Unruhe vertrauen. Wie war das gemeint? KLUGE: Wenn ich beobachte, tue ich das nicht gleichgültig. Ich halte die Welt für kein Labor. Ich selber bin auch kein Wissenschaftler. Sondern die Unruhe, die mich beim Beobachten bewegt, die ist das, worüber ich schreibe. Das ist so ähnlich wie eine Fledermaus, die Töne ausstößt, sie »sondiert«, die treffen auf Gegenstände oder auf Wände oder Verhältnisse und das Echo kommt zurück, und daraus navigiert die Fledermaus. Das ist Nervosität. Das ist die Tätigkeit der Nerven. Ich bin nicht nervös in dem Sinne. Ich bin innerlich ganz ruhig, wenn ich schreibe. Das sind die ruhigsten Momente in meinem Leben, die ich überhaupt kenne. Gleichzeitig ist es so, dass das, was als Messung herauskommt, wenn ich schreibe, eine Unruhe wiedergibt. Ich plane keine Ergebnisse. Ich habe keine Meinung. Meine Urteilskraft spielt gar keine Rolle. Die läuft nebenher. Ich habe eine. Ich bin auch Jurist. Ich bin ausgebildet in Urteilskraft, aber ich wende sie poetisch nicht an. Während ich schreibe, ist sie ausgeschaltet. Aber die Unruhe, die ist nicht ausgeschaltet. Sie ist mein wirklicher Bleistift. PAUVAL: So reicht die Auswahl der Geschichten in dem Band, der den Titel Unheimlichkeit der Zeit trägt, von ihrem frühesten Werk, den Lebensläufen und somit von der Zeit des III. Reiches bis heute, also bis Donald Trump. KLUGE: Das können Sie so sagen. PAUVAL: Vom Luftangriff auf Halberstadt, den Sie selbst erlebt haben, bis zu den Luftangriffen auf Aleppo oder auf Syrien … KLUGE: Das sind die Dinge, die mir unter der Haut sitzen, verstehen Sie? Das ist das Vernichtungsprinzip. Die eine Pointe der Chronik der Gefühle ist eben, dass es die Welt nicht gut meint mit den Menschen, und dass es sich nur örtlich verschieden verhält, nicht prinzipiell. Das gibt Unruhe. Gleichzeitig können Sie auch sagen, die Wirklichkeit ist löcherig. Durch Bombengeschwader ist in der Welt überhaupt nichts zu entscheiden. Tyranneien oder betrunkene Elefanten oder überhaupt Charismatiker überleben keine zwölf Jahre. Es ist eine gegriffene Zahl, aber es ist seltsam, dass nicht nur Hitler, der zwölf Jahre geherrscht hat, an diese Kurzfristigkeit gebunden ist. Das überall zu sehen, gibt auch Mut. Die
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Unruhe hat also auf der anderen Seite eine Ataraxie, zur Folge einen »Ruhepol«. Sie können es so wie Epiktet nehmen, da kann ich nichts Neues hinzufügen. PAUVAL: Epiktet ist im Grunde ganz einfach zusammenzufassen: Es gibt Dinge, auf die ich einwirken kann, und andere, gegen die ich nichts tun kann. Dies gilt es zu erkennen und anzunehmen. KLUGE: Selbst, wenn ich nichts tun kann, können andere etwas tun. Wenn ich in Deutschland nichts tun kann, kann vielleicht jemand in Frankreich etwas tun. PAUVAL: Nun haben wir in dem neuen Buch das Kapitel »Das Rumoren der verschluckten Welt«. Was ist damit konkret gemeint, und in welchem Zusammenhang steht dies mit dem Begriff der »Unheimlichkeit«? KLUGE: Jonas wird sich im Bauch des Wals nicht heimlich fühlen. Das ist nicht sein Haus. Dass er ausgespuckt wird und an das Ufer gelangt, weiß er nicht. Das ist die eine Perspektive. Da sind wir die »Verschluckten«. Aber umgekehrt haben auch wir als Menschen, also 7,2 Milliarden Menschen, die Welt verschluckt und tun das pausenlos, jeden Tag. Sie rumort in uns. Die lässt sich das nicht gefallen. Zu dieser Doppelseitigkeit der verschluckten Welt kann ich nur eines sagen: Worte und Literatur sind nicht dazu da, dass man sie vollständig erklären kann. Sie ist auch nicht besonders rätselhaft. Sprache verbirgt nichts. Aber sie handelt von etwas, was sich verbirgt und dem sie nachgehen muss, denn die poetische Kraft ist nichts anderes als das Nachzeichnen von etwas, das es wirklich gibt, das Sammeln oder das Weglassen. Das ist nicht logisch oder grammatisch, sondern gravitativ, nämlich nach der Substanz der wirklichen Verhältnisse miteinander verknüpft. Es ist unheimlich, dass wir gierig »Welt fressen«. Uns die Welt einverleiben. Dass wir sie gewissermaßen beherrschen mit der einen Kraft des Unheimlichen, nämlich der Allmacht des Gedankens. PAUVAL: Wie schlagen Sie nun den Bogen zum Kapitel »Der lange Marsch des Urvertrauens«, das diesen Band schließt? KLUGE: Das ist unsere Bewaffnung. Schauen Sie, ein Irrtum der uns Menschenkindern eingegeben ist, sagt uns in den ersten Lebenstagen, bei dem ersten Kontakt mit dem warmen Körper der Mutter, mit dem Augenkontakt, der von der Seite des Kindes her blind genug ist: »Glaube, vertraue der Welt. Glaube, dass sie es gut mit dir meint, so wie ich, die Mutter.« Und das Kind antwortet: »Ich werde dich im Alter versorgen.« Das habe ich jetzt ein bisschen so erzählt, wie Michelet es tun würde. Es ist aber beobachtbar. Von meinem Vater als Geburtshelfer wurde das immer wieder beobachtet. Und von mir ebenfalls immer wieder, und übrigens wissenschaftlich bestätigt von Ren8 A. Spitz, dass der Vertrauensvorrat, der in den ersten Tagen des Lebens bei allen Kindern, die nicht hospitalistisch sind, gelegt ist, ein Vorrat ist, von dem sie das ganze Leben zehren. Es wird immer ein bisschen weniger, weil die Welt es tatsächlich nicht gut meint mit den Menschen. Marx sagt: »Ideologie ist ein notwendiges falsches Bewusstsein.« Das früheste falsche Bewusstsein ist das Urvertrauen. Es ist zugleich lebensnotwendig und
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Grundlage für den Mut des Erkennens: Grundlage der Aufklärung. Der Ausdruck Urvertrauen stammt von Sigmund Freud. PAUVAL: Wenn Sie nun den Band mit dem Satz abschließen, »das Poetische heiße sammeln«, dann bedeutet dies auch, dass man in diesem Modus mit der Unheimlichkeit umgehen soll. KLUGE: Ich würde es nicht so eng anschließen, denn mit allem können Sie so umgehen. Wenn Sie Orientierung suchen, dann müssen Sie unbedingt Erfahrung sammeln. Ich spiele damit natürlich auf Heiner Müller oder auf die Enzyklopädie, aber vor allem auf die Gebrüder Grimm an: Sie sammeln sowohl die Sprache als auch die Märchen ein. Letztere sind nicht aus Deutschland, sondern sie kommen aus Frankreich, was ich ja gleich zu Beginn meines Buches anmerke. Die sind uns gewissermaßen gegenwärtig. Wenn Sie nun die Algorithmen aus Silicon Valley oder die eines Bankhauses wie Lehmann Brothers nehmen, dann werden Sie feststellen, dass diese zwar sehr mächtig sind, doch immer nur um den Preis des Weglassens. Es liegt in der Natur solcher Algorithmen, dass sie alles Überflüssige auslassen. Das war auch so bei einem der französischen Märchen, das die Gebrüder Grimm in der Umgebung von Kassel aufgesammelt haben, nämlich »Dornröschen«. Als beim Hofe ein glückliches Kind geboren wird, reicht für die Feier das Geschirr nur für zwölf weise Frauen, die dreizehnte wird nicht eingeladen. Als ausgeschlossene versetzt die wiederum das ganze Schloss in den Schlaf. Ich bin als Poet der Anwalt dieser dreizehnten Fee. PAUVAL: Inwiefern kann man sagen, dass Sie in Ihrem Schaffen auf sensus communis, auf Deutsch »Gemeinsinn«, achten? KLUGE: Das tue ich immer, weil ich den Dialog achte. Ich kann sehr genau verstehen, was andere sagen. Insofern habe ich durchaus einen Bezug zum Sensus communis. »Common sense« in seiner platten Anwendung ist aber auch die Quelle aller Unglücke und Irrtümer. Würde heute London eine Katastrophe erleben, würde sich herausstellen, dass ein Evakuierungsplan nur für die Regierung und das Bankenviertel besteht. Der gesammelte common sense Großbritanniens führt zu solchem Ergebnis. Ich habe 1945 gelernt, dass Notausgänge etwas sehr elementares sind: Wie verlasse ich eine brennende Stadt? Wie lege ich eine Badeanstalt zwischen mich und einem Meer aus Flammen? Das sind ganz einfache Fragen. Das jedoch ist lediglich ein Aspekt. Ein zweiter wäre, dass ich lustvoll und neugierig, also wirklichkeitsbegierig bin, denn etwas Fremdes reizt mich. Auch wenn ich nicht für Russland kämpfe, würde ich dennoch gern darüber Geschichten schreiben. Kafka war weder Soldat, noch kannte er konkret den russischen Winter, noch hatte er mehr als Memoiren zu seiner Verfügung, aber er wollte doch den Rückzug Napoleons im Jahre 1812 beschreiben. PAUVAL: Hierfür bezeichnend wäre vor allem Karl May. KLUGE: Das ist wohl wahr, und die Mischung von Karl May und Franz Kafka ergibt eine wunderbare Oszillation. Was die Form betrifft, pflegen beide sehr
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verschiedene Arten zu schreiben, aber die Neugier, die Energie, welche hinter einer trivialen vermischten Nachricht steckt, ist außergewöhnlich stark. Zu Kafka könnte man sagen, dass er eigentlich für Zeitungen Kurzgeschichten schreiben wollte. Im Grunde möchte er wie Edgar Allan Poe schreiben. Der Stoff bei dem es um Woyzeck geht, beginnt mit einer Zeitungsmeldung aus Leipzig über Kriminalfälle. Heute würden wir sagen, dass sei Stoff für die Bild-Zeitung. Aus dieser Sensationsnachricht zieht Georg Büchner anschließend ein Drama, und Alban Berg erschafft daraus das Standardwerk der Oper der Moderne vom 20. Jahrhundert. Daran können Sie erkennen, dass das, was im Zirkus ganz oben auf dem Hochseil geschieht unmittelbar verknüpft ist mit der Bodenhaftung in der Manege: nämlich die höchste Kunst im wahrsten Sinne, die Akrobatik, das heißt der »Scharfgang« oder der »gewagte Gang«, bei dem man nur auf das Gleichgewicht achten muss, weil man anstelle des Bodens nur so ein Seil unter den Füßen hat, korrespondiert mit dem Boden der Arena, wo die Elefanten stampfen. PAUVAL: Welche Haltung verlangt Ihr Buch vom Leser? KLUGE: Es setzt voraus, dass er seinem Interesse folgt. Ein Buch ist ein rarer Artikel, eine seit mehr als zweitausend Jahren existierende Art des Containers. Wie Schiffe navigieren diese Bücher durch die Zeit. Sie können jede Landschaft durchqueren, ob zu Lande oder zu See. Nur im Matsch oder in Sumpfgebieten haben sie es schwer. Der Leser kann sich einem solchen Boot anvertrauen, indem er ganz pragmatisch von vorn anfängt. Das Buch ist ja so konzipiert, dass er sein Interesse gleich eingangs prüfen kann, wenn er zum Beispiel liest: »Der Himmel hört auf zu malen und wendet sich der Kritik zu.« Darüber kann er sich wundern oder auch nicht. Darin kommt ein Ausdruck zum Tragen, der die traditionelle Ästhetik des »Schönen, Wahren und Guten« oder, im Gegenteil, des »Monströsen« unterläuft, wenn Sie die Bomben über Aleppo als die Kritik beschreiben, die sie tatsächlich sind, denn das Vernichtungsprinzip ist eigentlich nichts Anderes als eine – sehr handfeste – Kritik der Realität an sich selbst. Wenn den Leser das interessiert, kann er weiterlesen, und wenn es das nicht tut, darf er das Buch weglegen. Aber er könnte natürlich auch hinten, beim Inhaltsverzeichnis anfangen und schauen, welche Titel ihn anspringen. So funktionieren eben Bücher. Zudem sind meine Geschichten diszipliniert kurz gehalten, auf den Leser zugeschrieben mit Rücksicht auf das begrenzte Zeitbudget, über das moderne Menschen verfügen. Für die wenigen Leute, die sich der Lektüre noch mit der Hingabe widmen, die man im 19. Jahrhundert hatte, und die ich sehr schätze, sind sie zu »kurz«. Um die Konstellation, um die es hier geht, beizubehalten und diese in der Weise von Tolstoi zu erzählen, müsste das Werk jedoch sieben Mal so dick sein. Dies würde den Leser wiederum überfordern. PAUVAL: Eigentlich fordern Sie ein autonomes Verhalten. Kann man das so sagen?
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KLUGE: Ich würde eher vom Mut etwas selber zu machen sprechen, dem Mut auf seine Lust zu vertrauen, mehr kann man überhaupt nicht haben. Von Montaigne stammt der Satz: »Was immer die Philosophen sagen, selbst in der Tugend trachten wir nach Lust.« Lesen ist eine Tugend, mit der wir nach Lust trachten. PAUVAL: Besser können wir dieses Gespräch nicht beenden. Haben Sie vielen Dank!
Alexander Kluge
Eingemachte Elefantenwünsche
Von A. Weber, ursprünglich Schriftsetzer, dann zweiter Bildungsweg, heute in einer Werbefirma, war bekannt, daß er ein Manuskript von 1800 Seiten, eng beschrieben, teilweise im Stenogramm (in kleiner Schrift, so daß die Seite vermutlich mehr als 30 Zeilen zu 65 Anschlägen enthielt), verfaßt hatte. Heiner Boehncke, Redaktionsmitglied der Zeitschrift ÄuK (Ästhetik und Kommunikation), immer auf der Suche nach möglichen Nachfolgern Travens oder von Arbeiterschriftstellern, wobei er im Falle A. Webers diesen Begriff weit auslegen wollte, suchte diesen Autor auf. A. Weber weigerte sich aber, das Manuskript vorzuzeigen. Er zeigte nur die sog. Reinschrift. Sie enthielt auf fünf DIN-A4Seiten fünf Entwürfe für die ersten Zeilen eines ersten Kapitels. Boehncke las: »Entwurf 1 Eingemachte Elefantenwünsche 1. Kapitel Eine Ärztin mit Namen Dora. Ihre Diagnose war falsch, aber es ergab sich ein fröhlicher Abend. Sie ging mit ihm auf das Zimmer. Eine richtige Ärztin hatte er noch nicht gehabt. Der Krebs, den er in sich hatte, blieb unentdeckt. Daran konnte man nichts machen, sagte er später. Sein Gesicht war zuletzt ziemlich verfallen. Sein Blut war praktisch aufgefressen von den Innereien …« »Entwurf 2 Eingemachte Elefantenwünsche 1. Kapitel Als Beitrag zur unaufhaltsamen Revolution übernahm R. das Ecklokal, das Trautel bis zu ihrem Krankenhausaufenthalt, von dem sie nicht zurückkehrte, gut in Schuß hatte …« »Entwurf 3 Eingemachte Elefantenwünsche 1. Kapitel Inge besitzt eine abschließbare Metallkiste aus ehemaligen Wehrmachtbeständen. In dieser verwahrte sie ein Fläschchen Pfefferminzlikör, Schmucksachen, Papiere, Gürtel,
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Alexander Kluge
Schals usf. In die Kiste durfte niemand hineinsehen. Meier : Was machst du mit deiner Schatzkiste? Inge: Ich suche was raus, was ich umbinden kann.«
Zu Entwurf 3 war in der Reinschrift noch ein Motto notiert: »Man sagt, daß die Sonnen- und Mondfinsternisse Unglück verkünden, weil man an das Unglück gewöhnt ist: Es ereignet sich so viel Schlimmes, daß sie es oft voraussagen. Wenn man hingegen sagte, daß sie Glück verkünden, würden sie oft lügen. Man verspricht das Glück nur wie seltene Himmelserscheinungen.« (Pascal 752)
Das ist wenig, sagte Boehncke. Weber war nicht beleidigt. Er erwartete ja keine literaturhistorische Einstufung, sondern hatte auf die menschliche Bitte hin, etwas vorzuzeigen, einen Einblick in die Reinschrift verschafft. Ich hatte Sie so verstanden, sagte Boehncke, daß Sie an einem großen Tragödienstoff arbeiten. Das ist richtig, bestätigte Weber. Dann ist wohl der übrige Apparat, Ihre 1800 Seiten, sicher ein größerer Zusammenhang? Nein, sagte Weber, das sind auch lauter einzelne Stücke. Wieso, fragte Boehncke, schreiben Sie Ihre Geschichten nicht in Form eines großen Romans? WEBER: Ich muß immer neu ansetzen. BOEHNCKE: Dann ist das alles Entwurf ? W: Ja. Und der Entwurf hätte nur dann eine Information, immer vorausgesetzt, daß er entstünde – was aber nicht geplant ist – und daß er zu einem Ergebnis führt, auch das ist ausgeschlossen: daß ich dann angeben könnte, worüber ich überhaupt schreibe. Ich hätte dann die ersten drei bis siebzehn Zeilen und könnte diese fortsetzen als Roman. Aber wie gesagt, kann es dazu nicht kommen. B: Und das wäre dann aber ein Zusammenhang, ein Roman? W: Gewiß nicht. B: Und warum ? Wollen Sie nicht? W: Ich kann nicht. B: Sie meinen, Sie können nicht schreiben, weil Sie kein Schriftsteller sind? W: Das weiß man nicht vorher, ob man schreiben kann. Vielleicht, vielleicht nicht. B: Warum versuchen Sie es dann nicht einmal mit einem großen Roman? W: Warum soll ich das versuchen? B: Hätten Sie denn bestimmte Einwände gegen die Romanform, wenn Sie so sicher sind, daß es dahin nicht kommen wird? Obwohl Sie doch gar nicht bis zu diesem Punkt vorstoßen, und ich zähle hier zwölf Zeilen, das ist das Längste? W: Dann müßte ich mich konzentrieren. B: Und warum tun Sie das nicht? Das ist doch etwas Schönes. W: Und kalt gegen alles, was in diesen Zusammenhang nicht paßt? B: Worum geht es denn in Ihrem Fragment? Ich meine die 1800 Seiten. W: Um Elefantenwünsche.
Eingemachte Elefantenwünsche
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B: Und wie kommen Sie auf den Titel: Eingemachte Elefantenwünsche? W: Ich spiele auf das Elefantengedächtnis an. Aber das gibt es in der Natur nicht, sondern nur, wenn man es gewissermaßen in Einmachgläsern einsammelt und aufhebt. Gewissermaßen von früher her. Ein Elefant z. B., von einem Schneider vor Jahren in den Rüssel gestochen, erkennt zwanzig Jahre danach im ersten Stockwerk einer Straße, nehmen wir an 1934, diesen Schneider, es muß nicht der Beruf sein, sondern kann ein Mann namens Schneider sein, reißt ihn mit dem Rüssel herab und zerschmettert ihn auf dem Pflaster. B: Eine unverhältnismäßige Reaktion. W: Gewiß. B: Ein Nadelstich, und dafür die Todesstrafe. W: Vielleicht kam noch anderes hinzu. B: Nun ist das ein Märchen. Und das Bild vom Elefanten mit dem langen Gedächtnis ist keine biologische Tatsache, sondern ein Klischee. W: Absolut. Ich gehe aber außerdem davon aus, daß Elefanten ihr Gedächtnis vererben. Das Geheimnis der Elefantenfriedhöfe! Es entsteht dort eine Art Gattungsgedächtnis. Insofern sind sie durchaus gefährliche, hochexplosive Tiere. Man hört ja immer wieder von Ereignissen … B: Vielleicht ist das etwas unwissenschaftlich? W: Unter uns gesagt: vermutlich. B: Im Roman wäre das wurscht. Sie nennen aber Ihre Aufzeichnungen einen Erfahrungsbericht. W: Erfahrungsbericht, ja. B: Und Sie weigern sich, das Manuskript zu veröffentlichen. Das bißchen Reinschrift andererseits werden sie so nicht veröffentlichen können. W: Das kommt öfter vor. B: Streben Sie denn eine Veröffentlichung gar nicht an? Oder wird die Reinschrift allmählich mehr? W: Das muß man probieren, ob das mehr wird. Aber veröffentlicht wird das nicht. B: Und warum weigern sie sich, zu veröffentlichen? W: Weil Veröffentlichung nichts nützt. B: Sie haben doch eben gesagt: Sie probieren. Jetzt probieren Sie aber gar nicht erst, wenn Sie es nicht veröffentlichen. W: Da haben Sie recht. B: Also vielleicht veröffentlichen Sie es doch? W: Nein. B: Haben Sie denn ein Argument dagegen? W: Nein. B: Warum sind Sie dann so sicher? W: Ich bin nicht sicher.
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Alexander Kluge
B: Und trotzdem: nicht veröffentlichen? W: Auf keinen Fall. B: Nochmals: warum nicht? W: Nützt nichts. B: Aber was nützt dann was? W: Das muß man eben ausprobieren. Boehncke, der extrem neugierig war, hatte immer noch die Hoffnung, irgendwie durch penetrantes Ausfragen an die 1800 Seiten heranzukommen, ihm schien allein schon die Masse vielversprechend; hinzu kam, daß er gern nähere Angaben gehabt hätte, was das Eingemachte im »Prinzip: Elefantenwünsche« wäre, Verfahren, ästhetische Konstruktion usf. Andererseits war er nicht begriffsstutzig. Vielleicht wollte Weber darauf hinaus, daß er, Boehncke, sich so intensiv mit diesem Manuskript befaßte dadurch, daß es ihm vorenthalten blieb, während Weber vielleicht bezweifelte, daß er nach Befriedigung seiner Neugierde, also nach Veröffentlichung, noch so begierig sich damit auseinandersetzte. Oder Weber war ein Nichtskönner. Sicher konnte Boehncke in diesem Punkt den Nachmittag und Abend über nicht sein. Etwas in Webers Haltung erinnerte ihn an die Wirkung von Büchern. (aus: Chronik der Gefühle II, S. 160)
Birgit Haberpeuntner
Der langrüsselige Atem der Rache
Durch Alexander Kluges Fernsehsendungen, Filme und Schriften geistern unzählige Elefanten. Seit seiner Kindheit faszinieren ihn diese Tiere, sagt er.1 In dem kurzen Bericht »Eingemachte Elefantenwünsche«, der erstmals 1977 erschien und später in die Chronik der Gefühle (2000) aufgenommen wurde2, macht A. Kluges Figur des Autors A. Weber3 auf das Elefanten- und gleichzeitig auf »eine Art Gattungsgedächtnis«4 aufmerksam. Um dieses Elefantengedächtnis zu veranschaulichen, erzählt er die Geschichte eines sich für erlittenes Leid rächenden Elefanten. Es seien »durchaus gefährliche, hochexplosive Tiere«5, merkt Weber an. Ebenfalls in der Chronik der Gefühle findet sich der Text »Hinrichtung eines Elefanten«. Darin, und in dem Kulturmagazin mit demselben Titel6, nimmt Kluge Bezug auf die Hinrichtung der Elefantenkuh Topsy. Sie wurde 1903 auf Coney Island durch einen Stromschlag getötet, ihr Tod von der Edison Film Company aufgezeichnet. Der »aufregendste Moment«7 sei nicht die Hinrichtung, meint der Ich-Erzähler der Geschichte, sondern die Szene davor, die nicht gefilmt
1 Alexander Kluge, »Künstler sind Pilotfischchen«, Interview mit Kolja Reichert, in: Frankfurter Allgemeine, 17. 10. 2017, verfügbar unter : http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/alexan der-kluge-im-interview-ueber-kunst-und-silicon-valley-15250461.html (Stand: 04. 07. 2018). 2 Im sechsten Heft der Neuen Geschichten. Hefte 1–18. »Unheimlichkeit der Zeit«, sowie später in Die Patriotin (1979) und in der Chronik der Gefühle (2000). 3 Dorothea Walzer meint, dass man die Figur des Autors A. Weber durchaus als »personale Verdichtung des webenden, des schreibenden Autors sui generis, vielleicht sogar des spezifischen Autors A. (Alexander) Kluge« lesen könne. Vgl. Dorothea Walzer, »Ästhetische Verfahren, eingemacht«, in: Christian Schulte, et al. (Hg.) Formenwelt des Dialogs. Göttingen 2016, S. 277–288, hier : 277f. 4 Alexander Kluge, Die Patriotin. Frankfurt a. M. 1979, S. 304–308, hier : S. 307. 5 Ebd. 6 Hinrichtung eines Elefanten, R: Alexander Kluge, D 2000, Edition Filmmuseum 21, München 2007, DVD. Der Text »Hinrichtung eines Elefanten« ist auch in dem Interviewband Verdeckte Ermittlung (2001) abgedruckt, aus dem ich zitieren werde. 7 Alexander Kluge, Verdeckte Ermittlung: Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann, Berlin 2001, S. 94.
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wurde: »wie der Elefant sich von den Wärtern ruhig auf den Vorplatz führen lässt, er, der sich losreißen und jedes Hindernis hätte niedertrampeln können.«8 In »Eingemachte Elefantenwünsche« steht die Rache des Elefanten als »unverhältnismäßige Reaktion«9 im Vordergrund; in der »Hinrichtung eines Elefanten« kehrt diese Dynamik wieder, doch das Kräfteverhältnis verkehrt sich in einem berührenden, verstörenden Moment des Urvertrauens. Es verschränken sich Fragen nach unserer Bindung an und Trennung von Natur, von Komik und Trauer.10 Nun müsste man zu diesen beiden Texten aber eine dritte Geschichte hinzuziehen, und zwar die Geschichte der hingerichteten Elefantenkuh, die als Rachegeist wiederkehrt, um ihre Peiniger heimzusuchen. Anhand dieser drei Geschichten möchte ich im Folgenden erkunden, wie Kluges Elefanten und deren (Gattungs-)Gedächtnis auf historiografische und ästhetische Verfahren hinführen, dabei Fragen zu ihrer eigenen Metaphorizität aufwerfen und dazu anregen, das Verhältnis von Mensch und Natur zu befragen. Um 1900 wurden in den USA verstörend viele Elefanten hingerichtet. Zwischen 1900 und 1916 zählte ich drei erfolgreiche und eine missglückte Exekution. Eine Elefantenkuh mit dem Namen Mary wurde 1916 in Tennessee vor Publikum erhängt, weil sie einen unerfahrenen Pfleger niedertrampelte (Abbildung 1).11 Im Jahr 1900 wurde in Baltimore ein Elefant namens Sport getötet; auch er wurde erhängt. Er brach sich bei einem Unfall die Hüfte, weshalb das Erhängen als Gnadentod galt. Aber auch dieser Elefantenmord wurde zum Spektakel vor ZuschauerInnen.12 Wie bei der Hinrichtung durch Stromschlag kamen auch in diesem Fall neue Technologien zum Einsatz: Man benötigte für die Hinrichtung dicke Stahlseile und einen Kran, der in der Lage war, dem Elefantengewicht standzuhalten. Man benötigte Kräne, die normalerweise Zugwagons umstellten. Im Jahr 1901 führte hingegen ein Stromschlag zu einer missglückten Elefanten-Hinrichtung, und zwar im Rahmen der Pan-American Exhibition in Buffalo.13 Bei dieser Ausstellung wurde Präsident William McKinley erschossen, 8 9 10 11
Ebd. Kluge, Die Patriotin, S. 307. Vgl. Kluge, Verdeckte Ermittlung, S. 77. Es gingen Gerüchte um, dass Mary aus Rache gehandelt habe: »the person Mary killed had once given her a chew of tobacco instead of peanuts and that Mary, keeping the incident in mind over a period of years, took her revenge when she recognizes her offender during a parade.« Thomas G. Burton, »The Hanging of Mary, a Circus Elephant [1971]«, in: Ted Olson/ Anthony P. Cavender (Hg.), A Tennessee Folklore Sampler : Selections from the Tennessee Folklore Society Bulletin, Knoxville 2009, S. 219–227, hier : S. 220. 12 Unter dem nachfolgenden Link findet sich auch eine Fotografie, welche die Hinrichtung vor Hunderten ZuseherInnen zeigt. Vgl. »The Death of Sport«, Underbelly: From the deepest corners of the Maryland historical society library, 10. 01. 2013, verfügbar unter : http://www. mdhs.org/underbelly/2013/01/10/the-death-of-sport/ (Stand: 04. 07. 2018). 13 Vgl. Michael Daly, Topsy : The Startling Story of the Crooked Tailed Elephant, P.T. Barnum, and the American Wizard, Thomas Edison, Kindle-Version 2013, S. 287f.
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Abb. 1: »Elephant Mary«, Fotografie (bearbeitet), aufgenommen in Erwin, Tennessee, 1916
dessen Mörder schließlich zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt wurde. Darauf verweist auch Kluge in der »Hinrichtung eines Elefanten«. Edison wollte diese Vollstreckung eines Todesurteils mitfilmen, was ihm aber versagt blieb. Die von Kluge bearbeitete und in sein Kulturmagazin montierte Szene war nachgestellt worden. In jedem Fall sollte bei der Pan-American Exhibition von 1901 auch der Elefant Jumbo Number II vor versammeltem Publikum durch einen Stromschlag hingerichtet werden, aber er »weigerte sich« schlicht und einfach, wie zeitgenössischen Berichten zu entnehmen ist, zu sterben: »Jumbo merely threw a trunkful of dirt over his back and refused to die« (Abbildung 2).14 14 »Two thousand two hundred electric volts fail to kill Jumbo II at Buffalo exposition«, in: The San Francisco Call, November 10, 1901, California Digital Newspaper Collection, Center for Bibliographic Studies and Research, University of California/Riverside, verfügbar unter : https://cdnc.ucr.edu/cgi-bin/cdnc?a=d& d=SFC19011110.2.133.3 (Stand: 04. 07. 2018).
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Abb. 2: Zeitungsausschnitt aus San Francisco Call, 10. November 1901
Die Hinrichtung der Elefantenkuh Topsy durch Stromschlag im Jahr 1903, die von Edison Films tatsächlich mitgefilmt wurde, missglückte nicht. Topsy starb. Erst war geplant, sie zu erhängen und 25 Cents Eintritt für die Hinrichtung zu verlangen. Dagegen erhob die American Society for the Prevention of Cruelty to Animals Einspruch, einerseits aufgrund der unnötig grausamen Hinrichtungsmethode, andererseits aufgrund der Tatsache, dass die Hinrichtung zu einem öffentlichen Spektakel zu werden versprach. Man ging schließlich auf Nummer sicher : Der Elefantenkuh wurde Gift verabreicht, und ihr wurde mit einer Schlinge um den Hals ein Stromschlag versetzt, so dass sie sich selbst erhängen würde, sollte sie der Stromschlag nicht töten. Offiziell wurden rund 800 geladene ZuschauerInnen in den Park gelassen, darunter PressefotografInnen, das Edison Filmteam und RepräsentantInnen der Tierschutzorganisation. Massenweise ZuschauerInnen waren aber über die Zäune geklettert, oder beobachteten das Geschehen von Balkonen oder Dächern nahegelegener Häuser.15 Edison Films »Electrocuting an Elephant« ist ein faszinierendes Filmdokument. Nicht nur aufgrund der Demonstration früher Filmtechnik, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass dieses schlussendlich doch für Presse und Publikum inszenierte Spektakel vor der Kulisse des Luna Park stattfand, einem Ort der technisierten Freizeit, und aufgrund der Tötungsmethode, die zu diesem Zeitpunkt als innovativ und ›humaner‹ galt, als andere Arten der Exekution. »Electrocuting an Elephant« gilt laut Tom Gunning als Beispiel für das Cinema of Attractions, das zeigt, wie die Aufmerksamkeit der ZuschauerInnen durch
15 Vgl. Daly, Topsy, S. 318f.
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Technologie und Spektakel gelenkt wird, und sich sofortige Satisfaktion in einem kurzen klimaktischen Moment einstellt. »This is a cinema of instants, rather than developing situations«16, so Gunning. Außerdem enthülle dieses kurze Filmdokument den Exhibitionismus des Cinema of Attractions, indem es das Zusehen ausstelle, anstatt es zu verstecken. Wo im späteren narrativen Kino die ZuseherInnen heimlich zusehende VoyeurInnen werden, wird hier die beobachtende Masse ins Bild gerückt.17
Abb. 3 und Abb. 4: Filmstils aus Hinrichtung eines Elefanten (Kluge, 2000)
Ähnlich funktioniert auch die Nachstellung der Exekution des Mörders von McKinley auf dem elektrischen Stuhl, Execution of Czolgosz, die Kluge in seine Fernsehsendung »Hinrichtung eines Elefanten« montiert. Bei Kluge enthält gerade diese Szene aber einen klaren Bruch. Man liest in einem Insert, dass der Mörder von Präsident McKinley mit Gas hingerichtet wird (Abbildung 4); im Filmmaterial sieht man aber den bearbeiteten Ausschnitt der nachgestellten Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl (Abbildung 5). Direkt darauf folgt das Insert, in dem der Ich-Erzähler den aufregendsten Moment der Elefanten-Hinrichtung beschreibt: Wie sich die Elefantenkuh von Wärtern in den Tod führen lässt, anstatt sie niederzutrampeln. Ein Moment, in dem das Urvertrauen aufwogt, das alle Lebewesen im Schoße der Mutter entwickeln, wenn sie zumindest für kurze Zeit dem Irrtum anheimfallen, die Welt würde es gut mit ihnen meinen.18 Davon zehren wir, wie von Eingemachtem. Dieses von allen Lebewesen geteilte Urvertrauen führt aufseiten der ZuseherInnen zu berührendem Unbehagen, zu einem Unglauben angesichts der Tücke des Menschen gegenüber dem Tier mit dem vertrauensvollen Blick. Ebenso steckt es im Fortschreiten des Elefanten, der sich zur Hinrichtung führen lässt. Es trägt beide Möglichkeiten: Todesurteil und Quell des Überlebens, »Kraft des Wünschens«.19 16 Tom Gunning, »An Aesthetic of Astonishment: Early Film and the (In)Credulous Spectator«, in: Linda Williams (Hg.) Viewing positions: Ways of seeing film, New Brunswick 1995, S. 114–133, hier: S. 123. 17 Ebd. 18 Vgl. Kluge, Verdeckte Ermittlung, S. 96. Zu Beginn des Kulturmagazins »Hinrichtung eines Elefanten« zeigt Kluge ein Elefanten-Baby mit seiner Mutter. 19 Christian Schulte, »Cross-mapping. Aspekte des Komischen«, in: Christian Schulte/ Rainer
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In der Gegenüberstellung dieser beiden Exekutionsfilmausschnitte wird das heimliche Spektakel unheimlich.20 Der im ersten Filmausschnitt ›hingerichtete‹ Mensch ist Statist, denn die Hinrichtung selbst durfte nicht aufgezeichnet, nicht zum Spektakel werden. Die dargebotene Filmversion jedoch, von Kluge klar als Nachstellung ausgewiesen, wird zu einer größeren Attraktion als der Elefantenfilm21, in dem die Elefantenkuh während des aufgezeichneten Spektakels stirbt. In der Gegenüberstellung bekommt das Tier gleichsam menschliche Züge, ihr ausgestellter Tod vor versammelter Menschenmenge wird unheimlich, und verknüpft sich mit dem Tod des tatsächlich hingerichteten Menschen, der sich im kinematographischen Spektakel der Nachstellung nur allzu leicht verdrängen lässt. Diese Konstellation wird durch eine weitere Verknüpfung verkompliziert, die sich ebenso aus der Gegenüberstellung der beiden Hinrichtungsszenen ergibt: Durch die Bruchstelle zwischen Gas und elektrischem Stuhl, zwischen Kluges Text und dem Filmdokument, dringt die Assoziation mit dem Holocaust ein. Der »Kontrastwert, den Komik normalerweise hat«22, der Unglaube, »die Verknüpfung disparater Sinnmomente«23 ist verunsichernd, vor allem vor der Kulisse des technisierten Vergnügens im Luna Park und unter den Blicken unzähliger ZuschauerInnen. »Vergnügtsein heißt Einverstandensein«24, konstatieren Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung. Vielleicht wird gerade durch diese Verknüpfungen greifbar, dass der Mensch Teil der Natur ist, Naturbeherrschung auch Menschenbeherrschung meint. Dass Naturbeherrschung anhand der technischen Errungenschaften fehlgeleitete Technikrezeption und Auschwitz im hingerichteten Elefanten angelegt ist. »Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts Anderes gilt«25, heißt es schließlich ebenso in der Dialektik der Aufklärung. In dieser Verknüpfung drohen sich allerdings historische Partikularismen zu verlieren, was der Enthistorisierung des ›Fremden‹ und dessen Relegation in die Sphäre des zu beherrschenden Natürlichen zuarbeitet – vor allem, da in »Hinrichtung eines Elefanten« zumindest ein weiterer, historisch spezifischer Unterdrückungszusammenhang aufgerufen wird. Das hinzurichtende Tier sei
20 21 22 23 24 25
Stollmann (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zu einer gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 219–232, hier : S. 228. Ich bedanke mich bei meiner lieben Kollegin, Stefanie Kitzberger, für diese Anregung! »Wir haben später die ›Hinrichtung des Mörders von Präsident McKinley‹ gedreht (und die Zuschauerzahlen des Elefantenfilms übertroffen).« Kluge, Verdeckte Ermittlung, S. 94. Kluge, Verdeckte Ermittlung, S. 91. Ebd., S. 227. Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 2013 [1947], S. 153. Ebd., S. 10.
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»Afrikaner«, sagt Kluge.26 Er erwähnt den Namen der Elefantenkuh weder im Text noch im Kulturmagazin. Doch erzählt auch der Name des Tiers eine Geschichte: Die Elefantenkuh wurde Topsy genannt, nach einer jungen Sklavin aus Uncle Tom’s Cabin, die von ihrer Herkunft nichts weiß und ihre Mutter nicht kennt. Ein Ausspruch von ihr wurde über die Zeit zu einem bekannten Idiom: Als sie gefragt wird, wer ihre Mutter sei, woher sie komme, sagt Topsy : »Never was born. […] never had no father nor mother. […] I s’pect I grow’d. Don’t think nobody never made me.«27 Die Sklavin Topsy kannte keine Mutter. Was passiert mit dem Urvertrauen, wenn man zu Beginn des Lebens, und über Generationen hinweg, Gewalt dieser Art erfährt? Für den Ich-Erzähler in der »Hinrichtung eines Elefanten« ist der aufregendste Moment jener, in dem das Urvertrauen Unglauben erzeugt; jener Moment, in dem der Weg beschritten wird, der in den Tod führt. Dieser aufregendste Moment wurde aber nicht gefilmt. Und das, was nie gefilmt wurde, lässt sich auch anders lesen. Topsy ließ sich in der ausgesparten Szene gerade nicht zum Tatort führen: Sie blieb stehen, wo sie war und weigerte sich, über die Brücke zu gehen.28 Im ersten Shot beobachtet man, wie Topsy an einer Reihe von Menschen vorbeigeführt wird, um auf einer angelegten Insel in einer Lagune des Coney Island Park getötet zu werden. Dann erfolgt ein Jump Cut zum Ort der Hinrichtung, und im zweiten Shot sieht man, wie die Elefantenkuh »gefällt [wird] wie ein Fauna-Baum.«29 Der Schnitt verdeckt die notwendige Pause, da der gesamte Tatort dorthin verlegt werden musste, wo die Elefantenkuh stehen geblieben war. Weigerte sich Artgenosse Jumbo II zwei Jahre zuvor tatsächlich zu sterben, so weigerte sich Topsy, sich zur Hinrichtung führen zu lassen. Doch endet ihre Geschichte hier nicht: Topsy kehrt zurück, und zwar als Rachegeist. »Elephant’s Ghost Haunts Coney Island and Seeks Revenge on Destroyer«30, steht in der Ausgabe des The Bristol Banner vom 4. März 1904 (Abbildung 5). Sie kehrt zurück, um ihre Peiniger heimzusuchen. Geister und Gespenster sind Figuren eines Da-Seins und gleichsam unheimlichen Nichthierher-Gehörens, einer unheimlichen Anwesenheit von Abwesendem, von Vergangenem in der Gegenwart. Getrieben vom Motiv der Rache, gespeist aus 26 Die Elefantenkuh Topsy war Asiatin. Vermarktet wurde sie als erster Elefant (d. h., auch als männlich), der in den USA geboren war. Der Scam wurde jedoch entlarvt: Topsy war weder männlich, noch in den USA geboren, sondern eine aus Asien importierte Elefantenkuh: »What is certain is Forepaugh’s baby was born in the wild, most likely in Ceylon (now Sri Lanka), but perhaps in India or Burma or Malaysia. And the baby boy was a baby girl.« Daly, Topsy, S. 16. 27 Harriet Beecher Stowe, Uncle Tom’s Cabin, Seattle 2017 [1852], S. 315f. 28 Daly, Topsy, S. 321f. 29 Kluge, Verdeckte Ermittlung, S. 77. 30 »Elephant’s Ghost«, in: The Bristol Banner, 04. 03. 1904, verfügbar unter: https://www.news papers.com/image/?spot=21577477 (Stand: 04. 07. 2018).
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Abb. 5: Zeitungsausschnitt aus The Bristol Banner, 4. März 1904
ihrem langrüsseligen Gattungsgedächtnis, konfrontiert Topsy die US-amerikanische Nationalimagination mit dem Paradox ihrer eigenen Geschichte, deren Ursprünge gleichzeitig zu feiern und zu vergessen zur nationalen Überlebensstrategie gehört: Freiheit und Gleichheit als zentrale Werte der US-amerikanischen Nationalimagination und -geschichte beruhen wesentlich auf Sklaverei und Rassismus.31 Diese im Ursprung liegende Gewalt und Ungleichheit muss vergessen, die Ursprünglichkeit selbst jedoch als naturgegeben gefeiert werden. Dieses Paradox der Nationalerzählung bringt die Figur Topsys in Uncle Tom’s Cabin, sowie ihre Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft auf den Punkt: »I s’pect I grow’d. Don’t think nobody never made me.« Die erfahrene Gewalt wird vergessen, der Ursprung zu einem Prozess natürlichen Wachstums umgedeutet – auf keinen Fall als Konstruktion begriffen. Die durch das Werk Kluges geisternden Elefanten scheinen uns auf ausdauernde Protestenergien hinzuweisen, auf eine Spannung zwischen Aktion und
31 Vgl. Edmund S. Morgan, »Slavery and Freedom: The American Paradox«, in: The Journal of American History 59, 1 (1972), S. 5–29, hier: S. 29.
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Resignation, die in unterschiedliche Arten des Protests eingeht.32 Das vererbte Elefantengedächtnis, das Kluge in »Eingemachte Elefantenwünsche« als eine Art Gattungsgedächtnis bezeichnet, nährt die Protestenergie »Rache« über Generationen hinweg; diese tritt wiederum plötzlich und unvermutet, geisterhaft und unheimlich in Erscheinung, um Vergangenes in die Gegenwart einzubringen. Nun verbinden aber wohl beispielsweise LiteraturwissenschaftlerInnen mit dem Gattungsgedächtnis eher intertextuelle Wechselwirkungen innerhalb literarischer Gattungen über Generationen hinweg33 ; und auch Kluge merkt in »Eingemachte Elefantenwünsche« an, dass es das Elefantengedächtnis »in der Natur nicht [gäbe], sondern nur, wenn man es gewissermaßen in Einmachgläsern einsammelt und aufhebt.«34 Es funktioniert hier nicht, der Natur ein Merkmal zu entwenden und dieses geradlinig über den Weg der Metapher auf menschliche Kulturtechniken zu übertragen. Wir müssen uns mit der Verschränkung von Bindung an und Trennung von Natur auseinandersetzen, um an ein solches Elefanten-Gattungsgedächtnis zu kommen, damit der Arbeitskraft »Rachegefühl« Dauer verliehen wird. »In unserem Alltag herrscht die strenge Indirektheit der Verhältnisse, die Unmöglichkeit, direkt menschlich zu reagieren und die Arbeitskraft ›Rachegefühl‹ auszuüben, vor«35, sagt Alexander Kluge in einem Interview aus dem Jahr 1977, demselben Jahr, in dem er »Eingemachte Elefantenwünsche« verfasst. Diese Arbeitskraft gilt es freizusetzen, in Geschichte/n und Gegengeschichte/n. 32 »En ne se d8fendant pas, l’8l8phant se fragilise / l’extrÞme. Il d8cide de ne plus agir sur le monde r8el qui le met en danger. […] En tant qu’elle expose celui qui espHre encore / une fragilisation extrÞme, fatale dans le cas de l’8l8phant ex8cut8 sous l’œil de la cam8ra de Porter, cette apparente passivit8 manifeste l’existence d’une confiance originelle pouss8e / son expression la plus extrÞme. Cette confiance, a priori inefficace (un corps se mettant en incapacit8 d’agir encore directement sur le r8el menaÅant), complique une premiHre fois la tension primaire entre action et r8signation, un couple antinomique qu’une des rares colHres publiques d’Alexander Kluge va nous permettre d’articuler davantage.« Gr8gory Cormann/ J8r8my Hamers, »Kluge, Adorno et l’indomptable Leni Peickert«, Cahiers du GRM 5, 2014, verfügbar unter : http://journals.openedition.org/grm/412; DOI : 10.4000/grm.412 (Stand: 30. 8. 2018). 33 So merken beispielsweise Erell und Nünning an, dass die Metapher des Gedächtnisses in diesem Kontext den »Blick für die diachrone Dimension des Symbolsystems Literatur [öffnet], für die Beziehungen zwischen Kunstwerken und für die durchaus gedächtnisaffinen Verfahren der Wiederholung und Aktualisierung von ästhetischen Formen, wie sie bereits Aby Warburg in seinem Mnemosyne-Atlas veranschaulicht hat. Die Bildlogik der Gedächtnis-Metapher rückt die Selektivität, Gegenwartsgebundenheit und kontinuitätsstiftenden Funktionen literarischer Intertextualität ins Blickfeld.« Astrid Erell/Ansgar Nünning, »Einleitung«, in: Astrid Erell/ Ansgar Nünning (Hg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlagen und Anwendungsperspektiven, Berlin 2005, S. 1–9, hier: S. 3. 34 Kluge, Die Patriotin, S. 306. 35 Kluge, Alexander Kluge, »Zeit der Rache?« Interview mit Rainer Lewandowski und Rainer Vasel, in: Zeit Online, 23. 12. 1977, verfügbar unter : https://www.zeit.de/1977/52/zeit-der-ra che/seite-3 (Stand: 04. 07. 2018).
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Sie liegt eingemacht im Gattungsgedächtnis, und wirkt im besten Fall als langer und langrüsseliger36 Atem der Rache.
Bildnachweise Abbildung 1: »Elephant Mary«, Wikimedia Commons, last edit: 21. 02. 2017, verfügbar unter : https://en.wikipedia.org/wiki/Mary_(elephant)#/media/File:Elephantmary.jpg [Stand: 04. 07. 2018]. Abbildung 2: »Two thousand two hundred electric volts fail to kill Jumbo II at Buffalo exposition«, in: The San Francisco Call, November 10, 1901, verfügbar unter : California Digital Newspaper Collection, Center for Bibliographic Studies and Research, University of California/Riverside, https://cdnc.ucr.edu/cgi-bin/cdnc?a=d& d=SFC19011110.2. 133.3 [Stand: 04. 07. 2018]. Abbildung 3: Hinrichtung eines Elefanten, R: Alexander Kluge, D 2000, Edition Filmmuseum 21, München 2007, DVD, 00:07:35. Abbildung 4: Hinrichtung eines Elefanten, R: Alexander Kluge, D 2000, Edition Filmmuseum 21, München 2007, DVD, 00:07:44. Abbildung 5: »Elephant’s Ghost«, in: The Bristol Banner, 04. 03. 1904, verfügbar unter : https://www.newspapers.com/image/?spot=21577477 [Stand: 04. 07. 2018].
36 Vgl. Ebd.
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Verschönerungsarbeiten am Recht. Notiz zu Alexander Kluges Erzählung »Bettine G.« Das befriedigte Rechtsgefühl ist das Hornsignal nach gelungener Jagd. Alexander Kluge, Korti Et alium paracletum dabit vobis. Johannes 14, 15
1 Die Texte Alexander Kluges begreifen die Welt kasuistisch. Sie gehen nicht aus von allgemeinen Prinzipien, deren Wahrheit sich bis in die Empirie einzelner Begebenheiten hinein nachverfolgen ließe, etwa vom Prinzip des Klassenkampfs, der Bildung oder des Zufalls, und sie entfalten keinen in sich ruhenden Kosmos. Vielmehr setzen sie an überraschenden Einzelbeobachtungen an, die sie in unterschiedliche – soziale, kosmische, ökonomische usw. – Zusammenhänge einzuordnen, das heißt zu denken und zu begreifen suchen. Kurzum, sie problematisieren Fälle. Die Texte Kluges stehen damit in der langen, aufklärerisch-moralistischen Tradition Montaignes, Nietzsches, Kleists, aber auch Kafkas. Deren Welt ist das, was der Fall ist. Und was ein Fall ist oder zum Fall wird, ist prinzipiell etwas, was den gewöhnlichen Gang der Dinge stört, unterbricht, durcheinander bringt, gängige Erwartungen und Sinngebäude einstürzen lässt: das Ordnungswidrige, das Abweichende. Ohne Abweichung, ohne clinamen gibt es keine – wie Louis Althusser gezeigt hat1 – Ereignisse, keine Fälle und folglich auch keine Geschichte. Wer kasuistisch erzählt, erzählt geschichtlich. Was das Klugesche Erzählen motiviert, sind die Lücken und Unterbrechungen, die Katastrophen, Überraschungen, Wendungen, Störungen, verfehlten Erwartungen und scheiternden Hoffnungen im Leben der Menschen und der Gesellschaften. Ein Fall ist das, was abweicht und die jeweils gesetzte Ordnung stört, ob es sich um die Parkordnung im Garten Eden oder die territoriale Ordnung Europas handelt. Deswegen ist er immer auch ein Rätsel, das mehr oder weniger perplex lässt und nach Erklärungen verlangt: »Warum nun dieses?« 1 Vgl. Louis Althusser, »Der Unterstrom des Materialismus der Begegnung«, in: ders., Materialismus der Begegnung. Späte Schriften, hrsg. und übers. von Franziska Schottmann, Zürich 2010, S. 21–59.
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Kasuistisches Erzählen entspringt dem fortgesetzten Staunen über das, was der Fall ist. Denn kein Fall versteht sich von selbst. Er muss erzählt, Stück für Stück, Wort für Wort, Szene für Szene zusammengesetzt, in eine bestimmte Syntax, in Handlungs- und Sinnzusammenhänge gebracht, (re-)konstruiert und dadurch als singuläre Geschichte in ihrer ganzen Komplexität plausibel und denkbar gemacht werden. Manchmal hält die Fallkonstruktion nicht, es tauchen Fehler, unklare Stellen in den Kausalketten auf, Ambiguitäten, Doppeldeutigkeiten, Unklarheiten, verworrene Linien, undeutliche Verläufe. Was sich aus der einen Perspektive als klarer, logischer Zusammenhang darbietet, weist aus einer anderen Perspektive Löcher, Ungereimtheiten, Abstürze und Zusammenhanglosigkeiten auf, und aus einer dritten Perspektive verschieben sich plötzlich alle Elemente. Nichts ist einfach so, wie es sich darstellt. »[Kriminalkommissar] Baade steht bis zum Hals in Straftaten verwickelt. Ihm geht es jedoch nur um die neue Chance, das Recht zu verwirklichen.«2 Die Montagetechnik, die Alexander Kluges Erzählen von Anfang an auszeichnet, verdankt sich der Poly-Perspektivität seines kasuistischen, an Fällen geschulten und orientierten Blicks. Und damit ist auch schon gesagt, dass das Erzählen Alexander Kluges immer auch ein Erzählen vom Erzählen selbst ist, ein Erzählen von den unterschiedlichen, manchmal unvereinbaren, stets konfliktträchtigen Erzählmöglichkeiten eines Falles, dass es immer auch um die möglichen alternativen Konstruktionen einer Geschichte geht, wie sie sich aus unterschiedlichen Gesichtspunkten darstellt.3 Die Schlacht von Stalingrad stellt sich aus der Perspektive eines zerschossenen Obergefreitenknies anders dar als aus der Perspektive eines russischen Piloten oder des Generalstabs. Sie weist eine andere Kausalität auf je nach der Reichweite der historischen Zeiträume, in die man sie stellt, nach den unterschiedlichen sozialen Perspektiven, nach den unterschiedlichen geographischen Gesichtspunkten. Eine kasuistische Weltsicht wird durchgängig getragen vom Bewusstsein unterschiedlicher, miteinander in Konflikt liegender Perspektiven auf die Dinge, ohne dass je eine allumfassende Zentral- und Meta-Perspektive – als Perspektive aller Perspektiven – verfügbar wäre und in Anspruch genommen werden könnte. Den göttlich allwissenden Blick gibt es in Alexanders Kluges Erzählungen nicht, 2 Alexander Kluge, »Der gejagte Kriminalkommissar«, in: ders., Chronik der Gefühle. Band II: Lebensläufe, Frankfurt a. M. 2000, S. 558. 3 Es gehört zu den (ästhetisierenden) Gemeinplätzen der neueren Literaturwissenschaft, die Moderne (und Postmoderne) zu charakterisieren durch die Wendung vom »selbstreflexiven Erzählen«. Übersehen wird dabei, dass in den meisten Fällen nicht »das Erzählen« sich selbst reflektiert, sondern dass es darum geht, die Sache, von der erzählt wird, möglichst genau darzustellen, dass es also um einen methodisch überlegt konzipierten Gegenstandsentwurf geht. Es ist ein Missverständnis, Michel Foucaults Begriff der »Intransitivität«, der auf die kritische Infragestellung des repräsentativ-auktorialen Status der Literatur abzielt und gerade nicht auf eine Selbstreflexivität des Textes, als ästhetisch-poetologisches Programm zu lesen.
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und zwar nicht aus prinzipiellen (anti-)theologischen Gründen, sondern weil er falsche Anmaßung wäre: als ob die Geschichte in allen Einzelheiten und Zusammenhängen jemandem verfügbar wäre, als ob sie schon lückenlos und perfekt vorläge, als ob es keine Alternativen gäbe, so dass nichts mehr zu erzählen wäre. »Ein abwesender Gott wird durch Erzählung ersetzt«, sagt Kluge einmal in diesem Sinn.4 Das Erzählen geht umgekehrt immer davon aus, dass es auch noch andere Möglichkeiten gibt, dass nichts endgültig entschieden ist, auch nicht auf Seiten der Toten, von denen Kluge bekanntlich sagt, dass »es nämlich ein Irrtum [ist zu glauben], dass die Toten irgendwie tot sind«.5 Sie leben fort in den Wünschen der Lebenden, in den bizarr verwinkelten Straßenzügen der Städte, in den überkommenen Vorstellungen von Welt und Dingen, aber auch in sämtlichen technischen Gerätschaften, in denen das Wissen von Generationen akkumuliert vorhanden ist. Jeder Smartphone-Junkie sitzt, wie unbewusst und ignorant auch immer, auf dem Wissensmassiv der Hertz, de Broglies, Fouriers, Alan Turings. Wenn der kasuistische Blick etwas unmöglich macht, dann sind es letzte Urteile, anders gesagt, das Richten. Es ist kein Zufall, dass in Kluges Erzählungen immer wieder Kriminalisten und Richter als fragwürdige Helden auftauchen und selbst zu Fällen werden.6 In Frage steht der Akt des Richtens und Letzt-Urteilens – den Kluge unmöglich zu machen sucht, und zwar in jenem Sinn, in dem Freud einmal das Regieren, Erziehen und Psychoanalysieren als Unmöglichkeiten bezeichnet hat.7 Unmöglich heißt in diesem Zusammenhang: Man kommt sozial um das Phänomen nicht herum, man kann nicht nicht erziehen, nicht regieren, nicht therapieren, nicht Recht sprechen, aber eigentlich kann die Sache, nämlich des Regierens, Erziehens, Psychoanalysierens und Rechtsprechens, nur schiefgehen. Immer nämlich wird ein Rest bleiben, etwas, das nicht aufgeht, das kontraproduktiv gewesen sein wird, das man übersehen, überschätzt, nicht beachtet hat, das den Blick getrübt hat. Was als Verbesserung oder Hilfeleistung gedacht war, endet regelmäßig im Desaster. Was umgekehrt als Boshaftigkeit intendiert war, schlägt unversehens in freundliche Kooperation um. Was sich bei Kluge im Hinblick auf das Richten und Rechtsprechen mani4 Alexander Kluge, »Revolution ist die Antwort«, Gespräch mit Björn Eenboom, in: Frankfurter Rundschau, 5. Juni 2012. 5 Alexander Kluge, Die Patriotin. Texte / Bilder 1–6, Frankfurt a. M. 1979, S. 58. 6 Vgl. Alexander Kluge, »Amtsgerichtsrat Wieland stellt Ohnmacht der Justiz fest«, in: ders., Chronik der Gefühle, Band II, S. 424ff; »Hinscheiden einer Haltung: Kriminalrat Scheliha«, in: ders., Chronik der Gefühle, Band II, S. 688–697; »Korti«, in: Chronik der Gefühle, Band II, S. 782–825. 7 Vgl. Sigmund Freud, Die endliche und die unendliche Analyse [1937], in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke in achtzehn Bänden mit einem Nachtragsband, hrsg. v. Anna Freud, Marie Bonaparte, E. Bibring, W. Hoffer, E. Kris und O. Osakower, Band 16: Werke aus den Jahren 1932–1939, London 1950, S. 59–102, hier S. 93–96.
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festiert, ist mithin kein einfacher Anti-Juridismus, kein landläufiges Ressentiment gegen Recht und Gesetz, wie es in christlich geprägten Kulturen gang und gäbe ist,8 stattdessen ein kritischer Vorbehalt gegen soziale, politische, wissenschaftliche, emotionale Vor-Urteile und noch mehr : gegen die bewusstlose Verwendung der Sprache, insbesondere die systematische Verwechslung von Wörtern mit Dingen und Sachverhalten. Vor allem aber ist es Einspruch gegen das sozial gedankenlos gesprochene Unrecht im Gewand oder im Namen des Rechts, anders gesagt, gegen die abstrakte Kälte des Urteils, das von seiner eigenen Unmöglichkeit nichts weiß und nichts wissen will – um sich stattdessen, wie zum Beispiel Gustav Klemens Schmelzeisen, Rechtsprofessor zu Halle und zu Karlsruhe, seit Februar 1933 Mitglied der NSDAP, in aufgeblasenen Tautologien zu ergehen: »Gerecht ist, was dem Recht gemäß ist. Gerecht ist insbesondere, was der Idee des Rechts entspricht.«9 Kluge zitiert die beiden Sätze im Zusammenhang seiner Darstellung eines ruchlosen Rechtsidealismus, dem die Polizeikommissare Loebe, Pfaul und Baade angesichts einer »von Verbrechen korrumpierten Stadtlandschaft«10 verfallen. Dem steht Kluges Plädoyer für einen kasuistischen Möglichkeitssinn entgegen, der Moral und situative Geschicklichkeit miteinander zu verbinden weiß.11
2 Eine ebenso genaue wie erschreckende Darstellung des Richtens findet sich in Kluges kurzer, drei bundesrepublikanischen Prostituiertenschicksalen gewidmeter Erzählserie »Frankfurt Kaiserstraße«, die mit der Darstellung des Falls »Bettine G.« eröffnet wird. Wegen Beteiligung an einem Hehlereigeschäft, wegen Prostitution in der Nähe von Kirchen, Schulen und in Bahnhofsnähe sowie versuchten Diebstahls am 16. Juli 1962 wurde Bettine angezeigt. Sie hatte diese Straftaten nicht begangen. Den Namen des Anzeigeerstatters erfuhr sie nicht. Sie war aber sicher, dass der Anzeigeerstatter auch der Kassettenabholer war [Bettine G. hatte ihre Ersparnisse in einer Kassette aufbewahrt, die ihr vom ›Kassettenabholer‹ gestohlen wurde]. Der Richter verurteilte Bettine zu drei Jahren Frauengefängnis.12 8 Zum christlichen Anti-Juridismus vgl. Pierre Legendre, Le d8sir politique de Dieu. Ptude sur les montages de l’Ptat et du Droit, Paris 1988, S. 307f. 9 G. K. Schmelzeisen, Recht und Rechtsdenken, Bern 1968, zit. nach: Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Band II, S. 555. 10 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, ebd., S. 554. 11 Vgl. Alexander Kluge, »Ungeschick mit Todesfolge. Inwiefern gehört Geschicklichkeit zur moralischen Leistung?«, in: ders., Chronik der Gefühle, Band I: Basisgeschichten, Frankfurt a. M. 2000, S. 444–452. 12 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Band II: Lebensläufe, Frankfurt a. M. 2000, S. 520.
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Kluges literarische Darstellung des Falles – die sich als kritische Korrektur der Rechtsprechung verstehen lässt, als Vorschlag, wie der Fall ganz anders aufzurollen wäre – macht unmittelbar deutlich, dass das richterliche Urteil nirgendwo auf belastbaren Fakten beruht und, heißt das, in keinem einzigen Moment dem entspricht, was in der Welt Bettine G.’s tatsächlich vorgefallen ist, sondern dass das Urteil (zu drei langen Jahren Frauengefängnis) ausschließlich auf Anzeigen, Denunziationen, Vorurteilen, sozialen und moralischen Vorstellungen beruht, die sich vorab schon an die Stelle der Realität gesetzt hatten, die sie zugleich aber auch performativ – und zwar als erschreckend falsche Realität – planmäßig ideologisch herstellen. Denn das, was ist, ist nicht einfach stumm und tautologisch das, was ist. Was ist, ist sozial genau das, was ex officio darüber gesagt wird, das heißt, was als richterliches Urteil über dieselbe ›Realität‹ affirmiert wird, in diesem Fall: Diebstahl, Hehlerei, Prostitution. Die drei Begriffe sind keine Widerspiegelungen irgendeines ihnen je schon vorausliegenden, objektiven Seins, es handelt sich stattdessen um kategoriale und normative Eingriffe in die soziale Wirklichkeit, die von den Begriffen (des Strafrechts) selbst rechtsverbindlich definiert und zu bestimmten Zusammenhängen – nämlich zwischen Personen, Gefühlszuständen, Sachen, Handlungen – (an-)geordnet und als soziale Realität hergestellt werden, in den Augen aller, erga omnes. Alle Mitglieder der Gesellschaft werden vom richterlichen Urteil (das bekanntlich »im Namen des Volkes« ergeht) zur Annahme gezwungen, ganz gleich mit wie vielen privaten, individuellen Vorbehalten auch immer, dass Bettine G. gestohlen, gehehlt, sich prostituiert hat. Man muss es auch dann glauben, wenn die Sachverhalte in Wirklichkeit andere sind als die, die das richterliche Urteil als solche dogmatisch verbindlich bestimmt und ein für allemal festgelegt hat. Die Funktion des literarischen Textes wird vor dem Hintergrund der juristisch dogmatischen Definition der Wirklichkeit unmittelbar deutlich. Sie besteht darin, im Modus der Fiktion das Darstellungsmonopol der Rechtsprechung bezüglich der Realität (oder dessen, was die Dinge bedeuten) in Frage zu stellen und sie durch den literarischen Gegenentwurf zu korrigieren, der ihr ideologisch befangenes Vor- und Fehl-Urteil – zumindest für den Zeitraum der Lektüre – aufhebt, es suspendiert und annulliert. Für den Fall Bettine G. besteht der literarische Gegenentwurf zunächst einmal darin, die sogenannten Tatbestände als Tatbestände radikal in Zweifel zu ziehen und nachdrücklich daran zu erinnern, dass dieselben Tatbestände auf nichts anderem beruhen als auf dubiosen Anzeigen und Denunziationen, für die es weder materielle Beweise noch beglaubigende Zeugen gibt. Darüber hinaus ruft der literarische Text im Modus der Fiktion – gleichsam als Spiel im bösen Spiel der Wirklichkeit – den hochgradig fiktionalen Charakter der gesamten rechtsverbindlichen Realität in Erinnerung, sofern sie nämlich auf richterlichen Urteilen, das heißt: auf Worten und auf sonst nichts beruht, auf Protokollen, Schriftstücken, Aussagen, Gegenaussagen,
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kurzum: auf amtlichem Schriftverkehr. Dass die Realität demgegenüber auch anders konstruierbar (und rekonstruierbar) ist, beweist der literarische Text genau dadurch, dass er die juristische Realitätskonstruktion seinerseits spielerisch verdoppelt und sie selbst im fiktionalen Raum der Literatur darstellt, um sie dort als genuin mit Worten hantierende, das heißt als intensiv fingierende Konstruktion bewusst zu machen. Das Verfahren, dessen Kluge sich in diesem Zusammenhang bedient, ist die dokumentarische Fiktion beziehungsweise die fiktionale Dokumentation des juristischen Falles, die in die biographische Skizze über Bettine G. eingearbeitet beziehungsweise ›hineinmontiert‹ ist. Kluges Text präsentiert einen protokollarischen »Auszug« »aus der Diskussion über die Verurteilte«, die das ganze – in der Tat: erschreckende – Ausmaß der sozialen Vorurteile, die im rechtsprechenden Gremium ebenso bewusstlos wie selbstgerecht ventiliert werden, vor Augen führt. Die rechtsprechende Wirklichkeit entpuppt sich – nicht zuletzt auch durch die von Kluge gewitzt eingeführten sprechenden Eigennamen (Barnabas, Meinz, Beitsch, Tacke), unter anderem auch aus der Geschichte der napoleonischen Kriege (Beresina, Eylau) – als eine einzige Realsatire, das heißt als bewusstlose Realisierung von gängigen Klischees, Mustern, vorgefertigten Redensarten. Das saturierte, akademisch gebildete Urteilsgremium, das einträchtig über den Fall Bettine G. zu Rate sitzt, erweist sich als eine zweiundzwanzigköpfige Ansammlung von Charaktermasken. Es treten auf und geben ihre vorhersehbaren Erklärungen ab mitsamt den entsprechenden Wort- und Bildungshülsen (zu Sinn und Zweck des Strafens, geistigen Werten, Goethe, Humanismus usw. usf.): Amtsgerichtsrat Beitsch, Direktor Tacke, Oberst a.D. Berger, Abgeordneter Professor Meinz, Abgeordneter Dr. Peiler, Gefängnisdirektor Pichota, Regierungsamtmann Palm, Staatsanwalt Beresina, Dipl.-Psychologe Mänke, Dozent der Psychologie Petzold, Bergassessor Lemmer, Bewährungshelferin Berthold, Dr. Jilusich, Geistlicher Rat Franz, Fürsorgerin Meier, Gefängnisgeistlicher Eylau, Oberstaatsanwalt Barnabas, Universitätsprofessor Mangold, Regierungsamtmann Wilke, Ministerialrat Döhmer, Herr Friedrich, Kriminalrat Bauer, kurz: die sozial herrschende Elite aus Politik, Justiz, Kirche und Bildungswesen mitsamt Titeln und ordentlichen Amtsbezeichnungen. Die besseren Kreise also fällen ein Urteil, das auf nichts anderes hinausläuft als auf die tautologische Affirmation jener Begriffe, welche die sogenannte Realität performativ definieren. Und das heißt: es handelt sich um eine ›self-fulfilling prophecy‹ der sozialen Realität, die Bettine G. ex negativo bestätigt und deren Wahrheitsbeweis sie dann drei Jahre im Frauengefängnis in corpore liefern wird. Karl Kraus hat mit Blick auf die blinde Moral derselben Kreise deren
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Prinzipienparadoxon sehr schön formuliert: »Weh dem armen Mädchen, das auf dem Pfade des Lasters strauchelt!«13 Was in der sozialen Tautologie eines gesetzlichen Urteils, das sich auf eine Realität stützt, die es selbst reproduziert (Prostitution zum Beispiel), gerade nicht zur Sprache kommt, ist das, was Kluges literarischer Text als das andere Handlungsmotiv der Bettine G. herausstellt, nämlich »ihre absolut unerträgliche Lage in Nordhessen«, die sie konsequenterweise und vernünftig sagen lässt: »Ich muss in die Großstadt. Dort habe ich eine Chance.«14 Der Erzähler kommentiert diesen (leicht nachvollziehbaren) Entschluss, der Bettine G. dann allerdings direkt auf den Strich der Frankfurter Kaiserstraße führen wird, mit dem Satz: Solange aber das Weltbild noch Blindstellen zeigt, von ihr [Bettine G.] nicht durchschaute Regionen der Gesellschaft, konzentrieren sich dorthin ihre Erwartungen: 1. dass etwas Reales geschieht, 2. dass man etwas dauerhaft lieben kann, 3. dass man sich entäußert und dafür nicht betrogen wird.15
Prägnanter lässt sich das utopische, im Grunde sozial-revolutionäre Potential, das im unbeholfenen, zugleich rebellischen und naiven Ausbruchsversuch Bettine G.’s zum Ausdruck kommt, nicht formulieren. Es geht erstens – darauf zielt der Begriff des erwarteten »Realen« –, um eine Welt jenseits der üblichen Charaktermasken, Klischees und endlos langweiligen Endloswiederholungen, das heißt, es geht um ein nicht-entfremdetes Leben, in dem Menschen sich als Freie, Gleiche und Solidarische begegnen; zweitens um die unbestimmte Hoffnung auf ein Liebesobjekt, das nicht trügt und der Anstrengungen wert ist; drittens um die Idee freier Hingabe, die nicht dem Gesetz des Äquivalents und des entsprechenden egoistischen Kalküls unterworfen wäre. Der unbeholfene Ausbruchsversuch scheitert. Er verendet im Elend der sogenannten Halbwelt. Aber er scheitert und verendet dort nicht, weil die Erwartungen und vagen Hoffnungen auf reale menschliche Beziehungen, liebende Hingabe, Möglichkeiten der schenkenden Entäußerung falsch gewesen wären, sondern weil die soziale Realität der »nicht durchschauten Regionen der Gesellschaft« von denselben Erwartungen und Hoffnungen auf ein Anderes ihrer selbst vorsätzlich nichts wissen wollen, weil sie keine Sprache dafür haben und dieselben Hoffnungen entschieden bekämpfen – unter anderem in Gestalt des Strafrechts. Die ungebildete Stummheit der Bettine G. steht der Utopie einer nicht-entfremdeten, menschlichen Gesellschaft jedenfalls näher als das Bildungsgerede des Amtsgerichtsrats Beitsch, der sein ausgestelltes Zitat-Wissen zum Begriff der 13 Karl Kraus, Schriften, hrsg. v. Christian Wagenknecht, Band 8, Aphorismen, Frankfurt a. M. 1986, S. 47. 14 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle. Band II: Lebensläufe, S. 516. 15 Ebd.
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»Acedia« zum Besten gibt, ohne dabei zu verraten, was der im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts verfasste articulus 1 der quaestio 35 aus der Summa Theologiae des Heiligen Thomas von Aquin – in dem u. a. der Nachweis geführt wird, »quod acedia non sit peccatum« – mit dem Treiben auf der Kaiserstraße, dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland und der (Falsch-)Anzeige der Bettine G. zu tun haben soll. Amtsgerichtsrat Beitsch: Die Humanisten hätten einen ganz bestimmten Begriff geprägt, den der Acedia, den man mit ›saure Schärfe‹ oder ›lustlose Schwäche‹ übersetzen könne, besser noch ›gefühlsmäßige Fehlhaltung‹. Man könne noch weitergehen und sagen ›Gefühlsarmut‹. Sie finde sich bei der Verurteilten. Gewisse Wertferne, Unfähigkeit, sich für die Schönheiten und Werte des Lebens zu begeistern. Er spreche hier nicht als Theoretiker, sondern als Praktiker : Wenn solche Fälle begegneten, so gebe es nur: hineinhauen mit einer gezielten Strafe, denn eine Gesellschaft gebe sich selbst auf, wenn sie Acedia dulde, die die alten Humanisten als Sünde erkannt hätten und die man übrigens auch als ›mürrische Verhärtung‹ bezeichnen könne. Sie sei selbst nicht strafbar, aber doch ein Strafbewertungsgrund.16
Die »Schönheiten und Werte des Lebens« gehen bruchlos einher – im Juli 1962, siebzehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, Fritz Bauer bereitet gerade den Auschwitz-Prozess vor – mit »hineinhauen« und »gezielter Strafe«, die alten Humanisten verbinden sich bruchlos mit den neuen Frauengefängnissen. Statt zu reden von der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, also von Frankfurter Freiern, Zuhältern, Erpressungen, Anzeigen, Diebstahl, von Lebensplänen, Wünschen, Erwartungen, aber auch von Kriegserfahrungen17 oder von der schäbigen Funktion des Begriffs »Humanismus« in den Jahren zwischen 1933 und 194518, ergeht die Justiz sich in Gestalt des Amtsgerichtsrats Beitsch in grotesken Betrachtungen über die mittelalterliche Acedia. Die Trägheit des Herzens oder intellektuelle Faulheit zeichnet viel weniger Bettine G. und ihren Versuch aus, den unerträglichen Verhältnissen in der nordhessischen Provinz zu entgehen, als vielmehr die gebildeten Vertreter einer konsequent wirklichkeitsund geschichtsblinden Justiz. Der ideologische, die Wirklichkeit (der Wünsche, Motive, ökonomischen und historischen Zusammenhänge) planmäßig entstellende, jeden Wunsch nach Veränderung oder nach einer Lebenschance mit staatlicher Gewalt unterdrückende Charakter der Rechtsprechung springt in die 16 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle. Band II: Lebensläufe, S. 521. 17 »Als das Haus ihres Vaters im April 1945 durch Beschuss zerstört wurde, war Bettine elf Jahre alt. Am Tag nach der Zerstörung nahm der Vater seine Berufstätigkeit von einem Notquartier aus wieder auf. So nahm auch Bettine nach Verlust der Kassette ihre Tätigkeit sofort wieder auf. Außerdem stellte sie Nachforschungen an, wer die Kassette geholt haben könnte.« Alexander Kluge, Chronik der Gefühle. Band II: Lebensläufe, S. 520. 18 Siegried Lenz und Heinrich Böll haben vermutlich die genauesten Analysen zu dieser Funktion vorgelegt.
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Augen, nicht weniger auch der von den Massenmorden der jüngsten Geschichte völlig unbeeindruckte behäbige Konservatismus der deutschen Bildungseliten, den Kluges Text satirisch bloßstellt. Bergassessor Lemmer : Die Rechnung der Verurteilten dürfe nicht aufgehen. Zwei Jahre ›Dienst am Kunden‹, dann könne sich eine Verurteilte zur Ruhe setzen. Jeder Kriminalfilm lehre, dass das nicht sein dürfe. Einwurf Rat Berger : Nach zwei bis drei Jahren könne sich die Verurteilte zur Ruhe setzen. (Unterstellt, sie wäre in Freiheit.) Einwurf Oberst a.D. Berger : Oder sie wandert aus. Einwurf Bewährungshelferin Berthold: Oder sie geht in die Zone.19
Um den Effekt der Satire hervorzubringen, genügt es, Floskeln, Zitate, Klischees, Redewendungen, Slogans genauso bewusstlos (und boshaft) aneinanderzureihen, wie sie von den Vertretern der offiziellen Wirklichkeit aneinandergereiht werden. Den einzigen, offen karikierenden Eingriff, den der Erzähler in Kluges Text vornimmt, stellen, wie gesagt, die sprechenden Eigennamen der Amtsvertreter dar : Oberstaatsanwalt Barnabas, Gefängnisgeistlicher Eylau, Staatsanwalt Beresina. Sie wirken umso lächerlicher, je größer die Kluft zwischen der Größe des benannten geschichtlichen Ereignisses und der Belanglosigkeit der unter demselben Namen abgesonderten Äußerungen ist. Gleichzeitig rücken sie das bürgerliche Rechts-Gerede in das blutige Licht der neueren deutschen Kriegsgeschichte, das die sozio-politische Möglichkeitsbedingung seiner herzlosen Urteile ist.
3 Kluges Erzählung von Bettine G. ist zugleich analytische Beschreibung eines Falles (der sich durchaus auch als melodramatisches Lebensschicksal erzählen ließe) und Justizsatire. Das heißt, es geht in erster Linie um die literarische Korrektur der herrschenden Wirklichkeit, die vom Rechtssystem am Leitfaden der geltenden Gesetze hergestellt wird, und zwar auf Kosten anderer Wirklichkeiten, die – ohne jedes Gefühl für Zusammenhänge und Verhältnismäßigkeiten – ausgeblendet, denunziert, sanktioniert und unterdrückt werden. Die Satire entsteht aus der Differenz zwischen dem Anspruch der Justiz, Wirklichkeit angemessen erfassen und beurteilen zu können, und ihrer kategorialen, ideologischen Blindheit. Je tiefer Amtsgerichtsrat Beitsch in seinem toten humanistischen Zitatenschatz gräbt, desto lauter schreit das Fehlurteil zum Himmel, das über Bettine G. gefällt wird. »Die Justiz«, so Kluge im Lebenslauf des Richters 19 Ebd., S. 522.
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Korti, »schützt wie sie vor vielem schützt, vor der Gerechtigkeit. Wer also liebt die Justiz? Alle, die Veränderungen fürchten müssen.«20 Kluges satirische Erzählung propagiert dabei keinen anti-juridischen Idealismus, der unter Umständen auch auf die sozial-romantische Feier menschlicher Verhältnisse im ›Milieu‹ hinauslaufen könnte, auf schaurig-schummrige Huren-Romantik – als ob es ein nicht-entfremdetes Außen inmitten der Gesellschaft geben könnte –, sondern sie plädiert für das Durchschauen sozialer Realitäten und deren Herstellung, das heißt, für gesellschaftliche Lernprozesse. Die Satire denunziert nicht einfach entrüstet repressive Exklusionsmechanismen, sie deckt in erster Linie die rhetorische Topik, die Klischees, gedanklichen Assoziationsketten und ›id8es reÅues‹ auf, mit denen das offizielle ›Weltbild‹ institutionell produziert und administriert wird. Literatur funktioniert als Selbstaufklärung von Gesellschaft über die Herstellung ihrer eigenen Realität. Deswegen entwickelt Kluge auch kein idyllisches Gegengesellschaftsmodell, sondern vertraut auf die Kraft kritischer Einsicht – auch auf Seiten der Justiz, die sich durchaus auch gegen die sozial und ökonomisch Stärkeren wenden lässt, wie die Geschichte von »Knautsch-Betty« beweist, die Alexander Kluge selbst als »Verschönerungsarbeit am Recht« charakterisiert hat.21 Es geht, nicht anders als im Fall Bettine G., um das literarische Umschreiben einer Rechtsprechung, der es an Fiktionsbewusstsein mangelt, das heißt aber : an Realitätsbewusstsein, nämlich am Bewusstsein davon, dass die Wirklichkeit nicht einfach zu sagen ist und dass das Reale sich stur und hartnäckig den Wörtern entzieht. Marc Petit hat diesen Umstand in seinem kleinen Essay »Ploge de la fiction« sehr schön beschrieben: Dem Realen […] kommt als allererste Eigenschaft diejenige zu, ungesagt zu sein und zu bleiben. Das Reale bleibt ungesagt, weil es jeder Art von Sprache, mit der man es zu nennen und zu begreifen sucht, vorhergeht. Zum Beispiel die Liebe, der physische Schmerz, das Berühren einer Rinde oder eines Steins, der Geschmack eines bestimmten Weines – nichts von all diesen Dingen und noch weniger ihre Kombination und ihre Berührung mit noch vielen anderen Dingen in einer Art von… sagen wir : Welt, Leben, Realität, egal –, nichts davon ist sagbar, nichts sprachlich ausschöpfbar ; ja nichts davon ist eigentlich benennbar. Kein Wort könnte nämlich seine eigene Abwesenheit sagen oder wie mit dem Finger auf eine Welt ohne Worte deuten. Kein Wort ist in der Lage, uns ein Gefühl davon zu vermitteln, wie eine Welt vor den Worten aussehen könnte. Das ist insofern befremdlich, als genau diese Welt ohne Worte unsere Welt ist, die Welt, die uns in jedem Augenblick entgegenschlägt. Das Wirkliche kommt ständig auf uns zu, seit unserer Kindheit glotzt es uns an, ungesagt, stumm, mit der Miene des groben Idioten, der uns zu verstehen gibt, dass er sowieso alles besser wüsste. Und dabei hören wir 20 Alexander Kluge, »Korti«, in: ders., Chronik der Gefühle. Band II: Lebensläufe, S. 816. 21 Vgl. Alexander Kluge, Chronik der Gefühle – Massensterben in Venedig, Hörspiel des Bayerischen Rundfunks, Bearbeitung und Regie: Karl Bruckmaier, BR 2009.
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nicht auf, es mit Worten zuzudecken, es irgendwie bewohnbar zu machen, ihm ein menschliches Gesicht zu geben, anders gesagt: es zu verraten und ihm den Rücken zu kehren. Dieses Wirkliche […] erscheint auf einen Schlag, um sofort wieder zu verschwinden und im nächsten Moment wieder neu aufzutauchen, noch bevor der Redner es sprachlich organisiert, womöglich erzählt hat, indem er zeitlich nach und nach, gemäß den Regeln der Syntax, den bunten Fächer der Wörter entfaltet. So lässt das, was klar auf der Hand liegt und was uns manchmal die Sprache verschlägt, bereits in unserem Kopf, noch bevor wir den Mund aufgemacht haben, einer fabelhaften Oper den Vortritt. Dieser bel canto stellt keinesfalls den Rohstoff unserer Erfahrung dar, vielmehr interpretiert und transfiguriert er sie, indem er ihr Form gibt. Tatsächlich legt er sich über die Erfahrung und ersetzt sie auf derart perfekte Weise, dass er in unserem Geist fast mit dem Realen selbst verwechselbar wird. […] Die Wörter sind nicht falscher, als das Reale wahr ist, auch nicht besser, auch wenn sie – und darin unterscheiden wir uns von anderen Lebewesen – uns anscheinend über die Natur erheben wollen. Sie lügen nur dann, wenn sie vorgeben wahr zu sein und an den Dingen zu kleben, anstatt sich als das zu geben, was sie sind: eine Fiktion, genauer gesagt: eine komplexe, zusammengesetzte Fiktion, die bis ins Unendliche hinein die harten, unaussprechlichen Konsonanten des Realen vokalisiert.22
Der Opernliebhaber Alexander Kluge ist neben Franz Kafka einer der wenigen, die das Recht nicht nur als System sozialer Gewalt beschrieben haben, was es zweifellos ist, sondern die in ihm zugleich auch den bel canto der Fiktion hören, der sich über das Reale des Lebens gelegt hat, um es sagbar und in seiner Gewalt erträglich zu machen.
22 Marc Petit, Ploge de la fiction, Paris 1999, S. 14–17.
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Zeitentzug, Sinnentzug – »Sinnlich sein heißt leiden«
Von Anfang an kennzeichnet Alexander Kluges Taten und Leiden der sinnlichen Kraft »die Beharrlichkeit im Unglauben ans Wahrscheinliche«. Die geschichtliche Realität ist ihm angefüllt mit »Möglichkeitssinn«. Eigensinnig fahndet der Seismograph Alexander Kluge danach1, verfolgt er »die Hektik […], in der sich Möglichkeitsverhältnisse verändern«2. So würde er schier das Unmögliche möglich machen, diese Chimäre zwischen möglich und faktisch, deren Zeitraum die Simultanität trägt.3 Solche Klugeschen Unmöglichkeits- und Möglichkeitsverhältnisse gilt es hier als Gabe und Entzug von Zeitgefühl und Sinnempfindung, von Fühlen, Empfinden, Sinnen, Denken auszumessen. Obwohl Alexander Kluge als Getreuer der Frankfurter Schule nicht gern definiert, versucht er es einmal mit Joseph Vogl: Kluge: Was heißt Zeitgefühl? […] Es ist nicht die physikalische Zeit, und es ist nicht die Zeit des Chronos, der dann Kinder frisst und die Zeit vernichtet. Vogl: Es ist nicht diese Zeit, aber sie besteht natürlich in geheimen Korrelationen zu dieser Zeit. Kluge: Es sind Kriege, die die Zeiten miteinander führen.4
1 »Alexander Kluge«, in: KLG 2005 (Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur), 81. Nachlieferung, Autor : Christian Schulte 2005, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text + Kritik https://www.zvab.com/buch-suchen/titel/klg-kritisches-lexi kon/autor/arnold/ [Letzter Zugriff : 1. September 2018]. 2 »Revolution ist die Antwort«, Gespräch Alexander Kluges mit Björn Eenboom, Frankfurter Rundschau, 05. 06. 2012, http://www.fr.de/frankfurt/campus/adorno-preistraeger-kluge-revo lution-ist-die-antwort-a-848285 [Letzter Zugriff: 15. August 2018]. 3 Dieter Hombach, »Katastrophentheorie und Psychoanalyse. Zur Topologie des Entzugs«, in: Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, hg. v. Georg Christoph Tholen / Michael O. Scholl, Weinheim: VCH (Acta Humaniora), 1990, S. 137–156, hier S. 142f. 4 Vgl. »Zeit ohne Raum«, ein Gespräch zwischen Alexander Kluge und Joseph Vogl, in: Science& Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, hg. von Thomas Macho / Annette Wuschel, München: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 241–261, hier S. 246.
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Zeitgefühl wird von Vogl und Kluge hier nicht als ein empirisches oder transzendentales Zeitbewusstsein geortet, sondern als Kriegsbild der Radikalisierung von Zeitenverhältnissen. Zugleich erkennt Kluge immer nachdrücklicher die Multiplizität von Aggregatsverhältnissen der Sinne, Gefühle, Leiber, Stoffe und Menschen an, denen »gravitative Kräfte« zufallen.5 Entstand dieses »Pluriversum« Alexander Kluges allmählich aus dem bewahrten »Geheimnis der verdunkelten Säle, Seele«6 ? Dann wäre die Wurzel von Sinn und Sinnlichkeit in erhöhter Intensität des Gefühls einer monadologischen Tradition entwachsen: »Die Seele ist die Monas, deren Äußerungen mannichfaltige Monaden sind – der Sinn, sit Venia Verbis, der die übrigen Sinne durch Centralpunkte activiert und vereinigt. Der Geist dirigirt diesen monadischen Sinn – Activiert und punctiert beliebig die Urmonas.«7 Schon für Herder war die »Eine Kraft der Seele« das sensorium commune, Totalorgan sinnlicher Empfänglichkeit, das sich in mannigfaltigen Gefühlsarten ausdrückte8, worin alle Empfindungen »in eins« flossen. Unweit davon werden bei Kluge die Emotionen plastisch als verdichtete ratio. Sinnen mündet als orientierungsfreudiges Denken in intellektuelle Anschauung beim »Bruch der Gefäße« (Anselm Kiefer). Einen solchen »Antirealismus des Gefühls« betreibt der »Lebensläufer« Kluge immerdar in den montierten Momenten seiner Text- und Filmkommentare, ja Kommentaren von Kommentaren – in jüngerer Zeit als Musikalisierung seiner Fernsehsendungen, die den Realismus der Bilder verändern.9 Antirealismus sei als »Echtzeit der Gefühle« in unserem sensorium des Nicht-Habens eingebaut. Das widerstreite einer gottverlassenen Realität, der Menschen gleichgültig seien: »Ein abwesender Gott wird durch Erzählung ersetzt. Dieses Erzählen ist eine Natureigenschaft.«10 Also zehrt jede Erzählung von diesem Widersacher des Sinnzwangs; der Hunger nach Sinn, den Kluge intensiv empfindet, soll dem »Aggregat Mensch« durch Haut- und Stoffnahrung gestillt werden. Kluge habe jedoch diesen Hunger einmal nicht mehr gestillt, seine Kunst Unterscheidungen zu machen die »Schächte in tiefere Sinnschichten« nicht mehr 5 Vgl. »Revolution ist die Antwort«, a. a. O. 6 Vgl. Alexander Kluge, Seen sind für Fische Inseln. Fernseharbeiten 1987–2008, Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2009, S. 185. 7 Friedrich von Hardenberg, Werke, Tagebücher und Briefe, hg. von Hans-Joachim Mähl / Richard Samuel, Bd. 2 (»Vorarbeiten 1798«, Nr. 245), Darmstadt, 1978, S. 372. 8 Vgl. Johann Gottfried Herder, »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«, in: Ders. Frühe Schriften,1764–1772, hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt am Main: 1985, S. 697–810, hier S. 746. 9 Alexander Kluge, in Astrid Deuber-Mankowsky / Giaco Schiesser, »In der Echtzeit der Gefühle. Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Wien: University Press, 2012, S. 414–425, hier S. 418. 10 »Revolution ist die Antwort«, a. a. O.
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gebohrt, welche die Differenz von Proportion und Protestgefühl erhalten. Dies warf ihm 2002 Verena Lueken vor : Die gefühlsstiftende unvordenkliche und doch hochmoderne Unterscheidung von heiß und kalt sei eher beliebig. Die rätselhafte »Gefühlsstruktur« sei nur durch den Willen des Autors verknüpft, für den jede menschliche Eigenschaft schließlich gefühlsfähig sei. Könnten wir sagen, dass die Arbeit Kluges an Gefühl und Sinn diese Diagnose des Jahrtausendanfangs Lügen straft?11 Kluges Erzählstrategie einer »Mobilisierung von Wahrnehmungsweisen und Gefühlen«, die vom herrschenden Bewusstsein »nach unten gedrängt« wurden12, hatte wahrlich in den Neuen Geschichten. Unheimlichkeit der Zeit von 1977 Früchte der ungeheuren Zeit gezeitigt. Die Lernprozesse mit tödlichem Ausgang von 1973, deren letzten Teil die gleichnamigen science-fictionalen Lernprozesse gebildet hatten, wurden in der Chronik der Gefühle von den übrigen Lernprozessen getrennt, gekürzt und erschienen als autonomer Teil, der futuristische kosmische Sinn- und Zeitentzug von den verhängnisvollen Lernprozessen auf der »Arche Erde« entkoppelt.13 Zur Unzeit des Gefühls sagte Kluge im November 1977 gleich nach Erscheinen der Unheimlichkeit der Zeit im Gespräch mit Rainer Lewandowski und Rainer Vasel: »Unheimlichkeit der Zeit« heißt: Ich kann mich in unserer Gesellschaft nicht niederlassen, sie ist in der Tat nicht heimelig; und das verheimlicht die Gesellschaft nicht, und das ist eine öffentliche Sache. Das Buch handelt von der Unruhe, die daraus folgt.«14
Des Kindes stechender Blick Eine Zeiträumlichkeit der Rache wird erprobt, die sich in der Neuen Geschichte »Rachegefühl als Freizeitthema« in Unheimlichkeit der Zeit dialogisiert und verzweigt.15 Wobei »Freizeit« zugleich als Befreiung der Zeit und von Zeit zu deuten wäre, sich aber ironischerweise gegen sich selbst kehren wird. Die »Unschärferelation« zwischen Zeit und Gefühl, Sinn(en) und Zeit, der Zeitentzug und Sinnhunger, das »Mehr als fünf Sinne« eines Lessing, eines Feuerbach, eines
11 Vgl. Verena Lueken, »Gefühle aus der Ursuppe«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05. 07. 2003, 1, S. 44. 12 Ebd. 13 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. II, Frankfurt am Main: 2000, S. 827–920. Davor, jetzt von den »Lernprozessen« durch die »Lebensläufe« getrennt, »Massensterben in Venedig« (S. 455–671). 14 Rainer Lewandowski/ Rainer Vasel, »Zeit der Rache? Gespräch über Terrorismus und Dokumentar-Literatur«, Gespräch mit Alexander Kluge, Die Zeit Nr. 52, 16. Dezember 1977, S. 39. 15 Chronik der Gefühle II, S. 156–159. Vgl. den Text in diesem Jahrbuch.
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Marx, eines Rudolf Steiner werden von einer Gruppe junger Forscher des Frankfurter Instituts für Sozialforschung am Beispiel der Rachezeit ausgelotet.16 Es stehen hier hart empfundene vergeltende Notwendigkeit und gelinde Freiheit der Wahl in einer Spannung, aus der das Blitzbild einer intensiven politischen Ökonomie des Gefühls entsteht. Die »ungeheure Warensammlung« von Marx’ Kapital wird durchgängig parodiert – wiederholt in experimentierender Transposition. »Die Arbeit der fünf Sinne«, schrieb Kluge 1975, »das sinnliche Produkt der Weltgeschichte, ist durch einen ganzen Überbau von Gehirn-Sinnlichkeit überlagert.«17 Die jungen Forscher, denen ebendiese Sinnlichkeit nicht fremd ist, werden paradoxerweise versuchen, mit deren Hilfe der Arbeit der »fünf Sinne« sich hinzugeben, den Überbau versuchsweise abzubauen. Tastend wird der Marxsche Warenwert auf einen zu erfindenden Gefühlswert übertragen, verdichtet und verflüssigt sich zugleich als hypothetische, nicht zu unterscheidende »Rachequanta« in einer zu entziffernden Hieroglyphe des Rachewerts. Diese hält der Chiffre des Warenfetischs die Waage, Marx’ politische Ökonomie der »untoten« Arbeitskraft soll in eine der lebendigen verwandelt werden. So wird eine »Anthropogenese des Rachegefühls« als »reines Quantum des Rachewertes« skizziert. Wie einst Karl Marx in der British Library macht sich der Jungforscher Hinrichs auf die Suche nach dem »einfachsten Element«, bahnt sich einen Weg zur Wurzel – »Wurzel = Radikalität«, das heißt: Mensch, frei nach dem jungen Marx.18 Dabei erinnert er an eine von dessen Kernstellen, die eine vollendete Reduktion des menschlichen Sinnenwesens als Bedingung seiner Selbsterneuerung hervorhebt: »An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten. Auf diese absolute Armut mußte das menschliche Wesen reduziert werden, damit es seinen inneren Reichtum aus sich herausgebäre.«19 Damit wurden nach Moses Hess der Sprache die Zeiten entzogen, »aus den Hülfszeitwo¨ rtern Hauptwörter«!20 Marx’ entsinnlichter »Sinn des Habens« erweitert sich bei den »symphilosophierenden« jungen Frankfurter Forschern zur nachempfundenen »Sinn-
16 Je genauer man den Ort eines Teilchens in der üblichen quantenmechanischen Beschreibung festlegen will, umso größer wird die Unschärfe des Impulses – und umgekehrt, so Werner Heisenberg. Je genauer der jeweilige Forscher die Zeit der Rache zu bestimmen versucht, desto unschärfer wird das Rachegefühl, und umgekehrt. 17 In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. von Christian Schulte, Berlin: Verlag Vorwerk 8, 1999, S. 123. 18 Chronik der Gefühle II, S.158. 19 Karl Marx, in: Marx / Engels, Werke (MEW), Bd. 40, Ergänzungsband 1. Teil, Berlin: Dietz Verlag, 1968, S. 541. 20 Ebd. Die Anmerkung der Herausgeber zur »Kategorie des Habens« (Anm. 317, S. 674) zitiert hier aus Moses Hess’ »Philosophie der Tat« (1843).
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lichkeit des Habens«21. Aus derselben Quelle entspringt eine »Sinnlichkeit des Nichthabens«22. Hinrichs ermisst hier »die Qual des Restdaseins, die Gier der Summierung«, skizziert eine hypothetische Untrennbarkeit von Gefühl und Zeit. Aus dem radikalen Protestgrund, der Qual, entsteht das »Produktionsverhältnis« Rache: »Produktionsverhältnis – und das ist doch ›Zeit‹ (denn das geht nicht, dass wir in Nichtzeiten Gefühle produzieren, die brauchen Zeit, nehme ich die Zeit weg, nehme ich auch das Gefühl weg).«23 Auf der Suche nach einer nicht unsinnlichen Deduktion von Racheflechten, entflechten sich von Grabbe zu Hinrichs, von Hinrichs zu Putermann Irrfäden aus Zeit und Gefühl, Hunger nach Rache, Hunger nach Langmut. Marx, der in seiner Dissertation über den Epikureismus die Zeitigung von Sinnlichkeit begeistert und sorgfältig registriert hatte, ließ dann in seinen »ökonomisch-philosophischen Manuskripten« den fünf menschlichen Sinnen Gerechtigkeit widerfahren, »teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt […] mit einem Wort (!) der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne«.24 Unweit von Kluges »zärtlicher Kraft der Liebe« entfaltet Marx seinen Möglichkeitsbereich: »Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben«. Mit ihm wetteifert in »Rachegefühl als Freizeitthema« die Forschergesellschaft, bringt den Sinn gleichsam von Sinnen: »Und dann die Hirnsinne, ich zähle davon 15 und die kulturellen Programmsinne… Grabbe: Oder Kultursinne (gekocht, roh, naturschön…)«. Noch deutlicher als bei Marx wird die alte Hierarchie im Sinnenreich untergraben25, die längst nicht mehr nur menschlichen Sinne erfahren sich als lauter Möglichkeitssinne, denen spätestens Lessing eine offene Zukunft zugesprochen hatte: »Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können«!26 Das Maß, die Ordnung nach denen die Seele, ein 21 Unsere Hervorhebungen. 22 Unsere Hervorhebung.– In der Neuen Geschichte »›Sinnlichkeit des Habens‹. Die ganze Gerda muß es nicht sein« (Chronik II, S. 200f.) begegnet dieser Sinnenarmut unter der »aparten Gestalt« Gerdas eine diskrete aber üppige Sinnlichkeit des Nicht-Habens, die den Armen durch Gehör, den einst »edlen« Sinn, und Geruch, den ehemals »niedrigen« Sinn, den »seltenen Sinn der Singularitäten« (Michel Serres), verstört und betört. Hier zeigt sich aber, dass Sinnlichkeit des Habens nicht umhinkann, Sinnlichkeit des Habens zu sein. 23 Ebd., S. 158. 24 MEW, a. a. O., S. 541f. 25 Vgl. Michel Serres, Les cinq sens. Philosophie des corps mÞl8s I. Paris: 1985. Deutsch von Michael Bischoff, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und der Gemische, Frankfurt am Main: 1994. 26 Gotthold Ephraim Lessing, Theologiekritische und philosophische Schriften, Werke Bd. 8, München: 1970ff., S. 557–560, § 3: »Wenn sie [die Seele, ein »endliches Wesen, unendlicher Vorstellungen fähig«] ihre Vorstellungen nach und nach erlangt, so muß es eine Ordnung geben, nach welcher, und ein Maß, in welchem sie dieselbe erlangt.«, § 4: »Diese Ordnung und dieses Maß sind die Sinne.«, §5 »Solcher Sinne hat sie gegenwärtig fünfe. Aber nichts kann uns bewegen zu glauben, daß sie Vorstellungen zu haben so fort mit diesen fünf Sinnen angefangen habe.«
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»endliches Wesen, unendlicher Vorstellungen fähig«, diese Vorstellungen erlangt, das sind für ihn die Sinne.27 Aus der aufgezwungenen Armut der Sinne destilliert die Forschergemeinde also die unreduzierbaren »Reststücke, die nicht ins Haben passen«.28 Es ist dies Erfahrung des Un-Sinns, der die Not empfindet, nicht in Not zu sein. Die verdinglichten Verhältnisse knechten die Sinne, die dann trotzdem das Joch brechen.29In »Babylonischer Gefangenschaft« seien die massiv unterdrückten Gefühle vor achthundert Jahren ins Reich des Unsagbaren relegiert worden, ihrer ursprünglichen Kraft beraubt. Mit dem Tausch und der Entführung der Frauen aber seien sie wiedererstanden, wie bei Iphigenie und Agamemnon: Gefühle können unterscheiden. Das ist den Menschen und unserer Gattung mitgegeben, dass sie zwischen heiß und kalt, zwischen stößt mich ab und zieht mich an, zwischen Glitzern und dem ersten Gesicht meiner Eltern, das ich in mir aufgenommen habe, zwischen inneren Bildern und äußeren Bildern, also zwischen tausenderlei und einem Unterschiede machen können.30
Nun werden Zeit und Gefühl einander gegenübergestellt. Braucht die Zeit die Verzweigung der Gefühle, so braucht das Gefühl die zeitliche Entfaltung. Das Gefühl ist ja kein Augenblickswesen, dem coup de foudre oder dem coup de feu gleich, sondern erheischt seine »imaginäre Werkstatt«. Ist solche »Entgegnung« möglich? Angesichts der Verwandlung des Warenwerts in Arbeitswert, des Arbeitswerts in Gefühlswert, entkoppelt Putermann in einem Anakoluth das übrige Gefühl von der übrigen Zeit: »Gefühl und Zeit kommen nicht zusammen, und wenn ich jetzt […] Rache definiere als das Zurechtrücken unrechter, verzerrter Verhältnisse […].«31 Die Runde umzingelt die allerletzte Hieroglyphe der lebendigen Sinneskraft in pathetischer, aporetischer Suche nach den »bits« der Racheenergie. Diese »Leidenseinheiten« und »Protestwerte« würden sie zu einem intensiven Kalkül der Rachequanten verleiten, deren vorherige Kenntnis jedoch zur Entzifferung eben jener Leiden und Proteste nötig wäre, ein endloser Zeitreigen. So übernehmen sie die von Kluge geforderte »Unterscheidungen herstellende Faktorenanalyse der Gefühle«, versuchen eine Verwandlungslehre der Gefühle32 : Zugleich aber betreiben sie eben die »Wert-abstraktionen« weiter,
27 Ebd. 28 Chronik der Gefühle II, S. 158. 29 Vgl. dazu Rudolf Kersting, Wie die Sinne auf Montage gehen. Zur ästhetischen Theorie des Kinos/ Films, Frankfurt am Main: Strœmfeld/Roter Stern, 1989, S. 110. 30 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle (Filmbuch), Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1984, S. 183 (»Gefühle können Berge versetzen«). 31 Chronik der Gefühle II, S. 158. 32 Alexander Kluge in »Die Macht der Gefühle. Geschichten, Gespräche und Materialien von
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die nach Kluge Hierarchien der Wahrnehmung aufrechterhalten: »Diese Sinne sind von da ab stumm, und ich arbeite jetzt nur noch in Werten.«33 Trotzdem versuchen die »Wissenschaftler« nun, die paradoxe Zeit der Racheundinge zurückzuverfolgen. Im liliputanischen Raum getrennt, der sie vereinigen sollte, in der mikro- und makroskopischen Zeit vereint, die sie trennen sollte – »was im Verbundenen getrennt ist, ist Raum, was im Getrennten verbunden ist, ist Zeit« (Novalis) –, erforschen sie die Energetik von Anschauungsund Reflexionsfiguren durch eine selbstironisierte »Thermodynamik« der »verdichteten Form des Protestgefühls«, des Erleidens und des Rächens: »Weder explodiert das Leiden, noch versammelt es sich in einem großen modernen Tragödienstoff, noch… Nun verschwindet aber Energie nach dem Energiesatz niemals. Laienhaft, erwidert Grabbe, das mit dem Energiesatz.«34 »Die Männer empfanden gemeinsam« in dieser Freistunde, heißt es einmal in frühromantischer Manier35, um so intensiver, als sie vom »Verfallensein der Zeit an die Logik des Prozesses« wissen, einer kontinuierlichen Zeit ohne (Zeit-)raum, immer an ihr eignes »Nach« gedrängt»36. Mit den Männern aber sitzt hier im Caf8 Bauer auch Billie, die Freundin Putermanns, eines Mannes, der »momentan wie ein Mensch« wirken kann (156), meist aber in paradoxer Sinnesarmut dem Unsinn des Habens verfallen ist – und für Kluge kann ja »Unsinn« gleich »unsinnlich« sein.37 Billies Los, Zeitlosigkeit, öffnet ihr zweimal das »Gefäß« des Sinnbildes und Sinnspruchs. Zunächst erlebt sie in ihrem Sinn für starke Bilder die »ursprüngliche, unendliche Äquivozität des Signifikanten« als psychische Subversion des eingefahrenen Jargons ihrer Tischgenossen, setzt sie die metaphorische Kraft der »animalit8 de la lettre« in der Diskussion ein, wie sie in dem Wort »Kinderaufzucht« anklingt.38 Dieser Vergleich ihrer fremdbestimmten, zerstü-
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und über Alexander Kluge«, in: Ästhetik und Kommunikation, 53/54 (»Gefühle«), 1983, S. 168–202, hier S. 192. Kluges Gespräch mit Ulrich Gregor, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, a. a. O., S. 234. Chronik der Gefühle II, S. 158. Ebd. S. 157. In seinem Artikel »Gefühl / Empfindung« im von Barbara Cassin herausgegebenen Vocabulaire europ8en des philosophies (Paris, 2004) weist Jean-Pierre Dubost nach, wie aus der anfänglich bedeutsamen Unterscheidung zwischen »Gefühl« und »Empfindung« im 18. Jahrhundert eine bloße Variation wurde (S. 475–480). Kluges differenzierter Gebrauch der beiden könnte wie etwa bei Hubert Fichte oder früher bei Hölderlin eine Wiederbelebung dieses relevanten Unterschieds bedeuten. Jean-Luc Nancy, Une pens8e finie, Paris: Galil8e, 1990, S. 38. »Kino ist Unsinn: nämlich unsinnlich insofern, als wir Teilstücke verfilmen, d. h. sinnlich kalt sind gegenüber dem Nicht-Verfilmten. (Alexander Kluge, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, a. a. O., S. 138: »Umgang mit Unsinn im Kino«.) Ebd., S. 159, Anmerkung 50. Vgl. Jacques Derrida, L’8criture et la diff8rence, Paris, 1974,
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ckelten Zeit mit der Anstalt der Lebensmittelkarten entbehrt zwar noch der »eigenen Anschauung«39, versinnlicht sich aber durch die Vision des Feuersturms auf Frankfurt, während sie »mit ungeheurer Intensität einfach wartet«, ihren eigenen, still wütenden Feuersturm erleidet. In der Unheimlichkeit der Zeit von 1977 wird Billies »Metapher« durch ein Foto der Austeilung von Lebensmittelkarten an die Opfer des Bombenangriffs auf Frankfurt »am 4. Oktober 1943« bebildert. Es kommt zu einem Verhältnis zwischen der Notzeit des Kriegszustandes und der mit »Intensität alltäglicher Gefühle« empfundenen Zeitnot. So dringt die starke Metapher wiederum als Entzug und Gabe in das Freizeitgespräch ein.40 Für Kluge ist ja Metapher »die Form, die durch eine unerträgliche Erfahrung in ein Gefäß gefüllt wird, mit dem wir umgehen können.«41 Dann löst Billie in einer langen Fußnote eine Erörterung der unmöglichen Erzeugung von »Zeitgefühl der Rache« aus. Wiederum in Unschärferelation entsteht ein Entweder/Oder : von »Gefühlszeit«, bei der das Gefühl nie Bestand erhält, und Gefühl, das in Zwischenzeiten, »außerhalb der Zeit« verharrt.42 Auslöser dieser Faktorenanalyse ist der angeschaute Zwischenfall eines »stechenden« Blicks – Billies Vision eines Kindes, das von seiner Mutter »mit Liebe beblickt« wird43, was als augenentziehender Angriff »auf den Tod« erlebt und von den Frankfurtern als »mütterlicher Überfall« bewertet wird.44 Das Bild löst sich einer Netzhaut gleich von sich selbst ab; der Zwischenfall wird, so Putermann, das Kind lebenslänglich daran hindern, seine Zeitlichkeit und sein Gefühlswesen in der Geborgenheit eines Zeitgefühls zu versöhnen.
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S. 109f., zitiert von Geoffrey Bennington, in: »M8taphore, m8ta-force«, in der Zeitschrift Rue Descartes, 2016/2 (Nr. 89–90), S. 13–20, hier S. 14. Chronik der Gefühle II, S. 156, Anmerkung 47. Vgl. Alexander Kluge, in: »Die Macht der Gefühle. Geschichten, Gespräche […]«, a. a. O. S. 172; Alexander Kluge, »Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle«, in: Alexander Kluge, hg. von Thomas Böhm-Christl, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 310–319. Vgl. auch Thomas Combrink, »Alexander Kluges Metaphernwelt. Mit Blick auf die Überlegungen Hans Blumenbergs«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch 2 (»Glass Shards. Echoes of a Message in a Bottle«)), 2015, S. 171–178. Alexander Kluge im Gespräch mit Florian Rötzer, in: »Die Rettung der Bilder durch ihre Zerstörung«, Frankfurter Rundschau, 3. Dezember 1988, S. ZB 2 des Feuilletons. Unsere Hervorhebung. Unsere Hervorhebung der Partikel. Chronik der Gefühle II, S. 160, Anmerkung.
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»Dem gleich ist gefangen die Seele der Helden«45 Grabbe zitiert: »Die menschlichen Tränen sind Äquivalent, / des Ozeans, der die ersten Augen reinigte!« – Verse, die von dem gleichnamigen Verfasser des Hannibal stammen könnten – um damit die »Wut« als Wurzel des Rachegefühls zu entmachten. Zugleich deutet er eine unheimlich verschränkende Proportion von Natur- und Menschengeschichte, von Leiden und Selbstgefühl an. »Wo bleibt das aber?«, fragen sich die »Wissenschaftsgenossen«. Eine solche Urgleichung geistert zum Beispiel durch die Irren und Wirren aus Sinnentzug und Sinnaufgabe in der Neuen Geschichte Alexander Kluges von 1977»Bertrams Proportionsgefühl«46. Die Macht der genauen unangreifbaren Zahl gehört von Anfang an zur Selbstwahrnehmung von Hauptmann Bertram, der sein Urvertrauen den Proportionen schenkt, die durch Zahlen walten: »Bertram trat am 1. 4. 1923 in das 7. (preuß.) Reiterregiment in Breslau-Kleineburg ein, 1. Eskadron, die die Tradition des Leibkürassier-Regiments Großer Kurfürst (1. Schles.) Nr. 1 fortführte.«47 Sein Lebenslauf ist keine einfache Lebenslinie, sondern beginnt mit einem pythagoreischen Wurf. Der Eins, der Primzahl, die nur durch sich selbst teilbar ist, folgt hier unmittelbar die 4, eine gerade Zahl, für die Kluge empfänglich ist.48 So die 4 der geschichtstötenden apokalyptischen Experten der Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, der vierten Potenz von Zwickys Thermodynamik, diesem Zwicky, der dem Raumtöter Zwicki der Lernprozesse wohl seinen Namen lieh49. In der Geschichte »Massensterben in Venedig« gehen 24 Greise an der zerdrückenden Hitze in ihrem Altersheim zugrunde, indes die Überlebenden einen blutigen Aufstand verüben.50 Bertram selbst werden in Stalingrad gerade 4 geschädigte Panzer übrigbleiben. Die 16 Panzer seiner neuen Einheit werden zwar in der ungeraden Anzahl 3 in Rom ankommen, ihre 4 x 3 Granaten aber, die er seiner empfundenen mathesis universalis gemäß auf einen Museumsbau schießen lässt, reinigen ihm die »tausend Augen« der Gefallenen, die er im Missklang des Schmerzes mit sich trägt.51 Die Kälte, der wir nach Kluge alle entstammen, bildet den Maßstab seiner Maßverhältnisse. In einem Chiasmus begegnen sich 45 Friedrich Hölderlin, »Der Einzige«, erste Fassung, in: F.H., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Günter Mieth, Berlin-Weimar-München: Carl Hanser Verlag, 1970, v. 103, S. 372. 46 Chronik der Gefühle II, S. 18–22. 47 Ebd. 48 Vgl. Renee Zucker, »Die Verschwörung der Dinge«, Gespräch mit Alexander Kluge über seinen Film Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit, Die Tageszeitung, 30. Oktober 1985, S. 11f. 49 S. die nachfolgende Sequenz dieses Beitrags: »an der Unendlichkeit zu scheitern?«. 50 Chronik der Gefühle II, S. 461–463. 51 Vgl. Detlev Martin Linke/ Martin Kurthen, »Zur Philosophie der Zahl. Über Einklang und Schmerz«, Spuren 29, Oktober 1989, S. 18f.
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ontischer Grund und sinnendes Gefühl, bestehende Missverhältnisse und empfundene Proportionen, bilden eine Konversionstafel von Grundgefühl und Verhältnisproportion: »Stichworte: ›Grundverhältnis‹, ›Proportionsgefühl‹: Für zerschossenen Oberarmknochen 26 RM, für Brustschuß gar nichts […] für kulturellen Oberarmknochen […]: 6 Millionen RM Versicherung.«52 Bertrams Lebenslauf beginnt eigentlich erst mit dieser zahlenmäßigen Einschreibung in die Armee, seiner vierjährigen (!) Zeit als einfacher Soldat, seinem Aufstieg zum Offizier. Hinter ihm ist der Panzerblitzkrieg zu vermuten, bei dem Zeit- und Rechtsgefühl, Sinn und Sensorium durch siegreiche Vorzeitigkeit im Einklang waren; dann die unsinnige Kälte im tödlichen »Stillstand« des Kessels, der Schwund des Panzerzahlenwerks und »Verlust seiner Leute«53. Stalingrad, das heißt die Form des menschlichen Gehirns, auch die Eiskappe kehren sich gegenseitig durch einen Spiegeleffekt um, in dem die Intelligenz unter der Not der Eiszeit schrumpft.54 Danach entkoppeln sich ihm Zeit und Raum in einer Art von Wettkampf zwischen Bewegungszwang und widerständigen Gefühlsaggregaten – besitzen Gefühle ja selber ihre Lebensläufe.55 Einen weiten Bogen beschrieb Bertram von Nordost bis Südost, Südost bis Südwest, dann bis Rom, um schließlich bei Milan durch Feuer zu ›verenden‹ ohne das Sterben zu vermögen. Verglüht er »in einem Katarakt der Zeiten« mit ihren an Interferenzen erinnernden Lagern und Lücken (Siegfried Kracauer)?56 So reißt auch das »Zeitgefühl der Rache« ab, das Kommissar Pfuller in der gleichnamigen Geschichte in Kluges Unheimlichkeit der Zeit als komplexe, zerklüftete Zeit und zertrümmerte Laufbahn antrieb.57 Eigensinnig versuchte er unzählige Jahre die Prostituierte Mucki Schäfer zu rächen – denn lang »ist die Zeit, es ereignet sich aber das Wahre« (Hölderlin, »Mnemosyne«). Dem Rachegefühl eignet eine seltsam unchronologisch gebeugte Logik der Zeitlichkeit,
52 S. 19, Anmerkung 1. Unsere Hervorhebungen. 53 Chronik der Gefühle II, S. 19, Anmerkung. 54 Vgl. Rolf Günter Renner, »Hirn und Herz. Stalingrad als Gegenstand ideologischer und literarischer Diskurse«, in: Stalingrad. Ereignis. Wirkung. Symbol, hg. v. Jürgen Förster, München: Piper, 1992, S. 472–492, hier S. 483. 55 Vgl. Jens Birkmeyer, »Nahe Fernwirkungen des Vergangenen. Alexander Kluges autobiographische Anamnese in ›Kongs große Stunde‹«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch 3 (»Formenwelt des Dialogs«), hg. von Christian Schulte / Winfried Siebers / Valentin Mertes / Stefanie Schmitt, Göttingen. 2016, S. 13–38, hier S. 18; Andreas Becker, »Die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe. Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle«, Ebd. S. 101–118. 56 Zit. in: Buhs Buhs [sic], Hg., Stehende Gewässer. Medien der Stagnation, Einleitung der Herausgeber (Jan Behnstedt, Christina Hünsche, Alexander Klose, Helga Lutz u. a.), ZürichBerlin: Diaphanes, 2007, S. 8. 57 »Das Zeitgefühl der Rache«, in: Chronik der Gefühle II, S. 390ff.
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die daran erinnert, dass für Pythagor logos das Wort für Proportion war58 : »Die Zeit der Rache ist kürzer als die Zeit des Kapitulierens, aber länger als fast alle übrigen Zeiträume, allerdings noch kürzer als das Leben eines Baumes oder bestimmter Schildkröten oder Karpfen.«59 Bertram aber ist zur Diskrepanz des »ehe«, zum Entzug des »gleich« verurteilt. »Ehe«, der Zeitvorstoß, den Musil als eine erzählerische Unmöglichkeit betrachtete, stößt die Kantsche »transzendentale Apperzeption« ab, die gleich dem »Ich« für das Zeitgefühl sinngebend ist: »Bertrams inneres Proportionsgefühl, das ist das, was seine Person unveräußerlich begleitet und auch, wenn er schläft oder große Fahrstrecken, ohne viel Blicke zu empfangen, zurücklegt, dicht aufbleibt.«60 Mit dem umstrittenen »letzten« Vers von Hölderlins Mnemosyne, der den zweiten Teil der Geschichte betitelt, schießen im intensiv geringen Wort gleich, Bertrams Zeit- und Sinnentzug, Proportionsgefühl und Übermaß zusammen: »Dem gleich fehlt die Trauer.«61 Indem der Erzähler in der Fußnote die polemische Deutungsgeschichte der Textstelle eigens hervorhebt, entzieht er Hölderlins Zweisilber »fehlet« das »e«, macht ihn zum Einsilber, so dass der Vers jetzt im Gleichmaß alterniert. Jedoch kann das »Gleich« überbetont, zum Nomen eines Verses mit Hebungsprall werden, Ungleichheit einflößen. Hat Bertram dem Hölderlinschen, Homerischen Helden gleich– Ajax, Achill? – nicht »die Seele sich schonend / Zusammengenommen«, und »muß doch«62 ? »Dem gleich ist gefangen die Seele der Helden«, schrieb Hölderlin in »Der Einzige«63. Begeht hier Trauer einen »Fehl«, ist sie fehl am Platze, oder »fehlt« sie, indem sie sich entzog, so dass die Unfähigkeit zu trauern ihren Sinnzwang ausübt? Nach »Gleich« hatte übrigens Hölderlin im Homburger Folioheft einen Punkt gesetzt.64 Birgt es bei Kluge, je nach der Art des Meinens – Zeitangabe, Gleichniswort, das Handgelenk
58 Vgl. FranÅoise Dastur, Dire le temps. Esquisse d’une chrono-logie ph8nom8nologique, FougHres: encre marine, 1994, S. 43. 59 Chronik der Gefühle II, S. 392. 60 Ebd., S. 19. 61 In der Fußnote 2 S. 20 verweist der Chronist auf das Manuskript des Gesangs, wie es 1975 die Einleitung D.E. Sattlers zur »Frankfurter Ausgabe« bahnbrechend einbrachte. 62 Friedrich Hölderlin, »Mnemosyne«, Vers 51, in Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe Einleitung (D.E. Sattler), Frankfurt am Main: Roter Stern, 1975, S. 68. 63 Friedrich Hölderlin, »Der Einzige«, erste Fassung, in: F.H., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Günter Mieth, Berlin-Weimar-München: Carl Hanser Verlag, 1970, v. 103, S. 372. 64 Vgl. Roland Reuß, …/ Die eigene Rede des andern; Hölderlins »Andenken« und »Mnemosyne«, Frankfurt a.M.: Stroemfeld / Roter Stern, 1990, S. 694, Anm. 954; Wolfgang Klimbacher, »Dem gleich fehlt die Trauer. Die ›Schlachtbeschreibung‹ und Hölderlin«, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft, 1991, I. Halbband., S. 25–34; Hans-Dieter Jünger, Mnemosyne und die Musen. Vom Sein des Erinnerns bei Hölderlin, Würzburg: Königshausen und Neumann, 1993, S. 264–271.
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auf Schwäbisch (Adelung), Gleichung, Identität… – elementare Katastrophen im Sinne Ren8 Thoms? Er war auch insofern kein Gleich, als ihm eben nichts an dem, was er erlebte, gleich war, sondern sein Unterscheidungsvermögen war die Wurzel des Proportionierungswunsches: diese Lustwiese in italienischer Landschaft der Trümmerstätte im nördlichen Vorfeld von Stalingrad gleichzusetzen.65
Das »Gleich« wäre gleich einem unwahrscheinlichen eingeschlossenen Dritten zwischen der »Stätte« Stalingrad und dem Museum in jenem Juli 1943, unweit der Milvius Brücke, wo am 28. Oktober 312 Constantin den Maxence vernichtete unter dem Zeichen der Zahl Vier, des Kreuzes, das ihm den Sieg vorankündigte. Es ist, als ob die Holzbrücke damals nicht eingebrochen wäre neben der Steinbrücke, Maxence und die seinen dem Tiber anheimgebend. Dort »wütete« Bertram an jenem besonnten Sonntag, indem er jedoch alles mögliche Menschenleben schonend einen erweislich leeren Museumsbau mit seinen Granaten »beschoß«: »denn Bertrams Wut war nicht blind, er erschien vielmehr zu dieser Stunde besonders besonnen.«66 Käme die glattmachende Wut des »Helden« im Lebenslauf von 1977 dem irgendwie nahe, was Georg Baselitz und Alexander Kluge in ihrem gemeinsamen Buch von 2017 »weltverändernden Zorn« nennen?67 Denn weit davon entfernt, »wie von Sinnen« zu sein, zeugt hier Bertrams Erscheinung vom Vermögen, das nach Herder dem Menschen erlaubt, nicht nur zu erkennen, zu wollen, zu »würken«, sondern auch zu wissen, dass er es tut: »Besonnenheit«. Solche sinnende Disposition als Bedingung der Möglichkeit von Reflexion wäre jener verwandt, die nach Kluge eine »linke Energie von rechts« des Blitzkrieges begleitete.68Als rächendes Mikroelement wäre dann der menschliche Gleichmacher der »Quittung der Götter« unheimlich nahe, wie sie die Kraft der massakrierten Indios am Weihnachtstag einer »Schlammflut« als kosmische Restitution beschwört: »Es gibt ein GLEICH unter den Elementen. Einen Umwälzer gibt es, der euren Umwälzer überdauert (die Vergewaltiger, Kreuziger, Händler, Mordbrenner, Buchhalter).«69 Davon finden sich bei der Analyse von Bertrams Ge65 Chronik der Gefühle II, S. 20. 66 Ebd. (Unsere Hervorhebung des Beschusses durch die Partikel be-). 67 Georg Baselitz/ Alexander Kluge: Weltverändernder Zorn. Nachricht von Gegenfüßlern, Berlin: Suhrkamp, 2017. Siehe Andreas Köhler, »Wer zürnt, hat ein Ziel, wer wütet, nur Wut«, in: NZZ, 5. Juni 2018. https://www.nzz.ch/feuilleton/wer-zuernt-hat-ein-ziel-wer-wuetetnur -wut-ld.1390618 [Letzter Zugriff : 1. September 2018]. Vgl. in diesem Jahrbuch Helen Müllers Beitrag, »Zur Schärfung eines Begriffs anhand von Alexander Kluges jüngster Zusammenarbeit mit Georg Baselitz: Weltverändernder Zorn. Nachricht von Gegenfüßlern«. Siehe auch Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2006. 68 Vgl. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 719. 69 Alexander Kluge, »Weihnachten als rächende Gewalt«, in: Chronik der Gefühle I, S. 979f., hier S. 980.
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schichte einige Indizien – sei es nur die umstrittene Suche von Bertrams Sohn, der im Institut für Sozialforschung arbeitet, nach dem unterschwelligen Weiterleben einer Rache, die »etwas Körperliches ist, das aber mit dem Körper nicht untergeht«?70 Diese Deutung scheint im Jahre 2009 Alexander Kluge kaum zu teilen, wenn er im Gespräch mit Thomas Combrink die offensichtliche Gewalttätigkeit des Stalingrad-Heimkehrers Bertram eigens hervorhebt: Die ihm entzogene Zeit lasse ihn nicht los, seine Museumstat zeuge »von genauso konsequentem wirren Sinn […] wie bei Idomeneo, an dessen Sohlen das Unglück seiner Taten von Troja klebt.«71 Es ist, als ob in Bertrams »Sinn« die Gegenkräfte der »thymotischen Energie« (Peter Sloterdijk), des Zorns, unseres ambivalenten »Urgrunds«, in Kluges Deutung außer Kraft gesetzt wären. Den Gefühlen in ihren »ungeheure[n] Ausgleichsbewegungen«72 wäre in Bertrams Innerem das Unmögliche nicht mehr möglich. Weder explodiert Bertrams Leiden – die »Rache« ermöglicht keinen abreagierenden Gefühlsausbruch – noch versammelt es sich »in einem großen modernen Tragödienstoff« – vielleicht noch im Gedicht? Die vielgenannte Grundlage aller Gefühle, die Unterscheidung zwischen heiß und kalt, wäre ihm durch Erstarren im Eisgarten abhandengekommen. Hätte Bertram immerdar Sehnsucht nach dem Stalingrader Eis? »Nietzsche spricht von der ›Lust, im Eise zu leben‹ und der ›Vergletscherung der Seele‹«.73 Wäre dann für Bertram bei ständiger Nähe zu seinem »Kältetod« keine Hoffnung »feurig geworden«?74
»an der Unendlichkeit zu scheitern?« »Menschenfeindliche Kälte / Die ›gescheiterte Hoffnung‹« nennt sich eine lange Sequenz aus Kluges Fünftem Buch (S. 227–271).75 Sie steht unter dem Zeichen der Fusion aus Verwechslung zweier Eislandschaften Caspar David Friedrichs: der verschollenen von 1822, »Die gescheiterte Hoffnung«, der erhaltenen »Das Eismeer« von 1824. Dem Aggregat der beiden widmet Kluge seine Geschichte
70 Chronik der Gefühle, S. 21 (IV). 71 Thomas Combrink, »Die Stunde Null als ›Zeitmaß der sich überstürzenden Ereignisse‹. Alexander Kluge im Gespräch mit Thomas Combrink«, in: Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Materialien zur Ausstellung, hg. von Bernd Busch/ Thomas Combrink, Göttingen: 2009, S. 289–300, hier S. 292. 72 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle (Filmbuch), Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1984, S. 181. 73 Alexander Kluge, Das fünfte Buch Neue Lebensläufe, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012, S. 247. 74 Ebd. S. 227. 75 Ebd.
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»Das Eismeer«76, unsichtbar bleibt das Bild selbst. »Menschenfeindliche Kälte« ist zugleich welterhaltend, stammen wir doch alle »aus der Eiszeit«.77 Schon seit den frühen siebziger Jahren scheint »Eismeer / Zertrümmerte Hoffnung« dem Eiskessel von Stalingrad entronnene Soldaten als unsichtbares Bild zu begleiten: Hauptmann Bertram, noch radikaler aber die »vier Experten« Zwicki, von Ungern Sternberg, Boltzmann und Dorfmann in den Lernprozessen mit tödlichem Ausgang von 1973. Alle werden sie das Leiden an der Kälte austragen in extremen Experimenten des ausweglosen Sinnentzugs, Zeitentzugs. Die vier geschichtstötenden Experten führen im »quantischen Quadrat« den Kältetod in den »Westen der Galaxie« aus.78 Und dies Jahrzehnte nachdem sie »über das minierte Eis der Wolga weg« aus dem Kessel Stalingrad ausbrachen nach Verlust jeglicher »imaginärer Strecke« ihrer Seele, die ihnen »Heimat« bedeutet hätte (842f.). Bertram gleich überqueren sie die Wolga in Richtung des Feindes, nach Osten, wiederum unter dem Zeichen der Zahl 4 und ihrer doppelten Verzweigung. Die harte, rauhe Allegorie des Eismeers verlässt die Zweidimensionalität, bringt alles Flüssige von Sinnen und Zeiten zur erstarrten Erhabenheit. Die sinngebende »Arche Erde« verlassen sie, um ihre Proportionalitätskonstante in der Galaxie zu verbreiten. Boltzmann, von Ungern Sternberg, Zwicki und Dorfmann erweitern sich kraft ihrer vierfachen inhaltslosen Expertise zur unbesiegbaren aber umso ohnmächtigeren Raumflotte jenseits von Gut und Böse: »Eine Armada erstklassiker Individualisten in einer Zeit kollektiver Kämpfe.«79 Sie haben sich den kriegerischen galaktischen Hieroglyphen und Vernichtungsarbeiten gewidmet, radikalisieren das Nietzschesche Motto – »Lieber noch wird der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen« – zum nihilistischen »Gar nichts erkennen, gar nichts mehr wollen«. Es entziehen sich theoretische und praktische Vernunft, die verbliebene Urteilskraft verdickt sich zur Substanz von vier Stichworten, deren stochastische Aggregatzustände die zerklüftete Erzählzeit durchleuchtet80 : »Unbezwingliche Sehnsucht, dumpfes Begleitgefühl«; »Sinnentzug«, »Zeitentzug« konstellieren sich mit der Vier von Dorfmann, von Ungern Sternberg, Zwicki und Boltzmann zur »Proportionalitätskonstante«, die sie im Wechselspiel von Erscheinen und Verschwinden »erlöst«.81 Stefan Boltzmann, dessen Name 76 Ebd. S. 230. 77 Ebd. S. 227. 78 Vgl. In anderer Perspektive das Buch des Verfassers, La Fuite du temps ›Zeitentzug‹ chez Alexander Kluge. R8cit. Image. Concept, Bern – Berlin – Paris u. a.: Peter Lang, 1999, S. 169–183 und S. 370–406. 79 Chronik der Gefühle II, S. 456. Vgl. Wolfram Schütte, »Vergangenheit in der Zukunft. Alexander Kluges Science-fiction Filme«, Frankfurter Rundschau, Nr. 24, 29. Januar 1972. 80 »Die menschliche Substanz geht nicht unter, sondern wird eingedickt.« In: Chronik der Gefühle, II, S. 854. 81 Dieter Hombach, »Katastrophentheorie und Psychoanalyse. Zur Topologie des Entzugs«, in:
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Ludwig Boltzmann zu entstammen scheint, dessen Vorname an Josef Stefan, den Lehrer Boltzmanns, anklingt, könnte gleich dieser Konstante fungieren, die den thermodynamischen Gipfel eines quantischen Vierecks tragen würde, die vier durch eine poetische Physik verbindet.82 Aus der verkehrszeitlichen Differenz vom Jahr 1972 zum Jahr 2103 spannt sich eine eigentümliche Stichwortzweiheit. Kaum hat Zwicki von der Resterde in einem Bunkergelände das pseudonietzscheanische herrenmenschliche Stichwort »Unbezwingliche Sehnsucht« gesendet, gibt Dorfmann aus seiner Eisenschreibkoje der Raumplattform das Korrelat aus: »Dumpfes Begleitgefühl«. Ironisch schleifen die beiden die narrative Unschärferelation, um Robert Musils »Der deutsche Mensch als Symptom« auszusetzen, die »mit den Jahren aufdringlicher werdende Sinnlosigkeit des Daseins« auszuhebeln83 : Der Mensch ist deshalb auch ein weitaus interessierterer Metaphysiker, als er gemeinhin heute zugibt. Ein dumpfes Begleitgefühl seiner sonderbaren kosmischen Situation verläßt ihn selten. Der Tod, die Winzigkeit der ganzen Erde, das Fragliche der Ichillusion, die mit den Jahren aufdringlicher werdende Sinnlosigkeit des Daseins.«84
Die Affektintensität von Zwickis geopolitisch »unbezwinglicher Sehnsucht« und die niedrige Intensität von Dorfmanns retrospektiver Stimmung eines »dumpfen Begleitgefühls« ziehen sich durch hunderteinunddreißig galaktische Jahre hindurch an, stoßen sich ab als seltsam sprachliche Attraktoren. An ihnen können Zeit- und Sinnentzug nach dem Entfernen der restlichen Urteilskraft ihr Unwesen treiben: »Dorfmann: Das Begleitgefühl ist aber nur dann dumpf, wenn wir zu viel Scharfsinn anwenden. Zwicki: Den müssen wir ganz weglassen.«85 Aus der kosmischen Streuung des Unsinns lösen sich Fragmente ab, die durch einfache Aggregation zusammenfinden, sobald ein zu vernichtender Gegner oder ein zu knechtender Partner auftaucht. Diese aktivistische Sinngebung des Unsinns lässt aus der Katastrophe den Sinnzusammenhang als Verzerrter verschwindend wieder auferstehen. Jedoch: »Es muß etwas an sich und zugleich für mich eine
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Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, hg. v. Georg Christoph Tholen/ Michael O. Scholl, Weinheim: VCH (Acta Humaniora), 1990, S. 137–156, hier S. 142. Vgl. Rainer Stollmann, »Schwarzer Krieg, endlos. Erfahrung und Selbsterhaltung in Alexander Kluges Lernprozessen mit tödlichem Ausgang, in: Text und Kontext, 12, 1984/2, S. 349–369, besonders S. 362–366; Gilles Cohen-Tannoudji, »Les constantes universelles et la physique de l’horizon«, in: La Recherche, n8 278, Sondernummer »Nombres«, S. 756–759, hier S. 758. Ulrike Bosse, Alexander Kluge – Formen der literarischen Darstellung von Geschichte, Frankfurt am Main: Peter Lang, 1989, S. 165–168; Robert Musil, »Der deutsche Mensch als Symptom« (1923), ein unvollendeter Essay, in: R.M., Gesammelte Werke, hg. v. Adolf Fris8, Bd. 8, Reinbeck: Rowohlt Verlag, 1978, S. 1353–1400, hier S. 1380. Chronik der Gefühle II, S. 829, Anm. 2. Chronik der Gefühle, S. 830, Anm.
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zusammenhängende Bewegung ergeben, damit ich sagen kann: Das hat einen Sinn.«86 Das erste Wort des Vorworts der ursprünglichen Lernprozesse mit tödlichem Ausgang von 1973 war »Sinnentzug« als Stichwort einer zunächst beschränkten gesellschaftlichen Situation, die noch nicht die westliche Galaxie erwischt hatte: »Sinnentzug. Eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller verfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können.«87 Dann erweitert sie sich wie parodistisch auch immer zu einer allgemeinen Differentialen der Zeitentwürfe, Zeitgefühl wird wirklich zu asymmetrischen Kriegen, die die Zeiten miteinander führen. Das letzte Kapitel der Lernprozesse aber trägt schon in seiner zweisprachigen Überschrift, »La fuite du temps« (Zeitentzug), die Differenz von unwiederbringlichem Entgleiten (tempus fugit) und einer Bewegung, die sich »zurückhält und entzieht«.88 Innerhalb des Kapitels umrahmen »Sinnentzug« und »Zeitentzug« die Mittelsequenz, »Gewalt, an die man sich nicht gewöhnt«.89 »Sinnentzug« bezeichnet im späten quadratischen Lebenslauf der vier Experten den Prozess, wodurch auf allen Planeten, Sternen und Sonnen der Widerstand gegen den kosmischen Raubbau abgeriegelt, abgeschnürt, festgeriegelt, zum Niemandsland erdrosselt wird. So kommen die Aufständischen, »die sich die ›Ungläubigen‹ nannten, weil sie an keinerlei Versprechungen glaubten«, der Menschheit – abhanden – war doch für Nietzsche der Mensch »das Tier, das versprechen darf«. Im Jahre 2103 aber erweist sich der Sinnentzug als Entzug des aiin selbst, der reinen leeren Form der Zeit. Den Experten, die weder vorwärts noch rückwärts können, winkt im hintersten Winkel des Kosmos kein Ausweg mehr.90 »Wie durch ein Zauberwort schienen Zukunft, Gegenwart wie weggeblasen.« Im Zeichen von Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung, »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, »entleiben« sich schließlich die Experten inmitten des kosmischen Bürgerkrieges. Sie sind jetzt zu ganz neuen Körperaggregaten montiert, überleben in der »Zeit ohne Zeit« als »zweite Kindheit, gänzliches Vergessen, / ohne Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles«, wie es Nietzsche einer Stelle aus Shakespeares Wie euch gefällt ent86 Alexander Kluge / Oskar Negt, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1981, S. 376. 87 Alexander Kluge, Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, S. 5. 88 Martin Heidegger, »Zeit und Sein«, in: Zur Sache des Denkens, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1976, S. 1–26, hier S. 8. 89 Chronik der Gefühle II, S. 905–909, S. 911–919, S. 909–911. 90 Jean-Luc Nancy, Une pens8e finie, Paris: Galil8e, 1990, S. 49: »Le partage des cinq sens, qu’on peut dire embl8matique de la finitude, inscrit ou excrit le partage du sens fini.«; Jean Baudrillard, La Transparence du mal. Essai sur les ph8nomHnes extrÞmes, Paris: Galil8e, 1990, S. 170.
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nahm, um die »Zukunfts-Bilderstürmer« anzuprangern.91 Von Sinnen im Wirbel der Generationen, den Kosmos als Bühne, konnte man vom entsinnlichten Boltzmann »ebensogut sagen: dies war Boltzmanns Urenkel«. Sowohl Utopie wie Dystopie sind nun nicht mehr an den Grenzen des Universums zu verorten, sondern in der Spirale des Zeitentzugs, wo Geschichte und Historie sich filzartig aggregieren.92 Durch nachträglichen Urknall finden sie sich im Raumsektor »Morgenröte« wieder, in die Kreisbahn eines »roten Gasballens« gefangen. Nicht durch hohe Ermüdung, sondern durch leere Erschöpfung finden sich die vier Geschichtstöter und -getötete im Fernen Westen der Galaxie kreisend, die Fragen, die sich einst stellten, sind fortan obsolet: Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, daß auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften – daß aber unser Los war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? –93
Beuys aus der Krim Von der stiftendrettenden Unterscheidung, nicht nur in Kriegsgefahr, zwischen Eis und Feuer, Sinnentzug und Sinnesgabe als reiner Intensität der Bifurkation94 zeugen in Kluges Fünftem Buch zwei Joseph Beuys gewidmete, ungleiche »Lebensläufe« mit lebendigem Ausgang aus gescheiterter Hoffnung: »Beuys auf der Krim« und »Antirealismus des Gefühls«.95 In ersterem geht es um die legendären rettenden Aggregatszustände eines »Stoffes«, angeblich von tatarischen Räubern auf der Krim ins Werk gesetzt, im zweiten um die Differenz zwischen den »zwei Aggregatszustände[n] des Menschen«, da Beuys die Grenze vermessen wird, »die es zwischen Kunst und Leben nicht gibt.«96 Nach dem zunächst hoffnungslosen Absturz seines Flugzeugs im Frühjahr 1944 plündern die Tataren, die
91 Chronik der Gefühle II, S. 917; Friedrich Nietzsche zitiert in dieser zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, Nr. 9, eine Stelle aus II, 7 bei Shakespeare, in: Werke I, hg. von Karl Schlechta, Frankfurt am Main – Berlin – Wien, 1969, S. 275. 92 Vgl. Dario Marchiori, »L’utopie de l’espace, l’espace-temps de l’utopie«, in: Gr8gory Cormann/ Jeremy Hamers/ C8line Letawe (Hg.), Lecteurs/Spectateurs d’Alexander Kluge, Cahiers d’Ptudes Germaniques 69, 2015, S. 41–53, hier S. 53. 93 Friedrich Nietzsche, Morgenröte, Werke II, ebd., § 575: »Wir Luft-Schiffahrer des Geistes.« 94 Vgl. Alexander Kluges Ausstellung in Stuttgart, »Gärten der Kooperation«, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 2017/2018, Presseinformation, Nr. 4. Episode: »Bifurkation«. 95 Das fünfte Buch, S. 263, S. 206. 96 Claire Devarrieux im Schlusssatz ihrer Rezension von Nathalie L8gers La Robe blanche, in: Lib8ration, 23. August 2018, S. 22.
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»ursprünglichen Eigentümer der Krim«97, zwar – realistisch – dessen Wrack, entreißen jedoch den Verwundeten dem Kältetod – antirealistisch. Zu Gast auf der Krim in seinem »Entronnensein« befand er sich hier in den »Filzmatten«, mit denen die Nomaden ihn gewärmt hätten, bzw. den Zelten aus Filz, »an deren Geruch er sich später erinnerte«, dann dem Fett, mit dem sie »seine Wunden einrieben«. So erfährt Beuys der »Glücksjäger« mit den verwandten Tataren sein »Glück an Intensität«.98 Der verfilzten »Duplizität der Gerüche« scheint er aber zu entgehen, wie sie »in der Nase Bürgerkrieg« führen, indes die Nerven »zurückfragen, statt wahrzunehmen.«99 »Schmied seiner Rettung« ist also das geruchträchtige Paar Fett und Filz: Filz, der in seinem besonderen Aggregatzustand aus Wolle und sonstigen Tierhaaren anders als gewebte Textilien und linear hierarchisierte Texte keine geordnete, sondern eine chaotische Struktur besitzt, einen unendlichen nomadischen »glatten Raum« voller Ereignisse im Sinne Gilles Deleuzes bildet; Fett, das Überlebensmittel des Leibes, dem die Fähigkeit eignet, schon bei geringen Temperaturschwankungen den Aggregatzustand zu verändern. Solcherweise ist es für Beuys das Plastische schlechthin, zwischen den beiden auch Kluge teuren Polen wandelnd: Chaos (Wärme) und Ordnung (Kälte). Dem gleich heißt es in Kongs großer Stunde: »Das, was man LEBEN nennt, ist nichts Kontinuierliches, hat Pausen und wechselt die Aggregatzustände.«100 Fett, das bei Beuys für die Fähigkeit des Menschen steht, mit eigener Sinnesintensität Veränderungsprozesse in Gang zu setzen, lebendige Arbeitskraft zu beseelen, verwirklicht dies bei Kluge in der Zeit- und Materialnot des Zweiten Weltkriegs. In der Chronik der Gefühle II wird die evakuierte Frieda Below mit ihren zwei Kindern in ein leeres Hotelzimmer verwiesen, wo ihnen Sinn und Sinne, und auch die Möbel des Zimmers, also die letzte Möglichkeit, aus ihnen Feuer in dem »kleinen Eisenhofen« zu machen, entzogen sind.101 In ihrer Verzweiflung findet Frau Below zu einem Landarzt, der den verletzten Fuß ihres ältesten Sohnes endlich zu versorgen weiß: Er stellt den Fuß des Kindes in eine große mit Lebertransalbe gefüllte Kochpfanne. Dem Filz gleich aggregiert der durch intensive Ärztekraft belebte fette Nichtstoff das gesamte Sensorium, vor dem »Nullpunkt des Unglücks« macht die Hoffnung Sprünge, das Sinnen als von
97 Das fünfte Buch, S. 263. 98 Vgl. Karl Heinz Bohrer, »Intensität ist kein Gefühl«, in: Merkur 38/2, 1984, S. 138–144, hier S. 143. 99 Alexander Kluge, »Duplizität der Gerüche«, in: Das fünfte Buch, Kapitel »Ich«, S. 557. 100 Kongs große Stunde, S. 544. 101 »Mit allen Sinnen sannen wir auf Rettung«, Chronik der Gefühle II, S. 25, und in diesem Band.
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Sinnen getränktes, orientiertes Denken wird gleichsam zur Tathandlung102 : »Mit allen Sinnen sannen wir auf Rettung.« In »Antirealismus des Gefühls«, einem Lebenslauf, der auch von der Krim ausgeht, dem für Kluge entscheidenden geopolitischen und -poetischen Gelände, vervierfachen sich diese Aggregatzustände im »Zwischenfall« zwischen Leben und Kunst, Puppe und Mensch. Kluges immer schon antithetischer Antirealismus verzweigt sich hier zusätzlich. In einer geplanten, aber durch seinen Tod vereitelten Installation, »Die zwei Aggregatzustände des Menschen«, habe Beuys seine Erfahrung aus der Krim von einem »Mann«, der 1944 von Sinnen »bis zum Hals in der Erde vergraben« war, als Duft übertragen auf die Plastikpuppe eines US-Soldaten, der »bis zum Bauch in Blumenerde steckte«103 : »[…] angesetzt an der Stelle der Puppe, wo bei einem Menschen der Pißstengel säße, war je ein Wasserhahn angebracht. Wurde er aufgedreht, strahlte oder tropfte Flüssigkeit.«104 Einem Soziologen gegenüber habe Beuys die sinnreiche Skizze auf echt Klugesche Weise als Zweiteilung des Menschen erläutert, der namentlich nach einem »Unfall« in zwei Realitäten lebe, der faktischen und der geleugneten, wobei wiederum die geleugnete schließlich wirklichkeitsbezogener sei als die faktische, sinnentziehende. Dies bezeichnet der Soziologe »mit einem damals geläufigen Ausdruck« als »Antirealismus des Gefühls« – der unermüdlich wiederholten Formulierung von Kluge gemäß, der sie hier ironischerweise in die ideologische Antike verbannt. Der Soziologe scheine aber die Benennung zurückzunehmen, nachdem Beuys ihm erklärt hat, nichts mache »bis zum Nullpunkt unglücklich. Kurz vor diesem Nullpunkt macht die Hoffnung Sprünge.« Auf den Einwurf, die im Erdreich festgehaltene Puppe vermöge das nicht, wozu dann »die Installation mit der Puppe«? – kehrt Beuys die Pointe eines Antirealismus zweiter Ordnung gegen die flache erste Ordnung des Soziologen: »Aus Antirealismus des Gefühls«. Die von Kluge praktizierte »Dialektik des Realismus«105 wird von Beuys’ Doppelaggregat überspielt, indem es sich wiederum verzweigt, sich all diesen »Parallelwelten, die auf den Möglichkeitssinn antworten«, verschreibt.106 Solch doppelgängerischer Möglichkeitssinn erbrachte die Rettung im sinnlichen, plastischen Sein durch den Landarzt, der Sinn des Habens, ein »Wesen 102 Jüngst beschwor Pierre Guyotat, der legendäre Autor des Romans Tombeau pour cinq cent mille soldats, vor einem Teller Fleisch den logos der Sinnenmacht: »All meine Sinne auf dies erbärmliche Stück Fleisch zutreibend, das einst ein stolzes oder wohlwollendes Tier war, der fleischfressenden Niedertracht zu […] um darin meinen Verstand zu bewahren […]«, in: Idiotie, Paris 2018, zit. in Lib8ration, 8./9. September 2018, S. 48 (unsere Übersetzung). 103 Das fünfte Buch S. 206. 104 Ebd. 105 Vgl. »Das Politische als Intensität der alltäglichen Gefühle«, a. a. O., S. 312. 106 Siehe die Presseinformation zu Kluges Ausstellung in Stuttgart, »Gärten der Kooperation«, 8. Sequenz, »Bifurkation«, 2017/2018.
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der Abstraktion«, wurde von den Nicht-nur-fünf-Sinnen des Nicht-Habens abgelöst, ein objektiv-subjektives »gegenständliches Wesen« hatte sich ereignet. Wiederum in seinen philosophisch-ökonomischen Manuskripten deduzierte einst der junge Marx mit leidenschaftlicher Besonnenheit den Menschen in seiner »energisch strebenden Wesenskraft«: »Sinnlich sein, d. h. wirklich sein, ist […] sinnlicher Gegenstand sein […].«107 Den Schlusssatz dieser Stelle macht Kluge zum Kernsatz einer Kinder-geschichte, wenn er von der Eigensprache und Eigenrhythmik des neugeborenen Menschen erzählt, von seinem »Gleichgewichtssinn und dessen Variationen«: »›Leben ist sinnlich sein…sinnlich sein heißt leiden.‹ Marx«.108
107 Marx / Engels: Werke, a.a.O, S. 578f. 108 S. 208: »›Sinnlich sein heißt leiden‹. ›Schöpferische Zerstörung‹ im individuellen Lebenslauf«, in: Das fünfte Buch, S. 208.
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Rachegefühl als Freizeitthema
Pause im Caf8 Bauer. Pausen sind intensive, miniaturisierte Arbeitsphasen, denn von der spezialisierten Arbeit im Institut für Sozialforschung erholt man sich durch anderweitig gerichtete Arbeit. Die Erholung liegt im Schwerpunktwechsel, im Wechsel auf Selbststeuerung, während die Hände ichlos mit dem Löffel in der Kaffeetasse graben. Tische und Sitze im Caf8 sind wie in einem Kinderzimmer oder im Hort, niedrig und buntfarbig, puppig. Die Bedienung: eine Liliputanerin. Da müßte der Gedanke eigentlich einen Augenblick verweilen. Der Blick Hinrichs geht aber nervös durch die Aquariumsfenster auf das eilfertige Vorübertreiben des akademischen Nachwuchses. Außerdem sitzt noch Billie da, eine Genossin. Sie erhält von Putermann, den sie seit 5 Monaten kennt, »wie auf Lebensmittelkarte«1 Zeitabschnitte zugeteilt, die sie in seiner Gegenwart »verweilt«; das ist nicht, was sie sich unter Zusammenleben vorstellt; sie hockt aber mangels eines plötzlichen Entschlusses, Putermann im Stich zu lassen (ihn der »Diktatur des Patriarchats« anzuklagen), immer wieder stundenweise neben ihm. Wird gerade so aufsässig, daß er sich ihr zuwendet – wenn er sich »auf sie einstellt«, wirkt er momentan wie ein Mensch – sie läßt sich also ebenso momentan, wie er sich um sie kümmert, »besänftigen«, d. h. rekolonialisieren, gerade so weit, daß Putermann das Lebensmittelkarten-System anwendet, sie also irgendwelche Zeit aus seinem Terminkalender zugeteilt erhält, der Pegel des Protestgefühls steigt usf. So zieht sich die »Beziehung« hin. Es entsteht keine Gegenwart, keine richtige Vergangenheit. Ihr Erinnerungsvermögen wird durch den Technokraten verwirrt. So sitzt sie auf der Bank des Caf8s, hat nicht mal Putermann allein oder sie wäre selber allein und könnte den Nieselregen oder die Kacheln des Hörsaalturms aufmerksam betrachten. Sie sagt: Ich werde nicht plötzlich wütend, wenn ich anfange, Teller zu zer1 Die Metapher kennt Billie nicht aus eigener Anschauung. Sie ist 26 Jahre alt. Sie hat aber im Lesesaal der Deutschen Bibliothek, während sie auf Putermann wartet, in dem Band: Armin Schmidt, Frankfurt im Feuersturm, Frankfurt 1965, geblättert.
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schmeißen, so kann das einen Grund von vor vier Stunden haben. Jetzt im Moment bin ich aber nicht wütend. Ich meine nicht Wut, sagt Grabbe. »Die menschlichen Tränen sind Äquivalent, des Ozeans, der die ersten Augen reinigte!« Wo bleibt das denn?2
Die Männer empfanden gemeinsam. Das Grundinteresse an dieser Freistunde war ja, daß sie in Gesellschaft waren und nicht verteilt auf ihre Dienstzimmer im Institut, nochmals unterteilt nach den verschiedenen Teilabschnitten der Leistungslohnstudie, also ungesellig. Hier nun, wie gesagt, mit zueinandergerückten Kaffeetassen und Kuchentellern, »in Gesellschaft«. Deshalb wollten sie es einander nicht antun, daß die Plauderei zu dem stereotypen Schema einkehrte (Schema deshalb, weil sie seit Jahren vor demselben Angriffsschwerpunkt ihres Interesses ins Stocken geraten waren): »Die Arbeiterklasse ist Subjekt der gesellschaftlichen Veränderung.« Dann ist sie auch Trägerin der verdichteten Form des Protestgefühls, der Rache. Mit der reellen Subsumtion der Arbeiterklasse unter das Kapital geht Rache als »menschliches Gefühl« unter (war allerdings nie in der alten Form ein besonders menschliches Gefühl), also individuelle Verarmung an Rachegefühl, gesellschaftlicher Reichtum an Rachegeistern. Die durchschwirren die Realität: Magenschmerzen, Maschinen, die die Horizonte überfliegen, Vergeßlichkeit, Gutmütigkeit. Als Anhang der »ungeheuren Warensammlung« eine »ungeheure Sammlung von Rachegeistern«. »Die ungeheure Sammlung«. Was aber (Putermann) ist ihr einfachstes Element? Was entspricht dem Waren-Fetisch? Rohstoff ? Den Produktionsmitteln (Werkzeugen)? Der Produktionsweise? Dem Produktionsverhältnis, gerechnet in Raum und Zeit? Ich möchte das, sagt Grabbe, mal als das Zeitgefühl der Rache formulieren. Zu dem Stichwort hätte Billie beitragen können, schwieg aber. Man hätte noch einen Germanisten in der Runde gebraucht, der aus den Büchern auflistet: alle Fälle von Rache, Justiz, Verweigerung usf. Und, fügt Hinrichs an, einen Naturwissenschaftler. Horkheimer hat den Plan gehabt, hat mehrfach darauf bestanden, daß im Institut eine Planstelle für einen Naturwissenschaftler eingerichtet wird, dann aber personelle Vorschläge geblockt. Hätte man einen Naturwissenschaftler hier in der zweiten Frühstücksrunde, so könnte er vielleicht die Leidenseinheiten und Protestwerte, rückwärts gerechnet auf das Jahr 500 000 vor Christus und regional hochgerechnet z. B. auf Frankfurt und Umland, ermitteln. Wieso soll das ein Naturwissenschaftler können? fragt Pu2 Irgendwo auf der Seite Verschiedenes in den Tageszeitungen? Zum Beispiel Rentner schlägt den Leiter der Sozialversicherungskasse mit der Axt auf den Kopf.
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termann. Du brauchst dafür Lienert3. Gäbe es für Leiden und Protest eine Meßeinheit (ähnlich wie für Informationen bit), würdest du dich wundern. Das sind Milliarden. Wovon? fragt Grabbe. Dafür müßten wir ja erst die Meßeinheit haben, sagt Billie. Weder explodiert das Leiden, noch versammelt es sich in einem großen modernen Tragödienstoff, noch … Nun verschwindet aber Energie nach dem Energiesatz niemals. Laienhaft, erwidert Grabbe, das mit dem Energiesatz. Hinrichs, der sich derweil ausgeruht hat, sagt: Noch mal ganz einfach. Ableitung! Sinnlichkeit ist ein Arbeitsmittel, nicht wahr? Nein, ruft Grabbe, ein Rohstoff. Ein Produktionsverhältnis, sagt Putermann. Ich meine, sagt Putermann: die Sinne, ich meine die 5 Sinne, Augen, Ohren, Nase – Grabbe ruft dazwischen: Zunge! –, Hinrichs: Und dann die Hirnsinne, ich zähle davon 15 und die kulturellen Programmsinne … Grabbe: Oder Kultursinne (gekocht, roh, naturschön, »von Bedeutung« usf.). Jetzt ist es wieder kompliziert. Hinrichs sagt: Nochmals ganz einfach. Putermanns 5 Sinne und meinetwegen noch die Hirnsinne dazu als Produkt der Weltgeschichte (etwa 1 Million Jahre). Darauf setzt sich, ihr kennt alle die Stellen4, die Sinnlichkeit des Habens (etwa 800 Jahre). Davon koppelt sich ab, und zwar zwingend, die Sinnlichkeit des Nichthabens (also die Reststücke der Sinne, die nicht ins Haben passen, das Quälerische im Haben: der Protest). – Und diese Nichthaben-Sinne (ebenfalls ca. 800 Jahre alt, aber in der Masse zehnjährig), also noch mal ruhig, fängt Hinrichs neu an, dies zusammengezählt zu Sinnlichkeit des Nichthabens bedeutet Rohstoff (Wurzel = Radikalität, die Dinge an der Wurzel fassen), Werkzeuge (= Bewegung), daraus entsteht eine imaginäre gesellschaftliche Fabrik (Raum, Öffentlichkeit), daraus gemacht: Produktionsverhältnis – und das ist doch »Zeit« (denn das geht nicht, daß wir in Nichtzeiten Gefühle produzieren, die brauchen Zeit, nehme ich die Zeit weg, nehme ich auch das Gefühl weg). Das war für Billie heute morgen annehmbar : Zeit hatte sie, weil sie ja nur begrenzt als Kandidatin dieses Politbüros zur Mitwirkung kam (im wesentlichen war ihr erlaubt, die dritte Tasse Kaffee zu leeren, sie hätte auch etwas sagen dürfen, von Putermann seitlich beblickt und zur Kürze aufgefordert, dann aber hätte sie eine Stelle in der »Bewegung des Begriffs« finden müssen, in die sie ihre Worte einschieben konnte, also z. B. eine bildhafte Stelle in einem Nebensatz …). Gefühle hatte sie immer, insbesondere das des Nichthabens im Hinblick auf Putermann, eine imaginäre Fabrik der Gefühle, nämlich Regenwetterstimmung Londoner Art, die eine ganze Menge Leute in der Stadt an diesem Vormittag in 3 Lienert, führender Statistiker ; Verfasser des Handbuchs für Statistik. 4 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW, Ergänzungsband, 1. Teil, Berlin 1968, S. 543. Die Frühschriften, Kröner, Stuttgart 1968, S. 241; Kurnitzky, Triebstruktur des Geldes, Wagenbach, Berlin 1974, S. 47ff.
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depressiver Stimmung vereinte (das aber tröstet und war konstruktiv). Schließlich: Produktionsverhältnis, nämlich die Verwaltung ihres freien Vormittags, mehrere davon hatte sie nicht in dieser Woche, da sie ja arbeitete, durch den Genossen Putermann, der auch die Gefühlswut oberhalb ihres Magens (durch Kaffeesäure zusätzlich gereizt) in Gang hielt, auch regulierte, aber zu dumm war, sie wenigstens so vollständig in seinen Dienst zu stellen, daß sie Mehrwert für die Gruppe abwarf, also das Wollknäuel von Begriffen und daranhängenden Bildern für die drei aufribbelte und ihnen so »das Gefühl der Rache« erwirtschaftete. Klar war, daß, wenn keine Bearbeitungswerkzeuge, keine menschlichen Situationen, d. h. »Zeit«, für die Entfaltung des Rachegefühls zur Hand waren, eigentlich ebensogut gesagt werden konnte: für die Entstehung von Menschen existiert die entsprechende Ökonomie auch nicht.5 Grabbe: Sie entstehen ja auch nicht. Soll ich die Adorno-Zitate dazu aufzählen? Deshalb auch der Eindruck, sagt Grabbe, daß Rache ein altmodischer Ausdruck ist. Er setzt die feudalistische Produktionsform, die Zeitdauer von Frühjahr, Sommer, Herbst, Winter (also Steinzeit, Antike, Mittelalter) voraus. Nun widersprach das der Grundannahme der kritischen Theorie, daß am »Sockel der Gesellschaft« die ältesten Verhältnisse sich immer erneut herausbildeten. Das ist eine Hypothese, sagte Putermann übergangslos. Ihre Freizeit und die Billies war zu Ende, sie mußten wieder ins Institut, an die Arbeit. (aus: Chronik der Gefühle II, S. 156) 5 Die gleiche Zeitökonomie wie für »Rache« gilt ja, sagt Hinrichs, für Kinderaufzucht. Billie übersetzte das in eine Anschauung: Die Frau in der Küche sitzt vor ihrem Kinde und »beblickt es mit Liebe« . Das Kind steht, der Kopf knapp über der Tischkante, vor der Sitzenden und sagt: »Du darfst mich nicht so ansehen, sonst werde ich blind.« Es reibt sich die Augen. »Ich habe Stiche in den Augen.« Was soll denn da nun die Pointe sein ? fragte Grabbe. Putermann: Das Kind vergißt den mütterlichen Überfall nicht, aber das Bild davon muß es aus seinem Bewußtsein ausräumen, sonst kann es nicht mehr zur Mutter flüchten. Einmal hochgerechnet, sagt Putermann, daß das Kind noch 70 weitere Jahre lebt, so hat es riesige Vorräte an Zeit. Ebenso hat es, wieder hochgerechnet, beachtliche Vorräte an Gefühl, z. B. Rachegefühl. Aber »Zeitgefühl der Rache« vermag es nicht herzustellen; entweder »Gefühlszeit«, d. h. Nachfolgesituationen mit Mutter oder Mutternachfolgerinnen, oder sonstige Zeit, die dem »Bild mit dem Blick« entspricht, dann aber in diesem Moment auf den Tod nicht das zugehörige Gefühl. Oder aber es hat das Gefühl, es gibt ja immer Zwischenzeiten dafür (dazu nickt Billie zustimmend), dann aber außerhalb der Zeit. Wenn ich nur wüßte, sagt Hinrichs, was du meinst. Es ist Institutsjargon. Alle drei beherrschen ihn, aber nicht immer entziffern sie das gleiche. Das ist eine Frage der Einstimmung, der Mimik oder des vorangegangenen gemeinsamen Tuns. Ich will ja auch nur sagen, antwortet Putermann: Gefühl und Zeit kommen nicht zusammen, und wenn ich jetzt (mit Vorbehalt, denn die Institutstradition »definiert« nicht) Rache definiere als das Zurechtrücken unrechter, verzerrter Verhältnisse (warum er ein Schwachwort wie »Verhältnisse« an den Gedanken anhängt, wenn doch starke Bilder möglich sind, versteht Billie überhaupt nicht).
Rachegefühl als Freizeitthema
Abb.: Maas-Brücke bei Auchamps.
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Alle Horizonte haben Flügel, Kluges Film in seiner Fassung von 20171, wird eröffnet mit einer wörtlich-bildlichen Illustration seiner Überschrift: Der engelhafte Helge Schneider beflügelt märchenhaft die Horizonte einer allseitigen Wolkenlandschaft bei konzertanter Tangomusik, die sich fortsetzt, als diese Horizonte sich zu verengen scheinen. In drei durch den Film versprengten Sequenzen, die Kluges erstem legendärem Spielfilm von 1965/66 entnommen sind, Abschied von gestern, vollzieht Anita G. drei ungleiche Fluchtbewegungen. Zusammengesehen ergibt sich aus ihnen ein diskontuierliches road movie in Schwarz/Weiß. Anita G. ist die einzig Rückkehrende in Alle Horizonte haben Flügel, aus allen Horizonten fließen von Kluge in ganzen Sequenzen montierte, der Chronologie der Entstehung folgende analoge Langspielfilmfragmente von 1965 bis 1985, zusammen mit späteren digitalen Minutenfilmen, verschiedenen DCTP-Sendungen… Zugleich Assoziations-, Attraktions-, Kollisions-, Auslassungsmontagen ins Werk setzend, er nennt das »Raumkino«, entnahm Kluge seinem Schwarz/Weiß-Film von 1965/66 nur stumme Sequenzen mit Musik und Bildschriften, um sie den Farbenfluten der späteren auszusetzen. Die Rhein- und Mainströme, Mannheim, Köln, Frankfurt, »der Nabel dieser Erde« bei Hölderlin, der Nabel dieser Welt bei Kluge, das Frankfurter Autobahnkreuz… Drei Horizontfühlern gleich wagen sich die Auszüge aus Abschied von gestern in Alle Horizonte haben Flügel.
1 Erweiterte deutsche Fassung der Einführung zur Projektion, Kommentierung und Diskussion von Alle Horizonte haben Flügel am 14. März 2017 in Clermont-Ferrand, im Rahmen der Tagung »Cin8fac / Litt8rature« des Centre d’Auvergne (Universit8 Blaise Pascal), mit JeanPierre Dubost und Eric Lysoe und geflügeltem Beistand von Alexander Kluge und Kza Han.
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Anitas Fluchtbewegungen 1 Anita G., 1937 geboren wie Alexandra K., die sie darstellt, läuft an einem Rosenmontag, dem Tag der flüchtigen, ambivalenten karnevalesken Umkehrung aller Verhältnisse, über eine Straße Mannheims, durch eine Menge in der Großstadt, inmitten der Volkswagen, an einem Polizisten, ja an mehreren Polizisten vorbei. Sie trägt den schwarzen Koffer, der sie bis zu ihrer dritten Erscheinung in Alle Horizonte haben Flügel nicht mehr verlassen wird; die Flüchtende verliert sich in den Bildhintergrund, das Zeitengewimmel hinter sich lassend.2 Unter Wolkenhimmel geht sie gleichsam wie in Stummfilmen trippelnd, von konzertanter Tangomusik begleitet. Am 14. Februar 1966, dem Tag von Alexander Kluges Geburtstag, so Andreas Platthaus3, hatten Kluge und Edgar Reitz den Karneval in Köln gefilmt, der Stadt, vor deren Dom wir Anita in ihrer zweiten Erscheinung wiederfinden werden. In Abschied von gestern folgte diese räumlich und zeitlich verdichtete Sequenz dem kurzen ruhenden Aufenthalt Anitas auf einem runden Rasenstück am Frankfurter Autobahndreieck, dort, wo in Alle Horizonte haben Flügel die zweite Fluchtbewegung über Brücken Anita einen Augenblick lang beim Flugzeuganstaunen eine Ruhestätte gönnt. Als Kollisionsmontage werden dieser ursprünglichen Fluchtbewegung aus einem entvölkerten Lebenslauf der Anita G., die 1965 noch eine gewisse Identität mit sich selbst und Spuren von Linearität aufwies, die sechs Minutenfilme aus Kluges »Serpentine Gallery Programm« (1995-2005 2006) in gleichzeitiger Ungleichzeitigkeit hinzugefügt. Durch deren Fluxionszusammenhang hatte Alexander Kluge in London durch Simultanprojektion die »Vergegenwärtigung« der Zuschauer erfahren: Aus »Robinsoninseln« entstehe so die Alchemie einer »unmittelbaren Öffentlichkeit« – als Überraschung, nicht als Übereinstimmung: »Ohne Eigenerfahrung bleiben die öffentlichen Plätze leer.«4
Kosmische Hochöfen der Seele – »kalt hinstarrend« Die Zuschauer, welche den Bacchantinnen aus Nietzsches Geburt der Tragödie gleich von Höhen herab ins Amphitheater strömen, werden jäh in den Kern des Minutenfilms »Fünf Stunden Parsifal in 90 Sekunden« versetzt. Aus Einar 2 Alexander Kluge, Abschied von gestern, protokolliert nach dem Original des Films von Enno Patalas, Frankfurt am Main: Verlag Filmkritik 1967, Einstellungsnummern 415–417 (S. 84). 3 Andreas Platthaus, »Momente des deutschen Films (V): Was hat sich denn überhaupt verändert«, F.A.Z., aktualisiert am 14. 03. 2010. . 4 Alexander Kluge, Neonröhren des Himmels, Filmalbum, Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2007, S. 76.
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Schleefs dämonisch ungeborener Parsifal-Inszenierung entsteht eine Dramaturgie der extremen Kürze, aus der »Glutflüssigkeit« des Wagnerschen »Bühnenweihfestspiels« und der Hektik von Herr Puntila und seine Tochter Eva – jedoch alles »kalt hinstarrend«.5 Die Oper, diese Seelenmaschine, deren Hochofenaggregate zugleich »Hitzigkeit und Eiseskälte« erzeugen!6 Nach 1987 wird das »Raumkino« für Kluge den traditionellen Schnitt- und Montagefilm ablösen: »Zum Raum wird hier die Zeit«, die Oper zur Antioper, einem Hochofen, der fähig wäre, die Explosion der Wunschmaschine »Kernfamilie« zu verzögern, wie sie Anita G. nach Andeutungen durch Abschied von gestern in ihrer Kindheit erfahren hatte. Ein digitaler Kinokosmos aus Röhren und elektronischen Gerüsten, an dessen Wänden die Flügel aller Horizonte zu zerbrechen drohen. Zunächst aber läßt Kluges Minutenfilm das Trippeln, das Hämmern der elementaren Schreibmaschine Einar Schleefs ertönen, die Energie eines Stenogramms entwickelnd, das die graphische und akustische dichterische Fluxion des Weihespiels hochrechnet. Durch diese Enthüllung entsteht eine »Fluxion« der Zeitökonomien, das Räumliche inszeniert die Verflüssigung der Zeitverhältnisse. Dadurch wird Erde zugleich umrundet und durchragt.7 Hochöfen der Seele treffen auf die Zeitmaschine schlechthin, das Objektiv Dsiga Vertovs, aus dessen Mann mit der Kamera Kluge An Vertov, den digitalen Minutenvorfilm zu Abschied von gestern drehte. Dessen Neuerfindung der Filmaschine im Krisenjahr 1929 entspricht dem Klugeschen Erstling von 1965 in seinem »barbarischen« Verhältnis roher Montage zum zivilisierten deutschen Kino, dem wiederum Anitas eigensinniges Verhältnis zur gezähmten deutschen Geschichte in DDR und BRD entspricht.8 In atemloser Beschleunigung und Ballung rasen die letzten Sekunden des Mannes mit der Kamera dieses »wirklich Filmenden« (Alexander Kluge) vorbei. Das nach Zerschneiden der Nabelschnur stumm schreiende Neugeborene aus der Mitte von Vertovs Film hat Kluge an den Schluß seines Minutenfilms versetzt.9 Damit ergänzte diese geoffenbarte Geburt die verhüllte Niederkunft Anita G.’s am Schluß von Abschied von gestern, der Nichtmehrflüchtenden, der die Hebamme eben sagte: »Nun legen Sie sich einmal schön hin«. In unendlich enger Zeitfluxion zeigt der Kugelfernseher aus den fünfziger Jahren im Minutenfilm wiederum diese Geburt mit dem Zerschneiden 5 26. 06. 1995 News & Stories SAT 1; 17. 06. 1996, 10 vor 11, RTL. 6 Alexander Kluge, Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs. Berlin: Suhrkamp Verlag 2015, S. 334. 7 Vgl. Christian Schulte, »Opern-Stenogramme«, in: Maske und Kothurn (»Die Bauweise von Paradiesen. Für Alexander Kluge«), Nr. 53, 2007, S. 49–54, insbes. S. 52f. 8 S. Uwe Nettelbeck, ›Die Verwirrungen der Anita G.‹, Die Zeit Nr. 36/1966. https://www.zeit.de/ 1966/36/die-verwirrungen-der-anita-g. 9 Rainer Stollmann, »Ohne Kurzform keine Langform«, in: Die kleine Form, Nr. 11, 2010, .
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der Nadelschnur, ein zeiträumlicher Augenblick, dem in nuce der ganze »Mann mit der Kamera«, das mechanische Auge des »Lebens in sich selbst« als sphärische Dramaturgie innewohnt. Ein Zyklopenauge sieht in sich hinein, ist doch die Geburt des Kindes für Kluge die »härteste Materie«. Vor dem Hintergrund eines stillen Unwetters, das den Planeten umstürmt, läßt der Minutenfilm »Sturm und Drang« den schwedischen Mozart, Joseph Martin Kraus (1756–1792), den Tod Mozarts im Jahre 1791 musikalisch betrauern, das Stück spielt die junge Pianistin mit schneeweißem ruhigem Kragen und Betragen im Vordergrund mit besonnenem Klavieranschlag so zahm, daß es allen Vorstellungen von Stürmen und Drängen widerstrebt – der melodiöse Trauergesang für Mozart ist aber umweht von einem Wetterleuchten, das sich nicht auf menschliche Horizonte einläßt. In einem weiteren der sechs Minutenfilme beleuchten unvordenkliche »Neonröhren des Himmels«, Kino, Oper, Kosmos zugleich, die sechzigtausendjährige Weltzeiteinsamkeit mit anachronistischem Haus, lauter pulsierend grüne Strahlen; in übermenschlicher Wahrnehmungs- und Empfindungsweise10 erscheint der Kosmos als ein riesiges Filmtheater. Es ist dies eine Welt, in der wir kein Bedürfnis mehr hätten, Natur und Technologie, Zeit und Raum als feindlich und antagonistisch zu erfahren – eisausströmende Neonröhren des Himmels als Vorfilm zu Deutschland im Herbst, eine Jahreszeit der Produktionsöffentlichkeit Deutschland, von tödlichen politischen Lernprozessen gesättigt, durchströmt, mit weißem Schnee, schwarzen Zeitlöchern, dem schweigenden Eigensinn der Anita G. verwandt, die auch mit Strickjacke friert.11 ›Learning Processes with a Deadly Outcome‹ – als röhrender Vorfilm des Science-Fiction-Films Großer Verhau – ist ein Minutenfilm von 1998, dessen Titel die englische Übersetzung des Buchtitels von 1973 ist, die Lernprozesse mit tödlichem Ausgang »in nuce«, unter dem Wahrzeichen eines nicht mehr runden, sondern rechteckigen Fernsehers, der an nichts angeschlossen ist. Wenn der Minutenfilm im Zeitraffer mengenhaft strömt in wüster Umgebung, entspricht er der »Reinschrift« (Alexander Kluge) seiner ihm nicht mehr genügenden Science-Fiction-Filme. Der wüste Ort der Eiseskälte, die sich zwischen 2030 und 2040 steigert! Der feuerangetriebenen Rakete, dieser tödlichen Lernprozesse gleich, wird Anita G. erneut im Eigenrhythmus ihrer Schritte getragen, zur Autobahn, zur Brücke, zur Mainströmung.
10 Lutz Kœpnick, »Inside Kluge’s Cosmic Cinema. Critical Theory and Mobile Spectatorship Today«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch 2/2015, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 125–142, hier S. 14. 11 Alexander Kluge, Sämtliche Kinofilme, Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2007, DVD 9.
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Anitas Fluchtbewegungen 2 Anita, gerade noch in einem dreistöckigen verlassenen Haus unruhig schlafend, die Augen groß öffnend, verläßt es, immerzu ihren Koffer mit verkehrten Flügeln tragend, vom Tango begleitet, steigt einige Stufen hinunter. Lauf am Main, Gegenlauf am Rhein, unter fernen Wolkensträhnen.12 Die Flügel von Anitas Mantel regen sich unter dem Ballast des Koffers, fliegend, rausfliegend, hin und her einfliegend. Horizontaler Gleitflug Anitas auf dem Hintergrund rhythmisch aufragender Kräne. So eilt sie einsam über die Brücke, Wagen aus den fünfziger Jahren in Gegenbewegungen, die Brücke als ausgezeichneter Ort des stets gefährdeten Zusammenhangs bei Kluge – »Großbau ohne Kooperation ist lebensgefährlich«. Zäsuren des Lebenslaufens lassen Ruhe eintreten: Anita setzt den Koffer ab, öffnet ihn, dieses »Arbeitstier ihres Lebenslaufs« hockt am Ufer des Stroms – des Mains? – einen Schuh im fließenden Wasser waschend. Hatte sie doch bisher »ihre Kräfte und ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Fluchtbewegung, die ihrem Leben eingeschrieben ist« konzentriert (Klaus Kreimeier)13. Als Zeitlose sitzt sie jetzt, die aus einem fahrenden Auto in kreisendem Schwenk gefilmt wurde, neben ihrem Koffer auf einem Rasenstück mitten zwischen den Autobahnen am Frankfurter Kreuz, gleichsam an der Wasserscheide zwischen Rhein und Main14, hebt den Blick zu den vertikalen Horizontbahnen der geflügelten Wesen, der Flugzeuge. So erschafft der »Schwarzweißfanatiker« Alexander Kluge den Zusammenhang »aller Grauwerte von Schwarz und Weiß« in der Cadrage, ein »vollständiges Bild« der Anita G15. Anitas Tag- und Nachtwandeln steht wohl dem Paradigma der körperlichen Ertüchtigungsstrategie entgegen, der bundesdeutschen Erziehung zur Kaltblütigkeit, zum Gehen, zum Laufen.16 Vom Strom – dem Rhein mit dem Kölner Dom im Hintergrund – läuft sie dann in fließendem Übergang in die fluktuierende Nacht vor verfolgenden Scheinwerfern her, die den hier ausgesparten Traum Anitas in Abschied von gestern fortzuträumen scheinen, einige steile, nächtliche Stufen hinauf, steht vor dem Tor mit der Aufschrift »Polizei«, geht hinein, verschwindet – verflüssigt sich in den R4 der »artiste d8molisseuse« Leni Peickert, 12 Die Sequenz in Alle Horizonte haben Flügel, montiert aus den Einstellungen 389–397 (S. 81ff.), 400–414 (S. 83f.), 418–425 (S. 85f.) nach E. Patalas’ Protokoll von Abschied von gestern. 13 Klaus Kreimeier, »Abschied von gestern«, http://www.filmzentrale.com/rezis/abschiedvon gesternkk.htm. 14 Uwe Nettelbeck, »Die Verwirrungen der Anita G.« in: Die Zeit, Nr. 36/1966. 15 Im denkwürdigen Gespräch zwischen Alexander Kluge und Bion Steinborn, »Cinema pure cin8ma impure«, in: Filmfaust 26, 1982, S. 32–64, hier S. 43. 16 S. Gr8gory Cormann und J8r8my Hamers, »Kluge, Adorno et l’indomptable Leni Peickert«, in: Cahiers du GRM 5 j 2014, online am 4. Mai 2014, Zugriff am 3. Oktober 2016. URL: https://journals.openedition.org/grm/pdf/412.
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der unbezähmbaren Zirkusdirektorin, die einen lebendigen scheinbar gezähmten Elefanten kauft, von dessen Urvertrauen sein Auge zeugt. Dieser Ausschnitt aus Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos ist jedoch nicht ohne den von Kluge präparierten Catchpennyfilm »Hinrichtung eines Elefanten« denkbar, als unsichtbares Bild gegenwärtig, der sich still elektrisch töten läßt, anders als das Pferd, das im Schlachthof durch einen einzigen Schuß betäubt blutend geschlachtet werden wird: »Nach zwei Weltkriegen habe ich es satt, Tiere zu zeigen, die Männchen machen«, erklärt Leni Peickert. Adornos Ästhetische Theorie beim Worte nehmend geht es ihr nun darum, »die artistische Leistung zu Höhepunkten zu führen« (Alexander Kluge). So werde der Film zur »Parabel der Grenzen und Möglichkeiten der Kunst« und der Zirkus zur »konsequenten Umkehrung aller natürlichen Eigenschaften im Interesse der Darstellung der Machbarkeit von Gegennatur«.17 Es ist, als ob in Alle Engel haben Flügel die elefantenerziehende Leni Anita G.s Lebensgang kommentierte, »mit lauter kleinen Schritten« einer Revolution den Elefanten hinter sich herziehend. »Simultan« zieht eine weitere Kreatur, eine Ziege, inmitten der Menschen in Freiheit durch die Stadt. »Lebensläufe sind verknüpfte Tiere«?18
Und trotzdem ist mir kalt »Eine Ziege geht durch die Stadt« ist einer der zwanzig Filme, die den Deutschland-Komplex. 65 Jahre Grundgesetz von 2009 ausmachen, dort als »Die Ziege geht in die Stadt«… In Alle Horizonte haben Flügel kehrt die Kreatur in die Gratwanderungen, die Lebensläufe der Protagonistinnen ein, die menschlichen beziehungsweise tierischen. Linien des Lebens verzweigen sich, es werden lauter 17 Ebd. 18 Alexander Kluge, Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 11.
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musikalische Variationen des Satzes aus der Protestbewegung: »Die Lust ist eine Ziege« hörbar, in dieser Sequenz aber deutlicher noch »Die Ziege ist eine Lust«, unter der Hauptwache Frankfurt souverän wandelnd beim Protestsong der Gustav & Band, später unter Fackeln: Die Stadt brennt, »Es ist Sommer und nicht Stalingrad, sagt er / Und trotzdem ist mir kalt«, singt Eva Jantschitsch, jeglichen Mittelweg durchkreuzend. In jedem neugierigen Blick eines Tieres drücke sich eine neue Lebensform aus, erfahren wir aus der Dialektik der Aufklärung. Ist das gelassene flüssigmachende Tagwandeln der Ziege, das untergründige Buchstabieren der Ziege- und Pferdehufen, die Gegenströmung zu Anita G.s Irrfährten, zur Unbeweglichkeit des todgeweihten Pferdes?
O Falladah, die du hangest … »Da fragte ich mich: Was für eine Kälte / Muß über die Leute gekommen sein!«19 –
Mit dem tödlichfaktischen Ereignis des elektrischen Pistolenschusses, der das Pferd im Schlachthof im Minutendokument Tod eines Pferdes aus nächster Nähe betäubt, ehe es aufgeschlitzt wird, verzweigen sich die Sequenzen mit Anita weiter. Sie mündeten schon in Vormelodisches, Vorrhythmisches, unaufhörliches Rattern der Großstadtkamera bei Vertov mit kurzem Einschlag von revolutionärem Gesang, crossmapping von Bach an der Orgel, Chopin und harter Klaviermusik in der Sequenz in Schwarz/Weiß. »Angesichts unmenschlicher Verhältnisse müssen die Artisten den Schwierigkeitsgrad ihrer Künste erhöhen«, Hämmern der Schreibmaschine bei Schleef, Stöße der Birne vom Häuserabriß aus In Gefahr und höchster Not / Bringt der Mittelweg den Tod, ein Simultan, das diesem Bilderfluß eingeschrieben ist. Einen solchen Schritt zurück hinter Musik, Rausch und Laut nennt Pascal Quignard in La haine de la musique »tarabust«, nämlich jene »Schar von deutungslosen Lauten, die das rationelle Denken im Schädel beklopfen und dadurch ein nichtsprachliches Gedächtnis wachrufen.«20 Dies widerfährt dem Wetzen des Schlächtermessers, dem teils simultanen Hufeschlagen des Pferdes im Todeskampf, dem Wiehern unsichtbarer Leidensgenossen, dem verzerrten Echo von unvordenklichen Menschenstimmen. Also reicht Anitas Kreatürlichkeit bis zur »Totgeburt« der Tragödie im Schlachthof, wo der Schlächter das Pferd blitzschnell abschlachtet. Der artiste d8molisseur Kluge, der die seelisch-physiologischen Möglichkeiten erforscht, dass der So19 Bertolt Brecht, »O Falladah, die du hangest!«, in: Gesammelte Gedichte Bd. I, 1913–1926, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 61 (zwei erste Verse der 4. Strophe). 20 »[…] ce groupe de sons asHmes qui toquent la pens8e rationnelle / l’int8rieur du cr.ne et qui 8veillent ce faisant une m8moire non linguistique.« Pascal Quignard, La haine de la musique, Paris: Gallimard 1996, S. 62. [Übersetzung H.H.].
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pran im 5. Akt nicht zwangsläufig durch gewaltsamen Tod »erlöst« wird, läßt das Ereignis des Schocks filmen, das niederliegend zum Himmel schreit. Ein reines Dokument im Geiste der frühen Ulmer Hochschule für Filmgestaltung, ein »O Falladah, die du hangest!« des Bertolt Brecht im Zeitraffer, pure farbgesättigte Erschütterung im »cinema impure«. Für Kluge ist eine DVD ja einem Floß gleich: »Sie können sehr viele Baumstämme aneinander koppeln und damit sehr sicher fahren«, sagt er in einem Gespräch mit Gertrud Koch.21 Ist Tod eines Pferdes solch ein blutender Stamm in Fluxion? Der Blutstrom von »Tod eines Pferdes« und die bewegte Wasserfläche in »Angesichts unmenschlicher Verhältnisse müssen die Artisten den Schwierigkeitsgrad ihrer Künste erhöhen« bilden mit Anita G.’s Strömen ein gleichsam untergründiges Gewässer. – »Ein Zeichen sind wir, deutungslos« (Hölderlin, »Mnemosyne«): Diese »Schrift an der Wand« aus der Blutströmung des zitternden Pferdes bestehe nicht aus Schrift, sagte uns Kluge; aus dem Loch im Hals, durch das ein Schlauch schon Wasser zuführt, fließe ein Rot, das »aus dem Bild herausklettert«. So beschwört die newtonsche mathematische »Fluxion« der Filmsequenzen in deutscher Sprache die französische »fluxion«, den Andrang des Blutes – der tödlichen »muance et variation« (Montaigne).22 Unmittelbar nach dem Weiß der Fliesen, Hellbraun des Pferdes, Rot des fließenden Blutes nun das ruhige Weiß von Michael Hanekes Haar und Bart beim Minutengespräch mit Alexander Kluge, das Hanekes lautem Lesen von Grimms Märchen »Das eigensinnige Kind« folgt.23 »Alles fließt« (Heraklit), »Nichts fließt« (Kluge), »nichts stockt« (Celan): Kluges und Negts emblematisches Märchen von Geschichte und Eigensinn, das »kürzeste der deutschen Sprache«, wird vom Filmemacher gleichsam erzählt. So wie Anita G.’s eigensinniger Geschichtslauf um ihr wahres Leben den von ihr bezeugten Film Alle Horizonte haben Flügel in Bewegung hält, so hebt »Das eigensinnige Kind« die unvordenkliche Schranke schrecklicher Ereignisse, den geschichtlichen Kern der Märchen auf. Indem er die französische Entsprechung für »Eigensinn« würdigt, entÞtement, hebt Pascal Quignard den Sog hervor, der vom Wort zur Geschichte zurückführe, von der Geschichte zur Sage, der Sage zum Märchen, vom Märchen zum Traum.24 Durch doppelten Tod wird »das letzte Gesetz, das des Todes«, außer Kraft gesetzt. Verendet das Pferd wie, nach Heidegger, das Tier? Stirbt es?
21 Gertrud Koch/ Alexander Kluge, »Grundströme des Kapitals«, ein Interview mit Alexander Kluge, in: Die Frage des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Kontext, hg. von Christian Schulte, Berlin: Vorwerk 8, 2012, S. 282. 22 Montaigne, Essais, II, S. 76. 23 Alexander Kluge, Früchte des Vertrauens, Frankfurt am Main: Filmedition Suhrkam (4 DVD und ein Album) 2009, DVD 4: »Worauf können wir vertrauen«, Nr. 2). 24 Pascal Quignard in: Le Monde (»Le Monde des Livres«), 26. Juni 2009.
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Anitas Fluchtbewegungen 3 Anita liegt auf dem Gefängnisbett, man sieht den karierten Kragen ihrer Gefängnisbluse, genau von oben, »waagerecht im Bild«25. In Abschied von gestern nach der ersten Verurteilung, in der Zelle wiederholt sich dort mit Hammondorgel das Weihnachtslied »Leise rieselt der Schnee«. Dann tauchen märchenhafte Zeichnungen mit Mammuths aus Heinrich Hoffmanns »Besuch bei Frau Sonne« auf. In der leicht verrückten Einstellung in Alle Horizonte haben Flügel liegt sie einsam bei hartem Klavieranschlag, ohne Tango, ohne Weihnachtslied. Ihren Kopf hat sie sinnend auf den rechten Arm gestützt mit unsichtbarem Bild der Rute, die Finger der Hand deuten eine kaum wahrnehmbare Fluchtbewegung als newtonsche »Fluente« an, die fließende Grösse, deren Änderungsgeschwindigkeit er Fluxion genannt hatte. Zeitlich zweigeteilt ist die Inschrift, die vor Anita G., nach Anita G. in Verse übertragen zu lesen ist: »Ich bin /schlecht beraten gewesen in meiner Verzweiflung. // Aber ich bin / noch schlechter / beraten von / meiner Klarsicht./ Mir wird kalt.« Im Filmbuch Macht der Gefühle erscheint dieses Zitat aus dem Dreißigsten Jahr der ungenannten Ingeborg Bachmann auch, groß im Fettdruck, aus dem bei Bachmann die Schuldfrage des Denkenden in »entbergender Verborgenheit« (Heidegger) »ausgeatmet« wird26. In Abschied von gestern wird Anita im Gefängnis unter der Decke gebären in entzogener Niederkunft, das Kind unsichtbar. In Alle Horizonte haben Flügel steigert sich die Unsichtbarkeit. An Vertov entfaltet dafür trotz der Kürze des Minutenfilms die Entbindung bald auf ganzem Bildschirm, bald im Kugelfernseher im Schirm, abwechselnd in Schwarz/Weiß und Rot, mit der Präsentation des Kindes jäh endend. Ein schwarzer Schönheitsfleck auf Anitas linker Wange, welches Karma?
»Finale« – Von der Erlösung Lauter Todesarten, Arten der Todesabrüstung, umstrahlen Anita G.s letzte, fast unbewegliche Fluchtbewegung in Alle Horizonte haben Flügel. John Fiore exekutiert, lächelnd auf dem Klavier hämmernd, blitzschnell die Seiten der Partitur wendend, singend, fast grölend, sich räuspernd, fakehaft kommentierend ein 25 Einstellung 26 nach E. Patalas’ Protokoll. 26 »Er atmet leise und nachdrücklich die Schuld aus und denkt: Ich bin schlecht beraten gewesen von meiner Verzweiflung. Aber ich bin jetzt noch schlechter beraten von meiner Klarsicht. Mir wird kalt. Ich hätte die Schuld lieber behalten.« »Es ist Zerstörung im Gang«, heißt es im folgenden Abschnitt. In: Ingeborg Bachmann, ›Das dreißigste Jahr‹, MünchenZürich: Piper, 2010 [1978], S. 23. In Abschied von gestern ging es unsichtbar ergänzend – nach Dostojewskis Schuld und Sühne – um jeglichen und alles: »Jeder ist an allem schuld, aber wenn das jeder wüßte, hätten wir das Paradies auf Erden.«
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rasantes Finale von Verdis Nabucco, indes im Hintergrund Massen von Flüchtenden, Verfolgten in Feuersbrunst und Sintflut wimmeln. Er überbietet dabei Kluges Ansicht, wonach bei Verdi die fröhlichste Musik das tragische Geschehen gleichzeitig abrüstet, ohne es jedoch vertilgen zu können. Seiner Inszenierung von Wagners Fliegendem Holländer eingedenk, erweitert Christoph Schlingensief in einem Gespräch mit Alexander Kluge ohne Wagner-Musik Sentas dunkles Schicksal, die in seiner brasilianischen Inszenierung von ihrem Sektenvater Daland erstochen wird, zum Kosmos als Oper. Daraus leitet Schlingensief den Vernichtungsschlag einer ganzen Welt als »Echo meiner eigenen Schöpfung« her, zum »Urknall« zurückkehrend. Die visuellen Eindrücke und die Filmeinspielungen, die bei der Vorstellung in Manaus am Amazonas die Bühne »fluteten«, wimmeln ohne Wagners Musik im Hintergrund. Musik aber strömt hier aus dem periodisch kosmischen Leuchten eines Objektivs, dessen Umrisse man undeutlich wahrnimmt – eine Flut, gleichsam die Weltzeit von Sentas dunkler Seele, die Codes der Schwarz/Weiß- und Farbdramaturgie rücksichtslos sprengend: »Es gibt zwei Arten von Musik: die Musik der Töne und die Musik des Lichtes, nämlich das Kino«, schreibt Isidore Isou.27 Indes in Verdis Rigoletto hinter der Bühne Gildas, der ermordeten Tochter, »Leiche« von der Garderobiere verpackt und vom »Mörder« weggetragen, auf diese Weise der tödliche Ausgang entdramatisiert wird, interviewt in einer Fake-Sequenz aus dem Film von 1983 Die Macht der Gefühle die Journalistin Frau Pichota, von Alexandra Kluge dargestellt, den anfangs hoffend singenden Kammersänger, der so dem bewährten unausweichlichen Tod des Soprans im 5. Akt zu trotzen scheint. Während der beleuchtete Sänger mit scharfem Blick die Möglichkeit der »Abrüstung« des tragischen Ausgangs verteidigt, den Glauben wider Wissen, dass Möglichkeitssinn möglich ist – »Könnte doch aber!« –, scheint Frau Pichota in leisen Tönen, gleich einer Souffleuse eindringlich das Realitätsprinzip des Seienden durchsetzen zu wollen. Jedoch ersteht aus dem Klang und Harmonie der Stimme dieser in der Dämmerung Lauschenden die Lichtung eines ausdruckslosen Seins im Sinne Walter Benjamins.28 Es kommt zu einem Wechselspiel der Modalitäten Wirklichkeit und Möglichkeit, das über deren »Zerklüftung« hinaus den einen Horizont beflügelt, den tiefen Unglauben Kluges an das Tragische bezeugt, den »Gleichnischarakter dieser Schlüsselszene« ausmacht.29 27 Bei der Festival-Eröffnungsfeier im Freien vor dem Opernhaus in Manaus hatten Sambatrommler die Schlusßszene des Fliegenden Holländers in eine karnevalistische ErlösungsProzession verwandelt. S. dazu Josef Oehrlein, F.A.Z., 24. 04. 2007, Nr. 95, S. 33. – [Übersetzung H.H.]. Vgl. Isidore Isou, »Esth8tique du cin8ma«, in: Ion. Centre de cr8ation, Paris: Jean-Paul Rocher, 1999 (= Ion, Nr. 1, April 1952, S. 48). 28 Zur Stimme bei Alexander Kluge, insbes. Alexandra Kluges Stimme, vgl. Maguelone Loubliers’ Beitrag in diesem Band. 29 Vgl. Nina Noeske, »›In allen Opern, die von Erlösung handeln, wird im 5. Akt eine Frau
Anita G.s Zeitfluxion
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Werden die drei Sequenzen mit Anita G. von deren einsamem Geschick und Gesicht in ihrem Schwarz/Weiß begangen, so zeigt uns »Kuß mit Mond«, die Schlußsequenz von Alle Horizonte haben Flügel, die Kluge wiederum dem Schluß von Macht der Gefühle entlehnt, Knautsch-Betty und ihren Freund Schleich, die sich »nähergerkommen« sind, indem sie durch Kooperation ein Verbrechen abgebaut, einen Toten zum Leben wiedererweckt, den »fünften Akt« eines Verbrechens abgerüstet haben. Das »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen« der zweiten Sequenz aus Abschied von gestern scheint sich zu bewahrheiten: »[…] und dann werden tausend Märchen wahr«!30 In dem emblematischen R4 sitzend, hier als kleiner Lieferwagen, wenden beide das Gesicht der Mondsichel zu, für Kluge ein schweigender Inbegriff des Protestes, wie ihn die Schrifttafel zum Himmel spricht, die Anita in ihrer Zelle umrahmt. Horizonte der Horizonte, wenden sie sich in Farbe diesem unveränderlichen Mond zu, der »wie eine Irisblende« (Alexander Kluge) die kosmische Verbindung mit Vertovs Kameraauge, mit Kluges »dritten Bildern« herstellt: Mond und Mondscheinklavier stehen so für »das archimedische Moment, von dem aus die Welt verändert werden kann und muß«.31 Nicht umsonst schwebte also der Erzengel Helge Schneider unter fließenden Wolken über den Horizonten. Der Mensch sei ein Horizontwanderer, sagte uns Kluge, ein Überläufer, aus Afrika stammend, habe er alle Horizonte überflügelt, so wie jegliches Wesen auf seine Zeitfluxionen hin allen Horizonten entrinne.32
geopfert.‹ Film, Musik und Oper bei Alexander Kluge«, in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 2009/3, S. 84–95, hier S. 90. http://www.filmmusik.uni-kiel.de/beitraege.htm Datum des Zugriffs: 01. 05. 2009. 30 Titel und erster Vers des Refrains eines Zarah-Leander Schlagers von 1944 (Text: Bruno Balz). Dann zweiter Vers des Refrains. 31 Katrin Eggers, »›Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.‹ Sprachinseln und Musiksoziotope bei Alexander Kluge«, in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 2009/ 3, S. 96–109, hier S. 107.URL: http://www.filmmusik.uni-kiel.de/beitraege.htm. Datum des Zugriffs: 01. 05. 2009. 32 Ferngespräch mit Alexander Kluge am 10. März 2017.
Kza Han
Pour Alexandra Kluge – Speculum animae / Für Alexandra Kluge – Speculum animae
Abb.: »Äquinoktium«: Der Frühlingspunkt wandert längs der Ekliptik in sechs Jahrtausenden um ~848, fast ein Viertel der Himmelskugel (Dbackmann Wikimedia Commons, »eigenes Werk« / »œuvre originale«)
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Kza Han
miroir de cœur cœur bleu d’azur cœur ocre de semence cœur blanc d’aurore cœur indigo d’aura en quadrature r8frangible veronica persica *
miroir de pHlerin dominant de haut le site, avant que ne souffle l’8quinoxe vernal, qui t’ordonna ce triple saut dans l’ab%me ? i triple bouquet d’errance d’opalescence ! *
miroir de chasse morceau de bois taill8 en arc, fragments de miroir que fait tourner l’oiseleur dans le d8sert pas de »hic« / situer, ni d’»ille« / inscrire cette fissure de cinabre, comment parsemer le d8sert ? d’8chos d’8lytres ?
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Pour Alexandra Kluge – Speculum animae
herzspiegel blaues herz aus azur ockerherz aus saat weißes herz aus aurora indigoherz aus aura in brechbarer quadratur veronica persica *
pilgerspiegel hochüberragend die stätte, wer ordnete dir ehe das frühlingsäquinoktium wehte diesen dreisprung in den urgrund an? i dreifach opalwanderstrauß! *
jagdspiegel ein holzstück bogengeschnitzt, spiegelfragmente von vogelfänger gedreht in der wüste kein »hier« zu verorten, kein »dort« einzuschreiben jene zinnoberspalte, die wüste wie zu besäen? mit elytronechos?
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Kza Han
dans le brasier ferme l’oiseleur paupiHre sur paupiHre, alors s’ouvrit la 3e paupiHre qu’aiguillonna de pourpre l’.me
Pour Alexandra Kluge – Speculum animae
in der feuersglut schließt vogelfänger lid auf lid, da öffnete sich das 3. lid von der seele purpurn angestachelt
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REZENSIONEN
Sylvie Le Mo[l
Kluges Pluriversum – zum Greifen nah
Fassen wir den Besuch einer Ausstellung als Waldwanderung auf: Wir würden mit Lust unbekannte Wege erforschen und gern bei einem merkwürdig anmutenden Baum verweilen, uns immer tiefer in die Mitte hineintrauen, uns beinahe in einem dunklen Dickicht verlieren, uns doch wiederfinden, weiterlaufen, das Wechselspiel von Licht und Schatten beobachten, das dem Blick jederzeit neue Kombinationen bietet und ihn für neue Sinneseindrücke schärft. So wie der Wald sich als ein unerschöpflicher, verwirrender und doch immer neu anziehender Erfahrungsraum erweist, bieten die sechs Räume der Essener multimedialen Kluge-Ausstellung dem Besucher bzw. Wanderer Anlass für Erlebnis und Experiment, lässt er sich doch auf die von Kluge praktizierte Technik des CrossMappings ein: »mit einer Straßenkarte von Groß-London den Harz zu durchwandern«. Erfahrungsraum ist hier der Neubau des Folkwangmuseums, dessen Entwurf zirkular, nicht linear konzipiert wurde und sich für das Ausstellungsprojekt bestens eignet, das sich jeder Linearität entzieht und für einen produktiven Dialog zwischen Vergangenheit und digitalisierter Gegenwart sorgt. Ein Beispiel: Auf der Suche nach dem nächsten Raum geht der Besucher durch einen schweren Vorhang und stößt unerwartet auf einen Teil der Museumssammlung, kleine Figuren aus dem altägyptischen Alltag. Es gilt Kluge in der Tat, »der Vergangenheit die Zukunft abzugewinnen«. Diese Perspektivierung verleiht der Vielfalt und Heterogenität von Bildern, Objekten, Filmen, Texten und Zitaten, die den Besucher befremden mag, ihre Dichte und maximiert ihr Dynamisierungspotential. Der Besucher entdeckt mithin nicht nur die Wunderkammer von Kluges Lieblingsobjekten und Fundstücken, sondern hat an seiner Sammlungspraxis teil, an deren Aneignung des Fremden und am schöpferischen Prozesse dessen Wandels durch die Herstellung neuer Zusammenhänge je nach »veränderter Lage«. Kluges Werk nährt sich gerade vom interdisziplinären Dialog zwischen Bereichen des menschlichen Schaffens, Fühlens und Denkens – Wissenschaft, Kunst, Literatur – und von Interaktion zwischen dem Subjektiven, Erlebnishaften und dem Ereignishaften, aus der die Geschichte entsteht.
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Rezension
Die Ausstellung macht diesen Prozess sichtbar und erfahrbar, lädt dazu zur kreativen Nacheiferung ein, indem das Museum hier nicht als Schatzkammer kanonisierter Kunstwerke erscheint, sondern als lebendige Werkstatt fungieren soll, in der miteinander verwobenes Kunst- und Denkexperiment (kunstvoll) inszeniert wird. Der Eingangsraum (»Sternenkarte der Begriffe«) wurde von Kluge als »bildliche Einführung« konzipiert, wobei der Zuschauer mit Begriffen und Objekten vertraut wird, die auf eine Sternenhimmeltapete in eine Konstellation gesetzt sind. Unter anderen leuchtet das Zitat aus Kluges Film Die Patriotin (1979) programmatisch ein: »Die meiste Zeit ist Gabi Teichert verwirrt: Das ist eine Frage des Zusammenhangs«. Wir aber Menschen, Besucher, Zuschauer, Wanderer, werden daher aufgefordert, aus dem Archiv von Bildern, Objekten, Zitaten jeglicher Provenienz auch neue Zusammenhänge herzustellen. In der Mitte des Raums befindet sich daher ein Podest, der eine mit einem schwarzen Tuch gefüllte Glasflasche zur Schau stellt – eine Flaschenpost für die kommenden Generationen. In den nächsten fünf Räumen wird die Kombinierung aus filmischem Material und sinnlich-poetischen Signalen immer wieder fortgesetzt, welche die Konstruktion durch den Menschen seines »Eigensinns« an allen Orten und Zeiten bei allen krisenhaften, sogar chaotischen Umständen widerspiegeln. Im zweiten, abgedunkelten Raum (»Lebenszeit als Währung«) laufen sechs Videos, welche verschiedene Lebensbereiche des Menschen dokumentieren (Liebe, Arbeit, Krieg …) und in Beziehung zu Objekten (Lupe, Fernrohr, Teleskop, Geburtszange) gesetzt werden. Der Besucher dringt in menschliche Erfahrungswelten hinein, in denen zeitliche und räumliche Mikro- und Makroebene, Subjektives und Faktisches aufeinanderprallen und überlässt sich allmählich seinem eigenen Assoziationsvermögen. Derselbe Prozess von Assoziationsketten vollzieht sich im fünften Raum (»Pluriversum der Bilder«), der ausschließlich dem Medium Film, dessen Evolution und Möglichkeiten gewidmet ist: »Mehrfachbilder für 5 Projektoren« werden gezeigt. In den beiden Räumen begünstigt die Bewegung des Zuschauers den Wechsel von Blick und Perspektive: Die mögliche Faszination für die Technik paart sich dabei mit dem Nachdenken über unsere moderne Erfahrungswelt und mit der Lust am eigenen Herstellen neuer Zusammenhänge. Der Besucher wird in seinen Bemühungen um die Verarbeitung der Bilderflut durch den Regisseur und Monteur Kluge unterstützt, denn die Wanderung lässt uns auch an seiner Praxis des Sammelns und seiner Kunst der Metamorphose teilhaben, enthüllt dabei die Hintergründe nichtrealisierter oder nur begonnener Filmprojekte. Die beiden Räume »Arbeitszimmer« und »Archiv – das Gedächtnis der Bilder« erscheinen als ein Laboratorium, wo das Motto: »In den Archiven der Vergangenheit werden wir die Zukunft finden« umgesetzt wird. Bücher, Geräte, Bilder, Mischpulte materialisieren die Art und Weise, wie der Dialog mit der Vergangenheit die menschliche Schöpfungskraft im fortwäh-
Sylvie Le Moël
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renden »Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit« anregt. Die Anknüpfung an Aby Warburgs gigantisches Projekt von thematischen Bildersammlungen, Mnemosyne Bilderatlas, welche in der Sternenkarte der Begriffe schon angedeutet war, wird am Beispiel der Metamorphosen der Medea-Figur im kollektiven Gedächtnis dokumentiert. Kluge stellt seinen eigenen Bilderatlas her, indem er seit 1985 Filmtechniken ausprobiert: Einige unter den 234 schon existierenden Kassetten aus filmischen und digitalen Versuchsreihen werden hier zum ersten Mal dem Publikum gezeigt. Der Besucher/Wanderer betritt schließlich einen für die menschliche Psyche konstituierenden Erfahrungsraum, den Märchenraum, dem Kluge auch wichtiges Reflexionsmaterial für die Erzählung seiner »Gegengeschichten« abzugewinnen weiß. Die Märchen verarbeiten bekannterweise grundlegende Erfahrungen, die im Ausstellungraum durch ein kleines Holzhaus und eine große Tür symbolisiert werden. Im Inneren des Häuschens sind Bilder von Grimms Märchen ausgestellt. Aber das Haus der Grimm’schen Märchen ist nicht beweglich wie das Schiff von »Kapitän Ulysses« und bietet daher keinen absoluten Schutz vor der Gefahr, was am Märchen Die sieben Geißlein exemplifiziert wird. Kluges Umgang mit dem Geschichtenerzählen kombiniert kritisches Denken (»Wer nicht an Märchen glaubt, war nie in Not«) mit der Suche nach Auswegen aus der Not in multiperspektivischer Richtung, denn »die menschlichen Wünsche sind vielgestaltig«. Als uomo universale der Moderne experimentiert er mit neuen Techniken und Errungenschaften der Wissenschaft und vertraut dem Erkenntnis- und Erfindungspotential der Menschenspezies. Der Dialog und die kreative Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstlern wird durch Videogespräche und ausgestellte Werke u. a. der beiden jungen Gründerinnen vom Produktionsgefüge »Das Institut« (2007) dokumentiert. Bei der Fülle des Materials und dessen lebendiger Inszenierung bleibt dem Besucher nur ein Desiderat übrig: die Herstellung einer Klanginstallation, die nicht nur dem Interesse Kluges an der menschlichen Stimme Rechnung getragen hätte, sondern auch sein Prinzip eines polyphonen Pluriversums sinnlich fassbar gemacht hätte1.
1 Das erschienene Buch zur Ausstellung (Alexander Kluge, Pluriversum, Verlag Spector Books) ist kein Katalog, sondern ein erkenntnisreiches »Hybrid« mit Essays zum Werk, Geschichten, Interviews (mit Hans Ulrich Obrist, Georges Didi-Hubermann), Gesprächen Kluges mit u. a. Hans Belting und Gerhard Richter und einem nützlichen »kleinen Kugellexikon der SchlüsselFiguren im Werk Kluges« (zusammengestellt von Christoph Streckhardt).
Winfried Siebers
Christoph Streckhardt, Kaleidoskop Kluge. Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln, Tübingen: Narr Francke Attempto 2016. 451 Seiten (ISBN: 978-3772085888).
Spätestens seit der Verleihung des Georg-Büchner-Preises im Jahr 2003 ist es üblich geworden, Alexander Kluge als Erzähler der Kritischen Theorie zu bezeichnen. Der Preisträger selbst griff diesen Gedanken auf, indem er feststellte, dass er im Denkzusammenhang der Kritischen Theorie »die weniger offizielle Stellung eines Erzählers« bekleide.1 Allerdings war dessen Beziehung zu den Gründergestalten des Instituts für Sozialforschung tiefgründiger und langfristiger, als es uns Kluge mit seinen gelegentlich geäußerten halb ernsten, halb ironisch gemeinten Zuschreibungen glauben machen möchte. So etwa mit der Bemerkung, er sei »sozusagen der Hofpoet der großen Philosophen« aus der Tradition der Kritischen Theorie; oder sein Vorlass im Archiv der Akademie der Künste zu Berlin liege »quasi in der Bettritze zwischen Adorno und Benjamin«; oder seine wiederholte Kennzeichnung, er sei eher so etwas wie ein »bekennende[r] Hilfsarbeiter der Frankfurter Schule«2. Dagegen spricht nicht nur seine fortdauernde Berufung auf die Grundlagentexte dieser philosophischen Tradition sowie seine langjährige intellektuelle Freundschaft mit Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas, sondern nicht zuletzt auch seine kontinuierliche Zusammenarbeit in sozialphilosophischen Fragen mit dem ehemaligen HabermasAssistenten Oskar Negt. In der Kluge-Kritik sind diese Zusammenhänge von Zeit zu Zeit – vor allem in der Auslandsgermanistik – angesprochen und in manchen 1 »Meine Loyalität gehört gedanklich der Kritischen Theorie, wie sie von Horkheimer und Adorno in Frankfurt gelehrt wurde. Ich bekleide hier die weniger offizielle Stellung eines Erzählers.« Alexander Kluge, »Das Innere des Erzählens. Georg Büchner«, in: ders., Fontane, Kleist, Deutschland, Büchner. Zur Grammatik der Zeit, Berlin 2004, S. 75 (Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2003). 2 »Hofpoet«: Alexander Kluge, Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen, Berlin 2013 (= filmedition suhrkamp 34), DVD 1, TC 3:30 (1. Vorlesung vom 05. 06. 2012); »Bettritze«, zit. n. Elisa von Hof, »Die wilde Chronik eines Filmemachers. Alexander Kluge übergibt gut gelaunt sein Archiv an die Akademie der Künste«, in: Berliner Morgenpost, Nr. 254, 17. 09. 2015, S. 16; »Hilfsarbeiter«, zit. n. Jürgen Kaube, »Ein Ingenieur seiner Geschichten. Alexander Kluge erhält heute den Adorno-Preis«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 211, 11. 09. 2009, S. 31; die Fundorte der Zeitungsartikel sind auch online zugänglich.
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Teilaspekten genauer untersucht worden.3 Dennoch gab es bisher keine umfassende Untersuchung, welche die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln – so der Untertitel der Studie – durch den Erzähler, Filmemacher und Fernsehessayisten Kluge zum Gegenstand ausführlicher Erörterungen gemacht hätte. Mit Christoph Streckhardts Arbeit zum Kaleidoskop Kluge liegt nunmehr eine solche Arbeit vor. Ungewöhnlich für eine akademische Qualifikationsschrift – die Abhandlung lag im Wintersemester 2014/15 der Universität Tübingen als Dissertation vor – ist deren Aufbau: Das argumentative Kernstück, das bei einem Umfang von rund 230 Seiten sechs Unterkapitel aufweist, ist von zwei Interviews umrahmt, die der Autor im Abstand von rund drei Monaten während des Schreibprozesses mit Alexander Kluge führte. Eine Art Glossar bietet das abschließende »Kluge-Lexikon«, das knapp über 90 Schlüsselbegriffe der ästhetischen und theoretischen Arbeit Kluges alphabetisch präsentiert. Schon an dieser Gliederung wird deutlich, dass der Verfasser mit unterschiedlichen methodischen Zugängen auf seinen Gegenstand zugeht. Diese polyperspektivische Annäherungsweise entspricht den ästhetisch-analytischen Verfahrensweisen, die für Kluges Werk selbst konstitutiv sind: Mehrdimensionalität, Dialog, »Enzyklopädie der Erfahrung«4, argumentative Theoriearbeit. Dabei greift Streckhardt diese Zugriffsweisen nicht einfach nachahmend auf, sondern nutzt sie in methodisch kontrollierter Abwandlung zur Generierung neuer Erkenntnisse für seine Fragestellung. Seine Methodik nennt er »kritisch-assimilierend (jedoch nicht imitierend)« (15). Einen Erkenntnisgewinn sieht er darin, das Klugesche Werk »als Physiognomie eines philosophischen Denkzusammenhangs [zu] rekonstruieren« (13). Im Rahmen dieses Denkzusammenhangs möchte der Autor drei zentrale Aspekte herausarbeiten. Erstens möchte er die Verfahren beschreiben, mit denen Kluge eine Prüfung des hochkulturellem Expertenwissens auf seine Alltagstauglichkeit vornimmt, was letztlich auf die Herstellung von »tägliche[m] Unterscheidungsvermögen« zielt; zweitens möchte er dessen Anspruch, einer »ästhetischen Bildung zur Mündigkeit« zuzuarbeiten, untersuchen; und drittens soll dessen produktiver »Austausch mit Vergangenem« als »prozessuales Projekt« (10) anschaulich gemacht werden. Wissensproduktion in kritischer Ab3 Dabei ist neben den Arbeiten von Miriam Hansen und Christian Schulte insbesondere auf die Beiträge von Harro Müller und Richard Langston hinzuweisen; vgl. zuletzt Harro Müller, »Kritische Theorie und Realismusbegriff. Horkheimer, Adorno, Kluge«, sowie: »Verwendungsweisen des Authentizitätsbegriffs bei Theodor W. Adorno und Alexander Kluge«, beide in: ders., Taubenfüße und Adlerkrallen. Essays zu Nietzsche, Adorno, Kluge, Büchner und Grabbe, Bielefeld 2016, S. 105–128 und 147–162 (Erstdrucke 2012 und 2011); Richard Langston, »Editorial«, in: ders. u. a. (Hg.), Glass Shards. Echoes of a Message in a Bottle, Göttingen 2015 (= Alexander Kluge-Jahrbuch 2), S. 9–14. 4 Vgl. Christian Schulte, »Enzyklopädie der Erfahrung«, in: ders. (Hg.), Die Frage des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Kontext, Berlin 2012, S. 9–12.
Winfried Siebers
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sicht, spielerische Entfaltung von Mündigkeit, Multiperspektivität der Geschichtserfahrung – man erkennt schnell, dass diese Maximen Kluges ebenfalls Anliegen der Kritischen Theorie sind und dass sie in größerem historischen Maßstab betrachtet sogar die Kernelemente des historischen ›Projekts der Aufklärung‹ umfassen. Ebenso unkonventionell wie die Gesamtgliederung ist die Darstellungsweise des argumentativen Hauptteils der Arbeit. Der Verfasser entwickelt seine Gedanken aus einer philosophisch-bildungstheoretischen Perspektive, die sich aber nicht an der Linearität einer erwartbaren Abfolge von Entfaltungsschritten orientiert – so gibt es kaum Einführungen, Überleitungen, Zusammenfassungen oder Bemerkungen zum Zwischenstand der Argumentation –, sondern »kugelförmig« verfährt; kugelförmig in dem Sinne, dass sich alle Grundannahmen, Beweisgründe, Materialien und Kommentare in nicht-hierarchischer und gleicher Distanz zu einem Zentrum befinden, als welches man sich den imaginären Mittelpunkt einer Kugel vorzustellen hat. Diese Art der Darstellung findet der Verfasser auch in Kluges Arbeitsweise wieder ; sie geht zurück auf Überlegungen Eisensteins zum »Kugelfilm« und Adornos zur Form seines letzten Werkes, nämlich die Ästhetische Theorie (1970) – genau an diese Gedanken knüpft der Verfasser an (205–207). Dem Leser erschließt sich eine solche Vorgehensweise allerdings erst spät, ungefähr in der Mitte des Buches; bis dahin erscheint ihm diese Art der Argumentation recht schlagwortartig, parataktisch und rhapsodisch. In sechs Unterkapiteln entfaltet der Autor seine These von Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln. Zunächst skizziert er einige grundlegende Zentralbegriffe und Lehrsätze der Kritischen Theorie, die er als eine zeitdiagnostische Analyse und Kritik der Gesellschaft, insbesondere ihrer Macht-, Gewalt- und Freiheitsverhältnisse kennzeichnet. Der gesellschaftsverändernde Impuls der Kritischen Theorie ziele auf eine umfassende kollektive Emanzipation aus den Zwängen des »entfesselte[n] Kapitalismus« (24) und auf eine Aktivierung der Erkenntnisvermögen des ganzen Menschen. An diesem Bezugspunkt sieht er den Erzähler Kluge ansetzen, der seine narrative Aufklärungsarbeit an die konkreten Lebenszusammenhänge der Menschen rückbinde, mit institutionellen Rahmungen wie kooperativer Arbeitsweise und Öffentlichkeit verknüpfe sowie mit Hilfe eines künstlerischen ›Methodenpluralismus‹ und »konstellative[r] Darstellungskraft« (60) ästhetisch veranschauliche. Ein zweites Unterkapitel setzt diese Überlegungen mit der Erläuterung von Kluges »Philosophie der Konstellationen« fort. In der Denkfigur der Konstellation werden die »subjektiv-objektiven Beziehungen um einen Themenkreis, einen Begriff oder eine Idee« (403) zu einem nicht-hierarchischen Netzwerk versammelt. Dabei bleiben die Einzelphänomene als solche erhalten, selbst das
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»Begrifflose« oder »Nichtidentische« sind unabdingbare Bestandteile der Konstellation. Diese von Adorno und ähnlich von Benjamin (»Konfiguration«) und Max Weber (das »Komponieren«; 72f.) entwickelte Darstellungsmethode hat für Kluge eine künstlerische und eine erkenntniskritische Bedeutung: (1) künstlerisch, indem er dieses konstellative Verfahren in die narrativen Techniken der Montage, des cross-mapping, des Essayistischen und des multiperspektivischen Geschichtenerzählens übersetzt; und (2) erkenntniskritisch, da die verwendeten Materialien ihr Eigenleben behalten und keinem System oder ›Oberbegriff‹ unterworfen werden – ganz im Sinne der vom Verfasser zitierten Maxime Adornos: »Kunst berichtigt die begriffliche Erkenntnis.« (72) Anhand eines daran anschließenden philosophiegeschichtlichen »Streifzug[s]« (74) zur Subjekt-Objekt-Problematik erläutert der Verfasser vor allem an literarischen Beispielen (Schlachtbeschreibung, Luftangriff auf Halberstadt), wie Kluge dieses komplexe Beziehungsverhältnis in intersubjektive künstlerische Erkenntnisprozesse umsetzt, indem er jeweils eine »Mimesis der spezifischen Form« (85) findet. Bereits hier kann festgehalten werden, dass die »konstellative Narration« (82) eine zweifache Bildungskompetenz besitzt: Zum einen dient sie der Vermittlung von Wissen und Erfahrung, zum anderen fördert sie die Vermittlung eines kritischen Rezeptionsverhaltens. Das dritte Unterkapitel widmet sich der Öffnung der Kritischen Theorie zu einem größeren Rezipientenkreis außerhalb der akademischen Wissenschaft und den Kooperationsmethoden, die eine solche Öffnung bewirken können. Kluges Projekt wird dabei als »Begleitung von Philosophie und die Vernetzung von Philosophie mit Erzählung« (93) beschrieben, die Kritik, Antizipation (Stichwort ›Möglichkeitssinn‹) und Orientierungshilfe auf ihre Praxistauglichkeit und ihren Gebrauchswert prüfe. Kluge betreibe somit »aisthetische Bildungsarbeit zur Mündigkeitsaffizierung der Menschen« (110). Im vierten Unterabschnitt zu Identität und Öffentlichkeit werden Formen emanzipatorischer Öffentlichkeiten sowie einige Praktiken der Erfahrungsproduktion skizziert. Dazu gehört das Klugesche Verfahren der Gegenproduktion, welche die Phantasie als Produktivkraft gesellschaftlicher Emanzipation nutzt. Als besonderer Ort der Überkreuzung von Öffentlichkeiten wird die Stadt genannt, die gleichzeitig »Tummelplatz, Erfahrungsraum, [und] Reflexionsort« (141) sei. Im fünften Unterkapitel wirft der Verfasser einen Blick in »Kluges Werkstatt der Gegenproduktion«. Diese hält an den emanzipatorischen Idealen der Kritischen Theorie fest, veranschaulicht sie jedoch in künstlerischer Weise, indem sie im Rückgang auf ›natürliche‹ Redesituationen (»Lebensläufe, Chronik, Enzyklopädie, Sammeln, Kommentar, Metamorphose«; 210) und im permanenten Wechsel von Medien und Medialitäten die narrativen Elemente (Geschichten, Dokumente, Reflexionen) montiert. Dabei wird die Linearität der Darstellung
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des Öfteren zugunsten eines »Prinzip[s] der Vielpoligkeit« (›Kugelform‹; 207) aufgehoben. Zudem wird die besondere Erkenntnisform des Fernseh-Dialogs bzw. -Interviews genutzt, die darin besteht, öffentlich, improvisiert und assoziativ eine gemeinsame Denkbewegung zu vollziehen. Fester Bestandteil dieser Form ist das Fake-Interview, welches durch Verfremdung, Brechung und Komik vor einer Verfestigung der Rezeptionsgewohnheiten bewahrt – ebenso wie die zahlreichen visuellen Effekte einschließlich der typographischen Experimente in den Zwischentiteln. An dieser Stelle schlägt der Verfasser einen Bogen zum Titel der Arbeit, indem er der Erzählweise Kluges zuschreibt, sie sei der »Funktionsweise eines Kaleidoskops« (249) ähnlich, bilde also Lebendigkeit, Vielfarbigkeit und Abwechslungsreichtum des Lebens ab, zersplittere dieses Abbild jedoch im gleichen Moment, um es neu zusammenzusetzen. Im sechsten und letzten Unterkapitel erörtert der Verfasser die Idee und das Konzept der Mündigkeit, das in den 1950er und 1960er Jahren von Vertretern der Kritischen Theorie als ›Erziehung zur Demokratie‹ öffentlichkeitswirksam vertreten wurde, selbstverständlich aber eng mit der Ursprungsgeschichte der Aufklärung verbunden ist. Dabei werden noch einmal Kernbegriffe wie Vernunft, Erfahrung und Emanzipation aufgerufen, um dann die spezifisch Klugesche Aneignung dieses Diskurses sichtbar zu machen. Sie liegt in dessen weithin bekannter »analytisch-sinnliche[r] Methode« (337), die hier nur in Stichworten angedeutet sei: Antirealismus des Gefühls, Möglichkeitssinn, Selbstregulation, Hebammenkunst, Idee der Bifurkation, Gegenproduktion. Aus dem Zusammenhang dieser Verfahrensweisen schlussfolgert der Verfasser, dass Kluge einer »ästhetische[n] Bildung zur Mündigkeit« (340) zuarbeite. In einem Resümee fasst der Autor seine Schlüsselerkenntnis dahingehend zusammen, dass Kluges Ästhetik eine »Weiterentwicklung der Kritischen Theorie« als »wirklichkeitsnahes […] Anwendungsfeld für kritisches, vernünftiges Denken« (349) sei, sie zur Aktivierung von »Partizipation« (342) anrege und sie aus diesem Grund auch »Orientierungshilfe« (345) zu geben vermöge. In dieser knappen Zusammenfassung konnte nur die Grundlinie der Argumentation von Christoph Streckhardts Untersuchung nachgezeichnet werden. Tatsächlich besticht die Abhandlung zudem durch eine Fülle von Aspekten, Anregungen und Überlegungen, die der Verfasser fast beiläufig in seinen Gedankengang einfließen lässt. So wurde z. B. meines Wissens noch nie so akribisch eine Liste der medialen Formen zusammengestellt, die Kluge zur Verbreitung seiner kritisch-narrativen Arbeiten nutzt (198–201). Insgesamt überzeugt die Darlegung durch die engmaschig geführte Ableitung der klugeschen Gedankenwelt und seiner ästhetischen Verfahren aus den Grundschriften der Kritischen Theorie, wobei insbesondere Adorno, Benjamin, Horkheimer, Marcuse und Habermas eine Rolle spielen. Die philosophisch-philologisch genaue Genealogie der Begriffe, Denkfiguren und Methoden macht das Buch darüber
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hinaus zu einem Schatzhaus wertvoller, nicht immer bekannter Zitate aus dem gesamten Spektrum der Kritischen Theorie. Hinzu kommt, dass der Verfasser immer wieder neue, bisher unbekannte Quellen in die ideengeschichtliche Rekonstruktion einfließen lässt, die er im Deutschen Literaturarchiv Marbach (Siegfried Unseld Archiv) und im Archiv der Akademie der Künste zu Berlin (u. a. Theodor W. Adorno Archiv ; Briefwechsel Kluge/Adorno) eingesehen hat. Die überzeugenden Ergebnisse der Studie speisen sich aus dieser philosophiegeschichtlich enggeführten Kontextualisierung des Klugeschen Werks, das die emanzipativen, denkmethodischen, ästhetiktheoretischen und öffentlickeitsrelevanten Impulse der Kritischen Theorie in ein auf breite Rezipientenschichten gerichtetes narratives ›Anwendungsfeld‹ überträgt. Gänzlich innovativ ist das die Untersuchung abschließende, knapp 50-seitige »Kluge-Lexikon«, das Definitionen, Zitate und Verweisstellen zu Schlüsselbegriffen der analytisch-narrativen Arbeit Kluges versammelt. Tatsächlich erfüllt dieses Lexikon einen seit langem bestehenden Bedarf, denn ein solches Glossar oder Begriffsinventar bekommt immer dann seine dringliche Relevanz, wenn durch den schieren Umfang der Texte und Medienprodukte deren Grundpfeiler und inneren Bezüge kaum mehr überschaubar sind – das ist mit Blick auf Kluges Werk bei rund 5.000 Seiten Prosa seit dem Jahr 2000 und etwa 3.500 Kulturmagazinen seit 1988 sicherlich der Fall. Hin und wieder wäre es allerdings sinnvoll gewesen, wenn der Verfasser seine philosophisch-sozialwissenschaftlich argumentierende Wegstrecke verlassen und häufiger einen Seitenblick auf Anknüpfungspunkte in den Medien-, Literatur- und Kulturwissenschaften geworfen hätte. Kann man heutzutage ernsthaft einen – durchaus interessanten – Abriss zu dem »Kälte«-Projekt von Kluge und Adorno schreiben (102–106), ohne zumindest beiläufig auf die motivgeschichtlichen Bezüge zu Helmut Lethens Standardwerk Verhaltenslehren der Kälte (1994; 7. Aufl. 2014) hinzuweisen? Wäre es nicht hilfreich gewesen, sich bei der Erörterung der medialen Inszenierung der Fernsehinterviews und der spezifischen Klugeschen Fragetechnik (219–225) die Expertise der Studie von Matthias Uecker zum Anti-Fernsehen? (2000) zunutze zu machen? Hätten nicht die sehr überzeugenden und innovativen Ausführungen zu Kluges Denken in Konstellationen (63–88) an zusätzlicher Relevanz gewonnen, wenn gleichzeitig auf die neuerdings intensiver diskutierte ideengeschichtliche Konstellationsforschung eingegangen worden wäre?5 Und schließlich: Es wurde schon angedeutet, dass gerade die US-amerikanische Germanistik seit dem Einsetzen der dortigen Kluge-Rezeption in den 1980er Jahren immer wieder auf dessen enge 5 Vgl. Martin Mulsow und Marcelo Stamm (Hg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005; Martin Mulsow, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der frühen Neuzeit, Berlin 2012.
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Verbindung zur Kritischen Theorie aufmerksam gemacht hat, etwa in den diesem Autor gewidmeten Schwerpunkheften der Zeitschriften New German Critique (Winter 1981/82; Winter 1990), October (Herbst 1988) oder The Germanic Review (Nov. 2010).6 Sicherlich hätte es zur Schärfung und Abrundung der Argumentation beigetragen, wenn es zu einer produktiven Auseinandersetzung mit diesem Rezeptionsstrang gekommen wäre. Diese wenigen Einwände vermögen aber den Nutzen von Christian Streckhardts Arbeit für die Kluge-Kritik nicht zu schmälern. Mehr für den Kenner des klugeschen Werks als für den ›Einsteiger‹ gedacht, füllt sie die oft nur oberflächlich durchdachte Kennzeichnung Kluges als Erzähler der Kritischen Theorie mit Leben und verleiht ihr eine beeindruckende philosophiehistorische Tiefenschärfe.
6 Vgl. des Weiteren Fußnote 3.
Valentin Mertes
Dorothea Walzer, Arbeit am Exemplarischen. Poetische Verfahren der Kritik bei Alexander Kluge, Paderborn: Fink 2017. 214 Seiten (ISBN: 978-3-7705-6201-5).
Seit den 1960er Jahren prägt Alexander Kluge mit seinem multimedialen Œuvre die deutsche Kultur- und Medienlandschaft. Die großen Filme und umfangreichen Erzählbände, die zusammen mit Oskar Negt verfassten philosophischen Arbeiten sowie die unzähligen Fernsehmagazine bilden einen derart umfangreichen Materialkorpus, dass es notwendigerweise einer methodischen Perspektivierung bedarf, um den immanenten Werkzusammenhang herauszuarbeiten. In diesem Sinne ist das Vorhaben von Dorothea Walzers Monographie Arbeit am Exemplarischen. Poetische Verfahren der Kritik bei Alexander Kluge zu verstehen. Darin gelingt es ihr einerseits, anhand exemplarischer Analysen die zentralen Fluchtlinien dieser Medien-, Gattungs- und Disziplinvielfalt nachzuzeichnen. Andererseits ermöglicht dieser Querschnitt, Kluges Medienpraxis selbst als eine permanente »Arbeit am Exemplarischen« (S. 13) zu dechiffrieren, die in ihrem essayistischen, kommentierenden und dialogischen »Umgang mit Fallbeispielen als […] Prozess der Verdichtung und Entfaltung von Konfliktlagen« (S. 12) interpretiert wird. Daher bilden auch der Essay, der Kommentar sowie der Dialog in den drei großen Kapiteln des Buches jeweils den theoretischen und historischen Kontext für die produktionsästhetische Untersuchung von Kluges poetischen Verfahren. Zunächst wird die Spezifik von Kluges essayistischem Verfahren exemplarisch an dem Film Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, dem Erzählband Geschichten vom Kino sowie den beiden Filmbüchern Gelegenheitsarbeit einer Sklavin und Die Patriotin medienübergreifend herausgearbeitet. Vor dem Hintergrund der theoretischen Positionen von Luk#cs, Adorno und Bense zeigt Walzer, dass das kritische Potential der essayistischen Form bei Kluge darin liegt, sowohl den »Zusammenhang von Poetologie und Wissen« (S. 37) als auch die »intrinsische Verflechtung von Experiment und Erfahrung« (S. 38) als offenen Prozess zur Darstellung zu bringen. Die präzise Analyse des Films macht auf eindrückliche Weise sichtbar, dass die inhaltliche Frage nach der artistischen Arbeit im Zirkus (Übung, Spezialisierung, Disziplinierung) eine vielschichtige Wechselbeziehung zur künstlerischen Arbeit filmischer Produktion (Handwerk,
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Rezension
Industrie, Erfahrung) unterhält und dass sich Kluges permanente Suche nach ästhetischen Ausdrucksweisen an diesem Spannungsverhältnis von Inhalt und Form abarbeitet. So gelingt es der Autorin auf plausible Weise das essayistische Verfahren von Kluge als einen »probenden Denk- und Formversuch« (S. 59) zu definieren, in dessen Zentrum das Prinzip der Montage durch assoziative Verknüpfungen und kritische Schnitte zum »Mittler von Experiment und Erfahrung, von Übung und Arbeit, von Industrie und Handwerk« (S. 58) wird. Im zweiten Teil nimmt Walzer das philosophische Werk von Kluge und Oskar Negt zum Ausgangspunkt für ihre Untersuchung des Kommentars als kritisches Verfahren und relationale Praxis. In ihrer theoretisch fundierten Lektüre weist sie nach, dass Öffentlichkeit und Erfahrung, Geschichte und Eigensinn und Maßverhältnisse des Politischen nicht nur als Kommentare zur Theorie- und Kulturgeschichte zu lesen sind, sondern selbst eine kommentierende Poetologie entwickeln und praktizieren. Durch ihren theoretischen Rückgriff auf Walter Benjamin kann die Autorin zeigen, dass der Kommentar bei Kluge einer Kritik der Autorität des Primärtextes verpflichtet ist, die durch »Aneignung und Umfunktionierung« (S. 88) von bildlichen, textuellen und theoretischen Beispielen ästhetische und epistemologische Praktiken als Gebrauchsformen problematisiert. So wird der kritische Kommentar zu Tatlins Turm in Öffentlichkeit und Erfahrung zum exemplarischen Modell, das die »Produktionsbedingungen seines eigenen Gebrauchs verhandelt« (S. 93). Dieser modellhafte Gebrauch von Beispielen wird in Geschichte und Eigensinn zur Methode ausgearbeitet, die das Verfahren der kommentierenden Schreibweise in Bezug auf Marx’ Das Kapital in einer »Anthropologie der Arbeit« (S. 104) fundiert. So lässt sich der Kommentar bei Kluge als ein relationales Verfahren definieren, das durch die »Sammlung von Modellanalysen […] interne Reflexionsbeziehungen« (S. 118) hervorzubringen vermag, die aber gleichzeitig in Bezug zur Gegenwart die Bedingungen der Darstellung von Geschichte problematisieren. Eben diese Problematisierung der Bedingungen von Geschichtsschreibung bildet nach Walzer das poetologische Gravitationszentrum von Kluges großer Erzählsammlung Chronik der Gefühle. Ihre beispielhafte Analyse der Erzählung »20 Milliarden Jahre v. Chr. Aus der Äonen-Chronik des Mönchs Andrej Bitow« legt Kluges Darstellungen der »nichtlinearen Zeitlichkeit« (S. 122) von Geschichte durch intertextuelle Vernetzung, Querverweise, Rückblenden und Zeitsprünge als immanente Kritik an einer linearen und teleologischen Historiographie offen. Die Offenheit eines solchen »kugel- oder kreisförmige[n] Erzählens« (S. 128) ermöglicht es den RezipientInnen – im assoziativen Nachvollzug der Querverbindung – selbst in den Prozess des Kommentierens einzutreten. Schließlich gelingt es Walzer im dritten Teil ihres Buches durch eine vergleichende Analyse der verschiedenen »Szenen der Befragung« (S. 147) in Kluges multimedialem Werk, ein spezifisch dialogisches Verfahren herauszuarbei-
Valentin Mertes
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ten. Darüber hinaus wird durch die historische Kontextualisierung der dialogischen Praxis bei Kluge mit den sokratischen Dialogen Platons deutlich, dass es bei Kluges Dialogizität auch um mediale Techniken der Befragung (Maieutik) zur kooperativen Produktion von Wissen geht. Die unterschiedlichen Redegattungen – Interview, investigative Befragung, Gerichtsverhör, dramatischer Dialog – durchziehen nicht nur Kluges Filme und Erzählbände, sondern sie werden auch zu einem zentralen Merkmal seiner für das Privatfernsehen produzierten Kulturmagazine. Hier wird die Dialogizität als ein »kollektives Gefüge von Aussagen« (S. 184) zum zentralen Kriterium einer Gegenöffentlichkeit, die das geschlossene Programmschema des Privatfernsehens kritisch aufzubrechen sucht. Besonders im Resonanzverhältnis von Kluges Experten- und Fake-Interviews lässt sich die »Produktion eines polyphonen Diskurses« (S. 181) nachvollziehen. Walzer kann hier eindrücklich zeigen, dass es sich bei Kluges dialogischer Erkenntnisproduktion im Fernsehen immer um eine doppelte Redeweise handelt, die sich im Spannungsverhältnis zwischen Wissen und NichtWissen ereignet. In ihrer Untersuchung der Formen von Essay, Kommentar und Dialog, gelingt es der Autorin, Kluges Medienpraxis in einer »Trias poetischer Verfahrensweisen« (S. 195) zu verankern, die – wie die präzisen Analysen zentraler Beispiele aus Kluges Werkzusammenhang zeigen – aufgrund ihrer intrinsischen Verschränkung eine immanente Kritik an distinkten Medien- und Gattungsbegriffen darstellt. Über diese exemplarischen Einblicke in Kluges Werk und Medienpraxis hinaus ist die äußerst umfangreiche und fundierte theoretische Kontextualisierung von Kluges Arbeit positiv hervorzuheben. Das Buch liefert mit seinen Erkenntnissen nicht nur neue Einblicke in Kluges Werk und Arbeitsweise, sondern schafft es auch, produktive theoretische und historische Kontexte zur Theorie und Praxis des Exemplarischen aufzuzeigen. So kann Walzer Kluges Arbeit am Exemplarischen als eine immanente Kritik beziehungsweise permanente Problematisierung induktiver sowie deduktiver Darstellungsmethoden beschreiben, die in ihrem horizontalen »Fortschreiten vom Partikularen zum Partikularen«1den ästhetischen Transformationsprozess von Wissensformen ermöglicht.
1 Giorgio Agamben, Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 23.
BUCHANZEIGE
Philipp Ekardt, Toward Fewer Images. The Work of Alexander Kluge, Cambridge (Massachussets): The MIT Press, 2018, 410 Seiten (ISBN: 978-0262037976).
Die Studie umfasst zehn Kapitel, die sich über fünf Hauptstücke verteilen: Prologue; Image Media, Forms, and Formats; Affect and Distinction; Excursus: Two Image-Studies; sowie Time, Duration, and Extension. Behandelt wird Kluges Arbeit in ihren sämtlichen verschiedenen Medien und Äußerungsformen: Film, Literatur, Fernsehen, Digitale Medien sowie seine theoretische Produktion. Der Prologue skizziert in einem Querschnitt durch verschiedene Klugesche Werke anhand der Motive Architektur und Licht grundlegende Themen des Buches. Image Media, Forms, and Formats behandelt schwerpunktmäßig systematische Fragen zu Kluges Film- und Fernseharbeiten sowie zu den digitalen Werken. Affect and Distinction beschäftigt sich mit Kluges Theorie des Gefühls als Unterscheidungsleistung und untersucht korrespondierende Elemente in seiner künstlerischen Arbeit. Der Excursus: Two Image-Studies weitet die historische wie systematische Perspektive diachron, in dem hier Kluges Arbeiten zu Caspar David Friedrich in den Blick genommen werden, und synchron via Kluges Zusammenarbeit mit Gerhard Richter. Die Sektion Time, Duration, and Extension geht den Kluges Werk eingeschriebenen mediengeschichtlichen Temporalitätsverhältnissen nach, untersucht die Funktionen der Kurzform und der kleinen Produktionseinheit, sowie generell Kluges künstlerisch-auktoriale ZeitlichkeitsPolitik, die in Verbindung zu Negt-Kluges Theorie der permanenten Akkumulation gebracht wird. Ein wichtiger systematischer Ausgangspunkt des gesamten Buches besteht darin, die Klugesche Montagepraxis als mit einer bislang eher implizit verhandelten bildtheoretischen Position verschränkt zu begreifen. Nicht nur grundiert diese Bildtheorie, als Kernbestandteil einer kritischen Poetik der Filmaufnahme, den Klugeschen Ansatz, Montage in wesentlichen Zügen als Verfahren der Unterscheidung zwischen ihren jeweiligen Elementen und auch als Mittel der Unterscheidungsbildung zu entwickeln. (Hierin liegt auch der Ursprung des Titels Toward Fewer Images, der bei Kluges Leitlinie, montieren bedeute nicht mehr, sondern weniger Bilder zu generieren, ansetzt, d. h. Montage nicht als additives, sondern als differentielles Verfahren zu verstehen.) Im Buch wird dieser spezi-
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fische Nexus von Bildtheorie und Montagestrategie in seiner (medien-)geschichtlichen Situiertheit verstanden und Kluges Werk wird auch als Untersuchung von dessen Historizität und der jeweiligen Gültigkeit eines solchen Ansatzes in unterschiedlichen geschichtlichen Lagen begriffen. Die Verknüpfung von Bild und Unterscheidung im Problem der Montage öffnet so – in und via Kluges Arbeit – Relays zu Werken und Schriften Eisensteins, Vertovs, Godards, Brechts und Adornos. Vor allem im Hinblick auf die Werke der beiden Letztgenannten wird Montage beschrieben als medien-technisch gestützte Verlängerung einer Kritik falscher Anschaulichkeit und als Darstellung dessen, was mit den Mitteln einer sich auf die reine Technizität verlassenden, ›bloßen‹ Aufnahme Kluge zufolge nicht aufgezeichnet werden kann: Zusammenhang. Es stellt sich hier weiterhin die Frage nach der Validität solcher Modelle in unserer digitalen Gegenwart, in der die analogen technischen und materialen Bedingungen, aus denen heraus das Argument für eine »kritische« Montagepraxis entwickelt wurde (z. B. Zelluloid), nicht mehr gegeben sind. Das Buch untersucht Kluges Antwort auf diesen Wandel – eine Verschiebung des Montagemodells fort von einer (Ästhetik der) Disjunktion im Material hin zu einem konstellativen Verfahren, das auch zwischen Latenz und Aktualität schaltet. Das klassische Projekt der Montage wird nun einerseits als »historisch« und verloren, andererseits aber genau darin als Gegenstand eines wiederum disjunkten historisch-konstellativen Verfahrens der Reaktualisierung positioniert. Das sich so zwischen Kluges Werk und dem seiner historischen Vorgänger und Bezugsfiguren, aber auch zwischen den Registern des Analogen und des Digitalen entfaltende Muster historisch-zeitlicher Bezugnahmen verfolgt das Buch parallel zu weiteren, in Kluges Arbeit verhandelten historischen Relationen, z. B. zur Epoche des Stummfilms bzw. zum archaic cinema. Wie im gesamten Buch sind hierfür die in Geschichten vom Kino wie auch in den Filmen bzw. in den Fernsehformaten entwickelte Bezüge wesentlich. Die Auseinandersetzung mit Kluges Werk fordert dabei eine Abgleichung sowie eine Abgrenzung zum medienarchäologischen Projekt, wie es in den Schriften Kittlers entwickelt wurde. – Dieses basiert, wie dessen Stichwortgeber hinsichtlich historischer Modellierung Foucault es vorexerzierte, letztlich immer noch auf einem strukturalistischen Modell, das Zeit in synchrone Schnitte, mithin Epochen segmentiert. Kluges Arbeit dagegen verfolgt historische Peilungen zwischen Punkten in der Geschichte. Sie ist in dieser Hinsicht im Benjaminschen Sinne konstellativ. Eine weitere historisch-konstellative Bezugnahme wird im Exkursus in der Mitte des Buches entwickelt, der ebenfalls bildtheoretische Anteile hat. Sie beginnt und endet mit der Lektüre der kurzen Geschichte Der Untergang der Hoffnung (erstveröffentlicht in Stroh im Eis) und dem ihr korrespondierenden Clip Paraphrase zu einem Bild Caspar David Friedrichs, in denen Kluge Bezüge zur Malerei des Romantikers Friedrich sowie zur Kunst Gerhard Richters an-
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deutet, mit dem ihn eine wiederholte Zusammenarbeit, u. a. für den Band Dezember verbindet. Diese Sektion des Buches greift historisch über die Epoche der Filmtechnik hinaus, in die der Romantik zurück, und macht so die Probe aufs Exempel hinsichtlich von Kluges Aussage, der Film und mit ihm seine bild- und montagetheoretischen Implikationen seien »älter als das Kino«. Sie veranschaulicht außerdem das Klugesche Verfahren der ›Paraphrase‹, das sind häufig knappe Variationen auf bestehende Texte, Werke, Geschichten, auch Filme, Einstellungen – hier Kleists, Arnims und Brentanos in den Berliner Abendblättern erschienenen Kritiken der Malerei Friedrichs, die im historischen Tiefenraum als Gegenstück zu einer Klugeschen Konstellation etabliert werden. Das Verfahren verdeutlicht ebenfalls Kluges charakteristische faktisch/kontrafaktische Einbettung der Möglichkeitsform – als Variationsform – in die Vergangenheit, wo sie als Nichteingelöstes, Unverwirklichtes im Historischen situiert ist. Die zweite Zeitachse des Exkursus verläuft synchron und untersucht Verwandtschaften zur nichtfilmischen Bildpraxis Gerhard Richters. Mit Richter verbindet Kluge ebenfalls ein affektpolitisches Ziel, das sich in der Produktion (von Kluge) so genannter »stiller Bilder« ausprägt. Unter diesem Begriff lässt sich in Kluges Praxis z. B. die im filmischen Werk prominente Großaufnahme des Gesichts verstehen, die er häufig bewusst affektiv ›unlesbar‹ hält und somit nicht als Ressource von Expressivität, sondern als Vorlage für eine affektive Suchbewegung der Betrachtenden positioniert. Das filmisch-literarische Kernstück ist hier Die Macht der Gefühle – in weiten Teilen einer der Hauptgegenstände des Buches, sowie einschlägige Passagen aus Geschichte und Eigensinn, in denen Kluge eine Rekalibrierung des Verhältnisses von Gefühl und Unterscheidung vornimmt. Gefühle (körperliche wie affektive) seien anthropologisch als erste Unterscheidungsleistungen zu verstehen (ein in den symbolischen, narrativen und künstlerischen Protokollen häufig zugunsten von emplotments ›schicksalhafter Emotionalität‹ neutralisiertes Potential); Unterscheiden, Urteilen und letztlich auch Kritik seien Differenzierungsleistungen und stünden damit den Gefühlen näher als kognitivistische Ansätze es glauben machen. Im Wesentlichen aus Geschichte und Eigensinn leitet sich ebenfalls die im Buch entfaltete Negt-Klugesche Theorie des Zusammenhangs ab, die in ihrer Dialektik behandelt wird. Der Begriff ›Zusammenhang‹ besetzt dabei insofern eine Scharnierstelle, als er sowohl politisch-gesellschaftliche Aggregate wie formale, z. B. filmische oder literarische Konglomerate beschreiben kann. Einerseits beinhaltet Zusammenhangsbildung die Tendenz zur Subordination der konstituierenden Elemente – daher die Formulierung »Gewalt des Zusammenhangs« in Geschichte und Eigensinn. Andererseits gilt bei Kluge auch, dass ›Auswege‹ immer nur im Zusammenhang liegen und dass Montage eine »Theorie des Zusammenhangs« anbietet. In Toward Fewer Images wird Kluges
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Produktion als Ort einer andauernden Verhandlung dieser beiden Aspekte der Zusammenhangsbildung beschrieben. – Wesentliches Element einer solchen Herstellung von Zusammenhängen und des Unterlaufens der ihnen innewohnenden Tendenz zur Ossifizierung ist eine Poetik der ›kleinen Einheiten‹, unter der bei Kluge formal kurze Bestandstücke, aber auch Motive, wiederkehrende Gesprächspartner, Einstellungen sowie nicht zuletzt kleine Produktionseinheiten zu verstehen sind. Kleine Einheiten erlauben Variabilität und Rekombinierbarkeit in der Herstellung und Darstellung von Zusammenhängen; sie ermöglichen schnelles Reagieren und Arbeiten bzw. Durcharbeiten. Damit stehen kleine Einheiten im Schnittpunkt zweier weiterer zentraler Stränge in Kluges Arbeit, die das Buch analysiert: eine im weitesten Sinne künstlerische und auktoriale, d. h. filmische, literarische, bildbezogene usw. Praxis, die unablässig bereits bestehende Elemente früherer Arbeiten wieder aufnimmt, variiert, rekontextualisiert und dazu führt, dass Kluges »Werk« sich in Richtung einer andauernden, verzeitlichten »Arbeit« verschiebt, anstatt sich in Gestalt einer Serie abgedichteter Einzelwerke zu manifestieren. Dies ist reflektiert im Untertitel des Buches The Work of Alexander Kluge. Diese Praxis bildet das Gegenstück zur von Kluge und Negt in Geschichte und Eigensinn vorgenommenen Verschiebung des Smith/Marxschen kapitalismustheoretischen Begriffs der ursprünglichen hin zur permanenten Akkumulation. Beide, d. h. Kluges Praxis und die Theorie der permanenten Akkumulation sind schließlich Kardinalbeispiele für einen der Hauptansatzpunkte von Kluges Arbeit, die das Buch analysiert: eine künstlerische Politik der Zeit, und eine ihr korrespondierende theoretische Position, die ihre markanteste Formulierung wohl im Titel Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit gefunden hat. Kluge setzt auf die Produktion und das Herausarbeiten heterochroner Gefüge, gegen Summierungen in Momenten oder lineare Entwicklungen. Auch daher die tendenzielle Unvereinbarkeit seines Werks mit Epochen-Modellen; die Offenheit gegenüber trans-historischen Konstellationen, die über zeitliche Diskontinuitäten funktionieren; sowie die Verschiebung des Werks von einer linearen Sequenz einzelner Arbeiten zur andauernden, anhaltenden Um-Arbeitung. Der Weg vom Werk zur Arbeit führt durch die Zeit.
VERZEICHNISSE 2017
Beata Wiggen
Verzeichnis der Kulturmagazine 2017
News & Stories NEWS & STORIES Was wir von Gott nicht wissen können Die Lehren des jüdischen Scholastikers Moses Maimonides 03. 01. 2017
NEWS & STORIES Seelen-Verkehrsampel mit Musik Christoph Marthalers Abschiedsrevue an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin 10. 01. 2017
NEWS & STORIES 100 Jahre Russische Revolution (1917–2017) Prof. Dr. Marin Aust: Tief unter der Lava 17. 01. 2017
NEWS & STORIES Olli Schul Late-Night Nr. 2 »Vaterloses Glück«. »Der Zirkus brennt«. 24. 01. 2017
NEWS & STORIES Die Geschichte vom Zorn Prof. Dr. Luca Giuliani: Bilder zu Texten Homers 31. 01. 2017
NEWS & STORIES Unbekanntes vom Internet der Dinge Prof. Dr.Dr. h.c. Manfred Broy : »Alles so leicht wie möglich, aber nicht leichter« 07. 02. 2017
NEWS & STORIES Ich hasse mich, wenn ich lüge Das unbestechliche Auge: Thomas Mauch, Kameramann (*1937) 14. 02. 2017
NEWS & STORIES Schatzkiste Sprache Prof. Dr. Ernst Kausen: »Alle 10 Tage stirbt auf der Welt eine Sprache« 21. 02. 2017
NEWS & STORIES Die Macht am Mittelmeer Prof. Dr. Wolf Lepenies über ein Schwesterprojekt zur E.U. 28. 02. 2017
NEWS & STORIES Baustelle Revolution Christoph Menke: »Die Revolution beginnt am Tag nach der Revolution« 07. 03. 2017
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Verzeichnis der Kulturmagazine 2017
NEWS & STORIES Dunkle Haut, blaue Augen Prof. Dr. Johannes Krause: »Genetisch sind wir Europäer Afrikaner« 14. 03. 2017
NEWS & STORIES 140 Jahre Russisches Licht Dr. Natascha Drubek: »Von den Ikonen zum russischen Stummfilm« 21. 03. 2017
NEWS & STORIES Mensch 4.0 Dirk Baecker: »Zur Gegenwart gehören alle Zeiten« 28. 03. 2017
NEWS & STORIES Keinen Plan zu haben, ist der Plan Christoph Keese: Wie antwortet man auf Digitale Disruptoren 04. 04. 2017
NEWS & STORIES Ungemütliche Zeiten Eindrücke auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2017 11. 04. 2017
NEWS & STORIES Welche Farbe hat die Arbeit? Joseph Vogl: »In der Arbeit werde ich niemals mit nichts fertig« 18. 04. 2017
NEWS & STORIES Was unter die Haut geht K.H. Bohrer: Der Überfall des »Jetzt« 25. 04. 2017
NEWS & STORIES Die enorme Robustheit der Insekten Prof. Dr. Randolf Menzel: Die Evolution des Gehirns bei uns und bei den Bienen 02. 05. 2017
NEWS & STORIES Mitten im Strom Prof. Dr. Yuri Slezkine: Die frühen Jahre der Russischen Revolution 09. 05. 2017
NEWS & STORIES Auswege aus dem Kerker der Welt Immanuel Kants Jahrhundert: Disruption und Aufklärung 16. 05. 2017
NEWS & STORIES Liebe härter als Beton (Doppelsendung) Die Werkstätten der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz und dieses Theater als eine Werkstatt überhaupt 23. 05. 2017 ENDE DER AUSSTRAHLUNGEN!
10 vor 11 TEN TO ELEVEN Die Körper lügen nie Jean Philip Rameaus generöse Erotik in Ost und West 02. 01. 2017
TEN TO ELEVEN Etwas haben, worauf das Herz ganz vertraut Sabine Appel: Martin Luther und König Heinrich VIII von England in ihrer Todesstunde 09. 01. 2017
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Verzeichnis der Kulturmagazine 2017
TEN TO ELEVEN Mit einem Bein im Weltraum Dr. Tilmann Siebeneichner : Vom Spacelab zum Marsobjekt 16. 01. 2017
TEN TO ELEVEN Das Mädchen mit dem Kavalier im Kopf Vincenzo Bellinis I PURITANI an der Staatsoper Stuttgart 23. 01. 2017
TEN TO ELEVEN Der Autor als Anwalt der Zukunft Dr. Bernd Flessner über die Science Fiction Autoren Stanislaw Lem und Arno Schmid 30. 01. 2017
TEN TO ELEVEN Das Projekt Wild-Ost Japanische & russische Hoffnungen auf eine Industrialisierung Sibiriens 06. 02. 2017
TEN TO ELEVEN Calvin versus Luther Dr. Görge Hasselhoff: Der Weg von der Genfer Kirchenzucht zu den Idealendes Westens 13. 02. 2017
TEN TO ELEVEN Arbeit ist das halbe Leben Prof. Dr. Andrea Komlosy : Globalgeschichte von 760 Jahren menschlichen Könnens 20. 02. 2017
TEN TO ELEVEN Nachricht von blinden Fischen Dr. Jörg Freyhof: »Was man alles von Fischen nicht weiß« 27. 02. 2017
TEN TO ELEVEN Die Nase des Sokrates Prof. Dr. Luca Giuliani: »Schönheit hebt ihr hässliches Haupt« 06. 03. 2017
TEN TO ELEVEN FAUST von Charles Gounod Frank Castorf inszeniert an der Staatsoper Stuttgart 13. 03. 2017
TEN TO ELEVEN Der lange Atem Christoph Menke: »Eine gute Revolution ist nicht unter 800 Jahren zu haben!« 20. 03. 2017
TEN TO ELEVEN Liebe in Russland ist nicht schwarz-weiß Barrie Kosky inszeniert EUGEN ONEGIN an der Komischen Oper Berlin 27. 03. 2017
TEN TO ELEVEN Ich kann nicht streiken, wenn mein Arbeitsplatz zuhause ist Prof. Dr. Jürgen Kocka: Über den Wandel der menschlichen Arbeit 03. 04. 2017
TEN TO ELEVEN »Der alte Pfusch ist tot, wir glauben an den neuen!« Herbert Fritsch: Manifest an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin 10. 04. 2017
TEN TO ELEVEN Zeit kaufen, wenn das Leben begrenzt ist Dr. Philipp Staab: Die Konsumkrise des digitalen Fortschritts 24. 04. 2017
TEN TO ELEVEN Arbeiten und Schlafen Dirk Baecker: Innenansichten menschlichen Könnens 08. 05. 2017
TEN TO ELEVEN Mozart hat sich nie das Ohr abgeschnitten! Thomas Gottschalk im Opernhaus (Hinterbühne) 29. 05. 2017
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Verzeichnis der Kulturmagazine 2017
TEN TO ELEVEN Trump klopft ans Tor der Welt Post-Truth? Post-Fact? Post-West? Fragen auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) 2017 12. 06. 2017
TEN TO ELEVEN Eulenspiegel, das ist mein Mann! Thomas Gottschalk mit News & Stories zu später Stunde 19. 06. 2017
TEN TO ELEVEN Niemand betreibt Theorie ohne Grund Philipp Felsch über Peter Gente, den Jäger und Sammler neugierigen Denkens 26. 06. 2017
TEN TO ELEVEN Die Perlen der Cleopatra Operette von Oscar Straus mit Dagmar Manzel an der Komischen Oper Berlin 03. 07. 2017
TEN TO ELEVEN Dem Weltenrätsel auf der Spur Nikolai Roerich: Genialer Maler, Erleuchteter und Reichsgründer auf dem Dach der Welt 10. 07. 2017
TEN TO ELEVEN Die Allzeitigkeit des Kriegs James W. Davis über die Aktualität von Klausewitz 17. 07. 2017
TEN TO ELEVEN Montag: Feuerwerk. Dienstag: Demonstration. Mittwoch: Revolution Was sagt die Literatur zu den Begriffen »Klasse«, »Revolte« und »Proletariat« 24. 07. 2017
TEN TO ELEVEN Der politische Aufstand und die Kategorie der Plötzlichkeit K.H. Bohrer über den Ereignischarakter von Revolutionen 31. 07. 2017
TEN TO ELEVEN Gegenbilder Neueste Werke des Künstlers Thomas Demand 07. 08. 2017
TEN TO ELEVEN Russland und die Deutschen Katja Gloger und die Suche nach dem russischen Geheimnis 14. 08. 2017
TEN TO ELEVEN Die Oper der riskanten Verkleidung Händels Meisterwerk ARIODANTE an der Staatsoper Stuttgart 21. 08. 2017
TEN TO ELEVEN Kriegsspiele Philipp von Hilger: die Theater des Unberechenbaren 28. 08. 2017
TEN TO ELEVEN Der Ruf nach dem starken Mann Michael Gamper: Politik als Realtheater 04. 09. 2017
TEN TO ELEVEN Pfeile, die ins Auge treffen Romeo Castellucci inszeniert Wagners TANNHÄUSER an der Bayerischen Staatsoper München 04. 09. 2017
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Verzeichnis der Kulturmagazine 2017
TEN TO ELEVEN Storytelling Uwe Walter : Was unterscheidet Erzählen von bloßer Information? 18. 09. 2017
TEN TO ELEVEN Wie beginnt man eine Revolution Dr. Patrick Eiden-Offe: Vom »Heiligen Eigentum« zur gesellschaftlichen Umwälzung 25. 09. 2017
TEN TO ELEVEN Mathematik der sinnlichen Kraft Prof. Dr. Leo van Hemmen: Wüstenskorpion, Krokodil, Schleier-Eule & Menschenohr 02. 10. 2017
TEN TO ELEVEN Perlentaucher unterwegs Rapid Eye Movies sucht und entdeckt Raritäten, die neue Lust aufs Kino machen 09. 10. 2017
TEN TO ELEVEN Zarathustras Kampf mit der Finsternis Tobias Kratzer inszeniert Jean-Philippe Rameaus Zoroastre an der Komischen Oper Berlin 16. 10. 2017
TEN TO ELEVEN Castorfs Faust 2017 Goethes Monument des Sprechtheaters am »Theater des Jahres« in Berlin 23. 10. 2017
TEN TO ELEVEN Der Große Räuber Assur Karen Radner : Die Erfindung der urbanen Lebensweise im Orient 30. 10. 2017
TEN TO ELEVEN Jenseits von unseren Sinnen Prof. Dr. Harald Weinfurter : Nachrichten aus der Quantenwelt 06. 11. 2017
TEN TO ELEVEN »Jedes Tischtuch erzählt« Uwe Walter : Wie die Seele in den Medien ihre Wege sucht 13. 11. 2017
TEN TO ELEVEN Ein Gedicht hat kein Dach Ben Lerner, New York: Das Authentische – Das Echte – Das, was fliegen kann 20. 11. 2017
TEN TO ELEVEN The touch of movies Stephan Holl: Wann kommt der »Stummfilm mit Musik?« 27. 11. 2017
TEN TO ELEVEN Leibniz und die Mathematik der Schlangen Leo van Hemmen: »Jeder Punkt auf der Skala der Sinne hat seinen eigenen Verstand« 04. 12. 2017
TEN TO ELEVEN Im Urwald, wo die wilden Wörter wohnen Ann Cotten: Zwischen Internet und Lyrik 11. 12. 2017
TEN TO ELEVEN Weihnachtsoper im Dickicht bitterer Realität Kirill Serebrennikows »Hänsel und Gretel« an der Staatsoper Stuttgart 18. 12. 2017
25. 12. 2017 AUSFALL
Winfried Siebers
Bibliographie zu Alexander Kluge 2017
Vorbemerkung Die Bibliographie zu Alexander Kluge knüpft an die vorhergehenden Jahresverzeichnisse an und enthält Titel aus dem Erscheinungsjahr 2017. Zeitungsartikel sind mit wenigen Ausnahmen, etwa den Interviewabdrucken, nicht aufgeführt. Sie sind (einschließlich der Rezensionen zu Kluges Werken aus der Tagespresse) im ›Kluge‹-Artikel der Online-Ausgabe des Kritischen Lexikons zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dokumentiert. Bei den Alexander Kluge gewidmeten Sammelbänden sind die Einzelartikel nach der Angabe des Haupttitels in der Reihenfolge ihrer Anordnung im Druck verzeichnet. Um eine Häufung von Doppelnennungen zu vermeiden, sind nur ausgewählte Forschungsaufsätze wiederholt am Schluss der Sachgruppen genannt worden. Aus der neuen Kategorie ›Ausstellungskataloge‹ sind ausschließlich Artikel wissenschaftlichen sowie kunst- und literaturkritischen Inhalts einzeln in den Sachgruppen aufgelistet. Für alle Internet-Adressen gilt, dass sie zuletzt am 15. 05. 2018 abgerufen wurden und an diesem Tag verfügbar waren. Für Hinweise und Ergänzungen zur Bibliographie danke ich Thomas Combrink.
Publikationen Alexander Kluges Bücher Schirach, Ferdinand von; Kluge, Alexander, Die Herzlichkeit der Vernunft, München: Luchterhand 2017. Kluge, Alexander ; Baselitz, Georg, Weltverändernder Zorn. Nachricht von den Gegenfüßlern. Mit 85 farbigen Abbildungen, Berlin: Suhrkamp 2017 (= Bibliothek Suhrkamp 1501).
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Bibliographie zu Alexander Kluge 2017
Beiträge in Büchern und Zeitschriften »Befinden sich die Menschen auf der Höhe ihrer Böshaftigkeit?«, in: Programmheft zu ›Rose Bernd‹ von Gerhart Hauptmann, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere am 1. Okt. 2017, 20–32. »Benjamin-Brecht-Kontainer«, in: Benjamin und Brecht. Denken in Extremen. Im Auftrag der Akademie der Künste hg. von Erdmut Wizisla, Berlin: Akademie der Künste, Suhrkamp 2017, 113–127. [Katalog zur Ausstellung Benjamin und Brecht. Denken in Extremen, 26. Okt. 2017 bis 28. Jan 2018, Akademie der Künste, Berlin]. »Blick in den Abgrund der Sterne / Pluriversum 1: Kosmos«, in: Monopol – Magazin für Kunst und Leben, Nr. 9 (2017), 68–80. Luther und die Avantgarde. Zeitgenössische Kunst im alten Gefängnis in Wittenberg mit Sonderpräsentationen in Berlin und Kassel / Contemporary art in the Old Prison in Wittenberg with Special Presentations in Berlin and Kassel, hg. von / ed. by Walter Smerling, Köln: Wienand 2017, 172–175. [Darin: Drei Texte (dt./engl.) von A.K. und drei Abb. von Exponaten der Ausstellung]. »Materialien & Texte aus den sieben Körben. ›Die scholastische Engelskunde kennt neun Ordnungen Schnee‹. 20 Geschichten zu einigen Versen von Ben Lerners Lichtenbergfiguren«, in: Volltext, H. 1/2017, 66–73. »Materialien & Texte aus den sieben Körben. Durchlässigkeit. Ursprünglich positive Bedeutung des Wortes ›vergeblich‹«, in: Volltext, H. 2/2017, 24–31. »Materialien & Texte aus den sieben Körben. Zwei Gespräche mit Michael Haneke«, in: Volltext, H. 3/2017, 56–68. »Materialien & Texte aus den sieben Körben. ›Schirmherr makelloser Schlangenschönheit‹«, in: Volltext, H. 4/2017, 34–51. [Darin: »›Einmal in Kommunikation verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies der einfachen Seelen zurück.‹ Gespräch vom April 1994 mit Niklas Luhmann«, 37–49]. »Sirenen im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit« / »Sirens in the age of mechanical reproduction«, in: Journal der Künste, Special Edition: Die Mitglieder, Nr. 4 (2017), 34. »›Tatsächlich, sagte Joseph Vogl, ist die Zahl der Übel durch die Kapazität der Menschen, mit den Übeltätern mitzuhalten, begrenzt.‹ 7 Geschichten mit Joseph Vogl«, in: Gespenster des Wissens. Für Joseph Vogl, hg. von Ute Holl, Claus Pias und Burkhardt Wolf, Zürich/Berlin: Diaphanes 2017, 171–176. »Wieviel Mensch steckt in einer Stecknadel?« / »How human is a pin?« (13); »Wie Walter Benjamin Bertolt Brecht die ›schwache messianische Kraft‹ erklärte« / »How Walter Benjamin explained the ›weak messianic force‹ to Bertolt Brecht« (81); »Himmelwärtsrichtung des Kapitals« / »Capital skywards« (113), in: Diaphanes, Art, Fiction, Discourse. Kunst, Literatur, Diskurs. Time Probe Zero Synthesis, Nr. 3 (2017/2018), 13, 81, 113.
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DVD-Editionen Deutschland im Herbst. Ein Film von Böll, Brustellin, Cloos, Fassbinder, Kluge, Mainka, Reitz, Rup8, Schlöndorff, Sinkel, Steinbach. Digital remastered, Heilbronn: Arthaus, Berlin: Studiocanal 2017, 1 DVD. Kluge, Alexander ; Kiefer, Anselm, Der mit den Bildern tanzt. Filme & Dialoge, 2 DVDs mit Beiheft, Fridolfing/Berlin: Absolut Medien; Berlin: Suhrkamp 2017 (= filmedition suhrkamp 40).
Übersetzungen Drilling through hard boards. 133 political stories, with guest contributions by Reinhard Jirgl, translated by Wieland Hoban, London: Seagull Books 2017. [Engl. Übers. von Das Bohren harter Bretter, 2011]. Kong’s finest hour. A chronicle of connections, with a cover illustration by Thomas Demand and photographs by Anna Viebrock, english edition edited by Richard Langston, translation by Martin Brady et al., Milan: Fondazione Prada 2017. [Engl. Teilübers. von Kongs große Stunde, 2015; Teil der Katalogedition The boat is leaking. The captain lied, s. u.]. »Sinking Ships and Sea Dramas«, in: Harper’s Magazine, Vol. 334, Nr. 2002 (2017), 22–24. L’ora di Kong. Cronaca della correlazione, con una copertina di Thomas Demand e fotografie di Anna Viebrock, Milano: Fondazione Prada, 2017 [Ital. Teilübers. von Kongs große Stunde, 2015; Teil der Katalogedition The boat is leaking. The captain lied, s. u.]. Biograf&as, traduccijn de Richard Gross, La Virreina Centre de la Imatge, Barcelona: Ajuntament de Barcelona 2017 [Span. Übers. der Lebensläufe, 1962, erw. 1986].
Ausstellungskataloge Alexander Kluge. Gardens of Cooperation, La Virreina Centre de la Imatge, Nov. 5, 2016–Feb. 5, 2017, [kuratiert von Neus Moyano, Valent&n Roma, Guillermo Zuaznabar], Barcelona: Ajuntament de Barcelona 2016. Alexander Kluge. Gärten der Kooperation. Reader. [Ausstellung im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, 14. Okt. 2017–14. Jan 2018]. Ein Gemeinschaftsprojekt von La Virreina Centre de la Imatge, Barcelona und Württembergischer Kunstverein Stuttgart, Kurator*innen: Hans D. Christ, Iris Dressler, Valentin Roma, Stuttgart: Württembergischer Kunstverein 2017. [Beiheft zur Ausstellung; als E-Publikation verfügbar ; WebAdresse: https://www.wkv-stuttgart.de/programm/2017/ausstellungen/alexander-klu ge/reader/]. Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang, 15. Sept. 2017– 07. Jan. 2018, Hg. Museum Folkwang, Leipzig: Spector Books 2017. [Dass. auch in engl. Sprache].
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Bibliographie zu Alexander Kluge 2017
[Die Beiträge über Alexander Kluges Arbeiten sind einzeln in den Sachgruppen der Bibliographie verzeichnet]. The boat is leaking. The captain lied. Thomas Demand, Alexander Kluge, Anna Viebrock, curated by Udo Kittelmann, [Ausstellung vom 13. Mai–26. Nov. 2017], Fondazione Prada, Ca’ Corner della Regina, Venice, [Katalog der Ausstellung], Milan: Fondazione Prada 2017. [Mit Beiheft: Verzeichnis der Ausstellungsstücke]. [Die Beiträge über Alexander Kluges Arbeiten sind einzeln in den Sachgruppen der Bibliographie verzeichnet].
Gespräche und Interviews mit Alexander Kluge Brätsch, Kerstin; Larios, Pablo, »The Thirteenth Fairy. Artist Kerstin Brätsch and filmmaker and writer Alexander Kluge speak to Pablo Larios about algorithms, fortunetellers and stained glass windows«, in: frieze magazine 190 (October 2017). [https://frie ze.com/article/thirteenth-fairy]. Felsch, Philipp, »›Der Mensch ist ein Fluchttier‹«, in: Philosophie Magazin, Nr. 4 (2017), 70–75. Küveler, Jan, »Verzweifelte Calvinisten und betrunkene Elefanten. Jan Küveler im Gespräch mit Alexander Kluge nach der Wahl von Donald Trump und das Menetekel an der Wand«, in: Evangelische Stimmen. Forum für kirchliche Zeitfragen in Norddeutschland (Kiel), Nr. 12 (2016), 22–25. Nicodemus, Katja; Probst, Maximilian, »Waldwege sind mein Metier. Filme und Bücher machten ihn berühmt, jetzt beginnt die nächste große Karriere des Alexander Kluge. Interview mit Katja Nicodemus und Maximilian Probst«, in: Die Zeit (Hamburg), Nr. 38, 14. 09. 2017, 55–56. Müller, Roland, »›Der Darm war klüger als der Kopf‹. Alexander Kluge, ein großer Intellektueller unserer Zeit, stellt im Kunstverein sein Werk und seine Gedankenwelt aus«, in: Stuttgarter Nachrichten, 14./15. 10. 2017, 15. Müller, Roland, »Hegel versteht man nur auf Schwäbisch. Sanft ringt er um die Emanzipation des Menschen. Nur so, sagt Alexander Kluge, kann er diesen Kampf gewinnen«, in: Stuttgarter Zeitung, 14./15. 10. 2017, 35. Obrist, Hans Ulrich; Kluge, Alexander, »Im Pluriversum. Ein Interview«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 41–63. Partenheimer, Jürgen, Gespräche mit Alexander Kluge, Jan Thorn Prikker und andere Texte. Mit einem Nachwort von Carla Schulz-Hoffmann, hg. von Häusler Contemporary München–Zürich 2017, Köln: Snoeck 2017, 13–26 [Gespräch mit A.K.]. Pauval, Vincent, »Goethe entre ombres et lumiHres. Entretien avec Alexander Kluge«, in: Entre ombres et lumiHres. Voyages en pays de langue allemande, sous la direction de Mechthild Coustillac, Hilda Inderwildi, Jacques Lajarrige, Toulouse: Presses universitaires du Midi 2017, 473–490. Reichert, Kolja, »Künstler sind Pilotfischchen. Der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge bekommt seine erste Museumsausstellung. Ein Gespräch über die Klugheit in den Fußsohlen, das Kleingedruckte der Geschichte und über den Gegenalgorithmus zu Silicon Valley«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17. 09. 2017, 47.
Bibliographie zu Alexander Kluge 2017
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Reindl, Uta M., »Kein Tanz auf mehreren Hochzeiten!«, in: Kunstforum International, Nr. 251 (2017–2018), 197–207.
Gespräche aus Alexander Kluges Filmen und Kulturmagazinen Kluge; Alexander ; Didi-Huberman, Georges, »Emotion sagt nicht ›Ich‹«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 95–103. [News & Stories vom 1. Juni 2016]. »Nur die Sonne war Zeuge. Hier wird breit gesehen: Ein Gespräch zwischen Alexander Kluge und Georges Didi-Huberman über das Auge der Geschichte und die Zukunft, die in Idomeni und nicht im Silicon Valley gemacht wird«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07. 10. 2017, L4 (Frankreich Spezial). [10 vor 11 vom 4. Juli 2016]. »Interview Werner Nekes: Was ist Zeit im Film?«, in: Revolver. Zeitschrift für Film, Nr. 36 (2017), 62–71. [Primetime Spätausgabe vom 16. Jan. 2000]. »›Kriegst Du eine gute Frau wirst Du glücklich. Kriegst Du eine böse, dann wirst Du Philosoph.‹ Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge sprechen über die letzten Fragen unserer Gegenwart: Was können wir von der Antike lernen? Hat Sokrates wirklich die Jugend verdorben? Was tun, wenn Demokraten Tyrannen wählen? Lässt sich Schönheit wirklich begründen? Und hatte Gordon Gekko vielleicht doch recht?«, in: Die literarische Welt (Samstagsbeilage der Tageszeitung Die Welt), 30. 09. 2017, 27–30. [News & Stories vom 6. Juli 2016].
Publikationen über Alexander Kluge Bibliographien Siebers, Winfried, »Bibliographie zu Alexander Kluge 2016«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 4: Stichwort Kooperation, hg. von Rainer Stollmann u. a., Göttingen: V& R unipress 2017, 397–406. [Döhr, Gülsen], »Verzeichnis der Kulturmagazine 2016«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 4: Stichwort Kooperation, hg. von Rainer Stollmann u. a., Göttingen: V& R unipress 2017, 409–415. Beth, Hanno; Precht, Kai, »Artikel ›Kluge, Alexander‹. Primärliteratur. Rundfunk. Film. Tonträger. Sekundärliteratur. Stand: 01. 12. 2017«, in: KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Online-Ressource. [Web-Adresse: http://www. nachschlage.net].
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Bibliographie zu Alexander Kluge 2017
Monographien Adelson, Leslie A., Cosmic miniatures and the future sense. Alexander Kluge’s 21st-Century literary experiments in German culture and narrative form, Berlin/Boston: de Gruyter 2017. [Auch als E-Book verfügbar ; siehe Rez. von Rainer Stollmann in AKJ 4, 2017, 367–385]. Walzer, Dorothea, Arbeit am Exemplarischen. Poetische Verfahren der Kritik bei Alexander Kluge, Paderborn: Fink 2017. [Auch als E-Book verfügbar].
Sammelbände Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 4: Stichwort: Kooperation. Keiner ist alleine schlau genug, hg. von Rainer Stollmann, Thomas Combrink, Gunther Martens, Göttingen: V& R unipress 2017. Hierin enthalten: Wang Hui: Die Neuentdeckung der Dinge, 19–29. – Gerhard Richter : »Ich sollte mich nicht Maler, sondern Bildermacher nennen.« [Alexander Kluge im Gespräch mit Gerhard Richter ; Ten to Eleven vom 19. März 2013], 31–35. – Lutz Koepnick: Kluge’s Moments of Calm, 37–50. – Jürgen Büssow / Rainer Stollmann: »Man hätte RTL nur mit einem Störsender behindern können.« [Telefoninterview, Frühjahr 2017], 51–60. – Paul Leo Giani / Rainer Stollmann: »Das Privatfernsehen hat mit Verfassungsbruch angefangen.« [Telefoninterview, Frühjahr 2017], 61–73. – Alexander Kluge: Mittwoch, 18. März 2015 / Mundtot, 75–78. – Florian Wobser : »Flüssigmachen« – Alexander Kluges politische Heterotopie kooperativer Öffentlichkeit zwischen Debatten im vollen Vorlesungs- und Projektionen im leeren Kinosaal, 79–102. – Barbara Potthast: »Dass der andere nichts denkt, was feindselig wäre« – Kooperatives Denken bei Alexander Kluge, 103–113. – Alexander Kluge / Vincent Pauval: »Einen Robinson gibt es eigentlich nur zu zweit.« [Gespräch u. a. zur Zusammenarbeit mit Heiner Müller], 115–125. – Alexander Kluge: Heiner Müller und das Projekt Quellwasser. Das Poetische heißt sammeln / Heiner Müller et le projet Eau de source. Le po8tique, c’est faire collecte. [Übers. ins Franz. von Vincent Pauval], 127–131. – Christian Schulte: Verteilte Autorschaft, 133–139. – Alexander Kluge: Comportement coop8ratif / R8paration d’un crime par coop8ration. [Übers. ins Franz. von Vincent Pauval], 141–150. – Rainer Stollmann: »Kooperatives Verhalten« und »Kooperation«. Zwei Geschichten zu einem Begriff, 151–163. – Alexander Kluge: Zustöpseln eines Kinderhirns (Faksimile der Handschrift, Transkription und Druckfassung), 165–169. – Thomas Combrink: Kommentar zu »Zustöpseln eines Kinderhirns«, 171–175. – Philipp Ekardt: Gesten vor Gericht. Gefühl und Unterscheidung nach Alexander Kluge, 177–189. – Gunther Martens: Alexander Kluges literarisches Oeuvre als »Cli-Fi«, 191–207. – Tara Hottman: The Language of the Archive: Alexander Kluge’s Film Histories, 209–228. – Dong Bingfeng: Alexander Kluge in China. Kluge-Rezeption seit 2012, 229–237. – Alexander Kluge: Neue »Untersuchungsarbeit« nach Mao Tse-tung / Ich, genannt TOPAS, 239–241. – Glückswechsel. Wang Bings Film Tiexi District über den Untergang einer gigantischen Industrie in Nordost-China. [Alexander Kluge im Gespräch mit Wang Bing; Ten to Eleven vom 2. Dez. 2002], 243–248. – Alexander Kluge: Zwanzig Erzählungen zur
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Geschichte des Tiexi District. Bericht aus Nordost-China, 249–259. – Jane de Almeida: On Elephants, Telescopes, Microscopes, Cartography, Aliens, and Computers: Notes on Scalability in Alexander Kluge’s Works, 261–275. – Rainer Stollmann: Ein Faktum als Metapher : »Electrocuting an Elephant«, 277–282. – Alexander Kluge: Es gibt keine ruckartige Emanzipation / Blechernes Glück, 283–285. – Katharina Müller ; Lena Reinhardt; Elisa Risi: Dekonstruktion des Happy Ends in Alexander Kluges »Blechernes Glück«, 287–297. – Alexander Kluge: Wie aus einem Mißverständnis ein Fiasko hätte werden können, 299–301. – Emma Woelk: Humor as Critical Intelligence: Kafka’s Der Proceß and Alexander Kluge’s Abschied von gestern, 303–322. – Alexander Kluge: Das Wort ZUSAMMENHANG / Hölderlins Bote, 323–326. – Karl Bruckmaier : Alexander Kluge – ein Porträt (Bayerischer Rundfunk, 2012), 327–348. – Christoph Keese : Silicon Valley – »Dynamit aus Geist & Geld«. [Alexander Kluge im Gespräch mit Christoph Keese; News & Stories vom 2. Dez. 2015], 349–359. – Rezensionen. Herbert Holl: Gr8gory Corman, Jeremy Hamers, C8line Letawe (Hg.), Lecteurs/spectateurs d’Alexander Kluge (Cahiers d’Ptudes Germaniques, Nr. 69, 2015/2), 363–366. – Rainer Stollmann: Leslie A. Adelson, Cosmic Miniatures and the Future Sense. Alexander Kluge’s 21st-Century Literary Experiments in German Culture and Narrative Form, Berlin/Boston: Walter de Gruyter Verlag 2017. 305 pp., 367–385. – Alexander Kluge: Nachricht an Außerirdische, 387. – Wolfram Ette: Jürgen Fohrmann (Hg.), Chronik / Gefühle. Sieben Beiträge zu Alexander Kluge. Mit drei Geschichten von Alexander Kluge und einer Antwort von Wilhelm Voßkamp, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2017, 389–393. – Bibliographie. Bibliographie zu Alexander Kluge 2016. Zusammengestellt von Winfried Siebers, 397–406. – Videographie. Verzeichnis der Kulturmagazine 2016. [Zusammengestellt von Gülsen Döhr], 409–415. – Autorinnen und Autoren, 417–423. [Beiträge aus dem ›Alexander Kluge-Jahrbuch‹ 4 (2017) sind – bis auf wenige Ausnahmen – nicht noch einmal einzeln in den Sachgruppen aufgelistet!] Chronik / Gefühle. Sieben Beiträge zu Alexander Kluge. Mit drei Geschichten von Alexander Kluge und einer Antwort von Wilhelm Voßkamp, hg. von Jürgen Fohrmann, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2017. [Siehe Rez. von Wolfram Ette in AKJ 4, 2017, 389–393]. Hierin enthalten: Fohrmann, Jürgen: Arbeit an Deutschland. Alexander Kluges Chronik der Gefühle. Einführung, 9–30. – Simonis, Linda: Alexander Kluges und Gerhard Richters »Nachrichten von ruhigen Momenten« – eine Chronik?, 31–56. – Stüssel, Kerstin: Geschichte, Gegenwart und ›Nähesinn‹, 57–72. – Balke, Friedrich: Was ist eine politische Geschichte? Alexander Kluges Anekdoten, 73–104. – Pethes, Nicolas: Unterwasserkünstler. Die Utopie des Poetischen am Ende des Langen Marschs des Urvertrauens, 105–118. – Löffler, Petra: Kluges Parallelwelten: Götter und Quantenphysik, 119–142. – Geitner, Ursula; Stanitzek, Georg: Die Sprechstunde. Universität und Kooperation bei Alexander Kluge, 143–166. – Kluge, Alexander : Eine unternehmenslustige Bande. »Von einem jeglichen Wort, das, ungerecht verbrannt, auf seine Ankunft wartet«. »Die Geschichte hält zur Betonung inne«, 167–174. – Voßkamp, Wilhelm: ›Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.‹, 175–177. [Die Beiträge dieses Bandes sind einzeln mit Verweispfeilen und Kurztiteln in den Sachgruppen der Bibliographie aufgeführt!].
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Bibliographie zu Alexander Kluge 2017
Publikationen zu allgemeinen und übergreifenden Themen Adelson, Leslie A., »Das Außerirdische in uns«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 65–73. Cohen, Marcelo, Notas sobre la literatura y el sonido de las cosas, Barcelona: Malpaso 2017. [Darin: »Todo un detalle (sobre Alexander Kluge)«, 144–152]. Fore, Devin, »An Economy of Combined Trivials. Soviet Prehistory to Demand and Kluge«, in: The boat is leaking. The captain lied, Ausstellungskatalog, Fondazione Prada, Venice (s. o.), 45–53. Fulk, Kirkland A.: »›Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum‹. Alexander Kluge, Techno, and the Proletarian Counterpublic Sphere«, in: The Germanic review – literature, culture, theory 92/3 (2017), 245–263. Hoger, Hannelore, »Von Menschen, Tieren, Narren. Aus Gesprächen mit Alexander Kluge«, in: dies., Ohne Liebe trauern die Sterne. Bilder aus meinem Leben, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2017, 55–92. [»Die Gespräche wurden aufgezeichnet im Verlauf der vergangenen Jahre.« S. 92]. Langston, Richard, »Die Lampe«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 117–131. Lerner, Ben, »Halberstadt brennt. Gedichte. Aus dem amerikanischen Englisch von Steffen Popp«, in: Schreibheft, Nr. 89 (2017), 7–20. Lerner, Ben, »The Snows of Venice. Slow Sonnets for Alexander Kluge«, in: The boat is leaking. The captain lied, Ausstellungskatalog, Fondazione Prada, Venice (s. o.), 12–37. Loublier, Maguelone, »›L’ombre d’une corne de taureau‹ ou le conte de ›L’Enfant obstin8‹ chez Alexander Kluge«, in: Germanica, , Le conte comme esth8tique et strat8gie du d8tour dans la litt8rature et le cin8ma, n861 (2017), 109–125. Marten, Susanne, »Arbeit ist keine primäre menschliche Eigenschaft«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 177–193. Negt, Oskar, »Über den Hausbau der Vernunft. Alexander Kluge zum 85. Geburtstag«, in: Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte. Deutsche Ausgabe 64/1–2 (2017), 75–79. Streckhardt, Christoph, »Kleines Kugellexikon. Ausgewählte Schlüsselfiguren im Werk Alexander Kluges«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 150–214. [›Antirealismus des Gefühls‹ bis ›Zwerchfell‹]. ! Geitner, Ursula; Stanitzek, Georg, »Die Sprechstunde. Universität und Kooperation bei Alexander Kluge«, in: Chronik / Gefühle, 2017, 143–166 (siehe Publikationen über Alexander Kluge, Sammelbände). ! Löffler, Petra, »Kluges Parallelwelten: Götter und Quantenphysik«, in: Chronik / Gefühle, 2017, 119–142 (siehe Publikationen über Alexander Kluge, Sammelbände). ! Stüssel, Kerstin, »Geschichte, Gegenwart und ›Nähesinn‹«, in: Chronik / Gefühle, 2017, 57–72 (siehe Publikationen über Alexander Kluge, Sammelbände).
Bibliographie zu Alexander Kluge 2017
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Publikationen zur Literatur Büttner, Urs, »Nature makes history ; narrating nature in Gerhard Richter and Alexander Kluge’s ›December‹«, in: Meteorologies of modernity. Weather and climate discourses in the Anthropocene, ed. by Sarah Fekadu, Hanna Straß-Senol and Tobias Döring, Tübingen: Narr Francke Attempto 2017, 217–234. Homberg, Michael, »Augenblicksbilder. Kurznachrichten und die Tradition der ›fait divers‹ bei Kleist, F8nHlon und Kluge«, in: Kurz & knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Michael Gamper und Ruth Mayer, Bielefeld: Transcript 2017, 119–140. Kaiser, Joachim, »Alexander Kluge – Mimikri und bizarre Partikel«; [und] »›Schlachtbeschreibung‹«, in: ders., Erlebte Literatur. Vom ›Doktor Faustus‹ zum ›Fettfleck‹ – deutsche Schriftsteller in unserer Zeit, Neuauflage, München: Piper 2017, 383–386, 386–390. [Erstausgabe 1988]. Öhlschläger, Claudia, »Vom Schnee zum Eis. Trübungs- und Glättezonen im Schreiben Adalbert Stifters und Robert Walsers – mit einem Ausblick auf Alexander Kluge/Gerhard Richter : ›Dezember‹«, in: Fleck, Glanz, Finsternis. Zur Poetik der Oberfläche bei Adalbert Stifter, hg. von Thomas Gann und Marianne Schuller, Paderborn: Fink 2017, 197–216. Potthast, Barbara, »Geschichte und Gegen-Geschichte(n)«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 105–115. Uerlings, Herbert, »Anerkennung und Interkulturalität. Überlegungen mit Blick auf ›Haiti‹ bei Hegel und Alexander Kluge«, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8/ 2 (2017), 87–104. Werder, Sophie von, »Parejas contempor#neas en los microrrelatos ›Amor cibernauta‹, de Diego Munoz Valenzuela, y ›El amor llega de puntillas‹, de Alexander Kluge«, in: Literatura, hibridez y glocalizacijn, eds. Mar&a E. Osorio Soto, Edwin Carvajal Cjrdoba, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2017, 111–124. Wiegandt, Markus, Chronisten der Zwischenwelten. Dokufiktion als Genre: Operationalisierung eines medienwissenschaftlichen Begriffs für die Literaturwissenschaft, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2017 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 348). [Vorher Diss., Univ. Leipzig, 2013; auch als Online-Ausgabe erschienen; darin zu Chronik der Gefühle, 139–183]. ! Balke, Friedrich, »Was ist eine politische Geschichte? Alexander Kluges Anekdoten«, in: Chronik / Gefühle, 2017, 73–104 (siehe Publikationen über Alexander Kluge, Sammelbände). ! Fohrmann, Jürgen, »Arbeit an Deutschland. Alexander Kluges Chronik der Gefühle«, in: Chronik / Gefühle, 2017, 9–30 (siehe Publikationen über Alexander Kluge, Sammelbände). ! Pethes, Nicolas, »Unterwasserkünstler. Die Utopie des Poetischen am Ende des Langen Marschs des Urvertrauens«, in: Chronik / Gefühle, 2017, 105–118 (siehe Publikationen über Alexander Kluge, Sammelbände).
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Bibliographie zu Alexander Kluge 2017
Publikationen zu den Filmen und Fernsehmagazinen Brössel, Stephan, »Alexander Kluge als Autorenfilmer : Filmisches Erzählen als stratifikatorisches Erzählen und die Interrelation von Film und Literatur in den 1970er Jahren«, in: ders., Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte, Berlin/Boston: de Gruyter 2017, 244–251. [Vorher : Diss., Univ. Wuppertal, 2011; Paperback-Ausgabe des 2014 erschienenen Erstdrucks]. Bronzini, Benedetta, Interviewkünstler. L’artista intervistato come performer e documento storico attraverso l’esempio di Heiner Müller a confronto con Alexander Kluge, Bonn: Universitäts- und Landesbibliothek Bonn 2017. [Zugleich: Diss., Rheinische FriedrichWilhelms-Univ. Bonn, 2017; Online-Ressource; Web-Adresse: http://hss.ulb.uni-bonn. de/2017/4700/4700.htm]. Combrink, Thomas, »Arbeiten und Schlafen. Zum Thema Arbeit in Alexander Kluges Kulturmagazinen im ersten Halbjahr 2017«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 195–2055. Kauffmann, Kai, »Rhetorische Materialmontage und regieführendes Autorsubjekt. Zur Kritik der Essayistik Alexander Kluges am Beispiel der Fernsehnachschriften ›Facts & Fakes‹«, in: Der Essay als Universalgattung des Zeitalters. Diskurse, Themen und Positionen zwischen Jahrhundertwende und Nachkriegszeit, hg. von Michael Ansel, Jürgen Egyptien und Hans-Edwin Friedrich, Leiden/Boston: Brill Rodopi 2016, 406–430. Koch, Lars J.; Nanz, Tobias, »Szenarien des Dritten Weltkriegs. Ausnahmesituationen und souveräne Akteure im Film«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 46/ 3 (2016), 395–408. [Behandelt u. a. den Kollektivfilm Krieg und Frieden, BRD 1982].
Publikationen zu den Ausstellungen und zur Zusammenarbeit mit Künstlern Bellenbaum, Rainer, »Garten, Werkstatt, Oper – Alexander Kluge in Ausstellungen der Fondazione Prada, Venedig, und im Württembergischen Kunstverein Stuttgart«, in: Texte zur Kunst, Nr. 108 (Dez. 2017), 244–249. Fricke, Anna, »Der Kosmos als Kino – Einleitung zur Ausstellung«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 149–171. Köhne, Axel, »Zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. Gedanken zu Alexander Kluge und Thomas Demand«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 207–231. Krejci, Harald, »Alexander Kluge – Variationen für das institut«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 233–245. Meinhardt, Johannes, »Stuttgart. Alexander Kluge. Gärten der Kooperation. Aufklärung der Wünsche. Württembergischer Kunstverein 14. 10. 2017–14. 01. 2018«, in: Kunstforum International, Nr. 251 (2017–2018), 265–266. ! Simonis, Linda, »Alexander Kluges und Gerhard Richters ›Nachrichten von ruhigen Momenten‹ – eine Chronik?«, in: Chronik / Gefühle, 2017, 31–56 (siehe Publikationen über Alexander Kluge, Sammelbände).
Bibliographie zu Alexander Kluge 2017
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Publikationen zur Theorie Ette, Wolfram, »Rettende Kritik des Messianismus. Benjamins Geschichtsthesen und ihre Aufnahme bei Alexander Kluge«, in: Walter Benjamin – Politisches Denken, hg. von Christine Blättler und Christian Voller, Baden-Baden: Nomos 2016, 259–276. Lethen, Helmut, »Steinwürfe von Nomaden«, in: Alexander Kluge. Pluriversum, Ausstellungskatalog Museum Folkwang (s. o.), 75–93. Miller, Matthew D., »Atlantic Transfers of Critical Theory : Alexander Kluge and the United States in Fiction«, in: Different Germans, many Germanies. New transantlantic perspectives, ed. by Konrad H. Jarausch, Harald Wenzel and Karin Goihl, New York: Berghahn 2017, 278–297. Rath, Norbert, »Horkheimer und Adorno im literarischen Werk Alexander Kluges«, in: Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft (13. 02. 2017). OnlineZeitschrift. [Web-Adresse: https://www.kritiknetz.de/kultur/1369-horkheimer-undadorno-im-literarischen-werk-alexander-kluges].
AUTORINNEN UND AUTOREN
Autorinnen und Autoren
Wolfgang Asholt Professor für Romanische Literaturwissenschaft in Osnabrück bis 2011, seit 2013 Honorarprofessor am Institut für Romanistik der HU Berlin. Senior Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (2012), Herausgeber der Zeitschrift Lendemains (2000–2012) und des Frankreich Jahrbuchs (1995–2005). Mitglied der Redaktion verschiedener Zeitschriften, u. a. Romantisme, Revue des Sciences humaines, Fixxion (elektr. ZS für frz. Gegenwartsliteratur). Außerdem Mitglied des Conseil de Cerisy. Arbeiten zur frz. Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, zu Literaturwissenschaft und Lebenswissenschaft und Problemen der Weltliteratur, zu Theorien der Avantgarde. Letzte Veröffentlichungen: Avantgarde und Modernismus. Dezentrierung, Subversion und Transformation im literarisch-künstlerischen Feld, Berlin (de Gruyter), 2014 (FRIAS: Linguae & Litterae Bd. 37); Herausgeber (mit U. Bähler) vom Heft 321 der Revue des Sciences Humaines: »Le savoir historique du roman contemporain« (Jan.-März 2016); Herausgeber, mit M. Calle-Gruber, E. Heurgon, P. Oster-Stierle Europe en mouvement – 1: f la crois8e des cultures, Paris (Hermann), 2018. André Combes Emeritierter Professor an der Universität Toulouse-Jean JaurHs. Zu seinen Forschungsgebieten gehören: Theater und Film des 20. Jahrhunderts, jüdische Dichtung deutscher Sprache. Dissertation über »Situationen des politischen Theaters von der Freien Volkbühne bis E. Piscator«. Habilitationsschrift über den deutschen Film. Aufsätze zu: Max Reinhardt, Berthold Brecht, Peter Weiss, Heiner Müller, Walter Benjamin, Victor Klemperer, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Paul Celan, Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Friedrich Wilhelm Murnau, Wim Wenders, Alexander Kluge, Berliner Arbeiterfilm u. a. Georges Didi-Huberman Philosoph und Kunsthistoriker, unterrichtet an der Pcole des Hautes Ptudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Er ist der Träger des Hans-Reimer-Preises
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Autorinnen und Autoren
der Aby-Warburg-Stiftung (1997) und des Theodor-W.-Adorno-Preises (2015). War Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKK) in Weimar (2014) und Inhaber der Albertus-MagnusProfessur (2017). Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen: Bilder trotz allem (2007) und der mehrbändige Zyklus Das Auge der Geschichte (2011ff.). Jean-Pierre Dubost Emeritierter Professor für Vergleichende Literatur an der Universität Clermont Auvergne (Clermont-Ferrand). Zu seinen Hauptforschungsgebieten gehören Literatur und Philosophie, libertine Literatur, Theorie der Darstellungsformen, narrative Topik, Text und Bild, Literatur und Globalisierung, West/ Ost Problematik. Er hat 2009 das Forschungsnetz Les Orients d8sorient8s initiiert und verwaltet den wissenschaftlichen Blog gleichen Namens (https://lesordesor.hypotheses.org). Auswahl aus jüngeren Veröffentlichungen: Jean-Pierre Dubost/ Axel Gasquet (Hg.), Les Orients d8sorient8s, Paris: Kim8 2013; über Kluges Werk: »Alexander Kluge: D8monter et remonter le textimage de l’histoire«, in: J.P. Esquenazi, O. Leplatre, A. Barre (Hg.), Entre textes et images: Montage, d8montage, remontage, http://revue-textimage.com/conferencier/sommaire.htm, 2016; »Eine neue Ära für die Rezeption Kluges in Frankreich: Chronique des sentiments – Livre I – Histoires de base, (Paris: P.O.L. 2016)«, in: Christian Schulte/ Winfried Siebers u. a. (Hg.): Formenwelt des Dialogs. Alexander Kluge-Jahrbuch 3, Göttingen, 2016. Leo van Hemmen Emeritierter Professor für theoretische Biophysik an der Technischen Universität München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: die zellulare theoretische Biophysik, die theoretische Membranphysik und der Mechanismus der neuronalen Informationsverarbeitung verschiedener Sinnesorgane bei Mensch und Tier. Gespräche mit Kluge: Mathematik der sinnlichen Kraft (2017), Leibniz & die Mathematik der Schlangen (2018). Birgit Haberpeuntner Als Universitätsassistentin am Institut für Theater,– Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, ist sie außerdem freiberuflich als Übersetzerin tätig. Von 2015 bis 2017 war sie als Junior Fellow des Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien, Berlin und Montreal. Davor studierte sie Anglistik/Amerikanistik und Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, der Concordia University in Montreal und der Columbia University in New York. Ihre letzte Publikation ist eine Übersetzung: Steyerl, Hito, Ripping Reality : Blinde Flecken und beschädigte Daten in 3D,
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in: Elisabeth Büttner, Vrääth Öhner, Lena Stölzl (Hg.) Sichtbarmachen: Politiken des Dokumentarfilms. Berlin: 2017. Kza Han Die dreisprachige Dichterin und Übersetzerin (Deutsch, Französisch, Koreanisch) schreibt seit 1980 über Alexander Kluge, u. a: La strat8gie est puissamment belle, mais s0re elle ne l’est pas (1980); »Dossier Alexander Kluge/ Heiner Müller (Text und Bild)«, in: Munye Han Guk (Seoul), 2002; De hautes erres, poHmes et proHmes, 2005; »Traces erratiques/ Irrfährten/ Bang Houang Han’n Buzaguk, Gedichte; Sechs Kometen« (Gedichte, dreisprachig), in: Die Bauweise von Paradiesen. Für Alexander Kluge, Maske und Kothurn, 2007, Heft 1; Zwölf Himmelskörper, Gedichte, dreisprachig, mit zwölf stereoskopischen Darstellungen von Ekkehart Rautenstrauch, TK-21 La Revue, Nr. 18, Lektüre mit Projektion durch die Dichterin, Cit8 des CongrHs, Nantes, März 2012. Rege Übersetzungstätigkeit mit Herbert Holl, darunter : Alexander Kluge, Le raid a8rien sur Halberstadt, le 8 avril 1945, Diaphanes, 2016. Nimmt mit Herbert Holl an der kollektiven Übersetzung der Chronik der Gefühle teil (Paris: P.O.L.) Herbert Holl Herbert Holl forscht und schreibt seit den späten siebziger Jahren über Alexander Kluge. Habilitation 1997: La violence de la contexture: G.W.F. Hegel, F. Hölderlin, A. Kluge. Zahlreiche Publikationen zu A. Kluge, u. a.: La fuite du temps. Zeitentzug chez Alexander Kluge. R8cit, image, concept (1999); mit Günter Krause (Hg.), Heiner Müller et Alexander Kluge arpenteurs de ruines – Le grouillement bariol8 des temps (2004); »’lang ist die Zeit, es ereignet sich aber/ Das Wahre’: Ereignisgewässer in Alexander Kluges ›Heidegger auf der Krim’«, in: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung, Anspruch und Aporien, Frankfurter Kolloquium, 2003; »La nouvelle constellation du Centaure«, Neue Geschichten Alexander Kluges um Hölderlins Ode ›Der blinde Sänger’ und Nachtgesang ›Chiron’, Übersetzung und Kommentar, mit Kza Han, TK-21 Nr. 60–61, August 2016. Rege Übersetzungstätigkeit mit ihr, darunter : Alexander Kluge, Le raid a8rien sur Halberstadt, le 8 avril 1945, Diaphanes, 2016; beide nehmen an der kollektiven Übersetzung der Chronik der Gefühle (Paris: P.O.L.) teil. Hilda Inderwildi Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin, Dozentin an der Universität Toulouse; Promotion über »Das literarische Werk Kubins – sein Platz in der Schöpfung des Künstlers und der fantastischen Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts«. Forschungsschwerpunkte: intermediale Werke an der Schnittstelle von Literatur und visuellen Künsten. Leiterin der Reihen nouvelles scHnes –
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allemand und found in translation (Presses Universitaires du Midi), der Zeitschrift Cahiers d’Ptudes Germaniques (Presses Universitaires de Provence). Leiterin des Forschungsprojekts »Patrimoines nomades/Nomadenerbtümer« zur Aufarbeitung der Geschichte des Internierungslagers Garaison (Pyrenäen, 1914–1919). Übersetzung (m. Vincent Pauval) des Künstlerbuchs Dezember ; Mitarbeit an der Übersetzung von Das fünfte Buch (P.O.L.). Aktive Teilnahme an der Vermittlung von Kluges Werk in Frankreich. Anselm Kiefer Weltweit bekannter und erfolgreicher deutscher Maler und Bildhauer. Ferner ist er als Bühnenbildner für Theater und Oper tätig. Insbesondere für die Aufführungen von Ödipus auf Kolonos (Burgtheater Wien, 2003) und von Rossinis Oper Otello (Teatro alla Scala Mailand, 2015) schuf er das Bühnenbild. Kiefer und Kluge lernten sich 2011 persönlich kennen und führten seither eine Reihe anregender TV-Gespräche (WERKSTATTDIALOGE) miteinander, in denen es sich um Kiefers Werdegang und seine Arbeitsweise drehte, um Mythen und Geschichte, den Lebenskreislauf und die Vergänglichkeit, um die Alchimie und das Universum. 2014 hält er in Düsseldorf die Laudatio bei der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises an Kluge. Publikation mit Kluge: Die Ungeborenen, Galerie Thaddaeus Ropac, 2012; Der mit den Bildern tanzt, Filme & Dialoge, filmedition suhrkamp, 2017. Alexander Kluge Studium der Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik in Marburg und Frankfurt am Main; promovierte 1956 über Die UniversitätsSelbstverwaltung zum Dr. jur. Er wurde juristischer Berater des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Vertrauter von Theodor W. Adorno. Nach einem Volontariat bei Fritz Lang 1958 arbeitete Kluge als Filmemacher und erhielt 1966 für Abschied von Gestern als erster Deutscher nach dem Krieg den Silbernen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig. Ab 1962 trat Kluge mit Bänden wie Lebensläufe und Schlachtbeschreibung als Schriftsteller hervor. Lesungen bei der Gruppe 47. Mit Oskar Negt verfasste er ein umfangreiches theoretisches Werk. Seit 1988 führte er das Konzept des »Kinos der Autoren« mit Kulturmagazinen im Privatfernsehen fort. Er erhielt zahlreiche Preise für sein Filmschaffen und seine Literatur, zuletzt den Georg-Büchner-Preis (2003), den Theodor-W.-Adorno-Preis (2009), den Adolf-Grimme-Preis (2010) und den Heinrich-Heine-Preis (2014). 2017 wurde er Ehrenbürger von Halberstadt.
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Melanie Konrad Universitätsassistentin in Ausbildung (Prae-Doc) am Institut für Theater,– Filmund Medienwissenschaft an der Universität Wien. Sie hat Politikwissenschaft in Wien und London studiert und war redaktionelles Mitglied und Mit-Herausgeberin bei SYN – Magazin für Theater-, Film- und Medienwissenschaft und politix – Zeitschrift des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte sind derzeit Themen aus der Politischen Theorie, Feministischen Theorie, Queer Theory und Medientheorie, als auch Fotografie und Games. Ihre letzte wissenschaftliche Publikation ist eine Rezension im e-Journal [rezens.tfm] 2018/1: rezenstfm.univie.ac.at Maguelone Loublier Studium der Germanistik und Filmwissenschaft an der Ecole Normale Sup8rieure (Paris) und der Sorbonne Universit8. Sie ist seit 2014 Doktorandin an der Universit8 Paris 8 und der Goethe-Universität Frankfurt am Main und seit 2017 Lehrbeauftragte (ATER) für Deutsch an der Sorbonne Universit8. Ihr Dissertationsprojekt in Filmwissenschaft konzentriert sich auf die Stimmen in Alexander Kluges Filmen und deren Beziehung zu Bildern. Publikation: »L’Ombre d’une corne de taureau ou le conte de L’Enfant obstin8 chez Alexander Kluge«, in: Germanica, No. 61, 2017. Valentin Mertes Zurzeit Gastwissenschaftler und Lehrbeauftragter an der Universität der Künste Berlin. Davor wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Dissertationsprojekt zu Alexander Kluge. Publikationen: Hrsg. mit Christian Schulte, Birgit Haberpeuntner, Veronika Schweigl, Walter Benjamin und das Kino, Wien: Böhlau 2018; »Sinnlichkeit als Methode. Alexander Kluges antirealistischer Realismus«, in: Sichtbar machen. Politiken des Dokumentarfilms, hrsg. von Elisabeth Büttner, Vrääth Öhner und Lena Stölzl, Berlin: Vorwerk 8 2018; Hrsg. mit Christian Schulte, Winfried Seibers, Stefanie Schmitt, Formenwelt des Dialogs. Alexander KlugeJahrbuch 3, Göttingen: V& R 2016. Sylvie Le Moël Professorin für deutschsprachige Literatur der Aufklärung, Klassik und Romantik an der Sorbonne Universität (Paris). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Kulturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Kulturtransfers im europäischen Kulturraum der Ersten Moderne und u. a. Geschichte des Übersetzens (Übersetzungstheorien und -praktiken), Libretttoforschung und Interaktionen zwischen Musik und Literatur. Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Zeitschrift Musicorum.
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Helen Müller Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie und Zentrum für Buchwissenschaften der LMU München. Arbeitsschwerpunkte: Politische Ästhetik, Literatur und Revolution (18.–20. Jahrhundert), Politisches Drama im Kalten Krieg (Heiner Müller), Technikphilosophie und Literatur (Zukunft des Lesens). Publikationen: Heiner Müller. »Für alle reicht es nicht«. Texte zum Kapitalismus, hrsg. von Helen Müller und Clemens Pornschlegel, Berlin: Suhrkamp 2017, »Heilige Stätten in Moskau. Zum parasitären Verhältnis von Revolutionsästhetik und Orthodoxie«, in: Religion und Ästhetik, Religiöse Ordnungsmodelle der Moderne, Bd. 3, hrsg. von Helen Müller, Florian Schneider, Thorben Päthe (erscheint: München: Fink 2018). Vincent Pauval Als freier Übersetzer und Redakteur, ist er bereits langjährig für Alexander Kluge, Kairos-Film und DCTP, sowie derzeit vorwiegend auf dem Gebiet der Kulturvermittlung zwischen Deutschland und Frankreich tätig. Von 2006 bis 2013 lehrte er zunächst deutsche Sprache und Literatur, anschließend Komparatistik an der Universit8 Blaise Pascal in Clermont-Ferrand. Dort organisierte er 2012 das Kolloquium: Alexander Kluge et la France – Pour une lev8e en masse de la narration. Seine Forschung ist in weiten Teilen dem Werk Alexander Kluges gewidmet, mit Beiträgen wie Comment transformer les Essais et pourquoi: Michel de Montaigne pr8curseur d’Alexander Kluge? (2012), Situations de ce qui s’entretient: jeux socratiques audiovisuels et conversions po8tiques dans l’oeuvre d’Alexander Kluge (2013), De l’amour / l’essai: les transformations de »Ein Liebesversuch« (Une exp8rience d’amour ) d’Alexander Kluge, sowie zahlreichen Gesprächen mit Alexander Kluge, darunter Die Augen der anderen (2013) oder jüngst Einen Robinson gibt es eigentlich nur zu zweit (2017). Als Herausgeber der französischen Neufassung von Alexander Kluges gebündeltem Erzählwerk, welches seit 2016 unter dem Gesamttitel Chronique des sentiments beim Pariser Verlag P.O.L erscheint, hat er auch maßgeblichen Anteil an dessen Übersetzung. Clemens Pornschlegel Professor für neuere deutsche Literatur an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: politische Ästhetik, religiöse Grundlagen der säkularen Moderne. Zahlreiche Publikationen zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, u. a.: Penser l’Allemagne. Litt8rature et politique aux XIXe et XXe siHcles, Paris (Fayard) 2009; Hyperchristen. Studien zur Präsenz religiöser Motive in der literarischen Moderne, Berlin, Wien (Turia + Kant) 2011; Allegorien des Unendlichen. Hyperchristen II, Berlin, Wien (Turia + Kant) 2017.
Autorinnen und Autoren
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Martin Rass Ma%tre de conf8rence für deutsche Geschichte und Philosophie an der Universität von Poitiers, zuständig für einen Master über Buchberufe und Literaturvermittlung, Coorganisator des internationalen Literaturfestivals Bruits de langues in Poitiers und Redaktionsmitglied des Online-Kulturmagazins Diacritk, interessiert sich für das Zusammenspiel alter und neuer Medien, insbesondere für ihre gegenseitige Durchdringung in Literatur, Film und Musik. Er arbeitet, sobald etwas Zeit neben den anderen Verpflichtungen zur Verfügung steht, an einer vergleichenden Studie zwischen Jean-Luc Godard und Alexander Kluge. Vanessa Scharrer Absolventin der L. Jeffrey Selznick School of Film Preservation 2018 und erhielt das Film Preservation Service Fellowship des George Eastman Museums. Ihre Forschung bezieht sich auf historisches Filmmaterial, Farbtheorien und Archivtheorie. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien und schloss mit einer Masterarbeit zur Affekttheorie und Farbe ab. Sie war beim Filmarchiv Austria, beim Filmmuseum Frankfurt am Main tätig und schrieb als Filmkritikerin für die Wochenzeitschrift Falter. Stefan Schweigler Abschluss an der Höheren Technischen Lehranstalt Ortweinschule Graz im Bereich Grafik- und Kommunikationsdesign 2008. 2016 Abschluss des Studiums der Theater-, Film- und Medientheorie (Universität Wien) mit einer dispositivanalytischen Arbeit über Anrufungen von relationaler Ethik in Geschichte und Theorie des Episodenfilms. Seitdem Lehrtätigkeit an den Universitäten Klagenfurt und Wien in den Bereichen Medientheorie und Gender/Queer Theory. Seit 2017 Promotionsstelle am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Winfried Siebers Dr. phil., Studium der Literatur- und Medienwissenschaft sowie der Geschichte in Osnabrück, Promotion 1998, seit 2005 wiss. Mitarbeiter am Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. Lehrtätigkeit an den Universitäten Osnabrück, Potsdam und Wien. Letzte Publikationen: Hg. mit Christian Schulte, Figuren der Erinnerung. Studien zum Werk W.G. Sebalds, 2013; »Alexander Kluge und die Frühe Neuzeit«, in: Cahier d’8tudes germaniques, No. 69, 2015.
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Autorinnen und Autoren
Ulrike Sprenger Professorin für Romanische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die französische Erzählkunst des 19. Jahrhunderts (Proust ABC, 1996) und die religiöse Kultur des spanischen Barock (Stehen und Gehen, 2013). Seit 1993 war sie regelmäßig Interviewpartnerin in Alexander Kluges Kulturmagazinen zu literatur- und kulturwissenschaftlichen Themen. Jüngste Veröffentlichungen sind: »Der Gehülfe als Moralist. Robert Walser, Stendhal und die französische Affektenlehre, in: Bernd Stiegler et al., Robert Walsers Ambivalenzen, Paderborn 2018, S. 65–84 und »Illusion of a room: Katabasis und Kolonisierung in Joseph Conrads ›The Return‹«, DVjs 92(2), Juni 2018, S. 203–228. Rainer Stollmann Geb. 1947. Bis 2012, Professor für Kulturgeschichte an der Universität Bremen, inzwischen emeritiert. Seine Forschung befasst sich insbesondere mit der Kulturgeschichte des Lachens, sowie mit dem Werk Alexander Kluges. Publikationen u. a.: »Angst ist ein gutes Mittel gegen Verstopfung«. Aus der Geschichte des Lachens, Berlin (Vorwerk 8), 2010. Zu Alexander Kluges Werk, nebst zahlreicher Aufsätze: Alexander Kluge zur Einführung, Hamburg (Junius), 2010. In Zusammenarbeit mit Kluge entstanden ferner mehrere Gesprächsbände: Verdeckte Ermittlung, Leipzig (Merve), 2001, Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis, Berlin (Kadmos), 2005, oder jüngst: Ferngespräche: Über Eisenstein, Marx, das Kapital, die Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft, Berlin (Vorwerk 8), 2016. Lilo Wanders Ernst-Johann Reinhardt, alias Lilo Wanders, ist deutscher Travestiekünstler, Entertainer und Schauspieler. Die Kunstfigur Lilo Wanders entstand Ende der 1980er Jahre, als Reinhardt im Schmidt-Theater auf der Reeperbahn in Hamburg schauspielerte. Nach einer festen Rolle in der Schmidt Mitternachtsshow zu Beginn der 90er Jahre, ging Wanders 1994 mit der Fernsehsendung Wa(h)re Liebe auf Sendung, wodurch die Figur einen bundesweiten Bekanntheitsgrad erlangte. In den Magazinen der dctp war Wanders ab 1999 mehrere Male zu Besuch, um mit Kluge über die Wa(h)re Liebe, die Relevanz von Kosenamen und das Hohelied Salomos zu sprechen. Mit Kluge: Wa(h)re Liebe und das Hohelied Salomos, Wa(h)re Liebe im Fronteinsatz (2001), 100 Jahre SOS: Wahre Liebe. Beata Wiggen Zuständig für die komplette Programmlogistik der Kulturmagazine (Planung, Dispo, Presse, Gema, Archiv) und die Öffentlichkeitsarbeit der dctp. Sie studierte Psychologie (B.A.) in den USA, machte erste Erfahrungen im Printbereich
Autorinnen und Autoren
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(Produktion, Anzeigenverkauf) in den USA und Hannover. 1988 war sie Frau der ersten Stunde im noch kleinen Büro der dctp. Neben ihrer Arbeit für Alexander Kluge engagiert sie sich seit vielen Jahren für moderne Kunst und Künstler aus Nepal und bloggt zum Thema unter www.theartofen-couraging.com. Stefan Wimplinger Derzeit Junior-Fellow am IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaft) in Wien und arbeitet an einer Promotion zum Thema des kooperativen Schreibens mit einem Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit von Negt und Kluge. Er ist Lehrbeauftragter an der Germanistik Wien und assoziiertes Mitglied der Forschungsplattform »Mobile Kulturen und Gesellschaften« der Universität Wien. Er ist außerdem am CENTRAL-Netzwerk »Transformationen und Transfers. Literarische Raumordnungen und ihre Dynamisierung« beteiligt. Letzte Publikation zu Negt/Kluge: »Augenbewegung, Eigenbewegung, Protestbewegung. Landkarten für ›Geschichte und Eigensinn‹«, in: Annegret Pelz/ Alexandra Ganser (Hg.), Mobility, V& R unipress/Vienna University Press, Wien (geplant für Anfang 2019).