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German Pages 400 [396] Year 2005
Von Platon bis Derrida
GERHARD GAMM/ E V A S C H Ü R M A N N ( H G .)
Von Platon 20 Hauptwerke der Philosophie
bis Derrida
Der Text folgt den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung, Zitate sind in der Rechtschreibung der zitierten Ausgabe wiedergegeben. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2005 by Primus Verlag, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Einbandmotiv: Bibliothek des Trinity College in Dublin/Irland, picture-alliance/dpa (Foto: Apa Publications) Gestaltung und Satz: Johannes Steil, Karlsruhe Printed in Germany www.primusverlag.de isbn 3-89678-263–0
Inhalt
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Auf den Schultern von Riesen
11 Platon: Politeia
GERHARD GAMM/EVA SCHÜRMANN
HASSAN GIVSAN
28 Aristoteles: Metaphysik
EMIL ANGEHRN
44 Thomas von Aquin: De unitate intellectus 63 René Descartes: Meditationen 81 Thomas Hobbes: Leviathan 100 Baruch de Spinoza: Ethik
ADALBERT PODLECH
UTE GAHLINGS
PETRA GEHRING
EVA SCHÜRMANN
117 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft
ALFRED NORDMANN
135 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
GERHARD
GAMM
153 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie A S T R I D S C H W A R Z 171 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes GERHARD GAMM
188 Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache GEORG ZENKERT
207 Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst
GERNOT BÖHME
220 Charles Sanders Peirce: How to Make our Ideas Clear
ANDREAS
HETZEL
238 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse 257 Martin Heidegger: Sein und Zeit
MARC RÖLLI
FRIEDRICH VOSSKÜHLER
273 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen JENS KERTSCHER
292 Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben ANDREAS HETZEL
311 Hans-Georg Gadamer: W Wahrheit und Methode 330 Donald Davidson: Handlung und Ereignis
HEIKE KÄMPF
HEIDRUN HESSE
348 Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz
GERHARD GAMM
Anhang 365 Portr träts (Biographie, Werkausgaben und weiterführende Literatur in Auswahl) 390 Die Autoren
Auf den Schultern von Riesen gerhard gamm/eva schürmann
Jede Präsentation klassischer Texte der Philosophie hat mit der Frage zu kämpfen, welche Wege denn offen stehen, um in das Philosophieren einzuführen. Nicht Philosophie könne man lernen, hatte Kant gesagt, wohl aber philosophieren. Eine allgemeingültige, abgeschlossene Lehre namens Philosophie liege nicht vor. Wie jede kulturelle Praxis, die man erwerben will, ist auch das Philosophieren daran gebunden, dass man es tut. Man lernt schwimmen nur, wenn man ins Wasser geht, und philosophieren nur, wenn man in ihre Problemmaterie eintaucht, einen Königsweg zu ihr gibt es nicht, einen methodisch abgezirkelten, auf dem man zuverlässig sein Ziel erreicht, schon gar nicht. An dieser Stelle ist ein Blick in die Geschichte der Philosophie immer wieder als hilfreich empfunden worden. Die Lektüre klassischer Texte kann helfen, einen Vorbegriff davon zu entwickeln, was es heißt, zu philosophieren, sie vor allem bietet die Möglichkeit, das Eigentümliche des philosophischen Weltzugangs herauszufinden. Allerdings hilft sie nur dann, wenn die endlos lange Kette philosophischer Texte nicht als erbauliche Sammlung toter Geister verstanden wird. Philosophie ist kein Besitz, kein Gut höherer Bildung, das man in Form einer (Kurz)Mitteilung relevanter Ergebnisse erwerben kann. Sie umfasst keinen feststehenden Textkorpus tragender Einsichten und kluger Maximen, den man wie einen gemeinsamen Schatz der Menschheit von einer Generation auf die nächste übertragen kann. Eine Philosophie im Sinne einer Ahnengalerie abgelegter Geister hätte ihren Namen nicht verdient. Wie die Texte, in denen sie aufbewahrt ist, liegt auch Philosophie nicht einfach vor, ihre Identität oder ihren Wert erhält sie erst im Vollzug oder dadurch, dass wir uns mit ihr auseinandersetzen; dass wir sie
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Einleitung
zu unseren Problemen, Programmen und Projekten in Beziehung setzen und ihre Texte so lesen, dass sie einem gegenwärtigen Bedürfnis nach philosophischer Orientierung entgegen kommen. Die klassischen Texte erlangen ihre Größe über die Häufigkeit und Produktivität der Anschlüsse, die sie im Verlauf der Geschichte erfahren haben. Klassisch kann man die Texte nennen, von denen immer neue Interpretationen ihren Ausgang nehmen. In diesem Sinn sind Hauptwerke paradigmatische Formen des Denkens, Knotenpunkte, an denen sich studieren lässt, welche Wege der menschliche Geist eingeschlagen hat, sich in der Welt einzurichten und zu verstehen. Klassisch gewordene Texte verschieben die Denkrahmen, sie nehmen die Grundfragen philosophischen Denkens unter veränderten historischen Vorzeichen auf. Das heißt, es bleibt über Generationen hinweg nicht nur heftig umstritten, wer zum Kanon der Klassiker gehört und wer nicht, auch der einmal erstrittene Status, ein klassischer Text zu sein, bleibt stets prekär, man kann auch aus dem Olymp des Geistes wieder vertrieben werden oder, was häufiger der Fall ist, in Vergessenheit geraten. Ebenso kann man aber auch Renaissancen erleben, welche den Geist eines Werkes zu neuem Leben erwecken. Jede Generation in der Philosophie hat das Recht, ihre Klassiker neu zu entdecken. Nicht weniger müssen aber auch die klassischen Texte – neu gelesen – ihre Produktivität und Spannkraft in veränderten historischen Konstellationen erneut unter Beweis stellen. Erst dadurch, dass der Kanon sich verschiebt, können die Werke klassisch werden. Was Philosophie ihrem Begriff nach ist und wie man sie verstehen W soll, darüber lässt sich trefflich streiten – eine Einhelligkeit der Standpunkte wäre so überraschend wie ein zeitweiliges Außerkrafttreten der Naturgesetze. Eine Übereinkunft auf diesem Felde machte die Philosophie noch verdächtiger als sie ohnehin schon ist. Der Widerstreit philosophischer Standpunkte ist ihr ebenso wesentlich wie die Einsicht, es nicht dabei belassen zu können. So bleibt die Einheit der Vernunft nur gewahrt in der Vielzahl ihrer Stimmen. Vielleicht kann ein knapper Vergleich mit Kunst und Wissenschaft ein wenig Licht in das Dunkel der Sache bringen. In der Philosophie wie in der Kunst und den Wissenschaften ist der
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Graben zum Leben und zur Politik nicht im Handstreich zu überbrücken. Aber er kommt jeweils durch einen anderen Welt- und Selbstbezug zustande. Kunst und Philosophie treffen sich darin, ein jeweils bedeutsames oder exemplarisches Einzelnes zur Darstellung zu bringen. „Jede Philosophie ist in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich“, heißt es bei Hegel. Beide zielen auf ein Ganzes von Erfahrung, aber so, dass sie es in einem Punkt, einem Bild oder Begriff konzentrieren. Sie präsentieren in höchst eigener Sicht eine gleichwohl allgemeine Ansicht der Welt, das heißt eine, in der nicht nur die Menschen ihren Selbst- und Weltbezug gespiegelt sehen, sondern mittels derer sie sich der Welt gewachsen zeigen können, indem ihnen gelingt, sich die verschiedenen Realitäts- und Rationalitätsbereiche des gesellschaftlichen Lebens aufzuschließen. „Das wahre Eigentümliche einer Philosophie ist die interessante Individualität“, in ihr wird ein besonderes Zeitalter in Gedanken erfasst. Diese Orientierung an einem Singulären, das gleichwohl in seiner allgemeinen Bedeutung durchsichtig wird – Hegels „interessante Individualität“ –, weist eine unverkennbare Nähe zur Kunst auf. Jedoch wird ihr von der wissenschaftlichen Seite der Philosophie sofort dadurch widersprochen, dass sie sie daran erinnert, sich im Medium begrifflichen Denkens, das ist der Reflexion, zu bewegen. Die Philosophie zielt auf eine Diskursivität, die, will man sie erreichen, den Regeln der Logik folgen muss. Sie trägt den Anspruch, in sich stimmig und folgerichtig zu sein, das heißt, sich selbst nicht zu widersprechen. Sie muss den Widerspruch als methodisches Regulativ des Denkens akzeptieren, will sie nicht auf ihre Lieblingsidee, auf ‚Wahrheit‘ Verzicht tun, also darauf, dass eine Aussage wahr oder falsch ist, eine Forderung recht und billig, eine Handlung gut oder verwerflich, ein Projekt wichtig oder unwichtig, ein Gefühl authentisch oder bloß illusionär. Diese Zwischenstellung zeigt sich selbst bei Kant, so sehr seine Philosophie sich auch dem wissenschaftlichen Geist verpflichtet weiß. Anders als in der Mathematik, die es mit Definitionen und einer „Konstruktion aus Begriffen“ zu tun hat, bleibt der philosophischen Vernunfterkenntnis nur die Methode der Explikation oder der „Verdeutlichung“ ihrer Grundbegriffe.
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Einleitung
Die eigentümliche Zwischenstellung der Philosophie zwischen Kunst und Wissenschaft ist es denn auch, die bedingt, dass es in ihrer Geschichte Fortschritt nicht in derselben Weise geben kann, wie es ihn in der Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik gibt. Zwar ist noch jedes philosophische Denken von der Annahme beseelt, es besser machen oder sagen zu können als ihre Vorgänger, doch der historische Blick lässt dieses Ansinnen fraglich erscheinen. Jede Zeit muss sich den Fragen in der für sie spezifischen Weise stellen. Das Problem liegt darin, dass sie sie in der jeweils undurchschauten Abhängigkeit von der eigenen Zeit neu zu stellen hat, aber auch in der Auseinandersetzung mit ihr und der Tradition, die ihre Fragen auf ihre Art und Weise aufgeworfen hat. Auch wenn die Philosophie im Blick auf das begriffliche Denken und die Diskursivität ihrer Methode auf Wissenschaft verpflichtet ist, bleibt ihr ein regelrechter Fortschritt ebenso versagt wie der Kunst. Der Vergleich großer Kunstwerke verbietet sich ebenso wie die Frage, ob die aristotelische Ethik oder die kantische die tieferen Einsichten in die menschliche Praxis enthalte. Sowenig Kant Aristoteles überflügelt, sowenig gelingt es Goethe gegenüber Homer oder Shakespeare. Die vorliegende Auswahl und Interpretation klassischer Texte geht auf eine Ringvorlesung im WS 03/04 an der TU Darmstadt zurück, sie entsprang einem vielfach geäußerten Wunsch der Studierenden, die leitenden Intuitionen maßgeblicher DenkerInnen einmal im Überblick kennen zu lernen. Die Vorlesung sollte einführend sein und die Hauptwerke sowohl im Kontext ihrer wie unserer Zeit darstellen. Zu unserer Überraschung und Freude wurde sie nicht nur von der studentischen Zuhörerschaft, sondern auch von einem breiten außerakademischen Publikum wahrgenommen. Getragen wurde sie von den Lehrenden des Instituts für Philosophie, danach für die Publikation durch Beiträge von Emil Angehrn (Basel), Heidrun Hesse und Georg Zenkert (Heidelberg) erweitert. Die Herausgeber danken allen Beteiligten, inklusive dem Primus Verlag, ganz herzlich, nicht zuletzt auch Katarzyna Adamiak und Paul Althammer für ihre engagierte Mitarbeit bei der Erstellung des satzreifen Manuskripts. Darmstadt, im Dezember 2004
Platon: Politeia P
hassan givsan1
Im Dialog Politeia2 geht es um die Frage nach der „besten“ bzw. „guten“ Polis. Mit dieser Frage beschäftigt sich auch die folgende Darstellung, und zwar in drei Schritten. Im ersten Abschnitt wird zunächst zur Sprache kommen, in welcher Beziehung Platons Frage nach der Polis zu seiner Ideenmetaphysik steht, und weiter, in welchem Zusammenhang sie zur realgeschichtlichen Polis steht. Der zweite Abschnitt entfaltet Platons Polis-Entwurf in seinen Grundzügen, und der dritte Abschnitt sucht eine Antwort auf die Frage zu geben, was Platons Politeia für die ‚Nachwelt‘ bedeutet und bedeuten kann. Ideenlehre Der Politeia kommt innerhalb der Ideenlehre eine besondere Stellung zu, weil Platon in diesem Dialog jene Idee schriftlich fixiert und mithin ‚exoterisch‘ zugänglich macht, die das eigentliche Thema seiner so genannten ‚ungeschriebenen Lehre‘ gewesen sein soll – die Idee des Guten. Fragte man danach, was Platon nötigte, seine quasi geheime Lehre preiszugeben, so müsste man sagen: Es ist die Logik der Sache, die Platon in der Politeia in die Mitte rückt. Denn die Politeia P kulminiert darin, dass der Philosoph als Wissender des Wahren, des Wahren im Sinne Platons – das sind die Ideen –, der Bildner und Gestalter der Polis sein soll. Folglich muss Platon darlegen, was denn den Philosophen so auszeichnet, dass er allein für diese Aufgabe in Frage kommt. Es ist das Wissen um die Ideen und schließlich das Wissen um die Idee des Guten, das den Kulminationspunkt philosophischen Wissens bildet. 1 Für Wolfdietrich Schmied-Kowarzik 2 Platon, Politeia – Der Staat, in: Werke in acht Bänden, Griechisch–Deutsch, Bd. 4, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1971. Zitate werden im laufenden Text in Klammern angezeigt: Die römischen Ziffern geben die Bücher der Politeia an; die arabischen Ziffern stehen für die übliche Zählung.
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Platon
Denn die Idee des Guten ist gegenüber allen anderen Ideen metaphysisch ausgezeichnet: Sie ist der Urgrund des Seins und des Wesens der Ideen. Zugleich und darüber hinaus ist sie der Urgrund der Erkenntnis, des Wissens um die Ideen, und zwar in doppeltem Sinn. Einerseits ist sie es, die die Ideen erkennbar macht, andererseits stellt sie den Urgrund der die Ideen erkennenden Vernunft dar. Die Idee des Guten ist die Ursache alles Rechten und Schönen. Politeia P ist also das Werk, in dem Platon seine Ideenlehre ontologisch begründet (und damit systematisch vollendet), indem er einen – genauer: den ersten – ideenontologischen Grund der Ideen kenntlich macht. Die Idee des Guten ist die bestimmende Ursache dieser Metaphysik als Theoria. Politeia ist aber auch das Werk, in dem Platon vorführt, dass seine Ideenmetaphysik zugleich eine Metaphysik des Praktischen ist, denn ihre theoretischen Prinzipien sind in eins praktische Normprinzipien. Das bedeutet, dass die Ideen das Maß des Praktischen sind. Der eine Raum des Praktischen ist die Polis, womit sich Platons Metaphysik zugleich als eine politische ausweist. Der andere Raum des Praktischen ist Thema des Dialogs Timaios3, der davon handelt, wie der gute, göttliche Demiurg die sichtbare Welt und die unsichtbaren Seelen gemäß den Ideen als praktischen Normprinzipien schafft. – Es ist übrigens Platon selber, der die Politeia und den Timaios zusammenbringt. Zu Beginn des Timaios erinnert Sokrates die Anwesenden an ihr Gespräch über die Polis am Vortag und bringt einige Hauptpunkte zur Sprache, die sich auch in den Büchern II–V der Politeia finden. Die Politeia beginnt ebenfalls damit, dass Sokrates von dem Gespräch am Vortag erzählt, ohne allerdings zu sagen, wem. Zwar sind jeweils andere Personen am Gespräch beteiligt, sodass es sich nicht um dasselbe Gespräch gehandelt haben kann, dennoch zeigen diese Parallelen, dass für Platon die Politeia und der Timaios thematisch zusammengehören. In der Politeia ist die Entstehung der Polis das Thema, im Timaios die Entstehung des Kosmos. In beiden Dialogen geht es um die erzeugendwerktätige Bildung und Schaffung des ‚Realen‘ nach dem Maß der Ideen. Der Bildner des Kosmos ist der Demiurg, der Bildner der guten Polis der platonische Philosoph. Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, 3 Platon, Timaios, in: Werke in acht Bänden, Griechisch–Deutsch, Bd. 7, übers. v. Hieronymus Müller, Darmstadt 1972.
Politeia
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dass die theoretischen Prinzipien der Metaphysik Platons, die Ideen, zugleich praktische Prinzipien sind. Ein Unterschied soll hier jedoch genannt werden: Während der Demiurg den Kosmos praktisch-werktätig bildet, entwirft der Philosoph in der Politeia P die Polis allein in Gedanken. Ideenmatephysisch heißt das, dass im gedanklichen Entwurf der guten Polis gemäß der Idee der Gerechtigkeit, also in der philosophischen Begriffsarbeit, die Idee der Polis geschaut wird. Von der Idee der Polis ist zu reden, weil Platon die entworfene gute V Polis als das paradeigma bezeichnet. Denn paradeigma ist die Bestimmung, die die Idee als Idee ausmacht. Die Idee der Polis wird von Platon aufgerichtet gegen die realgeschichtliche Polis, die er als grundverderbt ansieht. Ist die realgeschichtliche Polis von Grund auf verderbt, und zwar einerlei, ob sie timokratisch, oligarchisch, demokratisch oder tyrannisch verfasst ist, so hat sie keinerlei Berechtigung zu bestehen. Außerdem hat sich die Polis geschichtlich überlebt. Der Kandidat, der sie als politische Existenzform ablöst, heißt gesamthellenisches Reich, ja Weltreich. Er meldet sich in Gestalt Philipps von Mazedonien 358 v. Chr. zu Wort. Platon erlebte noch den Beginn dieses weltgeschichtlichen Vorgangs. Nur zehn Jahre nach Platons Tod (347 v. Chr.) war das Werk Philipps, nämlich die Unterwerfung der hellenischen Poleis, und d. h. deren politischer Tod, besiegelt. Äußerlich betrachtet ist damit durch Philipp und Alexander genau das realisiert worden, wozu bereits Aristophanes in seinem Stück Lysistrate (411 v. Chr.) die Hellenen aufforderte, wofür der Athener Redner Isokrates (436–338 v. Chr.) seit den 380er-Jahren eintrat und seit den 350er-Jahren in Philipp den Anwärter seiner Verwirklichung sah, und schließlich das, was Aristoteles’ Vorstellung vom hellenischen Volk entsprach.4 Dieser geschichtliche V Vorgang dokumentiert, dass sich die Polis als politische Existenzform überlebt hatte. Platon jedoch hält an ihr fest. Das bleibt nicht ohne Folgen für die gute Polis, die Platon in der PoliP teia entwirft; Folgen, die jedenfalls von der Ideenmetaphysik her nicht zu rechtfertigen sind. Eine davon soll hier kurz zur Sprache kommen. Sie betrifft Platons Verhältnis zur überlieferten Mythologie, genauer, 4 V Vgl. Aristoteles, Politik, übers. u. hg. v. Olaf Gigon, München 1973, VII, 1327b30.
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zur Mythologie der realgeschichtlichen Polis. Diese ist unauflösbar verflochten mit dem Mythos. Das konstitutive Grundelement der Polis ist die Polisreligion, der Kult der Götter, welche Götter des Mythos sind. Platon nimmt diese einfach und ohne Bedenken auf, was ideenmetaphysisch ganz und gar nicht verständlich ist. Die Weise, wie Platon im Timaios die Götter des Mythos aufnimmt, gleicht – in seiner eigenen Sprache formuliert – einem sophistischen Kunststück. Dass Platon die Götter des Mythos aufnimmt, aber die Dichter, die diesen Mythos erzählen, aus der guten Polis verbannt wissen will, ist schlechterdings paradox. Die Existenz der Götter des Mythos ist im Blick auf seine Metaphysik der Ideen nicht zu rechtfertigen – in Parenthese sei gesagt, auch der Demiurg des Timaios wird als deus ex machina eingeführt. Allenfalls ließe sich eine Vernunftreligion entwerfen. Diese jedoch bedürfte weder des Wortes noch des Kultes und des Tempels, denn der Ort dieser Religion wäre allein die Seele. Wohl wissend also darum, dass die Existenzform der Polis unauflösbar verflochten ist mit dem Mythos, und sichtlich auch wissend darum, dass eine Vernunftreligion nicht Polis-konstitutiv sein könnte, bleibt Platon bei der Bindung der Polis an den Mythos. Der platonische Philosoph vollbringt zwar den Aufstieg bis zur höchsten Idee, der Idee des Guten, aber die ,reale‘ Welt wird er gleichwohl nicht los; sie setzt seinem Denken eine Grenze. Auch der Ideenmetaphysiker Platon arbeitet also mit dem ‚Stoff‘, den die realgeschichtliche Polis bietet. Dazu gehört auch, dass die Gerechtigkeit zu den Tugenden gerechnet wird. Dass Sokrates in der Politeia die in der realgeschichtlichen Polis gängigen Auffassungen von der Gerechtigkeit destruiert, um dann die Frage der Gerechtigkeit mit jener der guten Polis zu verbinden, ändert jedoch nichts daran, dass er gleichsam den vorhandenen ‚Stoff‘ umformt. Gerechtigkeit Es ist für Platons politische Metaphysik höchst bedeutsam, dass er das Thema des Dialogs von jemandem einbringen lässt, der weder Philosoph noch Politiker ist, sondern ein reicher Geschäftsmann im Greisenalter. Angesichts des bevorstehenden Todes ist Kephalos, so heißt der
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reiche Geschäftsmann, von der Sorge bedrängt, ob er gerecht gewesen sei oder irgendwem Unrecht getan habe. Diese wenigen Worte, aus einer existentiellen Situation heraus gesprochen, sind für Platons politische Metaphysik höchst bedeutsam, da sie illustrieren, dass die Frage des gerechten Lebens alle jene nach anderen aretai (Tugenden) an den Rand drängt. Weniger scharf gesprochen: Die Frage nach Gerechtigkeit, des gerechten Lebens, macht die Mitte aus, um die alle anderen Fragen konzentriert sind, weil nämlich nur das gerechte Leben das gute Leben ist. Das Schicksal der Seele im Hades, um das sich Kephalos sorgt, gehört zur Polisreligion. Platon nimmt diese ernst und beschließt die Politeia mit dem Gang der Seele in den Hades und der Vergeltung, die ihr dort widerfährt, allerdings den Polismythos pythagoreisch erweiternd. Nun besteht das schwierige Problem, das Sokrates bewältigen muss, darin, die Frage des gerechten Lebens mit der Frage der gerechten Polis zu verzahnen, was eben nichts Geringeres bedeutet als zu zeigen, dass es nur unter den Bedingungen der gerechten Polis gerechtes Leben und Gerechte geben könne. Wie Sokrates die beiden Fragen zusammenbringt, werden wir noch sehen. Zunächst steht die Frage im Raum, was denn das Gerechte, was die Gerechtigkeit sei. Deshalb fragt Sokrates, ob es richtig sei, die Gerechtigkeit als Wahrhaftigkeit und als Zurückgeben des zuvor Empfangenen zu bezeichnen. Sokrates stellt diese Frage, um die darin artikulierte Auffassung f von Gerechtigkeit in Zweifel zu ziehen. Denn er fährt fort: Wenn das so sei, dann müsse er dem Freund, der ihm seine Waffen in W einem besonnenen Zustand gegeben hat und sie im Wahnsinn zurückfordert, seine Waffen zurückgeben; das aber wäre nicht recht. Polemarchos widerspricht daraufhin Sokrates, sich auf den Lyriker Simonides berufend, und sagt: gerecht sei, das zu tun, was jedem gebührt; dem Freunde gebührt, dass man ihm nützt, dem Feinde dagegen, dass man ihm schadet. Simonides ist einer von jenen, die bislang in der Polis die Auffassung von Gerechtigkeit geprägt haben. Sokrates entgegnet nun, dass nur der dem Freunde nützen und dem Feinde schaden könne, der sich in der jeweils in Frage stehenden Angelegenheit gut auskenne, die jeweilige techne (Werktätigkeit) beherrsche und darin Meister sei, einerlei, ob es
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Platon
um Geldgeschäfte, ums Musizieren, um Ackerbau, um Krankheit oder um das Hüten der Güter gehe. Bei all dem sei erstens der Gerechte als Gerechter unnütz und zweitens: Wenn gerecht sein heiße, dem Freunde zu nützen und dem Feinde zu schaden, dann sei der Verschlagenste und Listigste, also Odysseus, der Gerechteste. Das ist es, was Sokrates zufolge Polemarchos, Simonides und Homer sagen. Bereits hier wird der Grundkonflikt zwischen der Philosophie im Sinne Platons und den Dichtern und ‚Weisen‘ scharf umrissen. Die Dichter und die Weisen figurieren in der ‚realen‘ Polis als Vorbilder. Was sie aber sagen, hält der philosophischen Prüfung nicht stand. Folgende Punkte sollen hier festgehalten werden. Erstens, dass der Gerechte als Gerechter bei all dem, wo es darum geht, dem Freunde zu nützen und dem Feinde zu schaden, keine Rolle spielt, weil hierbei je nach einer techne gefragt wird, die als solche die Frage der Gerechtigkeit nicht tangiert. Die Gerechtigkeit ist nämlich keine Sache einer techne. Zweitens sagt Sokrates, dass der Gerechte niemals schade, auch dem Feinde nicht, denn das Schaden mache das Gegenüber schlechter und nicht besser. Drittens stellt Sokrates im Kontext der Frage, wer dem Freunde am besten nützen und dem Feinde am besten schaden könne, überdeutlich heraus, dass derjenige, der am besten hüten könne, auch am leichtesten und besten stehlen und das zu Hütende unterschlagen könne, eben weil er die techne des Hütens am besten beherrsche. Und dasselbe gelte für den Arzt: Er könne am besten Krankheiten abwehren, aber er könne auch am geschicktesten unbemerkt jemandem eine Krankheit antun. Dieses Problem ist für den Aufbau der guten Polis von fundamentaler Bedeutung, was sich darin zeigt, dass Platon sich in seinem Entwurf fast ausschließlich mit der Frage befasst, wie die Hüter bzw. Wächter im Interesse der guten Polis geartet und erzogen sein sollten, denn gerade sie können die Polis am schlimmsten verderben. Damit hängt auch zusammen, dass Platon jene, die von ihrer Anlage her am meisten für die Philosophie, mithin am meisten für das Herrschen als König geeignet seien, auch am meisten der Gefahr ausgesetzt sieht, zum Schlimmsten zu entarten. Denn der von Natur zum Besten Veranlagte kann durch die Erziehung zum Schlechtesten verdorben werden. Die großen Verbre-
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chen und die reine Schlechtigkeit kommen aus der reich veranlagten, aber durch Erziehung verdorbenen Natur. Eine schwach veranlagte Natur kann nie Großes, weder im Guten noch im Bösen bewirken. Natur (als Anlage) und Erziehung sind in Platons politischer Metaphysik einander zugeordnet, aber so, dass der Erziehung die zentrale Bedeutung zukommt, denn die Erziehung erst bringt die stumme Natur zum ‚Tönen‘. Die Frage ist nun, ob die zu Erziehenden überhaupt zur Gerechtigkeit erzogen werden können. Denn Erziehung ist Erziehung zu irgendeiner techne; selbst die Philosophie ist in diesem Sinn eine techne. Und wir haben gesehen, dass der Gerechte keine techne ausübt. Macht aber der Gerechte durch sein Handeln die anderen bzw. deren Seele besser, so stellt sich die Frage, wie und woraufhin der gerechte Herrscher, also der platonische Philosoph, die Seelen der Bürger besser mache. Nach Polemarchos meldet sich Thrasymachos zu Wort und bringt das Gespräch ausdrücklich auf die Ebene der (geschichtlichen) Polis zurück: Gerecht sei für die Regierten, nach den Gesetzen zu handeln, und die Gesetze geben die Regierenden zum Nutzen der Regierenden, einerlei, ob die Regierung aristokratisch, tyrannisch oder demokratisch sei. Sokrates destruiert diese Auffassung von Gerechtigkeit als unwahr, indem er nachweist, dass das Regieren eine techne ist. Als techne muss es, gleichsam wesensnotwendig, das Beste dessen besorgen, um dessentwillen es ausgeübt wird. Sokrates führt einige technai an, um das zu veranschaulichen, etwa die technai, die Arzt, Steuermann oder Baumeister ausüben. Jede techne hat ihren Zweck im Besten dessen, um dessentwillen sie ausgeübt wird, und das ist weder die techne selbst noch der Ausübende. Dass der Arzt für sein Tun Lohn erhält, tangiert sein Handeln als Arzt nicht, denn das ist zu unterscheiden von dem Lohnerwerb. Die ärztliche Tätigkeit als solche ist völlig unabhängig davon, ob der Arzt dafür Lohn empfängt oder ohne Lohn arbeitet. Maßgebend sei hierbei allein, dass er in der von ihm ausgeübten techne gut sei, kurz, dass er wahrhaft Arzt sei. Genauso ist das Regieren eine techne, die ihren Zweck in dem Besten dessen hat, um dessentwillen sie ausgeübt wird – und das sind die Regierten und nicht die Regierenden. Dass die Regierenden für ihr Tun Lohn erhalten sollen, das wird Sokrates später fordern – in dem
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Entwurf der guten Polis erhalten sie Lohn in Form von Nahrung, Kleidung und Behausung –, auch wenn er hier noch sagt, dass der Gerechte regieren solle, nicht um des Lohnes willen, sondern der Strafe wegen, denn die größte Strafe (für ihn) sei, von Schlechten regiert zu werden. Doch damit ist die Frage, was das Gerechte sei, noch nicht beantwortet. Sokrates steckt in einer Beweisnot. Er kann nämlich nicht zeigen, dass in den realgeschichtlichen Poleis das anzutreffen ist, wovon er redet. Ganz im Gegenteil. Er wird im VIII. und IX. Buch diese Poleis als durch und durch verderbt charakterisieren. So muss Sokrates entweder sagen, dass diese Regierenden schlecht seien in dem Sinne, wie man von einem Arzt sagt, dass er ein schlechter Arzt sei. Das aber kommt nicht in Frage, da ein schlechter Arzt für Sokrates überhaupt kein Arzt ist. Er ist dies nur, wenn er in seiner techne gut ist, d. h., wenn ihm in seiner Qualifikation als Arzt nichts fehlt und er deshalb auch nicht irgendwelche Fehler macht. Kurz, jeder technites ist wissend/könnend in seiner techne. Oder Sokrates muss sagen – und das ist tatsächlich seine Auffassung –, dass diese ‚Regierenden‘ den Namen nicht zu Recht tragen, weil sie von der techne des Regierens nichts verstehen. Daher fordert er, dass die Philosophen herrschen sollen. Sokrates’ Lob der Gerechten und der gerechten Seele – ohne dass freilich die Frage, was das Gerechte sei, beantwortet wäre – veranlasst Glaukon, eine lange Rede zu halten, die wesentlich darauf hinausläuft, zu zeigen, dass Sokrates zwar vom Gerechten schön rede, aber in der ‚realen‘ Polis die Sache anders aussehe: Hier würden diejenigen geehrt, gefeiert und mit Reichtum überhäuft, die nur gerecht zu sein schienen. Und Adeimantos fügt noch hinzu, es werde der Jugend seit den Heroen beigebracht, dass es gut sei, gerecht zu sein, damit man in der Polis geehrt und von den Göttern belohnt werde. Aber nirgends werde dargelegt, dass die Ungerechtigkeit das größte Übel in der Seele selbst und die Gerechtigkeit das größte Gut sei – ohne Rücksicht auf den Lohn und darauf, ob die gerechte Seele den Göttern und Menschen verborgen bleibe oder nicht. Wir sind hier bei dem entscheidenden Punkt angelangt. Denn hier wird Sokrates die Frage des gerechten Lebens bzw. der gerechten Seele mit der Frage der gerechten Polis verbinden. Es soll an der Polis gezeigt
5 Von Karl R. Popper z. B., vgl. den Schluss dieses Beitrags.
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werden, dass die Gerechtigkeit das größte Gut und die Ungerechtigkeit das größte Übel ist. Denn was für die Polis gelte, das gelte auch für die Seele. Für Platon ist die Seele eine Mikropolis und die Polis eine Makropsyche. Sie spiegeln sich gegenseitig: wie die Polis, so die Seelen; wie die Seelen, so die Polis. Die Aufgabe, die gestellt ist, ist also zweigeteilt: zu zeigen, dass die Gerechtigkeit das größte Gut und die Ungerechtigkeit das größte Übel ist. Nun die Überraschung: Die Polis, an der sichtbar gemacht werden soll, dass die Gerechtigkeit das größte Gut ist, muss erst entworfen werden, da keine der realgeschichtlichen Poleis so ist, dass an ihr das zu Zeigende demonstriert werden könnte. In Frage steht also der gedankliche Entwurf einer gerechten Polis. Der „Grund“ der Polis Sokrates fängt nicht einfach damit an, eine Polis zu entwerfen, er beginnt mit der Thematisierung des „Grundes“ der Entstehung der Polis. Damit macht er kenntlich, dass das, was entworfen werden soll, in sich einen notwendigen Grund haben muss. Anders formuliert, wenn die Polis als solche überhaupt nicht notwendig ist, ist es schlechthin sinnlos, sich mit der Frage der gerechten Polis zu befassen. Soll eine gerechte Polis entworfen werden, so muss zuvor dargelegt werden, dass die Polis überhaupt notwendig ist und einen notwendigen Grund hat. Diesen sieht Sokrates darin, dass der Einzelne nicht autark ist, und zwar im Hinblick auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Die Bedürfnisse, die Sokrates hier ausschließlich im Blick hat, sind Nahrung, Kleidung und Behausung. Jedes Bedürfnis verweist auf etwas, das zu seiner Befriedigung notwendig ist und das als solches durch eine entsprechende Werktätigkeit besorgt werden muss. Platon ist nun der Ansicht, dass ein jeder nur in einer Werktätigkeit, in einer techne Meister sein kann. Deshalb bedarf der Einzelne, aufgrund der vielen Bedürfnisse, die er hat, auch einer Vielzahl anderer. Kurz: Warum Platon den Einzelnen nicht als autark ansieht, hat seinen Grund in seiner Ontologie der techne. Lässt man Platons These von der Nichtautarkie des Einzelnen in dem dargelegten Sinn gelten, so zeigt sich, dass der notwendige Grund der
6 Burckhardt, Jacob, Griechische Kulturgeschichte, Bd. I, München 1982, S. 266.
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Polis in etwas Naturnotwendigem und in diesem Sinn Unhintergehbarem ruht, nämlich in der notwendigen Befriedigung der durch die Natur vorgegebenen Bedürfnisse. Damit ist auch das Maß benannt, welche Bedürfnisse in der zu entwerfenden guten Polis Raum finden dürffen. Platon geht also bei der Gründung der Polis von den Einzelnen aus. Das ist für die politische Philosophie von fundamentaler Bedeutung. Nochmals gesagt, der Grund der Entstehung der Polis liegt darin, dass jeder Einzelne mehrere naturnotwendige Bedürfnisse hat, die befriedigt werden müssen, er jedoch nur eine techne beherrscht. Diese benötigt aber Werkzeuge, die ihrerseits Werke verschiedener anderer technai sind, und Rohstoffe, die entsprechend durch je unterschiedene technai besorgt werden müssen. Schließlich werden die Bedarfserzeugnisse da und dort gebraucht, sie müssen getauscht werden. Für jede dieser Tätigkeiten steht ein Einzelner. Damit sind viele Einzelne beisammen, die durch Bedürfnisse und die zu ihrer Befriedigung erforderlichen Werktätigkeiten miteinander verbunden sind. Da sie ihre Bedürfnisse befriedigt sehen wollen, achten sie auch darauf, dass sie nicht mehr Kinder zeugen, als sie selber ernähren können – aus Furcht vor Armut oder Krieg. Damit ist der erste Entwurf abgeschlossen. Festzuhalten bleibt, dass bei dieser Polis nirgends von der Herrschaft und der Gesetzgebung die Rede ist. Wäre dies notwendig gewesen, so hätte Platon ohnehin von einer entsprechenden techne und von dem diese techne Ausübenden sprechen müssen. Die so entworfene Polis bezeichnet Sokrates als die gesunde, die wahrhafte Polis. Bevor er darlegen kann, warum diese Polis auch die gerechte ist, protestiert Glaukon: Er vermisst in dieser Polis die „Zukost“; für ihn ist sie eine „Polis der Schweine“, anspielend darauf, dass es Eicheln zu essen gibt. Auf die Frage Sokrates’, was er, Glaukon, mit in die zu entwerfende Polis aufnehmen wolle, sagt dieser: was Brauch ist. Was Brauch ist, heißt, was im Hinblick auf die Bedürfnisse und deren Befriedigung üblich ist. Das bedeutet aber, alles hineinzunehmen, was in der real existierenden, z. B. der Athener Polis, hinsichtlich der Bedürfnisse und deren Befriedigung Brauch ist. Bevor Sokrates die diese Bedürfnisse befriedigenden Tätigkeiten aufzählt – von der der Hetären bis hin zu jenen der Köche, Schweinehirten und Schweine –, macht er aus-
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drücklich, dass diese von Glaukon geforderte Polis eine üppige und eine entzündete, eine ,fiebernde‘ Polis ist. Der Stand der Wächter Damit wird gleich kenntlich gemacht, was der Philosoph nach Platon, der in der Gestalt des Sokrates die gute Polis entwirft, zu tun hat: nämlich diese Polis zu ,entfiebern‘, von all dem zu reinigen, was Ursache des Fiebers ist – also von all den ,Mehrbedürfnissen‘, die Glaukon als ‚Zukost‘ vermisst. Diese Mehrbedürfnisse sind es, so Sokrates, die den Krieg nach sich ziehen, denn sie bedeuten, mehr Bedarf an Grund und Boden zu haben, ihn aber muss man zuvor den Nachbarn wegnehmen. In den Mehrbedürfnissen, die notwendig ein Mehrhabenwollen bedeuten, liegt der Grund des Krieges. Da Kriegführen eine techne ist und für Platon ein jeder nur in einer techne Meister sein kann, ist mit der Notwendigkeit des Krieges ein besonderer Stand, der Stand der Krieger notwendig geworden. Es ist dieser Stand, der umbenannt wird in „Stand der Wächter“, er wird wiederum unterteilt in den Stand der Herrscher und den der Gehilfen. Die ganze Ausführung Platons dient von dieser Stelle an wesentlich dazu, zu überlegen, wie dieser Stand der Krieger bzw. Wächter in Schach gehalten und gebändigt werden kann. Eben aus dem Grunde steht die Erziehung der Wächter im Zentrum. In diesem Zusammenhang wird Platon der Vorwurf gemacht, dass er sich um jenen Stand, von dem in dem ersten Entwurf die Rede war, gar nicht kümmert, dass er über dessen Erziehung kein Wort verliert, ja, dass er ihn von der Erziehung ausschließt.5 Man muss aber gegenüber der Sache, die Platon hier entfaltet, blind sein, um ihm diesen Vorwurf machen zu können. Der Stand der Krieger bzw. Wächter hat seinen Urgrund im Mehrhabenwollen, also in einem Übel, und ist deshalb grundgefährlich. Er ist gefährlich, weil er, geschickt im Kriegführen und im Beutemachen, sich auch am leichtesten die Polis selber zur Beute machen kann. Um zu erfassen, was das letzte Ziel der Erziehung der Wächter sein muss, ist im Blick zu behalten, dass Sokrates die von Glaukon geforderte Polis als eine unmäßige ansieht und zu erkennen gibt, dass sie von 7 Kelsen, Hans, „Die platonische Gerechtigkeit“, in: Kant-Studien, Bd. 38,
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der Ursache ihrer Entartung zu reinigen ist. Aus dieser Problemkonstellation ist im Voraus zu entnehmen, dass die Erziehung der Wächter und das Reinigen der verkommenen Polis dasselbe Thema zum Inhalt haben. Die Erziehung der Wächter, der Herrscher und deren Gehilfen hat zum Ziel, dass sie um das Beste der Regierten willen in der jeweiligen techne Meister werden. Das Reinigen der solcherart kranken Polis muss darauf zielen, alle jene Bedürfnisse, die ,fiebernd‘ machen, auszumerzen, genauer: sie am Keimen und Entstehen zu hindern. Nun sind Bedürfnisse Begehren der Seele, also ist das Reinigen das Reinigen der Seele von ihren fiebernden Begehren. Und eben dies ist die Sache der Erziehung. Die Erziehung der Seele – und alle Erziehung ist Erziehung der Seele – hat zum Ziel, dass die Seele die fiebernden Begehren abweist. Erziehung ist wesentlich Erziehung der Seele zu einer techne, d. h. zu einem wissenden Können. Nun ist jede techne als wissendes Können dessen, was zu tun ist, zugleich das wissende Können dessen, was gemieden werden muss. Kurz: Der Zweck, worumwillen jede techne ausgeübt wird, ist zugleich das Normprinzip dessen, was nicht getan werden darf und gemieden werden muss. Erziehung zu einer techne als wissendem Können ist Erziehung der Seele zu diesem doppelten wissenden Können. Die Ausübung der techne ist eine Äußerung der Seele. Mit Blick auf die techne der Wächter heißt das, dass die Seele in der Ausübung der techne sich deren Zweck gemäß nur äußern kann, wenn sie von den Begehren gereinigt ist, die ihrem Zweck entgegenstehen. Eben deshalb spricht Sokrates im Kontext der Erziehung der Wächter davon, dass wir mit ihrer Erziehung die „üppige“ Polis reinigen. Im V. Buch kommt Sokrates auf jene Punkte zu sprechen, die Platons gute Polis geradezu charakterisieren, nämlich, dass die Frauen genauso gut Wächter sein können wie die Männer und dazu zu erziehen sind; dass die Geschlechterbeziehung, also die Beziehung der Männer und Frauen, gemeinschaftlich sein muss; dass die Wächter und Wächterinnen nichts Eigenes haben außer ihrem Leib und dass alles andere ihnen gemeinsam ist; und schließlich, dass die Philosophen Könige werden sollen. Sokrates meint zwar, dass er bei der letzten Forderung „mit Schmach und Gelächter“ (V, 473c) überschüttet werden würde. Aber er weiß auch, dass er mit den vorangehenden Forderungen die Grund-
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ffesten der realgeschichtlich existierenden Polis sprengt. Er weiß, dass er damit unter anderem die Auflösung des im Sinne der Polisreligion Allerheiligsten in der hellenischen Welt, nämlich der Familie, betreibt. Die Forderung, dass die Philosophen Könige werden sollen, ist keine Überraschung. Sokrates’ Bemerkung, dass er ob dieser Forderung „mit Schmach und Gelächter“ überschüttet werden würde, ist ironisch gemeint. Sie stellt keine Überraschung dar, weil sie nur das ausspricht, was in dem Grundcharakter der platonischen Metaphysik angelegt ist. In dieser Metaphysik sind die theoretischen Prinzipien zugleich die Normprinzipien des Praktischen und im Raum der Polis jene Prinzipien Normprinzipien des Politisch-Praktischen. Was das näher bedeutet, zeigte sich an Platons Ontologie der techne. Jede techne ist die Ausübung einer Werktätigkeit, in der das Wissen das Grundelement darstellt. Dieses Wissen ist das Wissen darum, was zu tun ist, und zugleich das Wissen darum, was zu meiden ist. Aufgrund des in der jeweiligen techne notwendigen Wissens ist der Ausübende in dieser techne Meister. Hierzu gehört aber auch das Wissen darum, dass jede techne ihren Zweck darin hat, dass sie um des Besten der anderen willen ausgeübt wird, d. h. dass sie gut ist, weil sie das Gute (für die anderen) zum Zweck hat. Blickt man nun darauf zurück, dass Sokrates, das Vorbild des Philosophen im Sinne Platons, die gute Polis in Gedanken entwirft, so muss man sagen, dass er die Bildung und Gestaltung der guten Polis werktätig ausübt, wenn auch bloß in Gedanken, bloß „theoretisch“. Aber damit zeigt er, dass er darum weiß, wie die gute Polis zu bilden und zu gestalten ist. Da nun das Wissen das Grundelement aller praktischen Werktätigkeit ist, so versteht sich von selbst, dass allein der um die gute Polis Wissende – und das ist der platonische Philosoph – als Bildner und Gestalter der guten Polis im ‚Realen‘ in Frage kommt. Wenden wir uns nochmals der Frage zu, was denn für Sokrates die W Gerechtigkeit, das Gerechte heißt. Es sei daran erinnert, dass Sokrates an der Polis, die er in Grundzügen entworfen hat, sichtbar machen will, was das Gerechte ist, um dann an der Seele zu zeigen, was Gerechtigkeit in Bezug auf die Seele bedeutet. Fragt man nun danach, was denn die Gerechtigkeit in der entworfenen guten Polis ist, so erhält man die Antwort, dass die Gerechtigkeit darin besteht, dass jeder in der Polis das Sei-
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nige tut, und zwar als dasjenige, wozu seine Natur am besten eignet und worin er durch Erziehung gut ist. Nun wird aber das mit Blick auf die Seele selbst als „Schattenbild der Gerechtigkeit“ (IV, 443c) bezeichnet. Denn im Hinblick auf die Seele geht es nicht um das äußere Tun, sondern die innere Tätigkeit. Wie die Polis drei verschiedene Stände mit ihren verschiedenen Werktätigkeiten umfasst, umfasst die Seele drei Arten von Kräften – das Begehrende, das Muthafte und das Überlegende bzw. Vernünftige. Gerechtigkeit in Bezug auf die Seele – wie in Bezug auf die Polis – heißt, dass jede der Kräfte das Ihrige tut, allerdings so, dass das Vernünftige leitend ist (wie in der Polis der Philosoph König sein soll). Diese Bestimmung der Gerechtigkeit, sowohl in der Polis wie in der Seele, mag man vielleicht als bloß formal abtun. Dabei vergisst man aber, dass jenem ‚Formalen‘ ein ‚materialer‘ Boden zugrunde liegt, nämlich das Reinigen der Polis und der Seelen von den fiebernd machenden Bedürfnissen und fiebernden Begehren. Denn wie gesehen, nimmt Sokrates als Bildner der guten Polis in Gedanken alle Anstrengung auf sich, um die Seelen und somit die Polis von den verderblichen Begehren und Bedürfnissen zu befreien. Kontroversen der Nachwelt Was bedeutet Platons Politeia für die Nachwelt? W Jacob Burckhardt, von dem ich den Begriff „Nachwelt“ übernommen habe, notiert dazu: „Die Hauptbeschwerde aber, welche die Nachwelt gegen seine beiden Bücher [gemeint sind: Politeia und Nomoi N ] erheben kann, bezieht sich auf sein Programm der Stillstellung der griechischen Kultur; allerdings stand die unbedingte Entwicklung derselben in Verbindung mit dem Niedergang der Polis […].“6 Aber gerade deshalb, weil Burckhardt der Auffassung ist, dass die unbedingte Entwicklung der griechischen Kultur in Verbindung mit dem Niedergang der Polis stand – wobei anzumerken ist, dass Burckhardt diesen ,Niedergang‘ längst vor dem Peloponnesischen Krieg ansetzt – muss er auch wissen, dass die Hauptbeschwerde der Nachwelt Platon, der ja gerade gegen den ‚Niedergang‘ der Polis ankämpft, schwerlich treffen kann. Denn Platons geJg. 1933, S. 117. Zu dem in eckigen Klammern Angeführten vgl. S. 97.
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schichtliche Situation nötigte ihn, den ‚Niedergang‘ der Polis zu sehen, und nicht, was die Nachwelt vermissen würde. Dass Nietzsche in Sokrates, dem Protagonisten der platonischen Philosophie, den Sklavenaufstand erblickt, ist allzu bekannt. Es ist die Frage der Gerechtigkeit, die Nietzsche wütend macht. Und die Frage der Gerechtigkeit ist es auch, die Kelsen 1933 dazu treibt, Platons Philosophie zu diskreditieren. Kelsen schreibt: „Die unter dem Zwang einer immanenten Gesetzlichkeit sich entfaltende Problematik dieser Philosophie, die aus der platonischen Liebe [was Kelsen damit meint, ist ,der knabenliebende Eros’, ,die Päderastie‘] heraus über die platonische Wahrheit zu der platonischen Gerechtigkeit führt, sie zeigt uns, daß die W rationale Wissenschaft niemals eine positive Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit zu geben vermag, daß sie das Problem nicht zu lösen, daß sie es nur aufzulösen berufen ist. Ihre unter verschiedenen Formen auftretende Endposition wird immer sein: So etwas wie eine absolute Gerechtigkeit gibt es nicht, läßt sich begrifflich nicht bestimmen. Dieses Ideal ist eine Illusion. Es gibt nur Interessen, Interessenkonflikte und ihre Lösung durch den Kampf oder Kompromiß. Anstelle des Gerechtigkeitsideals tritt in der rationalen Sphäre zwangsläufig der Friedensgedanke.“7 Also: Platon ist Päderast und damit ist für Kelsen die ,immanente Gesetzlichkeit‘ der platonischen Philosophie aufgedeckt. Schon damit ist im Grunde die Frage der Gerechtigkeit erledigt. Außerdem macht Kelsen einen messerscharfen Schnitt: hier die rationale Wissenschaft, dort die Philosophie. Philosophische Probleme sind nicht zu lösen, sondern aufzulösen: Sie sind Scheinprobleme, Illusionen. Zu diesen Scheinproblemen und Illusionen gehört die Frage der Gerechtigkeit, wie Platon sie stellt. Während der Rechtsphilosoph Kelsen Platons Idee der Gerechtigkeit als Illusion abtut, wird Popper ein Jahrzehnt später in Platon den Erzffeind der offenen Gesellschaft ausmachen.8 Blickt man auf die politische Philosophie der Neuzeit zurück, so wird man erstens konstatieren müssen, dass einige Grundfragen Platons als 8 Popper, Karl R., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1: Der Zauber Platons, Bern/München 31973. 9 Marx, Karl, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ (1844), in: Marx Engels Werke, Bd. 1, Berlin 1970, S. 387.
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Grundfragen wiederkehren, zweitens, dass die Frage der Gerechtigkeit im Keime erstickt wird. Die Wiederkehr der Fragen hat nichts damit zu tun, ob Platon rezipiert wurde oder nicht, sondern sie gründet in der Sache selbst, die als Problem sich aufdrängt. Es ist zu konstatieren, dass die Frage der vereinzelten Einzelnen als konstitutive Frage des politischen Körpers bzw. der bürgerlichen Gesellschaft wiederkehrt. Alle Vertragstheorien, beginnend mit Hobbes, gehen nicht nur von den vereinzelten Einzelnen aus, sondern haben diese gleichsam zur Naturbasis. Der hobbessche Naturzustand spricht das in aller Schärfe aus. Was aber hier als Grund der Bildung des politischen Körpers bzw. der bürgerlichen Gesellschaft angesehen wird, ist nicht wie bei Platon, dass die Einzelnen nicht autark seien, sondern ist die Furcht eines jeden vor jedem. Dass diese Furcht nun den konstitutiven Grund darstellt, darin liegt begründet, dass in der neuzeitlichen politischen Philosophie nicht die Frage der Gerechtigkeit zur Grundfrage wird. Denn nicht die Sorge, ob man ein gerechtes Leben geführt habe, ist nun maßgebend, sondern die Sorge um die Daseinserhaltung. Darin drückt sich das Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen aus. Eine weitere Grundfrage Platons, nämlich die Frage der Bedürfnisse, kehrt als Problem wieder, und zwar bei Rousseau und Hegel. In der endlosen Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse, die Rousseau in seiner Zeit konstatiert, sieht er den Beleg für die Verderbnis. Die Entstehung dieser Bedürfnisse zurückverfolgend, sieht er in dem ersten Bedürfnis, das den gleichsam absolut autarken und unabhängigen Menschen im Stande der Natur von anderen Menschen abhängig macht, den Anfang der Verderbnis. Und Hegel sieht in der bürgerlichen Gesellschaft ein System der Bedürfnisse, das eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür darstellt, das Schauspiel der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinsam inhärenten physischen und sittlichen Verderbens. Kurz: Das Problem, das die Bedürfnisse darstellen, wird zwar, wie bei Platon, gesehen. Aber mit dem Verschwinden der Frage nach dem gerechten Leben ist gegen dieses Problem, so scheint es jedenfalls, kein Kraut mehr gewachsen. Platons Politeia wurde in der Neuzeit auch in der Weise wirksam, dass sie direkt das Denken der Utopie anregte. Morus’ Utopia, Campanellas
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Città del sole (Sonnenstaat) und Bacons Nova Atlantis sind dafür klassische Beispiele. Fichtes anonyme Schrift von 1793, eine Kampfansage an die Fürsten Europas, gibt auf dem Titelblatt als Ort und Jahr an: „Heliopolis, im letzten Jahre der Finsternis“. Im Jahr darauf erscheint Fichtes erstes Hauptwerk, in dem er die prinzipielle Einheit des Theoretischen und des Praktischen herausarbeitet. Bei Fichte klingt das nach, was bei Platon aufgezeigt wurde: dass das Theoretische zugleich das Normprinzip des Praktischen ist. Genau fünfzig Jahre später zieht Marx, zurückblickend auf die in Deutschland stattgefundenen theoretischen ‚Revolutionen‘ in der Gestalt der Philosophie, die Bilanz und gibt zu Protokoll, dass es nun darum gehe, dass die theoretische ‚Revolution‘, wörtlich: die theoretische Kritik zur praktischen Kritik werde. Marx konstatiert, dass die theoretische Kritik – in der Gestalt der feuerbachschen Philosophie – radikal gewesen sei, weil sie die Sache an der Wurzel fasste und aufzeigte, dass die Wurzel für den Menschen der Mensch selbst sei. Aber im Hinblick auf das Praktischwerden der theoretisch radikalen Kritik, also im Hinblick auf die praktisch radikale Revolution, heißt es: „Eine radikale Revolution kann nur die Revolution radikaler Bedürfnisse sein […]“9 Hier klingt Platon nicht bloß nach, sondern er kehrt gleichsam wieder, sowohl darin, dass das Theoretische das Maß des Praktischen sei, wie auch darin, dass das Praktischwerden des Theoretischen eine Revolution der Bedürfnisse zum Inhalt haben müsse. Allerdings muss man hinzufügen, dass Marx später diese Fundamentalfrage – „die Revolution radikaler Bedürfnisse“ – aus dem Blick verliert. 1 Stellen aus der aristotelischen Metaphysik werden mit Buch und Kapitel sowie
Aristoteles: Metaphysik
emil angehrn
Aristoteles’ Metaphysik ist das Gründungsdokument der nach ihr benannten philosophischen Disziplin. Sie ist dies ungeachtet des Umstandes, dass sie von Aristoteles selbst weder in der uns vorliegenden Form als Buch verfasst noch unter dem Titel ‚Metaphysik‘ veröffentlicht worden ist. Die uns unter diesem Titel überlieferten Abhandlungen sind Unterlagen der Lehrtätigkeit des Aristoteles, die von seinen Schülern in dieser Form zusammengestellt worden sind und deren Titel nach verbreiteter Ansicht auf Andronikos von Rhodos zurückgeht, der damit möglicherweise nur die bibliothekarische Einordnung der Schriften nach (meta) der Physik anzeigte (während eine ältere Lesart damit die Lehre von den Gegenständen ‚jenseits‘ der Physik, d. h. der sichtbaren Welt verband). Aristoteles spricht stattdessen von der „Weisheit“ (I.1–2), der „Ersten Philosophie“ (I.10, 993a16) oder einfach der „gesuchten Wissenschaft“ (I.2, 983a21; III.1, 995a24)1. Dieser Ausdruck ist bedeutsam, sofern er anzeigt, dass Metaphysik nicht einfach mit der Behandlung letzter Fragen und ‚metaphysischer‘ Gegenstände – Gott, Welt, Mensch – einsetzt, sondern mit der Frage danach, was sie selbst W sei. Metaphysik als Wissenschaft der ersten Prinzipien Für diese Selbstverständigung der Metaphysik über ihren Gegenstand und ihre Wissensform ist ein bestimmtes Vorverständnis leitend, demzufolge sie sich von den Einzelwissenschaften unterscheidet, die sie in zweierlei Weise übertrifft: indem ihr Gegenstand der letzte, umfassendste, höchste ist (während die Wissenschaften nur immer einen Teil mit Seiten- und Zeilenangaben der Edition von Immanuel Bekker (5 Bde., Berlin 1831ff.) nachgewiesen, die in allen gängigen Werkausgaben angeführt ist. 2 Mit derselben Formel „Vom Sein spricht man in vielerlei Bedeutung“ führt
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oder Aspekt der Wirklichkeit betrachten: Lebewesen, physikalische Eigenschaften, Zahlenverhältnisse etc.) und indem ihr Wissen das wahrste, sicherste, höchste ist. Das zweite Kapitel zählt solche Merkmale auf, die nach allgemeiner Ansicht den Weisen auszeichnen – Allgemeines und Schwieriges wissen, genau erkennen, zum Lehren fähig sein, erkennen um seiner selbst willen –, um zu zeigen, dass die im ersten Kapitel gegebene Definition der Weisheit diesen Kriterien genügt: Nach dieser Definition, die für die Tradition weithin verbindlich geblieben ist, ist Metaphysik die Wissenschaft der ersten Gründe und Prinzipien. Der Leitbegriff der arche (Ursprung, Ursache, Prinzip) definiert die Fragerichtung der sich herausbildenden Philosophie, die darin an die Frage des Mythos nach der Herkunft und Entstehung aller Dinge anschließt. Wenn sich Wissen(schaft) generell durch die Ursachenkenntnis von bloßer Gewohnheit und Erfahrung unterscheidet, so wird dieses Merkmal in der gesuchten Wissenschaft zu seiner Extremform gesteigert: Nicht irgendwelche Gründe und Erklärungen, sondern letzte Prinzipien zu kennen, macht den Anspruch und die Leistung des spezifisch philosophischen Wissens aus. Mit Nachdruck unterstreicht Aristoteles die Notwendigkeit, bei letzten Gründen anzulangen, um wirkliches Wissen zu erlangen: Wenn man jede Meinung nur durch eine weitere erklären, jeden Grund durch einen weiteren absichern würde, so würde man sich in der unendlichen Kette der Prinzipien verlieren und am Ende gar nichts wissen (wie man nicht handeln würde, wenn man jeden Handlungszweck immer um eines weiteren willen verfolgen und nicht ein abschließendes Ziel – das Glück – erstreben würde: II.2). Der berühmte Eingangssatz der Metaphysik „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“ (I.1, 980a1) wird durch diese Umschreibungen präzisiert. Es geht nicht um die bloße Neugier und ein Interesse an Informationen; nicht einfach etwas zu wissen, sondern etwas zu begreiffen, es aus seinen Gründen, letztlich aus seinen ersten Prinzipien zu verstehen, zeichnet das menschliche Erkenntnisstreben aus. Die Frage nach dem Ursprung und das Absehen auf die ersten, nicht mehr auf anderes rückführbaren Gründe definieren die Metaphysik. Unmittelbar ist ersichtlich, dass schon mit dieser Eingangsdefinition grundlegende Weichenstellungen vorgenommen werden. Für viele spätere Denker ist W
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fraglich, ob sie ein realisierbares oder überhaupt sinnvolles Ziel benennt. Nun ist diese Eingangsdefinition als solche erst eine Richtungsanzeige, noch keine konkrete Anweisung, wie Metaphysik vorzugehen habe und welches ihr Untersuchungsfeld sei. Fragestellung und Themenbereich sind abhängig davon, wie der Begriff der arche verstanden wird. Der Begriff wird einem (in der Physik erörterten) aristotelischen Grundtheorem zufolge in vier Bedeutungen verwendet: als Stoff, Formbestimmung, Bewegungsursache und Ziel (in der Sprache der späteren Schulphilosophie: causa materialis, causa formalis, causa efficiens, causa finalis). Nach diesen vier Hinsichten kann etwas verstanden werden: Wir können etwas daraufhin begreifbar machen, woraus es besteht, was es ist, was seine Bewegung verursacht hat und wonach es strebt. In einem breiten ideengeschichtlichen Rückblick bemüht sich Aristoteles um die Bestätigung seines Ansatzes, indem er nachweist, dass auch die früheren Denker – die so genannten Vorsokratiker und Platon – nach den Prinzipien gesucht haben und dass sich ihre Theorien diesen vier Typen von Ursachenforschung zuordnen lassen. Dabei sind die ältesten, rudimentärsten Denkansätze vor allem am Stoff – bei Thales das Wasser, bei Anaximenes die Luft – interessiert, aus dem alles kommt und in den es zurückkehrt, während bei Aristoteles’ unmittelbarem Vorgänger Platon die Form – die platonische ‚Idee‘ – als Prinzip der Dinge fungiert. Indessen ist es nicht so, dass Aristoteles nun seinerseits einfach nach diesen vier Richtungen Ursachenforschung betreiben würde – auch wenn die Fragen nach dem ersten Stoff, der letzten Form, der ersten Bewegungsursache und dem letzten Strebensziel im Horizont der Metaphysik durchaus Thema sind. Seine Untersuchung setzt prinzipieller an, indem sie die Erforschung der ersten Ursachen nach zwei Hauptrichtungen spezifiziert, die für die Geschichte der Metaphysik im Ganzen bestimmend geblieben sind. Nach der ersten Richtung will Metaphysik die Prinzipien des Seienden (on) als solchen untersuchen. Als ‚Ontologie‘ – so der spätere Name dieser Disziplin – erforscht sie die Struktur des Wirklichen überhaupt, die allgemeinsten Seinsprinzipien, die notwendigen und wesentlichen Merkmale von Gegenständen überhaupt. Es geht darum, zu erfassen, wodurch die Dinge überhaupt sind, was sie
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sind. Nach der zweiten Richtung interessiert sich Metaphysik für das höchste Seiende, für dasjenige, was in der Wirklichkeit im Ganzen den ersten Ursprung, den letzten Zweck, das strukturierende Gesetz bildet. Hier interessiert sich Metaphysik für das Erste und die Ordnung des Ganzen. Ihre typische Ausprägung findet sie als Lehre vom höchsten, göttlichen Wesen, als ‚Theologie‘; zugleich fragt sie danach, in welcher Weise Gott als erster Bewegungsgrund des Kosmos fungiert. Diese dopW pelte Forschungsrichtung bleibt in der Geschichte der Metaphysik mit variierender Prägung und Gewichtung erhalten. In der neuzeitlichen Systematisierung wird sie als Unterscheidung zwischen allgemeiner Metaphysik (Ontologie) und spezieller Metaphysik gefasst, welche die drei eminenten Gegenstände der Metaphysik, Gott, die Welt und den Menschen (als rationale Theologie, Kosmologie und Psychologie), behandelt. Zu sehen ist, wie sich beide Fragerichtungen im Werk von Aristoteles zueinander verhalten und inwiefern sie als Aspekte eines einheitlichen Projekts einsichtig zu machen sind. Metaphysik als Ontologie: Die Wissenschaft vom Seienden als Seienden Die Themenstellung der ersten Fragerichtung formuliert der Eingangssatz des IV. Buches: „Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende, insofern es seiend ist, und das, was ihm an sich zukommt, betrachtet.“ (IV.1, 1003a21–22) Eine solche Betrachtung realisiert exemplarisch die postulierte Differenz zu den „übrigen Wissenschaften“, die alle nur „einen Teil des Seienden“, nicht „allgemein das Seiende als solches“ behandeln T (1003a23–24). Ontologie interessiert sich für die allgemeinsten Begriffe und Strukturen, die unser Denken und Sprechen über die Wirklichkeit bestimmen, die aber nach dem Selbstverständnis der Metaphysik nicht nur subjektive Denk- und Sprachformen, sondern zugleich objektive Seinsformen sind, die dem Seienden selbst zukommen. Dazu gehören Gegensatzpaare wie Grund-Begründetes, Teil-Ganzes, Stoff-Form, Wesentliches-Unwesentliches, Möglichkeit-Wirklichkeit. Die Intuition der Ontologie ist, dass solche Bestimmungen, anhand deren wir Seiendes als Seiendes (und nicht beispielsweise nach seiner Größe oder Qualität)
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erfassen, zugleich die ersten Prinzipien von allem sind. Ihre systematische Analyse setzt vonseiten der Sprache, der Verwendung des Seinsbegriffs an, wobei als Ausgangstatbestand die klassische These gilt, dass „,seiend‘ (on) in mehrfacher Bedeutung gebraucht wird“ (IV.2, 1003a32). In den Blick kommt hier die Differenzierung der so genannten Kategorien, die darauf abhebt, dass der Seinsbegriff je nach Art des Seienden etwas Verschiedenes meint, dass z. B. bei der Rede vom Mensch-sein, vom Alt-sein oder vom Hier-sein in prinzipiell verschiedener Art von Sein gesprochen wird. Diese kategoriale, nach den Weisen des Zusprechens (kategorein) differenzierte Seinstheorie, die Aristoteles schon in der frühen Kategorienschrift als bekanntes Lehrstück anführt, gehört zu den originären, traditionsbildenden Einsichten seiner Philosophie.2 In Met. IV.4 unterscheidet er zehn Kategorien (Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Wo, Wann, Lage, Haben, Tun, Erleiden), von denen die ersten vier in IV.5–8 näher ausgeführt werden. Diese Kategorientafel wird nicht systematisch abgeleitet (und in anderen aristotelischen Schriften in variierender Anordnung, teils unvollständig angeführt). Grundlegend ist eine prinzipielle Dichotomie, welche die Kategorien in zwei verschiedene Arten unterteilt, indem sie eine erste Kategorie von sekundären Kategorien unterscheidet. Die vielfältigen Verwendungen des Seinsbegriffs werden auf eine primäre Verwendung zurückbezogen, in welcher der Seinsbegriff im eigentlichen Sinn gebraucht wird, während die anderen Bedeutungen sozusagen nur indirekt, über den Bezug auf diese originäre Bedeutung zustande kommen. Aristoteles illustriert das Gemeinte durch Vergleich mit dem Prädikat „gesund“, das sich im originären Sinn auf den Organismus, in sekundädie Metaphysik auch eine ganz anders konzipierte Unterscheidung ein, die in V.7 und VI.2 erörtert wird und innerhalb deren der kategorial differenzierte Seinsbegriff als eine von vier Begriffsverwendungen wiederkehrt: das Seiende im Sinne des Akzidentellen, Sein und Nichtsein im Sinne von Wahr und Falsch, Sein gemäß den Aussageweisen, Sein dem Vermögen und der Verwirklichung nach. Vgl. dazu: Tugendhat, Ernst, „Über den Sinn der vierffachen Unterscheidung des Seins bei Aristoteles (Metaphysik Δ.7)“, in: ders.: Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main 1992, S. 136–144. 1 Der Name „Artisten-Fakultät“ rührt vom Lehrgegenstand her, den artes
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rer Weise auf Kleidung, Klima, Hautfarbe etc. bezieht, die an ihnen selbst weder gesund noch krank sind, aber die Gesundheit des Organismus „erhalten oder hervorbringen oder ein Zeichen derselben sind“ (IV.2, 1003a35f.). Analog ist im Ontologischen die Unterscheidung zwischen der Substanz (ousia) und den akzidentellen Bestimmungen zu verstehen: Die erste sagt von etwas aus, was es seinem Wesen nach ist, während alle anderen Bestimmungen einem so bestimmten Seienden eine Eigenschaft, Größe, Ortsbestimmung zusprechen. Tragend ist die Intuition einer basalen Differenz zwischen dem, was an sich selbst besteht und seine Bestimmtheit durch sich selbst besitzt (z. B. ein Kirschbaum), und dem, was nur an anderem und mit Bezug auf anderes ist (z. B. seine Gestalt oder Farbe). Damit ist eine der weitreichendsten, für die philosophische Tradition im Ganzen prägenden Unterscheidungen benannt, welche die prinzipielle Ebenendifferenz zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, zwischen einem Ansichseienden, Absoluten und einem Durch-anderes-Seienden, Relativen, das nur über den Bezug zu jenem besteht und gedacht werden kann, hervorhebt. Diese Differenz bestimmte schon Platons Ideenlehre, derzufolge die erscheinenden Dinge nur existieren kraft der Teilhabe an ihrem Urbild, der ansichseienden ‚Idee‘. Ähnlich ist nach Aristoteles von Quantität, Qualität, Relation etc. nur unter Rückbezug auf die erste Kategorie, die Substanz, zu sprechen. Damit ist ein erster Schritt in der ‚ontologischen‘ Durchführung der Metaphysik, der Explikation des Seienden als Seienden gemacht. Er bringt eine im Alltagsverstand weit verbreitete Ansicht auf den Begriff, die sich etwa im Sprachverständnis niederschlägt, wenn die Satzstruktur von Subjekt und Prädikat („Dieses Haus ist grau“) so verstanden wird, dass etwas (Selbstständiges) zugrunde liegt, dem ein anderes (Unselbstständiges) zugesprochen wird; ‚es gibt‘ nicht in der gleichen Weise Farben wie Häuser. Allerdings wird bereits dieser erste Schritt in der Folge keineswegs immer als voraussetzungslos und unproblematisch angesehen; Gegenbewegungen bestreiten die prinzipielle Ebenendifferenz zwischen Wesen und Unwesentlichem oder behaupten umgekehrt den Primat der Relation gegenüber dem Relat. Für den Hauptstrang der
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metaphysischen Denkgeschichte indes bleibt die aristotelische Unterscheidung verbindlich. Der erste Schritt, der die Frage nach den ersten Prinzipien in die Frage nach dem Seienden als solchen übersetzt und dessen Vielfalt auf die ousia zurückführt, wird nun durch einen zweiten Schritt ergänzt, der danach fragt, wie die ousia an ihr selbst näher zu bestimmen sei. Dies ist das Thema der so genannten Substanzbücher (VII–IX), das in deren Eingangskapitel programmatisch formuliert wird: Da „die von alters her so gut wie jetzt und immer aufgeworfene und beirrende Frage, was das Seiende sei, nichts anderes bedeutet als was die Substanz sei“, hat die Erste Philosophie „hauptsächlich und zuerst und so gut wie einzig zu betrachten, was das in diesem Sinne Seiende ist“ (VII.1, 1028b3–7). Zu fragen ist, was die Substantialität der Substanz, die Selbstständigkeit des selbstständig Seienden ausmacht. Die grundlegende Alternative, innerhalb der die Frage debattiert wird, ist die von Stoff und Form (wobei als drittes noch das aus Stoff und Form Zusammengesetzte hinzukommt, das aber als Zusammengesetztes ohnehin ‚später‘ als seine Elemente ist). Die Antwort des Aristoteles, die an Platon anschließt und gewissermaßen die Weichenstellung der Metaphysik kennzeichnet, lautet, dass etwas durch seine Form, nicht seinen Stoff substantielle Selbstständigkeit erlangt. Form ist dabei nicht einfach im Sinne der äußeren Gestalt, sondern im Sinne der Wesensbestimmung, der Antwort auf die Was-Frage – im Gegensatz zur Woraus-Frage des Stoffes – gemeint; terW minologisch wird sie teils unter dem Begriff des eidos (der auch für die platonische ‚Idee‘ steht), teils und prägnanter unter dem Kunstwort ti en einai (‚was es ist, dies zu sein‘ VII.4) gefasst (in der mittelalterlichen Refformulierung u. a. anhand der Begriffe quidditas und essentia). Die These vom Primat der Form widerstreitet der für das Normalverständnis nahe liegenden Sichtweise, dass es das ‚Zugrundeliegende‘ (Substrat, hypokeimenon h ) ist, welches das Wesentliche und Beharrliche in den Dingen ausmacht. In diesem Sinne hatten die ersten vorsokratischen Naturphilosophen den Stoff als Prinzip des Wirklichen aufgefasst, da sie dasjenige, aus dem die Dinge sich herausbilden und in welches sie wieder untergehen, das aber an ihm selbst weder entsteht noch vergeht, als das stabile Fundament der Dinge betrachteten. Eine ver-
liberales, d. h. den Sieben Freien Künsten: Grammatik, Rhetorik, Dialektik,
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gleichbare ‚materialistische‘ Reduktion nehmen jene Theorien vor, die nicht Stoffe, sondern Elementarpartikel oder Atome als die beharrlichen Seinskerne ansehen, aus denen alle Dinge gebildet sind und in die sie sich wieder auflösen. Offensichtlich steht hier eine Grundlagenentscheidung im Blick, die die Wissenschaftsgeschichte über die Jahrhunderte bis heute bestimmt. Ganz im Gegenzug zu Tendenzen wie den genannten, beharrt Aristoteles auf der strikten Nichtreduzierbarkeit dessen, was etwas ist, auf seine stofflichen Konstituentien: Wie die Ilias nicht auf die in ihr enthaltenen Worte und Buchstaben zurückzuführen ist, so erhalten wir keinen Aufschluss darüber, was der Mensch ist, wenn wir seine Sehnen, Nerven und Knochen aufzählen. Nicht aus den Teilen als solchen wird ein Ganzes; die Form des Ganzen ist das Erste, das der Zusammenfügung der Teile zum Ganzen voraus- und zugrunde liegt. Als gestaltend-vereinheitlichende Kraft macht die Form aus den Elementen die konkrete Ganzheit (das Haus, die Silbe), die sich vom bloßen Haufen unterscheidet, als solche wird sie im selbstständig Seienden zur „ersten Ursache des Seins“ (VII.17, 1041b11ff., 28). Für den Menschen beispielsweise ist dieses strukturierend-vereinheitlichende Prinzip die Seele; der ‚unbeseelte‘ Körper ist ein Leichnam, kein Mensch. Nicht zufällig gelten die Lebewesen als exemplarische Substanzen, da in ihnen sowohl die individuelle Selbstständigkeit wie die Prinzipienfunktion der Form besonders anschaulich sind; bei den Lebewesen, so Aristoteles, fallen Entstehungs-, Form- und Zweckursache zusammen, da sie nicht aus irgendwelcher Aggregierung von Elementen, sondern durch Zeugung aus einem Individuum entstehen, das über dasselbe eidos verfügt, und dieses zugleich für sie das Ziel der individuellen Entwicklung darstellt. Analog zu dieser für Lebewesen nahe liegenden Anschauung begreift Metaphysik die Seinsverfassung des Wirklichen überhaupt. Es ist, in Termini der späteren Diskussion, die leitende These des Essentialismus, die den Grund und das Wesentliche der Dinge in ihrer Wesensform, ihrer Essenz sieht (und gegen welche der spätere Existentialismus mit der Priorität der Existenz vor der Essenz die Antithese formuliert). Zu den Besonderheiten des aristotelischen Ansatzes – im Gegensatz zur platonischen Ideenlehre wie zur späteren Ontologie – gehört es,
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diese Form nicht nur als Grundlage der Spezieszugehörigkeit, sondern auch der individuellen Existenz zu machen: Durch das ihm innewohnende Wesen ist der einzelne Mensch und ist er Mensch. Nur kraft seines Menschseins, nicht seines Alt-, Gelehrt- oder Gesundseins existiert der Mensch, und nur kraft dessen können ihm andere Attribute zukommen. Beide genannten Schritte definieren zusammen den Kern des hier umrissenen Denkens: Der erste zielt auf die Substanz und behauptet, dass dasjenige, was dem Denken Sicherheit und dem Wirklichen Halt verleiht, die Substanzen, nicht die Relationen zwischen ihnen oder die ihnen zukommenden Eigenschaften sind; der zweite macht deutlich, dass es die Wesensbestimmung und nicht das materielle Substrat ist, das die Substanzen zu Substanzen macht. Diese Höherordnung der Form gegenüber der Materialität wird im IX. Buch durch die Lehre von Potenz und Akt und die These von der Priorität der Wirklichkeit (energeia) gegenüber der Möglichkeit (dynamis) ergänzt. So wenig etwas aus dem Stoff begreifbar ist, so wenig ist es aus der Potentialität herzuleiten: Wie Metaphysik sich gegen die materialistische Rückführung der Dinge auf Elemente und Stoffe wendet, so weist sie die mythologische Erklärung der Weltentstehung aus der Nacht und dem Chaos, dem potentiellen Vor-Zustand der Welt zurück (an dessen Stelle sie die Ewigkeit der Welt und die ewige Wirksamkeit der kosmischen Bewegungsursache setzt). Gegen solche Sichtweisen setzt die Idee des wahrhaft, substantiell Seienden nach beiden Seiten auf den Gegenbegriff: Sie meint ein Seiendes, das in eminenter Weise kraft seiner Form und im Modus des aktualen Vollzugs, nicht der unerfüllten Potentialität existiert. Letztlich führt Aristoteles die Begriffe selbst zur Konvergenz: „Es ist also klar, dass die Substanz (ousia) und damit die Form (eidos) Verwirklichung (energeia) ist.“ (IX.8, 1050b2) In der Fluchtlinie scheint die Idee des vollendeten Wesens auf, das reine Form und reiner Akt ist. Metaphysik als Theologie: Die Wissenschaft des höchsten Wesens Nach der zweiten, in VI. und XII. verfolgten Forschungsrichtung interessiert sich Metaphysik für dieses höchste Wesen an ihm selbst. Die
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Suche nach den ersten Prinzipien ist nicht mehr auf die Strukturen des Seienden als Seienden, sondern auf das höchste Seiende, das ewige, unbewegliche, göttliche Wesen gerichtet. Zu den Schwierigkeiten der Interpretation – mitbedingt durch die Verfassung des Textes, der nicht ein konsistentes System entfaltet, sondern eine Reihe von sich ergänzenden, teils alternativen Untersuchungen vereinigt – gehört, dass das Verhältnis beider Untersuchungsrichtungen von Aristoteles nicht explizit reflektiert und geklärt wird. Ontologie und ‚Theologie‘ – so der in VI.1 eingeführte Name – sind nicht nach Art der späteren Unterscheidung von allgemeiner und spezieller Metaphysik aufeinander bezogen, sondern zunächst als Ausführungen eines Vorhabens präsentiert, nämlich der über den Einzelwissenschaften stehenden Untersuchung, die „das Seiende allgemein und das erste Wesen“ betrachtet (IV.3, 1005a35) und sowohl vom Seienden als Seienden wie vom Göttlichen und der unbeweglichen Substanz (VI.1) handelt. In der Sache steht die Nähe zur Theologie für die gesuchte Wissenschaft von Anfang an im Blick, da diese ein höchstes Wissen vom höchsten Gegenstand erstrebt (als eine Erkenntnis, „die wohl der Gott am meisten besitzt und die vom Göttlichen handelt“ I.2, 983a6–7); ebenso lässt sich sagen, dass auch die Wissenschaft vom Göttlichen nicht einfach einen Gegenstand neben anderen (wie die Zahlen oder natürlichen Bewegungen) untersucht, sondern in gewisser Weise, wie die Ontologie, umfassend ist und jenseits der partikularen Themenfelder liegt. Die spätere christliche Tradition hat den Zusammenhang begrifflich konsistenter auszuformulieren versucht, indem sie Gott mit dem Sein schlechthin gleichsetzt oder in der scholastischen analogia entis eine Stuffenordnung des Seins konzipiert, in welcher Gott die erste Stellung einnimmt. Bei Aristoteles ist eine bestimmte Kontinuität der Fragestellung dahingehend rekonstruierbar, dass der Begriff Gottes als des höchsten Wesens zugleich eine eminente Steigerung des Substanzgedankens beW inhaltet, in welcher die substantielle Selbstständigkeit zur subjektiven Selbstbezüglichkeit vertieft wird. Doch kommt diese Figur nicht in solcher immanenter Vertiefung, sondern über eine andere Perspektive in den Blick, die nach dem Bewegungs- und Ordnungsprinzip des Alls fragt.
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Diese in XII.6–7 verfolgte Fragestellung ist zunächst nicht theologischer, sondern physikalisch-kosmologischer Art. Unter Voraussetzung der Ewigkeit der Welt – d. h. auch der Bewegung und der Zeit – wird nach der Ursache geforscht, die diese Bewegung initiieren und unablässig in Gang zu halten vermag. Diese Ursache muss selbst unbewegt und potenzfrei sein. Wäre sie selbst bewegt, verlangte sie ihrerseits nach einer Ursache ihres Bewegtseins; wäre sie nicht fortwährend und notwendig aktual bewegend – sondern beispielsweise nur eine höchste Macht, die bewegen kann –, so wäre eine weitere Ursache für die Aktualisierung dieses Könnens, für den Übergang von der Potenz in die tatsächliche Bewegung erforderlich. Nur die auf den ersten Blick paradoxe Figur eines unbewegten Bewegers kann den unendlichen Regress aufhalten und das Bewegtsein einer ewigen Welt erklären. Anderes zu bewegen ohne selbst bewegt zu sein, vermag das Geliebte und Begehrte: Die gesuchte Ursache muss vom Typus einer Finalursache sein. Damit die Prozessualität der Welt als eine begriffen werden kann, die ewig, notwendig und kontinuierlich verläuft, muss ihre Ursache als eine konzipiert sein, aus der jede Möglichkeit des Nichtseins oder Andersseins verbannt ist. Da der Stoff als Prinzip der Passivität und Veränderbarkeit zugleich das Prinzip des Potentiellen, des Anderssein- und Nichtseinkönnens ist, muss die Ursache einer schlechthin notwendigen Bewegung selbst ohne Materie und Potenz, stofflos und reiner Akt sein. Die physikalische Erklärungslogik, innerhalb der Aristoteles den Gedanken eines unbewegten Bewegers expliziert, ist weit entfernt vom religiös-theologischen Horizont, innerhalb dessen die scholastische Philosophie dasselbe Argument als Gottesbeweis reformuliert. Im Zentrum steht bei Aristoteles die Relation einer Bewegungsverursachung, keine Schöpfung und keine persönliche Beziehung, nicht einmal ein göttliches Wissen von der Welt. Gleichwohl kommen durchaus theologische Prädikate zur Sprache, die in der Fortsetzung der ontologischen Auszeichnungen des stoff- und potenzfreien Prinzips stehen. Aristoteles begnügt sich nicht mit dem Aufweis der ersten Ursache, sondern zeichnet (in XII.7 und 9) ein Bild der Tätigkeit des Gottes, die er als höchsten Lebensvollzug charakterisiert, der sich im Akt reinen Denkens vollzieht. Die ins Auge gefasste Tätigkeit spezifiziert die ontologischen Auszeich-
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nungen, die der höchsten Substanz zukommen: Autarkie, Notwendigkeit, Ewigkeit, Stofflosigkeit, reiner Akt. Sie gehören einem Wesen zu, dessen Seinsform der reine Vollzug denkender Selbstbeziehung ist. Dass die Seinsweise des Höchsten reiner Akt ist, ist nicht nur im Blick auf seine Ursachenfunktion – als Prinzip einer ewig-ununterbrochenen Bewegung –, sondern ebenso auf den Erfüllungszustand des göttlichen Lebens von Belang. Wäre das erste Wesen nicht reiner Akt, sondern gleichsam mit einer nicht immer schon in Aktualität übergegangenen Potentialität behaftet, so würde ihm das ununterbrochene Tätigsein Mühe bereiten, was seiner Göttlichkeit und Souveränität widerstreitet. Das vollendete Tätigsein ist nach der Ethik ein Wesensmerkmal des Glücks; konsequenterweise mündet die Beschreibung der Seinsweise des Höchsten in die Beschreibung eines vollendeten Glückszustandes, in dem sich der Gott immer, der Mensch nur partiell und zeitweise befindet (bzw. einer Lebensform, an welcher der Mensch nach dem Wort der Nikomachischen Ethik nicht teilhat, „sofern er ein Mensch ist, sondern nur sofern etwas Göttliches in ihm ist“: X.7, 1177b27–28). Dieser Zustand des Glücks wird einerseits als höchste und lustvolle Erfüllung, andererseits als absolute Selbstgenügsamkeit (Autarkie) dessen, der in keiner Weise anderer bedarf, beschrieben. Diese Selbstständigkeit beruht auf einer Selbstbezüglichkeit, die Aristoteles letztlich als Selbstreferenz des Erkennens fasst: Das Tun des Absoluten, das in keiner Weise von anderen Ursachen und äußeren Gegenständen abhängig sein kann, ist das „Denken des Denkens“ (XII.9, 1074b34). Dabei ist nicht nur die Unabhängigkeit des Denkakts von äußeren Gegebenheiten, sondern auch der ontologische Rang des von ihm Betrachteten ausschlaggebend: Ein göttliches Denken, das etwas anderes als „das Göttlichste und Würdigste“ (XII.9, 1074b26) zum Gegenstand hätte, wäre als Akt unvollkommen. Nur unter diesen Bedingungen ist die Tätigkeit des ersten Bewegers „bestes und ewiges Leben. Wir sagen also, dass der Gott das ewige, beste lebendige Wesen sei. Dem Gott kommt demnach Leben und ununterbrochene, ewige Fortdauer zu; denn das ist eben der Gott“ (XII.7, 1072b28–30). Die Betonung des Lebensaspekts unterscheidet das hier beschriebene ewige Wesen von einer metaphysischen Übersteigung des Zeitlichen auf eine abstrakt-tote Zeitlosigkeit hin, wie
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sie etwa die Seinsvision des Parmenides kennzeichnet. Die Seinsweise des Ersten, wie sie die Metaphysik im Ausgang von der Frage nach dem ersten Bewegungsgrund umreißt, konvergiert mit dem abschließenden Bild des Glücks als vollkommener, reiner Betrachtung (theoria), wie es die Ethik zeichnet (Nik. Ethik, X.7). Komplementär zur internen Seinsweise des Ersten interessiert dessen Relation zum Wirklichkeitsganzen. Für sich ist das Leben des Gottes durch Autarkie und Selbstbezüglichkeit definiert, die etwa beinhaltet, dass das göttliche Erkennen sich nicht auf einen äußeren Gegenstand richtet (während nach Thomas von Aquin Gott in seinem Sichdenken auch die Wirklichkeit im Ganzen erkennt). Gleichzeitig aber steht das erste Wesen in einer bestimmten seinsmäßigen Beziehung zum Universum, die sich nicht in der ursprünglichen Verursachung der kosmischen Bewegung erschöpft. Die ‚theologische‘ Ausformulierung der metaphysischen Prinzipienforschung wird abschließend (XII.10) auf die Frage zugespitzt, in welcher Weise das erste Prinzip die Wirklichkeit im Ganzen bestimmt. Zu erklären ist nicht nur der Anfang ihrer Bewegung, sondern das Prinzip ihrer Ordnung. Aristoteles führt diese abschließende Perspektive ein, indem er den ersten Beweger unter der Kategorie der Zweckursache thematisiert, unter der er bereits als Bewegungsgrund fungiert, um nun grundsätzlicher zu fragen, in welcher Weise das All durch „das Gute und das Beste“ gelenkt wird (1075a12). W Es ist die Frage nach dem Guten im Ganzen, ganz entsprechend der schon in der Eingangsreflexion gegebenen Bestimmung der gesuchten Wissenschaft, die als höchste das Weswegen zu kennen habe, das „in jedem einzelnen das Gute und in der gesamten Natur das Beste ist“ (I.2, 982b5–7). Das Bedürfnis nach einer ‚teleologischen‘ Erklärung des Alls bestimmte die entstehende Metaphysik von Anfang an in ihrer Distanzierung gegenüber den materialistischen Ansätzen der vorsokratischen Naturphilosophie. Erst wenn erkannt wird, wie das Ganze sinnvoll auf ein Ziel und ein Gutes hin geordnet ist – und nicht schon, wenn letzte Stoffursachen oder Bewegungsgründe angeführt werden –, ist das emphatische Bedürfnis, Wirklichkeit zu verstehen, befriedigt. Die Finalursache ist Seinsgrund und Maßstab der Erkenntnis par excellence: „Unter allem ist am meisten das Gute Prinzip“ (XII.10, 1075a37). Die
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Leitfrage des abschließenden Kapitels XII.10 – die beiden letzten Bücher XIII und XIV sind wieder einem eher speziellen Thema, der pythagoreisch-platonischen Lehre der Idealzahlen gewidmet – lautet, ob das teleologische Ordnungsprinzip dem Ganzen immanent oder transzendent sei, ob das Gute „als etwas Abgetrenntes, selbständig an sich Existierendes oder als Ordnung der Teile“ zu begreifen sei (XII.10, 1075a12– 13). In Absetzung von der vorsokratischen Kosmosspekulation, die hierin zu keiner klaren Antwort kommt, versucht Aristoteles sowohl die Singularität wie die Transzendenz des Ordnungsprinzips als Voraussetzungen einer konsistenten Welterklärung aufzuweisen. Eine Prinzipienpluralität würde ebenso einen offenen Erklärungsbedarf hinterlassen wie eine im Bereich der sinnlichen Welt verbleibende Ordnung. Eine zirkelfreie Erklärung ist nur von einem einzigen, transzendenten Prinzip her zu gewinnen, das den Kosmos bewegt und seine Ordnung durchherrscht. Am Ende schließt Aristoteles die Ausgangsfrage nach der arche (Ursprung, Prinzip) mit der zweiten Bedeutung des Wortes arche (Herrschaft) zusammen, um die Herrschaft des Einen als die Abschlussfigur zu präsentieren, die auf die Frage nach der ersten Ursache antwortet. Mit dem Zitat aus Homers Ilias (II.204) „Vielherrschaft ist nicht gut, ein einziger sei Herrscher“ schließt die Diskussion des ersten Bewegers (XII.10, 1076a4). Metaphysik und Metaphysikkritik Mit diesem doppelten Ansatz der Frage nach dem Ursprung ist die Zweigleisigkeit der Metaphysik gestiftet, die sowohl nach dem Seienden als Seienden wie nach dem höchsten Wesen und dem Ganzen fragt und die in der abendländischen Philosophie eine zentrale Rolle gespielt hat. In beiden Dimensionen hat die Auseinandersetzung um Grundlagen des Denkens stattgefunden, wobei die Kontroverse um Fragen der Ontologie sich primär innerhalb der Theorie und der philosophischen Schulen abgespielt hat, während Fragen der ‚speziellen‘ Metaphysik – des kosmologischen Weltbildes, des Gottesverständnisses, des Begriffs des Menschen und der Geschichte – sowohl im philosophischen Dis-
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kurs wie in der kulturellen Selbstverständigung der verschiedenen Epochen Resonanz gefunden haben. Im ersten Bereich sind beide Schritte, der Schritt vom Seienden zur Substanz (die Differenz von Substanz und Akzidens) und die Hinführung der Substanz zum Wesen (die These des Essentialismus), hinterfragt worden. Die Idee der Substanz als dasjenige, was den Eigenschaften und Relationen zugrunde liegt, wird von David Hume in das Zusammen bestimmter Eigenschaften aufgelöst. Das Funktionsdenken der neuzeitlichen Wissenschaftstheorie hat die Funktionen, Strukturen und Verhältnisse, über welche etwas auf anderes bezogen ist, anstelle des An-sich-Seienden und In-sich-Bestimmten zum Referenzpunkt des Erkennens gemacht. Thomas Hobbes behält zwar die Differenz von Substanz und Akzidens bei, besetzt sie aber gegenüber Aristoteles neu, indem er die Körperlichkeit zur beharrlich-identischen Substanz macht, welcher Bestimmungen (zu denen die Essenz gehört) als Akzidenzien zukommen. Grundsätzlicher wird das Gegebensein von Essenzen überhaupt problematisiert und die Annahme, dass allen Dingen eine Wesensform zukomme, die von grundsätzlich anderer Art als sonstige Merkmale einer Sache sei, als Projektion zurückgewiesen. Ungeachtet solcher Gegenströmungen hat gerade in neueren analytischen Debatten eine teils an Aristoteles anschließende Auseinandersetzung um ontologische Fragen, teils eine Reformulierung des Substanz- und Essenzgedankens stattgefunden. Im zweiten Bereich ist die Infragestellung metaphysischen Denkens noch manifester geworden. Klassische Leitideen des metaphysischen Weltbildes – die Existenz Gottes, die sinnhafte Ordnung des Kosmos, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele – sind in der modernen Vernunftkritik als uneinholbare Idealisierungen verworfen worden. Zum Teil ist die Orientierung an ihnen bzw. das Festhalten an den auf das T Erste und Ganze zielenden Fragen überhaupt als falsche Ausrichtung des Denkens disqualifiziert worden. Eine vermittelnde Position nimmt Immanuel Kant ein, der zwar einerseits den überkommenen Anspruch der Metaphysik begrenzt, indem er den Ausgriff auf das abschließende Ganze, den Schritt von der Kette der Bedingungen zum transzendenten Unbedingten als erkenntnismäßig nicht einholbar kritisiert, anderseits
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aber die Frage nach ersten Gründen und ganzheitlicher Orientierung als notwendiges Bedürfnis der menschlichen Vernunft ansieht, die nach einer berühmten Eingangsformulierung der Kritik der reinen Vernunft (A VII) durch Fragen bedrängt wird, die sie nicht abweisen, doch ebensowenig beantworten kann. Auch wenn der ungebrochene Anspruch auf objektive Erkenntnis des Ersten und Ganzen in der Gegenwart kaum mehr in gleicher Weise erhoben wird wie bei Aristoteles, bleibt die Auseinandersetzung um Fragen und Antworten der Metaphysik eine offene, unerledigte Aufgabe des Denkens. Die Kritik an der Metaphysik, die deren Entwicklung seit Platon und Aristoteles in unterschiedlichen Gegenströmungen begleitet, hat ihre Fragen und Denkrichtungen nicht zum Verschwinden gebracht. Noch im unabgeschlossenen Streit zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik wird der singuläre Rang der aristotelischen Schrift als Gründungsdokument und eminentes Zeugnis abendländischen Denkens bestätigt.
Thomas von Aquin: De unitate intellectus adalbert podlech
Im Jahr 1256 fand ein für die europäische Geistesgeschichte wichtiges Ereignis statt – eine öffentliche Vorlesung in Anagni, am Hofe des Papstes Alexander IV., um diesen von der intellektuellen Leistungskraft der durch die Araber vermittelten aristotelischen Philosophie bei der Überwindung der häretischen Bewegungen zu überzeugen. Ein Jahr zuvor hatte die Pariser Artisten-Fakultät gegenüber zahlreichen kirchlichen Verbotsversuchen durchgesetzt, dass alle Schriften des Aristoteles im V Rahmen des Philosophiestudiums zugelassen wurden. Der Ordensgeneral Humbertus de Romanis übertrug die Aufgabe der Mustervorlesung vor dem Papst an Albertus Magnus. Als Thema der Vorlesung wählte er De unitate intellectus (Über die Einheit der Geistseele). Was war der Hintergrund dieser Veranstaltung und worin bestand ihre Bedeutung? Zunächst für die Universität: Seit etwa zwei Generationen bestand diese Institution damals, und sie war schon dabei, das gesamte europäische Geistesleben zu bestimmen. Drei Strukturelemente waren dabei wichtig. Die Universität war genossenschaftlich strukturiert, in Fakultäten gegliedert, und das fach- und berufsbezogene Studium an den so genannten höheren Fakultäten, der Theologischen, der Juristischen und der Medizinischen Fakultät, setzte ein abgeschlossenes Studium der Eingangsfakultät voraus, damals Artisten- und später Philosophische Fakultät genannt.1 Die Artisten-Fakultät des 13. Jahrhunderts darf man sich nicht wie eine heutige Fakultät vorstellen. Jeder, der zum MaArithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Aus der Disziplin der Dialektik erwuchs durch die Rezeption des Aristoteles die europäische Konzeption der Philosophie. 2 Der damals gebrauchte Ausdruck war magister. Im Laufe der Universitätsgeschichte wurden aus Magistern Doktoren und schließlich Professoren.
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gister promoviert war, durfte lehren. Man muss für die Zeit des Albertus Magnus und des Thomas von Aquin mit etwa hundert Lehrenden2 rechnen. Eine solche quirlige Intellektuellen-Schar war nicht leicht disziplinär zu überwachen, zumal die Fakultäten eifersüchtig auf ihre Selbstverwaltung achteten. Die Studenten wählten sich ihre Lehrer aus und bezahlten sie. Die Ordnung, dass Theologie nur studieren konnte, wer ein Philosophie-Studium an der Artisten-Fakultät absolviert hatte, führte zu dem für unser Thema wichtigen Problem: Welche Rolle spielt die Philosophie, und genauer, welche Philosophie in der Theologie? Denn die philosophische Ausbildung durch die Artisten-Fakultät prägte natürlich das theologische Denken. Der Einbruch der Araber in das lateinische Mittelalter Die griechischen Denker, durch die Werke Ciceros und Boethius’ vermittelt, waren bis zum 12. Jahrhundert im lateinischen Mittelalter nur fragmentarisch bekannt. Man kannte von Platon nur einen Teil des Dialogs Timaios, aber der Platonismus war durch die neuplatonische Grundlegung der Kirchenväter, besonders des Pseudo-Dionysios Areopagites und des Augustinus, die Philosophie des frühen Mittelalters. Von Aristoteles kannte man nur einen Teil der von Boethius überlieferV ten logischen Schriften. Aber in der Zwischenzeit war Aristoteles fast vollständig ins Arabische übersetzt und einer intensiven Bearbeitung und Fortentwicklung unterzogen worden. Die für das lateinische Mittelalter wichtig werdenden arabischen Philosophen waren im 10. Jahrhundert Alfarabius (al-F¯ a¯r¯ab¯¯ı), in der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts Avicenna (Ibn S¯¯ın¯a) und der im 12. Jahrhundert in Andalusien lebende und lehrende Averroes (Ibn Ruˇˇsd). Die Iberische Halbinsel stand um diese Zeit wieder in einer kulturellen Hochblüte, mit der die Entwicklung in Mitteleuropa nicht vergleichbar war. Die Bibliothek von Córdoba hatte schon im 10. Jahrhundert einen Bestand von fast einer halben Million Bände. Toledo, inzwischen kastilisch geworden und damals das bedeutendste Industriezentrum Europas, war die Stadt der drei Religionen. Die Araber und damit 3 Aristoteles, Über die Seele, übers. v. Willy Theiler, Berlin 1994, S. 142. Diesem Werkk sind auch die folgenden Aristoteles-Zitate entnommen.
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der Islam spielten eine große kulturelle und wirtschaftliche Rolle, das sephardische Judentum erlebte eine Blüte und an der Kathedralschule des Erzbischofs wurden die griechischen Philosophen aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt. Die jetzt an den neuen Institutionen der europäischen Universitäten besonders in Paris und Oxford mögliche Rezeption von Aristoteles war das wichtigste Ereignis in der geistigen Entwicklung Europas im Mittelalter. In kurzer Zeit erlagen die Artisten-Fakultäten der Faszination der Metaphysik und der naturphilosophischen Schriften des Aristoteles, obwohl Aristoteles mit der christlichen Weltauffassung nicht vereinbar war. Es traten zwei ausgebildete Denksysteme miteinander in Konkurrenz, das eine – Aristoteles in der Interpretation von Avicenna und Averroes – bestach durch formale Eleganz, Geschlossenheit von der Logik bis zur Metaphysik, und das Exotische der arabischen Kommentare kam hinzu. Das andere hingegen – die auf den Neuplatonismus und Augustinus gestützte christlich-theologische Weltsicht – war allein mit der Glaubenslehre der Kirche vereinbar. Die Gegensätze: Gott als ewig unberührter bewegender Beweger versus den geschichtlich wirksamen Gott; Gott der Eine Einfache versus Gott der Dreifaltige; ewige versus geschaffene Welt und sterbliche versus unsterbliche Einzelseelen. Unter den Intellektuellen an den Universitäten und damit unter der geistigen Elite Europas begann, zuerst wohl als intellektuelles Spiel und dann in einer quellenmäßig nur schwer nachzuzeichnenden Ernsthaftigkeit, die Beschäftigung mit zum Christentum alternativen Weltdeutungen. Um das Ausmaß der dadurch verursachten Krise ganz zu verstehen, sei nur noch kurz darauf hingewiesen, dass die kirchliche und damit die ganze damalige gesellschaftliche Ordnung gleichzeitig von zwei weiteren Bewegungen in Frage gestellt wurde, nämlich von der Ketzerbzw. Armutsbewegung sowie vom freizügigen Lebenswandel des Klerus. In dieser Krisensituation des 12. und 13. Jahrhunderts gewinnen die Bettelorden an Bedeutung. Ich beschränke mich des Themas wegen auf die Dominikaner. Dieser Orden, etwa zur selben Zeit entstanden wie die europäische Universität, hatte sich die geistige Auseinandersetzung mit den Irrlehren zum Ziel gesetzt. In enger Verbindung mit den Universitäten überzog er Europa mit einem Netz intellektueller Zentren. In jedem
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Dominikanerkonvent musste mindestens ein graduierter Lektor tätig sein. In Köln begann Albertus 1248 ein einzigartiges Forschungsprojekt in der Absicht, dem lateinischen Mittelalter die gesamte Wissenschaft des Aristoteles, der Araber und der Juden in einer einzigen wissenschaftlichen Sammlung zugänglich zu machen. Er intendierte, der systematischen Ordnung des Aristoteles zu folgen, seinen Text wiederzugeben und, wenn nötig, erläuternde Abschnitte einzufügen, um mögliche Lücken in Aristoteles’ Darstellung zu füllen. Albertus’ methodische Kühnheit bestand darin, zu fordern, dass über die Dinge dieser Welt nicht theologisch, sondern nur vernunftgemäß zu diskutieren sei. Nach zehn Jahren hatte er den ganzen Aristoteles kommentiert und versucht, dadurch die Kommentare der islamisch-arabischen Philosophen über– flüssig zu machen. Europa sollte sich von der Vorrangstellung der islamischen Welt befreien und im Denken selbstständig werden. Dieses Programm war umstritten, im Orden selbst und an den Universitäten, und wurde von den Weltgeistlichen argwöhnisch bis feindlich verfolgt. In dieser Situation fand 1256 die Vorlesung vor dem Papst in Anagni statt. Sie hatte eines der brennendsten Probleme der damaligen Zeit zum Thema: die Unsterblichkeit der einzelnen Menschenseele. Die Denkalternative, dass nicht nur der Körper des Menschen stirbt, sondern auch seine Seele, und dass es somit kein göttliches Gericht, keinen Himmel und keine Hölle gibt, ist dem lateinischen Europa durch den arabisch vermittelten Aristoteles überkommen. Sie geht zurück auf einen kurzen Text, das 5. Kapitel des 3. Buches von Aristoteles’ De anima (Über die T Seele). Ein heutiger Übersetzer hat zu diesem Text geschrieben: „Es gibt kein Stück der antiken Philosophie, das wie die halbe Seite dieses Kapitels eine solche Masse der Erklärungen hervorgerufen hat.“3 Der Text lautet in deutscher Übersetzung: „Da, wie es im ganzen Naturbereich einmal Materie gibt, h´yl¯e, für jede Gattung – sie ist das, was der Möglichkeit nach alles zur Gattung Gehöriges ist – und dann das Ursächliche und Wirkende, poi¯ ¯etikón, insofern es alles wirkt, […], so auch in der (Denk-)Seele diese unterschiedlichen Dinge vorhanden sein müssen und es einen Geist, no˜us, von solcher Art 4 Ebd. S. 59 (430a10). Es kommt jetzt nicht darauf an, wie dieser Text innerhalb der aristotelischen Philosophie zu interpretieren ist. Er ist vermutlich
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gibt, daß er zu allem wird, und einen anderen von solcher, daß er alles wirkt als eine Kraft, héxis, wie die Helligkeit; denn gewissermaßen macht auch die Helligkeit die möglichen Farben zu wirklichen Farben. Auch dieser Geist ist abgetrennt, ch¯ o¯ristòs, leidensunfähig, apath¯s, und unvermischt, amig¯s, da er dem Wesen nach Betätigung ist, enérgeia. […] Aber nicht denkt er bald, bald nicht; getrennt nur ist er das, was er ist, und dieses allein ist unsterblich und ewig.“4 Der Philosoph, der die Richtung vorgab, war Alfarabius, der von etwa 870–950 gelebt hat. Seine im Anschluss an Aristoteles entwickelte Lehre besagt, dass die Seele des Einzelmenschen in der Lage ist, Erkenntnisse in sich aufzunehmen. Erkenntnis ist Wesenserkenntnis. Den Baum, den ein Mensch sieht, erkennt er zum Beispiel als Eiche. Die Eichheit ist das Wesen dieses konkreten Baumes. Insofern die Seele erkennen kann, ist sie Möglichkeit, möglicher Intellekt. Den Erkenntnisprozess selbst fasst Alfarabius im Anschluss an Aristoteles als Abstraktionsprozess. Der Beginn der Erkenntnis ist die sinnliche Erfahrung. Wie Thomas es formuliert: „Insofern kann man sagen, daß die Erkenntnis des Geistes ihren Beginn in den Sinnen hat, denn aufgrund dessen, was die Sinne erfassen, wird der Geist zu Höherem [durch Abstraktion zur Wesenserkenntnis] geführt.“5 Dieser Satz war für das lateinische Mittelalter der Bruch mit der neuplatonisch-augustinischen Richtung, nach welcher Erkenntnis nicht auf der Sinneserfahrung beruht, sondern auf der Teilhabe an der Erkenntnis der in Gott ewig existierenden Wesensformen der Dinge. ein späterer Einschub und nur schwer mit der Seelenlehre im 2. Buch De anima vereinbar. Wichtig ist, im 9. und 10. Jahrhundert wurde mit geringen Ausnahmen der ganze Aristoteles ins Arabische übersetzt und von arabischen Philosophen erhielt dieser Text seine das gesamte lateinische Hochmittelalter maßgebliche Fassung. 5 Thomas von Aquin, De Veritate, Qu. 18, Art. 6, ad 2. Art. 6 der Quaestio 18 bringt eine kurze Darlegung der thomistischen Erkenntnislehre. Deutsch: Des hl. Thomas von Aquino Untersuchung über die Wahrheit (Quaestiones disputatae de veritate), in: Edith Steins Werke, Bd. 3, hg. v. Lucy Gelber u. Romaeus Leuven, Freiburg 1952, S. 250ff. 6 Im Einzelnen sind die Positionen natürlich differenziert. Dazu Torrell, Jean-
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Indem der Intellekt die Wesensformen der körperlichen Dinge geistig erkennt, sie in sich aufnimmt, verwirklicht er nach Alfarabius sich selbst. Er wird verwirklichter Intellekt. Wenn der Intellekt die Wesensformen der körperlichen Dinge erkennt, erfasst er nichts, was außerhalb seines eignen Wesens läge, denn er ist geistig und die Wesensformen sind geistig. Indem der Intellekt als möglicher Intellekt die Wesensformen aufnimmt, wird er verwirklichter Intellekt. Die im verwirklichten Intellekt vorhandenen Erkenntnisse, die abstrahierten Wesensformen der körperlichen Dinge, liegen dort zur Benutzung durch die Seele bereit. Das heißt, Wissen ist normalerweise unbewusst. Durch die Abstraktion der Wesensformen aus den durch die Sinne vermittelten Vorstellungsbildern, phantasmata, hat sich der Intellekt zwar verwirklicht, die Wesensformen liegen jetzt aber nur als Möglichkeit zur Benutzung durch die Seele bereit. Zwar sind die Wesensformen in ihrer Immaterialität und Allgemeinheit Form, WirkW lichkeit – lateinisch forma –, aber die Seele verhält sich zu ihnen wie zum Stoff, zur Möglichkeit. Dadurch erweist sich die Seele gegenüber den Wesensfformen als Form im höheren Sinn. Sie hat die Intellektualität im höheren Sinn erworben, sie ist erworbener Intellekt geworden, intellectus acquisitus. Der verwirklichte Intellekt ist quasi unbewusstes Wissen, der erworbene Intellekt ist der sich im Wissen der Wesensformen der körperlichen Dinge selbstwissende Intellekt. Die Kraft, die diese Erkenntnisstufen der Seele bewirkt, ist der tätige Intellekt, intellectus agens. Das ist nach Alfarabius der Intellekt, von dem Aristoteles in dem eben zitierten Text gesagt hatte, er sei von solcher Art, dass er alles wirke als eine Kraft, und er sei abgetrennt, leidensunfähig und unvermischt, da er dem Wesen nach Betätigung sei. Aber nicht denke er bald, bald nicht; getrennt nur sei er das, was er ist, und dieses allein sei unsterblich und ewig. Ich weise schon hier darauf hin, das „abgetrennt“ wird zum Problem – was heißt, die Seele ist getrennt, und wovon ist sie getrennt? Diese Aristoteles folgende Lehre von der Erkenntnis kombiniert Alfarabius mit der neuplatonischen Emanationslehre und fasst den tätigen Intellekt als die zehnte Stufe der Emanation. Er ist unteilbar, unstoff-
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lich, unvergänglich und seine Tätigkeit ist sein Wesen. Dieses Wesen ist wie das aller himmlischen Geister von höchster Einfachheit. Er erreicht sein Ziel immer in vollendeter Weise. Diese Tätigkeit ist kein Suchen eines Fremden, sondern ewiges Finden des eigenen Wesens, da alle Wesensformen der vergänglichen Welt aus ihm emaniert sind. Seine Erkenntnis ist ewige Heimkehr zu sich selbst. Der tätige Intellekt wirkt in allen menschlichen Einzelseelen, die aus ihm emaniert sind; deren höchstes Ziel ist die Annäherung an den tätigen Intellekt. Dadurch wird der Mensch verwesentlicht und erreicht so seine höchste Vollendung. In dieser Vollendung des Menschen gipfelt die Weltbewegung, die Vergeistigung des Stoffes. Hier bahnt sich der Konflikt an, der dann die arabische Philosophie im monotheistisch-islamischen Umfeld zur Einflusslosigkeit verurteilen wird: Die Frage, ob nur der eine, in allen Menschenseelen wirkende intellectus agens unsterblich ist oder auch die menschlichen Einzelseelen, in denen er die Erkenntnis wirkt. Als im Jahr 1256 Albertus Magnus in einer Mustervorlesung das Doppelte nachzuweisen versuchte, dass erstens die Lehre von der Einheit des Geistes in allen Menschenseelen philosophisch widerlegbar sei und dass zweitens diese Widerlegung mit Hilfe der Lehren des Aristoteles gelingt, war diese Lehre noch ein Kuriosum. Wir kennen für diese Zeit noch keine lateinischen Schriftsteller, die sie vertreten hätten. Der Zweck der Vorlesung war es auch weniger, in aktuelle Geisteskämpfe einzugreifen, als vielmehr den Papst von der Überlegenheit der aristotelischen Philosophie und ihrer Vereinbarkeit mit dem Christentum zu überzeugen, und dafür hat Albertus Magnus ein werbewirksames Thema gewählt. Der Papst wurde überzeugt und der Dominikanerorden richtete hinfort seine Studien konsequent auf aristotelischer Grundlage aus. Die geistige Situation in Paris zur Zeit des Thomas von Aquin Gut zwanzig Jahre später hatte sich die intellektuelle Situation in Paris völlig geändert. Die geistigen Auseinandersetzungen trieben ihrem Höhepunkt zu. Drei intellektuelle Parteien standen sich gegenüber. Eine
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Partei – als deren Vordenker die Lehrer an der Artisten-Fakultät Siger von Brabant und Boethius von Dacien galten, von Thomas die Partei der Averroisten genannt – stützte sich auf den von Alexander von Aphrodisias und Averroes naturalistisch interpretierten Aristoteles.6 Unter diesen Magistern zirkulierten, offensichtlich außerhalb der regulären Lehrveranstaltungen in privaten Zusammenkünften verbreitet, Ansichten, deren Vereinbarkeit mit der christlichen Lehre mindestens hoch problematisch waren. Als Hort dieser Lehren galt die ArtistenFakultät. Dabei kommt es jetzt zuerst einmal nicht darauf an, ob Averroes die Lehren, die dann Averroismus genannt wurden, selbst vertreten hat. In der heutigen Forschung wird dies meist verneint. Man kann jedenfalls sagen: „Etwa ab 1265 herrschte nachweisbar bei den Verteidigern der Orthodoxie das Bewusstsein, das Christentum sei gefährdet durch die Philosophie.“7 Und um 1270 verdichtet sich dieses Bewusstsein zur Überzeugung, die arabisch-aristotelische Philosophie zerstöre die Grundlagen des christlichen Glaubens und die Vertreter dieser Philosophie seien die Magister der Artisten-Fakultät, die Thomas von Aquin dann als erster die Averroisten nannte. Dieser Partei der so genannten Averroisten standen gegenüber die franziskanischen Magister der Theologie unter der Führerschaft des damaligen Ordensgenerals Bonaventura und des in Paris lehrenden englischen Magisters Johannes Pecham. Diese Partei lehnte die Rezeption des Aristoteles als für das Christentum gefährlich ab und vertrat den traditionellen platonisch-neuplatonischen Augustinismus. In den Universitätspredigten Bonaventuras der Jahre 1267, 1268 und 1273 in Paris steigerte sich diese Ablehnung schließlich zu einer aggressiven Verurteilung der Vertreter der neuen Lehren. Die dritte intellektuelle Partei bildeten die Dominikaner-Magister, die auf der von Albertus Magnus geschaffenen Grundlage den AristotePierre, Magister Thomas: Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg [u. a.] 1995, S. 206ff. 7 Flasch, Kurt (Hg.), Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris, eingel., übers. u. erkl. v. Kurt Flasch, Mainz 1989, S. 51. 8 Ebd., S. 51.
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lismus zur Ordensdisziplin erklärt hatten – wenn dem auch nicht alle Ordensbrüder folgten – und daran arbeiteten, seine Vereinbarkeit mit den grundlegenden christlichen Wahrheiten nachzuweisen. Die Dominikaner sahen sich in einen dreifachen Verteidigungskampf verwickelt. Gegenüber den Weltgeistlichen mussten sie die Berechtigung ihrer Hochschullehrerstellen verteidigen. Gegenüber den Franziskanern mussten sie die Berechtigung ihres Aristotelismus verteidigen, und die heterodoxen Aristoteliker der Artisten-Fakultät mussten sie bekämpffen, um nicht zusammen mit ihnen der Heterodoxie bezichtigt zu werden. In dieser dramatischen Situation beschloss die Ordensleitung, Thomas von Aquin, der zu dieser Zeit an der päpstlichen Kurie in Orvieto lehrte, zu einem damals völlig unüblichen zweiten Aufenthalt auf einen Lehrstuhl der Theologischen Fakultät zu schicken. So lehrte Thomas vom Beginn des Studienjahres 1268/69–1272 in Paris. In die intellektuellen Kämpfe griff die kirchliche Hierarchie ein. Am 10. Dezember 1270 verurteilte der Bischof von Paris, Étienne Tempier, unter 13 philosophischen Thesen auch den Satz, „daß es nur einen Intellekt aller Menschen gibt und daß nicht eigentlich der Einzelmensch erkennt“8. In dieser Situation schrieb und veröffentlichte 1270 Thomas von Aquin in Paris die Kampfschrift De unitate intellectus 9 und gab damit gleichzeitig der in den Augen der Rechtgläubigen bedrohlichen Bewegung den Namen: Averroismus. Die scholastische Methode Zunächst einige allgemeine Bemerkungen zur Methode dessen, was wir heute Scholastik nennen. Man kann es kurz formulieren: Scholastiker versuchen, Sachprobleme durch die Diskussion von Autoritäten zu lösen. Darin steckt dreierlei: erstens das Problem, zweitens die Auseinandersetzung mit Autoritäten, und drittens die Lösung des Problems. Erstens das Problem, der Ausgang von einer Sachfrage, der quaestio. In
9 Thomas von Aquin, Über die Einheit des Geistes gegen die Averroisten – De unitate intellectus contra Averroistas, Übers., Einf. u. Erl. v. Wolf-Ulrich Klünker, Stuttgart 1987. Im Folgenden zitiert durch Kapitelangabe c. 10Thomas von Aquin: Compendium Theologiae. Grundriß der Glaubenslehre,
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unserem Fall lautet sie: „Utrum intellectus possibilis sit unus in omnibus?“ (Ist der mögliche Verstand nur einer in allen Menschen?) Zweitens erfolgt die Diskussion anhand von Autoritäten, d. h. ihrer Schriften. Autoritäten waren der Scholastik die griechischen Philosophen, besonders Aristoteles und seine arabischen Kommentatoren, und die Kirchenväter, besonders Augustinus. In der Diskussion der Autoritäten anhand der aufgeworfenen Frage wird in der Regel sehr korrekt die Geschichte des Problems referiert. Die Frage der Einheit des Geistes wird von Thomas diskutiert anhand von Texten des Aristoteles, Themistios, Alexander von Aphrodisias, Avicenna, Algazel und Averroes. Dabei war seit Albertus Magnus klar, dass es für die Behandlung theologischer und philosophischer Fragen verschiedene Korpora der zu diskutierenden Autoritäten gab. Bei der Behandlung einer philosophischen Frage durfte nicht mit einer Glaubensautorität argumentiert werden. Drittens, und das wird bei der Beurteilung der Scholastik oft übersehen, die quaestio wird zwar diskutiert anhand von Autoritäten, die Beantwortung der Frage, ihre determinatio, darf aber nicht mit Autoritäten erfolgen, sondern nur mit Gründen (rationes). Thomas hat dies ausdrücklich vertreten. De unitate intellectus Der Traktat Über die Einheit des Geistes ist gegliedert in ein Vorwort und fünf Kapitel. Im Vorwort wird kurz das Thema umrissen, nämlich die Widerlegung der averroistischen Ansicht, dass nicht nur die tätige Vernunft, sondern sogar die mögliche Vernunft nur eine einheitliche in allen Menschen sei, und dass diese Widerlegung philosophisch und nicht theologisch erfolgen soll. Hier sind nun kurz diese beiden Begriffe zu erläutern, deren Kenntnis von Thomas vorausgesetzt wird. In seinem Kompendium m der Theologie gibt er kurz die Funktionsweise dieser Seelenkräfte an: „Es ist die Tätigkeit des möglichen Geistes, intellectus possibilis, die Denkinhalte aufzunehmen und sie zu denken; die Tätigkeit des tätigen Geistes, intellectus agens, die Denkinhalte durch Abstraktion (von lateinisch–deutsch, hg. v. Rudolf Tannhof, übers. v. Hans Louis Fäh, Heidelberg 1963, c. 86. 11Aristoteles, Über die Seele, übers. v. Willy Theiler, Berlin 1994, 413b27.
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den durch die Sinnesorgane gelieferten Vorstellungsbildern, phantasmata) zu wirklich gedachten zu machen.“10 Da in dieser Terminologie intellectus possibilis der Ort menschlichen Denkens und damit menschlicher Verantwortung ist, konzentriert sich Thomas in seinem Traktat auf den Nachweis, dass der intellectus possibilis individuiert ist, jedem Menschen einzeln zukommt. Der ontologische Status des intellectus agens bleibt dahingestellt. Die fünf Kapitel des Traktats tragen die Überschriften: I. Die Lehre des Aristoteles von der Einheit des möglichen Geistes, II. Das Verhältnis des möglichen Geistes zum Menschen nach anderen Peripatetikern, III. Argumente zum Erweis der Einheit des möglichen Geistes, IV. Widerlegung von der Lehre von dem einen Geist in allen Menschen, V. Widerlegung der Argumente gegen die Vielheit des möglichen Geistes. Die Rekonstruktion des reinen Aristoteles gegen die Averroisten Das erste Kapitel versucht nachzuweisen, dass die Averroisten Aristoteles falsch interpretieren. Der Streitpunkt war die Einheit der Seele des Menschen. Aristoteles hatte gelehrt, dass die Seele die Grundkraft ist, die dem Stoff Leben gibt, und er unterschied drei Seelenkräfte oder Seelengattungen, nämlich die zeugende oder ernährende Kraft – lateinisch die anima vegetativa, kurz die Lebensseele – dann die bewegende oder wahrnehmende Kraft – anima sensitiva oder Sinnenseele – und die Vernunft, anima intellectiva oder Geistseele. Die Lebensseele kommt den Pflanzen zu, die Tiere sind beseelt durch die Sinnenseele, und in dieser ist die Lebensseele untrennbar enthalten. Von der Vernunft- oder Geistseele aber hatte Aristoteles gelehrt, dass sie von den beiden anderen Seelenkräften „abgetrennt werden kann wie das Ewige vom Vergänglichen“.11 Diese Trennung wurde der Topos für endlose Streitigkeiten im lateinischen Mittelalter. „Abgetrennt“ kann einmal die Trennung der Seele vom Körper nach dem Tode bedeuten, was voraussetzt, dass sie ohne den Körper subsistieren kann, sie selbstständige Substanz ist. Die Ansicht des Augustinus, auf den man sich sonst berief, war in diesem Punkt sehr undeutlich. Gemeint sein kann aber auch die Trennung der einzelnen Seelenkräfte in getrennt existierende Wesen. Die Lehre von 12Zitiert nach Thomas von Aquin, Über die Einheit des Geistes gegen die Aver-
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der Formenpluralität im Menschen – also die reale Aufteilung der menschlichen Seele in die Lebens-, Sinnen- und Geistseele – hatten vertreten Alfarabius, Avicenna und der jüdische Philosoph Avicebron (Salomo ibn Gabirol), und sie wurde vor Thomas wohl auch von der Mehrzahl der lateinischen Autoren geteilt. Was uns als metaphysische oder anthropologische Spitzfindigkeit erscheint, war damals von existentieller Bedeutung, denn von der Beantwortung der philosophischen Frage hing die Beantwortung theologischer Fragen ab, wie z. B., ob Christus im Grab Mensch geblieben sei. Es ist klar, dass die Lehre, es gäbe nur eine V Vernunftseele, und diese eine Seele denke in allen Menschen, die Lehre von der Trennung der Seelenkräfte voraussetzte. Thomas hatte demgegenüber im Anschluss an den so genannten Hylomorphismus des Aristoteles von Anfang an die Lehre vertreten, dass es im Menschen nur eine Seele gibt, die die vegetativen, sensitiven und intellektuellen Kräfte vereinigt, und dass diese Seele die Form des Körpers im aristotelischen Sinne ist. Der Geist, die Vernunft, ist nach Aristoteles zwar als Form vom Körper getrennt, nicht aber von den niederen Seelenkräften. Im ersten Kapitel seines Traktats legt Thomas dar, dass allein diese Interpretation des Aristoteles die richtige ist. Ihm kam dabei zugute, dass er erstmals in Paris die kurz zuvor von seinem Ordensbruder Wilhelm von Moerbeke aus dem Griechischen übersetzte lateinische Fassung von De anima des Aristoteles benutzen konnte. Man kann sich vorstellen, welche Ungenauigkeiten der alten Übersetzung nach der arabischen Textfassung anhafteten. Das, was Aristoteles „Geist der Seele“ nennt, dasjenige, womit nach der Definition des Aristoteles die Seele urteilt und denkt, nennt Thomas, auf die alte, aus dem Arabischen stammende Terminologie zurückgreifend, intellectus possibilis. Der intellectus possibilis ist eine Fähigkeit der einen Seele im Menschen, nicht eine eigene Substanz. Wenn Aristoteles diesen Teil der Seele leidensunfähig nennt, so bedeutet das, dass zwar das jeweils mit einem körperlichen Organ verbundene Wahrnehmungsvermögen durch übermächtige Sinnesgegenstände gestört werden kann – das Auge etwa durch zu starkes Licht –, nicht aber die Geistseele, die durch immer mehr Denken immer vollkommener wird, indem
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sie erkennend immer neue Wesensformen der Dinge in sich aufnimmt. So muss nach Aristoteles der Seelenteil, mit dem die Seele denkt, leidensunfähig sein, aber fähig, die Form des Erkannten aufzunehmen (De anima, 429a15). Soweit die Interpretation Thomas’, anhand derer er die einzelnen Einwände der Averroisten widerlegt. Er schließt dieses erste und umfangreichste Kapitel seines Traktats mit den Worten: „Nachdem nahezu alle Ausführungen des Aristoteles über den menschlichen Geist gewissenhaft untersucht wurden, ergibt sich also, dass seine Lehre von diesem Geist lautet: ,Die menschliche Seele ist die Wirklichkeit des Leibes und der mögliche Geist ist ein Teil von ihr oder ihr Vermögen.‘“ (c.206) Damit hatte er den Averroisten ihre Argumentationsbasis entzogen, denn sie wollten Aristoteliker sein, und er hatte den Franziskanern die Angriffsfläche entzogen, indem er Aristoteles in diesem Punkt als mit der christlichen Lehre vereinbar erwiesen hatte. Die aristotelische Überlieferung und ihr Versanden im arabischen Mittelalter Im zweiten Kapitel seines Traktats behandelt Thomas die Frage des möglichen Geistes zuerst bei den Peripatetikern Alexander von Aphrodisias (um 200 n. Chr.) und Themistios (330–390 n. Chr). Themistios hatte in die aristotelische Seelenlehre das Ich eingeführt, das begrifflich sowohl vom möglichen wie vom tätigen Geist unterschieden werden muss, vielmehr im Zusammenwirken beider besteht: „Das Ich ist aus Möglichkeit und Wirklichkeit zusammengesetzt.“12 Dieser Punkt ist für Thomas so wichtig, dass er lange Passagen aus Themistios zitiert. Das menschliche Ich ist das Höchste in der Stufenfolge der Schöpfung von unbelebter Natur, Lebensseele, Sinnenseele und Geistseele – und so zitiert Thomas: „Und die bis zu diesem Punkt – des Ichs – entwickelte Natur hielt nun inne, als hätte sie nichts anderes und Ehrenvolleres, für
roisten – De unitate intellectus contra Averroistas, Übers., Einf. u. Erl. v. WolfUlrich Klünker, Stuttgart 1987, c. 207. 13Ebd., c. 208. 14Klünker, Wolf-Ulrich, Sandkühler, Bruno (Hg.), Menschliche Seele und kosmi-
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das sie sich zur Grundlage machen könnte. Wir sind deshalb tätiger Geist.“13 Dann wendet sich Thomas dem arabischen Philosophen Avicenna (980–1032 n. Chr.) und dem größten islamischen Theologen des Mittelalters zu, al-az¯¯al¯¯ı, den Lateinern unter dem Namen Algazel bekannt (1059–1111 n. Chr.). Algazel hatte in einem ähnlichen Dreifrontenkrieg gestanden wie später Thomas: gegen eine innerislamische terroristische Bewegung, die Batin¯¯ıya, gegen die die islamische Ordnung in Frage stellende persische und höfische Libertinage und gegen die islamische Dogmen unterminierende aristotelisch-neuplatonische Philosophie. Gegen letztere hatte er zwei wichtige Werke geschrieben, die in Europa wirksam wurden. Das eine ist der Munqid min ad-dal¯ lal (Der Erretter aus dem l¯ Irrtum). Die verblüffende Ähnlichkeit mit dem methodischen Aufbau der Meditationen des Descartes und der philosophischen Bedeutung des methodischen Zweifels und der Evidenz hat immer wieder zu der Frage geführt, ob Descartes, in dessen Umgebung eine lateinische Übersetzung des Erretter greifbar war, diesen gekannt hat. Das zweite, noch berühmtere Werk, das unmittelbar mit unserer Thematik in Beziehung steht, war Tah¯ a¯fut al-Fal¯ lasifa (Widerlegung der Philosophie), das seine l¯ große Widerlegung durch Averroes im Tah¯ a¯fut at-Tah¯afut ¯ (Die Widerlegung der Widerlegung der Philosophie; lat.: Destructio destructionis) erfahren hat. Die Nichtbeachtung dieses Werkes im arabischen Kulturkreis hat die griechische Rationalität dort bis ins 19. Jahrhundert zur Wirkungslosigkeit verurteilt, während die Kämpfe von Albertus Magnus und Thomas von Aquin um den Nachweis der Vereinbarkeit Aristoteles’ mit der christlichen Lehre der von der Theologie unabhängigen Philosophie irreversibel ihren Platz im europäischen Denken erkämpft haben. Die Seele als Form des Körpers Zurück zum Traktat des Thomas. Hatte er in den beiden ersten Kapiteln sozusagen den echten Aristoteles rekonstruiert, werden jetzt die Sachfragen diskutiert, bei deren Verhandlung Aristoteles nur Hilfestellung gibt, wobei natürlich das aristotelische Begriffsgerüst die gesamte
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Argumentation trägt. Diskutiert wird die ontologische Struktur der menschlichen Seele. Thomas geht ganz aristotelisch von der Erfahrung aus: Der einzelne Mensch kann feststellen, dass er denkt. „Wir würden niemals nach dem Geist fragen, wenn wir nicht denken würden. Auch fragen wir nicht nach einem anderen Prinzip, als nach dem, durch das wir denken.“ (c.216) Und dieses Prinzip nennt Thomas nach der Definition des Aristoteles die Seele. Thomas vertrat die Ansicht, die Seele sei mit dem menschlichen Körper ontologisch als dessen Form verbunden. Averroes, so referiert Thomas, konstruiert die Verbindung des getrennt existierenden intellectus possibilis mit dem Einzelmenschen anders. Im Erkenntnisakt besitze die Erkenntnisform – also bei der Erkenntnis dieses Lebewesens als Pferd die Pferdheit – zwei Träger: einmal den getrennt existierenden intellectus possibilis, der die Pferdheit denkt, und den einzelnen Menschen, der durch sein Wahrnehmungsvermögen in seinem Vorstellungsbild mittels der vom intellectus possibilis gedachten Pferdheit das sinnlich Gesehene als Pferd sieht. Gegen diese Konstruktion bringt Thomas drei Einwände. Erstens sei diese Verbindung immer nur gelegentlich und zufällig: „Der Geist würde nicht bei der Zeugung des Menschen mit dem Menschen verbunden, sondern erst bei dem Vorgang der sinnlichen Wahrnehmung, sensus, wenn der Mensch in Wirklichkeit, actus, sinnlich wahrnimmt.“ (c.218) Zweitens kann die Verbindung zwischen dem Einzelmenschen und dem intellectus possibilis nicht durch die Erkenntnisform hergestellt werden, denn sie ist in beiden in einem unterschiedlichen ontologischen Status: Im sinnlich aufgenommenen Vorstellungsbild des gesehenen Pferdes ist sie in der Möglichkeit, im inV tellectus possibilis ist sie in der Wirklichkeit. Und drittens reicht die Verbindung, den unterschiedlichen ontologischen Status einmal dahingestellt, nicht aus, um zu sagen, der einzelne Mensch denke. Diesen Einwänden entgegnen einige Averroisten mit einer anderen Konstruktion: Der eine intellectus possibilis ist mit den vielen Menschen so verbunden wie der Beweger mit dem Körper. „Auf diese Weise sei der Geist Teil jedes einzelnen Menschen, insofern aus Körper und Geist eines werde wie aus Bewegendem und Bewegtem.“ (c.221) Gegenüber dieser Konstruktion stellt Thomas mit Aristoteles die philosophisch grundlegende Frage: „Was ist es, was den einzelnen Menschen zu Einem
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macht?“ (c.222) Wieder kommt Thomas auf den Punkt zurück: Kann man sagen, dass Sokrates denkt, wenn der ihm äußerliche intellectus possibilis ihn bewegt? „Denn allein in dem Ganzen, das ein Eines und Seiendes ist, ist das Tätigsein eines Teils das Tätigsein des Ganzen.“ (c.223) Was den Menschen vom Tier und dessen anima sensitiva unterscheidet, W ist das Denken. Denken, und daraus folgend das vom Denken gesteuerte Wollen, kann dem Einzelmenschen nur zugeordnet werden, wenn es durch eine Kraft erfolgt, die Teil des einzelnen Menschen ist. „Das ist nur möglich, wenn der Geist – und damit auch der Wille – ein Vermögen der Seele ist, die als Form mit uns vereinigt ist. Das bleibt also ohne Zweifel aufrechtzuerhalten, nicht aufgrund einer Glaubensoffenbarung, wie die Averroisten meinen, sondern weil es zu verleugnen heißt, sich gegen klar und eindeutig auf der Hand Liegendes zu stemmen.“ (c.232) Im lateinischen Mittelalter gab es einen Streit um die Priorität von Erkenntnis und Wille: Wird etwas als Gut erstrebt, weil es als gut erkannt ist, oder ist etwas gut, weil es als Gut gewollt ist? Die Anhänger der Priorität des Willens, wie Wilhelm von Ockham, nennt man Voluntaristen, die Anhänger der Priorität des Erkenntnis Intellektualisten. Thomas war Intellektualist, und so bedrohte für ihn die Auslagerung der erkennenden Instanz aus dem Einzelmenschen in den allen Menschen gemeinsamen intellectus possibilis die moralische Verantwortung des Menschen. Er schreibt: „Wenn es nur einen Geist gibt, folgt somit notwendig, dass Einer denkt, folglich Einer will. […] Daraus würde weiter folgen, dass im Hinblick auf die freie Willensentscheidung, pro volunttatis arbitrio, kein Unterschied zwischen den Menschen bestehe, sondern alle dieselbe Wahl treffen, wenn der Geist, bei dem allein die Führerwürde und die Herrschaft [über die anderen Seelenkräfte] besteht, Einer und ungeschieden in allen ist. Das ist offensichtlich falsch und nicht möglich, denn es widerspricht den Tatsachen und zerstört die Sittenlehre und alle bürgerlichen Umgangsformen, die möglicherweise zum Menschen gehören, wie Aristoteles sagt.“ (c.239) Ist so die Frage beantwortet und die aristotelisch-thomistische Lehre von der Seele als der Form jedes einzelnen Menschen wieder erwiesen, geht Thomas sehr genau in den beiden letzten Kapiteln die Argumente
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durch, die für die Lehre von dem einen Geist und gegen die Lehre von der Vielheit der Geistseelen in den Menschen sprechen. Die thomistische Lehre von der menschlichen Seele ist verbunden mit der Lehre von der menschlichen Erkenntnis. Und so lässt sich das Ergebnis des Traktats kurz so zusammenfassen: Das Wesen der Dinge oder ihre Natur ist in den Dingen wirklich. Aber sie sind in Möglichkeit, gedacht zu werden. Die Sinnenseele liefert von den Dingen mittels der Sinnesorgane die Vorstellungsbilder. Der tätige Verstand, intellectus agens, als Kraft der Geistseele, anima intellectiva, abstrahiert aus den Vorstellungsbildern die Wesensformen der Dinge, die der mögliche Verstand, intellectus possibilis, aufnimmt und denkt. Der ontologische Grund der Objektivität der Erkenntnis liegt darin, dass jeder Mensch die Natur oder das Wesen der Dinge denkt, und daher denken alle Menschen dasselbe, wenn sich ihr Denken auf denselben Gegenstand richtet. Da die Wesensformen ihren ontologischen Sitz aber im möglichen Verstand jeweils des einzelnen Denkenden haben, ist das Denken auch individuell.14 Die Lehre von der doppelten Wahrheit Was war die Stellung von De unitate intellectus im Rahmen der zeitgenössischen und der fortwirkenden Diskussion? Ein Problem, das in Europa Furore gemacht hat, behandelt Thomas zum Schluss des Traktats. Zweierlei ist klar: Erstens gab es unter den Magistern der Artisten-Fakultät niemanden, der sich offen als Nichtchrist bezeichnet hat oder auch nur hätte bezeichnen können. Zweitens war die Lehre von der Einheit des Geistes mit der Konsequenz des Todes der individuellen Seele im Tod des Menschen weder mit der Offenbarung des Korans noch der des Christentums vereinbar. Und so zitiert Thomas am Ende des Traktats einen namentlich ungenannten, averroistisch argumentierenden Zeitgenossen mit den Worten: „Durch die V Vernunft, per rationem, ziehe ich die notwendige Schlussfolgerung, dass der Geist, intellectus, notwendig Einer ist, dennoch halte ich durch den scher Geist. Siger von Brabant in der Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin, Stuttgart 1988, S. 34f. 15Dazu die Literatur bei Flasch, Kurt, a. a. O., S. 294.
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Glauben das Gegenteil standhaft fest.“ (c.267) Demnach, so Thomas, vertritt er die Ansicht, der Glaube habe etwas zum Gegenstand, dessen Gegenteil mit Notwendigkeit nachgewiesen werden kann. Der Topos von der doppelten Wahrheit war in der lateinischen Welt. Der Einbruch griechischer Philosophie und Rationalität in die Denkund Glaubenswelt zuerst des Islams seit dem 10. und dann in jene des lateinischen Christentums seit dem 11. Jahrhundert führte zu erbitterten intellektuellen Auseinandersetzungen. Im islamischen Kulturkreis erlosch mit dem Triumph Algazels zu Beginn des 12. Jahrhunderts die Rationalität, und eine von der Glaubenslehre unabhängige Philosophie konnte sich nicht mehr entwickeln. Im lateinischen Europa fochten Albertus Magnus und Thomas von Aquin den Kampf durch. In diesen Umkreis gehört das als Kampfschrift zu verstehende Traktat De unitate intellectus. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen entstand die Denkfigur der doppelten Wahrheit. Sie ist ein Ausweichen angesichts der Probleme, die sich aus dem Nicht-Ernstnehmen der von Albertus Magnus angedachten methodischen Trennung von Philosophie und Theologie ergeben. Sie taucht im lateinischen Mittelalter bei Thomas von Aquin zum ersten Mal auf. Interessant ist, dass es vor Thomas im lateinischen Mittelalter keinen Text gibt, der diese Lehre vertritt. Weder Siger von Brabant und Boethius von Dacien haben in ihren uns zugänglichen Texten diese Lehre vertreten,15 noch ist Averroes ihr geistiger Urheber.16 T Aber es gibt Hinweise darauf, dass sie in Paris vertreten wurde. Bischof Étienne Tempier führte sie als duae contrariae veritates im Vorwort der ,großen‘ Verurteilung von 1277 als verderbliche Ansicht an und verurteilte sie als These Nr. 184: „Eine Schöpfung ist nicht möglich, obwohl der Glaube das Gegenteil für wahr halten soll.“17 Sind auch keine Texte überliefert, so ist doch wahrscheinlich, dass solche von der Orthodoxie abweichende Ansichten außerhalb der Uni16Dazu Niewöhner, Friedrich, „Zum Ursprung der Lehre von der doppelten Wahrheit: Eine Koran-Interpretation von Averroes“, in: Averroismus v im Mittelalter und in der Renaissance, hg. v. Fiedrich Niewöhner u. Loris Sturlese, Zürich 1994. 17Flasch, Kurt, a. a. O., S. 235. 18Mit dem Erstarken naturphilosophischer Forschungen in der Renaissance
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versitätsveranstaltungen in Konventikeln diskutiert wurden, und sei es als intellektuelle Spielerei. Jedenfalls erwähnt Thomas solche Konventikel, und im Jahr 1276 verbot die Artisten-Fakultät, in privaten Zirkeln zu lehren. Verbote lösen keine intellektuellen Probleme,18 und so zieht sich hinfort die Diskussion über die doppelte Wahrheit durch das Spätmittelalter, die Renaissance und die frühe Neuzeit hin bis zu Kants Antinomien im Streit der Philosophischen Fakultät mit der Theologischen. Im 14. Jahrhundert vertrat Johannes Buridan – uns meist bekannt durch den Esel, der zwischen zwei gleich großen Heuhaufen wegen fehlender unterschiedlicher Antriebskräfte verhungert – an der Universität Paris im Anschluss an Alexander von Aphrodisias die Lehre der Sterblichkeit der Einzelseele. Er schreibt: „Unter Ausschluß des Glaubens, circumscripta fide, würde die menschliche Vernunft, die ratio r , dasselbe lehren, was Alexander (von Aphrodisias) annahm, daß die menschliche Seele aus der Materie durch natürliche Zeugung entstanden und deshalb vergänglich sei, wie wir es von der Seele eines Hundes oder eines Pferdes sagen würden.“ Buridans Seelenlehre wurde im Spätmittelalter fast herrschende Lehre. Die durch Albertus Magnus begründete Emanzipation der Philosophie wirkte sich aus. Aber erst kam die Reaktion. Wenn Herrschende Angst haben, wird es für Denkende gefährlich. Es W kam die Inquisition. Giordano Bruno und Galileo Galilei lehrten nach Buridan. Aber die anhand von Aristoteles, der inzwischen altmodisch geworden war, vollzogene Emanzipation der Philosophie von der christund der Behauptung methodischer Eigenständigkeit der entstehenden Naturwissenschaften wurde die Lehre der doppelten Wahrheit am 19. Dezember 1513 von der 5. Lateransynode kirchlich erneut verurteilt.
lichen Theologie ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Sie bestimmte hinfort Denken und Leben in Europa. Was wird im Islam geschehen?
René Descartes: Meditationen
ute gahlings
Mit Descartes lassen wir nicht nur das Mittelalter und den von Thomas von Aquin zur offiziellen Doktrin erhobenen Aristotelismus hinter uns, sondern auch jene Epoche des Übergangs, die Renaissance, in der u. a. durch Nikolaus von Kues und Marsilio Ficino der Platonismus wieder geltend gemacht wurde und in der sich ein Wechsel des Weltbildes andeutete, für das vor allem die empirische Naturforschung von Bedeutung war.1 Descartes lebte in einer Zeit der Kriege und innereuropäischen Umwälzungen. Während die breite Masse einem harten Überlebenskampf ausgesetzt war und sich vom Analphabetismus zu befreien begann, zeichnete sich in der intellektuellen Elite eine Neuformierung der Wissenschaft ab, die nach der Mündigkeitserklärung der Vernunft in der Renaissance ihr Fundament in der Mathematik und ihrem auf Allgemeingültigkeit basierenden Erkenntnisideal sah. Mit Bacon hatte die Linie aufklärerischen Denkens begonnen. Während die vormoderne Philosophie von Scholastikern als Kommentar und Disputation der tradierten Texte betrieben wurde, findet man nun auch Denker, die in ihrer Muttersprache für eine größere Leserschaft schreiben, die keine historische Legitimation der Erkenntnis anerkennen und ihre Philosophie auf den Boden unumstößlicher Gewissheit stellen. Die Gewissheit soll bei Bacon durch die Erfahrung der Sinne, bei Descartes durch das Denken erlangt werden. Zwar kam es im 17. Jahrhundert zu einer Säkularisierung der Philosophie, der Gottesbegriff spielte aber bei vielen Denkern nach wie vor eine wichtige Rolle, und wenngleich es Spielraum für ein unabhängigeres Philosophieren gab, herrschte doch eine strenge Gedankenkontrolle durch die konfessionelle Obrigkeit, die mit Häresievorwürfen keines1 V Vgl. hierzu: Holz, Hans Heinz, Säkulare Vernunft: Philosophie und Wissenschaft am Anfang der Neuzeit, Köln 2003.
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wegs zimperlich war. So wurde noch im Jahr 1600 Giordano Bruno in Rom verbrannt und Galilei kam 1633 nur mit dem Leben davon, weil er seinen Thesen abschwor. Diese Situation hatte großen Einfluss auf das Emigrations- und Publikationsverhalten von Descartes: Er lebte viele Jahre in den protestantischen Niederlanden und verzichtete auf die Veröffentlichung wichtiger Werke. Der 1637 zunächst anonym veröffentlichte Discours de la Méthode (Bericht über die Methode) vereint gleich drei Aspekte der neuen Ära des Philosophierens: Er ist als Autobiographie stilistisch relativ frei gehalten, er ist in der Muttersprache des Philosophen verfasst und er dokumentiert die Abkehr von der Scholastik hin zu einem Wissenschaftsverständnis, das mit klarer und deutlicher Erkenntnis dem Vorurteil und den Wahrscheinlichkeiten den Kampf ansagte und sich auf nichts weiter berief als darauf, dass nichts älter sei als die Wahrheit und „der gesunde Verstand“ „die am besten verteilte Sache der Welt“.2 Als kurze Einleitung zu drei naturwissenschaftlichen Abhandlungen verdeutlicht der Text die enge Verknüpfung naturwissenschaftlicher und philosophischer Fragestellungen – eine Verbindung, die bis heute zentral, aber auch nicht unumstritten ist. Als Folie zu den Meditationen will der Discours darüber aufklären, „wie die Vernunft richtig zu führen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu erforschen“ ist. Sein Autor hatte exzellente Bildungsanstalten besucht, die besten Bücher gelesen, war im Kriegsdienst gewesen, hatte im „Buch der Welt“ studiert und war dennoch mit der Feststellung eines zweifelhaften Wissens zurückgeblieben. Sein zentrales Anliegen war ebenso bescheiden wie kühn, ein Versuch, die „eigenen Gedanken zu refformieren und sie auf einen Boden zu bauen, der ganz zu mir gehört“.3 Auf der Suche nach Erkenntnis durch sich selbst bedient Descartes sich der methodischen Vorgaben aus Logik, geometrischer Analysis und Algebra. Von ihrer auf Minimalvorschriften reduzierten Anwendung erwartet er aber nichts weniger als die Entwirrung der wichtigsten Fragen der Wissenschaften. Da Descartes in der Philosophie „noch keine sicheren“4 Grundlagen findet, sucht er nach unumstößlicher Gewissheit im 2 Descartes, René, Discours de la Méthode. Bericht über die Methode, Stuttgart 2001, S. 9. 3 Ebd., S. 33. 4 Ebd., S. 45.
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Erkennen, und zwar durch die Methode, all das zu bezweifeln, was nicht klar und deutlich erfasst wird. Die Ermittlung einer gänzlich unbezweifelbaren Überzeugung erffolgt über den Nachweis von Irrtümern und Täuschungen. Im Verwerffen des Zweifelhaften bemerkt Descartes aber, dass eines auch im Zweiffeln notwendig unzweifelhaft bleibt, nämlich: dass ich irgendetwas sei. Der wohl am häufigsten zitierte philosophische Satz überhaupt „Ich denke, also bin ich“5 („Je pense, donc je suis“, „Cogito, ergo sum“) ist das erste Prinzip seiner Philosophie und taucht in dieser wörtlichen Wendung nur im Discours auf. Diese Wahrheit sei durch nichts zu erschüttern und gelte zugleich als allgemeines Wahrheitskriterium, denn alles, was auf ähnliche Weise klar und deutlich erfasst werde, sei notwendig wahr. In der Erforschung der Wahrheit ist Descartes aber nicht nur Philosoph, sondern auch Naturwissenschaftler, der in seiner Begeisterung für die empirische Forschung den Lesern z. B. ohne Scheu nahe legt, „das Herz irgendeines großen, durch Lungen atmenden Tieres vor sich“6 aufzuschneiden, um seine Ausführungen über die Herz- und Arterienbewegungen besser zu verstehen. Für die wissenschaftliche Forschung nimmt Descartes eine ethische Direktive in Anspruch. Im Gegensatz zur Schulphilosophie, die er als spekulativ bezeichnet, soll seine Philosophie der Verbesserung der Lebensbedingungen dienen – ein Arbeitsprogramm, zu dem er „die guten Köpfe“ einlädt. Grundgedanken der Meditationen Was im Discours in lockerem Zusammenhang stand, wird in den 1641 W publizierten Meditationes de Prima Philosophia (Meditationen über die Erste Philosophie) systematisch durchkomponiert. Das in lateinischer Sprache verfasste Werk richtet sich an die Theologen der Sorbonne und ist der Versuch, eine gemeinsame Sprache für die Schulphilosophie und Descartes eigene Lehre zu finden – nicht umsonst erinnert der Titel an Aristoteles. Die Meditationen sind Descartes’ metaphysisches Hauptwerk, ein Werk über die Erste Philosophie, unter der er die Wissenschaft von Gott und der menschlichen Seele versteht. Im Gesamtwerk hat die 5 Ebd., S. 65. 6 Ebd., S. 89.
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Prima Philosophia den Charakter einer Fundamentaldisziplin und ist als „Lehre von den Prinzipien der Naturwissenschaften bzw. der Naturphilosophie“ zu verstehen.7 Das Titelstichwort „Meditationen“ interpretiert Karl Albert dahingehend, dass die Meditationen nicht „bloß rationale Vorgänge“8 sind, sondern philosophische Exerzitien mit dem Ziel einer Umkehr. Descartes beschreibt sein Meditieren deutlich: Zurückgezogenheit vom Alltag, Einsamkeit, Besinnung, stufenweises Fortschreiten und Verweilen, das an sechs Tagen, den sechs Meditationen, praktiziert wird und neben strenger Gedankenführung in der zu schulenden Gewohnheit bestehen soll, den „Geist von den Sinnen abzuziehen“.9 Die im Discours eingeführte und den Meditationen zugrunde liegende Praxis des Zweifels ist keine rein intellektuelle, sondern auch eine existentielle, bis hin zum Zweifel des Glaubens. Das deutsche Wort ‚Zweifel‘ hängt mit dem Wort ‚Zwei‘ zusammen (lat. dubitatio geht ebenfalls auf das entsprechende Grundwort duo zurück). Dazu bemerkt Albert: „Wenn wir zweifeln, so treten wir aus der einfachen Hinnahme des Gegebenen heraus. Im Zweiffel des Verstandes schwanken wir zwischen den beiden Möglichkeiten ‚wahr‘ und ‚falsch‘.“ In der Zweifel-Meditation „treten die Inhalte und Akte des Bewußtseins einerseits sowie das Bewußtsein in seinem Sichselber-Wissen in eine Zweiheit auseinander“. Der methodische Zweifel bezieht sich auf die Inhalte und Akte des Bewusstseins, „das Sich-selbstWissen des Bewußtseins aber kann nicht bezweifelt werden“; auch wenn ich zweifle, bin ich.10 Streng der vorgegebenen Methode zu folgen, ohne alten Denkgewohnheiten zu verfallen, ist schwer: Der Zweifel an allem, was nicht klar und deutlich im „natürlichen Licht“ der Vernunft erkannt wird, rührt auf, erschüttert. Der Zweifelnde gerät in Verzweiflung: „Mir ist, als wäre ich unversehens in einen tiefen Strudel geraten und würde so herum7 Röd, Wolfgang, Descartes’ Erste Philosophie, Bonn 1971, S. 2. 8 Albert, Karl, Betrachtungen zur Geschichte der Philosophie III. Descartes und die Philosophie der Neuzeit, Dettelbach 2000, S. 31. 9 Descartes, René, Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie, Stuttgart 2001, S. 139. Alle in Klammern angeführten Seitenzahlen beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe. 10Albert, a. a. O., S. 36f.
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gewirbelt, daß ich auf dem Grund nicht Fuß fassen, aber auch nicht zur Oberfläche emporschwimmen kann.“ (77) Diese Erfahrung ist nicht von Dauer, ihre Erschütterung aber nachhaltig. Die Wende tritt ein, als Descartes aus dem Abgrund des Zweifelnden heraus die Existenz Gottes erkennt und bei der Betrachtung Gottes verweilt: „Ich will seine Eigenschaften bei mir erwägen und die Schönheit dieses unermeßlichen Lichtes, soweit mein geblendetes geistiges Auge es zu ertragen vermag, anschauen, bewundern, anbeten.“ (135f.) Damit wird „das Ziel eines rationalen Gottesbeweises weit überschritten und geradezu in die Nähe mystischer Gotteserfahrung gerückt“.11 Die Meditationen sind also von existentieller Dramatik beherrscht. Als Exerzitien weichen sie aber schon insofern von Anleitungsbüchern wie dem des Jesuitenpaters Ignatius von Loyola ab, als sie strikt subjektiv bleiben. Damit rücken sie in die Nähe der Selbsterforschungen eines Augustinus, bei dem sich bereits der Aspekt der Selbstvergewisserung findet. In den Meditationen, die in Ich-Rede verfasst sind, findet sich wenig literarische Redseligkeit, vielmehr eine systematische Argumentationspraxis. Die erste Meditation „Woran man zweifeln kann“ enthält nicht viel mehr, als was wir bereits aus dem Discours wissen; es geht um den Nachweis der Täuschungen, die sich auf die Sinnesdaten, das Wach- bzw. Traumbewusstsein, schließlich auf jene Wissenschaften beziehen, die „von der Betrachtung der zusammengesetzten Körper abhängen“ (69). Der Zweifel dieser Art wird in der zweiten Meditation „Über die Natur des menschlichen Geistes; daß er der Erkenntnis näher steht als der Körper“ verschärft: Descartes geht die Prämisse durch, dass alles Zweiffelhafte nicht existiert, findet sich selbst aber als den auch im Zweifeln Existierenden vor: „Ego sum, ego existo; certum est.“ (82) „Ich bin, ich existiere, das ist sicher“, so lautet die Version jener Wahrheit, die im Discours „Je pense, donc je suis“ hieß. Wenn ich alles in Klammern setze, was von mir abgezogen werden kann, auch jenen „Komplex von Gliedern, den man den menschlichen Leib nennt“, die „Gliedermaschine“, bleibt das Denken übrig. Ich bin demnach „lediglich ein denkendes Ding, d. h. Geist bzw. Seele bzw. Verstand bzw. Vernunft“. Descartes hebt die Existenz des Ich als „seiendes Ding“ und das Was-Sein dieses Dings hervor: „Ich bin nun ein wirklich und wahrhaft seiendes Ding. Was denn für ein 11Ebd., S. 36.
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Ding? Ich sagte ja: ein denkendes“ (83), res cogitans. Aber er fragt zu Recht: „Ein denkendes Ding. Was ist das?“ und antwortet: „Ein Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will, das auch bildlich vorstellt und empfindet.“ (87) Das umfasst mehr als bloßes Denken; das cogitare ist in allen Akten und Zuständen des Ich enthalten. Es hat nun den Anschein, als ob gerade „jenes rätselhafte Meinige, das nicht bildhaft vorstellbar ist“ (89) weniger deutlich ist als alles, was von den Sinnen erkundet wird. Descartes gibt sich diesem „Abirren“ seines Geistes hin und eruiert im berühmten Beispiel vom zerfließenden Bienenwachs, was die Natur jener Körper ist, die sich vermeintlich deutlicher zeigen. Wenn ich alles abziehe, „was nicht zu dem Stück Wachs gehört“, bleibe „etwas Ausgedehntes, Biegsames, Veränderliches“ (91) übrig. Die Täuschung liege darin, dass ich meine, dort draußen etwas zu sehen, obwohl ich es in Wahrheit „nur durch das Urteilsvermögen“ erfasse, „welches meinem Geist innewohnt“ (95). Wenn ich urteile, „daß das Wachsstück existiert, weil ich es sehe, so folgt sicherlich noch viel klarer auch mein eigenes Dasein genau daraus, daß ich das Wachs sehe“ (95). Deutlicher als das Gesehene ist also das Sein des Sehenden. Die dritte Meditation „Über das Dasein Gottes“ befasst sich mit der Frage nach der Relation zwischen den Vorstellungen und ihrem Objektivitätsgehalt. Was an den Dingen klar und deutlich erfasst wird, bezieht sich auf Größe und Ausdehnung, Gestalt und Lage, Bewegung, schließlich „Substanz, Dauer und Zahl“ (117). Alles andere sei nur „verworren und dunkel im Bewußtsein“. Wenn ich mich selbst als denkendes Ding, res cogitans, und etwa den Stein als ausgedehntes Ding, res extensa, erfasse, so liegt darin zwar eine große Verschiedenheit, „in ihrer Substanzialität“ (119) besteht aber kein Unterschied. Einzelne Bestimmungen, „aus denen die Vorstellungen von Körpern sich zusammensetzen“, seien freilich in einem „denkenden Ding, nicht wirklich enthalten“, da sie aber „Zustandsweisen von Substanzen“ sind, „ich aber selbst eine Substanz bin, so könnten sie in mir in einer höheren Wirklichkeitsstufe enthalten sein“ (121) bzw. aus meinem Substanz-Sein abgeleitet werden. So bleibe allein die Vorstellung Gottes übrig, „bei der es sich fragt, ob ihr Sein aus mir hat hervorgehen können“. Hier kommt eine Art ‚dritte Substanz‘, nämlich Gott, ins Spiel, den Descartes ganz scho-
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lastisch als ens perfectissimum konzipiert: „[…] eine unendliche, unabhängige, allweise, allmächtige Substanz, von der Ich selbst und alles, was etwa noch außer mir existiert, geschaffen worden ist“. Descartes hebt nun mit seinem kausalen Gottesbeweis an: „[…] zwar habe ich eine Vorstellung von Substanz, weil ich selbst Substanz bin; dies kann jedoch nicht die Vorstellung von der unendlichen Substanz sein, da ich selbst endlich bin. Eine solche Vorstellung kann nur aus einer wahrhaft unendlichen Substanz hervorgehen“. Die ‚dritte Substanz‘ enthält „mehr Realität“ „als die endliche“ (121); die Vorstellung Gottes muss also der des Ich vorausgehen, ja sie ist sogar der Grund dafür, dass ich zweifeln kann, denn ich könnte nicht mit dem Ziel zweifeln, Gewissheit zu erlangen, wenn in mir nicht die „Vorstellung eines vollkommenen Seienden wäre“ (123). Der Gottesbeweis steht also in enger Verbindung zum methodischen Zweifel, der in seiner schärfsten Variante, als hyperbolischer Zweifel, auf die Hypothese gerichtet ist, dass Gott ein Betrüger-Gott ist, der uns so geschaffen hat, dass wir auch dann irren, wenn wir meinen, sicher zu urteilen. Mit dem Nachweis der Existenz Gottes ist der Zweifel an der objektiven Gültigkeit der in subjektiver Evidenz gefällten Urteile hinfällig und hat der Zweifel gesicherte Erkenntnis, auch hinsichtlich des ersten Prinzips, des „Ich bin“, hervorgebracht. Der Beweis beruht auf der Annahme, dass ich als endliches Wesen die Idee Gottes als unendliches Wesen nicht ursächlich hervorgebracht haben kann. Jenen Gott aber, W „den ich mir innerlich vorstelle, der also alle jene Vollkommenheit besitzt“, vermag ich „mit meinem Bewußtsein nicht zu erfassen, sondern nur irgendwie zu berühren“ (135). Damit wären wir bei jener Wende angelangt, die Descartes zur Schau Gottes führt. In der vierten Meditation „Über das Wahre und das Falsche“ sucht er nach Ursachen für die Irrtümer. In mir sei nicht nur die Vorstellung Gottes, sondern auch „eine negative Vorstellung“, „eine Vorstellung vom Nichts oder dessen, was sich von jeder Vollkommenheit am weitesten entfernt“: Ich selbst sei „ein Mittelding zwischen Gott und Nichts oder zwischen dem vollkommenen Sein und dem Nichtssein angesiedelt“ (141). Der Irrtum sei aber nicht „reine Negation, sondern die Privation, das Fehlen einer Erkenntnis, die irgendwie in mir stattfinden
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sollte“ (143). Bedingung der Täuschung sei das „Zusammenwirken zweier Ursachen“: das Erkenntnisvermögen und die Freiheit der Willkür. Doch für sich betrachtet könne der Verstand gar nicht irren, da ich durch ihn nur Vorstellungen fasse, „über die ich ein Urteil fällen kann“ (145). Auch über die Freiheit der Willkür könne man sich nicht beklagen, denn sie ist es, „die ich in mir als so groß erfahre, daß ich sie mir gar nicht größer vorstellen kann“ (147). Wenn aber weder das Erkenntnisvermögen noch der freie Wille für sich Ursache des Irrtums sein können, woraus entstehen dann Irrtümer? Offenbar daraus, „daß der Wille sich weiter erstreckt als mein Verstand und daß ich ihn nicht auf dessen Reichweite einschränke“ (151). Da er sich gegen das Unerkannte nicht indifferent verhielte, weiche der Mensch vom Wahren und Guten ab, irre und sündige. Es ist der falsche Gebrauch des Willens, der zum Irrtum führt, und zwar wenn ich über „Dinge urteile, die ich nicht recht einsehe“ (155). Zügele ich aber den Willen, sodass „er sich nur auf das erstreckt, was ihm der Verstand klar und deutlich aufweist, ist ein Irrtum gänzlich unmöglich“ (157). Hier wird der Sinn solcher Exerzitien deutlich, diese Willenszucht einzuüben. Die fünfte Meditation „Vom Wesen der materiellen Dinge, und nochmals von der Existenz Gottes“ vertieft die Frage nach dem Verhältnis der Vorstellungen zu ihrem Realitätsgehalt. Das Problem ist nun, wie ich mit Vorstellungen von Dingen umgehe, die ich mir schlicht und ergreifend einbilde, an denen ich aber dennoch klar und deutlich etwas erfasse. Dahinter steckt ein erneuter Versuch, die Existenz Gottes zu beweisen, denn es muss klar werden, dass die Vorstellung Gottes den höchsten Objektivitätsgrad hat und zugleich die Existenz Gottes beinhaltet und die Vorstellung z. B. einer Zahl oder eines geflügelten Pferdes nicht. Dieser zweite apriorische oder ontologische Gottesbeweis stützt den Beweis aus der dritten Meditation, insofern er erneut die Brücke von der Vorstellung zur Existenz des ens perfectissimum schlägt. Descartes stellt folgende Überlegung an: Wenn man einen Berg nicht ohne Tal denken könne, so folge daraus nicht zwingend ihre Existenz, sondern lediglich, dass „Berg und Tal untrennbar vereint sind“. Gott aber könne man sich nicht anders als existierend vorstellen und daraus folge, dass „die Existenz von Gott untrennbar ist“, „also Gott wahrlich existiert“
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(167). Hier liege Notwendigkeit vor, die „Notwendigkeit der Sache (nämlich der Existenz Gottes) zwingt mich, so zu denken“ (167). Es liege nicht in meinem Belieben, Gott ohne höchste Vollkommenheit, ohne Existenz zu denken, während es mir freistehe, „die bildliche Vorstellung eines Pferdes mit oder ohne Flügel zu bilden“ (169). Descartes unterscheidet also wahre, angeborene Vorstellungen, „worunter die erste und hauptsächlichste die Vorstellung Gottes ist“ (169) von solchen, die nach Maßgabe der Beliebigkeit gebildet werden. Mit der Methode des Zweifels, die als negative Wendung der Evidenz-Regel nicht nur korrektiven und selektiven, also propädeutischen, sondern insbesondere systematischen Kriterien folgt, hat Descartes die beiden Urteile „Ich bin“ und „Gott ist“ extrahiert, die den Kriterien der Gewissheit qua subjektiver Evidenz und der Wahrheit qua Notwendigkeit entsprechen. Die sechste Meditation handelt „Vom Dasein der materiellen Dinge und von der realen Verschiedenheit des Geistes vom Körper“. Hinsichtlich des Körpers, sofern er als der eigene gedacht wird, lässt sich Descartes zunächst von der Natur belehren, wenn er sagt, „daß jener Körper, den ich mit besonderem Recht als mein bezeichnete, viel enger zu mir gehörte als irgendein anderer“ (185). Zu Recht bemerkt er, von ihm könne ich mich nicht trennen wie von anderen; „in ihm und für ihn fühlte ich alle Triebe und Gemütsbewegungen“. Schmerz und Lust empfände ich in „Teilen des Körpers, nicht in etwas außerhalb seiner Liegendem“. Die Natur hätte ihn gelehrt, dass aus der „Schmerzempfindung eine Traurigkeit in meinem Gemüt“, „aus der Empfindung des Kitzels eine Freude folgt“ (185), aus dem Unbehagen im Magen der Hunger und die Aufforderung f zu essen, aus der Trockenheit der Kehle die Mahnung zu trinken usw. Die Wahl des Perfekts in dieser Aufzählung zeigt, dass Descartes das, was die Natur ihn gelehrt hatte, nur in der Reflexion Revue passieren lässt. Denn an sich bestehe kein „verwandtschaftlicher Zusammenhang“ z. B. „zwischen jenem Unbehagen und dem Willen zu essen“. Dieser Zusammenhang erscheint Descartes zutiefst suspekt, ja aus dem Wissen um den Phantomgliederschmerz zieht er die Konsequenz, dass es sich um Täuschung handele: „Womit kann ich wohl vertrauter sein als mit meinem Schmerz? Und doch hörte ich gelegentlich von Leuten, denen man ein Bein oder einen Arm abgenommen hatte, sie
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empfänden scheinbar zuweilen Schmerz in dem fehlenden Körperteil. So schien es mir denn nicht mehr so gewiß, daß ein Glied mich schmerzte, selbst wenn ich den Schmerz in ihm fühlte.“ (187) Die Existenz des Schmerzes erkennt Descartes an, nicht aber das Urteil über sein Woher. Auch wenn er noch mehr Zweifel hinsichtlich dessen hegt, was W die Natur ihn spüren lässt (bekanntes Beispiel ist die Wirklichkeit des Traumes), so verlangt der Gedankengang doch Folgendes: „Ich darf zwar jetzt nicht alles, was ich offenbar von den Sinnen übernommen habe, aufs Geratewohl hinnehmen; ebenso wenig aber darf ich es durchweg in Zweifel ziehen.“ (189) Was ich aber klar und deutlich erkenne, z. B. die Verschiedenheit der W res cogitans von der res extensa, sei notwendig wahr: Es gäbe „eine klare und deutliche Vorstellung meiner selbst, sofern ich lediglich denkendes, nicht ausgedehntes Ding bin“ und „eine deutliche Vorstellung vom Körper, sofern er lediglich ausgedehntes, nicht denkendes Ding ist“. Somit sei sicher, „daß ich wirklich vom Körper verschieden bin und ohne ihn existieren kann“ (189). Hieraus ergibt sich die bis heute vertretene Argumentation, dass der Körper eine Art Maschine ist. Descartes betont den Unterschied zwischen Körper und Geist im Erkennen, der darin liege, dass „der Körper seiner Natur nach stets teilbar, der Geist aber durchaus unteilbar ist“ (205). In der Selbstbetrachtung als denkendes Ding könne ich keine Teile in mir unterscheiden, sei ich ein einheitliches Ding. Zwar scheine der Geist mit dem ganzen Körper vereint zu sein, verlöre ich aber einen Fuß oder Arm, würde dem Geist nichts genommen. Ein ausgedehntes Ding wie der Körper könne dagegen nur als in Teilen zerlegt gedacht werden. Dies beweise die „gänzliche Verschiedenheit des Geistes vom Körper“ (205). Auch die Vermögen des „Wollens, Empfindens, Erkennens usw. können nicht als Teile des Geistes aufgefaßt werden, denn ein und derselbe Geist will, empfindet, erkennt“ (205). Einbildungs- und Empfindungsvermögen stehen zum Denken in einem nicht-reziproken Verhältnis: „Ich kann mich vollständig auch ohne diese klar und deutlich erkennen, nicht aber umgekehrt jene ohne mich, d. h. ohne die denkende Substanz, der sie inhärieren.“ In ihrem „substantiellen Begriff“ schließen sie zwar „eine geringe Erkenntnistätigkeit in sich“ (189) ein, sie ver-
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halten sich zu mir jedoch wie „Zustandsweisen zum Ding“ (191). Was das passive Vermögen angeht, „Vorstellungen sinnlicher Dinge zu empfangen und zu erkennen“, so bleibt dieses ohne Sinn und Gebrauch, wenn es nicht „auch ein aktives Vermögen“ gibt, „welches jene Vorstellungen hervorbringt oder bewirkt“. In mir kann dieses nicht liegen, denn, so Descartes, es setzt „gar kein Denken voraus“ (191), die Empfindungen und sinnlichen Vorstellungen entstehen ohne mein Zutun, sogar gegen meinen Willen. Sie können ihren Ursprung nicht in mir selbst haben. Da Gott kein Betrüger ist, und er den Menschen „eine große Neigung“ eingepflanzt hat, zu glauben, „jene Vorstellungen rührten von den Körpern her“, muss man schon an Gott zweifeln, wenn man den Vorstellungen einen anderen Ursprung zuweisen will als die Dinge selbst, und „folglich gibt es körperliche Dinge“ (193). Vielleicht, so räumt Descartes ein, „existieren nicht alle genau so, wie ich sie sinnlich wahrnehme“, aber es lässt sich an ihnen auch Einiges klar und deutlich erkennen. Descartes gesteht allem, was die Natur lehrt, „einen gewissen Grad von Wahrheit“ zu, hält die sinnliche Wahrnehmung aber für „sehr dunkel“. Unter Natur versteht er „entweder Gott selbst oder die von Gott eingesetzte Ordnung der geschaffenen Dinge“ (193), unter meiner eigenen Natur aber „lediglich den Zusammenhang alles dessen, was Gott mir verliehen hat“ (195). Nun sagt mir diese Natur ausdrücklich, dass ich einen Körper habe, „dessen Wohlbefinden gestört ist, wenn ich Schmerz empfinde“. Descartes nimmt also an, „es sei etwas Wahres daran“. In der Tat lehre die Natur, wie es im Bild von Steuermann und Schiff heißt, „ich sei meinem Leibe nicht nur zugesellt wie ein Schiffer dem Schiff, sondern ich sei aufs innigste mit ihm vereint, durchdringe ihn gleichsam und bilde mit ihm ein einheitliches Ganzes“ (195). Denn, so fragt Descartes, wie könnte „ein lediglich denkendes Ding, bei einer Verletzung des Körpers Schmerz empfinden?“ Es würde jene Verletzung V „rein geistig wahrnehmen“ und etwa auch Nahrungsbedürfnisse „ausdrücklich erkennen“. Die Gefühle von „Hunger, Durst, Schmerz usw.“ sind für Descartes letztlich „nur verworrene Bewußtseinszustände von besonderer Art, die aus der Vereinigung und gleichsam Verquickung der Seele mit dem Körper hervorgehen“ (195). Die Natur lehre ferner, dass
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mein Körper von anderen Körpern umgeben ist, die teils zu suchen, teils zu meiden sind. Daraus gehe „mit Sicherheit“ hervor, „daß mein Körper oder vielmehr mein ganzes Ich, insofern ich aus Körper und Geist bestehe, von den umliegenden Körpern in verschiedener Weise mit Zuträglichem und Unzuträglichem affiziert werden kann“ (197). Aber, und hier meldet sich der Zweifler, vieles lehre die Natur, doch rühre es nicht von ihr her, sondern von der Angewohnheit, unüberlegt zu urteilen. Es mag dahingehen, wenn die Natur lehrt, den Schmerz zu fliehen, die Lust zu erstreben etc., aber, und das ist für Descartes das Verwerfliche, sie lehre auch, lediglich aus der sinnlichen Erfahrung „ohne vorherige Prüfung durch den Verstand einen Schluß auf die Dinge außer uns“ zu ziehen (199). Diese Erkenntnisart kommt allein dem Geist zu, nicht „dem aus Körper und Geist Zusammengesetzten“. So irrt die menschliche Natur allzu oft, ob in der Frage der Phantomglieder oder wenn ein Kranker beispielsweise ein Getränk verlangt, wozu ihn die Natur treibt, obwohl es ihm schadet. Wenngleich die Sinne in Fragen der Körpererhaltung „öfter wahre als falsche Angaben machen“ (211), sei die Irrtumsfähigkeit der aus „Geist und Körper zusammengesetzten Natur des Menschen“ unabweisbar. Diese Natur stellt sich Descartes nun so vor, dass die Gliedermaschine, als die er den Körper denkt, über eine Art Schnittstelle mit dem Geist verbunden ist. Hier konzipiert er jene merkwürdige Vorstellung vom im Gehirn lokalisierten „Sitz des Gemeinsinns“ (207), der in der Zirbeldrüse einen organischen Referenten haben soll. Diese Drüse erhält in Descartes Vorstellung durch „Schnüre“ Kenntnis von Bewegungen im Körper und wandelt diese in Empfindungen um, z. B. mit räumlicher Zuweisung eines Schmerzes. Im „innern Teil des Gehirns“ erregten sie „eine gewisse Bewegung“, die von der Natur dazu bestimmt sei, „den Geist mit der Empfindung des gleichsam im Fuß lokalisierten Schmerzes zu affizieren“ (207). Dass der Geist nach Descartes „nicht von allen Teilen des Körpers unmittelbar Eindrücke empfängt, sondern nur vom Gehirn, vielleicht sogar nur von einem ganz kleinen Teil desselben“ (207), bleibt aus einer Perspektive, die das leibliche Spüren berücksichtigt, fragwürdig. Insbesondere die Lösung des Geist-KörperProblems, die in der cartesischen Variante die innige Verbindung zwi-
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schen Körper und Geist auf eine Drüse reduziert, also auf ein Gehirnphänomen herunterbricht, ist problematisch. Die Meditationen im Spiegel der Zeit Descartes reagiert mit den Meditationen auf die Schulphilosophie und auf den Aufbruch hin zu einem veränderten Wissenschaftsverständnis. Schon im Begriff der Meditation mag eine Spitze gegen die Disputation der Scholastik liegen und es liegt nahe, die Meditationes de Prima Philosophia als Gegenentwurf zum ersten systematischen Handbuch scholastischer Metaphysik, den Disputationes metaphysicae (1597) von Francisco Suárez zu deuten. Descartes’ Reaktion bestand aber nicht in einer Kritik an Vertretern der Scholastik, sondern in ihrer Unterwanderung durch Negation der Tradition aus Prinzip und mittels der Suche nach Verfahren für die Beglaubigung von Erkenntnis. Bemerkenswert ist, dass er sich dabei auf einen Gemeinplatz berief, auf das Urteilsvermögen, das „von Natur aus bei allen Menschen gleich“ sei.12 Descartes war der Ansicht, dass verschiedene Meinungen und Irrtümer nur durch falsche Anwendung dieses Vermögens entstehen. Die immer wieder zum Ausdruck gebrachte Bescheidenheit seines Unterfangens mündete in eine Utopie, wenn er meint, dass alle Probleme mit seiner Methode gelöst werden könnten, die Probleme der Philosophie, der Wissenschaften, der Staatsführung (hier gibt er sich ausgesprochen pazifistisch) und des menschlichen Wohlbefindens (es ist sogar die Rede von der Lösung des Problems der Altersschwäche). In dieser Fortschrittseuphorie ist Descartes ein Kind seiner Zeit, das sich im Angesicht eines durch Kriege zerklüfteten Europa hinüberrettet in die Versprechen einer neuen Wissenschaft. Die pragmatische und letztlich ethische Direktive seiner Metaphysik findet ihre systematische Legitimation gleichwohl in der von ihm verfolgten Neufundierung wissenschaftlicher Erkenntnis. Das Bekenntnis zu einem bestimmten Wissenschaftsverständnis und der Bruch mit der Tradition spiegeln zugleich Descartes’ harsche Kritik am Traditionalismus und seiner Verantwortung für damals aktuelle politische Probleme. Diese kulturkritische Kehrseite des vielgerühmten Neuanfangs der Philosophie war nicht der einzige Grund, weshalb die 12Descartes, Discours, a. a. O., S. 9.
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Theologen der Sorbonne die Meditationen abwiesen. Descartes suchte zwar den Dialog und publizierte den Text mit den Einwänden berühmter Zeitgenossen (u. a. M. Mersenne, Th. Hobbes, A. Arnauld, P. Gassendi) und seinen eigenen Erwiderungen, aber er war ohne Referenz auf Autoritäten doch zu eigenständig für die dogmatisch geschulten Theologen. Seine Kritik an der scholastischen Disputation schloss allerdings eine bestimmte Form der Auseinandersetzung von vorneherein aus. Dass der angestrebte Dialog gelegentlich brisant wurde, zeigen die Konflikte, die Descartes in seiner Wahlheimat mit den Jesuiten und an den Universitäten von Utrecht und Leiden heraufbeschwor. Versuche zum Dialog konnten aber überhaupt nur unternommen werden, weil Descartes am Bekenntnis zum Christentum festhielt. Er konzipierte seine Gottesvorstellung fern von religiösem Glauben, von einem Für-WahrHalten und Devotismus, war aber doch auch mit der Gottesschau vertraut. Descartes mag die Wende zum Subjekt vollzogen und eine naturwissenschaftliche Denkweise begonnen haben, wonach die Welt in der Theorie gemäß der Ordnung der Vernunft erscheint, aber diese Erkenntnis entstand vor dem Hintergrund der Erkenntnis Gottes, jenes ens perfectissimum, von dem er sich erschaffen glaubte. Descartes – der Vater der modernen Philosophie Die Rezeption seines Werks und der nachhaltige Bezug auf die Meditationen hat Descartes den Titel „Vater der modernen Philosophie“ eingebracht. Diese Einschätzung der Bedeutung von Descartes war keineswegs immer selbstverständlich. Die Wirkungsgeschichte ist vielmehr von einer Gemengelage zwischen Kritik und Anknüpfung geprägt. Unangefochten war die Philosophie von Descartes nie, nicht zu seinen Lebzeiten und auch nicht, als sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein schulmäßiger Cartesianismus etablierte und Molière seine Possen über die gelehrten Frauen, die ‚Cartesianerinnen‘, riss. Voltaire titulierte die Meditationen im 18. Jahrhundert abschätzig als „Philosophische Romane“. Leibniz dagegen schloss sich der Lehre vom klaren und deutlichen Erkennen an, ohne freilich die ungelösten Probleme von Descartes aus den Augen zu verlieren. Die Enzyklopädisten inte-
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grierten Descartes in die Vorgeschichte der Aufklärung, doch von einem epochalen Beitrag zur Philosophie liest man hier noch nichts. Als man im 18. Jahrhundert die Philosophiegeschichte als wissenschaftliche Disziplin betrieb, rangierte Descartes in der Genealogie ‚neuerer‘ Philosophen neben Locke, Newton und Leibniz. Während Jacobi und Fichte Descartes und Kant in enger geistiger Verwandtschaft sahen, findet sich bei Kant kaum eine explizite Referenz auf Descartes. Kant wies das Cogito, ergo sum als tautologisch zurück, widerlegte einzelne Beweise aus den Meditationen und war an entscheidenden Stellen Descartes’ Kontrahent. Obwohl über das Cogito, ergo sum einige Diskussionen entbrannten, war Descartes zunächst allenfalls ein Stichwortgeber. Diese Rolle änderte sich bald. In dem häufig zitierten Satz, man könne sich bei Descartes zu Hause fühlen und „wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See ‚Land‘ rufen“13, ffeierte Hegel Descartes – nicht ohne ironischen Unterton – als wahren „Anfänger der modernen Philosophie“14. Ihren eigentlichen Boden habe die Philosophie dadurch gewonnen, dass das Denken vom Denken „als einem in sich Gewissen“ ausgehe. Die Metapher von der ‚Vaterschaft‘ setzte sich mit der allmählichen Zuspitzung des Erkenntnisproblems und der Frage nach dem disziplinären Selbstverständnis der Philosophie fort. In der Ära des Neukantianismus wurden mit Bezug auf Descartes’ Philosophie „die erkenntnistheoretisch verstandenen Begriffe des Bewußtseins, des Selbstbewußtseins und der Subjektivität“ als spezifisch moderne Schlüsselbegriffe in den Vordergrund gerückt.15 Diese Verbindung philosophiehistorischer Untersuchung mit einem systematischen Anspruch hat der Philosophie einen bis heute gültigen disziplinären Rahmen gegeben. Die Titulierung Descartes’ als „Vater der modernen Philosophie“ wurde zum Gemeinplatz. Dazu fasst Hans-Peter Schütt zusammen: „Es bedurfte der im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzogenen Fixierung des disziplinären Selbstverständnisses der professionellen Philosophen auf das sogenannte Erkenntnisproblem als orientierendes Problem einer ‚eigent13Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, V Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke in 20 Bänden, Frankfurt/Main 1971, Bd. 19, S. 328. 14Ebd., S. 331. 15Schütt, Hans-Peter, Die Adoption des „Vaters der modernen Philosophie“, Frankfurt/Main 1998, S. 141.
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lichen‘ Philosophie, die sich sowohl ihrem Anspruch wie auch ihrer Methode nach als eine von den Einzelwissenschaften strikt unterschiedenen Wissenschaft sui generis begreift, und darüber hinaus bedurfte es der retrospektiven Projektion dieses Erkenntnisproblems auf die Cartesische Philosophie, um der Erhebung Descartes’ zum ‚Vater der modernen Philosophie‘ jene überwältigende Plausibilität zu verschaffen, die sie offenbar hatte – und für viele immer noch hat.“16 Die Rezeption des cartesischen Werkes, die durch Phänomenologie und Existenzphilosophie noch einmal neu auflebte, lässt sich als eigene Ideengeschichte extrapolieren, die, wie bei einem Klassiker üblich, von klassischen Missverständnissen getragen ist. Ob in stärker rationalistischen Interpretationen17 oder in Deutungen, die Descartes als Philosophen der ontologischen Erfahrung verstehen – bis heute gibt es keine allgemein akzeptierte Auslegung. Ein vorherrschendes Sinnbild ist die Wendung zum Subjekt. Die Meditationes de Prima Philosophia gäben, so W Heidegger, „die Vorzeichnung für die Ontologie des Subjectum aus dem Hinblick auf die als conscientia bestimmte Subjektivität“. Der Mensch sei „das Subjectum geworden“. Im „planetarischen Imperialismus des technisch organisierten Menschen“ erreiche der Subjektivismus „seine höchste Spitze“. Er erzeuge eine Ebene organisierter „Gleichförmigkeit“, „das sicherste Instrument der vollständigen, nämlich technischen Herrschaft über die Erde“.18 Hier findet sich jene Rede über die Hybris des modernen Menschen, dessen Grundstellung Cartesianismus ist. Hartnäckig hält sich das Urteil über die Gefahr der Herrschaft des Subjekts in der Neuzeit in eins mit dem Urteil, diese sei mit der Metaphysik des Descartes in die Welt gekommen. Daran anknüpfend wird uns Descartes mancherorts als jener ‚Schurke‘ vorgeführt, „dem wir Waldsterben, Ozonloch und Klimakatastrophe zu verdanken haben“.19 Descartes besetzt heute einen sicheren Platz im kollektiven Gedächtnis. Neben Spielarten des Gedankens Cogito, ergo sum bis in die Alltagsmedien hinein finden sich nach wie vor reichhaltige Bezugnahmen auf 16Ebd., S. 184. 17Jaspers, Karl, Descartes und die Philosophie, Berlin 1937. 18Heidegger, Martin, Die Zeit des Weltbildes, GA V, S. 110f. 19Schütt, Hans-Peter, a. a. O., S. 179.
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die Meditationen, z. B. auf den Substanzen-Dualismus.20 Daneben sind Anschlussmöglichkeiten ex negativo allemal gegeben. Während Husserl in Descartes noch den „Erzvater“ der Phänomenologie sah, wird er in neueren phänomenologischen Ansätzen im Verbund mit einer weit gefassten Tradition des Körper-Geist-Dualismus zum ‚Erzfeind‘ eines vom ganzen Menschen ausgehenden Philosophierens. Die Kritik am Cartesianismus gilt vor allem einem Paradigmenwechsel in der Subjekttheorie. So blickt auch die feministische Theorie heute selbstkritisch auf ihren Cartesianismus, indem z. B. Judith Butler darauf insistiert, dass die klassische Sex-Gender-Dichotomie in der „Unterscheidung zwischen anatomischem ‚Geschlecht‘ (sex) und Geschlechtsidentität ( (gender r) eine Spaltung in das feministische Subjekt“ einführe und damit einen cartesischen Dualismus repetiere.21 Dass der erkenntnistheoretische Nachweis der Verschiedenheit der res extensa von der res cogitans nicht die einzige Perspektive auf das Körper-Geist-Problem war, wird an dem Bild vom Steuermann in der sechsten Meditation und dem Ringen Descartes’ deutlich, für die Schnittstelle zwischen Geist und Körper einen organischen Referenten zu konzipieren. Die Frage nach einem lokalisierbaren Sitz des Bewusstseins beschäftigt bis heute die naturwissenschaftliche Lehre vom Menschen, wo man sich z. B. in den Neurowissenschaften gern an die – längst überholten – Forschungen von Descartes erinnert. Folgt man dem Neurobiologen Gerhard Roth, so ist der von Descartes gesuchte Sitz des Bewusstseins mit dem „assoziativen“, speziell „präfrontalen Kortex“ gefunden: „Das Gehirn generiert mit der Ausbildung eines Ich einen ‚virtuellen Akteur‘, dem ein Körperschema und ein Ort im Raum zugeschrieben wird und der zum scheinbaren Träger der Willkürhandlungen wird. Es sieht so aus, als ob nur über die Konstruktion eines solchen virtuellen Akteurs und die Bündelung der vielfältigen, an den Willkürhandlungen beteiligten Prozesse im assoziativen, besonders präfrontalen Kortex komplexe Handlungsplanung möglich ist. Wesentlich unterstützt wird dieser Prozess durch die Evolution von Sprache und damit der Fähig20Vgl. Schütt, Hans-Peter, Substanzen, Subjekte und Personen. Eine Studie zum Cartesischen Dualismus, Heidelberg 1990. 21Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main 1991, S. 22.
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keit des Gehirns, diesem Ich Attribute der Autorenschaft und ‚Meinigkeit‘ zuzuordnen.“22 Hatte Descartes also recht mit seiner Vermutung, dass der Geist „nur vom Gehirn, vielleicht sogar nur von einem ganz kleinen Teil desselben“ „unmittelbar Eindrücke empfängt“ (207)? Ist das Selbsterleben von Bewusstsein eine Frage des im präfrontalen Kortex hergestellten ‚virtuellen Akteurs‘, der mich einen Schmerz im Zeh spüren lässt, weil ein projektives Körperschema im Gehirn ihm diesen Ort zuweist? – Nicht nur an diesen Fragen zeigen sich aktuelle Anschlussmöglichkeiten; das Thema einer Schnittstelle zwischen Bewusstsein und Körper ist heute auf brisante Weise auch in Medizin und Bioethik relevant. 22Pauen, Michael, Roth, Gerhard (Hg.), Neurowissenschaften und Philosophie, München 2001, S. 204.
Thomas Hobbes: Leviathan
petra gehring
Im Jahr 1651 erscheint die Schrift Leviathan, or The Matter, Forme, and Power of a Common-wealth Ecclesiasticall and Civill (Leviathan oder Stoff, Form und Macht eines bürgerlichen und kirchlichen Gemeinwesens) in englischer Sprache in London. Danach erscheint sie noch einmal in lateinischer Sprache und stark gekürzt im Jahr 1668 in Amsterdam. In deutscher Sprache wird der Leviathan in Halle 1794/95 verlegt. Schon zum Zeitpunkt ihrer ersten Publikation ist der Autor der Schrift kein unbeschriebenes Blatt mehr. Von ihm bereits erschienen sind 1651 die Bücher De Cive (Vom Bürger, 1642) sowie Elements of Law (Anfangsgründe des Rechts, 1640, erst 1650 unter eigenem Namen) und daneben einige kleinere Texte. Nach 1651 publiziert der Autor des Leviathan weiter: De homine (Vom Menschen, 1658), De Corpore (Vom Körper, 1637/1655) sowie etliche mathematische Schriften. Posthum erscheint – wie der Leviathan wieder mit dem Namen eines alttestamentarischen Ungeheuers im Titel – sein Buch über den Bürgerkrieg, Behemoth, or The Long Parliament (Behemoth oder das Lange Parlament), ebenfalls in zensierter Form. Der Name, der diese Schriften verknüpft und uns den Menschen hinter dem Text anzeigt, lautet: Thomas Hobbes. Hobbes lebte von 1588 bis 1679, und der Leviathan gilt als sein Hauptwerk. Er hat viel von dem, was wir über sein Leben wissen, selbst mitgeteilt. Er kommt aus kleinen Verhältnissen, aber es gibt einen wohlhabenden Onkel, der ihm eine Universitätsausbildung bezahlt. Er studiert Logik und Physik, arbeitet als Lehrer in einer englischen Adelsfamilie und fungiert dort auch als Schreiber und Berater. Zeitweilig arbeitet Hobbes wohl auch als Sekretär Bacons, kurz bevor dieser stirbt. Hobbes liest, reist und korrespondiert mit der gelehrten Welt Euro-
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pas. Er schreibt messerscharf – und streitbar. Sein erstes politisches Werk, Elements of Law, publiziert er 1640 anonym und mitten in eine politische Gemengelage hinein. Das Buch interveniert in die Spannungen der englischen Verfassungskrise; wie man sagt, publizierte Hobbes es auf Bitten von Parteigängern des Königs. Kurz darauf, nämlich als das Blatt sich gegen die Royalisten wendet, hält Hobbes sich für gefährdet, meint fliehen zu müssen und geht nach Paris. Dort arbeitet er unter dem Schutz absolutistischer Gönner weiter – um elf Jahre später, 1651, von Frankreich wieder zurück nach England zu fliehen. Der Anlass für diese neuerliche Flucht ist just die Schrift, von der hier die Rede ist: der Leviathan. Die wenigen genannten Daten genügen, um den historischen Kontext zu ahnen, dem das Werk entspringt. Erstens ist die Zeit des Leviathan eine Epoche der politischen Grundsatzfragen. Der Dreißigjährige Krieg hat Europa zerrissen, an den Höfen herrschen die Intrigen. Die Vernunft ringt – modern gesprochen – um Konzepte. Neue Grundlagen V müssen her, und dies noch diesseits allen Strebens nach einer fortschrittlichen Zukunft, nämlich schlicht als Rettungsprogramm für eine aus den Fugen geratene Gegenwart. Die blutige Vergangenheit tobt noch in den Köpfen, die Vertrauenskrise der Monarchie und der Kirchen könnte größer nicht sein. In der Krise ist über ganz Europa hinweg auch die Sache der Vernunft: In den Naturwissenschaften, der Mathematik, der Medizin herrscht zwar Aufbruchsstimmung, aber eine politische Philosophie auf gleichem Niveau findet sich nicht. Es gibt lediglich Politikberatung: Monarchen organisieren sich rudimentäres Staatslenkungswissen. Und es gibt Diplomatie, Kriegskunst und Jurisprudenz – wobei das Recht zu Hobbes’ Zeiten eben auch nicht eigentlich eine Wissenschaft ist, sondern eher eine institutionelle Technik: Das Gesetz wird mittels Dogmatik und Erfahrungswissen durchgesetzt. Die Vertrauenskrise auf allen Ebenen der Politik und der Zivilgesellschaft sorgt für eine ambivalente Lage der aufstrebenden wissenschaftlichen Vernunft: Nur die Natur gelingt es in Systeme zu fügen. Eine wirksame wissenschaftliche Staatslehre und politische Philosophie hingegen gibt es nicht – und zugleich scheint sie bitter nötig. Dies also erstens zum Hintergrund des Leviathan.
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Zweitens ist die Zeit des Leviathan eine Zeit der stetig wechselnden Macht- und Kräftefelder, eine Zeit der Unsicherheit und der nur über kurze Spannen überhaupt noch überblickbaren Sicherheiten. Man denkt in Fristen. Das Schicksal des Textes – mehrfach verändert und zensiert – und das Schicksal des Autors – getrieben von schwankenden Stimmungen seiner Gönner und sich in Lebensgefahr wähnend – spiegeln schwach wider, was um 1651 eine europäische Alltagserfahrung gewesen sein muss: Den Zerfall der Orientierungen und Zerfall der Grundlagen des lebenspraktischen Erwartens. Diejenigen wirtschaftlichen und sozialen Bindeglieder existierten nicht mehr selbstverständlich, die ein Gemeinwesen dann zusammenhalten, wenn man dort noch – auch wenn dies ein weites Wort ist – den Frieden kennt. Grundgedanken des Werks Der Leviathan ist in vier Teile aufgeteilt. Der erste behandelt den Menschen als Materie und als Konstrukteur des „politischen Körpers“, des Staates, so wie ihn Hobbes im Bild entwirft: als künstliches Wesen, also eben als einen „Leviathan“, als eine Art archaisches Tier, das sich aus Menschenkörpern herausformt. Der Name „Leviathan“ spielt an auf das babylonische Seeungeheuer gleichen Namens, das im Alten Testament erwähnt wird. Ihm gilt auch das Bibelzitat auf dem Frontispiz, das den Leviathan in einem meisterlichen Kupferstich zeigt: „Non est potestas super terram quae comparetur ei“ (Hiob 41,24). „Auff erden ist yhm niemand zu gleychen“, übersetzt Luther. Genauer hieße es: Auf der Erde ist keine Macht so groß wie er. In dem eigenartigen Eigennamen des Buches steckt also eine antitheologisch-politische Provokation: Nicht eine geistige oder geistliche Größe, sondern dieses aus Menschen gefügte Wesen ordnet die Welt. W Zurück zu den vier Teilen der Schrift. Der erste enthält, modern gesprochen, Hobbes’ Anthropologie. Teil zwei behandelt, wie und durch was Übereinkünfte oder besser: Verträge (covenants) zustande kommen, was Rechte und gerechte Macht oder Autorität des Souveräns sind, und was den Souverän erhält oder aber auflöst. Teil drei behandelt den christlichen Commonwealth, also den Staat oder das Gemeinwesen, und
1 Hobbes, Thomas, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und
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d. h. insbesondere: die Rolle des Christentums innerhalb des „Leviathan“. Teil vier schließlich behandelt das Reich der Finsternis, Kingdom of darkness. Unter diesem Titel diskutiert Hobbes polemisch die falschen Dogmen einer hypothetischen Kirche, einer Kirche von Betrügern. Diese erinnert fatal an die katholische oder auch die anglikanische Kirche seiner Zeit und soll wohl auch an diese erinnern. Hobbes’ Auseinandersetzung mit der weltlichen Macht der Kirche war zu seiner Zeit zentral, ist jedoch später in ihrer Bedeutung verblasst. Daher konzentriere ich mich in dieser Einführung auf die ersten beiden Teile des Leviathan und setze Schwerpunkte, indem ich zunächst die Anthropologie skizziere und dann die eigentliche Theorie des vertraglichen Zustandekommens des Staates – einschließlich der Art und Weise, in der Hobbes dessen Funktionieren und dessen Funktionsgrenzen denkt: in der Figur des Souveräns. Anthropologie Hobbes’ Anthropologie ist eine Theorie des Einzelmenschen und keine Theorie des sozialen Bandes oder der Gemeinschaft. Wie es sich für eine ordentliche Arbeit more geometrico (nach geometrischer Methode) gehört, die Hypothesen durch Rückgang auf sichere Grundlagen bewahrheitet, beginnt der Leviathan zunächst mit einer Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie. Diese ist empiristischer Prägung: Aus den Sinnen und Einbildungen macht der Geist Verknüpfungen und geregelte Gedanken. Auch der Zeichengebrauch und die Voraussicht beruhen auf Erfahrung; alle menschlichen Fähigkeiten werden gelernt. Alles, was wir uns vorstellen, ist endlich. Unendliche Vorstellungen – wie Gott – sind möglich, aber unbegreiflich. Als eine zentrale Errungenschaft des Menschen hebt Hobbes dann die Sprache heraus, und zwar die Erfindung der Buchstabensprache und der Schrift. „Ohne sie hätte es unter den Menschen“, so schreibt Hobbes, „weder Staat noch Gesellschaft, Vertrag und Frieden gegeben kirchlichen Staates (1651), hg. u. eingel. v. Iring Fetscher, Neuwied/Berlin 1966, S. 18: Teil I, Kap. 4. Zitate mit Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe, erschienen als Nachdruck im Taschenbuch: Frankfurt/Main 2000.
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– nicht mehr als unter Löwen, Bären und Wölfen.“1 Das Denken ist nach Hobbes ebenfalls nur mittels Sprache möglich und funktioniert kombinatorisch, ähnlich einem Rechenvorgang. Dennoch ist es nicht unfehlbar; weder die einfache Klugheit noch die Wissenschaft können vollständige Sicherheit schaffen – denn auch die Wissenschaft kann nur für begrenzte Felder ,unfehlbare‘ Aussagen treffen. Die Welt der Erfahrungen ist ihr letztlich zu komplex, und so ist „in allen Handlungen, bei denen man nicht nach einer unfehlbaren Wissenschaft vorgehen kann, ein Zeichen von Narrheit, die man allgemein Buchstabengelehrtheit nennt“ (S. 38: I, 5) gelegen. In Hobbes’ Erkenntnislehre gibt es also etwas Ähnliches wie bei Kant: einen Primat der praktischen Vernunft. Innere Leidenschaften betrachtet Hobbes mechanistisch: Sie entstehen als Triebe (appetite oder aversion r ), sind teils unwillkürlich, teils dem Willen unterworfen – und ihrer Natur nach moralisch neutral. „Denn die Wörter gut, böse und verächtlich werden immer in Beziehung zu der Person gebraucht, die sie benützt, denn es gibt nichts, das schlechthin und an sich so ist.“ Jede allgemeine Regel für Gut und Böse „entstammt vielmehr dort, wo es keinen Staat gibt, der Person des Menschen, oder im Staat der Person, die ihn vertritt, oder aber einem Schiedsrichter oder Richter, den uneinige Menschen durch Übereinstimmung einsetzen und dessen Urteil sie zur Richtschnur machen“ (S. 41: I, 6). Das Normative beruht also vollständig auf entweder selbstgesetzter oder institutioneller Konvention. Was die rationalen Möglichkeiten des Denkens angeht, ist Hobbes W Relativist. Das korrekte Schließen aus Definitionen ist zwar eine Methode, Wissenschaft von bloßer Meinung zu unterscheiden. Von daher gibt es „die Sache selbst“, und es gibt auch (übrigens individuell immer erst zu erwerbende) „Prinzipien der natürlichen Vernunft“. Dennoch – und diesen Punkt muss man herausheben – hat die Vernunft ein Vermittlungsproblem. Die Vernunft in der Sprache überzeugt nicht. Auch Vernunftsprache ist nur Sprache, und nach Hobbes kann jegliches SichV verlassen auf Sprache letztlich nur ein Glaube sein. An Gesagtes glauben „bedeutet nur die Überzeugung von der Wahrheit der Behauptung“ (S. 50: I, 7). An Gesagtes glauben bedeutet letztlich nur: Man setzt sein Vertrauen in die mitteilende Person.
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Diese radikale Sicht auf die Sprache als ein Medium der Ungewissheit und der potentiellen Lüge hat zwei Pointen. Die eine ist überlieferungskritischer Natur: Autoritätsbeweise wie allem voran die Bibel, aber auch historische Herleitungen ergeben nie Vernunftgewissheiten. Wir vertrauen dann immer nur bestimmten Menschen. Die zweite Pointe ist subtiler, sie weist genau in die umgekehrte Richtung, und auf sie komme ich noch einmal zurück. Wenn die Sprache trügerisch, genauer: Wenn die Schrift in sich nie von sich aus vernünftig ist, so müssen auch die Sätze der Vernunft – sobald ich sie nicht einfach denke, sondern sie öffentlich kommuniziert werden – durch Autorität gleichsam zusätzlich glaubwürdig gemacht werden. Die Sätze der Vernunft müssen durch eine Macht hinter den Worten getragen werden. Schon in der hobbesschen Sprachphilosophie steckt damit der Grundsatz, der für seine politische Philosophie bestimmend ist: Auctoritas non veritas facit legem. Die Wahrheit allein, heißt dies, macht noch kein Gesetz. Auch kein Vernunftgesetz. Jedes allgemeine (geschriebene) Wort bedarf einer auctoritas, einer zusätzlichen Autorität, um – zumal als Vernunftregel, als Gesetz ohne Ausnahme – geglaubt zu werden. Von der Sprachphilosophie zurück zur Anthropologie. Der bekannV teste Aspekt der hobbesschen Trieblehre ist seine These von dem Verlangen nach Macht als der stärksten aller Leidenschaften (vgl. S. 56: I, 8). Das Streben nach Macht fasst alle anderen Streben in sich zusammen. Im Kern ist dieses Machtbegehren ein Streben nach Lebenserhalt. Aber Macht ist nach Hobbes ein steigerbarer Stoff: Es gibt natürliche Macht, aber auch Macht, die aus sich heraus als Erwerb von mehr Macht funktioniert; Hobbes vergleicht ihre Wirkungsweise mit der des Gerüchts, „das mit seiner Verbreitung zunimmt“ (S. 66: I, 10). Schließlich gibt es als die größte menschliche Macht „diejenige, welche aus der Macht sehr vieler Menschen zusammengesetzt ist, die durch Übereinstimmung zu einer einzigen und natürlichen Person vereint sind, der die ganze Macht dieser Menschen, die ihrem Willen unterworfen ist, zur Verfügung steht, wie zum Beispiel die Macht eines Staates“ (S. 66: I, 10). Damit stehen wir an der Schwelle von – noch einmal modern gesprochen – Hobbes’ Sozialphilosophie. Zwei weitere anthropologische Momente treten allerdings noch hinzu, bevor die Einzelnen sich in einem
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Zusammenhang denken lassen. Erstens gleichen sich die Menschen, und zwar nicht nur in ihrem Machstreben, sondern in ihren realen Fähigkeiten. Es gibt feine Unterschiede, aber mit etwas Geschick – und das ist für Hobbes der entscheidende Punkt – könnte unter erwachsenen Menschen stets jeder jeden töten. Daraus resultiert zweitens, so Hobbes, „eine Gleichheit der Hoffnung, unsere Absicht erreichen zu können. […] wenn daher zwei Menschen nach dem selben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuß ist, bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen“ (S. 94f.: I, 13). Hier zeichnet sich die berühmte These ab: Der Mensch ist des Menschen Feind. Aber der Satz ist schnell gesagt. Sehen wir genau hin. Hobbes diagnostiziert nicht einfach eine aggressive Veranlagung des Menschen. Er sieht eine fatale Kombination aus Machtstreben und Gleichheit – und zwar einer Hoffnungsgleichheit! – sowie eine daraus resultierende faktische Konkurrenz um Möglichkeiten. Ich weiß, ich hätte stets die Chance, die anderen mittels Gewalt zu überrunden, wenn ich zugleich mit anderen nach etwas strebe, das nicht für alle reicht – und ich weiß, dass die anderen wissen, sie hätten diese Chance ebenfalls. Hiermit entsteht dann die politisch entscheidende Notlage, in die das isolierte Individuum geraten muss, sobald es tatsächlich schlechte Erfahrungen macht. Denn: Aus der permanenten Drohung der Gewalt folgt – erlebt man, dass jemand sie tatsächlich nutzt – das permanente Misstrauen. Für niemanden gibt es dann „einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie Vorbeugung, das heißt, mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden. Und dies ist nicht mehr als seine Selbsterhaltung erfordert und ist allgemein erlaubt“ (S. 95: I, 13). Präventivgewalt wird zu einem schieren Gebot der Vernunft. Gewalt aus Misstrauen also macht den Menschen zum Feind des Menschen. Lust an gewaltsamer Inszenierung und Grausamkeit seitens des Stärkeren mögen hinzukommen, aber derlei ist in Hobbes’ Szenario nur ein nachrangiger Faktor. Seine Zwischenbilanz lautet: „So liegen
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also in der menschlichen Natur drei hauptsächliche Konfliktursachen: Erstens Konkurrenz, zweitens Abwehr/Mißtrauen (defensio), drittens Ruhmsucht.“ Daraus aber ergibt sich klar, und nun folgt im Text die klassische Stelle: „[…] daß die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden“ (S. 96: I, 13). Man sollte noch etwas weiter zitieren, da Hobbes an der berühmten Stelle nicht nur den Krieg definiert. Unmittelbar anschließend definiert er nämlich auch das, was für ihn Frieden wäre: „Denn Krieg besteht nicht nur in Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist.“ Das Wesen des Krieges besteht also nicht allein in manifester Gewalt, sondern „in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann. Jede andere Zeit ist Frieden“ (S. 96: I, 13). Nicht die Abwesenheit von Kampfhandlungen ist also schon Frieden, sondern die Abwesenheit der wechselseitigen oder auch einseitigen Bereitschaft dazu. Oder kürzer: Frieden ist die Abwesenheit von wechselseitigem oder auch einseitigem Misstrauen. Schon die unterstellte Bereitschaft zu Kampfhandlungen, gleichsam das ständige Rechnen mit dem Krieg, beendet ihn. Vertrag Vor dieser Folie eines anthropologischen Grundverhältnisses oder auch „Naturzustandes“ – wobei „Natur“ hier nicht heißt, dass die Menschen keine Sprache und Vernunft hätten, Naturzustand heißt für Hobbes lediglich der Zustand der Abwesenheit ziviler Gesetze – entwickelt der Leviathan nun seine Lehre von demjenigen Übereinkommen oder demjenigen Vertrag, durch den Staat, Gesetze und Frieden begründet werden. Tatsächlich ist Hobbes’ Staatstheorie nicht nur juridisch gedacht, sondern auch juridisch begründet. Denn der Zustand des Friedens – der Staat – ist nicht nur „gesetzlich“, also ein gesetzmäßiger Zustand, der unter den Bürgern für Vertrauen sorgt. Vielmehr wird dieser Zustand
2 Agamben, Giorgio, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben,
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auch durch eine juridische Figur gestiftet. Der gesetzmäßige Zustand entsteht durch einen diesen seinerseits noch einmal begründenden Vertrag. Hier wird es im Leviathan nun vergleichsweise juristisch-scholastisch, und kleinteilige Unterscheidungen sind notwendig. Denn Hobbes unterscheidet zunächst noch einmal eigens zwei „naturrechtliche“ Vorbedingungen für den frei geschlossenen Vertrag: Einmal das „natürliche Recht“, nämlich die Willens- und Selbsterhaltungsfreiheit, und zum Zweiten zwei „Naturgesetze“, nämlich zwei basale Vernunfteinsichten, die lauten: (a) Besteht Hoffnung, so sollte man den Frieden anstreben, wenngleich man sich weiterhin verteidigt, (b) verzichtet der andere freiwillig, so sollte man auch selbst freiwillig auf Freiheit verzichten und seinerseits dem anderen einräumen, was dieser einem lässt. Diese logisch notwendigen naturrechtlichen Bausteine liegen der zweiphasigen Szene voraus, um die es Hobbes nun eigentlich geht. Es ist eine Szene unter Gleichen – machtstrebend, misstrauisch, verteidigungsbereit, aber auch rational interessiert am Frieden als einem Zustand, in dem der Anlass zum Misstrauen wegfällt und Sicherheit herrscht. Diese Gleichen verzichten r nun – in einer ersten Phase – wechselseitig auf Ausübung eines Teils ihrer Freiheit. Damit geben sie einander, Hobbes betont das, noch nichts Neues. Denn sie geben einander im Grunde nicht mehr Rechte, als sie vorher hatten. Jeder nimmt nur sich selbst einen Teil seines eigenen natürlichen Rechts. Der Rechtsverzicht als solcher ist nicht mehr und nicht weniger als ein einseitiges Vernunftgebot. Er ist nichts Künstliches, keine juristische Neukonstruktion. Er stellt einfach eine willentliche Handlung dar, einen freien Rechtsakt des Einzelnen und „ein Gut für ihn selbst“ (S. 101: I, 13). Durch den bloßen Verzicht auf Rechte wird also noch nichts geschafffen – noch kein Gemeinwesen. Aber es entsteht eine Situation des begründeten Vertrauens und der vertrauensgegründeten VertragschlussFreiheit. Ein Kreis von Rechtssubjekten, die auf ihre vollen Freiheiten einseitig verzichten, ist gewissermaßen vertragsbereit. Erst aber „die wechselseitige Übertragung von Recht“, so Hobbes juristisch präzise, nennt man ja einen „Vertrag“ (vgl. S. 102: I, 13). Und eben diesen schließen die Bürger dann tatsächlich – und das ist die zweite Phase – in der Figur eines nicht mehr einseitigen Rechtsaktes, sondern wechselseiti-
Frankfurt/Main 2002.
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gen Vertrages untereinander. Dieser Vertrag ist der eigentliche Gesellschafts- oder besser Staatsvertrag. Es ist ein Vertrag zwischen den vielen, einzelnen Gleichen zugunsten eines Dritten. Der Frieden erfordert eine „sichtbare Gewalt“ und die „Furcht vor Strafe“ (S. 131: II, 17), damit die Gesetze beachtet werden. Also setzen die Bürger einen Souverän ein und treten im selben Atemzug alle ihre Rechte – gleichzeitig und gleichermaßen einvernehmlich – an diesen ab. Die Figur der gleichsam parallelen Rechtsübertragung und Rechtsaufgabe zugunsten dieses dadurch als Souverän eingesetzten Dritten gilt es zu betonen. Es ist wichtig, dass die Bürger nicht etwa jeder einzeln mit dem Souverän den Grundvertrag schließen, sondern miteinander. Aus Freiheit, aus der bloßen „multitude“ heraus, die sie vorher gebildet hatten, schaffen oder stiften die Einzelnen eine „natürliche Person“ – und eine Souveränitätsposition, die vorher nicht da war. Das souveräne Amt ist Folge, nicht Voraussetzung oder Teilbedingung des Vertrags. Und nur, was gleichsam Anerkennungsvertrag gegeneinander ist und Anerkennungsvertrag im Hinblick auf die Ziele Sicherheit und Frieden, das kann zugleich als Unterwerfungsvertrag funktionieren – gegenüber dem einen, exorbitanten Einzelnen, der dieses kollektive Gut zu gewährleisten hat. Man hat in der Literatur den Unterwerfungsvertrag von dem wechselseitigen Naturrechtsverzicht unterschieden. Das kann man tun. Dennoch bleibt – dies muss man um der juristischen Präzision der Figur willen beachten – der Unterwerfungsvertrag ein Vertrag, der nicht mit dem Souverän geschlossen wird, sondern wie der Verzichtsvertrag ein Vertrag ist, der die Bürger untereinander betrifft und der Entstehung des politischen Körpers gilt. Die Bürger versichern sich wechselseitig ihrer hundertprozentigen Unterwerfung unter diesen Einen – und noch genauer: unter sein Gesetz. Vom Souverän her gesehen gilt dasselbe. Das vertragliche Gegenüber des Souveräns ist nicht jeder Einzelne, primär ist es die Gemeinschaft und der Einzelne allenfalls indirekt. Eigentlich jedoch ist der Souverän aber sogar gegenüber dem Ganzen gar kein aktiver Vertragspartner. Man unterwirft sich ihm, aber er ist nur eingesetzt – er hat nicht selbst einen Vertrag geschlossen. Daher bleibt der Souverän aus der Sicht des Gemeinwesens eine ambivalente Person: Er ist nicht eigentlich ein Mensch und auch
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kein Bürger. Er hat absolute Rechte, aber existiert nur als diese ohne eigenes Zutun und durch die Absolutheit des Vertragszwecks eingesetzte Position. Daher ist der Souverän auch vogelfrei. Gelingt es ihm nämlich nicht, den Frieden zu sichern, so darf er ausdrücklich umgebracht werden. Der Souverän ist ein homo sacer in dem allgemeinen Sinn, den der Rechtsphilosoph Giorgio Agamben2 diesem alten Rechtsbegriff gegeben hat: Er haftet mit dem nackten Leben dafür, dass er seine absolute Macht so einsetzt, dass er den Frieden realisiert. Wohingegen Hobbes jedem Staatsbürger bei Gefahr für sein Leben ausdrücklich das Recht zur Flucht aus dem Land einräumt. Souverän Es ist der zweite Teil des Leviathan, der die Staatsbegründungslehre entfaltet. Die Menschen, wissend, dass Gesetze und auch ein Angriffsverzicht untereinander ohne allgemeine Gewalt nicht haltbar sind, übertragen „ihre gesamte Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch StimmenV mehrheit auf einen Willen reduzieren können“; diese Übertragung, schreibt Hobbes, „ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: Es ist die wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kommt, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und all ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat t t, lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung des großen Leviathan oder besser […] jenes sterblichen Gottes, dem wir unseren Frieden und Schutz verdanken“ (S. 134: II, 17). Aufgabe und Daseinszweck des Souveräns – das Erzeugen von Schrecken zu einem guten und vernünftigen Zweck? Aus heutiger Perspektive geht diese Denkfigur schwer von der Hand. Wenig plausibel ist heute auch die Vorstellung, dass ein so geschaffenes und mit Gesetzen ausgestattetes Gemeinwesen tatsächlich zu jener friedlichen Einheit zu3 V Vgl. Hobbes, Thomas, Behemoth oder Das Lange Parlament (1682), Frankfurt/Main 1991, S. 64.
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sammenwachsen können soll, die sich einst (im fiktiven Naturzustand) die Individuen ersehnten. Ganz befremdlich wird es, stellt man in Rechnung, dass Hobbes im Leviathan auch alternative Staatsgründungsvarianten vorsieht. Es soll nicht nur den Staat „durch Einsetzung“ geben, sondern auf analoge Weise soll auch der Staat „durch Aneignung“ legitim sein, also die ererbte Souveränität oder die durch Eroberung und Vertreibung eines anderen Souveräns errungene. Denkt man an Erbkönigtum und Usurpation, so geht die abstrakte Genauigkeit der Vertragsfigur und überhaupt der juridisch-liberale Charme des Modells der einverständigen Einzelwillen vollends verloren. Solche zeittypischen Aspekte sind es denn auch nicht, sondern es sind die abstrakten Merkmale des Leviathan, die bis heute faszinieren. Entscheidend ist das juristische, das vernunftrechtliche Skelett der hobbesschen Staatsarchitektur: Der liberale Minimalismus, die gleichermaßen rigide wie auch sparsame, d. h. in einem bestimmten Sinne sogar freiheitliche Konstruktion – und die eigentümliche Mischung aus absoluter Macht und absoluter Bindung, durch die der Souverän gleichsam mit dem Staatszweck und dem Bestand seines Sicherheitsstaates verschmilzt. Der Monarch hat, wie gesagt, eine einzigartige (künstlich) ungleiche Rolle und Rechtsposition. Sie entsteht mit dem Gesellschaftsvertrag und ist an dessen rationalen Sinn gebunden. Im Rahmen des Ziels der Friedenssicherung und Ordnung ist die Macht des Souveräns tatsächlich uneingeschränkt – freilich weniger im Sinne einer subjektiv-persönlichen Willkürmacht, sondern so absolut wie das Gesetz selbst. Untertanen können ihre Monarchen nicht abschütteln oder zweite, dritte Monarchen bestellen; sie können auch nicht unter Berufung auf den Vertrag von ihm etwas Bestimmtes fordern – denn, wie gesagt: Der Einzelne hat mit dem Souverän keinen Vertrag. Der Souverän kann also den Vertrag gar nicht brechen, da er ja keine Vertragspartei, sondern nur ein Vertragsbegünstigter ist (vgl. S. 137: II, 17). Die Konsequenz muss man drastisch ausdrücken: Der Staat tut nie Unrecht. Er ist das Recht. Und so konkretisiert der Leviathan auch den staatlichen Alltag: Hobbes autorisiert den Souverän zur Zensur aller friedensgefährdenden Schriften, er hat die Eigentumsverhältnisse zu regeln und einen effi-
4 Weiß, Ulrich, Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart-
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zienten Rechtsschutz in der Rechtsprechung zu sichern. Er hat den militärischen Oberbefehl und leitet die Strafjustiz. Bestimmte Rechte (wie die Münzprägung) kann er delegieren, jedoch nichts, was seine friedenssichernde Gewalt schmälern würde. Der brutale Zentralismus hat freilich eine liberale Grundregel zur Voraussetzung, die in modernen Rechtsstaaten heute nicht mehr gilt: Alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt. Außer dem Souverän, der Frieden sichern muss, ist keiner der Bürger in seinen Handlungen, solange sie nur legal sind, auf weitergehenden Gemeinnutzen verpflichtet. Eine im Grundsatz absolute Bürgerfreiheit ist quasi die Kehrseite der absoluten Legalmacht des Souveräns. Die Bürger schulden dem Gemeinwesen keinerlei aktive Sozialität. Die Grenze dessen, was der Souverän vermag, bestimmt sich wiederum ebenfalls nicht aus irgendwelchen verfassungsmäßigen Verpflichtungen – sondern allein aus der Frage, ob faktisch der Rechtsstaat noch funktioniert, ob der Souverän also faktisch noch souverän ist. Was aber geschieht, wenn die souveräne Ordnungsfunktion aus sich W selbst heraus versagt und der Staat beispielsweise zerfällt? Diese Frage ist viel diskutiert worden, und auch der Leviathan selbst widmet ihr Aufmerksamkeit. Hobbes diskutiert Probleme wie Korruption, fiskalische Fehler oder auch den zu passiven, inaktiven Staat mittels medizinischer Metaphern als „Krankheiten“ des Staates. Ein Widerstandsrecht, also ein innerstaatliches, gesetzliches Recht, einen schlechten Souverän zu beseitigen, haben die Untertanen in solchen Fällen freilich nicht. Im Grenzfall muss erst wieder der Naturzustand entstehen: ein Bürgerkrieg oder ein vergleichbares Interregnum. In diesem Fall – Zerfall des Staates – ist dann aber auch der Monarch nicht mehr geschützt. Hobbes spricht das klar aus, und auch seine Konstruktion lässt keinen Zweifel: Einem Souverän, der keiner mehr ist, muss man nicht gehorchen, zum Beispiel im Eroberungsfall. Und man kann einen machtlosen Souverän, der etwa Bürgerkrieg zulässt, durch Tyrannenmord beseitigen, namentlich dann, wenn dadurch eine neue Ordnungsmacht etabliert werden kann. Ob in einem solchen Fall der zerfallene Staat dann einfach wiederhergestellt ist (‚der Führer schützt das Recht‘), oder ob gleichsam eine neue Gründung und Einsetzungsszene von der Basis her erfolgen muss – das lässt Hobbes offen. Ist die Staatskontinuität oder
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die Kontinuität der Freiheit der Einzelnen entscheidend, mit der der body politic, der politische Körper, entstand? Dies bleibt bis heute diskutierbar. Es kann etatistische ‚Rechts-Hobbesianer‘ geben, die nach der ersten Staatsgründung nur mehr eine Souveränität sehen, die gleichsam keine Herrschaftslücken zulässt, wohingegen radikaldemokratische ‚Links-Hobbesianer‘ auf einem Wiedereintritt anarchischer Verhältnisse bestehen würden, bevor eine neue Ordnungsmacht sich etabliert. Erwähnenswert ist auch die Rolle der Bildung im Leviathan. Nach Hobbes gehören bestimmte Ausbildungselemente zu den Staatsaufgaben – aber auch an den Universitäten ist die Pflicht zum Gehorsam die Grenze der Wissensbildung. Die Notwendigkeit zur Kontrolle der Hochschulen macht Hobbes in seinem Spätwerk Behemoth besonders deutlich.3 Wie später Kant, ist Hobbes zwar ein Verfechter der Schulung des Verstandes, aber er trennt das Funktionieren des Gesetzesstaates von der Frage des Erfolges staatlicher Bildungsinstitutionen und auch vom moralischen Niveau der Untertanen ab. Schließlich die Religion: Sie bleibt als private Freiheit. Die Macht der Kirche aber wird auf ein pädagogisches Minimum zurückgeschnitten: Sie hat Bildungsaufgaben, jedoch keinerlei Zugriff auf die Politik. Der Leviathan, als Ganzheit betrachtet, wird nicht aus Glaubenskomponenten zusammengehalten, und er besteht auch nicht aus psychischen oder Bedürfnisgrößen. Was freilich ist der Leviathan dann? Ein body politic, politischer KörW per. Aus welchem spezifischen Stoff jedoch wäre ein solcher politischer Körper geformt? Hobbes verwendet die Analogie der Maschine, freilich in einer Zeit, in der man sich auch den Menschenkörper als Maschine vorstellte – als eine zusammengesetzte Funktionseinheit eben. Eine bloße Organ-Natur meint Hobbes sicher gerade nicht, denn er betont den künstlichen Charakter der staatlichen Ordnung. Modern gesprochen: Der Leviathan ist unwahrscheinlich, wenn nicht sogar singulär. Im Text ist einmal vom „artificial man“, einmal vom „deus mortalis“ die T Rede. Vom künstlichen Menschen also wie auch vom sterblichen Gott. Die Staatsorganismuslehren des 19. Jahrhunderts bevorzugten das Bad Cannstatt 1980. 5 Diese Parallele ziehen Shapin, Steven, Schaffer, Simon (Hg.), Leviathan and
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durch den Namen nahe gelegte Bild vom ,Tier‘, vom zwar künstlich erschaffenen, aber doch quasi natürlichen Lebewesen. Carl Schmitt hat dagegen geraten, den Leviathan eher als Maschine, denn als ein organisches Lebewesen zu betrachten. Das wird in der Tat der fast mathematischen Strenge gerecht, mit der Hobbes den Staat letztlich als juridischen Funktionszusammenhang, als bloße und abstrakte Form, als Gesetzeswesen durchkomponiert. Ulrich Weiß hat das hobbessche Systemdenken mittels der Analogie einer kybernetischen Struktur plausibilisiert.4 Ich selbst würde weniger die Maschine oder den Regelkreis oder die Druckpumpe5 als Analogie wählen, als vielmehr den spezifisch juridischen, den erstens normenlogischen, zweitens aber regelrecht normentechnischen Charakter des Zusammenhangs herausstreichen. Die Friedensutopie des Thomas Hobbes realisiert weniger ein unterschwellig religiöses als vielmehr ein technisches Paradigma. Und „Technik“ zielt hier nicht auf eine Mechanik, sondern auf die spezifische normative Technik (oder Kunst) des Rechts. Der Staat sei ein künstliches LebeweT sen, schreibt Hobbes im Leviathan, die Souveränität sei dessen Seele, die Beamten und Juristen seien „künstliche Gelenke“, die Vernunft der Wille etc. Das mag organizistisch klingen. Diejenige Technik oder Kunst, die das große sterblich-erhabene Wesen zusammenfügen kann, ist jedoch das Recht. Der Leviathan hat ein Fleisch aus normativem Gewebe: Es „gleichen die Vertr träge und Übereinkommen, durch welche die Teile dieses politischen Körpers zuerst geschaffen, zusammengesetzt T und vereint wurden, jenem ‚Fiat‘ oder ‚Laßt uns Menschen machen‘, das Gott bei der Schöpfung aussprach.“
the air-pump: Hobbes, Boyle, and the experimental life, Princeton 1989. Was freilich den juridischen Charakter von Hobbes’ Denken verfehlt. Die Logik der covenants ist keine des ,Drucks‘ und auch keine der Bändigung von Natur, sondern eine der wirksamen Bindung. 1 Spinoza, Baruch de: Ethica Ordine Geometrico demonstrata. Die Ethik mit geometrischer Methode begründet, in: Opera. Werke. Lateinisch und deutsch,
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Wie beantwortet und wie durchbricht der Leviathan seine Zeit? Hobbes schenkt seiner Zeit einen mathematischen (manche sagen: mechanischen) Funktions-Blick auf Strukturen, die in ihrer gewachsenen Form gescheitert scheinen. Der Leviathan vermeidet die Züge einer Utopie (etwa derjenigen Campanellas), aber er setzt der offenkundigen Unsicherheit, der Gewalt und dem Chaos einen kühlen, wir würden heute sagen: einen „kontrafaktischen“ Materialismus entgegen. Und das ist eine Vision. Zugleich ist Hobbes Werk kritisch. Eine geistreiche, funktionalistische Entzauberung aller angestammten Begründungen von Herrschaft. Gegen die Erbmonarchie o. Ä. wird allein die Souveränitätsfunktion begründet und nicht das Privileg einer bestimmten Familie oder Klasse, sondern allein der abstrakte Kern der Beherrschung eines Gemeinwesens der Gleichen in einer durchkomponierten Staatsarchitektur ins Werk gesetzt. Eben dies – die Tatsache, dass nach Hobbes jeder beliebige faktische Herrscher Souverän sein kann (und, wenn er es ist, bleiben soll) – bringt ihn beim französischen Hof in Misskredit. Auch die klare Abtrennung der Kirche von der Politik ließ den Leviathan damals alles andere als konservativ erscheinen. Namentlich die katholische Kirche hat Hobbes in eifernden Streitschriften regelrecht als „Teufel“ dämonisiert – und bis heute stützen sich konservative Staatslehren zumeist lieber auf ,Werte‘ als allein auf Funktionsgesichtspunkte der Macht. Umgekehrt ist der von Hobbes formulierte abstrakte Zusammenhang von Souveränität, Gesetz und Sicherheit gerade nicht primär für den Machtstaat, sondern für das Denken des Rechtsstaates zur Schlüsselfigur geworden. Weder die Rechtsphilosophie Kants noch die Rechtstheorie Kelsens oder andere Prinzipientheorien der Rechtsstaatlichkeit sind ohne Hobbes zu denken. Rezeptionsfragen Hobbes beantwortet seine Zeit durchaus neu – und er ist in der Rezeption seither immer wieder neu gelesen worden und ,neu‘ gewesen. Er ist jedoch von Anfang an ein Autor, der polarisiert, und zwar gleicher-
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maßen durch den Inhalt seines Denkens wie durch die Strenge der gedanklichen Form. Hobbes wurde, sofern er dem Absolutismus seiner Zeit das Wort zu reden schien, vielfach abgelehnt. Dennoch fand er auch unter politisch anders Gesonnenen faszinierte Leser. Spinoza, Kant oder auch Hegel beziehen sich auf ihn – und es gibt auch im 20. Jahrhundert eine Fülle von, man möchte sagen: ‚kreativen Hobbesianern‘, etwa den Staatsrechtler Carl Schmitt oder (was den Machtbegriff angeht) den Soziologen Max Weber oder den ultraliberalen Ökonomen Robert Nozick mit Anarchy, State, and Utopia (1980) oder auch den Historiker Reinhart Koselleck in Kritik und Krise (1959), um nur einige zu nennen. Philosophisch zentral ist in der Diskussion des Leviathan das offene Verhältnis von einerseits der Anthropologie und andererseits der systematischen Staats- oder auch Normenkonzeption. In den Nachkriegsjahren hat man – unter demokratietheoretischer Perspektive – eher dem Anthropologen Hobbes eine zeitübergreifende Bedeutung zugemessen. Die rigide Staatstheorie wurde quasi als Zeitgeistfolge gedeutet, als Reaktion auf den Dreißigjährigen Krieg oder auch als politischer Opportunismus des Autors Hobbes – jedenfalls eher in den Hintergrund gerückt. Bedeutsamer schien hingegen die hobbessche Anthropologie: Der Zusammenhang von Angst und Sicherheitsbedürfnis im Einzelmenschen, der weiß, dass er im Ernstfall allein da steht: Bildet dieser Zusammenhang nicht tatsächlich ein unbestreitbar rationales Motiv für Unterwerfung – und zwar für prinzipielle Unterwerfung unter Gesetze und für die Anerkennung einer absoluten Autorität? Diese Frage führt gleichsam auf die Rückseite all derjenigen modernen Demokratietheorien, die sich gegen Gewalt als Naturtatsache verwahren, die auf soziale Kräfte und auf Kommunikation setzen und die auch hinter der Unbedingtheit des Rechts nicht bloß Interessenmechanismen oder eine deffensive Vernunft sehen wollen, sondern beispielsweise eine rationale Konsensorientierung. Was aber, wenn die Welt weder innerstaatlich noch zwischenstaatlich noch ,weltgesellschaftlich‘ aus sich heraus konsensorientiert funktioniert? Die neuere Hobbes-Forschung hat weniger die Anthropologie als vielmehr einen abstrakten Zusammenhang herausgestellt, den man mit
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Hobbes durchdenken kann – und zwar den systematischen Zusammenhang zwischen Normen, Sprache und Ordnung. Gibt es aktuelle Anschlussmöglichkeiten? Zu Anfang hatte ich bereits herausgehoben: Hobbes ist ein Theoretiker der Gesetzesmacht, aber er ist auch ein Denker dessen, was über die Grenzen der bloßen Sprachform hinaus das Gesetz zum Gesetz macht – und das Recht zum Recht. Man könnte dies auch so ausdrücken: Hobbes versteht das Politische als Form eines Mediums. Und er ist ein Medientheoretiker des Rechts. Was Hobbes scharf herausstellt, ist der enge Zusammenhang zwiW schen einerseits einer auf bestimmte Weise begrenzten Kraft der bloßen Sprache und andererseits der geheimnisvollen Dimension einer in die Sprache hinein verflochtenen Institution. In der politischen Ordnung steckt eine für die Dimension des Normativen konstitutive Macht. Eine Macht, die unverzichtbar ist, um Sätzen Bindungswirkung, Geltungskraft und – rechtstheoretisch gesprochen –,Wirksamkeit‘ zu geben. Und was ‚ist‘ demnach das Normative? Es ist das, was das Individuum erreicht und vernunftvoll bindet noch über die Wahrheit oder die Vernünftigkeit der Sprache hinaus. Das Wort, ja – aber das Wort nie ohne das Schwert. Aus dieser Maxime spricht eine Resignation gegenüber dem, was die Vernunft, der Diskurs, überhaupt nur im Medium der Sprache an Verpflichtung und Verbindlichkeit entfalten kann. So besehen wäre also Hobbes’ Staatslehre eine frühe Theorie über das richtige Medium von vernünftiger Politik – wenn denn die Vernunft, allein und pressionsfrei mitgeteilt, keine Kraft entfaltet, aber doch die Idee der sicheren, zweifelsfreien Wahrheit in das Medium von Politik hineingeholt werden soll. Gesetzt den Fall, Vernunft wäre das reale Zusammenbringen von eigenen Bestrebungen mit den Bestrebungen der anderen, also von lauter Wahrheiten, die ich nur glauben und nicht selbst haben kann. Dann schaffte das wahre Wort ohne Schwert nie den Frieden, den Hobbes erstrebt. Das wahre Wort allein könnte aber wiederum nur gelten, solange dieser Frieden dank einer anderweitigen Macht, die ihn sichert, herrscht. Entweder also: Mehrdeutigkeit einer
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politischen Sprache, der die Bindungswirkung fehlt – und dann unfriedliche Diskurse, Palaver, ständiger Konflikt, Raub, Willkür, Mord. Oder aber: Eindeutige Gesetze und die Autorität einer Ordnung, die die Sprache bindet – und dann Misstrauen und Unsicherheit soweit beseitigen kann, dass rationale Wahrheitssuche und Frieden möglich werden. Ich denke, diese einfache Alternative – Chaos oder Ordnung – ist heute nicht mehr aktuell, auch wenn sie vielleicht aktueller ist als die Bewohner des Elfenbeinturms in einem wohlhabenden Land in Friedenszeiten sich vielleicht eingestehen möchten. Auf jeden Fall aktuell ist aber Hobbes’ Leviathan als hellsichtige Stellungnahme zum politischen Wesen und zur spezifischen Medialität des Rechts. Die Form „Recht“ oder „Rechtsgesetz“ ist bestenfalls zur Hälfte wirklich Sprache, die aus sich selbst heraus vernünftig ist. Die andere Seite der Form, die Macht und Vertrauen stiftende Seite von gesetzesförmigen Feststellungen, verweist – auch heute noch – auf die dunkle, die monströse Wirklichkeit des politischen Körpers. Sie verweist auf das Tier in der staatlichen Politik: Staatliche Politik und rechtsstaatliche Ordnungen sind – in letzter Instanz – organisierte Gewalt.
Baruch de Spinoza: Ethik
eva schürmann
Spinozas Ethica1 besteht aus fünf Büchern, die von Gott, der Natur, den Menschen, ihrer Knechtschaft und ihrer Freiheit handeln. Das Verfahren, mittels dessen Spinoza sein Theoriemodell entwickelt, heißt mos oder ordo geometricus. Der mos ist eine logische, deduktive Argumentationsweise, die mit absolutem Gültigkeitsanspruch die Wahrheit des Seins abzubilden beansprucht. Nach dem Vorbild Euklids entwickelt Spinoza ein System von Definitionen, Axiomen, Lehrsätzen, Beweisen, Erläuterungen, Anmerkungen und Folgesätzen, das durch freiere Formen der Einleitungen und Anhänge variiert wird. Es basiert auf der Annahme, dass es möglich sein müsse, aus wenigen, absolut gültigen und unbezweifelbaren Prämissen immer detailliertere Erkenntnisse sukzessive abzuleiten, die nicht falsch sein können, solange sie nicht gegen logische Gesetze und gegen das zuvor Bewiesene verstoßen. Der mos ist eine der Mathematik entlehnte Methode zur Beschreibung nicht-mathematischer Sachverhalte. Substanzmetaphysik Im ersten Buch „Von Gott“ entfaltet Spinoza seine gegen Descartes gerichtete Substanzmetaphysik. Die spinozanische Substanz hat mehr Ähnlichkeit mit dem, was die Griechen Hypokeimenon, das Zugrundeliegende, und Ousia, das Wesen des Seins, nannten, als mit dem, was man im jüdisch-christlichen Kontext Gott nennt. Die Substanz ist der allem zugrunde liegende Grund der Welt; das, was allein in sich ist und nur aus sich heraus begriffen werden kann. Sie ist nicht, wie im cartesischen Modell, zweigeteilt, sondern einfach, einheitlich und unteilbar. WähBd. II, hg. v. Konrad Blumenstock, Darmstadt 1967. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. 2 Schopenhauer warf Spinoza vor, ratio r und causa, Erkenntnisgrund und Wirkursache, verwechselt zu haben. Spinoza zufolge sind Kausalbeziehungen
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rend Descartes angenommen hatte, Denken und Ausdehnung, Geist und Materie, seien zwei Substanzen, erklärt Spinoza sie zu Wesensbestimmungen – Attributen – der Substanz. Ein Attribut ist das, was der Verstand als das Wesen der Substanz ausmachend erfasst. Das heißt, AtV tribute sind Bestimmungen der Substanz, insofern der Verstand sie wahrnimmt. Zugleich drücken sie das Wesen der Substanz aus. Die eine, unteilbare Substanz manifestiert sich gewissermaßen einmal als Materie, ein andermal als Geist. Jeder einzelne Körper und jeder einzelne Geist ist ein jeweiliger Modus der Attribute der Substanz. Die Attributenlehre eröffnet die Möglichkeit, Gott bzw. die Substanz in zwei verschiedenen Hinsichten perspektivisch in den Blick zu nehmen: Der Gott Spinozas ist ausgedehnt, insofern er unter dem Attribut der Ausdehnung betrachtet wird. Und er ist Geist, insofern er unter dem Attribut Denken erfasst wird. Der entscheidende Einwand von Spinozas monistischem Substanzkonzept gegen den cartesischen Substanzendualismus besteht in folgendem Gedankengang: Wenn es, wie Descartes behauptet hatte, zwei Substanzen gäbe, mithin zwei Exemplare derselben Gattung, müssten sie einander notwendig begrenzen, wären demnach endlich. Eine endliche Substanz aber wäre ein Widerspruch in sich, denn eine Substanz ist notwendigerweise unendlich (Ethik I, Lehrsatz 8). Etwas ist endlich, wenn es Gleichartiges neben sich haben kann, wodurch es begrenzt wird. Endlichkeit ist Determination und als solche Negation. Wenn der Grund der Welt negierbar wäre, würde die Macht der Negativität die Macht der Substanz übersteigen und müsste demnach ihrerseits als Substanz angesprochen werden. Das Problem würde sich nur verlagern. Als unendlicher, unbegrenzter Wesensgrund des Seinsganzen aber enthält die Substanz durchaus keine Negativität. Mit anderen Worten: Jede Form von Bestimmung ist die Negation alles anderen. Endliches Sein ist ein ganz bestimmtes Seiendes, dieses und kein anderes. Gäbe es zwei Substanzen, wie es zwei Körper oder zwei Gedanken gibt, würden sie einander begrenzen. Die Substanz würde dann aber nicht alles umfassen, alles einschließen können, es gäbe noch etwas anderes außer ihr, das aber heißt, sie wäre nicht die allem zugrunde liegende Substanz.
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Auch in zeitlicher Hinsicht muss das Seinsganze in seiner Substanz unbedingt positiv, ewig, ungeworden, ungeschichtlich sein. Hierin denkt Spinoza ganz parmenideisch: Wenn es geworden wäre, käme es aus dem Nichts. Das wäre dann erneut ein Moment von Negativität und nähme außerdem den undenkbaren Begriff einer creatio ex nihilo in Anspruch. Die solchermaßen als unendlich und ewig gedachte Substanz wird nun mit der Idee Gottes schlechterdings identifiziert: Substantia, sive Deus (Ethik I, Lehrsatz 11). Verbindet man mit der Idee Gottes jedoch eine außerweltliche und personale Entität, so hat die apersonale, immanente Substanz Spinozas wenig Ähnlichkeit damit. Der Gott des Philosophen ist nicht persönlich ansprechbar. Daher hielt Spinozas Mit- und Nachwelt seine Theorie für atheistisch. Ein weiterer systematisch entscheidender Schritt besteht darin, Gott oder die Substanz als Ursache ihrer selbst (causa sui) zu erläutern. Mit diesem Schachzug variiert Spinoza den ontologischen Gottesbeweis. Gott wird nicht aus seiner Vollkommenheit, sondern aus seiner Notwendigkeit erklärt. Nicht, weil das Fehlen seiner Existenz der Vollkommenheit Gottes widersprechen würde, ist Gott, sondern weil er sich als Ursache, die zugleich Wirkung ihrer selbst ist, nicht nicht verursachen kann, muss er notwendig sein. Im Übrigen liegt in der Hinwendung zur Kausalitätsfrage auch eine Variation des kosmologischen, aposteriorischen Gottesbeweises. Weil V es die Welt bereits gibt und diese sowohl einen Grund also auch eine Ursache haben muss (causa, sive ratio)2, muss es eine Substanz geben, die nicht ihrerseits erneut von etwas anderem begründet und verursacht sein kann. Das Universum ist mit Gott, der Substanz aller Dinge, identisch. Gott ist die immanente Ursache dessen, was ist, omnium rerum causa immanens; er ist weder eine außerweltliche, personale Entität, noch gibt es überhaupt ein Außen des göttlichen Alls. So kommt es zu dem berühmt gewordenen Schluss, dass Gott mit der Natur identisch sei: Deus sive natura. Dieser als Pantheismus bezeichnete Grundsatz wird im Deutschland der Klassik heftig und kontrovers diskutiert werden. aber zugleich logischer Natur, da die ontologische Ordnung (ordo rerum) der epistemologischen Ordnung (ordo idearum) entspricht. 3 Dieser Gedanke ist innerhalb des leibnizschen Konzeptes freilich genauso systematisch notwendig wie Spinozas gegenteilige Auffassung in dem
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Freiheit als Notwendigkeit Der Gott Spinozas ist nicht frei. Als mit der Natur identische Substanz kann er das auch gar nicht sein. Er folgt den Gesetzen seiner eigenen Natur, insofern könnte er selbstverständlich nicht das Aussetzen von Naturgesetzen bewirken. Freiheit existiert im ganzen spinozanischen Weltkonzept ohnehin nicht als Willensfreiheit. Sie besteht vielmehr in W der Einsicht in die Notwendigkeit des Ganzen. Freiheit heißt dann, zwischen erkannten Notwendigkeiten zu manövrieren und das eigene Verhalten daran anzupassen. Im fünften Buch der Ethica entwickelt Spinoza ein hochelaboriertes Konzept von Freiheit als Kraft des Erkennens, einsehendes Befolgen des Notwendigen, Einwilligung ins Eingesehene und daraus resultierende Beherrschung der Leidenschaften. Der vernunftbegabte Mensch handelt aus Liebe zur Freiheit, ex libertatis amore. Hier ist Freiheit also nicht jener grundlose Abgrund, den Schelling später bedenken wird, und auch keine Freiheit des Anfangenkönnens, wie Kant sie entwickelt. Nach Definition 7 des ersten Teils ist das Ding frei, das aus seiner eigenen Notwendigkeit existiert. Freiheit und Notwendigkeit kommen also nur wechselseitig aneinander gebunden vor. „Voluntas V non potest vocari causa libera, sed tantum necessaria“ (Ethik I, Lehrsatz 32) – Der Wille kann nicht freie Ursache, sondern nur notwendige heißen. Diese Gebundenheit ist es auch, die bedingt, dass Erkennen und Handeln in Gott gleich sind und Gott mit derselben Notwendigkeit handelt, mit welcher er existiert (Ethik II, Lehrsatz 3, Anmerkung). Dabei handelt Gott nicht absichtsvoll oder willentlich. Vielmehr zeigt Spinoza, dass „zur Natur Gottes weder Verstand noch Wille gehört“. – „Ad dei naturam neque intellectum, neque voluntatem pertinere.“ (Ethik I, Lehrsatz 17, Anmerkung) Dieser aus christlicher Sicht provokante Gedanke folgt systematisch notwendig aus der Apersonalität und Abstraktheit Gottes. Gott könnte niemals bewirken, dass aus der Natur des Dreiecks nicht die Winkelsumme von 180 Grad folgte. Spinoza zufolge leben wir deshalb auch nicht, wie Leibniz später behaupten wird, in der besten aller möglichen Welten3, sondern in der ein-
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zig möglichen Welt. „Res nullo alio modo […] a Deo produci potuerunt, quam productae sunt.“ (Ethik I., Lehrsatz 33) – „Die Dinge konnten auf keine andere Weise […] von Gott hervorgebracht werden, als sie hervorgebracht worden sind.“ Würde sie anders sein können, müsste man konzedieren, dass Gott frei ist, und das widerspräche dem zuvor Ausgewiesenen. Spinoza erklärt jeden freien Willen zu einer Selbsttäuschung, welche aus unvollständiger und unzureichender Ursachenkenntnis resultiert (Ethik II, Lehrsatz 25, Anmerkung). Gleichgültig, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht: Alles, was geschieht, geschieht aus Gründen und aus Ursachen und ist damit eben nicht völlig frei, sondern von Gründen motiviert und durch Kausalitätsketten bedingt. Mit diesen Überlegungen insistiert Spinoza vor allem auf dem Satz vom zureichenden Grunde und auf dem Grundsatz ex nihilo nihil fit. Sein ist demnach Begründetund Verursachtsein. „Von jedem Ding muss sich eine Ursache oder ein Grund angeben lassen, sowohl warum es existiert, als auch, warum es nicht existiert.“ (Ethik I, Lehrsatz 11, Beweis) Auch Negativität setzt also einen real wirksamen Grund voraus, damit etwas nicht zur Existenz kommt. Gründe für die Nichtexistenz eines Dinges sind uns aber in der Regel unbekannt. Der oft wiederholte Determinismusvorwurf ist insofern nicht überzustrapazieren. Die einzig mögliche Welt ist nur zureichend begründet, keineswegs ist sie durch einen göttlichen Plan prädeterminiert. Deswegen ist der einzelne Modus in ihr auch durchaus entwicklungsfähig. Wenn er sein Einsichtsvermögen entwickelt, macht er sich zur adäquaW ten Ursache seiner Affektionen und gewinnt dadurch an Freiheit. Auch der, modern gesprochen, ‚Raum der Gründe‘ ist insofern nicht frei. Dass Spinoza nicht trennt zwischen dem Reich des Sittlichen mit seinen Motivlagen und dem Reich der Natur mit seinen Verursachungen mag man seinigen. Der Gott Leibniz’ handelt nach Maßgabe des principium optimi und wählt das Beste, folglich muss die von ihm geschaffene Welt auch die beste aller möglichen sein. Voltaires Spott über die Kollisionen dieses Schlusses mit der Empirie in seinem Roman Candide setzt sich über die innere Folgerichtigkeit des Gedankens hinweg. 4 Vgl. V dazu Bartuschat, Wolfgang, Spinozas Theorie vom Menschen, Hamburg 1991.
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kritisieren, gleichwohl ergibt es sich notwendig aus dem Entsprechungsverhältnis von Ontologie und Epistemologie. Das, was ist, hatte für sein Sein zureichende Gründe, welche dem bloß Denkbaren und Möglichen fehlten, soviel ist gewiss davon zu sagen. Parallelismus und Monismus Das zweite Buch der Ethica beinhaltet Spinozas Naturphilosophie und seinen psychophysischen Parallelismus. Die Natur ist differenziert nach natura naturans und natura naturata, nach schaffender und geschaffener Natur. In der sich selbst verursachenden Natur geschieht nichts nach Zwecken, so Spinozas entschiedene Absage an jede Form von Teleologie. Zweckbestimmungen werden als anthropomorphe Bestimmungen, die mehr über die Beschaffenheit unseres Gehirns als über die Sachen selbst aussagen, abgelehnt. Wenn die natura naturata sinnfällig eingerichtet sein mag, sind dafür keine göttlichen Willensakte verantwortlich zu machen. Der einzelne Mensch innerhalb dieses Naturganzen ist eine Modifikation der Attribute der Substanz und zwar in zweifacher Hinsicht, nämlich einmal als Körper und einmal als Geist. Mit beidem ist er Teil eines großen Ganzen. Begreift man Spinozas Theorie des Menschen als eine frühe Form philosophischer Anthropologie4, so erscheint der Mensch darin als ein Wesen, welches unmittelbar affektgeleitet handelt und leidet, d. h. als Wesen, welches bestimmt ist von den Grundaffekten der Freude, der Trauer und des Begehrens. Er kann diese Affekte jedoch mit den Mitteln der Vernunft mäßigen und lenken und er kann daran arbeiten, mehr zu handeln als zu leiden. Affekte sind leibseelische Vorgänge und Zustände, d. h., sie sind immer zugleich körperlicher und geistiger Natur, sie sind Vermehrung V oder Verminderung der Kräfte der Physis und der Psyche. Hierin erweist sich Spinoza als anschlussfähig, denn heutige Überlegungen zur Psychosomatik lassen sich durchaus mit seiner Parallelismusthese erläutern. Spinozas Theorie basiert auf der Grundannahme eines Entsprechungsverhältnisses von Körper und Geist, einer Parallelität von Mate5 Im Traktat r über die Verbesserung des Verstandes hatte Spinoza vier Formen des Erkennens ausdifferenziert: Erstens die Erkenntnis vom Hörensagen,
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riellem und Ideellem. Erster Grundsatz des Parallelismuskonzeptes ist die Entsprechung von ordo idearum und ordo rerum: Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge (Ethik II, Lehrsatz 7). Der Parallelismus von Ideenwelt und Dingwelt resultiert aus der Parallelität der beiden Attribute Denken und Ausdehnung, welche nicht aufeinander reduzibel sind. Daraus folgen die Korrespondenzverhältnisse zwischen Körper und Geist, potentia agendi und potentia cogitandi, aber auch die Korrespondenz von Teil und Ganzem. Als Teil eines göttlichen Ganzen sind die besonderen Individualitäten auf den Monismus des Systems zurückbeugbar. Grundgedanke des Systems ist die Einheit hinter den Gegensätzen. Erst in der unendlichen Identität des Alls schneiden sich die Parallelen von Denken und Ausdehnung. In der jeweiligen Welt der einzelnen Ideen und der Dinge hingegen sind sie distinkt und different. Körper und Geist reagieren aber immer entsprechend: Leidenschaften der Seele setzen solche des Körpers voraus und umgekehrt. Ihre Parallelität liegt begründet in ihrer jeweiligen Zugehörigkeit zu den Attributen. Zunächst sind Körper und Geist wohl voneinander unterschiedene, wenn auch parallele Phänomene. Diese Phänomene werden hernach aber einmal im Hinblick auf das, was an ihnen besonders ist, ein anderes Mal im Hinblick auf das, was an ihnen allgemein ist, nämlich auf die Substanz bezogen, in den Blick genommen. Der Psychosomatik, der körperlich-geistigen Verfassung des Menschen, schreibt Spinoza zwei verschiedenen Kausalitätsketten zu. Körperliches wird unmittelbar nur durch Körperliches verursacht, Mentales durch Mentales, weil jedes in den Seinsbereich eines eigenen Attributes gehört, welche nicht aufeinander, sondern nur auf die Substanz zurückführbar sind. Wären sie aufeinander zurückführbar, müsste das eine Attribut ursprünglicher sein als das andere. Daraus ergäbe sich eine Hierarchisierung von Körper und Geist. Vom Parallelismus her verbietet sich jedoch die Annahme einer etwaigen Höherwertigkeit des Geistigen. Geistiges kann nur auf Geistiges einwirken, bedeutet z. B., dass man nicht willentlich die Veränderungen seiner Pupillen bewirken kann. Wenn diese sich bei Lichteinfall verengen, sind dafür keine mentalen Gründe in Anspruch zu nehmen. Gleichwohl ist es der Parallelis-
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mus, der bedingt, dass immer wenn man etwas fokussierend in den Blick nimmt, entsprechende Pupilleneinstellungen parallel dazu stattfinden – nicht aber daraus resultieren. Die Einheit der Parallelen ist ontologisch durch die Einheit der Substanz gesichert. Mit diesem Konzept stellt Spinoza sich heute anschlussfähiger dar als seine Zeitgenossen: Descartes mit seiner Zirbeldrüsentheorie und Leibniz mit dem Konzept der prästabilierten Harmonie. Denn seine Parallelismusthese ist mit einigen Argumenten der gegenwärtigen GeistGehirn-Debatte durchaus kompatibel: So erklären auch heute einige Philosophen die Korrespondenzen von psychischen und physischen Prozessen mit einem Aspektdualismus, der – zumindest in manchen Versionen – auf der Annahme einer prinzzipiellen Identität beruht. V Demnach sind neuronale Vorgänge identisch mit jenen, welche man lebensweltlich und phänomenologisch als mental oder psychisch erlebt. Diese Identität von nervösen und psychischen Prozessen wird nur einmal aus der Perspektive der Naturwissenschaften, ein anderes Mal aus der Perspektive der phänomenal erlebten Lebenswelt beschrieben, es handelt sich also nur um zwei verschiedene Aspekte und Betrachtungsweisen einer Identität. Eine solche Identitätsannahme macht Spinoza ebenfalls: „Mentem et Corpum unum et idem esse Individuum, quod jam sub Cogitationis, jam sub Extensionis attributo concipitur.“ (Ethik II, Lehrsatz 21, Anmerkung) – „Geist und Körper [sind] ein und dasselbe Individuum, welches bald unter dem Attribut des Denkens, bald unter dem der Ausdehnung begriffen wird.“ Spinoza braucht deshalb keine Kausaltheorie, um psychophysische Zusammenhänge zu erklären, weil er davon ausgeht, dass sie einander ohnehin entsprechen, und zwar notwendig, da sie in Hinsicht auf ihren göttlichen Urgrund eins sind. Praktische Philosophie Mit Buch III und IV kommen wir zu Spinozas praktischer Philosophie. Diese ist eine Individualethik des guten Lebens und richtigen Handelns, basierend auf einigen intellektualistischen Prämissen. Sie ist keine Moralphilosophie im Sinne einer normativen Sollensethik. „Ich werde“, schreibt Spinoza in der Praefatio des dritten Teils, „die menschlichen
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Handlungen und Triebe ebenso betrachten, als wenn die Untersuchung es mit Linien, Flächen und Körpern zu tun hätte“, das bedeutet: more geometrico nach dem Vorbild Euklids. Diese Nüchternheit ist dem Bemühen geschuldet, „niemand zu hassen, zu verachten, zu verspotten, auf niemand zu zürnen“ (Ethik II, Anhang), nicht zu moralisieren und nichts normativ vorauszusetzen. Gegenüber den Menschen des Ressentiments, die die Natur „bejammern, verlachen, geringschätzen oder […] verwünschen“ (Ethik III, Einleitung), will Spinoza eine nüchterne Beschreibung der Natur der Affekte bzw. der Affektnatur des Menschen in wissenschaftlicher Weise, d. h. weltanschaulich wertfrei, entfalten. Beeinflusst ist er dabei durch Descartes’ Schrift Les Passions de l’âme von 1649, einer deskriptiven Psychologie, in der Descartes als Grundaffekte Staunen, Liebe, Hass, Begehren, Freude und Trauer nennt. Spinoza reduziert diese Grundaffekte auf drei Hauptformen, unter die er alle anderen subsumiert: Freude, Trauer, Begehren. Freude und Trauer sind definiert als Übergänge zu größerer oder geringerer Vollkommenheit. Als diese Übergangsbewegungen bewirken sie Steigerungen und Minderungen der psycho-physischen Lebenskräfte. Liebe und Hass sind nichts anderes als Freude und Trauer unter den Bedingungen äußerer Ursachen, nämlich der geliebten und gehassten Gegenstände. Hass also wäre als Form von Trauer eine Verminderung der Kräfte unter der Bedingung einer äußeren Ursache. Unter Trauer (tristitia) ist nicht dasjenige Gefühl zu verstehen, das man heute im Sinn haben mag, wenn man etwa von der Notwendigkeit der Trauerarbeit spricht. Am ehesten kommt tristitia dem nahe, was man später ‚Unlust‘ nennen wird; es ist ein Oberbegriff, unter den man verschiedene Grade des Unerfreulichen, Widrigen, Unzuträglichen und zu Vermeidenden zusammenfassen kann. V In nahezu nietzscheanischer Umwertung der Werte betont Spinoza, dass es für Gut und Böse keine ontische Verankerung gibt. Gut ist eine relative Bestimmung, über die jeder nach Maßgabe seiner Affekte, d. h. eben nicht vernunftgeleitet, urteilt. So erscheint dem Habgierigen der Reichtum gut, dem Ruhmsüchtigen die Ehre usf.; über eine moralische Qualität des Begehrten ist damit noch gar nichts gesagt. Im Gegenteil, es handelt sich dabei eben um reine Begehrensbestimmungen und nicht
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um moralische Werte: „Wir begehren nicht etwas, weil wir es für gut halten, sondern wir halten es für gut, weil wir es begehren“, heißt es in der Anmerkung zu Lehrsatz 9, Ethik III. Deswegen versuchen wir, zu verwirklichen, was Freude verspricht, und zu vermeiden, was Trauer erwarten lässt. Was als Gut oder Böse bezeichnet wird, ist tatsächlich nur in beW stimmter Hinsicht nützlich oder schädlich, aus einer gewissen Perspektive erfreulich oder unerfreulich. Gut bezeichnet diejenige Eigenschaft eines Objektes, durch die es Gegenstand des Begehrens und Strebens wird, wie umgekehrt schlecht die Eigenschaft von etwas ist, das vermieden werden will. Diese Relativierung ist nicht in einem trivial-utilitaristischen Sinne misszuverstehen, sondern steht im Zusammenhang mit der Ablehnung der Teleologie-Hypothese. In normativ-moralischer Bedeutung wäre gut das Seinsollende. Sollen aber setzt Naturzweckmäßigkeit voraus, die Spinoza als Anthropomorphisierung der Natur zurückweist. Das Prädikat ‚gut‘ wird im Spinozismus wohl in der klassischen Bestimmung des Tugendgemäßen verwendet, mit Tugend aber ist eine Kraft und ein Tätigkeitsvermögen gemeint, nicht das Kriterium einer Gebots- oder Verbotsethik. So haben wir für Güte oder Bosheit auch weder Lohn noch Strafe zu erwarten, sondern Tugend ist der Lohn ihrer selbst (Ethik IV, Lehrsatz 18, Anmerkung), sodass ein tugendhaftes Leben im Interesse des Einzelnen und der Gemeinschaft liegt. Der Individualismus seiner zunächst an jeden Einzelnen und seine Lebensführung adressierten Ethik berücksichtigt die Interessen des anderen und der Gemeinschaft vor allem insofern, als Spinoza davon ausgeht, dass das Vernünftige für alle langfristig das Beste ist, und dass alle Vernünftigen darin notwendig übereinkommen müssen. Jeder Mensch ist bestrebt, sich in seinem Sein zu erhalten (conatus in suo esse perseverare), diese Prämisse teilt Spinoza mit Hobbes. Langfristig ist dieses Interesse jedoch nur erfüllbar, wenn auf die anderen Rücksicht genommen wird. Vom Standpunkt der Vernunft erscheint dies als eine selbstgewisse, unbezweifelbare Wahrheit. Selbst wenn man einwenden mag, dass Spinoza die Mathematisierbarkeit der Affekte überschätze, so ist seine Sittlichkeitslehre insgesamt aber kein übermäßig optimisti-
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scher, sondern ein sehr pragmatischer Vernunftglaube, verbunden mit einer tiefen Lebensbejahung: Was nützlich für den Menschen ist, ist auch gut, sofern es anderen nicht schadet. Die meisten Menschen stehen jedoch hauptsächlich unter dem Eindruck von Leidenschaften, deswegen braucht man die Vernunft als ein individuelles und eine vernünftige Politik als ein allgemeines Korrektiv. Scham und Reue, so lehrt uns die Affektenlehre, sind an sich betrachtet schlechte Gefühle, denn sie sind Trauer und mindern die Lebenskräfte. Höchstens pädagogisch, so schränkt Spinoza in der Anmerkung zu Lehrsatz 54 des vierten Teils ein, haben diese Gefühle einen gewissen Sinn, um Barbaren vor völliger Verrohung zu bewahren. Ein Hinweis auf Spinozas Handlungskonzept ist in diesem Zusammenhang interessant: Wir handeln nur, wenn wir adäquate Ursache unserer Affekte sind, d. h. adäquate Ideen haben, in allen anderen Fällen leiden wir. Hierin liegt der Grund für die starke Position der Erkenntnis in Spinozas praktischer Philosophie. Mittels Erkenntnis haben wir die Möglichkeit, adäquate Ursache unserer Gefühlszustände zu werden, Leidenschaften in Handlungen und Knechtschaft in Herrschaft zu verwandeln. Perspektivischer Aspektwechsel Schon im Zusammenhang mit dem Parallelismusgedanken sah man, dass das spinozanische Modell durch Aspektwechsel charakterisiert wird, die darüber entscheiden, unter welchen Gesichtspunkten etwas beschrieben und betrachtet wird. Betrachtet man Gott hinsichtlich dessen, was ihn vom Menschen unterscheidet, kommt eine Pluralität von Verschiedenheiten und Besonderheiten in den Blick. Betrachtet man die V Welt hingegen hinsichtlich ihres Verursachtseins durch Gott, fällt die W Einheit ins Auge. Dieser Blickwechsel zwischen einem quasi panoramatischen Blick aufs große Ganze und einem mikroskopischen Blick ins Detail ist konstitutiv für die ganze spinozanische Philosophie. Es handelt sich dabei um eine Art Perspektivismus avant la lettre, um einen methodisch betriebenen Aspektwechsel, mittels dessen die Dinge aus je verschiedenen Rezeptionswinkeln betrachtet werden: quatenus – eatenus,
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in se consideratus oder im Hinblick auf ihre Relation mit etwas anderem, sub specie aeternitatis oder in ihrer jeweiligen Verfassung. Die perspektivischen Hinsichtnahmen beginnen im Anhang zu Ethik I mit dem Hinweis auf die grundsätzliche Abhängigkeit jedes Urteils vom Urteilenden. Spinoza hält es für ein Vorurteil, anzunehmen, dass „die Ordnung etwas in der Natur, abgesehen von der Beziehung auf unser Vorstellungsvermögen, wäre“. Jeder indessen beurteilt „die Dinge nach der Beschaffenheit seines Gehirns“ und nach Lage seiner Affekte und verwechselt dergestalt die Affektionen seines Vorstellungsvermögens mit den Dingen selbst. „Deshalb erscheint dasselbe dem einen gut und dem anderen schlecht.“ (Ethik I, Anhang) Die Aspektabhängigkeit hat ihren ontischen Grund in der Tatsache, dass die Substanz im Hinblick auf zwei Attribute verstanden und betrachtet werden kann. Grundsätzlich gilt: „[…] die Dinge können auf zweierlei Arten als wirklich begriffen werden“ (Ethik V, Lehrsatz 29, Anmerkung), nämlich im Hinblick auf ihre Besonderheiten oder im Hinblick auf ihre Teilhabe am Ganzen. Die monistische, unendliche Identität der Substanz ist der Horizont vielfältiger Differenzen. Die Einheit der cartesianisch gespaltenen Welt wiederherzustellen, hatte Spinoza sich für die eine Substanz als Identitätsgrund allen Seins entschieden. Das bedeutet aber nur, dass die Dinge in ihrem Grunde und in ihrer allgemeinen Bezogenheit auf die Substanz identisch sind. Betrachtet man sie hingegen als besondere Modifikationen der beiden Attribute Denken und Ausdehnung, sind sie deutlich voneinander geschieden. Der Gott Spinozas ist demnach eine Einheit von Identität und Differenz, was sich niemals besser als in der Formel deus sive natura hätte ausdrücken lassen. Diese eigentümliche Gedankenfigur ist das Resultat jenes methodischen Verfahrens, vermittels dessen Spinoza die Dinge zunächst identifizierend, dann differenzierend in den Blick nimmt. Das sive garantiert den Unterschied ebenso wie es die Einheit stiftet. Ausgehend von der Grundannahme der Parallelität von Körper und Geist, Ideenwelt und Dingwelt, Allgemeinem und Besonderem, weist Spinoza immer wieder darauf hin, dass es vom Rezeptionswinkel des einsehenden Ich abhängt, ob man etwas im Hinblick auf seine Differenz zu an-
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derem oder im Hinblick auf die universelle Identität des Ganzes wahrnimmt. Je größer der Zusammenhang ist, den man als Horizont der betrachteten Modi wahrnimmt, umso deutlicher wird deren prinzipielle Identität. Gott ist der unendliche Fluchtpunkt, in dem sich die Parallelen schneiden. Die Perspektivik besteht in einer spezifischen Form des identifizierenden und differenzierenden In-Betracht-Ziehens und ist ein Kunstgriff, der die gesamte Philosophie Spinozas auf unterschiedlichsten Ebenen durchzieht. Vom guten Leben Im fünften Buch „Von der Freiheit“ gibt es eine denkwürdige Vermischung von Rationalismus und Mystizismus. Um diesen Teil der Ethica zu erläutern, müssen einige Begriffe geklärt werden, die ihm in eigentümlich vernetzter Form zugrunde liegen. Es sind dies die Begriffe aquiescentia animi (oder mentis), cognitio intuitiva und amor Dei intellectualis. Durch intuitive Erkenntnis, der dritten und höchsten Erkenntnisgattung5, hat der Mensch die Möglichkeit, seine Leidenschaften in Handlungen umzuwandeln, d. h. adäquate Ursache seiner Affekte zu werden. Dies bedeutet Herrschaft über Leiden und in diesem Sinne Freiheit. Ziel der spinozanischen Philosophie ist der homo liber, r der in maßvoll hedonistischer Weise, denn er versteht sein Leben zu genießen (Ethik IV, Lehrsatz 45, Anmerkung), und in gelassener Gemütsverfassung (aquiesbeispielsweise an dem und dem Tage geboren zu sein. Zweitens die aus zusammenhangloser Erfahrung (experientia e vaga) stammende wie etwa, dass Öl die Flamme nährt, Wasser sie löscht. Drittens die Erkenntnis durch Schließen aus anderen Dingen und deren Eigenschaften auf das Wesen eines Dinges, wie, dass die Sonne größer ist, als sie scheint, weil dies bei anderen entfernten Dingen auch der Fall ist. Viertens die Erkenntnis eines Dinges allein aus seinem Wesen heraus oder aus seiner nächsten Ursache, wozu die ewigen, vor allem die mathematischen Wahrheiten gehören, wie der Satz 2 + 3 = 5. In der Ethica geht es nur noch um drei Gattungen des Erkennens: empirische, rationale und intuitive Erkenntnis, letztere ist für die Erkenntnis des Alls grundlegend. 6 Zu Herders Spinoza-Rezeption siehe: Schürmann, Eva, „Ein System der Freiheit und der Freude. Herder auf den Spuren von Spinoza“, in: Spinoza im
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centia mentis) das Dasein liebt. Er kann dieses Ziel aber nicht erreichen, wenn er bloßes Objekt seiner Leidenschaften ist, sondern nur, wenn er Gebrauch von seiner Vernunft und damit Gebrauch von seiner Freiheit macht. Die komplexe Konzeption hat das Ziel einer weisen, heiteren Lebensführung. Der homo liber lebt rrationis dictamine (Ethik IV, Lehrsatz 67, Beweis). Der Weg führt notwendig über die Beherrschung derjenigen Affekte, „qui mali sunt“, und dies fällt in eigenartiger Weise mit der Liebe zu Gott zusammen: „Wer sich und seine Affekte klar und deutlich erkennt, liebt Gott.“ (Ethik V, Lehrsatz 15) Erkenntnis des Ganzen und seiner selbst als Teil dieses Ganzes wird also zur Erkenntnis Gottes. Wie kann das sein? Auch hier ist Spinozas perspektivische Methode entscheidend: Die eine Wirklichkeit besteht im endlichen, determinierten Sosein der Dinge und Menschen, die andere in ihrer Bezogenheit auf die Unendlichkeit des Ganzen. Diese zweite Art der Wirklichkeit zu erfassen, obliegt der Vernunft, insofern diese die Fähigkeit hat, die Dinge sub specie aeternitatis zu betrachten. In seiner Gebundenheit an den Körper, vermittels dessen er wahrnimmt, ist der Geist sterblich. Als Vernunft jedoch ist er Teil des unendlichen Ganzen. Diese letzte Hinsicht ist es, die einen untrennbaren Bezug des Menschen bzw. der menschlichen Vernunft auf Gott garantiert. Durch die Eigenschaft der Vernunft, die Dinge in der intuitiven Erkenntnisgattung als notwendig und ewig zu betrachten, befindet sich der Mensch seiner Möglichkeit nach im Besitz desjenigen Mittels, mit dem er sich Gott nähert, das Ganze erfassen kann und das Sein in seiner ewigen Identität intuitiv erschaut. Was aber ist diese merkwürdige Liebe zu Gott? Es kann schließlich W nicht die affektverhaftete Beziehung zu einem Wesen sein, dessen Apersonalität man zuvor mühsam ausgewiesen hatte. Gott, so belehrt Lehrsatz 17 des fünften Teils, kann nicht lieben, allein schon, weil er als ens perfectissimum nicht zu größerer Vollkommenheit übergehen kann. Und die Liebe zu Gott als dem würdigsten, weil ewigen Gegenstand erwartet deswegen keine Gegenliebe, weil sie selbst nicht das in der Affektenlehre bezeichnete Gefühl ist. Wenn es dennoch heißt: „Deo se amet“ (Ethik V, Lehrsatz 35), muss das folglich anders verstanden werden als im Sinne der Affektenlehre.
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Was aber kann Gott an sich selbst lieben? Doch wohl nur das Sein als Ganzes: Der amor Dei wäre dann eine Liebe zum All und zu allem Seienden und käme dem nahe, was man in anderen Zusammenhängen amor mundi nennt. „Hinc sequitur, quod Deus, quatenus se ipsum amat, homines amat, et consequenter quod amor Dei erga homines, et Mentis erga Deum Amor intellectualis unum, et idem sit.“ (Ethik V, Lehrsatz 36, Folgesatz) – Hieraus folgt, dass Gott, insofern er sich selbst liebt, die Menschen liebt, und folglich, dass die Liebe Gottes zu den Menschen und die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott eins und dasselbe sind. Gott und Mensch partizipieren gleichermaßen an dieser geistigen Liebe, die als mystische Konzeption die Aufhebung der personalen Vereinzelung zugunsten einer Vereinigung des Einen mit dem All, des Besonderen mit dem Allgemeinen, bezeichnet. Der freie und vernunftbegabte Mensch nähert sich in der intuitiven Erkenntnis des amor Dei der göttlichen Perspektive auf den Kosmos an und ‚schaut‘ diesen sub specie aeternitatis als universelle und ewige Identität. Skandal und Ruhm Die Reaktionen der Nachwelt sind bis heute gekennzeichnet durch eine auffällige Emphase in Ablehnung oder Bewunderung. Bis zu Tonio Negri und Gilles Deleuze reichen die zeitgenössischen Bemühungen um Spinoza. Lessing schockierte seine Mit- und Nachwelt durch das Bekenntnis‚ es gebe für ihn keine andere Philosophie als die des Spinoza, und gab damit das Startsignal für eine Spinoza-Renaissance, die das intellektuelle Deutschland der Klassik in zwei Lager spaltete, die einander wechselseitig an Leidenschaftlichkeit überboten. Dass der Weimaraner Superintendent Johann Gottfried Herder6 sich auf die Seite des Atheus schlug, war ein Skandal. Die Idealisten lasen Deutschland des 18. Jahrhunderts, hg. v. Eva Schürmann, Norbert Waszek und Frank Weinreich, Stuttgart 2002. Sowie den Beitrag von Heinrich Clairmont ebd. 7 Jacobi, Friedrich Heinrich, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Darmstadt 1968. Ersterscheinen 1785.
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Jacobis Spinoza-Kritik7, die viel mehr zum Ruhme Spinozas beitrug als dem Autor lieb war, heimlich im Tübinger Stift. Schelling urteilte, es dürfe keiner hoffen, zum Wahren in der Philosophie fortzugehen, der sich nicht einmal wenigstens in seinem Leben in den Abgrund des Spinozimus versenkt habe, und Hegel fügt hinzu: „Entweder Spinozismus oder gar keine Philosophie.“8 Doch natürlich lassen die Idealisten es auch an Kritik nicht fehlen. Spinozas System ermangele des Zeitaspektes, so Hegel, das ungewordene Universums Spinozas sei ‚akosmisch‘, dogmatisch, unbewegt, es gebe darin keine Differenz, keine Besonderheit und keine Entwicklungsdynamik, Spinoza habe „dem Negativen Unrecht getan“.9 Fichtes schwerwiegendster Einwand gegen den Spinozismus geht gegen den Freiheitsbegriff. Zwar begrüßt er den Monismus des Systems, wenn er schreibt: „Dieß war eben die Schwierigkeit aller Philosophie, die […] mit dem Suchen der Einheit Ernst machte, daß entweder wir zu Grunde gehen mußten, oder Gott. Wir wollten nicht, Gott sollte nicht! Der erste kühne Denker, dem hierüber das Licht aufging, […] war Spinoza.“10 Aber er kritisiert zugleich: „An Freyheit ist in diesem System nicht zu denken. So wenig jemand seinen Gedanken Freyheit zuschreiben wird, so wenig kann nach Spinoza dem endlichen Wesen Freyheit zugeschrieben werden; es ist ja nicht, sondern durch und in ihm ist das All.“11 Bei aller Problematik, die darin liegt, einem Philosophen vorzuwerfen, über etwas nicht gesprochen zu haben, worüber er gar nicht sprechen wollte – Spinozas System hat nicht den Sinn, Freiheit zu erklären –, ist daran sicher richtig, dass der intellektualistische Handlungsbegriff des 8 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, V Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 19, Frankfurt/Main 1971, S. 374. 9 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, V Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., S. 418. 10Fichte, Johann Gottlieb, Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahr 1804. Gesamtausgabe Band II, S. 114. 11Fichte, Johann Gottlieb, V Vorlesungen über Logik und Metaphysik 1797. Gesamtausgabe Band IV, S. 369. 1 Kant, Immanuel, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. VIII, Berlin 1968ff., S. 35.
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Spinozismus nicht hinreicht, um unerwartete Praxis-Dynamiken zu erklären. Handlungen bei Spinoza sind nicht, wie bei Fichte, bestimmende Setzungen des Ichs, die auch anders hätten ausfallen können. Auch liegt der Grund für etwas Existierendes nicht in den Handlungen eines einzelnen Modus. Handlungen insgesamt haben mehr mit Einsichten als mit Konstitutionsleistungen zu tun und sind insofern mehr retroaktiv als innovativ. Wenn Vernunftgründe das Handeln bestimmen, und man sich in Kenntnis darüber befindet, dann handelt man, insofern man adäquate Ursache seiner Affekte ist. Und doch ist es so, dass die Idealisten in Spinoza den Denker des Hen kai Pan, des All-Einen, sahen, und mit der Forderung, die Substanz sei als Subjekt zu denken, annahmen, es ließe sich der zentrale Begriff aus Spinozas System in ihre eigenen übertragen, ohne dadurch aufzuhören zu sein, was er war. Vermutlich wird dadurch jedoch die Applikabilität des Spinozismus auf die Philosophie der Subjektivitätstheoretiker überschätzt. Wenn aus heutiger vernunftkritischer Sicht der optimistische Glaube an die Heilsamkeit von Einsichten skeptisch betrachtet wird, so darf man nicht vergessen, in welcher Zeit Spinoza spricht und wogegen er sich wendet. Wenn man heute kritisiert, hegemoniale Ansprüche hinter jeder Forderung nach Vernunft vermutet und die Herrschaftsförmigkeit kritisiert, die darin liegt, sich in einer relativen Welt Definitionsmacht darüber anzumaßen, was vernünftig und allgemeingültig sei, so basieren diese Gesichtspunkte auf gänzlich anders gearteten Denkvoraussetzungen und zeitgeschichtlichen Notwendigkeiten. In Spinozas Zeit, in der es bei Strafe des Stranges oder des Scheiterhauffens verboten war, von den herrschenden Dogmen in Kirche und Staat abzuweichen, ist die Berufung auf Mündigkeit und Gedankenfreiheit ein Akt der Emanzipation von autoritärer Herrschaft. Dass dieses Emanzipationsinteresse im Laufe der Jahrhunderte umschlagen könnte, konnte den Frühaufklärern noch nicht vor Augen stehen.
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft alfred nordmann
Immanuel Kant war 56 Jahre alt, als 1781 die Kritik der reinen Vernunft erschien. Ein statistisch durchschnittlicher Königsberger hätte dieses Alter nicht erreicht. Nach einer bereits überdurchschnittlichen Philosophenkarriere und einer fast zwölfjährigen schriftstellerischen Pause fängt mit diesem Werk die wichtigste Schaffensphase Kants überhaupt erst an. Dieser Neuanfang wird heute als Anfang der kritischen, im Gegensatz zur vorkritischen Philosophie Kants bezeichnet. Demnach begründet die Kritik der reinen Vernunft ein Programm, dass sich von allem Vorhergegangenen unterscheidet und in zwei Richtungen systematisch weiterbildet. Davon führt eine Richtung über die Prolegomena zu einer jeden künfigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können zu zwei weiteren Kritiken – der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft – und schließlich zum Ewigen Frieden und dem von den Kritiken beschwichtigten Streit der Fakultäten. Ist dies eine eher horizontale Entwicklung, die sich auf den ganzen Menschen in theoretischer, praktischer und teleologisch-ästhetischer Sicht ausweitet, so gibt es von der Kritik der reinen Vernunft aus zweitens noch eine vertikale Entwicklungsrichtung, die von der Metaphysik hinab auf die Physik zu führt. Diese Entwicklung wurde von Kant nur teilweise ausgeführt. Den 1786 erschienenen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft ffolgen im posthum veröffentlichten Werk bloß noch Skizzen zum „Übergang zur Physik“. Zielt die Horizontale also auf ein umfassendes System, kann insbesondere die Vertikale vorführen, wie metaphysisch die Wissenschaft, wie wissenschaftlich die Metaphysik geworden ist. Aber ob von einem End-
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punkt her das System überblickt wird oder vom anderen Endpunkt her die transzendentale Rekonstruktion der Physik, wir kommen immer wieder staunend auf den Ausgangspunkt dieser Entwicklungen zurück, nämlich die Kritik der reinen Vernunft als dem Beginn einer kritischen Philosophie. Staunen erregt dieser Ausgangspunkt auch deshalb, weil es ganz und gar nicht offensichtlich ist, wie sich unter dem Banner der Kritik ein dermaßen artikuliertes Lehrgebäude verfestigen lässt. Was soll „Kritik“ eigentlich heißen, wenn sie einerseits für einen vollkommenen Neubeginn nicht nur der Philosophie Kants stehen soll, aber auch für die Absicht ihrer Vollendung in einer systematischen Metaphysik als Wissenschaft? Die Schwierigkeit spitzt sich dadurch noch zu, dass in der Abfolge f der Veröffentlichungen zwischen den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und der Kritik der praktischen Vernunft auch noch eine zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft erscheint. Auf die Anzahl der Seiten gerechnet, lässt sich angesichts dieser zweiten Auflage sagen, Kant habe nicht besonders viel geändert, weswegen die meisten papierknausrigen Verleger beide Auflagen ineinander schieben und die so genannten A- und B-Ausgaben als ein Buch verkaufen. Wer jedoch betrachtet, wo Kant was geändert hat, wird Arthur Schopenhauer oder Paul Feyerabend zustimmen, dass es sich hier um zwei grundverschiedene Bücher handelt, und wo sie sich unterscheiden, das ist insbesondere im Verhältnis von Kritik und System, Kritik und Wissenschaft. Einerseits ist es also ganz und gar kein Zufall, dass dieses Buch Kants hier als ein Hauptwerk der Philosophie auftritt, andererseits fragt sich nun, welches Buch dies eigentlich ist. Soll von der ersten oder der zweiten Auflage die Rede sein oder von beiden? Von dem Buch, mit dem die kritische und gewissermaßen unsere heutige Philosophie beginnt, in Abgrenzung vielleicht von der vorkritischen? Oder von dem Buch, das sich um eine wissenschaftliche Philosophie bemüht und ein so allumfassendes philosophisches System begründen will, dass es sogar noch die Physik umschließt? Von all dem soll die Rede sein. Somit geht es im Folgenden zunächst um den Aufbruch in die kritische Philosophie, dann um die Differenz zwischen den beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft und schließlich um die Frage, wie sich Kritik mit Dogmatik versöhnt und Wissenschaft werden kann.
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Vom süßen Schlaf zum ewigen Frieden „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Kaum ein Satz Kants ist so berühmt wie dieser aus seiner „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“.1 Dort heißt es, dass der Mensch seine Unmündigkeit lieb gewonnen habe. Das Zeitalter der Aufklärung beginne erst, wenn die Natur „den Keim für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat“. Dieses Zeitalter nennt Kant in seiner Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft auch so: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß.“2(A XII) Was im Aufklärungsaufsatz als Ausgang aus einer lieb gewordenen, W sorgsam behüteten Unmündigkeit figuriert, das erscheint im Übergang von vorkritischer zu kritischer Philosophie als das Erwachen aus einem dogmatischen Schlummer oder süßen Schlaf. So schreibt Kant: „Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meine Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab.“3 Wie die selbstverschuldete Unmündigkeit gebiert der auch noch so süße Schlaf der Vernunft Ungeheuer. „Äußere Ruhe ist nur scheinbar“, schreibt Kant (A 777), solange die Vernunft von Anfechtungen heimgesucht wird, denen gegenüber sie nicht gleichgültig sein kann. Die ersten Worte der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft beschreiben diese Anfechtungen als das Schicksal der menschlichen Vernunft, „daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann“, die sie aber auch nicht beantworten kann, da ihre Beantwortung alles Vermögen der menschlichen Vernunft übersteigt (A VII). 2 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe neu hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1976. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe – mit im Text nachgestellten Seitenzahlen – zitiert, und zwar nach der Seitenzählung der ersten (A) oder zweiten (B) Auflage. 3 Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, in: Kants Werke a. a. O., Bd. IV, S. 260. 4 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Kants Werke a. a. O., Bd. IV, S. 468.
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In diese ungemütliche Situation gerät die unkritisch schlummernde Vernunft ohne Schuld und geradezu naturwüchsig. Sie findet nämlich V Begriffe und Grundsätze vor, die für das Erfahrungswissen unvermeidlich sind und sich dort auch gut bewähren. Ein Beispiel hierfür ist der Kausalbegriff, also der Grundsatz, dass allem, was sich in unserer Erfahrung darstellt, eine Ursache vorausgeht, oder dass alles, was ist, aus einem vorherigen Zustand hervorgegangen ist. Gerade die Tauglichkeit dieses Grundsatzes in Erfahrungsdingen verleitet uns dazu, beispielsweise nach einer ersten Ursache zu fragen und an diese Stelle einen unbewegten Beweger oder Gott zu setzen. Zugleich jedoch spüren wir die Schwierigkeit, uns so etwas wie eine erste Ursache überhaupt zu denken, da unser Grundsatz doch beinhaltet, dass jede Ursache wiederum verursacht sei. Da der Menschenvernunft für derlei Untersuchung der Prüfstein der Erfahrung nicht mehr zur Verfügung steht, stürzt sie sich in Dunkelheit und Widersprüche (A VIIf.). Die äußere Ruhe des dogmatisch süßen Schlummers ist also bloß scheinbar – Kant bezeichnet sie einmal als die „Euthanasie der reinen Vernunft“ (A 407) –, denn in ihr gären Widersprüche, die zunächst einmal, im Erwachen, zu Tage gefördert werden müssen. „Den Gegner aber müssen wir hier jederzeit in uns selbst suchen“, schreibt Kant daher in einem Abschnitt zur „Disziplin der reinen Vernunft“: „Die Einwürfe, die zu fürchten sein möchten, liegen in uns selbst. Wir müssen sie, gleich alten, aber niemals verjährenden Ansprüchen, hervorsuchen, um einen ewigen Frieden auf deren Vernichtigung zu gründen.“ Selbst die Freiheit des öffentlichen Vernunftgebrauchs, die das Zeitalter des Erwachens, der Aufklärung und der Kritik ausmacht, diene dazu, widerstreitende Ansprüche aus ihrem Schlummer zu erwecken und aufs offene Feld zu locken, damit wir sie ausrotten können: „Der Keim der Anfechtungen, der in der Natur der Menschenvernunft liegt, muß ausgerottet werden; wie können wir ihn aber ausrotten, wenn wir ihm nicht Freiheit, ja selbst Nahrung geben, Kraut auszuschießen, um sich dadurch zu entdecken, und es nachher mit der Wurzel zu vertilgen?“ (A 777f.) Den Kampfplatz, auf dem wir den Gegner in uns selbst stellen und vernichten müssen, nennt Kant Metaphysik (A VIII). Zur Metapher vom Schlaf und Erwachen, vom keimenden Unkraut und dessen Vernich-
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tung, tritt hiermit die Metapher von Krieg und ewigem Frieden. Von David Hume in seinem dogmatischen Schlummer unterbrochen, erwacht Kant in einen Zustand des Krieges. Hume stellte nämlich unsere Begriffe und Grundsätze auch dort skeptisch in Frage, wo sie für das Erfahrungswissen tauglich zu sein scheinen. Ziel seines skeptischen Angriffs war insbesondere der Kausalbegriff und die mit ihm verknüpfte allgemeine Frage, ob es in Bezug auf Tatsachen Notwendigkeit geben kann, sei es dass Gott notwendigerweise existiert, sei es dass wir Wissen von notwendig aus der Ursache hervorgehenden Wirkungen erlangen können. Statt von Verursachung sollten wir laut Hume lieber von einer constant conjunction zweier Ereignisse reden, also dem bloß regelmäßigen Beieinander dessen, was wir als Ursache und Wirkung bezeichnen wollten. Damit wären wir von vornherein der Möglichkeit beraubt, metaphysisch nach einer ersten Ursache zu fragen. Kant setzt dem entgegen, dass wir es bei Humes Zweifel nicht bewenden lassen können. Es wäre ein ganz vergeblicher Anschlag, meint er, der gerade erwachten Vernunft schon mit dem bloßen Geständnis der Unwissenheit einen friedvollen Ruhestand verschaffen zu wollen. Humes Zweifel sei „höchstens nur ein Mittel, sie aus ihrem süßen dogmatischen Traume zu erwecken, um ihren Zustand in sorgfältigere Prüfung zu ziehen. […] Das Bewußtsein meiner Unwissenheit (wenn diese nicht zugleich als notwendig erkannt wird), statt daß sie meine Untersuchungen endigen sollte, ist vielmehr die eigentliche Ursache, sie zu erwecken.“ (A 757) Mit der parenthetischen Bemerkung „wenn diese nicht zugleich als notwendig erkannt wird“ unterscheidet Kant zwei Unwissenheiten. Da ist einerseits die Unwissenheit, die den Erkenntniswillen überhaupt erst anstachelt. Ihr steht die Welt offen, sie kann und soll sich nicht mit sich selbst begnügen. Da ist andererseits eine Unwissenheit, deren Notwendigkeit wir selbst einsehen können. Sie setzt unserem naturwüchsigen Hang zu metaphysischen Untersuchungen Grenzen. In diese Unwissenheit müssen wir uns fügen, um unseren Erkenntniswillen zu befrieden und befriedigen. Um zwischen diesen Unwissenheiten unterscheiden zu können, muss sich die Vernunft selbst einer Untersuchung unterziehen. Die Kritik der
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reinen Vernunft ist somit die Selbstkritik der Vernunft, die ihre eigenen Grenzen bestimmt. In Bezug auf den Kausalbegriff bedeutet dies beispielsweise, dass sich der bloßen Anschauung tatsächlich nicht entnehmen lässt, ob eine Sache eine andere ursächlich hervorbringt. So weit hat Hume Recht. Nicht bedacht habe Hume nun aber, dass der Kausalbegriff nicht aus der Anschauung abgeleitet sein muss, um sich im Laufe der Erfahrung bewähren zu können (A 764–768). Wenn der Kausalbegriff nämlich an die Erfahrung herangetragen wird und den Erfahrungsgegenstand überhaupt erst konstituieren hilft, so entsteht eine uns gegebene Erfahrungswelt, in die die Notwendigkeit von Kausalverhältnissen von vornherein eingeschrieben ist. Während Hume also den Kausalbegriff auf bloße Regelmäßigkeit einschränkt, eröffnet er bei Kant überhaupt erst die Möglichkeit einer uneingeschränkten, weitläufigen Naturerkenntnis. Die Unwissenheit bezüglich der Kausalbeziehungen in der Natur dient also tatsächlich nur dazu, unsere Untersuchungen zu erwecken, und nicht etwa, sie zu endigen. Wenn wir jetzt nämlich a priori wissen, dass jeder Erfahrungsgegenstand notwendigerweise verursacht ist, sind wir betreffs jeder einzelnen Ursache zunächst noch unwissend, ob oder inwiefern sie ihre Wirkung notwendigerweise hervorbringt. Dies ist die Unwissenheit, die den Erkenntniswillen anstachelt. Denn um die notwendige Verursachung in einer echten, apodiktisch gewissen Wissenschaft darstellen zu können, muss sich das behauptete Kausalgesetz auf die Grundsätze der Vernunft zurückführen lassen. Dies kann, laut Kant, für die Mechanik V Newtons nachgewiesen werden, nicht aber für andere nur so genannte Wissenschaften wie Chemie oder Biologie.4 Gibt es in Bezug auf die Naturerkenntnis also noch viel zu tun, weist Kants Analyse aber auch die andere Art von Unwissenheit auf, deren Notwendigkeit wir erkennen können. Wenn nämlich der Kausalbegriff dazu dient, Erfahrung zu ermöglichen, dann gibt er dem in der Anschauung Gewonnenen eine Form. Im Gegenzug hat er aber keinen reinen Gebrauch, also keinen Inhalt, der für sich betrachtet und außerhalb aller Erfahrung auf eine erste Ursache oder einen unendlichen Regress von Ursachen führen könnte. Was für die Begründung von Erfahrung 5 Das mehrfache Scheitern bezieht sich zunächst auf die nicht-euklidische Geometrie, dann auf den Konventionalismus von Hertz, Poincaré oder
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konstitutiv ist, das ist zugleich eine formgebende Grenze. Innerhalb dieser Grenze sind wir nicht eingeschränkt, außerhalb verlieren aber Grundsätze wie das Kausalgesetz ihren Sinn und verkommen zu inhaltslosen Gedanken. „Gedanken ohne Inhalt sind leer“, heißt es daher in der Kritik der reinen Vernunft,t während umgekehrt Anschauungen ohne Begriffe blind seien (A 51). Die Selbstkritik der Vernunft leistet also die Bestimmung der Grenzen, die das Erfahrungswissen allererst ermöglichen, die ein diese Grenzen transzendierendes Wissen aber ausschließen. Die Kritik der Vernunft fällt somit das richterlich weise Urteil im Streit zwischen Humes skeptischem Angriff auf den Kausalbegriff und einem spekulativ dogmatischen, gottbeweisenden Vernunftmissbrauch dieses Begriffs. „Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen“, meint Kant und setzt an anderer Stelle hinzu: „Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen.“ (A 751, 738) Ohne diese selbstkritische Wendung und ohne die Institution ihres Gerichtshofs bliebe die aus ihrem Schlummer erwachende Vernunft „gleichsam im Stande der Natur, und kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen, oder sichern, als durch Krieg“. g Kant erläutert dies, indem er Hobbes paraphrasiert: „[…] der Stand der Natur sei ein Stand des Unrechts und der Gewalttätigkeit, und man müsse ihn notwendig verlassen, um sich dem gesetzlichen Zwange zu unterwerfen.“ Wie in Hobbes’ Staat, so auf dem Kampfplatz der Metaphysik. Die endlosen Streitigkeiten der Vernunft nötigen sie, „endlich in irgend einer Kritik dieser Vernunft selbst, und in einer Gesetzgebung, die sich auf sie gründet, Ruhe zu suchen“ (A 751f.). Was die Kritik leistet, ist also eine Befriedung der Vernunft und AusW rottung des metaphysischen Unkrauts und zwar ohne Einwirkung äußerer Gewalt, weil die Vernunft diesen Zwang selbst ausübt (A 709). Wir nehmen unseren Ausgang aus der Unmündigkeit und erwachen aus einem süßen dogmatischen Schlummer im Zeitalter von Aufklärung und Kritik, indem wir den selbst-disziplinierenden Richterspruch der Vernunft suchen. Damit verschafft uns die Kritik „die Ruhe eines geV setzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders
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führen sollen, als durch Prozeß.“ Während der kriegerisch geführte Streit mit Sieg oder Niederlage endet und doch keinen bleibenden Frieden verspricht, endigt der Streit unter den Bedingungen der Kritik in einer richterlichen „Sentenz, die, weil sie hier die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft, einen ewigen Frieden gewähren muß“ (A 751f.). Von kritischer Weltphilosophie zu systematischer Wissenschaft So viel zunächst zu Kants Aufbruch, der den Weg zwischen Skeptizismus und Dogmatismus weist. „Der kritische W Weg ist allein noch offen“, heißt es auf der letzten Seite (A 856). Dieser Emphase entspricht in der ersten Auflage vor allem die Abgrenzung von allem Dogmatismus und somit die enge Verschränkung der kritischen Philosophie mit dem frei disputierenden Lesepublikum im Zeitalter der Aufklärung. „Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen“, hieß es in der „transzendentalen Methodenlehre“, in der Kant die bereits vollzogenen Kritik der reinen Vernunft abschließend auf den praktischen Verstandesgebrauch anwendet (A 708). Im größeren Zusammenhang lautet die Passage so: „Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig, in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein Veto, ohne Zurückhalten muß äußern können.“ (A 738, vergleiche auch z. B. A 752) Was hier abschließend als eine Konsequenz der kritischen PhilosoW phie erscheint, kündigt sich schon in der Vorrede zur ersten Auflage an: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, t und Gesetzgebung, g durch ihre Majestät, t wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf un-
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verstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“ (A XII) Während Kant in der ersten Auflage im großen Bogen den allein noch offen stehenden Weg der Kritik emphatisch mit dem Zeitalter der Aufklärung verknüpft, gilt das für die zweite Auflage nicht mehr. Am 11. Mai 1781, also kurz nach der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft,t schreibt Kant an Marcus Herz, seine Schrift, „sie mag stehen oder fallen“, könne nicht anders als in jedem, der sich für Metaphysik interessiert, „eine gänzliche Veränderung der Denkungsart in diesem uns so innigst angelegenen Theile menschlicher Erkenntnis hervorbringen“. Die von ihm initiierte „Revolution der Denkart“ (B XI, siehe auch XVI) steht darum im Mittelpunkt der Vorrede zur sechs Jahre später erscheinenden zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Der Kontrast tritt kaum klarer hervor als im unmittelbaren Vergleich der ersten Sätze aus den beiden Auflagen. 1781 hebt Kant so an: „Die menschliche Vernunft hat das besondre Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ (A VII) An die Stelle dieser Worte tritt im Jahr 1787 die folgende Eröffnung: „Ob die Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören, den sicheren Gang einer Wissenschaft gehen oder nicht, das läßt sich bald aus dem Erfolg beurteilen.“ (B VII) Vom Erfolg seiner Bemühung, die Metaphysik auf die Heerstraße der V Wissenschaft zu führen berichtet Kant im weiteren Verlauf seiner neuen Vorrede. Worin der Erfolg besteht, sieht für die Metaphysik nämlich V nicht sehr anders aus als für die Wissenschaft. Das Gelingen eines naturwissenschaftlichen Experiments bedeutet die bestätigende Antwort der Natur auf eine von der Wissenschaft gestellte Frage (B XIII). Das Gelingen eines metaphysischen Experiments besteht darin, dass die ewigen Streitigkeiten der Vernunft tatsächlich beigelegt sind. Kant beschreibt sein Experiment so: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über
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sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten.“ (B XVI) In jeder Naturerkenntnis sollen unsere Gedanken mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Nun erinnert uns der Skeptizismus daran, dass es kaum etwas Unterschiedlicheres geben kann und keine größere ontologische Kluft als das gedankliche Geschehen in uns und die materielle Gegebenheit außer uns. Für den Skeptizismus ist der Gegenstand also nur, was zu den Sinnen vordringt und sinnlich gegeben ist. Um uns andererseits eine Übereinstimmung von dem Gedanken und äußerem Gegenstand vorstellen zu können, bedarf es eines metaphysischen Kraftakts, der immer wieder auf eine dogmatisch-theologische Rationalisierung der Welt hinausläuft, wodurch der Gegenstand letztlich zu etwas bloß Gedachtem wird. Vorprogrammiert ist somit der Streit zwischen den Dogmen einerseits, zwischen Skeptizismus und Dogmatismus andererseits, solange angenommen wird, dass es hier die Gegenstände gibt und dort die Erkenntnis, die sich aber nach den Gegenständen zu richten habe. Nun macht Kant also den Versuch oder das Experiment, umgekehrt vorzuschlagen, dass sich der Gegenstand nach der Erkenntnis richte. Wie das Beispiel des Kausalbegriffs bereits zeigte, wird hiernach der Erfahrungsgegenstand in Raum und Zeit oder eben als verursachter und verursachender konstituiert. In der Erfahrung haben wir es also mit etwas zu tun, was gedanklich bereits durchwirkt oder angeeignet ist, somit nicht mit etwas dem Gedanklichen ganz Wesensfremden. Der Gegenstand hat nun einen doppelten Charakter, er ist weder bloß sinnlich gegeben, noch ist er ein bloß gedachter. „Findet es sich nun“, schreibt Kant, „daß, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkt betrachtet, Einstimmung mit dem Prinzip der reinen Vernunft stattfinde“, bei jedem der einzelnen Gesichtspunkte aber ein unvermeidlicher Widerspruch der Vernunft mit sich selbst, „so entscheidet das Experiment“ für die Richtigkeit des doppelten Standpunkts (B XIX). Wo keine ontologische Kluft mehr überbrückt werden muss, da sind
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auch keine dogmatisch-spekulativen Kraftakte erforderlich und kein skeptischer Angriff auf diese Kraftakte. Und wo Einstimmung der Vernunft mit sich selbst stattfindet und in ihr selbst kein unvermeidlicher Widerspruch entspringt, da muss der ewige Streit auf dem Kampfplatz der Metaphysik aufhören. Der Kontrast zwischen erster und zweiter Auflage nimmt somit Kontur an. Erwacht Kant 1781 aus seinem dogmatischen Schlummer in das Zeitalter der Aufklärung, entdeckt und erkundet er dort den zwischen Dogmatismus und Skeptizismus allein noch offen stehenden kritischen Weg, so formuliert er sechs Jahre später eine Hypothese und führt sie einer experimentellen Überprüfung zu. Vom Gelingen oder Scheitern dieses Experiments hängt ab, ob die Kritik der reinen Vernunft steht oder fällt (B XXII, dort auch die Anmerkung). Dieser neue Rahmen für ein ansonsten weitgehend unverändertes Buch verleiht ihm einen anderen Charakter, rückt bisher noch nicht beachtete Aspekte in den Vordergrund und bedeutet vor allem eine Aussöhnung zwischen Kritizismus und Dogmatismus. Tendenziell unsichtbar macht die neue Vorrede den ganzen zweiten T Teil der Kritik der reinen Vernunft,t nämlich die „Transzendentale MethoT denlehre“, die mit der ersten Vorrede noch so eng verklammert war. Wer sich jetzt vornehmlich dafür interessiert, ob Kants Experiment gelingt oder misslingt, muss sich auf den ersten Teil, also die „Transzendentale Elementarlehre“ konzentrieren und hier insbesondere auf die „transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“. Was das Gelingen des Experiments für den praktischen Verstandesgebrauch bedeutet, ist nunmehr ein bloßer Anhang, denn vorrangig ist jetzt das Interesse, ob die Metaphysik endlich Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann (B XXXVIf.). Dementsprechend hat Kant die „Transzendentale Methodenlehre“ ganz unverändert gelassen, dagegen im ersten Teil die transzendentale Deduktion ganz neu verfasst und eine Widerlegung des Idealismus eingeführt. Die nunmehr in zwei Fassungen vorliegende transzendentale Deduktion markiert einen Neubeginn in der Subjektphilosophie und hat das Denken von Fichte, Schelling, Hegel, aber auch von Hölderlin, Schlegel oder Novalis angeregt. Weniger produktiv ist sie auch ein Hauptthema,
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weil eine Hauptschwierigkeit der Kantforschung geworden. Dort, wo die spezifischen Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erfahrung als unvermeidlich und unhintergehbar erwiesen werden sollen und wo die Vernunft ihre eigenen Grenzen so bestimmt, dass sie die Einstimmung aller freien Bürger beanspruchen kann, gerade dort ist die Kritik der reinen Vernunft am schwierigsten und dunkelsten. Was sich in diesem Dunkel andeutet, hat dabei größte Bedeutung nicht nur für die Metaphysik, sondern unmittelbar für das Selbstverständnis des modernen Subjekts. Wo Descartes nämlich noch ein „ich denke, also bin ich“ als Gewissheit in sich als denkendem Wesen entdecken kann, findet Kant in keiner vorfindbaren Gewissheit halt. Stattdessen findet sich bei ihm der Auftrag zu einer konstruktiven Leistung: „Das: Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können.“ (B 131) Die mannigfaltigen Anschauungen werden nämlich nur so zu meinen V Vorstellungen, indem sie auf ein zunächst nur vorgestelltes Ich bezogen werden, das ein diesen Vorstellungen gemeinsamer Bezugspunkt ist. Ohne diese Setzung gibt V es weder ein einheitliches Ich noch eine für dieses Ich erfahrbare Welt. Mit der Setzung des Ich beginnt eine synthetische Leistung, in deren Verlauf sich die Setzung erst rechtfertigt, indem sich nämlich Ich und V Welt gleichermaßen konsolidieren. Ein spontaner Akt des Denkens schafft somit die Voraussetzung dafür, dass die Welt und ich mir selbst zur Erscheinung gelangen. In dem ursprünglichen Akt, der die Synthese der Mannigfaltigkeit erlauben soll, setze ich nicht, „wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin“. Kant fährt fort: „so ist zwar mein eigenes Dasein nicht Erscheinung (viel weniger bloßer Schein), aber die Bestimmung meines Daseins kann nur […] nach der besonderen Art, wie das Mannigfaltige, das ich verbinde, in der inneren Anschauung gegeben wird, geschehen, und ich habe also demnach keine Erkenntnis von mir, wie ich bin, sondern bloß, wie ich mir selbst erscheine“ (B 158). Die Grenze, die hiermit der Selbsterkenntnis gesetzt ist, wird zwar in Kants praktischer Philosophie noch darum erweitert, dass ich mich auch als freien Menschen und nicht nur als bloß empirische Erscheinung denken muss, sie bleibt aber als Grenze möglicher Erkenntnis erhalten. Für Selbsterkenntnis wie Welterkenntnis gilt gleichermaßen,
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dass sie auf der Voraussetzung „eine[r] Natur überhaupt als Gesetzmäßgikeit der Erscheinungen in Raum und Zeit“ beruht, dass sie somit voraussetzen muss, was die Erfahrung nur bestätigen kann, aber auch bestätigen muss (B 165). Die Voraussetzung selbst verdankt sich einem Akt der Spontaneität, dieser Akt wiederum ist aber der einzige, somit notwendige Weg, um zu einem Gegenüber von Ich und Welt, zu Erfahrung oder Verständnis zu gelangen. Diese Deduktion im wissenschaftlichen Zentrum von Kants Analyse zeichnet einen prekären Zustand wechselseitiger Bedingtheit und das Subjekt als durchaus fragiles Konstrukt, das sich durch tätige Einbildungskraft permanent aufrecht erhalten muss. Nicht nur dies, auch der Platz der Deduktion innerhalb der Kritik der reinen Vernunft wird so bestimmt, dass sie einerseits als Grundlegung in einem System erscheint, andererseits die Fragilität des Systems bezeichnet. So behauptet Kant für sein System, dass es unveränderlich erhalten bleiben muss, „indem der Versuch, auch nur den kleinsten Teil abzuändern, sofort Widersprüche, nicht bloß des Systems, sondern der allgemeinen Menschenvernunft herbeiführt“ (B XXXVIII). Kein Wunder also, dass Kants Frage nach Gelingen und Scheitern seines Experiments alle Aufmerksamkeit auf diese Grundlegung lenkte und somit das begründete, was heute als deutscher Idealismus bezeichnet wird. Was Kants Philosophieren vorzüglich empfiehlt, ist nicht allein seine Strenge, sondern seine große Bewusstheit dieser Fragilität, also auch davon, wie wenig die Vernunft ausrichten kann und wir sehr wir trotzdem auf sie setzen müssen. Gerade das, was als Grundlage einer Wissenschaft aus der Kritik der reinen Vernunft hervorgeht, zeigt nur, um Wittgenstein zu paraphrasieren, wie wenig damit getan ist, wenn die Probleme der theoretischen Philosophie gelöst sind. Kant formuliert dies als Differenz zwischen dem, worauf wir ein Recht haben, und dem, worauf wir nur hoffen können. In Fragen von Gott und Unsterblichkeit haben wir kein Recht, in Bezug auf sie gibt es kein Wissen, denn sie sind keine Gegenstände möglicher Erfahrung. „Ich mußte also das Wissen aufheben“, schreibt Kant, „um zum Glauben Platz zu bekommen“ (B XXX) – und wenn seine erste Kritik die Grenzziehung und Aufhebung des Wissens betreibt, erkunden die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der
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Urteilskraft den damit gewonnenen Raum, in dem wir uns sollend und hoffend, aber nicht fordernd und erwartend verhalten dürfen. Kants erste Vorrede betonte noch den metaphysikkritischen Charakter des Buchs. Kritik der reinen Vernunft hieß nicht nur Selbstkritik der Vernunft, sondern vor allem auch Kritik des reinen Vernunftgebrauchs, V wie ihn die traditionelle Metaphysik für sich reklamierte. Die zweite Vorrede setzt den Akzent anders: Eine Metaphysik mit bescheidenerem V Anspruch, die die Grenzen theoretischer Erkenntnis selbst zum Gegenstand hat, kann leichter zur Wissenschaftlichkeit vordringen. Dennoch, so Kant, sei „dies kein für gering zu achtendes Geschenk“ (B XXX). Wandte sich die Kritik zuvor gegen Skeptizismus und Dogmatismus W gleichermaßen, schneidet die zur wissenschaftlichen Metaphysik geläuterte Kritik gefährlichen Tendenzen die Wurzel ab, nämlich dem Materialismus, Fatalismus, Atheismus, „zuletzt auch dem Idealism und Skeptizism“, nicht aber dem dogmatischen Verfahren. Entgegengesetzt bleibt diese kritische Metaphysik zwar dem „dogmatischen Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens“. Nicht entgegengesetzt ist aber die Kritik „dem dogmatischen Verfahren der Vernunft in ihrem reinen Erkenntnis als Wissenschaft“ (B XXXV). Angesichts dieser Stelle und der Unabänderlichkeit des Systems hätte sich eine Korrektur für die zweite Auflage auch im zweiten Hauptteil der Methodenlehre angeboten. In diesem unverändert belassenen Teil spricht Kant nämlich von der weltphilosophischen, im Gegensatz zur bloß schulbildenden Absicht der Philosophie, wobei aber die beanspruchte weltphilosophische Orientierung dem Geist und der Zielsetzung der zweiten Vorrede widerspricht. In der weltphilosophischen Absicht sei Philosophie nämlich „die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae), und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft. V In solcher Bedeutung wäre es sehr ruhmredig, sich selbst einen Philosophen zu nennen, und sich anzumaßen, dem Urbilde, das nur in der Idee liegt, gleichgekommen zu sein“ (A 839). Nun scheint Kants wissenschaftliche Grundlegung der Metaphysik dem Urbilde des Philosophen durchaus gleichkommen zu wollen. Zu
Duhem, weiterhin auf die Fortführung in eine philosophische Sackgasse
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verstehen wäre demnach, warum die Kritik dem dogmatischen Verfahren der Vernunft als Wissenschaft nicht entgegengesetzt wird. Wie kommt es, dass die unablässige Selbstkritik der Vernunft in Kants Schrift so bruchlos in das dogmatische Verfahren übergeht? Vom Suchen zum Rechnen Neben der Metaphorik von Krieg und Frieden erweisen sich Kants ökonomische und geographische Metaphern als besonders aufschlussreich. So beschreibt er beispielsweise das traute Glück des Menschen, der in Wissensangelegenheiten Bescheidenheit übt. Hier hebt die Gewissheit eines auch noch so kleinen Besitzes und ein Bewusstsein von der Eitelkeit höherer Ansprüche „allen Streit auf, und beweget, sich an einem eingeschränkten, aber unstrittigen Eigentume friedfertig zu begnügen“ (A 768). Metaphorisch verdichtet stellt sich hier bereits das Verhältnis von Kritik und dogmatisch ausgewiesener Wissenschaftlichkeit dar: Kritik schränkt den Anspruch der Wissenschaft ein, festigt ihn aber dort, wo er bestehen darf. Darüber hinaus erinnert das beschauliche Bild des bescheiden-kultivierten Kleinbürgers daran, dass die Natur im Zustand des Kriegs ist und dass sich der Frieden dem gesetzmäßigen Zwang verdankt. Gesetzmäßiger Zwang im Feld der Erkenntnis heißt notwendige Wahrheit, heißt Wissenschaft. Sie ist es, die unseren Wissensbesitzstand sichert und unstreitig macht. Eine zweite, tiefgründigere Metapher führt ein Stück weiter. Sie knüpft an die oben zitierte Passage an, in der Kant zwischen zwei Arten von Unwissenheit unterscheidet, der zufälligen, auf Sachen bezogenen, und der notwendigen Unwissenheit, die mit den Grenzen meiner Erkenntnis verbunden ist. „Daß aber meine Unwissenheit schlechthin notwendig sei“, schreibt Kant, „läßt sich nicht empirisch, durch Beobachtung, g sondern allein kritisch, durch Ergründung der ersten Quellen unserer Erkenntnis ausmachen“ (A 758). Kant erläutert an einem Beispiel, was die Ergründung der notwendigen Grenzen überhaupt erst ermöglicht: „Wenn ich mir die Erdfläche (dem sinnlichen Scheine gemäß) als einen Teller vorstelle, so kann ich nicht wissen, wie weit sie sich erstrecke. Aber das lehrt mich die Erfah-
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rung: daß, wohin ich nur komme, ich immer einen Raum um mich sehe, dahin ich weiter fortgehen könnte; mithin erkenne ich Schranken meiner jedesmal wirklichen Erdkunde, aber nicht die Grenzen aller möglichen Erdbeschreibung. Bin ich aber doch gekommen, zu wissen, daß die Erde eine Kugel und ihre Fläche eine Kugelfläche sei, so kann ich auch aus einem kleinen Teil derselben, z. B. der Größe eines Grades, den Durchmesser, und durch diesen, die völlige Begrenzung der Erde, d. i. ihre Oberfläche, bestimmen und nach Prinzipien a priori erkennen; und ob ich gleich in Ansehung der Gegenstände, die diese Fläche enthalten mag, unwissend bin, so bin ich es doch nicht in Ansehung des Umfanges, der sie enthält, der Größe und Schranken derselben.“ (A 759) Mit seiner kopernikanischen Wende hat Kant gezeigt, dass die Erde eine Kugel ist, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung explizit zur begrenzenden Erkenntnisvoraussetzung gemacht werden müssen. Wie im Falle der Kausalerkenntnis geht es in der Wissenschaft nicht voran, wenn das Territorium bloß empirisch erkundet wird. Hingegen kommen wir voran, wenn wir unseren eigenen Erkenntnisstandpunkt kritisch ergründen und dadurch erfahren, auf welche Weise wir das Mannigfaltige in der Erfahrung verknüpfen und auf die Idee einer Natur beziehen. Diese Untersuchung gibt uns synthetische Urteile a priori, Urteile also, die es uns gewissermaßen ermöglichen, von der Größe eines Grads mit Notwendigkeit auf den Umfang der Erdkugel zu schließen. Diese synthetischen Urteile bringen a priori notwendige Verknüpfungen zwischen Erfahrungsgegenständen zum Ausdruck und begründen somit die Möglichkeit von Wissenschaft, beispielsweise die Newtonsche Mechanik. Dabei lassen sie die Natur im Einzelnen weitgehend unbestimmt. Wir bleiben also unwissend bezüglich der besonderen Gegenstände, die die präzise begrenzbare Erdoberfläche enthält. Einerseits führt die kritische Ergründung unseres Vernunftvermögens wissenschaftlich auf das System synthetischer Urteile a priori, das alle Erfahrung immer schon ermöglichte. Nun steckt aber andererseits genau in diesen Urteilen a priori die Gefahr eines reinen Gebrauchs ihrer Begriffe, also ihrer Anwendung auf Vorstellungen, die nicht Gegenstand möglicher Erfahrung sind. Die grenzziehende Kritik ist insoffern nicht nur Voraussetzung für die Erstellung einer Wissenschaft von
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der Synthesis des Mannigfaltigen. Sie bleibt auch weiterhin nötig, um die Grenzen der Wissenschaftlichkeit zu wahren und um der Überheblichkeit, Eitelkeit oder der Verführbarkeit einer systematischen Wissenschaft entgegenzuwirken. Auch im schwierigen Verhältnis von Wissenschaft und Kritik begegnen wir bei Kant also einer delikaten Konstruktion der gegenseitigen Bedingung und Stützung. Epilog Nachdem dieses schwierige Verhältnis nun ganz im Vordergrund der Betrachtung stand, soll schließlich verdeutlicht werden, inwiefern es sich als besonders folgenreich erwies. Aus dem Scheitern gleich in mehrfacher Hinsicht von Kants Programm einer wissenschaftlichen Metaphysik ging nämlich die moderne Wissenschaftstheorie hervor, in der die theoretische Philosophie Kants trotzdem weiterlebt.5 An einem Beispiel nur soll dies kurz erläutert werden. Wenn Kant schreibt, dass ich, wohin ich nur komme, immer einen W Raum um mich sehe, so ist dies der euklidische Raum, der sich nicht nur wie ein Schuhkarton über den flachen Boden eines Erdtellers erhebt, sondern auch die geometrische Voraussetzung für die Winkelberechnung der Erdkugel schafft. Ein nicht-euklidischer Raum, in dem die Winkelsumme eines Dreiecks keine 180 Grad beträgt, mag zwar im Alltagsdenken keine große Rolle spielen, schafft aber Bedingungen für die Möglichkeit einer neuartigen wissenschaftlichen Erfahrung. Auch sie ist auf eine Natur bezogen, aber nicht auf die einzige, notwendig vorauszusetzende, sondern auf eine willkürlich und spezifisch andere Natur als die mit der euklidischen Geometrie gegebene. Nicht-euklidische Geometrien wurden im 19. Jahrhundert entwickelt und ihre bloße Möglichkeit bedeutete unmittelbar eine Widerlegung der kantischen Metaphysik, provozierte zugleich aber die Frage, wie stark Kants Philosophie an die Voraussetzung der euklidischen Geometrie gebunden ist. des Programms einer wissenschaftlichen Metaphysik durch Schelling und Hegel, aber auch auf Kants zu engen Wissenschaftsbegriff. 1 Berend, Eduard, Die Briefe Jean Pauls, Erster Band 1780 bis 1794, München 1922, S.258. 2 Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke.
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Im Verlauf dieser seit Helmholtz anhaltenden wissenschaftsphilosophischen Auseinandersetzung mit dem fortbestehenden kritischen Potential der kantischen Philosophie haben sich diverse Anknüpfungsmöglichkeiten ergeben. Da war zunächst der Versuch des Neukantianismus, Kants Metaphysik zugunsten der Erkenntnistheorie zurückzustellen. Von Heinrich Hertz, Ludwig Wittgenstein und dem Wiener Kreis des logischen Empirismus wurde zweitens Kants therapeutischer Philosophiebegriff weitergeführt, also der Versuch, metaphysische Probleme und Streitigkeiten dadurch aufzulösen, dass sie als Pseudo-Probleme entlarvt werden, die sich nur aus Missachtung von Sprach- oder Erkenntnisgrenzen ergeben. Schließlich hat sich in vielfältigen Spielarten das transzendentale Verfahren zur Rekonstruktion von Welten oder Weltbildern etabliert. Nicht nur Wissenschaftshistoriker und -philosoW phen stellen die Frage nach den Voraussetzungen dafür, dass die Welt so oder so erfahren wird. In diesen transzendentalen Rekonstruktionen kommt die kantische Metaphysik in einer relativierend-historisierenden, gar konstruktivistischen Wendung wieder zur Geltung. Wie insbesondere Michael Friedman herausgearbeitet hat, schaffen die Konventionen eines Henri Poincaré oder die Paradigmen von Thomas Kuhn Bedingungen, die besondere Weisen der wissenschaftlichen Welterfahrung ermöglichen. Auf diese und viele andere Auseinandersetzungen mit Kant und dem Kantianismus kann hier nicht mehr eingegangen werden, zumal alle Philosophie der letzten 200 Jahre in impliziter oder expliziter Auseinandersetzung mit Kant steht. Was Freud für die Psychologie, was Darwin für die Evolutionsbiologie ist, das ist die Kritik der reinen Vernunft für Philosophie und Wissenschaft allgemein – selbst wer meint, an ihr vorbeizukommen, bezieht Stellung zu ihr. Dabei ist auf dem Kampfplatz der Metaphysik natürlich noch immer keine Ruhe eingekehrt. Aus kantischer Perspektive jedoch nimmt sich das dort dargebotene Schauspiel nunmehr erbaulich aus: „Anstatt also mit dem Schwerte drein zu schlagen, so sehet vielmehr von dem sicheren Sitze der Kritik diesem Streite geruhig zu, der für die Kämpfenden mühsam, für euch unterhaltend, und, bei einem gewiß unblutigen Ausgange, für eure Einsichten ersprießlich ausfallen muß.“ (A 747)
Immanuel Kant: Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten
gerhard gamm
„Kaufen Sie sich ums Himmels willen 2 Bücher, 1) Kant’s Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten und 2) Kant’s Kritik der praktischen Vernunft“ schreibt Jean Paul im Sommer 1788 an einen Freund und fährt fort: „Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes stralendes Sonnensystem auf einmal.“1 In diesem Sonnensystem nimmt seine praktische Philosophie einen besonderen Rang ein. Nicht nur weil in ihr ein Begriff des moralischen Sinns entwickelt wird, der in der modernen Welt seinesgleichen sucht, sondern auch, weil in diesem ZusammenW hang das neuzeitliche Bewusstsein vom Primat der praktischen Vernunft einen neuen und umfassenden Sinn erhält. Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten2 ist die erste größere Schrift Kants, die sich ausschließlich mit moralphilosophischen Fragen beschäftigt. Zwar spielen moralische Interessen auch in seinen früheren Werken eine bedeutsame Rolle, sie stehen für Kant aber im umfassenden Zusammenhang der Metaphysik. Das Buch umfasst nur ca. 70 Seiten, aber es ist – neben der Kritik der reinen Vernunft – das wahrscheinlich einflussreichste Werk aus der Feder Kants. Nach einer knappen Vorrede enthält es drei Hauptabschnitte und eine kurze Schlusspassage. Diese Schrift hält, was ihr Titel verspricht: eine Grundlegung der Moralphilosophie zu sein. Die Vorrede beginnt mit einem Hinweis auf die seit der Antike übliche Einteilung der Philosophie in Physik, Ethik und Logik, die, wie Akademie Textausgabe, Bd. IV, Berlin 1968ff. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe – mit im Text nachgestellten Seitenzahlen – zitiert. 3 Aus Neigung nicht wahrhaft moralisch handeln zu können, daran wurde immer wieder Anstoß genommen. Berühmt geworden ist Friedrich Schillers Distichon Gewissensskrupel aus den ‚Xenien‘: „Gerne dien ich den Freunden,
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Kant unterstreicht, der Sache durchaus angemessen sei. Freilich fehle ihr die für alle Vernunfterkenntnis konstitutive Unterscheidung nach materialen und formalen Gesichtspunkten. Jede Wissenschaft weise nämlich sowohl einen formalen wie materialen Teil auf. Während der formale Teil die „allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt ohne Unterschied der Objecte“ (387) thematisiere, behandle der materiale Teil die eigentümliche Natur des Gegenstandes. Kants kritisches Anliegen zielt nun – wie schon auf dem Gebiet der theoretischen Philosophie – auch im Blick auf die praktische auf den rein formalen Aspekt der Sittlichkeit, welcher die empirischen, d. h. „von der Erfahrung hergenommenen“ (387) Bestimmungen der sittlichen Weltweisheit in die Anthropologie verweist. Das wirkliche Tun und Lassen der Menschen können wir nur auf dem Weg der Erfahrung kennen lernen. Die Anthropologie ist daher die Kenntnis der Vielfalt tatsächlicher t menschlicher Verhaltensweisen. Sie lehrt die Gesetze und Regeln zu verstehen, „nach denen alles geschieht“, wohingegen die Metaphysik der Sitten, das ist die Moralphilosophie allein die Gesetze ins Auge fasst, „nach denen alles geschehen soll“ (388). Der praktischen Anthropologie sei die „Metaphysik der Sitten voranzuschicken, die von allem Empirischen sorgfältig gesäubert sein“ müsse (388). Nur dann könne man wissen, wie viel eigentlich die reine Vernunft auch auf dem Felde der praktischen Vernunft zu leisten imstande sei und „aus welchen Quellen sie selbst diese ihre Belehrung a priori schöpfe“ (389). Der Hauptgrund für eine sorgfältige Unterscheidung nach materialen und formalen Gesichtspunkten aber liegt darin, dass der „Grund der Verbindlichkeit“, den das moralische Gesetz mit sich führt, „nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt […] gesucht werden müsse, sondern a priori […] in Begriffen der reinen Vernunft […], jede andere Vorschrift, die sich auf Principien der bloßen Erfahrung gründet […], zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann“ (389). Die Moralphilosophie beruhe daher gänzlich auf ihrem reinen Teil. Kant bestimmt daher die Aufgabe der Grundlegung dahin, „nichts mehr als die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität“ (392) zu sein.
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Das oberste Prinzip der Moralität Der erste Abschnitt trägt die Überschrift: „Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen“. Er entwickelt die allgemeine Idee jenes obersten Prinzips der Moralität und beginnt mit ffolgenden Zeilen: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ (393), um von dort über die Explikation des Begriffs der Pflicht das Prinzip oder die allgemeine Form des Sittengesetzes zu bestimmen. Ein guter Wille ist Kant zufolge nicht deshalb gut, weil seine Auswirkungen gut sind oder ein im Voraus festgelegter Zweck Realität zu werden verspricht, er ist gut „allein durch sein Wollen“ (394). Im Unterschied zu allen übrigen „Talenten des Geistes“ wie Urteilskraft oder Witz, Mut oder Beharrlichkeit besitzt allein der gute Wille jenes Prädikat, ohne jede Einschränkung gut geheißen zu werden. Im „kalten Blut des Bösewichts“ dagegen können selbst solche das moralische Handeln befördernden Fähigkeiten wie Selbstbeherrschung oder Mäßigung in Affekten zu verabscheuungswürdigen Taten umgenutzt werden. Der gute Wille ist ein „Juwel“, das „für sich selbst glänzen“ (394) kann, dem weder sein Erfolg noch sein Misserfolg etwas anhaben können, dessen Wert weder zu- noch abnehmen kann. Kant geht davon aus, dass sich in der Naturanlage des Menschen nichts findet, was bei dem mit Vernunft und Willen begabten Wesen dem guten Willen ebenbürtig sein könnte. Wäre bei jenem Wesen – wie viele glauben – „seine Erhaltung, g sein Wohlergehen W , mit einem Wort seine Glückseligkeit, t der eigentliche Zweck der Natur, so hätte sie ihre Veranstaltung dazu sehr schlecht getroffen, sich die Vernunft des Geschöpfs zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht zu ersehen“ (395). Unter dieser Vorgabe würden dem Menschen die Regeln des Verhaltens weit besser „durch Instinct vorgezeichnet“. Die Vernunft ist im Blick auf die Bewältigung dieser Aufgabe eine ganz und gar unsichere Kantonistin. Kant sieht bei dieser Einschätzung auch die Erfahrung auf seiner Seite; es sei mehr als wahrscheinlich, dass eine „cultivirte Vernunft“, die sich „mit der Absicht auf den Genuß des Lebens und der Glückseligkeit“ kapriziere, den Menschen viel „weiter […]
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von der wahren Zufriedenheit“ abbringe (395), als wenn er den in der Gesellschaft üblichen Wegen folge. Zwar ist diese Beobachtung nicht einfach von der Hand zu weisen, gleichwohl bleibt zu bedenken, ob nicht mit ihr die berechtigten Glücksansprüche des Einzelnen sehr leicht in ein Zwielicht gerückt werden können. Daran ist Kant nicht gelegen. Um deutlich zu machen, worauf Kant mit der Bestimmung des guten Willens abzielt, zieht er den Begriff der Pflicht heran, vor allem jene Unterscheidung zwischen einem Handeln „aus Pflicht“ und einem „pflichtmäßigen Handeln“ (Handeln gemäß der Pflicht). Kant vertritt die Auffassung, Pflicht sei eben das, was ein guter Wille wollen würde. Dennoch verdient ein großer Teil unserer Handlungen, die in Übereinstimmung mit dem stehen, was ein guter Wille sich vorgesetzt hat zu wollen, nicht dieses Prädikat. Viele Handlungen werden nicht vollzogen, weil sie uns zur Pflicht rufen, sondern weil sie im Umkreis unserer Interessen liegen. Sie stehen also im Einklang mit der Pflicht, ohne aus Pflicht getan zu werden. Kant gibt sich keinen Illusionen hin – bei einem Wesen, das, wie er weiß, aus „krummem Holze geschnitzt“ ist. Es steht eher zu vermuten, dass die meisten unserer Handlungen zwar in Übereinstimmung mit dem stehen, was der Kanon unserer Pflichten uns gebietet, aber keinesfalls aus Pflicht getan worden sind. In der Regel ffolgen wir in dem, was wir tun, eigensüchtigen Interessen. Wir sind z. B. ehrlich, weil wir uns davon einen Vorteil erhoffen oder glauben, es unserem guten Ruf schuldig zu sein; weniger, weil wir glauben, dass Ehrlichkeit unter allen Umständen die richtige Verhaltensantwort ist. Kant erläutert das anhand eines Beispiels. Ein Kaufmann, der alle Kunden in gleicher Weise fair behandelt, weder Fremde noch Kinder übervorteilt, tut das vielleicht nicht deshalb, weil er von der Richtigkeit des moralischen Prinzips überzeugt ist, sondern weil er glaubt, dass Ehrlichkeit sich auf Dauer auszahlt – gemäß jenem Motto: Ehrlich währt am längsten. Wenn wir jemandem in einer Notlage helfen, dann tun wir das vielleicht, weil wir den Anblick seiner Not nicht ertragen können oder weil uns danach besser zu Mute ist, wir ein gutes Gefühl haben oder Anlass zur Hoffnung besteht, den anderen ein gutes Vorbild zu sein, d. h., sie womöglich dahin zu bringen, in vergleichbaren Situa-
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tionen Vergleichbares zu tun. Keines dieser bewussten oder unbewussten, eigensüchtigen oder sozial nützlichen Motive hält dem kritischen Blick Kants stand: ein wahrhaft moralisches zu sein. Ja, es muss offen bleiben, ob wir jemals wissen können, ob eine Handlung je ein moralisch wahrhaftes Motiv hatte. Der Grund dafür liegt nicht nur in der extrem hohen Täuschungsanfälligkeit auf diesem Gebiet, sondern weil der Beweggrund, der das moralische Handeln veranlasst, nicht in den Bereich empirischer, d. h. psychologischer, soziologischer, biologischer usf. Bestimmungsgründe fällt. Sie zu kennen, ist aller Ehre wert, zur Grundlegung des obersten Prinzips der Moralität aber haben sie wenig beizutragen. „In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe […], es kann aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei, dafür wir denn gerne uns mit einem uns fälschlich angemaßten edlern Bewegungsgrunde schmeicheln, in der That aber selbst durch die angestrengteste Prüfung hinter die geheimen Triebfedern niemals völlig kommen können, weil, wenn vom moralischem Werthe die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene innere Principien derselben, die man nicht sieht.“ (407) Kant will, wie er schreibt, nur „aus Menschenliebe einräumen“, dass noch die meisten unserer Handlungen pflichtmäßig seien, glaubt aber, dass – bei näherer Betrachtung der Sache – man allenthalben „auf das liebe Selbst“ stoße. Was aber keinesfalls zur Annahme verleiten dürfe, sich durch diesen Umstand entmutigt oder entschuldigt zu fühlen. Auch wenn unseren Handlungen eigennützige Motive beigemischt sind, und uns noch niemals eine wahrhaft moralische Handlung gelungen sein sollte, bedeute das nicht, dass wir nicht danach streben sollten, solche Handlungen zu vollbringen. Kant glaubt, dass man relativ leicht zwischen einer Handlung aus Pflicht und einer in selbstsüchtiger Absicht unterscheiden könne. „Weit schwerer ist dieser Unterschied zu bemerken, wo die Handlung pflicht-
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mäßig ist und das Subjekt noch überdem unmittelbare Neigung zu ihr hat […]. Dagegen sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und überdem hat jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung. Aber um deswillen hat die oft ängstliche Sorgfalt, die der größte Theil der Menschen dafür trägt, doch keinen inneren Werth und die Maxime derselben keinen moralischen Gehalt. Sie bewahren ihr Leben zwar pflichtmäßig, g aber nicht aus Pflicht. […] Wohlthätig sein, wo man kann, ist Pflicht und überdem gibt es manche so theilnehmend gestimmte Seelen, daß sie auch ohne einen andern Bewegungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes ein inneres Vergnügen daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und die sich an der Zufriedenheit anderer, sofern sie ihr Werk ist, ergötzen können. Aber ich behaupte, daß in solchem Falle dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen Werth habe, sondern mit andern Neigungen zu gleichen Paaren gehe“: was gemeinnützig ist und pflichtgemäß, verdient Lob und Aufmunterung, „aber nicht Hochschätzung“ (397, 398).3 Dieses Pathos eines Handelns „aus Pflicht“ könnte leicht den Verdacht erregen, ob nicht Kant doch eine gewisse Mitschuld daran träfe, wenn man mit der Formel einer ‚Pflicht um der Pflicht willen‘ einen womöglich blinden Gehorsam propagiere, man das moralische Handeln allein auf die „Vorstellung“, mit der es getan werde, konzentriere und dabei die Auswirkungen und die Folgen ganz außer Acht lasse. Die Berufung auf die Pflicht: ‚man habe nur seine Pflicht getan‘, in den Kontext von Kants Pflichtethik zu stellen, ist zwar ganz abwegig, ein Moment der Blindheit, der Entmächtigung des kalkulierenden, vorausschauenden Denkens steckt gleichwohl darin. Es ist nur an einer anderen Stelle zu suchen als darin, stur und kopflos seine Pflicht (um der doch tu ich es leider mit Neigung./ Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.“ Kant hingegen ist davon überzeugt, dass „eine Neigung zum Pflichtgemäßen (z. B. zur Wohltätigkeit) […] die Wirksamkeit der moralischen Maximen sehr erleichtern“, aber die Frage nach ihrer Geltung nicht entscheiden kann. Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. V, S. 36. 4 Ebd., S. 36. 5 Ebd., S. 30f. 6 Kant versteht die Sittlichkeit als Moralität. Später, vor allem durch Hegel,
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Pflicht willen) zu tun. Blindheit und Einsicht bilden in der Tat hier eine notwendig paradoxe, moralphilosophisch aber unumgängliche Liaison. Abwegig ist jene Berufung auf die Pflicht, weil die Frage, was zu tun uns die Pflicht gebietet, sich nicht an materialen, d. h. an den je auf die sozialen Umstände oder das institutionalisierte Ethos bezogenen Regeln ausrichtet, sondern darauf, welches rein formale „Princip des Wollens“ meiner Maxime zu handeln zugrunde gelegt wird. Nachdem der Wille „aller Antriebe beraubt […], die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig“ (Hervorhebung G. G.), sie allein soll dem Willen zum Prinzip der Orientierung dienen; es lautet: „[…] ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ (402). „Was W ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei, dazu brauche ich gar keine weit ausholende Scharfsinnigkeit. Unerfahren in Ansehung des Weltlaufs, unfähig auf alle sich eräugnende Vorfälle desselben gefaßt zu sein, frage ich mich nur: Kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? Wo nicht, so ist sie verwerflich f und das zwar nicht um eines dir oder auch anderen daraus bevorstehenden Nachtheils willen, sondern weil sie nicht als Princip in eine mögliche allgemeine Gesetzgebung passen kann (Hervorhebung G. G.); für diese aber zwingt mir die Vernunft unmittelbar Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht einsehe worauf sie gründe […], wenigstens aber doch soviel verstehe: daß es eine Schätzung des Werthes sei, welcher allen Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt“ (403). Zur Erläuterung dieser allgemeinen Regel zieht Kant als Beispiel das Versprechen heran. Man könnte diesen Gedankenschritt wie folgt zusammenfassen. Der moralische Wert findet sich nicht im Ziel oder im Zweck, der mit einer Handlung erreicht werden soll. Das ist, könnte man vereinfacht sagen, der Grundsatz des Utilitarismus; eine Einstellung in diesem Sinn orientiert sich an den voraussichtlichen Folgen und Wirkungen, die eine Handlung für den Einzelnen oder auch für das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl vernünftiger Wesen hat. Für Kant bezieht sie ihren moralischen Wert allein aus dem subjektiven Prinzip des Wollens,
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und dies nennt er eine Maxime. Maximen sind allgemeine Handlungsgrundsätze eines Einzelnen, nach denen die Menschen in der Regel über ihr Tun entscheiden. Empirisch betrachtet, bilden die Maximen oder subjektiven Grundsätze, denen jemand folgt, gleichsam die Summe seines Charakters. Da Maximen individuelle Handlungsregeln und -dispositionen sind, hat niemand das Recht, über die Maximen anderer zu urteilen. In Bezug auf die Begründung der Moral werden sie maßgebend, wenn man fragt: Ob der subjektive Handlungsgrundsatz, nach dem ich handle, auch als objektives Prinzip einer allgemeinen moralischen Gesetzgebung vorgestellt werden kann. Dieser Grundsatz, dass ich niemals anders verfahren soll als so, dass ich wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden, bezeichnet Kant später als kategorischen Imperativ. Von ihm behauptet er, er finde sich in jeder gemeinen menschlichen Vernunft. „Es wäre hier leicht zu zeigen, wie sie mit diesem Compasse in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig oder pflichtwidrig sei, wenn man ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates that, auf ihr eigenes Princip aufmerksam macht und daß es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu thun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein.“ (404) Der kategorische Imperativ Kant entwickelt (oder erfindet) keine neue Moral oder ein neues moralisches Prinzip, er präpariert nur das Beurteilungskriterium moralischen Handelns heraus, das, wie er (nicht unumstritten) glaubt, immer schon in der gemeinsten menschlichen Vernunft als Grundnorm enthalten ist. Dabei freilich revolutioniert er die Form der Begründung, nach der unter den Bedingungen der modernen Welt nicht mehr materialiter verbindlich über die Sittlichkeit und d. h. ein einheitliches und substantiales Gutes geurteilt werden kann. Die radikale Autonomie des Einzelnen, aber auch die Pluralisierung der Lebensformen, macht eine material begründete Verbindlichkeit von Werten und/oder Tugenden, wie die Lebensweltethiken sie vorschlagen, fragwürdig. Auch tauge das
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Glücksinteresse aller Einzelnen nicht als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung. Nicht nur sei der Begriff viel zu unbestimmt; das Streben nach Glück als Bestimmung der Moral zerstöre sich selbst, es lasse wenig mehr übrig als eine „Leere“. Zuletzt bleibe – bezogen auf das Gesamt eines Lebens – die Abschätzung eines „dauerhaften Vortheils“ in ein „undurchsichtiges Dunkel eingehüllt“.4 Im zweiten Abschnitt der Grundlegung – „Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten“ – kommt Kant nochmals auf die Schwierigkeit zu sprechen, durch die Erfahrung auch nur einen einzigen Fall mit völliger Gewissheit auszumachen, dessen Antriebe einzig auf moralischen Gründen beruhten. Kants moralphilosophisches Credo lautet entsprechend, dass man der Sittlichkeit überhaupt nur einen moralischen Sinn abgewinnen könne, wenn man die Metaphysik der Sitten auf reine Begriffe gründe. Begriffe, die für ein Verständnis von Moral von Belang sind, lassen sich nicht aus der ErfahV rung ableiten, sie haben „ihren Sitz und ihren Ursprung a priori in reiner Vernunft“, sie sind nicht von der menschlichen Vernunft abgeleitet, sondern „aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt“. Selbst Gott oder außerirdische Wesen, inwiefern sie nur vernünftig seien, würden bei gründlichem Nachdenken auf diesen obersten Grundsatz der Moral stoßen. Eine reine Moralphilosophie hat es mit dem reinen Willen zu tun, nicht mit dem empirischen Wollen, insofern es durch allerlei in der Erfahrung verankerte Motive bestimmt ist. „Es ist aber eine solche völlig isolierte Metaphysik der Sitten, die mit keiner Anthropologie, mit keiner Theologie, mit keiner Physik oder Hyperphysik noch weniger mit verborgenen Qualitäten […] vermischt ist, nicht allein ein unentbehrliches Substrat aller theoretischen, sicher bestimmten Erkenntnis der Pflichten, sondern zugleich ein Desiderat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollziehung ihrer Vorschriften.“ (410) Anders gesagt, es geht Kant im Zusammenhang der Grundlegung der Metaphysik der Sitten nicht um den Alltag moralischer Akteure, nicht um Anwendungsfragen und schon gar nicht um Klugheitsregeln einer über Konventionen infformierten Lebenskunst, mit denen moralische Fragen (heute) vielfach verwechselt werden, sondern um die philosophische Begründung eines verändert sich der Sprachgebrauch. Moralität und Sittlichkeit geraten in
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Kriteriums, von dem her allererst beurteilt werden kann, was von moralischem Wert ist und was nicht. Die relativ vielen Beispiele, die Kant in diesen Text eingeflochten hat, haben eine illustrative oder verdeutlichende Funktion, in der Hauptaufgabe geht es um die Ermittlung des grundlegenden Prinzips, um das Ideal der reinen Vernunft, insofern es gänzlich a priori ist. „Man darf nur die Versuche über die Sittlichkeit in jenem beliebten Geschmacke ansehen, so wird man bald die besondere Bestimmung der menschlichen Natur […], bald Vollkommenheit, bald Glückseligkeit, hier moralisches Gefühl, dort Gottesfurcht, von diesem etwas, von jenem auch etwas in wunderbarem Gemische antreffen, ohne daß man sich einfallen läßt zu fragen, ob auch überall in der Kenntnis der menschlichen Natur (die wir doch nur von der Erfahrung herhaben können) die Principien der Sittlichkeit zu suchen seien.“ (410) Diese Grundnorm, die Kant den kategorischen t Imperativ nennt, ist nicht in der Erfahrung gegeben, sie ist „ein synthetisch-praktischer Satz a priori“, von dem nur schwer einzusehen ist, dass er überhaupt möglich sei. Im Unterschied zum kategorischen geht es beim hypothetischen h Imperativ um die Bestimmung der optimalen Wahl der Mittel zur Erreichung eines Ziels oder Zwecks; nicht um den Zweck selbst oder um den moralischen Wert, der diesem Zweck zuzumessen ist. Kant verdeutlicht das an einem Beispiel. Er vergleicht die Tätigkeit eines Giftmischers, der über die Mittel verfügt, einen Mann sicher zu töten, mit einem Arzt, der fähig ist, den Mann auf gründliche Art und Weise gesund zu machen. Beide Handlungen sind „insofern von gleichem Werth, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu bewirken“ (415). Es stellt sich also bei der Fassung des hypothetischen Imperativs gar nicht die Aufgabe zu entscheiden, ob „der Zweck vernünftig und gut sei […] sondern nur was man thun müsse, um ihn zu erreichen“ (415). Deshalb ordnet Kant dem hypothetischen Imperativ auch die „Regeln der Geschicklichkeit“ (416) zu. Diese bestehen in nichts anderem, als in sachangemessener Weise den Gebrauch der Mittel zur Erlangung eines Zwecks zu definieren. Solches Handeln hat immer bestimmte, damit relative, niemals „unbedingte“ oder „letzte“ Zwecke. Der kategorische Imperativ hingegen handelt von der Konstitution oder Grundlegung des Zwecks aller Zwecke, von dem „Zweck an sich
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selbst“: von der Moralität der Handlung selbst, d. h. von der reinen, durch keine leiblich-sinnlich bedingten Antriebe bestimmten Selbstgesetzgebung. Diese ist letzthin identisch mit Freiheit. Der kategorische Imperativ formuliert die moralische Norm als Grundnorm des menschlichen Lebens, der selbst alles Tun, das zur Befriedigung und Erweiterung der Bedürfnisse geschieht, unterzuordnen ist. Ihr Zweck ist das „höchste Gut“. Da der Mensch ein Doppelwesen ist, das in seiner „natürlichen Dialektik“ (405) zwischen seinen Bedürfnissen, Neigungen und der Pflicht hin- und hergerissen ist, ist sein tatsächlicher Wille nicht an sich gut; er hat vielmehr die Möglichkeit, gut zu sein, dazu aber bedarf es der Nötigung durch den kategorischen Imperativ, der die Reinheit des Willens erfordert. Diese Reinheit des Willens ist aber nur unter der Voraussetzung gegeben, dass der Bestimmungsgrund des Willens einzig in der Vernunft liegt. Dementsprechend ist der kategorische Imperativ als V „Grundgesetz der praktischen Vernunft“ ein „Factum der Vernunft“.5 Dass wir es mit einem Faktum F zu tun haben, bedeutet, dass wir weder diese Tatsache aus einem höheren Prinzip ableiten noch stichhaltige empirische Beweise für seine Existenz beibringen können; es ist einzig eine Einsicht, die sich uns aufdrängt – eben ein „Factum“, das „vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeiten und allen Folgerungen, die daV raus zu ziehen sein möchten, vorhergeht“. Kant stellt den kategorischen Imperativ in drei Lesarten vor, von denen er behauptet, dass sie einander gleichwertig seien: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“, lautet die erste Formulierung. Von der zweiten Version ist auch manchmal als von der Zweckformel die Rede. Sie lautet: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (429) Über die dritte Lesart des kategorischen Imperativs sind sich die Kommentatoren uneins, eine Fassung besteht in der Behauptung, „die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens“ zu betrachten (431). „Dieser Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich durch seine Maxime seines Willens als allgemein geW einen Gegensatz. Für Hegel ist die Sittlichkeit die nächst höhere Stufe zur
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setzgebend betrachten muß“, gestattet es wiederum, den sehr „fruchtbaren Begriff“ eines „Reichs der Zwecke“ im Gegensatz zum „Reich der Natur“ einzuführen oder analog dazu den Begriff der Autonomie im Gegensatz zu dem der Heteronomie (433). Eine unentbehrliche, aber unbegreifliche Voraussetzung: die Idee der Freiheit Für Kant ist die Idee der Autonomie das oberste Prinzip der Sittlichkeit. Sie zu begründen ist die Aufgabe, die sich die Grundlegung der Metaphysik der Sitten zum Ziel gesetzt hat. Der entscheidende Gedanke ist: dass wir als vernünftige Wesen für uns selbst Gesetzgeber sind. Wir sind frei, uns unser eigenes Gesetz zu geben. Freilich müssen die Gesetze, die wir uns selbst geben, so verfasst sein, dass sie für alle vernünftigen Wesen gelten könnten. Weder Gott noch unsere Naturanlagen, weder die Sitten noch die Loyalitäten gegenüber der Gesellschaft, und auch nicht die Evolution – keine äußere Autorität schreibt uns vor, wie wir, in Orientierung an der bloßen Form des Gesetzes, moralisch handeln sollen; dafür sind wir allein verantwortlich. Diese Orientierung am Gebot der Sittlichkeit wiederum setzt voraus, dass wir frei sind. Und von der Freiheit als dem (festen) Grund und der äußersten Grenze der praktischen Philosophie handelt der dritte Abschnitt. Er trägt den Titel: „Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der praktischen Vernunft“. In ihm wird die Idee der Freiheit „der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens“ (446). Die Freiheit muss notwendig vorausgesetzt werden, soll dem kategorischen Imperativ, d. h. dem Gebot der Sittlichkeit als der Bestimmung des Willens Geltung verschafft werden. Mit den Konzepten von Freiheit und Sittlichkeit stoßen wir an die Grenzen unserer Erklärungskraft, beide bleiben uns rätselhaft. Nach den in der Kritik der reinen Vernunft aufgerichteten Maßstäben konnten wir sie „als etwas Wirkliches nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen“; vielmehr müssen wir sie voraussetzen, „wenn wir uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewußtsein seiner Causalität in Ansehung der Handlungen, das ist mit einem Willen begabt uns denken wollen, und so finden wir, daß wir […] jedem mit Vernunft und Willen
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begabten Wesen diese Eigenschaft, sich unter der Idee seiner Freiheit zum Handeln zu bestimmen, beilegen müssen“ (448, 449). Kant sieht, dass es sich bei dieser Argumentation um „eine Art von Cirkel“ handelt (450): Auf der einen Seite nehmen wir an, als freie Wesen handeln zu können, „um uns in der Ordnung der Zwecke“ unter dem Gebot der Sittlichkeit stehend zu begreifen; auf der anderen Seite denken wir uns jenem unbedingt verpflichtenden Gebot unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens zugesprochen haben. Freiheit und Gesetzgebung des Willens sind „Wechselbegriffe“, sie explizieren sich durcheinander und finden in der Autonomie t des vernünftigen Wesens ihre begriffliche Klammer und höchste Autorität. Kant glaubt das Problem, das durch die zirkuläre Argumentation aufgeworfen ist, dadurch entschärfen zu können, dass er zu bedenken gibt, „ob wir, wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken, nicht einen anderen Standpunkt einnehmen, als wenn wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen, uns vorstellen“ (450). Vom ersten Standpunkt aus gehören wir zur intellektuellen Welt, zu jener Welt der Dinge an sich, über die wir keine Kenntnis haben; der zweite Standpunkt zeigt uns als Mitglieder der Welt der Erscheinungen. Ihre Grenze hatte Kant in der Kritik der reinen Vernunft auf das Genaueste umrissen und in der Diskussion der 3. Antinomie darüber hinaus gezeigt, wie beide Welten trotz ihrer sich gegenseitig verneinenden Bestimmungen zusammenstehen können. Kant verteidigt also die Behauptung der notwendigen Verwiesenheit von Freiheit und Sittlichkeit damit, dass er auf die in der ersten Kritik gewonnene Einsicht verweist, nach der, auch wenn alles in der Welt dem Gesetz der Kausalität (Natur) unterworfen ist, nicht ausgeschlossen werden kann, dass in einer Welt jenseits der Erscheinungen ein anderer ‚Mechanismus‘ als der der Natur – eine „Causalität aus Freiheit“ – möglich ist. Kant glaubt, dass der Mensch als „ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen […] die Causalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken [kann]; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinneswelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muss) ist Freiheit“ (452). Sie muss man voraussetzen, um das unter der
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Bedingung der Sinnen- wie der Verstandeswelt existierende Wesen noch begreifen zu können. Vielleicht lässt sich das, was Kant vorschwebte, besser erläutern, wenn man die leicht missverständliche Rede zweier Welten aufgibt, nicht aber die Intention, die er mit dieser Rede verfolgt; sie scheint ins Nervenzentrum der praktischen Vernunft zu führen und die logische wie sachliche Bedeutung zu erhellen, die den Begriffen von Freiheit und Moralität (Sittlichkeit) zukommt.6 Eine kurze Vorüberlegung dazu mag hilfreich sein. Verteidigt sich beispielsweise jemand gegenüber einem Vorwurf, der ihm gemacht wird, damit, er habe nicht anders gekonnt oder damit, dass er eben so sei, so bringt diese Entschuldigung eine interessante Voraussetzung ans Licht. Wie der Sprechakt zeigt, erhält die Rede des Sprechers, er könne nicht anders, überhaupt erst dadurch Bedeutung, dass sie (vom Sprecher selbst) in das Licht eines ‚Sehrwohlanderskönnens‘ gerückt wird. Die Beurteilung seines Verhaltens als durch die Umstände oder den Charakter usf. determiniert, zeigt sein Festgelegtsein zwangsläufig vor dem Hintergrund einer Unterscheidung, die das Gegenteil, das Wissen um seine mögliche Freiheit, einschließt. Erst im Horizont dieser (transzendentalen) Freiheit kann man sich (können wir uns) ein unfreies Handeln bescheinigen. Wenn der Sprecher will, dass der Adressat seiner Rede ihn bzw. sein Nichtanderskönnen versteht, muss er sich wenigstens für den Umfang seines Urteils der Einsicht beugen, dass er, wenn er sein Handeln als unfrei bestimmt, das Urteil, mit dem er – in gleichsam reflexiver Selbstdistanz – zu sich selbst Stellung bezieht, davon ausnimmt. Er rekurriert auf eine Unterscheidung, die davon zehrt, dass er anders gekonnt hätte. Uns dem Gesetz der Natur (den Umständen, dem Charakter usf.) unterworfen vorzustellen, bedeutet Moralität. Er sieht die „substantielle Sittlichkeit“ in den objektiven Verhältnissen (den Institutionen) der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und vor allem im Staat verwirklicht. Wohingegen die Moralität durch die Dialektik der subjektiven Momente bestimmt ist: durch Vorsatz und Schuld, das Gewissen und das Gute. 7 Von einem performativen Selbstwiderspruch ist bisweilen dann die Rede, wenn man im Vollzug einer Behauptung Voraussetzungen macht oder in
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zugleich, uns selbst als (im Urteil darüber) frei von diesem Gesetz zu denken. Soll das Urteil, das auch ein Handeln ist, nicht überhaupt sinnlos werden, muss der Sprecher den Riss, der mit dieser (in reflexiver Selbstdistanz vorgenommenen) Unterscheidung in die Welt gekommen ist, akzeptieren; andernfalls droht ihm, wie die Philosophen heute manchmal sagen, ein performativer Selbstwiderspruch.7 Der Mensch ist in diesem Sinn nicht einfach ein zweigeteiltes Wesen, ein Trieb- und Vernunftwesen, sondern, wie der Philosoph Søren Kierkegaard später sagen wird, ein Verhältnis V , das in alle Bezugnahmen auf sich selbst (und die Welt) sich zu jenem Riss oder zu jener Spaltung verhalten muss, die von Anfang an mit der fundamentalen Unterscheidung von Können und Nichtkönnen, von Frei- und Nichtfreisein uns aufgetragen ist. Indem man sprachlich – im Vollzug des entsprechenden Satzes – diese Kluft öffnet, rekurriert man auf den Horizont einer Unterscheidung, die allererst ein Urteil über Freiheit und Unfreiheit abzugeben gestattet. Es hat sich eingebürgert, in diesem Zusammenhang von transzendentaler Freiheit zu sprechen. Als Bedingung der Möglichkeit, sich moralisch verhalten zu können, ist sie der Seinsgrund, die ratio essendi des im Bewusstsein vorgestellten Sittengesetzes. Sie ist die Voraussetzung für die moralische Freiheit. Die transzendentale Freiheit V ist nicht einfach Unabhängigkeit von den Mechanismen der Natur, sondern die Freiheit des Subjekts, das sich aufgrund seiner transzendentalen Spaltung herausgefordert sieht, praktisch zu dieser Stellung nehmen zu müssen. Im Kontext dieser Einsicht in die Grundstruktur transzendentaler Freiheit nötigt uns Kant weiterzufragen: Durch was (welches Handeln) könnte denn jene Spaltung – die sich in jener grundlegenden Abständigkeit zu uns selbst gezeigt hatte – überwunden und d. h., durch eine verbindliche Orientierung gemeistert werden. Kants Antwort lautet: Selbstbestimmung. Der von aller Kausalität und Fremdbestimmung freie Wille gibt sich selbst sein Gesetz. Das Prinzip aller moralischen Gesetze liegt in der Autonomie, d. h. der Selbstgesetzlichkeit des Willens. Sie beAnspruch nimmt, die man zugleich (inhaltlich) bestreitet, im übertragenen Sinn: sich den Ast absägt, auf dem man sitzt. 8 Ebd., S. 56, 72 u. a. 1 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems
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schreibt die moralische Freiheit oder das Sittengesetz, welches wiederum in seinem uns nötigenden Charakter als „Factum der Vernunft“8 die ratio cognoscendi jedes vernünftigen Wesens ist. Jene Reflexivität transzendentaler Freiheit, würde Kant sagen, hat ihre grundlegende Voraussetzung in jenem Faktum der praktischen (moralischen) Vernunft oder darin, dass wir moralische Wesen sind, dass wir mindestens die Erfahrung machen können, vom moralischen Anspruch anderer vernünftiger Wesen behelligt zu werden. Das ist für Kant ein ursprüngliches, nicht weiter ableitbares Faktum. Die transzendentale Freiheit wird entdeckt oder besser, erst durchsichtig gemacht im Horizont des moralischen Gesetzes. Das Bewusstsein des Sittengesetzes als ursprünglicher sittlicher Einsicht ist der Erkenntnisgrund für die unumgängliche Annahme, dass der Mensch frei sei. Keine andere Legitimation steht uns dafür zur Verfügung. Vernunft selbst ist ein praktischer Begriff. So beruht auf der einen Seite die Existenz der Vernunft selbst noch auf der Freiheit; auf der anderen Seite aber wird die Freiheit erst verstanden unter Bezug auf jene Nötigung, welche das Sittengesetz darstellt. Vom Primat praktischer Vernunft zu sprechen heißt, die normative Infrastruktur der Vernunft vom Begriff menschlicher Autonomie her durchsichtig zu machen: das Faktum der Vernunft anzuerkennen und die von ihm ausgehende Nötigung, so zu handeln, dass die Maxime meines Willens ein allgemeines Gesetz sein kann. Wie Kant richtig sieht, hängt der Dreh- und Angelpunkt des moralischen Sinns und seiner Begründung buchstäblich in der Luft. Die Philosophie sieht sich „auf einen misslichen Standpunkt gestellt, der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel, noch auf der Erde an etwas gehängt oder woran gestützt wird“ (425). Die Moral ist ortlos; der ihr „eingepflanzte Sinn“ besitzt keinen bestimmten Ort in der Welt, unerachtet dessen, dass an ihn – als den gleichsam höchsten Punkt unseres Daseins – das Selbst- und Weltverständnis der vernünftigen Wesen geheftet ist. Dieser rätselhafte Charakter des Sittengesetzes (einer unbedingten Nötigung durch ein „Factum der Vernunft“) und der Freiheit (eine Handlung von sich aus anfangen zu lassen) ist die letzte paradoxe Auskunft, die uns Kant zufolge unser vernünftiges Denken geben kann. der Naturphilosophie. Oder über den Begriff der speculativen Physik und die innere
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„Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Nothwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine U Unbegreiflichkeit t, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Principien strebt, gefordert werden kann.“ (463) Aktueller denn je Die kantische Moralphilosophie hat, wie nicht anders zu erwarten, eine (welt)weit verzweigte Diskussion ausgelöst. Sie hält bis heute in unverminderter Stärke und Produktivität an. Sie reicht von Schopenhauers und Hegels Kritik am „realitätslosen“ und „abstrakten“ Sollen bis zur Transformation seiner praktischen Philosophie in eine der wichtigsten Ethiken unserer Tage, in die Diskursethik von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas. Ihr auch politisch motivierter Grundgedanke ist eine an „Verständigung“ orientierte Diskussion ethisch strittiger Fragen. Die moralische Grundnorm wird entwickelt aus dem, was wir in einem alltäglichen, durch kommunikatives Handeln bestimmten Sprechen immer schon an normativen (pragmatischen, ethischen und moralischen) Verbindlichkeiten in Anspruch nehmen (müssen). Der Gebrauch der Sprache selbst zeigt eine Regel, die wir – bei Strafe des Unbrauchbarwerdens der Sprache – nicht verletzen dürfen. In dem stärker pragmatistisch geprägten angelsächsischen Diskussionsmilieu ist Kants deontologische (an der Pflicht, nicht ausschließlich an den Folgen ausgerichtete) Ethik nicht nur als Widerpart des Utilitarismus präsent; Richard Hare, Marcus G. Singer mit dem Prinzip der Verallgemeinerbarkeit als höchstem Moralkriterium und John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit verstehen sich in der kantischen Tradition. Auch das – diesseits und jenseits des Atlantiks – wieder erwachte Interesse an einer der aristotelischen Ethik angelehnten Konzeption (Neoaristotelismus, Lebensweltethik) lässt sich kaum ohne die begrifflichen Spannungen verstehen, die im Verhältnis zur kantischen Ethik angelegt sind. Von außerordentlicher Tragweite sind darüber hinaus jene AnV schlüsse an Kant, die in ihrer durch die schrecklichen Erfahrungen des
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20. Jahrhunderts (Kolonialismus, Weltkriege, Faschismus, Holocaust) geprägten Kritik eine zugleich große Nähe wie Ferne zu seiner Auffassung erkennen lassen. Unter ihnen stechen die Ethiken von Emmanuel Lévinas und Theodor W. Adorno besonders hervor. Ihre Befürchtung ist die, dass in dem durch das Sittengesetz gestifteten Zusammenhang von Gesetz (Verbindlichkeit) und Freiheit die „Würde des Menschen“ in den Momenten unterbestimmt bleibt, die sich auf seine radikale Unbestimmtheit und individuelle Unvertretbarkeit beziehen, also darauf, dass die Singularität des menschlichen Wesens nicht – wie im Fall der übrigen Lebewesen – als Exemplar eines Gattungsallgemeinen begriffen werden kann: Können wir „Achtung“ vor dem anderen haben, wenn wir ihn bzw. sein Wesen darin sehen, bloßes „Exemplar“ der Gattung zu sein? Nach Lévinas muss ein Moment der „Entmächtigung“ der Subjektivität durch den anderen, durch sein „Antlitz“ hinzukommen und in das Verständnis des moralischen Sinns hineingenommen werden, für Adorno ein unreglementierter (leiblicher, anarchischer) Impuls, der in Vernunft nicht aufgeht. Beider Kritik gehört in den Umkreis jener skepV tischen Stimmen, die fragen, ob ein ausschließlich an reiner Vernunft orientierter Wille eine hinreichende Basis für die Bestimmung des moralischen Sinns und der Praxis ist.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling:
Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der astrid schwarz N Naturphilosophie Im Jahr 1799 veröffentlichte Schelling die Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie1, die als eine zentrale Schrift der schellingschen Naturphilosophie gilt. Anliegen der Schrift ist die Ausarbeitung eines Naturbegriffs, dem die Idee einer unbedingten Produktivität zugrunde liegt. Natur soll als ein in sich selbst vermittelter Prozess begrifffen werden, der sich selbst permanent aus einander entgegengesetzten Kräften hervorbringt. Dieser Prozess umgreift auch den Menschen als Teil des Naturprozesses: „Philosophiren über die Natur ist die Natur T construiren.“2 Die schellingsche Naturphilosophie orientierte sich stark an der zeitgenössischen Naturforschung, ohne diese freilich kritiklos zu übernehmen. Das Zusammenspiel von permanenter Rezeption empirischer Forschung und philosophischer Durchdringung ist für diese Philosophie charakteristisch. Schelling wollte damit aber keineswegs eine Wissenschaftstheorie für die Naturwissenschaften vorlegen, eine solche setzte er voraus, wobei er sich an der kantischen Kritik der Urteilskraft orientierte. Organisation eines Systems dieser Wissenschaft, in: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, hg. von Manfred Frank, Frankfurt/Main 1995. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert, wenn nicht anders gekennzeichnet. EE steht für die Einleitung (1799) und IW für den Idealismus der Wissenschaftslehre (1797). 2 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: Hist.-krit. Ausgabe, Bd. 7, hg. v. Wilhelm G. Jacobs u. a., Stuttgart 2001, S. 13. 3 Eine kurze Skizze der Bedeutung dieser „doppelten Revolution“ allgemein
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Naturphilosophie, Naturwissenschaften und Medizin standen im Mittelpunkt der Denkarbeit des jungen Schelling. Seine naturphilosophischen Schriften entstanden im Wesentlichen zwischen 1797 und 1806, also in jener Zeit, in der Französische Revolution und Deutscher Idealismus einen radikalen Umbruch in Gesellschaft und Wissenschaft bewirkten.3 Parallel zur Naturphilosophie, teilweise mit dieser verschränkt, erarbeitet Schelling zunächst jene Schriften, die unter „Identitätsphilosophie“ zusammengefasst werden, im Anschluss daran entstehen mehrere Beiträge zur Philosophie der Kunst. Ab 1806 wendet er sich anderen Gebieten zu und entwickelt seine Philosophie der Freiheit weiter, dann die Schriften zur Geschichtsphilosophie und schließlich ab den 1840erJahren seine Religionsphilosophie. Die Naturphilosophie Schellings wurde stets konträr diskutiert, wobei die gesamte Skala von erbitterter Ablehnung und Bekämpfung bis zu begeisterter Schwärmerei vertreten ist. Der Biologe Matthias Jakob Schleiden etwa weiß die Mehrzahl der zeitgenössischen Naturwissenschaftler hinter sich, als er 1844 dazu aufruft, Schelling völlig zu ignorieren, da die Naturwissenschaft ansonsten Gefahr liefe, sich selbst zu vernichten. Aus dem Jenaer Romantikerkreis lässt Friedrich Schlegel verlauten, Schellings Philosophie sei vor allem „kritischer Mystizismus“, vor dem zu warnen sei. „[E]in leerer Wahn, eine bloße Täuschung“ sei in Schellings Naturwissenschaft das Philosophische, urteilt auch der Philosoph und Physiker Jakob Friedrich Fries im Jahr 1803.4 Aber der Neukantianer Fries kann gleichzeitig nicht umhin zu konzedieren, dass es Schelling gewesen sei, der „zuerst den Glauben an die Einheit des Systems der Natur den Träumen von Schwärmern (entriß), und mit Besonnenheit den Grundsatz auf[stellte], daß die Welt unter Naturgesetzen ein organisiertes Ganzes sey; er setzte somit den Organismus, welcher sonst immer nur ein beschwerlicher Anhang der Physik blieb, eigentlich in ihren Mittelpunkt, und machte ihn zum belebenden Prinzip des Ganzen“.5 Ausdrückliche Unterstützung erfährt Schelling entwickelt Gerhard Gamm einleitend in seinem Beitrag zu Hegel in diesem Band. 4 Zitiert in: F. W. J. Schelling, Hist.-krit. Ausgabe, Bd 7, a. a. O. , S. 61. 5 Ebd., S. 60f. 6 Sandkühler, Hans Jörg, F. W. J. Schelling, Stuttgart 1998 , S. 7.
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durch Johann Wolfgang von Goethe, der ihn als „ganz trefflichen Kopf“ verteidigt, und vonseiten der Naturforscher begleiten ihn kritisch, aber begeistert der Mineraloge Henrik Steffens und der Physiker Johann Wilhelm Ritter. Diese Polarisierung in der Beurteilung der schellingschen Philosophie findet sich bis heute. Ein verbindliches Schelling-Bild konnte sich nie durchsetzen, stattdessen werden die Gemüter zwischen „heftiger Anklage und kritikloser Verteidigung“ bewegt.6 Worin steckt nun die Brisanz der schellingschen Naturphilosophie? W Was macht sie für die Einen zum Hoffnungsträger einer alternativen, W ganzheitlichen, nicht-mechanizistischen Wissenschaft von der Natur, während sie für die Anderen schlicht die falschen Fragen stellt, angekränkelt vom romantischen „Ganzheitswahn“? Die Erscheinung der Natur Schelling geht es wesentlich um das Verständnis der Erscheinung von Natur. Der Grundtenor seiner Naturphilosophie ist eine erkenntniskritische Fundierung der Realitätserfahrung. Während sich die Naturphilosophie mit den „ursprünglichen Bewegungsursachen“, dem „inneren Triebwerk“ der Natur beschäftigen soll, ist es Aufgabe der Naturwissenschaft, sich mit „der Oberfläche der Natur, und [dem], was an ihr objektiv und gleichsam Außenseite ist“, zu befassen (EE 343). Die schellingsche Naturphilosophie ist also von Anfang an nicht als Konkurrenz zur Naturwissenschaft konzipiert. Im Zentrum dieser Naturphilosophie steht eine zweiseitige Rekonstruktion: Komplementär werden dynamische Natur und handelndes Subjekt entwickelt. „Philosophiren über die Natur heißt vor allem auch, sie aus dem todten Mechanismus, worin sie befangen erscheint, herausheben, sie mit Freiheit gleichsam beleben, und in eigne freie Entwicklung versetzen – heißt, mit anderen Worten, sich selbst von der gemeinen Ansicht losreißen, welche in der Natur nur, was geschieht – höchs-
7 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: Hist.-krit. Ausgabe, Bd. 7, a. a. O., S. 79 (Hervorhebung A. S.)
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tens das Handeln als F Factum, nicht das Handeln selbst im Handeln – erblickt.“7 Der tätigen Natur wird dieselbe Struktur unterstellt wie dem tätigen Geist. Diese Tätigkeit des Geistes – die Idealität – und das Produkt dieser Tätigkeit – die Realität – sind nun ursprünglich „eins und dasselbe“ (IW 164). Entsprechend ist auch unser Wissen „ganz und durchaus ideal und real zugleich“ (IW 164), kann also auch nicht nur von einer Seite allein angemessen beschrieben werden. Zum Zweck der Erkenntnis müssen wir aber trotzdem Idealität und Realität einander entgegensetzen, weil wir uns sonst weder des tätigen Geistes noch des Produktes bewusst werden können. Die Folge ist, dass wir uns den tätigen Geist (die Handlungsweise) rein formal und abstrahiert vom Produkt vorstellen und umgekehrt das Produkt rein material, abstrahiert von der Handlungsweise, durch die es entstanden ist. Die Aufgabe der Naturphilosophie soll es nun sein, aus den jeweils entgegengesetzten Perspektiven die Identität von Natur und Subjekt zu erklären und zu begründen. „[Ist] eine solche Identität des Gegenstandes und der Vorstellung“, wie Schelling selbst kritisch fragt, „aber überhaupt mögV lich?“ (IW 157) Dies ist der Ausgangspunkt der schellingschen Denkbewegung: Die Existenz unserer Selbst wird durch ein permanentes Produzieren unserer Vorstellungen aufrechterhalten, „unser ganzes Daseyn hängt an unserer Tätigkeit“ (IW 157). Nach 1799 ist es dann die Tätigkeit des Denkens selbst, die durch die Natur vermittelt ist. Schelling zeigt, dass es nicht genügen kann, die reale Welt als eine nur ideal existierende, in der Anschauung des Ich entstehende Welt zu denken. Am Ende des Weges spricht er der Natur selbst Freiheit und damit Subjektivität und Produktivität zu. Von der Identitätsphilosophie zum objektiven Idealismus In seinen frühen naturphilosophischen Schriften8 erklärt Schelling, dass die Natur der sichtbare Geist sein solle und umgekehrt der Geist die unsichtbare Natur. Darüber hinaus soll die Natur aber mit den Ge8 Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre (1796/1797), Idealismus der Wissenschaftslehre (1797).
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setzen des Geistes nicht nur zufällig zusammentreffen, sondern „nothwendig und ursprünglich die Gesetze unseres Geistes nicht nur ausdrücke[n], sondern selbst realisiere[n],“ und nur „insofern Natur sey[n] und heiße[n], als sie dieß thut“.9 Dieses Prinzip gegenseitiger Verweise könnten wir nur, so Schelling, in einem Wesen finden, das sich selbst anschaut, also zugleich das Anschauende und das Angeschaute wäre, zugleich Subjekt und Objekt sein könnte – mit anderen Worten: in uns selbst. Nur bei uns selbst können wir die „absolute(n) Identität der Vorstellung und des Gegenstandes finden“ (IW 158). Bei dieser wechselseitigen Verweisung von Geist auf Natur und Natur auf Geist kommt der Anschauung eine gewichtige Rolle zu. Überhaupt ist die Anschauung ein entscheidender Grundbegriff bei Schelling. In der Anschauung sind Gegenstand und Begriff nicht getrennt, sie ist die ursprüngliche, unwillkürliche und präreflexive Form, in der wir Dinge erfassen. Auch die Anschauung ist doppelt bestimmt, eine Duplizität, wie Schelling sagen würde, und wird als aus zwei entgegengesetzten Tätigkeiten bestehend gedacht: „Weil Raum und Zeit Bedingungen der Anschauung sind, so ffolgt, daß Anschauung überhaupt nur durch zwei absolut entgegengesetzte Thätigkeiten möglich ist.“ (IW 148) In der Anschauung treffen die von außen auf uns wirkende Tätigkeit (die Gegenstände) und die ursprüngliche geistige Tätigkeit (die Vorstellung, Begriffe) aufeinander. „Alle Realität, die ihm [dem Begriff] zukommen kann, leiht ihm doch nur die Anschauung, die ihm vorausging.“10 Nun kann aber der Geist, indem er sich selbst anschaut, sich nicht zugleich von sich selbst unterscheiden. Mit der Anschauung selbst ist das Bewusstsein noch nicht vorhanden, d. h., das Ich ist sich auch der Anschauung selbst nicht bewusst. Um schließlich Gegenstand und Vorstellung (oder Begriff) unterscheiden zu können, müssen wir aus der Anschauung „heraustreten“. Und dies können wir „nicht anders, als inwiefern wir vom Produkt unsrer Anschauung abstrahiren“ 9 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Einleitung zu: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797), in: Ausgewählte N Schriften, Bd. 1, hg. von Manfred Frank, Frankfurt/Main 1995, S. 293f. 10Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium der Wissenschaft, in: Sämmtliche Werke, Bd. 2, hg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart 1856–1861, S. 216.
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(IW 162). Das Bewusstsein entsteht dann, wenn ich, so Schelling, von der Anschauung abstrahiere: Erst in diesem Moment kann ich die beiden Tätigkeiten der Anschauung unterscheiden. Indem ich das Produkt der eigenen geistigen Tätigkeit „freigebe“, ihm Unabhängigkeit vom eigenen Handeln gebe, wird das „Produkt unsres Handelns Objekt“ (IW 162). Schelling hebt, ganz dem aufklärerischen Diskurs verpflichtet, hervor: „Erst durch mein freies Handeln, insofern ihm [dem Handeln] ein Objekt entgegengesetzt ist, entsteht in mir Bewußtseyn. Das Objekt ist jetzt da, sein Ursprung liegt für mich in der Vergangenheit, jenseits meines jetzigen Bewußtseyns, es ist da, ohne mein Zuthun.“ (IW 162, Hervorhebung kursiv A. S.) 1801 setzt Schelling nochmals nach: Die Abstraktion vom Anschauenden in der Anschauung lässt das „rein Objektive dieses Akts zurück, welcher an sich bloß Subjekt-Objekt, keineswegs aber = Ich ist“.11 Von der Ausarbeitung des Begriffs der „Abstraktion von der Anschauung“ verspricht sich Schelling letztlich die Verknüpfung der Konstitution der „wirklichen Natur“ – auch des Selbstbewusstseins – mit den vorbewussten Akten des Bewusstseins, dem vor aller Erkenntnistätigkeit gelegenen. An dieser und ähnlichen Stellen wird deutlich, dass sich Schelling bereits mitten in der Begründung möglicher Erfahrung von Wirklichkeit befindet. „Ich bin“ oder „Lebendiges ist“ kann demzufolge nicht mehr aus der Objektivierung von Erkenntnis abgeleitet werden, sondern geht der bewussten Erfahrung voraus r und liegt, hier beruft sich Schelling ausdrücklich auf Spinoza, „in der allgemeinen Existenzgewißheit von allem, was wir als existentiell wirklich erfahren“.12 Das Subjekt-Objekt Der Grundgedanke der schellingschen Naturphilosophie ist der einer Natur als organisches Ganzes. In diesem organischen Ganzen tragen und stützen sich die Teile gegenseitig, wobei sie nicht zufällig aufeinan11Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (Hg.), „Einleitung“, in: Zeitschrift für spekulative Physik 2 (1801), S. 304. 12Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich, V Von der Wirklichen, von der seyenden Natur: Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel, Stuttgart 1996, S. 70.
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der bezogen sind, sondern entsprechend einer bestimmten Organisation: „[d]iese Organisation [mußte] als Ganzes ihren Theilen präexistiren, nicht das Ganze konnte aus den Theilen, sondern die Theile mußten aus dem Ganzen entspringen.“ (EE 347) Die gesamte Natur folgt denselben Prinzipien wie ein individueller Organismus, sie bringt sich selbst aus ihren eigenen Organisationsprinzipien hervor. Damit haben wir es mit einer produktiven und vor allem auch autonomen Natur zu tun, komplementär dem aktiven Handeln und der Freiheit beim Menschen selbst. Diese subjekthafte Natur ist in permanenter Entwicklung begriffen, angetrieben durch ein dynamisches Prinzip. Kraft dieses Prinzips bringt die Natur die für uns wahrnehmbaren Produkte – Gräser oder Bäume – hervor. Schelling denkt die Natur immer aus zwei Perspektiven zugleich: der produzierenden Natur – natura naturans – und der produzierten Natur – natura naturata: „Insofern wir das Ganze der Objekte nicht bloß als Produkt, sondern nothwendig zugleich als produktiv setzen, erhebt es sich für uns zur Natur, und diese Identität des Produkts und der Produktivität, und nichts anderes, ist selbst im gemeinen Sprachgebrauch durch den Begriff der Natur bezeichnet. Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie). Da das Objekt nie unbedingt ist, so muß etwas schlechthin Nichtobjektives in die Natur gesetzt werden, dieses absolut Nichtobjektive ist eben jene ursprüngliche Produktivität der Natur. In der gemeinen Ansicht verschwindet sie über dem Produkt; in der philosophischen verschwindet umgekehrt das Produkt über der Produktivität.“ (EE 352) Diese Unterscheidung von Produktivität und Produkt ist eine Kernthese der schellingschen Naturphilosophie. Sie erschließt die Natur entlang des philosophischen Schemas von Subjekt und Objekt. Um seinen Naturbegriff sowohl von der Seite des Subjekts wie des Objekts entwickeln zu können, versucht Schelling, eine Symmetrie herzustellen zwischen der Konstruktion des sich selbst erkennenden Subjekts und einer sich selbst produzierenden Natur. Verankert wird diese Symmetrie in einer ursprünglichen Identität von Ideellem und Reellem. Schelling
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will den Ich-Bezug gewissermaßen vergessen machen, ihn mindestens ausblenden und auf diese Weise das unabhängige Objekt gewinnen. Dass in seinem Begriff des Objektiven immer zugleich das Ideelle und das Reelle enthalten sei, betont er ausdrücklich, denn „das Ideal-Reale wird zum Objektiven nur durch das entstehende Bewußtsein, in welchem das Subjektive sich zur höchsten [theoretischen] Potenz erhebt“.13 Das Ideal-Reale oder Subjekt-Objekt wird durch den Schritt der Abstraktion von der Anschauung gewonnen – anders gesagt, durch Abstraktion vom subjektiven Ich als Prinzip. Stattdessen setzt der Naturphilosoph als Prinzip die Natur selbst: Die Natur fungiert dann als Subjekt-Objekt: Es ist subjektiv, weil es alles aus sich selbst erzeugt, durch nichts Äußeres bedingt; und es ist objektiv, weil alles, was entsteht, aus den Kräften der Natur selbst abzuleiten ist. Die „Konstruktion der Natur“ beginnt also nach Schelling an einem Nullpunkt, an dem noch nichts Bestimmtes, noch kein Produkt, kein Blatt, kein Baum, keine Erscheinungswelt, und auch kein Ich als Ich des menschlichen Bewusstseins vorhanden ist. Damit verdankt sich das Prinzip des Subjekt-Objekts der Natur einer „doppelten Einklammerung“:14 Abgesehen wird vom Ich, das die Theorie entwirft, und von der objektiven, der phänomenalen Seite der Natur. Gegenstand der Naturphilosophie ist somit die Rekonstruktion der Selbstkonstruktion der werdenden Natur aus ursprünglichen Kräften. Vorausgesetzt wird eine Natur der „unbedingten Realität“, d. h., „die Natur hat ihre Realität aus sich selbst heraus – sie ist ihr eigenes Produkt […] ein aus sich selbst organisirtes und sich selbst organisirendes Ganzes“, wie Schelling sagt. „Die ganze Natur, nicht etwa nur ein Theil derselben soll einem immer werdenden Producte gleich seyn. […] Alles was in der Natur ist, muß angesehen werden als ein Gewordenes.“15 Natur ist unbedingte Produktivität und als ein in sich selbst vermittelter Gesamtprozess zu begreifen: „Ueber die Natur philosophiren heißt die Natur schaffen.“ (EE 329) Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Naturphilosophie wird nicht nur positiv eingeschätzt, ihm wird sogar eine wichtige Rolle zuge13Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, „Einleitung“, a. a. O., S. 303. 14Boenke, Michaela (Hg.), Schelling, München 1995, S. 38. 15Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, a. a. O., S. 93.
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sprochen insofern, als die naturwissenschaftlichen Ergebnisse als Korrektiv in das philosophische System eingearbeitet werden. „Die erste Maxime aller wahren Naturwissenschaft, alles […] aus Natur-Kräften zu erklären, wird […] von unsrer Wissenschaft […] angenommen.“ (EE 341) Entsprechend will Schelling auch von der um die Jahrhundertwende populären Lebenskraft16 nichts wissen, die zur Erklärung medizinischer oder biologischer Phänomene herangezogen wurde. Er brandmarkt sie als Notbehelf der Unwissenheit und kommentiert: „[U]m das thierische Leben zu erklären, [haben wir es nicht nöthig], unbekannte Principien oder dunkle Qualitäten zu fingiren.“17 Entstehungs- und Editionsgeschichte Die Entstehungs- und Editionsgeschichte des Ersten Entwurfs und seiner Einleitung gibt in mehrfacher Hinsicht Aufschluss über Inhalt und Systematik der schellingschen Naturphilosophie, insbesondere das Verhältnis der Einleitung zum Ersten Entwurf.f Die erste Auflage sowohl der Einleitung wie des Ersten Entwurfs selbst erschien 1799 beim Verlag Gabler in Jena, sie blieb zu Schellings Lebzeiten die Einzige. Eine zweite Edition erfolgte 1858 im Rahmen einer ersten Gesamtausgabe Sämmtliche W Werke durch den Sohn Karl Friedrich August. Ihr liegt ein Handexemplar Schellings zugrunde, das er bei Vorlesungen benutzt hatte und dessen Zusätze in diese Auflage und die meisten späteren Auflagen übernommen wurden. Der Erste Entwurf und auch die Einleitung sind von einer gewissen Atemlosigkeit und hastigen Bewegung gekennzeichnet. Das bezieht sich sowohl auf die Gesamtstruktur wie auch den Gebrauch verschiedener zentraler Begriffe, etwa den der speculativen Physik. Der Grund dafür ist, dass beide Schriften sehr rasch entstanden, vor allem aber, dass die Druckbögen als Vorlage für die Vorlesungen peu à peu in Umlauf kamen, sich dann rasch verbreiteten und Schelling im Laufe des weite16Unter der vis vitalis wurde eine verborgene Kraft verstanden, die allein der organischen Natur zu Eigen sein sollte. Sie wurde programmatisch gegen Positionen angeführt, die behaupteten, Lebensphänomene auf der Basis herkömmlicher physikalischer Kräfte erklären zu können. 17Zitiert in: F. W. J. Schelling, Hist.-krit. Ausgabe, Bd 7, a. a. O., S. 423.
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ren Schreibens bereits die Rezeption seiner Schrift verarbeitete. Goethe beispielsweise bekam seit November 1798 regelmäßig die neuesten Bögen und kommentierte gegenüber einem Dritten wie folgt: „Schelling arbeitet jetzt seine Ideen zum Behuf seiner Vorlesungen nochmals aus; sie müssen freilich noch manchmal durchs Läuterfeuer bis sie völlig rein dastehen, er ist aber auch noch jung und das Unternehmen ist groß und schwer.“18 Schelling war sich der „Größe und Schwere“ des Unternehmens durchaus bewusst. In der Vorrede zum Ersten Entwurf schreibt er: „Der Verfasser hat zu hohe Begriffe von der Größe seines Unternehmens, um in der gegenwärtigen Schrift – (weit entfernt, das System selbst aufzustellen) – auch nur mehr als den ersten Entwurf anzukündigen.“ Dennoch war Schelling der Meinung, mit der Einleitung die Anfangsgründe einer spekulativen Physik dargelegt zu haben. Insofern ist die Überschrift Programm: Die „speculative Physik“ soll hier auf den Begriff gebracht werden, und darüber hinaus eine Explikation der „inneren Organisation des Systems dieser Wissenschaft“ entwickelt werden. Am Begriff der „speculativen Physik“ kondensieren zentrale Auseinandersetzungen zwischen Schelling und seinen Kritikern, aber auch der Selbstkritik. Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie Die Einleitung ist in sechs Paragraphen unterteilt. Sie gilt als die systematisch am besten durchgearbeitete Teil-Schrift der schellingschen Naturphilosophie überhaupt. Ohne die empirischen Beispiele aus der Naturforschung, auf deren sehr ausführliche Darstellung im Ersten Entwurf sich Schelling bezieht, bleibt sie dennoch sperrig. „Was wir Naturphilosophie nennen ist eine im System des Wissens nothwendige Wissenschaft“ lautet die Überschrift von § 1. Schelling geht es hier einerseits um die systematische Verortung der Naturphilosophie im Verhältnis zur Transzendentalphilosophie, deren Erkenntnisinteresse als dem der Naturphilosophie entgegengesetzt konstruiert wird. Andererseits skizziert er eine Methodologie der Naturphilosophie. Er beschreibt die idealistisch-transzendentale Natur als den „sichtbaren Organismus unseres Verstandes“ (EE 340). Natur kann nur das 18Tilliette, Xavier, Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen, Bd. 1, Torino 1974, S.
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Regel- und Zweckmäßige hervorbringen, sie produziert es sogar „mit Nothwendigkeit“ (EE 340). Daraus folgt dann, so Schelling programmatisch, ohne sich an dieser Stelle mit der Ableitung der Entstehung des „wirklichen“ und unabhängigen Objekts aus der reinen SubjektObjekt-Konstruktion aufzuhalten, daß sich in dieser „als selbständig und reell gedachten Natur und dem Verhältniß ihrer Kräfte wiederum der Ursprung solcher regel- und zweckmäßigen Produkte als nothwendig nachweisen lassen (muß)“ (EE 340, Hervorhebung A. S.). Und kommt zu dem bereits bekannten Schluss, dass das Ideelle aus dem Reellen erklärt werden können muß. In § 2 wird der wissenschaftliche Charakter der Naturphilosophie ausgeführt, den neuen Begriff der autonomen Natur zugrunde legend. Schelling weist nachdrücklich auf die methodischen Konsequenzen der naturphilosophischen Methode hin, insbesondere aber darauf, dass diese Erklärungsart für eine (empirische) Physik- und Naturphilosophie völlig sinnlos sei: „[J]ede idealistische Erklärungsart [also jede Rückführung des Reellen auf das Ideelle] aus ihrem eigenthümlichen Gebiet in das der Naturerklärung herübergezogen, artet in den abenteuerlichsten Unsinn aus.“ (EE 341) Demgegenüber betont er den real-wissenschaftlichen Charakter von Naturphilosophie, die nichts anderes sei als Physik – aber eben spekulative Physik. Schelling verfolgt hier eine Art „methodischen Realismus“, wenn er betont, dass Naturphilosophie die oberste Maxime der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu akzeptieren habe, alles aus Naturkräften zu erklären, selbst auf jenem Gebiet, „vor welchem alle Naturerklärung bis jetzt stillzustehen gewohnt“ war, nämlich dem der organischen Erscheinungen. § 3 besteht im Wesentlichen in der Einführung und Rechtfertigung des Begriffs „speculative Physik“, der hier synonym mit Naturphilosophie gebraucht wird. Schelling orientiert sich mit seinem Begriff von spekulativ – bei aller Veränderung in den Jahren zwischen 1796 und 1799 – vor allem an Kant. Gemeint ist damit, dass Hypothesen zur Erklärung von Phänomenen ausgedacht werden, dabei notwendige Prinzipien zur Ableitung alles Bedingten voraussetzend. Die Naturphilosophie ist dadurch spekulativ, dass sie Natur nicht als Objekt, sondern als Subjekt thematisiert, d. h. auf ihren Innenaspekt zielt. Physik ist sie in
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dem Sinne, als sie „ganz und durchein realistisch“ (EE 342) ist, d. h. sich mit den Bedingungen der Konstruktion der Natur und nicht des Ich beschäftigt. Die Abgrenzung von spekulativer zu empirischer Physik wird über den Unterschied zwischen ursprünglicher (primitiver) und abgeleiteter (sekundärer) Bewegungs-Ursache vorgenommen, worin auch die Differenz von dynamischer und mechanischer Naturerklärung gründet. Während sich die spekulative Physik allein mit den ursprünglichen Bewegungs-Ursachen U in der Natur beschäftigt, also mit dynamischen Erscheinungen, ist die mechanische Physik nur mit sekundären, mechanischen Bewegungen befasst, die dann auch der mathematischen Konstruktion fähig sind. In § 4 und 5 wird die Frage nach den Möglichkeiten dieser spekulativen Physik, genauer, nach der Möglichkeit einer Naturlehre überhaupt als Wissenschaft gestellt. Schelling diskutiert hier die Bedeutung von Experiment und Hypothese in Naturphilosophie und Naturwissenschaft und die „allgemeine Duplizität“ als Prinzip aller Naturerklärung. Insbesondere verteidigt er sich hier aber gegen den Vorwurf, dass es in einer spekulativen Physik mit einer Natur a priori keine Erfahrung geben könne. Schelling betont ausdrücklich, dass Erfahrung die Basis unseres Wissens überhaupt sei: „[W]ir wissen ursprünglich überhaupt nichts als durch Erfahrung und mittelst der Erfahrung.“ (EE 346) Unser ganzes Wissen besteht folglich aus Erfahrungssätzen. Wissen aber können wir nur etwas, von dem wir auch die Bedingung der Möglichkeit kennen. Schelling erläutert dies am Beispiel des Wissens über eine Maschine: Die Kenntnis des Objekts „Maschine“ bliebe ein „bloßes Sehen“, wenn wir ihre Konstruktion nicht kennen würden. Das vollkommenste Wissen über die Maschine hat ihr Erfinder, denn er ist „gleichsam die Seele dieses Werks“, vor allem aber geht dieses Wissen der „Darstellung“ der Maschine in der Wirklichkeit voraus (EE 344). Das Wissen um die Konstruktion der Maschine ist ein Akt der Vernunft, welcher der physischen Existenz der Maschine vorausgeht. V Die Aufgabe der Wissenschaft besteht nun darin, die Verbindung von Vernunft (die Konstruktion) auf der einen Seite und der Erfahrung (der V Empirie) auf der anderen Seite herzustellen. Dabei unterscheidet Schelling nicht zwischen wissenschaftlicher Erfahrung und Alltagserfah-
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rung. Alle für uns sinnlich wahrnehmbaren Objekte sind notwendig materielle Objekte. Diese Objekte sind aber keine dauerhaften „Produkte der Natur“, sondern lediglich ephemere Figuren oder Gestalten, die „in jedem Moment vernichtet, und in jedem Moment neu reproducirt“ werden. „Wir sehen nicht eigentlich das Bestehen des Produkts, sondern nur das beständige Reproducirtwerden.“ (EE 357) Schelling veranschaulicht diese Denkfigur mit einem Wasserwirbel, der in jedem Augenblick verschwindet und wieder entsteht. „(W)as nicht an sich selbst, sondern nur in seinem Produkte erkannt wird, wird schlechthin empirisch erkannt.“ (EE 361) Die Materie ist notwendig der Erfahrung entzogen, und doch können wir nichts anderes als Materie erkennen. Materie wird als etwas vorgestellt, was der erfüllte Raum selbst ist, nicht als das, was den Raum erfüllt. „Was also den Raum erfüllt, kann nicht Materie seyn. Nur was ist, ist im Raum, nicht das Seyn selbst.“ (EE 360) Dieser Raum ist gleichermaßen erfüllt und begrenzt von entgegengesetzten Kräften. Diese sind jedoch nicht als wirkliche Eigenschaften der Materie vorzustellen, sondern als Möglichkeit von Materie. Schelling nennt diese Kräfte der Zurückstoßung und Anziehung, der Ausdehnung und Beschränkung, der Repulsion und Attraktion, an anderer Stelle auch die kosmischen Grundkräfte. Sie konstituieren die Materie, und zwar, indem sie permanent gleichzeitig wirksam sind. Schelling postuliert die Duplizität aber nicht nur für die physikalischen Kräfte, sondern für alle Naturerscheinungen, sie findet sich entsprechend, außer in der Elektrizität und dem Galvanismus, auch in der Chemie oder in der biologischen Zweigeschlechtlichkeit, überhaupt ganz allgemein in der Natur, der anorganischen und der organischen. Mit seinem Materiebegriff stellt sich Schelling deutlich gegen den der neuzeitlichen Newtonschen Physik, nach dem auf gegebene Körper gegebene Kräfte – von außen oder innen – einwirken. Gegenstände und Gesetze müssen dabei, um sie als gegebene erklären zu können, aus dem Gesamtzusammenhang isoliert werden. Folge dieser Isolierung ist aber, meint Schelling, dass Natur nicht mehr als werdendes und wirkendes Ganzes aufgefasst werden kann. Er fordert stattdessen, dass die kosmischen Grundkräfte selbst, also die alle Materie konstituierenden Kräfte, begründet werden müssen. Es genüge nicht zu wissen, dass die Existenz
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der Materie auf dem Gegensatz zweier Kräfte beruhe, sondern man müsse sich darüber Klarheit verschaffen, wie dies eigentlich möglich sei. Materie soll also nicht analytisch gedacht werden (wie Kant das tut), als ein Faktum, erklärbar aus den Kräften Expansion und Kontraktion. Materie ist vielmehr als das Produkt dieser Grundkräfte anzusehen, die wiederum durch eine dritte Kraft zum Prozess gebracht werden. Eine solche dritte Kraft ist nach Schelling die Schwerkraft: „In dem Prozeß, welcher die Schwere möglich macht, werden die beiden Kräfte durch Wirkung einer synthetischen gezwungen, ein Gemeinschaftliches im Raum darzustellen, und eben dadurch den Raum zu erfüllen.“19 Erst durch die einfache Schwerkraft, das gemeinschaftliche Dritte, werden die beiden entgegegengesetzten Kräfte von Expansion und Kontraktion das, was sie sind. Umgekehrt ist die Bedingung der Schwerkraft der permanente Wechsel von Expansion und Kontraktion, aus dem das gemeinschaftlich-ganzheitliche, jedoch nur vorübergehend Existente entsteht. Diese permanente Tätigkeit begegnet immer wieder als „Zustand des Schwebens“ und ist deswegen von so zentraler Bedeutung, weil am Begriff des Schwebens die Verschränkung in der Korrespondenz von Natur und Geist deutlich wird. Wie also begründet Schelling den Zustand des Schwebens genau? Wieder beginnt er beim Menschen: Ohne Tätigkeit gibt es kein Leben, können wir also auch selbst nicht existieren: „Unser ganzes Daseyn hängt an unserer Tätigkeit“, sagt Schelling, und diese „äußert sich in beständigen Produktionen. Daher ist in uns ein nothwendiges Bestreben die Continuität der Vorstellungen zu erhalten, d. h. ein ewiges Produciren.“ (IW 176) Diese Tätigkeit finden wir auch unabhängig von uns selbst in der Natur, wir müssen sie aber auch in der Natur finden, da ihre Voraussetzung ebenso notwendig ist wie die Natur selbst. Damit ist die V letzte Ursache der Naturerscheinungen – die Indifferenz zwischen Produkt und Produktivität, das Schweben – aber nicht nur in die Natur „hineingelegt“. Dies hätte, so Schelling, sowieso nur hypothetischen Wert und eine darauf gegründete Wissenschaft bliebe für immer hypothetisch. Das soll sie aber ja genau nicht sein und um dies zu verhindern, 18. 19Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Allgemeine Deduktion des dynamischen
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setzt Schelling voraus, dass das Ganze der Erscheinungen nicht bloß Produkt, sondern zugleich produktiv ist. Das Ganze kann dann niemals zur absoluten Identität kommen, womit auch verhindert wird, dass die Natur als Ganzes in Natur als Produkt übergeht und es dadurch zum absoluten Stillstand kommt; „jenes Schweben der Natur zwischen Produktivität und Produkt wird also als eine allgemeine Duplicität der Principien, wodurch die Natur in beständiger Thätigkeit erhalten und verhindert wird in ihrem Produkt sich zu erschöpfen, erscheinen müssen“. (EE 345) Um das Schweben der Natur, ihre permanente Tätigkeit aufrechtzuerhalten, wird das Prinzip der Duplizität als absolute Voraussetzung ebenso notwendig gebraucht wie der dialektische Begriff von der Natur selbst. „Natur ist immer und auf allen Stufen ein Verhältnis zwischen Entgegengesetztem.“ (IW 200) Dem korrespondiert wiederum die Duplizität im menschlichen Geist, der „alles, was er anschaut und erkennt, aus Entgegengesetztem (construiert)“ (IW 200). Diese Duplizität lässt sich nicht weiter physikalisch ableiten. Als Bedingung aller Natur überhaupt ist sie Prinzip aller physikalischen Erklärung. Auf die „empirische Probe“ muss die Duplizität aber trotzdem gestellt werden können, betont Schelling. Durch die Ableitung aller Naturerscheinungen aus der absoluten Voraussetzung verwandelt sich unser Wissen dann in das, was Schelling die Konstruktion der Natur nennt – in die Wissenschaft der Natur a priori. Für die Naturphilosophie ist evident, dass jede Naturerscheinung mit den letzten Bedingungen einer Natur zusammenhängt. Hergestellt wird dieser Zusammenhang durch so genannte Zwischenglieder – und diese sind es, welche die experimentierende Naturforschung aufzufinden hat. Die Bedeutung des Experiments ist folglich auch für die Naturphilosophie eine entscheidende, denn es gewährt uns Einsicht in die innere Konstruktion der Natur. Experimentieren um 1800 Dem Experiment gesteht Schelling wie gesagt eine entscheidende Bedeutung zu in seiner Naturphilosophie. Es soll die Erscheinungen ent-
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sprechend einer vorausliegenden Konstruktion hervorbringen, worauf sich die naturphilosophische Konstruktion dann letztlich beziehen lässt. Entscheidend bei der Frage nach der Rolle des Experiments ist das Verhältnis von Konstruktion und Erscheinung bzw. Erscheinungsdatum. Der Blick in die „innere Construction der Natur“ (EE 344) ist nur möglich, führt Schelling aus, indem wir die Natur zwingen, unter bestimmten Bedingungen zu handeln, unter Bedingungen, „die in ihr gewöhnlich entweder gar nicht oder nur durch andere modifiziert existieren“ (EE 344). Der Zwang muss deswegen ausgeübt werden, weil die Natur nie isoliert handelt, „sondern unter dem Zuströmen einer Menge von Ursachen, die erst ausgeschlossen werden müssen“ (EE 344). Jedes Experiment, sagt er, hier direkt Bezug nehmend auf Kant, „ist eine Frage an die Natur“ (EE 344), auf welche diese antworten muss – unter Zwang. Aber jede Frage enthält ein verstecktes Urteil a priori; jedes Experiment ist Prophezeiung, „das Experimentiren selbst ein Hervorbringen der Erscheinungen“ (EE 344). Diese hervorgebrachten Erscheinungen sind es, die der Forderung nach der „empirischen Probe“ in der Naturphilosophie Genüge tun. Sie sind auch gleichzeitig die Zwischenglieder, die die Verbindung zu den letzten Bedingungen der Natur herstellen, zur V Natur a priori. Schellings Wertschätzung und Interesse am Experiment und damit auch an den Naturwissenschaften schlug sich auf verschiedene Weise nieder. Er besuchte Vorlesungen bei Medizinern, Biologen und Physikern, die Ergebnisse der gerade in Mode gekommenen elektrophysiologischen Forschung – etwa von Luigi Galvani (1737–1798), Alessandro G. A. A. Volta (1745–1827) und auch Alexander F. W. H. von Humboldt (1769–1859) – waren ihm ebenso bekannt wie die so genannte neue Sauerstofftheorie von Antoine-Laurent Lavoisier (1743–1794) oder die medizinisch orientierte Forschung in der Erregungs- und Reizphysiologie von Albrecht von Haller (1708–1777) und John Brown (1735–1788). Entsprechend zitiert Schelling in seinen naturphilosophischen Schriften zwischen 1797 und 1806 namentlich 145 Naturforscher, von A wie Aristoteles über L wie Lichtenberg und Linné, O wie Oerstedt und Oken bis W wie Wolff. Schelling wohnte selbst auch Experimenten bei, vor allem arbeitete er aber mit einigen Naturforschern eng zusammen. Der
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dänische Physiker und Chemiker Hans Christian Oerstedt (1777–1851) wäre hier zu nennen, Begründer der Lehre vom Elektromagnetismus, und insbesondere die Bamberger Mediziner Andreas Röschlaub (1768– 1835) und Adalbert Friedrich Marcus (1753–1816). Vonseiten der Mediziner bekam Schelling überhaupt früh Anerkennung für seine Naturphilosophie: 1802 wurde er zum Ehrendoktor der medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität Landshut, später München, ernannt. Bleibt noch zu ergänzen, dass Schelling auch auf der institutionellen Ebene an der Universität Jena Unterstützung für seine naturwissenschaftlichen Interessen fand. Die Universität Jena der 1790er-Jahre kann insofern als modern bezeichnet werden, als die naturwissenschaftliche Forschung dort stark gefördert und auch als solche institutionell verankert war: Im Vorlesungsverzeichnis wird seit dem Sommersemester 1790 die „Naturgeschichte“ unter der Rubrik „Naturwissenschaften“ angekündigt, eine Einmaligkeit in der damaligen Hochschullandschaft. Unter „Naturwissenschaften“ firmierten Veranstaltungen aus den Gebieten der Physik, Chemie, Botanik und Geologie. Eine weitere Jenaer Besonderheit war, dass der Unterricht nicht allein durch Lehrbücher und Vorlesungen bzw. Vorlesungsskripte erfolgte, sondern auch durch Veranschaulichungen, beispielsweise im neuen „botanischen und ökonomischen Garten“, in der ebenfalls neu eingerichteten Sammlung physikalischer und mathematischer Modelle und Instrumente oder in der Präparatensammlung im „anatomischen Theater“. Die Naturphilosophie ist für Schelling ein unabdingbares Aufgabenffeld der Philosophie und sie erfüllt eine Aufgabe, die auch aus heutiger Sicht vieler Philosophen wie Naturwissenschaftler sträflich vernachlässigt wurde. Das krisenhafte Verhältnis der Gesellschaft zu Naturwissenschaft und Medizin auf vielen ihrer Felder – sei es Gentechnik, Ökologie oder Reproduktionsmedizin – und die häufig damit verbundene Ratlosigkeit in Hinsicht auf den Naturbegriff sind Ausdruck der aus der Vernachlässigung folgenden Hilflosigkeit. Schelling bemühte sich mit V seiner Naturphilosophie im Anschluss an Kants Kritik der Urteilskraft, t die „wirkliche Natur“, die uns selbst als Naturwesen mit einschließt, als eine sich selbst produzierende und organisierende Einheit zu begreifen.
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Einen solchen Naturbegriff auszuarbeiten, kann nicht Aufgabe einer objektivierenden Naturwissenschaft sein. Sie verfügt nicht über die dazu notwendige Methodologie. Mit ihr können lediglich Einzelobjekte in Gesetzeszusammenhänge gebracht werden. Schelling betont genau diese systematische Leerstelle der Naturwissenschaften, indem er zwar die Ergebnisse der empirisch-experimentellen Naturforschung für seine Naturphilosophie berücksichtigt, mit ihnen aber anders verfährt. Naturphilosophie muss versuchen, so Schelling, dieselben Forschungsergebnisse auf ihren Stellenwert im Gesamtzusammenhang eines sich selbst hervorbringenden Naturprozesses hin zu bedenken. Naturphilosophie ist folglich ohne korrespondierende Naturwissenschaft nicht möglich. Umgekehrt ist aber auch die Naturphilosophie nicht ersetzbar, da nur sie es erlaubt, uns über unseren eigenen Existenzzusammenhang Klarheit zu verschaffen. Denn empirisch kann dies niemals gelingen, sondern allein durch Reflexivität erschlossen werden.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel:
Phänomenologie des Geistes
gerhard gamm
Der historische Hintergrund des Deutschen Idealismus’, insbesondere Hegels, ist das Bewusstsein einer doppelten Revolution: der Französischen Revolution, die im Zeichen der Universalisierung bürgerlicher Freiheits- und Gleichheitsgrundsätze den politischen und gesellschaftlichen Rahmen des Ancien régime umwälzt und – nicht weniger bedeutsam – der kantischen „Revolution der Denkungsart“, welche die Vernunft endlicher Menschen zur einzig legitimen Autorität in Sachen des Erkennens und Handelns erklärt. Sie tut es theoretisch, indem sie die Ordnung des Seins radikal auf die Ordnung des (transzendentalen) Bewusstseins umstellt. Sie entwirft eine Praxis, die die Vernunft zum alleinigen Grund der Selbstbestimmung oder Autonomie des Menschen macht. „Kantische, Fichtesche, und Schellingsche Philosophie. In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in der letzteren Zeit in Deutschland fortgeschritten ist; […] An dieser Epoche der Weltgeschichte […] haben nur […] zwei Völker teilgenommen, das Deutsche und das Französische Volk, so sehr sie entgegengesetzt sind […]. In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt.“1 Beide Revolutionen erschüttern die alte Weltordnung in ihren Grundfesten. Das Bewusstsein, dass eine neue Zeit anbricht, ist allgegenwärtig. Symbolisch findet es in den Gewehrschüssen der Offiziere auf die Kirchturmuhren von Paris seinen unübertroffenen Ausdruck. Processes oder der Kategorien der Physik (1800), in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, a. a. O., S. 44. 1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, V Vorlesungen über die Geschichte der
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Der Umsturz der alten Zeitordnung kommt einer zweiten Geburt des Menschengeschlechts gleich. Der Mensch wird gleichsam wiedergeboren aus sich selber, causa sui, er sieht sich radikal auf sich selbst gestellt, herausgelöst aus dem unvordenklichen Heilsplan göttlicher Vorsehung. „Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken.“2 Diese Zeit des Übergangs ist auch das Zeitalter Goethes und der Romantik, der beginnenden Naturwissenschaften und der ersten Anfänge einer industriellen Entwicklung in Deutschland. ‚Freiheit‘ und ‚Vernunft‘ lauten die Schlüsselbegriffe der Philosophie und des Zeitalters insgesamt. Wie Fichte und Schelling, mit denen sich Hegel in der Zeit vor Erscheinen der Phänomenologie des Geistes intensiv auseinander setzt, verfolgt f auch Hegel die Absicht, die Kritik der Vernunft, die Kant zur Leitidee der Philosophie erklärt hatte, zu vollenden. Um dieses Programm einer Selbstkritik der Vernunft durchzuführen, mussten freilich die Grundbegriffe der Philosophie mit der (historischen) Zeit, in der sie entstanden waren und sowohl Bedeutung als auch Geltung erlangt hatten, in eine reflektierte Beziehung gesetzt werden. Nicht nur muss im Rahmen des Systems vom Zusammenhang der Grundbegriffe untereinander Rechenschaft abgelegt werden; mehr noch muss die Rolle der Zeit bedacht werden, die sich in den grundlegenden Begriffen der Philosophie sedimentiert hat. Denkform und Zeitbezug stehen nicht in einem äußerlichen oder gleichgültigen Verhältnis; der „Zeitkern“ der Begriffe muss aufgeklärt werden, wenn die Philosophie zum Begriff der Vernunft, der „da ist“, “ zum wirklichen Dasein der Vernunft gelangen will. Hegel musste daher auch, um sein eigenes Denken im Verhältnis zur Philosophie seiner Zeit transparent zu machen, sich umfassend mit Staat und Gesellschaft, Kunst und Religion, Geschichte und Ökonomie auseinander setzen. Das geschieht paradigmatisch in den Jahren vor Erscheinen der Phänomenologie, d. h. in der Jenaer Zeit im Blick auf die Philosophie in zwei Schriften: 1801 in der Schrift Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Philosophie III, in: Werke in 20 Bänden, Frankfurt/Main 1971, Bd. 20, S. 314. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert.
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Systems der Philosophie, 1802/03 mit Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jakobische und Fichtesche Philosophie. Noch in den Jenaer Jahren (ab 1800) werden die Grundlagen seines späteren Systems erarbeitet, das gilt sowohl für die Logik und Metaphysik als auch für die Natur- und Geistesphilosophie. Mit Beendigung der letzten Manuskriptseiten der Phänomenologie des Geistes verlässt Hegel 1806 am Vorabend der Schlacht Jena. Wie Hegel in einem Brief an Niethammer schreibt, sah er Napoleon durch die Stadt reiten, mit der „wunderbaren Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht“.3 Ein neuer Begriff von Philosophie Die Phänomenologie des Geistes ist die Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins. Sie stellt, wie vermutlich Hegel selbst in einer Verlagsanzeige schreibt, das „werdende Wissen“ dar. Sie fasst die verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen eines Weges, auf dem aus bloßer (sinnlicher) Gewissheit wirkliches Wissen wird. Dazu muss die Philosophie „ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen“, um „wirkliches Wissen“ (14), das ist eine Wissenschaft des Wahren zu werden. Dies wiederum glaubt Hegel, könne nur in Form eines wissenschaftlichen Systems geschehen. Die verschiedenen Stadien dieser Wissenschaft tragen die Überschriften ‚Bewusstsein‘, ‚Selbstbewusstsein‘, ‚Vernunft‘, ‚Geist‘; sie bringen eine wissenschaftliche Ordnung in das Chaos der Erscheinungen des Geistes, aber so, dass die nächst höhere Gestalt des Wissens die Wahrheit der vorangegangenen darstellt. Die letzte Wahrheit finden sie in der Wissenschaft als dem Resultat des Ganzen, welches aber nicht ohne seine „Ausführung“ – die Darstellung der Sache in ihrer sukzessiven Verfertigung, f d. h. in ihrem „Werden“ – ist (13). Die Phänomenologie zählt zu den schwierigsten, aber auch bedeutendsten und originellsten Werken der philosophischen Weltliteratur. Ihre Faszination ist nach wie vor ungebrochen, sie zieht bis heute das In2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, in: Werke a. a.
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teresse von Philosophen, Kommentatoren und Schriftstellern magisch an. Ihre erste innovative Leistung besteht darin, eine neue Semantik ausbuchstabiert zu haben, die begriffliches Denken und historische Wirklichkeit, Vernunft und Geschichte, Spekulation und Empirie, Apriori und Aposteriori nicht mehr auseinander fallen lässt, sondern aufeinander bezieht; sie prägt der Philosophie einen neuen Begriff von sich selbst,t sie erschließt ihr eine neue Kompetenz: Danach wird es möglich, mit den abstrakten Begriffen der Philosophie die Strukturen gelebten Lebens zu durchdringen sowie historische Situationen verschiedenster Größenordnungen zu rekonstruieren, und zwar auf eine Weise, die an den Phänomenen mehr aufdeckt als das, was mit bloßem Auge (in einfacher Reflexion) gesehen werden kann. Dabei lehrt sie auch die in ihren Lebenszusammenhang verstrickten Individuen, sich selber besser zu verstehen, indem sie die Strukturen individueller W Welterfahrung mit den überindividuellen oder allgemeinen Strukturen von Sprache und Welt in Beziehung setzt. Sie vermittelt den Adressaten einen Begriff der Verständigung über geschichtliche Situationen, der es ihnen ermöglicht, sich auch als Akteure in den sozialen Konfliktlagen wieder zu erkennen. Diese Befreiung der Subjekte aus ihrer Objektrolle bietet im Anbruch der modernen Welt eine Chance, die Prozesse der Selbst- und Weltveränderung realistisch zu begreifen. Der neue Begriff der Philosophie stieß zunächst – bei Freunden wie bei Gegnern – auf tiefes Befremden; die Resonanz auf die Phänomenologie war gering, das Buch wurde nicht verstanden. Am schärfsten urteilt Rudolf Haym: „Um alles zu sagen: die Phänomenologie ist eine durch die Geschichte in Verwirrung und Unordnung gebrachte Psychologie und eine durch Psychologie in Zerrüttung gebrachte Geschichte.“ Dagegen muss man wohl richtiger sagen: Die Phänomenologie überwindet mittels einer neuen Begrifflichkeit die abstrakten Gegensätze (Subjekt/Objekt, Philosophie/Geschichte, Innen/Außen usf.) der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes. Aber es wäre zu kurz gegriffen, es dabei bewenden zu lassen. Sie reformuliert auch deren Einsicht vom Primat praktischer Vernunft. Sie durchleuchtet nicht nur die praktischen Voraussetzungen aller Erkenntnistätigkeit: Ihr Weg insgesamt führt sie
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vom Erkennen zum Anerkennen oder zu dem bahnbrechenden Gedanken des einzelnen menschlichen Subjekts, das sich selbst nur zu verstehen lernt, wenn es sich als eines unter anderen Subjekten begreift, die sich im Kampf wechselseitigen Anerkennens als Anerkennende anerkennen. Das heißt, die Phänomenologie ist keine der üblichen Robinsonaden cartesisch-kantischer Bewusstseinsphilosophie, sondern begreift sich aus dem geschichtlichen Horizont einer Welt heraus, den sie „Geist“ nennt und der in den drei symbolischen Großformationen kultureller Selbstverständigung: in Religion, Kunst und Philosophie sich selbst reflektiert und erfasst. Im Unterschied zur Tradition, die das Selbstbewusstsein primär theoretisch im Sinne einer sich wissenden Subjektivität versteht, ist für die Dialektik die Idee einer sozialen bzw. anerkennungstheoretischen Genese des Selbst konstitutiv. Hegel sucht die Odyssee des Geistes, die in der Phänomenologie beschrieben wird, in Form einer Bildungsgeschichte darzustellen, die lebensgeschichtlich relevante Schwellenerfahrungen des Einzelnen mit universalgeschichtlich bedeutsamen Wendepunkten der Menschheit zusammenbringt. Religion und Wissenschaft (Philosophie) sind die Gestalten des absoluten Geistes, in denen sich die Universalgeschichte nochmals spiegelt. Was das Bewusstsein eine Stufe nach der anderen erklimmen lässt, ist die Reflexion. An großen Vergleichen zum Verständnis des Fahrtenmotivs, der Odyssee des Geistes, hat es nie gefehlt; sie reichen von Dantes Divina commedia mundi, die Hegel ins radikal Diesseitige übersetzt, bis zu Goethes klassischem Bildungsroman Wilhelm Meister, r wo der Protagonist sich in einzelnen Stufen und Gestalten der Ordnung und Unordnung der Welt aussetzt, um zuletzt geläutert, auf der Höhe einer allseits ausgebildeten Humanität, die Irrwege einer individuellen Entwicklung in die durchsichtige Einheit seiner Lebensgeschichte aufzuheben. ‚Sinnliche Gewissheit‘ Ausgangspunkt für die Propädeutik wirklichen Wissens ist das natürliche Bewusstsein, das glaubt, an der sinnlichen Gewissheit alle Wahrheit und allen Reichtum wirklichen Erkennens zu haben. Es muss aber ein-
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sehen, dass es aus sich heraus nicht in der Lage ist, sich seines Wissens zu vergewissern. Denn dazu muss es das, was es sieht oder hört oder sinnlich erfährt, in Begriffe und Sätze kleiden. Wenn wir im üblichen Sinn etwas wissen, dann müssen wir auch sagen können, was wir wissen. Die sinnliche Gewissheit zielt aber auf ein unmittelbares Wissen der sinnlich gegebenen Realität. Sie scheint die reichste Erkenntnis zu sein; sie gibt vor, alles, was ist und sich grenzenlos im Raum vor ihr ausbreitet, bloß aufzunehmen. Doch damit erreicht die sinnliche Gewissheit, so Hegel, nur eine abstrakte Wahrheit, sie kann von allem nur sagen, dass es ist; sie behauptet, ganz gegen ihre Intention, nur die Unmittelbarkeit des reinen Seins. Sie zeigt z. B. auf etwas und sagt „Dieses“, muss jedoch die Erfahrung seiner Unerreichbarkeit oder der allgemeinen Bedeutung „Dieses“ machen. Ohne Kontextwissen erreicht keine Zeigehandlung (kein deiktischer Ausdruck) ihr bzw. sein Ziel. Nicht besser ergeht es dem Versuch, durch indexikalische Termini wie „Hier“ und „Jetzt“ bestimmte Raum- und Zeitstellen zu markieren. Wiederum holt die Allgemeinheit der Sprache die Meinung ein, die glaubt, unmittelbar, ohne die Bezugnahme auf übergeordnete Kontexte etwas Besonderes bezeichnen zu können. „Zeigen müssen wir es uns lassen. […] Es wird das Jetzt gezeigt, dieses Jetzt. Jetzt; t es hat aufgehört zu sein, in dem es gezeigt wird; das Jetzt, t das ist, ist ein anderes als das gezeigte, und wir sehen, daß das Jetzt eben dieses ist, indem es ist, schon nicht mehr zu sein. Das Jetzt, wie es uns gezeigt wird, ist es ein gewesenes, und dies ist seine Wahrheit; es hat nicht die Wahrheit des Seins. Es ist also doch dies wahr, daß es gewesen ist. Aber was gewesen ist, ist in der Tat kein Wesen; es ist nicht, um das Sein war es zu tun.“ (88) Wenn man aus Hegels Analyse sinnlicher Gewissheit einzig den W (sprachanalytischen) Schluss zieht, sie mache darauf aufmerksam, dass indexikalische Ausdrücke bar jeder Kontextualisierung unverständlich seien, dass nur ein Verweisungszusammenhang ihnen eine angemessene Stelle in der Pragmatik unserer Äußerungen einräume, interpretiert man Hegel unter Wert. Die Dialektik sinnlicher Gewissheit erbringt zunächst das negative Resultat, dass die so genannte konkrete Erfahrung nicht in einem ursprünglichen Kontakt mit der sinnlichen Realität
O., Bd. 3, S. 18. Zitate mit Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses
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steht und ihr daher auch nicht auf unmittelbare Weise entnommen werden kann. Die Prüfung des Anspruchs, den das natürliche Bewusstsein darauf erhebt, einen unmittelbaren Zugang zur wirklichen Welt zu besitzen, scheitert daran, dass es bei dem Versuch, bestimmte Gegenstände zu identifizieren auf allgemeine Termini zurückgreifen muss. Eine pure (sinnliche) Evidenz des Wissens ohne begriffliche Vermittlung gibt es nicht, auch Zeigehandlungen erläutern sich nicht durch sich selbst. Ein Gegenstand, der gewusst wird, ist weder unmittelbar gegeben noch ist es möglich, ihn als Einzelnen zu identifizieren. Diese Erfahrung zwingt die Philosophie in eine selbstreflexive Einstellung, in der (mindestens) die vorbewussten, unser Selbst- und Weltverständnis präformierenden Voraussetzungen aufgeklärt werden können. In diesem Zusammenhang spielt Hegels Rekonstruktion der sinnlichen Gewissheit mit dem Gedanken, dass Meinen und Sagen sehr verschiedene Dinge sind, dass wir die Allgemeinheit der Bedeutung, die mit den Begriffen von Wissen und Sprechen gegeben ist, nicht ausschöpfen: Wir sind und sagen immer schon mehr, als wir zu sagen vermeinen. Das Allgemeine des Sagens sabotiert die Selbstgewissheit unseres Meinens, es dezentriert unseren Eigensinn, weil es Bedeutungen mitkommuniziert, die im Umkreis der Meinung nicht berücksichtigt werden. Die Subversion des Meinens durch das Sagen erschließt uns die Möglichkeit eines Bewusstseins, bei der, wie Wittgenstein sagt, wir den Gebrauch der Wörter nicht überschauen. Sie führt uns über uns hinaus, sie macht uns mit der Kontingenz der Welt (der Sprache) vertraut, angesichts der wir dazu tendieren, an der Meinung, dem Meinigen festzuhalten. In der Subversion des Meinens durch das Sagen – das ist von entscheidender Bedeutung – kann der bzw. das Andere auftauchen, werden wir des Geistes als Supplement gewahr. Die Allgemeinheit der Bedeutung, hinter der wir mit unserer Meinung stets zurückbleiben, öffnet uns, anders gesagt, einen Raum, in dem wir lernen können; dies aber nicht, ohne uns selbst für Augenblicke loszulassen oder uns eingestanden zu haben, dass wir uns im Versteifen auf unsere Meinung selbst widerlegen. Anders als Parmenides, der den Konflikt zwischen Meinen und Wissen/Sagen, zwischen Gewissheit und Wahrheit zum klassischen Thema
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der Philosophie gemacht hat, sucht Hegel in dem Widerstreit, der in der Sache selbst steckt, das Anreizsystem zu finden, welches das natürliche Bewusstsein veranlassen könnte, von der Bornierung auf die eigene Meinung abzurücken. Stationen einer Wissenschaft – Bewusstseins- und Weltgestalten Was das naive oder natürliche Bewusstsein einzusehen lernt, ist, dass in W der sinnlichen Gewissheit immer schon die (höherstufige) Wahrnehmung W im Spiel ist, in der wiederum der Verstand V aktiv ist. Ohne seine begrifflich-konstruktiven Leistungen könnten wir unsere Wahrnehmungen nicht verstehen. Woran das Bewusstsein zunächst seine höchste Gewissheit hatte, geht auf dem Weg zur Wahrheit zugrunde; es macht die Erfahrung, dass auf jeder Stufe, die es erreicht, eine sichere Erkenntnis der Welt nicht erlangt werden kann. Das Bewusstsein ist immer schon in übergreifende Verstehenshorizonte eingebettet, die, weil sie für unser Denken und Handeln konstitutiv sind, eigens thematisiert werden müssen. Darin, glaubt Hegel, liegt die „gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer“: dass das, was bekannt ist, auch als erkannt vorausgesetzt werden kann (35). Das Bewusstseinskapitel endet damit, dass das Bewusstsein aufs Neue von einer Irritation befallen wird; es sieht, dass die Unterscheidungen, die es trifft, wenn es versucht, die Welt durch Naturgesetze zu erklären, seine Unterscheidungen sind, z. B. solche von inneren Kräften und äußeren Erscheinungen. Es bemerkt, wie in jedem Bezug auf einen Gegenstand ein Selbstbezug mit enthalten ist: Kein Gegenstandsbezug, der nicht zu einer Reflexion des Bewusstseins auf sich selbst nötigt, auf das, was in allem Gegenstandsbezug ihm erst seinen (vorerst letzten) Halt verleiht. Selbstbewusstsein ist eben diese Erfahrung, dass alles, was zum Gegenstand wird, Gegenstand für ein Bewusstsein ist; das Bewusstsein hat nur an sich selbst seinen wahren Gegenstand. Während das Bewusstsein unterscheidet, bezieht sich das Selbstbewusstsein auf die Unterscheidungspraxis des Bewusstseins, es ist sein davon unterschiedenes Unterscheiden. Es bezieht sich – um es modern zu sagen – auf „einen Unterschied, der einen Unterschied macht“, auf das Wissen
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von sich selbst. Es artikuliert sich selbst in nichts anderem als im reinen, oder wie Hegel sagt „absoluten“ Unterschied. Das Bewusstsein „ist für sich selbst,t es ist Unterscheiden t des Ununterschiedenen oder Selbstbewußtsein. Ich unterscheide mich von mir selbst, t und es ist darin unmittelbar für mich, daß dies Unterschiedene nicht unterschieden ist. Ich, das Gleichnamige, stoße mich von mir selbst ab; aber dies Unterschiedene, Ungleich-Gesetzte ist unmittelbar, indem es unterschieden ist, kein Unterschied für mich.“ (134, 135) Ich bin ein und derselbe, auch wenn ich mich in der Beobachterperspektive als ein anderer wahrnehme. Nur insoweit ich mich von mir (durch einen Blick von außen gleichsam) unterscheide, bin ich mit mir selbst eins: „Ein geflickter Strumpf [ist] besser als ein zerrissener; nicht so das Selbstbewußtsein“,4 hatte Hegel in sein Notizbuch aus der Zeit der Entstehung der Phänomenologie geschrieben. Nur indem ich mir gegenständlich werde, d. h., mich in Handlungen verkörpere oder meinen Absichten in Form von Sätzen und Zeichen Ausdruck verleihe, gewinne ich eine äußere, auch für andere nachvollziehbare Realität. Nur indem ich mir Gegenstand werde oder mich von mir unterscheide, kann ich mir meiner bewusst werden und zugleich wissen, dass der Unterschied nichtig ist. Indem das Selbstbewusstsein „nur sich selbst als sich selbst von sich unterscheidet, so ist ihm der Unterschied unmittelbar als ein Anderssein aufgehoben“ (138). ‚Selbstbewusstsein‘ ist dabei aber kein einzeln und isoliert in der Welt hockendes Wesen, es sieht sich von Anfang an auf andere Wesen gleicher Art angewiesen. Selbstbewusstsein ist, wie Hegel sagt, nur für ein (anderes) Selbstbewusstsein (144). Das Miteinander ist wesentlich, aber es geht in der Selbstkonstitution – in seiner Genese wie seinem Vollzug – nicht ohne Konflikte ab. Wie Hegel sagt, muss das Selbst, um sich die Gewissheit seiner selbst zu beweisen, sie zur Wahrheit an dem(n) Ander(e)n erheben – die Dialektik des Anerkennens, der Kampf des Anerkennens oder der Eintritt, wie Hegel weiter schreibt, in das „einheimische Reich der Wahrheit“, in dem „der Begriff des Geistes für uns vorhanden“ ist: „Ich, das Wir, r und Wir, r das Ich ist.“ (145) Um ein Selbstbewusstsein zu sein, muss es ein anderes Selbstbewusstsein anerkennen und von Buch. 3 Brief Hegels an Niethammer vom 13. Oktober 1806, in: Briefe von und an
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anderem Selbstbewusstsein anerkannt werden. So „anerkennen [sie] sich als gegenseitig sich anerkennend“ (147). Von dieser Dialektik hatte die traditionelle Erkenntnistheorie, der es V vor allem um die Aufklärung von Subjekt und Gegenstand ging, noch keine Ahnung. Hegel stellt heraus, dass unsere kognitiven und praktischen Selbst- und Weltbezüge durch bestimmte (soziale) Konflikte präfiguriert sind; sie lassen sich aus der philosophischen Analyse der fformalen Bedingungen unseres Erkennens und Handelns nicht ausklammern. Philosophieren heißt nicht, sich zur eigenen Erbauung einer höheren Welt oder Wahrheit zuzuwenden, sondern die historischen und sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen aufzuklären, die konstitutiv sind für die Erfahrung, die wir in und mit der Welt machen. Aber die Aufklärung unserer realen Welterfahrung kann wiederum nicht bei den abstrakten Interaktionsverhältnissen von Selbst und anderem Selbst, bei Herr und Knecht usf. stehen bleiben. Die gegenseitige Vermittlung von Vernunft V V und Welt W ist die alles entscheidende Einsicht der nächst höheren Stufe. Es wäre verfehlt, die Welt oder das Ich als absolute Größe zu betrachten. Ihr gegenseitiges Bestimmtsein treibt den Denkprozess voran. Es geht, wie Hegel sehr erhellend schreibt, um die Vernunft, die „sich ihrer selbst als Welt, und der Welt als ihrer selbst beV wußt ist“ (324). Über die ‚beobachtende Vernunft‘ und die (scheiternden) Versuche des vernünftigen Selbstbewusstseins, durch Verwirklichung seiner selbst ein glückliches oder tugendhaftes Leben zu erreichen, erlangt die Phänomenologie die Stufe des nun endgültig weltgeschichtlich dimensionierten Geistes: die antike Sittlichkeit und die moderne Welt. Spiegelt die antike Sittlichkeit den schicksalhaften tragischen Konflikt zwischen überindividuell bedeutsamen Lebensmächten, zwischen dem göttlichen Gesetz der Familie und dem positiven Gesetz des Staates (Antigone), so dreht sich die Angel der modernen Welt um das Projekt einer auf „Nützlichkeit“ und „reine Einsicht“ zentrierten Aufklärung und darum, wie im Gefolge der Französischen Revolution sich die absolute Freiheit in den absoluten Schrecken verkehrt. Anders gesagt, in jenen ungewöhnlich hellsichtigen Passagen über die antike und die moderne
Hegel, Bd. I: 1785–1812, hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952, S.
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Welt stellt Hegel die überindividuellen, das Leben des einzelnen MenW schen übergreifenden Mächte heraus; es sind jene Sphären der „Sittlichkeit“ von Familie, Gesellschaft und Staat, die das Leben des Einzelnen tiefgreifend bestimmen. Der Ausgang oder die höchste Stufe des sittlichen Geistes wird interessanterweise mit der Wiederaufnahme der Moralität eingeleitet. Was in Frankreich in Form der Revolution in die Wirklichkeit hinausgestürmt war, nimmt in Deutschland die Gestalt der philosophischen Reflexion auf das bestimmende Prinzip dieser Welt an. Hegel übt zunächst massive Kritik an einer Gewissensmoral, die die Pflicht absolut setzt und das Gute – unbesehen davon, ob es getan wird – allein dem guten Willen anheim stellt. Dabei knüpft er erneut an das Anerkennungsmotiv an; er reformuliert das Bild einer in sich gebrochenen oder fraktalen Mitte moralischer Subjektivität: den Begriff gegenseitigen Anerkennens, dessen Richtungssinn dahin geht, mittels des Begriffs über den Begriff hinauszugelangen. Dessen überraschend moderne Pointe liegt darin, im Sprechakt des „Verzeihens“ V den höchsten Punkt des Kampfes wechselseitigen Anerkennens zu sehen. Das „Wort der Versöhnung“ ist, wie Hegel sagt, der „daseiende Geist“ (493); in seinem flüchtigen Medium verkörpert oder betätigt es die Präsenz des Geistes in den realen praktischen Verhältnissen der Individuen untereinander.5 Sie anerkennen einander in dem, was sie am Anderen nicht mehr verstehen oder nachvollziehen können, das, worin sie radikal anders sind, anders fühlen, anders denken, anders reden. Als schlechthin Entgegengesetzte müssen sie „von ihrem Dasein ablassen“ und darauf Verzicht tun, den Anderen mittels Begriffen oder Moralvorschriften bestimmen, d. h. (sich) unterwerfen zu wollen. Die einzigartige Bedeutung jener perfformativen Praxis des Anerkennens liegt darin, den Anderen in seine moralische Autonomie zu entlassen, ihn freizugeben – ein freier Wille, wie es später in der Philosophie des Rechts heißen wird, der den freien Willen will. Diese Praxis übersteigt alle kognitiven Schemata und moralischen Grundsätze. Denn diese sind, wie man nur zur Genüge weiß, vor allem, 120. 4 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, „Aphorismen aus Hegels Wastebook“, in: Jenaer Schriften. Werke a. a. O., Bd. 2, S. 558.
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wenn man sie gegenüber den Anderen ins Feld führt, immer nur die eigenen; sie sind daher, wie Hegel richtig sieht, „Heuchelei“. Für Hegel ist das „Wort der Versöhnung“ der „daseiende Geist“ oder das „reine Wissen“, in dem sich Selbst und anderes Selbst in ihrer „absolut in sich seienden Einzelheit“ anschauen (493). Das reine oder absolute Wissen ist das aus allen begrifflichen Bestimmungen gelöste, herausgefallene Wissen, das Wissen, mit dem man – unter Zuhilfenahme des Begriffs – über den Begriff hinausgelangt oder sich das Erkennen ins Anerkennen transformiert, d. h. die Einsicht (des absoluten Wissens) partout nicht mehr aufzuhalten ist, dass es mit allem Wissen, das bestimmten Begriffen entstammt, nichts ist. Mit anderen Worten, das „reine Wissen“ gegenseitigen Anerkennens wirft einen Vorausblick auf die letzte Gestalt des Wissens der Phänomenologie des Geistes, auf das absolute Wissen, das darin bereits seinen (höchsten) Ausdruck findet. Dazwischen liegen noch jene unreinen Gestalten des absoluten Wissens, die Vorstellungswelten der Religion und der Kunst, die zwar gleichfalls Erscheinungsweisen des absoluten Geistes sind, aber den philosophischen Begriff des Geistes: das sich selbst begrifflich explizierende Wissen des Wissens noch nicht erreicht haben. Sie können daher den „Begriff der Zeit, t die da ist“, noch nicht in dem für den Geist spezifischen Medium des Begriffs erfassen. Erst der absolute Geist erhebt sich über die Äußerlichkeit des zeitlichen Geschehens, d. h. über die Geschichte. „Die Zeit ist der Begriff selbst, der da ist und als leere Anschauung sich dem Bewußtsein vorstellt; deswegen erscheint der Geist notwendig in der Zeit, und er erscheint solange in der Zeit, als er nicht seinen reinen Begriff erfaßt,t d. h. nicht die Zeit tilgt. Sie ist das äußere Angeschaute, vom Selbst nicht erfaßte reine Selbst, der nur angeschaute Begriff; indem dieser sich selbst erfaßt, hebt er seine Zeitform auf, begreift das Anschauen und ist begriffenes und begreifendes Anschauen.“ (584) Das „absolute Wissen“ ist demnach kein großer oder überdimensionierter Wissenscontainer, der alle Stadien und Momente der Erfahrung umfasst und in sich abgespeichert hat, sondern (eher im Gegenteil) die Einsicht, dass es sich bei allem Wissen aus bestimmten Begriffen um ein durchaus einseitiges, d. h. unwahres Wissen handelt, ein Wissen, das um
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seine Nichtigkeit weiß: So kehrt es in seinen Anfang zurück. Es sieht sich zurückgeworfen auf die einfachste und ärmste Wissensgestalt der sinnlichen Gewissheit, das ist das in seinen Anfang verschlungene Ende, ein Kreis von Kreisen. Auf der anderen Seite stellt sich in diesem sich selbst wissenden (Nicht)Wissen auch der Übergang zur Philosophie als einer wirklichen Wissenschaft des Logos dar, zur Wissenschaft der Logik oder der Bewegung des Denkens im Medium des reinen Begriffs. Diese Wissenschaft ist dann nicht nur und nicht mehr ein „Traktat von der Methode“ wie die kantische, sondern die Ausführung und Darstellung der Metaphysik als des Reichs der Wahrheit, „wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist“.6 Probleme der Methode Soweit die überaus vereinfachte Nacherzählung einiger rhapsodisch vorgestellter Stationen, die das Wissen nimmt, wenn es sich im Ausgang von der sinnlichen Gewissheit auf die Höhe des spekulativen Erkennens erhebt. Was aber das Buch philosophisch so interessant und überaus bedeutsam macht, ist nicht allein der Inhalt im Sinne jener Abfolge paradigmatischer Bewusstseins- und Weltgestalten, ihr Erfahrungsgehalt, es ist vielmehr die mit „Dialektik“ identifizierte „Methode“, die die Phänomenologie über anderes Philosophieren hinaushebt. Eine Methode, die auch unter dem Namen der „bestimmten Negation“ auftritt, aber sogleich als „Selbstbewegung des Inhalts“ jedes Bewusstsein einer von außen herangetragenen Methode negiert. Hegel hat denn auch nie von dialektischer Methode gesprochen. Die Reihe jener Bewusstseins- und Weltgestalten ist ja nicht bloß eine Aufzählung hochinteressanter philosophischer Positionen wie Stoizismus, Skeptizismus oder moralische Weltanschauung; eexistentieller Figuren wie Herr und Knecht, unglückliches Bewusstsein, schöne Seele oder kulturund welthistorischer Ereignisse wie griechische Tragödie, Aufklärung und Französische Revolution, sondern die Kritik und Darstellung der Vernunft in einem streng logischen, von der Notwendigkeit der Sache mo5 „Verzeihen“ ist dabei so wenig wie das Anerkennen ein Verzeihen oder Anerkennen von etwas; es ist das wechselseitige Eingeständnis einer Schuld in dem einen Wort „Ja“ (494) oder „ich bin’s“ (490), nämlich böse. 6 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Wissenschaft der Logik, in: Werke a. a. O.,
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tivierten Argumentationszusammenhang. Es handelt sich nicht um diesen oder jenen Zweifel, der an diesem oder jenem philosophischen Standpunkt rüttelt, nicht um eine einfache Skepsis, sondern um einen sich vollbringenden Skeptizismus mittels des Verfahrens bestimmter oder immanenter Kritik. In der Darstellung der ‚sinnlichen Gewissheit‘ war das angedeutet worden, an dieser Stelle sollen noch einige mit dieser Denkform verbundene Voraussetzungen genannt und diskutiert werden. Das natürliche Bewusstsein erleidet Schiffbruch mit seinem Anspruch, mittels der sinnlichen Gewissheit einen unmittelbaren Zugang zur wirklichen Welt zu besitzen, es gerät in Widerspruch mit seiner ursprünglichen Annahme, wenn es einsieht, dass z. B. indexikalische Ausdrücke wie „hier“, „jetzt“, „dort“ ohne begriffliche Kontextualisierung unverständlich sind. Ändert es aufgrund dieses Widerspruchs seine Orientierung, macht es, wie Hegel schreibt, eine „Erfahrung“. Erfahrungen des Bewusstseins sind solche, die es mit den von ihm verwendeten Begriffen macht; sie zeigen, dass die Begriffe, die es sich von etwas oder auch von sich selbst macht, nicht zu halten sind. Akzeptiert das Bewusstsein diese Einsicht, dass die von ihm zugrunde gelegte Konzeptualisierung (einer Sache) gerade das vereitelt, was sie zu erreichen sucht, wird es auf einen Ausweg sinnen und eine andere gedankliche Richtung einschlagen, welche ihm besser begründet, d. h. wahr zu sein dünkt. In Folge davon entstehen, wie Hegel annimmt, neue Begriffe und neue Gegenstände. Hegel fasst diesen kognitiven Prozess in dem folgenden, bekannten Satz zusammen: „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt,t ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.“ (78) Dieser Erfahrung einer „Umkehrung des Bewußtseins [an ihm] selbst“ muss das Bewusstsein sich immer wieder neu stellen. Mit einer einmaligen Erfahrung ist es nicht getan, das „Bewußtsein weiß und begreift nichts, als was in seiner Erfahrung ist“ (38); es sieht sich auf den Stufen, die es erklimmt, stets aufs Neue vor die Aufgabe gestellt, seine Perspektive zu wechseln und die Begriffe, die es gebraucht, neu zu kontextualisieren. Daher bezeichnet die „Bewegung des Begriffs“ bzw. die
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bestimmte Negation nicht einen allgemeinen, formalen Begriffsfahrplan – wie die Schulweisheit es gerne sähe, wenn sie das „Geklapper der Triplizität“ von These, Antithese und Synthese zum Maßstab dialektischen Denkens macht –, sondern die Einsicht, dass jeder Satz, in dem Begriffe durch andere Begriffe erschlossen werden, die Bedeutung der Begriffe verschiebt und die Verschiebung nicht nur bestimmterweise beschrieben werden kann (und muss), vielmehr auch zu einer neuen Bedeutung führt, in der der bisherige Sinn negiert wird. Es ist diese immer wiederkehrende Denkfigur, die ein, wenn nicht das (methodische) Herzstück der Dialektik darstellt: dass das vom Bewusstsein zugrunde gelegte Konzept (einer Sache) gerade das unmöglich macht, was es glaubte, mit ihm erreichen zu können. Hegels starke, auf seine Methode, die „Arbeit des Begriffs“ gerichtete Behauptung ist nun die, dass die dialektische Bewegung einen „notwendigen“ Gang der Sache darstellt, eine „Wissenschaft des Wahren“ sei, durch die das Bewusstsein notwendig zu seinem Ziel, dem absoluten Wissen, gelange. Diese Behauptung gehört – verständlicherweise – zu den bis heute heftig umstrittenen Auffassungen; es ist auch nicht in jeder Einzelheit klar, wie denn dieser konsequente, der Logik der Sache entspringende Prozess dialektischen Denkens zu verstehen ist. Die erste Ursache dafür, dass er überhaupt möglich ist, liegt in der Struktur des menschlichen Bewusstseins oder darin, dass wir uns in unseren kognitiven Akten des Erkennens auf die Unterscheidung von Bewusstsein und Gegenstand stützen und dieses Wechselspiel – sei es in Form von Korrespondenz oder Entsprechung, Substitution oder Komplementarität – selbst noch thematisieren können. Wir agieren, könnte man sagen, immer schon im Horizont dieser doppelten Unterscheidung. Sie aber hat im Blick auf das Verfahren bestimmter Negation die weitere unabdingbare Voraussetzung darin, dass, um zu einer Widerlegung des Bewusstseins an sich selbst zu kommen, es nicht nur den Willen zur Wahrheit aktivieren und festhalten bzw. sich durch Widersprüche zur „Umkehrung des Bewußtseins“ (78) bewegen lassen muss – es soll auch über einen Maßstab verfügen, der, im Vergleich von Begriff und Sache, eine methodische Prüfung seiner jeweiligen Gewissheit (die es als absolute Wahrheit versteht) garantiert.
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Vor allem diese letzte Voraussetzung hat immer wieder Anlass zur V Kritik gegeben. Denn danach muss das Bewusstsein das, was es für gewiss hält, als absolut gültig unterstellen. Es wird geprüft, ob das, was für allgemein gültig erklärt wird, sich auch darüber hinaus als wahr erweist. Wie sich zeigt, macht das Bewusstsein dabei die Erfahrung, auf weitere Voraussetzungen rekurrieren zu müssen, die seine ursprüngliche BeV hauptung ermöglicht haben. Der Maßstab liegt in den nicht bedachten Voraussetzungen, die es gemacht hat. Werden sie expliziert V e t, herausgebracht, dargestellt – widerlegen sie, was zuvor als wahr angenommen worden ist. In diesem Horizont weiterer Bestimmungen zeigt sich das Absolute dann als eine einseitige Verabsolutierung eines besonderen Standpunkts. Auf diese Weise stehen alle Begriffe, an die das Bewusstsein glaubte, sich halten zu können, zur Disposition. Die Erfahrung des Bewusstseins ist daher nicht bloß ein Weg des Zweifels. In die Verzweiflung, g in die das Bewusstsein angesichts dieser Erfahrung regelmäßig verfällt, schwingt unüberhörbar eine existentielle Not(e) traumatischer Lebenserfahrungen mit. Am Ende steht die Einsicht, dass für den Weg des Wissens zur Wahrheit allein, wie Kant sagt, der kritische Weg noch offen steht: derjenige, auf dem sich die Vernunft als dialektisch und negativ erweist,7 d. h., sie im Versuch, zu einer positiv bestimmbaren Wahrheit zu gelangen, notwenV dig scheitert. Sie muss mit der herkömmlichen Vorstellung, die Wahrheit besitzen zu können, brechen. Die Wahrheit ist, wie Hegel schreibt, „nicht eine ausgeprägte Münze […], die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann“ (40). Sie lässt sich weder fixieren noch von ihrer jeweils durch den Kontext bestimmten Form isolieren. Das absolute Wissen hält diese Erkenntnis fest. Es ist die darin zugleich reichste und ärmste Gestalt des Wissens, es weiß sich in der absoluten, aber immanent bestimmenden Kontextualität seiner Denkbestimmungen. Und in genau diesem methodischen Sinn ist das Wahre das Ganze (24).8 Das heißt, man sollte die Korrektivfunktion des Systems nicht allzu eilfertig als obsolet, unredlich und repressiv verwerfen. Bd. 5, S. 44. Die ‚Logik‘ ist „das System der reinen Vernunft“ und ihr Inhalt „die Darstellung Gottes […], wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“ (44).
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Zum Verständnis der modernen Welt Die Wirkungsgeschichte dieses neben den Grundlinien der Philosophie des Rechts einflussreichsten Buchs von Hegel ist sehr weitläufig; sie reicht von Marxens Rezeption, der die Phänomenologie „die wahre Geburtsstätte und das Geheimnis der Hegelschen Philosophie“ genannt hat und, mit starkem fichteschen Akzent, das „Große“ an ihr in dem Gedanken der „Selbsterzeugung des Menschen“ gesehen hat, d. h. darin, dass der Mensch sich als Resultat seiner eigenen Arbeit, als Einheit von Vergegenständlichung und Entgegenständlichung begreift – über Kierkegaard und Heidegger bis Alexandre Kojève und Jean-Paul Sartre, die in Frankreich den Faden der hegelschen Philosophie aufgenommen und weitergesponnen haben, sowie Adorno und Horkheimer, die im Umkreis der Kritischen Theorie, insbesondere in der Dialektik der Aufklärung, g auf Denkmotive zurückgegriffen haben, die der Phänomenologie entstammen. Vergessen sollte man auch nicht den Hegelianismus als Vorläufer des Pragmatismus in Amerika („Land der Zukunft“) und seine Wiederaufnahme in England und Schottland gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit Hegels Denken versuchte sich ein philosophisches Bewusstsein zu behaupten, das sich in England vor allem gegenüber dem Naturalismus und Agnostizismus empiristischer Positionen in Szene zu setzen wusste und mit einem praktisch-sozialen Engagement verbunden war. Auch in der Gegenwart stammen eine Reihe von einflussreichen und interessanten Büchern aus der Feder amerikanischer Autoren. An erster Stelle ist sicher Charles Taylor zu nennen mit seiner großen Monographie über Hegel; aber auch Robert B. Pippin, der im Ausgang von Hegels Idealismus die Moderne als philosophisches Problem versteht. Überhaupt beweist sich Hegels Aktualität darin, dass er diesseits und jenseits des Atlantiks als Theoretiker der Moderne gelesen wird. In diesen Lektüren spielt die Phänomenologie des Geistes eine hervorragende Rolle.
Wilhelm von Humboldt: Schriften
zur Sprache
georg zenkert
Wilhelm von Humboldt ist trotz der überragenden Bedeutung seiner Schriften zur Sprache eine angemessene Würdigung versagt geblieben. Sein Denken fügt sich weder den Entwicklungslinien des Idealismus, dem er zeitlich und wirkungsgeschichtlich nahe steht, noch ist es unzeitgemäß, obwohl es diese Charakterisierung verdient hätte. Seine Schriften zielen nicht auf Wirkung. Viele blieben lange unpubliziert und waren zu Lebzeiten Humboldts nur einem engeren Kreis von Gelehrten bekannt. Sie widmen sich, scheinbar unsystematisch, einem breiten Themenspektrum, das anthropologische, politische, historische, ästhetische, philologische, bildungs- und sprachtheoretische Fragen aufgreift, aber keinen erkennbaren Zusammenhang aufzuweisen scheint. Bis heute werden seine Arbeiten meist selektiv zur Kenntnis genommen als protowissenschaftliche Beiträge zu verschiedenen Fachdisziplinen, die sich auf Humboldt berufen. Dies gilt insbesondere für die moderne Sprachwissenschaft, die in Humboldt einen ihrer Gründerväter erkennt, seinem Denken aber nicht die ihm gebührende Beachtung schenkt; ihr gilt er als philosophisch belastet und damit als unwissenschaftlich. In der Tat bewegt sich Humboldts Denken in einem Niemandsland zwischen Philosophie und Fachwissenschaft. Nur dort findet er den Freiraum für seinen Versuch, Sprache und Denken in eine strenge Analogie zu setzen. Damit schließt er eine seit Platons Kratylos virulente Problemgeschichte ab, die sich daran entzündet hatte, dass sprachliche Zeichen einerseits als willkürlich gelten, andererseits aber auch natürliche Richtigkeit beanspruchen als lautliche Nachbildungen der bezeichneten Sache. Während die erste Auffassung der Vielfalt der Sprachen Rechnung trägt, kann allein die zweite eine Antwort bieten
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auf die Frage, wie Zeichen und Sache in Beziehung treten. Indem Humboldt den Zeichencharakter der Sprache als sekundär betrachtet, wird der Weg frei für ein Denken, das die vorherrschenden cartesisch-kantischen Prämissen sprengt und die gemeinsame Basis von Denken und Wirklichkeit zur Sprache bringt. Insofern steht Humboldts unsystematische Konzeption sprachlicher Welterschließung in einer Reihe mit den Systementwürfen Schellings und Hegels. Dass es aber gerade die Sprache selbst ist, in der sich diese Einheit offenbart, scheint ein Gedanke, der in seiner Zeit zu früh kommt. Im 20. Jahrhundert, im Zeitalter der Hermeneutik und des linguistic turn ist diese Betrachtungsweise vertraut. Indessen erscheint nun Humboldts Denken als eigentümlich antiquiert, da es der Terminologie der leibnizschen Philosophie verhaftet ist. In der Tat bleibt in allen Phasen seines Schaffens der Begriff der Individualität, der das Grundprinzip der Monadologie bildet, das Zentrum der Überlegungen Humboldts. Leibniz’ Gedanke, dass die Verbindung von Individualität und Sprache die Voraussetzung dafür darstellt, dass die Vielfalt der Ausdrucksweisen mit der Vorstellung einer gemeinsamen Welt vereinbar ist, wird zum Leitmotiv der Sprachphilosophie Humboldts. In Herders Geschichtsphilosophie findet er schließlich zahlreiche inhaltliche Anknüpfungspunkte, ohne sich zu dieser Verpflichtung zu bekennen. Von Herder stammt auch der Anstoß zu einer anthropologischen Auffassung der Sprache, die Humboldt dann freilich auf bislang nicht überbotene Weise sowohl hinsichtlich ihrer begrifflichen Grundlage als auch im Blick auf die vergleichende Sprachforschung ausgearbeitet hat. Die Bildung der Sprache Das Sprachstudium ist für Humboldt keine Spezialdisziplin, sondern steht im Kontext seiner umfassenden anthropologischen Untersuchungen und erschließt aus besonderer Perspektive die ganze Sphäre des menschlichen Geistes. Der Ausgangspunkt aller Sprachforschung ist die Tatsache der Vielfalt der Sprachen und der Unerschöpflichkeit der Formen menschlicher Rede. Sprache ist der Ausdruck von Individuali-
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tät einzelner Sprecher und konkreter Lebensformen, die sich nach ihren je eigenen historischen und regionalen Bedingungen entwickeln. Zugleich besitzt die Sprache eine Objektivität, die über den Horizont des Individuums hinausreicht. Doch ist sie kein fixierbarer Gegenstand und ihre wissenschaftlich betriebene Verdinglichung verstellt ihre Grundlage. Sprache bleibt immer an ihren konkreten Gebrauch und damit an ihre individuelle Realisierung gebunden. Das Sein der Sprache besteht in der aktuellen Rede.1 Sprache besitzt eine zeitliche Dimension, ist transitorisch und nur in der Totalität des Sprechens als Folge artikulierter Laute in Rede und Gegenrede zu fassen.2 Sie ist aber nicht nur vergänglich, sondern verfügt zugleich über das Vermögen, in ihrer expressiven Kraft, in den Konnotationen ihrer Begriffe und in ihrer metaphorischen Tiefendimension ihre im früheren Sprachgebrauch erfahrene Prägung zu vergegenwärtigen, d. h., sie ist geschichtlich. Im individuellen Gebrauch klingt immer auch die Sprache vergangener Zeiten an. Sprachgebrauch ist auf Verständigung angewiesen. So ist die Sprache des Individuums eingebettet in einen Rahmen geteilter Erfahrungen und gemeinsamer Sprechsituationen. Die Sprache eines Individuums verweist auf die Sprache anderer Individuen und ist insofern nicht nur Ausdruck individuellen Strebens, sondern bietet in ihrer objektiven Gestalt dem Individuum allererst die Möglichkeit, sich auszudrücken. Sprache ist, wie Humboldt in einem Brief an Schiller bemerkt, „wenn nicht überhaupt, so doch wenigstens sinnlich das Mittel, durch welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet, oder vielmehr seiner dadurch bewußt wird, dass er eine Welt von sich abscheidet“.3 Diese Diktion erinnert nicht von ungefähr an Fichte, dessen Subjektphiloso7 Ebd., S. 16. 8 „Denn die Methode ist nichts anderes als der Bau des Ganzen, in seiner reinen Wesenheit aufgestellt.“ (47) 1 Humboldt, Wilhelm von, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, in: Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1960–1981, Bd. III, S. 186 (zitiert als: Verschiedenheiten mit Seitenzahl). 2 Humboldt, Wilhelm von, Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss
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phie für Humboldt eine willkommene Fortführung und Modifikation der ihn prägenden leibnizschen Monadentheorie darstellen muss. Allein die Anknüpfung an Fichtes Setzen der Welt, also des Nicht-Ich durch das Ich, bleibt vage und wird nicht konsequent im fichteschen Sinne entwickelt. Vielmehr transformiert Humboldt das Verhältnis von Ich und Welt in die Sphäre der Sprache, die beide Relate, Ich und Welt, vereint. Die Bemerkung, dass Sprache die Welt bildet, hat eine weitreichende Bedeutung. Sie besagt, dass Sprache Welt konstituiert und dass dieser Zusammenhang sich als Bildung vollzieht. Welt ist nicht allein der Inbegriff aller Gegenstände oder aller Tatsachen, sondern Resultat sprachlicher Äußerungen. Das Individuum bildet sprachlich eine Welt, oder anders gesagt: Die Welt ist nichts anderes als die Gesamtheit aller sprachlich konstituierten Vorstellungen eines Individuums. Sofern die Sprache subjektiv ist, wird auch die Welt, die sich in der Sprache zeigt, durch die individuelle Darstellung geprägt. Die Welt ist also nicht nur im kantischen Sinne Produkt eines denkenden und wahrnehmenden Subjekts überhaupt, sondern immer die Welt eines konkreten Individuums. Welt gibt es nur als individuelle „Weltansicht“ (Kawi 434). Damit ist jedoch noch nichts gesagt hinsichtlich der Alternative von Realismus und Idealismus. Das denkende Individuum steht immer in Beziehung zu seiner Welt und diese Beziehung stiftet die Sprache. Die Welt ist kein bloßes Konstrukt, aber ebenso wenig ist der Gedanke nur W die Abbildung einer äußeren Wirklichkeit. Vielmehr ist das Denken nur in Relation zur Welt zu begreifen, kraft seiner Bindung an die Sprache. Diesen Zusammenhang fasst Humboldt in die prägnante Formel von der Sprache als dem „bildende(n) Organ des Gedankens“ (Kawi 426). Damit wird die Idee der Sprache als eines Mediums weitergeführt bis zu der Auffassung, dass das Denken sich in der Sprache realisiert und Denken und Sprechen, wenngleich nicht identisch, so doch unzertrennlich sind. Das Sprechen ist eine notwendige Bedingung des Denkens, weil sich nur durch die sinnliche Artikulation des Lautes der Geist differenziert und verobjektiviert. Der Gedanke ist unabhängig von seiner sprachlichen Äußerung nicht fassbar und die Äußerung folglich nicht nur die Mitteilung desselben, sondern seine Konstitution oder Bildung.
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‚Bildung des Gedankens‘ bedeutet nach Humboldt, dass das Denken Deutlichkeit, d. h. Form und Bestimmtheit gewinnt, die es nur durch die Vermittlung mit der Sphäre des Sinnlichen erreichen kann. Dabei V kommt dem sprachlichen Laut eine Schlüsselfunktion zu. Anders als in der klassischen Philosophie seit Platon, die das Sinnliche als die Dimension des Unbegrenzten und den Geist als das Medium der Differenzierung betrachtet, gilt Humboldt der sinnliche Laut, der zwischen Geist und Sinnlichkeit angesiedelt ist, als Prinzip der Bestimmung. „Die schneidende Schärfe des Sprachlauts ist dem Verstande bei der Auffassung der Gegenstände unentbehrlich. Sowohl die Dinge der äusseren Natur, als die innerlich angeregte Thätigkeit dringen auf den Menschen mit einer Menge von Merkmalen zugleich ein. Er aber strebt nach Vergleichung, Trennung und Verbindung und in seinen höheren Zwecken nach Bildung immer mehr umschließender Einheit. Er verlangt also auch, die Gegenstände in bestimmter Einheit aufzufassen, und fordert die Einheit des Lautes, um ihre Stelle zu vertreten.“ (Kawi 427) Der Mensch, unter dem Eindruck äußerer und innerer Impressionen, sucht zu differenzieren und zu strukturieren, um sich eine einheitliche Welt zu bilden. Der Laut ist nicht nur Repräsentant eines Eindrucks, sondern Ausdruck von dessen sinnlicher Form. Er ist dem Geist verbunden und doch von ihm als sinnliches Ereignis unterschieden. Gerade durch diese Zwittergestalt wird er zum Vermittler zwischen Denken und Sinnlichkeit, Intellekt und Anschauung. Dieser Übergang bedient sich der Funktion des Bildes. Das subjektive Denken muss sich eine sinnliche Form geben, mit der die Vorstellung zugleich Bestimmtheit annimmt und Objektivität. Beides findet sie im Dasein einer distinkten lautlichen Äußerung, die vom Sprecher ausgehend sich verselbstständigt und von diesem wieder in der Rolle des Hörers als selbstständiges Phänomen wahrgenommen werden kann. Die zunächst rein subjektive Vorstellung, das phantasierte Bild, wird durch diese sinnliche Darstellung zu einer objektiven Kraft, die auf das Subjekt zurückwirkend die Vorstellung zum Begriff erhebt. Sprache ist die strukturierende Form der mannigfaltigen chaotischen Eindrücke, die einer Ordnung bedürfen, damit überhaupt wahr-
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nehmbare Gegenstände zur Erscheinung kommen. Sprache strukturiert sinnliche Vielfalt. Sie ist der Fundus aller Formen, die den Vorstellungen eines denkenden Subjekts zugrunde liegen. Im Modus der Sprache werden die sinnlichen Eindrücke zu Produkten des Geistes erhoben. Vorstellungen sind subjektive Entwürfe, die gleichwohl auf Objektivität V Anspruch erheben. Aber die Vorstellung kann sich nicht auf ein gegebenes Objekt berufen, zu dem das Subjekt keinen unmittelbaren Zugang hätte, vielmehr bildet umgekehrt die subjektive Tätigkeit im Denken das Objekt. Die subjektive Vorstellung muss sich dazu gegenüber dem Tun des Subjekts verselbstständigen und im Laut der Sprache eine objektive Gestalt annehmen. Der artikulierte Laut ist ein sinnliches Gebilde und als Produkt des Geistes ist er zugleich ein mit Bedeutung verbundenes Bild, das in dieser Objektivität sich jedoch nicht explizit von der Sache selbst unterscheidet. In der Unmittelbarkeit des bedeutungsvollen Sprachlautes wird vielmehr die fragliche Sache vergegenwärtigt, die, indem der sprachliche Laut zum Subjekt zurückkehrt, im Bilde aufgeht. So wird das sprachliche Bild als Bild identifiziert, das auf den Begriff in der Sphäre des reinen Gedankens verweist. Darauf gründet die Konstellation von Denken und objektiver Wirklichkeit. Sprache basiert nicht auf der schroffen Opposition beider Sphären, die einer äußerlichen Verbindung bedürfen, sondern stellt ihren gemeinsamen Grund dar. Die Bildlichkeit der Sprache Dieser komplexe Zusammenhang der Konstitution eines sprachlich vermittelten Bildes ist die Basis der Sprachtheorie Humboldts. Entscheidend ist, dass die Sprache, entgegen der vulgären Auffassung, nicht nur als Zeichensystem betrachtet wird, dessen Funktion die Vermittlung einer gegebenen Welt von Gegenständen wäre, sondern als Gefüge reflektierter Bilder, die nach dem Analogieprinzip zu lesen sind. Die Differenz von Wort und Sache ist selbst sprachlich erzeugt. Das Wort „ist nicht ein Abdruck des Gegenstandes an sich, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes“ (Kawi 433). Die Sprache stellt
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„niemals die Gegenstände, sondern die durch den Geist in der Spracherzeugung selbstthätig von ihnen gebildeten Begriffe dar“ (Kawi 468). Ein Bild unterscheidet sich folglich grundsätzlich von einem bloßen Abdruck, einer Repräsentation. Die Vorstellung einer Verdopplung der Gegenstände durch Sprachzeichen wäre völlig unzureichend und würde die Frage aufwerfen, wie diese Korrespondenz von Zeichen und Sache zustande kommen und aufrechterhalten werden sollte, ohne nicht wiederum vermittelnde Zeichen vorauszusetzen. Überdies kommt es gerade darauf an, das Bild als Bild zu begreifen, das sich ansonsten ontologisch nicht von einem bloßen Gegenstand unterscheidet. Nach Humboldt stellt sich der Zusammenhang von Denken und äußerer Wirklichkeit so dar, dass das lautlich artikulierte Wort Ausdruck eines Begriffs ist. Dies ist das ursprüngliche Bildverhältnis, das der Sprache zugrunde liegt, wobei festzuhalten ist, dass erst das Wort die Bestimmung des bildhaften Begriffs ermöglicht. Das Bild ist bedingt durch seine sprachliche Darstellung und der Begriff ist nur möglich dank seiner bildlichen Konkretion. Wort und Gedanke sind zwar analytisch unterscheidbar, aber zugleich untrennbar verknüpft. Begriffe können nur dadurch Bilder werden, dass ihnen eine sinnliche Entsprechung im Wort gegeben wird. Das Wort als Darstellung des Begriffs ist seinerseits bildhaft, ein Bild vom Bilde oder ein Bild zweiter Ordnung. Ohne der dunklen Ontologie des Bildes weiter zu folgen, wird doch deutlich, dass ein Bild nur insofern sich als Bild behaupten kann, als es sich auf eine Sache bezieht, die sich in der abbildenden Darstellung erschließt, also an sich selbst bildliche Qualitäten besitzt. Ein Bild ist deshalb immer Abbild eines Urbildes. Das Urbild aber verdankt seinerseits sein Bildsein dem Abbild. Ein Bild ist immer Form und Abbild des Urbildes gleichermaßen. Beide Sphären, die Sprache und das Denken, sind notwendigerweise verbunden. Dass die Welt als objektive Welt erscheint, basiert auf dieser Relation von Begriff und Sprache. Begriffe beziehen sich durchaus auch auf sinnliche Gegenstände, aber diese Beziehung ist konstituiert durch die Sprache, die ihrerseits nicht den Gegenstand abbildet, sondern den Begriff. Die Bestimmung der sprachlichen Referenz führt immer in die Sprache zurück. Dass dennoch die Worte als Zeichen der Dinge betrachtet wer-
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den können, ist kein bloßes Missverständnis, sondern ein von der Sprache erzeugter transzendentaler Schein. Denn indem sich das Wort in seiner Abbildfunktion vor das Urbild, also den Begriff stellt und das abstrahierende Denken von dieser Bildbeziehung absieht, erscheint das Wort in direkter Referenz zu einem als sprachunabhängig vorgestellten Gegenstand. Dieser Schein einer selbstständigen Gegenständlichkeit, auf die Sprachezeichen verweisen, wird durch die lebendige Rede immer wieder zurückgenommen in der bildenden und insofern auch die Welt stets neu bildenden Wirkung der Sprache, die Gegenständlichkeit nur perspektivisch und nur mittels begrifflicher Bilder erschließt. Diese Struktur, die Humboldt in schlichter Terminologie und auf engstem Raum skizziert, beschreibt die wechselseitige Beziehung von Wort und Begriff auf der Grundlage des Verhältnisses von Bild und Sache so, dass dabei das Bildsein selbst exemplifiziert wird. Diese BildAbbild-Beziehung ist nicht nur für alle unsinnlichen Begriffe konstitutiv, sondern auch für diejenigen, denen bestimmte Gegenstände korrespondieren. Auch hier besitzt die Sprache logische Priorität. „Wie, ohne diese, kein Begriff möglich ist, so kann es für die Seele auch kein Gegenstand seyn, da ja selbst jeder äussere nur vermittelst des Begriffes für sie vollendete Wesenheit erhält. In die Bildung und in den Gebrauch der Sprache geht aber nothwendig die ganze Art der subjectiven Wahrnehmung der Gegenstände über.“ (Kawi 433) Natürlich sind die Gegenstände keine bloßen Phantasien des Subjekts. Aber ihr Sosein kann nicht einfach naiverweise vorausgesetzt werden, sondern verdankt sich der bildenden Kraft der Sprache und der Ordnung der Begriffe. Die Annahme äußerer Gegenstände wird damit nicht dogmatisch ausgeschlossen, sie steht aber immer in Verbindung zur Sphäre der Sprache und ist unabhängig davon ohne Bedeutung. In den Schemata der überlieferten Erkenntnistheorie, mit denen Humboldt recht unbefangen umgeht, stellt sich dieser Sachverhalt so dar, dass die Sprache zwischen das Subjekt und die äußere Welt tritt und dazu dient, dass das Individuum Gegenstände in sich aufnehmen und verarbeiten kann. So korrespondiert der Gedanke oder Begriff einem äußeren Gegenstand, aber statt nach der Möglichkeit der Verbindung beider Welten zu fragen, wie es nach cartesischen Prämissen erforder-
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lich wäre, geht Humboldt von einer verbindenden Mitte aus, von deren Standpunkt sich Begriffe und Gegenstände erst bestimmen und identifizieren lassen. Die traditionelle, seit Descartes drängende Wahrheitsfrage erscheint damit in einem anderen Licht. Sie ist nicht unabhängig von der Funktion der Sprache zu behandeln, sondern mündet in die Einsicht „dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken“.4 Durch diese Transformation der Problematik wird die erkenntnistheoretische Perspektive, die von einer SubjektObjekt-Spaltung ausgeht, obsolet. Die Sprache der Bildung In der Sprache bilden sich wissendes Ich und Welt gleichermaßen. Doch stellt sich diese Leistung nicht mit jedem Sprachgebrauch von selbst ein. Vielmehr ist zu unterscheiden zwischen einem wissenschaftlichen und einem rednerischen Gebrauch. Der erstere bestimmt zugleich den geschäftlichen Verkehr der Menschen und den technischen Umgang mit der Welt; letzterer ist „der des Lebens in seinen natürlichen Verhältnissen“.5 Das konstruktive Verfahren des wissenschaftlich-technischen Denkens beruht auf einer Spezialisierung der geistigen Kräfte, auf der Ausblendung von Kontexten und der Abstraktion von den subjektiven Bedingungen der Sprache. Als dritten Modus der Sprache kennzeichnet Humboldt noch den „conventionellen“ Gebrauch derselben, eine alltägliche, korrumpierte Form der Rede. Mit dem wissenschaftlichen Gebrauch gemeinsam ist diesem Typus die Tendenz, Sprache nicht in ihrer Eigenwertigkeit als Medium, sondern als Zeichen zu verstehen.6 Während dies im wissenschaftlichen Sinne durchaus angemessen sein kann, ist die Ausdehnung dieser Haltung auf die Sprache überhaupt eine Fehlentwicklung. Allein der rhetorische Gebrauch der Sprache, der um ihre bildende, d. h. formende und welterschließende Funktion weiß, kann dieses Defizit kompensieren. Poesie, Philosophie und Geschichte auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Werke a. a. O., Bd. III, S. 418 (zitiert als: Kawi mit Seitenzahl). 3 Humboldt, Wilhelm von, Brief an Schiller, Sept. 1800, Werke a. a. O., Bd. V, S. 196.
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sind die klassischen Disziplinen, in denen dieser bildenden Wirkung der Sprache Rechnung getragen wird. Von Bedeutung ist außerdem die Differenz von so genannter VolksV sprache und Bildungssprache. Die Volkssprache, die der Sprache der Gebildeten entgegengesetzt ist, gilt Humboldt als Ursprung der Sprache überhaupt und als Quelle der natürlichen Kraft und der metaphorischen Möglichkeiten der Sprache (Verschiedenheiten 269). In der Unmittelbarkeit ihres Ausdrucks bewahrt sie den lebendigen Zusammenhang von Anschauung, Gefühl und Intellekt, und ist damit die Voraussetzung dafür, dass die Sprache ihre Aufgabe als vermittelnde Instanz von Sinnlichem und Übersinnlich-Geistigem erfüllen kann. Im Unterschied dazu bietet die Sprache der Bildung eine Verfeinerung und Systematisierung der Rede, die vor allem den Intellekt in Anspruch nimmt. „Bildung läutert und sichtet den empfangenen Stoff. […] Sie entwickelt und spaltet die Begriffe“, präzisiert die Sprache und erweitert die Bandbreite des sprachlichen Ausdrucks (Verschiedenheiten 270f.). Durch die Verfeinerung werden neue Begriffe und Begriffsnuancen gebildet, die sich unmittelbar auf die geistige Verfassung des Individuums und sein Ausdrucksvermögen auswirken. Genau damit sind jedoch auch die Defizite der Bildungssprache vorgezeichnet: „Die sogenannte gebildete Sprache ist eine nach absichtlichem Gebrauch gespaltne, gereinigte, also verarmte, in ihrem Zusammenhange zerrissene.“ (Verschiedenheiten 286) Sie muss daher eng an die Volkssprache angekoppelt bleiben und den Kontakt zum Ursprung der Sprache wahren, um nicht in Entfremdung zu erstarren. Humboldts Einschätzung der Sprache beruht auf einer bemerkenswerten Umdeutung der Beziehung von Sprache und Handlung. Die Entwicklung des Menschen im Allgemeinen und der Gebrauch der Sprache im Besonderen sind dadurch ausgezeichnet, dass sie sich durch Akte des Sprechens vollziehen. Sprache ist indes „kein Werk (Ergon), sondern Thätigkeit (Energeia). […] Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen.“ (Kawi 418) Die ausdrückliche Erwähnung der griechischen Termini markiert den hier vollzogenen Schritt in aller Deutlichkeit. Humboldt analysiert Sprache als Tätigkeit und bedient
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sich dabei der aristotelischen Distinktion von poiesis und praxis, Herstellen und Handeln, die in Analogie zur Unterscheidung von ergon und energeia entwickelt wird.7 Sprache ist Tätigkeit, sofern sie sich nicht in einem äußeren Werk realisiert oder auf äußere Verhältnisse rekurriert, sondern ihren Zweck im Vollzug erfüllt. Sie sperrt sich damit einerseits gegen eine Verobjektivierung, die ihr ein selbstständiges Dasein zuspricht, und andererseits gegen eine Instrumentalisierung, die sie auf die Mitteilung gegebener Sachverhalte reduziert. Es scheint Humboldt selbstverständlich, dass Sprechen nicht nur ein Modus des Handelns, sondern nachgerade der Inbegriff des Handelns selbst ist. Wenn die moderne Sprachtheorie die Performanz der Sprache ins ZenW trum der Betrachtung rückt, geht sie nicht so weit wie Humboldt, der Sprache als Urtypus von Handlung versteht. Die Artikulation eines Lautes ist die Handlung, die den anthropologisch fundamentalen Unterschied zwischen einem bloß sinnlichen Reiz und einem Ausdruck geistigen Strebens markiert (Kawi 427). Sofern das menschliche Denken sich im Medium der Sprache entfaltet und die Welt sprachlich konstituiert ist, kann die Handlung des Sprechens als Urhandlung aufgefasst werden. Mit ihr vollzieht sich der Übergang zum menschlichen Dasein. Im Vergleich zu dieser Leistung ist alles sonstige Handeln abkünftig. Jede Handlung im alltäglichen Sinne erscheint in Humboldts Auffassung f als sprachabhängig oder als eine Analogiebildung zum Sprachhandeln. So schiebt sich unversehens mit Humboldts Rekurs auf den Energeia-Begriff die Sprache an die Stelle der Praxis und besetzt deren systematischen Ort. Der traditionelle Handlungsbegriff wird von einem sprachtheoretischen Modell der Entwicklung des Individuums abgelöst. Dieses existentialistische Sprechhandeln ist der Koinzidenzpunkt von sprachlicher Bildung und Bildung des Individuums. Die bildende Kraft der Sprache ist das Vehikel der Selbstentfaltung des Einzelnen. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich die verschwiegene Ethik des humboldtschen Bildungskonzepts. Nicht das gelungene Leben im Sinne der klassischen Ethik und nicht die individuelle Suche nach Glück sind das Ziel des menschlichen Strebens, sondern die Steigerung 4 Humboldt, Wilhelm von, Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, Werke a. a. O., Bd. III, S. 19f.
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der individuellen Kraft bis zu jener Intensität, die, von der „Begeisterung“ des sich bildenden Individuums begleitet, geistiges Wirken in Anschauung, Phantasie und Intellekt ermöglicht. In fast ekstatischer Vollendung individueller Bildung wird das Gleichmaß des konventionellen Lebensrhythmus durchbrochen und das ansonsten unbegrenzte Streben nach Perfektion erfüllt. Diese Intensivierung der menschlichen Möglichkeiten belohnt alle Anstrengung und Entbehrungen, die den Weg der Bildung erschweren. Selbst die unvermeidbare Einsamkeit des W Individuums, das trotz der sprachlichen Verständigung seiner besonderen Weltansicht verhaftet bleibt, wird dadurch erträglich. Sprache als Dialog Die Bestimmung des Menschen, der leitende Gesichtspunkt aller humboldtschen Untersuchungen, bleibt auch in ihrer allgemeinsten Bedeutung an die Sphäre des Individuellen gebunden. Dennoch zielt Theoriebildung grundsätzlich auf das Allgemeine, im konkreten Falle auf das Abstraktum der Humanität. Aber das Allgemeine lässt sich nur im Individuum realisieren. Die Entfaltung des Individuums soll diese Verbindung von individueller Einzelheit und idealer Universalität verbürgen. Nicht die allgemeinen Qualitäten, sondern gerade die exklusive Individualität des Menschen führt auf die Spur der Humanität. Nun zeigt aber die sprachtheoretische Beleuchtung der Bildung des Menschen, dass der Einzelne nie isoliert aufzufassen ist, sondern stets einer Sprachgemeinschaft, einer Nation angehören muss. Der Begriff der Nation, nicht politisch, sondern sprachlich gefasst, ist das Bindeglied zwischen Einzelnem und Gemeinschaft. Eine Nation ist „eine durch eine bestimmte Sprache charakterisirte geistige Form der Menschheit, in Beziehung auf idealische Totalitaet individualisirt.“ (Verschiedenheiten 160) Unter der Voraussetzung eines Sprachverständnisses, das auf die lebendige Rede gegründet ist, kann diese Form nicht als homogener Sprachcorpus, weder als grammatisch-lexikalischer Standard noch als ffester Bestand von Wissen und Traditionen identifiziert werden. Ausschlaggebend sind vielmehr die konkreten Verständigungsprozesse einer Pluralität von Sprechern. Dies erfordert einen intersubjektiven
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Rahmen, in dem die individuelle Perspektive veranschlagt werden kann, denn Sprache ist kein Monolog, der sich bisweilen auch an andere wendet, sondern verlangt grundsätzlich, „an ein äusseres, sie verstehendes Wesen gerichtet zu werden“ (Kawi 408). „Sprache muss nothwendig W zweien angehören.“ (Kawi 437) Der einzelne Gedanke erhält seine Bestimmung durch die Wechselwirkung der Individuen, indem die sprachliche Reaktion des anderen dem Sprecher wiederum zu Gehör kommt. Durch die Unterschiede der Auffassungen schärfen sich die Konturen der je eigenen Begriffe. Alles Sprechen ist „auf Anrede und Erwiderung eingestellt“ (Verschiedenheiten 201). Im Verständnis des anderen muss sich die Objektivität der eigenen Vorstellung bewähren. Diese Objektivität misst sich nicht an einer ontologisch vorausgesetzten Wirklichkeit, sondern lässt sich lediglich im Rahmen der Sprache artikulieren. Objektivität gibt es nur, insofern sich das Individuum als Subjekt erfährt. Dies setzt aber die Erfahrung anderer Subjekte voraus. Deshalb gelten Humboldt neben dem Verbum, als dem objektbezogenen Ausdruck, die Pronomina als die Grundelemente der Sprache. Während ‚Ich‘ und ‚Er‘ zwei schlechterdings entgegengesetzte Instanzen repräsentieren, deren Beziehung keine Bereicherung bietet, ist das ‚Du‘ ein dem ‚Ich‘ gegenübergestelltes ‚Er‘, mit dem ein angesprochenes Gegenüber ausgezeichnet wird (Verschiedenheiten 202). Damit gewinnt nicht nur das Subjekt seine exklusive Perspektive, auch der andere wird so als Person erfahren. Erst dadurch gewinnt der Gedanke seine Objektivität. Insofern ist sprachliche Verständigung zugleich Begriffsbildung. Im Vollzug der Rede bilden sich die Individuen als die Subjekte des Verstehensprozesses, die sich nur insoweit selbst verstehen, als sich ihre Rede im Verständnis des Gegenüber bewährt. Weder die Subjekte noch der Inhalt der Verständigung sind logisch vorauszusetzen oder vom Verständigungsprozess zu lösen. Aber auch die gemeinsame Basis der Verständigung, die Sprache, ist kein Faktum, sondern konstituiert sich nur im Vollzug der Rede. Zwar partizipiert das Individuum an einer objektiv V gegebenen Sprache, aber auch umgekehrt setzt die Sprache praktizierende Sprecher voraus. Wenn „die“ Sprache dann als übergreifende Struktur erscheint, beruht dies darauf, dass sich ex post jeder Vollzug
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auch als Werk betrachten lässt. Sprache bildet sich als „ein Vorrath von Wörtern und ein System von Regeln“ und tritt so dem Individuum selbstständig gegenüber (Kawi 437). Lexik und Grammatik lassen sich zu einem bestimmten Zeitpunkt fixieren, geben aber nur einen Schatten der lebendigen Sprache wieder. Verständigung stellt sich ein im Wechselspiel von Entäußerung und V Verinnerlichung als den konstitutiven Momenten der Sprache. Das InV dividuum tritt aus sich heraus, um sich zu artikulieren und mitzuteilen, und es zieht sich in sich zurück, um zu verstehen. Die Differenz der Sprecher und der Sprachen ist deshalb nicht nur unvermeidlich, sondern schlechterdings notwendig. Das Verstehen stößt damit an eine unüberwindliche, weil immanente Grenze. Verstehen bedeutet eo ipso immer auch Nicht-Verstehen, denn die Mitteilungen eines anderen erscheinen dem Individuum in einem neuen Licht, die Begriffe erhalten andere Konnotationen und stehen in einem fremden Kontext. Diese Differenz ist jedoch kein Hindernis des Verstehens. Das Nicht-Verstehen ist vielmehr für das Verstehen konstitutiv, weil erst die Differenz zum anderen die Verobjektivierung der Rede und ihre Reintegration in den individuellen Zusammenhang des Denkens ermöglicht. Der Begriff, den das Wort repräsentiert, lässt sich nie genau so vermitteln, wie ein Individuum diesen denkt, denn ein einzelner Gedanke verweist auf das unüberschaubare Gefüge der anderen Begriffe und Vorstellungen des Individuums. Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit und wird adäquater Ausdruck des Gedachten. Je präziser ein Begriff sprachlich ausgeprägt ist, desto idiosynkratischer ist sein Gebrauch. Daraus ergibt sich das Paradoxon, dass gerade die Sprache der Gebildeten, die besonders differenziert ist, eine um so individuellere Färbung annimmt, obwohl sie immer allgemeiner wird. Diesem Dilemma kann sich menschliches Verstehen prinzipiell nicht entziehen. Es ist zu betonen, dass auch die wohlmeinende Aufmerksamkeit, die man dem anderen erweist, keine Alternative zum Rückzug in die Innerlichkeit darstellt, sondern diesen noch forciert. Ohne Differenz, ohne Distanz gegenüber dem anderen, ist keine sprachliche Verständigung möglich. Die Entstehung der Sprache und ihr Vollzug setzt die Verschiedenheit der Individuen voraus und bekräftigt diese in dem
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Maße, in dem die Kommunikation erfolgreich ist. Dies zeigt sich in der sprachlichen Konstitution von Welt, die nur so möglich ist, dass die geäußerten Laute sich verselbstständigen und von einem anderen denkenden und vorstellenden Wesen als Ausdruck des Denkens erfasst werden. Erst durch die erfahrene Andersheit des Anderen gewinnt die Sprache für den Sprecher Objektivität. Nur die Fremdheit des Anderen verbürgt, dass diese Vorstellung den Status von Objektivität besitzt. Sonst bliebe es bei einer bloßen Wiederholung subjektiver Assoziationen ohne Realitätsanspruch. Die Grenzen des Verstehens Das solchermaßen fundamentale ‚Du‘ des Sprechens bleibt dem ‚Ich‘ trotz aller Verständigung stets fremd. „Wir haben auch nicht einmal die entfernteste Ahndung eines andren als eines individuellen Bewusstseyns.“ (Kawi 408) In jeder Verständigung büßt das Wort an Bestimmtheit und Präzision ein. Selbst die Intensivierung des Gesprächs durch Rückfragen und neuerliche Klärung kann diesen Mangel nicht beheben, sondern führt mit jedem Schritt noch zu weiterer Komplexität. Jeder Gewinn an begrifflicher Prägnanz wird bezahlt mit wachsender Unschärfe an den Rändern der Kommunikation. Die Grenze, die Sprache bei der Verständigung überwinden muss, kann im Grunde nur modifiziert werden, aber mit jeder Differenzierung verlängert sich die Front, an der Verstehen und Nicht-Verstehen aufeinandertreffen, da der genauere Blick die infinitesimalen Unterschiede offenbart. Jede gelungene Verständigung birgt in sich eine Vielzahl von neuen Vermittlungsproblemen, deren Thematisierung wiederum neue Fragen aufwirft. Mit den Fortschritten methodisch betriebener Verständigung, die eine neutrale, aber insofern auch unbestimmte Sprache gewährt, verstrickt sich jedes beteiligte Individuum in seine eigene Sprache. Da ein Wort erst durch das Individuum seine Bestimmtheit gewinnt und diese per definitionem nicht mitteilbar ist, muss umgekehrt jede Verständigung eine Unbestimmtheit in Kauf nehmen, die aufzuheben nur um den Preis weiterer Unbestimmtheit möglich ist. Deshalb ist die gebildete Sprache zwar differenzierter, aber auch unverbindlicher als die Volkssprache.
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Die Bildungssprache bietet zwar ein umfangreiches Vokabular, mit dem ffeinste Begriffsnuancen artikuliert werden können, aber die Distanz der Individuen wird dadurch nicht überbrückt. Mit jeder Verständigung verschiebt sich vielmehr der Standpunkt der Individuen an den Rand der neu gestifteten Gemeinsamkeit, sodass sich der Abstand insgesamt vergrößert. Verständigung vollzieht sich nicht als Überlagerung der individuelV len Horizonte, wie in der neueren Hermeneutik unterstellt wird, sondern als Widerstreit von Gemeinsamkeit und Differenz. Die Möglichkeit, den Standpunkt eines anderen einzunehmen, scheint Humboldt gänzlich auszuschließen. Ein Wechsel des individuellen Standpunktes ist freilich durch den Erwerb einer anderen Sprache möglich, ändert aber nichts an der Fixierung auf die eigene Individualität. Die Verschränkung von Verstehen und Fremdheit bleibt davon unberührt. Das Verstehen ist insofern kein linearer Prozess, sondern arbeitet gegen V seine eigene Intention. Mit jedem Fortschritt wird im Gegenzug die Distanz, die zwischen den Individuen herrscht, umso deutlicher. Die Fremdheit, die sich dabei herauskristallisiert, unterscheidet sich jedoch vom baren Staunen über das ganz Unbekannte. Sie ist gleichsam mediatisiert durch ein Vokabular unverbindlicher Konventionen, die das Anderssein, das jedem Individuum in seiner Exklusivität erfahrbar wird, erträglich macht. Der Mangel harmonischer Vollkommenheit betrifft nicht nur die Gemeinsamkeit sprachlicher Kommunikation, sondern auch die individuelle Identität. Es gehört zu den fundamentalen Einsichten der humboldtschen Sprachtheorie, dass das Individuum sich nicht aus sich selbst entfalten kann, sondern auf die Welt der Gegenstände und auf die soziale Welt angewiesen ist. Humboldt fasst dies als Ausdruck der Endlichkeit des Menschen auf. Da der Mensch sich nur „in einem Entgegensetzen eines andren erkennen“ kann,8 ist das Individuum sich nicht nur fremd, es ist in gewisser Weise noch nicht realisiert, solange seine Äußerungen nicht an einer Objektivität gebrochen werden, die selbst den Charakter des Individuellen besitzt. Der Reflex des Individuellen, der Widerhall der eigenen Laute, die der Sprecher zur Kenntnis nimmt, ist nicht nur deren Echo, sondern durchdringt die sprachliche Welt ande5 Ebd., S. 22.
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rer Sprecher und hat sich darin zu bewähren. Das ‚Ich‘ fordert deshalb nicht nur ein dingliches, sondern ein personales Gegenüber. Aber während die Objektivität der Welt im Bildungsgang wieder aufgehoben wird und das Äußere sich verinnerlichen lässt, bleibt die Differenz zum anderen Individuum unüberbrückbar. Die Versicherung, dass „in der Verschiedenheit der Einzelnen die, sich nur in abgesonderte Individualitäten spaltende Einheit der menschlichen Natur“ liegt (Kawi 430), verweist einerseits auf die Verwandtschaft aller Menschen, begründet diese aber mit der Differenz des Standpunktes der Individuen, die den Koinzidenzpunkt der Humanität nicht gemeinsam, sondern nur jeder für sich erreichen können. Humboldt formuliert diesen Sachverhalt ganz unverhohlen: „Der Einzelne, wo, wann und wie er lebt, ist ein abgerissenes Bruchstück seines ganzen Geschlechts.“ (Verschiedenheiten 161) Verstehen ist nicht gleichbedeutend mit einer zwanglosen Vermittlung der Individuen, sondern realisiert die aller Verständigung stets zugrunde liegende Absicht der individuellen Vervollkommnung. Gerade deshalb bleibt der Einzelne immer ein Fragment. Aber noch als Fragment ist der Mensch ein Symbol der Menschheit. So verweist er auf ein Ganzes, das weder ihm noch anderen jemals präsent und verfügbar ist. Diese notorische Unzulänglichkeit der Individualität ist nicht zu überwinden. Im Bestreben, die Grenzen der Individualität zu durchbrechen und die Fragmentierung aufzuheben, verstrickt sich der Einzelne immer mehr in seine Innerlichkeit. Zwar wächst auch die Chance der Verständigung unter den Individuen mit der Intensivierung der individuellen Kräfte. Wo es indes zum Verstehen kommt, scheint die Individualität sich zu entziehen. Nur indem die Individualität sich in sich selbst einspinnt, entsteht das Kraftfeld zwischenmenschlicher Verständigung. Der Einzelne, der sich den Schranken seiner Individualität zu entwinden sucht, „macht also immer zunehmende Fortschritte in einem in sich unmöglichen Streben. Hier kommt ihm nun auf eine wahrhaft wunderbare Weise die Sprache zu Hülfe, die auch verbindet, indem sie vereinzelt.“ (Verschiedenheiten 160) Dieses Potential des Verstehens kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Tendenzen konträr sind. Das gebildete Indivi-
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duum ist wohl in der Lage, sich mit anderen zu verständigen, kann jedoch die Hermetisierung seiner Individualität nicht vermeiden. Der Fähigkeit, sich mit anderen und gerade auch mit Fremden zu verständigen, ist nur um den Preis einer zunehmenden Individualisierung zu erwerben, die der Verständigung entgegenarbeitet. Das Individuum wird nicht nur den anderen, sondern auch sich selbst zunehmend zum Rätsel, zu einem immer weniger lesbaren Symbol. Dies ist für Humboldt jedoch kein Anlass zu existentieller Verunsicherung, sondern gilt ihm als Voraussetzung jeder Verständigung und damit als Basis eines geselligen Umgangs miteinander. Der Respekt für die nicht einholbare Individualität, die Berücksichtigung der hermeneutischen Unbestimmtheit hat ihre praktische Konsequenzen im Verzicht auf jeden Anspruch, den anderen im Verstehen zu bewältigen oder mit universalen Erwartungen zu konfrontieren. Wenn die Fremdheit des anderen nie aufzuheben ist und damit auch das Selbstverständnis opak bleibt, muss einem falschen Ideal vollständiger Transparenz abgeschworen werden. Gemeinsame Sinnbezüge setzen eine fortgeschrittene Individualisierung voraus. Mit jedem Verstehen offenbaren sich immer mehr Differenzen. In dieser Sprachauffassung liegt ein feinsinniger moralischer Appell, den anderen und mit dem anderen sich selbst nie definitiv festzulegen. Die Objektivität der Weltansichten, auch der moralischen, ergibt sich aus einem Gespinst sprachlicher Verständigung, das nur unter Voraussetzung der gleichzeitigen Individualisierung möglich wird. Das Individuum bleibt die nicht verobjektivierbare Instanz aller Sinnzuschreibungen. Wenn diesem Status nicht Rechnung getragen wird, schlägt die Kraft des Objektiven um in bare Gewalt. Die verspätete Rezeption So schließt sich der Kreis des humboldtschen Denkens mit sozialphilosophischen Folgerungen, die ebenso wie erkenntnistheoretische, ontologische und ästhetische Fragen im Horizont seiner Sprachphilosophie liegen. Der üblichen selektiven Lektüre seiner Schriften bleibt dieser Zusammenhang verschlossen. Von einer Wirkung der Sprachphilo-
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sophie Humboldts kann insofern nicht die Rede sein. Dem Versuch Heymann Steinthals, Humboldts Schriften zur Sprache Geltung zu verschaffen, war nur wenig Erfolg beschieden. Immerhin hält er die Erinnerung an Humboldt wach und es ist nicht unwahrscheinlich, dass durch ihn Ferdinand de Saussure mit humboldtschen Gedanken bekannt wird. Der Strukturalismus hat sich jedoch so wenig wie die moderne Sprachwissenschaft intensiver mit Humboldt auseinandergesetzt. Folgenreich ist die Wahrnehmung Humboldts durch Martin Heidegger geworden. Er betrachtet Humboldt als Gipfel der abendländischen Tradition der Sprachphilosophie und macht ihm zugleich seine anthropologische Betrachtungsweise zum Vorwurf. In HansGeorg Gadamers Hermeneutik wird dieses Urteil schließlich vollzogen, indem Humboldts Denken als eher hilfloser Versuch dargestellt wird, mit einer antiquierten Begrifflichkeit die Objektivität der Sprache zu beschwören. In der Tat bleibt für Gadamer eine so radikal an der Individualität des Verstehens entwickelte Hermeneutik unzugänglich. Noam Chomskys Inanspruchnahme Humboldts als eines Vordenkers der generativen Grammatik beruht schließlich auf einem Missverständnis und kann kaum als Rezeption seines Denkens gelten. Erst seit zwei Jahrzehnten zeichnet sich allmählich eine unvoreingenommene Diskussion Humboldts ab. Eine über die Kreise von Spezialisten hinausreichende Rezeption der Humboldtschen Schriften zur Sprache steht jedoch noch aus.
Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst
gernot
böhme
Nach Promotion und Berlinaufenthalt eröffnet Søren Kierkegaard die Serie jener Publikationen, die er selbst rückblickend seinem schriftstellerischen Werk zurechnen wird, mit dem Buch Entweder-Oder. Ein Lebensfragment,t herausgegeben von Victor Eremita. Das Entweder-Oder markiert die Entscheidung zwischen zwei Lebensentwürfen, nämlich dem des Ästhetikers und dem des Ethikers. Sie unterscheiden sich wie das Angenehme und das Gute. Der Ästhetiker führt ein Leben, das auf Genuss gerichtet ist, er vermeidet bewusst jede Verbindlichkeit, er hält sich in der Schwebe. Der Ethiker dagegen entscheidet sich für ein Leben in Verantwortung, er akzeptiert die bestehenden gesellschaftlichen InstiV tutionen und will sein Leben darin konkret werden lassen. Diese Lebensform lässt sich verwirklichen in Ehe, Beruf und öffentlicher Wirksamkeit. Am Ende des Buches deutet Kierkegaard noch einen dritten Lebensentwurf an, den religiösen. Er besteht in einer radikalen Gottesbeziehung, die das Individuum zunächst über alle Vernunft und gesellschaftliche Ordnung hinausführt. Der Ausarbeitung dieses Lebensentwurfes dient ein großer Teil des übrigen Werkes von Kierkegaard. Was hier als ‚Lebensentwurf‘ bezeichnet wurde, würde in der gegenW wärtigen Diskussion eher ‚Lebensform‘ heißen – Kierkegaard spricht auch von Stadien t auf dem Lebenswege, so der Titel eines weiteren seiner Bücher, das unter einem Pseudonym erschien. Damit ist gesagt, dass die einzelnen Lebensformen auch Phasen in einer Entwicklung sein können. So gesehen unterscheidet Kierkegaard sogar fünf Phasen: die ästhetische, die ironische, die ethische, die humoristische und die religiöse. Die beiden Zwischenphasen sind dabei als solche anzusehen, in denen eine der Hauptlebensformen quasi durch innere Problematisie-
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rung in die nächste hinüberdrängt. Der Ästhetiker wird sich schließlich selbst zum Problem, indem er im Vorgriff auf die ethische Sicht der Dinge sich und sein Treiben ironisiert. Der Ethiker wiederum wird sich mit Blick auf die Ewigkeit hinterfragen müssen, wenn er sich so entschieden an die Endlichkeit bindet. Diese ‚dialektische‘ Bewegung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keinen zwingenden Übergang zwischen den einzelnen Lebensformen gibt. Vielmehr verlangt der Übergang von einer zur anderen Lebensform den ‚Sprung‘, eine riskante Entscheidung. Kann man nun einen Schritt von einem Stadium zum anderen Stadium auf dem Lebenswege als Reifungsvorgang sehen, so ist die Bereitschaft, sich überhaupt auf den Sprung einzulassen, noch viel bedeutungsvoller, quasi eine Reifung auf der Metaebene: Lebensformen hat man nicht einfach, sie werden gewählt. Diesem Thema des Sprunges, der Wahl, der Entscheidung und damit der Freiheit ist – philosophisch gesehen – die Schrift Der Begriff Angst gewidmet. Sie ist als Gründungsdokument existentiellen Denkens anzusehen. Ist „Angst“ ein Begriff? Der Titel der Schrift sollte irritieren. Ist „Angst“ ein Begriff? Wenn Begriffe Prädikate sind, wessen Prädikat sollte „Angst“ sein? Wenn Begriffe Klassen sind, was sollte in die Klasse „Angst“ fallen? Kierkegaard hat offensichtlich für seine Schrift einen paradoxen Titel gewählt, paradox zumindest für Philosophen. Ihnen mutet Kierkegaard zu – in Erinnerung an Kants „Sein ist kein reales Prädikat“ – zumindest zu ahnen, was folgt. Angst ist ein Gefühl, eine Stimmung, eine Befindlichkeit. Kann aus der Beschäftigung mit Gefühlen etwas philosophisch Relevantes folgen? Gegen die von Hegel geprägte Vormeinung, dass Philosophie Arbeit am Begriff sei, muss zwar daran erinnert werden, dass bei englischen Philosophen von Shaftesbury über John Locke, Edmund Burke bis zu Adam Smith Gefühle bereits eine große Rolle gespielt haben. Allerdings gilt das vor allem auf dem Gebiet der Ethik und Ästhetik. Dafür jedoch, dass durch Rücksicht aufs Gefühl die Philosophie im Ganzen revolutioniert werden sollte, könnte man allenfalls Fichte als
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Vorläufer von Kierkegaard benennen. Einen Vorgeschmack dieser RevoV lutionierung bekommt man durch eine Anmerkung in der Einleitung unserer Schrift: „Daß die Wissenschaft ebensogut wie Poesie und Kunst sowohl bei dem Produzierenden als auch dem Rezipierenden Stimmung voraussetzt, daß ein Fehler in der Modulation genauso störend wie ein Fehler in der gedanklichen Entwicklung ist, das hat man in unsrer Zeit, wo man aus Freude über all die Herrlichkeit, die man zu besitzen glaubte, die Innerlichkeit und die Bestimmung der Aneignung vollkommen aus dem Gedächtnis verloren hat, ganz und gar vergessen.“ (19)1 In dieser Anmerkung wird bereits das Entscheidende angedeutet: Im Gegensatz zum Wissen der objektiven Wissenschaft wird auf das Moment der Aneignung, des Sich-zu-eigen-Machens, also der Subjektivität hingewiesen. Letzterer wird sogar umgekehrt eine konstitutive Rolle in der Erkenntnis, selbst in der Wissenschaft zugewiesen – ein Gedanke, der spät erst in Jürgen Habermas’ Erkenntnis und Interesse ausgeführt wurde. Und schließlich fällt das Stichwort „Innerlichkeit“: Mit der Thematisierung der „Stimmungen“ wird eine ganz andere Theorie des Subjektes angesprochen, als sie auf der Basis bloßer Reflexion konzipiert werden konnte. Die Subjektivität des Subjektes gründet in affektiver Betroffenheit. Die Beziehung von Angst und Erbsünde Kierkegaard ist ein religiöser Schriftsteller, und auch wenn man ihn mit philosophischem Interesse liest, sollte man sich von der theologischen Absicht des Werkes ein Bild machen. Sie ist im Untertitel der Schrift deutlich angezeigt: Kierkegaard will sich durch eine psychologische Erörterung einem Verständnis der Erbsünde nähern. Wie auch sonst nimmt Kierkegaard damit eines der anstößigen Paradoxa des Christentums ernst. Das Dogma der Erbsünde behauptet eine vorgängige Sün6 Ebd., S. 23. 7 Aristoteles, Nikomachische Ethik, in: Philosophische Schriften in 6 Bänden, Darmstadt 1995, Bd. 3, 1094 a 5. 8 Brief an Schiller, a. a. O., S. 197. 1 Kierkegaard, Søren, Der Begriff Angst, mit e. Nachw. hg. v. Uta Eichler,
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digkeit des Menschen, also eine, die grundsätzlich zu seiner Konstitution qua Mensch gehört. Diese Konstitution trägt den Namen „Angst“. Doch was ist Angst? Mit Recht stellt Kierkegaard fest: „Man findet den Begriff Angst kaum jemals in der Psychologie behandelt, ich muß deshalb darauf aufmerksam machen, daß er gänzlich verschieden ist von Furcht und ähnlichen Begriffen, die sich auf etwas Bestimmtes beziehen, während die Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist.“ (50) Die Unterscheidung von Angst und Furcht ist fundamental. Sie findet sich später ganz entsprechend in Heideggers Fundamentalontologie, also der Charakterisierung menschlicher Existenz in der Perspektive der Seinserfahrung, in seiner Schrift Sein und Zeit. Dass Angst keinen Gegenstand hat, bedeutet formal gesehen, dass sie eine nicht-intentionale Gemütsregung ist. Sie ist deshalb insbesondere kein Akt, kein Bewusstseinsakt und auch kein Seinsakt, sondern eher ein Zustand. Angst bezeichnet nicht das Was des Daseins, sondern das Wie. Dieser Zustand wird nun in der zweiten Hälfte des Zitates näher bestimmt. Es ist „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“. „Wirklichkeit“ heißt: die Weise, in der die Freiheit eine Erfahrung ist. Entscheidend ist deshalb die Bestimmung der Freiheit selbst, wenn nämlich „Angst“ der Name ihrer Erfahrung ist. An dieser Bestimmung fällt vor allem die Iteration des Möglichkeitsbegriffes auf. Für Kierkegaard ist Freiheit nicht die einfache Wahlmöglichkeit, wie sie historisch am Modell des Esels von Buridan diskutiert wurde, also die Möglichkeit, von dem rechten oder dem linken Heuhaufen fressen zu können. Freiheit ist – darin folgt Kierkegaard Sokrates’ Analyse der Freiwilligkeit in Platons Dialog Hippias Minor – vielmehr ein Zustand, in dem man sich nicht mehr einfach dem Leben überlässt und dieses oder jenes wählen könnte, sondern ein Zustand, in dem man vielmehr überhaupt entschlossen ist zu wählen. Freiheit ist deshalb quasi auf einer Metaebene angesiedelt, oder, um es im Sinne der kierkegaardschen Lehre von den Lebensformen zu sagen: Freiheit hat mit der Wahl der Lebensform zu tun und nicht mit den einzelnen Wahlmöglichkeiten innerhalb einer Lebensform. Warum aber ist die Erfahrung von Freiheit in diesem fundamentalen Sinne Angst? Die Antwort ist, um es kurz zu
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sagen: Weil sie eine Wahl ohne Orientierungsmöglichkeit ist. Sie stellt vor eine Entscheidung, die nicht durch Rationalisierungen herbeigeführt werden kann, für die keine letzten Gründe angeführt werden können, die vielmehr, wie Kierkegaard sagt, im Sprung genommen werden muss. Die Charakterisierung fundamentaler Freiheit als Möglichkeit der Wahl unter der Bedingung von Orientierungslosigkeit führt zu einer W weiteren, mehr metaphorischen Definition von Angst: „Angst ist der Schwindel der Freiheit.“ (51) Diese Charakterisierung der Angst ergibt sich aus der reichhaltigen Phänomenologie der Angst, die sich bei Kierkegaard findet, und verbindet sie mit der These, die Angst sei der Ursprung der Erbsünde. Es sei nur die Stelle zitiert, in der sich Kierkegaard mit der Angst der Kinder beschäftigt. Sie bietet sich auch deshalb an, weil mit diesem Beispiel der potentielle Übergang von Unschuld zu Schuld plausibel wird. „Wenn W man Kinder beobachtet, dann findet man diese Angst bestimmter angedeutet als ein Suchen nach dem Abenteuerlich-Märchenhaften, dem Ungeheuren, dem Rätselhaften. […] Diese Angst gehört so wesentlich zum Kind, daß es nicht darauf verzichten will; auch wenn sie ängstigt, fesselt sie es doch in ihrer süßen Beängstigung.“ (51) Angst ist nach dieser Darstellung ein hochambivalentes Gefühl, ähnlich wie der Ekel. Kierkegaard nennt sie deshalb auch eine „sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie“ (51). Aus der Angst heraus geschieht der Sündenfall. Zu dieser Auffassung gelangt Kierkegaard durch Analyse der biblischen Geschichte vom Sündenfall. Er beginnt mit der Feststellung einer Ungereimtheit. Es heißt: „Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.“ (1. Mose, 2,16f.) Wie aber soll, meint Kierkegaard, Adam das Verbot als Verbot verstanden haben können ohne die Erkenntnis des Guten und Bösen? Und ferner: Wie soll er verstanden haben können, was sterben heißt, wenn er davon nicht die geringste, auch nur indirekte Erfahrung hat? Kierkegaards Folgerung ist deshalb: „Das Verbot ängstigt ihn, weil es in ihm die Möglichkeit der Freiheit erweckt.“ (53) Nun will Kier-
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kegaard keineswegs sagen, dass das Verbot die Sünde hervorgebracht hat – dazu ist immer noch ein ‚Sprung‘ nötig. Doch es hat den Schwindel der Freiheit erzeugt, und darin liegt zumindest die ambivalente Verlockung zur Gebotsübertretung. Im Übrigen bleibt hinzuzufügen, dass nach Kierkegaard die Erbsünde nicht schlicht von Geschlecht zu Geschlecht vererbt wird, wenngleich sich mit dem historisch anwachsenden Wissen auch das Gewicht der Sünde vermehrt, sondern dass der Sündenfall sich ontogenetisch wiederholt, also jeweils in der Entwicklung des Individuums. Und schließlich, dass mit dem Sündenfall die Nacktheit entdeckt wird und von daher Sexualität intrinsisch mit Sünde verbunden ist. Existenzbegriffe Der wesentliche und, wie sich historisch erwiesen hat, für die Philosophie geradezu explosive Gehalt der Schrift erschließt sich am besten durch die Interpretation einer Stelle in dem Abschnitt „Was sind Gewißheit und Innerlichkeit?“. Die damit genannten Themen wurden bereits durch den Hinweis auf eine Anmerkung in Kierkegaards Einleitung eingeführt. An der nun zu zitierenden Stelle geht es um die Klärung dessen, was „Ernst“ ist. Dabei verwendet Kierkegaard den Ausdruck „ernst“ nicht prädikativ etwa in dem Sinne, wie man von jemandem sagt, er sei ein ernster Mann, sondern adverbial, wie es in Wendungen wie „mir ist es ernst mit der Philosophie“ oder „meinst du das ernst?“ geschieht. Die Stelle lautet: „Soweit ich weiß und mir bekannt ist, existiert keine Definition davon, was Ernst ist. Wenn das wirklich so ist, dann sollte es mich freuen – nicht weil ich das moderne fließende und ineinanderlaufende Denken, das die Definition abgeschafft hat, bevorzuge, sondern weil der Verzicht auf die Definition von Existenz-Begriffen allemal einen sicheren Takt verrät, denn man kann unmöglich geneigt sein, etwas, was wesentlich anders zu verstehen ist, was man selbst anders verstanden hat, was man auf ganz andere Weise geliebt hat, in Form einer Definition aufzufassen, wodurch es einem so leicht fremd und zu etwas anderem wird. Derjenige, der wirklich liebt, kann in der Beschäftigung mit einer
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Definition, was Liebe eigentlich sei, kaum Freude, Befriedigung, geschweige denn einen Fortschritt finden. Wer in täglichem und doch feierlichem Umgang mit der Vorstellung lebt, daß da ein Gott ist, der könnte wohl kaum den Wunsch hegen, dies sich selbst zu verderben oder verderben zu lassen, indem er selbst eine Definition von Gott zusammenflickte. So verhält es sich auch mit dem Ernst, der eine so ernste Sache ist, daß selbst eine Definition davon eine Leichtfertigkeit wäre.“ (172) Es sollte noch erwähnt werden, dass Kierkegaard wenig vorher im Text ausgeführt hat, dass umgekehrt es einem Menschen, der nicht T glaubt, wenig nützen würde, wenn man ihm die Existenz Gottes bewiese. Es fehlte das subjektive Moment, nämlich dass er das ihm vermittelte Wissen sich aneignete, dass es ihm ernst würde mit der Wahrheit, die er empfangen hat, kurz, dass er glaubte. Man sieht, dass Gaube hier nicht als ein schwächeres Wissen – wie es die Philosophie seit Platon kennt – verstanden wird, sondern als eine andere Art zu wissen. Kierkegaard führt an unserer Stelle am Beispiel des Ernstes einen neuen Typ von Begriffen ein, die Existenzbegriffe. Was es mit ihnen auf sich hat, wird zunächst nur dadurch angedeutet, dass es bei ihnen Schwierigkeiten mit der Definition geben könnte, nämlich deshalb, weil im Inhalt des Begriffes nicht das Entscheidende steckt, was sie zu Existenzbegriffen macht. Die weitere Erläuterung dieser Besonderheit gibt Kierkegaard nun, indem er auf Karl Rosenkranz’ Schrift Psychologie oder Wissenschaft vom subjectiven Geist (1837) rekurriert. Rosenkranz, ein Hegelschüler, hat sich ebenso wie Kierkegaard selbst mit hegelschen Methoden des Denkens auf die Felder konzentriert, die in Hegels Philosophie – zumindest in seinen publizierten Arbeiten – vernachlässigt wurden; hier auf den subjektiven Geist. Für diesen ist das Gefühl entscheidend, nämlich die subjektive Anteilnahme am Inhalt des Gedankens. Die Einheit von Inhalt und subjektiver Anteilnahme nennt Rosenkranz „Gemüth“. Hier die Stelle, auf die sich Kierkegaard bezieht: „Der nur fühlende Geist ist seinem Begriff unangemessen, denn das Wissen ist das wesentliche Element des Geistes. Der seiner selbst bewußte Geist ist als Geist seinem Begriff ebenfalls unangemessen, wenn er von seinem Gefühl abstrahiert und sich nur sein Selbst zum Inhalt
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macht […] Der wahrhafte Begriff des Geistes fordert vielmehr, daß das Gefühl zum Selbstbewußtsein sich aufschließe, und umgekehrt, daß der Inhalt des Selbstbewußtseins von dem Subjekt als der seinige gefühlt werde. Erst diese Einheit kann man das Gemüth nennen. Denn fehlt die Klarheit der Erkenntnis, das Wissen vom Gefühl, so existiert nur der Drang des Naturgeistes, der Turgor der Unmittelbarkeit. Fehlt aber das Gefühl, so existiert nur ein abstrakter Begriff, der nicht die letzte Innigkeit des geistigen Daseins erreicht hat, der nicht mit dem Selbst des Geistes Eines geworden ist.“2 Die für Kierkegaard entscheidende Formulierung in diesem Zitat ist, „daß der Inhalt des Selbstbewußtseins als der seinige gefühlt werde“. Es geht um die Verinnerlichung des Inhalts, um die affektive Teilnahme und die Involviertheit des Subjektes in die Inhalte seines Denkens. Ernst ist nun nach Kierkegaard eine Steigerung von Gemüt, nämlich „die erworbene Ursprünglichkeit des Gemüts“ (173). In gewisser Hinsicht ist man zwar immer in die Inhalte des eigenen Denkens involviert, aber es ist doch ein Unterschied, ob man sie zur eigenen Sache macht. Es ist ein Unterschied des Engagements. Hier nun lässt sich quasi ein Ursprung des Ernstes ausmachen. Denn man kann sich für vielerlei engagieren, doch es gibt einen Gegenstand, um den es einem immer schon geht, und das ist man selbst. Kierkegaard drückt das so aus: „[…] denn wen in Wahrheit ernst gestimmt hat, was der Gegenstand des Ernstes ist, der kann sehr wohl verschiedene Dinge – wenn man so will – ernsthaft behandeln; doch die Frage ist die, ob man zuvor durch den Gegenstand des Ernstes ernst gestimmt wurde. Diesen Gegenstand hat jeder Mensch, denn das ist er selbst […]“ (175) Nach diesen Vorbereitungen kann Kierkegaard nun doch selbst zu einer Definition des Ernstes kommen: „Die Innerlichkeit, die Gewissheit, das ist Ernst“ (176). Er fügt noch hinzu, er hätte auch gleich „Subjektivität“ sagen können, freilich sieht man, dass er dem Terminus „Subjektivität“ einen neuen Sinn gibt. Es geht nämlich dabei nicht mehr um die individuelle Abweichung vom Allgemeinen, sondern um die affektive Teilnahme an Inhalten, seien sie nun allgemein oder besonders. Diese Definition ist nun auch nicht im klassischen Sinne eine Stuttgart 1992 (Begrebet Angest. En simpel psychologisk-paapegende Overveielse i Retning af det dogmatiske Problem om Arvesynden,
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Definition, d. h., sie gibt nicht den Inhalt eines Begriffes oder Gedankens an, sondern vielmehr das Wie der Beziehung des Gedankens zum Subjekt, bzw. umgekehrt des Subjektes zum Gedanken. Diese Entdeckung, nämlich die Entdeckung der Existenzbegriffe, sollte eine Revolutionierung der Philosophie einleiten. Es war die Entdeckung von adverbialen im Unterschied zu attributiven Bestimmungen. Sie sollte zum Konzept der Seinsweisen, der Existenzialien, der subjektiven Tatsachen führen. Konsequenzen, Wirkungsgeschichte Die Wirkung Kierkegaards setzte erst im 20. Jahrhundert, genauer nach dem Ersten Weltkrieg, ein, und zwar ausgehend vom deutschen Sprachraum. Hier lagen die ersten Übersetzungen schon im 19. Jahrhundert vor, doch es bedurfte wohl erst der großen Erschütterungen durch den Ersten Weltkrieg, um für ein so radikales und neuartiges Denken wie das Kierkegaards Raum zu schaffen. Die Folgen waren in der Theologie die so genannte Dialektische Theologie Karls Barths und in der Philosophie die Existenzphilosophie Martin Heideggers, Karl Jaspers und Jean-Paul Sartres. In der Gegenwart kann man außerdem eine Spätfolge beobachten, die mit Hermann Schmitz als „Rehabilitierung der Subjektivität“ zu bezeichnen ist. Was die Dialektische Theologie angeht, so werde ich mich auf die W Konsequenzen beschränken, die sich bereits in Der Begriff Angst abzeichnen. Die Dialektische Theologie hat von Martin Luther jenes „Allein durch den Glauben“ aufgenommen und verschärft. Diese Verschärfung ist von Kierkegaard inspiriert. Wie schon aus der bisherigen Darlegung ersichtlich, hat Kierkegaard den Glauben als besondere Wissensform herausgearbeitet, bei der es weniger auf den Gegenstandsbezug als vielmehr auf das Moment der Innerlichkeit ankommt. Ein Gottesbeweis würde dem nichts nützen, der den Gottesgedanken nicht im Glauben verinnerlicht hätte. Der nächste Schritt ist, aufzuzeigen, dass es eine rationale Vermittlung Gottes überhaupt nicht gibt: Dann bleibt die Innerlichkeit, dann bleibt der Glaube an Gott allein übrig. Die paradoxe Konsequenz daraus wird dann unmissverständlich in der Abschließenden
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unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken (1846) ausgesprochen: Die Wahrheit ist die Subjektivität. „Wenn W objektiv nach der Wahrheit gefragt wird, so wird objektiv auf die Wahrheit als einen Gegenstand reflektiert, zu dem der Erkennende sich verhält. Es wird nicht auf das Verhältnis reflektiert, sondern darauf, daß es die Wahrheit, das Wahre ist, wozu er sich verhält. Wenn das, wozu er sich verhält, bloß die Wahrheit, das Wahre ist, so ist das Subjekt in der Wahrheit. Wenn subjektiv nach der Wahrheit gefragt wird, so wird subW jektiv auf das Verhältnis des Individuums reflektiert; wenn nur das Wie dieses Verhältnisses in Wahrheit ist, so ist das Individuum in Wahrheit, selbst wenn es sich so zur Unwahrheit verhielte.“3 Schon hier wird spürbar, was dann später ein intrinsisches Problem der Existenzphilosophie wird: Wenn es allein auf den Glauben ankommt, dann wird die Hingabe, das Engagement entscheidend, und das Subjekt ist ‚in der Wahrheit‘, auch wenn es einen Götzen anbetet. Entsprechend in der Existenzphilosophie: Wenn die Eigentlichkeit des Daseins in der Entschiedenheit besteht, dann kann es auch die Entschiedenheit für das Falsche sein. Die Entstehung der Existenzphilosophie kann man quasi in nuce beobachten in einer Auseinandersetzung zwischen Jaspers und Heidegger. Karl Jaspers hatte 1919 sein umfassendes Werk Psychologie der Weltanschauungen publiziert. Dieses kann als eine deskriptive Behandlung dessen angesehen werden, was bei Kierkegaard „Lebensanschauung“ heißt. So hat jedenfalls Martin Heidegger das Werk gelesen. Er war offenbar sofort davon überzeugt, dass Jaspers das behandelte, worum es nach den Erschütterungen des Weltkrieges gehen musste, doch meinte er, dass das Werk seinem Gegenstand durch die Art seiner Darstellung nicht angemessen sei. Seine Rezension, die ihn von 1919–1921 beschäftigte, geriet mit ihren etwa 30 Seiten für eine Zeitschriftenpublikation viel zu lang und blieb, nachdem Heidegger sie Jaspers 1921 zugänglich gemacht hatte, bis 1973 unveröffentlicht. Heidegger kritisierte bei Jaspers die deskriptive, also die wissenschaftliche Behandlung der Lebensformen. Die Philosophie müsse, wie es später heißt, selbst ‚existentiell‘ werden. In der Formulierung der Rezension: Kopenhagen 1844, übers. v. Gisela Perlet). Zitate werden im Folgenden durch die Angabe der Seitenzahl in Klammern nachgewiesen.
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„Eine echte Selbstbesinnung kann man sinnvoll nur freigegeben, wenn sie da ist, und sie ist da nur in einem strengen Gewecktwerden, und echt geweckt werden kann sie nur so, daß der Andere in bestimmter Weise rücksichtslos in die Reflexion hineingetrieben wird, daß er sieht, daß die Zueignung der Gegenstände der Philosophie an eine Strenge methodischen Vollzugs gebunden ist, hinter der jede Wissenschaft zurücksteht, weil in den Wissenschaften lediglich die Forderung der Sachlichkeit entscheidend ist, zu den Sachen der Philosophie aber der Philosophierende selbst und (seine) notorische Erbärmlichkeit mitgehört.“4 Man erkennt hier unschwer die kierkegaardschen Motive: den Unterschied von objektiver und subjektiver Wahrheit, das Motiv der Aneignung und der Involviertheit des Subjektes in die Inhalte der Gedanken. Was neu ist: Dieses existentielle Moment wird jetzt zum Kennzeichen W der Philosophie gemacht, der Philosophie, die die Zeit damals – darin waren sich Jaspers und Heidegger einig – erforderte. Was ferner neu ist, das ist die Forderung des appellativen Charakters im Vortrag der Philosophie. Freilich ist die Forderung, dass „der Andere in bestimmter Weise rücksichtslos in die Reflexion hineingetrieben“ werden soll, ein – wohl hier durch Kierkegaard vermitteltes – Erbe des Sokrates, das sich krass abhebt von der Verwissenschaftlichung der Philosophie, wie sie sich von Hegel bis Husserl vollzogen hatte. Auch die „notorische Erbärmlichkeit“ des Menschen ist ein kierkegaardscher Topos. Bei ihm charakterisiert sie die Endlichkeit menschlichen Daseins im Spiegel der Unendlichkeit Gottes. Bei Heidegger wird sie dann – ohne Gott – zu einer inneren Struktur menschlichen Daseins: Im Text von 1919 heißt sie „Bekümmerung“, in Sein und Zeit 1927 „Sorge“. „Der Existenzsinn ist, auf seinen Ursprung und seine genuine Grunderfahrung hin verfolgt, gerade der Seinssinn, der nicht aus dem ‚ist‘ des spezifisch kenntnisnehmend explizierenden und dabei irgendwie objektivierenden ‚ist‘ gewinnbar wird, sondern aus der Grunderfahrung des bekümmerten Habens seiner selbst.“5 Heidegger nimmt Kierkegaards Rede von den Existenzbegriffen auf, 2 Rosenkranz, Karl, Psychologie oder die Wissenschaft vom subjectiven Geist, Königsberg 21843, S. 322. 3 Kierkegaard, Søren, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den
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die ein Wie des Seins bestimmen, und stellt hier erstmals die Frage nach dem ‚Sinn von Sein‘. In ihrer Beantwortung kommt er in Sein und Zeit zur Unterscheidung von Seinsweisen – Vorhandenheit, Zuhandenheit, Dasein –, wobei dann die Seinsweise des seienden Menschen als Sorge bestimmt ist: Dass es ihm in seinem Sein um sein Sein selbst geht. Das ist dann die explizite Formulierung für die Struktur, die im Text von 1919 „bekümmertes Haben“ heißt. Die Begriffe, mit Hilfe derer dann dieses Seiende Mensch, das den Titel Dasein trägt, bestimmt werden, sind durchweg Existenzbegriffe und heißen deshalb „Existenzialien“. In ihrem Zentrum stehen die Existenziale der Jemeinigkeit und der Eigentlichkeit, mit Hilfe derer Heidegger Kierkegaards Begriffe der Aneignung und der Subjektivität reformuliert. Die Existenziale sind grundsätzlich nur Möglichkeiten, in deren Spektrum der Mensch erst jeweils bestimmt, was er eigentlich ist. Damit ist aufgegeben, überhaupt von einem Wesen des Menschen zu sprechen. Vielmehr gilt der Vorrang der Existenz vor der Essenz. Diese Sicht des Menschen, die sich formal schon in Heideggers Sein und Zeit findet, wird dann von Jean-Paul Sartre verschärft zu der These, dass der Mensch sein Wesen in Freiheit hervorbringt. W Eine weitere, nun schon vermittelte, aber doch sehr plausible Folge von Kierkegaards Konzept der Existenzbegriffe und der These „Die Wahrheit ist die Subjektivität“ ist die Rehabilitierung des Subjektiven6, wie W sie sich in der Neuen Phänomenologie vollzogen hat. Hermann Schmitz definiert Philosophie als das „Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung“7. Da das Sichbesinnen immer Anlässe hat, nämlich Anlässe der Beunruhigung, geht in das, was auf diesem Wege entdeckt wird, immer ‚affektive Betroffenheit‘ ein. Damit ist realiW siert, was Heidegger in der Jaspers-Rezension von 1919 gefordert hat, nämlich dass „zu den Sachen der Philosophie der Philosophierende selbst“ gehört: Die Phänomene der Neuen Phänomenologie sind vorPhilosophischen Brocken, in: Gesammelte Werke, 16. Abt., I. Teil, Düsseldorf 1957, S. 190. 4 Heidegger, Martin, Wegmarken W , in: Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt/Main 21996, S. 42. 5 Ebd., S. 30.
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zugsweise solche der Tautegorie8 ‚es geht um mich‘, also Angst, Schreck, leibliches Sich-Spüren. Sie werden dann als ‚subjektive Tatsachen‘ bezeichnet. Dies sind nicht Tatsachen, die inhaltlich in irgendeiner Weise besonders sein müssten oder gar singulär, ‚ineffabile‘, vielmehr ist für das Unternehmen der Phänomenologie gerade entscheidend, dass man sich über solche Tatsachen intersubjektiv verständigen kann. Doch erfahren werden sie in ihrer Subjektivität jeweils nur von einem Individuum, das dann auch allein autorisiert ist, sie auszusprechen. Es sind Erfahrungen, in denen jeweils zugleich mitgegeben ist, dass ich es bin, der in dieser oder jener Weise davon betroffen ist. Dabei kann es sich um Gefühle handeln, aber auch um leibliche Regungen wie Hunger und Durst, dabei handelt es sich schließlich um alle Tatsachen, die in leiblichem Spüren gegeben sind. Man müsste deshalb sagen, dass sie nach Kierkegaard durch Existenzbegriffe beschrieben werden. Hermann Schmitz selbst bestimmt ihre Besonderheit jedoch in Reverenz vor der Sprachanalytischen Philosophie folgendermaßen: „Ein Sachverhalt (ggf. eine Tatsache) ist ‚subjektiv‘, wenn höchstens ‚einer‘, und zwar nur im eigenen Namen, ihn aussagen kann, während die Anderen zwar mit eindeutiger Kennzeichnung [der Sachverhalt, den Hermann Schmitz jetzt mit den Worten ‚ich bin traurig‘ darstellen könnte] darüber sprechen, aber nie und nimmer das Gemeinte aussagen können. Subjektiv sind zunächst einmal die Sachverhalte (Tatsachen) des affektiven Betroffenseins, darüber hinaus aber alle Tatsachen des Soseins irgendwelcher Subjekte (das heißt Bewußthaber) […]; denn es handelt sich dabei um sie selber, und niemand ist sich selbst ganz
6 Titel der Festschrift für Hermann Schmitz, hg. v. Michael Großheim u.
gleichgültig, als ob sein affektives Betroffensein ausfallen könnte, wenn es um sein Sosein geht.“9
Charles Sanders Peirce: How to Make
our Ideas Clear
andreas hetzel
Charles Sanders Peirce’ 1877/78 erschienene Aufsätze The Fixation of Belief (Die Festlegung einer Überzeugung) und How to Make our Ideas Clear (Wie unsere Ideen zu klären sind) können mit gutem Recht als Gründungsdokumente des amerikanischen Pragmatismus bezeichnet werden, einer Denkrichtung, der neben Peirce auch noch William James und John Dewey zugerechnet werden. „Der Pragmatismus ist dabei, zur führenden philosophischen Position des 20. Jahrhunderts zu werden“ (6.501)1, sollte Peirce im Jahr 1906 notieren und weitgehend recht behalten. Doch der Pragmatismus hat nicht nur innerhalb der neueren Philosophie Karriere gemacht; auch Einzelwissenschaften wie die Linguistik, die Soziologie oder die Pädagogik haben in den letzten Jahrzehnten eine „pragmatische Wende“ vollzogen. Die Kernthese der beiden Texte, die ursprünglich zwei Kapitel eines von Peirce geplanten Buches bilden sollten, kann in einer ersten Annäherung auch als Kernthese des Pragmatismus gelten: Wenn wir die Bedeutungen von Vorstellungen oder Zeichen klären wollen, müssen wir darauf achten, zu welchen Handlungen sie uns veranlassen. Jedem Bedeutungsunterschied korrespondiert ein Unterschied in der Praxis. Das Wesen der Dinge erschließt sich uns nur über ihre praktischen WirkunW Hans-Joachim Waschkies, Bonn 1993. 7 Schmitz, Hermann, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 5. 8 Mit diesem Ausdruck bezeichnet Jean François Lyotard das eine Vorstellung begleitende Gefühl. 9 A. a. O., S. 6. 1 Peirce’ Texte werden nach der folgenden einschlägigen Ausgabe (sofern sie darin aufgenommen sind) zitiert: Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Volume I–VIII, ed. Charles Hartshorne, Paul Weiss and Arthur W. Burks,
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gen; die Dinge sind in gewisser Weise nichts anderes als das, was sie tun, und was wir mit ihnen tun können. Die Pragmatisten behaupten also einen Primat der Praxis über die Theorie. Doch hierin erschöpfen sich auch schon die Gemeinsamkeiten. Wie bei allen philosophischen „Ismen“ ist auch bei der Verwendung des „Pragmatismus“ eine gewisse Vorsicht angebracht. Hinter dem einen Label verbergen sich viele heteV rogene Denkstile und Erkenntnisinteressen. Unter „Pragmatismus“ kann man eine Methode der Klärung von Begriffen verstehen, eine Lebensphilosophie, eine Kosmologie, eine Wissenschaftstheorie, eine Semiotik oder, was am weitesten verbreitet ist, eine bestimmte Weltanschauung, die sich mit Schlagwörtern wie Aktivismus, Ideologiefreiheit, Durchsetzung des Stärkeren usw. verbindet. Zu dieser weltanschaulichen Rezeption haben insbesondere James und Ferdinand Canning Scott Schiller beigetragen, die Peirce’ Intuitionen popularisiert und in einen praktikalistischen Nützlichkeitskult verwandelt haben. James und Schiller ignorieren insbesondere den semiotischen und wissenschaftsphilosophischen Hintergrund, vor dem Peirce seine pragmatistische Erkenntnistheorie entfaltet hat. Sie dekontextualisieren die peircesche Behauptung eines Primates der Praxis und blenden die entscheidende Frage danach, welcher Praxis denn ein Primat worüber zukommt, aus. Peirce selbst zog daraus die Konsequenz, sich vom Pragmatismus zu distanzieren. Er entschließt sich um 1905, „seinem Kind den Abschiedskuss zu geben und es seiner höheren Bestimmung zu überlassen, während er [gemeint ist hier Peirce selbst als ‚der Erfinder‘ des Pragmatismus, A. H.] zu dem präzisen Zweck, die ursprüngliche Definition auszudrücken, die Geburt des Wortes ‚Pragmatizismus‘ zur Kenntnis zu nehmen bittet, das hässlich genug ist, um vor Kindesräubern sicher zu sein“ (5.414). Wir stehen also vor der paradoxen Situation, dass der Gründervater des Pragmatismus selbst kein Pragmatist sein möchte. Peirce’ Denken unter die Kategorie des Pragmatismus zu subsumieren, erklärt in der Tat nur wenig. Mein Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte. Zunächst widme ich mich kurz der peirceschen Semiotik und der Logik, ohne die seine spezifische Ausformulierung eines pragmatistischen Forschungsprogramms nicht verstanden werden kann. Der zweite Abschnitt schließ-
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lich rekonstruiert den Gedankengang von The Fixation of Belief und How to Make our Ideas Clear. Abschließend gebe ich einen Ausblick auf die neuere Rezeptionsgeschichte der peirceschen Philosophie. Semiotik und Logik Peirce gilt nicht nur als Gründervater des Pragmatismus, sondern auch als Begründer der modernen Semiotik und – eng damit verbunden – der modernen Logik. In den vergangenen beiden Jahrzehnten kam es zu einer Akzentverschiebung des akademischen Interesses vom Pragmatisten zum Semiotiker Peirce. Es gibt aber abgesehen von dieser Akzentverschiebung noch einen weiteren Grund, der es nötig macht, sich vor der Lektüre von The Fixation of Belief und How to Make our Ideas Clear der semiotischen und logischen Grundlagen des peirceschen Denkens zu vergewissern. Jeder Gebrauch der Vernunft und jeder Weltzugang überhaupt vermittelt sich aus der Sicht des amerikanischen Philosophen über Zeichen. Löst man die pragmatistische Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, die Bedeutungen im Rekurs auf Handlungen zu klären trachtet, aus diesem semiotischen Rahmen, der in How to Make our Ideas Clear nur implizit präsent ist, dann verwandelt sich der Pragmatismus nur zu schnell in eine reflexionsfeindliche Lebensphilosophie, in einen von Peirce selbst denunzierten Praktikalismus der Lebensdienlichkeit, für den etwa James oder, in der Gegenwartsphilosophie, Richard Rorty stehen. In welche politisch bedenklichen Folgen ein solcher Praktikalismus führen kann, lehrt uns das Beispiel Ferdinand Canning Scott Schillers, des Hauptvertreters des englischen Pragmatismus. Beeinflusst von der Evolutionstheorie Darwins und der pragmatistischen Philosophie seines Freundes William James bemüht sich Schiller um ein dem Leben dienliches Denken. Schiller fordert dabei eine Ersetzung der fformalen Logik durch eine ‚Biologik‘, in der sich dasjenige als wahr erweisen soll, was sich im Lebenskampf durchsetzt. Schillers Biologismus korrespondieren eine antidemokratische Grundhaltung und eine eugenische Gesellschaftsutopie. Politisch stand der späte Schiller dem britischen Faschisten Oswald Mosley (1896–1980) nahe. Die Praxis, um die es dem peirceschen Pragmatismus zu tun ist, lässt sich demgegenüber
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gerade nicht als blinde Praxis oder gar als vorreflexives Leben verstehen. Die Geltung eines Arguments wird von Peirce an keiner Stelle seines umfangreichen Werkes mit einer abstrakten Lebensdienlichkeit kurzgeschlossen. Peirce entwickelt seine Semiotik im Zuge einer Auseinandersetzung mit der kantischen Kategorienlehre. Er übersetzt bereits in den frühen sechziger Jahren Kants Transzendentale r Deduktion der Kategorien sowie die ersten vier Kapitel der aristotelischen Kategorienschrift. Weiterhin studiert er in dieser Zeit Trendelenburgs Geschichte der Kategorienlehre (1846). Im Rückblick auf diese Zeit schreibt Peirce: „Ich war ein leidenschaftlicher Verehrer Kants, wenigstens was die Transzendentale r Analytik in der Kritik der reinen Vernunft anbetrifft. Ich glaubte unbedingt an die zwei Tafeln der Urteilsfunktionen und der Kategorien, als wenn sie vom Sinai hergebracht worden wären.“ (4.2) Doch nach und nach distanziert er sich von Grundannahmen der kantischen Philosophie. Kants Unterscheidung von a priori und a posteriori ersetzt er durch die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem und verwirft ganz explizit das Programm der Transzendentalphilosophie. Der kantischen These, dass es transzendentale Elementarbegriffe gebe, die nicht aus der Zusammensetzung durch andere Begriffe erklärt werden können, hält Peirce entgegen, dass alle Begriffe in unendlicher Weise mit anderen Begriffen verflochten seien. Jeder Begriff oder Gedanke ist immer auch der Begriff oder Gedanke eines anderen Begriffs oder Gedankens. Er bleibt darauf angewiesen, von anderen Gedanken oder Begriffen interpretiert zu werden und besteht selbst in nichts anderem als der Interpretation anderer Gedanken. Gedanken werden von Peirce mit anderen Worten als Zeichen gedeutet. Die Gesamtheit der Zeichen bildet für Peirce einen relationalen Kosmos, der sich nicht hierarchisch strukturieren lässt. Jedes Zeichen ist in einer Vielzahl von Dimensionen auf andere Zeichen bezogen und damit auch in sich unendlich komplex. Kategorien bedeuten für Peirce keine letzten, apriorischen Erkenntnisformen des Verstandes, sondern mögliche Hinsichten der Verknüpfung von Zeichen. Im Gegensatz zu Kant, bei dem die Verstandes-Kategorien strikt voneinander isoliert sind, bilden die peirceschen Kategorien, wie er sie 1867 in On a New List of
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Categories erstmals andeutet und in späteren Texten in immer neuen Anläufen weiterentwickelt, einen unauflöslichen Verweisungszusammenhang. Zum Kriterium für eine mögliche Kategorientafel werden für Peirce die möglichen Relationen zwischen Zeichen, von denen er drei unterscheidet: monadische, dyadische und triadische. Entsprechend dieser drei Zeichenrelationen hebt Peirce drei korrespondierende menschliche Vermögen und drei Welten voneinander ab. Die Welt der vorpropositionalen Wahrnehmung oder der Erstheit ist durch einstellige Zeichenrelationen gekennzeichnet. Man müsste diese einstelligen Zeichenrelationen streng genommen als relationslose Relationen fassen, als pure Faktizität oder unbestimmte Dassheit, die jeder Unterscheidung vorausgeht. Peirce nennt sie auch „ein Gefühl ohne ein Selbst“ (2.85). Die Welt des Bewusstseins oder der Zweitheit setzt demgegenüber bereits die Fähigkeit zur Bildung von Prädikationen voraus. Sie ist durch die Erfahrung einer Widerständigkeit von Objekten charakterisiert, durch das Entgegentreten einer Außenwelt. Die Welt der Drittheit oder der Abstraktion schließlich wird von Peirce als Welt vollständiger Sätze begriffen, die eine zweistellige Prädikation, eine Aussage über etwas in der Welt, mit dem Autor dieser Aussage vermitteln. Ohne die peircesche Kategorientafel hier näher explizieren zu können, ist der Hinweis entscheidend, dass die Kategorien nicht hierarchisch, sondern relational aufeinander bezogen sind. Die Erstheit wird nicht ontologisch gegenüber der Zweitheit und Drittheit ausgezeichnet. Peirce weist vielmehr darauf hin, dass die Erstheit nur aus der Perspektive der Zweitheit und Drittheit als solche angesprochen werden kann. Vordiskursive Facta bruta können mit anderen Worten nur innerhalb eines InterpretaF tionskontextes als solche angesprochen werden. Gleichzeitig ist auch die Zweitheit, die Möglichkeit der Prädikation, immer schon auf die Drittheit, das Vermögen der Vermittlung, verwiesen, während die Drittheit wiederum nur als Interpretation der Erstheit und Zweitheit Bestand hat. Peirce selbst drückt das wie folgt aus: „Erstheit ist das, was so ist, wie es eindeutig und ohne Beziehung auf irgend etwas anderes ist. Zweitheit ist das, was so ist, wie es ist, weil eine zweite Entität so ist, wie sie ist, ohne Beziehung auf etwas Drittes. Drittheit ist das, dessen Sein darin besteht, daß es eine Zweitheit hervorbringt. Es gibt keine Vier-
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theit, die nicht bloß aus Drittheit bestehen würde.“2 Die semiotischen Kategorien sind also vollständig durcheinander vermittelt: „Da alle drei stets gegenwärtig sind, ist es unmöglich, eine reine Idee von irgendeiner von ihnen zu haben, die absolut von den anderen unterschieden ist.“3 Die Kategorien bilden keine transzendentalen Schemata, welche die Bewegung der Zeichen von außen präformieren, sondern fallen zusammen mit den Zeichen und ihren Relationen selbst. „Die universalen Kategorien gehören zu jedem Phänomen, wobei vielleicht die eine in einem Aspekt des Phänomens vorherrschender ist als eine andere, aber sie gehören alle zu jedem Phänomen.“ (5.43) Auf der Grundlage seiner Kategorienlehre entwickelt Peirce nach und nach eine semiotische Erkenntnistheorie. In seinen Questions Concerning Certain Faculties Claimed for Man (1868) fasst er diese Erkenntnistheorie programmatisch in vier Verneinungen zusammen: „1. Wir haben kein Vermögen der Introspektion, sondern alle Kenntnis der inneren Welt ist durch hypothetisches Schlußfolgern aus unserer Kenntnis äußerer Fakten abgeleitet. 2. Wir haben kein Vermögen der Intuition, sondern jede Erkenntnis wird von vorhergehenden Erkenntnissen logisch bestimmt. 3. Wir haben kein Vermögen ohne Zeichen zu denken. 4. Wir haben keinen Begriff von einem absolut Unerkennbaren.“ (5.265) Aus diesen Verneinungen folgt letztlich ein Universalitätsanspruch der Semiotik: „Alles Denken geschieht in Zeichen“ und „jeder Gedanke ist ein Zeichen“ (5.253). Alle kognitiven Probleme erweisen sich für Peirce als Probleme semiotischer Interaktion. Peirce transformiert die mentalistische, von Descartes und Kant ausgehende Bewusstseinsphilosophie zu einer semiotischen Philosophie. Die Hauptaufgabe, vor der er nun steht, ist die Explikation der verschiedenen Dimensionen des Zeichens. Peirce entwickelt eine berühmte und richtungsweisende Typologie des Zeichens, die allerdings so komplex ist, dass ihre Darstellung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Die Radikalität der peirceschen Semiotik wird besonders deutlich, wenn man den Bruch betont, der sie von allen neueren Varianten einer Cambridge Mass. 1931–1958. Wie in der Peirce-Forschung üblich, steht die Zahl vor dem Punkt für die Bandnummer, die Zahl nach dem Punkt für die Seitenzahl. 6.501 bedeutet also Collected Papers, Bd. 6, S. 501. Die
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Sprechakttheorie trennt. In der Sprechakttheorie, wie sie exemplarisch von John Searle ausformuliert wurde, bedient sich ein der Sprache vorgängiges Subjekt sprachlicher Äußerungen, um mit ihnen bestimmte Bedeutungen und Intentionen zu transportieren. Das Verhältnis von Subjekt und Zeichen wird von Peirce ganz anders gedacht. Der Mensch bedient sich des Zeichens hier gerade nicht als eines Werkzeugs der Bedeutungsübertragung. Ein Sprecher gebraucht die Worte nicht ‚von außen‘, sondern ist letztlich selbst mit dem Gebrauch seiner Worte identisch. Die traditionelle, instrumentalistische Auffassung sprachlichen Handelns charakterisiert Peirce wie folgt: „Der Mensch schafft das Wort, und das Wort bedeutet nichts, das der Mensch es nicht bedeuten läßt, und das wiederum nur für irgendeinen Menschen.“ (5.313) Gerade diese Position kritisiert er aber, wenn er fortfährt: „Aber da der Mensch nur mit Hilfe von Wörtern oder anderen äußeren Symbolen denken kann, könnten diese umgekehrt sagen: ‚Du meinst nichts, was wir Dich nicht gelehrt haben, und also nur insoweit etwas, wie Du Dich an irgendein Wort als den Interpretanten Deines Gedankens wendest.‘“ (5.313) Ein Gedanke macht nur dann Sinn, wenn er auf ein Wort als seine mögliche Äußerungsform verweist. Gedanken sind nur deshalb Gedanken, weil sie von – realen oder hypothetischen – Worten interpretiert werden, die wiederum in Handlungskontexte eingebettet sind. Kein Gedanke wäre somit ‚rein‘, vor seiner sprachlichen und pragmatischen Einbettung gegeben. Die Möglichkeit, geäußert werden zu können und sich in konkreten Handlungssituationen zu bewähren, ist bereits dem Gedanken wesentlich. Nur vom aktualen Wort her lässt sich der Gedanke rückwirkend begreifen. Peirce behauptet, „daß es kein Element des menschlichen Bewußtseins gibt, dem nicht etwas im Wort entspricht; und der Grund dafür ist augenfällig. Es ist der, daß das Wort oder Zeichen, das der Mensch gebraucht, der Mensch selbst ist.“ (5.314) Ich bin mit anderen Worten nichts anderes als das Gesamt meiner Äußerungen; erst von meinen Äußerungen her werde ich rückwirkend als Zeichen äußernde Instanz sichtbar. Peirce fasst zusammen: „So ist meine Sprache die Gesamtheit meiner selbst.“ (5.314) Das Subjekt der Sprache geht seinen Äußerungen nicht einfach voraus, sondern konstituiert sich mitten in ihnen. Das Subjekt fungiert in der peirceschen Se-
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miotik also nicht als transzendentales Subjekt der Sprache, sondern als retroaktiver Effekt seines eigenen Sprechens. Peirce’ Werk war nicht nur bahnbrechend für die Entstehung der Semiotik, sondern auch für die Entwicklung der modernen Logik. Peirce erweitert die boolesche Logik zu einer Relationenlogik, in der die Inklusion als zentrale logische Operation fungiert, auf die sich alle anderen Relationen wie Gleichheit, Addition und Multiplikation zurückführen lassen. Die Logik bildet für Peirce einen Teil der Semiotik. Er definiert „Logik“ als „Wissenschaft von den Symbolen“4 oder als die „Untersuchung der Zeichen“5. Für das Schlussfolgern bedeutet dies, das „alles Schließen […] die Interpretation einer Art von Zeichen“6 ist. Peirce bemüht sich seit seiner ersten Harvard-Vorlesung von 1865 darum, die Logik wieder als Wissenschaft des Wortes zu definieren. Er macht es sich zum Ziel, „unseren Logos vom Abstrakten auf das Konkrete zu bringen, vom Absoluten auf das Abhängige. Es gibt keine Wissenschaft der Absoluta. Der metaphysische Logos ist für uns nicht mehr als die metaphysische Seele oder die metaphysische Materie. Der absoluten Idee oder dem Logos korrespondiert das abhängige oder relative Wort.“7 Das einzige Absolute, das Peirce in der Logik zulässt, ist das aktuale, gesellschaftlich situierte und inhaltlich gesättigte Sprechen selbst. Diese semiotische Wende hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis des logischen Schließens. Zeichen können aus der PerspekV tive des semiotischen Pragmatismus nie isoliert betrachtet werden, sondern werden immer schon durch andere Zeichen interpretiert und interpretieren selbst wiederum andere Zeichen. Da alles Schließen mit einer Interpretation von Zeichen einhergeht, öffnet sich zwischen den Zeichen ein Freiheitsspielraum des Verstehens. Zeichen rufen andere Zeichen nie in einer deterministischen Weise hervor. Jedes Zeichen gibt Übersetzung von How to Make our Ideas Clear und The Fixation of Belief folgt f der Ausgabe: Charles S. Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. Karl-Otto Apel, übers. v. Gert Wartenberg, Frankfurt/Main 1991. 2 Peirce, Charles Sanders, Phänomen und Logik des Zeichens, hg. u. übers. v. Helmut Pape, Frankfurt/Main 1983, S. 55. 3 Ebd. 4 Peirce, Charles Sanders, Erste Harvard-Vorlesung (MS 340, März 1865), in:
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einem anderen Zeichen etwas zu verstehen. Dieses Verstehen eröffnet einen Abstand, der den Einbruch einer neuen Erfahrung möglich macht. So wie alles Schließen auf ein Zeichenhandeln verweist, muss für Peirce umgekehrt auch jedes Zeichen als ein Schluss begriffen werden. Ganz explizit definiert er das Schließen als Handlung mit Zeichen.8 Er repragmatisiert die Logik und zieht daraus die Konsequenz, nicht mehr die Deduktion, sondern die Abduktion, nicht den notwendigen, sondern den hypothetischen Schluss ins Zentrum der Logik zu stellen. Das abduktive Schlussfolgern besteht nicht in der Umsetzung eines Codes, im formalen Operieren, sondern in einem nie vollständig gedeckten Vorgriff, für den ich gleichwohl Verantwortung übernehmen kann. Einen „Satz aussagen heißt“ insofern, „für ihn die Verantwortung übernehmen“ (5.543). Verantworten kann ich überhaupt nur etwas, das sich dem Scheitern aussetzt, so wie ich sinnvollerweise nur etwas versprechen kann, was nicht notwendig eintreten wird. „Keine Kommunikation“, so führt Peirce aus, „kann absolut bestimmt sein“ (5.506). „Schlußfolgern“ bedeutet für Peirce insofern immer „mehr als die bloße Anwendung einer allgemeinen Regel auf einen besonderen Fall“ (2.620). „Die Logik wurzelt“ insgesamt „im sozialen Prinzip“ (2.654). Semiotik und Logik lassen sich für Peirce nicht trennen. Für den Pragmatisten gibt es keine reine Logik. Auch Prämissen und Konklusionen akzeptieren wir nur dann, wenn wir bereit sind, unser Handeln nach ihnen auszurichten. Die Gültigkeit einer Konklusion erweist sich darin, dass wir sie handelnd anerkennen. Handeln können wir nicht aufgrund von apodiktischen Gewissheiten, sondern nur aufgrund von Hypothesen. Ein Handeln vor dem Hintergrund einer absoluten Gewissheit wäre dagegen ein bloßes Operieren. Pragmatismus Die Grundgedanken des als erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Programm verstandenen Pragmatismus werden von Peirce erstmals in sechs Artikeln vorgetragen, die unter dem Titel Illustrationen zur Logik der Wissenschaft vom November 1877 an in der Zeitschrift Popular P ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, hg. u. übers. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape, Frankfurt/Main 1986, 87–105, hier: S. 102.
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Science Monthly erscheinen. Besonders bekannt geworden sind die ersten beiden dieser Artikel, Die Festlegung einer Überzeugung und Wie unsere Ideen zu klären sind. Diese beiden Aufsätze wurden von Peirce im Jahr 1903 noch einmal zusammengezogen und unter dem gemeinsamen Titel Mein Plädoyer für den Pragmatismus veröffentlicht. Da die Texte einen engen Verweisungszusammenhang bilden, gehe ich zunächst auf Die Festlegung einer Überzeugung ein. Der Aufsatz hebt an mit der Frage, was es ganz allgemein bedeutet, Schlüsse zu ziehen. Peirce verweist darauf, dass uns die Fähigkeit zu logischem Schließen nicht in die Wiege gelegt wurde, sondern dass sie erlernt werden muss. Die Fähigkeit, folgerichtig zu schließen, ist „eine lange und schwierige Kunst“ (5.359). Die mittelalterliche Scholastik trug dieser Schwierigkeit noch nicht wirklich Rechnung. Sie begriff die Logik als etwas leicht zu Erlernendes und ließ sie im Bildungsprogramm der Jugend gleich auf die Grammatik, gleichsam den Grundschulunterricht, folgen. Das „fundamentale Prinzip“ der scholastischen Logik bestand aus der Sicht von Peirce darin, „daß alle Erkenntnis entweder auf Autorität oder Vernunft beruht, dass aber, was auch immer durch die Vernunft abgeleitet wird, letztlich von einer Prämisse abhängt, die von der Autorität stammt“ (5.359). In der Mitte des 13. Jahrhunderts werde der Primat der Autorität der biblischen Offenbarung über die Vernunft von Roger Bacon in Frage gestellt. Roger Bacon ersetze die Autorität durch die Erfahrung, meine damit aber vor allem eine innere Erfahrung, die nach dem Modell einer religiösen Erleuchtung verstanden werden kann, womit nicht viel gewonnen sei. Erst vier Jahrhunderte später entwickelt der andere Bacon, Francis Bacon, einen Erfahrungsbegriff, der zu einer ernsthaften Bedrohung für das Konzept der Autorität werden sollte. Francis Bacon definiert Erfahrung als etwas, „das der Verifikation und wiederholten Prüfung standhalten muß“ (5.361). Peirce würdigt die Verdienste Bacons für die Konstitution der neuzeitlichen Epistemologie, weist aber auch auf spezifische Beschränkungen seines Ansatzes hin. Bacon reduziere Wissenschaft auf Experimente, die Auswertung ihrer Ergebnisse und die Suche nach einer diese Ergebnisse synthetisierenden Regel. Für die von ihm anvisierte Grundlegung der Wissenschaft des Schlie-
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ßens benötigt Peirce also Schützenhilfe von einer anderen Seite. Er findet sie bei großen Wissenschaftlern, etwa bei Kopernikus, Tycho Brahe, Kepler, Galilei, Harvey und Gilbert, die sich in ihrer Forschungspraxis keineswegs an das forschungstheoretische Programm Bacons hielten, sondern ausgehend von ihren Beobachtungen ständig ihr Forschungsdesign modifizierten. Für Peirce zeichnet sich die wissenschaftliche Praxis durch einen konstitutiven Überschuss gegenüber der Wissenschaftstheorie aus. Jedes bedeutende wissenschaftliche Werk sei „ein Zeugnis des mangelhaften Zustands des Denkens der Zeit, in der es geschrieben wurde“ (5.363). Fortschritte in der Wissenschaft interpretiert Peirce als Fortschritte trotz der oder gar gegen die jeweils zeitgenössische Wissenschaftstheorie. Als Beispiel hierfür erwähnt er Lavoisier, dessen Weg darin bestand, „den Verstand mit ins Laboratorium zu nehmen und buchstäblich aus Destillierkolben und Retorten Instrumente des Denkens zu machen“ (5.363). Von hier aus wandelt sich nun auch das Verständnis der Logik, die zu einer Forschungslogik, mithin zu einer materialen Wissenschaft, transformiert wird. Lavoisier demonstrierte „eine neue Auffassung vom schlußfolgernden Denken als etwas, das mit offenen Augen zu geschehen hat und bei dem man mit wirklichen Dingen anstatt mit Worten und Einbildungen hantiert“ (5.363). Es sind also in gewisser Weise die Tatsachen selbst, die unser Schlussfolgern bestimmen. Das Problem des gültigen Schließens liegt für Peirce „in den Tatsachen und nicht im Denken“ (5.365). Die Logik als Lehre vom Schlussfolgern wandelt sich somit von einer formalen in eine materiale Wissenschaft. Das Schlussfolgern dient für Peirce generell dazu, ein altes philosophisches Problem zu lösen: Wie komme ich vom Zustand des Zweifels zu dem des Überzeugtseins oder, in der Sprache der antiken Philosophie, von der doxa zur episteme? Peirce fragt nach dem Unterschied von Zweifel und Überzeugtsein und gibt ein praktisches Kriterium zu ihrer Unterscheidung an: „Überzeugungen leiten unsere Wünsche und formen unsere Handlungen.“ (5.370) Während der Zweifel eher desorientierend wirkt, befähigt uns eine Überzeugung zu einer bestimmten Handlung. Dass uns die Überzeugung zu bestimmten Handlungen befähigt, macht sie wesentlich aus. Hier zeichnet sich bereits der leitende
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Gedanke des Pragmatismus ab. In den Worten von Peirce: „Das Gefühl des Überzeugtseins ist ein mehr oder weniger sicheres Anzeichen dafür, daß sich in unsere Natur eine gewisse Verhaltensgewohnheit eingerichtet hat, die unsere Handlungen bestimmen wird.“ (5.371) Von etwas überzeugt zu sein, bedeutet also nichts anderes, als dass wir geneigt sind, in bestimmten Situation in bestimmter Weise zu handeln. Der Zweifel wird nun nicht einfach nur gegenüber der Überzeugung abgewertet, sondern bildet selbst eine unumgängliche Voraussetzung des Schlussfolgerns. Ohne Zweifel würde überhaupt kein Forschungsprozess in Gang kommen. Der Zweifel darf, soll der Forschungsprozess in Gang bleiben, nie zu einem Ende kommen, sollte aber andererseits auch nie totalisiert werden. Peirce lässt nur einen „wirklichen und lebendigen Zweifel“ (5.375) zu, der sich auf ein konkretes Problem richtet, und wendet sich gegen den im schlechten Sinne abstrakten methodischen Zweifel des Descartes, der schlichtweg alles in Frage stellen wollte. Als Ziel jeder Forschung beschreibt Peirce die Festlegung einer Überzeugung. Er unterscheidet vier historische Paradigmen der Festlegung von Überzeugungen, vier Methoden, mit denen wir zu festen Überzeugungen gelangen können. Die erste Methode nennt er die „Methode der Beharrlichkeit“. Man könnte diese Methode am einfachsten als Starrköpfigkeit charakterisieren. Zu einer festen Überzeugung kann ich dadurch kommen, dass ich einfach auf meiner Meinung beharre. Das geht mit bestimmten Vorteilen einher; es lässt mich zum Beispiel in gewissen Situationen als vergleichsweise souverän erscheinen. Der entscheidende Nachteil besteht allerdings darin, dass mich das Beharren auf der eigenen Meinung langfristig gesehen isoliert. Jeder Mensch kann sehen, dass sich seine Meinungen von denen anderer unterscheiden; ein „Trieb der Gemeinschaft“, der den Menschen als solchen auszeichnet, wird ihn immer dazu motivieren, seine eigenen Einschätzungen bestimmter Sachverhalte mit denen anderer abzustimmen. Peirce ist ein entschiedener Verfechter des Vorrangs der Intersubjektivität vor dem Subjekt. Er schreibt an anderer Stelle: „Zunächst sind Deine Nachbarn in einem gewissen Maß Du selbst; und zwar in einem viel größeren Ausmaß, als Du das ohne tiefschürfende psychologische Studien glauben würdest. In
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Wirklichkeit ist das Selbst, als das Du dich verstehst, die vulgärste Täuschung der Eitelkeit.“ (7.571) Die „Methode der Beharrlichkeit“ lässt sich also nicht konsistent durchhalten. Die zweite Methode, die Peirce erwähnt, trägt diesem Umstand Rechnung. Peirce nennt sie „Methode der Autorität“. Sie bezieht sich nicht mehr nur noch auf den Einzelnen, sondern auf die Festlegung der Überzeugungen in einer Gemeinschaft. Bestimmte theologische und politische Überzeugungen können durch pure Machtausübung für verbindlich erklärt werden. Peirce erwähnt hier Terror, Folter und Inquisition als Mittel der Meinungsbildung. Doch auch diese Methode kommt schnell an ihre Grenzen. Den autoritären Staaten, Kulturen und Religionen stellt sich das gleiche Problem wie den Einzelnen: An ihren Grenzen werden sie auf die Relativität ihrer jeweiligen Doktrinen verwiesen. Darüber hinaus ist keine Institution in der Lage, „alle Ansichten über jedes Thema zu regulieren“ (5.381). Die dritte Methode zur Festlegung von Überzeugungen nennt Peirce „A priori Methode“ oder einfacher „Metaphysik“. Sie versucht, ohne Rekurs auf Macht, bestimmte fundamentale Axiome der Vernunft miteinander in Einklang zu bringen. Peirce unterstellt der Metaphysik, dass ihr Erkenntnisideal letztlich ein ästhetisches sei, nämlich das der Harmonie. Die Gültigkeit einer Überzeugung hänge hier letztlich von einem Geschmacksurteil ab, vom Wohlgefallen an der internen Kohärenz von Satzsystemen. Beobachtbare Tatsachen werden demgegenüber ignoriert. Erst die vierte Methode, die Methode der Wissenschaft, stellt ein Verfahren zur Verfügung, mit dem wir Überzeugungen in einer wirklich verbindlichen Weise festlegen können. Die Wissenschaft versteht Peirce als intersubjektive und öffentliche Praxis der Überprüfung von Hypothesen. Sie zeichnet sich gegenüber den drei anderen Methoden durch zwei entscheidende Vorteile aus. Wissenschaft lässt erstmals die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Aussagen zu. Eng damit verknüpft ist die Verwiesenheit von Wissenschaft auf eine Idee von Realität. Die grundlegende Hypothese der Wissenschaft lautet: „Es gibt reale Dinge, deren Eigenschaften völlig unabhängig von unseren Meinungen über sie sind; dieses Reale wirkt auf unsere Sinne nach regelmäßigen Gesetzen ein, und […] so können wir […] durch schluß-
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ffolgerndes Denken mit Sicherheit feststellen, wie die Dinge wirklich und in Wahrheit sind; und jeder, wenn er hinreichende Erfahrung hätte und genug darüber nachdächte, wird zu der einen einzig wahren Konklusion geführt werden.“ (5.384) Zwei Dinge sind hier zu beachten: der Konjunktiv im letzten Satz des Zitats und der Status der Hypothese, den Peirce der gesamten Aussage zuspricht. Realität ist aus der Perspektive des Pragmatismus nicht einfach gegeben, sondern bildet einen Horizont oder eine regulative Idee des Forschungsprozesses. Wir nähern uns ihr in the long run und immer nur gemeinsam an. Realität hat insofern eher den paradoxen Status einer „letzten Meinung“, als dass sie einfach unseren Meinungen in einem ontologischen Sinne vorausginge. 1877 unternimmt Peirce eine vor allem astronomischen Studien gewidmete Reise nach Europa. Während der Überfahrt, also auf hoher See, entsteht die Abhandlung How to Make Our Ideas Clear. Peirce schreibt den Text zunächst auf Französisch, da er zusammen mit The Fixation of Belief auch in der Revue Philosophique erscheinen sollte, einer Zeitschrift, in der Peirce häufiger veröffentlichte und die, wie wir heute wissen, regelmäßig von Friedrich Nietzsche gelesen wurde, der sich wahrscheinlich von seinem amerikanischen Kollegen in der einen oder anderen Hinsicht hat inspirieren lassen. Wie unsere Ideen zu klären sind knüpft an Die Festlegung einer Überzeugung an. Auch hier geht es um mögliche Methoden zur Klärung von Bedeutungen. Unklare oder verworrene Ideen können, sofern man sich in sie verrennt, ein ganzes Leben scheitern lassen. Peirce greift in diesem Sinne eine Forderung von Descartes auf, die bereits im Titel seiner Abhandlung anklingt: Philosophie muss die verworrenen Vorstellungen der Menschen in klare und distinkte (oder deutliche) Vorstellungen überführen. Peirce fragt nun nach den Kriterien, die Descartes für klare und deutliche Vorstellungen angibt. Klar ist eine Idee für Descartes dann, wenn sie mit keiner anderen verwechselt werden kann, und deutlich ist sie, wenn sie „nichts enthält, das nicht klar ist“ (5.390). Diese mehr oder weniger tautologische Unterscheidung wird von Peirce als trivial und unzureichend zurückgewiesen. Er wendet sich nun Leibniz zu, um enttäuscht festzustellen, dass dieser den menschlichen Geist als eine Maschine konzipiert, die in sich
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geschlossen bleibt und sich allenfalls nur selbst bestätigen kann. Auch Leibniz’ Denken erschöpfe sich im „Analysieren von Definitionen“, durch das „niemals etwas neues […] gelernt werden kann“ (5.392). Im zweiten Abschnitt des Textes wechselt Peirce die Argumentationsebene. Heute würden wir sagen: Er nähert sich der Frage, wie Ideen zu klären sind, phänomenologisch, indem er beobachtet, wie wir in einer alltäglichen Situation de facto eine Idee klären. Als Beispiel dient ihm eine triviale Entscheidungssituation. Ein Passagier in der Pferdebahn möchte für die Fahrt zahlen. Er findet in seiner Geldbörse ein 50–CentStück und fünf 10–Cent-Stücke, die beide jeweils als Bezahlung ausreichen würden. Für einen Moment zögert er: „Bilder passieren in schneller Folge durch das Bewußtsein, eines schmilzt unaufhörlich in das andere, bis wir uns zuletzt, wenn alles vorüber ist – das kann im Bruchteil einer Sekunde, in einer Stunde, nach langen Jahren sein –, entschlossen finden, wie wir unter den Umständen, die unser Zögern veranlassten, handeln sollen. Mit anderen Worten: Wir sind zu einer Überzeugung gekommen.“ (5.394) Die Überzeugung tritt hier also im Gefolge einer Entscheidung oder Handlung auf, sie fungiert als nachträgliche Rechtfertigung der Entscheidung. Wir „finden“ sie eher als dass wir sie aktiv herstellen. Peirce zielt mit seinem phänomenologischen Beispiel auf eine gewisse Unwillkürlichkeit des Entscheidens und auf den holistischen Charakter von Entscheidungssituationen. Er vergleicht das Denken mit einem „Melodiefaden, der durch die Folge unserer Empfindungen läuft“ (5.395). Die Überzeugung kann er dann mit einer „Kadenz“ parallelisieren, die eine musikalische Phrase abschließt. Das bedeutet aber zugleich, dass nicht alles im Denken von Überzeugungen getragen sein kann, sondern dass der Zweifel für das Denken, insbesondere für seinen zeitlichen Verlauf, ebenso konstitutiv ist. Die „Tätigkeit des Denkens“ wird durch „den Reiz des Zweifels“ ausgelöst und kommt in der Überzeugung zum Erliegen. Während der Zweifel eher für die Kontinuität des Bewusstseins steht, markiert die Überzeugung eine Diskontinuität. Sie steht in gewisser Weise außerhalb des Denkprozesses: „Das Denken in Aktion hat als einziges mögliches Motiv, das Denken zur Ruhe zu bringen, und was nicht auf eine Überzeugung verweist, ist kein Teil des
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Denkens selbst.“ (5.396) Gleichzeitig bildet aber jede Überzeugung, sobald sie wirklich in ein Handeln überführt wird, den Ausgangspunkt für neue Zweifel und stößt somit tendentiell einen neuen Denkprozess an. Wie lässt sich eine Idee oder Überzeugung nun genauer beschreiben? Die Antwort hatte Peirce in Die Festlegung einer Überzeugung bereits angedeutet. Er führt sie nun weiter aus. Eine Idee oder Überzeugung ist nichts anderes als der Ausgangspunkt einer möglichen Praxis: „Das Wesen der Überzeugung ist die Einrichtung einer Verhaltensweise, und verschiedene Überzeugungen unterscheiden sich durch die verschiedene Art der Handlungen, die sie hervorbringen.“ (5.398) Insgesamt haben Überzeugungen also drei Eigenschaften: Wir sind uns ihrer bewusst, sie bringen einen Zweifel zur Ruhe und sie ermöglichen es uns zu handeln. Peirce betont nun insbesondere diesen letzten Punkt und erweitert ihn zu einer sinnkritischen Bedeutungstheorie. Der zureichende Grund jeder Unterscheidung im Denken liegt nur in dem, was an dieser Unterscheidung praktisch relevant ist. Der Unterschied der Bedeutung wird so zu einem potentiellen Unterschied der Praxis. Wir besitzen einen klaren Begriff der Sache erst dann, wenn wir ihre Wirkungen erkennen. Die wahrnehmbaren Wirkungen einer Sache sind die Zeichen, anhand derer die Sache erkannt wird: „Es gibt keinen Bedeutungsunterschied, der so fein ist, daß er in etwas anderem als einem möglichen Unterschied in der Praxis bestünde.“ (5.400) Die Gültigkeit oder Wertigkeit von Zeichen wird von Peirce nicht weiter über ihre Angemessenheit an eine außersprachliche Realität oder eine überzeitliche Wahrheit bestimmt. Ein Zeichen gewinnt seine Bedeutung vielmehr erst durch die Handlungen, zu denen es uns motiviert und in deren Kontext es steht. Bereits 1871, in seiner Rezension der Werkausgabe Berkeleys, hatte Peirce diese sinnkritische Bedeutungstheorie antizipiert. Um die „Tücken der Sprache zu vermeiden“, empfiehlt Peirce hier folgende Strategie: „Erfüllen Dinge praktisch dieselbe Funktion? Dann bezeichne sie mit demselben Wort. Erfüllen sie sie nicht? Dann unterscheide sie.“ (8.33) In Wie unsere Ideen zu klären sind heißt es parallel dazu: „Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in unserer Vorstellung
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zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes.“ (5.402) Im Folgenden versucht Peirce, das sinn- und metaphysikkritische Potential dieses Arguments auszuschöpfen, indem er es auf verschiedene Beispiele bezieht. Das erste, von Peirce-Interpreten häufig angeführte Beispiel ist die Eigenschaft der Härte, die wir irgendeinem Gegenstand zubilligen. Peirce versucht hier zu zeigen, dass sich hinter dieser Härte nichts anderes verbirgt als die Tatsache, dass der als hart charakterisierte Gegenstand nicht von anderen Gegenständen geritzt werden kann. Ähnliches gilt für die abstraktere Entität der Kraft. Kraft ist keine für sich bestehende Entität, sondern erschöpft sich „völlig in ihren Wirkungen“ (5.403). Selbst für ein so allgemeines Konzept wie das der Realität soll die pragmatische Maxime ihre Gültigkeit erweisen. Auch Realität gibt es nicht an sich, außerhalb praktischer Kontexte, sondern sie definiert sich über ihre Wirkungen. Die Wirkungen der realen Dinge bestehen nun aber gerade darin, dass sie Überzeugungen verursachen und Ideen zu klären helfen und zwar in kompetenterer Weise als Beharrlichkeit, Macht und Metaphysik. Peirce stößt nun zum Kerngedanken seiner Wissenschaftsphilosophie vor. Realität wird als regulative Idee expliziert, als Horizont, auf den hin die Anstrengungen der Wissenschaftler langfristig gesehen konvergieren. Dem Konzept der Realität ist insofern das Prinzip Hoffnung eingeschrieben. Macht diese Definition die Realität aber nicht abhängig von dem, was über sie gedacht wird? Wie könnte uns eine solche relative Realität noch dabei helfen, unsere Ideen zu klären? Peirce’ Antwort auf diesen Einwand lautet, „daß die Realität nicht notwendig vom Denken im allgemeinen unabhängig zu sein braucht, sondern nur davon, was Du oder ich oder eine begrenzte Anzahl von Menschen über sie denken“ (5.408). Realität gibt es aus seiner Sicht nicht für den Einzelnen, sondern nur in der Perspektive der Vielen. Sie vermittelt sich über unsere Kommunikationen, über unseren Zeichengebrauch. Peirce argumentiert letztlich indirekt für die Realität des Realen. Realität ist das, was wir als Möglichkeit immer schon in Anspruch genommen haben müssen, wenn wir überhaupt versuchen, unsere Ideen zu klären, wenn wir uns mit anderen Worten auf den Prozess der Forschung einlassen.
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Die metaphysik- und sinnkritische Methode einer Klärung von Bedeutungsunterschieden durch einen Verweis auf Unterschiede der Praxis darf nicht mit einer Reduktion von Bedeutung auf Praxis verwechselt werden. Peirce warnt in einem Aufsatz aus dem Jahr 1905 ganz ausdrücklich vor diesem Missverständnis, dem einige seiner Schüler erliegen: „Es würde den Tod des Pragmatizismus bedeuten, wenn er wirklich das Handeln zum ein und alles des Lebens machen würde. Denn zu sagen, daß wir bloß um der Handlung als Handlung willen leben, ohne Rücksicht auf den Gedanken, den sie ausführt, würde heißen, daß es so etwas wie einen rationalen Bedeutungsgehalt nicht gibt […]. Bedeutung ist aber unzweifelhaft allgemein und [… hat] die Natur eines Wortes oder Zeichens.“ (5.429) Vom Pragmatismus zur postanalytischen Philosophie Als Begründer der modernen philosophischen Semiotik hat Peirce anregend auf ganze Generationen von Zeichentheoretikern gewirkt, als deren prominenteste Vertreter Charles W. Morris und Umberto Eco angeführt werden können. Die Dekonstruktion Jacques Derridas hat den von Peirce artikulierten Universalitätsanspruch der Semiotik radikalisiert und zu einem allgemeinen Textbegriff erweitert. Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas knüpfen an die pragmatistische Wissenschaftsphilosophie an. Sie erweitern die von Peirce herausgearbeitete regulative Idee, die jeder wissenschaftlichen Forschung zugrunde liegt: die Konvergenz der divergierenden Meinungen in the long run, zu einer allgemeinen Philosophie des Konsenses. Nicht nur die wissenschaftliche, sondern jede Kommunikation ist für Apel und Habermas nur möglich vor dem Hintergrund der regulativen Idee eines herrschaftsfreien Konsenses. Die postanalytische amerikanische Gegenwartsphilosophie, zu deren wichtigsten Vertretern Hilary Putnam, Richard Rorty, Stanley Cavell und Robert Brandom gerechnet werden können, bemüht sich in verschiedenen Hinsichten um ein tieferes Verständnis der peirceschen Grundthese von der Handlungsabhängigkeit sprachlicher Bedeutungen.
Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut
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marc rölli
„Pathetisches Heroenbild. So bildet ihn die marmorne Lüge, die pittoreske Legende: ein trotzig gerecktes Heldenhaupt, hohe wölbige Stirn, zerklüftet von düstern Gedanken, niederwuchtende Welle des Haares über gespanntem, auftrotzendem Nacken. […] Der VercingetorixSchnurrbart männisch über herben Mund und das vorgestoßene Kinn stürzend, zeigt den barbarischen Krieger, und unwillkürlich denkt man sich zu diesem muskelkräftigen Löwenhaupt eine germanische Wikingergestalt mit Siegschwert, Hifthorn und Speer. So, zum deutschen Übermenschen […] gewaltsam übersteigert, lieben es unsere Bildhauer und Maler, den Einsamen im Geiste darzustellen, um ihn einer kurzgläubigen Menschheit anschaulicher zu machen […].“1 Diese Sätze stammen aus der Feder von Stefan Zweig, der im Leben und Denken Nietzsches einen „Kampf mit dem Dämon“ zu erkennen glaubt. Zweig reagiert mit seiner polemischen Karikatur auf gewaltige Zeittendenzen. Besser gesagt, er schwimmt mitten in ihnen – im Nachtrab der expressionistischen Mode der Jahrhundertwende, die in Nietzsche und seiner im Zarathustra psalmodierenden Sprache den Zerstörer moralischer Werte und den Visionär einer neuen Lebensunmittelbarkeit sieht. Ernst Bertram, der – aus dem George-Kreis stammend – 1918 eine „mythologische Biographie“ Nietzsches verfasst hat, sieht ganz ähnlich das Dämonische in Nietzsches „Selbstentrückung in den auflösenden Wahn […]. Eine Opfermaske des großen Allebendigen, ‚das nach Flammentod sich sehnet‘, weil es aus der Flamme stammt; das im Feuerrausche siegreich ‚in den Gott zurück tritt‘, aus dem es kam.“2 5 Peirce, Charles Sanders, Logik als die Untersuchung der Zeichen (1873), in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, a. a. O., 188–190, hier: S. 188.
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Bereits wenige Jahre nach Nietzsches „Selbstentrückung“, die ihn in den Händen von Mutter und Schwester in – wie sollte es anders sein – völliger Umnachtung zurücklässt, regt sich der „deutsche Geist“. Er beginnt damit, Nietzsche zu verstehen – und d. h. auch: er beginnt damit, Nietzsche eine öffentliche Anerkennung zu geben, die sich dieser Zeit seines wachen Lebens sehnsüchtig, aber vergebens gewünscht hat. Das hätte ihm Halt gegeben. Denn so falsch es ist, seinen „Wahnsinn“ als direkte Konsequenz dionysischer Selbstauflösung anzusehen, als Schicksal eines Denkens, das sich dazu versteigt, alle bergenden Schutzdiskurse über den Haufen zu werfen, genauso falsch ist es, sich mit einer bloß medizinischen Erklärung zufrieden zu geben. Dabei hat sich Nietzsche weniger Jünger erträumt, die wie die Tiere um den persischen Propheten herumstehen, sondern Resonanzen, spürbare Reaktionen auf sich und seine Texte, die nicht altbekannte, sondern wagemutige neue Gedanken enthalten, und von daher wenigstens als Provokationen eine Wirkung erwarten durften. Dass sie ausblieb, das hat Nietzsche nach 1887 immer schriller werden lassen. Ein Buch jagt das nächste, bis Nietzsche im Januar 1889 in Turin auf der Straße zusammenbricht. Und hiermit erfüllen sich die Bedingungen für die erste Rezeptionswelle. Man nimmt sich die schrillen Töne und die grellen Farben zu Herzen und geht damit der Selbstinszenierung Nietzsches auf den Leim, der seine Weltfremdheit gerne mit objektiven Notwendigkeiten erklärt hat – die Krankheit und das Klima, die Universität und der Freigeist, das seichte Plätschern und die stürmischen Wasserfälle, kurz: fromme Lämmer und blonde Bestien, die in einsamen Höhlen hausen. Gefährliches Denken Jenseits von Gut und Böse, heute vielleicht Nietzsches erstgenannter Klassiker der Philosophie, erscheint im Jahr 1886. Das Buch entsteht nach dem Zarathustra, der ihn in eine ziemlich ausweglose Situation gebracht hat: die Schrift findet keine Leser, die Verlagshäuser zeigen Nietzsche die kalte Schulter. Hatte seine Frühschrift über die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) – in kleinen akademischen Zusammenhängen – philologisches Aufsehen erregt und die vier essayistisch ver-
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fassten U Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876) noch einen gewissen Kredit im Umkreis Wagners, bei alten „Schulfreunden“ und Studienkollegen, so werden die in regelmäßigen Abständen nachfolgenden Aphorismenbände (1878–1882) zunehmend ignoriert bzw. als bloß erbauliche Texte wahrgenommen. Mit Also sprach Zarathustra schlägt Nietzsche dann einen anderen Ton an. Er signalisiert: Ich habe etwas zu verkünden! – und wählt die dichterische Form einer mythologisierenden Parodie auf das Evangelium. Man kann nicht behaupten, dass er damit mehr Glück gehabt hat. Tatsächlich vergreift er sich nicht nur im Ton, sondern vergrault noch die letzten seiner Leserinnen. Der vierte T und letzte Teil erscheint 1885 als Privatdruck, in einer geringfügigen Auflage für wenige auserlesene Freunde. Ab jetzt wird Nietzsche den Druck seiner Bücher selbst finanzieren müssen. Der Verlag C. G. Naumann in Leipzig erklärt sich bereit, die Konkursmasse seiner Bücher zu verwalten und druckt – gegen ein entsprechendes Honorar – Jenseits von Gut und Böse. Mit diesem Buch beginnt einiges anders zu werden. Nietzsche rückt von der streng aphoristischen Schreibweise und von der mythologischen Maskerade ab. Volker Gerhardt schreibt mit einigem Recht, dass Nietzsche mit Jenseits von Gut und Böse „seinen entschiedenen Übergang zum philosophischen Denken“ vollzieht.3 W Was im Zarathustra noch nicht klar ausgesprochen, sondern verhüllt und in Gleichnissen gesagt wurde, findet nun seine philosophische Ausdrucksform. Nietzsche will sich verständlich machen, wenn es schon nicht anders geht. Und damit hat er gewissermaßen Erfolg. Spätestens 1890 verbindet sich mit dem Namen Nietzsche eine ebenso philosophische wie literarische Sensation. Sein nomadisches Leben, das in ein pathologisches Rätsel ausläuft, macht sein mehr und mehr gepriesenes Werk umso geheimnisumwitterter. Es steigert die Nachfrage. Wie gesagt, der deutsche Geist beginnt sich zu regen. Und es ist der radikale Gestus, der schon im Titel von Jenseits von Gut und Böse buchstäblich wird, der in der Folgezeit seinen Ruhm begründet. Auf den August 1881 datiert Nietzsche in seiner autobiographischen 6 Peirce, Charles Sanders, Die Kunst des Räsonierens. Kapitel II (1893), in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, a. a. O., 191– 201, hier: S. 191. 7 Peirce, Charles Sanders, Erste Harvard-Vorlesung, a. a. O., S. 96.
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Schrift Ecce Homo (1888) den Entwurf der philosophischen „Grundconception“ des Zarathustra, die seinem Selbstverständnis nach in den folgenden Büchern in philosophischer Prosa entfaltet wird. „Die Grundconception des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung […].“4 Blättert man in den nachgelassenen Schriften zu dem angegebenen Zeitraum, so findet man den Gedanken von der Wiederkunft des Gleichen in wesentlichen Grundzügen skizziert.5 Wir können mit Nietzsche davon ausgehen, dass die impliziten Wahrheiten dieser „Grundconception“ in der Folgezeit genauer entfaltet werden. In Jenseits von Gut und Böse wird der begriffliche Zusammenhang nachvollziehbar, der die ewige Wiederkunft in ein philosophisches Gesamtkonzept einbindet. Ab Juni 1885 schreibt Nietzsche an seinem neuen Werk. Und nur knapp zehn Monate später sitzt er bereits an der Reinschrift. Ein großer Teil des Textes entsteht den Winter über in Nizza. Im August 1886 erT scheint es und wird bald darauf vom Berner Bund rezensiert. Nietzsche jubelt. Sein Buch wird mit Dynamit verglichen. In fast allen Briefen der nächsten Wochen zitiert er diesen Passus.6 Nietzsche wollte ein gefährlicher Denker sein. Vielleicht ist es nicht übertrieben zu sagen, dass dieser Wille seine eigentliche Gefahr und Selbstverführung darstellt. Diese Gefahr illustriert die von Nietzsche gern verwendete Gedankenfigur von der Ausnahme und der Regel: die Ausnahme leidet unter der Regel, ihr Leiden erhält so einen „Sinn“. Auf diese Weise interpretiert er seine missliche Lage als „verstoßener“ Intellektueller. Der Ausnahmemensch muss demnach die tiefsten Tiefen durchwandern, um die höchsten Höhen zu erklimmen etc. Noch ein Wort zur Gliederung von Jenseits von Gut und Böse. Das Buch 8 Peirce, Charles Sanders, Kurze Logik. Kapitel I (1895), in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, a. a. O., 202–230, hier: S. 218f. 1 Zweig, Stefan, Der Kampf mit dem Dämon, Leipzig 1925, S. 238–239. 2 Bertram, Ernst, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 21922 (zuerst Leipzig 1918), S. 362–363. 3 V Vgl. Gerhardt, Volker, „Philosophie als Schicksal“, Nachwort in: Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Stuttgart 1988, S. 223–238, hier S. 231. 4 Nietzsche, Friedrich, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v.
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enthält neun Kapitel oder „Hauptstücke“, dazu eine Vorrede und einen Nachgesang. Gemäß seines formalen Aufbaus zerfällt es in zwei Teile: das vierte Hauptstück – „Sprüche und Zwischenspiele“ – trennt die ersten drei und die letzten fünf Kapitel. Im ersten Teil geht Nietzsche mehr konstruktiv und systematisierend vor und schafft sich eine theoretische Grundlage für die im zweiten Teil mehr aphoristisch präsentierten Überlegungen. Die Grundthese des Buches besagt, dass die Philosophie der Zukunft eine nicht dogmatische, sondern perspektivisch gebrochene und darüber reflektierte Philosophie jenseits von gut und böse sein muss. Das Element des Dogmatischen, von dem Nietzsche in der Vorrede spricht, ist mit einem moralischen Vorurteil gleichzusetzen, das sich im Gegensatz von gut und böse artikuliert. Moralische Vorurteile der Philosophen Zur Entlarvung der moralischen Voraussetzungen im abendländischen Denken unternimmt Nietzsche im ersten Hauptstück, das „von den Vorurtheilen der Philosophen“ handelt, eine „psychologische“ RedukV tion: Das bedeutet konkret, dass in einer Vielzahl traditioneller philosophischer Denkansätze – von Platon über die Stoa bis hin zu Descartes, Spinoza, Kant, den Idealisten und Schopenhauer – dogmatische Prämissen nachgewiesen werden. Diese Prämissen weisen moralische Qualifikationen auf, wenn sie, wie Nietzsche demonstriert, auf ihre impliziten Entstehungsbedingungen, und d. h. auf den in ihnen latent wirksamen Willen zur Macht zurückgeführt werden. Generell ist es der laut Nietzsche „metaphysische“ und unhinterfragte Glaube an die Wahrheit, der zum Problem erhoben werden muss. Moralisch ist dieser W Glaube, weil er unterstellt, dass die menschliche Vernunft prinzipiell geeignet ist, an der Wahrheit zu partizipieren – und dass der Weg dahin mit der Realisierung ihres guten W Wesens korrespondiert. Moralisch ist dieser Glaube weiter, weil er dem Wahren einen unbedingten objektiven Status zuweist – und gerade deshalb seinen Bezug auf den Willen zur Macht als seine genetische Instanz strukturell verleugnet. Entsprechend bedeutet Nietzsches Kritik an der veritativen Urteilsform nicht, dass er eine weitere neue Fundamentalphilosophie der Tradition entge-
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gensetzt, die nun endlich zur Wahrheit fähig ist. Vielmehr ist es so, dass „falsche“ Urteile rehabilitiert werden, nämlich als die einzig möglichen Urteile. Der Maßstab der Rehabilitierung richtet sich aus an der „Lebensdienlichkeit“ oder besser: an der Lebensbejahung.7 Im zweiten Hauptstück wiederholt Nietzsche den im ersten Kapitel gegebenen Aufriss und gibt bereits zwei Anwendungen auf die Moraltheorie und ihre Geschichte. Das variierte Grundthema betrifft den Willen zur Macht als Prinzip aller wirkenden Kraft in unserer „Welt der Begierden und Leidenschaften“, sodass es möglich ist, „unser gesamtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist“.8 Nietzsche spricht hier von der einen Grundform in dem spezifischen Sinne, dass die „Willens-Causalität“ als die einzige Form von Kausalität zu gelten hat: „‚Wille‘ kann natürlich nur auf ‚Wille‘ wirken – und nicht auf ‚Stoffe‘ (nicht auf ‚Nerven‘ z. B.).“ (55) Es handelt sich um die ideelle Bestimmung von Kräften, die einen im kantischen Sinne problematischen Wert hat, weil sie nicht befugt ist, der Natur ihre Gesetze vorzuschreiben. Gleichwohl liegt sie jeder Erfahrung zugrunde, und zwar in einem genetischen oder wie Nietzsche sagen würde: „psychologischen“ Sinn. Diese ‚Realität‘ steht also zweifellos hinter der Welt der Phänomene, aber nicht so, dass sie sich von dieser abtrennen ließe. Sie besitzt keine Existenz außerhalb ihrer Wirkungen. In ihr artikulieren sich die „lebenfördernden […] Instinkt-Thätigkeiten“, die mit bestimmten Wertschätzungen („der Glaube an die Gegensätze der Werte“) einhergehen, die „bei all ihrer regulativen Wichtigkeit für uns, doch nur VordergrundsSchätzungen sein [könnten], wie sie zur Erhaltung von Wesen, wie wir sind, noth thun mag. Gesetzt nämlich, dass nicht gerade der Mensch Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, hier Bd. 2, S. 325; im Folgenden zitiert als KSA. KSA VI, 335–336. 5 KSA IX, 494ff. 6 V Vgl. Krummel, Richard Frank, Nietzsche und der deutsche Geist, Berlin/New Yorkk 1974, S. 58. Der Rezensent ist Joseph Victor Widmann. In einem Brief an Overbeck vom 12.10.1886 schreibt Nietzsche etwa: „Der Satz lautet ungefähr: ‚jene Dynamitvorräte, die beim Bau der Gotthardbahn verwendet wurden, führten die schwarze, auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge‘.“
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das ‚Maass der Dinge‘ ist …“ (17–18). Die von Nietzsche ins Spiel gebrachte Perspektiven-Logik spekuliert notwendig auf eine Realität, die entstellt, verzerrt, in Ausschnitten gesehen wird usw. Entscheidend ist aber, dass es keine Realität unabhängig von irgendwelchen Perspektiven geben kann, sodass die Begrenzung einer Perspektive stets nur relativ auf andere Perspektiven möglich ist. Diese Logik impliziert somit in ihrer reflektierten Form ein differentielles Prinzip, das ohne die Feststellung außerperspektivischer Entitäten auskommt. Dieses Prinzip ist der Wille zur Macht, das einer Perspektiven-Optik entspricht, die mit dem Begriff einer „wahren Welt“ nichts anfangen kann. Mit diesen Überlegungen kommt Nietzsche auf seinen Ausgangspunkt zurück. Die „Irrthümlichkeit der Welt“ ist das Grundfaktum, das nur unter Zuhilfenahme moralischer Überzeugungen weggefälscht wurde. Nur scheinbar verfügt die menschliche Vernunft von Rechts wegen über die Kompetenz, aus den Lebensräumen der Endlichkeit und Vergänglichkeit empor und hinaus zu steigen. Den Philosophen der Vergangenheit rechnet Nietzsche diese „moralische Naivetät“ an. Von hier aus wendet sich Nietzsche dezidiert dem Phänomen der V Moral zu. Sie wird grundsätzlich unter Nihilismus-Verdacht gestellt, weil ihre Haupttypen im Dienst der Religion das diesseitige Leben zugunsten einer vermeintlich wahren, göttlichen Welt abwerten. Mit dieser Überlegung tritt Nietzsche an. Allerdings verkompliziert sie sich, je genauer man hinsieht. Noch im zweiten Hauptstück (50–52) präsentiert Nietzsche einige geschichtsphilosophische Thesen über die vormoralische und die moralische Periode der Menschheit, die zuletzt in einer außermoralischen auslaufen soll, die sich aus der „Selbstüberwindung der Moral“ ergibt. Dieses quasi dialektische Schema bestimmt die Moral zwar erwartungsgemäß als ein Phänomen des Übergangs – und nimmt doch in der Figur der Selbstaufhebung auf einen innerhalb der Moralität liegenden Wahrheitsgehalt Bezug. Nietzsche unterscheidet verschiedene Moral-Typen, indem er sich auf philosophische und religiöse Traditionen aller Art bezieht. Als exemplarischen Typus der moralischen Periode stellt er die „Absichten-Moral“ heraus, die mit einer neuen Subjektivierungsform zusammengeht. Nietzsche denkt hier vor allem an die im Christentum einsetzende Gewissens-Befragung. Die
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Umwendung der moralischen Wertsetzung weg von den Folgen einer Handlung hin zu deren Absichten installiert ein verantwortlich handelndes Individuum, das seine Selbstmächtigkeit aus der höheren moralischen Position heraus gewinnt, mit der es sich und seine Neigungen misstrauisch beargwöhnt. Im Zuge dieser Bildung eines hintergründigen Blicks auf die eigene Vordergrund-Existenz diagnostiziert Nietzsche „eine erhebliche Verfeinerung des […] Maasstabs, die unbewusste Nachwirkung von der Herrschaft aristokratischer Werthe und des Glaubens an ‚Herkunft‘“ (50). Hiermit wird eine Doppeldeutigkeit sichtbar. Zwar bekämpft Nietzsche die in den verschiedenen Moralen auf unterschiedliche Weise zu beobachtenden nihilistischen Tendenzen, nämlich die profanen Regungen der Willen zur Macht einem Prozess der Verneinung, Läuterung und Verklärung zu unterziehen. Andererseits aber befürwortet er die Entwicklung einer psychologischen Perspektive, einen Willen zur Wahrheit, der zuletzt die Einsicht in den fiktionalen Status der Wahrheitsidee sowie in die Willensnatur seiner selbst gewinnt. Daraus ergibt sich für die „Kritik der Modernität“, die Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse durchführt: dass es nicht mit einer Rückwendung auf die „vornehme Seele“ getan ist, sondern in der Zukunft ein Ausweg aus den nihilistischen Lebensumständen gewonnen werden muss. Nietzsche schreibt dazu mit Blick auf die konservativen Kulturkritiker seiner Zeit: „Man soll […] diesen skeptischen Anti-Wirklichen und Erkenntnis-Mikroskopikern von heute Recht geben: ihr Instinkt, welcher sie aus der modernen Wirklichkeit hinwegtreibt, ist unwiderlegt, – was gehen uns ihre rückläufigen Schleichwege an! Das Wesentliche an ihnen ist nicht,t dass sie ‚zurück‘ wollen: sondern, dass sie – weg wollen. Etwas Kraft, Flug, Muth, Künstlerschaft mehr: und sie würden hinaus wollen, – und nicht zurück!“ (24) Nihilismus und ewige Wiederkunft Im dritten Hauptstück widmet sich Nietzsche einer in seinem Sinne „psychologischen Kritik“ des religiösen Wesens. Er begreift sie als Teilstück einer philosophischen Geschichte der menschlichen Seele, die als „Subjekts-Vielheit“ und „Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ ge-
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fasst wird (27). Mit diesem Seelenbegriff stellt er sich in die Tradition eines epikuräischen Sensualismus, der sich vom Glauben an den Augenschein – wie er sich etwa in dem ebenso metaphysischen wie common sense-gesteuerten Bedürfnis nach letzten Einheiten und Atomen artikuliert – frei gemacht hat. Für Nietzsche ergibt sich dabei zunächst, dass der christliche Glaube „Opferung“ ist: „Selbstmord der Vernunft“, „Opfferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit des Geistes; zugleich Verknechtung und […] Selbst-Verstümmelung“ (66). Es ist „die tiefe argwöhnische Furcht vor einem unheilbaren Pessimismus […], die Furcht jenes Instinktes, welcher ahnt, dass man der Wahrheit zu früh habhaft werden könnte, ehe der Mensch […] Künstler genug geworden ist“, die „ganze Jahrtausende“ zwingt, „sich mit den Zähnen in eine religiöse Interpretation des Daseins zu verbeissen“ (78). Was hat nun diese Furcht vor dem Pessimismus mit der Opferung des W guten profanen und machtbewussten Lebens zu tun? Die Antwort ist leicht: Die heimlich gefürchtete Sinnlosigkeit des Leidens wird durch die Erfindung eines Sinns, eines anderen Lebens, eines gerechten und buchhalterischen Gottes abgewehrt. Diesen Sachverhalt illustriert Nietzsche am Beispiel des Heiligen. Der Heilige ist getrieben von seinen [zugegeben sublimen, nicht „niederen“] Begierden, nämlich als höheres Wesen zu erscheinen. Zu diesem Zweck nimmt er im Zeichen des asketischen Ideals jede nur erdenkliche Mühsal auf sich. Eine so ansetzende Psychologie des Heiligen ist aber nur möglich, so Nietzsche, wenn man den Glauben an die Herrschaft der Moral aufgekündigt hat. Andernfalls liest und deutet man unwillkürlich „die moralischen Werth-Gegensätze […] in den Text und Thatbestand hinein“ (69). Nietzsche gibt stattdessen eine immanente Erklärung selbst für die wunderlichen Zustände der „religiösen Krisis und Erweckung“, indem er zum einen mit den Willen zur Macht ein Konzept des dionysischen Rausches in allen möglichen Schattierungen bereithält, andererseits auf die notwendigen Disziplinierungsmaßnahmen und – physiologisch folgenreichen – asketischen Praktiken hinweist: „Wo nur auf Erden bisher die religiöse Neurose aufgetreten ist, finden wir sie verknüpft mit drei gefährlichen Diät-Verordnungen: Einsamkeit, Fasten und geschlechtliche Enthaltsamkeit […].“ (67)
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Diese Einzelanalyse steht im Kontext einer grundsätzlichen Überlegung zum Nihilismus und seiner Überwindung. Denn die religiöse Sinngebung, die ihre eigene implizite Psychologie hat, ist durch eine (voreilige) Verwerfung der Sinnlosigkeit gekennzeichnet. Anders gesagt: Sie bejaht nicht ihre eigene Psychologie, sondern verleugnet sie. Mit der Aufrichtung einer reinen und himmelweit entfernten Gegenwelt verneint und entwertet sie gleichzeitig unser diesseitiges, wie Nietzsche sagt: „psycho-physiologisch“ bedingtes Leben. Dieser Vorgang wird von Nietzsche in einen historischen Prozess der Verinnerlichung eingeordnet. Das Thema der Opferung lässt sich gemäß der Einteilung der Geschichte in eine vormoralische, moralische und außermoralische Epoche durchspielen. Zunächst bringt man seinem Gott Menschenopfer dar, dann opfert man Gott seine Instinkte und seine Natur, und zuletzt opfert man Gott – wie Nietzsche mit Blick auf Schopenhauer und allen romantischen Agnostizismus, aber auch mit Blick auf die Indifferenz des positivistischen Zeitalters sagt: Man opfert ihn dem Nichts. An dieser prekären Stelle ist der Wendepunkt markiert, den Nietzsche bereits mit der Formel von der Selbstaufhebung der Moral bezeichnet hat. Das Nichts anzubeten, das ist Nihilismus in reinster Ausformung. Es kann keine Rede davon sein, dass Nietzsche dem „nihil“ zu wenig nachgedacht hat, wie Heidegger in seiner Nietzsche-Kritik moniert. Eher verhält es sich umgekehrt. Der philosophische Befund, für Nietzsche die eigentliche Leistung Kants, nämlich dass die menschlichen Erkenntnisvermögen unfähig sind, das Ideal des ontologisch vollgültig bestimmten Seienden zu erreichen, dieser Befund unterstreicht die Kluft zwischen der Endlichkeit des Erkennens hier und der Unendlichkeit des Seins dort. Solange diese Einsicht aber nicht zur Preisgabe und Dechiffrierung des Ideals führt, sondern weiterhin zur methodischen Begrenzung der Verstandeshandlungen in idealistischer Absicht, spitzt sich die nihilistische Tendenz der Moderne weiter zu. Diesen Befund untermauert Nietzsche mit säkularisierungstheoretischen und sozio-ökonomischen Überlegungen. Das Gegenmodell, das Nietzsche dem nihilistischen Paradigma des religiösen Wesens entgegensetzt, entnimmt er seiner Lehre von der ewigen Wiederkunft. „Wer, gleich mir, mit irgend einer räthselhaften Be-
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gierde sich lange darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken […] – jenseits von Gut und Böse, und nicht mehr […] im Bann und Wahne der Moral –, der hat vielleicht ebendamit, ohne dass er es eigentlich wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, t wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem, der gerade dies Schauspiel nöthig hat – und nöthig macht – – Wie? Und dies wäre nicht – circulus vitiosus deus?“ (74–75) „Wir modernen Menschen, wir Halbbarbaren“ Im Abschnitt über die „Naturgeschichte der Moral“ gibt Nietzsche an, wie er sich eine philosophische Behandlung der Moral vorstellt. Im Unterschied zu den unbescheiden auftretenden Philosophen bisher, die sich vornehmen, die Moral – als etwas Gegebenes – zu begründen, fordert Nietzsche eine historisch und psychologisch anspruchsvolle Typenlehre T . Wenn sich Nietzsche „jenseits von gut und böse“ stellt, so ist das zuW nächst eine methodische Entscheidung. Die Moral, die im Herzen der europäischen Denktraditionen wohnt, soll selbst zum Gegenstand von historischer Arbeit, Analyse und Kritik gemacht werden. Dabei stellt sich heraus, dass die meisten Morallehren – obwohl sie letztlich nicht mehr sind als eine Reihe von Klugheitsregeln mit pragmatischem Wert – als generalisierende und in unbedingter Weise von einer „anderen Welt“ redende Sollenslehren von Erlaubnis und Verbot auftreten (118). W Sie haben dem modernen Menschen den „Heerden-Instinkt des Gehorsams“ angezüchtet (119). Im nächsten Hauptstück, das den Titel trägt: „Wir Gelehrten“, umkreist Nietzsche das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie. Dabei handelt es sich um Nietzsches Liebeserklärung an die Philosophie. Grundtenor ist, dass sich gegenwärtig eine Rangverschiebung zugunsten der Wissenschaften beobachten lässt, die von Nietzsche be-
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kämpft wird. Philosophie ist mehr als nur eine Wissenschaft unter anderen; sie ist auch mehr als nur Erkenntnistheorie. Ihre Aufgabe besteht darin, „das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein“ (145) und Werte zu schafffen, die das „Wohin? Und Wozu?“ des Menschen aller erst bestimmen (144). Hierin unterscheiden sich die eigentlichen Philosophen von den „wissenschaftlichen Menschen“, die sich in Folge des demokratischen Aufschwungs emanzipiert haben – und gleichwohl dem „objektiven Geist“ erlegen sind (136). „Willenslähmung“ – so lautet die Diagnose der europäischen Krankheit. Demgegenüber predigt Nietzsche den – man bemerke den ironischen Unterton – „Fridericianismus“ –, einen „neuen Begriff vom deutschen Geiste […], in dem der Zug zur männlichen Skepsis entscheidend hervortrat“ (141). Im siebten Hauptstück „Unsere Tugenden“ fordert Nietzsche eine spezifische Moral auch für freie Geister. Er beginnt mit einer Wiederholung des schon Bekannten. Der Mensch des guten Willens wird einer psychologischen Demaskierung unterzogen, die das moralische Verhalten als subtiles Rache-Verhalten der Minderbemittelten entlarvt. Von daher gibt sich die vermeintlich uninteressierte und altruistische Handlung als durchaus interessiert zu erkennen. Die Gleichheit, die Gerechtigkeit und das Mitleiden fungieren als Beispiele der religiös fundierten Selbstrechtfertigung der moralisch Tugendhaften. Nietzsche behauptet den unmoralischen Status der Moral – bzw. umgekehrt den per se unmoralischen Charakter des Moralisierens. Die Moral ist erstens unmoralisch, weil sie als eine Lehre, die „sich unbedingt nimmt und an Jedermann wendet“ (156), das Leben in seinen immanenten Strukturen verleugnet bzw. nicht am Maßstab der von Nietzsche in Anspruch genommenen intellektuellen Redlichkeit gemessen werden kann. Zweitens ist das Moralisieren unmoralisch, weil es die Moral problematisiert und sich von daher schon „jenseits“ stellt und sich somit auf gefährliche und „versucherische“ Wege begibt. Der „Grundwillen des Geistes“ will die Dinge einfach, abgeschlossen, oberflächlich, angeeignet und vergisst dabei, dass jede Ansicht der Dinge eine Maske ist, die weitere Masken hinter sich hat (167). „Diesem Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zum Mantel […] wirkt jener sublime Hang des Erkennenden entgegen, der die Dinge tief,
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vielfach, gründlich nimmt und nehmen will.“ (168) In dieser „ausschweifenden Redlichkeit“ steckt „eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks“ (168–169). Diese Redlichkeit stützt sich auf die Entdeckungslust, die, nicht länger von moralischen Vorstellungen im Zaum gehalten, die Wahrheit im alten metaphysischen Sinne problematisiert. Sie setzt sich über das theologisch abgesicherte Bild des Denkens hinweg, indem sie die psychologischen Abwege und Hintergründe aufs Korn nimmt. Hiermit bejaht und radikalisiert Nietzsche den destruktiven Charakter, der im Innersten der neuzeitlichen Aufklärungsbewegung am Werk ist. Von daher ergibt sich seine Vorliebe für die schiefe Bahn und die lasterhaften Gebrechen der modernen Seele. Nietzsche bezieht diesen mit der Redlichkeit verbundenen destruktiven Zug auf den entwickelten historischen Sinn des „europäischen Mischmenschen“ (157–160). Die Historie liefert diesen Mischmenschen die notwendigen Kostüme, in denen sie sich Mode für Mode, als „Parodisten der Weltgeschichte“ (157) einkleiden und verkleiden. Dieser historische Sinn des 19. Jahrhunderts resultiert aus der „bezaubernden und tollen Halbbarbarei“, die sich mit der demokratischen Auflösung der althergebrachten Ständeordnung ergeben hat. Mit seinem Plädoyer für diese unvornehme Art der Halbbarbarei macht Nietzsche deutlich, dass er die vornehmen Kulturen im Bereich des Vormoralischen ansiedelt – ein Bereich, zu dem wir nicht zurückkönnen – und dass er die außermoralische Zukunft für die Halbbarbaren des guten Gewissens reserviert.9 Er schreibt: „Durch unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen“ – und d. h. zum „beträchtlichsten Theil der menschlichen Cultur“ überhaupt (158). Der vornehme Wille hingegen ist selbstgenügsam, hält sich vor allem Fremden zurück, lehnt die forschende Neugierde ab, weigert sich „eine neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen“ (158) einzugestehen – und ist somit in ablehnender Haltung gegen alles das, was er sich nicht aneignen kann, und seien dies auch „die besten Dinge der Welt“ (159). Dem modernen Halbbarbaren ist das eigentlich Vornehme kaum fassbar, nämlich die 7 „Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil […]. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst
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apollinische Vollkommenheit der Kunst im Augenblick der „Reife“ einer Kultur. Wie Nietzsche sagt: „Das Maass ist uns fremd, gestehen wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse lassen wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir Halbbarbaren […].“ (160) Herren- und Sklavenmoral Das letzte Hauptstück, das sich anschickt, die Frage „was ist vornehm?“ zu beantworten, bringt die berühmt-berüchtigte Typisierung der so genannten „Herren- und Sklavenmoral“. Während sich die vornehme Art Mensch als wertbestimmend fühlt und an sich selbst glaubt – sie hat es nicht nötig, sich gutheißen zu lassen – entstehen die moralischen Vorstellungen von Gut und Böse unter Beherrschten, indem sie nämlich gerade die ihnen aufgezwungene Herrschaft in moralischen Begriffen diskreditieren. „Böse“ sind nunmehr die weltlichen Machthaber, sodass Nietzsche die Entstehungsgeschichte dieser moralischen Kategorie mit derjenigen der Sklavenmoral – d. h. der Furcht der Schwachen vor den Starken – parallelisiert. Zum Begriff des Guten der Herren-Moral gehört eine „egoistische“ Grundeinstellung der vornehmen Seele, der Glaube an sich selbst, die Distanz zu den Untertanen, die zu dienen und sich zu opfern haben. Das Gute definiert sich hier aus seiner Stellung zum Schlechten. Dieses Gute verkehrt sich in der Werteordnung der Sklaven-Moral zum Bösen, dem das Gute einer allgemeinen Selbstlosigkeit und Mitleidigkeit entgegengestellt wird. Ich möchte hier nicht die historische Plausibilität von Nietzsches Darlegung zum Thema machen. Stattdessen möchte ich den strategischen Wert der Unterscheidung prüfen. Nietzsche scheint die HerrenMoral gegen die vorherrschende Sklaven-Moral zu verteidigen bzw. für sich und alle freien Geister in Anspruch zu nehmen. Stellen wir zunächst die nahe liegende Frage: Warum sind die Starken zu schwach, die Schwachen zu besiegen? Nietzsche führt aus, dass unter bestimmten historischen Bedingungen der „Zwang zur alten Zucht“ nicht aufrechterhalten werden konnte, weil es die Überlebensnotwendigkeit nicht län-
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ger erforderte. Stattdessen setzt sich eine Moral der Massen durch – „die Mittelmäßigen allein haben Aussicht, sich fortzupflanzen, – sie sind die Menschen der Zukunft […]; ‚seid wie sie! Werdet mittelmässig!‘ heisst nunmehr die alleinige Moral, die noch Sinn hat“ (217). Diese Erklärung erklärt freilich nicht, worin die Stärke der Starken im Unterschied zur Schwäche der Schwachen besteht. Oder umgekehrt: Liegt die Stärke der Schwachen in ihrer Schwäche – oder liegt die Schwäche der Starken in ihrer Stärke? Es liegt auf der Hand, dass die Begriffe „stark/schwach“ die Dialektik ihrer Relativität nicht „aushalten“ (bzw. in sich differenziert aufheben) können. Gleichwohl muss sich ein Kriterium angeben lassen, das die nihilistische (reaktive) von der lebensbejahenden (aktiven) Qualität unterscheidbar macht. Das ist nur möglich, wenn der Wille zur Macht als philosophischer Begriff verstanden wird, der sich nicht auf empirische Sachverhalte des Siegens und Herrschens bezieht, sondern auf die immanenten Kräfteverhältnisse, die zumeist unterschwellig in komplexen und nicht verallgemeinerungsfähigen Prozessen wirksam sind.10 Dort, wo diese mikrologischen Vorgänge normativ reglementiert und blockiert werden, kann sich zwar eine „starke“ Position durchsetzen – gleichwohl handelt es sich nicht um die ungebremste Stärke der Willen zur Macht, die mit Blick auf moralische Wertvorstellungen etc. gebrochen wird. Von daher erklärt sich Nietzsches leidenschaftliche Beziehung zur Kunst, zu den Unangepassten und den Kranken, die mit den Ausnahme-Menschen auf einer Stufe stehen.11
freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von gut und böse.“ (KSA V, 18) 8 KSA V, 55. Im Folgenden werden die Zitate aus Jenseits von Gut und Böse, auf der Textgrundlage der Kritischen Studienausgabe Bd. 5, S. 9–243, mit Seitenzahlen im Text nachgewiesen. 9 Nietzsche nimmt sich Shakespeare zum Beispiel des halbbarbarischen Dichters (vgl. 159). 10Der ‚Wille zur Macht‘ ist ein immanenzphilosophisches Konstrukt, das es Nietzsche ermöglicht, die Erfahrung durch sich selbst zu bestimmen, d. h.
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Zwei Gedanken zur Aktualität Nietzsches Nietzsche hat sich mit seiner Lehre vom Willen zur Macht ein immanenzphilosophisches Konzept geschaffen. Dieses beruht auf einer dynamischen Struktur veränderlicher Kräfteverhältnisse, die als ebenso diffferentielles wie konstitutives Gefüge sämtlichen irgendwie sedimentierten Wiederholungsformen der begrifflichen und pragmatischen Repräsentation zugrunde liegen. Dieses Konzept bestimmt die nihilistische Eigenart etwa von Denksystemen dadurch, dass es die in ihnen implizite Abschließungsbewegung gegen ihre eigene Genealogie herausarbeitet. Nicht allein als metaphysikkritisches Prüfungsverfahren besitzt Nietzsches Philosophie Aktualität, sondern vor allem auch dort, wo es in der Philosophie um immanenztheoretische Denkansätze zur Bestimmung unterschiedlichster Erfahrungsgebiete geht: Ich nenne nur die heiß umstrittenen Problemfelder der Subjektivitäts- und Rationalitätskonzepte, Natur und Kultur, Macht und Körper, Kunst und Technik. Wenn man mit Nietzsche die nach wie vor aktuelle metaphysikkritische Immanenzforderung erhebt, so stellt sich gleichzeitig die Frage nach der empirischen Bestimmtheit des „psychologischen Feldes“. Wer hat einen ungebremsten Begriff vom Willen zur Macht? Der elitäre vornehme Aristokrat – oder doch eher der radikale Demokrat? Sicher ist die Herren-Moral nicht gerechtfertigt, wenn man sagt, der Typus des Herren, die Ausnahme, sei eben dadurch gekennzeichnet, dass er den Nihilismus hinter sich lässt. Viel eher muss man hier Nietzsche gegen sich selber verteidigen, indem man, gewissermaßen als fröhlicher Halbbarbar, auf dem Gedanken der Immanenz insistiert und gegen jede voreilige Verwechslung der Willen-zur-Macht-Prozesse mit den in einem empirischen Sinne Mächtigen Einspruch erhebt. Es ist nur ein Vorurteil, dass die Demokratie als solche Differenzen vereinheitlicht. Ihre Idee muss so konzipiert werden, dass sie die unterschiedlichsten Tendenzen und Lebensweisen bejahen kann, ohne sie vorab einer allgemeinen Norm zu unterstellen. Nur so ist es denkbar, dass die pyramidalen Machtverhältnisse und Machtmonopole „von unten“ aufgebrochen und umstrukturiert werden. Diese Arbeit an der Freiheit kann nicht delegiert, sie kann nur getan werden. Das gilt auch für Philosophen. In
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diesem Sinne hat Nietzsche geschrieben, „muss man Alles selber thun, um selber Einiges zu wissen: das heißt, man hat viel zu thun! – Aber eine Neugierde meiner Art bleibt nun einmal das angenehmste aller Laster, – Verzeihung! Ich wollte sagen: die Liebe zur Wahrheit hat ihren Lohn im Himmel und schon auf Erden“ (66). Metaphysik oder keine? Auf den ersten Blick lassen sich vier Richtungen der Nietzsche-Rezeption unterscheiden. Erstens die individualistische, die seit den Vorlesungen von Georg Brandes in Kopenhagen (1888) auf die Selbstgesetzgebung des einzelnen Menschen baut – eine aristokratische Existenz, die sich selbst bewundert, die nicht von außen bestimmt ist, keine Macht über sich anerkennt und Verantwortung übernehmen kann, befehlen kann, herrschen kann, den Blick nach unten gerichtet. Mit dem gespreizten modernen Wort von einer „Ästhetik der Existenz“ könnte man diese Einschätzung umschreiben. Häufig verbindet sich mit dieser Sichtweise die Meinung von den unverbindlichen und widersprüchlichen Behauptungen Nietzsches – gewissermaßen ein „Individualismus“ der Aphorismen und Gedanken.12 Dieser sanften Variante des „sowohl-als-auch“ stehen die härteren metaphysischen Varianten gegenüber. Erstens die an Schopenhauer ausgerichtete, wonach Nietzsche einzig die Vorzeichen verkehrt, wenn er den Willen der schopenhauerschen Metaphysik zum Willen zur Macht umstempelt.13 Entscheidend sind hier zwei Tendenzen: zum einen die auf das Opfer, den Wahnsinn, den Rausch und die pseudo-religiöse Unbestimmtheit des Willens spekulierende, die sich von der Begriffsarbeit des philosophischen Subjekts verabschiedet, indem sie den Sprung in die elementarischen Ursprungsregionen wagt. (Hierher gehören die meisten Vertreter des von Tönnies 1898 so genannten Nietzsche-Cultus – bis hin zu Freidenkern des Heiligen, der Erotik und der Überschreitung.) Zum anderen sind hier Interpretationen zu nennen, die auf den Willen zur Macht als Letztbegründungsfigur und universales Lebensprinzip verweisen. Eine zweite metaphysische Lesart bemüht sich nicht im Rekurs auf transzendente Setzungen. Empirisch sind die positiven Tatbestände; das differentielle Bedingungsgefüge der Machtquanten und T
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darum, in diesem ursprünglichen Prinzip des Willens ein (deutsches) Ordnungsprinzip zu sehen, das gerade nicht aufgrund seiner chaotischen Lebensfülle jenseits des denkenden Subjekts angesiedelt ist.14 Die dritte und elaborierteste Metaphysik-Perspektive auf Nietzsche ist diejenige Heideggers.15 Entscheidend ist aber auch hier, dass der Wille zur Macht als singuläres Prinzip aufgefasst wird, das die moderne Herrschaft des vorstellenden Denkens in seinem Wesen bestimmt. Somit korrespondiert es mit dem Perspektivismus, verstanden als ausgezeichnete Form des modernen und durch und durch nihilistischen Subjektivismus. Dieser Subjektivismus ist in Heideggers Augen eine Verfallsfform, weil er sich nur im Horizont der eigenen „rechnenden“ Wertsetzungen bewegt und keine Ontologie darüber hinaus – in einem harmonischen Grund-Verhältnis von Mensch und Sein – zulässt. Aber auch hier gilt, dass der Interpret seine mitgebrachte metaphysische Deutung in die Texte Nietzsches hineinliest. Es hat lange gedauert, bis sich die philosophische Nietzsche-Rezeption von diesen entweder allzu langsamen oder allzu sprunghaften Auslegungen befreien konnte. Den Umkehrpunkt markiert die nachmetaphysische Interpretationsweise. Für diese steht in Frankreich zunächst das 1962 in Paris erschienene Buch Nietzsche et la philosophie von Gilles Deleuze, in Deutschland die Arbeit von Wolfgang Müller-Lauter über „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“ von 1971.16 Seitdem hat sich in der Nietzsche-Forschung die metaphysikkritische Lesart vielerorts durchgesetzt. Zuletzt spielt für die Nietzsche-Rezeption der Bezug auf den Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Es ist bekannt, dass Nietzsche zu einem der Hauptvertreter des Deutschen in der deutschen Philosophie zwischen 1933 und 1945 gemacht wurde. Allerdings ist das NietzscheBild im Nationalsozialismus nicht eindeutig. Es gibt neben Bäumler und Rosenberg auch Stimmen der Ablehnung. Nietzsche erscheint vieKräftekonstellationen zielt hingegen auf eine erweiterte Dimension der Erfahrung, die der bewussten Repräsentation der Dinge zugrunde liegt. Der ‚Wille zur Macht‘ bezieht sich nicht auf das Gegebene, sondern auf die Gegebenheit des Gegebenen. Das schließt nicht aus, dass es eine differentielle Psychologie, Physik, Geschichte, Soziologie etc. geben kann. 11Vgl. KSA XIII, 327, 356.
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len zu individualistisch und dekadent. Man kann aber sagen, dass der Nationalsozialismus die Geschichte der Nietzsche-Rezeption strukturiert. In der Zeit zwischen 1890 und 1930 wirkt Nietzsche sehr breit, nicht nur in der Philosophie, sondern vor allem in Kunst und Literatur. Nach dem Krieg wird Nietzsche mitsamt der NS-Vergangenheit zu einem Unthema. Er dient hier und da als Bösewicht und Wegbereiter der nationalsozialistischen Weltanschauung. So schreibt Arno Schmidt im Leviathan: „Sehr schuldig war auch Nietzsche, der Machtverhimmler; er hat eigentlich die Nazi-Tricks gelehrt […], der maulfertige Schuft.“ In Frankreich und Italien beginnt nach dem Krieg seine „Rehabilitierung“, zum Teil durch Stimmen, die bereits in den zwanziger Jahren Nietzsche gegen konservative und nationalistische Vereinnahmungstendenzen in Schutz zu nehmen suchten: vor allem Georges Bataille. Mit einiger Verzögerung etabliert sich in den siebziger Jahren – in Westeuropa und Nordamerika – ein zunehmend entspanntes akademisches Verhältnis zu seiner Philosophie. Noch heute aber scheiden sich an Nietzsche die Geister.
Martin Heidegger: Sein und Zeit friedrich vosskühler
Sein und Zeit erscheint 1927 sowohl im Band VIII des von Edmund Husserl herausgegebenen Jahrbuchs für Phänomenologie und phänomenologische F Forschung als auch als Sonderdruck. Das Werk stellt nur die erste Hälfte des unter dem Titel Sein und Zeit Vorgesehenen dar und ist deswegen unvollendet. Der Grund dafür ist unter anderem die Einsicht Heideggers, dass er das, was er mit Sein und Zeit wollte, nicht so erreichen konnte, wie er es vorhatte, nämlich die konkrete „Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von ‚Sein‘“.1 Sein und Zeit, t so bezichtigt sich Heidegger 1940 selbst, sei „wider seinen Willen in die Gefahr gekommen, erneut nur eine Verffestigung der Subjektivität zu werden“.2 Als Dreh- und Angelpunkt der neueren Philosophie sollte sie aber einer neuen Betrachtung des menschlichen Daseins weichen. Diese neue Betrachtung hat ihren Ausgangspunkt in einer (un)gewöhnlichen Frage: Was bedeutet es, zu sagen, dass etwas ist; der Sinn von ‚Sein‘ steht in Frage, gerade auch in dem, was uns daran als selbstverständlich erscheint, wenn man in „allem Erkennen, Aussagen, in jedem Verhalten zu Seiendem, in jedem Sich-zu-sich-selbst-Verhalten“ ‚Sein‘ unterstellt, von „ ‚Sein‘ Gebrauch macht“ (4). „Allein“, so Heidegger, „diese durchschnittliche Verständlichkeit“ demonstriere „nur die Unverständlichkeit“, sie mache nur offenbar, „daß in jedem Verhalten und Sein zu Seiendem als Seiendem a priori ein Rätsel“ liege, dass „wir je schon in einem Seinsverständnis“ lebten und der „Sinn von ‚Sein‘ zugleich in Dunkel gehüllt“ sei (4). 12Vgl. neben vielen anderen Gerhardt, Volker, a. a. O., S. 226. 13Vgl. Colli, Giorgio, „Nachwort“, in: KSA V, § 416. 14Vgl. Bäumler, Alfred, Nietzsche der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931. 15Vgl. Heidegger, Martin, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961.
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Martin Heidegger
Somit lässt sich Heideggers Programm anfänglich von zwei Sachverhalten leiten, die ihm bedenkenswert erscheinen. Erstens von der Selbstverständlichkeit, mit der man vom Sein spricht und zweitens davon, was dieser Selbstverständlichkeit zugrunde liegt. Heideggers Überlegung lautet, dass nur deswegen, weil wir je schon in einem Seinsverständnis leben, uns dieses selbstverständlich ist. Weil uns unser Seinsverständnis, in dem wir immer schon leben, selbstverständlich ist, wissen wir, was wir meinen, wenn wir in allem Erkennen, Aussagen und Verhalten von ,Sein‘ Gebrauch machen. Dieses zugrunde liegende Seinsverständnis macht das Rätsel aus, macht es aus, dass uns der Sinn von Sein dunkel bleibt. Nur dann, wenn es uns gelingt, unser mitgebrachtes Seinsverständnis zu erhellen, können wir den Sinn von Sein aus dem Dunkel hervorheben. Mit anderen Worten: Die Frage nach dem Sinn von Sein ist überhaupt erst möglich, weil wir immer schon ein Seinsverständnis besitzen. Zugleich ist der Horizont, aus dem jene Frage ihre Antwort finden könnte, durch dieses Verständnis vorgezeichnet. Nach dem Sinn von Sein kann nur gefragt werden aus der Richtung eines Verständnisses, dem das Sein von vorneherein als sein Sinn zugänglich ist. In diesem Belang trifft Heidegger eine methodische Entscheidung, die für die allein erschienene erste Hälfte von Sein und Zeit konstitutiv ist. Das Befragte, durch das dem Sinn von Sein näher zu kommen ist, ist für ihn das fragende Seiende selbst. „Dieses Seiende, das wir je schon selbst sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat, fassen wir“, so Heidegger, „terminologisch als Dasein“ (7). Und er legt fest: „Die ausdrückliche und durchsichtige Fragestellung nach dem Sinn von Sein verlangt eine vorgängige, angemessene Explikation eines Seienden (Dasein) hinsichtlich seines Seins.“ (7) Die Rede vom Dasein zielt dabei auf das menschliche Dasein. Sein und Zeit ist in seinem Kern letztlich genau diese Explikation des Daseins hinsichtlich seines Seins. Diesen Horizont der Frage nach dem Sinn von Sein kann Sein und Zeit aus seiner methodischen Grundentscheidung heraus nicht überschreiten. Daher Heideggers Selbstkritik an der Gefahr der Verfestigung der Subjektivität, die Sein und Zeit in sich berge. Diese methodische Grundentscheidung beruhe in der „ontischen
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Auszeichnung des Daseins“ (12). Vor allem anderen Seienden sei das Dasein nämlich ontisch dadurch ausgezeichnet, dass es ihm „in seinem Sein um dieses Sein selbst“ (12) gehe. „Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten“ könne „und immer irgendwie“ verhalte, nennt Heidegger „Existenz“ (12). Da nun das Dasein so verfasst sei, dass es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis habe, dass es sich also „in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein“ begreife, verstehe sich das Dasein „immer aus seiner Existenz“, d. h. aus „einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein“ (12). Heidegger grenzt dieses verstehend existierende Dasein gegen ein Seiendes ab, das dinglich verfasst ist. Er wirft dem antiken wie dem christlichen Denken vor, das Dasein nach Art der Dinge aufgefasst zu haben, vereinfacht gesagt: den Menschen als Ding unter Dingen verstanden zu haben (48ff.). In seiner Auffassung ist Dasein „ihm selbst überantwortetes Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit“, die „Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen“ (144). Unter dem Blickwinkel der getroffenen methodischen Grundentscheidung Heideggers wird die Frage nach dem Sinn von Sein also im Wesentlichen in Hinsicht auf die Möglichkeit des Freiseins des Daseins W für das ‚eigenste Seinkönnen‘ gestellt, als Frage nach dem authentischen Sein des Daseins als seiner ihm jeweils ‚selbst überantworteten Möglichkeit‘. Kurz, in Sein und Zeit geht es letztlich um den analytischen Aufweis des möglichen ‚eigensten Seinkönnens des Daseins‘, um das „eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins“ (301ff.). Und es ist nicht nebensächlich, dass Sein und Zeit in Husserls Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung erscheint, weil Heidegger die Explikation des Daseins hinsichtlich seines Seins (die ‚Daseinsanalytik‘) methodisch ausdrücklich im Sinne der Phänomenologie verstanden wissen will. Wenn nämlich Phänomenologie ihrem Wesen nach bedeutet, das, was sich zeige, „so wie es sich von ihm selbst her“ zeige, „von ihm selbst her sehen zu lassen“ (34), dann sei die Explikation des Daseins hinsichtlich seines Seins Phänomenologie im Sinne von Hermeneutik, Auslegung des „zum Dasein selbst gehörigen Seinsverständnisses“ (37). Durch es werden dem Menschen „die Grundstrukturen seines eigenen Seins kundgegeben“ (37). Heideggers Explikation des
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Daseins legt auf diese Art die ‚Tatsächlichkeit des Faktums Dasein‘ aus, das, was er seine „Faktizität“ (56) nennt. Allerdings betreibt Heidegger hier eine Phänomenologie, die völlig mit der theoretischen Orientierung und der auf den Bewusstseinsstrom gerichteten husserlschen Hinsicht bricht. Er distanziert sich ganz explizit von der von Husserl auf die transzendentale Subjektivität bezogenen Auslegung. Philosophie, so hält Heidegger dem Theoretizismus überhaupt entgegen, müsse „als das explizite Ergreifen einer Grundbewegtheit des faktischen Lebens“3 verstanden werden, als „Wachsein des Daseins für sich selbst“4. Philosophie bzw. Phänomenologie wird von Heidegger zum „Organon“5 des Daseins umgewertet. In einem Brief vom 1. Mai 1919 schreibt Heidegger an Elisabeth Blochmann einen Satz, der hier erhellend ist: „Wir müssen warten können auf hochgespannte Intensitäten sinnvollen Lebens – und wir müssen mit diesen Augenblicken in Kontinuität bleiben […].“6 Demgegenüber, so trägt Heidegger in der Vorlesung Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem Anfang 1919 vor, sei die theoretische Einstellung – „die tiefeingefressene Verranntheit ins Theoretische“7 – „ent-lebend“.8 „Das Ding ist bloß V noch da als solches, d. h., es ist real […] Das Bedeutungshafte ist ent-deutet bis auf diesen Rest: Real-sein. Das Umwelt-erleben ist ent-lebt bis auf den Rest: ein Reales als solches erkennen. Das historische Ich ist ent-geschichtlicht.“9 W Was Heidegger in Sein und Zeit vorlegt, ist eine phänomenologische Analyse der Faktizität des Daseins, durch welche demselben die Grundstrukturen – die Existenzialien – seines eigenen Seins heraus16Vgl. Deleuze, Gilles, Nietzsche et la philosophie, Paris 1962 (dt. 1991) u. Müller-Lauter, Wolfgang, „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“, in: Nietzsche. Wege der Forschung, Bd. 521, hg. v. Jörg Salaquarda, Darmstadt 1974, S. 234–287. 1 Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 1967, S. 1. Die im Folgenden in Klammern angegebenen Zahlen beziehen sich auf die Seitenzahlen in dieser Ausgabe. 2 Heidegger, Martin, Nietzsche, Bd. II, Pfullingen 1962, S. 194. 3 Heidegger, Martin, „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation)“, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geisteswissenschaften, Bd. 6., Göttingen 1989, S. 238. 4 Heidegger, Martin, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Gesamtausgabe Bd. 63, S. 15.
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gestellt werden und damit sein ‚Sinn‘. Er besteht in der Möglichkeit des Freiseins für das ‚eigenste Seinkönnen‘, das freilich auch verfehlt werden kann. Wie für die Bewusstseinsphilosophie die Kategorien (Quantität oder Qualität z. B.) die Grundformen des Denkens sind, so sind für Heidegger die Existenzialien die grundlegenden Strukturen, in denen das Dasein lebt und gelebt wird, wie es in der Welt ist. Grundlegend ist z. B., dass es ‚mit anderen da‘ (in der Welt) ist. „Befindlichkeit“ und „Verstehen“ sind weitere gleich ursprünglich existenziale Strukturen des Daseins. Offensichtlich erwartet Heidegger, tief geprägt durch den materiellen, sozialen, moralischen und geistigen Zusammenbruch Europas nach dem Ersten Weltkrieg und angesichts der Orientierungslosigkeit der Weimarer Republik, von einer Philosophie, die sich als Wissenschaft versteht, nichts mehr. Und auch nichts von den Wissenschaften insgesamt. Er setzt dezidiert nicht auf eine neue Grundlegung – auch keine philosophische – der Wissenschaften. Der Begriff der Fundamentalontologie, den er in Sein und Zeit für sein Denken einführt, hat mit einem solchen Vorhaben nichts zu tun. Wissenschaften, so Heidegger, seien Seinsweisen des Daseins, Ontologien, die „Seiendes von nicht daseinsmäßigem Seinscharakter zum Thema haben“. Aber als solche seien sie doch „in der ontischen Struktur des Daseins selbst fundiert und motiviert“ (13). Daher müsse die Fundamentalontologie „in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht werden“ (13). Das heißt, nur fundiert in dem Zug, der das Dasein hin auf die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen ausrichtet, gewinnen die Wissenschaften nach Heidegger einen Sinn. Angesichts des Absturzes des Daseins „in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit“ (178), dem „Verfallen V an die Welt“ (179), seien die Wissenschaften nicht nur ohne Belang, sondern sogar Teil dieses „Verfallens an die Welt“. Sie reißen den Menschen nicht zu ihm selbst zurück, sie führen ihn nicht vor den „Augenblick der Entscheidung“ (Carl Schmitt): „er selbst oder nicht er selbst“ zu sein. Sie sind sich des Zeitenbruchs nicht bewusst, von dem eine Reihe philosophischer Entwürfe jener Zeit sprechen – sei es in der Rede vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“ bei Ernst Bloch, des „philosophischen Erschreckens“ bei Ernst Jünger, des
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genannten „Augenblicks der Entscheidung“ bei Carl Schmitt oder des kairos bei Paul Tillich.10 Obwohl methodisch grundlegend von der phänomenologischen Forschung geprägt, ist Sein und Zeit zutiefst von Nietzsche und Kierkegaard beeinflusst und über diese hinaus von einer protestantischen Tradition, die bis an gnostische Wurzeln heranführt. Der Vermittlungspunkt ist hier in der Richtung des Augenblicks der ‚großen Loslösung‘ zu suchen, von der Nietzsche spricht: „Die große Loslösung kommt … plötzlich, wie ein Erdstoß: die junge Seele wird mit einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen […] Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwächst, fortzugehen, irgendwohin, um jeden Preis, eine heftige, gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen […] Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen das, was ihr ‚Pflicht‘ hieß, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stoßendes Verlangen nach Wanderschaft.“ „Zeitlichkeit“ und „eigenes Ganzseinkönnen“ Auch wenn die Emphase dieses Nietzsche-Textes die Richtung, in die Heideggers Denken bei dessen „erster Totalisierung“ 1923–1927 geht, stilistisch überpointiert – Sein und Zeit ist demgegenüber von großer Begriffskühle –, so kann er doch als zeitgeschichtlicher und existentieller Indikator für das dienen, worum es Heidegger mindestens schon seit 1919 geht: Um Augenblicke sinnvollen Lebens, in denen das Sein des Menschen ‚da‘ ist, in denen das Dasein ‚es selbst‘ ist. Solche Augenblicke zählt Heidegger zur „eigentlichen Gegenwart“ (338). In ihnen wird das Sein des Daseins offenbar, zeigt sich dessen Sinn. Heideggers Denken ist kairologisch, d. h., es sucht nach dem erfüllten Augenblick. Deswegen wird die Frage nach dem Sinn von Sein auch ausdrücklich in Hinsicht auf die Zeitlichkeit gestellt. „Als der Sinn des Seins des Seienden, das wir Dasein nennen“, so Heidegger am Anfang von Sein und Zeit,t „wird die Zeitlichkeit aufgewiesen“ (17). Diesem kairologischen Denken ist bewusst, dass sich der Augenblick eigentlicher Gegenwart nur aus der wiederum „eigentli5 Safranski, Rüdiger, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München u. a. 1994, S. 153.
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chen Zukunft“ (338) zeitigen kann. „Im Vorlaufen“ auf diese „Zukunft“ hole sich das Dasein „wieder in das eigenste Seinkönnen vor“ (339) und sei somit gegenwärtig im vollsten Sinne. Anders ausgedrückt: In die eigentliche Zukunft vorlaufend, komme das Dasein „auf das eigenste, in seine Vereinzelung geworfene Selbst zurück“. Diese „Entrückung“ – Heidegger übersetzt Entrückung mit „Ekstase“ (339) – ermögliche es, „daß das Dasein entschlossen das Seiende, das es schon ist, übernehmen kann“ (339). Die entschlossene Übernahme dessen, was ‚es schon ist‘, durch das Dasein ist das, was sich im kairos ereignet. Oder, wie Heidegger zusammenfassend zur Zeitlichkeit schreibt: „Nur N Seiendes, das wesenhaft in seinem Sein zukünftig ist, so daß es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Da sich zurückwerfen lassen kann, das heißt, nur Seiendes, das als zukünftiges gleich ursprünglich gewesend ist, kann sich selbst die ererbte Möglichkeit überliefernd, die eigene Geworfenheit übernehmen und augenblicklich sein für ‚seine Zeit‘. Nur eigentliche Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist, macht so etwas wie Schicksal, d. h. eigentliche Geschichtlichkeit möglich.“ (385) Ich möchte von dieser Textstelle ausgehen, um einige Grundgedanken, die ich in Sein und Zeit für wesentlich halte, freizulegen. Zunächst spezifiziert die Textstelle, dass die eigentliche Zukunft, von der aus das Dasein auf sein eigenstes Seinkönnen zurückkommt, mit dem Tod zusammenhängt. Der Tod sei „eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen“ habe, er sei die „eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit“ (250) des Daseins. In der Angst vor dem Tod werde das Dasein „vor es selbst gebracht als überantwortet der unüberholbaren Möglichkeit“ (254). Genauer: „Der Tod als Möglichkeit gibt dem Dasein nichts zu ‚Verwirklichendes‘ und nichts, was es als Wirkliches selbst sein könnte. Es ist die Möglichkeit der Unmöglichkeit jegliches Verhaltens […], jedes Existierens. Im Vorlaufen in diese Möglichkeit wird sie ‚immer größer‘, d. h., sie enthüllt sich als solche, die überhaupt kein Maß, kein mehr oder minder kennt, sondern die Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz bedeutet […] Das Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit ermöglicht allererst diese Möglichkeit und V macht sie als solche frei.“ (262) Weil der Tod die ‚maßlose Unmöglichkeit der Existenz‘ bedeutet, weil W
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er dem Dasein in radikaler Weise nichts zu Verwirklichendes bietet, ihm alles verweigert, an was es sich als Wirkliches halten könnte, weil er das Dasein in das Nicht-Wirkliche hält, wo nichts ist denn es selbst in seiner Möglichkeit zu sein, macht der Tod die „Möglichkeit“ des Daseins, ‚es selbst‘ zu sein, frei, er wirft das Dasein auf sein faktisches Da zurück. Mit anderen Worten: Der „Mut zur Angst vor dem Tode“ bzw. die Entschlossenheit zur Angstbereitschaft sind die Voraussetzungen dafür, dass das Dasein für seine ‚eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit‘ freiwerde; dass es ganz als reine Möglichkeit seiner selbst da ist. Das Sein, welches so faktisch da ist, ist das ‚eigenste‘, in seine Vereinzelung geworfene Selbst. Es ist das Selbst, welches die ‚Geworfenheit‘ in seine Vereinzelung entschlossen übernimmt. Die Augenblicke sinnvollen LeV bens, die kairoi, sind Augenblicke völliger und in ihrer Radikalität vom Selbst auf sich genommener Vereinzelung, es sind Augenblicke dezidierter existentieller Negation aller Transzendenz im Sinn des Göttlichen. Die Transzendenz ist bei Heidegger dieses Selbst, das mit dem Mut zur Angst vor dem Tod den „Modus des Besorgens einer unbehelligten Gleichgültigkeit gegen die äußerste Möglichkeit“ der Existenz durchbricht, der die „durchschnittliche Alltäglichkeit“ (254) kennzeichnet. Jenes entschlossen übernommene authentische Leben ist das Gegenteil zu einem Leben, das sich danach richtet, was ‚man tut‘. Es richtet sich aus dem ‚Man‘ auf, aus jener „Botmäßigkeit“ (126) der anderen, in der das Dasein „im alltäglichen Miteinandersein“ steht. „Nicht es selbst ist,t die anderen haben ihm das Sein abgenommen“ (126), so Heidegger. Das „Belieben der Anderen“ verfüge hier „über die alltäglichen Seinsmöglichkeiten des Daseins“ (126). „Jeder“ sei dabei der „Andere und Keiner er selbst“. Das „Man“, so Heidegger, „mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat“ (128). „Durchschnittlichkeit“ t sei deshalb der „existenziale Charakter des Man“ (127). Und: Diese „Durchschnittlichkeit“, diese „Einebnung aller Seinsmöglichkeiten“ (127), konstituiere das, „was wir als ‚Öffentlichkeit‘ kennen“ (127). Letztere regele „zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung“ und behalte „in allem Recht“. Dies aber nicht „auf Grund eines ausgezeichneten und primären Seinsverhältnisses zu den ‚Din-
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gen‘“, nicht deswegen, „weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete Durchsichtigkeit“ des „Daseins“ verfüge, sondern weil sie „auf die ‚Sachen‘“ nicht eingehe, weil sie „gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit“ „unempfindlich“ (127) sei. Diese Entlastung des jeweiligen Daseins in seiner Alltäglichkeit, diese Entlastung des Daseins von seiner eigensten Möglichkeit ist das, was nach Heidegger die durchschnittliche Auslegung des Daseins hinsichtlich seines Seins leistet. Diese alltägliche Wirklichkeit des Daseins muss transzendiert werden. Die Wirklichkeit, die Heidegger in Sein und Zeit nahezu ausschließlich im Auge hat, ist die Öffentlichkeit in Gestalt von „Gerede“ (167ff.), „Neugier“ (170ff.) sowie „Zweideutigkeit“ (175ff.) als das sich ereignende „Verfallen des Daseins an die Welt“. Für Heidegger sind weder Arbeiten noch Herstellen und auch nicht Handeln die drei „menschlichen Grundtätigkeiten“, wie etwa Hannah Arendt sie kennt.11 So ist ihm gerade auch die Sicht nicht frei für jenen Gemeinsinn, von dem Hannah Arendt ausführt, er sei der Sinn, durch den „alle anderen Sinne […] in eine gemeinsame Welt verfügt und auf eine Mitwelt zugeschnitten werden“, das „Vermögen“, „durch das die Gemeinsamkeit der Welt sich dem Menschen“12 erschließe; kurz: Heideggers Blick ist nicht frei für den Sinn des Politischen. Und genauso wenig sieht er, dass, unter dem Blickwinkel des Politischen, Handeln und Sprechen, wie sich Arendt ausdrückt, zum ‚Vorrecht‘ des Menschen gehören, dass „Leben“ für den Menschen vor allem bedeutet, „unter Menschen zu weilen“, also zu handeln und zu sprechen im direkten Austausch mit anderen Menschen, „ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen“.13 Auch wenn Heidegger davon spricht, dass das Dasein die „Seinsart des Miteinanderseins“ (125) habe, dass „im Seinsverständnis des Daseins“ daher immer schon auch „das Verständnis Anderer“ (123) liege, ja auch wenn Heidegger in dieser Hinsicht sogar von der „besorgenden Fürsorge“ (124) spricht, so dreht sich Sein und Zeit um eine andere zentrale Achse, nämlich um das Selbst, das die Geworfenheit in seine Vereinzelung entschlossen übernimmt. „Das Dasein“, schreibt Heidegger, 6 Heidegger, Martin, Blochmann, Elisabeth, Briefwechsel, hg. v. J. W. Storck, Marbach 1989. 7 Heidegger, Martin, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, Gesamtausgabe Bd. 56/57, S. 88.
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„ist eigentlich es selbst nur, sofern es sich als besorgendes Sein bei […] und fürsorgendes Sein mit […] primär auf sein eigenstes Seinkönnen … entwirft“ (263). Heideggers Nachdruck auf das ‚eigenste Seinkönnen‘ ist auf der einen Seite sicherlich mit der Reduktion der konkreten Arbeit auf die bloße Möglichkeit zur Arbeit zu vergleichen. In der Terminologie des frühen Marx ist mit der „Reduktion“ der „konkreten Arbeit“ die „Entwirklichung“ g 14 der Arbeitenden verbunden. Auf der anderen Seite aber klagt Heideggers Beharren auf das „eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins“ gegen die genannte Entwicklung und gegen den Prozess der „sich vertiefenden Fetischisierung“ der „menschlichen Beziehungen“ (des „Verfallens V an die Welt“) Augenblicke sinnvollen Lebens voll hochgespannter Intensität ein. Von hier aus gesehen liegt folgende Deutung nahe: Unter der BedinV gung der Entwirklichung der Arbeit, der Abstraktion von ihr als konkreter, also unter der Bedingung der Reduktion des Menschen auf die bloße Möglichkeit seiner Verwirklichung, radikalisiert Heidegger die Notwendigkeit des eigentlichen Ganzseinkönnens des Menschen. Er entwirft aus der Tatsache eines gesellschaftlich erzeugten Rückgedrängtseins des Menschen auf seine Vereinzelung das Programm der Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein. Unter der Bedingung der Entwirklichung im Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse (die Heidegger nicht in den Blick nimmt) kann die Frage nach dem Sinn von Sein nur im Bezug auf die Entschlossenheit des Daseins eine Beantwortung finden: seine Geworffenheit in seine Vereinzelung zu übernehmen, und in den Tod als seine eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit vorlaufend und vor sich selbst gebracht – da zu sein – als es selbst und nichts sonst. Heidegger macht in Sein und Zeit die Frage nach dem Sinn von Sein von der Möglichkeit und Wirklichkeit der Authentizität des entwirklichten Selbst abhängig. Dieses soll aus seinem Selbstverhältnis heraus den Sinn von Sein entwerfen. Insofern dieser Entwurf von der Entschlossenheit des Daseins abhängt, ist Sein und Zeit dezisionistisch; insofern dessen Authentizität sich nur augenblickhaft ereignen kann, ist Sein und Zeit kairologisch und insofern – wie gezeigt – dieser Entwurf strikt vom Selbstverhältnis 8 Ebd., S. 91.
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des Daseins abhängt, ist er subjektivistisch oder, wie Heidegger sich selbst ausdrückt, eine ‚Verfestigung der Subjektivität‘. Sicher aber ist dieser Entwurf eine Rebellion gegen den von Karel Kosik so benannten Prozess der sich „vertiefenden Fetischisierung der menschlichen Beziehungen“.15 Heideggers Bedenken laufen parallel dazu. Jene Entwicklung würde in ihrer besorgenden Alltäglichkeit die ‚Einebnung aller Seinsmöglichkeiten‘ betreiben. Und sicher transformiert dieser Entwurf dabei die Philosophie nicht nur in ein Organon des Daseins, sondern auch in ein Organon von dessen Rebellion. Philosophie wird zur heroischen Geste eines entwirklichten Selbst, das seiner Geworfenheit in die Vereinzelung seinen Sinn und darüber hinaus den Sinn des Seins abringen will. Wenn Hannah Arendt im Jahr 1952 in ihr Denktagebuch schreibt, W dass alle „konsequent durchgehaltene Einsamkeit“ in „Verzweiflung“16 ende, dann wendet Heidegger diese Verzweiflung in einen existenzialen Wegweiser um, der dem Sein wieder bzw. allererst seinen Sinn vermitW teln könnte. Diese heroisch erlittene und gewendete Verzweiflung wird zur Achse des Seins überhaupt. Ohne Zweifel ist Heidegger in Sein und Zeit der Erbe und Nachfolger jener deutschen Wiedergeburt des „tragischen Zeitalters“, von dem Nietzsche 1872 in seiner Geburt der Tragödie gesprochen hatte und von dem er sich die „Wiedergeburt des deutschen Mythus“17 erhoffte. Was Heidegger in Sein und Zeit vorbringt, ist aber nicht die „Wiedergeburt des deutschen Mythus“ aus dem Geiste der Musik, sondern die Wiedergeburt der Philosophie aus der Tragik des entwirklichten Selbst. Dieses Selbst, dem es um sein eigenstes Seinkönnen geht, ist nicht das Subjekt, t von dem Hegel sagt, es sei das „Wahre“.18 Die Möglichkeit des eigensten Seinkönnens des Daseins ist für Heidegger nicht an Reflexion geknüpft und damit ganz und gar nicht an jenes idealistische Konstrukt, das die Gewissheit des Bewusstseins von sich selbst in die Bewusstheit des Seins umdrechselt, um zu dem fragwürdigen Resul9 Ebd. 10Siehe zu diesen Zitaten: Safranski, Rüdiger, Ein Meister aus Deutschland, S. 207. 11Siehe z. B.: Arendt, Hannah, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, S. 14. 12Ebd., S. 275. 13Ebd., S. 14. 14Marx, Karl, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Leipzig 1974, S. 151.
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tat zu gelangen, dass im Bewusstsein des Bewusstseins von sich selbst das Sein zu Bewusstsein käme, sodass mit dem ‚Selbstbewusstsein‘ das „einheimische Reich der Wahrheit“19 betreten werde, das Reich der „Wahrheit W der Wirklichkeit und der Wirklichkeit der Wahrheit“ gleichermaßen. Heideggers Antwort auf die Moderne: Die Kritik an der selbstreflexiven Gewissheit des Subjekts Die Wiedergeburt der Philosophie, die Heidegger auch mit Sein und Zeit im Blick hat, hat die Rebellion gegen jede moderne Ontologie zur Voraussetzung, die sich auf die selbstreflexive Gewissheit des Subjekts stützt. Die Aussage Heideggers in diesem Belang ist: „Seiend ist das Dasein geworfenes, nicht von ihm selbst in sein Da gebracht. Seiend ist es als Seinkönnen bestimmt, das sich selbst gehört und doch nicht als es selbst sich zu eigen gegeben hat. Existierend kommt es nie hinter seine Geworffenheit zurück, so daß es dieses, ‚daß es ist und zu sein hat‘, je eigens erst aus seinem Selbstsein entlassen und in das Da führen könnte“ (284). Das heißt erstens, das Dasein ist sich selbst überantwortet, existierend ist es „der Grund seines Seinkönnens“ (284). Das bedeutet – ganz und gar paradox – aber auch, dass es, obwohl es vor der Aufgabe steht, für sich selbst den Grund zu legen, „dessen nie mächtig werden“ kann (284). Es kann nicht hinter seine Geworfenheit zurück. Es kann einzig als das Seiende, das es ist, existieren und kann sich in dieser Hinsicht seinen Grund nicht selbst geben. Vielmehr ist es existierend genau dieser Grund. Diese gedankliche Figur wiederholt sich im Blick auf das Schuldigsein des Daseins. Es steht sich selbst in seinen Möglichkeiten immer aus, ist also nie als das, was es ist, da, insofern ist es eine Nichtigkeit seiner selbst und – da es eben immer hinter dem, was es ist, zurückbleibt – ist es schuldig. Außerhalb der kairoi, der Augenblicke hochgespannter Intensität sinnvollen Lebens also, ist das Dasein schuldig und nichtig. Man sieht: Dieses von Heidegger zwischen der Nichtigkeit seiner selbst und seiner Schuld sich selbst gegenüber aufgespannte Dasein ist sich seiner selbst überhaupt nicht gewiss, es trägt vielmehr nichts anderes als die auf ihm lastende Entscheidung aus, ob es sich verfehle oder 15Kosik, Karel, Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik
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aber ob es zur Gegenwart seiner selbst komme. Dazu gehört die „Kenntnisnahme des Faktums ‚schuldig‘“ (287) oder, wie Heidegger auch sagt, das „Freisein für das eigenste Schuldigsein“(288). Sie spitzt sich zu in dem auf diese Art sich zeigende „Gewissen-haben-wollen“ (288). Das „Gewissen“ sei, so Heidegger, „der Ruf der Sorge aus der Unheimlichkeit des In-der-Welt-seins, der das Dasein zum eigensten Schuldigsein-können“ (289) aufrufe. Nur durch diesen Aufruf könne das Dasein den Anruf seines eigensten Seinkönnens hören, werde es „hörig seiner eigensten Existenzmöglichkeit“ (287). Nur wenn dies geschehen sei, könne man vom Dasein sagen, es habe „sich selbst gewählt“ (287). Das heißt, es ist erst dieses aus dem Gewissen-haben-wollen resultierende ‚Freisein für das eigenste Schuldigsein‘, das jene ‚Hörigkeit‘ für die eigenste Existenzmöglichkeit hervorruft, welche die Überschreitung des alltäglichen Besorgens und der unbehelligten Gleichgültigkeit gegen die äußerste Möglichkeit der Existenz ermöglicht. Betrachten wir diese Auslegung des Daseins in ihrer ganzen Tragweite, dann bedeutet dies, dass Heideggers Wiedergeburt der Philosophie in Sein und Zeit nicht nur das Abrücken von der modernen Selbstgewissheit des Subjekts zum Inhalt hat, sondern – mit seiner Destruktion des selbstreflexiven und sich begründenden Subjekts – auch die radikale Integration von Moral in das Selbst beschreibt, derart, dass es ihm einzig und allein um die eigentliche Gegenwart seines eigenen Seins geht. Sein und Zeit zwischen konservativer Revolution und a-theistischer Heilsgeschichte Die heideggersche Wiedergeburt der Philosophie hat primär das Schicksal des Daseins zum Inhalt. Heideggers Philosophie kann daher nicht anders, als sich selbst eine schicksalhafte Bedeutung zuzuschreiben. Aber sie hat nicht nur das Schicksal des Daseins im Auge, sondern auch dasjenige, was sie als das „Geschick“ bezeichnet, das „Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes“ (384). Für Heidegger verweisen in diesem Zusammenhang das seine Geworfenheit übernehmende Dasein und das „Geschick“ der Gemeinschaft und des Volkes aufeinander. Beide
des Menschen und der Welt, Frankfurt/Main 1967, S. 64f.
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Seiten sind über die Zeitlichkeit, näherhin über das Schicksal als die „eigentliche Geschichtlichkeit“ mit einander vermittelt. Die eigentliche Geschichtlichkeit ereigne sich nur jenem Dasein, das augenblicklich ist für ‚seine Zeit‘; und genau in diesem augenblicklichen Dasein gründet das Geschick der Gemeinschaft und des Volkes. Nur das Dasein, was seinem Schicksal gerecht wird, seinem Geschicktsein in die Geworfenheit, diese entschlossen übernehmend, kann in diesem Sinne augenblicklich, d. h. als es selbst gegenwärtig, dasein, es kann seine Zeit erfüllen und ist somit das Ereignis eigentlicher Zeitlichkeit. Durch es und an ihm zeitigt sich so eigentliche Geschichtlichkeit,t welche da sein muss, damit sich das Geschick der Gemeinschaft und des Volkes erfüllen kann. V In der „Übermacht“ der „endlichen Freiheit“, die „Ohnmacht der Überlassenheit“ (384) zu übernehmen, heißt sein Schicksal zu leben, es zu erfüllen, seine eigentliche Zeitlichkeit zu sein, um im eigentlichen Sinn geschichtlich zu sein. Wiewohl auf diese Weise zutiefst vom kairos des für seine Zeit augenblicklichen Daseins abhängig und dazugehörend, bedeutet eigentliche Geschichtlichkeit darüber hinaus inhaltlich noch Folgendes. Sie zielt auf die „Entgegenwärtigung des Heute“ und somit eine „Entwöhnung von den Üblichkeiten des Man“ (391). Eigentliche Geschichtlichkeit ist – gemäß ihrer Gegründetheit in der entschlossenen Übernahme der Geworfenheit – immer auch ein sich der „ererbten Möglichkeit“ Überliefern, „Wiederholung“ (385) „überkommener Existenzmöglichkeit“. Aber sie besteht nicht darin, auf diese Weise „vormals Wirkliches“ „wiederkehren zu lassen“ (386), sondern in der „Wiederholung“ die „Möglichkeit der dagewesenen Existenz“ zu erwidern. So wie das Schicksal des je einzelnen Daseins in das Geschick seiner Gemeinschaft – sich der überkommenen Existenzmöglichkeit überliefernd – eingebunden ist, so ist das Geschick von Gemeinschaft und Volk selbst wiederum abhängig vom Schicksal des Daseins, davon, zur Gegenwart seiner selbst zu kommen oder nicht. Die Erwiderung der überkommenen Existenzmöglichkeit durch das auf sein eigentliches Ganzseinkönnen zugehende Dasein legt die Möglichkeiten des Überkommenen frei, ist zukünftig das Gewesene und bringt sich selbst zusammen mit dem Überkommenen zu ihrer eigentlichen Gegenwart.
Sein und Zeit
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„Unständig als Man-selbst“ dagegen, so Heidegger, „gegenwärtigt das Dasein“ „in seiner Alltäglichkeit“ sein Heute. „Gewärtig des nächsten Neuen hat es auch schon das Alte vergessen […] Blind für Möglichkeiten vermag es nicht, Gewesenes zu wiederholen, sondern es behält nur und erhält das übrig gebliebene ‚Wirkliche‘ des gewesenen Weltgeschichtlichen, die Überbleibsel und die vorhandene Kunde darüber.“ Heidegger nennt dies die „uneigentliche Geschichtlichkeit“ (391). „Uneigentliche Geschichtlichkeit“ klebt am Heute, die „uneigentliche geschichtliche Existenz […] sucht, beladen mit der ihr selbst unkenntlich gewordenen Hinterlassenschaft der ‚Vergangenheit‘, das Moderne.“ (391) Genau gegen diese Hegemonie des Heute, des Besorgens um das nächste Neue, bei welchem Besorgen das Alte entweder vergessen wird oder in der Form der Pflege von Überbleibseln keine Rolle spielt, opponiert Heidegger. Er opponiert sowohl gegen die Geschichtslosigkeit der Ausrichtung auf das Moderne als auch gegen die historistische Gleichgültigkeit vergangener Existenzmöglichkeiten. Es geht Heidegger in Sein und Zeit nicht um Brauchtum, nicht um die Feier und Bewahrung des Abgelebten, nicht um einen Kniefall vor der Vergangenheit, dem Erbe der Mütter und Väter, sondern um die Erfüllung der „Möglichkeiten des dagewesenen Seins“ (385). Es geht um die ‚Entgegenwärtigung des Heute‘, um die Möglichkeit des geschichtlichen kairos. Es geht um Erlösung. Sein und Zeit ist in seinem kairologischen Grundzug ein Entwurf der Möglichkeit innerweltlicher Erlösung. Einer Erlösung ohne Gott, ganz auf der Grundlage der Transzendenz, die das in seine Vereinzelung geworfene Selbst an sich selbst ist. Ohne Zweifel steht Heidegger dabei in der Tradition a-theistischer Heilsgeschichte. Sicher ist seine Konzeption der Geschichtlichkeit mit ihrer Anknüpfung an das Geschick und das Geschehen der Gemeinschaft der „konservativen Revolution“ verwandt. In diesem Sinne ist Heideggers Eintreten für den Nationalsozialismus in seiner berühmten und berüchtigten Rektoratsrede vom 27.5.193320 auch nicht zufällig gewesen, seine dies16Arendt, Hannah, Denktagebuch, Bd. 1, München u. a. 2002, S. 167. 17Nietzsche, Friedrich, Die Geburt der Tragödie, Werke in sechs Bänden, Bd. 1, hg. v. Karl Schlechta, München u. a. 1980, S. 127.
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bezüglichen politischen Machenschaften sind hinlänglich belegt.21 Die philosophische Rezeption in Deutschland war nicht ohne Grund lange Zeit durch das Diktum Adornos geprägt, Heideggers Philosophie verkörpere nichts anderes als einen hohlen und gefährlichen „Jargon der Eigentlichkeit“22. Gerade der Frankfurter Kritischen Theorie diente die heideggersche Philosophie als eine Negativfolie, gegenüber der sie sich ideologisch positiv abheben konnte. Allerdings steht Heidegger dem von Adorno als Weggenossen reklamierten Walter Benjamin näher als Adorno – auch für sein eigenes Selbstverständnis – wahrhaben wollte. Gerade Heideggers These von der Entgegenwärtigung des Heute, sein Gedanke der eigentlichen Zeitlichkeit als der des Zustands ‚augenblicklich zu sein für seine Zeit‘, findet erstaunliche Parallelen in Benjamins Geschichtsphilosophie. Benjamin spricht davon, dass die Geschichtsschreibung die Aufgabe habe, das Einst zu bergen und zu offenbaren und das Gewesene zu „allseitiger und integraler Aktualität“23 zu bringen, damit es erlöst werde. Nur so könne das „Kontinuum der Geschichte“ aufgesprengt werden; die Geschichte habe sich als „Katastrophe“ erwiesen, durchbrechen lasse sie sich durch das im „Jetzt seiner Erkennbarkeit aufblitzende Bild der Vergangenheit“24, wodurch das Vergangene augenblicklich werde als in der Gegenwart zu Erlösendes. Dieser kairologische Zug von Geschichtlichkeit steht bei Benjamin allerdings nicht in der Nachbarschaft zur konservativen Revolution, sondern im Zusammenhang seiner Überlegungen zu den geschichtsphilosophischen Wurzeln sozialistischer Revolution. Heidegger spricht mit viel Emphase von der Notwendigkeit der „Erfüllung der Möglichkeiten des dagewesenen Seins“. Dieser Gedanke u. a. hat bei Gadamer zur Neufassung der Hermeneutik geführt. Darüber hinaus war Sein und Zeit mit seiner Problematisierung von Geschichtlichkeit und seinem abgründigen Zweifel in die hegemoniale Rolle des selbstreflexiven Subjekts eine Initialzündung der Metaphysikkritik im Ganzen. Sie hält bis heute an, sie wurde durch die Spätphilosophie Heideggers nach der „Kehre“ nochmals verstärkt. Über die Meta-
18Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, hg. v. Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 19. 19Ebd., S. 134.
physikkritik verlaufen sicher die wichtigsten heutigen Anknüpfungspunkte an Sein und Zeit und die Philosophie Heideggers insgesamt.
20Heidegger, Martin, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933/34, Frankfurt 1983.
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Ludwig Wittgenstein: Philosophische
Untersuchungen
jens kertscher
„Wenn W mein Name fortleben wird dann nur als Terminus ad quem der großen abendländischen Philosophie. Gleichsam wie der Name dessen der die Alexandrinische Bibliothek verbrannt hat.“1 Ludwig Wittgenstein, der Autor dieser keineswegs auftrumpfend zerstörungslustig zu verstehenden, sondern eher resignativen, vom Bewusstsein eines radikalen kulturellen Bruchs geprägten Tagebucheintragung vom Februar 1931, hat der Nachwelt zwei Bücher hinterlassen: Die 1921 unter dem lateinischen Titel Tractatus r logico-philosophicus publizierte Logisch-philosophische Abhandlung und die Philosophischen Untersuchungen, die 1953, zwei Jahre nach seinem Tod, mit einer englischen Übersetzung seiner Schülerin Elizabeth Anscombe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Beide Bücher haben die Philosophie des 20. Jahrhunderts tiefgreifend geprägt und auch irreversibel verändert, sowohl hinsichtlich bestimmter Thematiken als auch hinsichtlich der Frage nach prinzipiellen Grenzen und Möglichkeiten der Philosophie. Wittgenstein war der Überzeugung, mit dem Tractatus r alle wesentlichen Probleme der Philosophie gelöst zu haben. Er hatte sich deshalb gleich nach dem Ersten Weltkrieg von der Philosophie zurückgezogen und wollte fortan sein Leben radikal ändern. Erst 1929, nachdem er fast zehn Jahre in Abgeschiedenheit gelebt hatte, kehrte er nach Cambridge 21Siehe z. B.: Ott, Hugo, Martin Heidegger. Unterwegs zu einer Biographie, Frankfurt/New York 1988, S. 131ff. 22Adorno, Theodor W., Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt 1964. 23Benjamin, Walter, Gesammelte Werke, Bd. I, 3, S. 1239. 24Ebd., S. 1243. 1 Wittgenstein, Ludwig, Denkbewegungen. Tagebücher 1930–1932, 1936–1937, hg. v. Ilse Somavilla, Frankfurt/Main 1999, S. 39.
Philosophische Untersuchungen
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zurück, wo er vor dem Ersten Weltkrieg bei dem Logiker und Mitbegründer der analytischen Philosophie, Bertrand Russell, studiert hatte. Er nahm dort nicht nur eine Lehrtätigkeit als Philosoph auf, sondern begann auch mit der Arbeit an einem neuen Werk. Ohne hier auf die Einzelheiten der äußerst komplexen Entstehungsgeschichte der Philosophischen Untersuchungen eingehen zu können, sollen doch zumindest einige Aspekte erwähnt werden, die für das Verständnis dieses Buches relevant sind. Dazu gehört vor allem Wittgensteins eigentümliche und für die Gestalt seiner späten Texte folgenreiche Arbeitsweise. Seit 1929 pflegte er seine Gedanken in Notizbücher unterschiedlicher Formate einzutragen und dort an ihnen zu arbeiten. Die Ergebnisse dieser Umarbeitungen wurden jeweils in weitere Notizbücher übertragen. Gleichzeitig erstellte er durch Diktat Typoskripte, an denen er ebenfalls weiterarbeitete. Dabei wurden maschinenschriftliche Stücke handschriftlich bearbeitet oder einfach ausgeschnitten und in andere Reihenfolge gebracht, oder wiederum als lose Blätter in andere Typoskripte bzw. Notizbücher gelegt. Auf diese Weise entstand eine große Zahl von überwiegend nummerierten Bänden – der gesamte Nachlass umfasst nahezu 30 000 Seiten –, die keinen fortlaufenden Text darstellen, sondern eine Sammlung von Varianten und verschiedenen Arbeitsgängen, gleichsam ein Werk in verschiedenen Schichten. Aus diesen unterschiedlichen Textstufen einzelne Schriften im üblichen Sinne des Wortes herauszuT destillieren, ist vor dem Hintergrund dieser eigenwilligen Arbeitsweise eine nicht unproblematische Entscheidung. Tatsächlich gilt für alle Schriften, die unter Wittgensteins Namen aus dem Nachlass veröffentlicht wurden, dass keine davon frei ist von Eingriffen der Nachlassverwalter oder anderer Herausgeber. Das gilt auch für die Philosophischen Untersuchungen. Als fragwürdig gilt insbesondere die Hinzufügung eines thematisch zusammenhängenden Textkonvoluts als so genannten zweiten Teil seitens der Herausgeber. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Wittgenstein beabsichtigt hätte, diese Passagen in die endgültige Version der Philosophischen Untersuchungen aufzunehmen.2 2 Die Philosophischen Untersuchungen werden im Folgenden nach der neuen kritischen Ausgabe von Joachim Schulte zitiert, gefolgt von der Nummer der zitierten Eintragung. Vgl. dazu die Literaturangaben zur Kurzvita. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Wright, Georg Henrik v., „Die Entstehung und
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Streng genommen war alles, was Wittgenstein nach 1929 schrieb, als Beitrag zu einem umfassenden Buchprojekt gedacht: „Meine Absicht war es von Anfang, alles dies einmal in einem Buche zusammenzufassen, von dessen Form ich mir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Vorstellungen machte.“ (S. 7) Gleichwohl lässt sich der Beginn der Arbeit an den Philosophischen Untersuchungen in der heute vorliegenden Version auf das Jahr 1936 datieren. Aus dieser Arbeitsphase entstand eine frühe Fassung des ersten Drittels, ungefähr die Abschnitte 1 bis 188 des heutigen Textes. Danach widmete sich Wittgenstein hauptsächlich Fragen der T Philosophie der Mathematik. Erst in den vierziger Jahren kam er auf das Typoskript der Philosophischen Untersuchungen zurück und schloss die ArT beit daran 1946 ab. Anscheinend hat er den Text noch zu Lebzeiten für den Druck redigiert, sodass man zumindest für den in der alten Ausgabe so bezeichneten ersten Teil – anders als bei allen anderen aus dem Nachlass publizierten Texten – von einem einigermaßen in sich geschlossenen Werk sprechen kann. Dass es zu seinen Lebzeiten trotzdem nicht mehr zum Druck kam, lag wohl auch daran, dass Wittgenstein parallel an anderen Manuskripten arbeitete. Der Text blieb also unvollendet. Wittgenstein war sich des fragmentarischen Charakters seines Unternehmens allerdings bewusst. Wiederum im Vorwort heißt es: „Nach manchen mißglückten Versuchen, meine Ergebnisse zu einem solchen Ganzen zusammenzuschweißen, sah ich ein, daß mir dies nie gelingen würde. Daß das Beste, was ich schreiben konnte, immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden“ (S. 7). Dieser fragmentarische Charakter ist jedoch nicht nur dem beschriebenen Arbeitsstil geschuldet, sondern hat seinen Grund auch in der Sache: „[D]ies hing freilich mit der Natur der Untersuchung selbst zusammen. Sie nämlich zwingt uns, ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen. – Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftskizzen, die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind.“ (S. 7) Auf diese Weise entstand eine Art „Hypertext“, der sich gegen die Auflösung in eine lineare, poetische oder gar logische Abfolge prinzipiell sperrt.3 Die Philosophischen Untersuchungen haben eine subtil verwobene und
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komplexe Struktur, die auf eine äußerliche Gliederung und Hierarchisierung der Textsegmente verzichtet. Zu dieser für philosophische Texte unkonventionellen Form der Darstellung gehört auch der literarisch anspruchsvoll durchgearbeitete, gleichsam aphoristische, mit philosophischer Fachterminologie äußerst sparsam umgehende Stil, zu dessen Registern neben Klarheit und einer geradezu alltagssprachlichen Direktheit und Lakonie auch Vielstimmigkeit und Dialogizität gehören. Diese stilistischen Eigenheiten sind bei der Interpretation zu berücksichtigen. Daher lässt sich der Text nur schwer referieren. Stattdessen sollen in der folgenden Darstellung einzelne, ausgewählte Themen und Motive von verschiedenen Ausgangspunkten her umkreist werden, um auf diese Weise eine Topographie dieser philosophischen Landschaft zu vermitteln. Wittgensteins Interesse in der Philosophie galt fundamentalen Fragen der Logik, der Grundlagen der Mathematik, der Philosophie der Psychologie und des Geistes, in erster Linie aber der Sprachphilosophie. Der folgende Überblick wird sich vor allem auf die sprachphilosophischen Fragen konzentrieren, wobei zwei Motive eine Art roten Faden bilden: die Möglichkeit und Grenzen einer Bedeutungstheorie sowie Wittgensteins Verabschiedung von Philosophie als einer begründenden Metawissenschaft. Die Methode der übersichtlichen Darstellung im sprachphilosophischen Kontext Das 20. Jahrhundert wird gern als das ,goldene Zeitalter der Sprachphilosophie‘ betrachtet. Neben Gottlob Frege und Bertrand Russell – für die zweite Jahrhunderthälfte müsste man auch Philosophen wie Willard v. O. Quine, Donald Davidson und Hilary Putnam erwähnen – gehörte Ludwig Wittgenstein zweifellos zu den herausragenden Gestalten Gestaltung der Philosophischen Untersuchungen“, in: Ders., Wittgenstein, Frankfurt/Main 1990, S. 117–143. Zu Wittgensteins Arbeitsweise vgl. Schulte, Joachim, Wittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart 1989, S. 43–56. 3 Die treffende Charakterisierung der Philosophischen Untersuchungen als „Hypertext“ stammt von Thomas H. Macho: „Über Wittgenstein“, in: Ders.,
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dieser Epoche. Nach dem Vorschlag eines anderen Sprachphilosophen, nämlich John Searle, kann man unter Sprachphilosophie den Versuch verstehen, „zu philosophisch aufschlußreichen Beschreibungen bestimmter allgemeiner Sprachmerkmale – wie zum Beispiel Referenz, Wahrheit, Bedeutung und Notwendigkeit – zu gelangen“.4 Auch wenn W Wittgenstein zu diesen Themen Relevantes zu sagen hatte, so ist die Sprache bei ihm kein beliebiges philosophisches Thema neben anderen. Der Sprache kommt ihm insofern ein Vorrang zu, als er die Auffassung vertrat, dass die Quelle für philosophische Probleme immer „auf dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache beruht“.5 An dieser sprachkritischen Perspektive hat er auch später festgehalten. Das Zitat verdeutlicht zudem, dass sprachphilosophische Überlegungen bei ihm in erster Linie ein Mittel und kein Ziel der Philosophie sind und dass die Sprachphilosophie als solche durchaus nicht grundlegender ist als andere philosophische Disziplinen. Erst der sprachliche Ursprung philosophischer Missverständnisse erhebt Ausdrücke wie „Proposition“, „Bedeutung“, „Grammatik“ in den Rang philosophischer Themen. In einer in Cambridge gehaltenen Vorlesung sagt Wittgenstein: „Frege hatte die Vorstellung, bestimmte Wörter seien einzigartig und stünden nicht auf derselben Ebene wie andere, zum Beispiel ‚Wort‘, ‚Satz‘, ‚Welt‘. Und ich glaubte früher, man könne gewisse Wörter entsprechend ihrer philosophischen Wichtigkeit unterscheiden: ‚Grammatik‘, ‚Logik‘, ‚Mathematik‘. Diesen Anschein von Wichtigkeit möchte ich zunichte machen. Wie kommt es, daß bestimmte Wörter in meinen Untersuchungen immer wieder auftauchen? Es kommt daher, daß ich mich mit der Sprache beschäftige, mit Schwierigkeiten, die sich aus einer bestimmten Verwendung der Sprache ergeben.“6 Hat man einmal über die Verwendung dieser Begriffe Klarheit gewonnen, dann verschwinden auch die sich daran entzündenden Probleme: „Während doch die Worte ‚Sprache‘, ‚Erfahrung‘, ‚Welt‘, wenn sie eine Verwendung haben, eine so niedrige haben müssen, wie die Worte ‚Tisch‘, ‚Lampe‘, ‚Tür‘.“ (97) Klarheit über die Verwendung solcher Ausdrücke ergibt sich nach Wittgenstein jedenfalls nicht aus der Konstruktion einer besonderen philosophischen Theorie, schon gar nicht einer systematischen Bedeutungstheorie. Mit diesem Programm unterschei-
Wittgenstein, ausgew. u. vorgest. v. Thomas H. Macho (= Philosophie jetzt!,
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det sich Wittgenstein von anderen Philosophen seiner Zeit, die die Sprachphilosophie, und dabei insbesondere die Bedeutungstheorie, als Paradigma einer neuen philosophischen Grundlagendisziplin etablieren wollten. Die für die Philosophie des vergangenen Jahrhunderts charakteristische Wendung zur Sprache besagte doch nichts anderes, als dass die Untersuchung des Mediums Sprache jener der unmittelbaren Sachanalyse vorangehen oder sogar an ihre Stelle treten sollte. Dazu bedarf es aber, so glaubte man, einer geeigneten Bedeutungstheorie. Wittgenstein hat seine sprachkritische Methode und das Verhältnis von Gebrauch und Missbrauch der Sprache immer wieder mit Hilfe von ausdrucksvollen Metaphern umschrieben: „Die Verwirrungen, die uns beschäftigen, entstehen gleichsam, wenn die Sprache leerläuft, nicht wenn sie arbeitet.“ (132) Gebrauch und Missbrauch der Sprache verhalten sich demnach zueinander wie „Arbeit“ und „Leerlauf“, und die Philosophie löst ihre Probleme „durch eine Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache“ (109). Was aber geschieht nach Wittgenstein, wenn die Sprache leerläuft? Er schreibt dazu: „Man prädiziert von der Sache, was in der Darstellungsweise liegt. Die Möglichkeit des Vergleichs, die uns beeindruckt, nehmen wir für die Wahrnehmung einer höchst allgemeinen Sachlage.“ (104) Die Sprache läuft demnach genau dann leer, wenn eine mit den Mitteln der Sprache vorgenommene Verallgemeinerung – Wittgenstein spricht auch vom „Ideal“ –, die doch nur eine Eigenschaft der sprachlichen Darstellungsweise ist, in das Beschriebene selbst hineinprojiziert wird, anstatt sie lediglich wie einen Maßstab zu verwenden. Wir bilden uns dann ein, „das Ideal müsse sich in der Realität finden. Während man doch nicht sieht, wie es sich darin findet, und nicht das Wesen dieses ‚muß‘ versteht. Wir glauben: es muß in ihr stecken; denn W wir glauben es schon in ihr zu sehen“ (101). Es geht also nicht darum, die Verallgemeinerung als solche zu problematisieren, sondern „das Vorbild als das, was es ist, als Vergleichsobjekt – sozusagen als Maßstab V – hin[zu]stellen; und nicht als Vorurteil, dem die Wirklichkeit entsprechen müsse“ (131). Zahlreiche philosophische Irrtümer entstehen folglich dadurch, dass zwei Ebenen verwechselt werden, die es auseinander zu halten gilt: Bestimmte Gegenstände – sprachliche oder nichtsprachhg. v. Peter Sloterdijk), München 1996, S. 11–79, hierzu S. 29f.
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liche – erfüllen in bestimmten Zusammenhängen eine ganz bestimmte Funktion, in der sie nicht als das zu Messende, sondern als Maßstab verwendet werden. In solchen Fällen befinden sie sich aber nicht mehr auf der gleichen Ebene wie die anderen Ausdrücke oder Gegenstände, die in einer betrachteten Sprechsituation gebraucht werden. Wittgenstein hat diesen grundlegenden Unterschied zwischen der Funktion eines Gegenstandes oder Ausdrucks als Vergleichsobjekt bzw. Maßstab und seiner Funktion als gewöhnliches Ding unter anderem am Beispiel der Verwendung von Farbmustern erläutert: „Denken wir uns auf ähnliche Weise wie das Urmeter auch die Muster von Farben in Paris aufbewahrt. W So erklären wir: ‚Sepia‘ heiße die Farbe des dort unter Luftabschluß aufbewahrten Ur-Sepia. Dann wird es keinen Sinn haben, von diesem Muster auszusagen, es habe diese Farbe, noch, es habe sie nicht. Wir können das so ausdrücken: Dieses Muster ist ein Instrument der Sprache, mit der wir Farbaussagen machen. Es ist in diesem Spiel nicht Dargestelltes, sondern Mittel der Darstellung.“ (50) Wittgensteins sprachkritische Methode erhält ihr eigenes Profil vor dem Hintergrund eines Vergleichsverfahrens, das lehren soll, diese unterschiedlichen Verwendungsebenen auseinander zu halten. Auf diese Weise sollen die metaphysisch aufgeladenen Begriffe („Satz“, „BedeuW tung“, „Geist“ usw.) auf ihre ganz gewöhnliche Verwendungsweise zurückgeführt werden.7 Durch den Vergleich dieser Begriffe mit prägnanten und einfachen Beispielen aus alltäglichen Kommunikationssituationen werden sie hinsichtlich der Grenzen ihrer Verwendbarkeit erprobt. Die Aufgabe der Philosophie besteht im Licht dieser Methode nicht darin, etwas Unbekanntes, das hinter den sichtbaren Erscheinungen der Alltagssprache liegt, beispielsweise eine allen natürlichen Sprachen zugrunde liegende Logik, durch Analyse aufzudecken. Vielmehr bezieht sich Wittgensteins Methode auf die sprachlichen Erscheinungen, so wie sie sich in der kommunikativen Praxis darstellen: „Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts. – Da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären. Denn, was etwa verborgen ist, interessiert uns nicht. ‚Philosophie‘ könnte man auch das nennen, was vor allen neuen Entdeckungen und Erfindungen möglich ist.“ (126) Man kann diese Methode, bei der sich beschreibende und konstruktive
4 Searle, John R., Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay,
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Momente auf eigentümliche Weise verbinden, anhand von zwei Orientierungen näher erläutern. Die erste Orientierung besteht im Entwerfen von fiktiven Sprechsituationen, die durch den Vergleich mit Darstellungen tatsächlicher alltagssprachlicher Verhältnisse oder anderen erfundenen Situationen dazu beitragen sollen, das, was die Sprecher ständig vor Augen haben und daher so selbstverständlich ist, dass sie es gar nicht mehr als etwas Auffälliges wahrnehmen, in ein neues Licht zu rücken. Darstellungsweisen des gewöhnlichen Sprachgebrauchs mögen banal erscheinen. Oftmals ist es aber gerade aufschlussreich, sich klar zu machen, aufgrund welcher Kriterien eine Ausdrucksweise als selbstverständlich erscheint. So erlauben die Beispiele, das Typische oder auch Irreführende einer Ausdrucksweise vorzustellen, um sich die unreflektierten, mit einem bestimmten Begriffsgebrauch einhergehenden Vorstellungen bewusst zu machen: „Die Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten.“ (109) Um die angestrebte Übersicht zu erreichen und den lehrreichen Vergleich zu ermöglichen, kann der Philosoph die untersuchten Sprachgestalten durchaus neu ordnen, vereinfachen oder durch fiktive Elemente anreichern, sodass eine ganz neue Gestalt als Vergleichsobjekt entsteht. Dadurch soll dem Betrachter sichtbar gemacht werden, wie die untersuchten Phänomene zusammenhängen oder wie man sie auch sehen könnte, um sich von der Anziehungskraft einer bestimmten einseitigen Betrachtungsweise zu lösen. Wittgenstein nennt solche Neuordnungen und Zusammenstellungen auch „übersichtliche Darstellungen“: „Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen.“ (122) Die übersichtliche Darstellung ist neben der Konstruktion von Vergleichsobjekten die zweite erwähnte methodische Orientierung. Sprachspiele und Lebensformen Eines der bekanntesten, vielleicht das bekannteste Konzept der Philosophischen Untersuchungen, nämlich dasjenige des Sprachspiels, erhält im Kontext der Methode der übersichtlichen Darstellung seine Bedeutung.
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Die Sprachspielmetapher soll nicht einfach nur dazu dienen, die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke adäquater zu erläutern als wissenschaftliche Sprachtheorien. Es handelt sich auch nicht um ein theoretisches Konzept, das generell erklären soll – so wird die Metapher gern missverstanden –, wie Sprache tatsächlich funktioniert. Sprache selbst ist nicht ein Sprachspiel und besteht auch nicht aus einer identifizierbaren Menge von Sprachspielen. Das ist der Grund, weshalb Wittgensteins Aufzählung von Sprachspielen offen gehalten ist und eine durchaus heterogene Menge an Sprechsituationen umfasst. Man muss sich stattdessen zunächst klar machen, dass der Vergleich der Sprache mit einem Spiel im Zusammenhang mit Wittgensteins Methode und seiner Auffassung von der Funktion und den Aufgaben der Philosophie steht: „Unsere klaren und einfachen Sprachspiele sind nicht Vorstudien zu einer künftigen Reglementierung der Sprache, – gleichsam erste Annäherungen, ohne Berücksichtigung der Reibung und des Luftwiderstands. Vielmehr stehen die Sprachspiele da als Vergleichsobjekte, die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unserer Sprache werfen sollen.“ (130) Im Einklang mit Wittgensteins Methode der übersichtlichen Darstellung dienen Sprachspiele als Maßstäbe und Betrachtungsnormen. Das ist aber nur der eine Aspekt. Die irritierend simplen, ja geradezu provozierend banal anmutenden Beispiele wie diejenigen aus den Eröffnungsabschnitten der Philosophischen Untersuchungen, bei denen es um die Situation des Einkaufens von fünf roten Äpfeln geht oder um die Sprachhandlungen, die von zwei Bauarbeitern auf einer Baustelle vollzogen werden, zielen darauf ab, die Aufmerksamkeit auf die je besonderen Umstände einer Äußerung zu richten, zu denen in erster Linie die das Sprechen begleitenden Handlungen gehören. Die Annäherung der Sprache an ein Spiel dient dazu, den Blick für die Komplexität von Sinnbedingungen zu schärfen, indem sie die Relevanz von konkreten Umständen, Lernsituationen, Interaktionen, des Zusammenspiels von Sprachlichem und Nichtsprachlichem, von eingespielten Handlungsabläufen an elementaren Situationen vorführt: „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen.“ (7) So treten im Lichte ungewöhnlicher Beispiele bisher unbeachtete Merkmale von
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scheinbar vertrauten Sprechsituationen hervor, sodass falsche Auffassungen hinsichtlich des Gebrauchs bestimmter Ausdrücke korrigiert oder missachtete Bedeutungsnuancen ans Licht geholt werden können. Die Sprachspielmetapher erlaubt es außerdem, die verallgemeinernde Rede von „der Sprache“ im Singular zu erschüttern. Denn der Ausdruck „Spiel“ evoziert gegen solche Verallgemeinerungstendenzen eine Mannigfaltigkeit von Spielen, die gleichberechtigt sind und in keinem Fundierungsverhältnis nebeneinander stehen. Die Einsicht in die Pluralität, Kontingenz und Differenz von Sprachspielen vergegenwärtigt zudem die Besonderheit und Begrenztheit des jeweils untersuchten Sprachspiels. Pluralisierung und Antifundamentalismus gehören explizit zu den Grundzügen von Wittgensteins Spätphilosophie: „Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‚Zeichen‘, ‚Worte‘, ‚Sätze‘, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.“ (23) Wittgenstein legt somit nahe, Sprache nicht als ein einheitliches Phänomen zu betrachten, sondern als einen offenen Begriff „mit verschwommenen Rändern“ (71): „Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen gar nicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, – sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt. Und dieser Verwandtschaft, oder dieser Verwandtschaften wegen nennen wir sie alle ‚Sprachen‘.“ (65) Für diese Art der Verwandtschaft hat Wittgenstein den Ausdruck „Familienähnlichkeit“ geprägt. Damit weicht er von einem großen Teil der philosophischen Tradition ab, indem er darauf hinweist, dass die herkömmliche Konzeption, der zufolge das Vorhandensein gemeinsamer Merkmale verschiedener Dinge einen Allgemeinbegriff konstituiert, unzulänglich und manchmal sogar irreführend ist. Das gilt vor allem für das Feld der alltagssprachlichen Ausdrücke, aus dem auch die Philosophie ihre Terminologie schöpft und deren Anwendungsbereich, anders als derjenige wissenschaftlicher Begriffe, vergleichsweise offen ist. Natürliche Sprachen entFrankfurt/Main 1983, S. 12.
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halten zwar ebenfalls eine Vielzahl von Ausdrücken, deren regelmäßiger Gebrauch von Ähnlichkeiten in der jeweils bezeichneten Sache abhängt. Anders als bei fixierten wissenschaftlichen Termini braucht diese Ähnlichkeit jedoch nicht vollständig zu sein, und nicht alles, was mit demselben Wort bezeichnet wird, muss die gleichen Ähnlichkeitsmerkmale oder eine gemeinsame wesentliche Eigenschaft aufweisen, damit der Ausdruck verständlich bleibt: „[D]enn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc.“ (67) Von Familienähnlichkeiten zu sprechen, ist demnach ein Gestus des Verzichts auf voreilige Verallgemeinerungen, der mit der Aufforderung: f „denk nicht, sondern schau!“ (66) pointiert charakterisiert ist. Die Betonung des Handlungskontextes von Sprechsituationen ist für sich genommen nicht einmal Wittgensteins originellste Einsicht. Ungewöhnlich ist vielmehr die Art und Weise, wie er mit Hilfe des Sprachspielkonzepts Sprache, Handeln und die sonstigen Äußerungsumstände in einen Zusammenhang stellt: „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (23) Damit erfasst Wittgenstein zweifellos auch ein Phänomen, das später von Sprechakttheoretikern wie John Austin und John Searle systematisch untersucht wurde, nämlich, dass alles Sprechen insofern immer auch ein Handeln ist, als man mit einigen Äußerungen, indem man sie ausspricht, zugleich etwas tut. Die Einbettung von Sprache in dazugehörige Lebensformen geht aber darüber noch auf signifikante Weise hinaus, denn Wittgenstein erklärt damit Nichtsprachliches zu einer notwendigen Bedingung für das Verständnis von Sprache.8 Der Sprachgebrauch ist nicht nur einfach ein Tun, sondern er ist, wie Wittgenstein schreibt, zugleich Teil eines Tuns, er ist darin eingebettet. Wittgenstein geht sogar so weit zu behaupten, dass man nicht mehr sinnvoll von einer Sprache reden kann, wenn der sinnkonstituierende Zusammenhang zwischen den Worten und den übrigen Handlungen zerbricht: „Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.“ (19) Wittgensteins Beispiele verdeutlichen, dass der Ausdruck „Lebens5 Wittgenstein, Ludwig, Tractatus r logico-philosophicus, in:
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fform“ nicht nur die Gesamtheit und Pluralität der kulturellen Praktiken einer Sprachgemeinschaft meint, sondern darüber hinaus auf einer ganz grundlegenden Ebene auf die Handlungsweisen verweist, die den Menschen als Lebewesen kennzeichnen und die er an einer Stelle als die „gemeinsame menschliche Handlungsweise“ (206) bezeichnet. Dabei kommt es vor allem darauf an, den Zusammenhang zwischen dem Sprachgebrauch und eingespielten, habitualisierten Verhaltensweisen zu beachten, die den Sprechern so selbstverständlich erscheinen, dass sie darüber kaum noch nachdenken und sie ihnen gleichsam zur zweiten Natur geworden sind.9 Aus dieser Perspektive zeichnet sich ein von der traditionellen Sprachphilosophie abweichendes Bild von der Sprachlichkeit des Menschen ab, das zu einer Umdeutung zentraler sprachphilosophischer Kategorien führt. Bedeutung und Regeln Am meisten Anstoß hat in diesem Zusammenhang bis heute Wittgensteins Verabschiedung der Bedeutungstheorie erregt. Man hat darin einen Rückfall hinter Frege sehen wollen. Allenfalls entnahm man den einschlägigen Äußerungen aus den Philosophischen Untersuchungen den Ansatz zu einer zukünftigen Bedeutungstheorie, an deren systematischer Vollendung Wittgenstein bloß gescheitert sei. Dass dem so nicht ist, kann man vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen verdeutlichen. Es gibt zwei berühmte Eintragungen in den Philosophischen Untersuchungen, die Wittgensteins Verständnis sprachlicher Bedeutung zusammenfassen: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ (43) Die andere relevante, diese Eintragung ergänzende Bemerkung lautet: „‚Die Bedeutung des Wortes ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt.‘ D. h.: willst du den Gebrauch des Worts ‚Bedeutung‘ verstehen, so sieh nach, was man ‚Erklärung der Bedeutung‘ nennt.“ (560) Der Witz beider Bemerkungen besteht darin, dass Bedeutung kein analytisch isolierbarer Gegenstand einer theoretischen Untersuchung
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der Sprache ist, sondern lediglich in der Erklärung sprachlicher Äußerungen vorkommt. Das Wissen um die Bedeutung eines Ausdrucks liegt demnach einzig und allein in dem, was man in einer Erklärung des Ausdrucks über seinen Gebrauch sagen kann. Wittgenstein rehabilitiert für die philosophische Semantik die Relevanz alltagssprachlicher Erklärungen, die sich in der Regel mit Beispielen zufrieden geben und es gestatten, den Gebrauch eines Ausdrucks auf alles auszudehnen, was mit diesen Beispielen hinreichende Ähnlichkeit aufweist. Der Irrtum gängiger philosophischer Bedeutungstheorien besteht im Licht dieser Sichtweise in der Annahme, es gäbe so etwas wie eine ‚wirkliche‘ Bedeutung, die sich auch unabhängig vom Kontext solcher konkreten, im Ergebnis mehr oder weniger exakten Erklärungspraktiken bestimmen und mit deren Hilfe sich der korrekte Gebrauch eines Ausdrucks eindeutig und angemessen erklären ließe. Nach Wittgenstein haben Ausdrücke nur die Bedeutung, die die Sprecher ihnen geben und die daher auch nur in den Erklärungen enthalten sein kann, die sie davon zu liefern imstande sind: „Man sagt: Es kommt nicht aufs Wort an, sondern auf seine Bedeutung; und denkt dabei an die Bedeutung, wie an eine Sache von der Art des Worts, wenn auch vom Wort verschieden. Hier das Wort, hier die Bedeutung. Das Geld und die Kuh, die man dafür kaufen kann.“ (120) Die Formulierung von der Bedeutung als Gebrauch erfüllt somit eine kritische Funktion, die die Vorstellung abwenden soll, dass Bedeutung eine Eigenschaft sprachlicher Zeichen ist, die man theoretisch wie eine Art Gegenstand bestimmen kann. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Bedeutung die Position eines Zeichens in einem offenen Zusammenhang von Zeichengebrauch und ihn begleitenden Praktiken ist, wobei immer schon eine Pluralität von Verwendungsweisen vorausgesetzt wird. Die Vielfalt der Kombinationen, in denen ein Wort so erscheinen kann, vermittelt eine differenzierte Vorstellung von seinem Sinn sowie die Erfahrung, dass dieser nicht vollständig erschließbar ist. Der Übergang von der Auffassung der Sprache als Repräsentationssystem zur Sprache als Handlungszusammenhang führt so zur Verabschiedung eines theoretischen Programms, das darauf abzielt zu bestimmen, was Bedeutungen außerhalb solcher praktischen Zusammen-
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hänge sind. Was bleibt, sind ‚Bedeutungen‘ als Züge eines Sprachspiels, das mit dem Erklären von Bedeutungen zu tun hat. Auch der in vielen Bedeutungstheorien übliche Rekurs auf den Regelbegriff ändert daran nach Wittgenstein nichts. So mag es zwar sinnvoll sein zu behaupten, dass man den Gebrauch eines Wortes erklären kann, indem man seine Verwendungsregeln erläutert. Um das zu tun, ist es jedoch nicht erforderlich, das beobachtbare Sprachverhalten als Aktualisierung einer semantischen Kompetenz in Gestalt eines von einzelnen Sprechereignissen, also der Regelanwendung unabhängigen Wissens um ein Regelwerk zu begreifen. Der dabei vorausgesetzte Automatismus zwischen Regel und ihrer Anwendung kann nach Wittgenstein jedoch noch nicht einmal bei scheinbar so präzisen und expliziten Regeln wie denen des arithmetischen Kalküls vorausgesetzt werden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Wittgensteins Bild von der Regel als Wegweiser: „Eine Regel steht da, wie ein Wegweiser. – Läßt er keinen Zweifel offen über den Weg, den ich zu gehen habe? Zeigt er, in welche Richtung ich gehen soll, wenn ich an ihm vorbei bin; ob der Straße nach, oder dem Feldweg, oder querfeldein? Aber wo steht, in welchem Sinne ich ihm zu folgen habe; ob in der Richtung der Hand, oder (z. B.) in der entgegengesetzten? […] – Also kann ich sagen, der Wegweiser läßt doch einen Zweifel offen.“ (85) Wie der Wegweiser vermag die Regel selbst nicht festzulegen, welche Handlungsweise als regelkonform gilt. Die Regel kann ihre Anwendung nicht selber regeln. Man kann den Zweifel daher sogar bis zum Paradox zuspitzen. Nicht nur kann jede beliebige Handlungsweise als regelkonform hingestellt werden, ebenso lässt sich jede Handlungsweise als der Regel widersprechend interpretieren, womit die Unterscheidung zwischen Übereinstimmung und Widerspruch sinnlos wird: „Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei. Die Antwort war: Ist jede mit der Handlung in Übereinstimmung zu bringen, dann auch zum Widerspruch. Daher gäbe es hier weder Übereinstimmung noch Widerspruch.“ (201) Wer so argumentiert, übersieht jedoch, dass das Handeln nach ReW geln nicht auf einer Interpretation der Regel beruht, wie im Paradox Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/Main 1984, Vorwort, S. 9.
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vorausgesetzt wird, sondern notwendigerweise in einem Handlungszusammenhang steht, den man miteinbeziehen muss, wenn man den Begriff des Handelns nach Regeln erklären will. Das Regelfolgen ist keine theoretische Aktivität, bei der ein allgemeines Prinzip auf Einzelfälle appliziert wird. Eine bloße „Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft […]. Die Deutungen allein bestimmen die Bedeutung nicht“ (198). Erst durch die Rückbindung an Praktiken, eingeübte Verfahrensweisen, oder ganz allgemein: Lebensformen wird der Zusammenhang von Regel und Handlung als ein normativer verständlich. Es beruht auf einem Missverständnis des Wortes „Regel“, wenn man von einer Person, die ohne Vertrautheit mit den jeweils relevanten Praktiken auf eine bestimmte Weise verfährt, behauptet, sie folge einer Regel. Auch wenn diese Person der Regel zu folgen glaubt, ist die Unterstellung, sie folge ihr tatsächlich, solange unberechtigt, wie die betreffende Person nicht in der Lage ist, durch Anwendung der Regel vorzuführen, dass sie die Regel tatsächlich verstanden hat: „Darum ist ‚der Regel folgen‘ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ‚privatim‘ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.“ (202) Eine Spielregel kann es nur als Element eines Spieles geben, und Gesetze – um einen anderen Regeltypus heranzuziehen – benötigen einen ganz bestimmten institutionellen und gesellschaftlichen Rahmen. Unabhängig von einem solchen Rahmen, der durch eine Vielzahl den jeweiligen Regeln vorgängigen Praktiken konstituiert wird, macht es keinen Sinn, von Regelfolgen zu sprechen. Dieser notwendige Zusammenhang von Regeln und Praxis ist nach Wittgenstein allerdings nicht nur ein faktischer, sondern ein begrifflicher, d. h., er gehört selbst zur korrekten Verwendung des Regelbegriffs.10 6 Wittgenstein, Ludwig, V Vorlesungen. Cambridge 1930–1935, Frankfurt/Main 1984, S. 160. 7 Vgl. V 116: „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“ 8 Schulte, Joachim, Wittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart 1989, S. 146. 9 Ebd., S. 146f. 10Ebd., S. 160f. und 194. 11Die These von der notwendigen Öffentlichkeit von Kriterien und das damit
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Das vieldiskutierte Privatsprachenargument bezieht sich nicht zuletzt auch auf diesen begrifflichen Zusammenhang von Regeln und dazugehörigen Praktiken. Die Vorstellung eines privaten Regelfolgens kann vor dem Hintergrund der vorangehenden Überlegungen zum Regelbegriff aus zwei Gründen abgewiesen werden. Zum einen wäre solches Regelfolgen nichts weiter als der unberechtigte Glaube, einer Regel zu folgen, da alle Konsequenzen des Regelfolgens und die damit zusammenhängenden Praktiken fehlen. Zum anderen setzt der Begriff des Regelfolgens öffentliche Kriterien voraus, nach denen die Richtigkeit einer Handlung beurteilt werden kann. Wäre es möglich, einer Regel privat zu ffolgen, würde die für das Handeln nach Regeln konstitutive Unterscheidung zwischen regelwidrigen und regelkonformen Handlungen hinfällig. Man würde wieder auf das Paradox zurückgeworfen. Darin besteht nach Wittgenstein die Intersubjektivität der Sprache. Die sprachphilosophischen Konsequenzen sind offensichtlich, denn unter diesen Voraussetzungen bedarf Sprachliches als Gegenstand philosophischer Untersuchungen, also auch die Rede über Bedeutungen, öffentlicher Kriterien. Denn von einer Sprache kann man nur dann reden, wenn der Gebrauch ihrer Ausdrücke gerechtfertigt, also einer Überprüfung zugänglich ist.11 Die Philosophischen Untersuchungen in der Diskussion Die Entwicklung der Philosophie im 20. Jahrhundert scheint durch eine Wandlung gekennzeichnet, die zu einer Situierung, Konkretisierung W und Dezentrierung zahlreicher grundlegender Ordnungsbegriffe geführt hat. Zu den maßgeblichen Faktoren in dieser Entwicklung gehört die Fokussierung auf das Thema der Sprache. Wie die Handlung im Pragmatismus oder der Leib in einigen Richtungen der Phänomenologie ist sie eine jener Dimensionen, mittels derer traditionelle Dualismen wie transzendentales und empirisches Subjekt, Körper und Geist, Bewusstsein und Gegenstand unterlaufen werden sollten. In Wittgensteins Sprachspielkonzeption sind eine Reihe wesentlicher Motive eines Denkens im Bewusstsein dieses einschneidenden Wandels integriert. Dafür stehen bei ihm Kategorien wie Praxis und Lebensform sowie die Absage
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an Philosophie als System oder fundierende Theorie ein. Gleichzeitig ist mit der Sprachpraxis das Medium in den Blickpunkt gerückt, in dem Kommunikation und Reflexion über Kommunikation stattfinden kann, das also auch der Ort des Philosophierens ist. Die Funktionsbestimmung der Philosophie bleibt von diesem Perspektivenwechsel zur Praxis des Sprechens nicht unberührt. Die Philosophie lässt alles unverändert, sie lässt, wie Wittgenstein unablässig betont, „alles wie es ist“ (124). Allerdings vermag sie es trotzdem, unsere Sichtweise auf die Praxis, deren Teil sie selbst ist, zu ändern. Vor allem aber verändert sie die Einstellung T zu den Sichtweisen, die nach Wittgenstein meistens mit dem Gebrauch bestimmter Begriffe unreflektiert einhergehen. Hier haben die philosophischen Fragen ihre Wurzeln. Deshalb kann er behaupten, Gleichnisse oder Bilder hielten uns gefangen (112), andererseits aber die eigene Leistung als das Erfinden neuer Gleichnisse herausstellen. Worauf es in der Philosophie ankommt, ist dann weniger die KonW struktion von Theorien zur Lösung vermeintlich überzeitlicher philosophischer Probleme, sondern mit einem eingespielten Sprachgebrauch einhergehende und von den Sprechern unreflektiert übernommene Sichtweisen in Bewegung zu halten. Wittgensteins vorzügliches Mittel besteht dabei darin, abgenutzte, den Blick verstellende Bilder, Analogien usw. durch neue Gleichnisse zu ersetzen, die wiederum nur im Zusammenspiel einer Betrachtung der Phänomene und der experimentellen Erprobung von Verwendungsweisen sprachlicher Ausdrücke im Rahmen von Sprachspielen zustande kommen. Wittgensteins Philosophiekonzeption hat dabei immer die Teilnehmerperspektive zur Voraussetzung. Sie ist weniger eine von den Lebenszusammenhängen abgelöste Theorie als vielmehr eine Praxis, die darin besteht, das eigene Tun unablässig im Licht immer neuer Vergleiche und Gleichnisse zu reflektieren. Wenn Wittgenstein gegen „die Verhexung unseres Verstandes“ (109) die im Fluss des Lebens stehende, arbeitende Sprache anführt, dann setzt er Phänomene in Beziehung und lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Netz alltagssprachlicher Begriffe, das in die ganze Sprache auszustrahlen vermag und auch geeignet ist, ein von außen, z. B. von den exakten Wissenschaften an die alltägliche zusammenhängende Privatsprachenargument haben weit über sprachphilosophische Themen hinausreichende Konsequenzen: Wittgenstein hat
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Sprachpraxis herangetragenes Selbstverständnis abzuwehren oder durch eines zu ersetzen, das dieser teilnehmenden Perspektive der gemeinsam Sprechenden und Handelnden entsprungen ist. Die Auszeichnung der Teilnehmerperspektive, ihre Unausweichlichkeit, unterstreicht den irreduzibel sozialen Charakter sprachlicher Phänomene. Dabei erweitert sich bei Wittgenstein der Zeichencharakter der Sprache, indem er Sprachgebräuche nicht auf Wortverwendungen reduziert, sondern einem Zusammenspiel zwischen Gestik, Mimik, Klang, komplexeren Handlungsverläufen und Sprache als dem Zeichenhaften im engeren Sinne entspringen lässt: „Unsere Rede erhält durch unsre übrigen Handlungen ihren Sinn.“12 Das Sprachliche und sein Problem der Bedeutung ist nicht allein aus sich heraus zu begreifen. Wittgenstein hat daher die zeichenimmanente Sphäre zu den Erscheinungen und Gestalten hin transzendiert, die sich als Sprachspiele beschreiben und an denen sich sinnhafte Zusammenhänge sichtbar machen lassen, ohne jedoch ihre Fülle jemals ausschöpfen zu können. Der beständige Verweis des späten Wittgenstein auf kontingente Lebensformen, auf kulturelle Praktiken als unhintergehbaren Rahmen für die Genese von Sinn ist als Ergebnis solcher Umwendung des Blicks zu verstehen. Das bleibt neben seinen Gedanken zur Intersubjektivität der Sprache und zur Öffentlichkeit der Kriterien des Sprachgebrauchs eine der wichtigsten Einsichten seiner Philosophie überhaupt. In der Rezeptionsgeschichte von Wittgensteins Spätphilosophie, die unmittelbar nach Veröffentlichung der Philosophischen Untersuchungen einsetzte, wurden vor allem diese Themen diskutiert. Seine Akzentuierung der Vielfalt sprachlicher Äußerungen und ihrer Verwendungsweisen in kommunikativen Situationen hat innerhalb der pragmatischen Orientierung der Sprachphilosophie in den fünfziger und sechziger Jahren in Oxford zunächst die Entwicklung der ordinary language philosophy (Philosophie der Alltagssprache) begünstigt, aus der die Sprechakttheorie hervorgegangen ist. Aber auch aktuelle sprachpragmatische Ansätze wie Robert B. Brandoms groß angelegter, sich explizit auf Wittgenstein berufender systematischer Versuch, die Sprach- und Handlungspraxis als Ganzes auf den Begriff zu bringen, wäre ohne die in den Philosophischen Untersuchungen entwickelten Ideen nicht denkbar.
In allen auf Wittgenstein folgenden sprachpragmatischen und analytischen Theorien zeichnet sich jedoch die Tendenz ab, seine sprachphilosophischen Gedanken zu Theorien mit weit reichenden systematischen Ansprüchen auszuarbeiten. Der experimentelle, ausdrücklich auf systematisierende Synthesen verzichtende Zug von Wittgensteins philosophischem Minimalismus geht dabei freilich verloren. Neben dieser vor allem im englischsprachigen Raum vorherrschenden Interpretationstendenz wurden Ideen aus den Philosophischen Untersuchungen auch außerhalb der orthodox analytischen Philosophie angloamerikanischer Prägung produktiv aufgenommen. Das gilt für Richard Rortys Vermittlung zwischen dem amerikanischen Pragmatismus und der kontinentaleuropäischen Hermeneutik, die Wittgensteins Pluralismus für eine relativistische Kulturphilosophie fruchtbar zu machen sucht, ebenso wie für Jean-François Lyotards Konzept des Widerstreits unvereinbarer Sprachspiele, das für das Selbstverständnis der so genannten Postmoderne bedeutsam wurde. In der einzelwissenschaftlichen Forschung hat Wittgensteins Spätphilosophie hauptsächlich in der Soziologie, der Ethnologie und zuletzt auch in der Wissenschaftsforschung neue Perspektiven eröffnet.
die hier nur angedeutete Privatsprachenproblematik vor allem im Zusammenhang mit der Zuschreibung von Schmerzempfindungen und des unter-
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Vom tätigen Leben V
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Mit The Human Condition (Vita Activa oder Vom tätigen Leben) veröffentlicht Hannah Arendt im Jahr 1958 ihr zweites Hauptwerk.1 Nachdem sie in The Origins of Totalitarianism aus dem Jahr 1951 (dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1955) den anspruchsvollen Versuch unternommen hatte, die nationalsozialistische und stalinistische Katastrophe auf den Geist des europäischen Antisemitismus und Imperialismus zurückzuführen, erweitert sie in The Human Condition den Fokus ihrer Analysen. Sie fragt nun nach der Handlungsrationalität und den Denkformen, die den beiden totalitären Bewegungen den Weg bereitet haben. Die Geschichte einer fatalen Transformation des Handelns und Denkens, in deren Verlauf sich der Mensch vom zoon politikon zu einem animal laborans verwandelt, verfolgt Arendt bis zurück in die klassische Antike. Als zoon politikon begreift sie dabei den politisch engagierten, in der Kooperation mit seinen Mitbürgern aufgehenden Bewohner der Polis, des antiken Stadtstaates; als animal laborans das auf die bloße Selbsterhaltung und den Stoffwechsel mit der Natur reduzierte ‚Arbeitstier‘ der modernen Fabriken und Großstädte. Arendt stellt die Vorbedingungen des Totalitarismus, der das animal laborans zugleich erzeugt und funktionalisiert, in einen anthropologischen, handlungstheoretischen und geschichtsphilosophischen Zusammenhang. Ihr Buch, das als Versuch einer philosophischen Zeitdiagnose anhebt, entwickelt sich zu einer umfassenden Theorie des Menschen. Die ersten Kapitel des Buches widmet die Autorin den Grundzügen einer politischen Anthropologie und der Einführung des Konzepts der vita activa. Das zweite Kapitel charakterisiert den politischen Raum als einen im wesentlichen Sinne öffentlichen Raum. Die drei Kapitel im
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Anschluss sind jeweils einem Tätigkeitstyp gewidmet: dem Arbeiten, Herstellen und Handeln. Das sechste und abschließende Kapitel skizziert eine Theorie der modernen Welt. Die Krise des Politischen Die Krise ihrer Zeit, die sich in den manifest-totalitären Staaten nur am augenscheinlichsten ausdrückt, in letzter Konsequenz aber alles menschliche Leben dieser Welt berührt, deutet Arendt als eine Krise des Politischen. Das politische Handeln, verstanden als Praxis der permanenten, sprachlich vermittelten Selbstschöpfung einer Gemeinschaft, wird in der Moderne durch ein verfügendes, objektivierendes und instrumentelles Herstellen ersetzt, das sich am Vorbild der Technik orientiert. In den Einleitenden Bemerkungen macht die Autorin zwei Tendenzen für diese Krise verantwortlich: den Weltverlust, der mit der Technisierung der menschlichen Lebenswelt einhergeht, und die Verwandlung der modernen Gesellschaft in eine Arbeitsgesellschaft. Im zentralen „Ereignis des Jahres 1957“ (7) – dem Start des ersten Satelliten, der eine Erdumlaufbahn erreicht – verdichtet sich eine Euphorie technischer Machbarkeit, die auch auf die politische Sphäre übergreift. Die Angelegenheiten des Gemeinwesens, so lautet die technokratische Vision, sollen sich nach Art technischer Probleme bewältigen lassen. Die Menschen und die Formen ihrer Vergemeinschaftung werden als Mittel und Zwecke für Prozesse der Herstellung begriffen. Wir begegnen uns nicht länger im Bezugsgewebe unseres Handelns und Sprechens, sondern in Zweck-Mittel-Reihen, in denen jeder und jedes zum Mittel für Herstellungszwecke degradiert werden kann. Die Technisierung der Welt verwandelt die Gesellschaft insgesamt in eine „Arbeitsgesellschaft“ (10) – ein Begriff, den Arendt in Vita Activa prägt und inhaltlich konturiert. Ihre Analyse der Arbeitsgesellschaft hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Sie beobachtet eine Ambivalenz im Spannungsfeld von Lebensführung und Arbeit, die sich in der Gleichzeitigkeit des Endes und der Universalisierung von Arbeit ffestmacht: „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die
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sie sich noch versteht.“ (11f.) Die „Ausbreitung der Automation“ werde dazu führen, „daß die Fabriken sich in wenigen Jahren von Menschen geleert haben werden“ (11) – eine Prognose, die sich bewahrheitet hat. Der Allgegenwart der Arbeit, die in der modernen Gesellschaft alle anderen Tätigkeitstypen marginalisiert und entwertet, entspricht ihr Ende, eine drastische Verknappung der Ressource Arbeit, die sowohl Arbeitende als auch Arbeitsuchende umso stärker an sich bindet und damit tendentiell entpolitisiert. Arendts theoretischer Anspruch besteht nun vor allem darin, die Geschichte dieser Reduktion aller Tätigkeitsformen auf Arbeit zu rekonstruieren und das Eigenrecht des politischen Handelns gegenüber dem Herstellen und Arbeiten einzuklagen. Neben der Technisierung der Lebenswelt und der Verwandlung der Gesellschaft in eine Arbeitsgesellschaft macht Arendt noch einen dritten Faktor für die Krise des Politischen in der Moderne verantwortlich: die Verdrängung des öffentlichen Raumes durch den privaten. Der klassischen Antike galt die Bevorzugung des Privaten gegenüber dem Öfffentlichen als im höchsten Grade pathologisch. Die Griechen nannten diejenigen, die die öffentliche Auseinandersetzung scheuten und ganz den Angelegenheiten ihres eigenen Hauswesens verhaftet blieben, abschätzig idiotes. Die neuzeitliche Konjunktur der Gesellschaft und des Sozialen, die das Politische P ablösen, führt Arendt auf einen Siegeszug des Privaten zurück. Die Gesellschaft, wie sie etwa Rousseau konzipiert, gilt nicht mehr als Sphäre agonaler Konflikte freier Bürger, sondern als „ein ins Gigantische gewachsener Haushaltsapparat“, eine „gigantische Überfamilie“, deren „Organisationsform die Nation bildet“ (32). Die Gesellschaft wird verwaltet wie ein Besitz, wie ein antiker oikos, ein Hauswesen, zu dem auch Frauen, Kinder und Tiere des Hausherrn gehören. Während sich in der Polis nur Freie und Gleiche begegnen, konstituiert sich die neuzeitliche Gesellschaft in Begriffen des Herrschens und Beherrschtwerdens. Arendt stellt insbesondere Rousseau als Entdecker und Apologeten des Privaten dar. Er stehe am Anfang sowohl der Ideengeschichte des Intimen und der Innerlichkeit als auch der Gesellschaft; er konzipiere die Gesellschaft organizistisch, als große Familie. In dieser Gesellschaft handele man nicht länger, sondern verhalte sich nur noch. Eine Büro-
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kratie erlasse „zahllose Regeln“, um „die Einzelnen gesellschaftlich zu normieren, sie gesellschaftsfähig zu machen, und spontanes Handeln […] zu verhindern“ (41). Konformismus setze sich an die Stelle von Gleichheit. Die moderne Massengesellschaft steigere diese Entwicklung ins Unermessliche. Negative Anthropologie Arendts Anthropologie lässt sich angemessen nur als politische explizieren, die ,den‘ Menschen von vornherein über seine politische Praxis ausgezeichnet sieht. Als Voraussetzung des Vermögens zur Politik begreift Arendt die „Natalität“ (15) des Menschen. Das Faktum, dass er geboren wird, deutet sie dabei nicht biologistisch; es steht nicht dafür, dass der einzelne Mensch qua Geburt zur Gattung des homo sapiens gehört. Mit jedem Geborenwerden geht vielmehr ein absoluter Anfang einher, der als Vorwegnahme des Anfangenkönnens im Handeln interpretiert wird: „Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen Anfang zu machen, d. h. zu handeln. Im Sinne von Initiative – ein initium setzen – steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten.“ (15f.) Arendt bezieht sich hier implizit auf die Freiheitsphilosophien Kants, Hegels und Schellings, die den Menschen über seine ihm gegebene Freiheit charakterisiert sehen: seine Fähigkeit anzufangen. So wie die Menschen in der Welt einerseits nur als von der Natur und von anderen Menschen „bedingte Wesen“ (16) begriffen werden können, so wohnt ihnen kraft ihrer Natalität auch ein Unbedingtes inne, das jeden Versuch einer anthropologischen Definition des Menschen scheitern lässt. Für Arendt „berechtigt uns nichts zu der Annahme, daß der Mensch überhaupt ein Wesen oder eine Natur im gleichen Sinne besitzt wie alle anderen W Dinge“ (17). Die zentrale Frage ihrer politischen, das Faktum der Freiheit betonenden Anthropologie lautet insofern auch nicht „Was wir, sondern: Wer wir sind“ (17). Diesem Wer eignet eine Unverfügbarkeit, die alle Beschiedlichen Gebrauchs von Empfindungsprädikaten in der ersten und
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stimmungsversuche scheitern lässt: „Sobald wir versuchen zu sagen, wer jemand ist, beginnen wir Eigenschaften zu beschreiben, die dieser Jemand mit anderen teilt, und die ihm gerade nicht in seiner Einmaligkeit zugehören. Es stellt sich heraus, daß die Sprache, wenn wir sie als ein Mittel der Beschreibung des Wer benutzen wollen, sich versagt und an dem Was hängen bleibt, so daß wir schließlich höchstens Charaktertypen hingestellt haben, die alles andere sind als Personen“; diese zeichnen sich durch die „bestürzende Eindeutigkeit des Dieser-und-niemand-anders-Seins“ (17) aus. Arendt formuliert eine negative Anthropologie, die von der „Unmöglichkeit“ Rechenschaft ablegt, „das Wesen des Menschen zu definieren“ (172). Insbesondere der Ersten-Person-Perspektive entzieht sich das Wer, das Dieser-und-niemand-anders-Sein. Die Einmaligkeit gründet nämlich nicht in einer unergründlichen Innerlichkeit des Selbst, sondern im je besonderen Verwobensein des Lebensfadens mit den Fäden anderer. Die Person wird sich in diesem Verwobensein selbst zur Frage „Wer W bist Du?“ (167). Ihre „Freiheit“ lässt sich insofern keinesfalls mit „Souveränität“ (229) gleichsetzen; zwar knüpft die Freiheit des Einzelnen aktiv am intersubjektiven Bezugsgewebe von Handeln und Sprechen an, allerdings nur so, „daß jeder, der an ihm mitwebt, in einem solchen Ausmaße in es verstrickt wird, daß er weit eher das Opfer und der Erleider seiner eigenen Tat zu sein scheint als ihr Schöpfer und Täter“ (229). Dem Wer sind nur Geschichten adäquat, die uns andere über uns selbst erzählen. Arendts Anthropologie ist also nicht nur politisch und negativistisch, sondern auch, wie neuerdings Julia Kristeva2 hervorgehoben hat, narratologisch. Das Wer des Menschen kleidet sich in die Form einer je besonderen, ihm selbst entzogenen Geschichte. Das Leben, das sich zu einer erzählbaren Biographie fügt, bezeichnet Arendt im Anschluss an Aristoteles als „bios zum Unterschied von zoe“ (90), als geformtes im Unterschied zum schieren, bloßen Leben. Vom Leben des bios weiß Aristoteles, auf den Arendt sich hier bezieht, dass es „eine praxis ist“. Sind Handeln und Sprechen doch „tatsächlich die beiden Tätigkeiten, die am Ende immer eine Geschichte ergeben“; weisen beide bei aller Kontingenz doch schließlich „genug Kohärenz“ auf, „um erzählt dritten Person diskutiert. Vgl. die konzise Darstellung bei Schulte, Joachim,
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werden zu können“ (90). Im Handeln und Sprechen verweben wir unseren Lebensfaden mit den Lebensfäden der anderen, partizipieren an einer Geschichte, die uns vorausging und tragen zugleich neue Anfänge in diese Geschichte ein. In unserem Sprechen und Handeln vollzieht sich eine zweite Geburt, „in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen“ (165). In diesem Sinne ist für Arendt „Handeln und etwas Neues anfangen dasselbe“ (166). Die Kraft, anfangen zu können, die zu Beginn der Schöpfung noch ganz bei Gott lag und damit transzendent blieb, wird dem Menschen in der Schöpfung durch Gott verliehen. Mit dem Menschen ist ein Anfang nun auch in der Welt möglich; seine Freiheit steht für das Vermögen einer Transzendenz in der Immanenz. Handeln wird von Arendt dem „Ereignis“ (166) und „Wunder“ (167) angenähert. „Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, daß er […] schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht. Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses ist allen Anfängen und allen Ursprüngen inhärent.“ (166) Unser Sprechen und Handeln geht immer auch mit der Möglichkeit des Unmöglichen (in Arendts Worten: „unendlicher Unwahrscheinlichkeiten“, 166) einher. Es hält sich nicht an Regeln und Konventionen, sondern sprengt den Horizont eingespielter Üblichkeiten auf, entzieht sich jedem Kalkül und jeder theoretischen Vorhersehbarkeit. Es ist von keinen transzendentalen Möglichkeitsbedingungen außerhalb seiner selbst abhängig, da es jedes Bezugssystem außer Kraft zu setzen vermag. Das aktuale, je besondere Handeln und Sprechen wird damit für Arendt zum einzigen Absolutum. Den Menschen der antiken Welt galten, folgt man Arendts Darstellung, Sprechen und Handeln als Einheit. Gleich mehrfach zitiert sie die Worte des Phoinix an seinen Schüler Achilleus, wie Homer sie in der Ilias überliefert: „Darum sandt er [Peleus, Achills Vater, A. H.] mich her, um dich das alles zu lehren: Beides, beredt in Worten zu sein und rüstig in Taten.“3 Legein und pratein bilden in diesem Zitat eine integrale Einheit. Arendt weist darauf hin, dass beides, Sprechen und Handeln, den MenWittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart 1989, S. 191–203. 12Wittgenstein, Ludwig, Über Gewißheit, in: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt/Main 1984, § 229.
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schen Homers als gleich ursprünglich gilt: „Und dies nicht nur, weil ja offenbar alles politische Handeln, sofern es sich nicht der Mittel der Gewalt bedient, sich durch Sprechen vollzieht, sondern auch in dem noch elementareren Sinne, daß nämlich das Finden des rechten Wortes im rechten Augenblick, ganz unabhängig von seinem Informations- und Kommunikationsgehalt an andere Menschen, bereits Handeln ist.“ (29) Umgekehrt weist Arendt aber auch darauf hin, dass es kein „prinzipiell wortloses Handeln“ (168) geben kann; ein Handeln, das nicht auf Sprache bezogen wäre, ließe sich allenfalls als ein Sich-Verhalten im Sinne des Behaviorismus interpretieren. So wenig Handeln und Sprechen aufeinander reduziert werden können, so sehr sind sie für Arendt doch einander wechselseitig Voraussetzung. Arbeiten, Herstellen und Handeln Die Unterscheidung von vita activa und vita contemplativa 4, von Theorie und Praxis, auf die sich die abendländische Philosophie und Wissenschaft seit Platon gründet, hat für Arendt eine andere, wichtigere Unterscheidung im Bereich der Tätigkeiten selbst verdeckt: die Unterscheidung von Arbeiten, Herstellen und Handeln. Von den Philosophen wird die vita contemplativa (etwa der bios theoretikos des Aristoteles) gegenüber der vita activa ausgezeichnet. Platon und Aristoteles werten den logos gegenüber dem nous ab, „das Reden und redende Argumentieren und argumentierende Denken“ (30) in der politischen Praxis gegenüber der Fähigkeit einer kontemplativen und rein theoretischen Partizipation an überzeitlichen Ideen. Der nous wird von Platon gerade dadurch charakterisiert, dass ihm „kein Reden oder Sprechen entspricht“ (ebd.), er wird zur privaten Angelegenheit einzelner. Mit dem Aufkommen der Philosophie gingen diejenigen Unterscheidungen verloren, die zwischen verschiedenen Tätigkeitstypen differenziert haben, „da vom Standpunkt der Kontemplation alle Tätigkeiten zu einem Tätigsein überhaupt nivelliert wurden. Damit wurde auch die bisher höchste aller Tätigkeiten, das Handeln und die es inspirierende cura rei publicae, auf das Niveau der Notwendigkeit degradiert“ (79). Arendt unterscheidet ausgehend von der klassischen Antike drei
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Hauptformen menschlicher Tätigkeit: Arbeiten (bei Aristoteles: ponos), Herstellen (poiesis ( ) und Handeln (praxis ( ). Die vita activa im umfassenden Sinne steht zunächst für das Zusammenspiel, idealerweise für einen Ausgleich dieser drei Tätigkeitstypen. Wichtiger als deren Zusammenspiel ist für Arendt aber die Notwendigkeit ihrer begrifflichen und historischen Unterscheidung. Die Kriterien für die zunächst idealtypische Trennung der Tätigkeitsformen sind für ihre Argumentation zentral. Das Arbeiten, die basalste und zugleich niedrigste Tätigkeit, ist aus Arendts Perspektive auf biologische Selbsterhaltung ausgerichtet. So organisiert sich in der Feld- oder Hausarbeit der Stoffwechsel des Menschen mit der Natur; zu arbeiten „entspricht dem biologischen Prozeß des menschlichen Körpers“ (14) und zeitigt keine über es selbst hinausgreifenden Ergebnisse. Es gilt als „Kennzeichen der Arbeit, daß sie nichts objektiv Greifbares hinterläßt, daß das Resultat ihrer Mühe gleich wieder verzehrt wird, und sie nur um ein sehr Geringes überdauert“ (81). Das, was die Arbeit hinterlässt, ist dazu bestimmt, unmittelbar konsumiert zu werden. Arbeiten und Konsumieren verkörpern „eigentlich nur zwei Stadien des gleichen, dem Menschen von der Lebensnotwendigkeit aufgezwungenen Prozesses“ (115); sie bilden einen Zirkel, der sich „in unendlicher Wiederholung“ (90) selbst reproduziert, keine Spuren hinterlässt und nie an ein Ende kommt. Die Zeitordnung dieses Zirkels gleicht derjenigen des Mythos und der Natur: einem welt- und geschichtslosen Prozess. Zur Arbeit bedarf es keiner den Vollzug des Arbeitens selbst transzendierenden Fertigkeiten und Erfahrungen, sondern nur einer nackten Arbeitskraft. Die Arbeitenden werden auf ihr „schieres Leben“ (308) reduziert, das Arendt auch als „Grundbedingung“ (14) des Arbeitens bezeichnet. Insofern die Antike das geformte Leben des bios gegenüber dem bloßen Leben der zoe auszeichnet, verachtet sie die Arbeit und überlässt sie den Sklaven. Arendts Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, in denen alle Tätigkeitsformen auf Arbeit reduziert werden, richtet sich vor allem gegen die damit einhergehende Naturalisierung des politischen Lebens. Wir verlassen im Arbeiten das Bezugsgewebe des intersubjektiven Handelns und Sprechens (es ist per se „antipolitisch“, 208) und sind ganz auf das nackte Leben eines animal
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laborans reduziert. Ein „Zusammen“ kennen Arbeitsvollzüge nur auf der Ebene der „Multiplizität von Gattungsexemplaren“ (208). Den geschichtslosen Kreislauf des Arbeitens und Lebens vermag der Mensch nur als Werkzeugmacher zu durchbrechen. Das Herstellen, die Tätigkeitsform des homo faber, r richtet sich auf die Produktion von Werkzeugen und Dingen; es geht mit einer Technik einher, die uns überall umgibt und zum Menschen gehört wie „das Schneckenhaus zur Schnecke“ (139). Mit den Produkten seines Herstellens schafft sich homo faber eine eigene Welt, die gegenüber den Kräften der Natur Bestand hat. Der Mensch, „von Natur in der Natur heimatlos“ (14), sieht sich gezwungen, als homo faber eine secunda natura zu errichten, die sich zur ersten hinzugesellt und sie zu ersetzen beansprucht. Homo faber verwandelt die Natur in Welt, als deren Grundbedingungen Arendt Gegenständlichkeit und Objektivität angibt. Der Mensch als Werkzeugmacher denkt dabei allerdings in Begriffen von Zwecken und Mitteln, die die Gegenständlichkeit der Welt gleich wieder bedrohen. Was heute als Zweck gilt, kann morgen schon als Mittel für neue Zwecke verwendet werden. Vordergründig unterscheidet sich das Herstellen von den beiden anderen Tätigkeitstypen dadurch, dass Ende und Anfang klar definiert sind. Doch die Vertauschbarkeit von Zwecken und Mitteln destabilisiert die Welt- und Geschichtlichkeit, die das Herstellen zunächst stiftete. So wie W dem Arbeiten das Konsumieren entspricht, entspricht dem Herstellen das Tauschen. Der Tauschmarkt bildet für homo faber den einzigen öffentlichen Raum; er ersetzt ihm die Agora der politisch Handelnden. Doch auch der Tauschmarkt führt zu einer spezifischen Entweltlichung; er bringt alle Werte und Dinge auf den „Generalnenner des Geldes“ und führt so zu einer „Entdinglichung der gegenständlichen Welt“ (66), zu einem Zusammenbrechen aller qualitativen Differenzen. W Im Handeln, dem gemeinsamen Tun und Sprechen in der Kooperation und politischen Entscheidungsfindung, sieht Arendt die höchste Tätigkeitsform. Ohne „die Vermittlung von Materie“ spielt sich alles Handeln „direkt zwischen Menschen“ ab (14). Es verweist im Gegensatz zum Arbeiten und Herstellen notwendig auf die Pluralität unterschiedener Perspektiven; es „bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, 1 Arendt, Hannah, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 81994
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daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird“ (15). In der Pluralität manifestiert sich die absolute Differenz zwischen den je besonderen Individuen. Als prototypisch Handelnde gelten Arendt die freien Bürger einer antiken Polis. Diese freien Bürger, „die in jedem Augenblick ihres Lebens Herr ihrer Zeit und ihres jeweiligen Aufenthaltsortes waren“ (19), entscheiden gemeinsam über die Einrichtung des Gemeinwesens. Ihr Handeln macht sie in gewisser Weise unsterblich, es verleiht ihnen, wie Homers Epen zeigen, eine Unsterblichkeit der „Werke, Taten, Worte“ (24). Im Handeln stellt sich die Einzigartigkeit der Person dar. Die Person existiert nicht an sich, sondern lässt sich nur rückwirkend von ihrem öfffentlichen Handeln aus ansprechen, das sie in singulärer Weise individuiert. Was sich in der Erzählbarkeit eines Lebens manifestiert, das Unsterbliche, hat einen ganz anderen Charakter als die Ewigkeit der Ideen Platons, die sich nur dem kontemplativen Zugriff des Philosophen offfenbaren. Die Ideen der Philosophie, so Arendts Kritik an Platon, sind bereits einem Herstellungsdenken verhaftet; sie bilden Modelle, nach denen ein überweltlicher Schöpfer die Welt geschaffen hat. Der privilegierte Zugang zu diesen Ideen, den sich die Philosophen anmaßen, hebt diese aus der politischen Gemeinschaft heraus. Der Philosoph nimmt für sich in Anspruch, den Staat gemäß der überzeitlichen Ideen gestalten zu können: „Wenn nicht […] entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die […] Könige […] wahrhaft und gründlich philosophieren und also beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie […], eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten“5. Die politische Philosophie Platons verankert die Gesetze der Polis in den Gesetzen des Kosmos. Die Korrespondenz zwischen beiden Ordnungen wird durch den Philosophenkönig garantiert, der die kontingente, historisch gewachsene Ordnung des Gemeinwesens zerstört und die freigesetzten Elemente nach einem überzeitlichen Plan neu zusammenbindet. Platon antizipiert die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts auf dem Feld der politischen Theorie. In seinem Staat t werden familiäre und kulturelle Bindungen zerschlagen, um eine neue, hierarchische Ordnung zu etablieren, welche die zeitlosen Ordnungen von Mikround Makrokosmos widerspiegeln soll. Auf der Ebene des Mikrokosmos
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spiegelt diese neue politische Ordnung diejenige der Seele, auf der Ebene des Makrokosmos diejenige von Idee und Erscheinung. Metaphysik und Politik gehen hier eine fatale Allianz ein. Damit unterbindet Platon den politischen Prozess und unterstellt die politische Praxis der Logik des Herstellens. Die Unterscheidung nach drei Tätigkeitstypen, die Arendt in den einzelnen Kapiteln ihres Buches vorträgt, bleibt idealtypisch; de facto sind die unterschiedenen Tätigkeitsformen wechselseitig aufeinander verwiesen. Das Handeln bliebe, würde man es sich selbst überlassen, „schlechterdings ,unproduktiv‘“ (87). Es bedarf materieller Artefakte und damit des Herstellens, um eine von vielen geteilte Welt stabilisieren zu können. Die Produkte des Herstellens sichern der Gemeinschaft eine gewisse historische Kontinuität. Wenn die Polis auch nicht aus Athen, sondern aus Athenern besteht, so ist sie doch auch auf Stadtmauern angewiesen, auf eine materielle Infrastruktur. Umgekehrt verliert sich ein Herstellen ohne ein Handeln, das es begrenzt, in der schlechten Unendlichkeit von Zweck-Mittel-Reihen. Nur das Handeln, dessen Zweck nach einer berühmten Formulierung des Aristoteles in sich selbst liegt, vermag die Verkettung und Vertauschung von Zwecken und Mitteln zu unterbrechen. Selbst das Arbeiten wird von Arendt nicht prinzipiell verworfen, f sondern als überlebensnotwendige Grundtätigkeit betrachtet, ohne die weder der herstellende noch der politisch handelnde Mensch existieren könnten. In der Rhythmik der Arbeit kann gar ein Glück ganz eigener Art liegen. Wogegen sich Arendt richtet, ist das Überhandnehmen der Arbeit in der Neuzeit, das alle anderen Tätigkeitsformen absorbiert und so in eine Grundlagenkrise des Politischen führt. Verzeihen und Versprechen Die Freiheit des Handelns bindet sich für Arendt vor allem an die Fähigkeit des Verzeihens und Versprechens. Das Verzeihen wirkt als „Heilmittel“ (231) gegen die Unwiderruflichkeit des Getanen; das Versprechen als Heilmittel gegen die „chaotische Ungewißheit alles Zukünftigen“ (231). In den Sprechakten des Verzeihens und Versprechens wird das Handeln reflexiv, hier kommt es zu sich selbst: „Könnten wir einander
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nicht vergeben, d. h. uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten wieder entbinden, so beschränkte sich unsere Fähigkeit zu handeln gewissermaßen auf eine einzige Tat, deren Folgen uns bis an unser Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen würden […]. Ohne uns durch Versprechen für eine ungewisse Zukunft zu binden und auf sie einzurichten, wären wir niemals imstande, die eigene Identität durchzuhalten“ (232). Die von uns gegebenen Versprechen werfen „Inseln des Voraussehbaren“ in ein „Meer der Ungewißheit“ (240). Sie unterscheiden sich damit diametral vom planenden Entwurf des Herstellens, der einen Weg bahnt, welcher „nach allen Seiten gesichert ist“ (240). Das Versprechen zeichnet sich dadurch aus, dass es sich der Ungewissheit der Zukunft überantwortet. Sofern die Zukunft bereits feststünde, wäre jedes Versprechen sinnlos; es erfolgt immer vor dem Hintergrund eines prinzipiellen Nichtwissens. In vergleichbarer Weise richtet sich das Verzeihen gerade auf das Unverzeihliche, auf etwas in der Vergangenheit eines Menschen, was dessen Zukunft determiniert: eine Schuld, die nicht ungeschehen gemacht werden kann. Versprechen und Verzeihen stehen somit für die Möglichkeit einer unmöglichen Kommunikation, für ein Sprechen und Handeln über die Unmöglichkeit des Sprechens und Handelns hinweg. Von hier aus erscheint Arendts Begriff des Handelns in einem bemerkenswerten Licht. Handeln und Sprechen folgen keinen ihnen zugrunde liegenden Regeln, keinem Kalkül und keiner vorgängigen Intention. Wir sprechen und handeln vielmehr erst, wenn, wie im Versprechen und Verzeihen, alle transzendentalen Bedingungen der V Möglichkeit des Handelns und Sprechens ausgesetzt sind. Die einzige Bedingung der Möglichkeit des Sprechens und Handelns wäre ihre partielle Unmöglichkeit. Die Fähigkeit des Handelns, wie sie sich im Verzeihen und Versprechen verdichtet, charakterisiert Arendt insofern nicht von ungefähr als „diesseitige Fähigkeit, […] ,Wunder‘ zu vollbringen“ (243). Doch auch aus einer weiteren Perspektive können Verzeihen und Versprechen als prototypische Handlungen gelten, haben wir hier die ErstePerson-Perspektive doch immer schon überschritten und befinden uns im Raum der anderen. Arendt weist auf die Unsinnigkeit eines jeden Ver-
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suches hin, sich selbst verzeihen oder ein Versprechen geben zu wollen. Im Versprechen und Verzeihen kommt es zu einer Asymmetrie der intersubjektiven Verhältnisse; das Du geht dem Ich voraus: „Nur wem bereits verziehen ist, kann sich selbst verzeihen; nur wem Versprechen gehalten werden, kann sich selbst etwas versprechen und es halten.“ (233) Da wir uns mittels dieser Sprechakte wechselseitig aus Schicksalszusammenhängen befreien und auf einen gemeinsamen Zukunftsentwurf einigen können, stiften Versprechen und Verzeihen Geschichte; allerdings nur insofern sie in den Geschichtsverlauf eine ereignishafte Diskontinuität eintragen, die Geschichte vom bloßen Prozess unterscheidet. Unser Handeln nähert sich dem Ereignis, einer unmöglichen Reaktion, „auf die man nicht gefaßt sein kann, die unerwartet ist“ (235): Versprechen und Verzeihen brechen mit jedem Kalkül, mit der Logik V von Naturwissenschaft und Technik, welche die Möglichkeit unreglementierter Ereignisse gerade zu eliminieren trachten. Dem Verzeihen widerstreiten die moderne Naturwissenschaft und Technik auch dadurch, dass sie „in den Haushalt der Natur hineinhandeln“ (233) und damit „Unwiderruflichkeit und Unabsehbarkeit in einen Bereich“ tragen, in dem es „kein Mittel gibt, Getanes und Geschehenes rückgängig zu machen“ (233). Arendt beschreibt hier sehr luzide, was in der Soziologie des späten 20. Jahrhunderts als evolutionäres Risiko thematisiert werden sollte. Durch die Implementierung der Nukleartechnologie legt die gegenwärtige Generation sich und alle folgenden Generationen auf den Umgang mit einer Technologie fest, deren Nebenfolgen unsere Nachfahren noch in tausend Jahren beschäftigen werden, ganz gleich, ob jene das wollen oder nicht. Zugleich sind Auswirkungen der künstlichen Radioaktivität auf die Natur in the long run nicht abzuschätzen. Wir haben dafür kein Vorbild und können langfristige Effekte auch nicht in Experimenten siV mulieren; das Risiko, insofern es selbst einer Evolution unterliegt, lässt sich nicht abmessen. Die Möglichkeiten des Verzeihens und Versprechens wurden von der griechischen und römischen Antike noch nicht wirklich freigelegt, sie verdanken sich vielmehr erst dem frühen Christentum. Arendt verlässt hier ihren Klassizismus und beruft sich dezidiert auf Jesus von Naza-
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reth. Sie rekonstruiert die Ethik des frühen Christentums als eine Ethik der Vergebung, die den Menschen aus dem geschichtslosen Zirkel von „Rache“ und erneuter Vergeltung zu befreien vermag und einen Anfang der Geschichte in der Geschichte möglich macht. Ihre Handlungstheorie, die den christlichen Motiven des Verzeihens und des Wunders einen zentralen Stellenwert einräumt, ist mitnichten, wie von der Forschungsliteratur häufig unterstellt, aristotelisch. Von Aristoteles entlehnt Arendt die handlungstheoretische Terminologie, inhaltlich aber geht sie entschieden über seinen Ansatz hinaus. Das Bezugsgewebe des Sprechens und Handelns Das Handeln ist auf einen Gemeinsinn verwiesen, der eine, um mit Kant zu sprechen, „transzendentale Synthesis“ leistet und die anderen Sinne auf eine Realität bezieht. Aus der Perspektive des einzelnen Subjekts, das sich erkennend zur Welt verhält, kann sich keine Wirklichkeit ausbilden. Nur in der Pluralität der Perspektiven kollektiver Handlungszusammenhänge tritt uns eine widerständige Realität entgegen. Der Gemeinsinn gilt Arendt insofern als derjenige Sinn, der Objektivität stiftet: „Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören, versichert uns der Realität der Welt und unserer selbst“ (50). Realität wird hier nicht „durch eine allen Menschen gemeinsame ,Natur‘ garantiert“ (57), sondern durch das Miteinander-Sprechen und Interagieren. Sprechen und Handeln bilden ein „Bezugsgewebe“ (171), das Arendt absichtsvoll nicht als Kultur, Gesellschaft oder das Soziale beschreibt und auf diese Weise verdinglicht. Sie betont vielmehr immer wieder den agonalen Charakter und die Performativität des Bezugsgewebes. Dessen agonaler Charakter wird am deutlichsten, wenn man auf Arendts bevorzugtes Beispiel schaut: die griechische Polis. Diese, „also der öffentliche Raum selbst, war der Ort des heftigsten und unerbittlichsten Wettstreits, in dem ein jeder sich dauernd vor allen anderen auszeichnen mußte, durch Hervorragendes in Tat, Wort und Leistung zu beweisen hatte, daß er als ein ‚Bester‘ lebte“ (42). Das Bezugsgewebe der Polis geht diesem Wettstreit nicht voraus, sondern ist der Wettstreit. Genau
Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe.
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darin liegt auch seine Performativität beschlossen; es existiert nur in actu. Handeln und Sprechen zeichnen sich für Arendt durch eine ihnen spezifische „energeia“ (201) aus, eine Kraft oder Wirksamkeit, die dem Vollzug des Handelns und Sprechens selbst entspringt. Energeia kommt V gerade denjenigen Tätigkeiten, „die keinen Zweck verfolgen“ und „kein Endresultat außerhalb ihrer selbst hinterlassen“ zu, „deren volle Bedeutung sich vielmehr im Vollzug selbst erschöpft“ (201). Das Soziale im Sinne einer soziologisch beschreibbaren Substanz gilt Arendt demgegenüber als moderne Verdinglichungs- und Verfallsform. Das Verbindende zwischen den Personen, den Adressaten der unbeantwortbaren Frage W Wer bist Du?, ist gerade keine Substanz, sondern eine radikale Diffferenz. Entscheidend für das Bezugsgewebe im Sinne Arendts bleibt die unvermittelbare Singularität der einzelnen Fäden. „Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung.“ (164) Handeln und Sprechen erfolgen über die Kluft eines absoluten Unterschiedensein hinweg. Nicht nur das Soziale des 20. Jahrhunderts, schon die Gesellschaft,t wie sie etwa von Rousseau entdeckt wird, gilt Arendt als Verfallsform des Politischen. Arendt kritisiert die Hauptlinie der neuzeitlichen politischen Philosophie als apolitisch. In den großen politiktheoretischen Entwürfen von Hobbes, Rousseau und Locke geht es, wie schon in Platons Politeia, um das Herstellen der Gesellschaft nach theoretischen Vorgaben. Die „Selbstverständlichkeit, mit der das Gesellschaftliche an die Stelle des Politischen tritt, verrät mehr als alle Theorien, wie sehr die ursprünglich griechische Auffassung von dem, was Politik eigentlich ist, verloren gegangen war“ (28). Arendt bemüht sich darum, hinter den Verleugnungen des Politischen durch die politische Philosophie seinen V authentischen Kern freizulegen, der sich allerdings nur negativistisch beschreiben lässt: als ein in sich selbst gründendes Handeln, das die Vielfalt der Perspektiven absolut unterschiedener Akteure aufeinander bezieht, ohne deren Unterschiedenheit aufzuheben. Das Bezugsgewebe ist, darin grenzt sich Arendt vom Marxismus ab, nie vollständig durch externe Faktoren determiniert. Es wird von sich
2 V Vgl. Kristeva, Julia, Das weibliche Genie. Hannah Arendt,
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selbst entzogenen Personen konstituiert und gegenüber allen Determinanten offen gehalten. „Daß das Wer sich in solch vieldeutiger und unnennbarer Ungewißheit zeigt, bedingt die Ungewißheit nicht nur aller Politik, sondern aller Angelegenheiten, die sich nicht direkt im Miteinander der Menschen vollziehen, jenseits des vermittelnden, stabilisierenden und objektivierenden Mediums einer Dingwelt.“ (172) Die Ungewissheit des Bezugsgewebes drückt sich in seiner konstitutiven „Zerbrechlichkeit“ (183) aus. Das Politische ist mit anderen Worten seinem Wesen nach bedroht. Seine einzige Möglichkeit, sich zu stabilisieren W und gegen Übergriffe etwa des Ökonomischen, Technischen oder Juridischen zu schützen, besteht in der Ausbildung von Machtstrukturen. Der Begriff der Macht wird von Arendt humanisiert und von seinen pejorativen Konnotationen befreit. Die moderne Krise des Politischen interpretiert sie bereits in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft als Krise der Macht. Faschismus und Stalinismus gehen in der Perspektive dieser Studie aus dem Zerfall der Nationalstaaten und der Anarchie der Massengesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert hervor. Die Organisationsformen des absoluten Terrors, Konzentrationslager, Genozid, Vertreibung und Massenmord, sind für Arendt keine Folgen eines Machtmissbrauchs, sondern resultieren aus einem Machtverlust, einer Ohnmacht. Gewalt, Arendts Gegenbegriff zu Macht, tritt immer da auf, wo keine Machtstrukturen mehr greifen. Macht ist für Arendt der Ausdruck eines funktionierenden Bezugsgewebes von Handeln und Sprechen. In diesem Bezugsgewebe ermächtigen sich die freien und gleichen Bürger wechselseitig: „Macht besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.“ (194) Sie erwächst aus dem Zusammenschluss mehrerer, die sich damit gegen die Gewalt Einzelner schützen. Macht beruht insofern auf einem Konsens. Erst wo die Kraft zum Konsens erlahmt, wird Gewalt möglich. In Macht und Gewalt (1970) führt Arendt diese Analyse weiter aus, indem sie die Gewalt dem Herstellen und die Macht dem Handeln analogisiert. Gewalthandlungen waren ursprünglich Mittel zu einem Zweck. Darin unterscheiden sie sich von Macht, die ein bloßer Selbstzweck ist. Macht wollen wir um ihrer selbst willen; sie „entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht Berlin/Wien 2001, S. 27–166.
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nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält“6. Vom tätigen Leben zum animal laborans Wie weiter oben ausgeführt wurde, unternimmt bereits Platons Philosophie den Versuch, das Handeln auf dem Feld des Politischen durch ein Herstellen zu ersetzen. Das Erbe dieses Versuchs zieht sich für Arendt „wie ein roter Faden durch die alte Geschichte der Polemik gegen die Demokratie“ (214), die zugleich eine Polemik gegen das Politische selbst ist. Platon schlägt vor, die Steuerung des Gemeinwesens einem Philosophen-König anzuvertrauen, der vermöge seines über den nous vermittelten Zugangs zu den Ideen „die Schwierigkeiten des Handelns so löst und auflöst, als handle es sich um Erkenntnisprobleme“ (215). In dieser Hinsicht bleibt „der größte Teil der politischen Philosophie“ seit Platon einem kognitivistischen Politikverständnis treu und arbeitet mit an dem Projekt, „Politik selbst abzuschaffen“ (216). Der Vorwurf einer Verleugnung des Politischen durch die Tradition der politischen Philosophie ist m. E. so ungeheuerlich wie zutreffend. Die politische Philosophie von Platon bis ins 21. Jahrhundert formuliert das Problem des Politischen über weite Strecken als Problem technischer Regelung. Arendts Anspruch besteht nun darin, hinter dieser mehr als zwei Jahrtausende währenden Verdrängungsgeschichte das Politische wieder freizulegen. Die Moderne zeichnet sich für Arendt vor allem durch ein Zurückweichen des Handelns hinter den Horizont des Arbeitens aus. Die Neuzeit beginnt allerdings zunächst mit einem Triumph des homo faber. Als philosophischen Ausdruck dieses Triumphs begreift Arendt den von Bentham und Mill begründeten Utilitarismus, der auch heute noch weite Teile der handlungs- und politiktheoretischen Debatten dominiert. Der Utilitarismus versucht, in der Einrichtung der Gesellschaft die größtmögliche Nutzensumme für alle Mitglieder zu verwirklichen. Als letzter Zweck gilt den Utilitaristen das größtmögliche Glück der
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größten Zahl. Politik reduziert sich aus dieser Perspektive auf ein Mittel zur Verwirklichung dieses Zweckes. Die Unterteilung der Welt in Zwecke und Mittel führt allerdings in einen uns schon vertrauten Widerspruch. Die „Aporie utilitaristischen Denkens“ hat „ihren Grund darin, daß zwar nur das Herstellen und sein Zweck-Mittel-Denken fähig ist, eine Welt zu errichten, daß aber diese selbe Welt sofort so ,wertlos‘ wird wie das zu ihrer Errichtung verwendete Material, ein bloßes Mittel für nie abreißende Zwecke“ (143). Der Aporie des Utilitarismus verfällt aus Arendts Sicht sogar die Ethik Kants, die den Menschen als letzten Zweck begreift, welcher niemals zu einem bloßen Mittel gemacht werden dürfe. Dadurch, dass sich Kant überhaupt der Zweck-Mittel-Kategorie bediene, öffne er dem Utilitarismus Tür und Tor. Auch ein „letzter Zweck“ schwebe konstitutiv in der Gefahr, in ein Mittel verkehrt werden zu können. Der neuzeitliche Triumph des homo faber findet seine Entsprechung in der Moderne im Sieg des animal laborans. Den „plötzlichen glänzenden Aufstieg der Arbeit“ (92) macht Arendt zunächst an drei begriffsgeschichtlichen Schritten fest. Er beginnt damit, „daß Locke entdeckte, daß sie die Quelle des Eigentums sei. Der nächste entscheidende Schritt war getan, als Adam Smith in ihr die Quelle des Reichtums ermittelte; und auf den Höhepunkt kam sie in Marx’ ,System der Arbeit‘, wo sie zur Quelle aller Produktivität und zum Ausdruck der Menschlichkeit des Menschen selbst wird“ (92). So wie der Utilitarismus als Philosophie des homo faber begriffen werden könne, so sei der Marxismus der Ausdruck einer Vorherrschaft des animal laborans. Wie der Utilitarismus verberge auch der Marxismus in seinem Innersten eine Aporie: „Marx’ Stellung zur Arbeit, und das heißt zu dem Zentrum seines Denkens und seines Werkes, ist von Beginn bis Ende immer zweideutig gewesen. Obwohl die Arbeit eine ,ewige Naturnotwendigkeit‘, ,eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung‘ und zudem noch die eigentlich menschliche und produktivste aller Tätigkeiten ist, hat die Revolution nach Marx nicht etwa die Aufgabe, die arbeitende Klasse zu emanzipieren, sondern die Menschen von der Arbeit zu befreien. Denn ,das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmä-
ßigkeit bestimmt ist, aufhört‘; es beginnt jenseits des ,Reichs der Notwendigkeit‘“ (95). In Verteidigung des Politischen Die Themen und Motive, die Arendt in Vita Activa entfaltet, haben fast alle politischen Theoretiker, Sozialphilosophen und Soziologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der einen oder anderen Weise beeinflusst. So greift etwa Jürgen Habermas Arendts These einer Krise der bürgerlichen Öffentlichkeit auf (Strukturwandel der Öffentlichkeit,t 1962) und schließt sich in seiner Handlungstheorie, die zwischen instrumentellem und kommunikativem Handeln unterscheidet, an Arendts Typologie der Tätigkeiten an (Theorie des kommunikativen Handelns, 1981). Auch der amerikanische Soziologe Richard Sennett knüpft an Arendts These eines Zurückweichens der politischen Öffentlichkeit an (Verfall f und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimitätt, 1974), bezieht sich auf die humanisierende Theorie der Macht (Autorität t t, 1980) und führt ihre Analysen der Arbeitsgesellschaft weiter (Der flexible Mensch, 1998). Der These von einer Dialektik der Säkularisierung, die uns nicht zu einem Weltgewinn, sondern in einen Weltverlust führe, nimmt sich der Philosoph Hans Blumenberg an (Die Legitimität der Neuzeit, t 1966). Der Diskurs der radikalen Demokratie, zu dem Claude Lefort, Chantal Mouffe, Ernesto Laclau, Jacques Rancière und Alain Badiou gerechnet werden können, knüpft – teils explizit, teils implizit – an Arendts Kritik der neuzeitlichen politischen Philosophie und ihr Anliegen einer Verteidigung des Politischen an. Mensch und Gesellschaft werden in diesem Diskurs als per se politisch begriffen; das politische Handeln wird dabei wie bei Arendt dem Ereignis angenähert. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben schließlich betont im Ausgang von Arendts Totalitarismus-Analysen die Reduktion des modernen Menschen auf bloßes Leben (Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, 1995).
3 Homer, Ilias, IX, 442f. 4 Die vita contemplativa wird von Arendt in ihrem Spätwerk V Vom Leben des Geistes
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Hans-Georg Gadamer: W Wahrheit und Methode heike kämpf
Gadamers Buch W Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik ist seit seinem ersten Erscheinen (1960) bis heute in verschiedenen Diskurskontexten präsent. Hauptsächlich die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen des dort entwickelten Verstehensbegriffs steht dabei im Zentrum der Diskussionen. Erinnert sei nur an die Debatten um Hermeneutik und Ideologiekritik, Hermeneutik und Dekonstruktion oder die heute aktuelle Diskussion um Hermeneutik und Fremdverstehen. Diese Präsenz des Buches erscheint umso erstaunlicher, als die Kritik seit den 1960er-Jahren einen Konservativismus konstatiert, der gewissermaßen als Charakterisierung von Gadamers Denken in die Lexika Eingang gefunden hat. Auch Gadamer selbst hat in seinem Lebensrückblick Philosophische Lehrjahre (1977) seiner damaligen Befürchtung Ausdruck verliehen, sein Buch, an dem er neun Jahre arbeitete, käme zu spät: Es „mochte“, so Gadamer, „einer von kritischem Emanzipationswillen getriebenen jüngeren Denkgesinnung fremd vorkommen“. Und er fährt fort: „So war es wohl auch und so ist es gewiß.“1 Diese Äußerungen und Einschätzungen, die das Überwundensein seines Buches nahe legen, haben dennoch weder der Rezeption noch der Aktualität von W Wahrheit und Methode im Wege gestanden, und gerade die Vertreter eines emanzipatorischen Interesses der Philosophie (wie Habermas) haben die kritische Auseinandersetzung mit W Wahrheit und Methode gesucht. Wenn wir diese Situation zum Anlass nehmen, nach dem sachlichen W (posthum 1978) zum Thema gemacht, das sich vor allem den Vermögen des Denkens, Wollens und Urteilens widmet. 5 Platon, Politeia, V, 473 c–d.
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Grund für die unüberhörbare Präsenz des Werkes zu fragen, ohne kontingente Faktoren der Rezeption und Rezeptionsbedingungen anzunehmen, befinden wir uns mitten in der Fragestellung von W Wahrheit und Methode: Wie kann ein überlieferter Text über die Zeit seiner Entstehung hinaus Geltung beanspruchen und Wahrheit vermitteln, die sowohl das rein historische als auch das nur zeitgenössische Interesse überschreiten? Diese Frage ist besonders aus zwei Gründen in das Zentrum der ffolgenden Darstellung zu rücken: Zuerst kann durch diese Frage eine Verbindung hermeneutischer Reflexion mit der Praxis der Auslegung V hergestellt werden, deren Untrennbarkeit Gadamer selbst immer wieder betont hat. Im Rahmen der Beschäftigung mit Klassikern der Philosophie liegt es also nahe, die Frage nach der Geltung historischer Texte zu stellen. Denn der Beschäftigung mit ,Klassikern‘ der Philosophie scheint doch die Erwartung zugrunde zu liegen, dass sie uns etwas zu sagen haben, dass sie Einsichten vermitteln, die nicht historisch überholt sind. Dies bezeichnet Gadamer einleitend als elementare Erfahrung des Philosophierens, die ihn dazu motiviere, die auf eine Methode oder Kunstlehre zielende Engführung des Verstehensbegriffs in der Hermeneutik zu kritisieren und ihr entgegenzuwirken: „Es gehört zur elementaren Erfahrung des Philosophierens, daß die Klassiker des philosophischen Gedankens, wenn wir sie zu verstehen suchen, von sich aus einen Wahrheitsanspruch geltend machen, den das zeitgenössische Bewußtsein weder abweisen noch überbieten kann.“2 Im Verstehen dieser Texte wird demnach eine Wahrheit erkannt, die auf anderem Wege nicht erreichbar wäre. Der andere Grund, die Frage nach dem Verstehen der Überlieferung in das Zentrum der Ausführungen zu stellen, liegt in der zeitgeschichtlichen Situation, in der Gadamer W Wahrheit und Methode verfasst hat: Die Arbeiten an dem Buch beginnen in den fünfziger Jahren und gehen auf noch frühere Überlegungen zurück. Obwohl Gadamer diese Einbezie6 Arendt, Hannah, Macht und Gewalt, München, 91994, S. 45. 1 Gadamer, Hans-Georg, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt/Main 1995, S. 181. 2 Gadamer, Hans-Georg, W Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
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hung der persönlichen Situation des Autors als irrelevant für das Verstehen des Textes bezeichnen würde, erscheint sie doch hilfreich, um ein Verständnis der Fragestellung zu erhalten. Gadamer erlebt eine Zeit, die V durch Brüche und Umbrüche gekennzeichnet war. Er hat Inszenierungen radikaler politischer Neuanfänge sowohl im Nationalsozialismus wie in der Nachkriegszeit verfolgt. Die Möglichkeiten der Anknüpfung an die Vergangenheit, die Kontinuität der Geschichte und die Autorität der Tradition waren radikal in Frage gestellt. Dass Gadamer sich dieser Situation bewusst war, geht aus seiner Rede zur Übernahme des Rektorats der Universität Leipzig am 5.2.1946 mit dem Titel Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft hervor: „Wir alle sind uns darüber klar, daß inmitten der ungeheuren Veränderung unseres gesellschaftlichen Lebens, die wir heute erleben, die Aufgabe nicht mehr sein kann, das Alte und durch eine ehrwürdige Tradition Geheiligte festzuhalten und vor dem Sturmwind der Weltgeschichte zu schützen. […] Das gerade macht ja die grauenhafte Lage unseres Volkes aus, daß jene gute und edle Tradition der Kultur und der Humanität […] in sich fragwürdig, in ihrer Ohnmacht offenbar, in ihrem Lebensrecht ungewiß geworden ist.“3 Dies ist einer der wenigen Texte, in denen Gadamer sich auf die politische und soziale Situation bezieht, deren Aufklärung er stets der Soziologie zuweist, von der er sich eher distanziert hat. So betont er 1982, dass es wohl niemandem gelingen werde, aus ihm einen Soziologen zu machen – auch ihm selbst nicht.4 Es lässt sich aber sagen, dass in dem oben angeführten Zitat die Situation zur Sprache kommt, vor deren Hintergrund sich der Versuch Gadamers, den Verstehensbegriff zu reformulieren, erschließen lässt: Er versucht zu zeigen, dass mit dem Verstehen ein Bezug zur Überlieferung gegeben ist, der die Entmachtung der Tradition zurücknimmt, ohne die Gegenwart für historischen Wandel zu verschließen. Die Entmachtung der Tradition findet Gadamer vor allem in der Aufklärung begründet, in der – Gadamer formuliert es paradox – „das Vorurteil gegen das Vorurteil“ (275) entstanden sei. Der Überreizung des historischen Bewusstseins, der Erfahrung einer vom Wandel überfluteten Zeit, die er auch in der Einleitung zu W Wahrheit und Methode ausspricht, will er den Sinn für Hermeneutik, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1990, S. 2. Zitate mit Seitenzahlen im Text beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe.
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das Bleibende und Beharrende entgegenhalten, ohne dabei allerdings dieses Beharrende jenseits der Geschichte zu verorten. Um seine hermeneutische Position zu entfalten, knüpft er selbst in vielfältiger Weise an die philosophische Tradition an. Dabei ist der Bezug zur griechischen Philosophie für Gadamer besonders relevant, weil er hier ein Denken findet, das seinem ,Zeitalter der Wissenschaft‘ als Korrektiv dienen kann. Denn das griechische Philosophieren steht, wie Gadamer hervorhebt, nicht „unter dem Druck des Methodenbegriffs der Neuzeit“5 und kommt darin seinem Anliegen der Erweiterung des Verstehensbegriffs entgegen. Einleitend zu W Wahrheit und Methode hebt er selbst besonders seine Orientierung an Edmund Husserl, dessen „Gewissenhaftigkeit der phänomenologischen Deskription“ er sich verpflichtet, an Wilhelm Dilthey, der der Philosophie die „Weite des historischen Horizontes“ eröffnet hat und schließlich seinem Lehrer Martin Heidegger, bei dem er beide Motive verbunden findet, besonders hervor (5). Zweifellos ist Gadamers Hermeneutikverständnis in wesentlichen Zügen von Heideggers Ausführungen (vor allem in Sein und Zeit und Hermeneutik der Faktizität) t getragen. So werden die Motive in Heideggers Denken, Verstehen nicht als Methode, sondern als „Seinsweise des Daseins“ zu begreifen und die Hermeneutik nicht auf eine Kunstlehre zu beschränken, für Gadamers Entwurf einer philosophischen Hermeneutik relevant. Verstehen als historisches Geschehen: Erfahrung und Geschichtlichkeit Wenn Gadamer, wie in den eingangs zitierten Sätzen, den WahrheitsW anspruch der Klassiker betont und dem Verstehen einen spezifischen Zugang zur Wahrheit zuspricht, wird eine doppelte Entgegensetzung deutlich: Zum einen wendet er sich damit kritisch gegen Methodologisierungsansprüche des Verstehens, die sich in der Tradition Schleiermachers und Diltheys bewegen, indem er sich auf eine Erfahrung von Wahrheit bezieht, die nicht methodologisch kontrollierbar oder herW stellbar ist. Er will aufzeigen, „wieviel Geschehen in allem Verstehen V wirk3 Gadamer, Hans-Georg, „Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Tübingen 1995, S. 287.
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sam ist“ (3), das sich methodologischer Kontrolle entzieht. Zum anderen wendet er sich mit der darin liegenden Annahme eines zeitlosen WahrW heitsanspruchs der Klassiker gegen einen Verstehensbegriff, der die Geschichtswissenschaften (die vor allem in der Tradition Droysens und Rankes stehen) leitet: Dort erscheint das Verstehen gewissermaßen als bloße Reproduktion eines vom Autor intendierten Sinns oder als Reproduktion des zeitgenössischen Verständnisses, d. h. als Rekonstruktion im Geist der jeweiligen Zeit, in der die Texte entstanden sind. Verstehen ist aber nach Gadamer nicht auf Reproduktion oder Rekonstruktion gerichtet. Denn mit dieser Ausrichtung wird die Wahrheitsfrage ausgeblendet, insofern der Anspruch aufgegeben wird, „in der Überlieferung für einen selber gültige und verständliche Wahrheit zu finden“ (309). Es geht demnach nicht darum, zu fragen, was der Autor mit dem Text zum Ausdruck bringen wollte, oder wie die Zeitgenossen den Text verstanden haben, sondern vielmehr darum, den Sachgehalt des Textes zu verstehen. Und d. h., den Sinn des Textes jeweils neu zur Geltung zu bringen, ihn zu aktualisieren, indem er mit Fragen konfrontiert wird, die aus der Gegenwart des Interpreten erwachsen. Nur wenn der Text in die Gegenwart hineinspricht, kann seine Wahrheit erschlossen werden. Bei Gadamer erscheint daher der Text selbst als Dialogpartner, mit dem der Interpret ein Gespräch führt. Gadamer vergleicht die Erfahrung der Klassikerlektüre mit der Erfahrung der Kunst, weil beide zeitlose Wahrheiten erschließen, die nicht methodisch gewonnen werden oder methodologisch verifizierbar sind. Neben der Erfahrung der Philosophie ist die Erfahrung der Kunst deshalb nach Gadamer „die eindringlichste Mahnung an das wissenschaftliche Bewußtsein, sich seine Grenzen einzugestehen“ (2). Noch in einer weiteren Hinsicht gleicht Gadamer die Erfahrung der Philosophie der Erfahrung der Kunst an: Sie erlaubt uns nicht die Distanzierung von dem Gegenstand der Bezugnahme, die einen Urteilsstandort etablierte: „Ist es nicht in Wahrheit so“, fragt Gadamer, „daß das, was uns da als Kunstwerk ergriffen hat, uns gar nicht mehr die Freiheit läßt, es noch einmal von uns wegzuschieben und von uns aus anzunehmen oder zu verwerfen.“6 Hier macht Gadamer eine eigentliche Erfahrungswirklichkeit, eine
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unmittelbare Erfahrung geltend, die sowohl die Rede von der Verengung des Erfahrungsbegriffs auf wissenschaftlich kontrollierte Erfahrungen ermöglicht, als auch den Gedanken eines souveränen, urteilenden Subjekts, das anhand von Kriterien über die Wahrheit entscheiden könnte, als ,sekundäres‘ Phänomen ausweist. Damit weist Gadamer auch den Gedanken des Fortschritts, durch den die Gegenwart immer schon als ein der Vergangenheit überlegener Standort erschiene, zurück. Die Wahrheit, die sich im Verstehen vollzieht, entzieht sich dem Kontrollbereich der Subjektivität, denn das Verstehen ist kein subjektiver Akt, sondern ein Geschehen, in dem auch der verdinglichende Zugriff auf das zu Verstehende aufgehoben ist. Und gerade weil der überlieferte Text in seinem Wahrheitsanspruch nicht auf den Geltungsbereich einer T Zeit reduzierbar ist, sondern unabhängig von den historischen Umständen zu jeder Zeit Erkenntnis ermöglicht, ist ,Verstehen‘ mehr als nur eine historische Rekonstruktion, die den Text in die Ferne rückt. Das Verstehen vermittelt und erneuert vielmehr Erkenntnis von Wahrheit. V Den Methodologisierungsansprüchen stellt Gadamer ein Denken entgegen, in welchem Verstehen als ,Phänomen‘ zwar bedingt aufklärbar, aber nicht vollständig verfügbar und kontrollierbar ist. Mit dieser Betonung des Ereignischarakters des Verstehens richtet sich Gadamer nicht nur gegen die Orientierung an einer durch Methoden garantierten Objektivität des Verstehens, sondern auch gegen eine konstruktivistische Auffassung, f in der Verstehen als souveräner Entwurf von Sinn erscheint. Gadamer erkennt also auf der einen Seite die Geschichtlichkeit und die Situationsgebundenheit des Verstehens an und kritisiert an dem Versuch, das Verstehen in eine Methode zu überführen, nicht zuletzt die V darin liegende Geschichtsvergessenheit. Auf der anderen Seite erscheint diese notwendige Zeitgebundenheit des Verstehens aber nicht als Moment der Verzerrung eines objektiv zu erschließenden Sinns, sondern vielmehr als Ermöglichungsbedingung des Verstehens: Sie ist die Voraussetzung dafür, die Überlieferung zum Sprechen zu bringen, einen Sinn, der in der Gegenwart aktualisierbar ist, zu erschließen. Dass aber diese unhintergehbare Situationsbezogenheit nicht zur Willkür der
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Auslegung, zur beliebigen Konstruktion führt, liegt gewissermaßen in der Enteignung des Subjekts begründet, die es nach Gadamer im Verstehen erfährt. Verstehen erscheint also weder als Reproduktion eines gemeinten Sinns noch als Konstruktion, die einem Willen zur Macht ffolgte, sondern das Verstehen erscheint als ein historisches Geschehen, in das der Interpret einbezogen ist, ohne es gänzlich kontrollieren zu können. Verstehen, so betont Gadamer, erscheint immer auch als „Erleiden“ (469), insofern es nicht vollständig beherrschbar ist und sich darüber hinaus als negative Erfahrung vollzieht, die unsere Erwartungen durchkreuzt. Gadamers Bezug auf eine spezifische Erfahrung verdeutlicht zum einen, dass diese dem Verstehen erwachsende Erkenntnis nicht verfügbar oder herstellbar ist. Daher kann die philosophische Hermeneutik nach Gadamer auch keine Wahrheitskriterien entwickeln, sondern ist als „Vertiefung in das Phänomen des Verstehens“ zu begreifen, und sie klärt die Bedingungen auf, „unter denen Verstehen geschieht“ (300). Verstehen erscheint also nicht als eine in den Geisteswissenschaften forV mulierte Methode, sondern als primärer, unhintergehbarer Modus des Bezogenseins, des In-der-Welt-Seins, wie es Gadamer in Anlehnung an Heidegger formuliert. Das Verstehen ist demnach nicht als Spezialproblem der Wissenschaften zu behandeln, sondern es durchzieht vielmehr alle menschlichen Weltbezüge. Es liegt der Subjekt-Objekt Spaltung voraus, sodass Gadamer dieses vergegenständlichende Verhältnis als sekundäres Phänomen ausweisen und das Verstehen dem souveränen Kontrollbereich der Subjektivität entziehen kann. Daher ist Verstehen als „Geschehen“ angemessener charakterisiert denn als „subjektiver Akt“. Verstehen ist dennoch kein zeitloses, dem Wandel entzogenes GeV schehen, sondern selbst in die Geschichte einbezogen: Zum einen erscheint die eigene Endlichkeit und Geschichtlichkeit als Ermöglichungsbedingung des Verstehens, das sich als Erfahrung des Unerwarteten vollzieht, also Sinn nicht aus sich selbst entlässt. Zum anderen weist Gadamer die geschichtliche Bewegtheit der Begriffe auf, in denen sich Verstehen vollzieht. So begründet er z. B. den Geltungsanspruch der Klassiker nicht nur durch Rekurs auf die durch sie ermöglichte
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Erfahrung, sondern er legitimiert diesen Anspruch auch begriffsgeschichtlich. Er weist den normativen Sinn im Begriff des Klassischen auf: „Was klassisch ist, das ist herausgehoben aus der Differenz der wechselnden Zeit und ihres wandelbaren Geschmacks.“ Es ist „ein Bewußtsein des Bleibendseins, der unverlierbaren, von allen Zeitumständen unabhängigen Bedeutung, in dem wir etwas ‚klassisch‘ nennen – eine Art zeitloser Gegenwart, die für jede Gegenwart Gleichzeitigkeit bedeutet“ (293). Hier kommt ein weiterer Aspekt hinzu, nämlich der normative Sinn von Begriffen, den sie wiederum durch einen historischen Prozess erhalten, der sie der Beliebigkeit entzieht. Begriffen wie dem des Klassischen wächst im historischen Prozess ein Sinn zu, der sich in ihrer Anwendung erfüllt. Daher ist die reflexive Aufklärung der Begriffsgeschichte nicht nur von historischem Interesse, sondern sie macht unhintergehbare Vorentscheidungen oder Vorgriffe sichtbar, von denen her, oder besser: durch die wir verstehen. Das heißt, indem wir etwas als „Klassiker“ bezeichnen, ist ihm der Anspruch zeitloser Geltung schon zugesprochen worden, der den Horizont der Bezugnahme spannt. Allerdings muss das als klassisch Vorverstandene diesen Anspruch während der Lektüre wiederum einlösen können. Gleichzeitig wird deutlich, dass die angesprochene Zeitlosigkeit der Klassiker eine Weise ihres geschichtlichen Seins ist, insofern das Gesagte immer wieder neu und anders verstanden werden muss. Verstehen als Andersverstehen Das Verstehen erscheint, so sollte deutlich werden, gewissermaßen selbst als sich wandelndes, historisches Geschehen, das wiederum historisch bedingt ist. Gadamer vollzieht die Historisierung des Verstehens konsequent, indem er explizit auf den Rückgang auf ein „ungeschichtliches Substrat“ verzichtet, das als ewige Ordnung der Natur oder als universale Menschennatur etwa bei Dilthey herangezogen wird, um die Zeitbedingtheit des Verstehens im kongenialen Verstehen aufzuheben. Vielmehr führt Gadamer eine Selbstkritik des historischen Bewusstseins dazu, „noch im Verstehen geschichtliche Bewegtheit zu erkennen“
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(295). Das Verstehen kann demnach seine Zeitbedingtheit nicht abstreiffen, aber es verliert dennoch nicht seinen Erkenntniswert. Und damit entfaltet sich Gadamers Verstehensbegriff in einem einzigartigen Spannungsfeld: Auf der einen Seite erscheint das Verstehen aufgrund seiner Geschichtlichkeit, die sich nicht hintergehen lässt, immer als Andersverstehen. So schreibt Gadamer, dass „man anders versteht, wenn man überhaupt versteht“ (302). Auf der anderen Seite aber führt dieses Andersverstehen nicht in einen Relativismus oder in Beliebigkeit, sondern es erhebt Anspruch auf Wahrheit. In welchem Sinne bezeichnet Gadamer das Verstehen also als Andersverstehen? Er tut dies, insofern es – wie schon angesprochen – keine Reproduktion eines gemeinten Sinns (etwa durch das Verfahren der Einfühlung) oder des zeitgenössischen Verständnisses ist, das den Abstand der Zeiten überspringen könnte. Es ist auch in der Hinsicht ein Andersverstehen, als es kein metaphysisches (dem historischen Wandel entzogenes) Sinnreich erschlösse. Gadamer verabschiedet vielmehr auch einen objektivistischen Begriff von Sinn. Verstehen vollzieht sich darüber hinaus als Andersverstehen, insofern es kein Besserverstehen ist, das, wie Schleiermacher ausführt, die unbewussten Schaffensstrukturen zu Bewusstsein bringen könnte, und so dazu führte, den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst versteht. Es geht also weder um die Reproduktion von Sinn, ein Anliegen, dem Gadamer ein naives Verständnis von Objektivität nachweist, noch um ein Besserverstehen, das die unbewusste Ebene der Produktion zu Bewusstsein brächte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Verstehen vor allem deshalb als Andersverstehen vollzieht, weil es kein metaphysisches Sinnreich erschließt, also nicht auf ein unveränderbar Seiendes zurückgeht, weil es auch nicht einen subjektiv vermeinten Sinn zu erschließen sucht und sich zuletzt auch von dem Anspruch des Besserverstehens entfernt. Diese Abwendung von dem Gedanken des reproduktiven Verstehens und vom Besserverstehen eröffnet dem Interpreten nach Gadamer erst die Möglichkeit, den Sachgehalt des Textes, das sachliche Recht des Textes zu Geltung kommen zu lassen. Dieses sachliche Recht des Textes, sein Wahrheitsanspruch, kann demnach erst durch eine Kritik T der rein historischen wie der psychologischen Auslegung zur Geltung
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kommen, denn die Erkenntnis, die es zu gewinnen gilt, ist weder historisch überholbar noch an die Person des Autors gebunden, aber sie ist dennoch nicht geschichtslos. Mit dieser Betonung des Andersverstehens geht es Gadamer also geradezu um die Wiedergewinnung der Erkenntnismöglichkeiten, die der überlieferte Text bereithält, ohne dabei die historische Bewegtheit des Verstehens zu leugnen. Denn dass der Text uns etwas zu sagen hat, V heißt, dass er, wie es Gadamer ausdrückt, in die Gegenwart hineinspricht. Daher ist im Verstehen immer schon die Anwendung, g die Applikation, im Spiel, die das Verstehen in ein notwendiges Andersverstehen führt: Es findet laut Gadamer „immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten“ (313) statt. Erst dadurch, dass der Interpret den Text jeweils auf seine Situation bezieht, kann er dessen Geltungsanspruch erneuern. Diese Applikation, die im Verstehen wirksam ist, bezeugt die Unhintergehbarkeit der Vorstruktur des Verstehens, wobei diese Vorstruktur nicht negativ als Verzerrung in den Blick gebracht wird, sondern positiv als Ermöglichungsbedingung des Verstehens erscheint. Erst die Gegenwart spannt demnach mit ihrem jeweiligen Selbstverständnis den Fragehorizont, in dem sich Verstehen überhaupt vollziehen kann, was aber nicht bedeutet, dass sich der Interpret den Text beliebig aneignen, sondern dass er ihn überhaupt zum Sprechen bringen kann. Der Interpret schließt sich demnach nicht unkorrigierbar in sein Vorverständnis ein, sondern das hermeneutische Verstehen vollzieht sich nach Gadamer vielmehr als Gespräch mit dem Text, in einer FrageAntwort-Dialektik, die er als „hermeneutisches Urphänomen“ bezeichnet: Erst indem der Interpret den Text befragt und Antworten erwartet, öffnet er sich dem Eintreffen der Wahrheit. Dialektisch ist dieses Verhältnis, insofern der Interpret seine Fragen während der Lektüre modifiziert und sich den Fragen des Textes annähert, und die Antworten neue Fragen aufwerfen. Der Interpret geht so ein dialogisches Verhältnis zum Text ein. Gadamer bestimmt hier in Anlehnung an Heidegger die hermeneutische Zirkelstruktur des Verstehens neu: Das Verstehen eines Textes vollzieht sich demnach als ein Entwerfen, das der Sinner4 „Brief von Hans-Georg Gadamer“, in: Bernstein, Richard J., Beyond
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wartung des Interpreten entspringt, die sich in der Frage konkretisiert und in der Revision des jeweiligen Vorentwurfs fortschreitet. Dieses „ständige Neu-Entwerfen“ macht, so Gadamer, „die Sinnbewegung des Verstehens und Auslegens“ (272) aus. V Wirkungsgeschichtliches Bewusstsein und Horizontverschmelzung Im Befragen des Textes ist aber nicht nur der Gegenwartsbezug hergestellt, sondern die Frage bedingt zugleich in einem gewissen Sinne auch die Überschreitung der Gegenwart, insofern die Suspension des Vorurteils, soweit sie möglich ist, die Struktur der Frage hat. Das Vorurteil entzieht sich reflexiver Selbstvergewisserung und ist, wie Gadamer betont, als solches „nicht zu freier Verfügung“ (301). Vorurteile können also nur im Prozess des Verstehens selbst ins Spiel V gebracht und aufs Spiel gesetzt werden. Und dies geschieht in der Frage. In der Frage öffnet sich das Verstehen dem überlieferten Text, indem diese in der Erwartung einer Antwort die prinzipielle Überlegenheit des Textes zugesteht. Hier tritt der Interpret also nicht in eine ÜberwinT dungsbeziehung zur Vergangenheit, sondern erkennt ihre mögliche Überlegenheit an. Darüber hinaus sucht der Interpret nach der Frage, als deren Antwort der Text verständlich wird, sodass er sich von seiner eigenen Fragestellung so weit wie möglich zu entfernen sucht, um seine zeitbedingten Vorurteile zu überschreiten. Daher betont Gadamer schließlich, dass die hermeneutische Philosophie darauf besteht, „daß es kein höheres Prinzip gibt als dies, sich dem Gespräch offenzuhalten“7. Diese Offenheit für das Gespräch und damit die Bereitschaft, sich vom Text etwas sagen zu lassen, zeichnet das von Gadamer als „wirkungsgeschichtlich“ bezeichnete Bewusstsein aus. Das „wirkungsgeschichtliche Bewusstsein“ ist zum einen durch die Geschichte bewirkt und zum anderen das Bewusstsein von diesem Bewirktsein. Es ermöglicht eine spezifische hermeneutische Erfahrung, die Gadamer von der des historischen Bewusstseins unterscheidet: Während das historische Bewusstsein sich seiner eigenen Vorurteilslosigkeit sicher glaubt und so seine eigene geschichtliche Bedingtheit verkennt, ist das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein, das um seine Ge-
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schichtlichkeit weiß, in der Lage, „sich die Überlieferung zur Erfahrung werden zu lassen“ (367). Das heißt, es tritt nicht in ein verdinglichendes, objektivierendes Verhältnis zur Vergangenheit, sondern es hält sich für den Wahrheitsanspruch der Überlieferung offen. Die Überlieferung zur Erfahrung werden zu lassen heißt, in ein Gespräch mit ihr einzutreten und darin eine Verwandlung zu vollziehen, „eine Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt, was man war“ (384). Und eben in dieser Erfahrung zeigt sich die Wahrheit, die sich im Rückgang auf eine Methode, die Gewissheit garantiert, nicht machen lässt. Diese Wahrheit vollzieht sich also wesentlich im Dialog und als Dialog, der W durch Offenheit ermöglicht wird und ein Gemeinsames schafft, das keiner der Dialogpartner von sich aus hätte erzeugen können. Diese Erfahrung erfüllt sich selbst wiederum in Offenheit, d. h. in der Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen. Am Vorbild des Gesprächs rekonstruiert, erscheint das Verstehen der Überlieferung daher nicht als einseitige Aneignung der Vergangenheit durch die Gegenwart oder als Sprung in die Vergangenheit, sondern als stete Vermittlung der Gegenwart mit der Vergangenheit, die Gadamer als „Horizontverschmelzung“ bezeichnet. Dabei ist der Gegenwartshorizont, der durch die Vorurteile und Vorverständnisse der Zeit gespannt ist, nicht in sich abgeschlossen, sondern im Wandel begriffen und zur Vergangenheit geöffnet, sodass auch kein abgeschlossener historischer Horizont jenseits der Vermittlung mit der Gegenwart existiert. Im Verstehen treffen demnach nicht abgeschlossene, für sich seiende Horizonte aufeinander, sondern Verstehen ist „immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte“ (311). Die Gegenwart ist selbst durch die Überlieferung geprägt. Deshalb klafft keine unüberbrückbare Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern die Gegenwart erscheint als Teil der Überlieferung, an der es wiederum verstehend teilzugewinnen gilt. Gadamer legitimiert das Vorurteil also nicht nur durch die notwendige Erneuerung, die der Geltungsanspruch in der Anwendung des Verstehens erfährt, sondern auch, indem es selbst als Moment eines Vergangenheit und Gegenwart umschließenden Überlieferungsgeschehens
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erscheint. Daher bezeichnet Gadamer das Verstehen auch als Einrücken in das Überlieferungsgeschehen. Verstehen als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen Ebenso wenig wie das Verstehen auf die Subjektivität des Autors gerichtet ist, ist es als subjektiver Akt des Verstehenden zu fassen: „Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln. Das ist es, was in der hermeneutischen Theorie zur Geltung kommen muß, die viel zu sehr von der Idee eines Verfahrens, einer Methode, beherrscht ist.“ (295) Das Überlieferungsgeschehen ist kein vor allem Verstehen sich vollziehender historischer Prozess, sondern das Verstehen konstituiert Geschichte, aber nicht, indem es sie konstruiert oder rekonstruiert, sondern indem es an ihr teilgewinnt. Verstehen erscheint als doppelte Bewegung: Es ist historisch bewegt, und es bewegt die Geschichte. Die Geschichte, an der es dabei verstehend teilzugewinnen gilt, ,ist‘ nicht anders als im Prozess, und sie erscheint darüber hinaus als ein ungerichteter Prozess: Gadamer versucht also auch nicht, an einer teleologischen Geschichtsauffassung Halt zu gewinnen, in der sich ein Fortschritt des Wissens ereignen würde. Vielmehr begründet die Rede von der Zeitlosigkeit der Klassiker, von ihrer zeitlosen Geltung, gerade den Abschied von einem Forschrittsdenken, das die Gegenwart in eine Überwindungsbeziehung zur Vergangenheit treten lassen würde. Der passivische, das subjektive Bewusstsein überschreitende Aspekt des Verstehens, der in der Rede vom „Verstehen als Geschehen“ zum Ausdruck kommt und das Subjekt aus seiner Urteilsposition entlässt, hat auch zur Folge, dass Gadamer kein Kriterium für Wahrheit angeben kann, wie es Habermas kritisiert hat. Aber nach Gadamer bürgt für die Wahrheit des Geschehens erst die Auslöschung der souveränen urteiW lenden Subjektposition: Die eigene Anstrengung im Verstehen ist gerade darauf gerichtet, „negativ gegen sich selbst“ zu sein, sodass sich „die Sache selbst – der Sinn des Textes – Geltung verschafft“ (469).
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Verstehen als sprachliches Geschehen und die ontologische Wende der Hermeneutik Sich diesem Geschehen anzuvertrauen bedeutet, sich der Sprache anzuvertrauen, die Gadamer als Vollzugsweise des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins ausweist. Der Vorgang des Verstehens ist, wie Gadamer betont, ein sprachlicher Vorgang. Gadamer denkt Sprache dabei von der Verständigung, dem Dialog her, als dessen Mitte die Sprache erscheint. Dieser Verweis auf die Sprachgebundenheit des Verstehens führt Gadamer dazu, Auslegung und Verstehen in Übereinstimmung zu bringen. Verstehen ist also nicht nur immer schon mit der Anwendung verbunden, sondern ist immer auch schon Auslegung. „Sprache [ist] das universale Medium, in dem sich das Verstehen vollzieht. Die Vollzugsweise des Verstehens ist die Auslegung.“ (392) Und diese Auslegung ist, wie das Gespräch, als „ein durch die Dialektik von Frage und Antwort geschlossener Kreis“ (392) zu denken. Das hermeneutische Gespräch vollzieht sich in der Erarbeitung einer gemeinsamen Sprache, die Gadamer als Horizontverschmelzung anspricht. Das Gespräch mit dem überlieferten Text bezeichnet Gadamer so: „Der Text bringt eine Sache zur Sprache, aber daß er das tut, ist am Ende die Leistung des Interpreten. Beide sind daran beteiligt.“ (391) In diesem Zitat wird wiederum deutlich, dass weder der Interpret noch der Text den Vorrang im Prozess des Verstehens für sich beanspruchen kann, sondern beide sind vielmehr aufeinander verwiesen, um im Gespräch eine Sache zur Sprache zu bringen. Die Sache, die jeweils neu zur Sprache gebracht wird, ist dabei gewissermaßen in der Sprache präsent. Sie taucht nicht als das bloß Bezeichnete auf, sondern sie hat ihr Sein nur in der Sprache. Sprache hat also eine unauflösbare Verbindung zu den Sachen, die sie ausspricht und nicht nur benennt. Gadamer begreift Sprache also nicht in ihrer Verweisungsfunktion, sondern er verdeutlicht, dass die Sache, die sie ausspricht, kein Dasein jenseits der Sprache hat. Vielmehr ist das Was untrennbar mit dem Wie des Gegebenseins verbunden. Inhalt und Sprache sind demnach untrennbar ineinander verwoben, sodass die Sache im Zur-Sprache-Kommen kein zweites
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Dasein erhält, wobei das erste Dasein etwa als ein sprachlos Vorgegebenes zu denken wäre. Vielmehr hat die Sache nur in der Sprache ihr Sein, indem sie sich zur Sprache bringt. Es gibt demnach kein Sein, das sich jenseits der Sprache zeigen könnte. Vielmehr ist Sein und Sichdarstellen hier in Übereinstimmung gebracht. Und es gibt keinen „sprachfreien Standort“, der sich jenseits der Sprache etablieren und die Sprache selbst zum Gegenstand machen könnte. Das menschliche In-der-Welt-Sein ist vielmehr unhintergehbar sprachlich verfasst: „Sprachlich und damit verständlich ist das menschliche Weltverhältnis schlechthin und von Grund aus.“ (479) Das Verstehen erscheint als konstitutives Moment menschlichen Seins, insofern das ursprüngliche menschliche Weltverhältnis nach Gadamer in der Sprachverfassung menschlicher Welterfahrung liegt. Aufgrund dieser engen Verwiesenheit von Sprachlichkeit und Sein sowie von Verstehen und Sprachlichkeit kommt Gadamer zu dem berühmten Satz: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“ (487) In der Sprache kommt demnach das Seiende, „wie es sich dem Menschen als seiend und bedeutend zeigt“, zu Wort (460). Obwohl daher jede verstehende Aneignung der Geschichte eine geschichtlich andere ist, ist sie doch keine Neuschöpfung, sondern eine jeweils neu zur Sprache gebrachte „Ansicht der Sache selbst“ (477), insofern im Verstehen die dem Text inhärenten Sinnbezüge freigelegt werden. Der Sinn des Textes, der T die Sache bezeichnet, die in ihm zur Sprache kommt, ist kein fester, an sich seiender Gegenstand, sondern in seinem Sein auf das Verstehen verwiesen, das sich sprachlich vollzieht. Zum Sein gehört daher die Auslegung, und Sein erfüllt sich im Ausgelegtsein. Das Sichdarstellen des Sinns und der Vollzug des Verstehens sind konstitutiv aufeinander verwiesen. Der Sinn zeigt sich in der Sprache, er ist nur in sprachlicher Vermittlung, und dieser Sinn ist in seinem Sein auf das Zur-Sprache-Kommen verwiesen, das im Verstehen geschieht. Deshalb macht die Sprache nach Gadamer etwas als seiend zugänglich oder offenbar, das vordem verborgen war. Hier bezieht sich Gadamer auf die entbergende Macht der Sprache, die ihn auf den griechischen Begriff der aletheia zurückführt, der dieses Offenbarwerden ausspricht. Objectivism and Relativism. Science, Hermeneutics, and Praxis, Oxford 1983, S. 262–265, hier S. 265.
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Dieser Prozess des Verstehens wird wiederum von der Sprache geführt, die sich im Gespräch den Sprechenden entzieht und sie, wie es Gadamer ausdrückt, in „das Spiel der Sprache selbst“ einbezieht (494). Das Gespräch entzieht sich demnach der Kontrolle der Gesprächspartner, sodass Gadamer das Sprechen an anderer Stelle auch als „die am tiefsten selbstvergessene Handlung, die wir als vernünftige Wesen überhaupt ausführen“, charakterisiert.8 Demnach sprechen nicht wir die Sprache, sondern nach Gadamer ist es richtiger zu sagen, dass „die Sprache uns spricht“ (467). Hier ist also wieder die Geschehensstruktur des Verstehens ausgesprochen, in die der Verstehende einbezogen ist und die ihm nicht die Freiheit der Zurückweisung des an ihn gerichteten Anspruchs oder die Kontrolle über den Verstehensprozess belässt: „Wir sind als Verstehende in ein Wahrheitsgeschehen einbezogen und kommen gleichsam zu spät, wenn wir wissen wollen, was wir glauben sollen.“ (494) Wir sind demnach in ein Wahrheitsgeschehen einbezogen, das sich im Dialog vollzieht und das im Wesentlichen als Prozess der Aufhebung einseitiger Setzungen gedacht werden kann. Da keiner der Dialogpartner die Herrschaft über die Sprache innehat, das Sprechen vielmehr als selbstvergessene Handlung bezeichnet werden kann, ist der Dialog die Sphäre, in der sich Wahrheit in Richtung auf ein Gemeinsames hin, d. h. als Horizontverschmelzung vollzieht. In diesem Prozess macht sich die Sache selbst geltend, die in der Sprache ihr für den Menschen verständliches Sein hat. Diese Wahrheit, die sich im Gespräch vollzieht, belässt uns nicht die Möglichkeit kritischer Abstandnahme, sondern sie ergreift uns als echte Erfahrung. Hermeneutik und Ideologiekritik Wahrheit und Methode hat die Hermeneutik erneut in das Zentrum der W philosophischen Diskussion gerückt. Den Geistes- und Sozialwissenschaften hat Gadamer mit der Kritik an einem objektivistischen Selbstverständnis neue Perspektiven eröffnet. Vor allem die dialogische Struktur des Verstehens sowie das Konzept der Horizontverschmelzung 5 Gadamer, Hans-Georg, „Heidegger und die Griechen“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Tübingen 1995, S. 40.
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haben den Sozialwissenschaften neue Wege gewiesen, ihre Forschungen jenseits von Objektivismus und Relativismus neu zu bedenken und zu formulieren. Aber die Rezeption des Buches ist nicht zuletzt durch seine kritische Diskussion geprägt, in die Gadamer selbst immer wieder eingegriffen hat. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die von Habermas geübte Kritik, denn in der Diskussion um die Ideologiekritik sind wesentliche Themen angesprochen worden, die bis heute relevant sind. Habermas hat Gadamers „Idealismus der Sprachlichkeit“ kritisiert und auf die Abhängigkeit der Sprache von gesellschaftlichen Prozessen hingewiesen, durch die Sprache auch als Medium von Herrschaft und Macht erscheint. Diese ideologische Dimension der Sprache bleibt nach Habermas bei Gadamer unberücksichtigt. Er fordert demgegenüber eine Möglichkeit kritischen Zugangs zur Sprache ein, durch den ideologische Verzerrungen der Verständigung aufgedeckt werden können. Mit Gadamers Behauptung der universal-ontologischen Struktur wird demnach jede Möglichkeit, Sprache selbstkritisch in den Blick zu nehmen, ausgeschlossen. Die von Gadamer konstatierte Unentrinnbarkeit der Sprachlichkeit, die weder auf eine außer ihr seiende Welt hin überschritten werden noch selbst Gegenstand werden kann, führt nach Habermas zu einer Verkennung der ideologischen Dimension der Sprache, welche die Verständigung durch Abhängigkeiten und Zwänge systematisch verzerren kann. Damit kann das Gespräch, das nicht wiederum selbstkritisch in den Blick genommen wird, das also nicht auf einen Standort eines Dritten hin überschritten werden kann, nicht länger als Ort, an dem Wahrheit geschieht, begriffen werden. Vielmehr kann es nach Habermas zur „Pseudokommunikation“ kommen, die nicht Wahrheit erschließt, sondern Abhängigkeiten und bloße ÜberzeugunW gen neu inszeniert. Habermas fordert daher eine Metahermeneutik ein, die sich über die Gesprächssituation selbst Aufklärung verschafft und Kriterien eines solchen Konsenses entwickelt, der Wahrheit verbürgt. Dies wäre nach Habermas der Konsens, „der unter den idealisierten
6 Gadamer, Hans-Georg, „Die Universalität des hermeneutischen Problems“, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen 1993, S. 220.
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Bedingungen unbeschränkter und herrschaftsfreier Kommunikation erzielt worden wäre und auf Dauer behauptet werden könnte“.9 Gadamer hält Habermas wiederum entgegen, dass dieser nie über ein „idealistisches Verständnis“ der Hermeneutik hinausgekommen sei,10 und er kritisiert, dass der Reflexionsbegriff, der der Ideologiekritik zugrunde liegt, einen abstrakten Begriff eines zwangsfreien Diskurses impliziere, der „die eigentlichen Bedingungen menschlicher Praxis aus dem Auge verliert“.11 Hier macht Gadamer noch einmal deutlich, dass das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein eher Sein als Bewusstsein ist, insofern es aus der Praxis erwächst und nur in der Praxis reflexiv werden kann, indem es seine eigenen Bedingtheiten im Prozess der Verständigung erfahren und aufs Spiel setzen kann. In diesem Zusammenhang macht Gadamer wieder den aristotelischen Begriff der phronesis stark, der eine praktische Weisheit bezeichnet, die nur in der Praxis gewonnen und durch die Praxis fortgebildet werden kann. Während für Gadamer der Prozess des Verstehens selbst Wahrheit verbürgt und nur deskriptiv aufklärbar ist, bezieht sich die Kritik auf die Möglichkeit eines nur scheinbaren Verstehens, das sich in Verblendungszusammenhängen vollzieht. In Gadamers Verständnis entzieht sich jedoch das Verstehen als Geschehen, als historischer Prozess, gewissermaßen jeder Verzerrung, insofern es sich dem T Tun der Sache selbst überlässt. Dieses Tun der Sache ließe sich gewissermaßen als das Dritte ausweisen, das als Korrektiv im Verständigungsprozess wirksam wird und die Gesprächspartner aus ihrem bloßen Meinen hinausführt und dem Wahrheitsgeschehen öffnet. Die normative Kraft der Sprache, ihre vorgreifliche Bedeutung, die sie durch ihre Geschichte erhält, ist zweifellos in ihrer Funktion, Garant für Wahrheit zu sein, problematisch. Aber Gadamers Argumentation erscheint in W Wahrheit und Methode vor allem als Verteidigung des philosophischen Begriffs, die er gegen eine Fachsprache wendet: Dem Gedanken, die Philosophie könne eine Kunstsprache entwickeln, die eindeutig wäre und durch Definitionen beliebige Inhalte festhalten könnte, hält Gadamer ihre historische Dimension entgegen, die sie der Möglichkeit beliebiger Festlegung entzieht, und erinnert an ihre vorgreifliche und reflexiv nie ganz einholbare Bedeutung, die sie im Gespräch entfaltet.
Erst darin eröffnet sich die Chance, an einer Wahrheit teilzugewinnen, die der Einzelne nie ganz fassen und für sich beanspruchen kann. Während also Gadamer die Verbindlichkeit der Überlieferung zurückgewinnen will, geht es der Kritik darum, deren Anspruch kritisch prüfen zu können, um ihn gegebenenfalls auch abzuweisen. Dass Gadamer selbst in seinem Text der Spur einer bewahrenswerten Tradition ffolgt und implizit Qualifikationen vornimmt, indem er auch eine fehlgehende Geschichte rekonstruiert (wie z. B. seine Kritik der Aufklärung oder der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik zeigt), kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er aus seinem Ansatz kein Kriterium zur Qualifikation des Bewahrenswerten entwickeln kann. Obwohl die Forderungen nach einem kritischen Standort, von dem her das Verstehen nicht nur als Geschehen beschreibbar ist, sondern auch kritisch beurteilt werden kann, also durchaus berechtigt erscheinen, hat Gadamer doch auf die Problematik dieser Forderungen hingewiesen. So hat er selbst wiederum einen Horizont kritischer Reflexion erschlossen, in dem Ansprüche und Möglichkeiten der Kritik befragbar werden. Und dies macht nicht zuletzt die zeitlose Aktualität von WahrW heit und Methode aus.
7 Gadamer, Hans-Georg, „Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer“, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen 1993, S. 505.
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Donald Davidson: Handlung und Ereignis heidrun hesse
Was unter einer Handlung zu verstehen ist und wie sich Handlungen W von anderen Geschehnissen unterscheiden lassen, ist spätestens seit Aristoteles eines der grundlegenden Themen der Philosophie. Denn von den Antworten auf diese Fragen hängt unser elementares Selbst- und Weltverständnis ab. So scheint es beispielsweise nur für handlungsfäW hige Wesen überhaupt sinnvoll zu sein, zu überlegen, an welchen ethischen Maßstäben sie sich orientieren und mithin ihr Tun ausrichten wollen bzw. sollten. Handlungen spielen aber wohl auch bei der Entdeckung vorhandener Ordnungszusammenhänge eine wichtige Rolle, wie sich exemplarisch an der zentralen Stellung des Experiments in den modernen Naturwissenschaften ablesen lässt. Welche ontologischen Bestimmungen drängen sich daher auf, welches Verständnis des Seienden überhaupt ist angemessen, wenn es Handlungen in Gestalt absichtsvoller Eingriffe Handelnder in den Weltlauf wirklich gibt? Donald Davidson hat sich mit diesem Thema in aufschlussreicher Weise auseinander gesetzt und die aktuelle Diskussion handlungstheoW retischer Probleme nachhaltig beeinflusst. Handlung und Ereignis 1, die deutsche Übersetzung der im englischen Original 1980 erschienenen Essays on Actions and Events, ist allerdings keine strikt durchgearbeitete Monographie, die mit einem übersichtlichen Fazit aufwartet. Das Buch versammelt vielmehr die einschlägigen handlungstheoretischen Aufsätze, die Davidson von 1963 bis 1978 bereits nach und nach in unterschiedlichen Fachpublikationen veröffentlicht hatte. Diese Arbeiten blenden zudem die Seite unseres Handlungsverständnisses weitgehend aus, die man üblicherweise dem Bereich der praktischen Philosophie zuschlägt. Davidson geht es also nicht darum zu untersuchen, wie wir alternative
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Handlungsmöglichkeiten und abgeschlossene Handlungen nach ethischen Kriterien beurteilen dürfen. Er interessiert sich vielmehr vor allem anderen für das theoretische Grundlagenproblem, wie wir Handlungen angemessen beschreiben und erklären können. Gleichwohl war es die Veröffentlichung von Handlung und Ereignis, die Davidsons Philosophieren fortdauernde internationale Anerkennung eingebracht hat. Und das mit Recht. Denn die kompakte Aufsatzsammlung bietet ein reichhaltiges Spektrum detaillierter Überlegungen, die den Stand einer ausgefuchsten Debatte wiedergeben und begrifflich zuspitzen. Ausführlich setzt sich Davidson mit verwickelten Positionen und scharfsinnigen Einwänden von Zeitgenossen auseinander, die sich allesamt einer ganz bestimmten philosophischen Tradition zugehörig wissen: der so genannten sprachanalytischen Philosophie. Handlung und Ereignis ist es gelungen, einer Diskussion unter Spezialisten eine neue Gestalt zu geben, die weitere Kreise interessieren kann und sich wirkungsgeschichtlich bereits als überaus folgenreich erwiesen hat. Handlung und Interpretation Wer herausfinden will, was Handlungen sind und wie sie sich von andeW ren Gegebenheiten unterscheiden, dem bietet sich mit Davidson der sprachanalytischen Tradition gemäß ein Königsweg an: Er muss die logische Form der sprachlichen Äußerungen untersuchen, mit denen wir uns über Handlungen verständigen. Unsere Sprache nämlich, so Davidsons prinzipielle Überzeugung, gibt die Wirklichkeit, in der wir leben, zuverlässig wieder. Denn unsere Sprechhandlungen hätten überhaupt keine Bedeutung und taugten schlechterdings nicht zur interindividuellen Verständigung, wenn wir nicht ein Weltbild miteinander teilen würden, das zudem im Großen und Ganzen wahr sein muss. Diese pragmatische Auffassung vom ganzheitlichen (holistischen) 8 Gadamer, Hans-Georg, „Sprache und Verstehen“, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen 1993, S. 198. 9 Habermas, Jürgen, „Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik“, in: Ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt/Main 1985, S. 326. 10Gadamer, Hans-Georg, „Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer“, a. a. O., S. 498.
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und wirklichkeitsgetreuen (realistischen) Charakter sprachlicher Bedeutung hat Davidson nahezu parallel zu seinen handlungstheoretischen Arbeiten in einer anderen Reihe von Aufsätzen entwickelt, die ein paar Jahre später, 1984, unter dem Titel Inquiries into Truth and Interpre2 veröffentlicht wurden, Davidsons Lehrer Willard Van Orman t tation Quine gewidmet sind und in der Formel von der „Radikalen Interpretation“ gipfeln. Mit dieser Formel versucht Davidson freilich gerade nachzuweisen, dass sich die Bedeutung beliebiger sprachlicher Äußerungen verbindlich daraus ergibt, unter welchen empirischen Umständen die Angehörigen einer Sprachgemeinschaft sie übereinstimmend für wahr halten. Diese relative Unabhängigkeit von dem lediglich individuellen Vermeinen vereinzelter Sprecher nennt Davidson „Autonomie der Bedeutung“. In der Autonomie der Bedeutung liegt der Grund dafür, dass jede Sprache „eine großenteils zutreffende und gemeinsame Ansicht von der Beschaffenheit der Dinge enthalten“ muss. Aus dieser Bedingung sinnvollen Sprechens wiederum zieht Davidson die methodologische Folgerung, „daß wir, indem wir die großen Züge unserer Sprache aufzeigen, auch die großen Züge der Realität deutlich machen“.3 Während die so genannte Sprechakttheorie Austins und insbesondere Searles zumindest andeutet, wie sich unsere sprachlichen Äußerungen gerade als unterschiedliche Formen des Handelns erschließen lassen könnten, besteht Davidson also auf einem Primat der Semantik. Insofern seine handlungstheoretischen und seine interpretationstheoretischen Untersuchungen gleichermaßen „Ordnung in unser Verstehen des Verhaltens zu bringen“4 versuchen, sind sie eng miteinander verzahnt. Wir können und müssen uns laut Davidson freilich auch dann in erster Linie mit der logisch-semantischen Form unserer Aussagen befassen, wenn wir herausfinden wollen, was es mit unseren Handlungen auf sich hat. In dieser Hinsicht dient die mit dem Begriff der Interpretation verbundene Möglichkeit, „bestimmte Ereignisse in aufschlußreicher Weise neu zu beschreiben“5, zunächst vor allem dazu, die eigentümliche Beziehung von Handlungen auf Absichten sprachanalytisch in den Griff zu bekommen. Eine der wirkungsreichsten Grundthesen von Handlung und Ereignis behauptet sodann, Gründe von Handlun-
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gen seien zugleich als deren Ursachen anzusehen. Handlungen werden auf diese Weise in eine umfassende Ontologie der Ereignisse eingeordnet. Schließlich verspricht das, was Davidson „anomalen Monismus“ nennt, die ärgerlichen Widersprüche auszuräumen, die zwischen einer solchen kausalen Ereignisontologie und unserem alltagsweltlichen Bewusstsein der Handlungsfreiheit auftreten. Handeln und Beabsichtigen In einer Handlung verwickelt sich meine mehr oder weniger gut überlegte Absicht, einen bestimmten Zweck zu realisieren, in die von mir unabhängige Wirklichkeit und nimmt, auch im Falle der glücklichen Erreichung des Handlungsziels, unerwünschte und sogar unabsehbare Folgen in Kauf. So könnte man das gewöhnliche Handlungsverständnis in der Perspektive der ersten Person, also des jeweiligen Akteurs, wohl phänomenal fassen. Wenn wir uns alltagsweltlich als Handelnde erleben, die im Zweifelsfall auch etwas anderes tun könnten, einander Handlungen zurechnen und sie ethischen bzw. rechtlichen Kriterien gemäß beurteilen, pflegen wir daher nicht schlechthin alles in Rechnung zu stellen, was mit unserem Tun in einem beobachtbaren zeitlichen und kausalen Zusammenhang steht. Als Handeln wird vielmehr nur angesehen, was daran in Vorsatz und Wissen des handelnden Individuums lag. Von Aristoteles über Kant und Hegel bis zu Max Weber und Talcott Parsons wird der Begriff des Handelns daher an den der Absicht gebunden, in der ein handelndes Individuum unterschiedliche Maßnahmen und Verrichtungen zum unverwechselbaren Ganzen einer bestimmten Handlung zu integrieren versucht. Zwar können Absichten bloße Vorsätze bleiben oder im unzulänglichen Bemühen, sie zu verwirklichen, verdreht, entstellt und unkenntlich werden, also scheitern. Wirkliche Handlungen aber lassen sich dieser tradierten Standardauffassung nach von beliebigen Geschehnissen anderer Art allein dadurch unterscheiden, dass sie als Ausdruck einer Intention des Handelnden gedeutet und verstanden werden. Es ist deshalb zunächst einmal überraschend, wenn nicht gar befremdlich, welche Wendung Davidson dem begrifflichen Zusammen-
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hang von Handlung und Absicht gibt. Denn er behauptet, „obgleich Absichtlichkeit Handeln impliziert, gilt das Umgekehrte nicht“ (75). Diese Aussage muss aber doch wohl bedeuten, aus jedem Beabsichtigen folge zwar ein Handeln, es gebe aber zahllose Handlungen, die nicht absichtlich erfolgten. Tatsächlich spricht Davidson immer wieder ohne jeden Vorbehalt von „unbeabsichtigten Handlungen“ und nimmt den seiner V Auffassung f nach „recht speziellen Fall“ (133), in dem eine Absicht nicht einmal versuchsweise verwirklicht wird, sondern bloße Absicht bleibt, vorrangig als Beleg für die Unabhängigkeit des Begriffs des Handelns vom Begriff des Beabsichtigens. Es sind durchaus nachvollziehbare Gründe, die Davidson zu der Vermutung führen, dass „der Begriff des Handelns einfacher oder grundlegender ist als der Begriff der Absicht“ (79). Und dennoch liefern die Untersuchungen in Handlung und Ereignis auf einem Umweg zugleich eine Art Rehabilitation des vertrauten Gedankens, von Handlungen könne nur die Rede sein, wo Absichten im Spiel seien. Die neue und etwas verwickelte Form, die Davidson diesem Gedanken gibt, ist allerdings sehr aufschlussreich, weil sie den Interpreten nicht nur mit einigen weitreichenden ontologischen Prämissen speziell der davidsonschen Handlungstheorie bekannt macht, sondern ihm überdies einige prinzipielle Voraussetzungen sprachanalytischen Philosophierens überhaupt vor V Augen führt. Mit Wittgenstein, Carnap und Quine verbindet Davidson nämlich nicht zuletzt ein grundlegendes Misstrauen gegen die Rede von Absichten, Meinungen und anderen subjektiven Einstellungen, die sich unter dem Namen „Intentionalität“ zusammenfassen lassen. Denn die intentionale Bezugnahme auf etwas weist Eigentümlichkeiten auf, die sie für einen theoretischen Zugriff unbrauchbar macht, der sich methodisch wie ontologisch am Vorbild der modernen empirischen Naturwissenschaften orientiert. Weil Absichten und Ansichten nun einmal nicht wahrnehmbar sind, lassen sie sich allenfalls aus beobachtbaren Geschehnissen herauslesen und in alles Mögliche leider auch allzu leicht hineinlesen. Unsere je eigenen Wünsche, Überzeugungen, Vorhaben 11Ebd., S. 500. 1 Davidson, Donald, Handlung und Ereignis, Frankfurt/Main 1985.
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mögen uns im Normalfall zwar unmittelbar bewusst sein. Wenn wir etwas Triftiges über die intentionalen Einstellungen anderer in Erfahrung bringen wollen, sind wir aber gezwungen, uns an Form und Inhalt ihrer Äußerungen in Verhalten, Handlungen und Sprechhandlungen zu halten. Insbesondere für den logisch-semantischen Zugriff auf diese Äußerungen erweist sich ein weiterer Umstand als besonders misslich: Die intentionale Redeweise ist im Hinblick auf den Wahrheitswert des Ausgesagten uneindeutig. So kann es beispielsweise durchaus zutreffen, dass ich glaube, es gebe den Weihnachtsmann, obwohl die Behauptung, es gebe den Weihnachtsmann, falsch ist. Die Bedeutung der in intentionaler Rede verwendeten Termini lässt sich folglich nicht mehr an die Identität der Wahrheitswerte der Aussage binden, wie es Davidsons Theorie der Radikalen Interpretation fordert. Obwohl sich zwei Termini anscheinend auch in intentionalen Kontexten auf ein und denselben Gegenstand beziehen können, lässt sich ihre Bedeutungsgleichheit deshalb nicht mehr mit den Mitteln der formallogischen Semantik als Umfangsgleichheit der betreffenden Begriffe (mithin extensional) nachweisen. Aus der Tatsache, dass Elsa beabsichtigt, dem Komponisten der Vier ernsten Gesänge ein ehrfürchtiges Andenken zu wahren, und der Tatsache, dass Brahms die Vier ernsten Gesänge komponiert hat, lässt sich eben nicht in korrekter Weise folgern, Elsa beabsichtige, Brahms ein ehrfürchtiges Andenken zu wahren. Vielleicht hält sie vielmehr Brehm für den fraglichen Komponisten. Im Gebrauch intentionaler Verben (Davidson spricht von „psychologischen“ Verben) wie glauben, wissen, beabsichtigen, in dem die Einstellung V eines Individuums zu einer Behauptung (eine „propositionale Einstellung“ also) zum Ausdruck kommt, gilt somit „das übliche Prinzip der Substituierbarkeit gleichbezüglicher singulärer Termini nicht“ (339). Was hier deshalb versagt, ist die Mechanik des logischen Schließens. W Diese „semantische Undurchsichtigkeit oder Intensionalität der Absichtszuschreibungen“ (77)6 ist der Grund, aus dem Davidson nach einem anderen Kriterium zur Unterscheidung von Handlungen und Ereignissen fahndet als dem traditionellen der Absichtlichkeit. Von einer näheren Erkundung der semantischen Felder der Wörter „Handlung“
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und „handeln“ sieht er dabei allerdings ab, weil diese Termini in der Umgangssprache nicht besonders oft Verwendung fänden und üblicherweise für Gelegenheiten reserviert würden, „die einigermaßen aus dem Rahmen“ (21, Anm. 2) fielen. Freilich weist auch der regelmäßige Gebrauch der Verben, mit denen wir Handlungen zu beschreiben pflegen, kein Merkmal auf, das zum gesuchten Abgrenzungskriterium taugen könnte. Indem wir lernen, die Verben einer bestimmten Sprache richtig zu verwenden, pflegen wir zwar zugleich zu lernen, ob sie im Allgemeinen die Vorstellung eines Handelnden beinhalten oder nicht. Wenn es jedoch darum geht, beispielsweise festzustellen, ob dieses StolW pern, Husten oder Wehgeschrei Emils als ein Handeln anzusehen ist und nicht als etwas, was ihm lediglich unterläuft, ihm widerfährt oder ihn überwältigt, wird die Beurteilung schwierig. Ob solche „Ereignisse Handlungen sind, wissen wir erst, nachdem wir mehr erfahren haben, als das Verb uns sagt“ (75, 175). Die entscheidende Hilfe bringt nun ausgerechnet die Frage, ob Emil denn wohl absichtlich gestolpert ist oder nicht. „Wir unterstellen ein Handeln nur dort, wo man sinnvoll fragen kann, ob der Betreffende absichtlich gehandelt hat.“ (176) Deswegen muss Davidson einräumen, „Beispiele für das Handeln nur durch Berufung auf den Begriff der Absicht ermitteln“ (79) zu können. Den Versuch, „ein Kennzeichen des Handelns“ zu entdecken, „das sich nicht auf den Begriff der Absicht stützt“ (79) bricht er an dieser Stelle ausdrücklich ab. Die Form des Eingeständnisses zum Handeln sei „nötig, daß, was der Handelnde tut, sich unter einer Beschreibung als beabsichtigt darstellt“ (83), kompensiert indessen zugleich die aus Davidsons Sicht beklagenswerte semantische Undurchsichtigkeit der Rede von Absichten und absichtlichem Handeln. Das Kriterium der Absichtlichkeit erhält mit der zitierten Formulierung nämlich eine quasi umfangslogische (extensionale) Fassung: Handlungen werden als diejenige Klasse der Ereignisse bestimmt, von denen mindestens eine wahre Beschreibung möglich ist, die sie auf die absichtliche Urheberschaft durch einen Akteur zurückführt. Eine solche Zuschreibung erfüllt die Forderung nach logisch-semantischer Durchsichtigkeit, weil die „Beziehung, die zwischen einer Person und einem Ereignis dann besteht, wenn das Ereignis eine von dieser Per-
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son vollzogenen Handlung ist“, unabhängig davon besteht, „wie die Beziehungsglieder beschrieben werden“ (78). Dieser Maßgabe folgend, hat es die Handlungstheorie nun mit sprachlichen Beschreibungen von Handlungsereignissen zu tun, die in der Beobachterperspektive eindeutig fassbar sind, weil sie dieselben bleiben, unabhängig davon, ob sie als absichtliches Tun verstanden oder lediglich als unabsichtliche kausale Verwicklung beobachtet werden. Es ist jedenfalls ein und dasselbe objektive Ereignis, das solche unterschiedlichen Beschreibungen bewahrheitet oder auch nicht. Folglich kann in diesem Blickwinkel schlechterdings jedes Handlungsereignis auch ohne Rücksicht auf die Absichten eines handelnden Individuums korrekt beschrieben werden. Das Akkordeon der Handlungsbeschreibungen Zweifellos lassen sich Handlungsabläufe ebenso wie andere Geschehnisse in recht unterschiedlichen Weisen beschreiben. Manchmal liegt uns daran, einen Vorgang in möglichst vielen Details zu erfassen, manchmal sind wir mit recht knappen und pauschalen Angaben zufrieden. „Helene hat sich betrunken.“ Diese Aussage liefert z. B. eine recht lakonische Charakteristik eines absichtsvollen oder möglicherweise auch unabsichtlichen Hergangs. „Helene hat sich mit einer Flasche Champagner betrunken.“ Diese Beschreibung ist schon etwas ausführlicher. Die Schilderung lässt sich aber noch weit reichhaltiger gestalten, indem wir adverbiale Bestimmungen und erläuternde Nebensätze hinzufügen wie „in der Abenddämmerung“, „in Heidelberg“, „weil sie sich langweilt“, „um ihrem Angetrauten zu missfallen“. Nicht nur die inneren und äußeren Umstände des Handelns lassen sich in diesem Sinne präzisieren oder ausschmücken, sondern ebenso der Vorgang als solcher. So hat sich Helene nun einmal betrunken, indem sie mehrfach zur Flasche gegriffen, ihr Glas mit Champagner gefüllt, zum Mund geführt und in schnellen kleinen Schlückchen ausgeIm folgenden Text in Klammern angeführte Seitennachweise verweisen stets auf diesen Band. 2 Davidson, Donald, Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 1984, deutsch: W Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/Main 1986. 3 Ebd., S. 283.
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trunken hat. Und sie musste nicht einmal zusätzlich noch etwas anderes tun, um ihrem Angetrauten zu missfallen. Wie ein Akkordeonspieler sein Instrument auseinander zieht und wieder zusammendrückt, so können wir die Beschreibung einer Handlung ausweiten, indem wir sie in zahllosen Details entfalten, und sie gleich darauf wieder zu einer wortkargen Aussage zusammenschrumpfen lassen. Es ist ein und derselbe Gegenstand, der dieser „kunterbunten Mischung verbundener Beschreibungen entspricht“ (95). „Das Akkordeon7, das bei allem Zusammenpressen und Auseinanderziehen dasselbe bleibt, ist die Handlung; die Veränderungen liegen in beschriebenen Aspekten oder in Beschreibungen des Ereignisses.“ (94f.) Das ist eine interessante Entdeckung. Das Akkordeon der Handlungsbeschreibungen kann sogar der Erläuterung eines intentionalistischen Handlungsbegriffs traditioneller Art dienen. Im Fall Helenes wäre es dann nämlich einzig und genau die Deutung ihrer Absicht, sich einen Rausch anzutrinken, in der die diversen körperlichen Verrichtungen des Anhebens, Einschenkens, Austrinkens usw., die alle immer noch genauer erfasst werden könnten, allererst als elementare Züge einer einheitlichen zielgerichteten Handlung auftreten können, die im Unterschied zu unabsichtlichen Ereignissen freilich jederzeit scheitern kann. Die Gefahr einer künstlichen Vervielfältigung der Handlungsereignisse durch die Art und Weise der Beschreibung, vor der Davidson warnt, droht in dieser Perspektive jedenfalls nicht. Denn was die Einheit einer Handlung wahrt, kann ohnehin keine zusätzliche Handlung sein, die vor dem eigentlichen Handeln stattfinden oder irgendwie zu ihm hinzutreten müsste. Und was das Bündel der Effekte einer Handlung betrifft, mögen sie nun beabsichtigt sein oder im Gegenteil unabsehbar, so ist es in diesem Blickwinkel ebenso wenig als eine Art zweiter Handlung des betreffenden Akteurs zu verstehen. Doch Davidson gibt dem Ganzen einen anderen Sinn. Das Spiel auf dem Akkordeon der Handlungsbeschreibungen dient ihm geradewegs dazu, eine jegliche Handlung mit allen ihren näheren Wirkungen zu 4 V Vgl. ebd., S. 233 und vor allem ders., „Toward a Unified Theory of Meaning and Action“, in: Grazer Philosophische Studien 1980 (11), S. 1–12. 5 Davidson, Donald, W Wahrheit und Interpretation, a. a. O., S. 232. 6 Davon spricht schon Quine, auf den Davidson an anderer Stelle, nämlich
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identifizieren und sie auf diese Weise scheinbar bruchlos in die objektivierbare Welt kausal bestimmter Ereignisse einzuordnen. Zwar betont Davidson, der Akkordeoneffekt sei nicht auf beliebige Ereignisse anwendbar, sondern „auf handelnde Personen beschränkt“, weil er sich nicht einsetzen lasse, „wenn keine Absicht vorhanden“ sei (88). Die erforderliche Handlungsabsicht deutet Handlung und Ereignis jedoch nicht als die Einheit stiftende Klammer einer Zweckverwirklichung, die gelingen kann oder auch nicht, sondern schlicht als den kausalen Ausgangspunkt eines Handlungsereignisses. Auf diesen Ausgangspunkt lassen sich dann alle Einzelheiten des wahrnehmbaren Geschehens zurückbeziehen. Der Akkordeoneffekt führt daher „zu einer gewaltigen Vereinfachung des Problems der Handlung“ (98). Einerseits nämlich können wir nun alles Tun elementar als eine bzw. mehrere Körperbewegungen des Akteurs beschreiben. Andererseits können wir denselben Vorgang immer wieder neu beschreiben, indem wir darauf achten, was der Akteur mit diesen Körperbewegungen außerhalb seiner Haut, sozusagen in der Welt, kausal anrichtet. Mit Recht, meint Davidson, schließen wir vieles ein, was wir unabsichtlich tun, wenn wir unsere Handlungen so beschreiben.8 Ödipus beispielsweise, das wird niemand leugnen, erschlug an einem Kreuzweg absichtlich einen alten Mann, der seinem Gespann nicht ausweichen wollte. Unabsichtlich aber tötete er durch ebendiese Handlung seinen Vater. Mag er dafür später immerhin in heroischem Bewusstsein die Schuld übernommen haben, obwohl ihm der Vatermord nicht als eine vorsätzliche und wissentliche Handlung zuzuschreiben ist. Im Rahmen einer Wahrheitssemantik, die sich an der Form der Aussage und den Regeln logischen Schließens orientiert, spielen solche feinen Unterscheidungen keine maßgebliche Rolle. Unter Davidsons Voraussetzungen ist es vielmehr zwingend, die beiden unterschiedlichen Darstellungen lediglich als zwei gleichwertige Beschreibungen ein und desselben Ereignisses aufzufassen: Denn dass Ödipus seinen Vater getötet hat, folgt nun einmal aus den beiden wahren Prämissen, dass er einen alten Mann erschlagen hat und dieser Mann sein Vater war. Deswegen kann Davidson immer wieder von absichtslosen Handlun-
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gen sprechen, als verstünde sich diese Redeweise von selbst. Trotzdem wirken einige seiner Formulierungen im Vergleich mit entsprechenden alltagsweltlichen Redeweisen nicht nur erkünstelt, sondern auch weniger subtil. So behauptet Davidson, man könne etwas sehr wohl absichtlich tun, ohne zu wissen, dass man es tue. Gemeint ist freilich der wohl einem jeden vertraute Fall, in dem man nicht sicher sein kann, ob einem gerade wirklich gelingt, was man absichtsvoll bewirken möchte. Zu Dissonanzen führt indessen vor allem ein weiterer Ton, den Davidson dem Akkordeon der Handlungsbeschreibungen zu entlocken versucht. Nicht nur, was immer ein Beobachter als Merkmale eines Handlungsvollzugs erfassen kann, soll auf ein und dasselbe ‚Ereignis unter unterschiedlichen Beschreibungen‘ zurückbezogen werden, sondern darüber hinaus, was als unmittelbare kausale Folge dieses Ereignisses eintritt. In dieser Sicht liefert uns jede Konsequenz einer absichtlichen Körperbewegung eine weitere Beschreibungsmöglichkeit für das Handlungsereignis. Wenn ich beispielsweise abends nach Hause komme, absichtsvoll das Licht anknipse und dadurch unabsichtlich einen Einbrecher von meiner Heimkehr in Kenntnis setze, dann ist Davidson sich sicher, es mit ein und demselben Ereignis zu tun zu haben. Dieses Ereignis lässt sich als Handlung identifizieren, weil jeder es korrekt als mein absichtliches Anknipsen des Lichtschalters verstehen kann. Dasselbe Ereignis wird von Davidson dann in einem zweiten Schritt als meine unabsichtliche Handlung, den Einbrecher zu warnen, neu interpretiert. Die Deutungsleistung des Einbrechers, der die betreffende Lichterscheinung als Alarmsignal nimmt und nicht als leere Drohung eines Schaltautomatismus abtut, wird so freilich ignoriert und einer unvermeidlichen kausalen Verknüpfung gleichgesetzt. Gründe als Ursachen von Handlungen Handlungen werden in Handlung und Ereignis als Ereignisse bestimmt, die in einer besonderen Beziehung zu den „Überzeugungen und Einstellungen“ (177) einer Person stehen. Diese Beziehung muss sich Davidson zufolge zwar auch als eine absichtliche kennzeichnen lassen. Sie als kausale Verknüpfung zu begreifen, erscheint aber als der eigentlich ergieauf
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bige Weg, um zu klären, wie wir Handlungen verbindlich beschreiben und erklären können, und vor allem um zu verstehen, wie Handlungen überhaupt in einer „kausalitätsgeprägten Welt“ (131) vorkommen können. Dieser Weg ist freilich nur gangbar, wenn man einer These folgt, die vielleicht das Herzstück von Davidsons Handlungstheorie darstellt und zudem einen Wendepunkt in den sprachanalytischen Debatten über das Thema markiert. Diese These besagt, dass wir Gründe für Handlungen als die Ursachen der entsprechenden Handlungen verbuchen dürfen. Zur Untermauerung dieser Überzeugung setzt sich Davidson vor allem mit dem so genannten Praktischen Syllogismus auseinander, den Aristoteles in seinen Ethiken an wenigen Stellen in fast rätselhafter Knappheit erwähnt.9 Aristoteles geht es dabei wohl zum einen um den Hinweis, wie schwierig es ist, allgemeine Wissensbestände situationsgerecht zu konkretisieren, nämlich die nachgeordnete zweite Prämisse, das vermittelnde Glied, eines entsprechenden Schlusses überhaupt aufzufinden. Zum anderen suggeriert er, es gebe Überlegungen der Art ‚leichtes Fleisch ist gesund und Hühnerfleisch ist leichtes Fleisch‘, die unmittelbar zu einer folgerichtigen Handlung führen, in diesem Fall also zum Verspeisen von Hühnerfleisch. In sprachanalytischen Kreisen gibt der Praktische Syllogismus traditionell einen beliebten Forschungsgegenstand ab. Häufig wird er als instrumentelle Mittel-ZweckEmpfehlung analysiert. Davidson greift in diese Debatte ein, weil das Schema des Praktischen Syllogismus eine Erklärung des „‚geheimnisvollen Zusammenhangs‘ zwischen Gründen und Handlungen zu geben verspricht“ (31). In diesem Blickwinkel lässt sich der praktische Syllogismus als das älteste Muster der Verknüpfung von Handlungen mit Gründen deuten, die als Ursachen gelten können. Denn aus den Werteinstellungen (Davidson spricht meist von Pro-Einstellungen) und Überzeugungen eines Handelnden lassen sich ohne weiteres die Prämissen konstruieren, aus denen eine bestimmte Handlung folgen soll. Wenn man etwas für wünschenswert hält und ein konkretes Vorgehen als das angemessene Mittel dazu erscheint, dann ist es schlüssig, auch die entsprechende Handlung für geboten bzw. zumindest bedingt empfehlenswert zu erklären.
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Davidson weiß sich mit Aristoteles und dem gesunden Menschenverstand einig, wenn er solche Gründe für Handlungen zugleich als kausale Erklärungen von Handlungen interpretiert. Gegen Aristoteles und andere Interpreten besteht er allerdings darauf, wir sollten einen Praktischen Syllogismus nicht als zwingende Ableitung einer bestimmten Handlungsweise ansehen. Denn diese Lesart würde den wirklichen Rationalitätserfordernissen praktischen Abwägens nicht gerecht. Eine Handlung eines bestimmten Typs, die unter einer Prämisse geboten scheint, kann bei Berücksichtigung weiterer Hinsichten ja sehr wohl als bedenklich und daher als nicht ratsam beurteilt werden. Ein wünschenswertes Merkmal und die Verfügbarkeit der Mittel zu seiner Realisierung liefern mithin keinen hinreichend vernünftigen Grund für entsprechende Handlungsanstrengungen. Übrigens müssen und dürfen wir einander Davidson zufolge durchaus unterstellen, zumeist besonnen und nach vernünftiger Abwägung der gegebenen Umstände zu handeln. Denn anderenfalls wären wir gar nicht dazu in der Lage, uns die Handlungen anderer verständlich zu machen. Genau das gelingt uns aber, wenn wir Verhalten beobachten und es im Lichte nachvollziehbarer Gründe als absichtsvolles und überlegtes Handeln (neu) beschreiben bzw. interpretieren. Als Ursachen, die das Auftreten eines Handlungsereignisses veranlassen und erklären, sind die guten Gründe für eine bestimmte Handlung indessen nur unter zwei Bedingungen aufzufassen. Es muss sich erstens um die Gründe handeln, die dem betreffenden Akteur bei seinem Tun wirklich vorschweben. Eine kausale Rolle kann zweitens nicht allen Einstellungen und Überzeugungen eines Akteurs zuerkannt werden, die die fragliche Handlung als absichtsvolles Tun prinzipiell verständlich machen könnten, sondern lediglich den Gründen, die wirklich mit der Herbeiführung der gewünschten Wirkung zu tun haben, weil sie den Akteur „ursächlich zu der Handlung veranlassen“ (59, vgl. auch 335, 368). Wie wir feststellen könnten, ob diese Handlung und jener Grund von Fall zu Fall tatsächlich kausal verknüpft sind, steht freilich auf einem anderen Blatt. Hier sehen sich die Interpreten der Handlungen anderer und sogar der jeweilige Akteur selbst auf ein weites Feld nachhaltiger
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Unbestimmtheit verschlagen. Immerhin räumt Davidson ein, die „unvermeidliche Nennung der Kausalität“ sei nichts anderes als ein „Mantel der Unwissenheit“. Auf den „Begriff der Ursache“ (123) müssten wir uns beim Unternehmen der Handlungserklärung nämlich genau deswegen berufen, weil wir nicht in der Lage seien, im strengen Sinne gesetzmäßige Verknüpfungen zwischen bestimmten Gründen und bestimmten Handlungsereignissen anzugeben und zu deren Voraussage zu nutzen. Bedenken gegen die grundsätzliche Gleichsetzung von Gründen und Ursachen weist Davidson in Handlung und Ereignis dagegen entschieden zurück. Er geht schlicht davon aus, dass jede Erklärung eines Ereignisses, welcher Art auch immer, auch als kausale Erklärung aufgefasst werden kann. Zur Legitimation dieser Überzeugung beruft er sich auf den „gewöhnlichen Ursachenbegriff“ (28). Sind aber Gründe nicht etwas Zeit- wie Ortloses, was wir in Zweifel ziehen und bestreiten können, Zumutungen sozusagen, zu denen wir „ja“ oder „nein“ sagen können, während Ursachen unfehlbar und in berechenbarer Weise ihre Wirkungen mit sich bringen und so ihren eindeutig bestimmbaren Ort in einem kausalen Netz einnehmen? Davidson sieht in einer derartigen Entgegensetzung des Logischen und des Empirischen dagegen „etwas Seltsames“ (35). Denn die strikte Konfrontation von logischen Gründen und empirischen Ursachen erneuert seiner Auffassung nach lediglich ein altes Dogma des klassischen Empirismus: die fundamentalistische Unterscheidung von logischen Wahrheiten, also Aussagen, die allein aufgrund der Bedeutung der in ihnen verwendeten Wörter wahr sind, und empirischen Aussagen, die durch Wahrnehmungen beglaubigt werden. Jede empirische Aussage über Ursache-Wirkungsbeziehungen lässt sich jedoch problemlos in eine entsprechende logische Wahrheit umformen, indem wir beispielsweise sagen, dass es die Ursache des Sturms war, die den Sturm verursacht hat. Demnach kann es sich auch bei der Rede von Gründen einerseits und der Rede von Ursachen andererseits lediglich um zwei unterschiedliche Weisen der Beschreibung ein und derselben Sache halten.
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Psychisches und Physisches: Der Standpunkt des Gesetzlosen Monismus Davidson ist freilich bemüht, eine Sorge seiner Leser zu beschwichtigen, die der Auffassung geschuldet ist, Handlungen würden durch die Angabe ihrer Gründe kausal erklärt. Um unsere Handlungsfreiheit nämlich soll es damit keineswegs geschehen sein. „Warum in aller Welt soll die Handlung durch die Ursache in ein bloßes Geschehnis verwandelt werden und die Person in ein wehrloses Opfer?“ (41) Es seien doch gerade die kausal wirksamen Absichten und Gründe eines Akteurs, bestimmte innere Zustände und innere Zustandsveränderungen von Personen folglich, „durch die – da sie sowohl Gründe als auch Ursachen sind – bestimmte Ereignisse zu freien und absichtlichen Handlungen werden“ (42). Wie das praktische Bewusstsein der Handlungsfreiheit und das theoretische Wissen von der durchgängigen kausalen Bestimmtheit der Wirklichkeit zusammenpassen, ist mit dieser Versicherung freilich noch nicht geklärt. Davidson sieht in dem nötigen Nachweis der Vereinbarkeit von Freiheitsintuition und objektivem Determinismus allerdings lediglich einen Spezialfall eines allgemeineren Problems, nämlich der wechselseitigen kausalen Abhängigkeit mentaler bzw. psychischer und physischer Ereignisse. Wenn wir nämlich bestimmte Ereignisse im Rückgriff auf die Gründe und Motive eines Individuums, seine Werteinstellungen und Überzeugungen, als absichtsvolle Handlungen kausal erklären, dann schreiben wir offenkundig psychischen Zuständen physische Wirkungen zu. In umgekehrter Richtung fassen wir jedoch psychische Ereignisse als durch physische Ursachen bewirkt auf. Denn wenn wir uns darüber Aufschluss zu geben versuchen, wie es zugeht, dass ein Leser den Text von Handlung und Ereignis wahrnehmen und entziffern kann, dann verweisen wir unter anderem auf die Photonen, die eine bestimmte Helligkeitsverteilung auf seiner Netzhaut verursachen und auf diese Weise einen neuronalen Bilderzeugungsprozess in Gang setzen. S. 312, ausdrücklich verweist. Vgl. Quine, Willard Van Orman, Wordd and Object, Cambridge 1960, deutsch: Wortt und Gegenstand, Stuttgart 1980, §45. 7 Die Metapher des Akkordeons übernimmt Davidson hier in kritischer
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Davidson hat keine Schwierigkeit damit, von diesen zwei Richtungen der Kausalität zu sprechen. Und er hält auch das grundsätzliche philosophische Problem der scheinbaren Unvereinbarkeit des Psychischen und Physischen überhaupt für auflösbar. Es ist seines Erachtens die gemeinsame Voraussetzung dreier Prinzipien, in deren Rahmen sich diese Aufgabe stellt und durch deren Modifikation sie sich lösen lässt. Es gibt kausale Wechselwirkungen zwischen psychischen und physischen Ereignissen, so lautet das erste Prinzip. Das zweite lässt sich wie folgt formulieren: Wo es Kausalität gibt, muss ein Gesetz herrschen, das Prognosen erlaubt.10 Und das dritte Prinzip besagt schließlich: Es gibt keine deterministischen Gesetze, auf deren Grundlage geistige Ereignisse erklärt und prognostiziert werden können. Davidson nennt dieses dritte Prinzip daher die „Anomalie“, also die Gesetzlosigkeit, des Geistigen. Er hält es für unbestreitbar und macht es zum Kern seiner Auflösung des Scheinwiderspruchs, die er den Standpunkt des „Anomalen Monismus“ tauft. Die Pointe dieses Standpunkts liegt darin, alle drei Prinzipien, die zusammengenommen in den Widerstreit führen, zu bekräftigen, den Geltungsbereich des zweiten Prinzips allerdings empfindlich einzuschränken. In der Form von Gesetzmäßigkeiten nämlich lassen sich demnach nur solche kausalen Beziehungen erfassen, die sich zwischen Ereignissen ergeben, die in der Sprache der Physik beschreibbar sind. Mit dieser Einschränkung sind dann kausale Erklärungen psychischer Phänomene ebenso gut möglich wie es intentionale Erklärungen physischer Phänomene sind. Sie lassen sich nur nicht in die Form psycho-physischer Gesetze bringen. Es bleiben in Davidsons Sicht sogar dieselben Ereignisse, die beide Erklärungen als wahr erweisen können. Es ist von ihnen lediglich in unterschiedlicher Weise die Rede. Getragen wird dieser Standpunkt des gesetzlosen Monismus also von einer Überlegung, die in Davidsons Untersuchung des Zusammenhangs von Handlungen und Ereignissen ohnehin immer wieder in Anspruch genommen wurde. Es ist der Gedanke, dass wir ein und dieselbe Sache in unterschiedlichen Weisen korrekt beschreiben können. Woher aber wissen wir eigentlich, dass es sich dabei wirklich um ein und dieselbe Sache handeln muss, wenn wir uns doch jederzeit in irgendeiner
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der verschiedenen Perspektiven der Beschreibung und Erklärung aufhalten und nie unmittelbar bei der Sache selbst? Psycho-physische Gesetze jedenfalls kann es vom Standpunkt des Gesetzlosen Monismus nicht geben, weil sich die beiden Perspektiven nicht zur Deckung bringen lassen. Wir interpretieren ein Ereignis als ein psychisches Ereignis, indem wir es mit allen den dabei unvermeidlichen Unbestimmtheiten zu Absichten, Einstellungen und Überzeugungen eines Handelnden in Beziehung setzen. Als physisches erfassen wir ein Ereignis dagegen, sobald wir es in der umfangslogisch exakten Sprache der Physik als Fall einer kausalen Gesetzmäßigkeit bestimmen. Die psychische und die physikalische Redeweise lassen sich daher nicht ineinander übersetzen, auch wenn sich beide auf den gleichen Gegenstand beziehen wollen. Psychische bzw. mentale Bestimmungen eines Sachverhalts einerseits und physische bzw. physikalische Bestimmungen ein und desselben Sachverhalts andererseits sind, so sagt Davidson daher, schlechterdings „nicht für einander gemacht“ (307). Während physischen Prädikaten im abgeschlossenen System einer physikalischen Theorie eindeutige Bedeutung zugewiesen werden könne, lassen sich psychische bzw. mentale Prädikate nicht in eine entsprechend strikte logisch-semantische Form bringen. Handlung und Ereignis dokumentiert ja nicht zuletzt, wie der Autor genau diesen Versuch der Präzisierung unseres alltagsweltlichen Vokabulars doch immer wieder hat aufgeben müssen. Den Grund für dieses Übersetzungsproblem sieht Davidson letztlich in der semantischen Undurchsichtigkeit von Absichtszuschreibungen, die auch mit der Erklärung von Handlungsgründen zu Handlungsursachen nicht wirklich zu beseitigen ist. Denn auch diese Transformation stellt uns keine Gesetzmäßigkeiten zur Verfügung, um absichtsvolle Handlungen vorauszusagen, sondern gibt uns lediglich Generalisierungen an die Hand („heteronome Verallgemeinerungen“ oder „Faustregeln“, 308f.), mit denen wir allerdings in alltagsweltlichen Handlungszusammenhängen ganz gut zurechtkommen. Wozu aber brauchen wir eigentlich diese unscharfe alltägliche VerW ständigungsweise, wenn es doch in Gestalt der Sprache der Physik durchaus eine exakte Sprache gibt, die uns in den Stand setzt, alle Ereig-
nisse physikalisch zu beschreiben und dann kausalgesetzlich zu erklären und zu prognostizieren? Dass die Physik genau dazu in der Lage ist, scheint Davidson jedenfalls anzunehmen, denn er zeichnet geradezu ein Idealbild ihrer Beschreibungskraft wie ihrer Tendenz zur Vervollkommnung unserer Erklärungsleistungen. Diese Annahmen aber begründen unterschwellig einen Vorrang der Physik, die von Haus aus ohnehin Davidsons Ontologie kausal verknüpfter Ereignisse näher steht als die verstehenden Geisteswissenschaften. Der heimliche Vorrang, den Davidson der physikalischen Weltsicht einräumt, klingt nicht allein in der Erklärung an, die „Entdeckung der Gesetzlosigkeit des Geistigen“ ausgerechnet dazu nutzen zu nutzen zu wollen, „die Identität des Geistigen mit jenem Paradigma des Gesetzesartigen – dem Physischen – zu bekräftigen“ (314). Der Gesetzlose Monismus legt überdies Wert darauf, jedes psychische Ereignis als ein physisches erweisen zu können, während ihn die unvermeidliche symmetrische Identifikationsmöglichkeit, jedes physische Ereignis auch als ein psychisches zu erweisen, sichtlich kalt lässt. Das hat, so ist zu vermuten, mit der grundlegenden ontologischen Option zu tun, der sich Handlung und Ereignis verschreibt. Während Handlungen als Artefakte einer ungenauen Beschreibungsweise bestimmter Ereignisse erscheinen, gibt es für Davidson doch etwas, das zweifellos unabhängig davon besteht, wie wir es beschreiben: Ereignisse, die durch Kausalbeziehungen miteinander verknüpft sind.
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Jacques Derrida: Die Schrift und
die Differenz
gerhard gamm
Im Jahr 1967 erscheinen gleichzeitig drei Werke von Jacques Derrida. Die Stimme und das Phänomen entwickelt Überlegungen zu einer Philosophie des Zeichens. Sie stehen in einem engen Zusammenhang mit einer weiteren umfangreichen Schrift, der Grammatologie. Dazu gesellt sich als dritte Die Schrift und die Differenz. Dieses Buch ist eine Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Denken in Frankreich Mitte der sechziger Jahre und befasst sich unter anderem mit Michel Foucault und Emmanuel Lévinas, Antonin Artaud und George Bataille, aber auch mit den zu jener Zeit gewichtigen philosophischen Gewährsleuten im Hintergrund, mit Hegel und Husserl, Freud und Lévi-Strauss. Vorausgegangen war diesen Schriften eine andere hochinteressante Studie zu Husserl. In den folgenden Jahrzehnten bis zu seinem Tode – im Oktober 2004 – entfaltet Derrida eine schier unglaubliche Produktivität. In schneller Folge erscheinen bis heute ca. 25 Bücher, weitere werden sicher noch ediert, vor allem die zahlreichen Vorlesungen, die er am Collège International de Philosophie gehalten hat. Spätestens mit Titeln wie Randgänge der Philosophie und Positionen (beide 1972, deutsch 1976 bzw. 1986) wurde Derrida über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt, zunächst vor allem in den Departments of Literature amerikanischer Universitäten – dort sollte der Dekonstruktivismus zum Markenzeichen einer neuen Methode der Literaturkritik werden. Neben der Interpretation klassischer Texte und Autoren der Philosophie nehmen in dieser Zeit die Auseinandersetzungen mit Kunst und Literatur einen großen Raum ein. Unter den professionellen Philosophen diesseits und jenseits des Atlantiks wurde Derrida dagegen eher mit Argwohn bedacht. „Postmo-
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Jacques Derrida
derne Beliebigkeit“, „Lacancan und Derridada“, „bloß Literatur“ lauteten einige der bekannten Schmähungen. Mit Habermasens – wenngleich kritischer („normativer Defaitismus“, „judaisierender Mystizismus“) – Aufnahme in den Philosophischen Diskurs der Moderne wurde Derridas Denken auch in unseren Breiten gesellschafts- und diskursfähig. Einem ersten, oberflächlichen Blick könnten jene Vorwürfe berechtigt erscheinen. Nur selten schließen die Schriften Derridas aneinander an, selten bauen sie aufeinander auf, von einer relativ systematischen Ordnung sind sie in der Regel ein gutes Stück entfernt. Das gilt insbesondere für eine Reihe von Schriften aus den siebziger und achtziger Jahren. Zu ihnen zählen Glas (Totenglocke, 1974), Sporen. Die Stile Nietzsches (1978/1986), Die Postkarte. Von Sokrates bis Freud und Jenseits (1982/1987). Derrida gefällt es, grundlegende Erörterungen an zufällige Anlässe zu knüpfen. Sein close reading ist häufig ermüdend und kleinschrittig, auch umständlich, selten verfolgt es einen direkten Weg zum Ziel, um dann plötzlich doch zu einer interessanten philosophischen These durchzudringen. Im Verlauf der neunziger Jahre drängen die ethischen und politischen Akzente seiner Überlegungen immer stärker in den Vordergrund. Sie waren aber mehr oder weniger deutlich auch in den frühen Schriften präsent. Dem schmalen Band Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“ t kann man dabei eine gewisse Sonderstellung einräumen. Man wird eines, wenn nicht des untergründigen Motivs in allen dekonstruktivistischen Unternehmungen gewahr: Ist es möglich, dem Leben, oder besser, einem Singulären (einem Zeichen, einem Text, einer Schrift, einem Sprechakt, einem Augenblick, einem Ereignis, einem anderen Menschen, selbst der (unmöglichen) Gerechtigkeit usf.) Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Und: Worin gründet das, was allem seinen Rahmen gibt? Das, was als Unmögliches, Unendliches, Unersetzliches, Unbedingtes usf. selbst keinen (innerweltlichen) Rahmen kennt? Was dem, was sich entzieht, der unbestimmten Bestimmtheit des Kontextes zum Beispiel, selbst noch zu einer Kontextualisierung (oder letzten Angel) verhilft? Wie setzt man einer Sache Grenzen, die selbst dazu aufgerufen erscheint, Grenzen zu setzen? Woher entstammt eine Autorität, die nichts mehr hat, was sie vorweisen kann?
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Andere wichtige Werke aus dieser Zeit sind F Falschgeld. Zeit geben I sowie Marx’ Gespenster und die P Politik der Freundschaft oder auch das nach dem 11. September 2001 erschienene Interview, das zusammen mit einem Habermas-Interview unter dem Titel Philosophie in Zeiten des Terrors ediert wurde. Auch wenn Dekonstruktion ein Wort ist, das, wie Derrida schreibt, er „niemals gemocht“ hat, von dessen Schicksal er im Verlauf der Zeit „unangenehm überrascht“ war, so hat es sich doch aufs Engste mit seinem Namen verbunden, entsprechend soll sein philosophischer und – was noch wichtiger ist – sozialhistorischer (politischer) Kontext in kurzen Zügen erläutert werden. In diesem Zusammenhang ist vor allem der Aufsatz „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“ aus Die Schrift und die Differenz von großem Interesse, er soll daher im Mittelpunkt stehen, er enthält auch Themen und Thesen, die eng mit der Grammatologie verbunden sind. Kritik des totalisierenden Denkens Was die Dekonstruktion mit vergleichbaren Unternehmungen aus dem W Anfang der sechziger Jahre in Frankreich, aber auch in den USA und in Deutschland (sowie einigen anderen europäischen Staaten) verbindet, ist eine Kritik totalisierenden Denkens. Diese Kritik präsentiert sich sowohl in Form von Lektüren klassischer philosophischer Texte wie in der Deutung und Analyse von Phänomenen der sozialen Welt. So ist zum Beispiel die Kritik am System zugleich eine an dem geschlossenen und repressiven System des Denkens wie am falschen Zustand der gesellschaftlichen Ordnung. Auch wo sie ihren Namen, den der Kritik abstreift, zielen ihre Lektüren (und Analysen) darauf, das in jedem Diskurs oder Text Ausgegrenzte wieder ans Licht zu bringen und das individuell wie kollektiv Verdrängte in den kommunikativen Text symbol- und sinnvermittelten Handelns zurückzuholen; das Heterogene und die irreduzible Vielheit der Welt (der Personen und Kulturen, Arten und Ethnien) zu Bewusstsein zu bringen und Kategorien wie Ereignis und Bruch denen der Struktur und der Totalität vorzuziehen; das Nichtidentische dem Vergessen zu entreißen und „die Verhexung des Verstan-
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des durch die Mittel unserer Sprache“ (Ludwig Wittgenstein) aufzulösen; den Menschen und das Subjekt, den Autor und das Intentionale, Wahrheit, Substanz und Wesen aus ihren Angeln zu heben. Es schien, W als würde jene durchdringende Skepsis alles verwerfen, was den Philosophen an letzten Begriffen hoch und heilig war/ist – das Humane und das Prinzipielle, die Vernunft, die Verantwortung und die Freiheit. Dieser (weltumspannenden) Kritik totalisierenden Denkens korrespondierte eine globale Sozial- und Gesellschaftskritik, die nicht weniger heftig und gründlich ihre Motive aus den Totalisierungseffekten der Politik und der Kultur bezog. Es ging um ein allmähliches oder abruptes Abrücken von den Ideen der Totalität und der Universalität zugunsten von Vielfalt und Partikularität. Und es waren nicht nur die Studenten, die in ihren Protestaktionen diesen Losungen folgten; auch die philosophischen Konzepte und Orientierungen zeigten deutliche Spuren. Sie waren und sind ein Widerhall der sich zu jener Zeit formierenden politischen und sozialen Bewegungen. Zu ihnen gehören die Unabhängigkeitsbewegungen der Dritten Welt, aber auch die Empörung und die Schuldgefühle angesichts des Kolonialismus und Rassismus, jener Abscheu gegenüber den repressiven Verhältnissen des Kalten Krieges sowohl im Osten wie im Westen. Der Protest und die Skepsis richten sich gegen die Dominanz zentraler Mächte auf einer Bandbreite vom Patriarchat bis zum Sexismus. Gegenkulturen werden ausgerufen in Ablehnung der etablierten Kunst, Gegenöffentlichkeiten geschaffen, um den Bewusstseins- und Kulturindustrien der Monopole zu widerstehen; sie richten sich gegen den kapitalistischen Staat der Metropolen so gut wie gegen den Staatskapitalismus. Im Ausgang von den Bürgerrechtsbewegungen in den USA kam die Minderheitenfrage auf die Agenda der Politik fast aller westlichen Kulturnationen. Der American way of life wird ebenso kritisch beäugt wie der Aufklärungsfundamentalismus der modernen Wissenschaften. Das Small is beautiful (E. F. Schuhmacher) richtet sich gegen big science ebenso
Auseinandersetzung von Joel Feinberg, „Action and Responsibility“, in: Philosophy in America, hg. v. Max Black, Ithaka 1965, S. 134–160, deutsch: „Handlung und Verantwortung“, in: Analytische Handlungstheorie I, hg. v. Georg Meggle, Frankfurt/Main 1977, S. 186–224.
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sehr wie gegen die großflächigen An- und Ausgriffe auf die innere und äußere Natur des Menschen. Eurozentrismus und Ethnozentrismus bilden den allgemeinen Hintergrund für das Unbehagen am totalisierenden und identifizierenden Denken, insbesondere in jenem Klima der Kritik, dessen Geist so nachhaltig durch die Ethnologie von Claude Lévi-Strauss beeinflusst worden ist; in ihm konnte sich ein Großteil der französischen Intellektuellen jener Zeit versammeln. Bei allen Unterschieden im Einzelnen kann man den Fluchtpunkt ihrer Interventionen mit ‚Differenz‘ umschreiben. Sie bildet das kognitive Gerüst und die Strategie, um gegen die unterschiedlichen Spielarten des Totalitären vorzugehen. Jean François Lyotard hat das 1982 mit der Ausrufung des „Endes der großen Erzählungen“ sehr schön auf den Begriff gebracht: „Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt […]. Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen, retten wir die Ehre des Namens.“1 Vor dem Hintergrund der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt, V aber auch der Skepsis gegenüber dem Sowjetkommunismus (Stalinismus, Interventionen in Ungarn und der Tschechoslowakei) und der repressiven Politik der USA (Vietnam) wurde beinahe jede Form des Universalismus in Frage gestellt. Nicht nur die intellektuelle Linke begriff, in welchem Maße der Ethnozentrismus eurozentristische Züge trug. Große Vorarbeit zu dieser Aufklärung hatte der Ethnologe Claude LéviStrauss mit seiner strukturalen Anthropologie geleistet: Traurige r Tropen gehört mit zu den ganz großen Büchern des 20. Jahrhunderts. Sein Strukturalismus löste nicht nur den existentiellen Humanismus JeanPaul Sartres ab,2 der als gleichsam hegemonialer Diskurs das französische Denken nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt hatte; wichtiger 8 Davidson verdankt diese Ansicht Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe, Intention, Oxford 1957, deutsch: Absicht, Freiburg/München 1986, insbesondere §6, und erweist ihr dafür mehrfach gebührende Reverenz (vgl. u. a. S. 95, S. 213, S. 275). 9 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1141b 18–21 und v. a. 1146b 35ff. 10Davidson übernimmt dieses Prinzip von Carl Hempel,
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noch war seine gründliche Kritik jener Ideologien (und Illusionen) eines offenen oder verdeckten Kollektivismus und Zentralismus, aber auch eines aufgeklärten Humanismus’, welche das westliche Denken gefangen genommen hatten. Dass sich sein Strukturalismus gegen Totalität und einen Universalismus in Wissenschaft und Politik zur Wehr setzte, trug wesentlich zu dem Aufkommen verschiedener Schulen des Strukturalismus (und des Poststrukturalismus) bei. Lévi-Strauss zufolge „impliziert Zivilisation die Koexistenz von Kulturen, die sich untereinander das Maximum an Vielfalt bieten, ja sie besteht sogar genau aus dieser Koexistenz“.3 Seine Epistemologie der Differenz war das Stichwort für die Anerkennung und Förderung von Pluralität und Vielfalt. Sie wirkte sich in jedem Zweig der Gelehrsamkeit aus, von der Anthropologie und Soziologie bis zur Kunst und zur Literatur, von der Geschichte bis zur Politik. Für einen Augenblick schien es, als seien alle Strukturalisten: von Althusser (Marxismus) über Foucault (Ideen- und Diskursgeschichte) bis Lacan (Psychoanalyse), um kurze Zeit später zum Teil heftige Attacken gegen den Strukturalismus zu reiten.4 Diese wissenschaftliche Methode wurde – berechtigter- oder unberechtigterweise – wiederum zur Zielscheibe jener strukturskeptischen Diskurse von Jacques Derrida bis Jean François Lyotard und anderer französischer Philosophen und Intellektuellen wie Roland Barthes, Maurice Blanchot, Gilles Deleuze, Felix Guattari, Michel Foucault, Sarah Kofman u. a., die man in der Folgezeit gerne unter den Namen P Poststrukturalismus und/oder Postmoderne P zusammengefasst hat, Bezeichnungen im Übrigen, gegen die jene sich regelmäßig gesperrt haben. Eine der Schwierigkeiten der strukturalen Analyse der Mythen und Verwandtschaften, der Kulturen und Völker bestand darin, dass die Aspects of Scientific Explanation, New York 1965, deutsch: Aspekte wissenschaftlicher Erklärung, Berlin 1977.
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Aufwertung einzelner Kulturen, die Forderung nach ihrer Gleichbehandlung im Zeichen ihrer Differenz wiederum unter Voraussetzung universeller Strukturen des menschlichen Geistes durchgeführt wurde. Nicht nur wird die strukturale Ethnologie einer abstrakten Umkehrung geziehen, wenn sie (mit Rousseau) die Schönheit, Unschuld und Harmonie der Naturvölker rühmt; der Ethnozentrismus, den Lévi-Strauss aufdeckt, beruht selbst noch auf Unterscheidungen, die ethnozentristisch sind, z. B. die von schriftkundigen und schriftlosen Naturvölkern. Letztere stehen auf einer niedrigeren Kulturstufe, weil sie die Schrift nicht kennen.5 Derrida selbst fasst rückblickend (1986) seine Zurückweisung des Strukturalismus dahingehend zusammen, dass er „geschlossene Struktursysteme voraussetzt, die ihre Wirkung hervorrufen, ohne sie zu öffnen“.6 „Schließen, ohne zu öffnen“ aber ist ein prominentes Motiv, ein Formular des Denkens, auf das Derrida immer wieder zurückgreift, dessen Möglichkeit und Notwendigkeit er immer wieder durchdenken wird. Die Struktur, das Zeichen und das Spiel Derrida nimmt an, dass es in der Geschichte des Begriffs der Struktur eine einschneidende Veränderung („Ereignis“) gegeben hat, welche unter der Gestalt eines „Bruchs“ und einer „Verdopplung“ aufgetreten sei. Dieses Ereignis wolle er festhalten, es zeige sich nachdrücklich, wenn man über die „Strukturalität der Struktur“ nachdenke und erkenne, dass sie im Verlauf der Geschichte der Metaphysik „immer wieder neutralisiert, reduziert [wurde]: und zwar durch einen Gestus, der der Struktur ein Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung beziehen wollte. Dieses Zentrum hatte nicht nur die Aufgabe, die Struktur zu organisieren, ins Gleichgewicht zu bringen […], sondern es sollte vor allem dafür Sorge tragen, daß das Organisationsprinzip der Struktur dasjenige in Grenzen hielt, was wir das Spiel der Struktur nennen könnten“ (422).7 Darüber hinaus hatte man geglaubt, dass das Zentrum sowohl innerhalb wie außerhalb der Struktur liegt. Wie Derrida schreibt, wird der „Begriff der zentrierten Struktur […] auf widersprüchliche Weise kohärent“
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gedacht (423); er soll, wie der archimedische Punkt, nach dem die Philosophie qua Metaphysik immer wieder gesucht hat, unbeweglich sein, ffeststehen, um an seine Angel ein „begründetes Spiel“ mit den übrigen Zeichen und Begriffen zu befestigen. Gleichzeitig läuft in den Diskursen der Metaphysik eine Angst mit, in das Begründungsspiel mit Begrifffen und Zeichen verwickelt zu werden, sich in den Wiederholungen, Substitutionen, Transformationen und Permutationen zu verlieren. Der Ursprung (arche) oder das Ziel (telos) müssen stets neu bedacht und „in Gestalt der Präsenz“ antizipiert werden. Derrida denkt „die Geschichte des Begriffs der Struktur vor dem Bruch […] als eine Reihe einander substituierender Zeichen“ (423), sie haben in der Metaphysik, das ist in der Geschichte des Sinns, verschiedene Formen oder Namen getragen, jedes Mal ging es in ihnen um eine „dem Spiel enthobene Präsenz“. Derrida versteht Sein als Präsenz in allen Bedeutungen des Wortes, er glaubt, dass die Metaphysik auf eine ihr nicht durchsichtige Weise von diesem Begriff des Seins her gedacht habe; „daß alle Namen W für Begründung, Prinzip oder Zentrum immer nur die Invariante einer Präsenz (eidos, arche, telos, energeia, ousia [Essenz, Existenz, Substanz, Subjekt], aletheia, Transzendentalität, Bewußtsein, Gott, Mensch usw.) bezeichnet haben“ (424). Vor allem drei Bedeutungen spiegeln dabei die Bandbreite des Begriffs der Präsenz. Sie lassen sich vorläufig mit Anwesenheit, Gegenwart und Macht (Fülle, Qualität) übersetzen. Unsere metaphysikkritische Zeit ist im Unterschied zu den beherrschenden Gestalten der abendländischen Vernunft („Logozentrismus“) durch die Abwesenheit eines Zentrums, eines bestimmten Diskurses oder Prinzips gekennzeichnet. Weder Gott noch Mensch, weder die Natur noch ein in allen Substanzen präsentes Bewusstsein scheinen (noch) in der Lage zu ein, das Zentrum zu verkörpern. Die Philosophie wurde auf ganz unterschiedliche Weise dieses Bruchs gewahr, sie bemerkte diesen tiefen Einschnitt, als sie versuchte, sich Aufklärung über das Verlangen nach einem Zentrum zu verschaffen; aber auch in der Bemühung, die Bedingungen der Möglichkeit zu analysieren, welche eine Struktur zu dem macht, was sie ist und wie sie funktioniert. Man stieß auf die Uner1 Lyotard, Jean François, „Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?“, in: Postmoderne für Kinder, Wien 1987, S. 30f.
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reichbarkeit des Zentrums, auf die Paradoxie, dass im Diskurs der Metaphysik die zentrale Präsenz eine zugleich notwendige wie unmögliche ist, also darauf, dass der traditionelle Diskurs dem „Vorgang des Bezeichnens“ in seiner zeitlichen und sprachlichen Verfassung wenig Aufmerksamkeit gezollt hatte. Das metaphysische Denken hatte die Verschiebung und Substitution der Zeichen „dem Gesetz der Präsenz“ untergeordnet. Aber jeder Versuch, das Zentrum zu erreichen, stellte sich als Fehlschlag heraus. Derrida wird in seinen Schriften nicht müde, jene oben genannten letzten Begriffe zu dekonstruieren, d. h., bewusst zu machen, dass sie in ihrer Destruktion wieder eingesetzt und (in ihrer Bedeutung) verschoben werden. Die zentrale Präsenz erreichen weder die Zeichen (sie stehen nur „für“ etwas; sie schießen immer übers Ziel hinaus, sagen aber auch stets zu wenig) noch ist es möglich, sich bei ihrer Identifikation nicht zu verspäten. ‚Ursprüngliche Verspätung‘ ist ein anderer Ausdruck für die Unfähigkeit der Metaphysik, das Versprechen einer Selbstvergegenwärtigung einzulösen. So gelingt es beispielsweise dem Subjekt niemals, sich in seiner Präsenz (Gegenwart/Anwesenheit/Sein) zu erreichen, es kommt zu spät, um sich selbst zu erfassen; was es erfasst, ist nicht das Selbst als das tätige, authentische, sich in diesem Augenblick erfassende, bezeichnende usf. Selbst, sondern das, was es zuvor gewesen ist. Man kann auch im Blick auf sich selbst die Zeit nicht anhalten, sich auf sich selbst zurückzubeugen, kostet Zeit, es sei denn, man nähme eine unmittelbare Selbstevidenz an, eine intellektuelle Anschauung, wie manche Philosophen gesagt haben; sie aber brächte nur ein weiteres Unerklärliches in die Welt eines auf Spiel, Ausdruck und Abstimmung bedachten Zeichengebrauchs. Jeder Versuch des Subjekts, sich selbst gegenwärtig zu werden, ist zum Scheitern verurteilt, er führt immer nur dazu, sich in der Wiederholung einer (bereits) vergangenen Zeit unendlich zu verspäten (oder auch sich unvordenklich vorweg zu sein). Der Ursprung, die Präsenz, das Zentrum, das Authentische, der ursprüngliche Sinn oder wie alle die Tropen lauten, bleiben unerreichbar. Was bleibt, sind Differenznahmen ohne Unterbrechung: die Differenz zwischen der prädiktiven Bezeichnung und dem Sinn, der sich im Augenblick der Identifikation schon
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verschoben hat, zwischen dem Ursprung, der sich im Rückgriff auf sich selbst die Ursprünge verbirgt.8 Ein letzter Grund ist nicht zu finden, auch das Letzte ist in sich geteilt, zerspalten, zeigt ein Spiel von Differenzen, die nirgendwo einen letzten Halt finden. Am Anfang ist die Differenz, die alle weiteren Unterscheidungen aus sich entlässt. Der Unterschied ist das Bestimmende, er selbst aber der Bestimmung oder Differenzierung entzogen. Derrida stößt mit diesen paradoxen Formulierungen auf eben die Schwierigkeit, die schon Kant beunruhigte, als er den höchsten Punkt seiner Philosophie, das berühmte „Vehikel aller Begriffe“, das ‚ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können‘ in die missliche Lage versetzt sah, es nicht mit einem (diskursiven) Begriff zu tun zu haben, sondern damit, was Kant eher schlecht als recht als ‚leere Vorstellung‘ oder ,bloßes Bewusstsein‘ bezeichnet hat. In genau diesem Sinn ist die Differenz kein neues Prinzip, sondern jener Ort oder besser Nicht-Ort (einer unbestimmten Bestimmtheit), dem sich weder die alte (kantische) noch die neue (derridasche) Vernunftkritik entziehen kann. Diese Zone, in der die Dekonstruktion sich aufzuhalten gezwungen ist, ist der Aufenthaltsort aller Vernunftkritik nach Kant: Auf der Grenze die Grenze zu bedenken, damit aber auch aus dem Gesetz oder diskursiven Zusammenhang herausfallend, begreifend, dass die Standards der Diskursivität und Argumentation nur innerhalb der durch die Vernunft gezogenen Grenzen gelten. Die zentrale Präsenz ist „niemals sie selbst gewesen, sie ist immer schon in ihrem Substitut über sich selbst hinausgetrieben worden. Das Substitut ersetzt nichts, das ihm irgendwie präexistiert hätte. Infolge dessen muß man sich wohl eingestehen, daß es kein Zentrum gibt, daß das Zentrum nicht in der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann“, sondern eine Funktion ist, „worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt“(424). Oder anders gesagt, in dem Augenblick, in dem begriffen wird, dass die Struktur bzw. die Strukturalität der Struktur durch ein geheimes Zentrum gestiftet wird und dieses Zentrum in seiner Totalität organisierenden Form erkannt, dargestellt und wegen seiner repressiven Funktion und/oder irrealen Voraussetzungen problematisiert wird, d. h. seiner unsichtbaren Macht entkleidet wird
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– in diesem Augenblick öffnet sich ein weites Feld von Interpretationen und Variationen, der Transformation und Permutation von Zeichen. Die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats (des letzten Halt gebenden Bezugs) erweitert das Spiel der Zeichen ins Unabsehbare. Zeichen erläutern sich abschließend (bestimmt) weder durch den Verweis auf andere Zeichen noch auf eine den Zeichen äußere Referenz. Der Bezug von Signifikant und Signifikat ist in der Moderne nicht wie bei Descartes durch die göttliche Güte oder Vorsehung garantiert; auch der Gebrauch unserer Sinne gibt uns darüber keinen zuverlässigen Aufschluss. Das Wort ‚Hund‘ hat wenig Ähnlichkeit mit dem beobachtbaren Tier gleichen Namens. Nicht besser ergeht es einer Zuordnung beider Seiten, die sich auf eine intersubjektive Übereinstimmung verlässt oder darauf, dass die Evolution oder die Gene usf. eine Entsprechung von Zeichen und Bezeichnetem schon herstellen werden. Diese tief greifende Veränderung lässt sich an den Namen Nietzsche, Freud und Heidegger festmachen; an Nietzsches Provokation: Wahrheit gibt es nicht, nur Interpretationen, an Freuds Skepsis gegenüber einer Auffassung f von Bewusstsein als Sich-selbst-gegenwärtig-Sein (Selbstidentität) sowie an Heideggers radikaler Kritik der Befangenheit der ontotheologischen Metaphysik in einem zuletzt technisch vor-gestellten Sein. Aber der Metaphysik ist, wie Derrida herausstreicht, nicht leicht zu entkommen. Alle radikale Destruktion derselben findet sich in einen einzigartigen Zirkel verstrickt: Man kann auf die Begriffe der Metaphysik nicht verzichten, wenn man sie erschüttern will. Auf jeder Ebene unseres Sprechens und Denkens – von der Syntax bis zur Pragmatik – hat sie sich unter unsere Begriffe geschaltet. Derrida erläutert das mittels seiner Behauptung, dass der Begriff des Zeichens die Metaphysik der Präsenz in einen abgründigen Zweifel hineinziehe, zugleich aber dazu gezwungen sei, sie zu restituieren. In der Kritik jener Denkform muss man nämlich auf Begriffe und Zeichen zurückgreifen, die selbst in Frage stehen, z. B. auf den Begriff des Zeichens selbst bzw. die Unterscheidung, auf die es sich stützt: die von Signifikant und Signifikat. Zeichen wurden von je her verstanden als Zeichenvon etwas, Zeichen ‚stehen für‘ dieses oder jenes, eben das, was sie zu bezeichnen die Absicht haben. Tilgte man jene fundamentale Differenz 2 V Vgl. dazu die klassisch zu nennende Kritik: Lévi-Strauss, Claude, Das wilde Denken, Kap. IX: Geschichte und Dialektik, Frankfurt/Main 1968.
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von Signifikant und Signifikat, müsste man zuletzt das Wort Signifikant selbst als metaphysisch belasteten Begriff aufgeben. Mit Dekonstruktion umschreibt Derrida ein Denken, das – in erster Annäherung – die Funktionsweise solch grundlegender Begriffe (und Diskurse) untersucht, um – unter Weiterverwendung ihrer Form – ihre logischen und rhetorischen Fragwürdigkeiten für unsere Praxis und unser Weltbild herauszustellen, sie destruiert, um sie zugleich in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Die Strategien der Dekonstruktion bestehen wesentlich darin, die eingespielten und festgewordenen Unterscheidungen (Dualismen) und Oppositionsverhältnisse der platonischen und cartesischen Tradition wieder zu verflüssigen und in ihrem fragwürdigen Setzungscharakter durchsichtig zu machen; die begrifflichen Schemata wie Stimme und Schrift, Begriff und Metapher, Text und Kontext, Identität und Wiederholung, Identität und Differenz, Perfformativa und Konstativa usf. auf ihren Realitäts- und Rationalitätsgehalt hin zu überprüfen, zu zeigen, nach welchen Spielregeln sie sich voneinander unterscheiden; aber auch und vor allem darin, zu zeigen, dass die Beziehung der Begriffe aufeinander nicht neutral ist, sondern eine hierarchische Ordnung aufweist, die mit Unter- und Überordnungen, Auf- und Abwertungen operiert. Stets hat das Subjekt einen das Objekt beherrschenden Vorrang, rangiert die Stimme vor der Schrift, spielt die Identität Differenz und Wiederholung in den Hintergrund, soll eine (unerreichbare) Präsenz die Wahrheit sichern, regiert der Begriff oder der eigentliche (logische) Sprachgebrauch über den uneigentlichen der Metapher, gilt die Form gegenüber der Materie als das Bessere. Eine „Opposition metaphysischer Begriffe ist nie die Gegenüberstellung zweier Termini, sondern eine Hierarchie und die Ordnung einer Subordination“.9 An den Grenzen der Vernunft Derrida nimmt an, dass die Kritik des Ethnozentrismus nicht zufällig mit den Auflösungserscheinungen der Metaphysik zusammenfällt. Die Metaphysik sieht sich in mächtige Selbstzweifel verstrickt, sie betreffen sowohl ihre begrifflichen Grundlagen wie die Aprioris ihrer Hinter-
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grundüberzeugungen; sie verliert die Vorstellung von sich, noch die globale Bezugskultur des Denkens und Handelns, der Politik und der Ethik zu sein, kurz, die Erosion der abendländischen Vernunft läuft der Kritik des Euro- und Ethnozentrismus parallel. Die Dekonstruktion wiederholt und bedenkt diese Gleichzeitigkeit im Rahmen der Philosophie, sie scheint die ihr angemessene „Methode“ zu sein, aber nicht als ein von außen aufgesetztes Verfahren, sondern als Bewusstsein, selbst ein Teil dieser (nicht wirklich durchschauten) Auflösungsgeschichte zu sein. Entsprechend sucht sie den Ort zu bestimmen, von dem aus in dieser Situation noch gesprochen werden kann. Dabei hält sie sich wie alle große Philosophie des 20. Jahrhunderts an das, was die Sprache – als Medium und Ausdruck des Geistigen – ihr anbietet. Der ethnologische Diskurs von Claude Lévi-Strauss dient als Beispiel, um eine grundlegende Unterscheidung der abendländischen Vernunft zu dekonstruieren. Denn wie der Ethnologe mit seinen Begriffen umgeht, ist nicht zufällig, vor allem nicht im Blick auf so fundamentale Unterscheidungen wie die von Natur N und Kultur. Bei diesem Untersuchungsgegenstand fällt die Wahl auf die Arbeit von Lévi-Strauss, nicht nur deswegen, weil sie in der „gegenwärtigen theoretischen Konstellation großes Gewicht hat, sondern vor allem […], weil in ihr eine bestimmte Lehre gerade mehr oder weniger expliziter Form ausgearbeitet ist, die für diese Kritik der Sprache und für diese kritische Sprache in den Wissenschaften vom Menschen von Belang ist“ (428). Der Ethnologe nimmt, ob er will oder nicht, die Prämisse des Ethnozentrismus „in dem Augenblick in sich auf, wo er sich von ihm löst“; dieser Notwendigkeit kann er sich nicht entziehen. Derrida argumentiert dahingehend, dass Lévi-Strauss sich notwendig auf Natur und das, was ihr als Gesetz und Institution, Kunst und Technik, Freiheit und Gesellschaft usf. entgegengesetzt ist, beziehen muss, es für ihn aber auch unmöglich ist, dieser Unterscheidung den nötigen Begründungskredit zu verschaffen. Der „Skandal“, an dem die traditionelle Entgegensetzung scheitert, ist das Inzestverbot. Denn es ist universell und in diesem Sinn natürlich zu nennen, auf der anderen Seite lässt sich seine kulturelle Codierung als System von Verboten und Normen
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(die kulturell variieren) nicht von der Hand weisen. Zu seinem Verständnis fordert es sowohl die Prädikate der Natur als auch der Kultur. „In dem Lévi-Strauss sein Werk über dem factum f des Inzestverbotes errichtet, fasst er dort Fuß, wo diese Differenz, die bislang als selbstverständlich hingenommen wurde, ausgelöscht oder in Frage gestellt ist.“ Derrida vermutet, dass das, was sich diesen Begriffen von Natur und Kultur entzieht, dasjenige ist, was die Funktionsweise und Macht dieser Begriffe erst ermöglicht; dass die philosophische Begrifflichkeit darauf angelegt ist, „das, was sie ermöglicht, im Ungedachten zu lassen“, in diesem Fall: „den Ursprung des Inzestverbots“(429). Was die Erschließungskraft der Begriffe überhaupt ermöglicht, bleibt ungedacht. Von hier aus sieht man, wie das moderne Denken von Kant über Hegel bis in die Gegenwart sich von dem Bewusstsein durchdrungen sieht, das Ungedachte zu denken und dem Unsagbaren zum Ausdruck zu verhelfen. Für das moderne Denken (wie für Kunst und Literatur) ist es bei allen (großen) Unterschieden im Einzelnen ungeheuer wichtig zu wissen, was in dieser zwiespältigen Zone passiert; es ist, um Kafkas Bild aufzugreiffen, der unmögliche Ort „Vor dem Gesetz“. Die Sprache enthält Derrida zufolge in sich die Notwendigkeit ihrer eigenen Kritik. Zwei Wege zeichnen sich in dieser Situation ab: Der eine zielt auf die strenge und systematische Befragung dieser Begriffe und ihrer Geschichte, was aber nicht bedeutet, diese Arbeit an die klassischen Philosophiehistoriker und Begriffsgeschichtler zu delegieren, sondern einen Schritt „aus der Philosophie hinaus“ zu tun, der sich aber viel schwieriger gestaltet, als man gemeinhin glaubt. Die andere Möglichkeit besteht darin, die belasteten Begriffe als empirische Werkzeuge zu benutzen, ein Weg, den Lévi-Strauss in seinen Forschungen eingeschlagen hat; er nutzt jene Begriffe als methodische Hilfsmittel der empirischen Forschung, um hier und da die Grenzen ihrer Brauchbarkeit zu erinnern. Lévi-Strauss wird fortfahren, jene inkriminierten Begriffe als nützliche Instrumente zu verwenden und sie zugleich in ihrem Wahrheitswert zu beanstanden. Sein methodischer Begriff der bricolage (Bastelei), der für seine Analyse der Mythen leitend ist, enthält zugleich eine Kritik der Sprache, die 3 Lévi-Strauss, Claude, Strukturale Anthropologie, Frankfurt/Main 1972. 4 Dieser Strukturalismus wurde durch die Wiederaufnahme des linguistischen Strukturalismus Ferdinand de Saussures auf die nachhaltigste Weise ange-
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sich allzu sehr von den Vorgaben der strukturalistischen Wissenschaftssprache leiten lässt. In diesem Augenblick, so Derrida, wird der strukturalistische Diskurs über die Mythen selbstkritisch; Lévi-Strauss weist nämlich darauf hin, dass die Bastelei nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine mythopoetische Tätigkeit ist. Was problematisch wird, ist die Grenze zwischen der „Form und Bewegung des Mythos“ und der Sprache, mit der über den Mythos gesprochen wird. „Im Gegensatz zum epistemischen Diskurs muss der strukturelle Diskurs über die Mythen, der mytho-logische m Diskurs selbst mythomorph m sein. Er muss die Form dessen haben, worüber er spricht.“(433)10 Entsprechend kann ein Diskurs über die a-zentrische Form des Mythos selbst kein absolutes Zentrum (mehr) haben. Die Abwesenheit des Zentrums deutet auf die Abwesenheit des Subjekts und des Autors. Darüber hinaus muss der philosophische Diskurs selbst noch auf seine (selbst-)kritische Haltung verzichten, die mit den wissenschaftlichen Modellen des Erkennens verbunden ist. Spätestens an dieser Stelle wird die kritische Rückfrage laut: Haben nicht dann – infolge der Einebnung der verschiedenen Diskursarten – alle Mythen und Diskurse die gleiche Geltung? Vielleicht kann ja dadurch der Euro- und Ethnozentrismus der Wissenschaften vom Menschen überwunden werden – aber um welchen Preis? Womöglich nur um den, dass die Errungenschaft Europas, die Wissenschaft (mindestens in der uns bekannten Form) selbst sich auflöst? Das aufgeklärte westliche Denken in Wissenschaft und Philosophie folgte dann selbst noch den Linien der ‚großen Erzählungen‘ (Mythen), es hätte ihnen (an Rationalität) nichts mehr voraus. Hier lichtet sich ein ganzer Horizont von Fragen, auf den weder Lévi-Strauss noch Derrida eine Antwort wissen. Für Derrida jedenfalls ist das „Bestechendste dieser kritischen Erforschung eines neuen Status’ des Diskurses […] der erklärte Verzicht jeglicher Bezugnahme auf ein Zentrum, auf ein Subjekt, t auf eine privilegierte Referenz oder auf eine absolute arche“ (432). Derrida verfolgt die angesprochenen Fragen in diesem Text nicht weiter, gleichwohl bleibt die Dekonstruktion aufs Engste mit der Kritik des Eurozentrismus verbunden. In einem Interview mit Jean Birnbaum – nicht lange vor seinem stoßen, ergänzt und gefördert: Sprachliche Zeichen erläutern ihre Bedeutung über den Unterschied zu anderen sprachlichen Zeichen, nicht über den
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Tod – hat Derrida diesen Zusammenhang nochmals bekräftigt: „Die T Dekonstruktion ganz allgemein ist eine Unternehmung, die viele, zu Recht, als eine Geste des Misstrauens gegenüber jeglichem Eurozentrismus betrachtet haben.“11 Derrida folgt in Die Struktur, das Spiel und das Zeichen einer anderen Spur, dem Einwand, ob eine Rede über ‚die‘ Mythen nicht einer Totalisierung gehorche, deren Ansprüche keine seriöse Wissenschaft einlösen kann; niemals gelänge es einem endlichen Diskurs oder einem empirischen Subjekt, den unendlichen Reichtum mythischer Erzählungen einzuholen. Derrida glaubt, die Totalisierung in diesem Sinne zu verstehen, sei ebenso unmöglich wie unnötig. Unmöglich, was die empirische Seite betrifft, es könnten immer neue Mythen auftauchen; unnötig, weil, wie der Vergleich mit der Sprachwissenschaft zeigt, diese sehr wohl aus einer begrenzten Anzahl von Elementen (Sätzen und Wörtern) die Grammatik einer Sprache erstellen könne. Zwar könne man nicht einfach von der Idee der Totalität abrücken, aber man könne, ja man müsse sie anders interpretieren, weil die Beschaffenheit eines sprachlichen Feldes, einer anderen Sprache, die Totalisierung ausschließt: „Dieses Feld ist in der Tat das eines Spiels, d. h. unendlicher Substitutionen in der Abgeschlossenheit (clôture ) eines begrenzten Ganzen. Dieses Feld erlaubt die unendlichen Substitutionen nur deswegen, weil es endlich ist“, – weil ihm ein Zentrum fehlt, „das das Spiel der Substitutionen aufhält und begründet“ (437). Derrida nimmt an, die Bewegung des Spiels der Zeichen mittels des Begriffs der „Supplementarität“ besser beschreiben zu können. „Man kann das Zentrum nicht bestimmen und die Totalisierung nicht ausschöpfen, weil das Zeichen, welches das Zentrum ergänzt, es supplementiert,t in seiner Abwesenheit seinen Platz hält, – weil dieses Zeichen sich als Supplement noch hinzufügt.“ (437) Supplementieren heißt sowohl ‚ersetzen‘, ‚einen Stellvertreter einsetzen‘ als auch ‚ergänzen‘, ‚hinzufügen‘. Es ist die interessante Spannung zwischen diesen beiden Sinnrichtungen, welche die dekonstruktive Erfahrung auszeichnet und sich zunutze zu machen versucht: Man erreicht nicht, was man eigentlich im Auge hat, man sucht diesen Mangel dadurch auszugleichen, dass man einen Ersatz oder Stellvertreter
Bezug auf eine externe Referenz, lautete eine zentrale Botschaft de Saus-
schickt. Aber anstatt – wie beim Supplement/Ergänzungsband nur das auszugleichen, was fehlt, bringt derselbe etwas mit, er ersetzt nicht nur das Fehlende, er ergänzt die Werkausgabe, um sie schließen zu können; um sie schließen zu können, muss ihr noch etwas hinzugefügt werden, man sieht sich genötigt, über den ursprünglichen Plan hinauszugehen. Ersetzen heißt, etwas, ein Zeichen zum Beispiel, an die Stelle von dem zu setzen, was ursprünglich dort gestanden hat. Aber um den Mangel auszugleichen, die Lücke zu schließen, muss man auf Stellvertreter, auf andere Zeichen zurückgreifen, womit man freilich nicht nur die Lücke provisorisch schließt, sondern noch etwas hinzufügt, ein anderes Zeichen zum Beispiel. Man bemerkt, dass in der Setzung eines neuen, den Ursprung oder das Zentrum supplementierenden Zeichens zugleich ein Überschuss mit aufgerufen wird, der sich sowohl darin zeigt, dass sich das Zeichen selbst als Supplement noch hinzufügt als auch an jenem Überschuss des Signifikanten im Verhältnis zum Signifikat. Das Supplement tritt in gewisser Weise an die Stelle dessen, was bei Hegel „Aufhebung“ heißt. Derrida beschließt seine dekonstruktivistischen Überlegungen mit einer kurzen Reflexion auf das gespannte Verhältnis von Struktur und Geschichte, insbesondere auf die Schwierigkeit, im Rahmen der strukturalistischen Ethnologie das Problem des Übergangs von einer Formation zur anderen zu denken. In seiner Zusammenfassung unterscheidet er zwei unversöhnliche Interpretationen der Interpretation, der Struktur, des Zeichens und des Spiels. „Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind, und erlebt die Notwendigkeit der Interpretation gleich einem Exil. Die andere, die dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel und will über den Menschen und den Humanismus hinaus gelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte der Metaphysik und der Onto-Theologie hindurch, d. h. im Ganzen seiner Geschichte, die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat.“ Beide Interpretationen teilen sich das Feld dessen, was heute auf bedenkliche Art die Wissenschaften vom Menschen genannt wird. Bevor eine Wahl für die eine oder andere Interpretation getroffen wird, sollte erst einmal
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versucht werden, so Derrida, „den gemeinsamen Boden und die ‚différance‘ dieser unreduzierbaren Differenz zu denken“, vor allem im Blick auf das „noch nicht Benennbare, das sich erst ankündigt“ (441).
5 Vgl. V Derrida, Jacques, Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und
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Portr träts PLATON (428/27–347 V. CHR.)
Platon, der Sohn des Ariston und der Periktione, ist in Athen oder in Aigina, einer Besitzung Athens, geboren. Das Geschlecht sowohl der Mutter als auch des Vaters wird letztlich auf Poseidon zurückgeführt. Platon selbst soll, so Speusipp, göttlichen Ursprungs, nämlich von Apollon gezeugt sein. Der etwa zwanzigjährige Platon kommt zu Sokrates und bleibt sein Schüler bis zu dessen Tod 399 v. Chr. Nach der Hinrichtung des Sokrates geht Platon mit anderen Sokratikern nach Megara zu Eukleides. Danach soll er große Reisen unternommen haben nach Unteritalien, Kyrene und Ägypten, wo er Astronomie und Mathematik erlernt habe. Seine Reise nach Syrakus und sein Aufenthalt am Hof des Tyrannen Dionysios des Älteren ist historisch verbürgt, vermutlich 388/87 v. Chr. Die Bekanntschaft mit dem jungen Dion, des Tyrannen Schwager, der für Platons Lehre gewonnen wird, ist entscheidend für weitere Reisen nach Syrakus 367 v. Chr. und 361/60 v. Chr. Der Tyrann von Syrakus soll sich des Philosophen schließlich entledigt haben, indem er ihn nach Hellas zurückbringen und dort als Sklaven verkaufen ließ. In Aigina soll Platon jedoch durch einen gewissen Annikeris aus Kyrene wieder freigekauft worden sein. Nach Athen zurückgekehrt, gründet Platon 387 v. Chr. seine ‚Schule‘. Gelehrt wurde in der Akademie neben der Philosophie im engeren Sinne auch Mathematik, Astronomie und Naturwissenschaften. Er leitete die Akademie bis zu seinem Tod 347 v. Chr., unterbrochen durch die zwei Reisen nach Syrakus. Das überlieferte Werk Platons umfasst 34 Dialoge und 13 Briefe. Die Dialoge, schriftlich fixiert, sind an das breite Publikum gerichtet. Seine ‚eigentliche‘ Lehre, die so genannte ‚ungeschriebene Lehre‘, soll Platon nur mündlich und vor ‚Eingeweihten‘ vorgetragen haben. Das schriftliche Werk, die Dialoge, sind in einem Zeitraum von über vierzig Jahren verfasst. Sie sind Zeugnisse des Entwicklungsgangs des platonischen Denkens. Sie werden eingeteilt in Dialoge der Jugendzeit, der Übergangsperiode, der reiffen Mannesjahre und der Altersjahre. Die Politeia gehört zu den Dialogen der reifen
Hanns Zischler, Frankfurt/Main 1974, S. 193, 198ff.
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Por trät: Thomas von Aquin
Mannesjahre; geschrieben vermutlich um 370 v. Chr., jedenfalls vor der zweiten Reise nach Syrakus. Werkausgabe Platon, Politeia – Der Staat, in: Werke in acht Bänden, Griechisch-Deutsch, Bd. 4, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1971. Literatur Derbolav, Josef, V Von den Bedingungen gerechter Herrschaft, Stuttgart 1979. Höffe, Otfried (Hg.), Platon, Politeia, Berlin 1997. Jaeger, Werner, Paideia P , Berlin/New York 1973. Kersting, Wolfgang, Platons ‚Staat‘, Darmstadt 1999. Maurer, Reinhart, Platons ‚Staat‘ und die Demokratie, Berlin 1970.
ARISTOTELES (384–322 V. CHR.)
Aristoteles und sein Lehrer Platon (428/27–347 v. Chr.) sind die beiden großen Gründerfiguren der abendländischen Philosophie. Im makedonischen Stagira geboren, zog Aristoteles 367 nach Athen, um in Platons Akademie einzutreten, der er während zwanzig Jahren bis zu Platons Tod angehörte. Schon früh unterrichtete er und verfasste eigene Schriften, in denen er Auffassungen entwickelte, die sich von Platons Lehre zunehmend entfernten. Nach 348 hielt er sich in Kleinasien und Lesbos auf; 343 folgte er einer Einladung Philipps II. nach Makedonien, wo er dessen Sohn, den späteren Alexander den Großen, unterrichtete. Nach dessen Thronbesteigung kehrte Aristoteles nach Athen zurück und gründete dort eine eigene Schule, das Lykeion. Nach Alexanders Tod (322) und dem Aufstand der Athener gegen die makedonische Herrschaft floh Aristoteles nach Chalkis auf Euböa, wo er kurz darauf starb. Ein Großteil der uns überlieferten Schriften geht auf Manuskripte zurück, die im Laufe der ausgedehnten Lehrtätigkeit am Lykeion entstanden sind. Über sie ist Aristoteles vielleicht der wirkungsmächtigste Autor der Geschichte geworden, der die Tradition der wissenschaftlichen Philosophie und deren disziplinäre Gliederung in herausragender Weise geprägt hat. Die systematische Hauptgliederung ist die Unterscheidung von Theoretischer Philosophie und Praktischer Philosophie. Zur ersteren, die sich mit dem befasst, was immer gleich ist, gehören die Disziplinen der Mathematik, der Physik und der Metaphysik (als Wissenschaf-
6 In: Französische r Philosophen im Gespräch, hg. v. Florian Rötzer, München 1986,
Por trät: René Descar tes
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ten vom Unveränderlich-Unselbstständigen, vom Veränderlich-Selbstständigen und vom Unveränderlich-Selbstständigen: Met. VI.1). Die praktische Philosophie, die sich mit dem befasst, was veränderlich und Gegenstand des Handelns ist, umfasst die Gebiete der Ethik, der Politik und der Ökonomik. Neben den systematischen Hauptschriften (Metaphysik, Physik, Nikomachische Ethik, Politik, Erste und Zweite Analytiken, V Von der Seele) hat Aristoteles zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zur Biologie, Zoologie, Meteorologie, Dichtungstheorie, Verfassungsgeschichte u. a. verf fasst. Werkausgabe Aristoteles, Metaphysik, übers. v. Hermann Bonitz, neu hg. v. Ursula Wolf, Reinbek 1994. Literatur Ackrill, John L., Aristotle the Philosopher, Oxford 1981. Barnes, Jonathan (Hg.), The Cambridge Companion to Aristotle, Cambridge 1995. Frede, Michael, Patzig, Günter, Aristoteles’ „Metaphysik Z“. Text, Übersetzung und K Kommentar , 2 Bde., München 1988. Rapp, Christof, Aristoteles zur Einführung, Hamburg 2001. – (Hg.), Aristoteles: Metaphysik. Die Substanzbücher, Berlin 1996. Steinfath, Holmer, Selbständigkeit und Einfachheit. Zur Substanztheorie des Aristoteles, Frankfurt/Main 1991. Tugendhat, Ernst, Ti kata tinos. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg/München 1958.
THOMAS VON AQUIN (1224/25–1274)
Thomas von Aquin wurde 1224 oder 1225 als Sohn des Markgrafen Landulph von Aquino auf der Burg Roccasecca in der Nähe des Klosters Montecassino geboren. Zum Benediktinermönch bestimmt, studierte er zuerst an der Staatsuniversität Neapel und trat 1244 gegen den Widerstand der Familie in den Dominikanerorden ein. Studium von 1248 bis 1252 in Köln, als Schüler von Albertus Magnus. Danach schrieb und veröffentlichte er sein erstes Werk De ente et essentia (Über das Sein und das Wesen). Hierin liefert er einen Grundriss seiner Metaphysik im Rückgriff auf Aristoteles und Avicenna und unter Einbeziehung augustinisch-neuplatonischer
S. 72.
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Vorstellungen. Grundlegend für die mittelalterliche Philosophie wurde seine ,Auflösung‘ des Universalien-Problems: Die Wesenheiten der Dinge, die universalia, haben einen dreifachen ontologischen Status, sie sind ante rem (vor den Dingen) als Schöpfergedanken in Gott, in re (in den Dingen) als die die Dinge konstituierenden Wesenheiten, und post rem (nach den Dingen) als die von dem erkennenden Geist gebildeten Begriffe. Während des ersten Pariser Aufenthaltes entstanden auch die umfangreichen Quaestiones disputatae (Aufzeichnungen von öffentlichen Diskussionen) De veritate (Über die Wahrheit). Von Paris berief ihn der Orden nach Italien, wo er an verschiedenen Orten lehrte. Hier entstand die große Auseinandersetzung mit den Philosophen und Theologen des islamisch-arabischen Kulturkreises, die Summa contra gentiles (Summe gegen die Heiden). Während er in Viterbo am Hof des Papstes lehrte, begann er 1267 sein größtes Werk, das unvollendet bleiben sollte, die Summa theologiae (Summe der Theologie). An 1253 Arbeitstagen hat er neben der täglichen Vorlesung, wie Jean-Pierre Torell ausgerechnet hat, an der heutigen Druckausgabe gemessen 4061 Seiten geschrieben. Im Jahr 1272 gründete Thomas ein neues Studium generale an der Universität Neapel. Aber am 6. Dezember 1273 legte er sein Schreibwerkzeug für immer aus der Hand und diktierte auch nicht mehr. Im Februar 1274 begab sich Thomas auf seine letzte Reise. Von Papst Gregor X. als Sachverständiger für das Konzil in Lyon berufen, starb er auf dem Weg dorthin am 7. März im Kloster Fossanova ca. 200 Kilometer südlich von Rom. Werkausgabe Thomas von Aquin, Über die Einheit des Geistes gegen die Averroisten – De unitate intellectus contra Averroistas, Übers., Einf. u. Erl. v. Wolf-Ulrich Klünker, Stuttgart 1987. Literatur Chenu, Marie-Domonique, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, in: Die deutsche Thomas-Ausgabe, 2. Ergänzungsband, übers. v. Otto M. Pesch, Heidelberg [u. a.] 1960. Flasch, Kurt, Jeck, Udo R. (Hg.), Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter, München 1997. Niewöhner, Friedrich, „Zum Ursprung der Lehre von der doppelten Wahrheit: Eine Koran-Interpretation von Averroes“, in: Averroismus v im Mittelalter und in der Renaissance, hg. v. Friedrich Niewöhner u. Loris Sturlese, Zürich 1994.
7 Die hinter den Zitaten stehenden Seitenzahlen beziehen sich auf:
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Steenberghen, Fernand Van, Die Philosophie im 13. Jahrhundert, dt. Übers. v. Raynald Wagner, München [u. a.] 1977. Sturlese, Loris, Die deutsche Philosophie im Mittelalter von Bonifazius bis zu Albert dem Großen (748–1280), München 1993. Torell, Jean-Pierre, Magister Thomas: Leben und Werk des Thomas von Aquin, übers. v. Katharina Weibel et al., Freiburg [u. a.] 1995.
RENÉ DESCARTES (1596–1650)
René Descartes wurde am 31. März 1596 in La Haye geboren und erhielt seine Schulausbildung am jesuitischen Collège Royal in La Flèche. Nach Studium und Lizentiat der Rechte in Poitiers erbte er das kleine Gut Le Perron und konnte ein unabhängiges Leben führen. Er erhielt eine militärische Ausbildung in Holland, diente kurzfristig im Krieg, unternahm große Reisen und siedelte, obwohl zeitlebens Katholik, 1629 in die protestantischen Niederlande über. Drei Reisen führten ihn in seine Heimat Frankreich zurück. 1649 folgte er den wiederholten Einladungen der Königin Christine von Schweden und begab sich nach Stockholm, wo er am 11. Februar 1650 verstarb. Descartes war Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler, pflegte Kontakte zu führenden Wissenschaftlern, lehrte aber nie an einer Universität. Sein Ruhm gründete zunächst in seinen naturwissenschaftlichen Abhandlungen. In der Philosophiegeschichte wird er als Begründer des neuzeitlichen Denkens bzw. „Vater der modernen Philosophie“ rezipiert, insofern er in Abwendung von der Scholastik eine Emanzipation des in sich selbst gewissen Denkens einleitete und zur Neubegründung wissenschaftlicher Erkenntnis beitrug. Die älteste überlieferte Schrift Regulae ad Directionem Ingenii (Regeln über die Anleitung des Geistes) blieb unvollendet, das zweite große Werk Le Monde (Die Welt) unveröffentlicht. 1637 erschienen seine Werke zur Optik, Geometrie und Meteorologie mit dem Discours de la Méthode (Bericht über die Methode) als Vorspann, gefolgt 1641 von dem metaphysischen Hauptwerk Meditationes de Prima Philosophia (Meditationen über die Erste Philosophie) und 1644 von den Principia Philosophiae (Prinzipien der Philosophie). Sein letztes Werk Les passions de l‘âme (Abhandlungen über die Leidenschaften der Seele) erschien 1649. Im Auftrag der Königin Christine von Schweden schrieb Descartes 1649 noch das Ballettlibretto La naissance de la paix (Die Geburt des Friedens). Die Kirche setzte Descartes’ Schriften 1663 auf den Index Romanus.
„Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften
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Werkausgaben Descartes, René, Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie, lat.-dt., übers. u. hg. v. Gerhardt Schmidt, Stuttgart 2001. –, Discours de la Méthode. Bericht über die Methode, frz.-dt., übers. u. hg. v. Holger Ostwald, Stuttgart 2001. Literatur Kemmerling, Andreas, Schütt, Hans-Peter (Hg.), Descartes nachgedacht, Frankfurt/Main 1996. Link, Christian, Subjektivität und Wahrheit, Stuttgart 1977. Niebel, Wilhelm Friedrich, Horn, Angelika, Schnädelbach, Herbert (Hg.), Descartes im Diskurs der Neuzeit, Frankfurt/Main 2000. Prechtl, Peter, Descartes, Hamburg 1996. Röd, Wolfgang, Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, München 21982. Schütt, Hans-Peter, Die Adoption des „Vaters der modernen Philosophie“, Frankfurt/Main 1998.
THOMAS HOBBES (1588–1679)
Das Jahr 1588, in dem er in dem englischen Dorf Wesport bei Malmesbury geboren wird, ist das Jahr, in dem die spanische Armada in die britischen Gewässer eindringt. Hobbes selbst bemerkt hierzu später: Seine Mutter habe unter dem Eindruck des beginnenden Krieges Zwillinge geboren, nämlich ihn und die Angst, „both Me, and Fear“. Dank eines wohlhabenden Onkels kann Hobbes, obwohl er Sohn eines mittellosen Landpfarrers ist, in Oxford studieren und wird nach dem Abschluss „Tutor“, d. h. Hauslehrer und Sekretär bei der Familie Cavendish, der Familie des späteren Earl of Devonshire. Hobbes findet so Zugang zu den Kreisen adeliger Intellektueller und zahlreicher Wissenschaftler, die diese um sich scharen. Er bildet sich fort und entwickelt seine eigenen Interessen – zunächst sind dies die Naturwissenschaften und die klassische griechische Geschichte. Er übersetzt die Geschichte des Peloponnesischen Krieges von Thukydides und schreibt eine Einleitung zu der Übersetzung, die 1629 erscheint. Als eine weitere frühe gedankliche Leidenschaft bezeichnet Hobbes die Geometrie. Diese ist allgemein die Modellwissenschaft in Sachen Präzision für das 17. Jahrhundert – so auch für Galilei, den Hob-
vom Menschen“, in: Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz,
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bes in Pisa persönlich kennen lernt. Mehrfach hat Hobbes schon den Kontinent bereist, bevor er 1640 nach Paris flieht. Sein erstes politisches Buch, die anonym publizierten Elements of Law, hat ihn beim englischen Unterhaus in Misskredit gebracht, und er fürchtet um sein Leben. Im französischen Exil entstehen weitere Schriften. Hobbes publiziert den Leviathan 1651 in London, denn auch die französischen Royalisten missbilligen seine politischen Überlegungen. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme wird Hobbes nicht lang nach dem Erscheinen des Buches vom französischen Hof verbannt. Hobbes kehrt nach England zurück und lebt wieder auf den Landgütern der Familie Cavendish – als respektierter und auch gefürchteter, streitbarer Gelehrter. Vor allem durch seine heftigen Auseinandersetzungen mit der Kirche polarisiert er die englische Öffentlichkeit. Bei seinem Tod im Jahr 1676 ist Hobbes 91 Jahre alt. Werkausgabe Hobbes, Thomas, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates (1651), hg. u. eingel. v. Iring Fetscher, Neuwied/Berlin 1966, Nachdruck Frankfurt/Main 2000. Literatur Bredekamp, Horst, Thomas Hobbes visuelle Strategien. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder, Berlin 22002. Kersting, Wolfgang, Thomas Hobbes zur Einführung, Hamburg 22002. Münkler, Herfried, Thomas Hobbes, Frankfurt/Main 22001. Schmitt, Carl, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Stuttgart 21995. Shapin, Steven, Schaffer, Simon (Hg.), Leviathan and the air-pump: Hobbes, Boyle, and the experimental life, Princeton 1989. Weiß, Ulrich, Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart/Bad Cannstadt 1980.
BARUCH DE SPINOZA (1632–1677)
Baruch de Spinoza wurde als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie spanisch-portugiesischer Herkunft am 24. November 1632 in Amsterdam geboren. Er erhielt die traditionelle jüdische Ausbildung, wich jedoch bald von den Lehren seiner Väter ab
übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt/Main 1972.
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und geriet in Konflikt mit der Synagoge. Die Auseinandersetzung mit den Schriften Hobbes’ und Descartes’ vertieften den Bruch. 1656 wurde der 24-Jährige, nachdem, so wird berichtet, ein Mordanschlag auf ihn ausgeübt worden war, wegen seiner Bibelkritik aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams verbannt. Der Bannfluch stellte eine drastische Maßnahme sozialer und ökonomischer Ausgrenzung dar. Seitdem lebte Spinoza zurückgezogen in Rjinsburg bei Leiden und später bei und in Den Haag. Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Linsenschleifer und verfasste die Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück (um 1660) sowie einen Kommentar zu Descartes’ Principia philosophiae (1663). Eine ihm 1673 vom pfälzischen Kurfürsten angebotene Professur an der Universität Heidelberg schlug er ebenso aus wie eine von Louis XIV. ausgesetzte Pension, indem er es ablehnte, dem Sonnenkönig eines seiner Bücher zu widmen. Spinozas politische Theorie findet sich im 1670 anonym publizierten Tractatus r theologico-politicus und im posthum erschienenen Tractatus r politicus. Der Traktat r über die Verbesserung des Verstandes ist eine Propädeutik zu seinem Hauptwerk, der Ethica. Diese selbst – entstanden zwischen 1661 und 1665, vollendet um 1675 – wurde einige Monate nach seinem Tod 1677 veröfffentlicht. Erwähnenswert schließlich noch der vielrezipierte Briefwechsel, der einen guten Einblick in Leben und Persönlichkeit des Autors gibt. Werkausgabe Spinoza, Baruch de, Ethica Ordine Geometrico demonstrata. ie Ethik mit geometrischer Methode begründet, in: Opera. Werke. Lateinisch und deutsch, Bd. II, hg. von Konrad Blumenstock, Darmstadt 1967. Literatur Cramer, Wolfgang, Spinozas Philosophie des Absoluten, Frankfurt/Main 1966. Czelinski, Michael u. a. (Hg.), Transformation r der Metaphysik in die Moderne. Zur Gegenwärtigkeit der theoretischen r und praktischen Philosophie Spinozas, Würzburg 2003. Deleuze, Gilles, Spinoza. Praktische Philosophie, Berlin 1988. Löwith, Karl, Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche, Göttingen 1967. Walther, Manfred (Hg.), Spinoza und der deutsche Idealismus, Würzburg 1992.
8 Vgl.: V „Die Verspätung ist […] ursprünglich.“ Und: „ Der Aufschub
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IMMANUEL KANT (1724–1804)
Als viertes von elf Kindern wurde Immanuel Kant am 22. April 1724 in eine pietistisch geprägte Königsberger Handwerkerfamilie geboren. 1740 beginnen seine Studien der Theologie und Philosophie, aber auch der Mathematik und der Naturwissenschaften an der Königsberger Universität. Nach dem Studium und nahezu einem Jahrzehnt als Hauslehrer veröffentlicht Kant 1755 eine Habilitationsschrift über Die Grundprinzipien der metaphysischen Erkenntnis. Im selben Jahr beginnt seine Lehrtätigkeit an der Universität Königsberg, erst 1769 wird er Professor für Logik und Metaphysik. Kant hielt wöchentlich bis zu zwanzig Stunden Vorlesungen in Mathematik, Naturlehre, Anthropologie, philosophischer Enzyklopädie, physischer Geographie, Pyrotechnik u. a. Sein Tagesablauf folgte einem festen Rhythmus: der Mittagstisch als gesellschaftliches Ereignis gehörte dazu ebenso wie der nachmittägliche Spaziergang, der so pünktlich getaktet war, dass die Königsberger – so wird es jedenfalls kolportiert – ihre Uhren danach stellten. Zwölf Jahre nach Kants Ernennung zum ordentlichen Professor veröffentlicht er die Kritik der reinen Vernunft. Sie blieb zunächst weitgehend ohne Echo in der Fachwelt. Beunruhigt darüber reichte Kant 1783 eine erläuternde Schrift nach, die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können und endlich findet die erste Kritik Aufmerksamkeit und Anerkennung. 1786 erscheinen als Erweiterung der theoretischen Philosophie die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Auch der praktischen Philosophie widmet sich eine Folge von Schriften. Auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ffolgen 1788 und 1797 die Kritik der praktischen Vernunft und die Metaphysik der Sitten. Die letzte der drei Kritiken, die Kritik der Urteilskraft, erscheint 1790. In Konflikt mit der preußischen Zensurbehörde geriet Kant 1793 mit Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Zu den einflussreichen politischen und historischen Schriften gehören insbesondere Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (1784) und Zum ewigen Frieden (1795). Das wohl bedeutendste Werk des späten Kant ist die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefasst von 1798. Sie geht auf eine Vorlesung zurück, die Kant seit dem Wintersemester 1772/73 regelmäßig hielt. Ab etwa 1800 wurde Kants körperliche Konstitution zunehmend schwächer, am 12. Februar 1804 stirbt er – „ein Aufhören des Lebens und nicht ein gewaltsamer Akt der Natur“, wie der Freund Wasianski berichtet.
bildet das Wesentliche des Lebens.“ Derrida, Jacques, Die Schrift und
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Por trät: Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Werkausgaben Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Bd. III (2. Auflage) u. Bd. IV (1. Auflage), Berlin 1968ff. –, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe neu hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1976. –, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant: Werke in zwölf Bänden, Bde. III u. IV, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1968. Literatur Friedman, Michael, Kant and the Exact Sciences, Cambridge 1992. Höffe, Otfried, Kants Kritik der reinen Vernunft: die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2003. Mohr, Georg, Willaschek, Marcus (Hg.), Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (= Klassiker auslegen, Bde. 17 u. 18, hg. v. Otfried Höffe), Berlin 1998.
IMMANUEL KANT (1724–1804)
Zum biographischen Kurzporträt siehe Seite 373. Werkausgaben Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Bd. IV., Berlin 1968. Einzelausgaben auch bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (Darmstadt), Reclam (Stuttgart) und Suhrkamp (Frankfurt/Main). Literatur Beck, Lewis W., Kants Kritik der praktischen Vernunft. Ein Kommentar, übers. v. Karl-Heinz Ilting, München 31995. Gamm, Gerhard, „Kants Idee praktischer Vernunft“, in: Praktische Philosophie/Ethik, Bd. 1, hg. v. Karl-Otto Apel, Dietrich Böhler u. a., Frankfurt/Main 1980. Höffe, Otfried (Hg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: Ein kooperativer K Kommentar , Frankfurt/Main 2000. Kaulbach, Friedrich, Immanuel Kants ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘. Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988/21996. Kühn, Manfred, Kant. Eine Biographie, München 2003.
die Differenz, a. a. O., S. 311.
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Prauss, Gerold (Hg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie vom Erkennen und Handeln, Köln 1973.
FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING (1775–1854)
Schelling kommt am 27. Januar 1775 in Leonberg bei Stuttgart zur Welt. Seine Begabung wird früh von den Eltern bemerkt. Bereits mit 15 Jahren tritt „Fritz“, wie er genannt wird, in das Tübinger Stift ein, wo er nicht nur das Zimmer mit Hölderlin und Hegel teilt, sondern auch die Sympathien für die Französische Revolution, Kants Schriften und die auf diese offen bekundeten Sympathien folgenden Repressalien seitens des Herzogs von Württemberg, Finanzier der Anstalt. Spinoza und Fichte sind zwei weitere Philosophen, die Schelling früh rezipiert und die ihn stark beeinflussen. Seine naturwissenschaftliche und medizinische Bildung erwirbt Schelling in Leipzig, wohin er als Hauslehrer kommt. Durch die Kontakte zum „schwäbischen Netzwerk“ in Thüringen, von Fichte in Jena durch Paulus und Niethammer über Schiller zu Goethe in Weimar, wird er rasch bekannt. Mit 23 Jahren bekommt Schelling eine Professur für Naturphilosophie in Jena, der Erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie von 1799 dokumentiert seine Vorlesungstätigkeit. Schellings gesellschaftliche Aktivitäten konzentrieren sich auf den Salon der gleichermaßen bewunderten wie angefeindeten Caroline Schlegel. Seit 1802 gibt Schelling zusammen mit Hegel das Kritische Journal der Philosophie heraus und publiziert im selben Jahr Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge – Ein Gespräch. Gegen gesellschaftliche Widerstände heiratet Caroline 1803 den zwölf Jahre jüngeren Schelling. Sie verlassen das „Mordnest“ Jena und kommen über Würzburg nach München. Hier ist Schelling von 1806 bis 1820 an der Akademie der Wissenschaften und Künste tätig. Das Jahr 1809 markiert einen Einschnitt in Schellings Leben und Werk: Caroline stirbt an einer Infektionskrankheit und die Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit werden veröffentlicht. Sie sind Schellings vorläufig letzte Publikation, denn seine Weltalter- und Spätphilosophie bleiben zunächst unveröffentlicht. Er bekommt einen Ruf nach Erlangen, kehrt aber 1827 wieder als Professor nach München zurück. 1841 schließlich nimmt Schelling den prestigeträchtigen Ruf auf den Lehrstuhl Hegels in Berlin an. Seine Vorlesungen, „Philosophie der Mythologie“ und „Philosophie der Offenbarung“, sind jedoch ein Misserfolg. Er beendet 1846 seine Vorlesungstätigkeit und zieht sich aus
9 Derrida, Jacques, Randgänge der Philosophie, Frankfurt/Main 1976, S. 154.
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dem öffentlichen Leben zurück. Schelling stirbt am 20. August 1854 in Bad Ragaz (Schweiz) während eines Kuraufenthaltes. Werkausgaben Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Schriften 1794–1800, in: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/Main 1985. –, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: Hist.-krit. Ausgabe, Bd. 7, hg. v. Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings, Stuttgart 2001. Literatur Heuser-Keßler, Marie-Luise, Jacobs, Wilhelm G. (Hg.), Schelling und die Selbstorganisation, Berlin 1994. Sandkühler, Hans Jörg (Hg.), F. W. J. Schelling, Stuttgart 1998. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797–1800. Theorie der Chemie von Manfred Durner. Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus von Francesco Moiso. Physiologische Theorien vvon Jörg Jantzen, Hist.-Krit. Ausgabe Reihe 1, Werke Ergbd. 5/9, Stuttgart 1994. Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich, V Von der Wirklichen, von der seyenden Natur: Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel, Stuttgart 1996. Tilliette, Xavier, Schelling Biographie, Stuttgart 2004.
GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL (1770–1831)
Hegel entstammt der württembergischen Oberschicht von Pastoren und Scholaren, die das kulturelle Leben Schwabens wesentlich geprägt haben; er studiert ab 1788 mit seinen Zimmergenossen, dem gleichaltrigen Hölderlin und dem um fünf Jahre jüngeren Schelling Theologie und Philosophie im Tübinger Stift. Bevor Hegel 1818 Nachfolger auf Fichtes Lehrstuhl an der jungen Berliner Universität wird, bekleidet er die Stelle eines Gymnasialdirektors in Nürnberg (ab 1808), er wird 1816 Professor für Philosophie in Heidelberg. An der Berliner Universität entfaltet Hegel vor allem mit seinen Vorlesungen eine außerordentliche Wirkung. Sein philosophisches System gilt als der Höhepunkt und die Vollendung der ontotheologischen Metaphysik. – Hegels literarische Anfänge fallen in die Zeit seiner Tätigkeit als Hauslehrer in
10Vgl. Lévi-Strauss: „So ist dieses Buch über die Mythen [das Rohe und das
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Bern (1793–1796) und Frankfurt am Main (1797–1799), die meisten Schriften bleiben Manuskripte oder auf Fragmente beschränkt; sie üben eine scharfe Kritik an der eigenen Zeit und beginnen wie die Gesellschafts- und Ideologiekritik des folgenden Jahrhunderts als Religionskritik. In den Frankfurter Jahren sind es vor allem politische und ökonomische Themen, die sein Interesse auf sich ziehen. 1801 erscheint seine erste Studie rein philosophischen Inhalts: die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in der Hegel für Schelling Partei ergreift. Programmatisch wird seine Bestimmung der Philosophie als Zeitanalyse. Nach der Phänomenologie des Geistes (1807) hat Hegel noch die beiden 1812/1816 erschienenen Bände der Wissenschaft der Logik, die mehrfach überarbeitete Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und die Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821 publiziert. Alle weiteren Schriften, insbesondere die sehr umfangreichen Vorlesungen zur Kunst, Philosophie, Religion und Geschichte, stützen sich auf zahlreiche Mit- und Nachschriften seiner Hörer sowie auf Hegels eigene Entwürfe. Werkausgabe Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 3, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/Main 1970 (1986 als stw 603). Literatur Fulda, Hans Friedrich, Henrich, Dieter (Hg.), Materialien zu Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘, Frankfurt/Main 1973. Fulda, Hans Friedrich, Georg Wilhelm Friedrich Hegel (= Beck’sche Reihe „Denker“), München 2003. Gamm, Gerhard, Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997. –, Wahrheit als Differenz. Studien zu einer anderen Theorie der Moderne. Descartes – Kant – Hegel – Schelling – Schopenhauer – Marx – Nietzsche, Berlin 22002 Siep, Ludwig, Der Weg der „Phänomenologie des Geistes“. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und zur „Phänomenologie des Geistes“ K (= Hegels Philosophie. Kommentare zu den Hauptwerken, Bd. 1, hg. v. Herbert Schnädelbach), Frankfurt/Main 2000. Taylor, Charles, Hegel, Frankfurt/Main 1978, bes. S. 177–293. T
Gekochte] in seiner Weise auch ein Mythos.“ Zit. nach: a. a. O. S. 434.
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WILHELM VON HUMBOLDT (1767–1835)
Wilhelm von Humboldt stammt aus einer preußischen Offiziers- und Beamtenffamilie. Nach einer exzellenten Privaterziehung schlägt er zunächst die juristische Laufbahn ein, quittiert aber bald den Dienst, um sich in Jena zu weiteren Studien niederzulassen. Dort pflegt er insbesondere eine intensive Freundschaft mit Friedrich Schiller, dokumentiert durch einen ausgedehnten Briefwechsel. 1797 übersiedelt Humboldt nach Paris und unternimmt von dort aus Reisen ins Baskenland, um Sprache und Nationalcharakter zu untersuchen. Diese Arbeit bildet das Fundament seiner lebenslangen Sprachforschungen. 1801 tritt er in den diplomatischen Dienst und wird 1808 zum Leiter des preußischen Unterrichtswesens ernannt. In dieser Zeit wird die Neuorganisation des preußischen Bildungswesens auf den Weg gebracht und die Gründung der Berliner Universität vollzogen. 1819, nach weiteren Stationen in preußischen Diensten, wird er entlassen und zieht sich nach Schloss Tegel zurück, wo er bis zu seinem Tode 1835 als Privatgelehrter lebt. Neben einem T umfangreichen Briefwechsel tritt Humboldt durch eine Reihe von Akademiereden in Erscheinung, deren erste programmatisch die weiteren Bemühungen vorzeichnet: Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung (1820). Die Ende der zwanziger Jahre entstandene Studie Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues sucht die Thematik zu strukturieren V und das empirische Material philosophisch auszuloten. Sie stellt die Vorarbeit dar für die zwischen 1830 und 1835 entstandene Abhandlung Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, die als Einleitung in seine Schrift Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java dient und Humboldts Sprachphilosophie zusammenfasst. Werkausgaben Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften hg. v. Albert Leitzmann u. a., 17 Bde., Berlin 1903–1936. Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, Darmstadt 1960–1981. Literatur Borsche, Tilman, Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts, Stuttgart 1981.
11Derrida, Jacques, Birnbaum, Jean, „Das Leben, das Überleben“,
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Jäger, Ludwig, „Über die Individualität von Rede und Verstehen – Aspekte einer hermeneutischen Semiologie bei W. v. Humboldt“, in: Poetik und Hermeneutik 13, München 1988. Scharf, Hans-Werner (Hg.), Wilhelm von Humboldts Sprachdenken, Essen 1989. Steinthal, Heymann, Der Ursprung der Sprache im Zusammenhange mit den letzten Fragen r des Wissens. Eine Darstellung der Ansicht Wilhelm von Humboldts verglichen mit denen Herders und Hamanns, Berlin 1851. Trabant, Jürgen, Apeliotes oder Der Sinn der Sprache. Wilhelm von Humboldts Sprach-Bild, München 1986. –, Traditionen r Humboldts, Frankfurt/Main 1990.
SØREN KIERKEGAARD (1813–1855)
Der religiöse Schriftsteller und Philosoph entstammt einer bürgerlichen Familie Kopenhagens. Er studiert Theologie und wird 1841 mit der philosophischen Dissertation Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates promoviert. 1841/42 hält er sich in Berlin auf, hauptsächlich um Schellings Vorlesungen zu hören. Seit 1843 erscheint in rascher Folge, beginnend mit Entweder-Oder, eine große Zahl von Schriften, viele von ihnen anonym publiziert. Ihr Inhalt ist die dialektische Entfaltung von Lebensformen – ästhetisch, ethisch, religiös – kulminierend in einer Einübung ins Christentum (1850). Zusammen mit Karl Marx ist Kierkegaard der stärkste Antipode gegen Hegels Idealismus. Philosophisch gilt er als der Ahnherr der Existenzphilosophie, theologisch als der der Dialektischen Theologie. Bei einem existentiellen Denker wie Kierkegaard haben biographische Faktoren eine zentrale Bedeutung. So bei ihm die vom Vater geerbte Schwermut, die er auf eine Verfluchung Gottes zurückführt, die Auflösung seiner Verlobung mit Regine Olsen und schließlich sein Streit mit der etablierten Kirche nach dem Tod des Bischofs Mynster. Werkausgabe Kierkegaard, Søren, Der Begriff Angst, mit e. Nachw. hg. v. Uta Eichler, Stuttgart 1992.
in: Lettre International, Herbst 2004, Heft 66, S. 12.
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Por trät: Mar tinHeidegger
Literatur Grøn, Arne, Angst bei Søren Kierkegaard. Eine Einführung in sein Denken, übers. v. Ulrich Lincoln, Stuttgart 1999. Liessmann, Konrad Paul, Sören Kierkegaard zur Einführung, 3. überarbeitete Aufl., Hamburg 2002. Eine Sammelrezension zu neuerer Kierkegaard-Literatur gibt: Olschanski, Reinhard, in: Philosophische Rundschau, Bd. 50 H2, Juni 2003, S. 141–154.
CHARLES SANDERS PEIRCE (1839–1910)
Charles Sanders Peirce wird am 10. September 1839 in Cambridge/Massachusetts geboren. 1855 nimmt er am Harvard College ein Studium der Mathematik, Naturwissenschaften, Philosophie sowie der alten und neuen Sprachen auf. Bereits als Jugendlicher befasste er sich intensiv mit Kant, dessen Kritik der reinen Vernunft er mit Begeisterung liest. Eine weitere prägende Lektüre bilden Schillers Ästhetische Briefe. 1859 schließt er sein Collegestudium ab. Noch im selben Jahr findet er eine Anstellung im Amerikanischen Amt für Land- und Küstenvermessung. Von 1860 bis 1863 absolviert er, ebenfalls in Harvard, ein Studium der Naturwissenschaften, insbesondere der Chemie. Während dieses Studiums lernt er William James kennen, dem er bis zu dessen Tod im Jahr 1910 freundschaftlich verbunden bleibt. 1864 erhält er einen Lehrauftrag für Logik und Geschichte der Logik am Harvard College. 1867 wird er zum Assistenten der Vermessungsbehörde befördert und arbeitet auf dieser Stelle bis 1891. Die Berufung auf eine Professur, auf die Peirce seine Hoffnung setzt, bleibt aus. 1870 unternimmt er eine erste Reise nach Europa, die ihn über London, Rotterdam, Berlin, Dresden, Prag, Wien und Budapest bis nach Istanbul führt. Nach der Rückkehr gründet er den Metaphysical Club, einen privaten philosophischen Zirkel, dessen Mitglieder sich wöchentlich entweder bei James oder bei Peirce treffen. 1875 unternimmt er eine zweite Reise nach Europa. Im August 1876 kehrt er in Begleitung einer jungen Französin nach Amerika zurück, die er 1883, nach der Scheidung von seiner ersten Frau, heiratet. Dieser Schritt führt zu seiner gesellschaftlichen und akademischen Isolation. Peirce verliert seine Dozentur für Logik, die er zwischenzeitlich an der Johns Hopkins University in Baltimore innehatte. 1887 zieht er mit seiner Frau in ein abseits gelegenes Landhaus in Milford, Pennsylvania und arbeitet von nun an als Privatgelehrter. Er ist nun jeder Verdienstmöglichkeit beraubt und verarmt zusehends. 1895 wird seine Bibliothek zwangsversteigert;
Por trät: Ludwig Wittgenstein
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Peirce muss vor seinen Gläubigern fliehen. Von 1907 an verschlechtert sich seine Finanzlage weiter. Seit 1909 leidet er darüber hinaus auch noch an Krebs. Am 19. April 1914 stirbt er, 74–jährig, in seinem Haus. Werkausgaben Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Volume I-VIII, ed. Charles Hartshorne, Paul Weiss, Arthur W. Burks, Cambridge Mass. 1931–1958. Peirce, Charles S., Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. Karl-Otto Apel, übers. v. Gert Wartenberg, Frankfurt/Main 1991. Literatur Apel, Karl-Otto, Der Denkweg von Charles S. Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, Frankfurt/Main 1975. Nagl, Ludwig, Charles Sanders Peirce, Frankfurt/Main/New York 1992. Oehler, Klaus, Charles Sanders Peirce, München 1993. Wirth, Uwe (Hg.), Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles S. Peirce, Frankfurt/Main 2000.
FRIEDRICH NIETZSCHE (1844–1900)
Nietzsche kommt als erstes Kind einer Pastorenfamilie in Röcken, südwestlich von Leipzig, zur Welt. 1858 erhält er einen Freiplatz in der renommierten Landesschule Pforta bei Naumburg. 1864 immatrikuliert er sich in Bonn im Fach Philologie und wechselt ein Jahr später nach Leipzig. Seine außergewöhnlichen Leistungen tragen ihm früh eine Professur für Philologie ein. Zwischen 1869 und 1879 lehrt Nietzsche an der Universität in Basel. In diese Zeit fällt auch die Freundschaft mit Richard Wagner. Aus gesundheitlichen Gründen quittiert Nietzsche 1879 seinen Dienst. Seitdem lebt er abwechselnd in den Schweizer Alpen und am Mittelmeer, vor allem in Nizza. Seine Philosophie entsteht in kleinen möblierten Hotelzimmern. Im Januar 1889 bricht Nietzsche in Turin auf der Straße zusammen. In „verwirrtem“ Zustand wohnt er im Haus seiner Mutter in Naumburg und zuletzt bei seiner Schwester in Weimar. – Nietzsche hat bereits in frühen Jahren viel geschrieben, vor allem in der Pförtner Zeit und als Student. Seine Vorliebe für die Philosophie entzündet sich spätestens im Herbst 1865, als er in einem Leipziger Antiquariat Schopenhauers Welt W als Wille und Vorstellung entdeckt. Seine ersten größeren Arbeiten befassen sich mit
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Por trät: Hannah Arendt
Theognis und Diogenes Laertius. 1872 veröffentlicht Nietzsche Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Mit diesem Buch debütiert er vor allem als Philosoph und stellt sich in den Dienst der Wagnerschen Kulturpolitik. Bald darauf erscheinen die vier Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876) und die zwei Bände Menschliches, Allzumenschliches (1878–1879). Mit der Morgenröte (1881) und der FFröhlichen Wissenschaft (1882) folgen zwei Aphorismenbände, bis dann mit Also sprach Zarathustra (1883–1885) in dichterischer Sprache die Philosophie des „Übermenschen“ und der „ewigen Wiederkunft“ Gestalt annimmt. In Jenseits von Gut und Böse (1886) beginnt Nietzsche damit, seine neuen Gedanken in philosophischer Prosa auszuarbeiten. In rascher Folge schreibt und publiziert er in seinen letzten Schaffensjahren eine ganze Reihe von Büchern (Zur Genealogie der Moral (1887), Der Fall Wagner (1888), Götzen-Dämmerung (1889), Der Antichrist (1888) u. a.). Aus dem Nachlass wird im Jahr 1906 von der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche und von Peter Gast eine Sammlung von Aphorismen unter dem Titel Der Wille zur Macht herausgegeben, die fälschlicherweise den Anschein erweckt, das eigentliche „philosophische Hauptwerk Nietzsches“ (A. Bäumler) zu sein. Der in den sechziger Jahren an der TH Darmstadt lehrende Karl Schlechta hat mit seiner Edition die Schriften Nietzsches erstmals von den Verfälschungen befreit, die Elisabeth Förster-Nietzsche im Versuch, das Werk ihres Bruders den Nationalsozialisten anzudienen, am Textkorpus vorgenommen hatte. Werkausgabe Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 5, S. 9–243, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München [u. a.] 1980. Literatur Danto, Arthur C., Nietzsche als Philosoph, München 1998. Deleuze, Gilles, Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1991. Figal, Günter, Nietzsche. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 1999. Fink, Eugen, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1979. Vattimo, Gianni, Nietzsche, Stuttgart 1992.
Por trät: Hans-Georg Gadamer
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MARTIN HEIDEGGER (1889–1976)
Heidegger wird 1889 in Meßkirch geboren. Nach dem Besuch der Gymnasien in Konstanz und Freiburg tritt Heidegger 1909 das Noviziat der Jesuiten in Tisis bei Feldkirch an, wird aber alsbald wegen Herzbeschwerden entlassen. Nach einer Krise bricht Heidegger die begonnene Priesterausbildung ab, er studiert Philosophie, Geistes- und Naturwissenschaften in Freiburg und promoviert 1913 im Fach Philosophie, die Habilitation erfolgt 1915. 1919 bricht Heidegger mit dem Katholizismus und arbeitet zwischen 1918 und 1923 als Privatdozent und Assistent bei Husserl in Freiburg. Aus seiner Unterrichtstätigkeit, die großes Aufsehen erregt, erwächst 1927 Sein und Zeit. Heidegger wird nach einer Zwischenstation in Marburg 1928 der Nachfolger Husserls in Freiburg, wo er 1933 zum Rektor gewählt wird und an der Einführung des „Führerprinzips“ maßgeblich mitwirkt. Es entstehen zwischen 1936 und 1938 die unveröffentlichten Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), die oft als sein zweites Hauptwerk bezeichnet werden. 1946 erhält Heidegger Lehrverbot, darf dann aber 1951/52 seine Vorlesungstätigkeit wieder aufnehmen. Seine Spätphilosophie entfaltet einen ebenso großen Einfluss wie Sein und Zeit. 1976 stirbt Heidegger am 26. Mai und wird in Meßkirch beigesetzt. Werkausgabe Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 1967. Literatur Marx, Werner, Heidegger und die Tradition, Stuttgart 1961. Pöggeler, Otto, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1983. Thomä, Dieter, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers, Frankfurt/Main 1990.
LUDWIG WITTGENSTEIN (1889–1951)
Ludwig Wittgenstein entstammt einer der wohlhabendsten Großindustriellenfamilien der österreichisch-ungarischen Monarchie. Er studiert ab Herbst 1906 an der Technischen Universität Berlin Ingenieurwesen, wechselt jedoch 1908 nach EngT land, wo er sich mit Aeronautik befasst und sich in Manchester für Maschinenbau einschreibt. 1911 wechselt er auf Empfehlung von Gottlob Frege ans Trinity College
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Por trät: Hans-Georg Gadamer
nach Cambridge, um unter Bertrand Russell Logik und Philosophie zu studieren. Am Ersten Weltkrieg nimmt er als Freiwilliger in der österreichisch-ungarischen Armee teil und trägt während des gesamten Krieges seine philosophischen Gedanken in ein Notizheft ein, aus dem das einzige zu seinen Lebzeiten publizierte Buch, die Logisch-philosophische Abhandlung, hervorgeht. Die Abhandlung wird 1921 unter dem Titel Tractatus r logico-philosophicus veröffentlicht. Die englische Ausgabe mit einem Vorwort von Russell folgt 1922. Nach dem Krieg verschenkt Wittgenstein sein großes Erbe und arbeitet, nachdem er sich von der Philosophie abgewandt hat, zwischen 1920 und 1929 als Volksschullehrer, Gärtnergehilfe und als Architekt. Unter dem Einfluss einiger Mitglieder des Wiener Kreises, einer Gruppe von Philosophen, zu der Moritz Schlick, Rudolf Carnap und Friedrich Waismann gehören, wendet er sich wieder der Philosophie zu und kehrt 1929 nach Cambridge zurück, wo er zum Fellow ernannt wird und Seminare über Sprache, Logik und Mathematik hält. 1939 wird er am Trinity College als Nachfolger von George Edward Moore zum Professor ernannt. Er legt diese Professur jedoch 1947 nieder, um sich seiner Arbeit widmen zu können. 1951 stirbt Ludwig Wittgenstein in Cambridge. Die Philosophischen Untersuchungen, an denen er in mehreren Anläufen seit seiner Rückkehr nach Cambridge gearbeitet hat, bleiben unvollendet. 1953 werden sie aus dem Nachlass veröffentlicht. Werkausgabe Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, auf der Grundlage der Kritisch-genetischen Edition neu hg. v. Joachim Schulte, Frankfurt/Main 2003. Literatur Savigny, Eike v., Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“, München 1996. –, (Hg.), Philosophische Untersuchungen (= Klassiker auslegen, Bd. 13, hg. v. Otfried Höffe), Berlin 1998. Schulte, Joachim, Wittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart 1989. Wright, Georg Henrik v., Wittgenstein, Frankfurt/Main 1990.
HANNAH ARENDT (1906–1975)
Hannah Arendt wird am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover geboren und
Por trät: Donald Davidson
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verbringt ihre Jugend in Königsberg. Im Alter von 16 Jahren liest sie Kants Kritik der reinen Vernunft und Jaspers’ Philosophie der Weltanschauungen. Nach einem Schulverweis kurz vor dem Abschluss legt sie 1924 als externe Schülerin das Abitur ab. Sie studiert Philosophie, Theologie und Altphilologie in Marburg, Freiburg und Heidelberg. Zu ihren wichtigsten Lehrern gehören Martin Heidegger, Rudolf Bultmann, Edmund Husserl und Karl Jaspers, bei dem sie über den Liebesbegriff bei Augustin (1929) promoviert. Nach dem Reichstagsbrand engagiert sie sich politisch und setzt sich mit ihrer jüdischen Herkunft auseinander. 1933 wird sie vorübergehend interniert, flieht über Karlsbad und Genf nach Paris und emigriert mit ihrem Mann Heinrich Blücher von dort aus 1941 endgültig nach New York. Dort gibt sie zunächst eine jüdische Exilzeitung heraus und ist von 1946–1948 als Cheflektorin bei Schocken Books tätig. 1963 erhält sie einen Ruf an die Universität von Chicago, seit 1968 lehrt sie an der New School for Social Research in New York. Sie stirbt 1975 in New York. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen gehören Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1958, fertig gestellt 1938), Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), Eichmann in Jerusalem (1963), Über die Revolution (1963), Macht und Gewalt (1970) sowie V Vom Leben des Geistes (1977/78). Werkausgabe Arendt, Hannah, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 81994. Literatur Conradi, Elisabeth, Plonz, Sabine (Hg.), Tätiges Leben. Pluralität und Arbeit im politischen Denken Hannah Arendts, Bochum 2000. Heuer, Wolfgang, Hannah Arendt, Reinbek bei Hamburg 1998. Kristeva, Julia, Das weibliche Genie. Hannah Arendt, Berlin/Wien 2001. YYoung-Bruehl, Elisabeth, Hannah Arendt – Leben, Werk und Zeit, Frankfurt/Main 1996.
HANS-GEORG GADAMER (1900–2002)
Gadamer wurde am 11. Februar 1900 in Marburg geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Breslau, bis ihn sein Philosophiestudium 1919 nach Marburg zurückführte. Hier promovierte er 1922 bei Paul Natorp mit einer unveröffentlichten Arbeit mit dem Titel: Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen. 1923 begegnete
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Por trät: Jacques Derrida
er Heidegger, der einen tiefen Eindruck bei Gadamer hinterließ und ihn, wie er es rückblickend beschreibt, in dem Entschluss, Altphilologie bei Paul Friedländer zu studieren, insofern bestärkte, als er befürchtete, von der Überlegenheit Heideggers erdrückt zu werden. Das Studium der Altphilologie schloss Gadamer 1927 mit dem Staatsexamen ab. 1928 habilitierte er bei Heidegger mit der Arbeit: Platos dialektische Ethik (1931). Bis zu seiner Berufung auf eine Professur für Philosophie nach Leipzig (1939) lehrte er in Marburg zuerst als Privatdozent und seit 1937 als außerordentlicher Professor. In diese Zeit fällt auch seine Vorlesung zur Kunst und Geschichte, auf der W Wahrheit und Methode aufbauen sollte. 1947 nahm er einen Ruf der Universität Frankfurt an, bis er im September 1949 die Nachfolge von Karl Jaspers in Heidelberg antrat, die er bis zu seiner Emeritierung 1968 innehatte. In dieser Zeit verfasste er W Wahrheit und Methode, gründete zusammen mit Helmut Kuhn die Philosophische Rundschau (1953) und widmete sich u. a. der Begriffsgeschichte. Nach seiner Emeritierung setzte er seine Lehrtätigkeit in Heidelberg fort, lehrte regelmäßig im Ausland, vor allem in den USA, und er wurde bis zu seinem Tod mit zahllosen Ehrungen bedacht. Seine Studien konzentrierten sich zu dieser Zeit auf die Weiterführung seiner philosophischen Hermeneutik, die er in verschiedenen Diskussionskontexten ergänzte und präzisierte. Seine aus diesen Diskussionen, die er u. a. mit Emilio Betti, Jürgen Habermas und Jacques Derrida geführt hat, hervorgegangenen Veröffentlichungen f sind in den Gesammelten Werken Bd. 2: W Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register dokumentiert. In den späteren Jahren widmete er sich vor allem Überlegungen zur Hermeneutik und Poetik, wobei er die spezifische dialogische Struktur, die dem Verstehen dichterischer Werke zugrunde liegt, herausarbeitete. Seine Fragen lauteten dabei, auf welche Weise Sprache zur Kunst wird und in welchem Sinne die Hermeneutik die Ästhetik ablösen kann, wie er es in Wahrheit und Methode ausgeführt hatte. In diesem Kontext sind u. a. seine Schriften Rhetorik und Hermeneutik (1976), Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest (1974) und seine Interpretationen zu Paul Celans Gedichtzyklus Atemkristall in Wer bin ich und wer bist Du? (1986) entstanden. Darüber hinaus blieb für ihn die Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte zentral, wie seine Schriften zu Hegels Dialektik. Fünf hermeneutische Studien (1971), Heideggers Wege. Studien zum Spätwerk (1983) und seine Übersetzung der aristotelischen Schrift Nikomachische Ethik VI (1998) zeigen.
Por trät: Jacques Derrida
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Werkausgabe Gadamer, Hans-Georg, W Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1990. –, W Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen 1993. Literatur Grondin, Jean, Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers, Weinheim 1994. Hammermeister, Kai, Hans-Georg Gadamer, München 1999. „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“. Hommage an Hans-Georg Gadamer, ohne Hg., Frankfurt/Main 2001. Wischke, Mirko, Hofer, Michael, Gadamer verstehen / understanding Gadamer, Darmstadt 2003.
DONALD DAVIDSON (1917–2003)
Donald Davidson wurde am 6. März 1917 in Springfield, Massachusetts geboren und studierte zunächst Englisch, Komparatistik und Klassische Philologie an der Harvard Universität. In zwei Kursen bei Alfred North Whitehead entdeckte er sein Interesse für die Philosophie, dem er dann vor allem unter der Anleitung von Willard Van Orman Quine nachging, dem bedeutendsten Schüler Rudolf Carnaps. Von 1942 bis 1945 leistete Davidson Kriegsdienst bei der Marine der Vereinigten Staaten von Amerika. 1949 wurde er schließlich mit einer Dissertation über Platons Philebos an der Harvard Universität zum Doktor der Philosophie promoviert. Er arbeitete von 1951 bis 1970 als Philosophieprofessor an der Stanford Universität, bevor er Rufen nach Princeton (1967—1970), an die Rockefeller Universität (1970— 1976), an die University of Chicago (1976—1981) und 1981 schließlich nach Berkeley folgte. Fachliche Bedeutung und alsbald auch internationale Anerkennung sicherte sich Davidson zunächst durch seine Aufsätze zur Handlungstheorie, die er von 1963 in verschiedenen Fachpublikationen veröffentlichte und schließlich 1980 unter dem Titel Essays on Actions and Events (Handlung und Ereignis) auch in Buchfform vorlegte. Ein zweiter Aufsatzband mit dem Titel Inquiries into Truth and Interpretation (Wahrheit und Interpretation) geht den Problemen nach, die eine allgemeine Theorie sprachlicher Bedeutung aufwirft. Davidsons Philosophie arbeitet mit dezi-
diert sprachanalytischen Mitteln und verortet sich kritisch in der Tradition des Empirismus. Dass Davidson gleichwohl den vieldeutigen Begriff der Interpretation ins Zentrum seiner Analyse von Aussagen stellt, hat ihn indessen auch zu einem begehrten Gesprächspartner der hermeneutischen Traditionslinie europäischen Philosophierens gemacht. So ist ihm denn 1991 der Hegel-Preis der Stadt Stuttgart zuerkannt worden. Werkausgaben Davidson, Donald, Essays on Actions and Events, Oxford 1980 (dt.: Handlung und Ereignis, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt/Main 1985). —, Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 1984 (dt.: W Wahrheit und Interpretation, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt/Main 1986). Literatur Glüer, Kathrin, Davidson zur Einführung, Hamburg 1993. Lepore, E., McLaughlin, B. (Hg.), Actions and Events. Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, Oxford 1985. Picardi, Eva, Schulte, Joachim, Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons. Frankfurt/Main 1990.
JACQUES DERRIDA (1930–2004)
Jacques Derrida stammt aus dem algerischen El-Biar, einem Vorort von Algier. Mit 19 Jahren geht er nach Frankreich, um nach einigen Schwierigkeiten an der École Normale Supérieure Philosophie zu studieren. Seit 1960 arbeitet er als Dozent für Philosophie an verschiedenen Hochschulen in Paris, lehrt an der Sorbonne und ist zwischenzeitlich Assistent von George Bachelard, George Canguilhem, Paul Ricœur, Jean Wahl. Er wird von Michel Foucault nachhaltig beeinflusst, mit dem er schon sehr früh eine heftige Kontroverse ausficht. Ab 1968 gehört Derrida zur Richtlinienkommission, welche die Struktur und den Lehrkörper des neuen Centre éxperimental von Vincennes organisiert, eine Reformuniversität, die später Zentrum der linken Intelligenz wird. Darüber hinaus arbeitet er in der Redaktion der linksgerichteten Zeitschrift Critique. In den 1970er-Jahren wird Derrida mehr und mehr zur Zentralfigur einer ‚Philosophie der Differenz‘, zu der Gilles Deleuze, Julia Kristeva, Jean François Lyotard und andere gehören. Ab 1983 lehrt Derrida als Professor für
Die Autoren
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Philosophie an der École des Hautes Études und ist Direktor des Collège International de Philosophie, zu dessen Mitbegründern er gehört. Derrida zählt zu den umstrittensten Philosophen der Gegenwart. Jürgen Habermas, Hans-Georg Gadamer oder auch John R. Searle haben sich kritisch mit ihm auseinander gesetzt. Wie kein zweiter verfolgt er die Spuren der Vernunftkritik nach Kant – in allen Bedeutungen des Wortes. In seinem Denken verbindet er Elemente des französischen (Post)Strukturalismus mit metaphysikkritischen Motiven Martin Heideggers. Fluchtpunkt der dekonstruktiven Erfahrung ist das „affirmative Denken einer möglichen Ethik […] jenseits der Technik des Kalkulierbaren“ (Derrida). Werkausgabe Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt/Main 1972 Literatur Angehrn, Emil, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Weilerswist 2003. Bennington, Geoffrey, Derrida, Jacques, Jacques Derrida. Ein Portrait, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt/Main 1994. Gamm, Gerhard, „Perspektiven nachmetaphysischen Denkens“, in: Philosophie der Dekonstruktion, hg. von Kern, Andrea und Menke, Christoph, Frankfurt/Main 2002. Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, hg. v. Gondek, Hans-Dieter und Waldenfels, Bernhard, Frankfurt/Main 1997. Stegmaier, Werner, „‚Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit‘: Jacques Derrida“, in: Zeitgenössische französische Denker: eine Bilanz, hg. v. Jurt, Joseph, Freiburg i. Br. 1998.
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Die Autoren
Emil Angehrn, Prof. Dr., geb. 1946, lehrt Philosophie an der Universität Basel. Publikationen u. a.: Freiheit r und System bei Hegel (1977), Geschichte und Identität (1985), Geschichtsphilosophie (1991), Die Überwindung des Chaos (1996), Der Weg zur Metaphysik (2000), Interpretation und Dekonstruktion (2003). Gernot Böhme, Prof. Dr., geb. 1937, 1977–2002 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt. Publikationen u. a.: Platons theoretische Philosophie (2000), Die Natur vor uns (2002), Leibsein als Aufgabe (2003). Ute Gahlings, Dr., geb. 1963, lehrt Philosophie an der TU Darmstadt. Publikationen u. a.: Sinn und Ursprung (1992), Hermann Graf Keyserling (1996). Gerhard Gamm, Prof. Dr., geb. 1947, lehrt Philosophie an der TU Darmstadt. Publikationen u. a.: Flucht aus der Kategorie (1994), Nicht nichts (2000), Wahrheit als Differenz (22002), Der unbestimmte Mensch (2004). Petra Gehring, Prof. Dr., geb. 1961, lehrt Philosophie an der TU-Darmstadt. Habilitationsschrift zum modernen Recht als „Dispositiv“. Publikationen u. a.: Foucault – Die Philosophie im Archiv (2004). Hassan Givsan, apl. Prof. Dr., geb. in Teheran, lehrt Philosophie an der TU Darmstadt. Publikationen u. a.: Heidegger – das Denken der Inhumanität. (1998); Eine bestürzende Geschichte: Warum Philosophen sich durch den „Fall Heidegger“ korrumpieren lassen (1998). Heidrun Hesse, apl. Prof. Dr., geb. 1951, lehrt Philosophie an der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen. Publikationen u. a.: Ordnung und Kontingenz – Handlungstheorie versus Systemfunktionalismus (1999). Andreas Hetzel, Dr., geb. 1965, Postdoc-Stipendiat im Graduiertenkolleg Technisierung und Gesellschaft an der TU Darmstadt. Publikationen u. a.: T Zwischen Poiesis und Praxis (2001), Die Rückkehr des Politischen (hg. mit Oliver Flügel u. Reinhard Heil, 2004).
Por trät:
Heike Kämpf, f PD Dr., geb. 1964, lehrt Philosophie an der TU Darmstadt. Publikationen u. a.: Helmuth Plessner (2001), Die Exzentrizität des Verstehens (2003). Jens Kertscher, Dr., geb. 1968, wissneschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Publikationen u. a.: Performativität r und Praxis (hg. mit Dieter Mersch, 2003), Wittgenstein und die Metapher (hg. mit Ulrich Arnswald u. Matthias Kroß, 2004). Alfred Nordmann, Prof. Dr., geb. 1956, lehrt Philosophie und Geschichte der Wissenschaften an der TU Darmstadt. Wissenschafts- und erkenntnistheoretische Publikationen insbesondere zu Georg Christoph Lichtenberg, Heinrich Hertz, Charles Sanders Peirce und Ludwig Wittgenstein. Publikationen u. a.: Wittgenstein’s Tractatus: An Introduction (2005). Adalbert Podlech, Prof. Dr., geb. 1929, studierte Philosophie, Geschichte, Theologie und Rechtswissenschaften. Promotion über den Leib bei J. P. Sartre. Zweite Promotion über Gewissensfreiheit. Habilitation in den Fächern Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie. 1973–1997 Professor für Öffentliches Recht an der TU Darmstadt. Publikationen u. a.: Abaelard und Heloisa: oder die Theologie der Liebe (1990). Marc Rölli, Dr., geb. 1969, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Publikationen u. a.: Gilles Deleuze (2003), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze (Hg., 2004). Eva Schürmann, Dr., geb. 1967, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Publikationen u. a.: Erscheinen und Wahrnehmen (2000), Spinoza im Deutschland des 18. Jahrhundert (hg. mit Norbert Waszek u. Frank Weinreich, 2002). Astrid Schwarz, Dr., geb. 1963, wissenschaftliche Mitarbeiterin am philosophischen Institut der TU Darmstadt. Forschung und Lehre in der Wissenschaftsphilosophie und -geschichte. Publikationen u. a.: Wasserwüste – Mikrokosmos – Ökosystem (2003). Friedrich Voßkühler, apl. Prof. Dr., geb. 1947, lehrt Philosophie an der TU Darmstadt. Publikationen u. a.: Idealismus als Metaphysik der Moderne (1996), Kunst als Mythos der Moderne (2004). Georg Zenkert, Prof. Dr., geb. 1960, lehrt Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Publikationen u. a.: K Konturen praktischer Rationalität (1989), Die Konstitution der Macht (2004).
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