Von Kreuzburg nach München: Horst Fuhrmann - Lebensstationen eines Historikers 9783412216047, 9783412221348


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Von Kreuzburg nach München: Horst Fuhrmann - Lebensstationen eines Historikers
 9783412216047, 9783412221348

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Horst Fuhrmann (22. Juni 1926 – 9. September 2011)

Von Kreuzburg nach München Horst Fuhrmann – Lebensstationen eines Historikers

Herausgegeben von Martina Hartmann und Claudia Märtl

2013

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Der Band vereinigt die Vorträge eines Colloquiums, das die Monumenta Germaniae Historica am 13. Juli 2013 in München zu Ehren von Horst Fuhrmann (1926–2011) veranstaltet haben. Nach einer Einführung von Claudia Märtl und einer Gesamtwürdigung Fuhrmanns durch Wilfried Hartmann wurde in teilweise sehr persönlichen Erinnerungsbildern von Herwig John und Franz Fuchs an den engagierten Hochschullehrer in Tübingen und Regensburg erinnert, von Herbert Schneider an den langjährigen Präsidenten der MGH sowie von Helmut Neuhaus an den Kuratoriums­ vorsitzenden des Historischen Kollegs in München, schließlich von Markus Wesche an den Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Der Festvortrag von Johannes Fried beschäftigte sich unter dem Titel „Karl der Große, Rom und Aachen“ unter anderem mit Fuhrmanns Forschungen zum Constitutum Constantini.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Ansicht der Geburtsstadt Kreuzburg (Briefpapier von Horst Fuhrmann) © 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth GmbH, Erftstadt Satz: Satzpunkt Ewert, Bayreuth Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-22134-8

Inhalt

CLAUDIA MÄRTL Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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WILFRIED HARTMANN Von der Sorge um den rechten Text zur Sorge um die Individualität früherer Menschen. Der Historiker Horst Fuhrmann (1926–2011) . . . . . . . . . . . . . .

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HERWIG JOHN Horst Fuhrmann und Tübingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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FRANZ FUCHS Horst Fuhrmann und Regensburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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HERBERT SCHNEIDER Horst Fuhrmann und die Monumenta Germaniae Historica . .

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HELMUT NEUHAUS Horst Fuhrmann und das Historische Kolleg . . . . . . . . . . . . . . .

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MARKUS WESCHE Von Kreuzburg nach München – und zurück. Horst Fuhrmanns späte Jahre von 1988 bis 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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JOHANNES FRIED Karl der Große, Rom und Aachen. Actus beati Silvestri und Constitutum Constantini als Wegweiser zur Pfalz Karls des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Claudia Märtl

Einleitung Die Monumenta Germaniae Historica richteten für ihren Altpräsidenten Horst Fuhrmann zehn Monate nach seinem Tod am 16. September 2011 eine Gedenkfeier aus, die den Mitwirkenden – überwiegend Schülern und engen Mitarbeitern Fuhrmanns – Gelegenheit bot, sich seiner bereits aus einem gewissen Abstand zu erinnern und Perspektiven hervortreten zu lassen, für die in den ersten Würdigungen kein Raum gewesen war. Der Einladung in die Kaulbachvilla folgte ein dicht gedrängtes Publikum, das die zahlreichen Wirkungskreise repräsentierte, in denen Horst Fuhrmann tätig gewesen war. 23 Jahre lang, von 1971 bis 1994, war Horst Fuhrmann Präsident der Monumenta Germaniae Historica, die kurz vor seinem Antritt ihr 150jähriges Bestehen feiern konnten, aber er war ja nicht nur Leiter einer altehrwürdigen Institution, sondern hatte noch viele andere Ämter, die mit Wissenschaftsorganisation zu tun hatten, und so war er auch der zweite Kuratoriumsvorsitzende des in der Kaulbachvilla sesshaften Historischen Kollegs, an dessen Aufbau er großen Anteil genommen hat. Für eine Gedenkfeier zu Ehren Horst Fuhrmanns hätte es in der Tat keinen geeigneteren Ort geben können als den Bibliotheksraum der Kaulbachvilla mit den von ihm oft evozierten ochsenblutrot gestrichenen Deckenbalken. Jeder Personenkreis, mit dem er verbunden war, kennt seinen eigenen Fuhrmann, wie aus den erschienenen Nachrufen deutlich wird, und dies hat die Organisatoren und Organisatorinnen der Feier veranlasst, Felder seiner Tätigkeit zu beleuchten, von denen zumindest einige vordem weniger beachtet worden waren, denn nicht allein an den Monumentapräsidenten und Kuratoriumsvorsitzenden, sondern auch an den akademischen Lehrer und den Buchautor sollte erinnert werden. Nach Wilfried Hartmanns Gesamtwürdigung des Historikers Fuhrmann wurden daher in einer Serie von Kurzvorträgen, moderiert von Gerhard Schmitz, Facetten seiner Tätigkeit in Tübingen, Regensburg und München durch Herwig John, Franz Fuchs, Herbert Schneider, Helmut Neuhaus und Markus Wesche präsentiert, und der Abend klang aus mit einem Festvortrag von Johannes

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Claudia Märtl

Fried, der einen neuen Blick auf ein ureigenes Forschungsthema Horst Fuhrmanns, Karl den Großen, die actus beati Silvestri und das Constitutum Constantini, warf. Actus Silvestri und Constitutum Constantini sind auch das Scharnier, über das meine eigene Verbindung zu Horst Fuhrmann läuft, denn deren Anfänge datieren in das Wintersemester 1977/78, in dem er an der Universität Regensburg ein Hauptseminar „Die Konstantinische Schenkung“ anbot. Seine Funktion als Monumentapräsident sagte den meisten Regensburger Studenten damals nicht viel, aber wer zu ihm ins Seminar kam, wurde sogleich mit der Bedeutung dieser Einrichtung und ihren umständlichen Reihen vertraut gemacht, wobei er nicht unterließ zu betonen, dass die Monumenta auch ein realer Ort mit realen Mitarbeitern seien. „Monumenta – gibt’s die?“ imitierte er den Tonfall fragender Ignoranten, und dass die Monumenta lebten, war in seinen Seminaren in der Tat nicht zu überhören. Kein Zweifel, der Seminarnachmittag war der Höhepunkt der Woche, und es fiel schwer zu glauben, dass Horst Fuhrmann genug Energie besaß, um in München den Rest der Woche über ebenso dynamisch zu wirken. Für die Sitzungen galt es Unmengen an Büchern herbeizuschleppen, denn er war an das Lehren in der Seminarbibliothek gewöhnt, während Regensburg von Anfang an das seither vielkopierte, aber weniger gemütliche System der Teilbibliotheken hatte. Er wollte die Bücher physisch um sich wissen, auch wenn er sie des öfteren in der Sitzung gar nicht verwendete. Auf jeden Fall wurden die Studenten aber so darauf aufmerksam gemacht, dass sie mit den dicht glossierten Diplomata-Bänden aus dem von Regensburg angekauften Nachlass des Monumentapräsidenten E. Stengel arbeiteten, wo sie vorher doch nur über und über beschmierte Texte gesehen hatten. Die Sorge, die Arbeit der Monumenta könne ins „vornehme Abseits“ geraten, trieb Horst Fuhrmann freilich nicht wenig um, so dass er in seinen Seminaren einerseits immer wieder die Mühen akribischen Edierens und dessen Sinn in unnachahmlicher Weise veranschaulichte, andererseits ebenso eindrücklich die Vermittlung historischer Erkenntnis in allgemeinverständlicher Form vor Augen führte, dabei eingedenk des von ihm häufig zitierten Diktums von Voltaire, „die Kunst zu langweilen, besteht darin, alles zu sagen“. Der für gelungene WissenschaftsKommunikation gedachte Communicator-Preis wurde für ihn zu spät

Einleitung

kreiert, er hätte ihn als allererster erhalten müssen. Es gelang ihm hervorragend, das Edieren lateinischer Texte vom Ruch esoterischer Beschäftigung zu befreien, und auffallend oft nahm er den Weg über scheinbar abstruse Details, um zu den großen Fragen mittelalterlicher Geschichte – oder der Geschichte überhaupt – vorzustoßen. Auch beschäftigten ihn damals schon wissenschaftsgeschichtliche Fragen, deren Reiz er ebenfalls nahezubringen verstand. Später, in meiner Zeit als Mitarbeiterin der Monumenta in den 90er Jahren, sollten sie einen noch wesentlich höheren Stellenwert für ihn gewinnen. Obwohl gewiss vieles den studentischen Horizont überstieg und sich den Zuhörern in seiner Bedeutung erst im Nachhinein erschloss, fühlten sich die Studenten – um es mit einer modischen Floskel zu sagen – ‚mitgenommen‘. Besser: sie fühlten sich ernstgenommen. Die Seminare Horst Fuhrmanns waren Paradefälle jenes forschenden Lernens, das heute mühsam mit Hilfe einer Exzellenzinitiative für Lehre wieder implementiert werden soll. Aus dem Rückblick will es scheinen, dass ein unterschwelliges Dauerthema seiner auch Studenten mitgeteilten Reflexionen die Gefährdung und Rettung der Monumenta in verschiedenen Momenten ihrer Existenz war. „Da bog die Geschichte noch einmal um die Ecke“ war einer seiner stehenden Kommentare; er galt auch für die Institution, der er selbst vorstand. Dass die Monumenta Germaniae Historica die in ihren Anfängen aufgestellte Prognose einer Bearbeitungszeit von etwa zwei Jahrzehnten schon um ein Mehrfaches überschritten hätten und immer noch kein Ende abzusehen sei, vermochte er mit ironischem Unterton und einem vielsagenden Lächeln je nachdem zu einer Aussage über die Vergeblichkeit menschlichen Strebens oder über den zähen Behauptungswillen von Institutionen zu gestalten. Institutionen betrachtete er freilich bevorzugt in ihren konkreten Vertretern. Höchstleistungen der oft kärglich bezahlten Mitarbeiter früherer Zeiten thematisierte er ebenso wie Versagen: eingestampfte Editionen etwa. Und selbstverständlich reflektierte er besonders gerne über Georg Heinrich Pertz und Paul Fridolin Kehr, jene Präsidenten, die ihn durch Länge der Amtszeit, wissenschaftsorganisatorisches Genie, Überlebenskunst in schwierigen Zeitläuften, aber auch durch blinde Flecken ihres menschlichen Wahrnehmungsvermögens ambivalent beeindruckten. Es drängt sich die Frage auf: Und wie stehen die Monumenta heute, in der Situation des zweiten Präsidentenwechsels nach Fuhrmanns

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Claudia Märtl

Ausscheiden, da? Seit jenem Jahr, da die Monumenta Germaniae Historica – mit Herbert Grundmann gesprochen – „volljährig“ wurden, also den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhielten, ist fast ein halbes Jahrhundert vergangen, und die Vorstellungen von Wert und Organisation von Forschung haben sich seither grundlegend gewandelt. Präsidentenwechsel bedeuteten für die Monumenta meist eine Krise. Das lässt sich zwar sehr gut belegen, die historischen Präzedenzfälle vermögen gleichwohl nur wenig Trost zu spenden, da es in früheren Zeiten auch meist möglich war, sich auf die Präsidentenfrage zu konzentrieren. Die derzeit im Raum stehenden Verschiebungen in der außeruniversitären Forschungslandschaft Bayerns werfen weit darüber hinausgehende Probleme auf, deren Lösung noch nicht abzusehen ist. Dass im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Landeshaushalts für 2013/14 aus dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst zu vernehmen war, es sollten jetzt die außeruniversitären Forschungseinrichtungen besonders gefördert werden, könnte zwar ein Lichtblick sein, allein: „nix Gwiss woaß ma net“, wie man hierzulande sagt. Immerhin erhöht das vielleicht die Möglichkeit, dass die Monumenta Germaniae Historica auch ihren 200. Geburtstag im Jahr 2019 noch erleben. Und damit zurück zu Horst Fuhrmann. Er hatte ein ausgesprochenes Faible für derartige Wendungen, die er sich hin und wieder bemühte auf Bayerisch auszusprechen, genauso wie ihm die bayerische Verwandlung der Vorsilbe „er-“ in „der-“ auffiel, die er bewusst karikierend in Wortprägungen wie „derschöpft“ umsetzte. Überhaupt scheint mir, dass er seine bayerische Umgebung mit dem Interesse eines Ethnologen betrachtete, allerdings nicht geleitet von wissenschaftlicher Kälte, sondern von Neugier und oft von Empathie. Das Wort Marc Blochs, der Historiker sei ein Menschenfresser, und wo er Menschliches nur rieche, da sei er schon zur Stelle, trifft auf Fuhrmann voll zu, und zwar nicht nur auf seine Beschäftigung mit der mittelalterlichen Geschichte. Er hatte ein seismographisches Gespür für menschliche Beziehungen positiver wie negativer Art, registrierte sie aufmerksam, wandte viel Zeit für ihre Pflege auf, hielt auch mit sehr persönlichen Wertungen nicht zurück. Dass der Mensch hin und wieder zur Positionsbestimmung innehalten muss, dass Feier- und Gedenktage nötig sind, dass Verdienste geehrt werden müssen, war eine Überzeugung, die er oft zum

Einleitung

Ausdruck brachte. In nachdrücklicher Erinnerung ist mir eine Seminarsitzung des Jahres 1984, die in der Woche nach der Trauerfeier für Horst Fuhrmanns Lehrer Karl Jordan stattfand. Er war noch ganz erfüllt von dieser Feier, die er als befreiend lebhaft empfunden hatte und von der er geradezu beschwingt sprach, wobei er auch einiges über die von ihm als erzlangweilig geschilderten Lehrveranstaltungen Jordans einfließen ließ, die aber offenbar zu einem starken, nach Jahrzehnten noch reaktivierbaren Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Hörern geführt hatten. Ein ähnlich lebhaftes Gedenken, so vermute ich, hat er sich auch für sich selbst gewünscht. Ich hoffe, es ist den Veranstaltern der Gedenkfeier in der Kaulbachvilla wenigstens ansatzweise gelungen.

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Wilfried Hartmann

Von der Sorge um den rechten Text zur Sorge um die Individualität früherer Menschen Der Historiker Horst Fuhrmann (1926–2011) „Wer die Sorge um den rechten Text aufgibt, … überliefert sich selbst geistiger Verkümmerung, indem er keine andere Lebensform zuläßt und verständlich findet außer der eigenen“1. „… die entscheidenden Entdeckungen sind nicht im Vordergrund des kritischen Apparats, sondern in der Individualität früherer Menschen und Zeiten gemacht worden“2.

Mit diesen beiden Zitaten, die aus Fuhrmanns Ansprache zum 150. Jubiläum der Monumenta Germaniae Historica am 12. März 1969 genommen sind, will ich versuchen, die Spannweite seiner Leistung als Historiker zu umschreiben. Am 9. September 2011 verstarb Dr. Dr. h.c. mult. Horst Fuhrmann im 86. Lebensjahr in Herrsching am Ammersee, nachdem er fast 40 Jahre im nahe gelegenen Steinebach am Wörthsee in einem wunderschön gelegenen Haus gelebt hatte. Anders als die meisten unserer Fachgenossen ist er auch zahlreichen Nicht-Mediävisten bekannt geworden, da er eine ganze Reihe von allgemeinverständlichen Büchern über mittelalterliche Geschichte geschrieben und mit seinen Auftritten in Rundfunk und Fernsehen Ereignisse und Personen aus dem Mittelalter weithin bekannt gemacht hat. Dies war seine Besonderheit: dass er die Fähigkeit besaß, im Gespräch, in Vorträgen und Interviews ein größeres Publikum über die Grenzen der engeren Fachwelt hinaus für seinen Gegenstand zu begeistern. Horst Fuhrmann, am 22. Juni 1926 in Kreuzburg/Oberschlesien geboren, musste seit 1943 zuerst Arbeitsdienst und dann Kriegsdienst leisten; aus einer kurzen Gefangenschaft wurde er nach Kiel entlassen. 1 2

H. Fuhrmann, Die Sorge um den rechten Text, in: DA 25 (1969) S. 16. Ebd. S. 14 f.

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Wilfried Hartmann

Dort konnte er aber nicht den von ihm erträumten Beruf eines Flugzeugkonstrukteurs erlernen, sondern begann nach einem sog. „Vorsemester“ (1945/46) im Sommer-Semester 1946 mit dem Studium der Rechtswissenschaft, das er aber bereits nach einem Semester aufgab, um klassische Philologie und Geschichte zu studieren. Zuerst hatte er vor, eine Doktorarbeit aus dem Bereich der alten Geschichte zu verfassen und zwar über das Thema „Die Religion der germanischen Auxiliartruppen“; als der Doktorvater nach Freiburg abwanderte, ließ Fuhrmann diesen Plan fallen und wandte sich dem Mittelalter zu. Bei dem Kieler Mittelalterhistoriker Karl Jordan (1907–1984) kam er zum ersten Mal mit der Arbeit der Monumenta Germaniae Historica in Berührung, was sein späteres wissenschaftliches Wirken nachhaltig prägen sollte. 1952 wurde er mit einer Dissertation aus dem Bereich des Kirchenrechts promoviert, die unter dem Titel „Studien zur Geschichte der mittelalterlichen Patriarchate“ in drei Jahresbänden der Zeitschrift für Rechtsgeschichte3 publiziert wurde. Was ursprünglich eine Studie über den Patriarchatsplan Adalberts von Bremen († 1072) werden sollte, hatte sich zu einer weit gespannten Untersuchung der Patriarchate überhaupt ausgeweitet, die von der Spätantike ausging, dann die karolingische Zeit behandelte und erst am Ende bei Adalbert von Bremen landete. Bereits in dieser Arbeit beschäftigte sich Fuhrmann mit den falschen Dekretalen Pseudoisidors und ihrer Nachwirkung, die für zwei Jahrzehnte sein großes wissenschaftliches Thema werden sollten. Für seine Dissertation hat Fuhrmann den Fakultätspreis der Universität Kiel erhalten. Nachdem er 1954 das Staatsexamen in den Fächern Latein und Geschichte abgelegt hatte, wurde er für zwei Jahre (bis 1956) Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica in München. Im Jahr 1957 arbeitete er mit einem Stipendium beim Deutschen Historischen Institut in Rom. Von August 1957 bis Ende 1961 war er Assistent in Kiel am Lehrstuhl von Karl Jordan. Im Winter-Semester 1960/61 habilitierte er sich in Kiel und erhielt die Venia legendi für mittlere und neuere Geschichte. Als Habilitationsschrift war ursprünglich eine Untersuchung über die Biographie 3

H. Fuhrmann, Studien zur Geschichte der mittelalterlichen Patriarchate, in: ZRG Kan. 72 (1953) – 74 (1955).

Der Historiker Horst Fuhrmann (1926–2011)

und das Werk Manegolds von Lautenbach (gest. nach 1103) geplant. Den biographischen Teil bekam ich zu lesen, als ich 1967 meine Dissertation über Manegold zu bearbeiten begann, und zwar mit der Auflage, ich solle um die Ausführungen des Doktorvaters „herumschreiben“. Als Habilitationsschrift eingereicht hat Fuhrmann dann Untersuchungen mit dem Titel „Pseudoisidor und seine Gegner bis zum Beginn der Neuzeit. Über den Wandel des kirchlichen Rechts im Mittelalter“, ein Werk, das vor allem die Nachwirkung der bedeutenden Fälschung untersucht, beginnend mit der Rezeption in Rom und in den kirchenrechtlichen Sammlungen über die Streitschriften des Investiturstreits bis zum Dekret Gratians. Die Untersuchung endet mit der Kritik des Nikolaus von Kues an der Echtheit der Dekretalen und mit den Auseinandersetzungen über diese Papstbriefe in der Konfessionspolemik des 16. Jahrhunderts. Als das Werk 1972–74 unter dem Titel „Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit“ in den Schriften der Monumenta gedruckt erschien, hatte sich nicht nur sein Umfang vergrößert, sondern es war auch inhaltlich sehr stark ausgeweitet worden. Allerdings blieben die Kapitel über das hohe und späte Mittelalter ganz beiseite. Das Stellenverzeichnis in Band 3, in dem die Rezeption der pseudoisidorischen Dekretalen in den kirchenrechtlichen Sammlungen bis zu Gratian zusammengestellt wurde, konnte von der Arbeit von ca. einem Dutzend Studenten profitieren, die Horst Fuhrmann in Tübingen für das Kirchenrecht zu begeistern verstanden hatte. Teamarbeit – in jenen Jahren noch keineswegs selbstverständlich im Bereich der Geschichtswissenschaft – war das Stichwort, unter dem auch weitere große Projekte vorangetrieben wurden. Ich erinnere mich noch gut, wie ich als junger Student in die Arbeit am Register der Nachwirkung der pseudoisidorischen Dekretalen und in die Kollationsarbeiten an den zahlreichen Handschriften des Constitutum Constantini, der Konstantinischen Schenkungsurkunde, einbezogen wurde. Die Ausgabe dieser äußerst wirkungsvollen Fälschung konnte 1968 veröffentlicht werden4.

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Das Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung), hg. von H. Fuhrmann (MGH Fontes 10, 1968).

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Die besondere Leistung dieser Edition liegt in dem gelungenen Versuch, die komplizierte Überlieferung und Rezeption dieses weit verbreiteten Textes im kritischen Apparat möglichst vollständig darzustellen: die verschiedenen Versionen werden als Textstufen aufgefasst, in denen die jeweiligen Varianten geboten werden. Damit konnte die räumlich und zeitlich weit gespannte Wirkung dieses Textes dokumentiert und in der zweidimensionalen Form einer Buchseite anschaulich gemacht werden. Auch ein weiteres Editionsprojekt wurde mit studentischer Hilfe in Tübingen und später auch in Regensburg weit vorangetrieben: die Ausgabe der Vita Papst Gregors VII. des bayerischen Klerikers Paul von Bernried; erschienen ist diese Edition, die Fuhrmann schon in den frühen 1950er Jahren übernommen hatte, leider nicht. Im Nachlass konnten jedoch umfangreiche Vorarbeiten und Materialsammlungen gesichert werden, die es hoffentlich ermöglichen, dass diese Ausgabe in absehbarer Zeit erscheinen kann. Diese Editionsunternehmungen waren von zahlreichen Aufsätzen begleitet. Weitere Aufsätze behandeln vor allem das Thema „Gregor VII. und das Zeitalter der Reform“, wobei auch die Geschichte wichtiger Texte bis zu ihren Editionen in der frühen Neuzeit beachtet wurde. Den Höhepunkt seiner Wirksamkeit als Universitätslehrer erreichte Horst Fuhrmann bereits in den Jahren 1962 bis 1971, als er in Tübingen mittelalterliche Geschichte lehrte. Dort, in einer Landschaft, deren Studenten in den 1960er Jahren das Mittelalter noch vielfach als „katholisch“ verstanden, hat Fuhrmann eine erstaunlich große Zahl von jungen Leuten für Themen begeistert, von denen weder sie noch ihre Eltern je etwas gehört hatten. Die Vorlesungen waren anders gestaltet als bei den meisten anderen Professoren: der Zuhörer konnte bemerken, dass sie auf Wirkung hin konzipiert waren, so wurde zum Ende einer Stunde hin Spannung aufgebaut, die erst in der folgenden Vorlesungsstunde aufgelöst wurde. Die Seminare fanden am Freitagabend statt, wobei sich die Teilnehmer auf einen langen Abend einstellen mussten. Auf den Seminarscheinen standen ungewohnte Bewertungen: anstelle von Noten lautete das Zeugnis etwa „mit großem Textverständnis“, „mit Interesse“ oder so ähnlich.

Der Historiker Horst Fuhrmann (1926–2011)

Die 17 in Tübingen abgeschlossenen Dissertationen (Berschin, Hilsch, Stürner, Mordek, Hartmann, John, Setz, Jasper, Petersmann, Brommer, Kreuzer, Schmidt, Richter, Bauer, Horst, Schmitz und Wojtowytsch), zu denen in der Regensburger Zeit (1972 bis 1992) noch sechs weitere hinzukamen (Schneider, Schröder, Märtl, Fuchs, Stratmann, Frauenknecht), sind bleibende Zeugnisse dieses Wirkens. Die Themen stammten meist aus den Forschungsgebieten des Doktorvaters, sie gelten also dem vorgratianischen Kirchenrecht, der Entstehung und der Nachwirkung der Konstantinischen Schenkung, der Geschichte der Konzilien und der Päpste und der Geschichte Gregors VII. und des Investiturstreits. Mit großem Charme, aber auch mit bestimmender Festigkeit hat Horst Fuhrmann seine Themen ausgegeben und betreut. Die bei ihm bearbeiteten Dissertationen wurden meist nach kurzer Bearbeitungszeit abgeschlossen. Seit 1965 war Horst Fuhrmann Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica; bereits kurze Zeit später, im März 1967, wurde er zum Präsidenten vorgeschlagen. Die Wahl fand dann im März 1968 statt. Da die Verhandlungen mit dem Ministerium lange Zeit in Anspruch nahmen, wurde die Amtszeit Herbert Grundmanns zweimal verlängert, zuletzt bis Ende Januar 1970. Von März 1970 bis zum 15. November 1971 musste die Stellvertretung des Präsidenten durch den Juristen Hermann Krause (1902–1991) ausgeübt werden. In seinen Verhandlungen ist es Fuhrmann gelungen, die Aufgeschlossenheit im zuständigen Ministerium für eine spürbare Verbesserung der personellen und finanziellen Ausstattung des Instituts zu nützen: So vermehrte sich die Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter zwischen 1970 und 1975 um vier; 1987 kam eine weitere Stelle hinzu: damit waren 11 wissenschaftliche Mitarbeiter im Münchner Institut tätig. Gleichzeitig mit dem Präsidentenamt übernahm Fuhrmann eine ordentliche Professur an der Universität Regensburg, wo er ein Lehrdeputat von zwei Semesterwochenstunden zu erfüllen hatte. Fuhrmann hatte das Amt des Präsidenten bis zum 31. März 1994 inne und in dieser Zeit hat das Institut große Veränderungen erfahren. Bereits in einem Vortrag anlässlich des 150-jährigen Bestehens der Monumenta, den Fuhrmann als gewählter Präsident im März 1969 im Gebäude der Bayerischen Staatsbibliothek hielt, hat er geradezu pro-

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grammatisch einige Grundzüge seiner „Sorge um den rechten Text“ dargelegt. Unter dem Eindruck der Studentenunruhen, die auch Tübingen erfasst hatten, und ihrer Forderung nach gesellschaftlicher Relevanz der wissenschaftlichen Tätigkeit bestand Fuhrmann auf der Bedeutung der Grundlagenforschung, auf der Achtung vor den Textvarianten nach dem Satz von Max Weber: „Wer nicht die Fähigkeit besitzt, sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt, ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle der Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft ja fern“5. Einige wichtige Leistungen des Präsidenten Fuhrmann für die Monumenta Germaniae Historica seien erwähnt: 1. Die Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Akademien: So wurde 1974 eine Arbeitsstelle bei der Akademie der Wissenschaften in Mainz eingerichtet, die sich mit der Edition der Konzilien des 10. und 11. Jahrhunderts befassen sollte. Nach 1989 gelang es, auch dank des großen Einsatzes von Fuhrmann, die Mitarbeiterstellen bei der Akademie in Berlin (ehemals Berlin-Ost) nicht nur zu erhalten, sondern sogar noch zu vermehren; außerdem war es möglich, bei der Sächsischen Akademie in Leipzig eine Mitarbeiterstelle für die Monumenta-Arbeit einzurichten6. Mit der Akademie in München wurde ein Kooperationsabkommen geschlossen, das es Walter Koch ermöglicht, mit zwei Mitarbeitern die Edition der Urkunden Kaiser Friedrichs II. zu erarbeiten. 2. Es ist auf die stark vermehrte Publikationstätigkeit der Monumenta Germaniae Historica hinzuweisen, die besonders an den unter Fuhrmanns Präsidentschaft begonnenen neuen Reihen abgelesen werden kann: Schon 1975 erschien der erste Band der Reihe Hilfsmittel, die seither für die Forschung wichtige, teilweise umfangreiche und mehrbändige Werke bereit gestellt hat. 1991 erschien der erste Band der „Studien und Texte“, in denen Editionen und Untersuchungen zu Editionen publiziert werden sollten, die für einen Aufsatz im Deutschen Archiv zu umfangreich waren. 5 6

M. Weber, Wissenschaft als Beruf, zitiert in Fuhrmann. Sorge um den rechten Text (wie Anm. 1) S. 13. Die Situation der Zusammenarbeit mit den Akademien im Gebiet der ehemaligen DDR hat H. Fuhrmann, in: DA 50 (1994) S. V beschrieben.

Der Historiker Horst Fuhrmann (1926–2011)

Aber auch die älteren Reihen erhielten vom Präsidenten Fuhrmann nachhaltige Anstöße: Sein besonderes Anliegen war es, die seit 1908 fast ganz zum Erliegen gekommene Editions- und Publikationstätigkeit im Bereich der Concilia wieder aufzunehmen. Zwischen 1984 und 2010 sind vier umfangreiche Bände erschienen; Band 5 wurde Anfang 2013 veröffentlicht; das Programm, die Konzilien bis 1059 herauszugeben, ist damit fast erfüllt. Auch bei den Diplomata wurde eine längere Pause überwunden; hier ist vor allem die Edition der Barbarossa-Urkunden zu erwähnen, die in Wien ausgearbeitet wurde (5 Bände, 1975–1990). Und es war Horst Fuhrmann, der die Edition der Urkunden Friedrichs II. anregte und deren finanzielle Unterstützung durch die Bayerische Akademie der Wissenschaften auf den Weg brachte. 3. Ein weiteres wichtiges Feld der Tätigkeit des Präsidenten Horst Fuhrmann, das eng mit der angestiegenen Zahl von neuen Editionsbänden zusammenhängt, war die Klärung des Verhältnisses zu den Verlagen, denn aus historischen Gründen waren mehrere Verlage für die verschiedenen Reihen im Programm der Monumenta Germaniae Historica zuständig. Da die älteren Monumenta-Editionen als Nachdrucke verfügbar sein sollten, musste mit den Verlagen ein Einvernehmen über Auflagenhöhe und Preisgestaltung erzielt werden. Dabei kam es zu Problemen vor allem mit der Weidmannschen Verlagsbuchhandlung; da kein Einvernehmen hergestellt werden konnte, wurde die Zusammenarbeit aufgekündigt. Fast 10 Jahre, von 1972 bis 1980, zog sich die gerichtliche Auseinandersetzung hin. Um für Nachdrucke und für die Publikation neuer Werke freie Hand zu haben, wurde 1975 ein Selbstverlag der Monumenta gegründet, in dem einige Einzelwerke, später ganze Reihen, wie die Studien und Texte, erschienen. Der lange Kampf mit dem Weidmann-Verlag konnte schließlich erfolgreich abgeschlossen werden. Die Beziehungen zu den Verlagen wurden vereinfacht, und es blieb ein einziger Verlag übrig, bei dem neue Editionen erscheinen: die Hahnsche Buchhandlung in Hannover, mit der die Monumenta schon seit 1824 zusammengearbeitet hatten. 4. In den 1980er Jahren begann die elektronische Datenverarbeitung nach und nach die Büros und auch die Wissenschaft zu verändern. Zum ersten Mal ist im Jahresbericht zu 1984/85 davon die Rede, und es wird schon hier auf die Möglichkeiten, aber auch auf die Grenzen der

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neuen Technik hingewiesen. Fuhrmann selbst hat es nie gelernt, einen Computer zu bedienen, aber er unterstützte die Aktivitäten von Timothy Reuter (1947–2002), der schon bald dafür sorgte, dass die ersten Editionen mit Textverarbeitungsprogrammen erarbeitet werden konnten. Mit Hilfe der EDV wurden Konkordanzen zu den Briefen der Päpste und der Kanonessammlung der Dionysio-Hadriana hergestellt und wenigstens für den internen Gebrauch bereitgehalten. Und auf Fuhrmann geht der Plan zurück, die gesamten in den Bänden der MGH gesammelten Texte elektronisch verfügbar zu machen. 5. Auch auf einem anderen Gebiet sind Initiative und Einsatz des Präsidenten erkennbar, nämlich bei der Verbesserung der Außenwirkung des Instituts, das jetzt zum ersten Mal überhaupt in der Öffentlichkeit sichtbar wurde. Der erste Auftritt der Monumentisten vor einer größeren Fachöffentlichkeit war eine eigene Sektion auf dem Historikertag in Mannheim 1976, als mehrere Mitarbeiter aus München sowie auswärtige Editoren aus Freiburg und Göttingen auftraten und über ihre Arbeit berichteten, was erstaunlich viel Resonanz fand. Fuhrmann hat selbst einen Vortrag „Über Ziel und Aussehen von Texteditionen“ beigesteuert, in dem vor allem praktische Fragen der Editionstechnik angesprochen wurden. Der Höhepunkt dieser Offensive war der Fälscherkongress vom September 1986. Die Anzahl der Teilnehmer war für einen dem Mittelalter gewidmeten wissenschaftlichen Kongress so hoch wie noch nie: die Liste der Teilnehmer nennt 545 Namen7. Besonders interessant ist – das war 1986 noch nicht selbstverständlich – , dass aus dem damals noch „Ostblock“ genannten Ostmitteleuropa eine große Zahl von Teilnehmern angereist war. Mit der Bedeutung und dem Sinn von Fälschungen im Mittelalter hatte sich Horst Fuhrmann schon seit seiner Habilitationsschrift über die Großfälschung der Pseudoisidorischen Dekretalen beschäftigt. 1962 hatte er auf dem Historikertag in Duisburg teilweise heftige Kontroversen mit Karl Bosl und Hans Patze über den mittelalterlichen

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Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München 16.–19. September 1986 (Schriften der MGH 33, 1, 1988) S. 41–48.

Der Historiker Horst Fuhrmann (1926–2011)

Wahrheitsbegriff ausgetragen8. Und auf dem Internationalen Kongress für Geschichtswissenschaften (1985 in Stuttgart) hat Fuhrmann, ausgehend von dem damals aktuellen Skandal der gefälschten Hitler-Tagebücher über das Thema „Mundus vult decipi“ gesprochen9. Auf dem Fälscherkongress der MGH sprach er dann über das Thema „Von der Wahrheit der Fälscher“10. Nicht erst mit dem Fälscherkongress setzte die internationale Wirksamkeit und Wirkung Horst Fuhrmanns ein. Eine besonders enge Beziehung verband Fuhrmann mit Italien: Für seine Habilitationsschrift hatte er bereits 1962 den Premio Spoleto erhalten, 1981 erhielt er als erster Ausländer die Auszeichnung „Cultore di Roma“, 1982 wurde ihm in Bologna ein Ehrendoktorat der Juristischen Fakultät verliehen und 1990 wurde er in Ascoli Piceno mit dem Internationalen Preis für Historische Essayistik geehrt. Eng war auch die Verbindung mit der Gelehrtengemeinschaft in den Vereinigten Staaten: Bereits 1966 wurde in das Advisory Board of the Institute of Medieval Canon Law in Berkeley/Kalifornien aufgenommen; 1985 wurde er Mitglied der Medieval Academy of America und 1992 erhielt er ein Ehrendoktorat der Columbia University in New York. Die über den Kreis der Historiker hinausgehende überfachliche Bedeutung Fuhrmanns in Deutschland zeigt sich in seiner Mitgliedschaft in einer Reihe von Akademien und Beiräten: Nachdem er bereits 1972 in die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt worden war, wurde er 1974 Ordentliches Mitglied dieser Akademie; in den Jahren 1992–1997 war er ihr Präsident. Besonders wichtig war für Horst Fuhrmann die Aufnahme in den Orden Pour le mérite (1986); aus dieser Mitgliedschaft ging eine ganze Reihe von Publikationen hervor, von denen das Bändchen „Pour le 8 Vgl. H. Fuhrmann, Die Fälschungen im Mittelalter. Überlegungen zum mittelalterlichen Wahrheitsbegriff, in: HZ 197 (1963) S. 529–554. Erweitert ist dieser Aufsatz wieder abgedruckt in Einfluss und Verbreitung (wie oben Anm. 5) 1 S. 64–136. 9 Gedruckt in: HZ 241 (1985) S. 529–541. 10 Gedruckt im Sammelwerk Fälschungen im Mittelalter, Bd. 1 (Schriften der MGH 33,1, 1988) S. 83–98.

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mérite. Über die Sichtbarmachung von Verdiensten. Eine historische Besinnung“ genannt sei, das 1992 zur Feier des 150-jährigen Bestehens der Friedensklasse dieses Ordens erschienen ist. Stark geprägt durch Fuhrmann wurde das Historische Kolleg in München, dessen Kuratorium er von 1984 bis 1997 vorstand. Sein ganz persönliches Engagement für die Renovierung des Gebäudes hat maßgeblich dazu beigetragen, dass diese 1988 der Sitz dieser Institution werden konnte. Jedes Mal, wenn ich diesen Raum betrete, höre ich Fuhrmanns Stimme, die mir erklärt, das die Decke „ochsenblutrot“ gestrichen wurde. Ausschlaggebend für diese ungewöhnliche Außenwirkung waren eine Reihe von Aufsätzen und Büchern, die Fuhrmann in seinen Jahren als Präsident schrieb und publizierte. Den Anfang machte der Beitrag „Das Mittelalter – Lebensformen und Leitideen“, der 1977 erschienen ist. 1978 wurde die „Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter (Mitte des 11. bis Ende 12. Jahrhunderts)“ veröffentlicht, die aus Vorlesungen hervorgegangen war und einen neuen Ansatz bot: So enthielt dieses Buch einen langen Vorspann über „Raum, Zeit, Mensch“, angeregt durch die Werke der französischen Annales-Schule. Auf theoretische Überlegungen, die zu dieser Einbeziehung der Alltagsgeschichte führten, ist er aber – bezeichnenderweise – nicht eingegangen. Überhaupt lehnte es Fuhrmann ab, sich um die Theorie, um eine „abstrakte Methodologie“ zu kümmern; oft zitierte er zustimmend das Wort des klassischen Philologen Gottfried Hermann (1772–1848): „Wer von der Sache nichts versteht, der spricht über die Methode“. Es war wohl weniger ein methodischer Anstoß, den Fuhrmann mit dieser Publikation einzulösen begann, sondern die Absicht, dem Vorwurf gegen die deutsche Geschichtswissenschaft zu begegnen, der da lautet, die deutschen Historiker verschmähten es, für ein breiteres Publikum zu schreiben. Einen Durchbruch für das Interesse der Öffentlichkeit am Mittelalter hatte zum ersten Mal die Stauferausstellung in Stuttgart 1977 gebracht. International noch stärker war die Resonanz des Romans ‚Der Name der Rose‘ von Umberto Eco (italienisch zuerst 1980, deutsch 1982; seither sind zahlreiche Auflagen in vielen Sprachen erschienen); er hat das Mittelalter wieder literaturfähig gemacht; bis heute erscheinen zahllose historische Romane, die im Mittelalter spielen oder zu

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spielen vorgeben. Eco hat beim Fälscherkongress den Einführungsvortrag gehalten und sein Roman kam zu der für ein nicht-wissenschaftliches Buch ganz außergewöhnlichen Ehre, dass es im Deutschen Archiv angezeigt wurde; Horst Fuhrmann hat die Anzeige mit kundigem Witz selbst geschrieben11. Das nächste Werk, das Fuhrmann für ein breiteres Publikum verfasste, ist das 1980 erstmals erschienene Buch „Das Papsttum – Gestalt und Gestalten“. Es behandelt nicht allein das Mittelalter, sondern umfasst neben ausgewählten Kapiteln aus dem Bereich der alten Kirche auch die Neuzeit und sogar die Gegenwart. Das Buch ist aus einer Reihe von Rundfunkvorträgen über Päpste hervorgegangen. Es wurde zuletzt 2005 in neuer Gestalt unter dem Titel „Die Päpste. Von Petrus zu Benedikt XVI.“ veröffentlicht und enthält auch ein interessantes Kapitel über ‚Papstgeschichtsschreibung einst und jetzt‘. 1987 erschien erstmals Fuhrmanns Buch ‚Einladung ins Mittelalter‘, das bis heute auch als Paperback zahlreiche Leser gefunden hat und findet. Hier wurde eine Reihe von älteren Studien aufgenommen und überarbeitet, einmal biographische Essays und zum andern kenntnisreiche Erklärungen mittelalterlicher Vorgänge und Begriffe. Fast zehn Jahre später hatten sich neue Studien angesammelt, die 1996 in dem Buch mit dem geradezu sprichwortartigen Titel ‚Überall ist Mittelalter‘ zusammengestellt wurden. Diese Bücher erlebten mehrere Auflagen und wurden in zahlreiche Sprachen (bis hin zum Koreanischen) übersetzt. Eine an Geschichte interessierte Öffentlichkeit erreichte Horst Fuhrmann auch durch seine Vorträge in Rundfunk und Fernsehen über historische Themen und auch durch mehrere Interviews, die noch heute im Internet angesehen und angehört werden können. Bis ins hohe Alter war Fuhrmann ein gefragter Redner vor fachlichem und überfachlichem Publikum, das er mit seinen sorgfältig formulierten und glänzend vorgetragenen Reden zu faszinieren verstand. Als Beispiel sei der Vortrag ‚Cicero und das Seelenheil oder Wie kam die heidnische Antike durch das christliche Mittelalter?‘ genannt, der 2003 gehalten und als eigenes Büchlein publiziert wurde.

11 DA 39 (1983) S. 718 f.

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Schon über 10 Jahre zuvor hatte Fuhrmann damit begonnen, sich ein neues Feld der Forschung und Darstellung zu erschließen: 1996 erschien unter dem Goethewort „Sind eben alles Menschen gewesen“ ein Buch, in dem Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter dargestellt werden. Dabei strebte Fuhrmann keine vollständigen Lebensbeschreibungen an, sondern es gelang ihm, in biographischen Skizzen wesentliche Züge der Persönlichkeit der behandelten Menschen zu erfassen. 2001 wurde ein weiteres Buch ähnlichen Inhalts veröffentlicht: ‚Menschen und Meriten. Eine persönliche Portraitgalerie‘, die Fuhrmann unter das Wort von Ralph W. Emerson stellte: „Es gibt eigentlich keine Geschichte, nur Biographie“. In all diesen biographischen Skizzen zeigt sich besonders schön die Fähigkeit ihres Autors, durch glücklich ausgewählte Zitate ein lebendiges Bild der dargestellten Personen entstehen zu lassen. In dieser Hinwendung zum Biographischen, zur „Individualität früherer Menschen“, wird auch Fuhrmanns Abkehr vom Mittelalter und von der spezialistischen „Sorge um den rechten Text“ deutlich, die seine letzten aktiven Jahre kennzeichnet: das Mittelalter hatte „ein gebrochenes Verhältnis zum irdischen Leben und zu menschlichen Taten“12 und es gibt aus dieser Epoche nur wenig autobiographische oder biographische Werke. Aus den biographischen Arbeiten Fuhrmanns werden auch seine Vorbilder als Historiker und als Wissenschaftsorganisator gut erkennbar: Da war einmal Jacob Burckhardt und zum andern Paul Fridolin Kehr und damit zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Auf der einen Seite steht der eigenständige und von seinen Fachgenossen geradezu übersehene Schweizer. Er dürfte Fuhrmann als Mann der gesprochenen Rede und der Sentenz besonders nahe gewesen sein, weniger aber mit seinem „Abseitsstehen“, obwohl Fuhrmann die immer stärker sich bemerkbar machende Geschäftigkeit vieler Kollegen nicht schätzte. Er war sich zwar darüber klar, dass man als junger Gelehrter, wenn man es zu etwas bringen wollte, auf Tagungen „tönen“ musste, aber er fuhr nicht gern auf eine Spezialistentagung – etwa auf die Reichenau.

12 Vgl. Menschen und Meriten S. 9.

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Auf der anderen Seite interessierte sich Fuhrmann sehr für Paul Fridolin Kehr, den er mit viel Sympathie, wenn auch nicht ohne Kritik beschrieben hat als einen großen Organisator, einen Antreiber seiner Mitarbeiter, aber auch als einen erfolgreichen Einwerber von Geldern. Fast gleichzeitig ist ein verstärktes Interesse für die alte Heimat in Schlesien erkennbar. Die Entstehung des 1989 erschienenen Buchs ‚Fern von gebildeten Menschen‘, in dem der Briefwechsel Jacob Burckhardts mit seinem Neffen Johann Jacob Oeri, den es ins ferne Kreuzburg verschlagen hatte, publiziert und kommentiert wurde, ist noch gut zu erklären aus Fuhrmanns Vorliebe für den großen Basler Historiker. Anderes folgte, so einige Aufsätze zur jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, über jüdische Persönlichkeiten, die mit seiner Heimatstadt Kreuzburg in Oberschlesien in Verbindung standen. Das gilt etwa für den Heereslieferanten Simon Cohn (1833–1892) und für die aus Oberschlesien nach München gekommene Familie Pringsheim. Diese Hinwendung zur neueren und neuesten Geschichte, zur Wissenschaftsgeschichte, zu einigen Aspekten seiner schlesischen Herkunft, zur Geschichte des Judentums: ist das ein Ausdruck dafür, dass Fuhrmann in seinen späteren Jahren nicht mehr glaubte, dass das Spezialistentum im Bereich der mittelalterlichen Geschichte, vor allem die mühevolle Erarbeitung von Editionen ein ihn befriedigendes Geschäft sein konnte? Anlässlich des Kolloquiums zu seinem 75. Geburtstag, das Ende Juli 2001 in Tübingen stattfand, hat Fuhrmann nicht nur einen Vortrag über die neuesten Forschungen zu Pseudoisidor beigesteuert13, sondern auch am Ende der Veranstaltung ein Statement abgegeben, wonach die „Sorge um den rechten Text“ eine zeitlich und räumlich begrenzte Tätigkeit ist, die in anderen Zivilisationen, etwa in China, keinerlei Bedeutung besitzt. Dass auch die hingebungsvolle Beschäftigung mit Textkritik ein veränderliches, an bestimmte historische Konstellationen gebundenes und kein dauerndes Tun des Menschen ist,

13 H. Fuhrmann, Stand, Aufgaben und Perspektiven der Pseudoisidorforschung, in: W. Hartmann/G. Schmitz (Hg.), Fortschritt durch Fälschungen? Ursprung, Gestalt und Wirkungen der pseudoisidorischen Fälschungen. Beiträge zum gleichnamigen Symposium an der Universität Tübingen vom 27. und 28. Juli 2001 (MGH Studien und Texte 31, 2002) S. 227–262.

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hatte Fuhrmann bereits 1969 in seinem Vortrag über „Die Sorge um den rechten Text“ angedeutet. Ob wegen dieser Skepsis, die sich möglicherweise im Laufe der Jahre gesteigert hatte, auch das Pseudoisidor-Buch nicht weitergeführt wurde und die Kapitel über Pseudoisidor in den Streitschriften des Investiturstreits oder bei Nikolaus von Kues nicht ausgearbeitet und veröffentlicht wurden? Auch die „durchschossenen“ Exemplare, die Horst Fuhrmann von seinen Aufsätzen und Büchern herstellen ließ, um fast auf jeder Seite neue Erkenntnisse aus der Literatur oder Zusätze einzutragen, sind erst jetzt im Nachlass wieder aufgetaucht; nur ganz selten hat Fuhrmann selbst diese ungeheure Mühe, die in diesen Vorarbeiten für eine Neubearbeitung steckt, in eine neue Auflage einfließen lassen (eigentlich nur bei seinem „Papstbuch“). Vielleicht kann eine Bemerkung in Fuhrmanns Aufsatz über ‚Jacob Burckhardt und die Historiker‘ seine Haltung verständlich machen. Dort schreibt er: „Die erforschte Wahrheit aber, sie ist keine auf den Menschen bezogene Wahrheit: es ist die buchstabenbezogene, auf Einzelheiten gehende Präzision“14. Und diese Präzision, so sehr sie Fuhrmanns Anliegen war vom Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit an; sie genügte ihm nicht. Denn ganz im Zentrum seiner wissenschaftlichen und organisierenden Tätigkeit stand das Interesse an den Menschen. Fuhrmann sprach gern, viel und vor allem laut, man wusste immer, wenn er im Institut anwesend war. Aber er war kein monomaner Selbstdarsteller, sondern ein am andern und an dessen Leben und Meinung sehr interessierter und zugewandter Mensch. Seine große Neugier bewies er nicht nur in seiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern genauso in seinen Gesprächen. Er interessierte sich für persönliche Lebensumstände und Probleme der Mitarbeiter im Institut und erstaunte seine Gesprächspartner auch hier mit seinem vorzüglichen Gedächtnis. Schon der Student empfand die Gespräche mit dem Professor ganz frei von Ordinariendünkel; er gewann den Eindruck, er werde als gleichberechtigter Gesprächspartner ernst genommen. Das heißt aber nicht, dass Fuhrmann nicht sehr empfindlich war, wenn er den Eindruck gewann, der gebotene Abstand sei verletzt worden; in solchen Fällen 14 Horst Fuhrmann, Jacob Burckhardt und die Historiker, in: H.F., Menschen und Meriten. Eine persönliche Portraitgalerie (2001) S. 250 f.

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machte er rasch deutlich, dass das Gegenüber eine Grenze überschritten hatte. Die im Kern konservative Haltung wurde in der Zeit der Unruhen von 1968 recht deutlich. Vehement sprach Fuhrmann sich gegen Mitsprache und Mitbestimmung der Studierenden und der Mitarbeiter aus. Andererseits übte er keine „Repressionen“ aus, wenn sein Assistent die Versammlungen der Assistentenvertreter besuchte und dort aktiv wurde. Was die Mitbestimmung der Mitarbeiter im Münchner Institut angeht, so war Fuhrmanns Haltung unverändert: Er lehnte die Forderung ab, dass die Mitarbeiter durch einen Vertreter in der Zentraldirektion der Monumenta repräsentiert sein sollten. Mit seiner ausgesprochenen Billigung blieb es dabei, dass das Institut oder seine Mitarbeiter in der Satzung der Körperschaft des öffentlichen Rechts, die die Monumenta Germaniae Historica seit 1963 sind, nicht vorkommen. Dennoch fand eine gewisse Öffnung statt: seit 1974 durfte der Geschäftsführer als Protokollant an den Sitzungen der Zentraldirektion teilnehmen. Und bald darauf wurde den Mitarbeitern die Gelegenheit gegeben, vor der Zentraldirektion persönlich über ihre Arbeit zu berichten und auf Kritik reagieren zu können. Die menschliche Zuwendung, die alle – auch die nicht-wissenschaftlichen – Mitarbeiter am Institut erfuhren, zeigte sich z. B. in den gemeinsamen Mittagessen. So ging der Präsident etwa zusammen mit einigen Mitarbeitern zum Chinesischen Turm, um dort Schweinshaxe zu essen, was ihm – wie er sagte – zuhause nicht gestattet war. Und wenn das Messer aus Plastik der Haxe nicht gewachsen war, sondern zerbrach, was die dabei sitzenden jüngeren Kollegen in Probleme gestürzt hätte, zog er stolz sein Taschenmesser aus der Hose und schnitt damit weiter. Fuhrmanns Freude daran, sich mitzuteilen, andere zu informieren und einzubeziehen, zeigt sich vor allem auch in seiner riesigen Korrespondenz, mit deren Abwicklung zeitweise mehrere Sekretärinnen beschäftigt waren. Er lebte noch ganz im Zeitalter des Briefeschreibens und viele dieser Briefe lassen den Menschen Horst Fuhrmann gut erkennen: dem anderen zugewandt, an ihm interessiert, Anteil nehmend auch an

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den alltäglichen Sorgen. Am Ende dieses Gedenkens an Horst Fuhrmann soll daher noch einmal das Humboldt-Wort stehen, das Fuhrmann auch im Vorwort zu seinen ‚Menschen und Meriten‘ zitiert: „Im Grunde sind es doch Verbindungen mit Menschen, welche dem Leben seinen Wert geben“15.

Dissertationen bei Horst Fuhrmann Walter Berschin – (1966): Bonizo von Sutri. Leben und Werk (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 2, 1972) Peter Hilsch – (1966): Die Bischöfe von Prag in der frühen Stauferzeit. Ihre Stellung zwischen Reichs- und Landesgewalt von Daniel I. (1148–1167) bis Heinrich (1182–1197) (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 22, 1969) Wolfgang Stürner – (1968): Die Quellen der Fides Konstantins im Constitutum Constantini (§§ 3–5), in: ZRG Kan. 55 (1969) S. 64–206 Hubert Mordek – (1969): Die Rechtssammlungen der Handschrift von Bonneval – ein Werk der karolingischen Reform, in: DA 24 (1968) S. 339–434 Wilfried Hartmann – (1969): Manegold von Lautenbach und die Anfänge der Frühscholastik, in: DA 26 (1970) S. 47–149 Herwig John – (1971): Collectio canonum Remedio Curiensi episcopo perperam ascripta, hg. von H. John (Monumenta iuris canonici, Ser. B, Corpus collectionum 2, 1976) 15 Dort zitiert auf S. 10. Wilhelm von Humboldt, Briefe an eine Freundin, 21. Sept. 1827.

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Wolfram Setz – (1971): Lorenzo Vallas Schrift gegen die konstantinische Schenkung. De falso credita et ementita Constantini donatione. Zur Interpretation und Wirkungsgeschichte (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 44, 1975) Johanna Petersmann – (1972): Die kanonistische Überlieferung des Constitutum Constantini bis zum Dekret Gratians, in: DA 30 (1974) S. 356–449 Detlev Jasper – (1972): Die Papstgeschichte des Pseudo-Liudprand, in: DA 31 (1975) S. 17– 107 Peter Brommer – (1972): (1. Teil): Die bischöfliche Gesetzgebung Theodulfs von Orléans, in: ZRG Kan. 60 (1974), S. 1–120 und (2. Teil): Die Rezeption der bischöflichen Kapitularien Theodulfs von Orléans, in: ZRG Kan. 61 (1975) S. 113–160 Georg Kreuzer – (1972): Die Honoriusfrage im Mittelalter und in der Neuzeit (Päpste und Papsttum 8, 1975) Tilmann Schmidt – (1973): Alexander II. und die römische Reformgruppe seiner Zeit (Päpste und Papsttum 11, 1977) Joachim Richter – (1973): Stufen pseudoisidorischer Verfälschung. Untersuchungen zum Konzilsteil der pseudoisidorischen Dekretalen, in: ZRG Kan. 64 (1978) S. 1–72 Joachim Bauer – (1974): Die Schrift „De pressuris ecclesiasticis“ des Bischofs Atto von Vercelli. Untersuchung und Edition (1975)

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Uwe Horst – (1975): Die Kanonessammlung Polycarpus des Gregor von S. Grisogono (MGH Hilfsmittel 5, 1980) Gerhard Schmitz – (1976): Das Konzil von Trosly (909). Überlieferung und Quellen, in: DA 33 (1977) S. 341–434 Myron Wojtowytsch – (1978): Papsttum und Konzile von den Anfängen bis zu Leo I. (440–461). Studien zur Entstehung der Überordnung des Papstes über Konzile (Päpste und Papsttum 17, 1981) Isolde Schröder – (1978): Die westfränkischen Synoden von 888 bis 987 und ihre Überlieferung (MGH Hilfsmittel 3, 1980) Herbert Schneider – (1979): Die Konzilsordines des Früh- und Hochmittelalters, hg. von Herbert Schneider. (MGH Ordines de celebrando concilio, 1996) Claudia Märtl – (1984): Die falschen Investiturprivilegien, hg. von Claudia Märtl (MGH Fontes 13, 1986) Franz Fuchs – (1987): Bildung und Wissenschaft in Regensburg : neue Forschungen und Texte aus St. Mang in Stadtamhof (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 13, 1989) Wilhelm Stratmann – (1988): Gabriel Bucelin und die Vita des Ulrich von Zell (Microfiche 1988). Erwin Frauenknecht – (1994/95): Die Verteidigung der Priesterehe in der Reformzeit (MGH Studien und Texte 16, 1997)

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Horst Fuhrmann und Tübingen Mit herzlichen Grüßen und häufig an Tübingen denkend schloss Horst Fuhrmann einen Brief vom 28. Mai 1972 an die Tübinger Fachschaftssekretärin, Frau Fees1. Da lagen die neun Jahre seines Wirkens in der Universitätsstadt am Neckar vom Wintersemester 1962/63 bis zum Sommersemester 1971 (1.9.1962–13.10.1971) erst wenige Monate hinter ihm. Nach seiner Habilitation im Wintersemester 1960/61 in Kiel war er im März 1962 auf den in Tübingen neu geschaffenen, zweiten Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte berufen worden. Aus Kiel brachte er Hubert Mordek als wissenschaftliche Hilfskraft mit nach Tübingen. Zur Besetzung der zweiten Hilfskraftstelle hatte er sich noch von Kiel aus an das Historische Seminar in Tübingen um Unterstützung gewandt. Daraufhin wurde ihm von Gerhard Baaken2 Peter Hilsch empfohlen. Er wurde eingestellt und war – ein Kuriosum – schon Fuhrmannsche Hilfskraft, ehe der Professor selbst in Tübingen eintraf. Der im Jahre 2006 verstorbene Mordek3 und Hilsch waren also die ersten Mitarbeiter und Schüler Fuhrmanns in Tübingen. 1

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Leicht überarbeitete und ergänzte Fassung des Vortrags vom 13.7.2012. – Zitat aus: Korrespondenz Fuhrmanns mit Tübinger Adressaten oder Betreffen (1 Ordner bei den MGH). Gerhard Baaken (1927 Straelen – 2010 Tübingen) war nach dem Studium der Philologie und Geschichte in Köln, Marburg und Tübingen 1958 von Heinrich Dannenbauer in Tübingen promoviert worden. Als Fuhrmann nach Tübingen berufen wurde, war er wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar. Er hatte später eine Professur für mittlere und neuere Geschichte und verschiedene Ämter in der akademischen Selbstverwaltung in Tübingen inne und war Mitarbeiter der Regesta Imperii. – Imperium und Papsttum. Zur Geschichte des 12. und 13. Jahrhunderts. Festschrift zum 70. Geburtstag, hg. v. Karl-August Frech (1997). – Peter Hilsch, Nachruf Pädagogische Geradlinigkeit und ausgefeilte Didaktik; in: Newsletter Universität Tübingen aktuell Nr. 2/2010. Hubert Mordek (1939 Namslau/Schlesien – 2006 Karlsbad bei Karlsruhe) studierte an den Universitäten Kiel, Würzburg und Tübingen Geschichte,

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Eine Rückschau auf Horst Fuhrmanns Tübinger Zeit sollte sinnvollerweise von jemandem gehalten werden, der eine möglichst lange Zeitspanne mit ihm und in seiner Umgebung verbracht hat. Insofern wäre Peter Hilsch dafür die Idealbesetzung gewesen. Da er wegen einer Terminüberschneidung die Aufgabe nicht übernehmen konnte, fiel die Wahl auf mich. Meine Verbindung mit Horst Fuhrmann begann mit der Teilnahme am Oberseminar im Wintersemester 1963/64. Er hat mich wie wohl die meisten seiner Schüler in der Studienzeit und bis hin zur Berufswahl geprägt und gefördert. Die Erinnerungen sind zwar lebendig, doch bemerkt man die Lücken erst, wenn man versucht, ein möglichst vollständiges Bild zu zeichnen. Unterlagen über das nun über 40 Jahre zurückliegende Wirken Fuhrmanns in Tübingen vor Ort sind offensichtlich spärlich. Es kam mir allerdings zustatten, dass ich meine Skripten und andere Materialien aus den Tübinger Zeiten noch nicht kassiert habe. Ergänzungen, Richtigstellungen und Bereicherung der eigenen Erinnerung steuerten „alte“ Tübinger Kollegen bei.4 So will ich versuchen, über Horst Fuhrmann und Tübingen aus der zweifellos auch subjektiven Sicht des Studenten und „wissenschaftlichen Hilfsassistenten“ (wie es damals hieß) zu berichten und gleich mit einem Fuhrmann-Zitat beginnen: Dieses Buch ist Ersatz für ein besseres, beginnt Fuhrmann überraschend das Vorwort zu seinem weitgehend in Tübingen entstandenen Werk über Einfluss und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit. Eine der für ihn typischen, wohl auch ironischen Formulierungen. Ich erlaube mir, sie auf meine Bemühungen zu adaptieren: Dieser Bericht ist Ersatz für einen besseren.

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Latein und Philosophie. 1969 wurde er mit einer von Fuhrmann betreuten Dissertation über Die Rechtssammlungen der Handschrift von Bonneval – Ein Werk der karolingischen Reform in Tübingen promoviert, 1975 erfolgte ebendort die Habilitation. Seit 1978 hatte er einen Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Freiburg im Breisgau inne. – Vgl. den Nachruf von H. Fuhrmann in: DA 62 (2006) S. 877–879. Im Universitätsarchiv Tübingen liegen Fuhrmanns Personalakten der Philosophischen Fakultät (UAT 131/467) und des Rektoramtes (UAT 193/58) vor, beide mit begrenztem Informationswert. Wilfried Hartmann, Peter Hilsch, Georg Kreutzer, Johanna Petersmann und Gerhard Schmitz danke ich für bereitwillige Auskünfte.

Horst Fuhrmann und Tübingen

Als Horst Fuhrmann Ordinarius in Tübingen wurde, war er 36 Jahre alt, damit gerade etwa 12 bis 16 Jahre älter als seine ersten Schüler. Er entsprach nicht dem damals verbreiteten Professorentypus: im Habitus wirkte er eher burschikos und frisch. Offen, ja geradezu fröhlich begegnete er seinem studentischen Gegenüber, nahm diesem die Scheu vor der Respektsperson, strahlte aber zugleich Autorität aus. In die Vorlesungen und ins Seminar fuhr er – damals völlig unüblich für seinen Stand – quer durch Tübingen mit dem Fahrrad. Einigen bleibt unvergessen, wie er, wenn er die vom Neckar her steil ansteigende Mühlstraße schiebend hinter sich gebracht hatte, am Schimpfeck (an dem anfangs noch ein Polizist auf einer Kanzel mitten in der Kreuzung den Verkehr regelte) sich wieder auf das Rad schwang. Noch Jahre nach seinem Weggang aus Tübingen erinnerte sich die örtliche Presse seiner, indem sie die sprichwörtliche Einheit von Fuhrmann und Fahrrad beschwor und ihn exemplarisch als umweltfreundlichen Radler herausstellte.5 Sein Dienstsitz war das Historische Seminar im Hegelbau, einem Kollegzweckbau der späten 50er Jahre, der an der Wilhelmstraße in der Nachbarschaft der Universitätsbibliothek gelegen ist. Im ersten Stock des Nordostflügels waren damals vorn das Seminar für Neuere und hinten das für Mittelalterliche Geschichte mit ihren Dienstzimmern, Übungsräumen und Seminarbibliotheken untergebracht. Fuhrmann teilte sich die Räume des Mittelalter-Seminars mit Heinz Löwe, der seit 1961 den anderen Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters innehatte.6 Zusätzliche Räume für die Hilfskräfte beider Lehrstühle standen im Kellergeschoss zur Verfügung. Wenn Fuhrmann zugegen war, war der hintere Teil des Flurs erfüllt von seinem kräftigen Organ und 5 6

„personalie“ in: Schwäbisches Tagblatt 20.8.1979. Der nicht zuletzt als Bearbeiter von Band 6 von Wattenbach/Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter (1990) bekannte Heinz Löwe (1913 Berlin–1991 Tübingen), seit 1953 Lehrstuhlinhaber in Erlangen, wurde 1961 auf den sogenannten Johannes-Haller-Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Tübingen berufen, den er bis 1978 innehatte. Seit 1962 war er Mitglied der Zentraldirektion der MGH. – Tilman Struve, Von der Wirklichkeit der Ideen. Zum Gedenken an den Historiker Heinz Löwe (1913–1991); in: Baustein zur Tübinger Universitätsgeschichte 6 (1992) S. 127–144.

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seinem herzhaften Lachen, die auch durch die Tür seines Büros drangen. So erübrigte sich die Frage, ob er da sei, auch wenn man ihn nicht sah, von selbst. Diese Klänge waren so charakteristisch, dass ihm eine Doktorandin, mit der er am 2.4.1973 ein Gespräch in Tübingen führen wollte, schreiben konnte, sie werde gegen 11 h im Historischen Seminar auf der Lauer liegen nach der gewohnten Stimme. Eine bildhafte Formulierung übrigens, die auch von ihm selbst stammen könnte. Die Privatadresse war Biesingerstraße Nr. 9. Die Biesingerstraße, eine westliche Verlängerung der am evangelische Stift beginnenden Neckarhalde, zieht, parallel zum Neckar und unweit des Flusses verlaufend, am Hang des Spitzbergs hinauf und ist überwiegend mit älteren Villen gesäumt. Das Gebäude Nr. 9 ist, ganz in dieses Ambiente passend, eine wohl um 1900 von dem Tübinger Rechtswissenschaftler Max von Rümelin im Heimatstil gebaute Villa mit einem repräsentativen Vestibül, an dessen Wänden eine Holztreppe in die oberen Stockwerke führt.7 Familie Fuhrmann bewohnte das zweite Obergeschoss, von dem aus man einen ungestörten Blick nach Süden auf das Panorama der Schwäbischen Alb hat. Auch das Arbeitszimmer ging nach Süden. Der Student traf seinen Lehrer hier bei gelegentlichen dienstlichen Besuchen dem Gelehrtenklischee stilecht entsprechend an: zwischen vielen Büchern und anderem Material, das nicht nur die Regale füllte und den Schreibtisch belegte, sondern auch über den Fußboden verteilt lag. Der unmittelbare Vorgänger in dieser Wohnung war übrigens der bekannte Romanist und Sprachwissenschaftler Mario Wandruszka8 gewesen. Außerdem lebten im Haus Hedwig Rümelin, eine Tochter des Erbauers, und Hans Erich Feine bzw. dessen Witwe. Feine hatte bis 1958 einen Lehrstuhl für Rechtsgeschichte und Kirchenrecht in Tübingen inne und bekanntlich den ersten und einzigen Band Geschichte des 7

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Das unter Denkmalschutz stehende Haus befindet sich weiterhin im Besitz von Nachfahren des Erbauers, und die oberen Wohnungen sind bis heute an Professorenfamilien vermietet. – Zu Max Friedrich Gustav von Rümelin (1861 Stuttgart–1931 Tübingen), ab 1895 Professor, 1906/07 Rektor und 1908–1993 Kanzler der Universität Tübingen vgl. Martin Otto in: Württembergische Biographien 1 (2006) S. 213–215. Mario Wandruszka von Wanstetten (1911 Znaim–2004 Salzburg) hatte ab 1956 in Tübingen gelehrt und 1971 eine Professur an der Universität Salzburg angetreten, wo er 1981 emeritiert wurde.

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Kirchenrechts seines Schwiegervaters Ulrich Stutz (1868–1938) bearbeitet.9 Der Geist Stutzens, des Begründers der historischen Kanonistik, wehte also in diesem Haus nicht nur in Horst Fuhrmanns Arbeitszimmer. Bemerkenswert ist diese Wohnlage – eine echt akademische Adresse, die es so vielleicht nur in Tübingen gab oder gibt – allemal gewesen, wenn sich Fuhrmann auch zuweilen über die Niederungen des Alltags in dieser „Wohngemeinschaft“ mokieren konnte. Seine Antrittsvorlesung hielt Fuhrmann zwar erst im Februar 1964. Er sprach über Die Heiligkeit der Päpste im Mittelalter. Mit den regulären Vorlesungen hatte er natürlich schon eher begonnen. In den neun Tübinger Jahren bot er – abgesehen von zwei Freisemestern in den Wintersemestern 1964/65 und 1968/69, die er unter anderem zu Studien bei den MGH nutzte – dreimal einen Durchgang vom Frühmittelalter zum Spätmittelalter an, jeweils auf auf vier Semester verteilt.10 Vier Semester widmete er den Päpsten, und zwar im Sommersemester 1963 in der Vorlesung Geschichte des Papsttums im Mittelalter, die er später auf zwei Semester in Geschichte des Papsttums im Frühmittelalter und Geschichte des Papsttums im Spätmittelalter aufteilte.11 Die Hörer bekamen zu Beginn des Semesters eine Disposition des Stoffes und ein ausführliches Literaturverzeichnis ausgehändigt. Den Stoff handelte er durchaus konventionell eher in der Form der Herrschafts- und Personengeschichte ab, reicherte den Vortrag aber mit 9 Hans Erich Feine (1890 Göttingen–1985 Tübingen) war seit 1918 Assistent am Kirchenrechtlichen Institut in Berlin unter Ulrich Stutz. Er lehrte 1931–1945 Rechtsgeschichte und Handels- und Kirchenrecht in Tübingen und bekleidete nach Entlassung und Zurruhesetzung 1946 bzw. 1949 noch einmal zwischen 1955 und 1958 eine ordentliche Professur für deutsches Recht und Kirchenrecht in Tübingen. Die erste Auflage seiner Bearbeitung der Geschichte des Kirchenrechts von Stutz war unter dem Titel Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche 1950 erschienen. – Martin Heckel, Hans Erich Feine (1890–1965); in: Ferdinand Elsener (Hg.), Lebensbilder zur Geschichte der Tübinger Juristenfakultät (Contubernium 17, 1977) S. 189–213. 10 Geschichte des Frühmittelalters bis zu den Karolingern WS 1965/66; Geschichte der sächsischen und salischen Kaiserzeit WS 1963/64, SS 1966, WS 1969/70; Geschichte der Stauferzeit SS 1964, WS 1966/67, SS 1970; Europa im Spätmittelalter SS 1965, SS 1967, WS 1970/71. 11 WS 1967/68 und SS 1968. Die letzte Vorlesung im SS 1971 galt der Geschichte des Papsttums im Frühmittelalter.

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Quelleninterpretationen, Reflexionen und der Darstellung unterschiedlicher historiographischer Betrachtungsweisen an. Er sprach, gestützt auf sein Manuskript, weitgehend frei. Diese nicht zuletzt auch wegen seiner kräftigen Stimme lebendige Vortragsweise war gepaart mit großer Formulierungskunst, lebendiger Rhetorik und verständlicher Vermittlung auch komplizierter Zusammenhänge, und so übermittelte er den Hörern Begeisterung am Gegenstand, was sich bis in Kleinigkeiten wie die Zelebrierung des Namens der Handelsstadt Haddeby hinein verfolgen lässt, den er sich geradezu auf der Zunge zergehen ließ.12 Eine Passage aus der Charakterisierung Gregors VII. in seiner Vorlesung Geschichte des Papsttums im Mittelalter möge das Gesagte verdeutlichen:13 In Gregor VII. konzentrierten sich Kraft und Gedanken der Reform, und mit Recht spricht man von dem Zentralvorgang der Reform als von der gregorianischen Reform. Ohne ihn hätte manches keine Spitze, keine Aggressivität. Neu war es nicht, was er forderte ... Seine Reformideen waren nicht originell, aber er versuchte sie durchzusetzen mit der Wucht eines Fanatikers, der selbst der nächsten Umgebung fremd und unheimlich war ... Menschen mit Sendungsbewußtsein sind häufig ungesellig, humorlos, kontaktarm. Man gewährt ihnen kein liebevolles Nachleben, und so ist es auch bei Gregor VII. gewesen. Ein so bedeutender Mann hat mit seiner charismatischen Fernwirkung nur ein paar Mirakel hervorgebracht, aber keinen Legendenkranz, und ein nichtitalienischer Biograph hat sich sozusagen der Lücke einer fehlenden Vita erbarmt und ein Paul von Bernried, ein bayerischer Kleriker, hat ... 60 Jahre nach seinem Tode eine Biographie verfasst, die, ganz schmal, nur im Österreichischen Legendar, das in den Klöstern im Refektorium lediglich gelesen worden ist, überliefert ist. Diese Vortragsqualitäten garantierten ihm einen immer gut gefüllten Hörsaal, was zumal im Sommer alles andere als selbstverständlich war, wenn sich die Hitze in dem barackenartigen Hörsaalprovisorium in der Brunnenstraße nur schwer ertragen ließ. Um ins Hauptseminar zugelassen zu werden, musste man zunächst eine erhebliche Hürde überwinden: eine Klausur, die aus der Überset12 Andererseits hat er den schwäbischen Familiennamen von August Friedrich Gfrörer (1803–1861), der 1848 Untersuchungen zu den pseudoisidorischen Dekretalen herausgegeben hat, nie richtig über die Lippen gebracht – er sagte immer Gwörrer. 13 Ausschnittweise zitiert aus der Abschrift eines Tonbandmitschnitts.

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zung einer lateinischen Quelle und/oder der Beantwortung von Fragen zum Text bestand. Ich erinnere mich noch an den Text der Klausur, die ich zu schreiben hatte. Es war das Kapitel 16 aus Notkers Gesta Karoli, die Geschichte von der einbalsamierten Hausmaus, die einem ruhmund habsüchtigen Bischof zu dessen Bloßstellung auf Karls d. Gr. Geheiß hin als wertvolles Objekt aus dem Orient angedreht werden sollte.14 Dieser humorvoll-belehrende Text ermunterte geradezu zur Teilnahme am Seminar. Die Themen der Seminare sind nicht mehr vollständig zu ermitteln, da sie in den Vorlesungsverzeichnissen überwiegend nur als Übungen zur mittelalterlichen Geschichte angekündigt waren. Im Wintersemester 1963/64 war das Seminar Quellenkundlichen Problemen der Ottonenzeit, im Sommersemester 1965 der Überlieferungsgeschichte des Constitutum Constantini, im Sommersemester 1968 dem Kaisertum und Papsttum in der spätkarolingischen Zeit, im Wintersemester 1970/71 dem Konziliarismus. Die Herausbildung einer Idee und schließlich im Sommersemester 1971 der Papstwahl von ihren Anfängen bis zur Gegenwart gewidmet. In den Seminaren wurde überwiegend mit (lateinischen) Quellen gearbeitet. Die Themen zeigen, dass er die Seminare durchaus als „Versuchslabore“ für seine eigenen Studien und Forschungen einsetzte, die in der Tübinger Zeit auf die Vollendung seines großen PseudoisidorOpus ausgerichtet waren. Über die einzelnen Sitzungen und Referate wurden von den Teilnehmern Protokolle angefertigt, vervielfältigt und verteilt. Aus den Seminaren rekrutierte er auch seine wissenschaftlichen Hilfskräfte und – von wenigen Ausnahmen abgesehen – seine Doktoranden. Dabei hatte er in der Regel ein gutes Gespür für die Talente der einzelnen und ihre Brauchbarkeit in seinem Team. Seinem damaligen Hauptinteresse gemäß sorgte er auch für die gezielte Ausstattung der Seminarbibliothek mit kirchengeschichtlicher, kirchenrechtlicher und kanonistischer Literatur und entsprechenden Quellenwerken. Bald beherrschten stattliche Reihen, etwa der Acta Sanctorum oder des Migne die Regale. Zur besseren Übersicht und

14 Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 3, bearb. v. Reinhold Rau (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe VII , 1964) S. 343 f.

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Handhabbarkeit ließ er die kanonistischen Werke, soweit sie noch nicht gebunden waren, in greiffreudiges Rot binden. Neben seinen Verpflichtungen an der Universität und der Arbeit an seinem Pseudoisidorwerk fand Fuhrmann noch Zeit für etwa 20 Publikationen, die freilich überwiegend als Ergänzungen oder Nebenprodukte seinem großen Thema zugeordnet werden können. Daneben gab er ein Bändchen Quellen zur Entstehung des Kirchenstaats15 heraus. Die zentralen Veröffentlichungen in der Tübinger Zeit stellen aber die Abhandlung Konstantinische Schenkung und abendländisches Kaisertum. Ein Beitrag zur Überlieferungsgeschichte des Constitutm Constantini16 und die zwei Jahre später erschienene Edition des Constitutum Constantini dar.17 Im Vorwort dazu weist Fuhrmann dankend auf den Anteil seiner Schüler am Zustandekommen der Edition und damit auch auf seine eigene Arbeitsweise hin: Mehrere meiner Schüler haben sich mit mir in die Last vornehmlich der ersten Durchsicht der Kataloge und der Probekollationen geteilt, nachdem in Seminarübungen im Wintersemester 1963/64 und im Sommersemester 1965 Einzelfragen erörtert worden waren. Zwei Problemkreise werden getrennt in Dissertationen behandelt: Fräulein Johanna Wurster soll eine ergänzende Edition der kanonistischen Texte von der Collectio Anselmo dedicata bis auf Gratian liefern, Herr Dr. Wolfgang Stürner hat die Quellen der Confessio analysiert; beiden verdanke ich manche Beobachtung, die dieser Ausgabe zugute gekommen ist. Herr Herwig John war mir ein wertvoller Helfer beim Sichten und Ordnen des Materials, und Herr Hubert Mordek mit seinem Blick für kanonistische Zusammenhänge belieferte mich von seinen Bibliotheksreisen mit zahlreichen Hinweisen und Auskünften. Das „Sichten und Ordnen“ des Materials bestand in der Kollation und Klassifizierung der meisten der rund 70 handschriftlichen Überlieferungen bis zum 11. Jahrhundert in einem unwirtlichen Kellerraum des Hegelbaus, in dem die schwarz gebundenen Zeitungsbände des Politischen Seminars die Regale füllten. Hier wurden im Sommer 1964 die Mikrofilme und Papierkopien der Handschriften bearbeitet, allein, 15 Historische Texte/Mittelalter. hg. v. Arno Borst und Josef Fleckenstein, Bd.7 (1986) 16 DA 22 (1966) S. 63 ff. 17 Das Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung). Text (= MGH. Fontes iuris germanici antiqui in usum scholarum X, 1968)

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zuweilen auch zu zweit. In ausführlichen gemeinsamen Sitzungen arbeitete Fuhrmann dann die Ergebnisse auf bis hin zur endgültigen Textgestaltung der Edition. Auch das Korrekturlesen des Editionsmanuskripts und der Druckfahnen fand im Kollektiv statt: Fuhrmann las vor, mehrere seiner Schüler – auch die „Sieben Weisen“ genannt – lasen je in einem Durchschlag oder einer Druckfahne mit. Diese Methode sicherte eine große Fehlertrefferquote, trotzdem fand der spezielle Korrekturleser der MGH, der alles rückwärts las, noch einige wenige Fehler. Bei schönem Wetter fand das Korrekturlesen auch in der Grünanlage hinter dem Hegelbau statt. Als krönenden Abschluss der Arbeiten lud Fuhrmann das Team zu einer gemeinsamen Stocherkahnfahrt auf dem Neckar ein, für die er die Kosten übernahm, die Organisation aber den Studenten überließ. Auf dem schwankenden Kahn wurde sogar eine Feuerzangenbowle zelebriert, ein durchaus riskantes Unterfangen. Aus der Collectio Herwigo dedicata, die zwar in pseudoisidorischer Diktion, aber erst 1971 in Tübingen entstanden ist18, gehen der Geist und die Stimmung, in denen die geschilderten Arbeiten stattfanden, trefflich hervor. Dort lesen wir unter der Rubrik De collectionibus etwa: I. Si quis servus aurigae collationem faciens caudam sub littera e neglegit, anathema sit. II. Si quis servus aurigae correcturam legens oculos dormiendi causa clauserit, anathema sit. IV. Si quis servus aurigae mikrofilmum pollice tangit, pollex ei abscindus est. V. Si quis in codice ipsa prandium facere conatus erit seu, quod absit, caseum romadurum gustare aut eum paginis involvere praesumpserit, in gehenna cum Dathan et Abiron combustus erit. Einmal jährlich wurden die Assistenten und Hilfskräfte vom Ehepaar Fuhrmann in die Biesingerstr. 9 eingeladen, wo sie von Frau Dr. Fuhrmann regelmäßig mit einem mehrgängigen, vorzüglichen und reichlichen Diner überrascht wurden – immer ein Anlass zur Vorfreude. Man 18 Diese nur in einer Handschrift existierende „Kanonessammlung“, für deren Titel leicht erkennbar die Collectio Anselmo dedicata Pate stand, haben einige Kollegen aus dem Fuhrmann-Kreis dem Verfasser, in dessen Besitz sie sich seither befindet, anlässlich seiner Promotion gewidmet.

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befand sich in einer Zeit, in der die traditionelle Hausmannskost in Deutschlands Haushalten und Gaststätten noch vorherrschte und erst langsam durch Einflüsse etwa aus Frankreich oder Italien erweitert und bereichert wurde. Frau Fuhrmann zeigte unseren in Tübingen nicht gerade verwöhnten Gaumen, was es jenseits des Mensaessens und der preisgünstigen sonntäglichen Leberspätzle in Lustnau für kulinarische Höhepunkte geben konnte. Als Vorspeise – ohnehin schon ein Luxus ! – blieb da zum Beispiel die kühne Kombination von Melone und Schinken in Erinnerung. Es konnte aber auch passieren, dass der mit köstlichem Tiramisù oder Plumpudding übermäßig gefüllte Magen die Teilnahme an dem immer lebhaften Gespräch an der Tafel im großen Wohnzimmer erheblich erschwerte. Als bemerkenswert blieb auch das Angebot von Zigarren im Gedächtnis und die Gefahr, den ganzen Abend das gleiche Getränk nachgeschenkt zu bekommen, das man anfangs gewählt hatte, was besonders misslich war, wenn man sich da für Whiskey entschieden hatte. Diese Abende halfen aber auch, die respekteinflößende Präsenz des Meisters abzumildern, erlebte man doch die familiäre, nichtfachliche, persönliche Seite, den temperamentvollen Umgang der Ehepartner auf gleicher Augenhöhe, wie man heute sagt, und die humorvolle, nüchtern-praktische Art von Frau Fuhrmann. Im Sommer 1966 erreichte Fuhrmann ein Ruf an die Universität Kiel, wo man ihn gerne als Nachfolger seines Lehrers Karl Jordan eingesetzt hätte. Eine Hiobsbotschaft für alle, Studenten und Kollegen, bei denen sich Fuhrmann in den vier Jahren seines Wirkens in Tübingen große Beliebtheit und Wertschätzung erworben hatte. Um ihm die Entscheidung für den Verbleib in Tübingen zu erleichtern, wurde von der Fachschaft am 15. Juni ein Fackelzug organisiert, der durch Tübingen bis vor die Biesingerstraße 9 zog.19 Die Zahl der Teilnehmer war so groß, dass die Polizei den Verkehr regeln musste. Mit launigen Reden und einem eigens für diesen Anlass von Johanna Petersmann gedichteten Lied wurde Fuhrmann die Ablehnung des 19 Bericht darüber in: Schwäbisches Tagblatt 18.6.1966. – Es war übrigens der zweite Fackelzug, der einem Bewohner der Biesingerstr. 9 galt. Auch Max von Rümelin hatten die Studenten am 15.2.1931 anlässlich seines 70. Geburtstages und seines Rücktritts vom Kanzleramt einen Fackelzug gewidmet.

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Rufs nahegelegt. Wilfried Hartmann strich die Ehre Tübingens heraus, indem er unter anderem darauf hinwies, dass Tübingen nach Zedler von Kaiser Probus oder Kaiser Caracalla erbaut worden sei, während Kiel auf die Gründung eines Grafen Adolf der Barfüßer zurückgehe. Außerdem werde vom Komponisten Carl Löwe berichtet, dass seine Kraft seit seiner Übersiedlung nach Kiel „wirklich gebrochen sei“. Die Bemerkungen des Vertreters des AstA namens Nagel kommentierte der Geehrte beim anschließenden Bierumtrunk mit einer typischen Fuhrmann-Sentenz: Der Herr Nagel hat sich selbst auf den Kopf getroffen. Ob der Fackelzug oder nicht eher das Ergebnis der Bleibeverhandlungen mit dem Ministerium den Ausschlag für die Entscheidung zu bleiben gegeben haben, muss offen bleiben. Eine Frucht der Verhandlungen war jedenfalls die Einrichtung einer kanonistischen Forschungsstelle am Historischen Seminar, für die Personal- und Sachmittel zur Verfügung gestellt wurden. Was das Verhältnis zu den Kollegen betrifft, so suchte Fuhrmann – damals durchaus noch nicht üblich – den Kontakt auch zu anderen Fachrichtungen, insbesondere zu den Juristen und Theologen. Zu den letzteren gehörte bevorzugt der über dreißig Jahr an der Universität Tübingen wirkende katholische Kirchenhistoriker Karl August Fink.20 Die Beziehung zu seinem Kollegen Löwe war korrekt, aber eher distanziert. Auch er war Mitglied der Zentraldirektion der MGH. Das Verhältnis erfuhr allerdings eine Eintrübung, als sich beide um das Präsidentenamt der Monumenta bewarben und man sich dort 1969 für den um 13 Jahre jüngeren Fuhrmann entschied. Mit den Lehrstuhlinhabern im Seminar für Neuere Geschichte ergaben sich Spannungen, die sich daran entzündeten, dass Fuhrmann als Inhaber eines Lehrstuhls für mittlere und neuere Geschichte beanspruchte, auch in neuer Geschichte Prüfungen abhalten zu dürfen, wogegen die Neuzeitler Einspruch erhoben. Von den Behinderungen, Störungen und Angriffen der Studentenrevolution der ausgehenden sechziger Jahre sind das Historische Seminar weniger und Fuhrmann nur marginal betroffen gewesen, wie diese 20 Karl August Fink (1904 Konstanz – 1983 Rottweil) wurde 1989 emeritiert. – Vgl. Karl August Fink; in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 14 (1998) S. 990–994.

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Zeit in Tübingen insgesamt nicht so dramatisch verlief wie an anderen Universitäten. Die revolutionären Aktivitäten am Hegelbau, die aus dem Fuhrmann-Kreis keine Unterstützung erfuhren, hatten zuweilen eher den Charakter von Happenings. Als vor einer Vorlesung ein politischer Aktivist das Wort ergreifen wollte, brachte ihn Fuhrmann mit dem bestimmten Hinweis darauf, dass er hier das Wort habe, zum Schweigen. Die Hauptzielscheibe der Proteste waren ohnehin die Veranstaltungen des Mittelbaus. In den vom PAStA (Politischer AStA) im Auftrag der Massen herausgegebenen Nr. 6 der ROTEN notizen. Streikzeitung wurde zum Streik der Abschlussklausur von Peter Hilschs Proseminar am 4.7.1969 (8 Uhr) aufgerufen. Fuhrmann glaubte, die Maßnahme durch seine Autorität verhindern zu können, und setzte sich mit in den Kleinen Übungsraum. Vergeblich, zehn Besetzer sprengten die Klausur. Eine andere Klausur im Historischen Seminar wurde damals durch eine revolutionäre Stinkbombe beeinträchtigt.21 Im Lauf der Tübinger Jahre sind sechs der von Fuhrmann betreuten Promotionsvorhaben zum Abschluss gekommen. Als erster wurde Peter Hilsch am 22. Dezember 1966 promoviert. Er hatte über Die Bischöfe von Prag in der frühen Stauferzeit gearbeitet und gehört damit zu den wenigen, die sich keinem Thema aus Fuhrmanns engerem wissenschaftlichen Spezialgebiet gewidmet haben. Als Forum zur Präsentation und Diskussion der laufenden Arbeiten (Dissertationen und Examensarbeiten) hat Fuhrmann einen Arbeitskreis gebildet, der ab 1969 unregelmäßig einberufen wurde. Ein Mostumtrunk im Oktober 1972 auf Schloss Hohenentringen, zu dem Fuhrmann geladen hatte, kann als offizielles Ende des Gremiums angesehen werden. Mit dem etwa einem Dutzend Doktoranden, die ihre Dissertation im Sommer 1971 noch nicht abgeschlossen hatten, blieb Fuhrmann persönlich in Kontakt, sei es brieflich oder bei Treffen in Tübingen, bis im Jahre 1975 der letzte Tübinger Schüler seine Promotionsurkunde erhielt. Im gleichen Jahr wurde auch Hubert Mordek habilitiert. Fuhrmann begleitete seine Doktoranden und Examenskandidaten nicht nur fachlich, sondern nahm auch persönlich Anteil, gab Rat21 Noch in der Zeitung der kommunistischen Studentengruppe (Marxisten-Leninisten) im Fach Geschichte „Aus der Geschichte lernen“ Nr. 1 vom Januar 1972 wurde gegen Hilschs Proseminar und Löwes Hauptseminar heftig ideologisch gewettert.

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schläge oder drängte zuweilen, wenn er es für das Fortkommen des Kandidaten für nötig hielt. Geradezu aufopfernd bemühte er sich, die zahlreichen Gutachten über die meist erst im letzten Moment eingereichten Arbeiten oder für Stipendienanträge umgehend abzufassen. Seine vielfältigen Beziehungen nutzte er, um Druckmöglichkeiten für die Dissertationen zu vermitteln und den promovierten Promovenden die Kosten für einen Privatdruck (zu) ersparen.22 Auch zur Deckung sonstiger Kosten der Studenten, etwa für Mikrofilme, suchte er Mittel und Wege zu finden. Manchem seiner Schüler verhalf er zu Stellen, direkt oder durch Empfehlungen. Dass ihm dieser Einsatz trotz seiner bewundernswerten Arbeitskraft und Energie nicht immer leicht fiel, verrät eine Notiz auf der Ankündigung eines Doktoranden, er schicke ihm mit gleicher Post seine fertige Doktorarbeit in mehreren eingeschriebenen Sendungen und danke für sein Entgegenkommen, die Arbeit rasch lesen zu wollen. Fuhrmann unterstrich die Zahl der Sendungen und notierte am Rand des Briefs: Ich armer Mensch !!!. Er war sich auch nicht zu schade, einem mit seiner Examensarbeit beängstigend in Verzug befindlichen Studenten die Arbeit geradezu abzutrotzen und ihn zu diesem Zweck persönlich aufzusuchen. Als er um 11 Uhr am Vormittag zusammen mit Peter Hilsch an der Tür im Studentenwohnheim klingelte, öffnete der Kandidat im Bademantel die Tür! Man fragt sich, wieso Fuhrmann so viele seiner Studenten für die doch eher spröde Materie der Kanonistik gewinnen konnte, sah er doch selbst, wie er einem Schüler zum Trost schrieb: bei der Kanonistik ist es manchmal so, daß man viel Sand schaufelt und wenig Mauern baut.23 Entscheidend waren wohl seine Fähigkeit, Begeisterung für seine Sache auf andere zu übertragen, die gute Arbeitsatmosphäre und die Vermittlung solider wissenschaftlicher Methodik. Nicht wenige werden auch durch seine Qualitäten als zwar anspruchsvoller, aber erfolgreicher und fairer Lehrer – und Prüfer – angezogen worden sein. Erst als die langen Verhandlungen über einen Lehrstuhl in Regensburg erfolgreich zum Abschluss gekommen waren, wechselte Horst 22 So in einem Brief an Dekan Baaken vom 29.12.1972, vgl. Anm.1. 23 Schreiben vom 27.9.1973 an Karl Georg Schon, vgl. Anm. 1.

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Fuhrmann vom 13. auf den 14. Oktober 1971 vom baden-württembergischen in das bayerische Beamtenverhältnis über und nahm den Dienst bei den MGH auf. Von seinen Tübinger Schülern nahm er Wilfried Hartmann, Detlev Jasper (der schon in Tübingen aus Mitteln der MGH bezahlt worden war) und Wolfram Setz mit an seine neue Wirkungsstätte. Erst im November 1972 brach die Familie ihre Zelte in Tübingen ab und siedelte nach Steinebach am Wörthsee über. Was hat Horst Fuhrmann damals in Tübingen zurückgelassen? – Die besonders reiche Ausstattung der Seminarbibliothek im Bereich von Kirchengeschichte und Kanonistik. – Die kanonistische Forschungsstelle, die eine Zeitlang weiter bestand und Anfang der siebziger Jahre, als Hubert Mordek Stipendiat in Rom war, mit Gerhard Schmitz besetzt war. – Seine ehemaligen Mitarbeiter Reinhold Hebenstreit, Peter Hilsch, Tilman Schmidt und Gerhard Schmitz. Sie sind zunächst in Diensten des Seminars geblieben, Schmitz ist später, bevor er zu den Monumenta wechselte, Dekanatsassistent gewesen. Peter Hilsch setzte seine 1967 begonnene Lehrtätigkeit als Akademischer Rat/Oberrat fort. – Doktoranden, die ihre Dissertation noch nicht abgeschlossen hatten. – Einen verwaisten Lehrstuhl, der erst 1973 mit Dietrich Kurze wieder besetzt wurde. Aus familiären Gründen zog dieser aber schon 1975 nach Berlin zurück. Der Lehrstuhl fiel dann Sparmaßnahmen des Ministeriums zum Opfer, daran konnten auch die Bemühungen Fuhrmanns (u. a. ein Schreiben an Kultusminister Hahn24) um die Erhaltung letztlich nichts ändern. Vom Dekanat und der Universität Tübingen wurde Fuhrmann auch nach seinem Weggang noch als Gutachter und Ratgeber herangezogen, unter anderem in Berufungsangelegenheiten.. Und wie hat Horst Fuhrmann selbst seine Zeit in Tübingen empfunden ? Eine seiner Äußerungen dazu wurde anfangs schon zitiert. Deutlicher gab er seinen Gefühlen in einem Schreiben an den Dekan Gerhard 24 Dieses und die folgenden Zitate aus der in Anm.1 genannten Korrepsondenz.

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Baaken am 3.11.1972 Ausdruck, den er darin In Melancholie, denn Tübingen war doch schön, grüßt. Und am 23.6.1973 schreibt er an seinen Tübinger Kollegen (und ehemaligen MGH-Konkurrenten!) Löwe: Mir fehlt der Tübinger Zuschnitt, der zumindest potentielle Kollegenkontakt, in München sehr; außerdem finde ich mit diesem Amt hier zu viel Verwaltung verbunden. Ich meine, dass sich seine Tübinger Schüler, Doktoranden, wissenschaftlichen Hilfskräfte und Assistenten für ihre durch Horst Fuhrmann geprägten Jahre der Bewertung ihres Lehrers im großen und ganzen anschließen können: Tübingen war doch schön!

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Horst Fuhrmann und Regensburg Vom 1. Oktober 1971 bis zum 30. September 1992 war Horst Fuhrmann ordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Regensburg; 21 Jahre oder 42 Semester hat er an dieser damals recht jungen Bildungsanstalt unterrichtet, an welcher erst vier Jahre vor seinem Amtsantritt der Lehrbetrieb im Fach Geschichte aufgenommen worden war. Fuhrmanns Stellung an der Universität Regensburg war eine besondere: mit seinem Regensburger Ordinariat war in Personalunion die Leitung der Monumenta Germaniae Historica verbunden, und es waren zähe und schwierige Verhandlungen vorausgegangen, bis diese Lösung für eine lange Zeit offene Frage gefunden werden konnte. Noch vor seinem 41. Geburtstag war Horst Fuhrmann im März 1967 von der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica, die damals zum letzten Mal in den engen Räumen des ehemaligen Führerbaus in der Meiserstraße tagte, mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit als Nachfolger von Herbert Grundmann nominiert und im Jahr darauf zum Präsidenten dieser Forschungseinrichtung gewählt worden. Er machte die Annahme der Wahl von vier Faktoren abhängig, von denen die ersten drei auf Verbesserungen der personellen und sachlichen Ausstattung des Instituts abzielten, der vierte aber die Stellung des Präsidenten betraf, welcher bis dahin als sogenannter „Laufbahnbeamter“, d. h. ohne Emeritierungsmöglichkeit, nach Besoldungsgruppe B 4 vergütet wurde. Die Amtsvorgänger Friedrich Baethgen und Herbert Grundmann hatten zwar als Honorar-Professoren an der LudwigMaximilians-Universität eine Lehrmöglichkeit erhalten, waren aber dort nicht weiter institutionell verankert gewesen. Fuhrmann gab damals einige grundsätzliche Punkte zum Verhältnis der Universitäten zu den MGH zu bedenken, die vor dem Ersten Weltkrieg eine klassische Pflanzstätte für den wissenschaftlichen Nachwuchs gewesen waren, diese Stellung aber längst verloren hatten. Er wies ferner auf die nachteilige finanzielle Situation hin; nicht erst bei der Pensionierung, sondern schon bei der Amtsübernahme würde er wesentlich schlechter gestellt

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sein als bislang in Tübingen. Die Verbindung des Präsidentenamtes mit einem persönlichen Ordinariat böte eine Möglichkeit, solche Gehaltseinbußen zu vermeiden; als Universitätslehrer habe der künftige Präsident auch Gelegenheit, Schüler und Mitarbeiter für die Editionsarbeit auszubilden. Nachdem sich in wiederholten Verhandlungen herausgestellt hatte, dass eine solche Stelle an der Ludwig-Maximilians-Universität zum damaligen Zeitpunkt nicht durchsetzbar war, bot sich für die neugegründete Regensburger Universität die Chance, einen weiteren Lehrstuhl für Geschichte zu gewinnen. Dabei war es vor allem die Vermittlung des Gründungsdekans Kurt Reindel, die Fuhrmann den Weg an die neue Universität in der Donaustadt leichter machte. Reindel war bereits 1949 und dann von 1953 bis 1964 fester Mitarbeiter bei den Monumenta gewesen, einige Jahre davon als Fuhrmanns unmittelbarer Schreibtischnachbar, der in seinem 1995 erschienenen „huldigenden Brief an Kurt Reindel“ die Atmosphäre in jenem – so wörtlich – „berühmten Zimmer 218 des südlichen Führerbaus, Arcis/Meiserstr. 10“ beschrieb, „wo im Hauptraum der Monumenta zeitweise bis zu sieben Mitarbeiter wie an Galeerenbänken untergebracht waren“. Am 14. Mai 1970 erging ein langes Schreiben des damals einflussreichen Ministerialdirigenten Dr. von Elmenau an den Rektor der Universität Regensburg, den Slawisten Karl-Heinz Pollok, in welchem in gepflegtem Amtsdeutsch ausgeführt wurde, dass „infolge der Entwicklung der Gehälter der Lehrstuhlinhaber im Vergleich zu denen der sogenannten Laufbahnbeamten“ es nicht möglich sei, die Präsidentschaft der MGH, „traditionsgemäß eine Spitzenstellung der deutschen Mediävistik“, einem führenden Universitätshistoriker anzubieten, wenn die Besoldung weiter nach B4 erfolge; das Ministerium erwäge deshalb, die Stelle des Präsidenten in einen Lehrstuhl nach HS 4 umzuwandeln, doch müsse dieser „laut zwingender Vorschrift des Besoldungsgesetzes bei einer Hochschule ausgebracht sein“. Die Verhandlungen mit Prof. Fuhrmann hätten ergeben, dass dieser „eine Tätigkeit an einer Hochschule lebhaft begrüßen“ würde und bereit sei, „Vorlesungen über Quellenkunde des Mittelalters“ zu halten. Da in Regensburg „Fragen der Mittelalterlichen Geschichte besonders gepflegt“ werden, würde das Ministerium der Umwandlung der Präsidentenstelle in einen Lehrstuhl „dann näher treten und die erforderliche Zustimmung des Staats-

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ministeriums für Finanzen sowie des Landtages im Haushalt 1971 anstreben, wenn die Universität Regensburg hiermit einverstanden wäre und die Ausbringung des Lehrstuhls dort beantragen wollte“. Denn „ungeachtet der Schwierigkeit dieser Fragen glaubt das Ministerium, es der Zentraldirektion der dem bayerischen Staat seit 1946 anvertrauten Monumenta Germaniae Historica schuldig zu sein, alle Möglichkeiten zu einer sachgerechten Besetzung des Präsidentenpostens zu prüfen und dabei auch die Möglichkeit der Ausbringung eines wissenschaftlich bedeutsamen Lehrstuhls an der Universität Regensburg zu ermöglichen, falls eine solche Kombination den akademischen Wünschen der Universität Regensburg voll entsprechen sollte“. Soweit dieses Schreiben. Die in Regensburg zuständigen Universitätsgremien ließen sich dies nicht zweimal sagen und handelten mit geradezu frappierender Schnelligkeit: der Rektor leitete Abdrucke dieser Offerte am 2. Juni an Dekan und Prodekan (als solcher fungierte Kurt Reindel) der Philosophischen Fakultät und den Sprecher des Fachbereichs, den Althistoriker Adolf Lippold, weiter mit der Bemerkung, „dass dieses Angebot des Ministeriums eingehend erwogen werden sollte“; schon zwei Tage später, am 4. Juni, erfolgte die Antwort: „Der Fachbereich“, so dessen Sprecher Adolf Lippold, „würde es außerordentlich begrüßen, wenn die Möglichkeit geschaffen würde, Herrn Prof. Fuhrmann in seiner Eigenschaft als Präsident der Monumenta Germaniae Historica für die Universität zu gewinnen. Der Fachbereich fasst hiermit folgenden Beschluss: Der Fachbereich GGP stellt den Antrag, dass der aus der Umwandlung der Präsidentenstelle zu gewinnende Lehrstuhl nach HS 4 an der Universität Regensburg ausgebracht wird“. Wegen der „Eilbedürftigkeit dieser Angelegenheit“ wurde dieses Votum des Fachbereichs sofort nach München weitergeleitet, noch bevor sich Fakultätsrat und kleiner Senat mit der Angelegenheit befassen konnten. Der Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät stimmte dem angeführten Beschluss bereits am 10. Juni 1970 zu, „unter der Voraussetzung, dass Herr Prof. Dr. Fuhrmann regelmäßig in Regensburg Lehrveranstaltungen im Umfang von mindestens zwei Semesterwochenstunden durchführt“, ebenso der kleine Senat, bei dem am 1. Juli über die Sache auf der Tagesordnung stand. Wiederum eine Woche später und noch bevor eine Antwort des Ministeriums eingetroffen war,

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am 8. Juli 1970, verabschiedete der Fachbereich Geschichte/Gesellschaft/Politik einen Berufungsvorschlag, für den Kurt Reindel die Laudatio schrieb und auf dem primo et unico loco der Name „Prof. Dr. H. Fuhrmann, Tübingen“ stand. Man hatte es also eilig, aber es sollte fast noch ein Jahr vergehen, bis die Sache endgültig unter Dach und Fach war. Am 26. Januar beschloss der Bayerische Ministerrat, an der Universität Regensburg einen ordentlichen Lehrstuhl für Geschichte mit k.w.-Vermerk zu schaffen. Rektor Pollok konnte den erwähnten Berufungsvorschlag vom 8. Juli 1970 erst am 19. Februar 1971 an das Staatsministerium für Unterricht und Kultus weiterleiten „mit der Bitte um baldige Ruferteilung“. Der „förmliche“ Ruf erging dann am 14. April 1971 noch unter dem Vorbehalt der zu erwartenden Zustimmung des Bayerischen Landtags, und schon im Mai fanden Berufungsverhandlungen statt, bei denen man sich bald darauf verständigen konnte, dass der neue Lehrstuhl „vornehmlich auf Quellenkunde des Mittelalters“ auszurichten sei, dass Fuhrmann, um seine Aufgaben als Monumenta-Präsident wahrnehmen zu können, nur ein reduziertes Lehrdeputat von zwei Semesterwochenstunden übernehmen müsse und von Ämtern der akademischen Selbstverwaltung und Staatsexamensprüfungen freigestellt sei; an akademischen Prüfungen wollte sich der künftige Monumenta-Präsident beteiligen. Eine mit dem Lehrstuhl verbundene wissenschaftliche Assistentenstelle wurde zunächst noch nicht als notwendig erachtet, aber für spätere Zeit in Aussicht gestellt; es sollten allerdings noch einige Jahre vergehen, bis diese Stelle erstmals mit zwei Doktoranden besetzt werden konnte. Horst Fuhrmann hat während seiner Regensburger Jahre insgesamt 39 doppelstündige Lehrveranstaltungen angeboten, wenn ich richtig zähle, nur eine Vorlesung, und drei Kolloquien, dafür aber 35 Hauptoder Forschungsseminare. Diese Seminare, die meist an Mittwochnachmittagen ab 15 Uhr stattfanden, liefen in der für diese Zeit charakteristischen Unterrichtsform ab. Als Fuhrmann im Wintersemester 1971/72 mit einem Seminar über die „Libelli de Lite“, die Streitschriften des Investiturstreits, die lange Reihe seiner Regensburger Lehrveranstaltungen eröffnete, hatte er soeben sein großes dreibändiges Werk über die Pseudoisidorischen Fälschungen zum Druck gebracht und bereitete die 1978 erstmals erschienene und seitdem immer wieder auf-

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gelegte „Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter“ vor; entsprechend diesem Forschungsinteresse wurden in den ersten Regensburger Jahren in den Seminaren vorwiegend Themen zur Geschichte des 11. und 12. Jahrhunderts behandelt, die Gestalt Gregors VII., Probleme des Investiturstreits, die Anfänge der Universität im 12. Jahrhundert und die Quellen zum Prozess Heinrichs des Löwen. Die „Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter“ lag kurz vor ihrem Erscheinen der einzigen Vorlesung zu Grunde, die Fuhrmann ausnahmsweise an einem Donnerstag in dem nach meiner Erinnerung recht heißen Sommer 1978 vor großem Publikum in Regensburg gehalten hat. Fuhrmann hat uns nicht nur durch seine bekannte rhetorische Brillanz und witzigen Pointen mitgerissen, sondern auch durch den neuartigen Zugriff zum Staunen gebracht. Besonders der Einstieg ins Hochmittelalter, in welchem Fuhrmann nach Hugo von St. Viktor die „Hauptumstände der Geschichte“, Raum, Zeit und Mensch, in den Blick nahm und auch Fragen der klimatischen Veränderungen, der Ernährungsgewohnheiten und der menschlichen Körpergröße behandelte, bot viel Überraschendes und sorgte für Diskussionsstoff unter den Studierenden. Die Seminare dagegen, die ich von 1977 bis 1982 besucht habe, waren – von einigen Ausnahmen abgesehen – schwächer besucht, denn es war bekannt, dass hier lateinische Quellen gelesen und akribisch interpretiert wurden. Die regulären Teilnehmer hatten damit zu rechnen, dass sie in jeder Sitzung zum Übersetzen aufgerufen wurden. Man hatte sich entsprechend vorzubereiten und konnte das auch, da die zu behandelnden Texte jeweils eine Woche vor der Sitzung ausgeteilt wurden. Es lag nahe, die Papstbriefe des Codex Carolinus oder die falschen Dekretalen in Gruppenarbeit gemeinsam zu übersetzen, auch dabei konnte man viel lernen. Für den Vortrag war ein etwa vierseitiges Quellenpapier vorzubereiten, wobei den Referenten das Recht zustand, die Hausaufgaben für die anderen Kommilitonen zu bestimmen. Neben den regulären Teilnehmern gab es in allen Seminaren noch eine zweite Gruppe, die Fuhrmann als triarii bezeichnete, ältere Studenten, die bereits ein Seminar regulariter absolviert und damit ein Anrecht auf einen Platz in der dritten Reihe erworben hatten, sowie Doktoranden und Assistenten des Nachbarlehrstuhls. Unter diesen „Triariern“ befand sich auch mehrmals ein Gymnasiallehrer, der eines der ersten Fuhrmann-Seminare absolviert hatte und nach seinem Referendariat eigens

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aus dem 40 km entfernten Straubing anreiste, um die Mittwochnachmittags-Veranstaltungen zu besuchen. Denn, so beschied er uns, bei Fuhrmann würde man in jeder Sitzung nicht nur Neues erfahren, es gäbe auch immer etwas zum Lachen. Und in der Tat, Fuhrmann war nicht nur ein anspruchsvoller Lehrer, der von den Studierenden Quellenarbeit verlangte, er wusste auch vortrefflich in seinen Seminaren Frohsinn zu verbreiten: es durfte gelacht werden, und es ging mitunter recht laut und fröhlich zu. Auch wenn die Erinnerung trügen mag, im Nachhinein kommt es mir so vor, als sei Horst Fuhrmann damals stets mit bester Laune nach Regensburg gekommen. Sein Humor und die seine Lehrveranstaltungen prägende heitere Grundstimmung waren es nicht zuletzt, die bei den Studierenden die Bereitschaft freisetzten, sich mit schwierigen und fremdartigen lateinischen Texten auseinanderzusetzen. Fuhrmann war ein hinreißender Lehrer, der es vorzüglich verstand, die Studierenden zu motivieren. Als ein besonderes charakteristisches Merkmal haben wir im Umgang mit ihm die persönliche Anteilnahme und die ungezwungen ausgedrückte Sympathie und Neugier empfunden, mit der er auf uns Jüngere zuging. Diese Erfahrung konnte z. B. auf einer mehrtägigen Exkursion des Historischen Instituts nach Ober- und Niederösterreich gemacht werden, an welcher Fuhrmann gemeinsam mit seinem Kollegen Adolf Lippold und dem damals frisch nach Regensburg berufenen Wilhelm Volkert im September 1978 teilnahm. Beim Thema „Horst Fuhrmann und Regensburg“ muss auch „Paul von Bernried“ genannt werden. Der Biograph Papst Gregors VII. und der seligen Herluca, der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhundert in der Donaustadt als Regularkanoniker gewirkt und gemeinsam mit seinem Freund Gebhard am nördlichen Donau-Ufer das Chorherrenstift St. Mang gegründet hat, beschäftigte Fuhrmann seit seiner Zeit als Mitarbeiter bei den Monumenta in der Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Insgesamt fünf seiner Regensburger Hauptseminare waren der Stadt Regensburg als „Bildungszentrum im Hochmittelalter“ und Paul von Bernried und seinem Kreis von Reformfreunden gewidmet. Mehrfaches Ausflugsziel bei diesen Seminaren war das Kloster Prüfening im Westen der Stadt mit den einzigartigen romanischen Fresken. Hier findet sich auch die älteste monumentale Darstellung der Zweischwerterlehre, über die Fuhrmann in seinem aus einer Regens-

Horst Fuhrmann und Regensburg

burger Ringvorlesung hervorgegangenen Aufsatz „Der wahre Kaiser ist der Papst“ (so auch der Titel eines Seminars im Sommersemester 1984) gehandelt hat. In Prüfening lebte damals als einziger Benediktinermönch der hochbetagte Pater Emmeram von Thurn und Taxis, der einmal nach einer Kirchenbesichtigung die männlichen Mitglieder des Seminars mit in seine Bibliothek bat und uns dort – recht gesprächig – von seinen Kindheiterlebnissen am Hof von Kaiser Franz Joseph von Österreich, seinem zweisemestrigen Geschichtsstudium bei Heinrich Finke in Freiburg und sogar von Günter Wallraff berichtete, der 1971 einige Tage als angeblicher Novize bei ihm angeheuert hatte. Regensburg und Horst Fuhrmann! Ministerialdirigent von Elmenau hat 1970 richtig prophezeit; mit der Verpflichtung von Horst Fuhrmann gewann aber die junge Universität nicht nur einen „wissenschaftlich bedeutsamen Lehrstuhl“, sondern auch einen herausragenden Hochschullehrer. Er war in Regensburg an erstaunlich vielen Promotions- und Habilitationsverfahren beteiligt und hat dort nicht zuletzt seine beiden Nachfolger im Präsidentenamt der MGH habilitiert. Universität und Schüler haben allen Grund, seiner mit Stolz und Dankbarkeit zu gedenken. Nachbemerkung: Die Redeform wurde weitgehend beibehalten. Für die Ausführungen zur Berufung Horst Fuhrmanns nach Regensburg konnten Akten des Regensburger Universitätsarchivs eingesehen werden. Dem Kanzler der Universität Regensburg, Herrn Dr. Christian Blomeyer, sei auch an dieser Stelle für die Erlaubnis dazu herzlich gedankt. Die im Text angeführten Zitate sind dem Akt „Philosophische Fakultät GGP, Nr. 14, Berufungsakt: Lehrstuhl für Geschichte, Quellenkunde des Mittelalters“ entnommen. Horst Fuhrmanns „Statt einer Laudatio: Huldigender Brief an Kurt Reindel“ ist abgedruckt in: Lothar Kolmer / Peter Segl (Hrsg.), Regensburg, Bayern und Europa. Festschrift für Kurt Reindel zu seinem 70. Geburtstag, Regensburg 1995, S. 1–5. – Herrn Kollegen Peter Segl (Bayreuth), der Fuhrmanns erste Regensburger Lehrveranstaltungen als Teilnehmer erlebt und als Assistent mitbetreut hat, danke ich für vielfältige Auskünfte.

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Horst Fuhrmann und die Monumenta Germaniae Historica Verehrte Frau Fuhrmann, liebe Familie Fuhrmann, werte „FuhrmannGemeinde“! „Zwerge auf den Schultern von Riesen“!1 Dieses bei Bernhard von Chartres im 12. Jahrhundert zuerst überlieferte Bild kam mir unwillkürlich in den Sinn, als ich gefragt wurde, ob ich meinen verehrten Tübinger Lehrer, Regensburger Doktorvater und langjährigen Vorgesetzten in seiner Zeit als Präsident der Monumenta Germaniae Historica würdigen wolle. „Zwerge auf den Schultern von Riesen“ – ich glaube, er hätte das durchaus auch so gesehen; denn er wusste, er war ein Riese. Und Sie wissen es auch, sonst wären Sie nicht so zahlreich hier erschienen. Er war selbstbewusst, aber nicht unkritisch! Als er über die „Sichtbarmachung von Verdiensten“ räsonierte und dabei die mittelalterliche Zurückhaltung gegenüber menschlicher Leistung betonte, beschloss er seinen wie gewohnt mit stupender Sachkenntnis veranstalteten Durchzug durch 2000 Jahre abendländischer Verdienstlehre mit der Einschätzung: „Niemand kann wissen, ob eine Leistung wirklich ein Verdienst darstellt. Was heute ‚weit verbreitete Anerkennung‘ findet, kann morgen zweifelhaft erscheinen.“1 Das war die historisch aufgeklärte Erkenntnis des damals schon zu hohem Ruhm Gekommenen; er hat sie nicht nur seinen Ordenskollegen vom Orden Pour le mérite ins Stammbuch geschrieben. „Horst Fuhrmann und die Monumenta Germaniae Historica“ – auch dies ein „Riesenthema“, weil sein ganzes Leben in und mit der Wissenschaft in vorzüglicher Weise gerade mit dieser Institution ver1

Horst Fuhrmann, „Pour le mérite.“ Über die Sichtbarmachung von Verdiensten. Eine historische Besinnung (1992); 56, zitiert nach: Ders., „Pour le mérite“ oder die Sichtbarmachung der Verdienste, in: Ders., Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit (1996) S. 172–204, hier S. 204.

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bunden war. Ich hole mir als Zwerg auf den Schultern eines Riesen also Unterstützung bei einem Manne, der es Jahrhunderte vor Horst Fuhrmann wie kaum ein anderer verstanden hatte, geistige Erkenntnisse in präzisen Bildern und Sentenzen auszudrücken: Martin Luther. Er notierte zwei Tage vor seinem Tode auf einem Zettel die berühmten hermeneutischen Grundsätze, die gerade auch für jeden Historiker Gültigkeit haben: Den Vergil in seinen Bucolicis könne niemand verstehen, er sei denn 5 Jahre Hirte gewesen. Den Vergil in seinen Georgicis könne niemand verstehen, er sei denn 5 Jahre Ackermann gewesen. Den Cicero in seinen Episteln könne schließlich niemand ganz verstehen, er habe sich denn 40 Jahre in einem großen Gemeinwesen bewegt.2 Wohlan! So gesehen bin ich für mein Thema nicht schlecht aufgestellt. Ich habe von 1972–1994, fast die gesamte Amtszeit von Horst Fuhrmann als Präsident der MGH, 22 Jahre, „Seit’ an Seit’“ mit ihm bei den Monumenta zusammengearbeitet. Eine Einschränkung: Ich nehme hauptsächlich die Perspektive des Wissenschaftlichen Mitarbeiters ein und verenge damit das Wahrnehmungsspektrum beträchtlich. Denn: Was sind die „Monumenta“ eigentlich? Lachen Sie nicht und machen Sie es sich nicht zu einfach mit Ihrem eingespielten Vorurteil. Ich glaube natürlich nicht, dass hier im Saale jemand auf dem Informationsstand jenes amerikanischen Urlauberpaares ist, das eines Tages in der Ludwigstraße 16 auftauchte und bei uns nach mittelalterlichen Skulpturen suchte (und dann vielleicht in Kassel auf der „Documenta“ nach unseren Editionen). Gerade in der gegenwärtigen Diskussion stellt sich die Frage neu, wer und was die „Monumenta“ eigentlich sind. Man könnte mit einiger Berechtigung die Frage in den Titel eines modernen philosophischen Bestsellers kleiden: „Wer sind wir – und wenn ja, wie viele?“ (Richard David Precht, 2007). Zu Horst Fuhrmanns Zeiten war das klarer. Ich werde mich beschränken und wenig erzählen von der Vielfalt der Organisation dieser „gelehrten Gesellschaft zur Erschließung der Quellen“, ihrer Zentraldirektion, ihren Akademieunternehmen, ihren auswärtigen Mitarbeitern, ihren Korrespondierenden Mitgliedern, obwohl Horst Fuhrmann auf all diesen Instrumenten meisterklasse-reif gespielt hat. 2

Martin Luther, Werke, Weimarer Ausgabe 48 (1927) S. 241 (in lateinischer Version).

Horst Fuhrmann und die Monumenta Germaniae Historica

Ich werde auch die Leistungen Fuhrmanns für das Kerngeschäft der MGH, die Editionen, nicht würdigen können, nichts also über das Constitutum Constantini und die Synode von Hohenaltheim 916. Sie haben vorher schon Einiges darüber erfahren. Ich bleibe im „Deutschen Institut für Erforschung des Mittelalters“, den „Monumenta Germaniae Historica“ in der Münchener Ludwigstrasse 16 und lade Sie am besten zunächst dazu ein, mit mir dieses Institut im Gebäude der Bayerischen Staatsbibliothek gedanklich und visuell zu betreten. Horst Fuhrmann betrat es selbst einige tausend Mal, und sein Blick fiel seit 1990 immer auf das riesenhafte Bild des Barock-Malers Antonio Bellucci (1654–1726). Er hatte es selbst als Leihgabe den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen abgetrotzt, und er würde mit seinem offenen Sinn für die materiellen Grundlagen auch der höheren menschlichen Vermögen jetzt gleich hinzufügen: Versicherungswert 70 Tausend DM – damals. Das Bild nahm ihn und uns Mitarbeiter gleichsam täglich in die Pflicht als Historiker, indem es uns seine Botschaft zukommen ließ: „Die Zeit – der Chronos – enthüllt die Wahrheit“. Was der Barock-Maler wissenschaftstheoretisch noch ganz naiv darstellte, wissen wir heute, auch dank Horst Fuhrmann, besser: Die Zeit verhüllt auch die Wahrheit, schafft erst den „garstigen Graben“ zwischen Gegenwart und Vergangenheit. „Live ist live“, nicht nur beim Fußball, und erinnernde Memoria ist kein Äquivalent für das Leben selbst, gerade nicht bei einem so brillanten und lebendigen Menschen wie Horst Fuhrmann. Trotzdem: Folgen Sie mir bei der Annäherung an ihn am besten in den langen Gang des Instituts, den er 1990 umgestalten ließ, weil ihm auch immer sehr an der Inszenierung von Wissenschaft lag und er um die Wirkung von Räumen wusste. Der Gang wurde nach seiner Idee zur großen Ahnengalerie, an den Wänden bestückt mit den Porträts des Gründers der MGH, des Freiherrn vom Stein, der Gründungsurkunde von 1819, der Heroen des 19. Jahrhunderts, der Mitarbeiter des 20. Jahrhunderts. Seit kurzem schaut Horst Fuhrmann selbst als Photographie beim Betreten des Lesesaals auf uns herab. Diese Bildinszenierung der Monumenta-Geschichte in ihren Repräsentanten verfehlte und verfehlt ihren Eindruck nicht. Girolamo Arnaldi, der langjährige Präsident unseres Schwesterinstituts in Rom, des Istituto storico italiano per il medio evo, sah sich gar beim Durchschreiten des Ganges zu quasi-

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religiösen Gefühlen erhoben: „è un po’ come per un cattolico che visiti per la prima volta la basilica di S. Pietro o un musulmano la Mecca“.3 Hat man den Gang abgeschritten und ist im Lesesaal gelandet, stößt man auf Horst Fuhrmann auf vielfache Weise. Hier stehen nicht nur seine Editionen, er kommt auch in unzähligen Vorworten zu Editionen seiner Amtszeit zu Wort. In der Schriftenreihe der MGH aber ist er ganz dickleibig vertreten, zunächst durch die drei Bände zu Pseudoisidor: „Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit“ (3 Bände, 1972– 1974). Er hat ja auch mehr oder weniger alle seine Tübinger Mitarbeiter, die er nach München mitbrachte, in den Bannkreis Pseudoisidors gezogen. Wie sehr hätte man es gerade ihm gewünscht, die Jahrhundertfrage lösen zu können, wer denn der oder die karolingerzeitlichen Fälscher jener rund 100 fingierten Briefe der Päpste der ersten Jahrhunderte waren. Das war ihm nicht vergönnt; aber er war der Lösung sehr nahe gekommen: Fast zeitgleich mit dem ersten bahnbrechenden Aufsatz von Klaus Zechiel-Eckes, in dem das Kloster Corbie in Nordfrankreich über Handschriftenanalysen als Fälscherwerkstatt dingfest gemacht werden konnte, veröffentlichte Fuhrmann seine Miszelle über „Pseudoisidor und die Bibel“. Ganz klassisch quellenkritisch, wie es einem Monumentisten ansteht, fällt hier über Zitatvergleich ausdrücklich der Name des Mentors der Fälschungen: Paschasius Radpertus!4 Dessen Matthäus-Kommentar hinterließ Spuren in Pseudoisidors Vorrede. Hier nur eine kleine Anekdote zum Erweis, wie stark Fuhrmanns wissenschaftliches Selbstbewusstsein gerade am Fälschungsthema hing: Eines Tages kam er von einem Vortrag aus Wien zurück, wo er offensichtlich mit seinen überragenden rhetorischen Fähigkeiten so gefesselt hatte, dass einer der Kollegen ihm das Kompliment machte: „Herr Fuhrmann, Sie hätten Schriftsteller werden sollen“. Das hat ihn aber gar nicht einschränkungslos gefreut. Fast wie um seinen wissenschaftlichen Ruf bangend, klagte er bei uns: „… als hätte man der Fachwelt

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Girolamo Arnaldi, in: Die internationale Bedeutung der MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA… (wie Anm. 9). Horst Fuhrmann, Pseudoisidor und die Bibel, DA 55 (1999) S. 183–191.

Horst Fuhrmann und die Monumenta Germaniae Historica

nicht weit über tausend Seiten Forschungen zu Pseudo-Isidor vorgelegt!“ Horst Fuhrmann und mittelalterliche Fälschungen! Einem großen Publikum war er nachgerade als der „Fälschungs-Fuhrmann“ bekannt geworden. Fälschungen waren dann auch das übergreifende Thema für den großen und internationalen Kongress, den die MGH im September 1986 veranstaltet haben. Das hatte es bis dahin und auch bis jetzt nicht wieder gegeben: Die mehr klösterlich, in stiller Hingabe an ihren Editionen werkelnden Mitarbeiter plötzlich beim Knüpfen internationaler Kontakte, bei Korrespondenzen über die vielen nicht gehaltenen, aber gedruckten Beiträge, bei Radiointerviews oder beim Quartierbeschaffen für Kolleginnen und Kollegen aus dem damaligen Ostblock. 545 Teilnehmer hatten sich aus dem In- und Ausland angesagt; besonders eindrücklich für damalige Zeiten war eben auch die forcierte Präsenz von Kollegen hinter dem Eisernen Vorhang, der terra incognita für uns Westler. Erst im Nachhinein, nach dem Fall der Berliner Mauer, wurde das Dramatische mancher Teilnahme sichtbar, wie z. B. Kollegen aus der damaligen Tschechoslowakei mit geschmuggelten Devisen in den Schuhen die Grenzkontrollen überstanden. Die fünf Bände dieses großen Monumenta-Kongresses stehen im Bücherregal nicht weit entfernt von Fuhrmanns „Pseudoisidor“, und darin finden wir auch seinen Schlussvortrag „Von der Wahrheit der Fälscher“ und finden uns reich belehrt über die Dialektik des Fälschens.5 Mit seinem ausgeprägten Spürsinn für schlagende Exempla illustrierte er die „gefühlte“ Berechtigung nicht nur mittelalterlicher Fälschungen am Fall der Bäuerin Kreszentia Deutinger aus Bad Kohlgrub; die war 1979 verstorben, ohne ein Testament zu hinterlassen, aber mit dem Willen, der Gemeinde ihren Besitz von rund zwei Millionen Mark zu vererben. Den Mangel eines fehlenden Testaments behob ein Verwaltungsoberamtmann. Als die Fälschung aufflog, musste das Gericht eine Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen Urkundenfälschung und Betrug aussprechen, obwohl es nicht daran zweifelte, dass der Amtmann im Sinne der Erblasserin gehandelt habe. 5

Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongress der Monumenta Germaniae Historica, München, 16.–19. September 1986, 5 Textbände, 1 Registerband (MGH Schriften 33, 1–6; 1988/1990), darin Horst Fuhrmann, Von der Wahrheit der Fälscher, Band 1, S. 83–98.

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Schwenken wir bei unserem Rundgang durch den Lesesaal der Monumenta-Bibliothek nun auf die Seite mit den Zeitschriften und verweilen beim „DA“ („Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters“), der Hauszeitschrift der Monumenta. Horst Fuhrmann war jahrzehntelang ihr Herausgeber. Flexibler und zeitnäher als mit Editionen oder gar Mammut-Kongressen mischen sich die Monumenta mit dieser Zeitschrift in das Geschäft der Mediävistik ein, mit beachtlicher Breitenwirkung. Unvergessen ist die Erinnerung daran, mit welchem Hochgefühl Horst Fuhrmann eines Tages vom Böhlau-Verlag nach Hause kam mit dem Urteil, das DA sei das Flaggschiff unter den wissenschaftlichen Zeitschriften des Hauses. Das angestrebte Niveau schilderte Fuhrmann selbst in einer Eingabe an die Deutsche Forschungsgemeinschaft um Druckkostenbeihilfe: „Es ist vorgekommen, dass ein Beitrag [gemeint ist im Aufsatzteil des DA] von 6 bis 8 namhaften Mediävisten begutachtet wurde – um nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen der Umarbeitung endgültig verworfen zu werden. So aufwendig dieses Verfahren im Einzelfall erscheinen mag, so verdeutlicht es hinreichend den Ernst, mit dem Manuskripte für das Deutsche Archiv geprüft werden. Dieser beträchtliche Aufwand an Zeit und Sorgfalt begründet den Ruf des Deutschen Archivs als einer im deutschsprachigen Raum und auch im internationalen Rahmen führenden mediävistischen Zeitschrift“.6 Sie können ermessen, was es bedeutet, wenn mich meine Frau beim wöchentlichen Hausputz mit der Frage bedrängt: „Putzen wir heute normal oder in DA-Qualität“? Noch sensibler als die Aufsätze sind wohl die Besprechungen und Rezensionen des Schrifttums der internationalen mediävistischen Zunft. In der Amtszeit Fuhrmanns steigerte sich die Zahl der rezensierten Autoren stetig. Zählt man im letzten Band 26 vor der Herausgeberschaft Fuhrmanns die Namen der rezensierten Autoren, so kommt man auf knapp 800; zwanzig Jahre später mit Band 47 sind es schon 2595 – über dreimal so viel! Doch Fuhrmann kam es nicht nur auf die Quantität an. Wichtiger war ihm das kritische Profil der Zeitschrift. Da blieben Kritik und 6

Brief von Horst Fuhrmann an die Deutsche Forschungsgemeinschaft vom 10. Juli 1982 (Archiv der MGH).

Horst Fuhrmann und die Monumenta Germaniae Historica

Klage nicht aus; aber im Konfliktsfall sprang der Herausgeber seinen Mitarbeitern sofort und solidarisch zur Seite. Ich darf auf einen selbst erlebten Fall verweisen, ausgerechnet bei meiner allerersten Rezension, der dann hunderte andere, Gott sei Dank meist nicht mehr beanstandete folgen sollten. Als Anfänger ist man ja besonders kritisch, und so kam es, dass ich einen Autor vielleicht doch etwas über Gebühr genau unter die Lupe nahm und ihm eine kleine Variantenschlacht lieferte über Handschriften, in denen ich eben als Doktorand noch besser zu Hause war als er. Die Reaktion: Der Leiter des Verlags, bei dem das Büchlein erschienen war, schrieb einen Beschwerdebrief, in dem er der Rezension eine „unerträgliche Unverfrorenheit“ und eine „irreführende Desinformation“ vorwarf, und verlangte eine mildere Besprechung. Horst Fuhrmann antwortete mit einem 6-seitigen Gegen-Brief an den Verleger, häufte weitere Kritikpunkte auf und endete: „Wenn Sie, sehr geehrter Herr…, Ihren Brief mit dem meinen vergleichen, so werden Sie bemerken, dass ich mich eines zivilen Tones befleißigt und darüber hinweggesehen habe, dass durch mich als Herausgeber [anscheinend] Rezensionen zugelassen würden, die ,mit geradezu unerträglicher Unverfrorenheit eine in dieser Form die wissenschaftliche Öffentlichkeit irreführende Desinformation liefern‘. Ich möchte Sie bitten, in der Korrespondenz mit mir in Zukunft solche Töne zu unterlassen“.7 Dass sich ein wissenschaftliches Schwergewicht wie Horst Fuhrmann derart dezidiert vor seinem Rezensions-Neuling in die Bresche warf, gab natürlich auch diesem Standfestigkeit; mich jedenfalls beschlich bei einem solch sprachgewaltigem Schutzherren das Gefühl jenes Schneidermeisters der Biedermeierzeit, der anlässlich des Besuches seines Landesvaters an den Eingang zu seiner Werkstatt ein Schild aufgehängt haben soll: „Unter Deinen Flügeln kann ich ruhig bügeln.“8 À propos Schutz des Landesvaters! Das Land Bayern hatte und hat nach der Satzung der MGH seine schirmende Hand über die MGH zu halten. Horst Fuhrmann las genau die Statuten, in deren § 2 es heißt: „(1)  Die MGH haben von jeher eine Aufgabe für das ganze deutsche Sprachgebiet und bedürfen einer entsprechenden Finanzierung. (2)  Sie 7 8

Brief von Horst Fuhrmann vom 12. Januar 1977 (Archiv der MGH). Politikkommentar („Bügeln mit Köhler“) von Heribert Prantl, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.6.2007.

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haben seit 1946 ihren Sitz in München und genießen dadurch im besonderen Schutz und Förderung durch den Freistaat Bayern.“ So suchte und fand er auch einen engen Kontakt zur Bayerischen Staatsregierung. Das ganze Institut fieberte mit, als er im Juni 1985 in der Staatskanzlei beim dortigen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, einem kundigen Philologen, eine Audienz bekam und dem Landesvater die Arbeit der MGH erklären konnte, natürlich anhand von Kaiserurkunden (Barbarossa!) und dem Deutschen Archiv. Als es beim Präsidentenwechsel zu Rudolf Schieffer im Jahre 1993 zu Schwierigkeiten kam, schaltete Fuhrmann wieder die Staatskanzlei ein, aktivierte sofort das internationale Netz der Korrespondierenden Mitglieder und ließ Briefe an den nunmehrigen Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, Dr. Edmund Stoiber, schreiben, welche die internationale und historische Bedeutung der MGH ins rechte Licht rückten.9 Wie muss es dem Bayerischen Ministerpräsidenten in den Ohren geklungen haben, falls er die hymnischen Lobpreisungen je gelesen hat. Es war die Rede vom „valore europeo ed anzi mondiale“ der Monumenta Giulio (Battelli), und Christopher Brooke von der British Aca-demy und Medieval Academy of America schrieb: „The Monumenta, both as a symbol and in its reality, represents the highest standards of scholarship in the field of medieval historical studies in the world“. Wir profitieren bis zum heutigen Tag von dieser internationalen Vernetzung. Wie aber haben wir Horst Fuhrmann im Instituts-Alltag erlebt? Bei aller Akribie, die er in Monumentisten-Tradition den Mitarbeitern abverlangte, hatte er nicht nur die Arbeit im Auge, sondern auch die Arbeitenden. Er kümmerte sich nicht nur um die Edition, sondern auch um den Editor, nahm – bei aller höflichen Distanz – Anteil an dessen Familienleben und seinen Lebensumständen. Die Dialektik vom Herrn und Knecht war dabei keinesfalls aufgehoben, und zuweilen war dann das Verhältnis sogar ausgesprochen „undialektisch“. Das sah 9

Die internationale Bedeutung der MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA. Eingaben Korrespondierender Mitglieder der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica aus Anlass des bevorstehenden Wechsels im Amt des Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica gerichtet an den Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern Dr. Edmund Stoiber, August/September 1993.

Horst Fuhrmann und die Monumenta Germaniae Historica

dann ungefähr so aus, dass er eines Tages zusammen mit Alexander Patschovsky, der die Redaktion des „Deutschen Archivs “ wegen seines Wechsels an die Universität aufgeben wollte, vor mir stand mit den Worten: „Wir haben keinen Besseren als Sie als Nachrücker“. Das war nicht etwa ein Lob, das war ein Befehl! Widerspruch unmöglich, zumal ich den gar nicht so schnell hätte formulieren können, wie das Fallbeil über mir gefallen war. Auch wenn ich darin bis heute nicht gerade ein Glanzstück demokratischer Mitarbeiter-Führung zu sehen vermag, wie er das sagte, war das kein menschenverachtender Zynismus, schon eher patriarchalische Gestaltungssorge. Oder: Eines Abends kam er von einer Sitzung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zurück und überfiel mich mit der Kunde: „Der Kollege soundso kam darauf zu sprechen, dass es in tibetanischen Mönchskreisen Bußbestimmungen gebe für allerlei sexuelle Abweichungen. Das kennen wir doch auch aus unserem Frühmittelalter. Stellen Sie mir doch mal eine Liste dieser Merkwürdigkeiten zusammen, wie sie sich in den Bußbüchern des Abendlandes finden“ – und vergaß nicht hinzuzufügen: „Das kostet Sie höchstens eine Viertelstunde.“ Natürlich kostete es mich die halbe Nacht – und ich konnte ihm das noch nicht einmal sagen, da er die Sache so dezidiert für die Angelegenheit einer Viertelstunde erklärt hatte. Die Richtigstellung wäre nur auf mich selbst zurück gefallen. Sein Führungsstil war im Max Weber’schen Sinne nicht „bürokratisch“; er saß nicht Punkt 9 Uhr an seinem Schreibtisch und klappte Punkt 17 Uhr das Pult zu und verschonte auch die Mitarbeiter vor strengem Zeitreglement durch Stechuhren oder ähnliches. Der Führungsstil war schon eher „traditional“, war er doch der Präsident einer hochgeachteten alten Institution und hatte in seiner Ahnenreihe Leute wie Paul Fridolin Kehr, an dessen Büste vorbei er immer sein Amtszimmer betrat und dessen „unnachahmliche Rücksichtslosigkeit“ er gerne mit dem Diktum zitierte „Ich stelle um 1 Uhr ein und entlasse um 4“.10 Er selbst stellte zwar nicht um ein Uhr ein und entließ um vier, aber Mitbestimmung der Mitarbeiter war sein erstes Anliegen auch nicht. 10 Paul F. Kehr, Zugänge und Beiträge zu seinem Wirken und zu seiner Biographie. Veranstaltung zum 60. Geburtstag von Arnold Esch am 20. Mai 1996 (1996) S. 23.

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Er hat sogar Versuche der Mitarbeiter geschickt umgelenkt, die sich im Gefolge der 68er-Jahre einen Vertreter in der Zentraldirektion sichern wollten. Die Mitarbeiter fanden sich stattdessen zum jährlichen Rapport vor derselben wieder. In der Schlussphase dieser Beratungen hatten die einzelnen Mitarbeiter den Fortschritt ihrer jeweiligen Projekte vorzustellen, und weil die Projekte eben Monumenta-Niveau haben sollten, dauerte – und dauert – der Forschritt auch schon mal etwas länger. Natürlich baute sich dadurch ein Erwartungsdruck auf, den der Präsident durchaus wohldosiert ausnützte. Und doch: Bei allem Drängen konnte Horst Fuhrmann auch wieder positiv motivieren und befreiend den gefühlten gordischen Knoten durchschlagen mit einer seiner unvergleichlichen Sentenzen: „Wir sind nicht früher, wir sind nicht später; wir sind – besser!“ So gefällt mir unter den Max Weber-Kategorien von Herrschaft für Horst Fuhrmann am besten das Charakteristikum: „charismatisch“. Man ging kaum von ihm weg, ohne nicht zur Arbeit motiviert worden zu sein. Gab er allerdings Anweisungen, kam man nicht so leicht an gegen seine Rhetorik, seine sprühende Aktivität, seine geistesgegenwärtigen Reaktionen. Direkten Widerspruch erhielt er nur von ganz ausgeprägten Charakteren, an denen es im Institut nicht gänzlich mangelte; solchen Widerspruch hielt er aus. Richtig verärgert habe ich ihn eigentlich nur ganz selten erlebt, und das war als Personalrat, dessen Einrichtung er im Allgemeinen ziemlich kommentarlos duldete. Horst Fuhrmann lag allerdings ausdrücklich an einer – modern gesprochen – „corporate identity“ des Instituts, und in die bezog er wissenschaftliche Mitarbeiter ebenso ein wie die Raumpflegerin. „Frau X“, konnte man morgens seine laute Stimme durch den langen Gang hallen hören – und man wusste, ab jetzt wird wieder regiert –, „wenn einer meiner wissenschaftlichen Mitarbeiter fehlt, merke ich das nicht; bei Ihnen ist das ganz anders.“ So drängte er auch immer auf den jährlichen Betriebsausflug, der sich im Laufe der Zeit auf ein typisch bayerisches Lebensgefühl einfluchtete: Kloster oder Schloss, Wandern und Biergarten. Oder der Betriebsausflug endete bei ihm selbst in seinem schönen Haus und Garten in Steinebach am Wörthsee unter der kulinarischen Fürsorge von Ihnen, liebe Frau Fuhrmann. Natürlich war er auch da der Platzhirsch – und manchmal sogar der Meisterschütze in einem. Wer sah, mit welchem Genuss er seine Schweinshaxe verzehrte und

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sein Weizenbier trank, bei nicht nachlassender Unterhaltung und Belehrung seiner Tischgesellschaft, der wusste, Horst Fuhrmann war nicht nur höherer bayerischer Staatsbeamter, er war auch innerlich in Bayern angekommen. Er hat nach seiner Emeritierung die Monumenta um eine wunderbare Darstellung ihrer Geschichte bereichert, nicht trocken akademisch, sondern blutvoll-lebendig in den Personen, welche am Ruhm der Monumenta arbeiteten, manchmal unter blamablen Bedingungen. Er nahm die Personen wahr, nicht nur ihren Beitrag zur sogenannten reinen Wissenschaft, und stellte seine Monumenta-Geschichte deswegen unter das Goethe-Wort: „Sind eben alles Menschen gewesen“. Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter (München 1996).11 Bei seinen Schlussbetrachtungen warnt er mit folgenden Worten: „Es sollte nicht Droysens Vorwurf in neuer Form wiederaufleben: dass wir in eine Kritik versinken, deren ganzes Kunststück darin besteht, das Abschreiben eines armen Teufels von Chronisten von einem anderen darzustellen. Die Aufgabe eines Historikers sei nicht technisches, sondern intellektuelles, vielleicht sogar menschliches Verstehen.“12 Damit hat er sich selbst ein schönes wissenschaftstheoretisches Denkmal gesetzt und den Monumenta ein hohes Ziel formuliert. Dass er die Wissenschaft von einer bloßen Technik in eine Kunst zu verwandeln wusste, machte wohl seine Attraktivität für die Kollegenschaft wie für eine breite Öffentlichkeit aus, ebenso seine geistreiche Souveränität und sein Witz. Wie sehr ihm immer der Schalk im Nacken saß, soll meine letzte Anekdote belegen. Er war als Editor des Constitutum Constantini, als Verfasser von vielen Aufsätzen zur Gregorianischen Reform, als erster Kenner Pseudoisidors von jeher von der Papstgeschichte besonders angezogen. So entstand aus seinen Vorträgen im Bayerischen Rundfunk 1980 in erster Auflage sein Buch „Von Petrus zu Johannes Paul II. Das Papsttum: Gestalt und Gestalten“. Wie Sie gehört haben, hat dieses Buch 2005 seine letzte Auflage erfahren und ist erweitert worden bis zu 11 Hervorgegangen ist das Buch aus dem Jubiläumsvortrag zum Gedenken an 175 Jahre Monumenta: „Gelehrtenleben“, DA 50 (1994) S. 1–31. 12 Ebenda S. 126.

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Benedikt XVI. Und zu Benedikt dem XVI. führt auch eine Spur für ihn, den Protestanten „ohne besonderen Bekenntnisdrang“13. Noch lange bevor jemand daran dachte, was aus dem Regensburger Kollegen Joseph Ratzinger noch werden würde, hatte mich Horst Fuhrmann dazu gedrängt, den damals noch beschaulich an der Universität wirkenden Professor als Zweitprüfer zu meinem Rigorosum zu bitten; ich hatte ja schon katholische Theologie bei ihm in Tübingen studiert. Also reiste ich zur Vorbesprechung der Prüfung an die Universität Regensburg. Wie nach längerem Gespräch über Eschatologie, katholische Dogmatik und allerlei Tübinger Interna die Sekretärin ins ProfessorenZimmer trat, um Blumen zu gießen, wusste ich, die Audienz ist beendet; und wie wir aus dem Zimmer gehen, weist der damalige Professor wie beiläufig auf sein Bücherregal mit den Worten: „Hier steht das Werk Ihres Lehrers über Pseudoisidor. Ich lerne viel daraus für meine Dogmatik.“ Solch wertschätzende Wahrnehmung konnte ich Horst Fuhrmann natürlich nicht vorenthalten – und er schien sich sehr darüber zu freuen, hat es sich jedenfalls gemerkt, so sehr, dass er bald nach der Wahl Ratzingers zum Papst am 19. April 2005 in mein Zimmer stürzte: „Sie haben doch vor Jahren gesagt, Ratzinger habe meinen Pseudoisidor im Bücherregal stehen gehabt und daraus Honig gesogen. Stimmt das?“ Ich konnte guten Gewissens bejahen. Er zog befriedigt von dannen, dreht sich aber im Türrahmen nochmals um: „Auch wenn Sie jetzt ‚nein‘ gesagt hätten, ich hätte es trotzdem weiter behauptet.“ Recht so! Die „Wahrheit der Fälscher“!

13 Horst Fuhrmann, Von Petrus zu Johannes Paul II. (1980) S. 11.

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Horst Fuhrmann und das Historische Kolleg* Es gibt in München, dem Zentrum seines wissenschaftlichen Wirkens über vier Jahrzehnte hinweg, mehrere sinnfällige Orte für eine Veranstaltung zur Erinnerung an Horst Fuhrmann. Die Kaulbach-Villa gehört zweifellos dazu, denn in seiner Amtszeit als Vorsitzender des Kuratoriums des Historischen Kollegs wurde sie zu Beginn des Kollegjahres 1988/89 erstmals von drei Forschungs- und zwei Förderstipendiaten und einer kleinen und klein gebliebenen Verwaltung bezogen; und Horst Fuhrmann hat diesen Ort geliebt, vom Keller bis zum Dach.

I. Die äußeren Daten, die sich mit Fuhrmanns Leitung des ersten geschichtswissenschaftlichen „Institutes for Advanced Study“ in Deutschland verbinden, sind rasch aufgezählt1: Persönliches Mitglied des Kuratoriums des Historischen Kollegs war er von 1978, also von Anfang an, bis ins Jahr 1991, als er sich nach seiner Wahl zum Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften als „geborenes“, als Mitglied von Amts wegen bei sich selbst als Vorsitzendem des Kuratoriums *

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Ich danke Herrn Georg Kalmer, Geschäftsführer der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von 1973 bis 2005, der von 1979 bis 2007 auch Geschäftsführer des Historischen Kollegs war, und Frau Dr. Elisabeth Müller-Luckner, von 1980 bis 2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Historischen Kolleg, sehr herzlich für die gewährten Zeitzeugen-Interviews. Herrn Dr. Karl-Ulrich Gelberg, dem derzeitigen Geschäftsführer des Historischen Kollegs, danke ich für die Vorlage der Archivalien. Zu Daten und Personen vgl. hier und generell: Lothar Gall (Hrsg.), 25 Jahre Historisches Kolleg. Rückblick – Bilanz – Perspektiven, München 2006, S. 125–205. Ohne Einzelnachweise werden auch die Protokolle der Sitzungen des Kuratoriums des Historischen Kollegs herangezogen.

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des Historischen Kollegs meldete.2 Mit dem Ende seiner Amtszeit als Akademiepräsident 1997 schied er nach zwei Jahrzehnten prägender Mitwirkung auch aus dem Kuratorium aus. An dessen Spitze war er nach dem unerwarteten Tod des Gründungsvorsitzenden Theodor Schieder (1908–1984) im Jahr 1984 gewählt und dann sechs Mal wiedergewählt worden. Wie sein Vorgänger als Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Fuhrmann seit 1972 ebenfalls angehörte, trat mit ihm als Präsident der Monumenta Germaniae Historica (MGH) von 1971 bis 1994 wieder einer der führenden, in München angesiedelten Repräsentanten der deutschen Geschichtswissenschaft an die Spitze des Historischen Kollegs. Er blieb ihm, zu dessen Gründungsvätern er schon vor Beginn des ersten Kollegjahres 1980/81 gehört hatte, eng verbunden und zählte zu seinen oft gesehenen Gästen bis in seine letzten Lebensjahre hinein, wurde selber Mitglied jener „Kolleggemeinde“, als die er die treuen Besucher der öffentlichen Vortragsveranstaltungen der Kollegiaten gerne bezeichnete.

II. Es machte Fuhrmann erkennbar große Freude, diese „Kolleggemeinde“ so oft als irgend möglich selbst zu begrüßen, die Referenten vorzustellen und in die Thematik der Einzelvorträge einzuführen. Viele – so wird kolportiert – sollen weniger wegen des Fachvortrages eines Stipendiaten in den Plenarsaal der Akademie gekommen sein, als vielmehr um Fuhrmanns geistreiche, auch akustisch verständliche, sprachlich geschliffene, die schöne und wahre Formulierung liebende, amüsante, neugierig machende Einführung zu hören. Das hat den Hauptvortragenden des Abends nicht immer nur erfreut, zumal dann nicht, wenn der Laudator manches vorwegnahm. Aber der Landeshistoriker Peter Blickle etwa, Forschungsstipendiat im Kollegjahr 1993/94, erinnerte sich in seinem Antwort- und Dankesschreiben auf Fuhrmanns Ab2

Neues Persönliches Mitglied wurde für ein Jahrzehnt Arnold Esch, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, dem 2002 mit Claudia Märtl die jetzige Präsidentin der MGH folgte.

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schiedsbrief3 anlässlich seines Ausscheidens aus dem Kuratorium: „So viel Humor, Charme, Witz und Freundlichkeit begegnet einem selten ein zweites Mal im Leben, wenn man auf ein Rednerpult geht.“4

III. So ganz in seinem Element war Horst Fuhrmann bei den alle drei Jahre vorgenommenen Verleihungen des Preises des Historischen Kollegs, des „Deutschen Historikerpreises“, wie er inzwischen allgemein genannt wird, in den Jahren 19865, 19896, 19927 und 19958, den – zur Tradition werdend – die Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker an den Mediävisten Arno Borst (1925–2007) sowie an die NeuzeitHistoriker Reinhart Koselleck (1923–2006) und – postum – Thomas Nipperdey (1927–1992) und Roman Herzog an den Mediävisten Johannes Fried übergaben. Da konnte er in festlicher Versammlung als Laudator auf Arno Borst seine ganze Bewunderung für einen hochgeschätzten mediävistischen Fachkollegen, dem er den Preis von Herzen gönnte, und seinen ganzen menschlichen Charme zum Ausdruck brin-

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Archiv des Historischen Kollegs: Brief vom Dezember 1997 (nicht genauer datiert). Archiv des Historischen Kollegs: Brief vom 17. Dezember 1997. Zweite Verleihung des Preises des Historischen Kollegs. Aufgaben, Stipendiaten, Schriften des Historischen Kollegs (= Schriften des Historischen Kollegs, hrsg. von der Stiftung Historisches Kolleg, Dokumentationen, Bd. 4), München 1987. Dritte Verleihung des Preises des Historischen Kollegs. Aufgaben, Stipendiaten, Schriften des Historischen Kollegs (= Schriften des Historischen Kollegs, hrsg. von der Stiftung Historisches Kolleg, Dokumentationen, Bd. 7), München 1991. Vierte Verleihung des Preises des Historischen Kollegs. Aufgaben, Stipendiaten, Schriften des Historischen Kollegs (= Schriften des Historischen Kollegs, hrsg. von der Stiftung Historisches Kolleg, Dokumentationen, Bd. 10), München 1993. http://www.historischeskolleg.de/fileadmin/pdf/dokumentationen_historikerpreis_pdf/1995_ 11_17_f. Sämtliche Dokumentationen seit 1983 finden sich auch unter: http://www.historischeskolleg.de/publikationen/dokumentationen-des-historikerpreises.html.

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gen9, und er konnte als begrüßender Vorsitzender der Stiftung beziehungsweise des Kuratoriums des Historischen Kollegs sowie zweimal zugleich als gastgebender Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften so ganz seinen Neigungen zur fröhlichen Repräsentation, zur „sinnreiche[n] Glanzentfaltung“10 und zur weiten historischen Reflexion über Epochen hinweg im Kleinen wie im Großen nachgeben. Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka, Stipendiat im Kollegjahr 1983/84, erinnerte sich Ende 1997 der „leichte[n] Eleganz“ der „wunderschöne[n] Reden“ Fuhrmanns bei solchen Gelegenheiten.11

IV. Horst Fuhrmann war der erste Kuratoriumsvorsitzende, der in München arbeitete und aufgrund seiner vielfältigen Aufgaben präsent war. Das machte die Wege ins Kolleg kurz, zumal nach Bezug der KaulbachVilla, vom Nachbargrundstück mit der Bayerischen Staatsbibliothek, dem Sitz der MGH, herüber oder dann von der Akademie aus. Er kümmerte sich, ließ sich vom Geschäftsführer, Herrn Kalmer, über aktuelle Angelegenheiten informieren, erkundigte sich nach dem Stand bevorstehender Veranstaltungen und Publikationen, führte grundsätzliche Gespräche. Seine fortlaufende Dankbarkeit für vieles drückte er gegenüber Herrn Kalmer brieflich einmal so aus: „Der Ferne Osten kennt Gebetsmühlen, und ich werde mir eine laut und melodisch klingende Dankesmühle für Sie anschaffen.“12 Fuhrmann verstand sich geradezu als „Bewohner“13 der Villa, denn er suchte sie nicht nur zu Sitzungen, Vorträgen und Tagungen auf. Er 9 Horst Fuhrmann, Laudatio auf Arno Borst, in: Historische Zeitschrift 244, 1987, S. 529–535; ebenda, S. 537–555, Arno Borsts Preisverleihungs-Vortrag: Was uns das Mittelalter zu sagen hätte. Über Wissenschaft und Spiel. 10 Archiv des Historischen Kollegs: Brief des Neuhistorikers Ernst Schulin, Stipendiat im Kollegjahr 1985/86, an Fuhrmann vom 18. Dezember 1997. 11 Archiv des Historischen Kollegs: Brief vom 15. Dezember 1997. 12 Archiv des Historischen Kollegs: Brief Horst Fuhrmanns an Georg Kalmer vom 19. Januar 1991. 13 Horst Fuhrmann, Die Lehre vom Haus und das Haus der Gelehrten“, in: Horst Fuhrmann (Hrsg.), Die Kaulbach-Villa als Haus des Historischen

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pflegte den Kontakt zu den Mitbewohnern, den wissenschaftlichen und den verwaltenden Mitarbeitern und zu den Kollegiaten, die er auch – wie als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates des Deutschen Historischen Instituts in Rom14 – in ihren Studier- und Arbeitszimmern aufsuchte, war gelegentlich gar in ihre Münchener StipendiatenWohnungen eingeladen. Geradezu legendär – und von ihm sehr geschätzt, obwohl er die Sonne mehr liebte – sind die mehrmals jährlich zwischen 13 und 15/16 Uhr veranstalteten „Kelleressen“ in den Katakomben des Hauses direkt neben der Küche, für die gut gekocht und zu denen deftige schmackhafte Speisen, wie sie der Schlesier liebte, aufgetischt wurden und – bei denen für ihn das Weißbier nicht fehlen durfte. Er gab den Ton an und beeindruckte seine Gesprächspartner immer wieder mit der Breite und Tiefe seiner Kenntnisse, weit, weit über die Mediävistik und die Wissenschaftsgeschichte hinaus. Überhaupt liebte es Horst Fuhrmann zu feiern. Seinen 70. Geburtstag beging er am 29. Juni 1996 als Kuratoriumsvorsitzender in der Kaulbach-Villa, zu dem Hans Zehetmair als stellvertretender Ministerpräsident des Freistaates Bayern und Bayerischer Staatsminister für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst, Dr. Horst Niemeyer (1929–2005) als Generalsekretär des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft und Geschäftsführendes Mitglied des Historischen Kollegs sowie Rudolf Schieffer als Präsident der MGH Grußworte sprachen und der Frankfurter Mediävist Johannes Fried, Stipendiat im Kollegjahr 1990/91, die Laudatio hielt. Den Teilnehmern, darunter auch viele ehemaligen, zum Teil aus dem Ausland gekommene Stipendiaten, bis heute unvergesslich ist die große Feier am 1. Juli 1991 anlässlich des 65. Geburtstages Horst Fuhrmanns. Zu ihr hatte neben Horst Niemeyer für den Stifterverband Hilmar Kopper für den Stiftungsfonds Deutsche Bank zur Förderung der Wissenschaft in Forschung und Lehre mit den Worten eingeladen: „Dem Jubilar, der uns das Fremde, Andersartige des Mittelalters gelehrt hat, aber dennoch ,Lachen, Heiterkeit und Daseinsfreude als heilsgefährdend‘ nicht anzusehen vermag, Kollegs. Reden und wissenschaftliche Beiträge zur Eröffnung, München 1989, S. 17–36, hier S. 27. 14 Arnold Esch, Horst Fuhrmann 1926–2011, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 91, 2011, S. LXX–LXXIV, hier S. LXXIII.

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würden Sie mit Ihrer Teilnahme eine besondere Freude bereiten.“ Nach Glückwünschen und Laudatio machte ein Konzert mit Claudia Eder, Mezzosopran, und Claudia von Lewinski, Klavier, die Feier zum Fest, das zu später Stunde auf der Terrasse mit einem von Klaus Schreiner, Stipendiat im Kollegjahr 1987/88, verfassten Gedicht auf den Jubilar ausklang. Fuhrmann, der auch über den „Jubel“ geforscht, „eine historische Betrachtung über den Anlass zu feiern“ angestellt hatte15, erfreute solch heitere Geselligkeit, entspannt, aber doch niveauvoll, und er stand dann auch gerne im Mittelpunkt. „Beim Jubel“ gab es dann doch etwas „zu lachen“. 16

V. Neben den vier Verleihungen der Preise des Historischen Kollegs während seiner Zeit an der Spitze des Kuratoriums war die Eröffnung der Kaulbach-Villa als Sitz des Historischen Kollegs am 24. November 1988 – nach der anfänglichen Unterkunft in der 2. Etage des Hauses Sonnenstraße 10 in der Nähe des „Stachus“ – der Höhepunkt seiner Amtszeit. Und dieses Haus – insbesondere auch seine Innenausstattung – lag ihm wirklich am Herzen, seit er Mitglied des Bauausschusses geworden war. So naheliegend es war, dass er die zu diesem Anlass erschienene Schrift „Die Kaulbach-Villa als Haus des Historischen Kollegs“17 herausgab und selber den Festvortrag mit dem sinnfälligen Titel „Die Lehre vom Haus und das Haus der Gelehrten“ hielt18, so war es keineswegs selbstverständlich, dass er sich auch um die Bilddokumentation selber kümmerte.19 Aber Bilder waren ihm neben dem Text immer sehr wichtig, und so war es ihm ein besonderes Anliegen, die wechselvolle Geschichte dieser Münchener Künstler-Villa anhand von 55 Abbildungen mit mal kürzeren, mal längeren Bildunterschriften, 15 Horst Fuhrmann, Einladung ins Mittelalter, München 1987, S. 239–252; ebenda, S. 242, auch das Zitat aus der genannten gedruckten Einladung. 16 Ebenda, S. 240: „Beim Jubel gibt es nichts zu lachen.“ 17 Fuhrmann (Hrsg.), Die Kaulbach-Villa (wie Anm. 13). 18 Fuhrmann, Die Lehre vom Haus (wie Anm. 13). 19 Horst Fuhrmann, Die Kaulbach-Villa und ihre Geschichte, in: Fuhrmann (Hrsg.), Die Kaulbach-Villa (wie Anm. 13), S. 175–230.

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mitunter sorgfältig erarbeiteten, ausgefeilten Miniaturen zu erzählen, beginnend bei Gemälden des Bauherrn Friedrich August von Kaulbach (1850–1920) in einem Selbstporträt, seiner zweiten Ehefrau Frida Schytte (1871–1948) sowie des Prinzregenten Luitpold (1821–1912) in bayerischer Generalsuniform und endend – fast möchte man sagen: „typisch Fuhrmann!“ – mit einer Auswahl von dessen wenig bekannten Karikaturen, immer informativ und geistreich zugleich kommentierend, sei es beim Thema „Lenbach und Papst Leo XIII.“, sei es zu den Selbstkarikaturen Kaulbachs, unter anderem als Kaiser Karl V. nach dem Gemälde Tizians in der Kneipzeitung der 1873 von Lenbach mitbegründeten Münchener Künstlergenossenschaft „Allotria“.20 Franz von Lenbach (1836–1904) baute etwa zeitgleich mit Kaulbach seine Stadtvilla und hatte den seit 1878 amtierenden Papst Leo XIII. (1810–1903) während seines Rom-Aufenthaltes ab 1883 im Vatikan nach eigens angefertigten photographischen Vorlagen in einem Gemälde porträtiert; in einer Karikatur sitzt der Heilige Vater mit Tiara vor einer Kamera, in Position gebracht von Lenbach mit Heiligenschein.21 Die Renovierung der von 1887 bis 1889 gebauten Villa in den Jahren von 1984 bis 1988 – nach einem und ganz besonders auch ihrem bewegten Jahrhundert als Künstler-Villa, als Haus des studentischen Corps Bavaria, als „repräsentatives Dienstgebäude“ des Münchener Gauleiters und Staatsministers Adolf Wagner (1890–1944) und als Sitz des amerikanischen Soldatensenders „American Forces Network“ (AFN) – verfolgte Fuhrmann mit großer Aufmerksamkeit, insbesondere nachdem der meldepflichtige sogenannte „Echte Hausschwamm“ entdeckt worden war, der „Merulius lacrimans“. Dieser brachte ihn – wie sonst bisweilen Bauherren – zwar nicht zum Weinen, aber er wurde ihm in vielen Äußerungen zur Metapher für die Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten der Renovierung eines alten Hauses, ja den unliebsamen Überraschungen des Lebens überhaupt. Und bei seinen Hausführungen verwies Fuhrmann im heutigen Bibliotheks- und Vortragssaal, dem früheren Atelier Kaulbachs, auf die ochsenblutrot gestrichene Holzdecke, wobei er offen ließ, ob die Farbe tatsächlich Ochsenblut enthielt, was früher durchaus der Fall gewesen sein kann. 20 Ebenda, S. 226–229, hier S. 229. 21 Ebenda, S. 227, unten.

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Aber der Beginn in der Kaulbach-Villa sollte überschattet werden von der Ermordung Dr. Alfred Herrhausens (1930–1989), des Sprechers des Vorstandes der Deutschen Bank AG, am 30. November 1989, der eine Woche zuvor noch an einer Sitzung des Kuratoriums des Historischen Kollegs teilgenommen hatte; gerade einmal ein Jahr war es her, dass Herrhausen als Mitglied des Vorstandes des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft die Begrüßungsrede beim Bezug dieses Hauses gehalten hatte22, das für das Historische Kolleg in Besitz zu nehmen, ihm die Erfüllung eines früh formulierten Wunsches bedeutete, woran er – ebenso wie bei der Begründung des Historischen Kollegs in den 1970er Jahren – tatkräftig und entscheidend mitgewirkt hatte.23 Fuhrmann, vom plötzlichen frühen Tod des zum engen Vertrauten gewordenen Partners bei der festen Etablierung des Historischen Kollegs in München tief erschüttert, zögerte nicht, das von ihm herausgegebene Buch über die Kaulbach-Villa zur Gedächtnisschrift für Herrhausen zu erklären.24 In seinem handschriftlichen Kondolenzschreiben vom 1. Dezember 1989 an Herrhausens Witwe beklagte er einfühlsam den unersetzlichen Verlust des großen ideellen und materiellen Förderers des Historischen Kollegs seit seinen Anfängen, aber sprach vor allem vom „Gefühl der Verlassenheit“ in der Kaulbachstraße 15, weil das Kolleg in erster Linie einen ihm innerlich zugetanen Menschen, einen wahren Freund verloren hatte.25 Herrhausens 60. Geburtstages zwei Monate später, am 30. Januar 1990, gedachte Fuhrmann in einem weiteren Brief an Frau Herrhausen26, und die Feier zum zehnjährigen Bestehen des Historischen Kollegs wurde mit ihrer Zustimmung27 22 Alfred Herrhausen, Begrüßung durch den Sprecher des Vorstandes der Deutschen Bank, in: Horst Fuhrmann (Hrsg.), Die Kaulbach-Villa (wie Anm. 13), S. 3–8. 23 Vgl. zur Geschichte des Historischen Kollegs Lothar Gall, Begrüßung und Rückblick, in: Gall (Hrsg.), 25 Jahre (wie Anm. 1), S. 13–20, insbesondere S. 14–16. 24 Fuhrmann (Hrsg.), Die Kaulbach-Villa (wie Anm. 13), S. V. 25 Archiv des Historischen Kollegs: Brief Horst Fuhrmanns an Traudl Herrhausen vom 1. Dezember 1989. 26 Archiv des Historischen Kollegs: Brief Horst Fuhrmanns an Traudl Herrhausen vom 29. Januar 1990. 27 Archiv des Historischen Kollegs: Brief Traudl Herrhausens an Horst Fuhrmann vom 6. November 1990.

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am 22. November 1990 zu einer Gedenkveranstaltung für Alfred Herrhausen im doppelten Sinne, denn dieses erste Jahrzehnt KollegGeschichte hätte es ohne ihn nicht gegeben.28 Der Begrüßung Fuhrmanns29 folgte eine Würdigung Herrhausens durch den Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt, Persönliches Mitglied des Kuratoriums des Historischen Kollegs von 1984 bis 199430, und der Althistoriker Christian Meier, Persönliches Mitglied des Kuratoriums von 1980 bis 1995, stellte in seinem Festvortrag – natürlich auch aus gegebenem Anlass – „Überlegungen zur Geschichte der Gewalt“ an.31

VI. Horst Fuhrmann repräsentierte das Historische Kolleg – von dessen großer Bedeutung weit über Geschichtswissenschaft hinaus überzeugt – auf glänzende Weise, selbstbewusst, mit einem Sinn für Feierlichkeit, den Menschen zugetan, die herausragende Forschung in allen Bereichen der Geschichtswissenschaft fest im Blick, lange bevor Exzellenzinitiativen und Eliteförderung bildungspolitisch gefordert wurden, und er arbeitete hart für die ihm anvertraute Einrichtung. Der schon erwähnte Klaus Schreiner dankte ihm am 4. Januar 1998 für „Zeit und Mühe […], die Ihnen abverlangt wurden, um wissenschaftlich produktives Leben im Kolleg zu ermöglichen.“32 Abgesehen von den Sitzungen der Auswahlkommissionen für den Preis des Historischen Kollegs, hat Fuhrmann jährlich zwei Sitzungen des Kuratoriums in München und immer wieder auch im Haus der Deutschen Bank AG in Frankfurt am Main geleitet, zu deren Hauptaufgaben stets die arbeitsintensive Auswahl der Stipendiatinnen und 28 Historisches Kolleg 1980–1990. Vorträge anlässlich des zehnjährigen Bestehens und zum Gedenken an Alfred Herrhausen am 22. November 1990 (Schriften des Historischen Kollegs, Dokumentationen, Bd. 8). 29 Horst Fuhrmann, Begrüßung und Rückblick, in: ebenda, S. 7–14. 30 Knut Borchardt, Erinnerung an Alfred Herrhausen, in: ebenda, S. 15–22. 31 Christian Meier, Überlegungen zur Geschichte der Gewalt, in: ebenda, S. 23–60. 32 Archiv des Historischen Kollegs: Brief Klaus Schreiners an Horst Fuhrmann vom 4. Januar 1998.

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Stipendiaten gehörte. Aus einem dem Schlesier seit den Zeiten des Preußenkönigs Friedrich II., dem Großen, eigenen preußischen Pflichtgefühl heraus stets gut vorbereitet, als ob er jedes Mal erstmals eine Sitzung zu leiten hätte, lenkte er die Beratungen ernsthaft und heiter und führte sie verbindlich, umsichtig und dann bestimmt zu Entscheidungen. Dass in seiner Zeit besonders viele Mediävisten Mitglieder des Historischen Kollegs wurden, gehört zu den Ergebnissen. Die Nähe zu den MGH machte – und macht – ein Stipendium des Historischen Kollegs für Mittelalter-Historiker im Übrigen besonders wertvoll und erstrebenswert. Ebenso ist ein Verdienst seiner Ära als Vorsitzender des Kuratoriums die Verbreiterung des historischen Spektrums durch die Berufung je eines Sinologen, Indologen, Judaisten, Byzantinisten, Kirchenhistorikers, Musik- und Literaturwissenschaftlers, womit der Anspruch eingelöst wurde, ein „Institute for Advanced Study“ für alle historisch orientierten Wissenschaften zu sein. An den hohen qualitativen Anforderungen an die Stipendiaten sowie an den zu erbringenden Leistungen – Opus magnum, wissenschaftliches Kolloquium und öffentlicher Vortrag – ließ er nicht rütteln und lehnte bei den Opera magna „Werke mit Untersuchungscharakter“ ab – wie er sich ausdrückte – und trat entschieden für „Darstellungen“ ein, weil jene zwar Aufsehen in der Fachwelt erregten, diese aber größere Aufmerksamkeit in der interessierten Öffentlichkeit fänden. An der Unvereinbarkeit von Mitgliedschaft im Kuratorium des Historischen Kollegs und eigener Bewerbung um ein Forschungsstipendium hielt er ebenso fest wie an seiner Überzeugung, dass der Preis des Historischen Kollegs nicht an ehemalige oder aktuelle Mitglieder der Auswahlkommission verliehen werden solle. Der Althistoriker Jochen Martin, Persönliches Mitglied im Kuratorium von 1995 bis 2005, zeigte sich in einem Schreiben an Fuhrmann von der „Leichtigkeit, mit der Sie die Verhandlungen leiteten, von Ihrem Humor und – von Ihrer stupenden Bildung“ bleibend beeindruckt.33

33 Archiv des Historischen Kollegs: Brief Jochen Martins an Horst Fuhrmann vom 17. Dezember 1997.

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VII. Das Ansehen und die Erfahrungen des Präsidenten einer großen Forschungseinrichtung wie der MGH, später auch des Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften kamen dem Historischen Kolleg unter Horst Fuhrmanns Leitung vielfältig zugute. Beim Aktenstudium und insbesondere bei der Lektüre seiner umfangreichen Korrespondenz weiß man kaum, was man bei der Lösung schwieriger Probleme mehr bewundern soll: die stets sachlich begründete Standfestigkeit, die im Interesse des Historischen Kollegs vertretbare Kompromissfähigkeit, das Aufzeigen konstruktiver Alternativen oder die gleichbleibende Freundlichkeit? Als 1988 zur Debatte gestellt wurde, die Kaulbach-Villa auch zu einer „Begegnungsstätte für Schriftsteller und Literaten“ zu machen, wie es in einer Aktennotiz Fuhrmanns hieß, formulierte er als Vorsitzender der Stiftung Historisches Kolleg seinen entschiedenen Widerstand, da er befürchtete, dass „aus der gelegentlichen Zurverfügungstellung des Vortragssaales eine förmliche Institution […] mit ständigem Raumbedarf“ werden sollte. Dabei war er von Anfang an für eine Öffnung des Hauses, hatte auch nichts gegen „gelegentliche Literaturlesungen“, aber beharrte nicht nur unter Hinweis auf „feste Pläne und Absprachen“ sowie den zwischen Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und dem Freistaat Bayern ausgehandelten Mietvertrag hinsichtlich der Nutzung der Kaulbach-Villa. darauf, dass „der Schwerpunkt aller Aktivitäten […] im Bereich der Geschichtswissenschaft liegen“ sollte, und schlug den Literaten eine „nicht ungünstige Unterbringungsmöglichkeit“ vor: das frühere Domizil des Historischen Kollegs.34 Die vorgebrachten Ansprüche der Stadt München und ihres damaligen „Bezirksausschusses 5“ auf öffentliche Nutzung des großen Gartens der Kaulbach-Villa entlang dem Walter-Klingenbeck-Weg – um ein zweites Beispiel anzuführen – wurden unter Hinweis auf „die Gesamtanlage […], die die Villa in ihrem gestalteten Verbund mit dem Garten erscheinen läßt“, im Jahre 1990 „suaviter in modo, fortiter in re“ 34 Archiv des Historischen Kollegs: Brief Horst Fuhrmanns vom 13. Januar 1988.

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zurückgewiesen; Begehrlichkeiten gegenüber dem Historischen Kolleg sollten sich gar nicht erst entwickeln, einmaliges Entgegenkommen nicht zur Gewohnheit werden können.35

VIII. Der größeren Sichtbarkeit des Historischen Kollegs dienten – neben den obligatorischen wissenschaftlichen Tagungen der Forschungsstipendiaten36 – zu gesellschaftlichen Ereignissen werdende MitgliederKolloquien vor allem im Umkreis der Verleihungen des Preises des Historischen Kollegs37 sowie dieTheodor-Schieder-Gedächtnisvorlesungen, die für die Ära Fuhrmann im Historischen Kolleg singulär geworden sind. Er eröffnete diese Reihe im Jahre 1985 mit seinem Vortrag über „Das Interesse am Mittelalter in heutiger Zeit“, an den sich Lothar Galls Würdigung von Leben und Werk Theodor Schieders anschloss.38 35 Archiv des Historischen Kollegs: Brief Horst Fuhrmanns vom 13. Juni 1990. 36 Dokumentiert in der Reihe „Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien“; vgl. bis Bd. 74: Gall (Hrsg.), 25 Jahre (wie Anm. 1), S. 161–175; vollständig unter: http://www.historischeskolleg.de/publikationen/kolloquien.html. 37 Vgl. zum Beispiel: Über die Offenheit der Geschichte. Kolloquium der Mitglieder des Historischen Kollegs, 20. und 21. November 1992 (= Schriften des Historischen Kollegs, Dokumentationen, Bd. 12), München 1996. – Am 25. November 1988 fand ein Kolloquium der Mitglieder des Historischen Kollegs anlässlich der Einweihung der Kaulbach-Villa zum Thema „Bedingungen geschichtswissenschaftlicher Arbeit in Vergangenheit und Gegenwart“ statt, dokumentiert in: Fuhrmann (Hrsg.), Die Kaulbach-Villa (wie Anm. 13), S. 37–173. 38 Theodor-Schieder-Gedächtnisvorlesung: Horst Fuhrmann, Das Interesse am Mittelalter in heutiger Zeit. Beobachtungen und Vermutungen. – Lothar Gall, Theodor Schieder 1908–1984 (= Schriften des Historischen Kollegs, Dokumentationen, Bd. 2), München 1987. Die weiteren TheodorSchieder-Gedächtnisvorlesungen in den Jahren zwischen den Verleihungen des Historikerpreises hielten Thomas Nipperdey, Religion und Gesellschaft: Deutschland um 1900; Christian Meier, Die Rolle des Krieges im klassischen Athen; Karl Leyser, Am Vorabend der ersten europäischen Revolution. Das 11. Jahrhundert als Umbruchszeit; Rudolf Smend, Mose als

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Publiziert wurden diese Veranstaltungen in der Reihe „Dokumentationen“ der „Schriften des Historischen Kollegs“39, die wie die Reihe „Vorträge“40 nicht im Buchhandel zu erwerben, sondern nur über das Historische Kolleg zu beziehen war. Unter Fuhrmann wurde das Erscheinen dieser kleinen blauen Bändchen 1995 eingestellt und das „Jahrbuch des Historischen Kollegs“ begründet41, mit dem die Erwartungen eines Bekannterwerdens und einer größeren Breitenwirkung der vielfältigen Aktivitäten des Historischen Kollegs verbunden waren.42

IX. Nach der letzten von ihm geleiteten Sitzung des Kuratoriums am 18. November 1997 – ihm folgte Lothar Gall als Vorsitzender – wollte er sich nach seinen eigenen Worten nicht „wie ein Dieb in der Nacht […] davonstehlen“ und wandte sich im Dezember noch einmal in dem schon erwähnten Abschiedsbrief an die Mitglieder. Darin zog er auch mit Zahlen Bilanz, verwies auf 52 Forschungsstipendiaten und den „Jüngerumfang von Zwölf“ bei den erst seit dem Kollegjahr 1988/89, also während seiner Zeit als Vorsitzender berufenen Förderstipendiaten – die später fast alle auf Professoren-Stellen berufen wurden –, verwies auf über 30 Vorträge, in die er im Plenarsaal der Bayerischen Akademie der Wissenschaften eingeführt hatte, abgesehen von den Veranstaltungen zur Verleihung des Historikerpreises.43 Er war – in doppeltem Sinne – der „unnachahmliche“, der „unvergleichliche Sprecher“ des Kollegs

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geschichtliche Gestalt (= Schriften des Historischen Kollegs, Dokumentationen, Bde. 5, 6, 9, 11), München 1988, 1991, 1994, 1995 Vgl. Gall (Hrsg.), 25 Jahre (wie Anm. 1), S. 181 f.; vollständig unter: http:// www.historischeskolleg.de/publikationen/dokumentationen-sonderveranstaltungen.html. Vgl. Gall (Hrsg.), 25 Jahre (wie Anm. 1), S. 176–180; vollständig unter: http://www.historischeskolleg.de/publikationen/vortraege.html. Vgl. Gall (Hrsg.), 25 Jahre (wie Anm. 1), S. 183–189. Im Jahre 2007 musste das „Jahrbuch des Historischen Kollegs“ aus finanziellen Gründen eingestellt werden; siehe auch: http://www.historischeskolleg.de/publikationen/jahrbuecher.html. Wie Anm. 3.

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gewesen, wie ihm der Neuhistoriker Rudolf Vierhaus, Persönliches Mitglied im Kuratorium von 1978 bis 1993, am 7. Januar 1998 voller Sympathie schrieb.44 Und für viele ging mit Fuhrmanns Ausscheiden „wirklich eine Epoche […] zu Ende“, in der – wie der Althistoriker Werner Eck, Stipendiat im Kollegjahr 1995/96, am 15. Dezember 1997 schrieb – Fuhrmann und das Historische Kolleg „fast etwas Identisches“ geworden seien45, was für einen Mediävisten ja keineswegs etwas Überraschendes wäre. Unter Horst Fuhrmann hat das Historische Kolleg „seinen Stil [gefunden]“46 – wie er bei der Eröffnung der Kaulbach-Villa gehofft hatte –, und es hat eine Hoch-Zeit erlebt, unter Horst Fuhrmann wurde die Geschichte des Kollegs zu einer Erfolgsgeschichte, auch wenn sich die Finanzierungsprobleme ab dem Jahr 2000 schon abzuzeichnen begannen. Fuhrmann wusste natürlich, dass das Kolleg seitens des zwei Jahrzehnte lang fördernden Stifterbandes für die Deutsche Wissenschaft erklärtermaßen „finanziell [nur] bis zur Jahrtausendwende gesichert“ war47, aber er war gleichwohl optimistisch und vertraute auf die „bayerische Tradition großzügiger Förderung der Geschichtswissenschaft“, wie er in der Kuratoriumssitzung am 17. November 1995 formulierte. Dass die finanziellen Nöte zu Beginn des neuen Jahrhunderts größer und größer wurden und blieben, hat er dann als Mitglied des 1999 gegründeten Freundeskreises des Historischen Kollegs und als Mitglied der von ihm erst geschaffenen „Kolleggemeinde“ wahrnehmen müssen.

44 Archiv des Historischen Kollegs: Brief Rudolf Vierhaus’ an Horst Fuhrmann vom 7. Januar 1998. 45 Archiv des Historischen Kollegs: Brief Werner Ecks an Horst Fuhrmann vom 15. Dezember 1997. So auch der Rechtshistoriker Michael Stolleis, der bemerkte, dass „Person und Institution […] häufig identisch werden“, wie der Mediävist wisse (Archiv des Historischen Kollegs: Brief Michael Stolleis’ an Horst Fuhrmann vom 15. Dezember 1997). 46 Fuhrmann, Die Lehre vom Haus (wie Anm. 13), S. 27. 47 Archiv des Historischen Kollegs: Brief Horst Fuhrmanns vom 3. Februar 1994 an Dr. Karlheinz Kaske (1928–1998) als neuen Vorsitzenden des Stifterverbandes.

Markus Wesche

Von Kreuzburg nach München – und zurück Horst Fuhrmanns späte Jahre von 1988 bis 2008 Horst Fuhrmann bin ich zuerst in meiner dritten Studienwoche in München im Frühjahr 1973 begegnet. Meine Erinnerung führt mich zu einem energischen, leicht untersetzten Herrn, der ein rotweißkariertes Hemd trug wie die Wanderer in den bayerischen Voralpen. Einer der Mitarbeiter der MGH heuerte damals studentische Hilfskräfte an, um den ersten Band der neuen Reihe „Hilfsmittel“ überprüfen zu lassen, das Verzeichnis der Hochschulschriften zur mittelalterlichen Geschichte von 1939 bis 1972/73, und so geriet ich, Student der mittellateinischen Philologie, der Geschichte und der Germanistik, in den Dunstkreis der MGH. Wirklich kennengelernt habe ich Horst Fuhrmann erst Ende 1987/Anfang 1988, als ich mich für einen Broterwerb fernab des Universitätsmilieus verpflichtet hatte und nun unversehens in eine vom Zeitumfang und von der Vertragsbindung her lockere Anstellung bei HF kam. HF hatte ein Jahr zuvor den gewaltigen wissenschaftlichen Kongress der MGH über Fälschungen im Mittelalter ruhmvoll absolviert und soeben (1987) war der Band „Einladung ins Mittelalter“ im C.H. Beck-Verlag erschienen, der eines der erfolgreichsten Sachbücher zum Mittelalter werden sollte und der Beginn einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit dem Verlag. Ohne dass es einer der Beteiligten an der Personalentscheidung wusste, war hier eine Art Wendepunkt. Die folgenden Jahre bis über die Milleniumsschwelle hinaus wurden unversehens eine Zeit der gesteigerten Produktivität. Standen zuvor Publikationen zur mittelalterlichen Geschichte und zum Kirchenrecht im Vordergrund, so kamen in den hier beschriebenen Jahren allein fünf umfangreiche, an ein breiteres Publikum gerichtete Bücher heraus, darunter zwei Sammelbände, zum Teil mit völlig neuen Themen, eine Neubearbeitung (Das Papsttum), zwei Original-Bücher (zu Kreuzburg und den Monumenta Germaniae), dazu kleinere Monographien und Abhandlungen, Aufsätze und öffentliche Vorträge, manches davon als Privatdruck. Es gab Anstöße zu weiteren Publikationen

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und schließlich die Realisierung einer Ausstellung zur Geschichte der Akademie in Zusammenarbeit mit einem ehemaligen Attribut der Institution, der Staatlichen Münzsammlung München. All diese Aktivitäten wirkten in eine weitaus breitere Öffentlichkeit, als dies zuvor mit den Monumenta Germaniae Historica geschehen war. Sie vollzogen sich parallel zu den zeitfressenden Amtspflichten des Akademiepräsidenten. Der Grund meiner Anstellung war, wie mir im Januar 1988 bedeutet wurde, eine die Publikation anmahnende Anfrage des BurckhardtArchivs in Basel, wo HF eine Reihe von Briefen aufgespürt hatte, die Licht auf die oberschlesische Kleinstadt Kreuzburg, heute Kluczbork in Polen, warfen. Jacob Oeri, der Lieblingsneffe Jacob Burckhardts, hatte sie an seinen Onkel und an die Eltern in Basel gerichtet. In diesen „Schreibebriefen“, d. h. ausführlich erzählenden Briefen, wurde das Leben der Kleinstadt höchst anschaulich dargestellt. Das dort geschilderte Zusammenleben von Polen, Deutschen und Juden eröffnete den Blick in eine völlig untergegangene Welt. Kreuzburg in Oberschlesien war Fuhrmanns Kreuzburg, Geburtsort und Paradies der Jugend, aus dem er durch Krieg und Vertreibung grausam herausgerissen worden war. Wäre das Leben so weitergelaufen wie in den 1920er, 1930er Jahren, dann hätte HF seine Tage dort möglicherweise, wie er meinte, als Automechaniker und Besitzer einer Kraftfahrzeug-Werkstatt beschlossen. Das Projekt, mit dem ich einstieg, sollte, so HF im ersten Gespräch, „entweder ein längerer Aufsatz mit 200 Anmerkungen oder ein kleines Buch mit etwa 400 Anmerkungen werden“. Heraus kam 1989 ein ausgewachsenes Buch mit 468 Anmerkungen und einem Anhang biographischer Profile, verlegt von C. H. Beck in München: „Fern von gebildeten Menschen“, der Titel ein Goethe-Zitat. Doch Kreuzburg war nicht nur ein elendes Kaff nahe der ehemaligen preußisch-russisch-polnischen Grenze gewesen, sondern auch ein Ort der Bildung. Dieses Grundthema der Oeri-Briefe wurde zur Keimzelle aller weiteren Beschäftigung mit „xburg“, wie der Ort in den Akten hieß, zum Schicksal für HF und seinen treuen Knecht. Eigentlich war die Landstadt zu klein für eine höhere Schule, doch es hatte ein jüdischer Mitbürger namens Simon Cohn, der als preußischer Armeelieferant 1870/71 sein Vermögen gemacht hatte, der Stadt durch eine hochherzige Stiftung die Gründung eines Gymnasiums ermöglicht.

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Fuhrmann, dem Dankbarkeit die zentrale, alles überstrahlende menschliche Tugend war, stattete dem vergessenen Simon Cohn seinerseits einen Dankestribut ab und hob ihn aus der Versenkung geschichtlichen Vergessens. Damit nicht getan – Cohns Leben wurde in alle Richtungen erforscht: eine diskrete Existenz in Berlin mit eigenem Haus in der zentralen Behrenstrasse (die Bauakten fanden sich dazu), nicht weit von der früheren Wohnung des Monumenta-Gründungsheros Georg Heinrich Pertz, und auch das Grab mit einem schönen schwarzmarmornen Grabstein auf dem alten jüdischen Friedhof Schönhauser Allee war noch erhalten. Zugleich geriet die Existenz der jüdischen Gemeinde in Kreuzburg ins Visier. Auch hier ein Überlieferungszufall glücklichster Art: Das Bundesarchiv in Koblenz verwahrt u. a. jüdische Personenstandsregister aus Schlesien, darunter das der Stadt Kreuzburg für die Zeit von 1830 bis 1853, hinzu kam das von der jüdischen Gemeinde geführte Register, das bis 1815 zurückreicht. Von diesem hat sich eine Verfilmung von 1938 in der „Zentralstelle für Genealogie in der DDR“ (heute: Deutsche Zentralstelle für Genealogie) in Leipzig erhalten. Diese Überlieferung hat einen makabren Hintergrund: Seit 1934 wurden alle Kirchenbücher und Standesregister der im deutschen Osten gelegenen Gemeinden, auch der jüdischen, durch die Reichsstelle für Sippenforschung, das nachmalige Reichssippenamt, systematisch registriert und zentral zusammengeführt, um eine aktenmäßige Kontrolle für die Rassenpolitik des NS-Staates zu haben. Heute wäre eine Auswertung des Kreuzburger Registers äußerst lohnend für die Geschichte der Juden in einer preußischen Kleinstadt, ein Modell jüdischer Mikro-Geschichte der Sozialstruktur und Migration. Die Einzeldaten wurden damals schon alle in EDV aufgenommen und zu einem Familien- und Personenregister zusammengeführt, als Vorstufe und Dokumententeil für ein Buch, das HF in „Menschen und Meriten“ in dem schönen Original-Essay „Von solchen, die noch östlicher wohnen“ angekündigt hat. Doch jeder kann nur pro posse suo produzieren, und so blieb das Buch ungeschrieben. Die Beschäftigung mit dem jüdischpolnischen Kreuzburg in allen Facetten war uns jedoch unter der Hand zu einer wahren Industrie ausgewachsen. Kommerzienrat Simon Cohn, der einzige jüdische Wohltäter, wurde darüber zum Prototyp des konfessionell uneigennützigen jüdischen Philanthropen, aber auch des Migranten aus der oberschlesischen Enge.

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An Migranten gab es viele: die Wiener Burgschauspielerin Florentine Förster, Schwester des Kreuzburger Schulrektors Franz Jarklowski, da gab es den Bearbeiter des Zivilprozessrechts Dr. Theodor Heidenfeld in Berlin, nach dem heute noch eine Straße in Berlin benannt ist – er war der Sohn des von der jüdischen Gemeinde angestellten und von ihr reichlich geschundenen Lehrers Heidenfeld. Es gab den Studienrat Theodor Bögel vom Kreuzburger Gymnasium, den es nach München an den Thesaurus linguae Latinae der kgl. bayerischen Akademie der Wissenschaften verschlagen hatte – kurz: Überall war Kreuzburg. Der zweite bedeutende Sohn der Stadt war Gustav Freytag gewesen, später Namengeber des Gymnasiums, das HF vor dem Krieg besuchte. Er war der bekannteste unter den ausschwärmenden Kreuzburgern, doch Fuhrmanns Herz schlug für die Unbekannten, die von der Geschichte Vergessenen. Als HF die Präsidentschaft der Akademie übernahm, kam noch ein weiterer Oberschlesier in Berlin hinzu: Rudolf Pringsheim, der Vater des Mathematikers und Akademiemitglieds Alfred Pringsheim, den in München das Schicksal ereilte, Schwiegervater von Thomas Mann zu werden. Anlass der Beschäftigung war eine AkademieAbhandlung des Kunsthistorikers Hanno-Walter Kruft über das Haus Pringsheim und seine Ausstattung in der Münchner Arcisstraße, das 1933 enteignet wurde und Platz machen musste für die Parteizentrale der NSDAP, wo die Monumenta Germaniae Historica nach dem Krieg ihr erstes Domizil in München fanden. Rudolf Pringsheim war das prominenteste Exemplar oberschlesischer Tüchtigkeit im Kosmos Fuhrmanns. Er hatte durch eine zweckmäßige Einrichtung der von Pferden gezogenen Grubenbahnen im oberschlesischen Kohlerevier ein Vermögen gemacht, sichtbar in einem Gründerzeit-Palais in der Wilhelmstraße zu Berlin, das der Krieg vernichtet hat. Alfred Pringsheims Vermögen war eigentlich das seines Vaters gewesen. Die Bayerische Akademie gedachte in einem schön gestalteten Band und einer eigenen Gedenkfeier im September 1993 ihres ehemaligen Mitglieds Alfred Pringsheim. „Fern von gebildeten Menschen“, das Kreuzburg-Buch, erarbeitet aus abgelegenen Quellen wie Lehrerseminarsakten, Pfarrregistern und Schulprogrammen, die HF mit Hilfe vieler immer sofort beantworteter Briefe aufspürte, erschien 1989. Angeregt durch die unerwarteten Funde wurde sofort das nächste Buch projektiert: „Ein Jude Cohn aus

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Oberschlesien. Spuren eines vergessenen Wohltäters“. HF reichte dank seiner guten persönlichen Kontakte 1990 einen siebenseitigen Förderantrag im Bundesministerium des Innern ein, um Mittel für Archivrecherchen in Berlin Ost und West, in Potsdam und Merseburg zu erlangen, Mittel, die zum Teil bewilligt und in Aufenthalte an den Orten umgesetzt wurden. Ich erinnere mich noch lebhaft an die scheckige, höhen- und tiefenreiche Basaltstraße von Schkopau nach Merseburg bei meinem Besuch 1990 und an das elende Geholpere der Tram dorthin – eine Zeitreise in die Vergangenheit. Doch zunächst folgte auf den Abschluss des Kreuzburg-Buch eine neue, ganz anders geartete Aufgabe. Ich wurde ins große Dienstzimmer in den MGH zitiert, HF schloß die beiden Türen und sagte geheimnisvoll: „Acqua in bocca: wir bekommen neue Geldscheine!“ Das Trio Knut Borchardt, Karl Otmar von Aretin und Horst Fuhrmann hatte über geraume Zeit im Gremium zur Motivauswahl für die Geldserie zusammengewirkt, die seit Beginn der 1990er die alte Serie der altdeutschen Köpfe ersetzen sollte, als, wie sich zeigen sollte, schönste DM-Banknotenserie, die je in Deutschland umlief. Als letzter Schein erschien der nachgeschobene Fünfer mit dem Bild der Bettina von Arnim, er sollte hochoffiziell am 27. Oktober 1992 zum Abschluss der Serie in Berlin vorgestellt werden, zusammen mit dem 500er und dem 1000er. HF hielt den Festvortrag und beschrieb aus der Sicht des jurierenden Historikers, wie es zur Auswahl gerade jener abgebildeten Persönlichkeiten gekommen war. Der Vortrag, auch heute noch überaus lesenswert, ist in voller Länge abgedruckt im Sammelband „Menschen und Meriten“. Die Besorgung des Materials für Beschreibung und Rede fiel damals mir zu, und wie es der Zufall wollte, wurde ich auf Anhieb im Briefwechsel der Arnim mit den Brüdern Grimm mit einem besonders passenden Stück fündig. Bettina von Arnim, die einen ganz guten Draht zum preußischen König Friedrich Wilhelm IV. hatte, wusste von der Not der durch die Entlassung aus der Göttinger Professur in die Mittellosigkeit beförderten Brüder und schrieb dem König einen ungeschminkten Bettelund Empfehlungsbrief, in dem knallharte Fakten über die Lebenshaltungskosten in Berlin standen. HF, den der Krieg aller materiellen Mittel und jeglicher Unterstützung durch die Familie beraubt hatte – die Eltern waren verschollen und fanden sich erst einige Zeit nach Kriegsende –, hatte stets ein sehr geschärftes Sensorium für die Erbärmlichkeit

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materieller Armut. Dass die großherzige Bettina mit dem geringsten Schein geehrt wurde, die armen Brüder Grimm mit dem größten, dem Tausender, erschien allerdings fast wie eine verkehrte Welt. Ein weites Feld war das Amt des Akademiepräsidenten, das HF seit Beginn 1992 versah. Er war zugleich Vorsitzender der Kommission für das Repertorium Fontium und nahm diese Aufgabe bis 2009 engagiert wahr, bis sie seiner Schülerin Claudia Märtl übertragen wurde. Es handelt sich beim Repertorium Fontium um ein umfassendes Verzeichnis der erzählenden mittelalterlichen Geschichtsquellen, das seit 1962 in Rom erschien und das es bis 2007 auf elf umfangreiche Bände brachte. Der deutsche Quellenanteil wurde bei den MGH erstellt, zuerst aus deren Mitteln, seit 1973 nach einer Umbildung der Kommission mit einer Akademie-Stelle, mit Fuhrmanns Akademie-Präsidentschaft kam eine zweite Stelle hinzu, in die ich eingewiesen wurde. HF war wie viele Fachgenossen unzufrieden mit dem langsamen Publikationstempo des Repertorium und hatte, von den MGH mit dem Potential der EDV vertraut, beschlossen, das Projekt mit seinem deutschen Quellenanteil digital weiterzuführen. Als sich Mitte der 1990er Jahre die ersten allgemeinen Nutzungsmöglichkeiten des Internet abzeichneten, kam er mit einem umfangreichen Artikel der Süddeutschen Zeitung zu mir und rief: „Herr Wesche, das ist unsere Zukunft!“ Ich wurde dazu bestimmt, die Umwandlung des Repertorium Fontium in eine Internet-Publikation von ständig zu aktualisierenden Daten vorzubereiten. Inzwischen ist dies auch erreicht, nach einer Veröffentlichung der jeweils auf aktuellen Forschungsstand geführten PDF-Dateien seit 2005, seit Februar 2012 endlich in einer genuin digitalen Publikation im Internet als www. geschichtsquellen.de. HF hat die Vorbereitung des Antrags an die Deutsche Forschungsgemeinschaft ab 2007 noch intensiv begleitet und nahm gern an den Beratungen mit dem Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek teil. Als er den Vorsitz der Kommission niederlegte, tat er dies mit der Begründung, die Welt der digitalen Arbeit sei eine ganz andere, als die, in der er seinen Weg gefunden habe, er wolle die Leitung der Kommission deshalb in jüngere Hände legen. Als ein Gelehrter, der nie einen Finger auf eine Computertastatur gesetzt hat, hatte er jedoch ein durchdringendes, Arbeitsweise und Folgen für die Geisteswissenschaften sehr wohl erfassendes Verständnis für die digitale Revolution, die er nicht nur als unausweich-

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lich hingenommen, sondern auch als nützlich und notwendig begrüßt hat. Doch zu einer grundlegenden Erneuerung des Repertoriums kam es damals zunächst nicht, das Tagesgeschäft in der Akademie unter dem Präsidenten nahm mich vollständig in Beschlag. Man möge bedenken, wie viele Ämter und Tätigkeitsfelder sich inzwischen bei HF angesammelt hatten – und ich nenne nur die wichtigsten: Die Präsidentschaft der MGH konnte erst 1994 abgegeben werden, der Vorsitz im Kuratorium des Historischen Kollegs, der ihm 1984 persönlich als Nachfolger von Theodor Schieder zugefallen war, kam ihm nun von Amts wegen als Akademiepräsident zu, die Kreuzburg-Forschungen hatten ihn ins Kuratorium der Stiftung Haus Oberschlesien (Ratingen) gebracht, und im Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste war er einer der beiden Vizekanzler, wortmächtig und meinungsstark. Die Druckfahnen von deren „Reden und Vorträgen“ landeten deshalb zur Kontrolle periodisch auf meinem Schreibtisch. Ähnlich stand es mit der Redaktion von Fuhrmanns eigenen Reden und öffentlichen Vorträgen, deren Witz und Pointiertheit nie einer Augenblickslaune geschuldet war, sondern sorgfältiger Vorbereitung entsprang. (Doch keine Sorge: an Improvisationskunst hat es HF nie gemangelt.) Ein Vortrag vor der Bayerischen Verlegertafel am 1. Dezember 1991 führte als Motto den berühmten Spruch aus dem Buch Kohelet (12, 12): „Des Büchermachens ist kein Ende“. Hierzu wurden nicht nur alle gängigen modernen Kommentare hinzugezogen, sondern ebenso der im Spätmittelalter verbreitete des Pariser Theologen Nikolaus von Lyra (†1349). Der Erkenntnis- und Lustgewinn für Redner, Helfer und Zuhörer war gleichermaßen groß. Seit der Zeit des Präsidentenamtes spielte sich ein festes Tagesregime in der Zusammenarbeit ab. HF pflegte gegen 8:30 Uhr aus Steinebach am Wörthsee nach München zu fahren. Um 8:15 Uhr klingelte das Telefon in meiner Wohnung, und es wurde ein kurzes Tagesprogramm verabredet. Um 9:30 Uhr erschien ich dann in seinem Dienstzimmer zu einem ausführlicheren Gespräch, dann ging’s los. Nach seiner Präsidentschaft wurde daraus ein fester Termin – um 8:35 Uhr auf den Punkt klingelte werktags bei mir zuhaus das Telefon, Reveille und Fahnenappell, und es entspann sich ein Gespräch von mindestens 20 Minuten Dauer, oft das Doppelte und länger: über die anstehenden

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Aufgaben, gemeinsame Interessen und Lebenskreise, über Gott und die Welt. Der Tag schloss mit einem Anruf zwischen 17:30 und 18:00 Uhr über Geleistetes, über Pläne und Termine, auch über Stimmungen und Befindlichkeiten – Zapfenstreich! Ich darf wohl sagen, dass kein Akademiepräsident und Kommissionsvorsitzender besser über das Treiben eines Mitarbeiters unterrichtet war, doch auch der Mitarbeiter wurde dadurch über vieles informiert, das nicht unmittelbar seine Kommissionsarbeit betraf. Nachdem sich HF im Herbst 2008 einer medizinischen Operation unterziehen musste, nahm ich die Pflege des Kontakts in meine Regie. Aus einer Form der Arbeitsorganisation – Kontrolle von Mitarbeitern war HF gar nicht fremd – war jedoch ein Umgang geworden, dessen Vertrautheit auf gegenseitigem Vertrauen beruhte, ein patriarchalisches Verhältnis im besten Sinne, das beide Teilhaber zu respektierten Partnern machte. Es ist auch während meiner Dienstzeit kein Präsident so gegenwärtig in der Akademie gewesen, denn HF hatte ein hohes Amtsverständnis, mit mindestens drei vollen Tagen Anwesenheit die Woche. Leichte Tage, heitere Tage, denn HF wollte keinen Unfrieden bei der Arbeit, alles sollte in gelöster, freudiger Stimmung geschehen, wozu er seinerseits alles tat. Seine unmittelbaren Mitarbeiter haben es ihm gedankt, durch Freude, Gelöstheit, Offenheit, dankbares Vertrauen. Diese Stimmung ist Bild geworden in seinem offiziellen Portrait im Treppenaufgang der Akademie, wo ein großes helles Gemälde den Ankommenden empfängt, HF in gelbem Sakko, dem Betrachter zugewandt, vor einem zarttupfigen lichten Hintergrund. Dieses Bild sollte sich klar abheben von den dunklen Folien der Amtsvorgänger, dies trifft auch – gewiss unbeabsichtigt – auf die der Nachfolger zu. Über die Prozeduren im Haus, die Probleme von Langzeitprojekten, über die Einstellung und die Arbeitsweise von Mitarbeitern war er allerdings ohne Illusionen. Als ich 1995 angesichts großer Probleme und Unsicherheiten bei der Organisation und Durchsetzung elektronischer Arbeit vorschlug, einen Fragebogen über die Verwendung von Hard- und Software durchs Haus zu schicken, um die Diskussion in rechte Bahnen zu lenken, willigte er nach kurzem Zögern ein: „Tun Sie das, gehen Sie mal durchs Haus, Sie werden dabei manche lemurenhafte Gestalten finden.“ Bei allem Bestreben nach heiterer Gelöstheit im Umgang mit Mitarbeitern und Mitwelt, wie ich es in den späten Jahren erfahren habe,

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war Fuhrmanns Verhältnis zu seiner Umgebung doch von Distanz bestimmt. Auf „Du“ stand er nur mit wenigen. Da waren die Schulfreunde aus der Kreuzburger Zeit, da war Hans Seyffert, der enge Studienfreund aus Kieler Zeit, dem das Kreuzburg- und das Monumenta-Buch – dazu später – im Manuskript geschickt wurden und der überaus kritisch las, lesen sollte; doch selbst bei seit Jahrzehnten gut bekannten Kollegen war es beim „Sie“ geblieben. Der höchst seltene freundschaftlich-aufmunternde Klaps auf die Schulter verriet, wie wenig vertraut ihm diese Geste im Grunde war. Attacken von Vertraulichkeit aus der Außenwelt blieben jedoch nicht aus. Zur Zeit des Kreuzburg-Buches und der anschließenden Forschungen, als ich als Reiseleiter in Italien mein zweites Standbein pflegte, rief die Reiseleiterdisponentin meiner Firma bei HF an, um mich für eine unmittelbar anzuschließende Reise freizubekommen. Die Dame war berüchtigt für ihren süßlichen Sangeston, wenn sie Gefälligkeiten eintreiben wollte. Sie berichtete mir nach Italien, die Reise, von der ich bislang noch gar nicht wusste, ginge in Ordnung, sie habe schon persönlich mit Professor Fuhrmann gesprochen, der sei ja ein reizender Mann. Als ich zurück in München war und Rapport erstattete, erwähnte HF kurz seine telefonische Begegnung mit meiner Disponentin. Sie sei – so berichtete er zögernd in einer Mischung von Pikiertheit und Amüsement – eine reichlich eigenwillige Dame und in ihren Methoden durchaus unorthodox. Sie habe ihn doch tatsächlich während des säuselreichen Gesprächs angeredet mit „mein lieeeeebes Professorchen“! Doch zurück zu den Geschäften in der Akademie, die ähnlich vielfältig waren wie all die übrigen Funktionen, die HF ausübte, und die zu ständig wechselnden Aufträgen führten. Für die Aufgaben des Akademiepräsidenten war er bereits gut gerüstet und über die geisteswissenschaftlichen Projekte insgesamt besser informiert als viele andere, war er doch schon Mitglied in allen Mittelalter-Kommissionen – er nahm diese Pflichten bis zu seiner Erkrankung sehr ernst. Bald übernahm er den Vorsitz der Union der deutschen Wissenschaftsakademien, die mittlerweile zur zentralen Schaltstelle der Akademienforschung geworden ist, nicht zuletzt dank der Einrichtung einer Geschäftsstelle in Mainz 1993, eben in Fuhrmanns Amtszeit. Die Bayerische Akademie war auch direkt mit anderen Akademien verflochten, vor allem durch die Umwandlung der DDR-Akademie nach der Wende in die Berlin-

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Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Hier entspann sich 1996 ein unliebsamer Konflikt, als der Berliner Präsident die dortige Abteilung des Mittellateinischen Wörterbuchs, dessen Redaktion in München lag, wegen Ineffektivität schließen wollte. HF setzte alle Hebel in Bewegung, um die Stellen zu retten und nach München zu transferieren, all dies begleitet durch ein heftiges bellum epistolare, das schließlich zu einem dokumentarischen Pamphlet aufzubereiten mir aufgetragen wurde. Es fiel auch ein ungewöhnlicher Glanz von oben. 1993 besuchte der japanische Kaiser Akihito die Bundesrepublik, an sich kein Ereignis, das die Akademie tangiert hätte. Jedoch: der Kaiser ist selbst wissenschaftlich tätig, als Limnologe, als Erforscher von Süßwasserfischen, und er bat um den Besuch einer Wissenschaftsakademie. München bot sich an: der erste moderne Erforscher Japans vor der erzwungenen Öffnung des Landes 1855 war der aus Würzburg stammende Arzt Philipp Franz von Siebold gewesen, der 1843 Mitglied der bayerischen Akademie wurde und später seine Japan-Sammlung dem Münchner Völkerkundemuseum verkaufte. Noch heute empfängt den Besucher des Dienstzimmers des Akademiepräsidenten eine stark angelaufene silberne Vase mit einer stilisierten Chrysantheme, die auf einer unpassenden Biedermeierkommode steht, das kaiserliche Geschenk, das HF damals entgegennahm. Doch welcher seiner Amtsnachfolger kennt die Herkunft dieser Vase? Dass HF seine Aufgaben als Akademiepräsident mit ähnlichem Witz ausführte wie so vieles andere, sprach sich in München bald herum. Die feierliche Jahrfeier, das eingespielte, rituelle Ereignis der öffentlichen Rechenschaftslegung, wurde zu einer gern besuchten Veranstaltung – man ging eben am ersten Dezembersamstag nicht zur Jahrfeier der Akademie, sondern „zum Fuhrmann“, immer begierig auf brillante Formulierungen und die neueste Pointe. HF war sich der Wirksamkeit seiner Reden zugunsten der Akademie durchaus bewusst und ließ meist noch vor Weihnachten einen Vorabdruck herstellen, der sogleich verschickt wurde, lange bevor die aufwendige Redaktion des Jahrbuchs abgeschlossen war. Gepflegte, geistreiche Sprache war HF ein tiefes Anliegen und immer auch Medium der Distinktion. Dabei kamen durchaus Wesenszüge des Agonalen zum Vorschein. Zu Beginn unserer Zusammenarbeit legte ich ihm ein kompliziertes Quellenproblem vor, das wegen des

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knappen Raumes auf der Druckfahne möglichst knapp angesprochen werden sollte. Er richtete sich kurz auf, und sogleich stand die Formulierung im Raum. Als Arno Borst ihm 1986 zur Aufnahme in den Orden Pour le mérite gratulierte – der Gruß war auf eine einfache DIN A6-Karteikarte mit bewundernswertem Sinn für die räumliche Platzierung geschrieben: Dass der Orden der Meriten unter vielen Koinobiten ausgewählt den Exquisiten, freuet auch den Eremiten –, replizierte HF in Respekt vor Borsts Formulierungskünsten: „Dankeschön“ dem Eremiten, der mir Grüße tut entbieten, obschon abgeneigt den Riten der agilen Koinobiten. Fuhrmanns Witz, zur Tat, zum Ereignis geworden – dazu vorab eine kleine Erklärung: HF liebte es, zum Geburtstag ein Geschenk zu bekommen. Es musste nicht kostbar, schon gar nicht teuer, es durfte aber keinesfalls banal sein. Mein erstes Geburtstagsgeschenk, soweit ich mich entsinne, war die offizielle Gedenk-Medaille auf die Huldigung König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen von 1840. Wir hatten einige Zeit zuvor (1992) das Büchlein über die „Sichtbarmachung des Verdienstes“ und den Orden Pour le mérite abgeschlossen, wovon später. Als er das Geschenk entgegennahm, meinte er, ich solle ihm etwas dazu schreiben, eine ausführlichere Erklärung oder historische Einordnung. Dies wurde in den folgenden Jahren zu einem eingespielten Ritual: das Objekt und das erklärende Blatt Papier zum 22. Juni. HF liebte den einmaligen, originellen Gegenstand ebenso wie das originelle Wort; jeder Besucher seines Hauses wird beeindruckt gewesen sein von der überwältigenden Präsenz von Gegenständen: eine bronzene Glocke, Majolikaschalen, Zinnfiguren, Porzellanportraits und vieles, vieles mehr. Mit der Huldigungsmedaille schärfte sich Fuhrmanns Blick auf Medaillen, und er stellte fest, dass mit seiner Amtskette, an der eine Medaille hing, etwas nicht stimmte. Es saß hier eine spätere kleine Prämienmedaille der Akademie aus dem 18. Jahrhundert in der Fassung, und wir fanden heraus, dass es doch eine große repräsentative Medaille

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zur Gründung der Akademie 1759 gab, die man an der Kette erwartet hätte. Eine Prüfung der Bilder von Amtsvorgängern ergab, dass noch Heinrich Mitteis 1950 eine Kette mit großer Medaille getragen hatte. Fuhrmanns Amtszeichen mit seinen hässlichen, sich immer verklemmenden Messinggliedern war also Ersatz für etwas, was offensichtlich untergegangen war. Die große Medaille wurde daraufhin im Münzhandel beschafft und eine kleine Vitrinenausstellung geplant. Ich ahnte, dass es noch mehr Material gebe, und recherchierte in der Staatlichen Münzsammlung München. Das Ergebnis war formidabel: Es sprang eine Ausstellung der Akademie in der Münzsammlung mit einem schönen Katalog dabei heraus und erstmals eine engere Verbindung mit einem ehemaligen Attribut der Akademie. Dabei kam auch zutage, dass die Münzsammlung den gesamten Medaillenbesitz der Akademie vor dem Krieg geschluckt hatte, legal natürlich. Mit Hilfe der wenigen Archivalien, die den Bombenkrieg überdauert hatten, und von fast zufällig aufgetriebenen Subskriptionsblättern gelang es, exemplarisch die Ehrenbelohnungen von Gelehrten und die Verwendung der akademischen Bene merenti-Medaillen darzustellen, ein Thema, das dem auf Anerkennung von Verdiensten achtenden HF aus der Seele sprach. Die amüsante Geschichte über die verlorene Amtskette hat HF übrigens im Vorwort des Katalogs genüsslich ausgebreitet. Ein eigenes Kapitel war die Zusammenarbeit mit dem C.H. BeckVerlag. Der Erfolg der „Einladung ins Mittelalter“ war eine Einladung zu weiteren Büchern geworden. Der Lektor Günther Schiwy, im weiteren Sinne Nachbar in Steinebach am Wörthsee, regte Mitte der 1990er Jahre an, der „Einladung“ einen Nachfolgeband hinterherzuschicken, als Titel fand HF: „Überall ist Mittelalter“. Hier wurden jüngere Arbeiten zusammengestellt, die exemplarisch historische Kontinuitäten und Brüche vorführten, wobei die „Abwendungen“ von mittelalterlichen Lebensformen im Zentrum des Interesses standen: Zinsverbot und Judenknebelung, Priesterehe und elende Pfarrersfrau, Bildmagie und Todesangst. Der Beitrag „Pour le mérite. Über die Sichtbarmachung von Verdiensten“ mit dem Sub-Untertitel „Eine historische Besinnung“ war schon 1992 als Monographie erschienen, zum 150jährigen Bestehen des Ordens „Pour le mérite für Wissenschaften und Künste“ als Festrede vorgetragen. Die These dieser „historischen Besinnung“, die es zu

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untermauern galt, war klar: im Mittelalter kein Verdienst, nur himmlische Gnade, später Anerkennungsorden und Lametta. HF hatte mir den Auftrag zu den Recherchen gegeben und im Vertrauen auf FindeInstinkt und rasche Erledigung genügend Zeit und Freiheit. Ich selbst hatte leichte Zweifel bei der Vorstellung der These geäußert, wurde jedoch durch die Recherche eines Besseren belehrt, zur Zufriedenheit von HF, der hier eine Abwandlung seines bewährten Systems des „Double Checking“ angewendet hatte: Wenn es Zeit und Mittel gestatteten, wurden zwei grundverschiedene Köpfe unabhängig voneinander auf die gleiche Aufgabe angesetzt, um zu einem möglichst sicheren Ergebnis zu kommen. Aufwendig wurde die Bildbesorgung, denn die Bebilderung sollte auch einen Gang durch die Geschichte von der Antike an vermitteln. Zwei Jahre später, 1996, stand das nächste Buch bei Beck an, und als Fuhrmanns Hersteller, Herr Schmidt, davon hörte, sagte er mir mit strahlendem Gesicht, wie sehr er sich darauf freue, wieder einmal einen „Fuhrmann“ machen zu dürfen. Mit ihm zusammenzuarbeiten, sei immer eine besondere Freude. Diesmal war es ein Buch über die Monumenta Germaniae Historica: „Sind eben alles Menschen gewesen“. Man merkt, wie wichtig HF der Begriff „Mensch“ in den ZitatenBuchtiteln war, entsprechend dem existenzialistischen Pathos der Nachkriegsgeneration, das „den Menschen“ in seiner nicht reduzierbaren Existenz – und Kostbarkeit – zum Angelpunkt sozialer Erfahrung gemacht hatte. Das Buch war aus dem Vortrag zum 175. Jubiläum der Monumenta Germaniae 1994 hervorgegangen, nach umfangreichen Vorarbeiten im Archiv der MGH. Das Vorwort beginnt: „Wissenschaftsgeschichte ist in Mode gekommen, und der Themen sind viele...“ Dies war eben keine Wissenschaftsgeschichte als Entwicklung der Wissenschaft und ihrer Methoden, sondern eine Art Rechenschaftsbericht, wie ein Jahrhundertwerk der Geschichtswissenschaft Menschen verschiedensten Temperaments und unterschiedlicher Gesinnung zusammengeschweißt oder auseinandergebracht hat, alles vor der Folie materieller Dürftigkeit, denn „sanctus amor patriae dabat animum, sed numquam pecuniam“. Fast alle aus dem Archiv der MGH edierten Aktenstücke im Anhang des Buches sind Zeugnisse der oft sehr bescheidenen Entlohnung.

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Das zwei Jahre darauf 1998 erschienene „Papsttum“ sollte eine schönere, mit besserem Bildmaterial versehene Neuausgabe der ersten Auflage aus der Beck’schen Schwarzen Reihe (1980, 1984 in zweiter Auflage) werden, einer zum Buch gewordenen Radioserie des Bayerischen Rundfunks aus dem Jahr 1980. Dies ist leider nicht so gelungen, wie es sich der Verlag damals vorgestellt hat. Im Wesentlichen wurden die alten schwarz-weiß-Bilder neu verwendet statt schöner farbiger, einige aktuelle hinzugenommen, und als es dann zum Druck kam, geschah ein Malheur: Die Bilder wurde allesamt viel zu schwarz ausgedruckt, sodass der Chef der Herstellung, Herr Fischer, stante pede zur Druckerei fuhr und entschied: Neu drucken! Ganz neu an dieser Ausgabe war allerdings ein gewichtiges Stück Inhalt: die angehängte Erzählung über die Geschichte der Papstgeschichtsschreibung, zuvor erschienen als Beitrag zum Jubiläum des Deutschen Historischen Instituts in Rom und jetzt auch dem breiten Publikum zugänglich gemacht. Es mag gelegentlich die Frage aufgetaucht sein: Hat der „späte Fuhrmann“ neue Wege beschritten? Das anekdotisch anmutende Kreuzburg-Buch „Fern von gebildeten Menschen“, das mancher mediävistische Fachgenosse zunächst für den Spleen eines seiner Heimat Beraubten gehalten haben mag, weist in der Tat in eine neue Richtung – das leider ungeschriebene Buch über die Kreuzburger Judengemeinde hätte sicherlich eine neue Idee für die Erforschung des Judentums in Deutschland aufgezeigt, gegründet auf strenger Quellen- und Archivarbeit. Man möge sich hüten, die Forschungen zu Kreuzburg, zu den Juden und den Oberschlesiern allein einer Sentimentalität Fuhrmanns zuzuschreiben, denn sentimental war er darin nie. Und Oberschlesien und die deutschen Ostgebiete gar als eine Art Irredenta anzusehen, wäre HF völlig abstrus erschienen. Vielmehr bot der neuzeitliche Gegenstand mit seiner sehr schütteren Quellenlage eine willkommene Möglichkeit, Methoden des Mittelalterhistorikers auf die Erforschung der dem eigenen Erleben nicht fernen Zeit zu verwenden. Der Reiz steckte eben in beiderlei: im wachsenden Hang zum Biographischen, Einmaligen, und in der Lust an der Quellenbosselei auf ungewohntem Terrain. Allerdings gab es eine tief empfundene Sympathie, ein Sentiment für die – nicht glücklich verlaufene – polnisch-deutsche Geschichte und einen hohen Respekt für die gewaltige kulturelle Leistung der seit 1815 verstärkt aus Polen nach Preußen einwandernden Juden,

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für ihren ungebremsten Drang nach Bildung, dem HF schließlich seine eigene verdankte. Alle mehr oder weniger mediävistischen Bücher seit der „Einladung ins Mittelalter“ sollten hingegen eine Brücke schlagen zwischen den esoterischen Forschungen der Fachwissenschaft und dem gebildeten, interessierten Publikum; sie sollen einen Einstieg vermitteln in die fremde und doch latent gegenwärtige Welt des Mittelalters und waren nicht als Beitrag zur theorie- und paradigmenfreudigen Fachwissenschaft gedacht. Sie sollten bilden und erfreuen. Im Zentrum der biographischen Beiträge steht der handelnde Mensch, der historische Forscher in seiner Kontingenz. Dass die oft entsagungsvolle Beschäftigung des Quellenforschers in der Vergangenheit meist auch mit erheblichen materiellen Opfern bis zur existentiellen Tragödie verbunden war – ob knapp gehaltene Monumentisten oder jüdische Exilanten, zieht sich durch fast alle Beiträge zur Gelehrtengeschichte und mahnt uns zur Sympathie, ja auch zur Gnade gegenüber Irrtümern, Mängeln und Fehlleistungen. Doch man soll Fuhrmanns Bücher nicht nur nach den Buchstaben lesen, vielmehr sollte man auch auf die Bilder achten. HF war ein Gelehrter, dem es bei aller „Sorge um den rechten Text“ auch um höchste Anschaulichkeit zu tun war. Er mag von Natur kein Augenmensch gewesen sein, doch er war mit scharfer Wahrnehmung auch des Auges ausgestattet. Nach der „Einladung“ wurde die Bildauswahl immer wichtiger, in der Erkenntnis, dass Bilder stärker sprechen als Worte, wie man schon im Band zur Einweihung des Historischen Kollegs von 1988 erkennen kann, einer Bildgeschichte der Kaulbach-Villa. Die Bildlegenden wurden immer mehr zu wesentlichen Ergänzungen des Textes und wuchsen oft zu anekdotischen Erzählungen aus. Gleichrangig trat neben das treffende Wort eben auch das erhellende Bild. Schlag fünf der großen Bücher des „späten Fuhrmann“ im Jahr 2001: Die schon erwähnten „Menschen und Meriten“, als „Persönliche Portraitgalerie“ im Spiegel von Lebensorten wie Kreuzburg und Oberschlesien, von „schattenwerfenden Amtsvorgängern“, und älteren und altersgenossenschaftlich verbundenen Kollegen. Der Anlass zu diesem Buch war ein Geschenk zum 70. Geburtstag 1996, keineswegs ein Geschenk an HF, sondern eines von HF an die Gratulanten, ein „Souvenir de la fête“ als Dankesgabe. Der Privatdruck unter dem Titel „Biogra-

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phische Begegnungen“ gefiel dem Verleger, und so wurde ein Buch fürs breitere Publikum daraus. Der biographische Zugang zur Geschichte im Gegensatz zu einer theoriegeleiteten Geschichtswissenschaft geht durch vom Anfang bis zum Ende des Buches als Cantus Firmus, von den Oberschlesiern bis zum Beitrag über die letzte deutsche DMBanknotenserie, gemäß dem Wort Disraelis: „Read no history: nothing but biography, for that is life without theory“. Doch die biographisch gestimmten Essays sind nicht beliebig: „Wem eine Autobiographie zuwider ist, weil Freud und Leid im tiefsten Empfinden nicht vermittelbar sind, entdeckt Interessantes und Berichtenswertes in fremden Lebensläufen“, so die „Einstimmung“. Das Verstecken der eigenen Lebensgeschichte hinter der der Anderen, die Fuhrmanns Interesse erweckt hatten – bezeichnend für sein Streben nach Distanz. Die Filetstücke des Buches sind die beiden Beiträge über die Amtsvorgänger Kehr und Döllinger, kurz zuvor neu konzipiert und neu gedacht-empfunden. Ignaz von Döllinger, „Akademiepräsident und Historiker“, wird darin als Amtsvorgänger und „exkommunizierter Katholik“ vorgestellt, dem sein Schicksal wegen seiner unbeugsam ablehnenden Haltung gegenüber dem 1870 verkündeten Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit widerfuhr. Zu dieser Haltung kam er „aus Gründen historischer Wahrheit, wie er sie verstand“. Bereits hier deutet sich Fuhrmanns Distanzierung zu Döllinger an, denn dessen Auffassung, die im Lauf der Geschichte entfaltete Ausgestaltung des Papsttums bis zum Dogma der Unfehlbarkeit und dem Universalepiskopat beruhe überwiegend auf dem Gebrauch von Fälschungen, stand diametral gegen Fuhrmanns These, dass die lange in Vergessenheit schlummernden Fälschungen erst wirksam werden konnten, als sie in die historische Entwicklung passten, sich gewissermaßen „anboten“. Döllinger, der schon als Held des liberal-katholischen München eine Art nützlicher Idiot war, erschien mit seinem parteiischen Geschichtsverständnis auch als Historiker als tragische Figur. Darum heißt es auch bestätigend zum Schluss zur Rangreihung: „Der Titel gilt: Döllinger als Akademiepräsident und Historiker“. Mit Paul Fridolin Kehr, dem großen Organisator historischer Wissenschaft aus wilhelminischer Zeit, hatte HF sich schon lange befasst, zunächst mit sympathischer Neugier. Ein römisches Kolloquium im Jahr 1996 zum 60. Geburtstag von Arnold Esch, dem Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, bot

Horst Fuhrmanns späte Jahre von 1988 bis 2008

den ersten Anlass, sich über Kehr Rechenschaft abzulegen. Die Form der Annäherung war ungewöhnlich unakademisch: Reinhard Elze, der Vorgänger von Arnold Esch, Fuhrmann in Rom und später in München freundschaftlich verbunden, und HF disputierten in lockerer Form über den Menschen und Gelehrten Kehr. Kehr war nicht nur Vorgänger von Esch und Elze gewesen, sondern als Präsident der MGH auch Fuhrmanns Amtsvorgänger und als einziger durch quellenkritische Arbeit hervorgetretener Mediävist in den Orden Pour le mérite aufgenommen worden, obwohl er in seiner Wissenschaft – um das heutige Unwort auszusprechen – ein strikter „Positivist“ war. Der energische, durchsetzungsstarke und sich gern zynisch gebende Kehr war zwar schon als junger Gelehrter in die Position eines höchst einflussreichen Wissenschaftsmanagers gelangt, galt jedoch zunehmend als Außenseiter innerhalb der Historikerzunft, der sich hartnäckig weigerte, durch das Verfassen deutender Geschichtsdarstellungen in die Öffentlichkeit zu treten: Er liebte es vielmehr, die (oft im nationalen Zeitgeist) schreibenden Kollegen mit Spott und Hohn zu überziehen. Von „weit verbreiteter Anerkennung seiner Verdienste“, wie es die Ordensstatuten fordern, konnte man kaum sprechen, schon gar nicht im Sinne allgemeiner Popularität. Die kritische Beschäftigung mit Kehrs Leben und Wirken für die „Menschen und Meriten“ führte zu einer deutlichen Ernüchterung, und so schließt der Essay mit einem erstaunlichen, unversehens rettenden Resümee: „Was aber macht den Respekt aus, den man ihm dennoch entgegenbringt? Es ist die Persönlichkeit, ob man sie nun mit Goethe – etwas inhaltsleer – als höchstes Glück der Menschenkinder bezeichnet oder mit Jacob Burckhardt beschreibt. Größe richte sich nicht – so Burckhardt – nach dem gehabten Verdienst, auch nicht nach der Fähigkeit, ja nicht einmal nach historischer Wichtigkeit; das am Ende Entscheidende sei die Persönlichkeit, und Burckhardt schließt an dieser Stelle seine Überlegung mit dem Nebensatz, der das letztlich Unerklärliche deutlich hervortreten lässt: es bleibe die Persönlichkeit, ‚deren Bild sich magisch weiterverbreitet‘, es bleibe etwas Charismatisches. So geht es uns allen mit Alexander Paul Fridolin Kehr.“ In diesem Bericht über die späten Jahre von HF wäre hiermit eigentlich ein Endpunkt erreicht, doch es drängt, den persönlich gehaltenen Erinnerungen einige aus langer Vertrautheit gewonnene und auch

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von Herzen kommende Bemerkungen anzuschließen. Horst Fuhrmann war der neugierigste Mensch, dem ich je begegnet bin, einen neugierigeren werde ich nimmermehr erleben. Diese Neugierde war allumfassend, kein Gegenstand war der scharfen Beobachtung und dem klugen Urteil wirklich unbedeutend. Damit war stets eine hohe sympathische Anteilnahme an der menschlichen Umgebung verbunden, ein Hunger nach dem Spezifischen, dem höchst Individuellen und – natürlich – der gemeinsamen Teilhabe daran. Dies schlug sich auch in seinen Wertungen nieder. Eines seiner Lieblingswörter war „präzise“, Lob für wissenschaftliche Untersuchungen und Urteile, ein Kriterium für Brauchbarkeit – erlernbar. Seltener jedoch begegnet man bei ihm dem anderen Schlüsselwort: „originell“. Dies war der Ritterschlag für den Einmaligen, ein Lobpreis dessen, was den Menschen kostbar macht, öfter übrigens aus seinem Mund gehört als bei ihm gelesen. Das Medium der Teilhabe, die flexible, originelle, farbenreiche Sprache Horst Fuhrmanns, können wir heute nur noch in seinen Schriften erfahren. Das Fluidum im Umgang mit ihm war eine Atmosphäre der Freiheit, des offenen Interesses und des Respekts, für mich befreiend, mich prägend und erfüllend mit dankbarster Erinnerung.

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Karl der Große, Rom und Aachen Actus beati Silvestri und Constitutum Constantini als Wegweiser zur Pfalz Karls des Großen* „Wer war Karl der Große? Wann lebte er? Diese Frage stelle ich seit einiger Zeit ... und erfahre mit gewisser Ungläubigkeit, wie stark seine Gestalt trotz „Karls-Preis“ und Aachener Pfalzkapelle im allgemeinen Geschichtsbewusstsein zurückgetreten“ ist. Mit diesen Sätzen leitete Horst Fuhrmann einen Rundfunkvortrag ein, der – sehe ich recht – die einzige eigene Studie zu dem großen Karolinger blieb1. Besser als zur Zeit dieses Beitrags ist die Lage in den letzten dreißig Jahren nicht geworden – trotz jener epochemachenden ersten Europaratsausstellung zu Aachen im Gedenkjahr der achthundertsten Wiederkehr von Karls Heiligsprechung 1965, trotz der schönen Präsentation des Jahres 1999 zur Erinnerung an den Besuch des Papstes Leo III. bei Karl in Paderborn 1200 Jahre zuvor, trotz lesenswerter Bücher über den ersten Kaiser aus karolingischem Haus. Jedenfalls hat noch unlängst der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, ein praxiserfahrener Altphilologe und Historiker, gegen das Umsichgreifen des historischen Analphabetismus seine Stimme erhoben. „Schüler wissen mit zentralen Ereignissen

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Der folgende Beitrag wurde gegenüber der Redefassung erheblich erweitert und um die nötigen Belege ergänzt. Da der Verfasser zugleich an einer Biographie Karls des Großen arbeitete, und da diese bereits abgeschlossen war, als die vorliegende Schlussredaktion erstellt wurde, ergab es sich, dass Verweise auf diese Biographie und auch von dieser auf den vorliegenden Beitrag anzutreffen sind. Der Leser möge darin eine durch die Bedingungen der Drucklegung nicht mehr zu revidierende Spur des Arbeitsprozesses erkennen. Auch habe ich für die Biographie teilweise auf Passagen zurückgegriffen, die für den vorliegenden Beitrag ausgearbeitet waren. Horst Fuhrmann, Kaiser Karl der Große. Geschichte und Geschichten, in: Ders., Einladung ins Mittelalter (Beck’sche Reihe), München 2000, S. 65–76.

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nichts mehr anzufangen“2; und eine jüngste deutschlandweite Umfrage zur Studierfähigkeit deutscher Studenten offenbarte einen erschreckenden Rückgang der Sprachbeherrschung und Lesekompetenz3. Horst Fuhrmann hat Vieles getan, um dem entgegenzuwirken. Bücher wie „Einladung ins Mittelalter“4, „Überall ist Mittelalter“5, „Die Päpste“6 oder „Menschen und Meriten“7 zeugen davon. Aber wer liest heute noch? Zur Sorge um den rechten Text tritt heute die Sorge um das rechte Buch. Auch Karl der Große kam nicht zu kurz. Fuhrmanns Forschungen umkreisten mit den Studien zur mittelalterlichen Patriarchatstheorie8, zu Pseudoisidor9, zum „Constitutum Constantini“, das er für die MGH edierte10, überhaupt zum frühmittelalterlichen Papsttum, umkreisten ständig Gestalt und Wirken des großen Frankenkönigs. Die von ihm für den Studiengebrauch herausgegebenen „Quellen zur 2 Josef Kraus, Der historische Analphabetismus greift um sich. Schüler wissen mit zentralen Ereignissen nichts mehr anzufangen. Geschichtsunterricht ohne Geschichte, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung 21. Juni 2012, Nr. 142 S. 6. 3 Vgl. dazu das Interview mit Gerhard Wolf, der die Umfrage durchführte und auswertete, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8. Juli 2012 Nr. 27. 4 München 1987 u. ö. 5 Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München 1996 u. ö. 6 Die Päpste Von Petrus bis Benedikt XVI., 3. aktualisierte und erweiterte Auflage München 2005. 7 Menschen und Meriten. Eine persönliche Portraitgalerie zusammengestellt und eingerichtet unter Mithilfe von Markus Wesche, München 2001. 8 Horst Fuhrmann, Studien zur Geschichte mittelalterlicher Patriarchate. Teil I in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Kan. Abt. 39 (1953), pp. 112–76; Teil II in: ZRG Kan. Abt. 40 (1954), pp. 1–183; Teil III in: ZRG Kan. Abt. 41 (1955), pp. 95–183. 9 Horst Fuhrmann, Einfluss und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit (MGH Schriften 24/1–3), 3 Bde. Stuttgart 1972–1974. 10 Das Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung). hg. von Horst Fuhrmann (MGH LL 8, Fontes Juris Germanici Antiqui in usum scholarum seperatim editi 10), Hannover 1968; dazu Ders, Konstantinische Schenkung und abendländisches Kaisertum. Ein Beitrag zur Überlieferungsgeschichte des Constitutum Constantini, in: DA 22 (1966), S. 63– 178 (künftig CC mit Zeilen-Angabe)

Karl der Große, Rom und Aachen

Entstehung des Kirchenstaates“ bedienten sich zumal jener Papstbriefe, die Karl im „Codex Carolinus“ hatte sammeln lassen, und die er, Horst Fuhrmann, immer wieder für seine wissenschaftliche Arbeiten heranzog11. Er gab endlich gemeinsam mit Claudia Märtl posthum in vorbildlicher Weise Peter Classens Studie „Karl der Große, das Papsttum und Byzanz“ heraus12. Zu den folgenden Ausführungen hätte Horst Fuhrmann also viel zu sagen gehabt – begleitend, prüfend, kritisch und vermutlich nicht immer zustimmend.

1. Rom Papst und Frankenkönig also, Rom und Aachen, ein altes Thema. Sollte da noch Neues zu sagen sein? Etwas, das dem „allgemeinen Geschichtsbewußtsein“ frommen könnte? Eine enge Verbundenheit beider Orte ist evident. Denn Karl gab – warum und in welchem Sinne ist unklar – seiner Pfalz in Aachen einen römischen Namen: „bei den Laterani“, (ad) Lateranis13. Lässt dieser Name sich verstehen, angemessen deuten? Zur Antwort müssen wir uns mit Karl auf den Weg nach Rom begeben und uns in Rom umsehen. Auf diesem Weg begegnen wir immer wieder den wissenschaftlichen Arbeiten Horst Fuhrmanns und dürfen sie zur Orientierung benutzen, gleichsam als Wegmarkierungen eines Wandersteigs betrachten, den wir gehen wollen14. Am Karsamstag des Jahres 774 stand der Franke ein erstes Mal oben „bei den Laterani“, auf dem Celio15, einem der „sieben Hügel“ 11 Quellen zur Entstehung des Kirchenstaates. Eingeleitet und zusammengestellt von Horst Fuhrmann (Historische Texte Mittelalter 7), Göttingen 1968. 12 Peter Classen, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz. Die Begründung des karolingischen Kaisertums. Nach dem Handexemplar des Verfassers hrsg. von Horst Fuhrmann und Claudia Märtl (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 9), Sigmaringen 1985. 13 Vgl. unten S. 142. 14 Unmittelbar zum Thema auch: Horst Fuhrmann, Konstantinische Schenkung und Silvesterlegende in neuer Sicht, in: DA 15 (1959) S. 523–40 (eine ausführliche Kritik der Thesen Wolfgang Gerickes). 15 BM2 160d (L(ouis) Duchesne, Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire Bd. 1 (Textes Bibliothèque des Écoles Françaises d‘Athènes

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Roms. Er hatte überraschend die Belagerung der langobardischen Königsstadt Pavia unterbrochen, war an den Tiber geeilt, um zu Ostern in St. Peter sein Gebet zu verrichten, hatte dann verlangt, der Freund des Papstes und Patricius der Römer, die Stadt zu betreten, was der Papst Hadrian nach Leistung gewisser Sicherheitsgarantien zulassen musste16. Karl kam nun von der Apostelkirche, wo er bei S. Petronilla Quartier genommen hatte, war über die Tiberbrücke beim Mausoleum des Kaisers Hadrian (der Engelsburg von heute) geritten, rechts vorbei am Circus Flamineus (der Piazza Navona), links unterhalb des Kapitols, quer durch die Stadt, geritten über das Forum, vorbei an S. Maria Antiqua zur Rechten, an Titus- und Severus-Bogen, am Konstantins-Bogen, am Kolosseum zur Linken, vorbei an S. Clemente, an den trutzigen Quattro Coronati hoch zum Baptisterium, heute S. Giovanni in Fonte. Dort stieg der König vom Pferd, sah sich um, betrat mit seinem kleinen Gefolge das porphyrprunkende Oktogon der Kirche, wo er den Taufen und der anschließenden Firmung durch den Papst in der Kreuzkapelle des Baptisteriums beiwohnte, und schritt endlich gemeinsam mit Hadrian zur Basilica Constantiniana, die seit jeher dem Erlöser und dem Apostel Johannes geweiht war, zur Bischofskirche des römischen Pontifex17. Die Ostertage blieb der König in Rom, zog wie der Papst in feierlicher Prozession durch die Straßen der Stadt zu den Stationskirchen, am Sonntag nach S. Maria Maior, am Montag nach St. Peter, am Dienstag nach St. Paul vor den Mauern, also zu drei Patriarchatskirchen, stets in et de Rome, Sér. 2 Bd. 1), Paris 1886, (künftig LP), S. 497, Vita Hadriani I. c. 39). 16 BM2 160c (im Wesentlichen nach LP S. 497 c. 39). 17 Den Weg verrät eine zeitgenössische Rombeschreibung: Die Einsiedler Inschriftensammlung und der Pilgerführer durch Rom (Codex Einsidlensis 326). Faksimile, Umschrift, Übersetzung und Kommentar, Hg. von Gerold Walser, Wiesbaden/ Stuttgart 1987, S. 84a/b; vgl. dazu Franz Alto Bauer, Das Bild der Stadt Rom in karolingischer Zeit: Der Anonymus Einsidlensis, in: Röm. Quartalschrift 92 (1997) S. 190–28, hier Karte S. 195; Ders., in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. In Paderborn. Katalog der Ausstellung Paderborn 1999, Beiträge zum Katalog der Ausstellung, hrsg. von Christoph Stiegemann und Matthias Wemhoff, Mainz 1999, Bd. 2, Mainz 1999, Nr. IX,1 S. 707 mit Karte S. 608 (künftig: 799. Kunst und Kultur).

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Begleitung der am Karsamstag Getauften18. Am Mittwoch führte Karl der Weg wohl nicht zur Station von St. Laurentius vor den Mauern; doch anschließend trafen sich König und Papst erneut in St. Peter zur feierlichen Bekräftigung der Schenkungen Pippins, des königlichen Vaters, an den apostolischen Stuhl19. Am Ostersonntag hatte Karl zudem mit Hadrian im „lateranensischen Patriarchium“ gespeist, dem Amtssitz des Papstes20. Wir verfolgen diese Prozessionen und ihre Wege durch die ewige Stadt – eindrucksvoll genug – nun nicht weiter, obgleich auch sie ihre Bedeutung für Karls Romerleben gehabt haben mochten. Karl muss ins Staunen geraten sein ob der Pracht der Kirchen und Ruinen, ob der überwältigenden Macht der Liturgie in diesen weiten Hallen, er, der – vielleicht von angelsächsischen Pilgerkönigen abgesehen – als erster Barbarenherrscher nach dem Gotenkönig Theoderich die ewige Stadt betreten durfte. Schauderte ihn nicht, den Franken aus dem Norden, der Römisches bislang allenfalls aus der Provinz kannte? Was empfand er, der eben seine ersten militärischen Erfolge gegen heidnische Sachsen und die den Papst bedrohenden Langobarden vorweisen konnte und auf die Einnahme ihrer Königsresidenz hoffen durfte; was dort vor und in den altehrwürdigen lateranensischen Bauten, des vornehmsten dem Papst geöffneten Repräsentationsortes, den gleichermaßen Kaiser und Legende ausgezeichnet hatten; was angesichts des prächtigen Patriarchiums, das seit kurzem ausgebaut und um repräsentative Säle erweitert worden war21? Was sah er? Und wie wirkte es auf ihn damals, im Jahr 774, und während seiner drei späteren Besuche dort? Keine Beschreibung hielt sein Staunen fest, seine Einsichten, seine Entschlüsse. Eine gesicherte Beantwortung der Fragen erscheint somit kaum mehr möglich. Jede plausible Antwort aber dürfte, auch wenn Gewissheit schwerlich zu erringen ist, einiges über das Selbst- oder Herrschaftsverständnis des jungen, gerade 26-jährigen Königs verraten, die anderweitig kein Text festhielt. Doch verlangte ihn nicht nach litur18 19 20 21

BM2 160e-162b (LP S. 497–8 c. 40). BM2 162c (LP S. 427 c. 43) und BM2 163. BM2 160e. Zum Patriarchium: Manfred Luchterhandt, Päpstlicher Pfalzbau und höfisches Zeremoniell unter Leo III., in: 799. Kunst und Kultur, S. 109–22.

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gischem Prunk?22 Nach dem Cantus Romanus in fränkischen Kirchen? Können also verstreute Hinweise auf Rombewunderung und Romimitatio zu Antworten führen? Karl weilte in den Jahren 774, 781, 787 und 800 in der Stadt der Apostel. Die ersten drei Male zog der König zu den Stationskirchen und speiste nach der Messe mit dem Papst im Patriarchium, während der vierte Besuch in der Zeit seiner Kaiserkrönung und des Gerichts über die Attentäter gegen den Papst Leo III. anders ablief als gewohnt; darüber hat Horst Fuhrmann wiederholt gehandelt. Doch jeder spätere Besuch erneuerte den früheren Eindruck, ergänzte und verfestigte ihn. Zu Ostern 774 schon erbat sich Karl von Hadrian eine Sammlung des in Rom gültigen Kirchenrechts – die sog. „Dionysio-Hadriana“23. Die schlichten Hexameter, die die Sendung begleiteten, liefern eine bemerkenswerte, den Wünschen und Intentionen des Königs nachkommende Begründung des eiligen Romzugs, wenn auch im Spiegel der Papstrede. Erinnert wurde an den Wunsch zum Gebet am Grab des siegverleihenden Schlüsselträgers, erinnert an des Königs Willen zur Übereinstimmung mit dem apostolischen Stuhl, erinnert an das Begehren, „durch das Gebet des Papstes von den Untaten (noxa ... commissa) seiner Jugend befreit zu werden“; erinnert vor allem aber an die „Rückgabe früherer Schenkungen an seine Mutter, die hl. Kirche: Große Städte, Patrimonien und verschiedene Burgen“ (Reddidit prisca dona ecclesiae matri suae / Urbesque magnas, fines simul et castra diversa) und der Gerechtsame Petri, auch an künftige, noch größere Gaben24. 22 Karl und die römische Liturgie: z. B. MGH Capit. 1 S. 80 Nr. 30 (epistola generalis: Karl folge dem Vorbild seines Vaters); ebd. S. 61 Nr. 22, 80 (Admonitio generalis 789 = edd. Hubert Mordek, Klaus Zechiel-Eckes, Michael Glatthaar, MGH Fontes iuris Germ.ant. 16, S. 230 c. 78); ebd. S. 234 Nr. 116,4 und 7; ebd. S. 235 Nr. 117,9. – Zur Übersicht. Herbert Schneider, Karolingische Kirchen- und Liturgiereform – Ein konservativer Neuaufbruch, in: 799. Kunst und Kultur, S. 772–81. 23 Vgl. BM2 163. – Lotte Kéry, Canonical Collections in the Early Middle Ages (ca. 400–1140). A Bibliographical Guide to the Manuscripts and Literature, Washington 1999, S. 14–8; knapp: Wilfried Hartmann, Kirche und Kirchenrecht um 900. Die Bedeutung der spätkarolingischen Zeit für Tradition und Innovation im kirchlichen Recht (Schriften der MGH 58), Hannover 2008, S. 62. 24 MGH Poetae 1 S. 90–1 Nr. III.

Karl der Große, Rom und Aachen

Das letzte, Hadrians Mahnung an Gaben, galt gewiss nicht nur der Schenkung Pippins, die Karl als Knabe gegengezeichnet und eben erneuert hatte, aber – wie sich zeigen sollte – zu realisieren nicht Willens war; erinnert wurde damit vielmehr auch an die reichen Gunsterweise früherer Caesaren und zumal Konstantins des Großen, die der „Liber pontificalis“ allenthalben, für Europa, Asien und Afrika, verzeichnete, und an die Hadrian wenige Jahre später (778) seinen fränkischen Freund noch einmal gemahnte25. Damals hieß er Karl einen „neuen Kaiser Konstantin“. Doch schon die erste Begegnung war der Auftakt eines innigen Verhältnisses beider, „innig ... auch die Verbindung von Ärgernissen und Hilfeleistungen“26. Der Sieg über die Langobarden und die Erweiterung von Karls Königsherrschaft durchzog diese Verse, aber auch und nicht zuletzt und durch die dreifache Mahnung zu Gaben: Rom selbst. Trat jetzt also das Vorbild des ersten christlichen Kaisers vor Karl? Des großen Förderers der römischen Kirche? In welchem Sinne konnte der Franke es verstanden haben? Bietet Karls Handeln nicht diesen oder jenen Hinweis auf eine Antwort? Der sechsundzwanzigjährige König reiste nicht unvorbereitet in die Stadt des Nachfolgers Petri, den jener Kaiser in einzigartiger Weise geehrt und erhöht hatte. Mit wissendem Blick betrat er den Ort27. Vielleicht kannte er schon Isidors von Sevilla kurze Chroniknotiz über einen Konstantin, den der arianische Bischof Euseb von Nikomedia getauft und auf diese Weise zur Häresie verleitet habe28. Konstantins von der Legende verbrämte katholische Taufe durch den hl. Silvester wurde dennoch nicht in Frage gestellt29. Mit Gewissheit darf angenommen werden,

25 LP S. 170–87 (Vita Silvestri); Codex Carolinus ep. 60, ed. W. Gundlach, MGH Epp. 3, S.585–7. 26 Fuhrmann, Einladung, S. 71. – Vgl. unten S. 108 27 Zum Konstantinbild des früheren Mittelalters vgl. Eugen Ewig, Das Bild Constantins des Großen in den ersten Jahrhunderten des abendländischen Mittelalters, zuletzt in: Das byzantinische Herrscherbild, hg. von Herbert Hunger (Wege der Forschung 341), Darmstadt 1975, S. 133–92. 28 Chronicon c. 99, Migne PL 83, 1048-9. Spätestens in den Auseinandersetzungen mit den spanischen ,Adoptianisten‘ etwa im Kontext der Synode von Frankfurt 794 (vgl. unten Anm. 42) wurde Karl auf Isidor, Silvester und die Silvesterakten verwiesen. 29 Vgl. Karls Antwort an die Spanier: MGH Conc. 2,1 S. 161, 32–9.

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dass er selbst, Karl, mit der „Silvesterpassion“ vertraut war30. Immerhin hatte sich ja Karlmann, der Bruder seines Vaters, nach dem Silvesterkloster auf dem Monte Soratte zurückgezogen und damit den Pippiniden den Aufstieg zum Thron ermöglicht; die Reichsannalen verwiesen in diesem Zusammenhang explizit auf Konstantin31. Das Kloster wurde durch Paul I. der römischen Gründung S. Silvestro in Capite unterstellt32. Auch der eine oder andere von Karls Begleitern und Beratern kannte und schätzte – so wie es später von seinem Vetter Adalhard von Corbie und seinem Biographen Radbert überliefert ist33 – jenen „fabelreichen Heiligenroman“, wie Wilhelm Levison die Legende von der Heilung des Kaisers Konstantin vom Aussatz durch die Taufe in Rom nannte34, die Silvester an eben jenem Ort gespendet habe, an dem Karl sich nun befand; ihr waren dann reiche Gaben für die römische Kirche gefolgt. Derartiges Wissen lenkte die Blicke und deutete das Wahrgenommene. Die Legende, die in den „Actus b. Silvestri“ noch aus dem fünften oder sechsten Jahrhundert überliefert ist und in Rom entstanden war, sprach den hier fraglichen Ort auf dem Caelimontanus immer wieder an, und zwar durchweg und ausschließlich als kaiserlichen Palastkomplex35. Hier folgte Konstantin den Eingebungen römischer pietas, hier 30 Actus b. Silvestri ed. Boninus Mombritius, Sanctuarium seu Vitae Sanctorum 2, Paris 1910, S. 508–31. – Die älteste erhaltene Handschrift (clm 3514), eine B1-Version, gehört in die Mitte des 8. Jahrhunderts und scheint in den Umkreis von Corbie und Chelles zu führen: Katharina Bierbrauer, Die vorkarolingischen und karolingischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek. Textband, Wiesbaden 1990, zur Handschrift (Nr. 5). – Auf den hl. Silvester war schon Karls Vater Pippin verwiesen worden, vgl. Paul I. an Pippin: CC 23 und 42, ed. Gundlach S. 526–7 und S. 556. 31 Annales regni Francorum zu 746, rec. Fridericus Kurze (MGH SS rer. Germ. [6]) S. 6–7. 32 Ewig, Das Bild Constantins des Großen (wie oben Anm. 27), S. 153–4. 33 Paschasius Radbertus, Vita s. Adalhardi c. 22, vgl. c. 20 im Vergleich mit Actus b. Silvestri ed. Mombritius, S. 515–6. 34 Wilhelm Levison, Kirchenrechtliches in den Actus Silvestri, in: ZRG Kan. 15 (1926) S. 501–11, wieder in: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze, Düsseldorf 1948, S. 390–465 (danach zitiert), hier S. 466–73, Zitat: S. 466. 35 Ed. Mombritius S. 512,53–5 und S. 513,39–44 und Z. 52-3, S. 514,224 und Z. 50-1; S. 515,50-2. – Wilhelm Levison, Konstantinische Schenkung und Silvester-Legende, in: Miscellanea Francesco Ehrle Bd. 2, Rom 1924,

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sah er im Traum die Bilder der Apostelfürsten, die ihn zur Heilung an den Bischof Silvester verwiesen, hier trat er ins Taufbad, stiftete er die Salvatorbasilika und erließ er Gesetze zur Erhöhung der römischen Kirche, versammelte er die Gegner zur Disputation. Die Glaubwürdigkeit der Überlieferung wurde in Karls Zeit kaum angefochten, auch wenn zwischen 814 und 821 die älteste bekannte Handschrift von Cassiodors „Historia tripartita“ mit dem Verweis auf die arianische Taufe Konstantins für Karls verbannten Vetter Adalhard von Corbie geschrieben wurde, und wenn noch später Frechulf von Lisieux in seiner für Karls gleichnamigen Enkel bestimmten Chronik vielleicht leise Zweifel anklingen ließ36. Erst Otto von Freising im 12. Jahrhundert artikulierte als Kenner der „Tripartita historia“ unverhüllte Skepsis und ließ die Legende mehr oder weniger auf sich beruhen37. S. 159–247, wieder in: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit (wie oben Anm. 34), S. 390–465 (danach zitiert), hier S. 409–17 datierte die Fassung A der „Actus“ in die Zeit vor 500. Dort S. 410–3 zur Entstehung in Rom. – Der jüngste Datierungsversuch möchte aufgrund einer Analyse der zehn angeblichen „Taufgesetze“ Konstantins nach den Gesetzestexten des Cod. Theodosianus und des Corpus Justinians und einer Analyse des Religionsdisputes mit den Juden die vorliegenden „Actus b. Silvestri“ etwa in die Mitte des sechsten Jahrhunderts setzen: Tessa Canella, Gli Actus Silvestri. Genesi di una legenda su Costantino imperatore (Collana del Centro italiano di studi sul basso medioevo – Accademia Tudertina 7), Spoleto 2006. Im Anhang (S. 269–309) wird nach ausgewählten Handschriften die Disputation Silvesters mit den Juden nach den Versionen A (Vat. Lat. 1194 im Vergleich mit Vat. Lat. 5771), B (clm 14704) und C (nach Mombritius, vgl. oben Anm. 30) ediert. Doch hat Canella den knappen Beitrag von Levison, Kirchenrechtliches (wie oben Anm. 34) nicht berücksichtigt. Die Datierungsfrage kann hier auf sich beruhen, da zu Karls des Großen Zeit ohne Zweifel die „Actus“ vorlagen und im Frankenreich bekannt waren und in unserem Zusammenhang weder deren Entstehung noch die damals aktuelle Rechtslage, sondern allein die römische Tradition zu betrachten sind. 36 Adalhard: Ms. St. Petersburg F.v.I.11, dazu Klaus Zechiel-Eckes Ein Blick in Pseudoisidors Werkstatt. Studien zum Entstehungsprozess der falschen Dekretalen, in: Francia 28/1 (2001) S. 37–90, hier S. 39. – Frechulf Historiarum libri XII, in: Opera omnia, ed. Michael D. Allen (CCCM 169A), Turnhout 2002, hier: II,3,15, S. 594–600 und 3,20; S. 607; II,4,2-3 S. 618–9. 37 Vgl. Johannes Fried, Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and its Original Meaning. With a

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Karl jedenfalls durfte den von der römischen Passio sancti Silvestri – so die älteste Handschrift aus der Mitte des 8. Jahrhunderts – vorgestellten Konstantin durchaus als Vorbild betrachten, als Typus eines rombeherrschenden, doch christlichen Kaisers. Der Papst Hadrian durfte in Erwartung des königlichen Beifalls, und des Verständnisses für die Anspielung so weit gehen, nicht nur an den sanctae recordationis piissim(us) Constantin(us) Magn(us) imperator zu erinnern, vielmehr ihn selbst, den Karolinger, als einen „neuen, Gottes allerchristlichsten Kaiser Konstantin“ zu preisen, als novus christianissimus Dei Constantinus imperator38. Auch in Karls Frankenreich konnte der Typus Konstantins als christlicher Herrscher immer wieder evoziert werden39. „Der Vergleich zwischen Karl dem Großen und Konstantin ist für die damalige Zeit nicht singulär“40. Konstantins späterer „Abfall“ von der Orthodoxie verdüsterte freilich das Bild und verwehrte Lobeshymnen und Heiligkeit. Der Zwiespalt schlug sich in Karls Auseinandersetzung mit Byzanz über die Bilderfrage nieder. Da griff das „Opus regis contra synodum“, die sog. „Libri Carolini“, auf die Silvesterlegende zurück, obgleich sie deren Hinweis auf die Verehrung der Apostel-Bilder kritisierten und Karl eben gerade diese Korrektur ausdrücklich „gut“ (bene ) hieß. Auch gemahnte Alkuin mit dem Beispiel Konstantins an das Asylrecht der Kirchen41. Ebenso wie der Konstantin der Legende so schaltete sich auch der Frankenkönig in Glaubensdispute ein. Spanische Anhänger des Adoptianismus, gegen den Karl wiederholt Synoden einberief, warnten ihn deshalb mit dem Beispiel Konstantins, der – obwohl katholisch getauft – durch Arius zur Häresie verleitetet worden sei42. Karls Antwort

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Contribution of Wolfram Brandes: “The Satraps of Constantine”. (Millennium-Studien 3), Berlin/ New York 2007, S. 11–2. Wie oben Anm. 25. So mit Otto Gerhard Oexle, Die Karolinger und die Stadt des heiligen Arnulf, in: FmaSt 1 (1967) S. 20–364, hier S. 301–11; vgl. Fuhrmann, Papsttum (wie unten Anm. 75) S. 282–4 mit Anm. 59. Fuhrmann, Die Päpste, S. 282. Opus Caroli adversus Grecos (Libri Carolini), hg. Ann Freeman unter Mitwirkung von Paul Meyvaert (MGH Concilia 2 Suppl. 1), II,13 S. 236 und S. 260. – Alkuin: ep. 245 MGH Epp. 4 S. 396,13-6. Schreiben spanischer Bischöfe an Karl 794: MGH Conc. 2,1 S. 121,3-13.

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war kurz und bündig: Er lasse sich nicht zum Abfall vom rechten Glauben verleiten43. Der ebenfalls noch dem 5. oder dem früheren 6. Jahrhundert angehörende „Liber pontificalis“, die offizielle Sammlung der Papstleben, bestätigte mit knappen Worten den Kern der Legende: „Silvester ... taufte Konstantin, den Augustus, den der Herr (Gott) von der Lepra geheilt hatte“44. Auch dieser Text dürfte im Umfeld des karolingischen Hofes bekannt gewesen sein. Zudem war die Petronilla-Kapelle bei St. Peter, Karls römische „Hauskapelle“, damals mit Szenen aus dem Leben Konstantins geschmückt45. Zweifel an der Zuverlässigkeit der „Actus b. Silvestri“ erübrigten sich damit vollends46. Überhaupt, Konstantin war in Rom allenthalben mit Stifterbildern, Inschriften, Reiterfiguren oder Triumphbogen gegenwärtig. Karl also dürfte die Darstellung der Legende für historische Wirklichkeit genommen haben, nicht anders als später der Autor des „Constitutum Constantini“. Er betrat somit oben auf dem Celio, jetzt von Ruinen, Gärten und Weinbergen umgeben, das alte Herrschaftszentrum Konstantins des Großen, des ersten christlichen Kaisers47. Wurde dasselbe Vorbild für seine eigenen Pläne? Welche Gedanken mochten Karl also in den Sinn gekommen sein, als er die Höhe des Hügels erreichte. Der hier betretene Westen des Celio, nur noch ein isolierter Borgo innerhalb der aurelianischen Mauern, besaß eine bewegte Vergangenheit. Sie ist nicht ohne Bedeutung für die Beurteilung der karolingerzeitlichen Befunde. Das weite Areal trug seinen Namen „bei den Laterani“, ad Lateranis, nach seinen einstigen Besitzern, jener konsularen Familie der Laterani, die Nero im ersten nachchristlichen Jahrhundert nach Beseitigung ihres Oberhauptes enteignet hatte48. 43 Wie oben Anm. 29. 44 LP 1 S. 1701–4. 45 Erich Caspar, Das Papsttum unter fränkischer Herrschaft, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 54 (1935), separat Darmstadt 1956 (danach zitiert), S. 19–34, hier S. 23 mit Anm. 3. 46 Zur Datierung der „Actus“: Fried, Donation of Constantine, S. 74–75 sowie unten Anm. 126. 47 Die Lage dürfte ähnlich ‚ländlich‘ gewesen sein wie auf dem Plan von Mario Cartaro aus dem Jahr 1576, vgl. Richard Krautheimer, Rom. Schicksal einer Stadt 312–1308, München 1987, S. 70. 48 Hierzu und zum Folgenden: Fried, Donation of Constantine, S. 77–80.

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Ein kurzer Blick auf diese Familie und ihre Anwesen erscheint für die weitere Geschichte des Celio, der antiken regio II, ratsam. Ein früher Repräsentant war Lucius Sextius Lateranus. Er bekleidete im vierten vorchristlichen Jahrhundert achtmal das Amt des Volkstribuns (376–67). Nach dem vernichtenden Brand der Wohninsel auf dem Celio im Jahr 27 CE errichtete Plautius Lateranus dort seine Villa, von großen Gärten umgeben. Im Jahr 67 war er consul designatus, doch Nero neidete ihm den schönen Besitz, ließ ihn hinrichten und konfiszierte das Anwesen, das zum Teil neu verteilt wurde. Gleichwohl stellten Mitglieder der Familie im ausgehenden 1. und im 2. nachchristlichen Jahrhundert immer wieder Konsuln. Septimius Severus restituierte schließlich der Familie die domus; bis ins späte vierte Jahrhundert treffen wir Familienangehörige dort. Doch es war nicht das gesamte einstige Anwesen des Plautius Lateranus, das zurückgegeben wurde. Auf einem Großteil desselben ließ der Kaiser vielmehr die neue Kaserne der Gardetruppe der Equites singulares errichten. Sie wurde nach dem Jahr 312 geschleift, nachdem diese Reitereinheit sich gegen Konstantin gestellt hatte. Auf ihrem Gelände ließ der Sieger die Basilica Constantiniana errichtet, die spätere Bischofskirche des Papstes. In der Nachbarschaft der domus oder aedes Laterani lagen damals bereits weitere Villen alter Herrschaftseliten, der Annii, der Domitii, der Quintilii und anderer. Die drei genannten standen im 2. Jahrhundert dem Kaiser nahe oder hatten mit dem Annier Mark Aurel und dessen Sohn Commodus selbst Kaiser hervorgebracht. Mark Aurel wuchs im Anwesen seines väterlichen Großvaters auf, des Annius Verus, das iuxta aedes Laterani lag49. Die Stelle ist aufschlussreich, insofern sie auf das damals oder doch zur Abfassungszeit der „Historia Augusta“ gegen Ende des 4. Jahrhunderts namengebende Anwesen der Laterani verweist, obwohl diese selbst nicht mehr die führende Familie unter den dort residierenden Herrschaftseliten war. Offenbar hatte sich der Name für den Westteil des Celio seit dem ersten Jahrhundert eingebürgert und bezeichnete ein Areal, das irgendwie das einstige Anwesen der Laterani berührte. Der hl. Hieronymus (ep. 77,4) sprach im Blick auf die von Konstantin errichtete Kirche geradezu von der basilica quondam Laterani, qui 49 Hist. Augusta, V. Marci Antonii I,1,1.

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cesariano truncatus est gladio, also von der Basilika des hingerichteten Lateranus50. Entsprechendes verdeutlicht eine etwa gleichzeitige Äußerung des Prudentius in seinem Gedicht gegen Symmachus, der die Basilika geradezu als aedes Laterani bezeichnete51. Beide Autoren wussten also, auf welchem Areal die Kirche errichtet war. Offenbar war in ihrer Wahrnehmung die Kirche enger mit dem „Haus des Lateranus“ verbunden als die erst später begegnende päpstliche domus lateranensis oder das noch jüngere, erst seit dem 8. Jahrhundert anzutreffende patriarchium lateranense; dasselbe lag nur im Bereich oder nur in der Nachbarschaft des Lateranus-Anwesens, die Kirche aber konnte um das Jahr 400 noch als ein Teil desselben gelten. In der Tat, unmittelbar im Westen der Kirche und unter dem Hospital wurden bleierne Wasserrohre gefunden, die nach Ausweis ihrer Stempel zu dem wohl dort gelegenen Haus der Laterani gehörten. Ihm war offenbar der Grund der neuen Kaserne und der Kirche einst zugehörig. Die päpstliche domus lateranensis, die im Jahr 501 einmal erwähnt wurde, bietet den ältesten zweifelsfreien Hinweis auf die Lage des bischöflichen Amtssitzes auf dem Celio52. Der Zusatz lateranensis unterschied sie von anderen Besitzungen des Papstes in der Stadt53. Dieser Sitz gehört – wie Levison gezeigt hat – in die Entstehungszeit der „Actus b. Silvestri“ und bezeichnet die Lage, nicht hingegen den früheren Eigentümer, die Familie der Laterani. Deren Haus (aedes Laterani) lag 50 Ed. Isidor Hilberg CSEL 55 S. 40. 51 Als Papstresidenz mißverstanden von Liverani, vgl. Fried, Donation, S. 76–7 Anm. 246. Sible de Blaauw, Il patriarchio, la basilica lateranense e la liturgia, in: Mélanges de L‘École Française de Rome. Antiquité 116 (2004) S. 161–71, hier S. 170 hat zweifellos recht, wenn er die Basilika, die basilica Constantiniana, im „Liber pontificalis“ in keinem Fall als basilica lateranensis bezeichnet findet. Doch gilt das nur für das Papstbuch, in dem das episcopium auch erst spät verzeichnet und lateranense genannt wurde (vgl. unten im Text). Hieronymus und Prudentius zeigen, dass auch die Kirche dem lateranensischen Areal zugerechnet wurde, und der Anonymus Einsidlensis nannte sie sanct(us) Johann(es) in Lateranis (S.84b). 52 So in Theoderichs Erklärung auf der römischen Synode des Jahres 501: MGH AA 12 S. 426. Vgl. Fried, Donation, S. 76–7 Anm. 246. 53 Vgl. etwa Ulrich Real, La residenza lateranense dell‘età di Giustiniano all‘inizio della epoca carolingia, in: Mélanges de L’École Française de Rome. Antiquité 116 (2004), S. 95–108, hier S. 99.

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andernorts, wenn auch auf demselben Hügel. Die Lage des päpstlichen „Hauses“ deutet aber gleichfalls auf kaiserliche Zuweisung, vermutlich schon durch Konstantin. Es dürfte sich um das Haus seiner Gemahlin, um jenes „Haus der Fausta bei den Laterani“, jene domus Faustae in Lateranis, handeln, die Konstantin dem Papst Miltiades im Jahr 313 zum Tagungsort einer Synode gegen die Donatisten zur Verfügung stellte und die in der Folge vermutlich – vielleicht nach dem Sturz und Tod der unglückseligen Fausta im Jahr 326 – dem Bischof von Rom überlassen wurde54. Als episcopium lateranense begegnete dieser Sitz erstmals in der Vita Martins I. (649–53) im „Liber Pontificalis“. Zuvor sind freilich ohne Lageangabe durch die Briefe Gregors I. verschiedene Bauten dieses päpstlichen Amtssitzes bekannt. Dessen genauere Lage kann wohl der Ordo Romanus 23 aus dem 8. Jahrhundert verdeutlichen, der die jeweilige Prozession aus dem Patriarchium zur Messe in die Basilica Constantiniana von Gründonnerstag bis Karsamstag beschrieb. Dort hieß es: egreditur apostolicus de Lateranis (c. 2, c. 9) oder procedent iterum ad Lateranis (c. 21)55. Egredere und procedere iterum verdeutlichen, dass der Papst zur Messe in der Basilica tatsächlich das Patriarchium verlassen hatte und danach wieder dorthin zurückkehrte. Der Weg aber führte ihn nicht direkt zum Nartex und in die Sakristei, vielmehr aus dem Patriarchium heraus (de) nach Westen zu dem nördlichen Querarm der Kirche, wo er dieselbe betrat, führte ihn weiter das Kirchenschiff nach Osten zum Nartex der Basilica zurück und dort in die Sakristei. Von dort aus schritt er endlich in Pontifikalgewändern, mit kerzentragenden Akoluthen und seinen Klerikern vorneweg zum Altar, um die Messe zu zelebrieren. 54 Zur domus: Fried, Donation, S. 813. 55 Michel Andrieu Les Ordines Romani du haut moyen âge III,2. Les textes (ordines XIV-XXXIV) (Spicilegium sacrum Lovaniense. Ètudes et documents 24), Louvain 1961, S. 269,-70 und S. 272, dazu die Vorbemerkung S. 265–6; dazu de Blaauw, Il patriarchio (wie oben Anm. 51); zur Kirche zuletzt (soweit hier und im Folgenden zu beachten): Manfred Luchterhand, Päpstlicher Palastbau und höfisches Zeremoniell unter Leo III., in: 799 Kunst und Kultur wie oben Anm. 17), S. 109–22; Peter Cornelius Claussen, Die Kirchen der Stadt Rom im Mittelalter 1050–1300, Bd. 2 S. Giovanni in Laterano Mit einem Beitrag von Darko Senekovic über S. Giovanni in Fonte (Corpus Cosmatorum II,2) (Forschungen zur Kunstgeschichte und Archäologie 21), Stuttgart 2008.

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Die Folgerung dieser Ordnung liegt auf der Hand: Wie immer der Weg des Papstes aus dem Patriarchium zur Sakristei verlief, ob zu Pferd über einen leeren Platz oder zu Fuß über eine Porticus, das Patriarchium erstreckte sich nicht bis zu der Stelle der Kirche, an der er dieselbe betrat. Die einzige Handschrift des Ordo Romanus 23, dasselbe Einsiedler Manuskript des 9. Jahrhunderts, der Codex Einsidlensis 326(1076), der auch die zwölf von dem Anonymus beschriebenen Routen durch die Stadt und mit ihnen „eine eher abstrakt gehaltene Stadtdarstellung“, eine „Vergegenwärtigung der Gesamtheit der Stadt Rom“ überliefert, entstand als private, keinesfalls als offizielle Aufzeichnung und zwar fern von Rom; das dürfte die altertümliche und untypische Bezeichnung Lateranis erklären56. Die vorliegende Fassung des Itinerars fällt, wie Franz Alto Bauer gezeigt hat57, in die Zeit Hadrians I., allenfalls noch in die (frühen) Jahre Leos III., ältere Bestandteile sind aber zu erschließen. Die Handschrift dürfte im 2. Drittel des 9. Jahrhunderts in Fulda entstanden sein58. Die Itinerare durch Rom samt der detaillierten Beschreibung der beschädigten Stadtmauer, die der Anonymus des Einsiedler Codex 326 (1076) um 800 festhielt, dazu seine Sammlung einiger Inschriften aus Pavia und zahlreicher (auch griechischer) aus Rom könnten einem speziellen Informationskonvolut für Karl den Großen entstammen. Der Ordo Romanus 23 könnte dazugehört haben, da Karl zweimal die fraglichen Tage der Karwoche in Rom verbrachte (781 und 787), und da

56 Beschreibung und Faksimile unter e-codices, Einsiedeln, Stiftsbibliothek durch Pater Odo Lang. Die Blätter 11–97 sind von einer Hand, enthalten aber disparate Texte. Gesta Salvatoris f. 11r-66v, die Inschriften f. 67r-79v, das Itinerar f. 79v-86r, den ordo Romanus 23 f. 86v-88v und „varia poemata“ f. 88v-97v (sie haben mit dem Vorausgehenden nichts zu tun). Bernhard Bischoff, Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen) I, Wiesbaden 1998, S. 242 Nr. 1132-3; Hartmut Hoffmann danke ich für die Herkunft und Datierung bestätigenden Hinweise. Das Zitat Bauer, Das Bild der Stadt Rom (wie oben Anm. 17), S. 226. 57 Bauer, Das Bild der Stadt Rom (wie oben Anm. 17), S, 190–228, hier S. 206–9. 58 Ed. Walser, S. 9 nach brieflicher Mitteilung durch Bernhard Bischoff.

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Lateranis die nämliche Namensform ist, die dann seit 796 auch für Karls Pfalz in Aachen begegnet59. Von kompetenter Seite wurde die eigentümliche, gleichsam einen Umweg einschlagende Prozession aus dem Episcopium oder Patriarchium durch einen nordwestlichen Eingang und das Kirchenschiff zurück nach Osten zum Nartex und in die dort gelegene Sakristei als eine Prozession gedeutet wie in eine sonstige Stationskirche der Stadt60.Traf es zu, dann verweist dieser Ordo 23 auf eine ursprüngliche rechtliche Distanz zwischen dem Papstsitz und der kaiserlichen Basilika nicht anders als zu den sonstigen römischen Kirchen, die auf kaiserlichem oder privaten Grund gestiftet waren. Wie die aktuelle Lage im späteren 8. Jahrhundert gedeutet wurde, ist damit nicht gesagt. Die normative Macht des Faktischen wird manches verändert haben. Aber ursprünglich scheint die Basilica Constantiniana oder Salvastorkirche nicht in enger Weise an den Papstsitz gebunden gewesen zu sein. Immerhin führte nach dem „Anonymus Einsidlensis“ der Weg zur „Porta Asinaria“, dem Stadttor, das nahe beim Patriarchium lag, zu Karls Zeit zwischen demselben auf der linken und der Kirche sancti Johannis in Lateranis, mithin der konstantinischen Basilika, auf der rechten Seite hindurch61. Es gab somit keinen direkten Zugang vom Patriarchium zur Basilika. Die Darstellung der „Actus b. Silvestri“ aus dem späten 5. oder dem 6. Jahrhundert bestätigt eine derartige Interpretation. In ihnen erweist sich der kaiserliche „Lateranpalast“ als ein weites Areal, auf dem sich neben dem eigentlichen Palastbau die Salvatorkirche (Basilica Constantiniana) und mit dem Bad, der piscina, zugleich der Ort der Taufe des ersten christlichen Kaisers befanden. Ausdrücklich heißt es: Am ersten 59 Die Einsiedler Handschrift könnte Abschrift eines Schreibers aus diversen Vorlagen sein, nämlich aus 1) dem hier ins Auge gefaßten Konvolut, aus 2) den „Gesta Salvatoris“ und 3) aus den „varia poemata“; vgl. oben Anm. 56. 60 de Blaauw, Il patriarchio (wie oben Anm. 51), S. 163–4. 61 Valentini, Zucchetti, Codice topografico della Città di Roma 2 (Fonti per la Storia d‘Italia 88), Rom 1942, S. 197; Gerold Walser, Die Einsiedler Inschriftensammlung und der Pilgerführer durch Rom (Codex Einsidlensis 326). Facsimile, Umschrift, Übersetzung und Kommentar, Stuttgart 1987, S. 143–211, hier S. 151–3; dazu (und zumal zur Datierung) Bauer, Das Bild der Stadt Rom, S. 190–228; Ders., Einsiedler Pilgerführer, in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit, Bd. 2, 607–9.

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Tag nach der Taufe (prima die processionis) habe Konstantin den ersten Spatenstich getan für die Peterskirche und habe zwölf Körbe Erde aus der Baugrube getragen. Am zweiten Tag habe er intra palatium nostrum lateranensem eine Basilika zu bauen begonnen, weiter: ut intra palatium nostrum templum eius (sc. Christi) nomini construamus, in quo populus christianus una nobiscum conveniens deitati eius gratias referamus62. Und noch einmal: intra palatium meum ecclesiam Christo arripui construendam63. Ein spezielles Baptisterium erwähnten die „Actus b. Silvestri“ nicht; zur Taufe betrat Konstantin: lavacrum caloris sui in palatio lateranensi; dreimal wurde der Kaiser nach der Segnung des Wassers (fons) in piscina durch Silvester untergetaucht64. Als Taufbecken diente also das Bad des (angeblichen) kaiserlichen Lateranpalastes. Endlich heißt es, nachdem der Kaiser später seine Ansprache an den heidnischen Senat in der basilica Ulpia beim Trajanforum65 beendet hatte, kehrte er in den Palast zurück, während die ganz Stadt durch Lichter (cereis lampadibus) erhellt wurde (revertendi augusto ad palatium)66. Das spätere Religionsgespräch mit jüdischen Repräsentanten fand in Anwesenheit des Kaisers und mit seinen Entscheidungen statt: intra palacium in basilica67. Die Kirche lag also im legendarischen Palast. Ich habe diese Stellen in extenso zitiert, um zu verdeutlichen, dass Konstantins Palast, Kirche und Bad in den „Actus b. Silvestri“ ein zusammengehöriges Bautenensemble darstellten und dass in der Legende nicht die geringste Spur einer Palastschenkung an den Papst oder an die römische Kirche zu entdecken ist. Als die „Actus“ in Rom entstanden, im späten 5. Jahrhundert68, vielleicht mit Überarbeitung im 6. Jahrhundert, mithin in der nämlichen Zeit, als dort mit der domus Lateranensis erstmals der päpstliche „latranensische“ Amtssitz bezeugt ist, gab es keinen Anlass, den konstantinischen Lateranpalast der Legende zu 62 63 64 65 66 67 68

Mombritius S. 513,39ff. Mombritius S. 514,22. Mombritius S. 512,53–8. Mombritius S. 513,53; vgl. Levison S. 402 mit Anm. 1. Mombritius S. 514,50-1. Mombritius S. 515,50-1. Zur Entstehungszeit und zur Herkunft aus Rom: Levison, Frühzeit, S. 410–3.

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dem päpstlichen Amtssitz zu erklären. Das episcopium oder patriarchium bestand vielmehr unabhängig vom kaiserlichen Palast. Es war in keiner Weise und auch nicht in Teilen identisch mit dem palatium lateranense Konstantins, obgleich es damals einen Baukomplex oder doch Ruinen gegeben haben muss, die dafür galten. Auch die Silvester-Vita im „Liber pontificalis“, die ebenfalls in das 5. oder frühe 6. Jahrhundert zurückgeht, verzeichnete trotz der endlosen Gaben Konstantins keine Palast- oder Kirchenschenkung an den Bischof der Stadt, was einzelne päpstliche Stiftungen für die betreffenden Kirchen nicht ausschloss. Die Päpste waren angewiesen auf kaiserliche oder königliche Gunsterweise. Die Synode etwa, die sich im Jahr 501 auf Anweisung Theoderichs mit den Vorwürfen gegen den Papst Symmachus zu befassen hatte, trat einmal in der basilica Julia zusammen (die nach späteren Zeugnissen zum Ensemble des „Episcopiums“ gehörte), ein andermal in Hierusalem basilica Sessoriani palatii69. Alle Belege zusammengenommen geben ohne Zweifel zu erkennen: Die päpstliche domus, das episcopium oder das patriarchium existierten seit der Entstehungszeit der „Actus b. Silvestri“ neben dem legendären kaiserlichen Palast und unabhängig von demselben. Es gab mithin zur Entstehungszeit der „Actus b. Silvestri“ ein Gebäude oder doch stattliche Ruinen, die für das palatium lateranense des Kaisers Konstantin galten, während der Papst in einer bloßen domus, dann im episcopium residierte. Erst Leo III. erklärte das patriarchium seiner Zeit zu einem palatium; als solches ist es erstmals im Jahr 813 urkundlich bezeugt; und erst das um 830/835 entstandene „Constitutum Constantini“ identifizierte beide Palatia und ließ Konstantin seinen Palast dem Papst geschenkt haben. Aus Gründen, die hier nicht zu erörtern sind, behielt das fragliche Terrain auf dem Celio bis zum beginnenden Hochmittelalter den Namen der längst vergessenen Familie bei und hieß durchweg „bei den Laterani“, ad oder in oder iuxta oder apud Lateranis. „Lateran“ war somit gerade nicht der Name eines Gebäudes, des päpstlichen Amtssitzes, des episcopium oder patriarchium, sondern eine – knapp orientierende – Angabe von dessen innerstädtischen Lage eben am Westhang des Celio. Erst in der Zeit um 1100 wurde Lateranus oder Lateranum zum 69 Vgl. unten Anm. 65; MGH AA 12 S. 427,12 und S. 428,10.

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Eigennamen des päpstlichen Palastes. Die Herkunft des Namens erinnerte schon im 8. Jahrhunderts niemand mehr. Wohl aber hieß nach den „Actus b. Silvestri“ Konstantins Residenz, „lateranensische Pfalz“, palatium lateranense. Das Silvester-Leben des „Liber pontificalis“ überging freilich die Angabe der Legende, wonach die Basilica Constantiniana und das Taufbad in diesem kaiserlichen Lateranpalast lagen. Ja, es verschwieg, obgleich es auf die „Actus b. Silvestri“ zurückgegriffen haben dürfte, und obgleich Anlass zur Erwähnung bestanden hätte, jeglichen Hinweis auf einen solchen Palast70. Allein „in palatio Sessoriano, wo Konstantin das Holz des heiligen Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus in Gold und Silber fassen ließ“, errichtete der Augustus – der Papstvita folgend – eine Basilika, „die bis zum heutigen Tag Jerusalem heißt“, S. Croce in Gerusalemme; hier, in Hierusalem basilica Sessoriani palatii, tagte im Jahr 501 die erwähnte Synode 71. Die Kirche war zu Karls Zeit tatsächlich dem päpstlichen Patriarchium integriert, doch von den allmählich verfallenden Ruinen des Palastes durch eine schon im 4. Jahrhundert eingezogene Mauer getrennt72; auch dürfte sie, die Stationskirche des Karfreitags, Karl dem Großen schon seit 781, spätestens seit 787 bekannt gewesen sein. Karls Freund, der Papst Hadrian, hatte sie renovieren lassen73. Die „Actus b. Silvestri“ aber bewahrten die Gründungslegende der späteren päpstlichen Bischofskirche. Etwa zwei Jahrzehnte nach Karl dem Großen wird der Autor des „Constitutum Constantini“, der Autor also „der berühmtesten Fälschung aller Zeiten“ (um noch einmal Wilhelm Levison zu zitieren74), die als berüchtigte „Konstantinische Schenkung“ eine jahrhundertelange Wirkung entfalten sollte, daraus seine 70 Weder die Basilica (ed. Duchesne 1 S. 172, noch die Taufkirche (ebd. S. 174) wurden mit dem „Lateran“ oder einem „Lateranpalast“ in Verbindung gebracht. Wohl aber wurde das Palatium Sessorianum erwähnt (S. Croce in Gerusalemme) (ebd. S. 179,10). 71 LP 1 S. 179 (c. XXII); die Synode: MGH AA 12 S. 427,12 und S. 428,10. 72 Johann Peter Kirsch, Die Stationskirchen des Missale Romanum (Ecclesia Orans), Freiburg im Breisgau 1926 S. 169. Zur Kirche und dem Sessorium knapp: Hugo Brandenburg, Roms frühchristliche Kirchen des 4. Jahrhunderts, (Heyne Stilkunde), München 1979, S. 160–9. 73 LP S. 508,16-7. 74 Levison, Kirchenrechtliches (wie oben Anm. 34), S. 468.

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Folgerung ziehen. „Heute bedarf es schon besonderer, gleichsam historisch-seismographischer Begabung, um Tatsache und Ausmass der Erschütterungen auszumachen, die von der Konstantinischen Schenkung oder besser: dem Constitutum Constantini bei Erscheinen herbeigeführt worden sein können“. Mit diesen Worten charakterisierte Horst Fuhrmann die Wirkung des eigenartigen Dokuments75. Wie aber sah es vor diesem Beben in Rom aus, zur Zeit Karls des Großen? Um das Jahr 625 etwa registrierte ein Römer unter langobardischer Herrschaft, dass der Usurpator Eleutherius „dorthin zog, wo das solium imperii bleiben sollte“, nach Rom76. Noch in Karls Frühzeit war trotz des Zusammenbruchs der rhomäischen Herrschaft in Italien die Kaisermacht in Rom wenn auch faktisch nicht präsent, so doch rechtlich ungeschmälert. Da schritt – um allein dieses Beispiel zu erwähnen – auch in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts der Papst täglich von Karmittwoch bis zum Ostersonntag in der Ecclesia maior zur dritten Stunde gemeinsam mit dem Klerus zum Altar zu feierlichen Orationen für den Kaiser, den Frankenkönig und weiter der Ordnung nach bis zuletzt für die Juden (für sie freilich nicht kniefällig)77. Dennoch vollzog sich zu der nämlichen Zeit der allmähliche Ablösungsprozess des päpstlichen Rom vom Kaiser in Konstantinopel78. Bis dahin aber, mithin als Karl die Stadt erstmals betrat, wurden die Rechte des Kaisers beachtet. Alle Kaiserpaläste und die Bauten, die als solche galten, blieben grundsätzlich bis zum Ende des Exarchats (also bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts) und darüber hinaus sakrosankt und in kaiserlicher Hand. Erst das Ende des Exarchats, das Ende also der realen oder doch rechtlichen Gegenwart der Kaisergewalt in Italien und in 75 Horst Fuhrmann, Das frühmittelalterliche Papsttum und die Konstantinische Schenkung. Meditationen über ein unausgeführtes Thema, in: Settimane Spoleto 20 (1972 ersch. 1973) S. 257–329, hier S. 257. 76 Cont. Havniensis, MGH Auct. Ant. 9 S. 339, vgl. Peter Classen, Der erste Römerzug in der Weltgeschichte. Zur Geschichte des Kaisertums im Westen und der Kaiserkrönung in Rom zwischen Theodosius d. Gr. und Karl d. Gr., in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, hg. von Josef Fleckenstein (Vorträge und Forschungen 28), Sigmaringen 1983, S. 23–43, hier S. 23. 77 Andrieu, Les Ordines Romani III, Ordo 24,3 S. 288; zur Abfassungszeit ebd. S. 282. Zum Betreten der Kirche vgl, oben zu Ordo Romanus 23. 78 Zusammenfassend etwa: Peter Classen, Italien zwischen Byzanz und dem Frankenreich, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, S. 85–115.

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Rom, und die karolingische Wende schufen mit der Zeit neue Verhältnisse in der Stadt und ermöglichten das Vordringen des Papstes auf alten kaiserlichen Grund. Jetzt konnte – wie durch den Autor des „Constitutum Constantini“ – umgekehrt kirchlicher Besitz zu einstigem Kaiserbesitz erklärt werden. Das galt zumal für jene Bauten, die nach der Silvesterlegende als kaiserlicher Lateranpalast zu gelten hatten; so überdauerte es bis zu Karls Zeit unverändert, so lange nämlich wie mit dem Exarchen die Kaisergewalt in der Stadt gegenwärtig war79. Wie präsentierte sich nun die Höhe des Celio, als Karl durch Weinberge und Gärten auf den Hügel geritten kam? Was konnte er sehen? Kaum hatte er die Bögen der Aqua Claudia durchritten, des antiken Aquädukts, der die Häuser und alten Villen auf dem Celio mit Wasser versorgt hatte, öffnete sich ihm der weite Campus Lateranensis. In dessen Mitte grüßte der angebliche Konstantin hoch zu Ross mit Herrschergestus den Ankömmling, der vom Volk sogenannte Caballus Constantini, das missdeutete überlebensgroße Reiterbild Marc Aurels, das im 16. Jahrhundert auf das Kapitol wanderte und noch heute dort bewundert werden kann. Wie kam es zu dieser Fehldeutung und was bedeutet sie? Abermals empfiehlt sich ein Rückblick in die antike und spätantike Zeit. Der caballus Constantini verlangt ihn. Denn erst seit dem Jahr 966 ist er auf dem campus lateranensis bezeugt. Damals wurde an ihm ein Hochverräter zur Schande an den Haaren aufgehängt. Er stand dort 79 Dies hat auch ein so hervorragender und kritischer Geist wie Erich Caspar, Geschichte des Papsttums von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft Bd. 1, Tübingen 1930, S. 124–30 nicht durchschaut. Es mag durchaus zutreffen, dass – wie Caspar vorschlug – aus der durch Hieronymus bezeugten domus Faustae der Amtssitz des römischen Bischofs, sein Episcopium oder Patriarchium, hervorging (vgl. oben). Doch erwähnten die „Actus b. Silvestri“ keine Schenkung von Kaiserpalast oder SalvatorKirche an den Papst, obgleich zur Entstehungszeit des „Silvesterromans“ der Papst schon im Episcopium residierte. Damals gab es also einen Baukomplex, der als Palacium Lateranense Konstantins anzusprechen war und dennoch nicht das Episcopium darstellte. Auch lässt sich die domus Faustae nicht mit der domus Laterani (die noch im 4. Jahrhundert erwähnt wurde) identifizieren. Der erste Beleg dafür, dass das Episcopium/Patriarchium „Palast“ (palacium) gennant wurde, stammt von 813. Zur Sache vgl. Fried, Donation of Constantine, passim.

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also auf einem Podest80. Doch seit wann und wo genau? Sah Karl der Große ihn schon? Auch diese Frage besitzt mit Blick auf die berühmte Theoderichstatue in Aachen Bedeutung. Die römische Archäologin Valnea Santa Maria Scrinari, die lange Jahre auf dem Celio die Ausgrabungen leitete, entdeckte unter dem heutigen Hospital inmitten des einstigen Peristyls des Hauses der Annii, der väterlichen Familie des Kaisers Mark Aurel, eine Substruktion mit Resten einer Reliefverkleidung. Sie interpretierte den Befund aufgrund seiner Ausmaße als Basis des berühmten Reiterbildes. Kein geringerer als Richard Krautheimer vertrat dieselbe Ansicht, dass nämlich die Reiterfigur des Mark Aurel seit jeher auf dem Celio im Elternhaus des künftigen Kaisers anzutreffen gewesen sei, eng verbunden mit dem Anwesen der Quintilii, in dem Marcus’ kaiserlicher Sohn Commodus gerne und wiederholt weilte. So hatte es schon der berühmte Historiker des mittelalterlichen Rom, Ferdinand Gregorovius, gesehen81. Waren hier die Anfänge des legendären palatium lateranense Konstantins zu suchen? Neuere Forschungen zu den kaiserlichen Reiterbildern bezweifeln die private Aufstellung des Reiterdenkmals entschieden. Eine derartige überlebensgroße Bronzegruppe wie dieser Mark Aurel konnte kein privates Gebäude zieren. Die Geste des Kaisers, der erhobene rechte Arm, und der unter dem rechten Huf des Pferdes kniende, heute verlorene, aber noch im 13. Jahrhundert bezeugte Barbar verweisen auf eine militärische Aktion des Dargestellten. Sie verlangten geradezu einen öffentlichen Platz als Aufstellungsort, sei es das Forum oder der Bereich des Mark Aurel-Tempels bei der Säule desselben Marcus oder noch ein anderer Ort, sei es auch vor einer Kaserne82. 80 LP 2 S.252 (V. Johannes XIII.). 81 Valnea Santa Maria Scrinari, Il Laterano imperiale vol. II. Dagli „horti Domitiae“ alla Capella Cristiana (Monumenti di Antichità Christiana II ser. 11), Città del Vaticano 1995, S. 186 und S. 208–13 mit Abb. S. 199–202; Richard Krautheimer, Rom. Schicksal einer Stadt 312–1308, München 1987, S. 215; Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter I, Darmstadt 1953 S. S. 313. 82 Johannes Bergemann, Römische Reiterstatuen. Ehrendenkmäler im öffentlichen Bereich (Beiträge zur Erschließung hellenistischer und kaiserzeitlicher Skulptur und Architektur 11), Mainz 1990, hier S. 105–8; zum Gestus: S. 7–8, Ort: S. 16–9, Größe: S. 19–20. Ferner: Il Marco Aurelio e la

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Doch kannte der anonyme Sammler der Inschriften und Wege, dessen Werkchen sich in Einsiedeln erhalten hat, zwar mehrere diesem Kaiser gewidmete Inschriften (Nr. 38, Nr. 46, Nr. 52, auch für seine Söhne Titus Nr. 64 und Aelius Nr. 65, für seine Tochter Domitia Faustina Nr. 66, von Commodus ganz zu schweigen), aber kein Standbild desselben. Allein die von Mark Aurel errichtete Säule fand Erwähnung (fol. 80a und 80b/81a). Keine der transskribierten Inschriften gehörte zu einem Standbild. An den wichtigsten Wegen und Plätzen Roms stand keines mehr, jedenfalls keines, das noch eine Inschrift besaß. Das erhaltene Reiterbild dürfte sich somit längst auf den Celio erhoben haben; dort aber erwähnte es der Anonymus oder sein älterer Datenlieferant ebenfalls nicht. Konnte er es nicht benennen, etwa weil die Inschrift fehlte und dem fränkischen Beobachter die lokale Tradition unbekannt war? In der Tat, der auf dem Celio gebietende Augustus, spätestens seit der Renaissance durch den Bildtypus identifiziert, wurde zu unbekannter Zeit, gewiss lange vor dem Jahr 966 seiner Inschrift beraubt und als Konstantin der Große gedeutet; die beiden heute zu lesenden Inschriften sind erst ein Werk gelehrter Humanisten des 16. Jahrhunderts83. Mit der Inschrift aber ging der Sockel zugrunde, auf dem er ursprünglich stand. Die Reitergruppe war demnach, so ist anzunehmen, versetzt worden. Der eigene Name des kaiserlichen Reiters war vermutlich bereits verloren, als er seinen neuen Standort gefunden hatte. Erst dieser Umstand ermöglichte die Umdeutung. Schwerlich hätte man einen Heiden vor die beiden wichtigsten kirchlichen Sakralräume Roms – die Basilica Constantiniana und das Baptisterium – zur Schau gestellt. Ein echter cavallus Constantini oder equus Constantini ist gleichwohl gemeinsam mit der zugehörigen Inschrift durch den Anonymus Einsidlensis bezeugt; er stand bei S. Adriano, der alten Senatssua copia, edd. Anna Maria Somella, Claudio Parisi Presice, Rom 1997. – Beide Hinweise verdanke ich Maria R.-Alföldi, Frankfurt. 83 Roms sprechende Steine. Inschriften aus zwei Jahrtausenden gesammelt, übersetzt und erläutert von Klaus Bartels, Zürich 2000 (Mainz 2000), S. 14 Anm. 6. – Das Inschriftenfragment C.I.L.VI, 3622, das in der Villa Cancellotti am Nordrand des einstigen Campus Lateranensis gefunden wurde, gehörte kaum zur Reiterstatue: imp caes m antoninus aug / germanicus sar / pontifex maximus.

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kurie, auf dem Forum und ging erst nach der Zeit Karls des Großen unter84. Er wurde also nicht auf den Celio verlagert, vielleicht weil dort bereits der vermeintliche Konstantin, stand. Delokation und Denomination der Figur setzen freilich unruhige Verhältnisse voraus. Es ließe sich mit aller Vorsicht an die Zeit der großen Umbaumaßnahmen auf dem Celio zu denken, als nach dem Sieg Konstantins über seinen Rivalen Maxentius die neue Kaserne der Equites singulares geschleift und die Basilica Constantiniana errichtet wurde. Das Reiterbild könnte vor dieser oder der nicht weit nordöstlich von ihr gelegene alten Kaserne der Truppe gestanden haben, war dort vielleicht, so wurde vermutet, erst posthum unter Commodus, vielleicht erst unter Septimius Severus errichtet worden, welch letzterem eine besondere Verehrung des Mark Anton in der „Historia Augusta“ (etwa 19,2 und 24,2) attestiert wurde. Als die Kaserne im frühen 4. Jahrhundert abgerissen und durch die Basilika ersetzt wurde, wäre ein neuer Standort für den kaiserlichen Reiter nötig geworden. War er vor jenem Komplex an Bauten im Bereich der früheren Villa und der Gärten der Quintilier und Domitier zu suchen, die – vielleicht im Unterschied zum Anwesen der Annier – nachweislich bis ins frühe 5. Jahrhundert Bestand hatten85? Wäre jetzt erst und nicht schon im 2./3. Jahrhundert jenes Postament errichtet worden, das V. Santa Maria Scrinari ergraben hat, wenn es denn für das Reiterbild Mark Aurels bestimmt gewesen sein sollte (was fraglich ist) 86. Auch spätere Umbruchzeiten könnten die Versetzung des kaiserlichen Reiters mit sich gebracht haben. Im Jahr 408 – dem Jahr der Ermordung des Heermeisters Stilicho – wütete ein Feuer und brachte manchen der alten Bauten zum Einsturz. Durch die Plünderung seitens der Vandalen ging viel verloren. Und noch einmal ein gutes Jahrhundert später hinterließen die Gotenkriege auch in Rom ihre tiefen Narben. Prokop (I,8) durfte die Römer ob ihrer Liebe zur eigenen Geschichte 84 Inschrift: ed. Walser S. 91–2 Nr. 33. Equus: fol. 80a und fol. 81b/82a. 85 Posthumen Aufstellung vor der Kaserne: Bergemann, Reiterstatuen, S. 106 und S. 107–8; Befund des Hauses zur Zeit Konstantins: Santa Maria Scrinari, Il Laterano imperiale, II S. 67–96 und S. 215–41. 86 Zum Podest: Santa Maria Scrinari, Il Laterano imperiale, II S. 208–9. Die verwandten Materialien lassen sich in das 2. Jahrhundert datieren, das Fundament aber bietet keinen datierenden Anhalt für seine Errichtung.

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und zu den in der Stadt aufgestellten Denkmälern und Kunstwerken loben: „Sie haben die meisten Kunstwerke vor dem Verfall zu retten vermocht“87. Seit dem aber verfielen die alten Kaiserbauten. So könnten auch die Wirren in und nach den Gotenkriegen die Umsetzung und Umdeutung des Mark Aurel bewirkt haben, eben jenes 6. Jahrhundert, in dem die „Actus b. Silvestri“ ‚juristische‘ Ergänzungen erfuhren und zugleich – in Gestalt eines Religionsgespräches – den von ihnen erfundenen kaiserlichen „Lateranpalast“ auszeichneten88. Die Verlagerung der Bronzefigur weiter nach Osten in Richtung des päpstlichen Lateranpalastes könnte tatsächlich erst im 12. Jahrhundert erfolgt sein, als dort das von Maarten van Heemskerck 1534/36 gezeichnete Postament entstand. Die Erinnerung an die Annii und Domitii und die anderen herausragenden römischen Geschlechter, an Mark Aurel und an Commodus ging schon in der ausgehenden Antike unter und wurde während des Mittelalters nicht bewahrt. Allein der Name der Laterani blieb an dem Areal haften. Auch die Erinnerung an den Kaiserpalast ging nicht unter. Alte Lagepläne des Lateranareals halten die Situation fest, der früheste des Fra Paolino da Venezia aus dem 14. Jahrhundert (1323), ein späterer des Leonardo Bufalini von 1551. Der Historiker hat demnach für die Zeit gleich nach Karl dem Großen zwei Lateranpaläste auseinanderzuhalten: jenen, in dem Konstantin gemäß den „Actus b. Silvestri“ residiert haben soll, und jenen, zu dem die Päpste seit den letzten Jahren Karls des Großen ihren Amtssitz umformten; er ist – wie gesagt – erstmals im Jahr 813 bezeugt. Zwischen beiden lagen mehrere hundert Meter. Der Frankenkönig sah sich also, als er den Celio erstiegen hatte und vor der Laterankirche, dem Patriarchium im Osten und einigen Bauten 87 Feuer: Santa Maria Scrinari, S. 95. Das Jahr 408 ergibt die Schlussmünze der im sog. „Raum des Schmieds“ gefundenen 7000 Nummi, vgl. Fried, Donation of Constantine, S. 80. Zu Prokop vgl. Maria R.- Alföldi in: Dies, Edilberto Formigli, Johannes Fried, Die Römische Wölfin. La Lupa Romana. Ein antikes Monument stürzt von seinem Sockel (SB Frankfurt am Main 49/1), Stuttgart 2011, S. 65. 88 Dazu Tessa Canella, Gli Actus Silvestri. Genesi di una legenda su Costantino imperatore (Collana del Centro italiano di studi sul basso medioevo – Accademia Tudertina 7), Spoleto 2006.

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im Westen oder deren Überresten stand, mit der konstantinischen Tradition konfrontiert. Nur die letzteren konnte er als ehemaligen Palast Konstantins wahrgenommen haben. Der eherne Konstantin zu Pferd wird ihn entsprechend belehrt haben. Der König konnte fortan unbelastet durch Konstantins arianische Taufe und seine übergroße Gabe an den apostolischen Stuhl der Apostelstadt und ihrem Bischof begegnen, konnte den ersten christlichen Kaiser, der die Kirche erhöhte und schützte, der den Nachfolger Petri verehrte und dennoch die Stadt Rom beherrschte, als ein Vorbild betrachten. Karl betrat die Stätte mit von der Legende geschärften Augen. Da lagen die zentralen Kirchen des Bischofs von Rom, die „konstantinische Basilika“ und das Baptisterium, östlich daneben, doch nicht in den Kaiserpalast integriert das patriarchium lateranense, der Amtssitz des Papstes. Noch weiter im Osten grüßte – auch sie inmitten von Weinbergen gelegen – die nahgelegene Basilika Hierusalem bei den hoch aufragenden, langsam verfallenden Mauern des alten Kaiserpalastes des Sessorium. Im Westen zeigten sich gleichfalls antike, einstmals hervorragende profane Bauwerke oder doch deren Reste. Nach Süden zu wird die mächtige Aurelianische Mauer zu sehen gewesen sein. Doch halten wir noch einmal fest: Dieses gesamte, sich dem Blick öffnende Areal hatten die „Actus“ dem palatium Konstantins zugewiesen, der dort, in seiner „Pfalz“, die Basilica Constantiniana errichtet, eben jene Salvatorkirche, die dann die römische Bischofskirche wurde, und der dort, im Bad seines Palastes, die Taufe empfangen habe, nämlich in dem aktuellen Baptisterium. Die aufwendigen Prachtbauten Leos III., jenes Papstes also, der Karl im Jahr 800 zum Kaiser krönte, standen noch nicht89. Dessen berühmter Trikonchos und der jüngere Polykonchos wurden erst in den Jahren 797/798 und nach 800 errichtet. Nur das viel bescheidenere Triclinium, das Hadrian I. hatte renovieren lassen, erhob sich vermutlich an der Stelle des späteren Trikonchos seines Nachfolgers, der es bald nach dessen Wahl ersetzte. Betreten hat Karl den Nachfolgerbau – wenn überhaupt – erst im Jahr seiner Kaiserkrönung. Begrüßte ihn dort sein immer wieder gezeigtes, in barocker Restauration noch heute in Rom zu bewunderndes Bild, das vergegenwärtigte, wie der Apostel89 Zu den Bauten: Bauer, Das Bild der Stadt Rom, S. 66–75 und S. 104–20.

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fürst den Papst mit dem Pallium, den Frankenkönig mit einer Fahnenlanze investierte? Auch dieser jüngere Saal war bald baufällig. Leo IV. ließ ihn um die Mitte des 9. Jahrhunderts restaurieren90. Hatten die Mosaiken mit dem Königsbild dem Verfall widerstanden? Oder vergegenwärtigen sie in ihrer bis heute überlieferten Form ein erstes Renovationsunternehmen, ein restauratives Geschichtsbild? Gezeigt wurde der König und Patricius der Römer im Schmuck eines schlichten Kronenhelms. Die Stadt der Apostel und der Amtssitz des Petruserben mieden jedenfalls – von den antiken Reiterstatuen abgesehen – ein repräsentatives Kaiserbild in ihren Mauern. Leos III. noch aufwendigerer Polykonchos wurde erst nach Karls letztem Rombesuch errichtet, der ihm die Kaiserkrone brachte. Verbarg sich auch hinter diesem Bau die Absicht, die neuerliche Kaiserpräsenz im päpstlichen Rom durch einen kaiserlosen Repräsentationssaal schnell vergessen zu machen? Karl hat diesen Bau nie gesehen.

2. Irreführung durch das „Constitutum Constantini“ Der König beendete nach wenigen Tagen seinen ersten Rombesuch, eilte zurück ins Zeltlager vor Pavia, nahm die Stadt und das Königreich, eilte weiter in seine Heimat91. Was trug er aus Rom dorthin zurück? Musste ihn jetzt nicht die Schlichtheit seiner heimischen Gehöfte und Pfalzen erschrecken, ihre Armseligkeit zu Neuerungen reizen? Wenn dafür ein Ort, eine Bautengruppe, kein Einzelbau, seinem von Erfolgen geschmeichelten Selbstverständnis genügen konnte, dann einzig und allein Konstantins römisches Palatium, wie es sich ihm dargeboten hat. Wie also griff er seine Erfahrung Italiens und Roms auf ? Ließe es sich erkennen? Ganz ohne Antwort bleiben wir nicht, obwohl kein explizites Zeugnis davon handelt. Karl wollte sich nicht mit römischer Liturgie und römischem Recht bescheiden. Auch römische Bauten bewunderte er. Bedurfte der cantus Romanus gar römischer Architektur, römischer Ba90 LP 2, 109; Bauer, Das Bild der Stadt Rom, S. 73. 91 BM2 163b–167a.

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siliken? Aus Rom und Ravenna, den vornehmsten Kaisersitzen Italiens, erbat er sich von Hadrian antike Spolien: Säulen und Kapitelle, Mosaiken, Fußböden und Marmorplatten. Karls Biograph Einhard erwähnte es für Aachen, ebenso das entsprechende Genehmigungsschreiben des Papstes, der den Transfer zugestand92. Womit Karl sich hier und dort bediente, welche Bauten oder Ruinen geplündert wurden, bleibt im Einzelnen verborgen. In Ravenna ließe sich an den Palast des Exarchen denken, des einstigen Repräsentanten des rhomäischen Kaisers im Westen. Die Bitte aber verrät, dass Karl nicht stumpfen Blicks an den antiken Mauern und Werken vorüberging, dass er sie vielmehr als Zeichen begriff, die auf „Rom“ und das Kaisertum verwiesen, dass er sie zum Muster eigenen Bauens und eigener Repräsentation wählte und deshalb eigens herbeischaffen ließ, was er wünschte; dass er, so gut es möglich war, mit „Rom“ konkurrierte. Karls Bauten in Aachen verlangen mithin den Blick nach Rom. Wie also setzte Karl um, was er zwischen Patriarchium und Kaiserpalast wahrgenommen hatte? Die folgende Betrachtung gilt allein dem vornehmsten Exempel, eben der Aachener Königspfalz und ihrer Pfalzkirche. Ich wende mich damit einem oft und strittig behandelten Thema zu, hoffe aber, ein wenig Neues beitragen zu können. Aachens Pfalz und Kirche werden im Ensemble und einzeln betrachtet, soweit wir sie rekonstruieren können. Spätestens seit Karls Rückkehr vom dritten Rombesuch im Jahr 787 setzten die Planungen zu deren Ausbau ein. Die Muster dafür waren vielfältig: die langobardische Königspfalz Pavia, die kaiserlichen Bauten in Ravenna, selbst das ferne, nur durch Gesandtenberichte bekannte Konstantinopel und eben das konstantinische Rom. Erneut sei an das „Constitutum Constantini“ erinnert. Ich lokalisiere seine Entstehung abweichend von Horst Fuhrmann ins Frankenreich, nicht nach Rom, datiere sie in die Zeit um 830/835 und sehe einen gewissen Zusammenhang mit dem großen fränkischen Fälschungswerk aus Corbie, dem sog. „Pseudoisidor“, dem Horst Fuhrmanns Aufmerk92 Einhard Vita Karoli c. 26, ed. Oswald Holder-Egger MGH SS rer. Germ. (25) S. 31,1–3: columnas et marmora; Hadrians an Karl: MGH Epp. 3 S. 614 Nr.81 (zu 787?; zur Datierung vgl. dort Anm. 2): quod palatii Ravennate civitatis mosivo atque marmores ceterisque exemplis tam in strato quamque in parietibus sitis vobis tribuimus.

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samkeit immer wieder galt. Jenes falsche Konstitut zieht den Blick nach Rom, „zu den Laterani“, wo seine Geschichte des Kaisers spielte. Denn das Machwerk zitierte weithin wörtlich die „Actus b. Silvestri“ und verdeutlichte damit, wie fränkische Gelehrte in Ludwigs des Frommen Frankenreich dieselben lasen. Horst Fuhrmann war nicht zufrieden mit meiner Deutung; jedenfalls nicht rundum. „Sie werden nicht erwarten, daß ich Ihnen zustimme“, schrieb er mir. Ich möchte es nicht verhehlen. Gebilligt aber hat er meinen entscheidenden Hinweis auf die Mustersammlung aus St-Denis. Sie bot neben der ältesten, für die Edition wegweisenden Separatüberlieferung des „Constitutum“ (die er seiner Edition zugrundegelegt hatte) auch ein fiktives päpstliches Briefmuster, das die nämlichen zentralen Begriffe benutzte wie die (angebliche) kaiserliche „Schenkung“ an den Papst, sie jedoch auf einen Bischof und auf einen vicedominus anwandte. So galten diese Begriffe allein der bischöflichen Diözesangewalt. Wer damals, im 9. Jahrhundert, diese Sammlung aus St-Denis durchblätterte, konnte die falsche Konstitution nur als eine Zuweisung der kirchlichen Gewalt über den gesamten Westen des Reiches und zumal der Stadt Rom an deren Bischof verstehen, geradezu als Stiftungsurkunde für den Patriarchat des römischen Pontifex93. Diese Fiktion nun identifizierte erstmals das kaiserliche palatium lateranense mit dem jungen päpstlichen „Palast“ auf dem Celio94. Sie tat es gegen den Wortlaut der „Actus b. Silvestri“, zu deren Entstehungszeit aber das päpstliche Episcopium oder Patriarchium längst existierte. Der römische Autor der „Actus“ besaß keinen Grund, beide Baukomplexe, Kaiserpalast und Bischofshaus, in eins zu setzen. Er tat es auch nicht. Erst der Konstantin des fränkischen Falsifikats übertrug explizit seinen Palast seinem Täufer und der römischen Kirche und verließ für immer Rom, um sich nach Konstantinopel zurückzuziehen. Nicht einmal die Salvatorkirche, die ja gleichfalls im Palast errichtet war, wurde den „Actus“ zufolge dem Bischof von Rom tradiert. Karl konnte solche Gaben auch nicht aus der ihm bekannten Legende her93 Formulae collectionis sancti Dionysii, Formelsammlung von St-Denis, ed. Karl Zeumer (MGH Form) Nr. 3, S. 498–500, hier bes. S. 500,2–4. Vgl. Fried, Donation of Constantine, S. 42–3. 94 Fried, Donation of Constantine, S. 83 mit Anm. 281.

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auslesen. Alles verblieb vielmehr in kaiserlichem Besitz. Konstantin erhob lediglich gemäß der Legende, den Papst zum Oberhaupt aller Priester und Kleriker, so wie der Kaiser über den weltlichen Amtsträgern stand; auch erhielten die christlichen Kirchen gleiches Asylrecht wie die heidnischen Tempel95. Jede Palastschenkung wäre in der Entstehungszeit der „Actus“ undenkbar und überflüssig gewesen; der Papst hatte seinen Sitz längst im „Bischofs“- oder „Patriarchenhaus“, episcopium oder patriarchium. War dieser in Rom residierende, an den römischen Pontifex schenkende Konstantin Karls Vorbild? Ein Kaiser, der die apostolischen Kirchen zwar reich ausstattete, aber dennoch Herr über Rom blieb? Konstantins Lateranpalast, den die „Actus b. Silvestri“ erwähnten, lag zu deren Entstehungszeit und in den kommenden Jahrhunderten somit unbehelligt vor jedem päpstlichen Zugriff96. Karl konnte ihn den Umständen entsprechend nur im Westen des Campus Lateranensis erkennen, dort, wo stattliche antike Bauwerke oder ihre Ruinen sichtbar waren97. Niemand hatte auf sie zugegriffen; sie verfielen langsam vor sich hin. Seit den Tagen des Christenverfolgers Nero und solange überhaupt das römisch-byzantinische Kaisertum in Rom rechtlich gegenwärtig blieb, standen sie in kaiserlichem Besitz98. Vielleicht drang erst der berühmte Hospitalbau von S. Salvatore seit dem 13. Jahrhundert auf ihren Grund vor99. Die erhaltenen Reste aus der spätantiken Kaiser95 Ed. Mombritius S. 513,17–24. 96 Bauer, Das Bild der Stadt Rom (wie oben Anm. 17), S. 49–61 konnte aufgrund des LP als „Manifeste päpstlicher Unabhängigkeit“ vom Kaiser im 8. Jahrhundert nur die Ausschmückung der Kirchen mit Bildern namhaft machen. Frühere Maßnahmen zum Schmuck der lateranensischen Kirchen (S. 61–3) sind als Stiftungen zu verstehen, nicht als Herrschaftsakte. Bauer spricht für diese Zeit bereits vom „Papstpalast“, doch entspricht das in keiner Weise der Ausdrucksweise der fraglichen Zeugnisse. – Zum Papstpalast vgl. noch unten Anm. 100. 97 Zu denken ist auch an die domus oder aedes Laterani, die wenigstens bis ins 5. Jahrhundert in unmittelbarer kaiserlicher Benutzung gestanden haben dürfte, vgl. Fried, Donation of Constantine, S. 79–81 und S. 83. 98 Bauer, Das Bild der Stadt Rom, S. 61ff. 99 Ob das in der Nähe der Laterankirche bezeugte Hospital (mit einer eigenen Bruderschaft) schon auf den Grund des früheren kaiserlichen Areals vordrang, ist ungewiss. Zum Hospitalwesen vgl. knapp Anna Esposito, Von der Gastfreundschaft zur Krankenaufnahme. Zur Entwicklung und

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zeit müssen, als Karl hier eintraf, wenigstens noch mit geschosshohen Mauern, vermutlich sogar mit dem einen oder anderen intakten Gebäude erkennbar gewesen sein, auch wenn im einzelnen ungewiss ist, was sichtbar aufragte, und wie es sich im einzelnen verhielt. Der Papst aber residierte zur Entstehungszeit der „Actus“ in seinem Episcopium oder Patriarchium. Es lag wohl schon seit konstantinischer Zeit dort, wo noch heute aus dem 6. Jahrhundert unter der „Scala Santa“ ein Fresco seine Existenz bezeugt. Dieser päpstliche Amtssitz wurde im Jahr 813 erstmals, offenkundig nach der Errichtung der Repräsentationsbauten Leos III., in einer Gerichtsurkunde dieses Papstes (sacrum) palatium genannt. Darauf hat vor vielen Jahren Reinhard Elze verwiesen. Erst das im Frankenreich entstandene „Constitutum Constantini“ verschmolz diesen Palast mit dem vermeintlichen Palast Konstantins. Die Identifikation wurde in Rom – soweit erkennbar – erst im späteren 10. Jahrhundert und auch jetzt nur zögernd aufgegriffen. Zu Karls Zeit war sie jedenfalls noch nicht vollzogen100. Nicht nur das. Karl, eben zum Imperator Augustus der Römer gekrönt, trat in der Stadt in die kaiserlichen Rechte ein. „Der Kaiser war der Gerichtsherr der Stadt Rom“, so umriss Horst Fuhrmann Karls Rechte nach seiner Krönung am 25. Dezember des Jahres 800 in Rom101. Über drei Monate, so lange wie nie zuvor, blieb Karl nach der Kaiserkrönung in der Stadt der Apostel und hielt Gericht über die Attentäter gegen Leo III. Wo genau die Gerichtsstätte sich befand, wurde nicht überliefert102. Sie wird kaum der Pfalz bei St. Peter benachbart zu suchen sein, wo Karl residierte. Dasselbe lag vor den Mauern und gehörte nicht zur Stadt. So ist eher an einen Gerichtsort innerhalb der aurelianischen Mauern zu denken. Ein entsprechender Hinweis fehlt tatsächlich nicht: Der späte, ein wenig nostalgische Libellus De imperatoria potestate in urbe Roma (aus Organisation des Hospitalwesens in Rom im Mittelalter und in der Renaissance, in: Geschichtliche Landeskunde 56, Stuttgart 2005, S. 15–28. 100 Fried, Donation of Constantine, S. 74–88. Das Fresco: Sancta Sanctorum, presentazione Carlo Pietrangeli, Mailand und Città del Vaticano o. J. (1996), S. 225 Abb. 2. 101 Horst Fuhrmann, Die Päpste. Von Petrus zu Benedikt XVI, 2München 2005, S. 103. 102 BM2 370e–371b.

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der Zeit um 900) erinnerte nämlich daran, dass Karl „auf dem campus lateranensis“, mithin im Angesicht „Konstantins“, dreihundert Attentäter habe hinrichten lassen und dass die kaiserlichen Richter ad Lateranis ihr Urteil gesprochen hätten bei einem Ort, der ad lupam geheißen habe, genauer: in iudiciali loco ad Lateranis, ubi quidam locus dicitur ad lupam, quae mater vocabatur Romanorum, ibi iudiciariam legem finiebant103. Die Gerichtsstätte „bei der Wölfin“ dürfte im Bereich jener Bauten gelegen haben, die Karl für Konstantins Palatium hatte halten müssen. Die Vollendung der Gerichtsentscheidung dürfte die Hinrichtung der Schuldigen bezeichnet haben. Aus der konstantinzeitlichen und im 4. Jahrhundert ergänzten Notita urbis Romae geht hervor, dass auf dem Celio (Regio II) Luparii anzutreffen waren, doch wohl einige der dann im Gesamtverzeichnis erwähnten 46 lupanaria, Bordelle104. Lupa bezeichnete in der Tat schon im klassischen Latein die Dirne. Deren Zeichen war die Wölfin. Die Wölfin aber, die als Mutter der Römer bezeichnet wurde, geht auf die antike und frühchristliche Deutung der Romulus-Geschichte zurück, wie sie etwa auch des hl. Augustinus „Civitas Dei“ (18,21) zum Besten gab: Die angebliche lupa sei eine meretrix gewesen (wie eine solche ja lupa genannt werde). Der Ort der Hinrichtung dürfte also ein verrufener Ort und durch das Bild einer Wölfin einschlägig kenntlich gewesen sein; aber er lag auf dem Campus „bei den Laterani“, was hieß: auf kaiserlichem Grund, nicht etwa im päpstlichen Patriarchium. Das alles deutet darauf hin, dass Karl das gesamte Lateranareal mit Basilika, Bad und Palast als vorbildlich für seine repräsentativ auszubauende „Kaiserpfalz“ in Aachen betrachten konnte.

103 Libellus De imperatoria potestate in urbe Roma, ed. Giuseppe Zucchetti (FSI), Rom 1920, S. 199. Zur Sache: Johannes Fried, Die Rückkehr der Wölfin. Hypothesen zur Lupa Capitolina im Mittelalter, in: R.-Alföldi, Formigli, Fried, Die Römische Wölfin, S. 107–37, hier S. 112–3. 104 Libellus de regionibus urbis Romae rec. Arvast Nordh (Skrifter utgivna av Svenska Institutet i Rom, 80, III), Lund 1949, S. 75 und S. 105. Das handschriftliche Luparius=Wolfsjäger ergibt keinen Sinn.

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3. Aachen So durch die Blicke nach Rom gerüstet, wenden wir uns zur Aachener Pfalz. Sie galt in Karls späteren Jahren schlechthin als sein Sitz. Den Ort hatte schon sein Vater aufgesucht und auszubauen begonnen; jedenfalls feierte Pippin dort im Jahr 765/66 Weihnachten und Ostern, was geeignete Bauten, eine Kirche und Versorgungseinrichtungen voraussetzte105; auch die dortigen Thermalquellen dürfte der erste karolingische König schon oder wieder haben fassen lassen106. Einst hatten die Römer hier der bis zu 60 ºC heißen Quellen wegen einen zeitweise lebhaften Badebetrieb eingerichtet107. Karl selbst beging sein erstes Weihnachtsfest im Winter 768/69 als König ebenfalls in Aachen108. Der Ort hatte es ihm angetan. Im Jahr 789 berief er jene Reichssynode dorthin ein, die dann die „Admonitio generalis“ verabschiedete, jenes umfassende Kapitular, das zum Maßstab seiner Reformen werden sollte109. Bald baute er die vorhandenen Anlagen zur repräsentativen Königspfalz mit einer wunderbaren Kirche und einer Königshalle von 17:44 m lichter Weite und drei Konchen aus110. Als Gerichtsort diente eine Martinsbasilika. Säulen und Marmor – was hieß antike Stücke – wurden aus Ravenna und Rom gebracht, meldete Einhard (c. 26); die Genehmigung für Marmor, Mosaik und „anderes“ (ceterisque exemplis) aus Ravenna, von Fußboden und Wänden hatte wohl im Jahr 787, wir sagten es, der Papst Hadrian erteilt111. Auch 105 BM2 101a/b. 106 Wie Anm. 109. 107 Zu den Thermalquellen: Thomas R. Rüde, Die kalten Grundwässer und die Thermalwässer, in: Aachen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart 1. Die natürlichen Grundlagen. Von der Vorgeschichte bis zu den Karolingern, hg. von Thomas R. Kraus, Aachen 2011, S. 131–65, hier S. 148–9. 108 BM2 130e. 109 Vgl. oben Anm. 22. 110 Ludwig Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, in: Orte der Herrschaft. Mittelalterliche Königspfalzen hg. Caspar Ehlers, Göttingen 2002, S. 131–81; Dietmar Flach, Pfalz, Fiscus und Stadt Aachen im Lichte der neuesten Pfalzenforschung. In: Zschr. des Aachener Geschichtsvereins 98/99 (1992/93) S. 31–56. . 111 MGH Epp. 3 S. 614 Nr.81 (zu 787?); zur Datierung vgl. dort Anm. 2. – Wenn der Poeta Saxo v. 5,429-42 MGH Poetae 4,1 S. 65 bemerkte, auch

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aus Trier und aus Köln dürften „römische“ Materialien herbeigeschafft worden sein112. Spätestens damals setzten die Planungen für Aachens Ausbau ein. Endlich gelangte auch der bronzene Theoderich, eine vergoldete spätantike Reiterstatue, aus Ravenna nach Aachen. Wenigstens dreißig Jahre stand sie dort; seit Ludwig dem Frommen verlieren sich ihre Spuren. Warum eine Reiterstatue? Karl mochte sie mit Berichten in Verbindung gebracht haben, die ihm über das Reiterbild Justinians aus Konstantinopel zugeflossen waren113. Doch er selbst mochte sich an den Campus Lateranensis erinnern, in dessen Mitte, zwischen der Basilika Konstantins und seinem „Palast“, der caballus Constantini den Vorübergehenden grüßte114. Zu einem kaiserlichen Palatium gehörte offenbar ein Reiterbild. Karl hat sich – in der sog. Metzer Karlsstatuette – möglicherweise selbst als Reiter darstellen lassen. Ahmte er „Konstantin“ nach, den Reiter vom Campus Lateranensis? Oder den equis romanus für die Pfalz in Ingelheim seien derartige antike Bauteile verwandt worden, so erscheint mir die Zuverlässigkeit der Nachricht des späten sächsischen Dichters nicht hinreichend sicher zu sein. Sein Text besagt ausdrücklich, dass sowohl und in erster Linie für Aachen als auch für Ingelheim entsprechende Säulen aus Rom und „besonders schöne“ aus Ravenna Verwendung gefunden hätten, vgl. v. 5,39: Ad quae (sc. opera, vgl. Z. 429). 112 Günther Binding, Antike Säulen als Spolien in früh- und hochmittelalterlichen Kirchen und Pfalzen – Materialspolie oder Bedeutungsträger? (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität 45/1), Stuttgart 2007, bes. S. 18–28. 113 Zur Reiterfigur: Walafrid Strabo, De imagine Tetrici, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae S. 370–8; Agnellus von Ravenna, Liber pontificalis ecclesiae Ravennati c. 94, ed. Deborah Mauskopf Deliyannis (CCCM 199), Turnhout 2006, S. 258–60. Dazu: Hartmut Hoffmann, Die Aachener Theoderichstatue, in: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst in werdenden Abendland an Rhein und Ruhr, hg. von Kurt Böhner u. a. Textband 1, Redaktion Viktor H. Elbern, Düsseldorf 1962, S. 318–35, hier S. 319 und S. 323. 114 Falkenstein, Lateran, S. 61 weckt Zweifel, dass zu Karls Zeit der Marc Aurel schon seinem späteren Platz bei der Salvatorkirche stand und schon Caballus Constantini genannt worden sei; beides sei erst für das 10. Jahrhundert gesichert. Doch die antike Statue stand wohl vor der Kaserne der Milites singulares; sie dürfte seit antiker Zeit nicht bewegt worden sein. Der Name dürfte sich dann mit der Silvesterlegende eingebürgert haben.

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auf dem Revers jenes Konstantin-Multiplums, dessen Avers jenes Bild des dn constantinus max aug trug, das in erster Linie als Vorbild für Karls des Großen Bildnismünzen in Frage kommt? Zu einem römischen Kaiser gehörte ein Reiterbild115. Später wurde dem großen Kaiser aus fränkischem Geschlecht noch manch ein Reiterbild gewidmet, am eindrucksvollsten vielleicht von den Brüdern Charles und Louis Rochet mit ihrer monumentalen Plastik „Charlemagne et ses leudes“, die im Jahr 1882 in Paris, auf der Île de la Cité vor Notre Dame ihren anspruchsvollen Platz gefunden hat. Warum Theoderich? Die bloße Verfügbarkeit der Bronzefigur kann diese Wahl nicht erklären. Denn es standen damals noch mehrere antike Reiterbilder zur Auswahl116, darunter in Rom auch eine Reiterstatue des wirklichen Konstantin des Großen117. Man hat zur Erklärung der Wahl an eine Art germanischen Gemeinschaftsgefühls appellieren wollen118. Doch ein solches existierte – anders als im 20. Jahrhundert behauptet – im 8./9. Jahrhundert nicht. Vielleicht waren es ganz prosaische Gründe, die Karl sich für den Ravennater Reiter entscheiden lie115 Zum Konstantin-Multiplum (Berlin, Staatliche Museen, Münzkabinett) verdanke ich wertvolle Hinweise meiner Frankfurter Kollegin Maria R.Alföldi. Diese Goldmünze als mögliche Vorlage: Bernd Kluge, Nomen imperatoris und christiana religio. Das Kaisertum Karls des Großen und Ludwigs des Frommen im Licht der numismatischen Quellen, in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit, S. 82–90, hier S. 82–3 Abb. 2. Ein Exemplar, das etwa in Rom in die Hände Karls des Großen oder seines Münzmeisters gelangte, ist nicht erstaunlicher als die Überlieferung des bekannten Multiplums Theoderichs des Großen. 116 Vgl. Hoffmann, Theoderichstatue (wie oben Anm. 113), S. 318–9. Zum Vorbild von Byzanz für die Aachener Pfalz vgl. Heinrich Fichtenau, Byzanz und die Pfalz zu Aachen, in: MIÖG 59 (1951) S. 1–34. 117 Die Einsiedler Inschriftensammlung, ed. Walser, S. 91–2 Nr. 33. 118 So besonders Heinz Löwe, Von Theoderich dem Großen zu Karl dem Großen – Das Werden des Abendlandes im Geschichtsbild des frühen Mittelalters, in: Ders., Von Cassiodor zu Dante. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichtsschreibung und politischen Ideenwelt des Mittelalters, Berlin/ New York 1973, S.33–74. Die ältere Diskussion fasst zusammen: Felix Thürlemann, Die Bedeutung der Aachener Theoderich-Statue für Karl den Großen (801) und bei Walahfrid Strabo (829). Materialien zu einer Semiotik visueller Objekte im frühen Mittelalter, in: AKG 59 (1977) S. 25–65.

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ßen, Erleichterungen etwa des Erwerbs oder des Transports, sei es über die Alpen – doch welche Wagen hätten dem Gewicht des Reiters widerstanden? – sei es zu Schiff. Die kirchliche Tradition hatte Theoderich geächtet, ihn in den Ätna (oder den Stromboli), d. h. die Hölle verbannt. Die Volkssage, deren ältesten Spuren seit dem 8. und frühen 9. Jahrhundert zu greifen sind, während die erhaltenen Texte und Sagen erst dem hohen Mittelalter angehören, kennt ihn durchweg als herausragenden vorbildlichen Helden119. Allein die gelehrten Kenner der Geschichtsschreibung zeichneten ihn als düsteren Helden, als Anführer der „wilden Jagd“, der Feuer speit, den Ketzer, den seine Mordopfer in die Hölle, den Feuerschlund des Ätna (resp. Stromboli) trieben120. Der historische Theoderich hatte dem rhomäischen Kaiser getrotzt und stand mit dem Streit um den Papst Symmachus in Zusammenhang, der Fälschungen hervorbrachte, die u. a. unter dem Namen eben jenes hl. Silvester liefen, der als Taufspender Konstantins galt. Sie verfügten in einer Pseudodekretale dieses Papstes, dass niemand den „ersten Stuhl“ richten dürfe, kein Kaiser, kein König, nicht das Volk. Karl hielt sich explizit daran, als er im Jahr 800 Anklagen gegen Leo III. zu entscheiden hatte. Er, der Kaiser, wird Theoderich, den „Volkreichen“, in erster Linie als Herrn Italiens und Roms wahrgenommen haben, als Gegenspieler zu den ‚Griechen‘, als seinen unmittelbaren Vorgänger, der 274 Jahre vor ihm in Rom weilte, als einen Schutzherrn des apostolischen Stuhles, der nicht zuletzt Kämpfe um den Papstthron zu beenden bestrebt war. Walahfrid deutete einen ‚römischen‘ Sinn der Figur tatsächlich in seinem Gedicht „De imagine Tetrici“ mit den Worten an: „Die großen Bildwerke deines Kolosses mögen weichen, Roma. Will es der große Caesar (d. i. Ludwig der Fromme), so wandert, was immer der armselige Erdkreis in Erz gegossen hat, zu den Stätten der Franken“ (Cedant magna tui, super est, figmenta colossi / Roma: velit Caesar magnus, migrabit ad 119 Vgl. beispielsweise Wolfgang Haubrichs, Die Anfänge: Versuche volkssprachlicher Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60) (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I/1), 2Tübingen 1995, S. 84–5 und S. 89–91. 120 Joachim Heinzle u. a., Dietrich von Bern (LexMA III,5, 1985), Sp. 1016–21.

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arces / Francorum, quodcumque miser conflaverit orbis, v.134-6). Das Reiterbild repräsentierte für Karl, so gesehen, weniger den Gotenkönig als „Rom“ und die Herrschaft über die Stadt und im römischen Erdkreis, den Friedensstifter in Rom und den Richter über Aufrührer dort. In Aachen, wohin der bronzene Theoderich aus Ravenna gebracht wurde, errichtete Karl nun über und in antiken Ruinen seine neue Pfalz mit ihrer Halle, die wohl seit etwa 794 benutzbar war, und dem wenige Jahre jüngeren, noch heute erhaltenen „Granusturm“121. Zahlreiche weitere, in ihrer Lage unbekannte Wohn- und Nutzbauten erweiterten die gesamte Pfalzanlage zu einem eindrucksvollen Ensemble. Nicht zuletzt ergänzte der König die Repräsentationsbauten mit einem neuen Bad. Dessen Becken maß etwa 14:9 Meter, besaß drei Mittelpfeiler und lag nordöstlich der Pfalz, nahe bei der später sogenannten Kaiserquelle, nicht weit von der Kirche entfernt122. Als religiöses Zentrum der Pfalz erhob sich – ein architektonisches Juwel – die einzigartige Pfalzkirche. Sie war der größte Kuppelbau ihrer Zeit nördlich der Alpen und schon im Jahr 796 im Wesentlichen vollendet; im Jahr 798 bewunderte Alkuin seine antiken Säulen und wurde dort die Vesper gefeiert123. Damals begeisterte sich Alkuin an ihrem 121 Vgl. zuletzt und zusammenfassend Günther Binding, Methoden und Problemstellungen bei der Datierung von mittelalterlichen Bauwerken (Wissenschaftliche Gesellschaft Frankfurt, Sitzungsberichte 47/3), Stuttgart 2009, 77–150, hier S. 107–9 und Ders., Zur Datierung der Pfalzkapelle Karls des Großen, in: Denkmalpflege im Rheinland 27 (2010) S. 54–9. 122 Heinz Cüppers, Beiträge zur Geschichte des römischen Kur- und Badeortes Aachen, in: Aquae granni. Beiträge zur Archäologie von Aachen (Rheinische Ausgrabungen 22), Mainz 1982, S. 1–75. 123 Zu 796 Johannes Fried, Karl der Große. Eine Biographie, München 2013, mit Verweis auf das Chron. Moissiacense (vgl. unten Anm. 126) und auf ein in dieses Jahr datierbares Gedicht Theodulfs von Orléans (carm. 25, 59-62, MGH Poetae 1 S. 485). – Alkuin ep. 145 (Ende März 798) MGH Epp. 4 S. 235,5-8 sowie ep. 149 ( Juli 798) MGH Epp. 4 S. 244, 24–5. Nach dem ersten Brief scheint die Kirche – wenn, wovon ich nicht ausgehe, mit dem Tempel in der ersehnten Heimat Jerusalem tatsächlich der reale Bau gemeint gewesen sein sollte und kein anagogischer Sinn unterlag – noch unfertig zu sein (construitur); doch scheint Alkuin damit zu rechnen, dass in der Kirche bereits die Palmsonntagsliturgie gesungen wird. Nach dem zweiten Brief bewunderte Alkuin die Schönheit der Säu-

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Säulenschmuck. Der sorgfältige Bau dürfte nach vergleichsweise kurzer Bauzeit vollendet worden sein. Die umliegenden Bischofskirchen und Klöster wurden zu entsprechenden Diensten für Kirche und Pfalz herangezogen. Notker von St. Gallen überlieferte es nachweislich zutreffend124. Die Kirchen hatten Arbeiter zu schicken, die – wie es hieß – für den Pfalzbau schwitzen mussten, hatten auch für deren Kost zu sorgen, hatten Zugochsen (den „Aachenochsen“) und weitere Finanzmittel be-

len, die i n n e r h a l b der Kirche stehen (in opere pulcherrimo et mirabili ecclesiae ... statutae sunt); danach war der Bau im Wesentlichen vollendet (vgl. Falkenstein, Der ‚Lateran‘, S. 38–9). Die Kostbarkeit der antiken Säulen und Kapitelle, die nicht zu den tragenden Teilen der Kirche gehören und wenigstens teilweise mühsam aus Italien herbeigeschafft waren, verbot, sie innerhalb der Baustelle noch während des Kuppelbaus aufzustellen. Zur Diskussion über die Bauzeit vgl. Binding (wie oben Anm. 121). – Der dendrochronologische Befund eines Eichenpfahls aus dem Fundamentbereich verweist auf das Jahr 792 als frühestmöglichem Zeitpunkt des Baubeginns des Oktogons, vgl. Fried, Karl der Große. Die Differenz zu Burghart Schmidt, Ulrike Heckner, Helmut Maintz, Mechthild Neyses-Eiden, Thomas Frank und Andreas Schaub, Die Hölzer aus dem karolingischen Oktogon der Aachener Pfalzkapelle – Möglichkeiten einer dendrochronologischen Datierung, in: Jb. der Rheinischen Denkmalpflege 40/41 (2009) S. 220–35 sowie zu Andreas Schaub, Zum Baubeginn der karolingischen Marienkirche Karls des Großen in Aachen, in: Fundgeschichten – Archäologie in NordrheinWestfalen, hg. von Thomas Otten u. a., Köln/ Mainz 2010 S. 207–9 und zu Clemens M. M. Bayer, Die Aachener Marienkirche in der Diözese Lüttich: Zu Funktion, zur rechtlichen Stellung und zur Stiftsverfassung. Eine Skizze, in: Domkapitel Aachen/ Dombauleitung, Dombaumeistertagung Aachen 2009, Aachen 2010, S. 55–74, hier S. 65–6 mit einem ‚Dendrodatum‘ von 793 ergibt sich aus der vermutlich verwendeten Eiche aus der nahegelegenen Eifel oder aus den Ardennen. Doch ist, da die ‚Dendrodaten‘ nur einen Mittelwert gemäß der „Normalabweichung“ angeben und leichte Abweichungen nicht auszuschließen sind, nicht verwehrt, den Baubeginn um ein oder zwei Jahr früher anzusetzen. „Als absolut unterster Wert“ für die Bauzeit der Marienkirche sind drei Jahre anzunehmen, vgl. Schmidt u. a., Die Hölzer, S. 233. Diese Bedingung erfüllten auch die Jahre von 792 bis 796. 124 Notker der Stammler, Taten Kaiser Karls des Großen I c. 30, ed. Hans F. Haefele (MGH SS rer. Germ. N. S. 12) S. 40–1.

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reitzustellen. Diese Pflichten bestanden noch lange nach Karls Tod fort125. Die kostbaren, weit herbeigeschafften antiken Säulen standen i n n e r h a l b der Kirche; sie erfüllten keine statische Funktion, waren reine Zier und Repräsentationselemente, Zitate Roms. Die Kirche könnte am 17. Juli 796, einem Sonntag, geweiht worden sein126 und damit kurze Zeit vor dem eschatologischen Epochenjahr 800. Zu dieser Zeit weilte Karl mit seinem Heer freilich in Sachsen. Wurde ‚seine‘ Kirche ohne ihn dem Kultus übergeben? Erst nach dem sommerlichen Feldzug kehrte er nach Aachen zurück127. Der Weihetag musste indessen in karolingischer Zeit kein Sonntag sein128; ein beliebiger Herbsttag käme somit auch in Frage, da unklar ist, ob der erst im späten Mittelalter überlieferte Kirchweihtag schon für Karls Zeit galt. Doch ließe sich auch an den gleichfalls überlieferten 8. September, Mariae Geburt, damals ein Freitag, als Weihetag denken. Doch das überlieferte Jahr 796 ist gewiß keine Erfindung des Chronisten129. 125 Die Belege führt Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, S. 139–42 auf. 126 Seit dem Hochmittelalter sind zwei Weihetage überliefert: der 17. Juli und als dedicatio parva der 8. September (vgl. Falkenstein, Entstehung, S. 141 Anm. 457, vgl. ebd. S. 94 Anm. 268). War der 17. Juli, der Tag der Erstweihe, kämen zumal zwei Jahre in Frage, in denen dieser Tag auf einen Sonntag fiel: 802 und 796. 796 würde zu dem einzigen zeitnah überlieferten Jahr passen, das im Chron. Moissiacense überliefert ist (MGH SS 1 S.303,3-8; ed. Walter Kettemann, Subsidia Anianensia. Überlieferungs- und textgeschichtliche Untersuchungen zur Geschichte WitizaBenedikts, seines Klosters Aniane und zur sogenannten „anianischen Reform“ Mit kommentierten Editionen der ‚Vita Benedicti Anianensis‘, ‚Notitia de servitio monasteriorum‘, des ‚Chronicon Moissiacense/Anianense‘ sowie zweier Lokaltraditionen aus Aniane, 2 Teile Diss. phil. Duisburg 2000: duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/ Derivate-19910/Kettemann_Diss.pdf, hier Teil 2 S. 85). Falkenstein, Der ‚Lateran‘, S. 27 und 39 sah keinen Grund, dem Jahr 796 zu misstrauen; vgl. noch unten Anm. 129. 127 BM2 333f-g. 128 Freundliche Mitteilung von Sible de Blaauw (mündlich). 129 An diesem Jahr zu zweifeln, ist nicht berechtigt, auch wenn seine genauere Herkunft unbekannt ist. Der Eintrag im Chronicon Moissiacense und im parallelen Chron. Anianense stellt keineswegs, wie immer wieder vorgebracht wird, einen späteren Einschub in die Chronik dar, gehört vielmehr zu deren originären Bestand und dürfte sich – das ergibt sich aus der Ar-

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Der Bau ahmte mit seinem Oktogon im Innern, dem Sechzehneck außen und mit seinen drei übereinander gelagerten Bogenfeldern, der Unterkirche, der Oberkirche und dem Lichtgaden, als Zentralbau in erster Linie S. Vitale in Ravenna nach, die Stiftung – so mochte es scheinen – des Kaisers Justinian130. Karl hatte wenige Jahre zuvor, bei seinem dritten Italienzug 787, dort sein Gebet verrichtet131. Die Aachener Kirche ‚zitierte‘ aber nicht nur die Kaiserkirche von Ravenna, sondern die ferne Sophienkirche in Konstantinopel oder die Kirche der Heiligen Sergios und Bacchos ebendort, wiederum kaiserliche Bauten, vielleicht die von Karl nie betretene Sophienkirche in Benevent132 und – wenigstens funktional – die dem Franken- und Langobardenkönig ebenfalls bekannte Pfalzkapelle in Pavia; auch an das ‚konstantinische‘ Oktogon der päpstlichen Taufkirche beim heutigen Lateran ist zu denken, das Karl mehrfach hatte bewundern können.

beitsweise ihres Urhebers (nach Kettemann des Autors der zu erschließenden „Annales Benedicti Anianenses“) – einer zeitnahen Information verdanken. Kettemann, Subsidia Anianensia, zumal S. 521–7 hat betont, dass die dem Chronicon zugrundeliegenden verlorenen „Annales Benedicti Anianenses“ wohl im Kloster Aniane entstanden, dezidiert die wichtigsten Ereignisse der eigenen Gegenwart in die Heilsgeschichte einordnen wollten und bis zum Jahr 803 die erhaltenen „Annales Laureshamenses“ benutzten, seitdem aber fortlaufend geführt worden sein dürften. Zusätzliche Nachrichten gegenüber den „Laureshamenses“ – etwa zu den Synoden von 794 und 802 und eben auch zum Bau der Aachener Pfalz – dürften schon bei der abschreibenden Benutzung der „Laureshamenses“ in das neue Annalenwerk eingeschoben worden sein. Die Aachener Synode von 802, die der anianische Abt Benedikt besucht hatte, könnte somit durchaus die Quelle der Information zum Jahr 796 für Aachen gewesen sein. 130 Zur Marienkirche müssen hier wenige Hinweise genügen: Matthias Untermann, „opere mirabili constructa“. Die Aachener ‚Residenz‘ Karls des Großen, in: 799. Kunst und Kultur 3, S. 152–64; Dombaumeistertagung in Aachen 2009. Vorträge zum Aachener Dom, hg. von Helmuth Maintz (Karlsverein-Dombauverein Schriftenreihe 13), Aachen 2011; zuletzt (und sehr knapp, aber mit wichtigem Übersichtsplan über die Altersschichten): S. Ristow, Die Pfalz zu Aachen. Nicht nur Karls Werk, in: Archäologie in Deutschland 6/2012 S. 6–7. 131 BM2 288a. 132 Dazu: Hans Belting, Studien zum beneventanischen Hof im 8. Jahrhundert, in: Dumbarton Oaks Papers 16 (1962) S. 142–93 mit 6 Tafeln.

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Karls Kirche besaß gleich dem spätantiken S. Vitale in Ravenna ein oberes Geschoß, das Hochmünster, dessen Hauptaltar – wie die Basilica Constantiniana in Rom oder die Paveser Kapelle – dem Erlöser geweiht war133 sowie dem Heiligen Kreuz, während die Unterkirche einen Petrus- und wohl auch schon einen Marienaltar besaß134. Vielleicht hatte schon Karl hier eine Klerikergemeinschaft für zwölf Kanoniker und eigenem Vermögen eingerichtet, wie sie etwa auch die Kapelle der langobardischen Pfalz kannte, während der beneventanischen Hofkirche ein Nonnenkloster angegliedert war135. Gewiss ist es nicht, sondern – ohne sicheren Datierungsanhalt – nur durch einen Analogieschluss zu der späteren Gründung seines gleichnamigen Enkels in Compiègne wahrscheinlich zu machen136. Unklar ist, ob oder wie die 133 Falkenstein, Karl der Große und die Entstehung des Aachener Marienstifts, S. 62–77 bezweifelt das „Doppelpatrozinium“ Salvator-Maria und möchte allein die Gottesmutter als Patronin der Gesamtkirche ansprechen, den Erlöser aber – gemäß Thegan, Vita Hludovici c. 6 ed. Tremp S. 182 – lediglich als Patron des höchstgelegenen (mithin im Hochmünster befindlichen) Altares. An diesem Altar aber wurde die Krönung Ludwigs des Frommen vollzogen. Das spricht gegen Falkensteins These. Notker der Stammler, Taten Kaiser Karls des Großen I c. 30, ed. Hans F. Haefele (MGH SS rer. Germ. N. S. 12). 134 Als Marienkirche ist die Pfalzkirche explizit erst unter Ludwig dem Frommen bezeugt; auch Einhards Vita stellt keinen karlszeitlicher Beleg dar; vgl. unten S. 144–146, S. 149–151. – Zu bedenken ist der scheinbare Patrozinienwechsel, auf den Peter Moraw, Ein Gedanke zur Patrozinienforschung, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte17 (1965) S. 9–26 verwiesen hat. Danach kann das Marienpatrozinium durchaus von Anfang an vorhanden gewesen, aber erst nachträglich in den Vordergrund geschoben worden sein. 135 Die sacerdotes et cleric(i) der Paveser Pfalzkapelle erwähnte Paulus Diaconus, Hist. Langob. VI,58 (MGH SS rer. Langob. S. 16). 136 Zur Frage der Stiftskirche vgl. Ludwig Falkenstein, Karl der Große und die Entstehung des Aachener Marienstifts (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte NF 3), Paderborn u. a. 1981; Ders., Die Kirche der hl. Maria zu Aachen und Saint-Corneille zu Compiègne, in: Celica Jerusalem. Fschr. für Erich Stephany, hg. von Clemens Bayer, Theo Jülich, Manfred Kuhl, Siegburg 1986, S. 13–70; zusammenfassend auch: Johannes Schlütter, Wi(e)der die Pfalzkapelle. Das Bild der Aachener Marienkirche in der historischen Forschung, in: Der Aachener Dom als Ort geschichtlicher Erinnerung. Werkbuch der Studierenden des Histori-

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Kleriker dieser Kirche in den Pfalzdienst einbezogen waren. Spuren davon haben sich nicht erhalten. Der monumentale Bau war auf jeden Fall mehr als eine Pfalzkapelle, auch wenn der König und Kaiser selbst diese Kirche Tag für Tag, morgens und abends, sogar zu den nächtlichen Horen aufsuchte, um die Messe zu hören und dort zu beten, wie sein Biograph sich erinnerte (c. 26). Sie diente aber von Anfang an mit ihrem Kreuzaltar im Hochmünster zugleich als Pfarrkirche für den Pfalzort und den Fiscus Aachen. Daneben fand sich dort im Jahr 812 eine Martinsbasilika, die dem Pfalzgrafen zu gerichtlichen Zwecken zur Verfügung stand137. Karl griff, so wird man festhalten dürfen, mit diesem Kirchenbau in seiner Pfalz ein byzantinisch-imperiales Konzept auf, das ihm wenigstens durch Berichte aus Konstantinopel und Benevent sowie durch Autopsie in Rom und Ravenna nahegebracht worden war; er ergänzte es aber nach den Bedürfnissen westlicher Großkirchen. Hier feierte der Kaiser in liturgischem Rahmen seine Anerkennung durch den byzantinischen Basileus138. „Es schaut mein Palemon von der erhabenen Burg des neuen Rom, dass alle Reiche seinem (Karls) Imperium im Triumph unterstehen... Das goldene Rom ward erneuert und wird wiedergeboren dem Erdkreis“. So sang der junge Modoin für den Kaiser. Die „erhabene Burg des neuen Rom“ kann damals, einige Jahre nach der römischen Krönung des neuen Augustus, tatsächlich nur Aachen meinen. „Der Ort, schen Instituts der RWTH Aachen, hg. und eingel. von Max Kerner, Köln 2004, S. 13–25. Doch bleibt zu bedenken, dass nur ein Analogieschluss zu Karls Stiftskirche führt, damit aber kein gesicherter Anhalt für die Datierung gefunden werden kann. Auch das Chronicon Moissiacense, resp. seine Vorlage, die verlorenen „Annales Benedicti Anianenses“, kennen kein Marienpatrozinium für Aachen und sprechen von keinem Stift. Erst das Chronicon Anianense (nach Kettemann wohl 11./12. Jh.) führen das Marienpatrozinium in ihre Vorlage ein. Sollte freilich der 8. September das Weihedatum sein, so war die Gottesmutter für die Kirche immer von Bedeutung. 137 Vgl. Ludwig Falkenstein, Otto III. und Aachen (MGH Studien und Texte 22), Hannover 1998, S. 12–3 mit Anm. 54; Ders., Pfalz und vicus Aachen (wie oben Anm. 110), S. 168–9. 138 Falkenstein, Aachen – Compiègne (wie oben Anm. 136), S. 17 (nach Annales regni Francorum zu 812).

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wo das Haupt der Welt verweilt, darf Rom genannt werden“139. Karl ließ sich solche Panegyrik gefallen. Sein Aachen zeugte mit Kirche und Pfalz von „einer großen Renaissance“140, von einer Romerneuerung und Romimitatio nämlich nicht nur in kulturellem, sondern vor allem in religiösem Sinn, als Durchdringung des Nachgeahmten mit dem Geist der Religion, wie Karl sie verstand. In der Tat, das Vorbild Roms dürfte über den bloßen Zitatgedanken hinaus bedeutsam geworden sein. Denn eben die Anordnung, auf die Karl „bei den Laterani“ in Rom traf, und eben die Funktion ihrer zentralen Kirche als Gotteshaus des Volkes wiederholte, wenn auch mit situationsgemäßen Varianten, in ihren Ausmaßen kleiner und um 90o nach Norden gedreht, das weite Pfalzensemble in Aachen. Nicht also die Architektur um das päpstliche Patriarchium, sondern der gesamte Bereich des vermeintlichen konstantinischen Palastes auf dem Celio diente zum Vorbild für Karl. Der Aachener Bauplan folgte dem Vorbild Konstantins, des ersten christlichen Kaisers. Die Ausführung vereinte Elemente unterschiedlicher Herkunft, die Karl aber durchweg für kaiserliche Zeichen halten durfte. Der zentrale Platz der Pfalzanlage, heute noch als Katschhof erhalten, wurde im Norden von der königlichen Halle, im Süden von der Salvator- und Marienkirche mit den Bauten des Klerus, im Westen von einem hölzernen Verbindungsgang im Osten vom Bad (und weiteren Bauten) umrahmt. In seiner Mitte stand das Reiterbild Theoderichs, das nach der Königshalle blickte – nicht anders als der „Konstantin“ des römischen Campus Lateranensis141. 139 Ecloga I, 24-7 und v. 40, ed. Dümmler, in: NA 11 (1886) S. 82–3. 140 Fuhrmann, Einladung, S. 75. 141 Hartmut Hoffmann, Die Aachener Theoderichstatue, in: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr, hg. von Kurt Böhner u. a. Bd. 1, Düsseldorf 1962, S. 318–35, hier S. 323; die Zweifel hinsichtlich des Aufstellungsortes der Statue, die Falkenstein, Lateran, S. 59–62, bes. Anm. 81 äußerte, halte ich nicht für durchschlagend. Die Theoderichstatue stand auf jeden Fall, wie Agnellus von Ravenna im Jahr 838 erwähnte, im Pfalzbereich, sichtbar – so ergibt sich – von beiden Hauptbauten, der Kirche und der Aula. Den „vergoldeten Reiter“ von v. 129 identifiziere ich – anders als Kurt Smolak, Bescheidene Panegyrik und diskrete Werbung: Walahfrid Strabos Gedicht über das Standbild Theoderichs in Aachen, in: Franz-Reiner Erkens (Hrsg.), Karl

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Auch der Name erinnerte an Rom: Das Aachener Ensemble (palatium) hieß tatsächlich nach dem ältesten schriftlichen Zeugnis zum Ausbau der Pfalz, der Chronik von Moissac und schon in dessen Vorlage, den zu erschließenden „Annales Benedicti Anianenses“, Lateranis oder nach einem Kapitular des Jahres 816 ad Lateranis, ganz nach römischem Muster. Der Name beschränkte sich ursprünglich kaum, wie man gemeint hat, bloß auf ein einziges Gebäude oder einen Annexbau der Marienkirche, das Secretarium, eine Art Sakristei, die auch als Versammlungsraum dienen konnte142. Dafür hätte es in Rom keinerlei Vorbild gegeben. der Große und das Erbe der Kulturen (Akten des 8. Symposiums des Mediävistenverbandes Leipzig 15.-18. März 1999), Berlin 2001, S. 89– 110, hier S. 99 (danach vielleicht ein „Schaureiter“ mediterraner Herkunft) – mit der Statue. Das zur Identifikation mit dem Tetricus vermißte negative Epitheton findet sich in v. 131: vanas deludere mentes; die für die Statue im Vergleich zu dem „Reiter“ (auratus discurrit eques v. 129) vermisste Bewegung findet sich in v. 70 (currit equo). 142 Chron. Moissiac. zum Jahr 796 MGH SS 1 S. 303; ed. Kettemann Teil 2 S. 85; MGH Capit. 1 S. 344 Nr: 170 = ed. Josef Semmler Corpus Consuetudinum monasticarum 1 S. 457. Diese und zwei weitere, gleichartige Texte bequem bei Falkenstein, Der ‚Lateran‘, S. 3–4. Doch ergibt es gerade im Blick auf Rom wenig Sinn, wenn ursprünglich nur ein einzelnes Gebäude als „lateranensisch“ verstanden wurde. Gegen Falkenstein: Werner Jacobsen, Die Pfalzkonzeptionen Karls des Großen, in: Karl der Große als vielberufener Vorfahr. Sein Bild in der Kunst der Fürsten, Kirchen und Städte, hg. Liselotte E. Saurma-Jeltsch (Schriften des Histor. Museums Frankfurt 19), Sigmaringen 1994, S. 23–48. Die Wendungen in/iuxta/ ad/apud Lateranis bezogen sich in Rom zu keiner Zeit auf ein einzelnes Gebäude, sondern stets auf das Areal, in dem das Patriarchium und die Salvatorkirche standen. Die domus palatii, quae ad Lateranis dicitur (vgl. Falkenstein a. a. O.) kann durchaus das Hauptgebäude der Pfalz bezeichnen und damit die Pfalz insgesamt. Das Relativpronomen der letzten Erwähnung Aquisgrani palacii („in der Aachener Pfalz“) in secretario basilicae ... quod dicitur Lateranis könnte gleichfalls dem palatium gegolten haben. Ganz offenkundig war (ad) Lateranis eine untergehende, nicht mehr in ihrer ursprünglichen Bedeutung bekannte Bezeichnung für die Aachener Pfalz. Falkenstein, Lateran, S. 88–9 hat zwar durchaus gesehen, dass ad Lateranis keine Bezeichnung des päpstlichen Patriarchiums war, betrachtet dann aber in seiner ganzen Argumentation nicht etwa das damit bezeichnete Areal, sondern tatsächlich nur diesen päpstlichen

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Wohl aber wiederholte Karl in Aachen, was die „Actus b. Silvestri“ ausdrücklich für Konstantin festhielten: Nämlich, dass er „innerhalb (seines) Palastes Christus eine Kirche errichtete“ (intra palatium meum ecclesiam Christo arripui construendam)143. Die Stifter-Inschrift der Aachener Kirche bestätigt diesen Zusammenhang144. Vielleicht war die Bezeichnung „bei den Laterani“ für Aachen zu Karls Zeit nur metonymisch oder scherzhaft zu verstehen, nur beiläufig ins Spiel gebracht worden – etwa in dem Sinne von: ‚mein oder unser lateranensisches Palatium‘ – und nicht als ‚Eigenname‘ der Pfalz zu verstehen gewesen. Vielleicht auch befand sich in jenem später Secretarium genannten Bau ursprünglich, nämlich unter Karl dem Großen, die Residenz des ständigen Hofbischofs, des Erzbischofs Hildebald von Köln145. Diese Lage würde abermals der Situation in Rom entsprechen und – wenn etwa der gelehrte Hildebald die Bezeichnung gebrauchte – vielleicht erklären, warum der Name sich im romfernen Aachen irrtümlich auf einen einzelnen Bau oder Baukörper zurückziehen konnte. Hildebald musste ja unter Ludwig in seinen Bischofssitz zurückkehren; ein Nachfolger wurde nicht mehr ernannt, seine Aachener Residenz war damit überflüssig geworden. Der Bau konnte einer anderen Bestimmung zugeführt werden, eben zum Secretarium werden; der Name „bei den Laterani“ ging – in Aachen nie recht heimisch und längst unverständlich – alsbald unter146. Was immer Karl mit dem ad Lateranis sich versprochen haben könnte, sein Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme hatte mit Rom wenig im Sinn und behandelte den Papst wie jeden Bischof seines Reiches. Es konnte dennoch kein Zufall sein, dass die Bezeichnung Late-

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Amtsitz. – Zu der im Zusammenhang nicht unwichtigen Zeitstellung der der Nachricht des Chron. Moiss. vgl. oben Anm. 129. Actus b. Silvestri ed. Mombritius S. 514,22. Zur Inschrift unten S. 147–148. In diese Richtung dachte schon Falkenstein, Der ‚Lateran‘, S. 133–6. Zuletzt 836: MGH Conc. 2 S. 705. Es ist durchaus möglich, dass romunkundige Autoren der jeweiligen Statuten den Namen missverstanden. Ohnehin scheint der Beleg 3 (817) bei Falkenstein, Lateran, S. 4 so eng dem Beleg 2 (ebd.) verwandt, dass nicht mit zwei unabhängigen Zeugnissen gerechnet werden darf. Es ist wohl kaum anzunehmen, dass der kurze Besuch Leos III. von knapp einer Woche in Aachen im Jahr 804 dem Bau den Namen gab.

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ranis oder ad Lateranis zur Aachener Pfalz wanderte, wofür kein besonderer Grund überliefert wurde. Karls Herrschaftszentrum wurde tatsächlich in Anlehnung an Konstantins römisches palatium lateranense und das gesamte für kaiserlich geltende bauliche Ensemble auf dem Celio mit Einschluss der Basilica Constantiniana, mit dem dort benachbarten Patriarchium ausgestaltet, eben so wie es die „Actus b. Silvestri“ tradierten und Karl durch wiederholte Besuche in Rom vertraut geworden war147. Ein liturgisches Detail kann diese Sicht bestätigen. Der Marienaltar der Aachener Pfalzkirche nämlich trug – bezeugt allein durch das Faktum – bis zum Ende des 18. Jahrhunderts entgegen aller Gewohnheit und entgegen Karls ausdrücklichem Gebot, doch in gezielter Nachahmung eben der Basilica Constantiniana eine hölzerne Altarmensa148. Gehörte sie ursprünglich zu dem Salvatoraltar in Karls Kirche oder besaß derselbe gleichfalls eine solche? Sie hätte sich weder erhalten noch wurde sie in früherer Zeit beschrieben. Die Kirche besaß zudem eine Kreuzreliquie. Wo aber das Haupt der Welt regierte, da durfte ein zweites Rom mit seinem imperialen Zentrum entstehen. Der römischen Salvatorkirche in Sichtweite benachbart lag zudem die Kirche, die damals gewöhnlich Hierusalem hieß; sie war, die Stationskirche des Karfreitags, dem Heiligen Kreuz geweiht. Auch ihr Patrozinium nahm Karl in seine Pfalzanlage auf und vereinte damit, was in Rom räumlich getrennt lag. Denn es war der obere Stock der zweistöckigen Pfalzkirche, der dem Salvator und dem Hl. Kreuz geweiht war. Hier, in der Pfalz des Königs oder Kaisers, versammelte sich das Volk zum Gottesdienst. Dorthin stieg es wie in Rom auf den Hügel über zwei Wendeltreppen hinauf. Wahrscheinlich besaß Karl – wie sein Quasi-Schwiegersohn Angilbert – einen Splitter vom Heiligen Kreuz149. 147 Ich weiche mit dieser Interpretation von Falkenstein, Der ‚Lateran‘, passim, ab. 148 Vgl. Ludwig Falkenstein, Karl der Große und die Entstehung des Aachener Marienstiftes (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte NF 3), Paderborn u. a. 1981, S. 116–9; Bayer, Die Aachener Marienkirche in der Diözese Lüttich (wie oben Anm. 123. 62–3. 149 Angilberti abbatis De ecclesia Centulensi libellus, MGH SS 15, 1 S. 173– 9. Zu Centula vgl. zuletzt Michael S. Driscoll, Church Architecture and Liturgy in the Carolingian Era; http://theology.nd.edu/graduate-pro-

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Doch die Analogie ging vermutlich noch weiter. Alkuin etwa nannte einmal Aachen als Karls Hierusalem optatae patriae, als das Jerusalem seiner geliebten Heimat, in dem der Tempel Salomos, mithin die Pfalzkirche errichtet würde150. War das nur eine dem König schmeichelnde Metapher? Ludwig Falkenstein, bemüht, das lateranensische Vorbild der Aachener Pfalz zu widerlegen, hat das Salvator-Patrozinium der Pfalzkirche in seiner Bedeutung herabgesetzt151. Die Belege freilich, die sich für Maria als Hauptpatronin anführen lassen, setzen durchweg erst nach Karls Tod ein. In Karls „Testament“, das Einhard (c. 33) überliefert, war nichts von einem Marienstift zu lesen, obgleich der Biograph, der um 828/29 schrieb, vergleichsweise wortreich die Gründung der Kirche erwähnte (c. 26). Ein Patrozinium nannte er dabei nicht, auch wenn er an anderer Stelle von einer Marienkirche sprach (c. 17)152. Und Karl? Wen verehrte er? Seine Synoden und Concilia, seine Kapitularien und Urkunden gedachten nicht eigens der Gottesmutter. Christus, der Apostelfürst Petrus, auch Paulus traten hervor, aber kein Marienkult. Nicht, dass Karl Maria keine Verehrung entgegengebracht hätte, aber jeder belegende Hinweis fehlt; eine hervorragende Rolle scheint Maria in seinen Gebeten und unter seinen himmlischen Patronen nicht gespielt zu haben. Auch die Stifterinschrift der Pfalzkirche weist auf Gott und gram/master-of-sacred-music/faculty/documents/NAAL2009Driscoll. pdf. Die Beschreibung der Kirche aus dem späten 11. Jahrhundert wird Hariulf verdankt, damals Mönch in Centula, später Abt von Oudenburg: Chronique de l’abbaye de Saint Riquier II,8, ed. Ferdinand Lot (Collections de textes), Paris 1894, S. 57–61; Reliquienverzeichnis II,9 S. 61–7; Altäre II,10 S. 67–70; zur Liturgie: ebd. S. 296–306. Die Inschrift: unten S. 147; Theodulf carm. 27, 93-4: Hiram als Bauleiter verweist auf den Tempel Salomos. Dieser galt nach Beda (vgl. dazu Günther Binding, Zur Ikonologie der Aachener Pfalzkapelle nach den Schriftquellen, in: Mönchtum – Kirche – Herrschaft 750–1000, hg. Dieter R. Bauer u. a., Sigmaringen 1998, S. 187–211, hier bes. S. 200–8 als Typus der universalen Kirche, die der Erlöser (redemptor) täglich errichtet. Karls „salomonischer Tempel“ (vgl. unten Anm. 154) partizipierte an diesem Heilswerk. 150 Alkuin ep. 145 (798), MGH Epp. 4 S. 235,7. 151 Falkenstein, Lateran, S. 62–77. 152 Die Nennung der Kirche als Grabkirche ist vielleicht nicht eindeutig: Basilica, quam ipse propter amorem Dei et domini nostri Jesu Christi et ob honorem sanctae et aeternae virginis, genetricis eius ... construxit (c. 31).

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metaphorisch auf den Erlöser, nicht anders als ein Gedicht Theodulfs von Orléans153. Karls templum war mehr als nur ein repräsentativer Prachtbau. Es wurde, wir sagten es schon, im Innern als Oktogon aufgeführt, das nach außen in ein Sechzehneck überging. Als Baumaß galt der Königsfuß von 32,24 cm Länge154. Die vollkommene Zahl sechs (in ganze Zahlen 1 – 2 – 3 teilbar, die mit sich multipliziert wiederum sechs ergeben) bestimmte dabei die Proportionen155. Sie war in ihrer Bedeutung Karl bestens vertraut, wie durch einen Brief Alkuins bezeugt wird156. Der Kreisdurchmesser des Oktogons betrug 48 Fuß, der des Sechzehnecks das Doppelte, die Gesamtlänge das Dreifache, mithin 144 Fuß, das Maß des Neuen Jerusalems nach der Apokalypse des Johannes. Auch der Umfang des Oktogons, gemessen von innerer Ecke zu innerer Ecke, betrug 144 Fuß – noch einmal das Maß des himmlischen Jerusalem (Apc 21,17); drei Bogenreihen zogen die Blicke etwa 31 m, wiederum 48 Fuß, nach oben in die Kuppel mit ihrem apokalyptischen Mosaik des Weltenrichters (Apc 4,2-4)157. Zu der vollkommenen Zahl sechs trat mit dem Oktogon und seinen zweimal 16 Säulen (auch sie ein Zitat aus der römischen Salvatorkirche) die Zahl acht. Auch die trinitarische und heilsgeschichtlich bedeutsame Drei findet sich sichtbar im Oktogon158, das von der Unterkirche über die Oberkirche in den Lichtgaden führte. 6 × 8 × 3 = 144. Der gesamte Bau war, ich möchte sagen, 153 Man könnte allenfalls das „kleine Kirchweihfest“ (8. September) anführen, vgl. oben S. 137 mit Anm. 126. 154 Vgl. hierzu Ulrike Heckner, Der Tempel Salomos in Aachen: Datierung und geometrischer Entwurf der karolingischen Pfalzkapelle, in: Die karolingische Pfalzkapelle in Aachen. Bauforschung – Bautechnik – Restaurierung, hg. von Andrea Pufke (Arbeitsheft der Rheinischen Denkmalpflege 78), Worms 2012, S. 25–62. 155 Heinz Meyer, Rudolf Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen (Münstersche Mittelalterschriften 56), München 1987, Sp. 442–79. 156 Vgl. MGH Epp. 4 S. 477–8: Ein Brief Alkuins (Nr. 309 von 801/804) an die am Hof weilende Kusine des Kaisers Gundrada verweist die Empfängerin gerade dafür auf das Wissen des Kaisers. 157 Vgl. unten S. 149. 158 Meyer, Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, Sp. 214–331.

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endzeitlich durchkomponiert. Karl war sich dessen ohne Zweifel bewusst. Die Widmungsinschrift bestätigt die Deutung. Sie lief mit vier elegischen Distichen, mithin in acht Versen, „am Rand des Gesimses zwischen den oberen und unteren Bögen“ um das Oktogon. In ihrer vorliegenden Form dürfte sie von Alkuin stammen, griff aber mit den ersten drei Distichen Verse Prospers von Aquitanien auf, der seinerseits Gedanken Augustins übernahm: Cum lapides vivi pacis conpage ligantur, Inque pares numeros omnia conveniunt, Claret opus domini, tortam qui construit aulam, Effectusque piis dat studiis hominum, Quorum perpetui decoris structura manebit, Si perfecta auctor protegat atque regat: Sic Deus hoc tutum stabili fundamine templum, Quod Karolus princeps condidit, esse velit. („Wenn lebendige Steine durch das Gefüge des Friedens verbunden sind und alles in geraden Zahlen übereinstimmt, dann leuchtet das Werk des Herrn, der den ganzen Kirchenbau (totam aulam) fügt und den frommen Mühen der Menschen Wirkung verleiht, deren Werk ewiger Zier erhalten bleibt, wenn sein Urheber (auctor) das Vollendete schützt und lenkt. So will Gott, dass dieser Tempel, den der Princeps Karl gründete, auf festem Fundament sicher ruhe“)159. Walahfrid Strabo wird später in seinem Gedicht „De imagine Tetrici“ auf das Motiv der lebendigen Steine anspielen160.

159 MGH Poetae 1 S. 432 Nr. 3; dazu vgl. Binding, Ikonologie (wie oben Anm. 149); Ders., Kirchenbau als Bedeutungsträger: Ein Deutungsproblem, in: Wallraf-Richartz-Jb. 73 (2012) S. 97–106, hier S.101–4; leicht abweichend Clemens M. M. Bayer, Die karolingische Bauinschrift des Aachener Domes, in: Der Aachener Dom (wie oben Anm. 168), S. 185– 95. Zum Bild der „lebenden Steine“ vgl. J. C. Plumpe, Vivum saxum, vivi lapides. The Concept of „Living Stone“ in Classical and Christian Antiquity, in: Traditio 1 (1943) S. 1–14. 160 Smolak, Bescheidene Panegyrik (wie oben Anm. 141), S. 96–7 mit Anm. 30 (dort weitere Hinweise).

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Diese gewaltige Aula, wie die Kirche genannt werden konnte, verkündete mit Baumaßen und Inschrift eine theologische Botschaft. Als „lebendige Steine“ galten – nach neutestamentlichem und patristischem Muster – die Gläubigen, in ihrem Friedensverbund (pacis compage ligantur) die gesamte Kirche, das Himmlische Jerusalem, ja Christus selbst. Der „Herr“ und „Urheber“, den die Inschrift pries, konnte sowohl Gott als auch den Stifter, eben den König oder Kaiser meinen. Als glatte Zahlen – die acht und sechzehn Ecken, die zweimal acht Säulenpaare, die das Oktogon in seinen oberen Teilen schmücken – galten nur solche, die immer wieder in zwei gleiche Teile geteilt werden können; allein die eins bezeichnete die unteilbare Einheit, war somit die in den Zahlen verborgene Gegenwart des Weltschöpfers. Da war also vom „Herrn, der den ganzen Kirchenbau fügt“ die Rede, von den „lebendigen Steinen im Verbund des Friedens“, von Gott, aber nicht von der Gottesmutter. Der himmlische Richter schaute gleichsam mit Wohlgefallen auf diesen „Friedensbund“. Liturgische Texte konnten Entsprechendes verkünden. Die ältesten Königslaudes etwa, noch aus der Zeit Hadrians I. und vor dem Jahr 792, riefen den Redemptor mundi an und schwiegen von Maria. Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat. / Exaudi Christe. / Adriano summo pontifici et universali papae vita / Redemptor mundi. Tu lo iuva. / Sancte Petre. Tu lo iuva… Karolo excellentissimo et a Deo coronato, magno et pacifico rege Francorum ... vita et victoria! Salvator mundi, tu lo iuva, Sancte Iohannis, tu lo iuva ... ( Jeder Heilige, den der zu Preisende wünschte, durfte an dieser Stelle angerufen werden)161. Dem Erlöser galt danach vornehmlich Karls Frömmigkeit, Maria konnte hinzutreten. Sie tat es in den Laudes, die dann zur Zeit Leos III. dem König gesungen wurden. Der hl. Silvester wurde hier übrigens als erster Bekenner nach Maria (sancta virgo virginum) für die Königskinder angerufen162.

161 Ed. durch Oswald Holder-Egger, Einhardi Vita Karoli Magni, MGH SS rer. Germ. [25], S. 46–7, App. D; Ernst H. Kantorowicz, Laudes Regiae. A Study in Liturgical Acclamations and Mediaeval Ruler Worship University of California Publications in History 53), Berkeley/ Los Angeles 1946 (ND 1958), S. 21 Anm. 19. 162 Kantorowicz, Laudes Regiae, S.15–6. – Weitere Hinweise auf das ursprüngliche Salvator-Patrozinium: Fried, Karl der Große.

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Bildzeugnisse bestätigen diesen Eindruck: Das Godescalc-Evangelistar, von Karl und seiner Gemahlin Hildegard in Auftrag gegeben, kennt nur ein Christusbild, kein Marienbild; der beinerne Buchdeckel des Lorscher Evangeliars, Karls Hofschule zugeschrieben und von Anfang an für das Kloster Lorsch bestimmt, hat auf dem vorderen Deckel die Gottesmutter, rückwärtig den Salvator163. War Maria die Patronin der Mönche und Kanoniker, der Erlöser aber des Königs? Unter Ludwig dem Frommen änderte sich gleich nach seines Vaters Tod vieles in Aachen. Auch der Kult in der Pfalzkirche? Ludwigs geistlicher Berater Benedikt hatte seine Klostergründung in Aniane der Gottesmutter geweiht164. Er hatte zwar ein zweites Kloster gegründet, dessen Kirche dem Salvator und der Trinität dediziert wurde; aber es geschah explizit auf Befehl Karls des Großen165. Zudem dürfte die neue Gründung der Abwehr des Adoptianismus gegolten haben, gegen den Karl mit seinen Gelehrten zu Feld zog166. Die Cella, die Benedikt dann in Inden bei Aachen auf Befehl Ludwigs des Frommen errichtete, erhielt wiederum ein Salvator-Patrozinium, erst später wurde die Kirche – heute Kornelimünster – dem hl. Cornelius geweiht. Wir müssen Karls Pfalzkirche zur Zeit ihres Stifters in erster Linie – gleich der Basilica Constantiniana in Rom – als Erlöserkirche betrachten. Ihr Patrozinienprogramm – Salvator, Maria, Petrus und hl. Kreuz folgte römischen Vorbildern. Auch die römische Salvatorkirche konnte, wie der „Anonymus Einsidlensis“ belegt, allein als JohannesKirche gelten so wie später jedenfalls die Marienkirche in Aachen. In St. Peter zu Rom, der für Karl ohne Zweifel wichtigsten Kirche, hatte Gregor III. beim Triumphbogen in nächster Nähe zur Confessio ein Oratorium errichtet, das dem Erlöser, seiner heiligen Mutter, den Aposteln, Märtyrern und Bekennern geweiht war, dessen Klerus täglich zur Vesper aller Märtyrer und Bekenner des ganzen Erdkreise vor der Con163 Rainer Kahsnitz, „Die Elfenbeinskulpturen der Adagruppe“. Hundert Jahre nach Adolph Goldschmidt, in: Zs. des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 64 (2010), S. 9–172, hier S. 81–96 Nr. 11. 164 Ardonis Vita Benedicti Abbatis Anianensis et Indensis c. 5, MGH SS 15,1 S.204. Vgl. auch cc. 12-3 S. 205. 165 Ardonis Vita Benedicti c. 17, MGH SS 15,1 S. 205–6. 166 Das Eindringen der Häresie (Felicianum dogma) nach Aquitanien erwähnt Ardo in c. 8 seine Benedikt-Vita (MGH SS 15,1 S. 204.

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fessio und mit täglicher Messfeier am Oratoriumaltar gedenken sollte. In der Basilica Constantiniana wurde (der Ort findet sich nicht präzisiert) entsprechend wie in St. Peter verfahren167. Zu derlei Überlegungen tritt ein alter Hymnus des Breviers. Entstanden ist er vielleicht vor 700, seine älteste Handschrift weist in die Zeit um 800; manche Hymnologen vermuten westgotisch-spanischen Ursprung. Vermittelte Theodulf von Orléans den Hymnus nach Aachen? Gesichert scheint nichts zu sein. Er weist ursprünglich vielleicht nur sechs, zumindest später acht Strophen auf, dazu eine Doxologie als neunte Strophe. Er verwandte – und das wurde von den Hymnologen zu wenig beachtet – gleichfalls das Bild von den „lebendigen Steinen“ und ihrem „Gefüge“ in der Wand (compago parietis), das in Aachen zum „Gefüge des Friedens“ (compago pacis) geworden war. Der Hymnus wird zum Kirchweihfest gesungen. War er für die Weihe der Aachener Kirche entstanden oder doch gesungen? Das Bild der „lebendigen Steine“ begegnete in der Zeit um 800, soweit bekannt, nur in einem einzigen weiteren Gedicht Alkuins, des angelsächsischen Gelehrten am Hof Karls des Großen, doch in völlig anderem Kontext168. So drängt sich die Verbindung des Hymnus mit der Aachener Pfalzkirche geradezu auf. Der Hymnus beginnt169: Urbs beata Jerusalem, dicta pacis visio, Quae construitur in coelis vivis ex lapidibus... (vv. 1–2) Spätere Verse wenden sich Christus zu: Angularis fundamentum lapis Christus missus est, Qui compage parietis in utroque nectitur … (vv. 15-6)

167 Vgl. Bauer, Das Bild der Stadt Rom, S. 53–8. 168 So Bayer, Bauinschrift, in: Der Aachener Dom als Ort geschichtlicher Erinnerung. Werkbuch der Studierenden des Historischen Instituts der RWTH Aachen, hg. und eingel. von Max Kerner, Köln 2004, S. 185–95, hier S. 187 mit Verweis auf De clade Lindisfarnensis monasterii, MGH Poetae 1 S. 234 Nr. 9,201. 169 Annalecta Hymnica 51, 110-2. Dazu Josef Szövérffy, Die Annalen der lateinischen Hymnendichtung 1, Berlin 1964, S. 151–2.

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Die „lebendigen Steine“: das ist das himmlische Jerusalem; Grundstein und Verbund der Steine: das ist Christus. Eben diesen Gedanken sprach der Stiftervers der Aachener Pfalzkirche aus: War diese, seine Kirche für Karl Sinnbild des himmlischen Jerusalems? Gleichsam Thronsaal des Erlösers? Acht Verse lobten also den Herrn, der die Kirche fügte. Acht auch war die Zahl der Seligpreisungen (Mt 5,3-10), das Sinnbild der Geretteten (1Petr 3,20 und 2Petr 2,5), der Inbegriff des Neuen Bundes, Verheißung der Auferstehung und des ewigen Tages des Herrn. Acht Mühen (cura) führten nach dem zweiten Petrusbrief (1,5-10) den Gläubigen zur Erkenntnis Jesu Christi und schützten vor Sünde: „im Glauben Tugend, in der Tugend Erkenntnis, in der Erkenntnis Mäßigung, in der Mäßigung Geduld, in der Geduld Frömmigkeit, in der Frömmigkeit Bruderliebe, in der Bruderliebe die Liebe“170. Die Liebe aber ist Gott, wie der Evangelist Johannes lehrt. Das Gotteslob und der Gottesdienst des Stifters, Glaube und Hoffnung verbargen und offenbarten sich in Schönheit und Maß der Zahlenverhältnisse seiner Stiftung. Der Ire Cathuulf hatte Karl schon früher solche Zahlenmystik mahnend zugerufen: Acht Gnaden Gottes habe er empfangen, indem er zum Königtum aufgestiegen war, acht „Säulen“, acht Königstugenden nämlich, trugen die „Burg Gottes“, wie der Ire den König gemahnte171. Acht Säulen auch trugen das Dach des Lebensbrunnens, wie ihn etwa das Godescalc-Evangelistar imaginierte (fol.3v), das unmittelbar von Karl dem Großen und seiner Gemahlin Hildegart im Verlauf der Jahre 781–783 in Auftrag gegeben worden war172, oder in dessen Folge das Evangelistar von St-Médard in Soissons und andere 170 Meyer, Suntrup, Sp. 566-80; zur 16 ebd. Sp.659-61; Dieter P. J. Wynands, Zur Symbolik der Zahl Acht – ausgehend von der Aachener Marienkirche, in: Der Aachener Dom (wie oben Anm. 168), S. 165–83. 171 Epistolae variorum Carolo magno regnante scriptae 7 [Cathuulfus an Karl den Großen], ed. Ernst Dümmler, MGH Epp. 4, Berlin 1895, S. 501–5. Vgl. dazu Hans Hubert Anton, Pseudo-Cyprian. De duodecim abusivis saeculi und sein Einfluss auf den Kontinent, insbesondere auf die karolingischen Fürstenspiegel, in: Die Iren und Europa im frühen Mittelalter 2, hrsg. von Heinz Löwe (Veröffentlichungen des Europa-Zentrums Tübingen. Kulturwissenschaftliche Reihe), Stuttgart 1982, S. 568–617, bes. S. 597–600. 172 Vgl. oben S. 149.

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Beispiele. Hatten sie die Vorlage aus Italien mitgebracht? Die acht Säulen glichen jenen des lebenspendenden konstantinischen Taufbrunnens in Rom, wo eben der Königsohn Karlmann-Pippin aus der Taufe gehoben worden war. Karls Salvator-, Marien- und Petruskirche war, so gesehen, ein steingewordenes Gebet und ein Bekenntnis und ein persönlicher Fürstenspiegel obendrein. Karl wusste darum; nicht erst und nicht nur Alkuin hatte ihn in die Geheimnisse der Zahlensymbolik eingeweiht. Und mehr noch: Diese Kirche im Ensemble der Pfalz war Zeichen, war raum- und bildgewordene Verheißung. Ihr Bau folgte dem apokalyptischen Maß von 144 Fuß. Das Kuppelmosaik über zweimal sechzehn Säulen gespannt – im 19. Jahrhundert erneuert – vergegenwärtigte die Maiestas Domini, umgeben von den 24 Ältesten, ein apokalyptisches Motiv: „Und siehe, ein Thron war gesetzt im Himmel und auf dem Thron saß einer; und der da saß, war anzusehen wie Jaspis und Sarder ... Und um den Thron waren 24 Throne und auf den Thronen saßen 24 Älteste“ (Apc 4,2-4)173. Das Bild zitierte damit vermutlich nicht das untergegangene gleichfalls „apokalyptische“ Apsisbild der Laterankirche, könnte aber von dem Salvatorbild dort angeregt worden sein174. Wie dem aber sei, die aposkalyptische Konnotation beider Kirchen ist evident. Einhard (c. 26), der von der Schönheit der Kirche schwelgte, erwähnte die (antiken) Säulen und den Marmor, sprach von Gold und 173 Zusammenfassend zum Kuppelmosaik: Anton von Euw, Karl der Große als Schüler Alkuins, das Kuppelmosaik des Aachener Domes und das Maiestasbild in Codex C 80 der Zentralbibliothek Zürich, in: Der Aachener Dom (wie oben Anm. 168), S. 197–217. 174 Dessen letzter Rest ging mit den originalen Mosaiken der Zeit Nikolaus’ IV. in den Jahren 1881–1883 unter. Dieser Papst des 13. Jahrhunderts hatte die damals als Acheiropoieton verehrte Christusbüste des 4. oder frühen 5. Jahrhunderts „in den Wolken“ in den unter ihm veränderten Apsisschmuck übernommen. Sein Programm imaginierte beiderseits des Kreuzes (und ohne die Heiligen des 13. Jahrhunderts) rechts Maria und links den Täufer (mithin eine Deesis), neben Maria die Apostel Petrus und Paulus, neben dem Täufer die Apostel Johannes und Andreas. Darunter, zwischen den Fenstern, finden sich die übrigen neun Apostel repräsentiert. Ob das für Karl sichtbare spätantike Mosaik ein gleiches Programm aufwies, lässt sich nicht mehr erkennen. Zum Apsismosaik: Claussen, S. 104–13, bes. S. 105–6.

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Silber, von den Lichter(krone)n und den ehernen Arbeiten der Tore und Gitter (wofür er vielleicht selbst zuständig gewesen war), schwieg sich aber aus über den Bildschmuck der Kirche und dessen theologisches Programm. Karl hatte zudem im oberen Geschoss der Kirche, dem Hochmünster, einen Thron errichten lassen aus antiken Marmorplatten ostmediterraner Herkunft, die wohl aus Jerusalem, wahrscheinlich aus der Grabeskirche herbeigeschafft worden waren und damit als Reliquie galten175. Die Form dieses Thrones dürfte sich ursprünglich schlichter ausgenommen haben, mit einer trapezförmigen Rücklehne, mit weniger Stufen und näher als heute am Rand des Oberstocks „zwischen zwei marmorne Säulen“ postiert, die dort noch immer stehen176. Ein ganz und gar ungewöhnlicher Standort für einen Herrscherthron. Zwar findet er sich jetzt in die Mitte des Umgangs zurückversetzt und gleich Salomons Thron (1Kg 10,18-20) über sechs (vielfach umgearbeitete) Stufen zu besteigen. Aber ungewöhnlich bleibt der Standort dennoch. Nichts verdeutlicht es besser als Widukinds von Corvey Bericht (II,1) zur Krönung Ottos des Großen im Jahr 936. Denn dieser Thron eignete sich in keiner Weise für das notwendige Huldigungsritual, das damals tatsächlich mit einem zweiten Thron im Atrium der Kirche durchgeführt werden musste. An seiner Rückwand angelehnt findet sich seit 1305 der NicasiusAltar. Er dürfte – bei dem Reliquiencharakter des Throns – einen karolingischen Vorgänger besessen haben. Unter dem Sitz befindet sich ein Hohlraum, der zumindest zeitweise, etwa aus Anlass des Krönungsrituals, eine weitere kostbare Reliquie aufgenommen zu haben scheint, die goldene Burse nämlich mit dem vom Blut des Protomärtyrers Stephan getränkten Erde, die dann zu den Reichskleinodien gehören sollte177. 175 Vgl. unten Anm. 177 (Schütte). 176 Widukind von Corvey, Rerum Gestarum Saxonicarum lib. II,1 hg. H.-E. Lohmann, Paul Hirsch (MGH SS rer. Germ. 60, S. 66,20-3. Danach wurde der Thron nicht erst für Otto errichtet; im 9. Jahrhundert fehlt jeder Anlass dazu. So wird der Thron der Erstausstattung der Kirche unter Karl angehören. 177 Sven Schütte, Forschungen zum Aachener Thron, in: Dombaumeistertagung in Aachen 2009, Karlsverein Dombauverein Schriftenreihe 13 (2011) S. 127–42, hier S. 138–40 mit Abb. 14-5. Die älteste Darstellung

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Diese Kostbarkeit könnte durch den am Stephanstag 795 zum Papst gewählten Leo III. an Karl gelangt sein; die Gebeine des Heiligen befanden sich seit dem späteren 6. Jahrhundert der Tradition nach in S. Lorenzo fuori le mura, der großen Friedhofskirche Roms. In diesem Hohlraum könnte aber auch die mittlerweile verschollene Kreuzreliquie des Königs deponiert worden sein. Der Thron war somit Reliquie und Reliquiar in einem, kein Herrscherthron. Dass Karl ihn – so nahe am Abgrund – je bestiegen hätte, ist nicht bezeugt. Erst Otto der Große machte ihn, wie die Überlieferung lautet, aus Anlass seiner oder seines Sohnes Krönung im Jahr 936 oder 961 zu einem Königstuhl und damit zu einem Karlsthron178. Einhard, der die Ausstattung der Kirche relativ ausführlich beschrieb (c. 26), schwieg auch über ihn, obgleich derselbe zur ursprünglichen Ausstattung der Marienkirche gehörte179. War er, der „leere Thron“, als Hetoimasia (Etimasie) zu verstehen (Apc 22,1–4), als „Thron Gottes und des Lammes, dem seine Diener dienen werden“ (θρόνος resp. sedes), und gemäß Ps 88 (89),15 als die apokalyptische Bereitung des Thrones für den Kommenden, den Weltenrichter?180 „Gerechtigkeit und Gericht sind Deines Thrones Bereitung“ (praeparatio). Zeichen der Erwartung also des Jüngsten Gedes Thrones mit trapezförmiger Lehne findet sich zu Beginn der illustrierten Prunkausfertigung der „Goldenen Bulle“ Karls IV., als authentisch gesichert durch eine Zeichnung Kaspar Wolffs von (1780/81), vgl. J(oseph) Lambertz, Alte Ansichten des Aachener Thrones, masch. Ms. (die Kenntnis verdanke ich Max Kerner). Die Umarbeitung erfolgte zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 178 Widukind, Rerum Gestarum Saxonicarum II,1. Nach dem sächsischen Geschichtsschreiber, der in den Jahren um 970 zur Feder griff, stand der von ihm präzis in der Kirche lokalisierte Thron bereits und wurde nicht erst für die Thronsetzung des eben gesalbten Königs errichtet. Doch wer sollte vor Otto einen solchen Thron geplant haben? Widukind lokalisierte den Thron ausdrücklich auf dem Umgang „zwischen zwei marmornen Säulen von wunderbarer Schönheit“. 179 Zum Thron zuletzt: Schütte, Forschungen; und Werner Georgi (wie die folgende Anm.). 180 Werner Georgi, Sedes Karoli – Herrschersitz oder Reliquienthron? Ein historischer Versuch zum „Karlsthron“ der Aachener Marienkirche, in: Der Aachener Dom (wie oben Anm. 168), S. 107–30; aufgegriffen bei Max Kerner, in: Die Welt des Mittelalters. Erinnerungsorte eines Jahr-

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richts? Die Zurüstung des Thrones war dem Westen durch eine Reihe von Mosaiken und aus der Liturgie der zweiten Weihnachtsmesse (mit Ps 92 (93),1) vertraut; Karl dürfte sie unmittelbar vor seiner Kaiserkrönung gehört haben. In der orthodoxen Kirche vertritt seit alters der Bischofsthron zugleich die Etimasie; der Thron war also realer Sitz181. Die Gestalt des Thrones konnte der Bundeslade oder einem Altar gleichen, auch einem Thron mit geraden Seitenwangen und ebensolcher oder trapezförmiger Rücklehne, mit einer geschwungenen oder einer nach oben gerundeten Rücklehne. Diese letzte Form findet sich etwa in Byzanz, auch im Baptisterium der Katholiken zu Ravenna oder auf dem Kästchen von Samagher, dessen Darstellung „als Widerspiegelung der monumentalen Mosaikausstattung der Apsis von Alt-Sankt Peter gedeutet“ wird182. Trifft es zu, dann übernahm Karl zumindest das Motiv aus der dem Frankenkönig wichtigsten Kirche Roms, seiner Krönungskirche, in der sein Vater durch eine Altarstiftung, er selbst durch die Gabe einer goldenen Patene gegenwärtig war, die mit Edelsteinen geschrieben seinen Namen trug: karolo183. Er konnte eine Hetoimasia (wenn auch mit anderen Thronformen) auch im Triumphbogenmosaik der großen Marienkirche, S. Maria in Praesepe, bewundern oder in den beiden Baptisterien zu Ravenna184. Im Rund des bischöflichen Baptisteriums von Ravenna fand sich die Hetoimasia vier Mal, je im Wechsel mit vier Altären, auf denen jeweils aufgeschlagen ein Evangelium lag. In der Ostkirche war das Thema der „Zurichtung“ weit verbreitet. Karl könnte sie als wesentlich für den Rang seiner Aachener Stiftung betrachtet haben. Vergegenwärtigte seine Pfalzkirche oder genauer: ihre Oberkirche – wie die JerusalemKirche in Rom – also Jerusalem? Wie dem aber sei, Karl erfuhr sich in

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tausends, hg. Johannes Fried, Olaf B. Rader, München 2011, S. 45–57, hier S. 47–8. Vgl. schon knapp und mit wichtigster Literatur: Nikolaus Gussone, Thron und Inthronisation des Papstes von den Anfängen bis zum 12. Jahrhundert (Bonner Historische Forschungen 41), Bonn 1978, S. 54–5 mit Anm. 111. Abbildung und Zitat: G. B., in: 799. Kunst und Kultur (wie oben Anm. 17), Nr. IX,5 S. 614–6. LP 2 S. 8,2-3. In Rom bietet die Zeno-Kapelle in S. Prassede ein nur wenig jüngeres Beispiel aus dem 9. Jahrhundert.

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dieser, seiner Kirche nicht nur in der Nachfolge Konstantins und Justinians, sondern als Herrscher in Erwartung des neuen Äon, des kommenden Gerichts.

4. Zusammenfassung Die heute noch unmittelbar verfügbaren Schriftzeugnisse für die Aachener Pfalz Karls des Großen mögen dürftig sein, völlig schweigsam sind sie nicht. Sie lassen sich ergänzen durch weitere Überlieferungen, die Karl vertraut waren, durch ein Wissen, das seine Blicke und Erwartungen lenkte. Im Verein mit Bild- und Bauzeugnissen verdeutlichen sie ein entschlüsselbares Programm. Mit dem Kuppelmosaik des thronenden Herrn des Jüngsten Gerichts und den vierundzwanzig Ältesten, mit den „lebendigen Steinen im Gefüge des Friedens“, mit der Hetoimasia, dem auf Erden bereiteten Thron des kommenden Richters, mit der durch den Erzmärtyrer Stephan geweihten Erde, mit der Kreuzreliquie werden der Tag des Gerichts und das himmlische Jerusalem evoziert; mit allem aber zugleich auch Rom. Maria, die Gottesmutter, aber fehlte noch in diesem Programm. Die Kirche, die gleichermaßen für den Gottesdienst des Königs und als Pfarrkirche für das Volk bestimmt war185, der weite Platz, die Theodrichstatue und die Königshalle, die ‚römischen‘ Säulen und Kapitelle, woher immer sie kamen, das Patrozinienprogramm, der Reliquienthron und die Hetoimasia, der Weltenrichter und Redemptor der Kuppel – sie alle gehörten zusammen, bildeten eine Einheit, deren Name ad Lateranis verrät, wo das Urbild von Karls Pfalzanlage zu suchen war: in Rom, im Palatium Konstantins des Großen. Karls Pfalz orientierte sich am konstantinischen Herrschaftszentrum, wie es sich nach den „Actus b. Silvestri“ und Karls wiederholter Autopsie darbot, und übertraf es zugleich, insofern der königliche und kaiserliche Bau- und Hausherr in Aachen – anders als der erste christliche Kaiser – bis zu seinem Tod die Rechtgläubigkeit bewahrte und die Häresie bekämpfte. Auch dies bekundete ein Altar in seiner Kirche: Er stand inmitten des Oktogons, umgeben von den Sitzen der Kanoniker, direkt unter185 Actus b. Silvestri, ed. Mombritius S. 513,41–4.

Karl der Große, Rom und Aachen

halb des thronenden Weltenrichters und war der Trinität geweiht, deren rechte Verehrung Karl gegen Adoptianismus und gegen bildverehrende oder bilderfeindliche Byzantiner verteidigt hatte; er war Inbegriff von Karls Glauben und Herrschertum. Jener schon zitierte Hymnus zur Kirchweihe durfte jubeln: Omnis illa Deo sacra et dilecta civitas, … Trinum Deum unicumque cum favore praedicat186. So vereinte sich alles „bei den Laterani“, ad Lateranis, in Rom und in Aachen, die Geschichte der Päpste im Frühmittelalter und das päpstliche Patriarchium, Konstantin und das von der römischen Palastanlage aus gedeutete „Constitutum Constantini“. Die wissenschaftlichen Studien und die Forschungsgebiete Horst Fuhrmanns, erwiesen sich als Wegweiser nicht nur für die Forschung im Allgemeinen, sondern auch von Rom nach Aachen im Besonderen, eben zur Pfalz Karls des Großen.

186 „Die gesamte Gott geweihte und von Gott geliebte Stadt (das himmlische Jerusalem) ... verkündet eifrig jedem den dreieinigen Gott.“

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DEUTSCHES ARCHIV FÜR ERFORSCHUNG DES MITTELALTERS NAMENS DER MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA HERAUSGEGEBEN VON MARC-AEILKO ARIS, ENNO BÜNZ, MARTINA HARTMANN UND CLAUDIA MÄRTL

Das „Deutsche Archiv für Erforschung des Mittelalters“ ist die Zeitschrift der 1819 gegründeten Monumenta Germaniae Historica. Die traditionsreiche Fachzeitschrift veröffentlicht Untersuchungen und Darstellungen zur Geschichte des Mittelalters, wobei quellenkritische und editorische Fragestellungen besondere Berücksichtigung finden. Das „Deutsche Archiv“ verdankt seinen Ruf nicht zuletzt seinem umfangreichen Rezensionsteil, der neben Monographien auch rund 270 einschlägige Zeitschriften systematisch erschließt. BD. 69, 1 (2013) 2013. CA. 450 S. BR. ISBN 978-3-412-22204-8 BD. 68, 2 (2012) 2012. IV, S. 445-946 BR. ISBN 978-3-412-21003-8 ERSCHEINUNGSWEISE: HALBJÄHRLICH ISSN 0012-1223 EINZELHEFT: € 40,00 [D] | € 41,20 [A] JAHRGANG: € 80,00 [D] | € 82,30 [A] ERSCHEINT SEIT 1937

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GEGENPÄPSTE EIN UNERWÜNSCHTES MITTELALTERLICHES PHÄNOMEN (PAPSTTUM IM MITTELALTERLICHEN EUROPA, BAND 1)

„Gegenpäpste“ durchziehen die Kirchengeschichte von der Spätantike bis zum Ende des Mittelalters. Dabei ist der mehrdeutige Begriff zugleich zeitgenössisches Stigma und Urteil „ex post“. Er schließt die so Bezeichneten aus der historischen Reihe der Nachfolger Petri aus und raubt ihnen plakativ jede Legitimation. Der Band unternimmt erstmals den Versuch, die teils hartnäckig geführten Konkurrenzkämpfe um das römische Bischofsamt systematisch zu beleuchten: Kommunikations-, Handlungs- und Legitimationsstrategien der Protagonisten sowie die Wahrnehmungsmuster der Zeitgenossen stehen im Mittelpunkt. In dieser Perspektive bilden die „Gegenpäpste“ gleichsam Prüfsteine, an denen Reichweite und Fragilität des universalen Autoritätsanspruchs des mittelalterlichen Papsttums sichtbar werden. 2012. 468 S. 4 FARB. ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20953-7

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