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German Pages 394 [396] Year 1997
Philipp Melanchthon LOCI COMMUNES 1521 Lateinisch - Deutsch
Philipp Melanchthon
LOCI COMMUNES
1521 Lateinisch - Deutsch Übersetzt und mit kommentierenden Anmerkungen versehen von Horst Georg Pöhlmann
Herausgegeben vom Lutherischen Kirchenamt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands
veJkd 2., durchgesehene und korrigierte Auflage
Gütersloher Verlagshaus
Unveränderter Nachdruck der 2., durchgesehenen und korrigierten Auflage 1997 Copyright © 1993 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber. Umschlaggestaltung: Dieter Rehder, Aachen Umschlagbild: Philipp Melanchthon, Portrait-Gemälde, Öl auf Holz, Cranach-Werkstatt, Mitte 16. Jh. Satz: ICS Communikations-Service GmbH, Bergisch-Gladbach ISBN 978-3-641-31053-0 www.gtvh.de
INHALT Vorwort zur 1. Auflage . . Vorwort zur 2. Auflage . . Geleitwort und Einführung Geleitwort zur 2. Auflage .
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LOCI COMMUNES RERUM THEOLOGICARUM SEU HYPOTYPOSES THEOLOGICAE 1521 I GRUNDBEGRIFFE DER THEOLOGIE ODER THEOLOGISCHE SKIZZEN 1521 EPISTOLA DEDICATORIA I WIDMUNGSBRIEF . . . . . . . . . . .
12113
0. INTRODUCTIO I EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16117
1. DE HOMINIS VIRIBUS ADEOQUE DE LIBERO ARBITRIO I DIE KRÄFTE DES MENSCHEN, INSBESONDERE DER FREIE WILLE . . . . . . . . . . . . . . .
24125
2. DE PECCATO I DIE SÜNDE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46147
3. DE LEGE I DAS GESETZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98199
4. DE EVANGELIO I DAS EVANGELIUM . . . . . . . . . . . . . . 1581159 5. DE GRATIA I DIE GNADE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2001201 6. DE IUSTIFICATIONE ET FIDE I DIE RECHTFERTIGUNG UND DER GLAUBE . . . . . . . . . . 2061207 7. DE DISCRIMINE VETERIS AC NOVI TESTAMENT!. ITEM DE ABROGATIONE LEGIS I DER UNTERSCHIED ZWISCHEN DEM ALTEN UND DEM NEUEN TESTAMENT, SOWIE DIE AUFHEBUNG DES GESETZES . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2881289
8. DE SIGNIS I DIE ZEICHEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3221323 9. DE CARlTATE I DIE LIEBE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3621363
10. DE MAGISTRATIBUS I DIE OBRIGKEIT . . . . . . . . . . . . . 3641365 11. DE SCANDALO I DAS ÄRGERNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . 3701371 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergänzende Sekundärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
379 385 395
VORWORT
Das Buchprojekt wurde vom Kirchenamt der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) angeregt und in Auftrag gegeben, da für den Studienbetrieb eine Übersetzung der »Loci communes« dringend benötigt wird.* Ähnlich wie in meiner Übersetzung der Apologie und des Traktats in »Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche« (GTB 1289, 31991) habe ich in dieser Übersetzung auf Wörtlichkeit Wert gelegt. Es versteht sich von selbst, daß der häufig vom Urtext abweichende Vulgatatext der Loci sowie seine Numerierung belassen wurde, sosehr solche Stellen in den Fußnoten in der heute üblichen Numerierung zitiert werden. In runder Klammer stehen Übersetzungsalternativen oder bei freien Übersetzungen die wörtliche. In eckigen Klammern stehen Zusätze des Bearbeiters zum besseren Verständnis des Textes. Es wurde der von H. Engelland herausgegebene (Melanchthons Werke in Auswahl II/1 hg. von R. Stupperich, 1952) lateinische Urtext abgedruckt und übersetzt. Die Numerierung der Kapitel (Grobgliederung) und die Aufgliederung der jeweiligen Kapitel in kleine Einheiten (Feingliederung) mit arabischen Ziffern stammen vom Übersetzer, ebenso wie die Einteilung in kleinere Abschnitte, die keine inhaltliche Zäsur markieren und den Zusammenhang nicht zerreißen wollen. Der Fußnotenkommentar will die Quellen, auf die Melanchthons Aussagen in der Loci zurückzuführen sind, aufzeigen (früher Luther, Erasmus u. ä.), und er will außerdem die scholastischen Lehrmeinungen, die von den Loci kritisiert werden oder auf die sie bezug nehmen, benennen. Er will darüber hinaus aber auch Fachbegriffe erklären und, wenn erforderlich, über spätere Korrekturen im Denken Melanchthons informieren. Es war u. a. die Absicht, in diesem Kommentar die Scholastik, die der Student oft nur aus der Sekundärliteratur kennt, direkt in ihren Texten zugänglich zu machen. Das Bibelstellen- und Sachregister verweist nicht auf die Seitenzahl, sondern auf die Ziffern der Grob- und Feingliederung (5,7 = Kap. 5, Nr. 7), die vorne im Text jeweils auch noch oben in den Kolumnen, und zwar innen auf den Seiten, genannt werden. Die Seitenzahlen stehen außen auf den Seiten. Mit der Abkürzung W ist der Widmungsbrief gemeint, mit der Abkürzung A wird auf eine Ziffer in den Anmerkungen verwiesen. Die Fußnotenverweise erscheinen doppelt, im lateinischen wie deutschen Text. Im Sachregister * Die Übertragungen der >>Loci communes>Sententiarum libri IV« = >>4 Bücher der Grundsätze«. Diese grundlegende Dogmatik des Mittelalters steht unter den 4 Leitthemen: 1. Trinität, 2. Schöpfung, 3. Inkarnation, 4. Sakramente, nach denen sich die mittelalterlichen Handbücher im großen und ganzen orientierten. Anders die Melanchthonschen Leitthemen: Sünde, Gesetz, Gnade (Anm. 20 und 26) 17. inepte =wörtlich unbrauchbar (Adv.) 18. Die Summa war eine systematische Zusammenfassung des theologischen Wissensstoffes im Mittelalter und seit dem 12. Jh. Titel dieser Werke. 19. vestigare wörtlich: aufspüren, ausspionieren. Dieser Satz >>Mysteria divinitatis rectius adoraverimus quam vestigaverimus« ( = >>d. Geheimnisse der Gottheit sollten wir lieber anbeten als sie zu erforschen«) geht wohl auf Gedanken von Erasmus zurück, der in seiner >>Ratio seu compendium verae theologiae« von 1519 zur Umschreibung seiner >>philosophia caelestis« (>>himmlischen Philosophie«) ähnliches a'usführt. Er vergleicht die >>göttliche Weisheit>heilige Schwelle>contingere«), das Zufällige, Zustoßende, Widerfahrende, Unvorhersehbare, Nichtnotwendige wird in der Scholastik von der >>necessitas>necessarius>Vorsehung«, die alles voraussieht (>>praedestinatio est pars providentiae« Summa th. I qu. 23 art. 3 und art. 1) erblicken. Melanchthons Lehre fußt auf Luther, der schon in der Heidelberger Disputation von 1518 die These verfocht: >>Der freie Wille ist nach der Sünde [nach dem Fall] eine Sache, die in einem leeren Namen besteht ... « = >>Liberum arbitriumpost peccatum res est de solo titulo ... « (WA 1 S. 359 Z. 33). Luther hat den Satz erneut in der Assertio von 1520 verteidigt unter Verweis u. a. auf Röm. 9,18 und Eph. 1,11 (WA 7 S. 142ff. S. 145). In der Assertio steht auch die These >>Es ist in keines [Menschen] Hand, irgend etwas Böses oder Gutes zu ersinnen, sondern alles geschieht mit absoluter Notwendigkeit« = >>Nulli est in manu sua quippiam cogitare mali aut boni, sed omnia de necessitate absoluta eveniunt« (WA 7 S. 146 Z. 6ff.). Der zweite Teil dieser These wird in unserem Text 1,19 von Melanchthon in etwas anderer Formulierung übernommen: »omnia quae eveniunt, necessario iuxta divinam praedestinationem eveniunt« = »alles, was geschieht, geschieht notwendig gemäß der göttlichen Vorherbestimmung«. Bekanntlich
1,39-42
1. Die Kräfte des Menschen
35
im Urteil über die Natur geirrt. 39 Wir werden aber über die Vorherbestimmung etwas später an geeigneter Stelle reden und in aller Kürze widerlegen, was die Sophisten über diese Sache in gottloser Weise ersonnen haben. 58 40 Eck meint,S 9 [Laurentius] Valla 60 habe, als er den Satz vom freien Willen der Schulen in Frage stellte, mehr wissen wollen, als er gelernt hätte - gewiß ein besonders witziger Schwätzer. Wenn aber jene Unholde uns ebenfalls vorwerfen, daß ein Sprachlehrer sich in der Theologie herumtreibt, 61 was sollten wir antworten, wenn nicht, daß sie eine Sachtrage nicht nach dem Autor beurteilen? 41 Denn es kommt jetzt nicht darauf an, was wir öffentlich als Fach ausgeben, sondern ob das, was wir lehren, wahr ist oder das Gegenteil. Jedenfalls darf die Erklärung heiliger Dinge nicht für etwas, was uns fremd ist, gehalten werden, wenn wir Christen sind, da ja die christliche Lehre allen gemeinsam sein muß. I. 42 Wenn man aber die Kraft des menschlichen Willens nach dem Fassungsvermögen der Natur beurteilt, so kann nach der menschlichen Vernunft nicht geleugnet werden, daß es in ihr eine gewisse Freiheit in äußeren Werken gibt, wie du selbst die Erfahrung machst, daß es in deiner Macht steht, einen Menschen zu grüßen oder nicht zu grüßen, dieses Gewand anzuziehen oder nicht anzuziehen, Fleisch zu essen oder nicht zu
wurde die Wiclif'sche These »omnia de necessitate absoluta eveniunt«, die Luther (und Melanchthon) übernimmt, vom Konzil von Konstanz 1415 verworfen (D 1177). Daß sich die Streitschrift des Erasmus >>De Iibero arbitrio« (1524) primär gegen diese deterministische These richtet, wurde oft übersehen (I a 10, I b 2, II a 16, II b 2, II b 8, III a 6 u. o. Ausg. Wiss. Buchges. 1969) Melanchthon hat seine deterministische Prädestinationslehre später aufgegeben, wie die 2. und 3. Ausgabe der Loci und viele andere Äußerungen zeigen. Erstmals geschah dies - wohl unter dem Einfluß der Kontroverse zwischen Erasmus und Luther - in den >>Scholia in epistolam Pauli ad Colossenses« von 1527, wo unter Preisgabe der absoluten Prädestination vom freien Willen und der vollen Urteilsfähigkeit des natürlichen Menschen im weltlichen Bereich und in dem der bürgerlichen Gerechtigkeit die Rede ist. (C. R. 4 S. 223 ff., 230 ff. ). Die Frage der Prädestination wird im Augsburger Bekenntnis (1530) und der Apologie (1531) bewußt ausgelassen - ebenso wie in den Bekenntnisschriften Luthers (Gr. und Kl. Katechismus, Schmalkald. Artikel). Zu Determinismus und Prädestination bei Luther und Melanchthon vgl. R. Seeberg, Lehrb. d. Dogmengesch. IV 1 S. 188ff. und IV 2 S. 441ff. 59. So J. Eck, Chrysopassus 1514 60. Melanchthon hat L. Valla's Determinismus, den er hier verteidigt, später abgelehnt (C. R. 21 S. 373) 61. Excusatio Eckii ad ea, quae falso sibi Phi!. Melanchthon grammaticus Wittenb. super Theologica Disputatione Lipsica adscripsit 1519
36
1. De hominis viribus
1,43-47
vesci carnibus aut non vesci62 • 43 Et in hanc externorum operum contingentiam63 defixerunt oculos philosophastri64 , qui libertatem voluntati tribuere. Verum quia deus non respicit opera externa, sed internos cordis motus, ideo scriptura nihil prodidit de ista libertate. Qui externa et personata quadam civilitate mores fingunt, huiusmodi libertatem docent, nempe philosophi ac recentiores theologistae. II. 44 Contra interni affectus non sunt in potestate nostra. Experientia enim usuque comperimus non posse voluntatem sua sponte ponere amorem, odium aut similes affectus, sed affectus affectu vincitur, ut, quia laesus es ab eo, quem amabas, amare desinis. Nam te ardentius quam quemvis alium amas. 45 Nec audiam sophistas6S, si negent pertinere ad voluntatem affectus humanos, amorem, odium, gaudium, moerorem, invidentiam, ambitionem et similes; nihil enim nunc de fame aut siti dicitur. 46 Quid enim est voluntas, si non affectuum fons est? Et cur non pro voluntatis vocabulo cordis nomen usurpamus? Siquidem scriptura potissimam hominis partem cor66 vocat adeoque eam, in qua nascuntur affectus. Fallunt autem scholae67 , cum fingunt voluntatem per naturam suam adversari affectibus aut posse ponere affectum, quoties hoc monet consulitve intellectus.
111. 47 Qui fit igitur, cur saepe diversum ab affectu homines eligamus? Principio, quod nonnunquam aliud in opere externo eligimus, quam quod cupit cor seu voluntas, fieri potest, ut affectu vincatur affectus, ut negari non potest, quin voluptatum amans sit Alexander Macedo, tarnen quia gloriam magis ardet, deligit laborem, voluptates 62. Diese Einschränkung des Determinismus kennt auch Luther (vgl. F. Loofs, Leitfaden z. Stud. d. Dogmengesch. '1906 S. 759f.). Der Determinismus wird später von Melanchthon aufgegeben, erstmals in den »Scholia in epistola Pauli ad Colossenses>voluntas est ex se determinata ad bonum ... «, >> ... voluntas cum sit libera, potest sufficienter se determinare: igitur non indiget alio determinante ... «)(In sent. lib. III dist. 33). Der Wille ist absolut frei, er kann wollen oder nicht wollen, so oder anders wollen. (In sent. lib. II dist. 37 qu. 2; dist. 25). Er kann folglich auch gute Taten aus sich >>hervorholen« eigentlich >>herauslocken« (>>elicere«) (In sent. lib. II dist. 28 qu. un., lib. Ill dist. 33, qu. un.) Sogar vom Gebot, Gott zu lieben, behauptet Duns Scotus: >>der Wille ist angehalten, die Tat dieses Gebots ... [aus sich] hervorzuholen/hervorzulocken« (>>Ad actum ... huius praecepti ... eliciendum tenetur voluntas«). Wenn er das aus eigener Kraft schafft, >>macht er sich aufnahmefähig für die Gnade
39
1. Die Kräfte des Menschen
1,48-52
Mazedonien, obwohl vergnügungssüchtig, dennoch die Strapaze wählt, weil er noch begieriger auf Ruhm brennt. [Infolgedessen] verschmäht er die Vergnügungen, nicht weil er sie nicht liebt, sondern weil er den Ruhm heftiger liebt. 48 Wir sehen nämlich, daß in den einen Naturanlagen diese, in den anderen jene Affekte vorherrschen, jeder wird von seiner eigenen Begierde gezogen. In niedrigen Naturen herrscht die Habgier, in den edleren nach dem Urteil der Menschen das Streben nach gutem Ruf und Volksgunst. IV. 49 Ferner kann es vielleicht auch vorkommen, daß man etwas ganz und gar gegen alle Affekte wählt. Wenn das geschieht, geschieht es aus Heuchelei, z. B. wenn einer irgendjemanden, den er von Herzen haßt und von Herzen böse will, gütig, höflich und schmeichlerisch behandelt - vielleicht ohne einen bestimmten Grund. 50 Selbst wenn er auch nicht fühlt, daß er von einem anderen Affekt besiegt wurde- gewisse Naturen sind ja in einem Maße höflich, daß sie selbst die, die sie hassen, streicheln - ich sage, so ein Mensch heuchelt Höflichkeit in einem äußeren Werk, das naturgemäß den Anschein von Freiheit erweckt. 68 51 Und das ist in der Tat jener Wille, den die törichten Scholastiker für uns erdichtet haben, versteht sich, als eine so große Kraft, die die Leidenschaft mäßigen und zügeln kann, sobald du mit ihr ausgerüstet bist, - z. B. wenn sie ihre erdichteten BuBanschauungen lehren. 52 Sowie du mit ihr ausgerüstet bist, habe - meinen sie - der Wille die Kraft - wie sie sagen - gute Taten hervorzubringen (hervorzulocken). Wenn du jemanden hassen solltest, könne der Wille bestimmen, daß er diesen nicht weiterhin hassen will. Obgleich wir von Natur gottlos sind - ich sage nicht [nur], wir lieben ihn nicht, sondern wir verachten ihn geradezu lehren sie, der Wille könne es fertigbringen, Gott weiterhin zu lieben. 69 aufgrundeiner Billigkeit>disponit se de congruo ad gratiam .Heide>Gott über alles lieben« (>>Unus paganus nutritus inter Christianos potest ... Deum super omnia diligereGott einen Menschen [in Gnaden] annehmen kann rein aufgrund seiner natürlichen Fähigkeiten, wie wenn er würdig wäre des ewigen Leberis .>Deus potest aliquem acceptare in puris naturalibus tamquam dignum vita aeterna oo.«) ohne einen übernatürlichen Habitus, der ihn dazu befähigt. (In sent. lib. 1II qu. 9). G. Biel behauptet ganz ähnlich: Der natürliche Mensch >>kann die Tat, Gott über alles zu lieben, aus seinen eigenen natürlichen Fähigkeiten hervorbringen (hervorlocken), auch wenn die Gnade nicht eingegossen wurde«. (>>posset actum dilectionis Dei super omnia elicere ex suis naturalibus, etiam si gratia non infundereturDie Gnade ist nicht erforderlich, um diese Tat hervorzulocken, durch die [der Mensch] aufnahmefähig gemacht wird zum Empfang der Gnade oo.>non requiritur gratia ad eliciendum actum illum, quo disponitur ad suscipiendum gratiam oo.«) (In sent. lib. II dist. 28 qu. un. art. 3). -Ähnlich äußert sich Eck (Löcher, Reformationsakten III S. 294) 00
00
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1. De hominis viribus
1,53-59
53 Quaeso te, mi lector, annon putas insanire, qui talem nobis voluntatem finxerint. Atque utinam contingat mihi sophista, qui haec calumnietur, ut possim illam impiam, stultam, male philosophicam de voluntate sententiam iusto volumine et integra disputatione confutare. 54 Nam cum is, qui odit, statuit ponere odium, nisi revera fuerit vehementiore affectu victus, plane est fictitia quaedam intellectus cogitatio, non voluntatis opus. Si statuat Paris ponere Oenones70 amorem, nisi fuerit victus revera vehementiore affectu, fucata fallaxque cogitatio intellectus est. 55 Fieri potest, ut diversum imperet cum intellectu cor tuum membris exterioribus, linguae, manibus, oculis, atque est affectus animus, quia natura mendaces sumus, veluti linguae oculisque imperabat Joab, ut quam blandissime videretur compellare Amasan, cordi vero imperare non potest, ut ponat affectum, quem concepit71 • Ponit autem, cum vehementiori cupiditate victus fuerit hic affectus, quo occupatur.
V. 56 Non negant affectus scholae, sed vocant.infirmitatem naturae, satis esse, si actus elicitos diversos habeat voluntas. At ego nego vim esse ullam in homine, quae serio affectibus adversari possit, censeoque actus illos elicitos72 non nisi fictitiam cogitationem intellectus esse. 57 Nam cum corda deus iudicet73 , necesse est cor cum suis affectibus summam ac potissimam hominis partem esse74 • Alioqui, cur hominem ab imbecilliore parte deus aestimaret et non potius a meliore, si qua voluntas est alia a corde et affectuum parte melior ac fortiorT 5 58 Quid hic sophistae respondebunt? Quod si vocabulo cordis, quod usurpat scriptura, uti maluissemus quam Aristotelico vocabulo voluntatis, facile cavissemus hos tarn pingues, tarn crassos errores. Vocabat quidem Aristoteles voluntatem delectum illum rerum in externis operibus, qui fere mendax est. 59 Sed quid ad christianam disciplinam externa opera, si cor sit insincerum? Praete-
70. erste Gemahlin des Paris 71. 2. Sam. 20,9f. 72. Im Anschluß an Duns Scotus behauptet G. Biel vom »liberum arbitrium« (>>freien Willen«) des natürlichen Menschen >>posset actum dilectionis Dei super omnia elicere ex suis naturalibus« (>>er kann das Werk, Gott über alles zu lieben, aus seinen eigenen natürlichen Kräften herausholen/hervorlocken«)
1,53-59
1. Die Kräfte des Menschen
41
53 Ich frage dich, mein Leser, meinst du nicht, sie haben den Verstand verloren, der sie uns einen solchen Willen weismachen wollten. Liefe mir doch dieser Sophist in die Hände, der dies [so] verdreht, damit ich diese gottlose, törichte, übel philosophische Lehrmeinung vom Willen durch ein gut begründetes Buch und eine unangreifbare Disputation widerlegen könnte. 54 Denn wenn der, der haßt, [selbst] bestimmt, den Haß abzulegen, so ist das platterdings eine Ausgeburt des Verstandes, nicht ein Werk des Willens - es sei denn [der Betreffende] ist wirklich von einem stärkeren Affekt überwältigt worden, [der den Haß besiegt]. Wenn Paris beschließt, die Liebe zu Oenone70 aufzugeben, so ist dies eine geschminkte, trügerische Vorstellung des Verstandes - es sei denn er wurde tatsächlich von einem stärkeren Affekt überwältigt. 55 Es kann geschehen, daß dein Herz mit dem Verstand den äußeren Gliedern, der Zunge, den Händen und Augen etwas Entgegengesetztes befiehlt, und dabei ist doch ein Affekt die [treibende] Absicht, weil wir von Natur verlogen sind; gleichwie Joab der Zunge und den Augen befahl, Amasa, wie es schien, überaus liebevoll anzureden, er aber nicht dem Herzen befehlen kann, den Affekt aufzugeben, mit dem es »schwanger« geworden ist. 71 Aufgeben kann [das Herz] ihn dagegen [nur], wenn dieser Affekt, von dem es besetzt ist, von einer heftigeren Leidenschaft überwältigt wurde. V. 56 Die Schulen [der Scholastik] bestreiten nicht die Affekte, aber sie nennen sie Schwäche der Natur; es sei genug, wenn der Wille in sich Taten habe, die von ihm hervorgeholt werden und die sich [den Affekten] widersetzen. Aber ich bestreite es, daß eine Kraft im Menschen ist, die sich ernsthaft den Affekten widersetzen kann, und ich meine, jene hervorgeholten Taten 72 sind nur eine Fiktion des Verstandes. 57 Denn wenn Gott die Herzen beurteilt, 73 muß das Herz mit seinen Affekten der höchste und wichtigste Teil des Menschen sein. 74 Wenn andernfalls der vom Herzen und dem Bereich der Affekte verschiedene Wille besser und stärker ist/5 warum schätzt Gott den Menschen [dann] nach der schwächeren Seite und nicht vielmehr nach der besseren ein? 58 Was werden hier die Sophisten antworten? Wenn wir lieber das Wort »Herz«, das die Schrift gebraucht, als das aristotelische Wort »Wille« hätten benutzen wollen, hätten wir uns leicht vor diesen so plumpen und groben Irrtümern gehütet. Aristoteles nannte ja den Willen jene Auswahl der Dinge in den äußeren Werken, die meistens trügerisch ist. 59 Aber was sind äußere Werke im Vergleich zur christlichen Lehre, wenn das Herz 73. Ps. 7,10; Ps. 17,3; Jer. 11,20; 12,3; Röm. 8,27; 1. Thess. 2,4; Hebr. 4,12; Offbg. 2,23 74. siehe Anm. 66 75. Zur zentralen Rolle, die der Wille bei Duns Scotus und im Skotismus spielt, siehe Anm. 37 und 69
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1. De hominis viribus
1,60-65
rea ipse etiam Aristoteles non prodidit actus illos elicitos, quos Scotus confinxie6 • Sed nunc non tarn ago, ut illos confutem, quam ut doceam te, christiane lector, quid sequi tu debeas. Fateor in externo rerum delectu esse quandam libertatem77 , internos vero affectus prorsus nego in potestate nostra esse. 60 Nec permitto aliquam esse voluntatem, quae affectibus adversari serio possit. Atque haec quidem de hominis natura dico. Nam qui spiritu iustificati sunt, in iis affectus boni cum malis pugnant, sicut infra docebimus.
VI. 61 Praeterea, quid attinet iactare externorum operum libertatem, cum cordis puritatem deus requirat? Pharisaica prorsus traditio est, quidquid de libero arbitrio, de iustitia operum stulti homines et impii conscripserunt. 62 Iam ubi affectus paulo vehementior fuerit, fieri non potest, quin erumpat, id quod dici solet: Naturam licet expellas furca, tarnen usque recurree8 • Iam et quam multa fiunt a nobis et in speciem optima et quae nos ipsi pro bonis iudicamus, quod turpem affectum non videmus, unde proficiscitur opus? 63 »Est« enim »via quae videtur«, inquit Solomon, »homini bona, cuius extrema ducunt ad mortem« 79 • Et »cor hominis pravum et inscrutabile« esse, dicit Hieremias propheta80 • Et David: »Delicta quis intelligit?« Et »Ignorantias meas ne memineris.« 81 64 Adeo ad multa affectus rapit caecos homines, quae iudicare plane non possumus. Proinde christianam mentem oportet spectare, non quale sit opus in speciem, sed qualis apud animum affectus sit, non qualis est operum libertas, sed num qua sit affectuum libertas. 65 Praedicent liberi arbitrii vim Pharisaei scholastici, christianus agnoscet nihil minus in potestate sua esse quam cor suum. Atque utinam viderent stulti scholastici, quot animarum millia
76. Nach Duns Scotus >>ist der Wille« des natürlichen Menschen >>angehalten, ... die Tat dieses Gebotes, [Gott zu lieben, aus ihm) hervorzuholen« (>>hervorzulokken«) = >>Ad actum huius praecepti ... eliciendum tenetur voluntas>actus eliciti>Erbsünde ist ... das Hingerissensein, durch das wir zu Sünden weggerissen werden« (C. R. 21, S. 51f.). Zur Affekten- und Raptuslehre Melanchthons Anm. 83 93. Diese Herleitung der Erbsünde aus der Fortpflanzung und Zeugung ist u. a. vor allem auf Augustinus zurückzuführen, der sich dabei auf Röm. 5,12 beruft (Vulgataübersetzung >>in qua« >>in dem alle sündigten> ... omnia hominum opera sunt vere peccata>alle Werke der Menschen sind in
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2. De peccato
2,18-22
disputationemde peccato, gratia et lege, ubi peccatum docet propagatum in omnes homines 116 • Quomodo vero propagatum est unius peccatum, si non ab uno omnes nascuntur peccatores? Neque vero negari potest, quin de originali peccato eo loco Paulus disserat. 18 Nam si de suo cuiusque peccato loqueretur, non passet dicere unius delicto multos mortuos esse 11\ quod de actuali, quod vocant, peccato non posse dici, quis non videt, nisi calumniari quis texturn velit? 19 lam, si non est auctor peccati Adam, non erit solus Christus 118 auctor iustitiae, sed etiam Adam. ltem si de suo cuiusque peccato loquitur, cur pueri moriuntur, qui nondum admiserunt peccatum, quod vocant, actuale? 20 Et cum non nisi per peccatum mors irrumpat, necesse est pueros peccati reos esse peccatumque habere, at quod? certe originale. Loquitur autem Paulus de eo peccato, per quod omnes morti adiudicati sunt. Quin consideramus Paulini sermonis figuram. 21 Perinde enim atque hic ad Romanos, alias etiam Corinthiis scribit: »Sicut in Adam omnes moriuntur, ita in Christo omnes vivificabuntur.« 119 Huc pertinet Prophetae exclamatio: »Ecce in iniquitatibus conceptus sum et in peccatis concepit me mater mea.« 120 Significat enim David se natum esse peccatorem. 22 Praeterea, si »omne desiderium cogitationum humani cordis vanum est et pravum omni tempore« 121 , ut Genesis VI. scribitur, necesse est cum peccato nascamur. Iam si in Christo omnes benedicimur, necesse Wahrheit Sünden« StA I S. 55 Z. 18f., ähnlich Luther im Sermo de duplici iustitia 1519: »omne opus bonum est peccatum>jedes gute Werk ist Sünde>SoJus Christus>Christus alleinmeritum>Verdienstnunquam ... est sola et totalis causa meritoria>niemals ... ist es die einzige und gänzliche Verdienstursache>SoJus Christus>de libertate christiana>Christus solusFriedenChristus ... allein (solus) vertreibt die Nacht weltlicher Torheit>ChristuS>das einzige Ziel (unicus scopus) deines Lebens>Christus« ist >>das einzige Vorbild (unicus archetypus)>Christus allein (unus Christus) soll dir genügen>der Weg Christi>führt allein (sola) zur Glückseligkeit>Alles ist auf Christus zurückzuführenAllein Christusneuen PelagianernSühneleistung (satisfactio)
2,28-34
2. Die Sünde
59
28 Es gibt [Menschen], die dem Schein nach sehr ehrenwert leben; und auch Paulus bezeugt, daß er, bevor er Christus erkannte, so lebte, daß man ihn nicht tadeln konnte. Diese [Menschen] haben nichts, womit sie großtun könnten, weil ja ihre Herzen den schändlichsten und erbärmlichsten Affekten verfallen sind, die sie nicht [einmal] wahrnehmen. 29 Was dann, wenn Gott ihnen einmal - wie im Tod - die Augen öffnet, damit die kleinen Heiligen ihre Laster und Krankheiten erkennen? Wollten sie doch erkennen, was bei Jesaja steht? »Alle Ehre des Fleisches ist gleich wie die Ehre des Heues«. 127 30 Du siehst, wie abgründig, ja wie unerforschlich die Bosheit des menschlichen Herzens ist. Und unsere Sophisten schämen sich noch nicht einmal, die Gerechtigkeit der Werke 128 zu lehren, die Sühneleistungen (Genugtuungen) 129 und die philosophischen Tugenden 130 zu lehren. 31 Mag sein, in Sokrates war eine gewisse Standhaftigkeit, in Xenokrates Keuschheit, in Zenon Mäßigkeit. Doch darf man sie nicht für wahre Tugenden halten, sondern für Laster, weil sie in unreinen Herzen waren, ja weil diese Schatten von Tugenden durch Selbstliebe aus Selbstsucht entstanden sind. 32 Sokrates war geduldig, aber doch ehrliebend oder doch wenigstens selbstgefällig im Blick auf [seine] Tugend. Cato war tapfer, aber aus Ruhmliebe. Gott aber überschüttet die Heiden, die Gottlosen und alle möglichen [Leute] mit den Schatten solcher Tugenden, wie er ihnen Schönheit, Reichtum und ähnliche Gaben schenkt. 33 Und da die ganze menschliche Vernunft diese äußere Maske und Larve der Tugend bewundert, empfehlen uns unsere falschen, durch das blinde Urteil der Natur gefälschten Theologen die philosophischen Studien an sowie die philosophischen Tugenden 131 und die Verdienste äußerer Werke. Was lehren im allgemeinen auf der anderen Seite die Philosophen, wenn sie sehr gut lehren, wenn nicht das Vertrauen und die Liebe zu uns selbst. 34 In [seinem Buch] »Die Grenzen des Guten und Bösen« schätzt M. Cicero jedes Tugendsystem nach der Liebe zu uns selbst und nach der Selbstsucht ein. Wieviel Stolz und Kälte ist in Plato! Es scheint mir fast unmöglich zu sein, für die Sünden>fomes in carne« (>>Zunder im Fleisch«) mit Ockam definiert als >>qualitas carnis inordinata, inclinans appetitum sensitivum ad actum deformem et vitiosum in habente iudicium rationis>die ungeordnete Eigenschaft des Fleisches, die den sinnlichen Trieb hinlenkt zur rohen und lasterhaften Tat in dem, der die Urteilskraft der Vernunft besitztAber die richtige Handlungsweise (rectitudo) des natürlichen Willens, nämlich seine Freiheit, ist durch die Sünde nicht beschädigt (non corrumpitur) ... und ihr ist die richtige Handlungsweise (rectitudo) von Gott an erschaffen ohne Verkrümmung (sine curvitate), aber nicht ohne die Möglichkeit, sich zu verkrümmen oder zu sündigen (non sine potentia se incurvandi seu peccandi)qui facit peccatum, servus est peccati. Si filius vos liberaverit, vere liberi estis>wer Sünde tut, ist der Sklave der Sünde. Wenn der Sohn euch befreit hat, seid ihr wirklich frei«) WA 1 S. 359 Z. 33 f., S. 360 Z. 2, S. 359 Z.35-37. Melanchthon zeigt sich sicher auch von Erasmus beeinflußt, der in seiner Römerbriefparaphrase von 1517 programmatisch in der >>Inhaltsangabe>Argumentumdoppelten Versklavung oder Freiheit>duplex servitus aut libertasEntweder sind wir befreit von den Sünden oder wir dienen den Sünden frei von der Gerechtigkeit«. Diese zwei Freiheiten oder Knechtschatten sind bei Erasmus im Kontext der Dialektik »caro«- »Spiritus« zu sehen (Opera omnia hg. J. Clericus Bd. VII S. 775f.)- ähnlich wie bei Melanchthon in unserem Text. Auch in seiner Schrift »De libero arbitrio« hat Erasmus die Lehre der Römerbriefi>araphrase, daß Gott alleine das Heil wirkt (zu Röm. 9,19 und 9,21 S. 808 op.
2,80-82
2. Die Sünde
77
sieht, sagt er, ein Gesetz in seinen Gliedern, das ihm widersteht und ihn gefangen nimmt«. 185 Dieses Gesetz der Glieder oder [diese] Tyrannis der Sünde besteht in einer glühenden Begierde und einem drängendem Verlangen der Sünde, die uns angeboren ist. 186 Und von denen, die zum Teil durch den Geist gerecht, zum Teil durch das Fleisch Sünder sind, jedoch unten [mehr]. 80 Hieraus folgt auch, daß [uns] Unmögliches vorgeschrieben wurde, wie wir unten ausführlicher erörtern werden. Was hinlänglich aus der Stelle erhellt, die wir oben aus dem 8. Kapitel an die Römer angeführt haben: »Das Fleisch kann nicht dem Gesetz Gottes unterworfen werden«. 187 Ebenfalls [folgt] aus dem, was auch dort steht: »Dem Gesetz war es unmöglich«, 188 zu rechtfertigen, d. h. das Gesetz, das darauf hinweist, was wir tun sollen, genügte nicht, sondern es mußte auch durch Christus der [Hl.] Geist hinzu kommen, der uns entflammte, das Gesetz zu lieben. 81 Und hier stürzt jene gottlose und törichte Meinung der Moralphilosophie und der Theologen des freien Willens zusammen, die die Skotisten mit vollen Backen hinausposaunen: der Wille könne sich jedem Befehl der richtigen Vernunft angleichen, d. h. der Wille könne wollen, was die richtige Vernunft, der richtige Entschluß des Verstandes vorschreibt. 189 Im Gegensatz hierzu sagt Paulus, dem Gesetz sei es unmöglich gewesen, zu rechtfertigen, d. h. es genügte nicht, daß das Gesetz vorschrieb, was wir tun sollten, weil das Fleisch schwach wäre und dem Gesetz Widerstand leistete. 82 Aber hier warfen sie uns an den Hals, daß sie einen neuen Willen ausgedacht hätten, der hervorgebrachte Taten 190
185. 186. 187. 188. 189. 190.
omnia Bd. 7 hg. Clericus), wenn auch nicht unter Ausschluß des Menschen und seiner Entscheidung, grundsätzlich aufrechterhalten (III a 8, III a 13, IV 2, IV 8, IV 9 Ausg. Wiss. Buchges. 1969). In der Scholastik finden wir die Lehre von der »servitus peccati« (»Versklavung durch die Sünde«) u. a. vor allem bei Petrus Lombardus (Sent. lib. II dist. 25, 9; dist. 38,3) und in der augustinischen Schultradition. Sie wurde vom Konzil von Orange 529 dogmatisiert (der Mensch ist ein »servus« der Sünde D 371) und vom Tridentinum rezipiert (D 1521). Röm. 7,23 Daß Sünde Konkupiszenz, nicht nur Karenz (Mangel) ist vgl. Anm. 109 Röm. 8,7 Röm. 8,3 zum näheren Nachweis, daß der Wille des natürlichen Menschen bei Duns Scotus im Skotismus die volle Autonomie behielt, siehe Anm. 179 und 69 Die actus eliciti, die hervorgeholten (herausgelockten) Werke des Willens des natürlichen Menschen - wie sie der Skotismus lehrte - sind ein Hauptkontroverspunkt der Reformation. Ausgangspunkt ist der gegen Thomas v. A. gerichtete Voluntarismus von Duns Scotus, wonach »der Wille« grundsätzlich »selbstbestimmend« (»ex se determinata«) und »unvorausbestimmt« (»indeterminata«)
78
2. De peccato
2,83-86
affeetus. Quodsi seripturae serrnonern ae phrasin observassent, faeile vidissent rnendaeia et vanas eogitationes intelleetus esse, quae eonfinxerunt de aetibus elieitis. Possunt enirn irnpelli exteriora rnernbra alio nonnunquarn, quarn quo trahebat affeetus, sed hoe eurn fit, per sirnulationern ae rnendaeiurn fit. 83 Non possurn hie rnihi ternperare, quarnquarn de vi legis postea sirn dieturus abunde, quin obiter indieern ehristiano leetori fatuas, insulsas et irnpias sophistarurn argutias, quibus probant posse nos per vires naturae diligere deurn. Sie enirn argutantur: Diligi potest minus bonurn, nernpe ereatura quaepiarn, posse igitur et rnaius bonurn diligi. Seilieet hie est serrno ehristianorurn, quern Paulus vult esse sale eonditurn 191 ? 84 Adeo hoe est et festivurn et rnere Aristotelieurn et Aristotelicis dignurn theologis eornrnenturn. Prirnurn ea est arnoris natura, ut non arnernus, nisi quae nobis bona, turn iueunda turn eornrnoda videntur, adeoque quidquid arnarnus, nostri eornrnodi respeetu arnarnus. Arnas opes, arnas peeuniarn, non quod ipsa per sese bona res sit, sed quod usibus vitae tuae servitura videtur. 85 Sie deurn non arnas, quanturnvis bonurn, nisi tuis rationibus tibique utilern esse sentias. Iarn etiarn, si hae ratione respeetu tui eornrnodi arnares, serviliter arnares et pravo perversoque affeetu naturae planeque peeeares. At ne sie quidern unquarn arnas; neque enirn ex deo ulla eornrnoda sentiuntur, nisi per spiriturn saneturn iarn eor sit purifieaturn et inseulpta sit puro pioque eordi dei benefieentia.
86 Quid autern, eurn eonscientia tibi deurn ostendit iraturn, interrninantern perpetuarn rnortern et illud horrendurn ternpus vultus sui? sie
ist »in der Art und Weise zu handeln, nämlich richtig und nicht richtigböseEselTaubeSchafeOhne Unterlaß lehrt er die Torheit, warnt vor Weisheit, beruft sich auf das Beispiel der Kinder, der Lilien, des Senfkorns, der Spätzlein, ... die nur von der Natur geleitet leben, frei von Wissen und Sorge>Formomnino totus homo caro est, quia non permansit in eo spiritus DeiEf..TI 'tL~, o'Üöei~ E~J.Jtoöoov xe'L'tm v6t.to~. 278 44 Sunt et in iure civili, quod ita vocant, pleraque affectus magis
humanos quam naturales leges prae se ferentia. Quid enim est a lege naturae alienius servorum captivitate? Et inciviliter nullis non contractibus praetexitur id, quod interest. Sed de bis alias. 45 Bonus vir attemperabit civiles constitutiones aequo ac bono, hoc est, turn divinis turn naturalibus legibus, contra quas, quidquid constituitur, non potest non iniquum esse. Et de legibus naturae hactenus, quas, si potes, exactiore subtilioreque ratione digerito. 279
De divinis legibus 46 Divinae leges sunt, quae per scripturas canonicas a deo sancitae
sunt. Ordines earum tres fecerunt: sunt enim aliae morales, aliae iudiciales, aliae ceremoniales280 • 47 Morales sunt, quae decalogo praescriptae sunt, in quas referat studiosus omnes leges, quae de moribus in tota scriptura proditae sune81 • Quoties enim eadem lex in scripturis repetita est? 48 Est autem observandum hic, ne decalogum exponamus de solis externis operibus partiamurque in consilia et praecepta more scholastico282 , quare paucis percurram legum formulas.
278. l&v 1045 ff. 279. Das Naturrechtssystem Melanchthons, das auch in die Apologie einging (Art. 4 Nr. 7 f.; Art. 23 Nr. 6, 9 ff., 60), ist der Versuch einer religiösen Weltgestaltung, die der aufkeimenden Säkularisierung der Welt in der Renaissance wehren wollte. Das Reich der Welt und das Reich Gottes, Gesetz und Evangelium, Recht und Rechtfertigung des Sünders dürfen aber nicht vermischt werden wie in der Spätscholastik, sie müssen unterschieden bleiben. Das Naturrechtssystem Melanchthons war wirkungsgeschichtlich bedeutsam - vor allem als Brücke zwischen Antike und Aufklärung. Nach W. Dilthey gab es dem »natürlichen System« des 17. Jahrhunderts die entscheidenden Anstöße (Ges. Schriften Bd. 2 1914 S. 162 ff., S. 247 f. ). Vgl. die >>fünf Grundwahrheiten der natürlichen
3,43-48
3. Das Gesetz
111
Gewalt soll mit Gewalt vertrieben werden, wie dieses Wort bei Euripides - »Ion« - lautet: 43 Es ist gut für die Glücklichen, die Frömmigkeit zu ehren. Wenn aber einer den Feinden Böses antun will, hindert ihn kein Gesetz. 278 44 Auch findet man im sogenannten bürgerlichen (weltlichen) Recht vieles, das eher menschliche Affekte zur Schau trägt als Naturgesetze [beinhaltet]. Denn was widerspricht mehr dem Naturrecht als die Gefangenschaft der Leibeigenen? Und in tyrannischer Weise wird ohne alle Verträge das als Vorwand benützt, was Interessen dient. Doch davon ein anderes Mal. 45 Ein guter Mann wird die bürgerlichen (weltlichen) Verordnungen an das, was recht und billig ist, d. h. an die göttlichen und natürlichen Gesetze anpassen und [alles], was gegen diese [Gesetze] verordnet wird, kann nur unrecht sein. Und soviel über die Naturgesetze, die du, wenn du kannst, noch exakter und subtiler aufgliedern müßtest. 279
Die göttlichen Gesetze 46 Göttliche Gesetze sind solche, die durch die kanonischen Schriften von Gott als heilige und unverbrüchliche Ordnung erlassen wurden. Man unterschied (schuf) drei Klassen unter ihnen: die einen sind nämlich die Moralgesetze, die anderen die Judizialgesetze, [wieder] andere die Zeremonialgesetze.280 47 Moralgesetze sind die [Gesetze], die in den Zehn Geboten vorgeschrieben sind, auf die der, der der Sache nachgeht, alle Gesetze, die in der ganzen Schrift über die Moral (Sitten) überliefert wurden, zurückführen kann. 281 Denn wie oft ist in der Schrift das gleiche Gesetz neu formuliert worden? 48 Doch es ist hier zu beachten, daß wir die Zehn Gebote nicht allein von den äußeren Werken her auslegen und sie nach scholastischer Sitte in Räte (Ratschläge) und Gebote einteilen. 282 Daher will ich in Kürze die Regeln der Gesetze durchlaufen. Religion>vetus lexVon den guten Werken>Weil ich allein Gott bin, sollst du auf mich alleine deine ganze Zuversicht, Trauen und Glauben setzen und auf niemanden anderS>Einen
3,49-56
3. Das Gesetz
113
49 Es besteht kein Zweifel, daß Christus die drei ersten Gebote - »Du sollst keine anderen Götter haben; du sollst den Namen deines Gottes nicht vergeblich führen; gedenke, daß du den Feiertag (Sabbat) heiligest« 283 - durch dieses Gesetz ausgelegt hat: »Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele und deinem ganzen Gemüt«. 284 50 Der Unterschied aber zwischen diesen drei Gesetzen scheint darin zu bestehen - wenn sie auch alle auf dasselbe abzielen, nämlich auf die wahre Verehrung Gottes: das erste [Gebot] Du sollst nicht andere Götter haben, bezieht sich eigentlich auf die Affekte,Z85 daß wir nichts lieben und nichts fürchten außer Gott und daß wir unser Vertrauen nicht auf unsere Güter, Tugend, Klugheit, Gerechtigkeit oder ganz auf irgendeine Kreatur setzen, sondern alleine auf Gottes Güte. 286 51 Diese Affekte stehen ganz und gar nicht in unserer Gewalt: von niemandem außer von wirklich geistlichen Menschen wird gespürf28\ was Vertrauen, was Furcht, was Liebe zu Gott ist. 52 Auf dieses Gesetz beziehen sich die meisten [Aussagen] in den prophetischen Büchern über die Gottesfurcht, das Gottvertrauen und ähnliches. 53 Nun schärfen uns aber die Worte dieses Gesetzes sonderbarerweise bald Vertrauen, bald Furcht ein. Denn wenn er sagt: Ich bin der Herr, dein Gott, ein starker Eiferer, der die Sünde der Väter heimsucht an den Kindern 288 usw., so schreckt er mit Drohungen und macht klar, daß die Gewalt seines Zorns zu fürchten ist. Wiederum, wenn er hinzufügt, Barmherzigkeit an denen zu üben bis ins tausendste Glied, die ihn lieben,Z89 schärft er uns hier nicht seine Güte ein und verlangt er nicht, ihn zu lieben und seiner Güte zu vertrauen usw.? 54 In allem aber wird Größeres verlangt als ich mit menschlichen Worten begreifen kann. 55 Die Scholastiker lehrten, Gott lieben heißt so viel wie wollen, daß Gott ist, [von ihm] hören, ihm nicht sein Reich mißgönnen und vieles Derartiges in viel zu dunklen Worten, als daß sie es selbst in ihren Schulen hätten verstehen können. Denn man kann nicht wissen, was es heißt, Gott zu lieben, wenn es nicht der [Hl.] Geist lehrt, d. h., wenn man es nicht - durch den [Hl.] Geist entzündet - wirklich erlebt. 290 56 Du weißt (hast) das Werk
287. 288. 289. 290.
Gott haben heißt, einen solchen haben, von dem du zuversichtlich erhoffst, daß du Hilfe erfährst in allem Bösen ... « = »Deum habere est talem aliquem habere, a quo contidas te adiuvari in omnibus malis ... >Von den guten Werken>daß wir nicht allein die
3,57-61
3. Das Gesetz
115
des ersten Gebotes: Gott vertrauen, Gott lieben und fürchten. 291 Das ist die Anbetung, von der Christus sagt: »Die wahren Anbeter werden den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten«. 292 Einem solchen Affekt wird von selbst der äußere Gottesdienst folgen, der [Gott] gefällig ist. 57 Das zweite Gebot warnt davor, Gottes Namen nicht gedankenlos in den Mund zu nehmen und gebietet mit klaren Worten, daß wir durch den Gebrauch des göttlichen Namens diesen Glauben selbst, ebenso wie die Furcht und Liebe zu Gott bezeugen. Und wie das erste Gebot eine positive Bedeutung hat, indem es Glauben und Liebe fordert, so hat auch dieses [Gebot] einen positiven Sinn und es fordert, daß wir den Namen und die Ehre Gottes rühmen, Gottes Namen anrufen, zum Namen Gottes fliehen wie zu einem ganz sicheren Hafen, »durch den Namen Gottes schwören«. 293 Deut. VI 58 Wir wollen mit David »seinem Namen« »auf Saiten spielen« 294 und wir wollen jenes [Wort] Salomos wieder zur Kenntnis nehmen: »Ein sehr sicherer Turm ist der Name Gottes«/95 laßt uns loben und rühmen die Wohltat Gottes gegen uns, laßt uns danken und alles, was durch uns getan wird, sei ganz und gar zum Lobe des Herrn, wie der Apostel sagt. 296 Du siehst: aus dem Ersten Gebot fließt das zweite [Gebot] hervor. 59 Das dritte Gebot befiehlt, daß der Feiertag (Sabbat) geheiligt wird, damit wir leer werden von unseren Werken, d. h. Gottes Werk geschehen lassen und erdulden: unsere Abtötung. 297 Das erste Gebot fordert den Glauben, das zweite das Lob des Namens Gottes, das dritte die Erduldung der Werke Gottes in uns. 60 Dieses Gebot verletzen vor allem die, die die moralischen Werke und die Kraft des freien Willens rühmen. Denn es verlangt die Abtötung des freien Willens. Und da das Volk des neuen Testaments einen ewigen Sabbat298 hat, ist es [ein Volk], dessen Fleisch ständig getötet wird und [dessen] Geist [ständig] lebendig gemacht wird. 299 61 Diese Verteidiger des freien Willens und Feinde des Kreuzes Christi, die sich durch ihre eigenen Werke und eigenen Bemühungen rechtfertigen, wissen weder etwas vom
Arbeit und das Handwerk anstehen lassen, sondern vielmehr, daß wir allein Gott in uns wirken lassen und wir nichts Eigenes wirken ... sanctigerecht und ungerecht zugleich« (>>simul sunt iusti et iniusti«) Scholien WA 57 S. 164 Z. 7 307. vgl. Anm. 69, 115
118
3. De lege
3,68-73
isque externis plures deos aut idola etc. Nos ut de affectibus308 exponamus legem, faciunt ipsa legis verba: »Diligas dominum deum tuum ex toto corde.« 68 Iam caro sese maxime amat, suis bonis, sua prudentia, sua iustitia fidit. Id est enim, quod ad Rom. VIII. ait Apostolus: »Caro quaerit, quae sua sunt et non potest legi dei subiici.« 309 Non potest igitur amare deum, fidere dei bonitate etc. 69 Magna et incomprehensibilis res est amare deum, nempe hilari pectore et grato complecti per omnia voluntatem divinam, etiam turn cum damnat et mortificat. 70 Quaeso itaque te, sophista, utrum inferos velle et perpetuum supplicium natura possit? Quod si neges posse, nega etiam posse a carne deum liberaliter amarP10 • 71 Reliqua praecepta, quae secundae tabulae dicuntur, exponit Christus: »Diliges proximum sicut te ipsum«, 311 et pleraque longa oratione in capite V. Matthaei312 • Et caritatis leges prope innumerabiles recenset apostolus capite XII. ad Romanos313 • Has vero etiam leges sophistae exposuerunt de externis taoturn operibus, nempe satisfactum esse legi, si caedem non facias, si palam non scorteries etc. 72 Contra Christus exponit legemde affectibus 314 idque affirmative. Lege: »non occides,« praecipit, ut simus corde erga quosvis dextro, candido, liberali, exposito ad quaevis officia, ne mal um malo retaliemus315 , ne litigemus de rebus nostris, breviter, ne resistamus malo316 , denique ut amemus etiam inimicos317 idque liberaliter et candide. 73 lta legi: »Non moechaberis,« satisfactum putant, si non designemus flagitium externo opere. Christus vero sie exponit, ut doceat exigi castitatem et puritatem cordis, ita ut neque cupiamus turpia. Reliqua in evangelio per sese diligens lector observabit.
308. 309. 310. 311.
zur Affektenlehre Melanchthons Anm. 83 aus Röm. 8,5 und 7. Zum Fleisch bei Paulus und Melanchthon Anm. 106 vgl. Anm. 124 3. Mose 19,18 (Mk 12,31); schon Luther vertrat die Meinung, die zweite Tafel (Gebote IV-X) richte sich an den Nächsten, die erste Tafel (Gebote 1-III) an Gott, ähnlich wie Melanchthon in diesem Abschnitt. »Eine kurze Form der zehn Gebote ... « WA 7 S. 205 Z. 8f.
3,68-73
3. Das Gesetz
119
ten 308 her auslegen, führen die Worte des Gesetzes selber aus: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen lieben«. 68 Nun liebt das Fleisch am meisten sich selbst und vertraut auf seine Güter, seine Klugheit und seine Gerechtigkeit. Das ist es nämlich, was der Apostel [im Brief] an die Römer VIII sagt: »Das Fleisch sucht das Seine und es kann sich nicht dem Gesetz Gottes beugen«. 309 Nicht kann es daher Gott lieben, Gottes Güte vertrauen usw. 69 Es ist etwas Großes und Unbegreifliches, Gott zu lieben, [was] freilich [heißt], in allem mit heiterem und dankbarem Herzen den göttlichen Willen zu umarmen, auch dann, wenn er verdammt und tötet. 70 Ich frage dich daher, Sophist, ob die Natur es fertigbringt, die Hölle zu wollen und die ewige Qual? Wenn du bestreitest, daß sie es kann, bestreite auch, daß Gott vom Fleisch freiwillig geliebt werden kann. 310 71 Die übrigen Gebote, die man die zweite Tafel nennt, legt Christus [so] aus: »Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst«311 , und [noch in] vielen [Worten] in der langen Rede im Kap. V des Matthäus. 312 Und der Apostel zählt im Kap. XII an die Römer schier unzählige Gesetze der Liebe auf. 313 In der Tat, sogar diese Gesetze deuteten die Sophisten allein auf die äußeren Werke, es sei nämlich dem Gesetz Genüge getan, wenn du kein Blutbad anrichtest, nicht öffentlich Hurerei treibst usw. 72 Christus dagegen legt das Gesetz von den Affekten [unseres Herzens] her aus/14 und dies in positivem Sinn: Mit dem Gesetz »Du sollst nicht töten« gebietet er, daß wir gegen jeden rechten, lauteren und edlen Herzens sind, offen für alle Dienste, daß wir nicht Böses mit Bösem vergelten, 315 nicht über unsere Angelegenheiten streiten, kurz, daß wir dem Bösen nicht widerstehen 316 und am Ende gar auch [unsere] Feinde lieben317 und dies aus edler und aufrichtiger Gesinnung. 73 So meinen sie [auch], dem Gesetz »Du sollst nicht ehebrechen!« sei Genüge getan, wenn wir durch eine äußere Tat keine Schandtat anrichten. Christus aber legt es so aus, daß er die Keuschheit und Reinheit des Herzens lehrt, so daß wir nicht einmal unanständige Dinge begehren sollen. Die übrigen [Gebote, wie sie Christus deutet], wird der fleißige Leser von selbst im Evangelium auffinden.
312. 313. 314. 315. 316. 317.
Mt. 5,21ff. Röm. 12,9-21 (13,8-10) zur Affektenlehre Melanchthons Anm. 83 Röm. 12,17 Mt. 5,39 Mt. 5,44
120
3. De lege
3,74-79
De consiliis 74 Est et hic foede ac impie erratum a sophistis, cum ex lege divina
fecerunt consilia, hoc est, docuerunt quaedam non exigi a deo necessario, sed suaderi tantum, ut si, cui libeat, obtemperet, liberantque periculo eum, qui non obtemperet318 • 75 Recensent autem inter consilia ea fere, quae sunt in capite V. apud Matthaeum3 ' 9 : Diligere inimicos, non resistere malo, nescire lites et contentiones fori, de male merentibus bene mereri, donare, mutuo dare cuivis egenti, desperata etiam sorte. 76 Haec omnia exigi dicimus et inter praecepta numeramus. Christus enim palam damnat eos, qui non diligunt nisi amicos, cum gentibus et publicanis aequat 320 • ltem eum, qui irascitur proximo aut qui fastidit proximum racha dicens, iudicii reum facie 2'.
77 Quod si consulebat tantum, ne irasceremur, quid interminabatur iudicium? Si liberum est irasci offendenti aut non irasci, cur poenas intentabat? Exigit, qui poenas intentat, non consulit. 78 Praeterea cum praeceptum sit diligi proximos, annon illa omnia, quae isti inter consilia numerant, amor complectitur? Et Paulus in cap. XIII. ad Romanos haec omnia refert in Iegern: »Diligas proximum sicut te ipsum.« 322 Et I. Johan. 111.: »Filioli, non diligamus verbo neque lingua, sed opere et veritate,« 323 id est, et ab animo candideque diligamus et illum amorem nostrum testernur studiis ac officiis. 79 Iam, si inter Ieges numerant, quod scripturn est: »Non concupis-
318. Es geht um den Gegensatz consilia - praecepta. In der mittelalterlichen Zweistufenmoral unterschied man die praecepta oder Gebote, die fürs Kirchenvolk galten, von den consilia, den Ratschlägen, den evangelischen Räten, die nur für Mönche und Heilige galten (Ehelosigkeit, Armut, Gehorsam etc.) - so schon Petrus Lombardus (sent. lib. 111, 36,3). Nach Thomas v. A. besteht der >>Unterschied« zwischen beiden darin, >>daß das Gebot (praeceptum) eine Notwendigkeit (necessitas) mit sich bringt, ein Rat (consilium) aber in einem Wunsch ( optio) besteht ... « Solche Räte >>über die Gebote hinaus>neuen Gesetz>nova IexGesetz der Freiheit>Iex libertatisalten Gesetz>Vetus IeXGesetz der Sklaverei>Iex servitutisDie Gebotekann der Mensch>Ziel>besser und
3,74-79
3. Das Gesetz
121
Die Räte (Ratschläge) 74 Auch hier haben die Sophisten in abscheulicher und gottloser Weise geirrt, wenn sie aus dem göttlichen Gesetz Ratschläge gemacht haben, d. h. gelehrt haben, etliche [Gesetze] würden von Gott nicht notwendig gefordert werden, sondern nur angeraten, so daß einer [nur], wenn es ihm gefällt, gehorcht. Wer nicht gehorcht, den befreien sie von der Anklage. 318 75 Den Räten zählen sie aber fast alles zu, was im Kapitel V bei Matthäus stehe 19 : die Feinde lieben, dem Bösen nicht widerstehen, von Streitsachen und Streitfragen bei Gericht nichts wissen wollen, bei denen, die Böses verdienen, sich mit Gutem verdient machen, schenken, jedem Bedürftigen leihen, auch wenn das Kapital nicht zurückerhofft werden kann. 76 [Doch] wir sagen, dies alles wird [von Gott] gefordert, [nicht nur angeraten] und wir zählen es unter die Gebote. Denn Christus verurteilt öffentlich die, die nur ihre Freunde lieben, die er mit Heiden und Steuerpächtern vergleicht. 320 Ebenso macht er den des Gerichts schuldig, der [seinem] Nächsten zürnt oder der seinen Nächsten verachtet, indem er »Nichtsnutz« zu ihm sagt. 321 77 Wenn er nur den Rat gab, daß wir nicht zürnen sollten, warum drohte er das Gericht an? Wenn es [uns] freisteht, dem Beleidiger zu zürnen oder nicht zu zürnen, warum drohte er die Strafen an? Wer Strafen androht, der fordert [etwas] und gibt nicht einen Rat. 78 Außerdem, wenn es ein Gebot, die Nächsten zu lieben, gibt, umfaßt nicht die Liebe all das, was diese unter die Räte rechnen? Und im Kap. XIII an die Römer zählt Paulus all das dem Gesetz zu »Liebe [deinen] Nächsten wie dich selbst«. 322 Und 1. Job. III [lesen wir]: »Ihr Kindlein, laßt uns nicht lieben mit dem Wort und mit der Zunge, sondern in der Tat und in der Wahrheit«, 323 d. h. wir sollen uns aufrichtigen Herzens lieben und diese unsere Liebe d-.!rch eifrige Bemühungen und Dienste ausweisen. 79 Ferner, wenn sie das Wort »Du sollst nicht begeh-
319. 320. 321. 322. 323.
schneller (melius et expeditius) erreichen«. Auf diesen >>evangelischen Räten« (>>Consilia Evangelica«) basiert nach Thomas das Mönchstum als der >>Stand der Vollkommenheit>Status perfectionisDie evangelischen Räte stehen nicht über, sondern unter den Geboten>Consilia evangelica non sunt supra, sed intra praecepta>Contra malignum J. Eccii iudicium ... >De votis monasticis ... «von 1521 schreibt: >>Gelübde stützen sich nicht auf Gottes Wort, sie sind vielmehr gegen Gottes Wort« = >>Vota non niti verbo Dei, immo adversari verbo Dei« WA 8 S. 578 Z. 4 f.
126
3. De lege
3,95-100
exigebat Mosaica lex voveri quidpiam, sed permittebat. Evangelium cum in totum sit libertas quaedam spiritus335 , prorsum ignorat votorum servitutem. 95 Et quantum mihi videtur, sola fidei et evangelicae libertatis ignoratione factum est, cur recepta sit vovendi consuetudo. Nec nihil pugnat cum fide, cum libertate spiritus vovendi ritus. 336 96 Docent etiam scholastici opus e voto factum praestare operi, quod citra votum fit. 337 Impii homines, pietatem ab operibus aestimantes et non potius a spiritu et fide! Et cur propter votum praeferunt opus, cum tarnen nec exigatur nec consulatur votum?
97 Deinde quaeso considera, quid devoveatur. Promittuntur coeliba-
tus, paupertas et obedientia. Coelibatum non nego consuli. 338 Sed cum ea sit imbecillitas carnis nostrae, ut Christus etiam neget omnes capere sermonem de coelibatu339 , quid attinet vulgare in tot hominum millia rem adeo ancipitem et periculosam? 98 Ex veteribus heremitis, quantum ex historiis colligi potest, pauci adeo fuere, qui feliciter cum carne dimicarint, cum tarnen sedulo emacerarent corpora fame ac siti essentque adversus insidias daemonis divinarum literarum cognitione munitissimi. 99 Nos quomodo vincemus in tanto luxu, in altissimo otio, adeo inermes, adeo ignari sacrarum literarum et evangelii, quo nisi sis instructissimus, infeliciter cum Satana congrediere? Et successus docet, quam prudenter voveamus.
100 Porro paupertas ab omnibus christianis ex1g1tur iure divino 340 ,
adeo non tantum ad monachos pertinet. Est autem paupertas evange-
335. 2. Kor. 3,17; Gal. 4-5 336. siehe die Bibelangaben Anm. 335. Melanchthon fußt hier wieder (vgl. Anm. 343) auf Luther, der in den »De votis monasticis ... >Laus stultitiae« (Nr. 54 Ausg. Wiss. Buchges. ). Zur Kritik Luthers an den Ausführungen dieses Kapitels der Loci über die Gelübdefrage vgl. W. Maurer, Der junge Melanchthon II S. 302f. 348. Mit der Tradition (siehe Anm. 280) unterscheidet Melanchthon drei Formen der >>göttlichen« oder biblischen Gesetze: die >>Moralgesetze« (>>leges moralesJudizialgesetze>leges iudiciales«) und >>Zeremonialgesetze>leges ceremonialesDie ganze Hl. Schrift >>ist« in zweierlei Worte eingeteilt, welche sind Gebot oder Gesetz Gottes und Verheißung oder Zusagen>Von der Freiheit eines Christenmenschen> ... universa scriptura totiusque theologiae cognitio pendet in recta cognitione legis et evangelii>die ganze [Hl.] Schrift und Theologie hängt von der rechten Erkenntnis von Gesetz und Evangelium ab>Lex et evangelium proprie in hoc different, quod Iex praedicat facienda et omittenda ... Evangelium autem praedicat remissionem peccati et impletionem factam legis, sc. per Christum. Ideo vox legis est haec: redde, quod debes; evangelii autem haec: remittuntur tibi peccata tua«) (Scholien WA 57 S. 59 Z. 18-20; S. 60 Z. 1-2). Aber schon in der Römerbriefvorlesung 1515/16 finden wir Anklänge der Dialektik: von Gesetz und Evangelium, wenn es hier mit Augustinus (De spiritu et lit. c. 19 CSEL 60) heißt: »Das Gesetz ist gegeben, damit die Gnade gesucht wird, die Gnade ist gegeben, damit das Gesetz erfüllt wird ... « »Denn durch das Gesetz muß die Sünde aufgewiesen werden, durch die Gnade muß sie geheilt werden«(=
4,5-7
4. Das Evangelium
161
Gesetz hält die Sünde vor Augen, 462 das Evangelium die Gnade; das Gesetz weist die Krankheit auf, das Evangelium die Arzenei. 463 Das Gesetz ist ein Diener des Todes - um die Worte des Paulus zu verwenden -, das Evangelium [dient] dem Leben und Frieden: »Das Gesetz ist die Kraft der Sünde«, 464 das Evangelium ist »Kraft zum Heil für jeden, der glaubt«. 465 5 Die Schrift hat aber nicht Gesetz und Evangelium in dem Verständnis überliefert, nur das als Evangelium anzusehen, was Matthäus, Markus, Lukas und Johannes geschrieben haben, die Bücher des Mose aber nur als Gesetz [auszugeben]. Vielmehr ist die Lehre des Evangeliums zerstreut [zu finden], die Verheißungen 466 sind auf alle Bücher des Alten und Neuen Testaments verstreut. Ebenso sind auch die Gesetze auf alle Bücher des Alten wie Neuen Testaments verstreut. 6 Es werden [hier] nicht - wie gewöhnlich angenommen wird - Zeiten des Gesetzes und Evangeliums unterschieden, obschon das eine Mal das Gesetz, das andere Mal gleich darauf im Gegensatz dazu das Evangelium offenbart wurde. Im Bezug auf unsere Herzen ist jede Zeit Zeit des Gesetzes und ebenso Zeit des Evangeliums, wie ja zu allen Zeiten die Menschen auf die gleiche Weise gerechtfertigt wurden, [nämlich] die Sünde durchs Gesetz offenbar wurde, die Gnade durch die Verheißung oder das Evangelium [offenbar wurde]. 7 Die Zeiten der Offenbarung wechseln, denn - wie aus der Schrift zu erkennen ist - wurde das eine Mal das Gesetz, das andere Mal das Evangelium gleich darauf im Gegensatz dazu geoffenbart. Denn du siehst: außer dem natürlichen Gesetz, 467 das - wie ich meine - den menschlichen Herzen eingeprägt ist, sind auch dem Adam von Gott Gesetze aufgetragen
462. 463.
464. 465. 466. 467.
Lex ... data, ut gratia quaereretur, gratia data, ut Iex impleretur ... « »quod vitium per Iegern demonstrandum, per gratiam sanandum fuit«) (Scholien WA 57 S. 158 z. 11-13). Auch in den Römerbriefparaphrasen des Erasmus ist wiederholt der Gegensatz von »Lex« und »Evangelium« anzutreffen, wenn auch in einem anderen Sinn (Op. ornn. hg. J. ClericusBd. VII S. 779f. zuRöm. 1,1; S. 786 zuRöm. 3,19f.; S. 816zuRöm. 11,28). Weiteres zur Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium Anm. 511 Röm. 3,19f.; 7,7 Dieser Vergleich von Gesetz und Evangelium mit Diagnose und Therapie findet sich auch bei Luther, so in der Predigt vom 14. 9. 1522 »Das Gesetz entdeckt die Krankheit, das Evangelium gibt die Arzenei>Evangelium>Verheißung>Gnade>Christus non est legislator, sed impletor«, >>Man muß Christus nicht für einen Richter halten« C. R. 21 S. 29 f. Daß das Gesetz das uneigentliche und Gott fremde Werk, das Evangelium oder die Gnade sein eigentliches ureigenes Werk ist, ist von Luther übernommen. Im
4,45-48
4. Das Evangelium
175
nur hinsichtlich der Kanaanäer ein Gebot empfing. Was, wenn geboten wird, auch die Fremden zu lieben? Hierher gehört, was über die Erhebung von Wucherzinsen bei den Ausländern, nicht bei den Blutsverwandten verordnet wurde. 508 Weil es nun keine Ausländer [mehr] gibt und alle verwandt sind, ist der Zinswucher gänzlich verboten. 45 Obschon nicht geleugnet werden kann, daß Christus einiges im Gesetz erneuert hat, wie das [Gebot] über die Ehescheidung,S09 ebenso wie das den Juden gebotene, mit dem Schwert das Gesetz zu verteidigen. Christus befiehlt nicht, daß das Evangelium mit Waffengewalt verteidigt wird, nein, er sagt vielmehr zu Petrus: »Stecke dein Schwert an seinen Ort. Wer das Schwert nimmt, soll durchs Schwert umkommen«. 510 46 Dennoch ist es nicht das erste und eigentliche Amt Christi, ein Gesetz zu schaffen, sondern Gnade zu geben. 511 Mose ist der Gesetzgeber und Richter, Christus der Retter, 512 wie er es selbst von sich bezeugt Joh. III: »Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde«. 513 Das Gesetz verdammt, da es nun einmal durch uns nie erfüllt werden kann. Christus gibt trotz der Sünde Gnade denen, die glauben. 47 Oft zwar predigt auch Christus das Gesetz, weil ohne das Gesetz die Sünde nicht erkannt werden kann; denn wenn wir sie nicht fühlen, können wir auch nicht die Kraft und Größe der Gnade wahrnehmen. Demnach muß Gesetz und Evangelium zugleich gepredigt werden, Sünde und Gnade [zugleich] aufgewiesen werden. Zwei Cherubim waren auf der Lade postiert/14 Gesetz und Evangelium, darum kannst du unmöglich das Evangelium ohne Gesetz und das Gesetz ohne Evangelium richtig oder fruchtbar lehren. 48 Und wie Christus das Gesetz mit dem Evangelium verbunden hat, so haben die Propheten das Evangelium mit dem Gesetz verbunden. Beispiele hierfür hast du auch in den Predigten in der Apostelgeschichte, vor allem aber [hast du] alle Briefe des Paulus, in denen er in der Regel zuerst die Lehre des Evangeliums behandelt, hinterher Vorschriften einschärft.
Anschluß an Jes. 28,21 (Vulgatatext) behauptete er schon in der Heidelberger Disputation 1518: Das »Gesetz« ist das »fremde Werk Gottes« = >>Opus alienum Dei«, seine >>Barmherzigkeit« >>sein eigenes Werk>Opus suumwir uns von neuem ins Gedächtnis zurückrufen, was wir getan haben oder nicht getan haben«, 2. wenn >>Wir ein Urteil abgeben, daß etwas zu tun ist oder nicht zu tun ist«, 3. wenn >>Wir ein Urteil abgeben, daß etwas, was getan wurde, gut oder nicht gut gemacht wurde«. 565. Kol. 2,14
190
4. De evangelio
4,97-101
sin, incredulitatem, amorem nostri, contemptum seu ignorantiam dei, ipsas scilicet radices omnium burnanorum operum. 97 Et in iustificandis quidem peccatoribus primum hoc opus dei est revelare peccatum nostrum: confundere conscientiam nostram, pavefacere, terrere, breviter damnare, ut exemplum indicat Hieremiae, quod paulo ante citavi. 566 Et ait Paulus: »Ego per Iegern legi mortuus sum. 567« 98 Et David II. Reg. XII. increpatione prophetae confusus exclamat: »Peccavi domino 568 .« Et 111. Reg. XXI.: »Achab dirupit vestem« etc. et, ut ait scriptura, »ambulavit demisso capite569«: Et in secundo JtaQaAEL:rtof..tEVwv cap. XXXIII. scribitur de Manasse, quod sit coangustatus570 , utendum est enim scripturae verbo. Et in secundo capite historiae apostolicae: »His auditis compuncti sunt corde. 571 «
99 Hic satis sit monuisse, hoc opus legis initium esse poenitentiae, quo spiritus dei terrere ac confundere conscientias solet. Nam naturaper sese peccati foeditatem non potest cognoscere, taoturn abest, ut odisse possit. »Animalis enim homo non sentit ea, quae sunt dei«, 572 et ad Rom. VIII.: »Caro affectat ea, quae carnis sunt. 573« 100 Haec de poenitentiae initio tractant sophistae in quarto sententiarum574 , nos hic velut in vestibulo nostri operis. Nam iustificationem hominis adeoque verum baptismum auspicatur mortificatio, iudicium, confusio, quae fit a spiritu dei per Iegern. Et sicut hinc, nempe a peccati cognitione, vita christiana auspicanda est, ita a legis officio christiana doctrina auspicanda est.
101 Non est operae pretium disputare, sitne hic timor servilis an, ut vocant, filialis. 575 Permittamus hoc genus disceptationes otiosis inge-
566. 567. 568. 569. 570. 571. 572. 573. 574.
Jer. 31,18f. Ga!. 2,19 2. Sam. 12,1-12 1. Kg. 21,27 2 Chronik 33,12 Apg. 2,37 1. Kor. 2,14 Röm. 8,5 Gemeint sind die für die mittelalterlichen Dogmatiklehrbücher grundlegenden Sentenzen des Petrus Lombardus, deren Aufbau und Thematik sie überneh-
4,97-101
4. Das Evangelium
191
von Sünde ein, die äußeren und die inneren, Heuchelei, Unglaube, Selbstliebe, Verachtung oder Unkenntnis Gottes, die ja die Wurzeln aller menschlichen Werke sind. 97 Und beispielsweise bei den Sündern, die zu rechtfertigen sind, ist dies das erste Werk Gottes, unsere Sünde zu enthüllen: unser Gewissen zu erschüttern, zu ängsten und zu erschrecken, kurz zu verdammen, wie das Beispiel aus Jeremia, das ich kurz vorher zitiert habe, zeigt. 566 Und Paulus sagt: »Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben«. 567 98 Und David schreit 2. Könige XII, erschüttert durch die Scheltrede des Propheten [Nathan]: »Ich habe gegen den Herrn gesündigt«. 568 Und 3. Könige XXI [heißt es]: »Ahab zerriß sein Kleid« usw. und »er ging mit gesenktem Haupt«, wie die Schrift sagt. 569 Und 2. Chronik Kap. XXXIII wird von Manasse geschrieben, er »sei voller Angst gewesen« 570 - um denn das Wort der Schrift zu gebrauchen. Und im 2. Kapitel der Apostelgeschichte [lesen wir]: »Als sie das härten, stach es ihnen durchs Herz«. 571 99 Dies hier mag genug sein, um in Erinnerung zu rufen, daß dieses Werk des Gesetzes der Anfang der Buße ist, durch die der Geist Gottes gewöhnlich die Gewissen erschreckt und erschüttert. Denn die Natur kann nicht von sich aus die Scheußlichkeit der Sünde erkennen, noch viel weniger kann sie hassen. »Denn der natürliche Mensch fühlt nichts von dem, was Gottes ist«, 572 und im Römer[brief Kap.] VIII: »Das Fleisch trachtet nach dem, was des Fleisches ist.«573 100 Die Sophisten verhandeln dies [erst] am Anfang [bei der Lehre] über die Buße im 4. [Buch] der Sentenzen, 574 wir hier gleichsam im Vorhof vor dem Haus unseres Werks. Denn die Ertötung, das Gericht, die Erschütterung, die vom Geist Gottes durchs Gesetz gewirkt wird, sind erst der Anfang der Rechtfertigung des Menschen und der wahren Taufe. Und wie von hier aus, nämlich von der Erkenntnis der Sünde, das christliche Leben zu beginnen hat, so hat die christliche Lehre mit dem Dienst des Gesetzes zu beginnen. 101 Es ist nicht der Mühe wert, darüber zu streiten, ob diese Furcht [vor Gott] eine sklavische Furcht oder, wie sie sie nennen, eine kindliche Furcht sei. 575 Derartige Streitfragen überlassen wir müßigen Geistern. Obschon über men. Petrus Lombardus spricht erst hinten im 4. Buch seiner Sentenzen, das die Sakramente behandelt, beim Sakrament der Buße von der »compunctatio cordis« = »Reue, Zerknirschung des Herzens« (Sententiarum libri quatuor lib. IV dist. 16), also nach den drei Büchern über Gott, die Schöpfung und die Inkarnation, nicht schon am Anfang wie Melanchthon, dessen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, Gericht und Gnade hermeneutisches Prinzip der ganzen Theologie ist und der Rechtfertigungslehre vorausgeht. 575. Zur scholastischen Unterscheidung von »timor servilis« = »knechtliche Furcht« und »timor filialis« = »kindliche Furcht>timor servilis>aus Furcht vor der
192
4. De evangelio
4,102-107
niis. Quamquam hac de re plerique sie disputant, ut satis appareat eos neque quid servilis neque quid filiorum metus sit intelligere. 102 Certurnest odio peccati tangi neminem posse nisi per spiritum sanctum, certurn item est sie conterritos fugere vultum dei et conspectum, nisi spiritu dei retrahantur, revocentur ac confirmentur, ut clament cum Paulo: »Domine, quid me vis facere? 576« 103 Fugere conspectum dei conterritos lege docet historia in Exodo, cum appellat Mosen populus: »Non loquatur dominus nobis, ne forte moriamur. 577 « Et David Psal. CXXXVIII.: »Quo ibo a spiritu tuo et quo a facie tua fugiam? 578«
104 Exstant testimonia abunde multa huius loci in scripturis. Mihi satis visum est haec monuisse, quo discrimen legis et evangelii certius teneretur. Vides autem, quantum inter simulatam poenitentiam et veram intersit.
De vi evangelii 105 Quos ad eum modum terruit conscientia, ii haud dubie ad despe-
rationem adigerentur, id quod in damnatis usu venit, nisi promissione gratiae ac misericordiae dei (quam evangelium dici constat) sublevarentur et erigerentur. Hic si credat afflicta conscientia promissioni gratiae in Christo, fide resuscitatur et vivificatur, id quod mirifice declarabunt exempla. 106 In Genesi cap. 111. peccatum, poenitentia et iustificatio Adae
describitur. Posteaquam deliquissent Adam et Heva et iam nuditati suae tegmen ac JtEQL~WJ..tata quaererent - sie enim solemus hypocritae conscientiis mederi per satisfactiones579 nostras - compellabantur a domino. 107 Ea vero vox intolerabilis erat. Hic nihil perizomata, nullus praetextus excusabat peccatum. Iacet convicta, iacet rea conscientia peccato ob oculos posito per vocem dei. Fugiunt, et causam fugae exponit Adam, cum inquit: »Vocem tuam, domine, audivi in
Strafe« (»propter timorem poenae«), der »timor filialis« fürchtet Gott »aus Furcht vor der Schuld« (»propter timorem culpaeWirkung« der Gnade >>ist keine Eigenschaft (qualitas) im Menschen«, 2. wenn >>der Seele von Gott eine habituelle Gabe (habituale donum) eingegossen wird (infunditur)«, diese >>Gabe der Gnade ist eine Eigenschaft (qualitas quaedam)« des Menschen (a. a. 0. art. 2) 613. Jes. 54,13; Joh. 6,45 614. 2. Mose 33,12 615. Charis hat im Neuen Testament von seinem hebräischen Pendant Chen (= Gunst) her die Grundbedeutung von Gunst (Röm. 1,7; 11,5f.; 1. Kor. 1,3;
202
5. De gratia
5,5-8
5 Atque utinam verbo favoris uti maluissent interpretes, quam vocabulo gratiae. Defuisset enim hoc loco ineptiendi occasio sophistis. Proinde sicut grammatici dicunt Iulium favere Curioni, cum significant in Iulio esse favorem, quo sit complexus Curionem, ita in sacris literis gratia favorem designat estque gratia seu favor in deo, quo complexus est616 sanctos. 6 Facessant Aristotelica figmenta de qualitatibus. 617 Non aliud enim est gratia, si exactissime describenda sit, nisi dei benevolentia erga nos seu voluntas dei miserta nostri. Non significat ergo gratiae vocabulum qualitatem aliquam in nobis, sed potius ipsam dei voluntatem seu benevolentiam dei erga nos. II. 7 Paulus ad Rom. V. distinguit a gratia donum: »Si unius delicto multi mortui sunt, multo magis gratia dei et donum in gratia ea, quae est unius hominis Iesu Christi, in multos exundavit. 618« Gratiam vocat favorem dei, quo ille Christum complexus est et in Christo et propter Christum619 omnes sanctos. Deinde quia favet, non potest deus non effundere dona sua in eos, quorum misertus est. Sie homines, quibus favent, eorum res adiuvant, iis sua impertiunt. 8 Donum vero dei est ipse spiritus sanctus620 , quem effundit deus in corda suorum. Iohan. XX.: »lnsufflavit et dixit: Accipite spiritum sanctum. 621 « Et ad Rom.
2. Kor. 1,2; Ga!. 1,3; Lk. 2,40). Charis hat sicher über diesen imputativen Grundsinn hinaus auch die effektive Bedeutung von Gabe (Röm. 5,15.17; 12,3; Joh. 1,16; Ga!. 2,9; Eph. 3,7) vgl. Th. Wb. N. T. IX S. 366ff. 616. Daß hier die ursprüngliche Bedeutung von complector = umschlingen, in Liebe umarmen gemeint ist, zeigt das Urmuster zu unserem Text in den Capita von 1520 (»quantum deus favet homini tantum ... habet eum in manibus suis«) C. R. 21 s. 35f. 617. Die Qualität oder Beschaffenheit (gr. n:ot6tll~) ist eine der 10 Kategorien des Aristoteles und Aristotelismus. Sie zerfallen in die Substanz und die 9 Akzidentien, zu denen die Qualität neben der Quantität, der Relation, dem Ort, der Zeit, der Lage, dem Zustand (Anhaben), dem Tun und Leiden gehört. Wie fragwürdig es ist, die Gnade als Qualität oder Beschaffenheit des Menschen zu verstehen, erhellt aus dem Akzidensbegriff. Das Akzidens ist >>ein Ding«, das >>in einem anderen ist«, nicht in sich selbst, wie die Substanz oder das Wesen (Thomas v. A. Quodl. IX, 5). Das Akzidens ist nicht das selbständige Sein wie die Substanz, sondern das unselbständige, zufällige Sein, das der Substanz anhaftet, von ihr abhängig ist und ohne sie nicht existieren kann. Ist die Gnade
5,5-8
5. Die Gnade
203
5 Hätten doch die Übersetzer das Wort Gunst dem Wort Gnade vorgezogen! Denn die Sophisten hätten dann keine Gelegenheit gehabt, über diesen Hauptbegriff so ungereimt zu faseln. Daher wie die Grammatiker sagen, der Julius sei dem Curio gewogen, wenn sie zum Ausdruck bringen [wollen], die Gunst sei in Julius, mit der er den Curio in Liebe umarmt, so bedeutet Gnade in der heiligen Schrift Gunst und die Gnade oder Gunst ist in Gott, mit der er die Heiligen in Liebe umarmt. 616 6 Hinweg mit diesen aristotelischen Hirngespinsten der Qualitäten. 617 Denn die Gnade ist - ganz exakt beschrieben nichts anderes als Gottes Zuneigung zu uns oder der Wille Gottes, der sich unser erbarmt. Das Wort Gnade bezeichnet folglich keine Qualität in uns, sondern vielmehr Gottes Willen selbst oder die Zuneigung Gottes zu uns. li. 7 Paulus unterscheidet [im Brief] an die Römer [Kap.] V die Gnade von der Gabe: »Wenn durch die Sünde des Einen die Vielen gestorben sind, um wieviel mehr hat die Gnade Gottes und [seine] Gabe die vielen überflutet in der Gnade des einen Menschen Jesus Christus«. 618 Er nennt die Gnade die Gunst Gottes, durch die er Christus und in Christus und um Christi willen619 alle Heiligen in Liebe umarmt hat. Sodann, weil [Gott uns] seine Zuneigung schenkt, kann er nicht anders als seine Gaben auf die auszuschütten, über die er sich erbarmt hat. So fördern doch [selbst] Menschen die Belange derer, denen sie ihre Zuneigung schenken, und teilen mit ihnen ihre Habe. 8 Die Gabe Gottes aber ist der Heilige Geist selbst, 620 den Gott ausgießt in die Herzen der Seinen. Johannes XX [lesen wir]: »Er blies sie an und sagte: Empfanget den Heiligen Geist«. 621 Und [im Brief] an die Römer [Kap.] VIII:
618. 619.
620.
621.
als Qualität ein Akzidens, dann wird sie zur unselbständigen und verfügbaren Sache des Menschen. Als »Qualität in der Seele« wäre die »Gnade>SoJa fide>allein aus Glaubenreputatur fides eius ad iustitiam sola sine operibus exterioribus>sein Glaube wird allein als Gerechtigkeit angerechnet ohne äußere Werke«) zu Röm. 4,5 (Super epistolas S. Pauli lectura, R. Cai Hg. 1953 § 330). Melanchthon hat die Formel sicher von Luther und Erasmus übernommen. Luther verwendet sie in seiner Römerbriefvorlesung 1515/1516 (»in solo evangelio revelatur iustitia Dei per solam fidem, qua Dei verbo creditur« = »allein im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart allein mittels des Glaubens, durch den man dem Wort Gottes glaubt« (WA 56 S. 171 Z. 28f., S. 172 Z. 1) und sonst oft, wie in der Freiheitsschrift 1520 (WA
6,20-22
6. Die Rechtfertigung und der Glaube
217
bezeichnet werden kann. Dasselbe kann man von den Verzweifelten wie von Kain und Saul sagen. Denn was ist für ein Unterschied zwischen ihnen und den Verdammten? 20 Was ist demnach Glaube? Dem ganzen Wort Gottes fest zustimmen, etwas, was nur geschieht, wenn der Geist Gottes unsere Herzen erneuert und erleuchtet. Nun ist aber das Wort Gottes Gesetz und Evangelium. 661 Dem Gesetz sind Drohungen angefügt. 21 Die Schrift nennt das Furcht, wodurch man jenen Drohungen glaubt, und sie nennt das Glauben, wodurch man dem Evangelium oder den göttlichen Verheißungen vertraut. 662 Die Furcht rechtfertigt nicht ohne den Glauben. Denn andernfalls würden auch die Verzweifelnden und Verdammten gerechtfertigt werden. Denn die ehren Gott nicht oder glauben nicht dem ganzen Wort Gottes, die ihn auf solche Weise fürchten, denn sie glauben nicht den Verheißungen. Allein der Glaube rechtfertigt daher. 663 IV. 22 Der Glaube ist demnach nichts anderes als das Vertrauen 664 auf die 7 S. 51 Z. 22), in der Quaestio circularis de signis gratiae 1520 (WA 6 S. 471 Z. 16), sowie in der Disputatio de fide infusa et acquisita 1520 (»sola fides infusa satis est ... « = »allein der eingegossene Glaube genügtEinen Gott haben heißt jemanden haben, auf den du vertrauen kannst ... « (WA 1 S. 258 Z. 4). In >>Von den guten Werken>Weil ich allein Gott bin, sollst du auf mich allein deine ganze Zuversicht, Trauen und Glauben setzen und auf niemanden anders« (WA 6 S. 209 Z. 25ff.). Ähnlich später im Großen Katechismus (BSLK S. 560ft. Unser Glaube 587ff.) Anders die Scholastik - siehe zu ihrem Glaubensbegriff Anm. 637
218
6. De iustificatione et fide
6,23-27
promissae in Christo adeoque quoeunque signo. Ea fidueia benevolentiae seu miserieordiae dei eor primum paeifieat, deinde et aeeendit · velut gratiam aeturos deo pro miserieordia, ut legem sponte et hilariter faeiamus. Alioqui quoad non eredimus, non est in eorde sensus miserieordiae dei. Ubi non est sensus miserieordiae dei, est aut eontemptus dei aut odium. 23 Quare quantaeunque legis opera fiant sine fide, peeeatur. Atque hoe est, quod Paulus ait ad Rom. XV.: »Ouidquid non est ex fide, peeeatum est.« 665 Quae sententia fidei vim atque naturam clarissime exponit. 24 Nam quidquid fit, a natura fit aut odio dei, euiusmodi opera sunt eorum, qui inviti, metu legis et poenarum bene operantur. Nam eum sine fide bona opera simulamus, nonne sie eogitat eor nostrum: Ego quidem, quod potui, feei, sed neseio utrum probet mea opera deus aut improbet? Severus iudex est, neseio utrum sit mei misertus an eontra. 25 Ea eogitatione qui fieri potest, ut non iraseamur iudieio dei? Et in hae hypoerisi eum magna molestia eordis maxima pars homines vivunt, qui quam prave iudieent, vel hine apparet. Debebant enim non opera sua, sed promissionem miserieordiae dei eontemplari. Quid est enim iniquius quam aestimare voluntatem dei ex nostris operibus, quam ille ipse suo verbo nobis declararit?
26 Iam magna hominum pars eum eontemptu dei vivit, ita operatura,
ita vietura, etiamsi displieeat deo. Eiusmodi sunt opera, quae sine fide fiunt, hoe est, quae eum odio dei aut eum eontemptu dei fiunt. Est ergo pulcherrime dieturn Eeclesiastici XXXII.: »In omni opere tuo erede ex fide animae tuae. Haee est enim eonservatio mandatorum.« 666 27 Qualiaeunque sint opera: eomedere, bibere, laborare manu, doeere, addo etiam, ut sint palam peeeata, non est, quod opera speetes; promissionem miserieordiae dei speeta, eius fidueia 667 nihil dubita, quin iam non iudieem in eoelis, sed patrem habeas, eui tu sis eurae non aliter atque sunt parentibus filii inter homines.
665. Röm. 14,23 666. Sirach 32,27 (Vulg.)
6,23-27
6. Die Rechtfertigung und der Glaube
219
göttliche Barmherzigkeit, die uns in Christus verheißen ist und sogar in diesem und jenem Zeichen. Dieses Vertrauen auf die Zuneigung oder Barmherzigkeit Gottes bringt zuerst Frieden in das Herz und entzündet es nachher, gleichsam um Gott zu danken für die Barmherzigkeit, damit wir das Gesetz spontan und fröhlich tun. Wenn wir hingegen nicht glauben, haben wir in unserem Herzen kein Gespür für die Barmherzigkeit Gottes. Wo kein Gespür ist für die Barmherzigkeit Gottes, ist entweder Verachtung Gottes oder Haß gegen Gott. 23 Wie große Werke des Gesetzes daher auch immer ohne Glauben geschehen mögen, man sündigt und besonders das ist es, was Paulus [im Brief] an die Römer [Kap.] XIV meint: »Alles, was nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde«. 665 Ein Satz, der sehr deutlich die Kraft und somit das Wesen des Glaubens herausstellt. 24 Denn was auch nur geschieht, es geschieht von Natur oder aus Haß gegen Gott; von dieser Art sind die Werke derer, die gegen ihren Willen aus Furcht vor dem Gesetz und den Strafen gut handeln. Denn wenn wir gute Werke ohne Glauben vortäuschen, denkt da nicht unser Herz so: Ich habe zwar getan, was ich konnte, aber ich weiß nicht, ob Gott meine Werke gelten läßt oder verwirft? Er ist ein gestrenger Richter, ich weiß nicht, ob er sich meiner erbarmt hat oder nicht. 25 Wie ist es möglich, daß wir aufgrunddieser Erwägung nicht zornig wären über das Gericht Gottes? Und mit großem Mißbehagen lebt in dieser Heuchelei der größte Teil der Menschen; wie verkehrt sie urteilen, erhellt zum Beispiel aus diesem Abschnitt. Denn sie sollten nicht ihre Werke betrachten, sondern die Verheißung der Barmherzigkeit Gottes. Denn was ist gefährlicher als den Willen Gottes aus unseren Werken zu erschließen, den er selbst uns durch sein Wort zu erkennen gab? 26 Nun lebt ein Großteil der Menschen in der Verachtung Gottes und er will so handeln und so leben, auch wenn es Gott mißfällt. Derartig sind die Werke, die ohne Glauben geschehen, d. h. die mit einem Haß auf Gott oder mit der Verachtung Gottes geschehen. Es wurde daher sehr schön im Ecclesiasticus [Kap.] XXXII gesagt: »In alldeinem Werk, glaube aus dem Glauben deiner Seele. Denn darin besteht die Einhaltung der Gebote.« 666 27 Welcher Art nur immer die Werke sind: Essen, Trinken, mit der Hand arbeiten, lehren, ich füge sogar hinzu, daß es öffentliche Sünden sein können, du darfst nicht die Werke anschauen; schaue hin auf die Verheißung der Barmherzigkeit Gottes, zweifle nicht im Vertrauen 667 darauf, daß du nun keinen Richter mehr im Himmel hast, sondern einen Vater hast, der dich umsorgt, nicht anders als sich unter Menschen die Eltern um die Kinder sorgen. 667. Zum Vertrauensglauben der Reformation siehe Anm. 664
220
6. De iustificatione et fide
6,28-33
28 Quodsi voluntatis erga nos divinae nulla esset significatio praeter hanc, quod voluit appellari se patrem in ea prece, quam quotidie dicimus, sola haec satis magno argumento esset nihil exigi a nobis prius fide. 29 Nunc cum hanc toties exigat deus, cum hanc toties unam probet, cum hanc nobis locupletissimis promissionibus adeoque per mortem filii sui commendarit, quid est, cur non illi nos tantae misericordiae committamus et credamus? Scholastica theologia pro fide, pro ancora668 conscientiarum opera, satisfactiones hominum 669 docuit. Male perdat deus scandalum illud ecclesiae suae!
V. 30 Habes, in quam partem fidei nomen usurpet scriptura, nempe pro eo quod est fidere 670 gratuita dei misericordia sine ullo operum nostrorum sive bonorum sive malorum respectu, quia de Christi plenitudine omnes accipimus. 670" lam omni verbo dei, minis et promissionibus671, historiae divinae vere assetiuntur, qui sie fidunt. 31 Scholastica fides nihil nisi mortua opinio 672 est. Nam quomodo credunt omni verbo dei, qui promissam remissionem peccatorum non credunt? 673 Non enim valet, quod dicunt sophistae, impios credere 674 non sibi quidem, sed aliis remissionem peccatorum contingere. Quaeso enim, annon iis quoque impiis promissa est condonatio peccatorum? 32 Sed non instituimus disputare contenti paucis indicasse, quid nomine fidei significaretur. Exstat Lutheri libellus de christiana libertate67S, e quo, qui volet, fidei commendationes alias requirat. Porro fidei vim opinor e scripturae exemplis clarius cognoscemus.
33 Genesis XV. promittit misericordiam suam Abrahae deus verbis magnificis: »Noli timere, Abraham, ego protector tuus sum et merces tua magna valde.« 676 Paulo post pollicetur etiam posteritatem. Sequitur autem: »Credidit Abrahamdeo et reputatum est ei ad iustitiam.« 677 668. vgl. die Institutio Melanchthons Anm. 664 669. Vergleiche zum Stellenwert der guten Werke in der Scholastik Anm. 69, 124, 130, 153, 201 und zur Genugtuung oder Sühneleistung als Bestandteil der Buße im Mittelalter Anm. 438 670. siehe Anm. 664 670a.Joh. 1,16 671. gemeint ist die Dialektik von Gesetz und Evangelium. Näheres zu ihr siehe Anm. 461
6,28-33
6. Die Rechtfertigung und der Glaube
221
28 Und wenn wir kein anderes Zeichen seines göttlichen Willens gegen uns hätten außer diesem, daß er von uns Vater genannt werden wollte in dem Gebet, das wir täglich sprechen, so würde dies allein genügen als gTOßer Beweis dafür, daß von uns nichts anderes als allein der Glaube gefordert wird. 29 Wenn nun Gott diesen [Glauben] so oft fordert, wenn er diesen einen [Glauben] so oft lobt, wenn er uns diesen [Glauben] mit den reichsten Verheißungen und sogar durch den Tod seines Sohnes liebgemacht hat, warum wollen wir uns nicht der so großen Barmherzigkeit ausliefern und glauben? Die scholastische Theologie lehrte anstelle des Glaubens, anstelle des Ankers668 der Gewissen Werke und Genugtuungsleistungen der Menschen.669 Gott mache dieses Ärgernis seiner Kirche auf schlimme Weise zunichte. V. 30 Du weißt, auf welche Art und Weise die Schrift das Wort Glaube verwendet, nämlich im Sinne von Vertrauen670 auf die unverdiente Barmher-
zigkeit Gottes ohne jede Rücksicht auf unsere guten oder bösen Werke weil wir alle aus der Fülle Christi nehmen.670a Die nun so glauben, stimmen wirklich dem ganzen Wort Gottes zu, den Drohungen und Verheißungen671 und der göttlichen Geschichte. 31 Der scholastische Glaube ist nur eine tote Verstandesmeinung.672 Denn wie glauben sie dem ganzen Wort Gottes, der sie nicht glauben, daß [uns] die Vergebung der Sünden verheißen ist?673 Denn es ist nichts wert, was die Sophisten sagen, [nämlich] daß die Gottlosen glauben/74 nicht ihnen, sondern den anderen werde die Vergebung der Sünden zuteil. Ich frage nämlich, ist denn nicht auch den Gottlosen die Vergebung der Sünden verheißen? 32 Aber wir haben nicht die Absicht, zu streiten, wir begnügen uns damit, mit wenigen [Worten] gezeigt zu haben, was der Begriff Glaube bedeutet. Es gibt Luthers Buch über die christliche Freiheit. 675 Wer will, kann aus ihm anderes Empfehlendes über den Glauben entnehmen. Nun meine ich, daß wir die Kraft des Glaubens noch klarer durch Beispiele aus der Schrift kennen lernen. 33 Genesis [Kap.] XV verheißt Gott dem Abraham seine Barmherzigkeit mit den großartigen Worten: ))Fürchte dich nicht, Abraham, ich bin dein Beschützer und dein sehr großer Lohn«. 676 Kurz darnach verheißt er ihm auch Nachkommenschaft. Es folgt aber auch [der Satz] ))Abraham glaubte an Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet«.m Was glaubte denn 672. siehe hierzu Anm. 637, 638, 641, 642 673. Zur Korrelation von Verheißung und Glaube in der Reformation siehe Anm. 662 674. siehe Anm. 638 675. WA 7 S. 49ff. 676. 1. Mose 15,1 (Vulg.) 677. 1. Mose 15,6
222
6. De iustificatione et fide
6,34-39
Quid igitur credebat Abraham? Non aliud nisi esse deum? Immo et promissioni dei credidit eamque fidem deinde declaravit egregio exemplo, cum filium esset immolaturus, nihil dubitans, quin daturus esset deus posteritatem, etiam hoc filio necato. 34 Iam cum fides sit assentiri verbo dei, quid crediderit Abraham, ex promissione quoque satis apparet, cum se protectorem illi addicit deus. Ergo credunt, qui pro protectore, pro patre deum habent, non pro iudice tantum 678 •
35 Exodi XIV. fremunt Israelitae per diffidentiam, cum fugam suam intercluderent maria, montes, et hostis a tergo instaret. Hos iubet consistere Moses visuros magnalia dei et addit promissionem: »Dominus pugnabit pro vobis et vos tacebitis.« 679 36 Quid si hic de fide disputassent pro more scholarum nostrarum Israelitae satis esse, si historiae credant680 , quod sit deus, quod malis poenas, bonis praemia dispenset, se quoque malos esse et fieri posse, ut punire velit utrosque turn Aegyptios turn Israelem. Sed credebant divinae voci, divinis miraculis, fidebant misericordia dei, ut maxime ipsi quoque mortis essent rei, atque ita committebant se alveo perfidem. 37 Et iam hoc exemplo experti voluntatem dei erga se, cum viderent se servatos, Aegyptium perisse undis, »timuerunt,« inquit, »dominum et crediderunt domino et Mosi servo eius«. 681 Et ea quidem nobis exempla sunt exhibita, ut discamus credere, non illa quidem sophistica fide 682 , sed hac fiducia verbi dei, qualem fuisse in Mose vides hoc loco etc.
38 Qualern autem fidem exigit in Numeris XIV., cum desperaret de
Palaestina occupanda populus? Ait enim dominus: »Usque quo detrahet mihi populus iste? quousque non credent mihi in omnibus signis, quae feci coram iis?« 683 39 Et capite XX. irascitur Mosi et Aharon, quod non credidissent aquam e petra promanaturam. 684 Credebat
678. Näheres zur Dialektik von Gesetz und Evangelium, die hier gemeint ist, siehe Anm. 461 679. 2. Mose 14,14 680. siehe Anm. 638, 642 681. 2. Mose 14,31
6,34-39
6. Die Rechtfertigung und der Glaube
223
Abraham? Nur, daß Gott existiert? Er glaubte vielmehr auch der Verheißung Gottes und diesen Glauben brachte er dann zum Ausdruck durch ein besonderes Beispiel, als er den Sohn opfern wollte, ohne daran zu zweifeln, Gott werde ihm eine Nachkommenschaft geben, auch wenn dieser Sohn getötet wurde. 34 Weil nun der Glaube die Zustimmung zum Wort Gottes ist, was Abraham glaubte, geht auch aus der Verheißung hinreichend klar hervor, wenn Gott ihm zusagt, er wolle sein Beschützer sein. Daher glauben [die Menschen], die Gott für [ihren] Beschützer und für [ihren] Vater, nicht nur für ihren Richter halten. 678 35 Aus mangelndem Vertrauen murren die Israeliten nach Exodus [Kap.] XIV, da die Meere und Gebirge ihnen die Flucht abschnitten und der Feind ihnen hinten auf dem Nacken war. Mose hieß sie, still zu bleiben, um die großen Werke Gottes zu sehen. Und er fügt die Verheißung hinzu: »Der Herr wird für euch kämpfen und ihr sollt still sein«. 679 36 Was, wenn hier die Israeliten über den Glauben disputiert hätten nach der Art und Weise unserer [scholastischen] Schulen: es genüge, wenn sie der Historie glauben, 680 daß es einen Gott gäbe, daß er den Bösen Strafen und den Guten Belohnungen zuteile, daß auch sie böse wären und werden könnten, so daß er sie beide, Ägypter wie Israeliten, strafen wolle. Aber sie glaubten der göttlichen Stimme und den göttlichen Wundertaten, sie vertrauten auf die Barmherzigkeit Gottes, obgleich sie auch selbst des Todes schuldig waren, und so ließen sie sich im Glauben der Meerestiefe anheimfallen. 37 Und als sie nun durch dieses Beispiel den Willen Gottes gegen sie erfahren hatten, indem sie sahen: sie sind gerettet und die Ägypter sind in den Wellen untergegangen, spricht [der Text weiter] »Sie fürchteten den Herrn und glaubten dem Herrn und seinem Knecht Mose«. 681 Und diese Beispiele sind uns sicher überliefert, daß wir glauben lernen, gewiß nicht nach Art jenes sophistischen Glaubens, 682 sondern in Form des Vertrauens auf das Wort Gottes. Du siehst aus dieser Stelle usw., wie [dieses Vertrauen] bei Mose war. 38 Welchen Glauben fordert hingegen [Gott] in Numeri [Kap.] XIV, wie das Volk [Israel] daran verzweifelt, Palästina zu erobern? Denn der Herr sagt: »Wie lange wird mich dieses Volk lästern? Wie lange werden sie mir nicht glauben trotz aller Zeichen, die ich vor ihnen gewirkt habe?« 683 39 Und im Kapitel XX ist er zornig auf Mose und Aaron, weil sie nicht glaubten, daß Wasser aus dem Felsen fließen werde. 684 An die Existenz Gottes glaubte
682. der scholastische >>fides informis« oder >>fides acquisitaerworbenen Glauben« in ihr siehe Anm. 642 687. Zum reformatorischen Vertrauensglauben siehe Anm. 664 688. Zum Vertrauensglauben der Reformation siehe Anm. 664
6,40-45
6. Die Rechtfertigung und der Glaube
225
Aaron sicherlich und auch Mose [glaubte daran], aber sie zweifelten an der göttlichen Stimme, durch die das Wasser aus dem Felsen verheißen war. Diesen Unglauben mißbilligt Gott. 40 Oder von welchem Glauben redet Mose in Deuteronomium [Kap.] I: »Dein Gott hat dich getragen, wie ein Mann seinen kleinen Sohn zu tragen pflegt, auf dem ganzen Weg, durch den ihr gewandert seid, bis ihr zu diesem Ort kamt. Und trotzdem glaubtet ihr dem Herrn, eurem Gott nicht, der euch auf dem Weg voranzog« usw. 685 41 Sie hatten gewiß einen formlosen Glauben, hatten einen erworbenen Glauben, 686 aber sie vertrauten nicht den Verheißungen der Barmherzigkeit Gottes, ihre Herzen waren nicht aufgerichtet durch das Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes, 687 sie lebten im Unglauben, verachteten Gottes Wort und Gottes Werk, sie waren über die Rückkehr aus Ägypten ungehalten; deswegen erlitten diese sonst dem äußeren Anschein nach ohne Zweifel guten Menschen wegen dieses Unglaubens Strafe. 42 Dies ist die Schauspielerei der Menschen, die dermaßen mit guten Werken geschminkt sind, aber das Herz ist nicht aufgerichtet im Vertrauen und in der Freude in Gott- während [doch] Gott allein nach diesem Vertrauen fragt. 688 Um diesen Glauben allein zu stärken, hat er [seinen] Sohn hingegeben, damit wir nicht an seinem guten Willen gegen uns zweifeln, um auf Gott unsere Hoffnung zu setzen, die Taten Gottes nicht zu vergessen und nach seinen Geboten zu fragen - Psalm LXXVII. 689 43 Ebenso [lesen wir in] 1. Paralipomenon [Kap.] V »Sie schrieen zu Gott im Kampf, und er erhörte sie, weil sie an ihn geglaubt hatten«. 690 Und 2. Paralipomenon [Kap.] XVI [heißt es:] »Die Augen des Herrn betrachten die ganze Erde und er stärkt die, die mit ungeteiltem Herzen an ihn glauben«. 691 Wo der Prophet Hanani den Asa, den König von Juda, tadelt, weil er sein Vertrauen auf die Hilfstruppen der Syrer setzte. 44 Doch ich weiß nicht, ob die Schrift irgendwo die Macht des Glaubens durch ein besseres Beispiel veranschaulicht, als das, was von Josaphat in 2. Paralipomenon [Kap.] XX zu lesen ist, als er die Ammoniter und Moabiter mit Gesang allein besiegt hat und seinem Heer nichts anderes befahl, als stille zu halten im Vertrauen. 692 Derart ist auch das Beispiel Hiskias. 693 45 Diesen Glauben suchte Jesaja bei Ahas nach Jesaja Kap. VII, wie er ihm verbietet, Hilfen der Assyrer zu erflehen und ihm göttlichen Beistand
689. 690. 691. 692. 693.
Ps. 78,7 1. Chronik 5,20 2. Chronik 16,9 2. Chronik 20,20-22 Jes. 36 und 37
226
6. De iustificatione et fide
6,46-51
vetat auxilia Assyriorum implorare pollieeturque opem divinam addens: »Si non eredideritis, non permanebitis.« 694 46 Plenae sunt huius generis exemplorum saerae historiae omnes. Erit igitur pii ae studiosi leetoris et pro diseenda fidei ratione et pro eonfirmanda eonseientia deeerpere exempla. Repetemus autem aliquot loeos etiam ex literis novi testamenti vel in hoe, ut intelligatur idem spiritus esse historiarum utriusque testamenti.
47 Et ut hine ordiar Aetuum XV. 695 , negat Petrus operibus legis iustifieatos patres, quamquam in lege viverent, sed fide, additque fide purifieari eorda. Quae nisi tu intelligas, sieut ipse exponit, de fidueia gratiae et miserieordiae dei, iam toto erras eoelo. 48 Qui enim fieri poterit, ut fides seholastiea eorda purifieet? Vult ergo Petrus omnia opera patrum, Davidis, Esaiae, Hieremiae peeeata fuisse, iustifieatos autem esse sola fidueia miserieordiae dei in Christo promissae696 • Sieut saepe prophetae de se testantur. Haee fidueia bonae voluntatis dei spargitur in omnem vitam, in omnia opera, in omnes tentationes eorporales et spirituales.
VI. 49 Una eademque fides est, qua ereditur deo, qua fiditur bonitate dei, qualieunque tentatione. Spiritualis tentatio illa mulieris peeeatrieis erat Lueae VII., quam erexit Christus inquiens: »Remittuntur tibi peeeata tua.« 697 ltem: »Fides tua te salvam feeit, vade in paee.«698 Corporalia erant pleraque, eum morbos euraret, et ineredulitatem diseipulorum in re eorporali arguit Matth. XVI., eum illi de panibus essent sollieiti. 50 Sie enim inerepat: »Ouid eogitatis inter vos modieae fidei?« ete. 699 Et patris euram de suis in re eorporali quoties ineulcat? Matth. VI.: »Seit pater vester, quod his omnibus opus habetis.« 700 Et X.: »Multis passeribus meliores estis vos.« 701 Et huiusmodi eorporalia non eontemnenda rudimenta sunt exereendae fidei.
VII. 51 Haee moneo, ne quid Iaboremus distinguendis promissioni694. 695. 696. 697.
Jes. 7,9 Apg. 15,9-11 Zum reformatorischen Vertrauensglauben siehe Anm. 664 Lk. 7,48
6. Die Rechtfertigung und der Glaube
6,46-51
227
verspricht, wenn er hinzufügt: »Wenn ihr nicht glauben werdet, werdet ihr nicht bleiben«. 694 46 Voll von derartigen Beispielen sind alle heiligen Geschichtserzählungen [der Bibel]. Daher wird es Aufgabe des frommen und fleißigen Lesers sein, [selbst solche] Beispiele zu sammeln, um diese Art und Weise des Glaubens zu lernen, sowie das Gewissen zu stärken. Doch wir wollen auch noch auf einige Stellen aus den Schriften des Neuen Testaments zurückgreifen, schon deshalb, damit man verstehen kann, daß in den Geschichten beider Testamente ein und derselbe Geist vorzufinden ist. 47 Und um daher mit Acta XV695 zu beginnen: Petrus behauptet, daß die Väter nicht durch Gesetzeswerke gerechtfertigt wurden, sondern - obwohl sie im Gesetz lebten - durch den Glauben. Und er fügt hinzu, daß die Herzen durch den Glauben gereinigt werden. Und wenn du das nicht so, wie er es auslegt, vom Vertrauen auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes verstehst, so gehst du sehr weit fehl. 48 Denn wie könnte der scholastische Glaube die Herzen reinigen? Daher will Petrus zum Ausdruck bringen: Alle Werke der Väter, Davids, Jesajas, Jeremias sind Sünden gewesen, sie wurden aber allein durch das Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes, die in Christus verheißen ist, gerechtfertigt. 696 Wie das z. B. die Propheten von sich bezeugen. Dieses Vertrauen auf den guten Willen Gottes erstreckt sich auf das ganze Leben, auf alle Werke, auf alle körperlichen und geistlichen Anfechtungen. VI. 49 Es ist derselbe Glaube, mit dem man Gott glaubt und mit dem man auf Gottes Güte in jeder nur denkbaren Anfechtung vertraut. Geistlich war jene Anfechtung der Sünderio [in] Lukas VII, die Christus aufgerichtet hat, als er sagte: »Dir sind deine Sünden vergeben«. 697 Ebenso [wenn er sagte:] »Dein Glaube hat dich gerettet, gehe hin in Frieden«. 698 Die meisten waren leibliche [Anfechtungen], wenn er Kranke heilte; und er rügt auch den Unglauben der Jünger in einer leiblichen Angelegenheit Matth. XVI, als sie in Sorge waren wegen des Brotes. 50 Denn er tadelt sie so: »Ihr Kleingläubigen, was macht ihr euch für Gedanken?« usw. 699 Und wie oft schärft er ihnen die Sorge des Vaters um die Seinen in Bezug auf das Leibliche ein? Matth. VI [lesen wir]: »Euer Vater weiß, daß ihr das alles bedürft«. 700 Und [Matth.] X [heißt es] »Ihr seid besser als viele Sperlinge«. 701 Und derartige leibliche Dinge sind nicht zu verachtende Vorschulen zur Einübung des Glaubens. VII. 51 Daran erinnere ich, damit wir uns nicht darum bemühen, unter den 698. 699. 700. 701.
Lk. Mt. Mt. Mt.
7,50 16,8 6,32 10,31
228
6. De iustificatione et fide
6,52-56
bus divinis. Sunt enim aliae rerum corporalium ut veteris testamenti omnes, aliae spirituales, quae proprie ad novum testamenturn pertinent. Sie enim sentio nec promissionibus corporalibus credere ex corde nisi iustos et corporalium rerum promissione misericordiam suam declarasse deum, quod argumentari facile poterant sancti multo magis animas suas curae esse deo, si curae fuissent corpora, nec desinere patrem esse animarum, qui corporibus patrem egisset. 52 Hoc est, quod ante dixi, etiam corporalium rerum promissiones per se fuisse promissionem gratiae, obscuram quidem, sed tarnen habentibus spiritum dei satis cognitam. 53 Iam et Mosi precanti pro populi peccato in Numeris cap. XIV.
condonatur peccatum populi. 702 Et lex cum promissione gratiae lata est Exod. XX.: »Ego sum dominus deus tuus faciens misericordiam in millia his, qui diligunt me et custodiunt praecepta mea.« 703 Et sacrificia pro peccato tradita sunt, quae necesse est fateamur fuisse signa remissionis peccatorum fidelibus. 54 Non quaero allegorias 704 , sed historiam volo promittere misericordiam in eo ipso, quod corporalia beneficia705 promissa sunt. Atque huc pulcherrime quadrant pleraeque historiae, ut Genesis XXVIII. 706 ait Iacob: »Si fuerit dominus mecum et custodierit mein via, per quam ego ambulo, et dederit mihi panem ad vescendum et vestimentum ad induendum etc. erit mihi dominus in deum.«
55 Fidem misericordiae et bonitatis dei efficacissime nobis commenda-
vit Moses exemplis operum et promissionum corporalium. Deutero. VIII.: »Afflixit te penuria et dedit tibi cibum manna, quod ignorabas tu et patres tui, ut ostenderet tibi, quod non in solo pane vivat homo, sed in omni verbo, quod egreditur de ore dei.« 707 56 Adeo verbum vitae est, quocunque misericordiam dei cognoscit cor humanum. Huius formae exempla fidei recensentur ad Hebr. XI., quorum plera-
702. 4. Mose 14,19f. 703. 2. Mose 20,5 f. 704. Die Reformatoren gehen vom »wörtlichen Sinn« (»litteralis sensus«) der biblischen Aussagen aus und sie verurteilen die allegorische - und nicht selten auch spritualistisch-leibfeindliche - Umdeutung, die vor allem seit Origenes in der
6,52-56
6. Die Rechtfertigung und der Glaube
229
göttlichen Verheißungen einen Unterschied zu machen. Denn die einen sind [Verheißungen] leiblicher Dinge wie alle des Alten Testaments, die anderen sind geistliche [Verheißungen], die sich vor allem aufs Neue Testament beziehen. So bin ich denn der Meinung, daß nur die Gerechten den leiblichen Verheißungen von Herzen glauben und daß Gott durch die Verheißung leiblicher Dinge seine Barmherzigkeit offenbart hat. Denn die Heiligen konnten leicht schlußfolgern: wenn Gott für die Leiber sorgt, dann sorgt er noch viel mehr für ihre Seelen. Wenn er ein Vater der Leiber gewesen ist, hört er auch nicht auf, ein Vater der Seelen zu sein. 52 Daher sagte ich zuvor, auch die Verheißungen leiblicher Dinge sind als solche eine Verheißung der Gnade gewesen, freilich eine verborgene [Verheißung], die aber dennoch denen, die den Geist Gottes haben, hinreichend bekannt ist. 53 Ferner wird auch dem Mose, der für die Sünde des Volkes in Numeri Kap. XIV bittet, die Sünde des Volkes geschenkt.'02 Auch das Gesetz ist mit der Verheißung der Gnade gegeben worden nach Exodus XX: »Ich bin der Herr, dein Gott, und erweise Barmherzigkeit an Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten«. 703 Auch wurden Sühneopfer für die Sünden überliefert, von denen wir bekennen müssen, daß sie für die Glaubenden Zeichen der Vergebung der Sünden gewesen sind. 54 Ich forsche nicht nach Allegorien/04 sondern ich bin der Meinung, daß ein Ereignis [der Bibel] die Barmherzigkeit [Gottes] selbst in den leiblichen Wohltaten/05 die zugesagt sind, verheißt. Und hierher passen auch sehr schön die meisten Erzählungen, wie Genesis XXVIIP\ [wo] Jakob sagt: »Wenn der Herr mit mir sein wird und mich behüten wird auf dem Weg, den ich gehe, und wenn er mir Brot zu essen und Kleidung anzuziehen geben wird usw., soll der Herr mein Gott sein«. 55 Den Glauben an die Barmherzigkeit und Güte Gottes hat uns Mose auf äußerst wirksame Weise mit Beispielen von Werken und leiblichen Verheißungen ans Herz gelegt. Deuteronomium VIII [heißt es]: »Er schlug dich zu Boden mit Hunger und speiste dich mit dem Manna, das du und deine Väter nie gekannt haben, um dir zu zeigen, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes hervorgeht«.707 56 Und sogar ist es das Wort des Lebens, durch das das menschliche Herz die Barmherzigkeit Gottes erkennt. Beispiele eines solchen Glaubens werden [im Brief] an die Hebräer [Kapitel] XI aufgezählt, von denen die Bibelauslegung üblich war. 705. Zum Begriff beneficium bei Melanchthon, in dem Heil und Wohl in eins gesehen werden, siehe Anm. 25 706. 1. Mose 28,20f. 707. 5. Mose 8,3
230
6. De iustificatione et fide
6,57-60
que ad res corporales pertinent. Et cur non ad hunc locum accomodamus totum illud caput? 57 Principio fidem sie definit: »Fides est sperandarum rerum hypostasis,«708 id est, exspectatio, certitudo non apparentium. Hanc ÜJtoyQacpiJv fidei eiusmodi glossematis detorserunt ad sua somnia sophistae et ad carnalem709 illam opinatiunculam710 , quam fidem vocarunt, ut plane nihil apostolicae sententiae intelligeretur. Proinde nos simplicissima verba simplicissima sententia referemus: fidem esse certitudinem eorum, quae non apparent. 58 Obsecro, quid est certitudo? At divinarum ac spiritualium rerum nihil certo tenet natura nisi per spiritum sanctum illustrata. Iam et sperandarum rerum exspectationem appellat. Non est igitur fides credere minis tantum, immo hoc potius timorem vocat scriptura, sed et promissionibus credere, hoc est fidere misericordia et bonitate dei adversus iniuriam mundi, peccati, mortis adeoque portarum inferi. Vides exspectationem rerum, quae sperantur, appellari fidem? Non credunt igitur, qui non exspectant promissam salutem.
59 At, dices, credo promissam salutem, sed aliis obventuram. Sie enim
sentit caro711 • Sed audi. Annon haec tibi quoque promissa sunt? Annon in omnes gentes praedicatum est evangelium? Non credis igitur, ni tibi quoque salutem promissam credas. 712 Certa impietas et infidelitas est non omni verbo dei credere aut credere non posse, quod et tibi sit promissa remissio peccatorum. 60 Subiicit autem definitionis exempla epistola ad Hebraeos: »Fide
intelligimus conditum esse mundum verbo dei,« 713 ut invisibilium scilicet divinitatis et virtutis eius visibilia scilicet opera divinae poten-
708. Hebr. 11,1 709. Zu >>Fleisch« bei Melanchthon siehe Anm. 106 710. opinatiuncula kann man als Deminutiv von optinatio ( = Vermutung) vielleicht so übersetzen 711. Zu >>Fleisch« bei Melanchthon siehe Anm. 106 712. In der Konsequenz des persönlichen Vertrauensglaubens der Reformation liegt diese >>fides specialis« (>>der spezielle Glaube«), wonach Gott das Heil jedem
6,57-60
6. Die Rechtfertigung und der Glaube
231
meisten sich auf leibliche Dinge beziehen. Und warum fügen wir nicht dieses ganze Kapitel hier an? 57 [Der Hebräerbrief] definiert am Anfang [des Kapitels 11] den Glauben so: »Der Glaube ist die Zuversicht auf Dinge, die zu erhoffen sind«, 708 d. h. das Gespanntsein auf etwas, eine Gewißheit von Dingen, die man nicht sieht. Diese Skizze des Glaubens haben die Sophisten mit ihren Glossen derart verdreht, so daß daraus Träumereien wurden und jener fleischliche 709 »Schimmer von Vermutung«, 710 den sie Glauben nannten, so daß man schlechterdings nichts von dem apostolischen Satz verstand. Deshalb wollen wir die sehr schlichten Worte mit dem sehr schlichten Satz wiedergeben: Der Glaube ist die Gewißheit von Dingen, die nicht sichtbar sind. 58 Aber ich bitte dich, was ist Gewißheit? Begreift doch die Natur bestimmt nichts von göttlichen und geistlichen Dingen, außer sie ist durch den Heiligen Geist erleuchtet. Soeben nennt [unser Text den Glauben] auch das Gespanntsein auf Dinge, die zu erhoffen sind. Der Glaube besteht also nicht nur darin, den Drohungen zu glauben - nein, das nennt die Schrift eher Furcht -, sondern zugleich den Verheißungen zu glauben, d. h. auf die Barmherzigkeit und Güte Gottes zu vertrauen wider das Unrecht der Welt, der Sünde, des Todes und sogar der Pforten der Hölle. Sieh, ein Gespanntsein auf Dinge, die man erhofft, wird der Glaube genannt? Daher glauben die nicht, die nicht gespannt sind auf das verheißene Heil. 59 Doch du wirst sagen, ich glaube, daß das Heil verheißen ist, nur wird es anderen zukommen. So denkt sicherlich das Fleisch. 711 Aber höre. Sind diese Dinge dir nicht auch verheißen? Ist denn das Evangelium nicht allen Völkern gepredigt worden? Du glaubst daher nicht, wenn du nicht glaubst, daß das Heil auch dir zugesagt ist. 712 Das ist entschiedene Gottlosigkeit und Unglaube, nicht dem ganzen Wort Gottes zu glauben oder nicht glauben zu können, daß auch dir die Vergebung der Sünde zugesagt ist. 60 Nun fügt der Brief an die Hebräer aber Beispiele für die Definition [des Glaubens] hinzu: »Durch den Glauben begreifen wir, daß die Welt durch das Wort Gottes geschaffen wurde«, 713 daß die sichtbaren Dinge, nämlich die Werke seiner göttlichen Macht, durch die unsichtbaren Dinge, nämlich seine Einzelnen zusagt, nicht einem Kollektivum, wonach jeder als unverwechselbar Einzelner in die Entscheidung gerufen wird, die ihm niemand abnehmen kann. Diese »fides specialis« steht im Gegensatz zur »fides generalis>Recte ergo dieturn fides sine operibus est mortua, immo non est fidesforma>Die Liebe ist Wurzel des Glaubens und der Hoffnung ... >quod caritas est radix fidei et spei ... virtutes theologicaeübermenschlichengöttlichen TugendenGlaubeHoffnungLiebe>Der Glaube muß Werkmeister und Hauptmann sein in allen Werken, oder sie sind gar nichts« (WA 6 S. 213 Z. 13f.). >>Nun ist da kein Glaube ... ,darum so ist den Werken der Kopf ab>Glaube« sei konstitutiv für das Abendmahl (Assertio 1520 WA 7 S. 122), die Messe sei kein >>Opus operatum«, kein >>durch den bloßen Vollzug wirksames Werk>Crede in Christum ... si credis habe bis, si non credis, carebis>Glaube an Christus ... glaubst du, so hast du, glaubst du nicht, so hast du nicht>sacrificium« (>>Sühneopfermemoria>Gedächtnisrepraesentatio veri sacrificii>Vergegenwärtigung des wahren Sühneopferssacramentumsacrificium